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German Pages 302 Year 2014
Claudia Mareis, Gesche Joost, Kora Kimpel (Hg.) Entwerfen – Wissen – Produzieren
Claudia Mareis, Gesche Joost, Kora Kimpel (Hg.)
Entwerfen – Wissen – Produzieren Designforschung im Anwendungskontext
Die Realisation dieser Publikation wurde unterstützt durch: Deutsche Telekom Laboratories, Hochschule der Künste Bern, Universität der Künste Berlin
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Inhalt
007 Einleitung 009 Claudia Mareis Entwerfen – Wissen – Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext 033 Wolfgang Schäffner The Design Turn. Eine wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung 047 Boris Ewenstein und Jennifer Whyte Wissenspraktiken im Design. Die Rolle visueller Repräsentationen als »epistemische Objekte« 081 Peter Friedrich Stephan Wissen und Nicht-Wissen im Entwurf 101 Gert Hasenhütl Hypothesen beim Entwerfen 121 Claudia Mareis The »Nature« of Design. Konzeptionen einer impliziten Wissenskultur 145 Rosan Chow What Should be Done with the Different Versions of Research-Through-Design? 159 Mads Nygaard Folkmann Umsetzung. Interpretative Herausforderungen praxisferner Designtheorie 177 Sønke Gau und Katharina Schlieben Auf den Spuren einer Kunst der Forschung
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Inhalt
193 Kees Overbeeke, Stephan Wensveen, Caroline Hummels, Joep Frens and Philip Ross DQI Interaction Design Research 207 Kai Rosenstein Event. Design. Trash. Der Beitrag des Designs zur Erlebnisgesellschaft 233 Christof Windgätter Die Farbe des Unbewussten oder: Wie Design zu einer Bedingung auch wissenschaftlichen Wissens geworden ist 271 Barbara Hahn und Christine Zimmermann Visueller Atlas des Spitalalltags – Visualisierung organisatorischer und kommunikativer Abläufe im Patientenprozess
293 Zu den Autorinnen und Autoren
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Einleitung Der Designforschung wird seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum wie auch im europäischen Umfeld immer mehr Aufmerksamkeit gezollt – endlich, so möchte man sagen, denn die theoretischen Vorläufer wie auch praktische Beispiele sind zumindest seit den 1960er Jahren international diskutiert. Von einer Etablierung im Kanon der forschenden Disziplinen oder einer breiten Anerkennung durch angrenzende Wissenschaften sind wir jedoch nach wie vor weit entfernt. Daraus resultiert auch der anhaltende Diskurs über das Selbstverständnis der Designforschung innerhalb der eigenen Disziplin, über ihre Formen des Erkenntnisgewinns, die Rolle des Entwurfs oder ihre spezifischen Methodiken und Forschungsfragen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich angrenzende Disziplinen mit dem Phänomen »Design« auseinandersetzen, seine Methoden als »Design Thinking« labeln oder seine Wissensformen kulturwissenschaftlich beschreiben. Ansätze aus beiden Richtungen miteinander in Beziehung zu setzen und für die Diskussion fruchtbar zu machen, war Ausgangspunkt der Konferenz »Entwerfen. Wissen. Produzieren«, die im Oktober 2009 anlässlich der 6. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung DGTF an der Universität der Künste in Berlin stattfand. Der vorliegende Band stellt die Beiträge dieser Tagung vor und ist gleichzeitig der Auftakt einer Reihe von Publikationen der DGTF, die den deutschsprachigen Diskurs beleben will. Ziel der DGTF ist es, die Akteure der Forschung und Theorie miteinander zu vernetzen und aktuelle Themen zu adressieren. Im Fokus steht dabei zunächst der deutschsprachige Diskurs und somit ein intensiver Austausch zum Stand der Diskussionen in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland. Im Hinblick auf eine hochschulpolitische Strategie zur Etablierung der Designtheorie und -forschung in der Ausbildung, wie auch im Hinblick auf eine schärfere Profilbildung der Disziplin gegenüber etablierten Wissenschaftsstrukturen, ist der Austausch besonders notwendig und wünschenswert. Der vorliegende Band ist also auch als ein Schritt zur Selbstbeschreibung zu sehen, in dem Beispiele der praktischen Designforschung wie auch der theoretischen Positionierung im Kontext von Hochschulen, Forschungsinstitutionen und Förderstrukturen verhandelt werden. Diese Themen und Zusammenhänge in ihrer diskursiven wie hochschulpolitischen Dimension wiederum in den internationalen Diskurs zurückzuspielen, ist ein
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Einleitung
weiterer zentraler Schritt, den die DGTF unter anderem durch den Austausch im Rahmen der Initiative »Design promoviert« unterstützt. Die Entwicklungen der DGTF erfahren immer breitere Unterstützung. Das freut uns als Vertreterinnen des Vorstandes sehr, und wir möchten uns herzlich dafür bedanken. Unser besonderer Dank für die Organisation der Tagung und des vorliegenden Bandes gilt Bianca Herlo mit ihrem hohen Engagement, Jan-Henning Raff für die redaktionelle Hilfe, der Universität der Künste Berlin als Gastgeberin der Tagung und Unterstützerin des Tagungsbandes, der Hochschule der Künste Bern für ihre Kooperation wie auch den Deutschen Telekom Laboratories für ihre langjährige Förderung.
Gesche Joost Kora Kimpel Claudia Mareis
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Entwerfen – Wissen – Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext Claudia Mareis
Im Design treten Praktiken des Entwerfens, Wissens und Produzierens auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung. Wissen gilt, spätestens seit seiner paradigmatischen Aufwertung durch die Wissensgesellschaft in den 1960er Jahren, als Grundlage des Entwerfens. Ebenfalls werden dem Akt des Entwerfens und dem Entwurf zunehmend epistemische Qualitäten zugesprochen.1 Dabei geht es um weitaus mehr als um die Systematisierung von Entwurfsregeln oder um die Förderung kommerzieller Produktentwicklung. Designforschende sind gegenwärtig insbesondere auch daran interessiert, komplexe erkenntnistheoretische Phänomene und Interaktionen zu bestimmen, die in Designprozessen und den daraus resultierenden Objekten zur Wirkung kommen. Der vorliegende Band geht vermittels einer interdisziplinären Sammlung von Beiträgen der Frage nach, wie unter der Begriffsklammer beziehungsweise der institutionellen Rahmung von »Designforschung« gestalterische und entwerferische Praktiken als Wissenspraktiken und Designobjekte als »epistemische Dinge«2 verstanden und in ihrem spezifischen Anwendungskontext verhandelt werden. 1
Vgl. den Beitrag von Boris Ewenstein und Jennifer Whyte im vorliegenden Band: Wissenspraktiken im Design Die Rolle visueller Repräsentationen als »epistemische Objekte«. Darüber hinaus widmen sich zum Beispiel folgende jüngeren Publikationen dem Thema: Barret, Estelle; Bolt, Barbara (Hg.): Practice as Research. Approaches to Creative Arts Enquiry, New York 2007. Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich/Berlin 2009. Borgdorff, Henk: The Debate on Research in the Arts. Sensous Knowledge. Focus on Artistic Research and Development, Nr. 2, Bergen 2006. Buchanan, Richard: »Design Research and the New Learning«, in: Design Issues, Vol. 17, Nr. 4 (2001), S. 3—23. Carter, Paul: Material Thinking. The Theory and Practice of Creative Research, Carlton 2004. Mareis, Claudia: Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design und Wissensdiskursen seit 1960, Bielefeld 2010. Michel, Ralf (Hg.): Design Research Now. Essays and Selected Projects, Basel et al. 2007. Sullivan, Graeme: Art Practice as Research. Inquiry in the Visual Arts, Thousand Oaks 2005.
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Nach Hans-Jörg Rheinberger sind epistemische Dinge »die Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt – nicht Objekte im engeren Sinn, es können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein. Als epistemische präsentieren sich diese Dinge in einer für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit ›››
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In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Wie können visuelle und haptische Darstellungsformen (etwa Zeichnungen, Diagramme, Modelle, Fotografien oder Filme) die Kommunikation und Distribution von Wissen befördern oder aber diese einschränken? 3 Welche Rolle spielt »implizites Wissen« bei Wissensbestimmungen im Design und wie kann es methodisch adressiert werden?4 Kann die Genese von Wissen durch kreative Techniken stimuliert werden oder fungiert dieser Topos allenfalls als Schlagwort eines undifferenzierten Innovationsstrebens? Mindestens ebenso bedeutsam sind Fragen zu den soziokulturellen Kontexten, zur gesellschaftlichen Relevanz oder zur ökonomischen Distribution einer als »gestalterisch« deklarierten Wissensproduktion. Denn nicht nur stellen »Wissen« und »Forschung« heute wichtige Schlüsselwörter für das Design dar, zugleich ist auch der Aspekt der Anwendung zu einem Imperativ für wissenschaftliche Forschung überhaupt avanciert.5 Sei es in der Forderung nach gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Forschungsergebnissen im anwendungsorientierten »Modus 2« der Wissensproduktion,6 sei es unter dem Leitbegriff eines »practice turn«,7 der eine epistemologische Hinwendung zu den Praktiken der Wissenserzeugung einfordert. Zu fragen gilt hier, wie das Erkenntnisinteresse der Designforschung vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen mit Interessen aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik interagiert, und wo es zugleich mit diesen kollidieren kann. Der angeführte Fragenkomplex basiert auf der Einsicht, dass Wissensbestimmungen im Design und in der Designforschung untrennbar an die Analyse ihrer materialen, medialen, ästhetischen und technologischen Bedingungen sowie ihrer gesellschaftlichwirtschaftlichen Anwendungskontexte gebunden sind. Sie lassen sich demund Vagheit«. In: Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 24. 3 Vgl. etwa Biggs, Michael: The Role of the Artefact in Art and Design Research. Working Papers in Art and Design 3. Vol. 1, University of Hertfordshire, Hertfordshire 2004. 4
Vgl. etwa Niedderer, Kristina: »Mapping the Meaning of Knowledge in Design Research«, in: Design Research Quarterly. Design Research Society, Vol. 2, Nr. 2. (2007), S. 1—13.
5 Nowotny, Helga: Es ist so. Es könnte auch anders sein. Über das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999, S. 50. 6
Grundlegend zum Konzept der »Modus 2« Wissensproduktion: Gibbons, Michael et al.: The New Production of Knowledge: The Dynamics of Sciences and Research in Contemporary Societies, London 1994.
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Schatzki, Theodore et al.: The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001.
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nach auf eine ähnliche Weise angehen, wie gegenwärtig auch Fragen zur Wissensproduktion in der Wissenschaftsforschung, in den Science and Technology Studies oder in den Kulturwissenschaften gestellt werden.8 Im Zentrum der Befragungen stehen dort einerseits die soziokulturellen Dimensionen und Kontexte von Wissen, andererseits die konkreten Praktiken, die zu seiner Erzeugung, Vermittlung und Archivierung beitragen. Spätestens seit der erkenntnistheoretischen Nobilitierung von Objekten und nicht-menschlichen Akteuren durch die Akteur-Netzwerk-Theorie ist bekannt, dass »Wissen immer materielle Form annimmt«, etwa in Form von »Gesprächen, Konferenzvorträgen, in Artikeln, Vorabdrucken, Patenten oder auch in der Verkörperung durch kompetente Wissenschaftler und Technologen« 9. Bei Bruno Latour findet sich entsprechend dazu der Begriff der »immutable mobiles«. Es handelt sich hierbei um unveränderliche, dennoch mobile Elemente, die als materielle Träger von Wissen agieren (etwa in Form von Notizen und Skizzen) und damit zu seiner Distribution und letztlich Verbesserung beitragen.10 Übertragen auf das Design lässt sich Vergleichbares festhalten: An gestalteten Objekten kann Wissen diskursiv verhandelt werden und in ihnen materialisiert es sich auch. In dieser Weise lässt sich auch die in der Designforschung kontrovers diskutierte These von Nigel Cross verstehen, dass »design knowledge« in Designakteuren, Designprozessen und Designprodukten verortet und dort zu untersuchen sei.11 Fraglos kommt in solch einer materialistischen und pragmatistischen Lesart von »Wissen« den spezifischen Praktiken und Verfahren des Entwerfens und Gestaltens sowie den gestalteten Objekten eine neue Bedeutung zu. Den Kernpunkt einer solchen »epistemologischen Designanalyse« stellen nicht länger tradierte Designkriterien wie »Form« oder »Funktion« dar. Stattdessen werden gestalterische 8 Vgl. dazu: Callon, Michel: »Some Elements of a Sociology of Translation: Domestication of the Scallops and the Fishermen of Saint Brieuc Bay«, in: John Law (Hg.): Power, Action, and Belief: A new Sociology of Knowledge? London 1986, S. 196—233. Latour, Bruno: »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/ Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge, Mass./ London 1990, S. 19-68. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. Vgl. dazu auch: Schramm, Helmar et al. (Hg.): Bühnen des Wissens, Berlin 2003. 9
Law, John: »Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie: Ordnung, Strategie und Heterogenität«, in: Andrea Bellinger/David J. Krieger. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 429-446, hier S. 431.
10 Vgl. Latour, Bruno: »Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlichen mobilen Elemente«, in: Andrea Bellinger/David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259—307. 11 Cross, Nigel: Designerly Ways of Knowing, London 2006, S. 100f.
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Praktiken, Objekte, Gerätschaften, Institutionen und Designer/-innen selbst zu zentralen Bestandteilen eines komplexen epistemischen Gefüges. Erst in ihrer Gesamtheit bilden sie die »Konstruktionsmaschinerien des Wissens«, die sich als organisiert, dynamisch, aber nur teilweise reflektiert erweisen und von einzelnen Personen nur begrenzt bestimmt werden können.12 Klar wird damit auch, dass ein entwerfender beziehungsweise gestaltender Zugriff auf ein solches Gefüge oder seine intentionale Planung immer nur teilweise gelingen und kaum von Einzelpersonen geleistet werden kann. Das durch die Designgeschichte hindurch notorisch perpetuierte Motiv des »genialen« Autorendesigners wird gegenwärtig also mit der Idee eines »heterogenen Engineering«13 kontrastiert. Statt einzelner Heroen geraten nunmehr die Grenz- und Zwischenräume des Designs und seiner Wissenskultur(en) ins Blickfeld der Betrachtung.14 Wissen ist demnach auch und vor allem im Bereich des Designs als »Produkt oder Effekt eines aus heterogenen Materialien strukturierten Netzwerkes« zu verstehen, in dem »soziale, technische, konzeptuelle und textuelle Einzelkomponenten zusammengefügt und auf diese Weise in einen Satz gleichermaßen heterogener wissenschaftlicher Produkte umgewandelt (oder ›übersetzt‹) werden«. 15 Die damit skizzierte Komplexität veranlasst zu einer eingehenden Betrachtung der Wechselbeziehungen zwischen den Verfahrensweisen des Entwerfens, Wissens und Produzierens in der Designforschung in dem vorliegenden Band. Dabei sind sowohl diachrone, als auch synchrone Zusammenhänge bedeutsam; sowohl theoretische, als auch praktische Motivationen sind von Interesse.
12 Knorr Cetina, Karin: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M. 2002, S. 23. 13 Law, John: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie, S. 431. 14 Vgl. zum Aspekt der Zwischenräume in den Wissenschaften: Dotzler, Bernhard J./Schmidgen, Henning: »Zu einer Epistemologie der Zwischenräume«, in: dies. (Hg.): Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion, Bielefeld 2009, S. 7—18, hier S. 8. 15 Law, John: Notizen zur Akteur-Netzwerk-Theorie, S. 431.
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Design im historischen Wandel Der Rede von »Design als Forschung« geht ein historischer Wandel voraus. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts habe sich das Design, so die Diagnose Richard Buchanans, von einem ausdifferenzierten Berufsbild im Kontext der industriellen Warenproduktion und der Massenkommunikation zu einer eigenständigen (Wissens-)Disziplin entwikkelt.16 Diese Entwicklung ist heute weder umfassend noch abgeschlossen, und sie stößt auch nicht allseits auf Zustimmung. Im Gegenteil, die akademische »Disziplinierung des Designs«17 wird sowohl seitens tradierter Wissenschaftsdisziplinen als auch von praktizierenden Designer/-innen mit Skepsis beobachtet. Nicht erst seit Victor Papaneks harscher Kritik an der Designprofession18 wird Design mit »überflüssigem Luxus« und »oberflächlicher Kosmetik« eng geführt und als pathologisches Symptom einer (westlichen) Konsumund Wegwerfgesellschaft verstanden. Ein erweitertes Designverständnis, in dem die Modi des Entwerfens, Planens, Gestaltens und Produzierens demgegenüber als ernstzunehmende Kultur-, Wissensund Kreativitätstechniken betrachtet werden, steht vielfach noch aus.19 Dabei hatte der Design- und Planungstheoretiker Horst Rittel schon in den 1980er Jahren konstatiert: »It is one of the mysteries of our civilization that the noble and prominent activity of design has found little scholarly attention«.20 Seine Diagnose hat bis dato nur wenig an Bedeutung verloren. »Designforschung« oder »Designwissenschaft« stellen im Kanon der etablierten Wissenschaftsdisziplinen immer noch Randphänomene dar. Zugleich kann jedoch seit einigen Jahren ein wachsendes Interesse daran beobachtet werden, die 16 Vgl. Buchanan, Richard: »Education and Professional Practice in Design«, in: Design Issues, Vol. 14, Nr. 2 (1998), S. 63—66. 17 Vgl. zu diesem Aspekt: Schultheis, Franz: »Disziplinierung des Designs«, in: Swiss Design Network (Hg.): Forschungslandschaften im Umfeld des Designs, Zürich 2005, S. 65—84. 18 Seine Kritik an der Designprofession lautete: »There are professions more harmful than industrial design, but only a very few of them. And possibly only one profession is phonier. Advertising design, in persuading people to buy things they don’t need, with money they don’t have, in order to impress others who don’t care, is probably the most phoniest field in existence today. Industrial design, by concocting the taw-dry idiocies hawked by advertisers, comes a close second.« In: Papanek, Victor: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change, Chicago 2000 [1985], S. ix. 19 Eine Ausnahme stellt zum Beispiel der folgende Band dar: Gethmann, Daniel/ Hauser, Susanne (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte, Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld 2009. 20 Rittel, Horst: The Reasoning of Designers. Arbeitspapier A-88-4, Institut für Grundlagen der Planung, Universität Stuttgart, Stuttgart 1988, S. 1.
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marginalisierte Wissenskultur des Designs nunmehr auch im Kontext der akademischen Forschung zu behandeln. So gewinnen Designthemen derzeit unter dem Leitmotiv eines »design turn« vor allem in den Kulturwissenschaften an Relevanz. Wolfgang Schäffner formuliert diesbezüglich die programmatische Absicht, kulturwissenschaftliche Forschung solle von einer rein theoretischen Ideenanalyse und Ideengeschichte hin zu einer Analyse von Praktiken vermittels deren Realisierung und Gestaltung verschoben werden.21 Im Zentrum seiner Konzeption eines »design turn« steht die materiale Epistemologie von kulturellen Praktiken und Gegenständen. Zunehmend wird dem Design – seinen Akteuren, Praktiken, Objekten und Themen – also eine tragende Rolle bei der interdisziplinären Gestaltung von Wissen und Wissenspraktiken zwischen Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaften zugeschrieben.22 Eine derartige Zuschreibung korrespondiert ihrerseits mit sowohl historischen als auch aktuellen Ansätzen aus der Designforschung, in denen dem Design (spätestens seit den 1960er Jahren) ein synthetisierendes, disziplinübergreifendes Potential zur Erzeugung und Vermittlung von Wissen attestiert wird.23 Dabei geht es weniger darum, Design als eine wissenschaftliche Praxis oder Disziplin fassbar zu machen, vielmehr soll umgekehrt wissenschaftliche Praxis als eine Designtätigkeit erkannt werden. Ranulph Glanville hält dazu in ebenso prägnanter wie provokativer Weise fest: »Research as it is and must be practiced, is properly considered a branch of design: (scientific) research is a subset of design, not the other way round.«24 Die Annahme, dass sich im Design erkenntnistheoretische und pragmatistische Aspekte auf besondere Weise verbinden, ist keineswegs neu. »Design heißt, Denken und Machen aufeinander zu beziehen«, so hielt bereits Wolfgang Jean Stock einleitend zu Otl Aichers
21 Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Schäffner im vorliegenden Band. 22 So setzt sich das Hasso Plattner Institute of Design an der Stanford University zum Ziel, Fragestellungen verschiedener Disziplinen zu bündeln und vermittels eines »design thinking« zu verbinden. Man habe erkannt, so Plattner et al., dass die Probleme, mit denen die heutige Welt konfrontiert sei, mit dem Wissen einzelner Disziplinen allein nicht mehr bewältigt werden könnten und dass »design thinking« die zeitgemäße Form sei, Lösungen für diese Probleme zu finden. In: Plattner, Hasso/Meinel, Christoph/Weinberg, Ulrich: Design Thinking. Innovation lernen. Ideenwelten öffnen, München 2009, S. 64f. 23 Mitchell, Thomas C.: Redefining Designing. From Form to Experience, New York 1992, S. 58. Vgl. dazu bereits früher: Simon, Herbert A.: The Sciences of the Artificial, Cambridge, Mass./London 1996 [1969], S. 111—138. 24 Glanville, Ranulph: »Researching Design and Designing Research«, in: Design Issues, Vol. 15, Nr. 2. (1999), S. 80—91, hier S. 88f.
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Aufsatzsammlung »die welt als entwurf« fest.25 In den 1960er Jahren erfolgte die Übertragung von wissenschaftlichen Methoden auf das Design in geradezu programmatischer Weise. An der Hochschule für Gestaltung Ulm beispielsweise wurde zu dieser Zeit ein an Wissenschaft und Theorie orientiertes Ausbildungsmodell angestrebt, um dadurch eine autarke Designausbildung zu sichern.26 Dabei ging es weniger um eine Synthese von Kunst und Wissenschaft, vielmehr sollte die »Kunst im Entwurf«27 mit den Mitteln der Wissenschaft verbannt werden. Es ist gar von einer »erotischen Beziehung« die Rede, die das Design in jenen Jahren zur Wissenschaft entwickelt haben soll.28 Unter der Ägide des ebenso strengen wie schillernden Begriffs der »Objektivität« wurde versucht, dem Design zu einer als zeitgemäß erachteten Wissenschaftlichkeit verhelfen. Gegenwärtig treffen Design und Wissenschaft unter veränderten Vorzeichen einmal mehr aufeinander. Im Zuge des Bologna-Prozesses und mit der Institutionalisierung von Designforschung an den europäischen Kunsthochschulen und -universitäten wird der Frage nach dem Verhältnis von Gestaltung und Wissenschaft erneute Aufmerksamkeit zuteil. Als wohl signifikanteste Veränderung bringt der Bologna-Prozess mit sich, dass erstmals ein dritter Zyklus (ein Doktorat oder PhD) für Kunst und Design zur Sprache kommt.29 Die Implementierung des dritten Zyklus ist für diese Bereiche zwar keine zwingende Vorgabe, sie entspricht oft jedoch dem Wunsch der Kunsthochschulen, den Status und die Qualität ihres Wissens und Könnens auch formal abzusichern und zu zertifizieren. Ungeachtet dessen, wie unterschiedlich die Reformen in den einzelnen Ländern bereits vorangeschritten sind, zeichnet sich bereits heute ab, dass sich Kunst- und Designausbildungen künftig massiv verändern könnten – und damit zugleich auch die daraus resultierende Praxis. James 25 Stock, Wolfgang Jean: »Einführung«, in: Aicher, Otl: die welt als entwurf, Berlin 1991, S. 8—13, hier S. 12. 26 Bis heute wegweisend ist diesbezüglich der programmatische Text von Maldonado, Tomás/Bonsiepe, Gui: »Wissenschaft und Gestaltung«, in: Zeitschrift ulm, Nr. 10/11 (1964). 27 Rinker, Dagmar: »Produktgestaltung ist keine Kunst – Tomás Maldonados Beitrag zur Entstehung eines neuen Berufsbildes«, in: dies. et al. (Hg.): ulmer modelle – modelle nach ulm. hochschule für gestaltung 1953-1968, Ost-fildern-Ruit 2003, S. 38—49, hier S. 42. 28 Reuter, Wolf: »› … den Dualismus zwischen rationaler und intuitiver Tätigkeit auflösen‹. Horst Rittel an der HfG Ulm«, in: Damar Rinker at al. (Hg.): ulmer modelle – modelle nach ulm. hochschule für gestaltung 1953—1968, OstfildernRuit 2003, S. 94—99, hier S. 94. 29 Vgl. Elkins, James (Hg.): Artists with PhDs. On the new Doktorate Degree in Studio Art, Washington 2009, S. vii–xiii, hier S. vii.
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Elkins befürchtet, dass statt des praktischen gestalterischen Leistungsausweises künftig akademische Doktorate die Standardanforderung für Dozierende in Kunst und Design darstellen könnten.30 Die genannten bildungspolitischen Umstrukturierungen werden indes auch zum Anlass genommen, um über »alternative« Forschungsformate in den Bereichen Kunst und Design nachzudenken. Von vorrangigem Interesse ist, wie eine genuin künstlerisch-gestalterische Forschung in Abgrenzung oder in Ergänzung zur »traditionellen« akademischen Forschung an Universitäten positioniert werden könnte oder sollte.31 Als mögliche Antwort auf diese Frage werden gegenwärtig vielerorts an internationalen Kunsthochschulen praxisbasierte Ansätze für die Designforschung postuliert und erprobt, in denen die gestalterische Praxis »is seen as a valid form of knowledge enquiry and where communicable knowledge may be embodied in the artefact«.32 Die aktuellen Debatten, aber vor allem auch die jüngeren Projekte in der Designforschung, werden so einerseits durch die Prämisse konstituiert, dass »Praxis« unter gewissen Umständen eine relevante Form der Erkenntnisgenerierung darstellen könne. Andererseits werden sie von der Forderung begleitet, die praktische Relevanz von Designforschung und ihr Bezug zur Designpraxis mögen trotz der akademischen »Disziplinierung« des Designs gewährleistet sein. Diese Verstrickung von, wenn man so will, praxisbasierter Epistemologie und anwendungsorientierter Forschungspraxis mag problematisch anmuten, und dennoch wird an ihr auch ersichtlich, dass die Bestimmung des Verhältnisses von »Theorie« und »Praxis« einen zugleich neuralgischen und produktiven Punkt in der Designforschung darstellt. Die (bisweilen künstlich fixierte) Dichotomie zwischen diesen beiden Dimensionen oder Modi der Erkenntnisproduktion sowie das Streben nach ihrer Synthese kann als die vielleicht wichtigste Vorlage für gegenwärtige Identitätsbestimmungen von und in der Designforschung gelten.
30 Elkins, James: »Introduction«, in: James Elkins (Hg.): Artists with PhDs. On the new Doktorate Degree in Studio Art, Washington 2009, S. vii—xiii, hier S. vii. 31 Vgl. dazu den grundlegenden Text von: Frayling, Christopher: Research in Art & Design, Research Paper, Vol. 1, Nr. 1, Royal College of Art London, London 1993/94. Vgl. im Weiteren: Carter, Paul: Material Thinking. The Theory and Practice of Creative Research, Carlton 2004. 32 Archer, Bruce: »The Nature of Research«, in: Co-Design Journal 1995, S. 6—13, hier S. 6.
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Synthese von Theorie und Praxis Einen Grund für den starken Wunsch einer Synthese von Theorie und Praxis in der Designforschung liefert womöglich die Geschichte der Designmethodologie. In den 1960er Jahren fand unter dem Namen »Design Methods Movement« ein erster, vielversprechender Versuch statt, eine systematische Designmethodologie zu begründen.33 Die Bewegung wurde zu jener Zeit durch interdisziplinäre Ansätze konstituiert, die beispielsweise aus den Strukturwissenschaften, der Kybernetik, dem Management, der Informatik oder (zu einem großen Teil) aus den Militärwissenschaften stammten. Favorisiert wurden logischrationalistische Konzepte und Methoden, vermittels derer die Systematik und Charakteristika des Entwurfs erfasst werden sollten. Aufgrund dieser Ausrichtung geriet die Bewegung jedoch schon bald in Kritik. Prominente Mitbegründer wie John Christopher Jones oder Christopher Alexander bemängelten an der angestrebten Designmethodologie ihre fehlende Praxisnähe und eine Übertheoretisierung des Designs. So hielt Jones fest: »In the 1970s, I reacted against design methods. I dislike the machine language, the behaviorism, the continual attempt to fix the whole of life into a logical framework.«34 Designmethodologie sei von einem praktisch motivierten Anliegen zu einem abstrakt theoretischen Unterfangen mutiert, so sein resigniertes Fazit. Vor dem Hintergrund dieser Kritik versuchten Designforschende in den folgenden Jahrzehnten vermehrt praxisnahe Zugänge zur Erforschung von Entwurfsprozessen zu erschließen. Weniger die »rationalen«, sondern vielmehr die »kreativen«, »intuitiven« und »impliziten« Aspekte des Entwerfens sowie die mutmaßlich designspezifischen Weisen der Wissensproduktion sollten dabei berücksichtigt werden. Zu den intellektuellen Konzepten und Termini, welche die Debatten um eine praxisbasierte Designforschung seit den 1980er Jahren beinahe schlagwortartig begleiten, gehören Ausdrücke wie: »designerly
33 Zur Geschichte des Design Methods Movement: Fezer, Jesko: »A Non-Sentimental Argument. Die Krisen des Design Methods Movement 1962—1972« in: Daniel Gethmann/Susanne Hausen (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte, Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld 2009, S. 287—304. 34 Jones, John Christopher: »How My Thoughts About Design Methods Have Changed During the Years«, in: Design Methods and Theories, Vol. 11, Nr. 1 (1977). Zit. nach: Cross, Nigel: Designerly Ways of Knowing: Design Discipline Versus Design Science, 2001, S. 50.
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ways of knowing«,35 »design thinking«,36 »sensuous knowledge«, 37 »experiential knowledge«,38 »research through design«,39 »practicebased research« oder »inquiry by design«.40 Diese Aufzählung bleibt hier unvollständig, und sie wäre ohnehin kritisch zu diskutieren, da das durch sie aufgespannte begriffliche Setting bisweilen auf verkürzten oder stereotypen Vorstellungen von Forschung und (Natur-)Wissenschaft gründet, oder sich an ihm ein dichotomes Verständnis von Theorie versus Praxis diskutiert ließe. Im schlechtesten Fall werden Design, Kunst und Wissenschaft so als kategorische Entitäten bestimmt, in denen das jeweils »Andere« eine ontologische Opposition bildet. Idealerweise könnten die andauernden Begriffsbestimmungen jedoch auch als produktive Bemühungen lesbar gemacht werden, vermittels einer begrifflichen Schärfung auch einen präziseren Blick auf die Gegenstände der Designforschung zu gewinnen. Die oft beklagten Gräben zwischen Wissenschaft und Kunst könnten, so die Hoffnung hier, durch eine integrative materiale Wissenskultur des »design thinking« überbrückt werden. So hält Kees Dorst fest: »Design thinking helps to understand the man-made world […]. By looking at things with a designers’ eye, you get an idea of the reasoning and design process behind them.«41 Der vorliegende Band nimmt das wachsende Interesse an der Designforschung zum Anlass, um mit den Begriffen »Entwerfen«, »Wissen« und »Produzieren« ein diskursives Spannungsfeld zu eröffnen, in dem erkenntnistheoretische, ästhetische, soziale, kulturelle und ökonomische Aspekte der Designforschung auf interdisziplinäre Weise adressiert werden. Die begriffliche Trias bildet nicht nur das 35 Cross, Nigel: »Designerly Ways of Knowing«, in: Design Studies. Vol. 3, Nr. 4 (1982), S. 221—227. 36 Rowe, Peter G.: Design Thinking, London 1987. 37 »Sensuous Knowledge« ist der Titel einer jährlich stattfindenden Konferenz zur künstlerischen Forschung an der Bergen National Academy of the Arts: www.sensuousknowledge.org 38 »Experiential Knowledge« ist das Thema einer Special Interest Group der Design Research Society sowie der Titel einer Serie daraus resultierender Konferenzen: www.experientialknowledge.org. 39 Vgl. dazu etwa: Findeli, Alain: »Die projektgeleitete Forschung: Eine Methode der Designforschung«, in: Swiss Design Network (Hg.): Erstes Design Forschungssymposium, Zürich 2004, S. 40—51. 40 Eine detaillierte Übersicht zu den verschiedenen Ansätzen der praxisbasierten Forschung findet sich bei: Jonas, Wolfgang: »Design Research and its Meaning to the Methodological Development of the Discipline«, in: Ralf Michel (Hg.): Design Research Now. Essays and Selected Projects, Basel et al 2007, S. 187—206, hier S. 191. 41 Dorst, Kees: Understanding Design. 175 Reflections on Being a Designer, Amsterdam 2006 [2003], S. 177.
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semantische, sondern auch das pragmatische Fundament, auf dem die Fragestellungen, Themen, Theorien und Methoden in der Designforschung derzeit entwickelt und verhandelt werden. Kenntlich wird eine derart weite und interdisziplinäre Fundierung nicht zuletzt an den unterschiedlichen Methoden, Ansätzen und Darstellungsformen, die in der Designforschung qua Geschichte bis heute zu finden sind. Sie stammen etwa aus ingenieurwissenschaftlichen, psychologischen oder kultur- und kunstwissenschaftlichen Fächern42 und umfassen etablierte sozialwissenschaftliche qualitative und quantitative Methoden ebenso wie eigens kreierte designspezifische Ansätze.43 Diese immense Bandbreite der Designforschung spiegelt sich auch im vorliegenden Band wider. Ein explizites Anliegen dieses Bandes ist es, die Heterogenität dieser unterschiedlichen »Sprachspiele« zu erhalten, um damit die Vielschichtigkeit eines Diskurses beziehungsweise mehrerer sich überlappender Diskurse abzubilden, die in ihrer gesamten Komplexität und Widersprüchlichkeit als »Designforschung« bezeichnet werden können. Dessen ungeachtet soll die begriffliche und methodische Unschärfe, die ein solcher interdisziplinärer Zugang mit sich bringen kann, nicht als Freibrief für intellektuelle Beliebigkeit dienen. Vielmehr steht die Idee im Vordergrund, dass die emergente Designforschung vom konkreten Austausch mit anderen Disziplinen profitieren kann, und dass umgekehrt designspezifische Fragestellungen und Verfahren Anlass bieten, tradierte Verfahrensweisen der wissenschaftlichen Wissensproduktion neu zu bewerten und zu erweitern.
Veränderte Modi der Wissensproduktion Die Absicht, Designpraktiken als epistemische Praktiken und Designobjekte als Wissensobjekte verstehen zu wollen, bedingt zunächst, sie vor dem Hintergrund von umfassenderen historischen Debatten zur Produktion von Wissen zu reflektieren. Mitte der 1990er Jahre konstatierten Michael Gibbons, Helga Nowotny und weitere Wissenschaftshistoriker und -soziologen in dem Buch »The New Production of Knowledge«, dass sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahr42 Als Übersicht zu Designforschungsmethoden: Brandes, Uta et al.: Designtheorie und Designforschung: Design studieren, Paderborn 2009. 43 Dazu gehört etwa die so genannte »Cultural Probes«. Vgl.: Gaver, Bill/Dunne, Tony/Pacenti, Elena: »Cultural Probes«, in: Interactions, Vol. 6, Issue 1 (1999), S. 21—29. Sowie: Gaver, W./Boucher, A./Pennington, S./Walker, B.: »Cultural Probes and the Value of Uncertainty«, in: Interactions, Volume XI.5 (2004), S. 53—56.
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hunderts neben der traditionellen akademischen Wissensproduktion (»Modus 1«) eine neue Weise des Wissens entwickelt habe – die so genannte »Modus 2« Wissensproduktion.44 Mit dieser Bezeichnung sollte eine veränderte Praxis der Wissenserzeugung gefasst werden, bei der sich die klare Abgrenzung von wissenschaftlicher Wissensproduktion gegenüber anderen, nicht-wissenschaftlichen Modalitäten der Wissenserzeugung stetig auflöst. Betrachtet man die gegenwärtige Situation der Designforschung, so steht diese aufgrund ihrer akademischen Randstellung und ihrer methodisch-thematischen Hybridität gewissermaßen im Zentrum solcher Veränderungen.45 Der maßgebliche Unterschied zwischen dem traditionellen und neuen Modus der Wissensproduktion wird in ihrer disziplinären und kontextuellen Verortung gesehen. Während in »Modus 1«, also in der traditionellen akademischen Forschung, das Angebot von neuem Wissen weitgehend in einem disziplinären, durch akademische Interessen und Institutionen bestimmten Kontext entwickelt wurde, erfolgt die Wissensproduktion in »Modus 2« nunmehr überwiegend in einem Anwendungskontext (»context of application«). Dadurch ist sie sowohl anwendungsorientiert, als auch trans- und interdisziplinär angelegt. Sie fungiert als heterogenes, zeitlich und örtlich flexibles Ensemble, bestehend aus Forschern/-innen, Experten/-innen und Praktikern /-innen mit unterschiedlichem Spezialwissen und unterschiedlichen Interessen, das sich in der Absicht trifft, gemeinsam ein konkretes Problem anzugehen.46 Um die Wissensproduktion in »Modus 2« adäquat zu erfassen, wird es nunmehr als notwendig erachtet, nicht mehr nur von »Wissenschaft« und »Wissenschaftler« zu sprechen, sondern in allgemeinerer Weise von »Wissen« und von »Praktikern der Wissenserzeugung«.47 Diese Unterscheidung besagt nicht, dass die Praktiker der Wissenserzeugung in »Modus 2« sich nicht gemäß wissenschaftlicher Normen verhalten würden, sondern lediglich, dass sie nicht mehr per definitionem Wissenschaftler sein müssen.48 Deutlich wird damit auch, dass in »Modus 2« Wissenschaft und Forschung nicht länger als ein autonomer Raum verstanden werden kann, der klar vom jeweiligen »Anderen« der Gesellschaft, der Kultur und vor allem der Wirtschaft abgegrenzt ist. Vielmehr sind diese Bereiche derart vonei44 Gibbons et al.: The New Production of Knowledge,. Deutsche Ausgabe: Gibbons, Michael et al.: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist 2005. 45 Vgl. dazu ausführlich: Mareis: Design als Wissenskultur. 46 Vgl. Gibbons et al.: The New Production of Knowledge, S. 3—7. 47 Gibbons et al.: The New Production of Knowledge, S. 3. 48 Bender, Gerd: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Neue Formen der Wissenserzeugung, Frankfurt a.M. 2001, S. 9—21, hier S. 11.
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nander abhängig und grenzüberschreitend geworden, dass sie kaum mehr unterscheidbar sind.49 Wohlgemerkt zielt dieser Befund gleichermaßen auf eine veränderte Selbsteinschätzung seitens der Wissenschaften wie auch auf eine veränderte gesellschaftliche Sichtweise (und Anspruchshaltung) auf Wissen. Wissensproduktion repräsentiert in »Modus 2« nicht länger eine idealisierte, vom gesellschaftlichen Geschehen losgelöste Praxis. Ihre Protagonisten sind einander, neben gemeinsamen intellektuellen Orientierungen, vor allem auch (und das nicht immer freiwillig) durch materielle und ökonomische Interessen verbunden.50 Mit der Betonung des Anwendungskontextes wollen die Verfasser/-innen von »The New Production of Knowledge« nicht bloß die bestehende Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung verfestigen. Vielmehr argumentieren sie, dass in diesem Modus auch die Grundlagenforschung zunehmend anwendungsorientiert, und mehr noch, dass das Moment der Anwendung zum allgegenwärtigen gesellschaftlichen Imperativ für Forschung avanciert sei.51 Sowohl die Anwendungsbezogenheit der »Modus 2« -Wissensproduktion, als auch die Heterogenität der darin versammelten Akteure, Expertisen und Interessen bedingen, dass sich die Kriterien verändern, nach denen bestimmt wird, was »gute Wissenschaft« sei. An die Stelle akademischer Peer-Review-Verfahren träten, so die Beobachtung von Gibbons et al., Qualitätskriterien und Evaluatoren, die aus dem Anwendungskontext stammten.52 Die Art des zu produzierenden Wissens resultiert mithin als Ergebnis eines Prozesses, in dem sowohl Angebot als auch Nachfrage wirksam werden; Problemdefinition und Lösungsaktivitäten sind Gegenstand von Aushandlungen zwischen den Akteuren. Mit dem Fokus auf den Anwendungskontext und die Praxisnähe zeitgenössischer Wissensproduktion wird also nicht nur auf deren gesellschaftliche und wirtschaftliche Implikationen verwiesen, sondern gleichermaßen auf die damit einhergehende soziale Verantwortung. Wissen wird als ein sozial ausgehandeltes und distribuiertes Gut verstanden, die starke Betonung des Anwendungskontextes legt aber zugleich die Kritik nahe, dass Forschung der wirtschaftlichen und politischen Agenda unterworfen sei.53 Wissensproduktion in »Modus 2« ist, pointiert gesagt, Risiko und Chance zugleich. 49 Gibbons et al.: Wissenschaft neu denken, S. 9. 50 Gibbons et al.: Wissenschaft neu denken, S. 155. 51 Nowotny: Es ist so. Es könnte auch anders sein, S. 50. 52 Gibbons et al.: The New Production of Knowledge, S. 9. 53 Ziman, John: Is Science Losing its Objectivity?, in: Nature, Nr. 382 (1996), S. 751—754.
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Es liegt auf der Hand, die Designforschung zu denjenigen Fächern zu zählen, welche die charakteristischen Kennzeichen einer »Modus 2« -Wissensproduktion aufweisen, und Designforschende haben sich ihrerseits bereits auf das Konzept bezogen.54 Erstens und vorrangig finden sich charakteristische Korrelationen in dem oft akzentuierten Anwendungskontext und in der angestrebten Praxisnähe von Designforschung. So schlägt Alain Findeli für die Designforsch-ung eine Form der »projektgeleiteten Forschung« vor, die sowohl wissenschaftlich anerkannt als auch für die Designpraxis produktiv sein solle.55 Auch wird die gesellschaftliche Relevanz dieser projektgeleiteten Forschung hervorgehoben. Für Findeli handelt Designforschung »vom tätigen Leben des zeitgenössischen Menschen«, entsprechend soll sie »der menschlichen Dimension im Design« Priorität einräumen und bei den Untersuchungsgegenständen das »Repertoire der vielfältigen und komplexen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und gebauter Welt« berücksichtigen.56 Zweitens finden sich charakteristische Merkmale der »Modus 2«-Wissensproduktion in der interdisziplinären Ausrichtung von Designforschung. Interdisziplinarität stellt spätestens seit dem »Design Methods Movement« in den 1960er Jahren eine bedeutende intellektuelle Orientierung für die Designforschung dar. Jesko Fezer hält fest, dass die interdisziplinäre Ausrichtung des »Design Methods Movement« in dieser Zeit nicht nur dem verstreuten Auftauchen einer Entwurfsmethodik in verschiedenen Forschungsgebieten entsprochen habe, sondern auch der These gefolgt sei, dass der Entwurfsprozess in unterschiedlichen Disziplinen ein einheitliches Muster aufweise.57 Daraus resultieren in der Designforschung bis heute fachübergreifende Fragestellungen, die nicht selten auch von temporär agierenden und heterogen zusammengesetzten Forschungsteams bearbeitet werden.58 Drittens schließlich zeichnet 54 Aken, Joan Ernst van: »Management Research as a Design Science: Articulating the Research Products of Mode 2 Knowledge Production in Management«, in: British Journal of Management, Vol. 16, Nr. 1 (2005), S. 19–36. 55 Findeli, Alain: »Die projektgeleitete Forschung: Eine Methode der Designforschung«, in: Swiss Design Network (Hg.): Erstes Design Forschungssymposium, Zürich 2004, S. 40—51, hier S. 45. 56 Findeli: Die projektgeleitete Forschung, S. 46, S. 48. 57 Fezer, Jesko: »A Non-Sentimental Argument. Die Krisen des Design Methods Movement 1962—1972«, in: Daniel Gethmann/Susanne Hausen (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte, Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld 2009, S. 287—304, hier S. 291. 58 Vgl. dazu etwa: Mareis, Claudia: »Of Sharks and Dolphins. Reflections on PracticeLed Design Research Based on the Research Project ›Artistic Modes of Depiction for Understanding Managing Professionals in Healthcare‹«, in: Focused. Current Design Research Projects and Methods, Bern 2008, S. 167—180.
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sich die Designforschung durch ihren prekären akademischen Status als charakteristische Form einer »Modus 2«-Wissensproduktion aus. Designforschung lässt sich oft nur schwer den bestehenden akademischen Kategorien zuordnen, etwa derGrundlagenforschung oder der angewandten Forschung, Wissenschaft oder Praxis. Stattdessen kann beobachtet werden, dass sie nicht nur in den Randregionen, sondern auch in den Zwischenräumen des Wissenschaftswissens agiert. Selbst innerhalb der Designforschung gibt es keinen Konsens darüber, ob ihr Selbstverständnis eher einer wissenschaftlichen oder fachberuflichen Tätigkeit entsprechen, oder aber eine Verquickung von beidem darstellen soll. Zweifellos bietet diese Rand- und Zwischenstellung gewisse Vorzüge und Freiräume für die Designforschung: Unorthodoxe Fragestellungen können darin entwickelt, innovative Methoden erprobt oder unübliche Kooperationen eingegangen werden. Es resultieren daraus jedoch auch ernstzunehmende Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Akzeptanz. So entsprechen die Rahmenbedingungen der Forschungsförderung in der Regel den Kriterien und Normen bestehender Wissenschaftsdisziplinen. Ganz lapidar kann ein Designforschungsprojekt deswegen scheitern, weil es keiner bestehenden Disziplin oder Kategorie zugeordnet werden kann. Der Soziologe Franz Schultheis nennt diese materialisierten Ein- und Ausschlusskriterien des wissenschaftlichen Arbeitens (Antragsformulare, Gesuche, Keywords etc.) »papierene Torwächter der Institution ›Wissenschaft‹«. Gesuchsteller merkten rasch, so Schultheis, wie schwierig es sei, für eine im Werden begriffene Disziplin eine eigene Sprache, eigene Paradigmata, unverwechselbare Labels und Kürzel zu finden, die bereits Wiedererkennungswert und Konsensfähigkeit erworben hätten. 59 In dieser Hinsicht vermag es kaum zu erstaunen, dass das Konzept der »Modus-2«-Wissensproduktion manchen Designforschenden als willkommenes (und womöglich komfortables) Argument dient, um damit ihren prekären, ambivalenten wissenschaftlichen Status gegenüber dem etablierten akademischen System zu erklären – oder diesen sogar zu legitimieren. Nowotny et al. verwehren sich allerdings dagegen, dass »Modus 2« als Konzept zu begreifen sei, das beliebig interpretiert und nach Bedarf manipuliert werden könne, vielmehr sei »Modus 2« selbst ein Projekt, ein Beispiel für die soziale Distribution von Wissen, die es zu beschreiben suche. Die genannten Charakteristika und Problematiken bezüglich einer veränderten Weise der Wissenserzeugung lassen sich unseres 59 Schultheis: Disziplinierung des Designs, S. 82.
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Erachtens produktiv für die Designforschung erörtern. 60 Der vorliegende Band stellt aus diesem Grund Beiträge aus jenem Spannungsfeld vor, in dem Designforschung zur Anwendung kommt. Der Begriff des »Anwendungskontextes« ist dabei nicht bloß als die marktgerechte Applikation von Wissen zu verstehen. Er umfasst, mit Blick auf das Gesagte, vielmehr die gesamte Umgebung, in der bei der Genese von Wissen Probleme entstehen, Methodologien entwickelt, Forschungsresultate verbreitet und deren Anwendungen definiert werden. Zugleich wird damit das Paradox benannt, welches die gegenwärtige Produktion von Wissen zwar eine größere Nähe zu gesellschaftlichen Fragestellungen und Problemen einnimmt, damit aber eine zunehmende Kommerzialisierung von Wissen zu befürchten ist. Für die weitere Entwicklung der Designforschung stellt sich die Frage, wie sie in diesem ambivalenten Spannungsfeld von Entwerfen, Wissen und Produzieren zu verorten ist. Zugespitzt formuliert, ist nicht nur in einem technisch-utilitaristischen Sinne danach zu fragen, wie Designforschung in das Konzept einer »Wissensgesellschaft« hineinpasst und was sie dort leisten soll, sondern auch, was die Verbindung von Design und Forschung für die Entwurfspraxis bedeutet und ermöglicht. Es stellt sich schließlich, und vielleicht am Dringlichsten, die Frage, ob diese Verbindung nicht bloß als ein epistemologisches oder wirtschaftliches, sondern auch als ein gesellschaftliches Projekt zu befragen wäre.
Entwerfen – Wissen – Produzieren Die hier versammelten Beiträge versuchen jeweils an einem spezifischen Fallbeispiel, vermittels einer empirischen Untersuchung oder einer theoretischen Diskussion Perspektiven zu erarbeiten, welche die Wechselbeziehungen zwischen den Verfahrensweisen des Entwerfens, Wissens und Produzierens in der Designforschung eingehend betrachten. Der Band ist wie sein Titel in drei Teile gegliedert — »Entwerfen«, »Wissen« und »Produzieren« – wobei die zugeordneten Beiträge meist themenübergreifende Aspekte artikulieren und damit verdeutlichen, wie eng die Themenfelder miteinander verwoben sind. Entwerfen: Der erste Teil des Bandes beschäftigt sich mit dem Entwerfen als epistemischer Praxis. Die versammelten Beiträge untersuchen anhand divergierender Konzepte von »Entwurf« und »Entwer60 Nowotny, Helga et al.: »›Mode 2‹ Revisited«, in:Minerva, Nr. 41 (2003), S. 179—194, hier S. 180.
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fen«, ob und in welcher Weise gestaltende und entwerfende Praktiken als Wissenspraktiken zur Geltung kommen können. Von Interesse für die gesamte Thematik des Bandes ist, dass sich mehrere Beiträge zur Fundierung ihrer Thesen oder zur Begründung ihrer Argumentation auf aktuelle Ansätze der Wissenschaftsforschung und der Science and Technology Studies beziehen. Dabei werden solche Ansätze favorisiert, in denen Wissensproduktion sowohl in den Wissenschaften als auch in Entwurfskontexten mit Blick auf ihre Praktiken und Objekte beschrieben und analysiert wird. Den Auftakt bildet Wolfgang Schäffners Text »The Design Turn Eine wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung«. Der Text entfaltet seine Argumentation vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass die Naturwissenschaften sich spätestens seit der öffentlichkeitswirksamen Entwicklung der Nanotechnologie zunehmend mit gestalterischen Fragestellungen beschäftigen müssen. Diese Beobachtung ist konkret im Hinblick auf das »engineering« von kleinsten atomaren und molekularen Bausteinen und Strukturen gültig. Sie lässt sich aber auch in den architektonischen und strukturellen Metaphern aufzeigen, die in der Nanotechnologie beansprucht wer-den. Die zunehmende Bedeutung von gestalterischen Fragestellungen in den Naturwissenschaften bleibt für die geisteswissenschaftliche Forschung nicht ohne Konsequenz. Den gegenwärtigen Wandel in den Naturwissenschaften versteht Schäffner als historischen Augenblick und zugleich als Herausforderung für eine Restrukturierung des wissenschaftlichen Wissens im Zusammenhang mit einer neuen Rolle der Gestaltung. Diese wird als integrative und synthetisierende Kraft für die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen projektiert. Entsprechend wird auch der »design turn« als Möglichkeit verstanden, Wissen und Gestaltung auf eine neuartige Weise zu verbinden. Boris Ewenstein und Jennifer Whyte stellen in ihrem Aufsatz »Wissenspraktiken im Design Die Rolle visueller Repräsentationen als ›epistemische Objekte‹« die Resultate einer empirischen Studie vor. Darin wurden die wechselnden epistemischen Funktionen von visuellen Repräsentationen im Rahmen eines architektonischen Entwurfsprozesses untersucht. Im Kern der Untersuchung steht die Einsicht in die »multidimensionale« Natur von Objekten sowie die Frage nach den Möglichkeiten ihrer wissenssoziologischen und -theoretischen Beschreibung. Insbesondere beleuchten Ewenstein und Whyte dabei den Aspekt, dass visuelle Repräsentationen in Entwurfsprozessen in der Regel von einem »Mangel« oder von einer Unvollständigkeit geprägt sind, die ihrerseits weitere pragmatische und theoretische Entwicklungen nach sich ziehen. Der Beitrag, der hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, will mit seinem ana-
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lytischen Fokus auf die in den Entwurfsprozessen erzeugten und verwendeten Objekte ein Schlaglicht auf die materialen Bedingungen, die symbolischen Kontexte und die sozialen Beziehungen werfen, in denen Entwurfspraxis zu verorten und als Wissenspraxis zu untersuchen ist. Peter Friedrich Stephan bringt in seinem Beitrag »Wissen und Nichtwissen im Entwurf« eine Vielzahl korrelierender Überlegungen zu »Design« und »Wissen« auf produktive Weise miteinander in Beziehung. Mit Blick auf aktuelle wissenschaftshistorische Untersuchungen zum »Wissen im Entwurf«61 argumentiert Stephan, dass diese und damit verwandte Ansätze als »späte theoretische Einholung« der von Designer/-innen »immer schon praktizierten und reflektierten Handlungs- und Erkenntnisweise« gelten könnten. Vor diesem Hintergrund erscheint es seines Erachtens aussichtsreich, »eine originär gestalterische Epistemologie zu entwickeln, statt einem fragwürdig gewordenen Wissenschaftsideal nachzueifern« 62. Konsequenterweise finden in seinem Text einerseits der Aspekt der gestalterischen und visuellen Aufbereitung und Vermittlung von Wissen, andererseits der Begriff des »Nicht-Wissens« eine besondere Aufmerksamkeit. Durch die diskursive Bezugnahme von »Design« und »Wissen« skizziert der Beitrag übersichtsartig ein womöglich noch zu verdichtendes epistemologisches Netzwerk, das die Gestaltung von Wissen beziehungsweise das »Wissensdesign« als gemeinsamen Fundus hat. Gert Hasenhütls Beitrag »Hypothesen beim Entwerfen« beabsichtigt, »Hypothesen« in Entwurfsprozessen aus Architektur, Grafik und Industriedesign zu identifizieren. Diese Absicht impliziert, dass Entwurfshandlungen als Forschungsprozesse aufgefasst und mittels wissenschaftstheoretischer Konzepte geklärt werden können. Der Text verfolgt mithin die Frage, inwiefern Entwurfsprozesse einen wissenschaftlichen Charakter besitzen und wie sich in ihnen Hypothesen als »Grundbausteine« der Entwurfshandlung identifizieren lassen. Zum einen gilt es dabei bestimmte historisch-theoretische Annahmen zu berücksichtigen, die es erlauben, von Hypothesen beim Entwerfen zu sprechen, zum anderen zieht die Annahme, der Entwurf sei hypothesenbasiert, bestimmte Implikationen für die Entwurfspraxis nach sich. Nach Ansicht von Hasenhütl lassen sich Hypothesen im Entwurf 61 Die Forschungsinitiative »Wissen im Entwurf« läuft seit Herbst 2006 unter der Leitung von Hans-Jörg Rheinberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, und Gerhard Wolf, Direktor am Kunsthistorischen Institut Florenz (Max-Planck-Institut). Projektwebsite: http://knowledge-in-the-making.mpiwg-berlin.mpg.de [Juni 2010]. 62 Im vorliegenden Band: Stephan, Peter Friedrich: Wissen und Nichtwissen im Entwurf, S. 83.
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denn auch nur bedingt mit wissenschaftlichen Hypothesen vergleichen. Dennoch will der Autor keiner kategorischen Dichotomie von Entwurf und Wissenschaft zuarbeiten. In seinem Beitrag versucht er vielmehr, von einer scharfen Trennung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen (an dieser Stelle: entwerferischen) Entwurfsprozessen wegzukommen. Wissen: Der zweite Teil des Bandes ist schwerpunktmäßig dem Aspekt des Wissens gewidmet. Die Beiträge gehen auf unterschiedliche Weise der Frage nach, wie Wissen in der Designforschung sowie in der künstlerischen Forschung identifiziert und konzeptualisiert werden kann. Dabei wird von keinem affirmativen Wissensbegriff ausgegangen, sondern es wird gezeigt, in welcher Weise »Wissen« einen Bestandteil einer diskursiven Aushandlung darstellt. Ebenfalls wird thematisiert, mit welchen Schwierigkeiten Konzeptualisierungsversuche und Begriffsbestimmungen von »Wissen« verbunden sind, etwa hinsichtlich ihrer (oft impliziten) Bezugnahme auf dichotome oder naturalisierende Vorstellung von sowohl Design als auch Wissenschaft. Claudia Mareis analysiert in ihrem Text »The ›Nature‹ of Design. Konzeptionen einer impliziten Wissenskultur«, in welcher Weise das Konzept eines »impliziten Designwissens« sowohl mit naturalisierenden Designauffassungen als auch mit sozialen Begrenzungsmechanismen korreliert. Der Text verfolgt die These, dass die implizite »Bedingtheit«, die bei Wissensbestimmungen im Design oft genannt wird, auf unterschiedliche Weise deutbar ist: Zum einen weist die Schwierigkeit, über praktische Aktivitäten hinreichend Auskunft zu geben, auf wissenssoziologische Erkenntnisse hin, wonach Wissen und Können neben expliziten immer auch aus impliziten Bestandteilen besteht, die sich einer sprachlichen Diskursivierung entziehen. Zum anderen kann die Praktikern/-innen attestierte »Sprachlosigkeit« aber auch mit tradierten sozialen Wertediskursen, normativen Sprachregelungen und impliziter Habitualisierung in Verbindung gebracht werden. Der von Polanyi beschriebene Umstand, dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen,63 kann dahingehend lesbar gemacht werden, dass implizites Wissen im Design keine »natürliche« epistemische Qualität oder Dimension darstellt, sondern dass sich darin Effekte einer soziokultureller Habitualisierung manifestieren. Rosan Chow diskutiert in ihrem englischsprachigen Beitrag »What Should be Done with the Different Versions of ResearchThrough-Design?« 3 konkurrierende Modelle der praxisbasierten Designforschung: Practice-Led-Research, Project-Grounded-Research 63 Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, Gloucester 1983 [1966], S. 4.
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und Research-Through-Design. Die Autorin fragt nach den institutionellen Einflüssen, die für ihre Entstehung prägend waren, sowie nach den darin verwendeten intellektuellen Konzepten. Den historischen Hintergrund dieser Befragung bilden die oftmals redundanten Debatten zur Designforschung in den letzten Jahrzehnten. Der Text vergleicht die genannten Forschungsmodelle miteinander in der Absicht, ihre individuellen Vorzüge, aber auch ihre Schwächen zu beleuchten und ihre Beziehung untereinander zu klären. Allesamt gehen die Modelle davon aus, dass Entwerfen und Gestalten spezifische Weisen der Wissensproduktion darstellen, die in der Forschung nutzbar gemacht werden können. In ihren theoretischen Fundierungen sind die Modelle zwar miteinander verwandt, sie unterscheiden sich jedoch in ihren Zielsetzungen bisweilen erheblich. Chows komparatistische Untersuchung setzt sich zum Ziel, die Debatten um die unterschiedlichen Modelle praxisbasierter Designforschung zu erhellen und sie in einer sinnvollen Weise zu systematisieren. Mads Nygaard Folkmanns Aufsatz befasst sich mit dem Thema »Umsetzung. Interpretative Herausforderungen praxisferner Designtheorie«. Vor dem Hintergrund der ambivalenten Beobachtung, dass theoretisches Wissen einen bedeutenden Bestandteil gestalterischer Praxis darstellt und sich dennoch eine markante Kluft zwischen »Theorie« und »Praxis« im Design zu ziehen scheint, geht der Autor der Frage nach, auf welche Weise angeblich »praxisferne« Theorien aus der Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaft sich in praxisrelevante Einsichten für das Design umsetzen und auf die Bedürfnisse von Praktiker/innen beziehen lassen. Im Design sind, so Folkmanns These, »Theorie« und »Praxis« einerseits dicht ineinander verwoben. Demnach könne es keine Designpraktiken geben, die nicht zugleich auch als Wissenspraktiken operieren und dabei theoretisch informiert sind. Andererseits sei es aber stets auch eine Herausforderung für das Design gewesen, ein theoretisches Verständnis in die Praxis einfließen zu lassen. Der Text nimmt eine vermittelnde Position in der Debatte zur TheoriePraxis-Dichotomie ein, indem er für eine »Stratifizierung« von unterschiedlich ausgerichteten und fundierten Designtheorien plädiert. In ihrem Beitrag »Auf den Spuren einer Kunst der Forschung« gehen Sønke Gau und Katharina Schlieben anhand eines dialogischen Textformats auf programmatische Aspekte der künstlerischen Forschung ein. Diese interferiert – und das ist für den vorliegenden Band von Interesse – mit zentralen Fragestellungen der aktuellen Designforschung. Dies ist etwa dort der Fall, wo das historische und ontologische Verhältnis von Kunst und Wissenschaft befragt wird oder wo dieses Verhältnis auf eine essentialistische Weise definiert werden soll. Gau und Schlieben thematisieren eine in den Debatten
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zur künstlerischen Forschung zu beobachtende dichotome Setzung von Kunst und Wissenschaft. »Kunst« wird in Abgrenzung oder sogar in Opposition zu »Wissenschaft« aufgefasst, wobei implizit meist die Naturwissenschaften als Gegenüber gemeint sind. Auch werde Kunst, so die Autoren/-innen, bis heute als »gesellschaftlich Anderes« charakterisiert und vermittels historisch tradierter Zuschreibungen wie dem »Schöpferischen«, dem »Schönen«, dem »Freien«, dem »Autonomen«, dem »Ungebundenen« oder auch dem »Genie« definiert. All diese Attribute beeinflussen ihrerseits die Konzepte zur künstlerischen Forschung, die sich folglich in Ergänzung, Erweiterung oder aber in einem radikalen Kontrast zu wissenschaftlicher Forschung versteht. Produzieren: Im dritten Teil des Bandes sind Beiträge versammelt, in denen Designforschung zur Produktion kommt beziehungsweise in denen ihre spezifischen Anwendungskontexte beispielhaft analysiert werden. Die Beiträge wählen unterschiedliche methodische Strategien, um sich den Produktions- und Anwendungs-zusammenhängen von Designobjekten und -akteuren aus sowohl praxisbasierter als auch analytisch-historischer Perspektive zu nähern. Der kollektiv gezeichnete englischsprachige Beitrag von Kees Overbeeke, Stephan Wensveen, Caroline Hummels, Joep Frens und Philip Ross trägt den Titel »DQI Interaction Design Research«. Anhand ausgewählter Forschungsbeispiele des Department of Industrial Design, Technische Universität Eindhoven, stellen die Autoren/-innen für sie fundamentale forschungsleitende Einsichten und Überzeugungen zum Design von »intelligenten« Produkten und Systemen zur Diskussion. Der Begriff »Interaktion« bildet den erkenntnis- und vor allem handlungstheoretischen Bezugsrahmen des Textes, innerhalb dessen Designpraxis als wirkungsmächtiger »Generator« für Wissen projektiert wird. So wird argumentiert, dass Wissensgenerierung im Design primär aktionsbasiert sei und folglich auch eine Designtheorie zunächst als eine Theorie der Aktion und Verkörperung (»embodiment«), dann erst als eine Bedeutungstheorie zu konzipieren sei. Kognitive Bedeutung könne, so die These des Textes, von physischer Aktion nicht abgekoppelt werden, vielmehr sei Bedeutung per se als ein Effekt von (Inter-)Aktion zu verstehen. Die Dimension eines kognitiven Wissens und Könnens versuchen die Autoren/-innen durch eine emotionale und soziale Dimension zu erweitern, die sie beispielhaft anhand der Interaktion mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen diskutieren. In seinem Aufsatz »Event. Design. Trash – Der Beitrag des Designs zur Erlebnisgesellschaft« präsentiert Kai Rosenstein erste Befunde eines Forschungsprojektes, das zur theoretischen und pra-
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ktischen Fundierung des Event-Begriffs im Design beitragen will. Innerhalb dieses Projekts thematisiert er seine doppelte, für die Designforschung jedoch nicht unübliche Rolle als erstens beobachtender Designforscher und zweitens professioneller Designer. Daraus resultieren multiple, aber auch ambivalente Sichtweisen auf das EventDesign, die sich bestenfalls gegenseitig informieren können. Aus Sicht des Designpraktikers steht für Rosenstein die Entwicklung einer kritisch-reflektierten Haltung gegenüber dem eigenen Schaffen im Vordergrund; als Designforscher versucht er darüber hinaus einen theoretisch fundierten, aber immer noch »designspezifischen« Blick auf die komplexe Verstrickung von Event-Gestaltung, kapitalistischer Wareninszenierung und gesellschaftlicher Erlebniskultur zu entwikkeln. Fehlendes Wissen um die Methoden der »Eventifizierung« und die Parameter der Event-Kritik stehen, so die These, nicht nur dem Anschluss des Designdiskurses an einen tiefer gehenden gesellschaftlich-politischen Eventisierungsdiskurs im Weg, sondern auch einer kritisch informierten Designpraxis. Christof Windgätters Beitrag trägt den Titel »Die Farbe des Unbewussten oder Wie Design zu einer Bedingung wissenschaftlichen Wissens geworden ist« und stellt eine Fallstudie über die Layout-Strategien des Internationalen Psychoanalytischen Verlags (1919—1938) dar. Er vertritt die These, dass der Verlag über seine ökonomischen, personellen und distributiven Aspekte hinaus auch eine epistemische Funktion erfüllt habe und somit nicht nur als Kommunikationsinstrument, sondern auch als Evidenzmedium der Psychoanalyse beschreibbar sei. Die Verlagsaktivitäten in punkto Layout und Buchgestaltung stellen in dieser Lesart eine wesentliche Voraussetzung dar, um die Theorien der Wiener Psychoanalyse als Wissenschaftswissen zu implementieren. Zu den wichtigsten Merkmalen dieser gestalterischen Strategien zählen – und darin sind sich historische und gegenwärtige Bemühungen des Corporate Designs verwandt – die Durchsetzung eines Verlagsnamens, die Umschlaggestaltung der Drucksachen, die Farbwahl der Einbände, die Typografie, die Einführung eines Firmenlogos und diverse Public-Relations-Versuche. Mit diesen Strategien steht der Verlag für Windgätter am Anfang einer bis heute andauernden Entwicklung, die Markt- und Markenbildungen nicht nur in wirtschaftliche, sondern auch in wissenschaftliche Arbeitsprozesse eingeführt hat. Barbara Hahn und Christine Zimmermann beschreiben in ihrem Text »Visueller Atlas des Spitalalltags – Visualisierung organisatorischer und kommunikativer Abläufe im Patientenprozess« die Ergebnisse eines praxisbasierten Designforschungsprojekts, das in Kooperation mit dem Berner Inselspital entstanden ist. Zielsetzung des
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Projektes war, bereits erhobene Datensätze zu spitalinternen Arbeitsund Kommunikationsprozessen vermittels neuer Darstellungsformen auch neu zu erschließen. Die visuellen Instrumente, die bei der Analyse von hochkomplexen arbeitsorganisatorischen Prozessen in Spitälern (aber auch in anderen Unternehmen) zum Einsatz kommen, beschränken sich in der Regel auf standardisierte Darstellungsformen wie Kuchen- und Balkendiagramme. Hahn und Zimmermann verfolgen demgegenüber die These, dass das Potenzial von Datenvisualisierungen durch diese standardisierten Datendarstellungen nicht ausgeschöpft wird. In dem genannten Projekt entwickelten die beiden Designerinnen zu Teilbereichen des arbeitsorganisatorischen Spitalalltags individualisierte visuelle Darstellungsformen, die – nicht zuletzt in der Diskussion der Resultate mit den zuständigen Spitalmitarbeitenden – auch neue Aspekte am Datenmaterial aufzeigen und so weiterführende Fragen zur Optimierung von Pflegeprozessen aufwerfen konnten. Insgesamt wird in einer derart durch die versammelten Beiträge ausgeleuchteten Topologie der Designforschung einerseits die Relevanz von interdisziplinären Herangehensweisen für die Analyse von Design und Designforschung ersichtlich. Anderseits deutet sich an, dass namentlich Ansätze aus der jüngeren Wissenschaftsforschung und den Science and Technology Studies ein für die Designforschung produktives methodisches und begriffliches Werkzeug bereitstellen könnten. Die oben zitierte Aussage von Glanville, dass die Wissenschaften im Grunde einen Teilbereich des Designs darstellten,64 kann mit der These einer gegenseitigen Durchdringung von Wissenschafts- und Designforschung kontrastiert werden. Sie besagt, dass sich nicht nur in den Wissenschaften ein Bewusstsein für die materialen, ästhetischen, technischen und sozialen Bedingungen von Wissen verfestigt hat, sondern auch, dass sich die Designforschung zunehmend die Betrachtungsweisen der Wissenschaftsforschung adaptiert und so ein epistemologisches, vor allem aber auch ein historisches Bewusstsein für ihre eigene(n) Wissenskultur(en) entwickelt. So oder so, das Vorhaben, Design als autonome Wissenskultur zu analysieren, erfordert es, diese Analyse mit Wissensdiskursen aus anderen Feldern und Kontexten abzugleichen. Horst Bredekamp hat in anderem Zusammenhang (mit Blick auf die Entwicklung der Technikgeschichte) festgehalten, dass die Disziplinen zwar in der Isolierung ihre Konturen schärfen müssten, »aber wenn sie in ihr verbleiben, 64 Glanville, Ranulph: »Researching Design and Designing Research«, in: Design Issues, Vol. 15, Nr. 2 (1999), S. 80—91, hier S. 88f.
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werden sie verkümmern wie in Einzelhaft«. 65 Dieser Gedanke hat auch für die weitere Entwicklung der Designforschung seine Geltung. Es heißt, eine gute Balance zu finden zwischen der Akzentuierung der disziplinären Eigenständigkeit des Faches und einem notwendigen – im Design ja bereits angelegten – interdisziplinären Austausch. Für die Designforschung gilt somit, dass das Wissen nicht als »selbständiger Stoff« zu verstehen ist, sondern als spezifisches Wissen »von etwas«,66 als eine materiale und kulturelle Repräsentationsform der Welt. Sowohl die thematisch-methodische Breite als auch die verschiedenen Sprachkonventionen und Denkstile der hier versammelten Beiträge vermögen zu veranschaulichen, was geschieht, wenn »Praktiker des Wissens« aus unterschiedlichen Feldern und Disziplinen zusammentreffen, um sich über ein gemeinsames Forschungsdesiderat austauschen. Zunächst einmal gilt es, eine, gemessen an Aufwand und Komplexität, nicht zu unterschätzende Übersetzungsarbeit für disziplinspezifische Konzepte, Denkstile und Ansätze zu leisten. Diese stellt zwar noch keine vereinheitlichte Grundlage für künftige interdisziplinäre Forschungen im Design bereit, sie erleichtert jedoch das Verständnis für individuelle Standpunkte und befördert so eine gegenseitige Durchdringung. In dieser produktiven Übersetzungsarbeit kann der vielleicht wichtigste Beitrag dieses Bandes gesehen werden.
Zusatzanmerkung: Die hier abgedruckten Texte folgen der gendergerechten Schreibweise, es sei denn, die Autoren haben dies ausdrücklich nicht gewünscht.
65 Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 2000 [1993], S. 104. 66 Nassehi, Armin: »Von der Wissensarbeit zum Wissensmanagement. Die Geschichte des Wissens ist die Erfolgsgeschichte der Moderne, in: Maar, Christa et al. (Hg.): Weltwissen, Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, Köln 2000, S. 97—106, hier S. 99.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
The Design Turn . Eine wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung Wolfgang Schäffner
In den Naturwissenschaften ereignet sich derzeit ein fundamentaler Wandel: Die Analyse der Natur ist an einen Punkt angelangt, an dem sich die Richtung der Forschung umkehrt. Nun handelt es sich nicht mehr darum, die Prozesse der Natur zu erforschen, sondern darum, wie man mit deren Basiselementen in anderer Weise verfahren kann. Und dabei geschieht etwas Eigentümliches: Denn man beginnt von »Ziegelsteinen«, von »Fenstern« und »Maschinen » zu reden, als befänden wir uns in der künstlichen Welt der Architektur und des Designs. Der/die Wissenschaftler/-in als Beobachter/-in und Analytiker/in der chemischen, physikalischen und biologischen Elemente der Natur verwandelt sich in eine/-n Gestalter/-in von etwas, das vorher nicht existierte. Als Verfahren ist das nicht wirklich neu: Die Synthese der chemischen Verbindungen bildet vor allem seit dem 19. Jahrhundert ein grundlegendes Verfahren in der Chemie. Doch das, was tatsächlich neu ist und was als eine wissenschaftliche Revolution betrachtet werden kann, ist diese allgemeine Wende der Analyse der natürlichen Welt zur Synthese, zur Gestaltung, die sich hinter dem verbirgt, was Nanotechnologie genannt wird. Nanotechnologie ist nicht nur ein Sprung in einen kleineren Maßstab, von der Mikrowelt in eine Nanowelt, sondern es handelt sich um einen qualitativen Sprung, der das gesamte Feld der Naturwissenschaften verändert. Diese Situation kann man als historischen Augenblick verstehen und als Herausforderung für eine Restrukturierung des wissenschaftlichen Wissens im Zusammenhang mit einer neuen Rolle der Gestaltung als einer integrativen Kraft für die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Im Folgenden will ich diese wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung aus der Perspektive der Naturwissenschaften skizzieren und einige Konsequenzen und Möglichkeiten aufzeigen, die sich in dieser Situation für das wissenschaftliche Wissen auch im Bereich der Ingenieurwissenschaften, der Geistes- und der Gestal-
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tungswissenschaften ergeben. Diese vier Sektoren des Wissens, die den elementaren Tetraeder unserer heutigen Wissenschaften bilden, erlauben es, eine neue Verbindung von Wissen und Gestaltung herzustellen, die hier »design turn« genannt werden soll. Deshalb will ich zunächst eine kurze Diagnose der gegenwärtigen Situation hinsichtlich des Designs präsentieren, die diese außerordentlichen Möglichkeiten für eine neue Architektur des Wissens bietet. In einem zweiten Schritt soll ein Programm des »design turn« für eine neue interdisziplinäre Wissensordnung vorgestellt werden, in der die Gestaltung in Form eines interdisziplinären Labors eine neue zentrale Rolle für die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen erhalten soll. Und in einem dritten Schritt soll die grafische Oberfläche im Sinne eines aktiven grafischen Interface als ein exemplarisches Modell für die Entwicklung dieser neuen Ordnung des gegenwärtigen Wissens dienen. Alle hier präsentierten Überlegungen sollen schrittweise als konkrete Projekte in Buenos Aires und Berlin als Labor für interdisziplinäre Gestaltung entwickelt werden, das dazu dienen soll, einen »design turn« des Wissens programmatisch in Gang zu setzen.
1 / Diagnose: Design und Wissen Die gegenwärtige Lage der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen bietet sowohl eine außergewöhnliche Chance als auch eine historische Herausforderung für eine neue Verbindung von Gestaltung und Wissen. Grund dafür ist vor allem ein tief greifender Wandel der Naturwissenschaften, die sich in einer fundamentalen Weise restrukturieren. Schon zu Beginn der 1960er Jahre, in der Phase der ersten innovativen Schritte in Richtung einer Gentechnik und einer Biotechnologie, wurde die Eröffnung eines neuen Feldes der Physik verkündet. Der Physiker Richard Feynman präsentierte im Dezember 1959 ein wissenschaftliches Programm, dessen Effekte wir gegenwärtig als Nanotechnologie in allen Bereichen der Naturwissenschaften erleben. Mit dem Titel »There’s Plenty of Room at the Bottom. Invitation to Enter a New Field of Physics« stellte Feynman den Schritt auf eine niedrigere operative Skala auf der Ebene der Atome als Programm dar, um Dispositive, Operationen und Strategien zu entwickeln, die es erlauben würden, auf diesem Nano-Level gestalterisch aktiv werden zu können. Ausgehend von bekannten physikalischen Eigenschaften sprach Feynman über die Veränderung aller Techniken des Transports, der Information und der Intervention auf dieser Minimalebene der materiellen Welt.
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Feynman schlug nicht nur die Verringerung der Größe der elektronischen Schaltkreise der riesigen Rechenmaschinen seiner Zeit, wie den ENIAC oder MARC I, vor, sondern auch die Manipulation und die Kontrolle der Dinge in diesem minimalen Maßstab.1 We can reverse the lenses of the electron microscope in order to demagnify as well as magnify. A source of ions, sent through the microscope lenses in reverse, could be focused to a very small spot. We could write with that spot like we write in a TV cathode ray oscilloscope, by going across in lines, and having an adjustment which determines the amount of material which is going to be deposited as we scan in lines.
Alle neuen Möglichkeiten, die Atome und biologischen Funktionen zu verändern und zu reorganisieren, hängen von einer neuen Visualisierung ab, die auf dieser minimalen Ebene an der Basis der natürlichen Welt möglich wird: »You just look at the thing! You will see the order of bases in the chain; you will see the structure of the microsome.« Innerhalb dieses neuen wissenschaftlichen Gebiets verbinden sich offensichtlich so verschiedene Disziplinen wie die Physik, die Chemie und die Biologie in völlig neuer Weise. All das, was durch Feynman als mögliches Programm beschrieben wurde, ist mittlerweile realisiert und teilweise sogar überboten. Die Visualisierung, mit der eine Sichtbarkeit dieser minimalen Ebene auf elektronischem Wege hergestellt wird, ist ein wichtiger Bestandteil in der Entwicklung dieser neuen Wissenschaft: »The problems of chemistry and biology can be greatly helped if our abilty to see what we are doing, and to do things on an atomic level, is ultimately developed.« Doch handelt es sich nicht nur um Visualisierung und Codierung wie im Falle der Miniaturisierung der Informationstechnologie, sondern auch um Handlungsformen, wie die biologischen Systeme in paradigmatischer Weise zeigen: The biological example of writing information on a small scale has inspired me to think of something that should be possible. Biology is not simply writing information; it is doing something about it. A biological system can be exceedingly small. Many of the cells are very tiny, but they are very active; they manufacture various substances; they walk
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Die fol¸genden Zitate sind aus Richard Feynman: »There is Plenty of Room at the Bottom. An Invitation to Enter a New Field of Physics«, in: Engineering and Science (Febr. 1960), online: www.zyvex.com/nanotech/feynman.html
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around; they wiggle; and they do all kinds of marvelous things – on a very small scale.
All das ist schon als Forschung in Gang gesetzt. Die biologischen Elementarbausteine von Membranen und Zellen bilden jetzt Maschinen, Pumpen und Türen, so als hätte es niemals einen Unterschied zwischen Artefakten und Organismen gegeben. Diese Wende zum »doing things«, zum Machen, ist die Essenz dieser Wende zum Design, eines »design turn«, der sich mit der nanotechnologischen Revolution in unmittelbarer Weise verbindet. Aus dieser neuen Praktik der Gestaltung, die als Basisoperation einer neuen Konstruktion der Elemente der natürlichen Welt installiert wird, resultiert ganz offensichtlich eine Vermengung der Objekte der natürlichen Welt mit Artefakten.2 Davon leiten sich auch all die architektonischen Metaphern der »Ziegelsteine« und »Türen« ab, die aber ein anderes Problem mit sich bringen. Denn die Rede von »Ziegelsteinen« als Basiselementen eines neuen architektonischen Designs der Welt verkehrt die heutigen Nanowissenschaftler/-innen unfreiwillig in historische Akteure, denn sie bedeutet eigentlich eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Sie verlieren damit nämlich die Raumrevolutionen der Architektur seit 1900 aus dem Auge, die sich seitdem mit den Strukturen verbinden, diesen viel intelligenteren, offeneren und weit mehr mit der zeitgenössischen technischen Entwicklung verbundenen Elementen. Daran wird deutlich, dass der »design turn«, der sich in den Naturwissenschaften ereignet, erst wirklich produktiv werden kann, wenn er diese mit den Entwicklungen der Designstrategien zu verbinden und neue Verbindungen zum Feld der Designwissenschaften herzustellen erlaubt. In der Ingenieurwissenschaft ergibt sich eine vergleichbare Situation, da das Feynman’sche Programm in diesem Bereich ebenso folgenreiche Veränderungen nach sich gezogen hat: Die Minimierung des Maßstabs verlangt neue optische Auflösungen und neue entsprechende Werkzeuge, um auf dieser Ebene tätig werden zu können.3 Und zudem verbindet sich die Miniaturisierung zugleich mit einer Minimierung des Energieaufwandes. Denn die sogenannten »smart technologies« sind Techniken, die sich der großen Last der 2
Dieser Sachverhalt hat zugleich eine lange Geschichte. Spätestens seit dem »homme machine« und insbesondere seit der methodischen Verschränkung von Ingenieur- und Naturgestaltung bei D’Arcy Thompson verschwimmen die Grenzen zwischen Artefakten und Naturobjekten. Vgl. Thompson, D’Arcy Wentworth: On Growth and Form, Cambridge 1917.
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Der DFG 622 »Nanopositionier und Nanomessmaschinen« an der TU Illmenau kann in diesem Sinne als exemplarisches Beispiel gelten.
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Schwerindustrie entledigt und sich durch eine Art Fusion der Informationstechnik mit den schweren Maschinen in etwas Neues verwandelt haben. Der gegenwärtige Aufbau eines »internet of things«, des »pervasive computing«, beginnt die materialen Objekte wie Informationen zu behandeln und eine neue Verbindung des Virtuellen und Realen herzustellen. Auch die Implementierung dieser intelligenten Technologie in die Naturwissenschaften im Rahmen der Nanotechnologie beweist in anderer Weise, dass die alte Trennung von Ingenieurwesen und Naturwissenschaften nicht mehr funktioniert. Auch diese besonderen Designstrategien, die das Ingenieurwesen seit jeher in fundamentaler Weise bestimmen, sind fundamental für die Wende zum Design in den Naturwissenschaften: Dies ist der tiefere Sinn der Nanotechnologie, mit der sich die Naturwissenschaften in eine neue Vereinbarkeit mit einem »engineering« begeben. Auch die Human- und Geisteswissenschaften, die sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben, erhalten in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung. Die Geisteswissenschaften, die im Wesentlichen als historisch-analytische und kritische Disziplinen zu beschreiben sind, sind im entwurfs- und projektorientierten Arbeiten der Gestaltung, die sich auf die Zukunft richtet, nicht eigentlich involviert. Dennoch haben sie ihre Verfahren grundlegend verändert und gingen von einer Analyse und Geschichte der Ideen zu einer Analyse der kulturellen Praktiken über, wie es u.a. von Michel Foucault initiiert wurde. Doch diese Wende zu einer Analyse der Praktiken und materialen Kultur des Wissens und der Kulturtechniken4 müsste sich um einen weiteren Schritt verlängern zur Beteiligung an der Realisierung und Gestaltung neuer Praktiken. Denn die Geisteswissenschaften sind normalerweise nicht in den Prozess der kulturellen Produktion eingebunden. Das historisch-analytische Wissen ist nicht Teil des Gestaltungsprozesses: Es kommt vielmehr immer zu spät, als eine Art posthumer Analyse. Weder im Ingenieurwesen noch in den Naturwissenschaften oder in den Designdisziplinen spielen die Geisteswissenschaften eine fundamentale Rolle, wenn es sich um die Gestaltung neuer Realitäten handelt. Deshalb müssten sich die Geisteswissenschaften im Rahmen eines »design turn« neu organisieren. Sie könnten dadurch zu einem wichtigen Akteur bei der Produktion der modernen Realität werden und den Status eines analytischen, konsequenzlosen Wissens ablegen. Diese Geste von der Analyse zur Synthese und Gestaltung ist als solche jedoch nicht neu, wie man auch heute noch an der Haupttreppe des zentralen Gebäudes der Humboldt-Universität zu Berlin lesen kann, wo sich eine Inschrift von Karl 4
Bredekamp, Horst/Kraemer, Sibylle: Bild Schrift Zahl, München 2003.
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Marx befindet, die in der Epoche angebracht wurde, als diese Universität noch ein Zentrum des marxistisch-leninistischen Denkens der Deutschen Demokratischen Republik war: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« Denn jenseits aller ideologischen Manifestation ist festzuhalten, dass diese These, die Marx von Feuerbach übernommen hat, als Motto und Definition der Herausforderung für die Geisteswissenschaften dienen kann, die diesen Disziplinen nun im Rahmen des »design turn« bevorsteht. Diese Wende von der Analyse, der bloßen Interpretation des Existierenden zur Veränderung und Gestaltung der Welt ist das, worauf sich Richard Feynman im Sinne eines naturwissenschaftlichen Programms bezieht, wenn er eine neue Phase der Manipulation und Kontrolle der Dinge auf dem kleinsten Maßstab vorschlägt. Die Konsequenzen Feynmans, so wie sie sich schon heute abzeichnen, werden in diesem Sinne diejenigen des Diskursbegründers Marx5 übertreffen und unsere Welt weit nachhaltiger verändern. Doch handelt es sich dabei nicht mehr um die Schwerindustrie und die damit verbundene Technologie, die mit ihren destruktiven Effekten die Welt überrollte und immer noch zerstört, sondern um eine intelligentere, leichtere und nachhaltigere Form, die ihre Gestaltungs- und Konstruktionsformen der Natur entlehnt, um deren Strategien auf andere Strukturen und deren Transformationen übertragen und nachahmen zu können. In diesem Sinne können die neuen biomimetischen Materialien6 in exemplarischer Weise als Gestaltungsformen gelten, die sich den natürlichen Strukturen annähern, um sich der in den natürlichen Materialen und Objekten enthaltenen Intelligenz bedienen zu können. Dabei existiert die alte Differenz zwischen Artefakten und natürlichen Objekten und Materialien längst nicht mehr, insbesondere wenn es um die Zukunft unserer Objekte geht. Doch was bedeuten diese grundlegenden Veränderungen im Gebiet der Naturwissenschaften, des Ingenieurwesens, sowie der Geisteswissenschaften für die Designdisziplinen? Wenn die Gestaltungsstrategien eine so entscheidende und zentrale Rolle für alle anderen Disziplinen in dem Tetraeder der Wissenschaften, den die Natur-, Geistes-, Technik- und Gestaltungswissenschaften bilden, erhalten, fragt es sich, wie diese neue Situation die Designdisziplinen verändern wird und welche neue Zusammenhangsformen sich zwischen Gestaltung und Wissen herstellen. 5 Vgl. dazu Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften Bd. 1, Frankfurt 2001, S. 1003—1041. 6
Fratzl, Peter: »Biomimetic Materials Research: What Can We Really Learn from Nature’s Structural Materials?«, in: Journal of the Royal Society Interface 4 (2007), S. 637—642.
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2 / Programm: The Design Turn Die gegenwärtigen universitären Disziplinen charakterisiert allgemein ein hoch spezialisiertes Wissen; doch betrachtet man diese aus der Nähe, so kann man eine interne interdisziplinäre Struktur erkennen: Die konkrete Arbeit der Spezialdisziplinen verbindet sie immer mehr mit Wissensformen, Techniken und Praktiken, die einen komplexen Zusammenhang bilden, den man ihr unbewusstes interdisziplinäres Feld nennen könnte. Doch daneben gibt es auch eine ganz bewusste Ansammlung von unterschiedlichem Fachwissen unter dem Dach der jeweiligen Spezialdisziplin. Der Wissenschaftshistoriker Peter Galison hat diese Situation als eine materiale Kultur beschrieben, indem er sich auf den exemplarischen Fall der Mikrophysik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezog. Eine klassische Disziplin wie die Physik vereinigt, wenn sie ihre sogenannte »reine Wissenschaft« treibt, eine ganze Reihe von Praktiken, um ihre Experimente realisieren zu können.7 Indem man also den Blick vom Bewusstsein einer reinen Disziplin auf eine »trading zone« zwischen Technikern/-innen, Ingenieuren/innen, Computerexperten/-innen und Physikern/-innen im engeren Sinne wechselt, gelangt man auf die Ebene der interdisziplinären Praktiken, die tatsächlich die eigentliche Grundlage der »reinen« Physik ausmachen. Diese »trading zone« bedarf auch keiner gemeinsamen Sprache, um den Austausch der Praktiken, Kenntnisse oder Instrumente zu ermöglichen, sondern funktioniert auf einer linguistisch gesehen sehr reduzierten Basis, mit einer »pidgin language«, wie Galison schreibt, einer höchst fragmentierten und reduzierten Sprache. Bei dem »design turn« handelt es sich nun darum, diese grundlegend interdisziplinäre Gestaltung des Wissens durch analytische und experimentelle Verfahren in eine offene und bewusste Strategie zu verwandeln. Dieser Raum oder diese Zone des Austausches braucht also keine gemeinsame Sprache, wie es die Annahme des »linguistic turn« war, wobei der Text den gemeinsamen Raum bilden sollte, der die Kohärenz und das Zusammentreffen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Wissensformen garantieren sollte. Dasselbe gilt für den »iconic turn«: Das Bild erlaubt als Visualisierung unterschiedlichste Wissensformen in einem einzigen Medium zu vereinen. Den »design turn« jedoch könnte man am besten als Konsequenz der von Galison verdeutlichten Situation der materiellen Kultur beschreiben: Es ist 7
Galison, Peter L.: Image and Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago 1997.
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weder eine gemeinsame Sprache, noch ist es eine spezifische Visualisierung, die ermöglichen würden, dass es eine tatsächliche Interaktion zwischen den unterschiedlichen Disziplinen und Wissensformen gibt. Weit eher handelt es sich um einen integrativen Prozess, der hier als Designprozess bestimmt wird, in dem die heterogensten Elemente miteinander kombiniert werden, um daraus ein neues Objekt, Dispositiv oder Verfahren hervorgehen zu lassen. Während die Naturwissenschaften sowie das Ingenieurwesen diese Wende zur Gestaltung längst schon praktizieren, steht nicht nur den Geisteswissenschaften ein entscheidender Wandel bevor, sondern auch den Gestaltungsdisziplinen. Dabei handelt es sich insbesondere um die Ersetzung des/der individuellen Gestalters/-in mit der black box seiner unbewussten Kreativität durch ein interdisziplinäres Labor. Die Gestaltungsstrategien werden sich durch die Experimentalisierung und die enge Verbindung mit dem analytisch-historischen Wissen der Geisteswissenschaften erheblich verändern. Ein Programm für die Durchsetzung eines »design turn«, das eine Restrukturierung des universitären Wissens erlaubt und der Gestaltung eine zentrale Rolle verleihen würde, kann folgendermaßen lauten: 1 Konzipieren der Gestaltung als integrativen Prozess der interdisziplinären Arbeit, die sich damit auf die Materialisierung und Realisation des Wissens fokussiert. Auf diese Weise ist die Gestaltung nicht länger eine isolierte Disziplin, sondern verwandelt sich in ein elementares Verfahren für jede Wissensproduktion. 2 Allgemeines Erfassen der Gestaltungsstrategien, die von unterschiedlichen Disziplinen in eher unbewusster und nicht expliziter Weise angewendet werden. Dabei geht es darum, diese Strategien explizit zu machen und sie in adäquater Weise auf dem Stand der Dinge der Gestaltungsdisziplinen weiterzuentwickeln. 3 Gestaltung als Verfahren so verändern, dass sie von einem kreativen Prozess, der im Innern des/der individuellen Gestalters/-in wie in einer black box stattfindet, zu seinem offenen Prozess werden kann, der im interdisziplinären Labor analysiert, experimentalisiert und optimiert wird. 4 Den/die Designer/-in als individuellen Akteur durch ein interdisziplinäres Labor ersetzen, das es erlaubt, in den Gestaltungsprozess alle im Tetraeder der Wissenschaften enthaltenen Wissensformen zu integrieren. 5 Verbindung der Designstrategien mit dem analytisch-historischen
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Wissen der Geisteswissenschaften, um das Wissen und die Entwurfspraktiken eng miteinander zu verbinden. 6 Kriterien für die Experimentalisierung der Designpraktiken entwickeln, die im interdisziplinären Labor eine Rolle spielen, mit dem Ziel, eine Grundlagenforschung der Gestaltung zu entwickeln. 7 Auswahl von Basisproblemen der Gestaltung, um die Forschung auf ein homogeneres Feld zu fokussieren, das den Stand der Forschung bestimmen kann. Die Dynamik und Effizienz der Gestaltung von Produkten in die Gestaltung von Wissen umzuformen, bedeutet, den Ansatz der Ergebnisorientierung auf die Form der Gestaltung und Produktion des Wissens zu übertragen, auf den Prozess der Materialisierung und Realisierung des Wissens. Das bedeutet, einen neuen Akteur des interdisziplinären Designs zu gestalten, nicht als Individuum, sondern als Labor und als operatives Netz, das die unterschiedlichen Strategien, Praktiken und Wissensformen zu organisieren und verbinden erlaubt. Die Gestaltungspraktiken, die man als integrative Operationsformen verstehen kann, ermöglichen eine neue Kooperation der wissenschaftlichen Disziplinen. Dafür muss das Labor, das im 19. Jahrhundert als zentraler Raum der Forschung in den Natur- und Technikwissenschaften erfunden und entwickelt wurde, in eine Plattform verwandelt werden, auf der die Verfahren der Humanwissenschaften und der Designdisziplinen, die normalerweise nicht im naturwissenschaftlichen Labor präsent sind, einbezogen werden. Diese gemeinsame Plattform soll eine intensive Rückkoppelung zwischen den Disziplinen erlauben, die sonst in völlig isolierter Weise in den großen Universitäten der Gegenwart versammelt sind. Zum ersten Mal in der 200-jährigen Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin wird ein gemeinsamer wissenschaftlicher Schauplatz entwickelt, der das universitäre Wissen in grundlegender Weise verändern soll. Dieses Projekt verbindet sich einerseits mit der Tradition einer Architektur des Wissens, die in dem Projekt der humboldtianischen Universität von 1810 realisiert wurde, das in gewisser Weise auch zum Modell der Universität als solcher stilisiert wurde; doch andererseits soll es eine Antwort auf die Herausforderungen und radikalen Veränderungen liefern, denen das Wissen gegenwärtig ausgeliefert ist. Deshalb profitiert das Labor für interdisziplinäre Gestaltung zum einen von der großen Anzahl der Disziplinen, wie sie das klassische Modell der modernen Universität versammelt. Zum anderen werden
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diese Disziplinen in die Arbeit des interdisziplinären Labors einbezogen, in dem die Gestaltung als integrative Kraft fungiert. Nach den Erfahrungen in Deutschland am Bauhaus und an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, oder in den USA in den Media Labs, wo man schon einen gemeinsamen Raum für die Gestaltung des Wissens herzustellen versuchte,8 ist gegenwärtig ein geradezu einzigartiger Moment für das, was man einen »design turn« nennen könnte: In den Media Labs verbirgt sich die gemeinsame Plattform des Computers immer mehr in sich selbst und in wenigen Spezialisten, die es immer weniger erlauben, die black box der Hard- und Software9 in einen offenen und zugänglichen Raum der interdisziplinären Gestaltung umzuwandeln. Deshalb scheint es, dass es nicht die technischen Medien sind, die einen gemeinsamen Raum herzustellen erlauben, sondern die Praktiken der Gestaltung, die dazu dienen, die unterschiedlichen Komponenten in einen Prozess der Wissensproduktion einzubinden und zu verknüpfen.
3 / Räumliche Strukturen Räumliche Strukturen bilden ein interdisziplinäres Feld, das einer neuen Aktivierung im Sinne einer Strukturwissenschaft bedarf. Der Strukturalismus der Geisteswissenschaften (seit Saussure und der Prager Schule), der schon vom »Poststrukturalismus« der 1970er und 80er Jahre überwunden wurde, gilt heute schon als geradezu historische Methode, dessen Geschichte von François Dosse 1991/92 geschrieben wurde. Im Rahmen von diesem Strukturalismus wurde die wichtige Rolle der Strukturen in den Natur- und Technikwissenschaften völlig vernachlässigt. Man denke nur an die Bedeutung der Strukturen für die Raumrevolution in den Ingenieurwissenschaften und der Architektur, für die Revolution der elektronischen Schaltkreise, für die Strukturmathematik, oder in der Nanotechnologie, wo die verschiedenen hierarchischen Strukturenschichten in der Welt der Naturobjekte analysiert werden, um deutlich zu sehen, dass es viele Gründe gibt, einen neuen Strukturalismus zu begründen, der dieses grundlegende Wissensgebiet umfassen würde.10 8 Vgl. Maldonado, Thomas/Bonsiepe, Gui: Wissenschaft und Gestaltung, Ulm 10/11, 1964, S. 5—42. 9
Vgl. Kittler, Friedrich: »Protected Mode«, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 208—224.
10 Schäffner, Wolfgang: »Ein Neuer Strukturalismus. Zur Gestaltung des Wissens in einem interdisziplinären Strukturenlabor«. Vortrag bei der Tagung »The Intelligence of Structures«, Dessau 2009.
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Als Beispiel, das auch dazu dient, das Bild als Objekt und Medium der Sichtbarkeit neu zu denken, kann eine wichtige historische Situation im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gelten: Die künstlerische Produktion und Reflexion von Paul Klee11 und Wassily Kandinsky12 wurde noch nie mit den elektrischen Schaltkreisen, die Claude Shannon erfunden hat,13 und den geometrischen Strukturen von Buckminster Fuller 14 in unmittelbare Verbindung gebracht. Aus der Perspektive von operativen Strukturen sind diese drei sehr verschiedenen Konstellationen Teil eines entscheidenden historischen Schritts, mit dem sich die geometrischen Elemente in neuer Weise als analoge Maschinen realisieren und implementieren. Die Elektrifizierung der Kontaktpunkte und der Verbindungslinien im Fall von Shannon entspricht der neuartigen Weise, in der nun Punkt und Linie bei Klee und Kandinsky die Basis der grafischen Operationen bilden. Klee und Kandinsky verstehen grafische Punkte und Linien als etwas »Aktives«, als etwas, das ein eigenes Leben hat, und das ebenso sehr oder auch weit mehr Akteur sein kann als die Hand des Künst-lers. Diese Elemente generieren als Automaten eine neue Welt, mit dem »Geistigen«, das sie selber verkörpern. Kandinsky und Klee schließen damit ebenso wie Shannon und Buckminster Fuller an eine Geschichte des analogen Codes an, der sich in der Frühen Neuzeit auf der Basis von Euklids »Elementen« in einer Code-Revolution ausbreitet.15 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Aktivität, von der die Maler sprechen, zeigt, dass es sich im Falle des Bildes nicht mehr um eine passive Repräsentation und Visualisierung, sondern um eine aktive und operative Struktur handelt. In diesem Sinne haben die elektrifizierten Punkte und Linien, aus denen sich die elektronischen Schaltkreise unserer Computer zusammensetzen, denselben epistemisch-technischen Status wie die Punkte und Linien, aus denen seit Klee und Kandinsky Bilder erzeugt werden. Es handelt sich dabei nicht um den alphanumerischen, digitalen Code, sondern um einen 11 Klee, Paul: Das bildnerische Denken, hrsg u. bearb. von Jürg Spiller, Basel/ Stuttgart 1971. 12 Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente. 8. Auflage, Bern 2002. 13 Shannon, Claude Elwood: A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits, Master Thesis MIT 1937. 14 Fuller, Richard Buckminster: Your Private Sky. The Art of Design, hg. v. Joachim Krausse u. Claude Lichtenstein, Zürich 1999. 15 Schäffner, Wolfgang: Punkt 0.1. Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit, Berlin/Zürich 2010 (im Erscheinen); ders.: »Euklids Zeichen. Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit«, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 7.2. Mathematische Forme(l)n, Berlin 2010.
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analogen dreidimensionalen Code, der aus den kontinuierlichen Elementen der Geometrie gebildet ist. Diese Elemente beschränken sich nicht auf die grafische Oberfläche, wie es bei den elektrischen Schaltkreisen und den künstlerischen Bildern zu sein scheint, sondern sind Teil einer 3D-Welt. Die grafische Oberfläche, die sich zudem meistens in ihrer elementaren rechteckigen Form präsentiert, d.h. durch vier Punkte in derselben Ebene aufgespannt ist, ist eine Torsion eines dreidimensionalen Raums. Wenn wir einen Punkt des Quadrats in eine andere Ebene verschieben, ergibt sich aus denselben vier Basispunkten der minimale dreidimensionale Körper, der Tetraeder. Diese strukturelle Effizienz und Intelligenz des Tetraeders ist immer abwesend, wenn wir mit dem Quadrat oder der quadratischen Rasterung operieren, die in so durchschlagender Weise den Raum unserer grafischen Oberfläche und des Bildes bestimmen. Die natürlichen Strukturen benutzen kaum rechtwinklige Elemente, sondern Dreieck, Polygone und Tetraeder, wie wir es in der nanotechnologischen Welt der Kohlenstoffe sehen. Deshalb sollte es nicht überraschen, dass nur einige Jahrzehnte nach den geodätischen Strukturen und den Synergetics von Buckminster Fuller16 diese in den pentagonalen und hexagonalen Kohlenstoffen gefunden wurden, die man deshalb »Fullerene« taufte. Auch sollte es nicht überraschen, dass es sich bei einer 2D-Welt wie bei unseren grafischen Oberflächen aus der Perspektive der natürlichen Strukturen um etwas sehr Außergewöhnliches handelt. Nur die Graphene mit einer ebenen Schicht von der Dicke eines Atoms zeigen eine solche geradezu reine 2D-Eigenschaft in der materialen 3D-Welt. Aber warum, so könnten wir fragen, sollte man nur diesen begrenzten Raum der Oberflächen für unsere grafischen Operationen nutzen, warum den 3D-Raum visuell nur in einer Ebene simulieren? Kehren wir nochmals zum Programm von Feynman zurück, das er vor 50 Jahren vorgestellt hat, um zu sehen, was es heißt, dass es noch so viel Raum in den grafischen Oberflächen und Bildern gibt. Feynman bezieht sich auf die Möglichkeit einer Implosion und Miniaturisierung der grafischen Oberfläche, wenn er sagt, dass auf die Spitze einer Nadel alles relevante Wissen in Form von 24 Millionen wichtiger Bücher passen würde, oder eben auch alle relevanten Bilder. Doch hier geht Feynman noch einen entscheidenden Schritt weiter: »Now«, so sagt er, »instead of writing everything, as I did before, on the surface of the head of a pin, I am going to use the interior of the material as well.« 16 Fuller, Richard Buckminster: Synergetics. Explorations in the Geometry of Thinking, New York 1975.
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Auf diese Weise würde ein Bit den Raum eines kleinen Würfels mit 5 Atomen Kantenlänge (5 x 5 x 5 Atome) besetzen, d.h. 125 Atome. Wenn man davon ausgeht, dass 24 Millionen Bücher etwa 10^15 bits entsprechen, dann gilt: »…all the books in the World can be written in this form in a cube of material one two-hundredth of an inch wide – which is the barest piece of dust that can be made out by the human eye. So there is plenty of room at the bottom! Don’t tell me about microfilm!«17 Die flache grafische Oberfläche, die über Jahrhunderte hindurch eine extrem schnelle Verarbeitung simultaner Informationen erlaubte, scheint an eine Grenze zu geraten. Dieses Problem jedoch werden weder Künstler/-innen, Gestalter/-innen, Hardware-Experten/-innen oder Physiker/-innen allein lösen können. Diese Art 3D-Code kann man als eine entscheidende Herausforderung für ein interdisziplinäres Design sehen, dessen eigentümliche Strukturen erst noch zu bauen sind: There is plenty of code at the bottom.
17 Fahlman, Bradley D.: Materials chemistry, Springer 2008, 2. Auflage, S. 444.
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Wissenspraktiken im Design . Die Rolle visueller Repräsentationen als »epistemische Objekte« Boris Ewenstein und Jennifer Whyte
Einleitung In der neueren Sozialforschung gibt es ein wiedererwachendes theoretisches Interesse am Praxiskonzept. Einige Autoren/-innen identifizieren hierbei in der zeitgenössischen Theorie sogar eine Praxiswende, einen »practice turn«.1 Gleichzeitig gibt es einen Ruf nach stärker empirisch ausgerichteter Forschung auf dem Gebiet tatsächlicher Arbeitspraktiken.2 Die Frage, wie wissensintensive Arbeit in der Praxis tatsächlich erreicht wird, ergibt sich im Kontext von Debatten über Wissensökonomie oder der Wissensgesellschaft.3 Praxisbasierte Theoriebildung und anthropologische Studien zum Kontext von Arbeit sowie Gesellschaftsstudien zu Wissenschaft und Technik tragen inzwischen zum Wiederaufkommen eines breiteren Interesses an Objekten innerhalb von Organisationsstudien bei Engeström und Blackler4 bei. Ein Fokus auf Objekte rückt die Praxis ins Blickfeld, ebenso wie die vielfältigen materiellen Zusammenhänge und die eng verflochtenen sozialen Beziehungen, in denen Produktion stattfindet. Ein analytisches Interesse an Objekten enthüllt zudem deren zentrale Stellung für die vielfältigen Prozesse und Praktiken von Lernen und Erkennen. Bechky argumentiert beispielsweise, dass Objekte – wie technische Zeichnungen und Maschinen – in der Produktion »Wissen einbetten«, und daher bei Problemlösungen nützlich
1
Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London: Routledge 2001.
2
Heath, Christian/Button, Graham: »Editorial Introduction. Special Issue: Workplace Studies«, in: British Journal of Sociology 2 (2002), S. 157—161, hier S. 159—160. Heath, Christian/Knoblauch, Hubert/Luff, Paul: »Technology and Social Interaction: The Emergence of ›Workplace Studies‹«, in: British Journal of Sociology 51 (2000), S. 299—320, hier S. 302.
3
Beck, Ulrich: Risk Society, London: Sage 1992. Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity, Cambridge: Polity 1990.
4
Engeström, Yrjö/Blackler, Frank: »Special Issue: On the Life of the Object«, in: Organization 12 (2005).
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sind.5 Doch trotz Übereinstimmung in Hinblick auf die zentrale Rolle von Artefakten sowohl für Denkprozesse als auch für Handlungen wird die Natur von Objekten in Zusammenhang mit Arbeit als komplex und uneindeutig betrachtet.6 Es scheint, als würden Objekte umso diffuser, je genauer sie untersucht werden, selbst wenn ihre zentrale Rolle für Aktivitäten in Organisationen anerkannt ist. In der existierenden Literatur liegt die Betonung bisher eher auf der Rolle, die die Objekte einnehmen, als auf der Natur der Objekte selbst. In den meisten Fällen liegt der Fokus auf Objekten, die als Grenzobjekte in der Interaktion von epistemischen Gemeinschaften innerhalb von Organisationen eine Vermittlungsfunktion einnehmen. Die in dieser Literatur diskutierten Objekte reichen von abstrakten Objekten wie »Kalifornien«7 bis zum Konkreteren: zu Skizzen,8 Projektmanagement-Werkzeugen,9 virtuellen Prototypen,10 Zeitleisten oder Gantt-Diagrammen 11 ebenso wie Zeichnungen und Schaubildern, Zeitplänen und Tabellen, Maschinen und Teilen.12 Autoren befassen sich weniger mit der Essenz der Objekte selbst als mit der Frage vom Umgang mit Grenzen bei der Entstehung von Neuem.13 Die internen Charakteristika von Grenzobjekten, beispielsweise ihre reprä5 Bechky, Beth A.: »Object Lessons: Workplace Artifacts as Representations of Occupational Jurisdiction«, in: American Journal of Sociology 109 (2003), S. 720–752. 6
Engeström/Blackler: Special Issue: On the Life of the Object.
7
Star, Susan Leigh: »The Structure of Ill-Structured Solutions: Boundary Objects and Heterogeneous Distributed Problem Solving«, in: Distributed Artificial Intelligence 329 (1989), S. 37—54.
8 Henderson, Katherine: »Flexible Sketches and Inflexible Data Bases: Visual Communication, Conscription Devices, and Boundary Objects in Design Engineering«, in: Science, Technology, & Human Values 4 (1991), S. 448—473. Henderson, Katherine: On Line and On Paper: Visual Representations, Visual Culture and Computer Graphics in Design Engineering, Boston, MA: MIT Press 1999. 9
Sapsed, Jonathan/Salter, Ammon: »Postcards from the Edge: Local Communities, Global Programs and Boundary Objects«, in: Organization Studies 25 (2004), S. 1515—1534.
10 D’Adderio, Luciana: »Crafting the Virtual Prototype: How Firms Integrate Knowledge and Capabilities across Organisational Boundaries«, in: Research Policy 30 (2001), S. 1409—1424. D’Adderio, Luciana: »Configuring Software, Reconfiguring Memories: The Influence of Integrated Systems on the Reproduction of Knowledge and Routines«, in: Industrial and Corporate Change 12 (2003), S. 321—350. 11 Yakura, Elaine K: »Charting Time: Timelines as Temporary Boundary Objects«, in: Academy of Management Journal 45 (2002), S. 956—970. 12 Carlile, Paul R.: »A Pragmatic View of Knowledge and Boundaries: Boundary Objects in New Product Development«, in: Organization Science 13 (2002), S. 442ff 13 Carlile, Paul R.: »Transferring, Translating and Transforming: An Integrative Framework for Managing Knowledge across Boundaries«, in: Organization Science 15 (2004), S. 555—568, hier S. 566.
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sentative Kapazität, werden auf einer allgemeinen Ebene diskutiert, jedoch nicht erklärt. Dies ist verständlich, denn die Effektivität des Objekts ist definiert durch den Kontext, in dem es seine Leistung zu erbringen hat. Jedoch hat diese Fokussierung auf Begrenzungen und Gemeinschaften, und weniger auf die Natur des Objekts, eine Reihe von Konsequenzen. Eine Konsequenz ist, dass das Objekt selbst als stabil betrachtet wird, eine andere, dass der Fokus stärker auf seiner praxisübergreifenden Nutzung als auf jener innerhalb von Praktiken liegt. Es gibt es eine Reihe unbeantworteter Fragen dazu, inwiefern unterschiedliche Typen von Artefakten (mehr oder weniger effektiv) als Grenzobjekte agieren. Wann und warum werden sie zu Grenzobjekten und welche weiteren Rollen spielen sie? Carlile befasst sich mit der Effektivität von Grenzobjekten bei der Entwicklung neuer Produkte, doch wissen wir wenig über die Funktionen, die Objekte in anderen Kontexten bei der Wissensarbeit übernehmen.14 Daher legen diese Fragen nahe, dass weitere empirische Arbeit erforderlich ist, um zu verstehen, wie unterschiedliche Objekttypen bei Wissensanwendungen in Organisationen von Nutzen sind. Um Organisation zu verstehen, während sie stattfindet, benötigen wir eine Einschätzung der vielfältigen Zusammenhänge materieller Anordnungen, innerhalb derer ihre Praktiken sich vollziehen.15 Orrs16 ethnografische Studie der Arbeitsweisen von Technikern für Fotokopiergeräte, gefeiert in einer kürzlich erschienen Ausgabe von »Organization Studies«17, wurde schon als Modell für derart umfassende Beschreibungen von Arbeit und gesteigerter ethnografischer Aufmerksamkeit für Wissens- und technische Arbeit vorgeschlagen.18 Anhand der Beobachtung von Arbeit in einem Architekturbüro beschreibt dieser Artikel Wissenspraktiken mit Fokus auf die Objektfunktion von visuellen Repräsentationen. Unser theoretischer Ansatz stützt sich auf einen kulturwissenschaftlichen Ansatz zum organisatorischen Wissen und Lernen.19 Dieser Ansatz richtet sein Interesse 14 Ebd. 15 Schatzki, Theodore R.: »On Organizations as they Happen«, in: Organization Studies 27 (2006), S. 1863—1873. 16 Orr, Julian: Talking About Machines: An Ethnography of a Modern Job, Ithaca, NY/London: ILR Press 1996. 17 Tsoukas, Haridimos: »Talking About Machines: Tenth Anniversary«, in: Organization Studies 27 (2006), S. 1741—1742. 18 Bechky, Beth A.: »Talking About Machines, Thick Description, and Knowledge Work«, in: Organization Studies 27 (2006), S. 1757—1768. 19 Yanow, Dvora: »Seeing Organizational Learning: A Cultural View«, in: Organization 7 (2000), S. 247—268.
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besonders auf die Entwicklung von situie rter Bedeutung. Er kontrastiert mit dem breiteren Diskurs zu Praxisgemeinschaften (bei denen die Idee eines Grenzobjekts aktiviert wird), der riskiert, dass sie als privilegierende Handlungen über linguistische oder physische Artefakte oder zu deren Ausschluss wahrgenommen zu werden. 20 Aus dieser Perspektive können wir Handlungen, Konversationen und Artefakte in einem kulturellen Szenario betrachten und die Unterschiede zwischen der konzeptuellen Designarbeit, die wir untersuchen, und anderen Kontexten, die in der Literatur untersucht werden, bestätigen. Es gibt etwas Charakteristisches im Hinblick auf die Objekte an und für sich, das sie zum Schlüssel für Wissensentwicklung und Innovationen macht. Um dies herauszustellen, ziehen wir eine parallele – bislang jedoch hiermit nicht in Zusammenhang stehende – Reihe von Arbeiten zu Objekten in ihren Funktionen als epistemische Objekte und technische Objekte heran. Diese Arbeit, angesiedelt in den wissenschaftshistorischen und soziologischen Studien, betrachtet derartige Objekte als fundamental für experimentelle Systeme. Epistemische Objekte sind abstrakter Natur: Sie sind Objekte von Befragung und steter Beobachtung und daher durch Mangel und Unvollständigkeit charakterisiert. Da sie als temporäre Instantiierungen erscheinen, sind sie gleichzeitig durch das definiert, was sie sind und was sie nicht (oder noch nicht) sind. Im wissenschaftlichen Kontext sind physikalische Strukturen, chemische Reaktionen und biologische Funktionen Beispiele hierfür.21 Technische Objekte bieten einen Rahmen für die untersuchten Objekte und schließen die als selbstverständlich betrachtete Ausrüstung und Werkzeuge mit ein. Der Fokus wissenschaftlicher Arbeit liegt darauf, epistemische Objekte in technische Objekte zu verwandeln. Obwohl der empirische Fokus dieser Literatur enger ist (mit einem Schwerpunkt auf Laborwissenschaft, die Moleküle im Reagenzglas oder Teilchenphysik einbezieht), entwickelt sie nützliche konzeptuelle Ressourcen für das Verständnis von Objekten in der Wissenspraxis innerhalb von Organisationen. Sie wurde bisher jedoch nicht mit der Diskussion von Grenzobjekten verknüpft. Um Wissenspraktiken genauer zu verstehen, wäre es unserer Meinung nach produktiv, zur Klärung dieser Perspektiven die aus verschiedenen Literaturen stammenden Definitionen miteinander zu verknüpfen. Tabelle 1 fasst aktuelle Auffassungen von Grenzobjekt, epistemischem Objekt und technischem Objekt zusammen. Anhand der schematischen Darstellung dessen, was verschiedene Forscher mit 20 Ebd. 21 Rheinberger, Hans-Jörg: Toward a History of Epistemic Things: Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford, CA: Stanford University Press 1997.
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»Objekt« meinen, können wir mit einer ganzheitlichen Betrachtung dessen beginnen, was Objekte für die Wissensarbeit zu so wichtigen Beteiligten macht. Ein Beispiel: Obwohl Grenzobjekte inzwischen allgemein als konkret betrachtet werden, wurde das Konzept ursprünglich entwickelt, um Objekte von abstrakterer Natur zu erklären. Eindeutigkeit in Bezug auf die Natur des fraglichen Objekts ist wichtig, da auf dieser Basis Schlussfolgerungen gezogen werden. Als Forscher/-innen vor kurzem abstrakte Objekte wie Arteriosklerose22 oder alkoholbedingte Lebererkrankung23 untersuchten, stellten sie fest, dass diese aus mehreren konkreten Objekten bestanden, die in unterschiedlichen Praktiken genutzt werden. Die Uneindeutigkeiten und Verwirrungen in der existierenden Literatur weisen auf interessante Möglichkeiten für die Rekonzeptualisierung und Remodellierung von Objekten und ihrer Rolle in der Wissensarbeit hin.
Beziehungen zwischen unterschiedlichen Konzepten von »Objekten« Welcherart sind die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Konzeptionen von »Objekten«, die in Tabelle 1 gezeigt werden? Als Teil eines experimentellen Systems ist die Idee des epistemischen Objekts eine große und generische konzeptuelle Kategorie. Sie ist übergreifend und zukunftsweisend (z.B. ein Gebäude, das entworfen wird) und wird nur teilweise in materiellen Instantiierungen ausgedrückt (z.B. ein spezifischer Grundriss oder eine Perspektivskizze). Der Begriff »technisches Objekt« betont die nicht in Frage gestellte, statische Natur des materiellen Objekts, sobald es nicht mehr weiterentwickelt und durch epistemische Arbeit verändert wird. Eine andere Eigenschaft von Objekten hebt der Begriff »Grenzobjekt« hervor. Dieser betont die Fähigkeit eines Objekts, Wissen grenzüberschreitend zu vermitteln. Die Beziehungen zwischen diesen Konzepten verweisen auf die multidimensionale Natur von Objekten. Ein Objekt kann gleichzeitig ein Grenzobjekt und ein technisches Objekt, oder ein Grenzobjekt und ein epistemisches Objekt sein. Jedoch können Objekte auch bei epistemischer Arbeit genutzt werden, ohne die Grenzen praktischer Tätigkeit zu überspannen. 22 Mol, Annemarie: The Body Multiple: Ontology in Medical Practice, Durham, NC: Duke University Press 2003. 23 Law, John/Singleton, Vicky: »Object Lessons«, in: Organization 12 (2005), S. 331—355.
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Objekte als Teil eines experimentellen Systems
Natur des Objekts
Grenzobjekte
Epistemische Objekte
Technische Objekte
Konkret 24 : Es gibt ein einziges Objekt, das unterschiedlich interpretiert wird und eine feste Grundlage für Ideen für Kommunikation, Übertragung und Standardisierung von Bedeutung bietet
Abstrakt: Charakterisiert durch Mangel und Unvollständigkeit, teilweise ausgedrückt in multiplen Instantiierungen; entwickelt sich kontinuierlich weiter
Konkret: Rasch verfügbare, vollständige und unproblematische Instrumente
Rolle im Lauf der Zeit Stabil: Stabil genug, um übergreifende Koordination von Praxisgemeinschaften zu ermöglichen
Statisch: FeststeIm Wandel: Dynamisch, um hende und stabile Wissensarbeit über Werkzeuge längere Zeit hinweg zu ermöglichen
Subjekt-ObjektBeziehungen
Dyadisch: Spezielle Instantiierungen werden vom fachkundigen Subjekt genutzt
Multipel: Wird in direkten, grenzübergreifenden Interaktionen zwischen mehreren Akteuren genutzt
24
Dyadisch: Konkrete Instrumente werden vom fachkundigen Subjekt genutzt
Tab. 1: Schlüsselcharakteristika von Grenzobjekten, epistemischen Objekten und technischen Objekten.
Eine Konsequenz der Betonung von Grenzen zwischen Praxisgemeinschaften ist der Fokus auf die Nutzung von Objekten, die eher übergreifend als innerhalb praktischer Tätigkeiten erfolgt. Das Objekt wird außerhalb oder in der Peripherie von Praktiken verortet. So beschreiben beispielsweise Sapsed und Salter die Schwierigkeiten beim Einsatz von Projektmanagement-Werkzeugen und gelangen zu der Schlussfolgerung: »Boundary objects, because of their marginal nature, are prone to be relegated to the edge of projects, which is after all where they belong.«25 Im Gegensatz dazu sind Objekte unserer Ansicht nach für Praktiken zentral. Wir betrachten die Objekte, die bei der Koordination genutzt werden, auch nicht notwendigerweise als peripher für die epistemische Arbeit. Unsere Fragen beziehen sich ebenso darauf, welche Objekte zentral für Koordinierungspraktiken 24 Hier beziehen wir uns auf jüngere Literatur zu Grenzobjekten (z.B. Carlile: A Pragmatic View of Knowledge and Boundaries; Carlile: Transferring, Translating, and Transforming; Henderson: On Line and On Paper). 25 Sapsed/Salter: Postcards from the Edge, S. 1531.
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sind, wie darauf, welche Objekte zentral für Praktiken der Wissensentwicklung sind. Grenzen sind ein ausgeprägtes Merkmal des Kontexts von Produktneuentwicklungen. Im Werk von Carlile26 werden Praxisgemeinschaften eindeutig als funktionelle Gruppen innerhalb der Organisation begriffen. Er beschreibt, inwiefern funktionsübergreifende Koordination in Meetings zur Entwurfsüberarbeitung spannungsreich und gelegentlich konfliktgeladen sein kann. Dennoch sind Praxisgemeinschaften in vielen empirischen Zusammenhängen weniger voneinander abgegrenzt und klar definiert, als dies in einem Produktentwicklungskontext der Fall ist. Die Grenzen sind weniger augenfällig. Innerhalb derartiger transepistemischer Praktiken lässt sich ein Objekt zur selben Zeit in der Koordination diverser Wissenssets als auch für Wissensentwicklung und Erkenntnisgewinn einsetzen. Es gibt einen Bedarf dafür, die multiplen Dimensionen von Objekten zu klären, um ihre Verwendung für diverse organisatorische Umfelder zu verstehen. Wir würden erwarten, dass das konzeptuelle Designumfeld unserer Studie sich von experimenteller Wissenschaft und Technik sowie Produktneuentwicklung unterscheidet. Unterschiedliche Dimensionen von Objekten können im jeweiligen Umfeld mehr oder weniger bedeutsam sein. In der Literatur variieren Objekte in dem Maß, in dem sie konkret oder abstrakt, stabil oder im Wandel, und mit Wissensarbeit innerhalb von Kontexten und Praktiken (oder diese übergreifend) assoziiert sind. Obwohl der Begriff »Grenzobjekte« in der zeitgenössischen Literatur benutzt wird, um konkrete Objekte zu beschreiben, verallgemeinern und abstrahieren Star und Griesemer in ihrer Grundlagenarbeit das Grenzobjekt.27 Sie denken eher an Repräsentationen als an physische Artefakte. Ausgehend von ihrer Feldforschung im Natural History Research Museum schließen ihre Objektbeispiele Spezies und Subspezies von Säugetieren und Vögeln, das Gebiet des Bundesstaats Kalifornien, physische Faktoren in Kaliforniens Umwelt sowie den Lebensraum von Tierarten mit ein.28 In ihrer Arbeit werden Objekte als Vermittler sozialer Beziehungen innerhalb einer Praxis durch Regeln, allgemeine Bezugsrahmen und gemeinsam genutzte Archive, die produktive Zusammenarbeit ermöglichen, beschrieben. Wenn diese sinnvoll in die lokalen Bedingungen und Kontexte der ver26 Carlile: A Pragmatic View of Knowledge and Boundaries. 27 Star, Susan Leigh/Griesemer, James: »Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907—1939«, in: Social Studies of Science 19 (1989), S. 387—420. 28 Ebd., S. 392.
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schiedenen Beteiligten eingebettet werden, kann die Informationsverarbeitung, die im Museum stattfindet, auf eine Weise gehandhabt werden, die sowohl Heterogenität als auch Kooperation gestattet. Carlile29 baut mit seiner Darstellung von Grenzobjekten auf dem Werk von Star und Griesemer30 auf. Er lenkt die Aufmerksamkeit jedoch auf Objekte in den kollaborativen Bemühungen von Teams in der Produktneuentwicklung. In diesem Kontext betrachtet er sowohl die Objekte als auch die Grenzen als konkreter. Während der Begriff »Grenzobjekt« inzwischen in diesem Sinn in der Literatur zu Organisationsstudien verwendet wird, bietet die breitere, abstraktere Verwendung des Begriffs in Kontexten, in denen es weniger klar definierte oder wechselseitig exklusive Gemeinschaften gibt, möglicherweise mehr Möglichkeiten. In seiner Arbeit zum epistemischen Objekt spricht Rheinberger über Räume für Repräsentation, innerhalb derer er Grapheme oder materielle Spuren ausmacht.31 Hierbei handelt es sich um die konkreten zu untersuchenden Materialien oder Objekte, durch die das epistemische Objekt manipuliert und weiterentwickelt wird. Daher bilden diese visuellen Repräsentationen eine Brücke zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten. Sie selbst sind konkret, repräsentieren jedoch auch das abstrakte Ding. Während derartige Marken im wissenschaftlichen Kontext Outputs des experimentellen Systems sein können, die in dem Maß verändert werden, in dem das System manipuliert wird, können sie in anderen untersuchten Systemen gezielter so gemacht werden, dass sie eine Bedeutung als Inputs zur epistemischen Arbeit transportieren. Das epistemische Objekt wird einhergehend mit den Veränderungen visueller Repräsentationen entwickelt und manipuliert. Jüngere Arbeiten zu konzeptuellen Designaktivitäten haben begonnen, diesen Prozess ebenso wie seine Outputs zu betonen.32 Die involvierten Abbildungen können als aus drei konstituierenden Teilen bestehend betrachtet werden, die stets in hybriden Formen existieren: Geschriebenes, Bilder und Notation.33 Diese willkürlichen Marken (auf Papier, auf der Leinwand) stehen im Fokus 29 Carlile: A Pragmatic View of Knowledge and Boundaries. Carlile: Transferring, Translating, and Transforming. 30 Star/Griesemer: Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects. 31 Rheinberger: Toward a History of Epistemic Things. 32 Z.B. Barry, David/Rerup, Claus: »Going Mobile: Aesthetic Design Considerations from Calder and the Constructivists«, in:.Organization Science 17 (2006), S. 262—276. Yoo, Youngjin/Boland, Richard J./Lyytinen, Kalle: »From Organization Design to Organization Designing«, in: Organization Science 17 (2006), S. 215—229. 33 Elkins, James: The Domain of Images, Ithaca, NY: Cornell University Press 1999.
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dieses Artikels. Während andere auf die Rolle von Prototypen, maßstabsgetreuen Modellen und weiteren Formen von Objekten hingewiesen haben34, sind visuelle Repräsentationen mit Sicherheit eine bedeutende, wenn nicht sogar die wichtigste Weise, auf die das Abstrakte zum Konkreten in Beziehung gesetzt wird. Als materielle Instantiierungen betrachten wir sie als eine entscheidende Dimension des epistemischen Objekts, denn sie sind es, mit denen Praktiker/innen interagieren, wenn sie Wissen entwickeln. Sowohl in der Literatur zu Grenzobjekten als auch in der Literatur zu epistemischen und technischen Objekten gibt es die Auffassung, dass die Evolution von Wissen durch eine »Konversation mit Materialien« stattfindet.35 Bei der Diskussion von Wissenspraxis bei epistemischen Objekten konzentriert sich Knorr Cetina 36 auf die dynamische, ja sogar leidenschaftliche Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen dem/der Experten/-in und dem, woran es dem unvollständigen »epistemischen Ding«37 mangelt. Ihrer Darstellung zufolge sind Objekt-Subjekt-Beziehungen dyadisch. Theoretiker/-innen, die sich mit Grenzobjekten befassen, wie Henderson38 und Carlile39, betonen deren Rolle, indem sie auf die Beteiligung mehrerer Parteien oder Akteure hinweisen. Angesichts dessen entfaltet sich rund um das Erkenntnisobjekt eine Pluralität intersubjektiver Beziehungen. Sowohl der dyadische als auch der Multiakteur-Blickwinkel verweisen auf eine Ontologie des Objekts auf der Basis von Werden und nicht einem feststehenden Sein. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Frage, ob das Objekt selbst verändert ist. Epistemische Objekte sind auf eine Weise definiert, die einen beträchtlichen Teil des gegenständlichen Charakters, den Objekte in unserer Alltagswahrnehmung haben, in Frage stellt. 40 Trotz der Veränderbarkeit von Grenzobjekten hinsichtlich Interpretationen in den Kontexten ihrer Verwendung gibt es weder einen Eindruck von Weiterentwicklung noch von aufeinanderfolgenden, sich entwickelnden Repräsentationen. Ebenso wenig entsteht in Bezug auf das Ob34 Z. B. Yoo/Boland/Lyytinen: From Organization Design to Organization Designing. 35 Schon, Donald A.: The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action, New York: Basic Books 1983. 36 Knorr Cetina, Karin: »Sociality with Objects: Social Relations in Postsocial Knowledge Societies«, in: Theory, Culture and Society 14 (1997), S. 1—30. Knorr Cetina, Karin: »Objectual Practice«, in: Schatzki/Knorr Cetina/von Savigny: The Practice Turn in Contemporary Theory, S. 175—188. 37 Rheinberger: Toward a History of Epistemic Things. 38 Henderson: Flexible Sketches and Inflexible Data Bases. 39 Carlile: A Pragmatic View of Knowledge and Boundaries. Carlile: Transferring, Translating, and Transforming. 40 Knorr Cetina: Sociality with Objects. Knorr Cetina: Objectual Practice.
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jekt ein Gefühl von Mangel oder von Wollen. Sowohl in frühen als auch in neueren Arbeiten ist das Grenzobjekt daher recht stabil, objektifiziert und vergegenständlicht. Epistemische Objekte sind plural und evolvierend; sie sind multipel und entwickeln sich über gewisse Zeit. Das zentrale Merkmal epistemischer Objekte, so wie Knorr Cetina41 sie identifiziert, ist ihre Offenheit – ihr »lack in completeness of being« und ihre Fähigkeit »to unfold indefinitely«42. Durch Mangel, Unsicherheit oder Unbestimmtheit epistemischer Objekte entstehen Fragen, die breite Wege für weitere Untersuchungen eröffnen. Folgt man diesen Bahnen, führt dies dazu, dass das epistemische Objekt sich weiterentwickelt, wobei einige Fragen zufriedenstellend geklärt werden und sich gleichzeitig neue eröffnen. Mangel löst Entfaltung aus. Das Wissensobjekt als solches ist nie aktualisiert, niemals komplett vollendet, sondern stattdessen charakterisiert durch eine »unfolding ontology«43. Es ist gleichermaßen durch das definiert, was es nicht (oder noch nicht) ist, wie dadurch, was es ist. Wie Austin und Darsø feststellen: »Closure is a point of convergence that happens once or repeatedly in productive activity; it signifies an important shift from open to closed, from undetermined to determined, from undefined to defined«.44 Sobald er erfolgt ist, werden Objekte in ihrer Stabilität vergegenständlicht. Sie erscheinen als Instrumente, die unterbewusst in die Praxis des Arbeitens absorbiert werden. Technische Objekte sind schnell zur Hand; sie sind unproblematische Instrumente, die im Kontrast zum Fragen aufwerfenden epistemischen Objekt stehen.45 Das epistemische Objekt, das immer ideal und unerreichbar ist, wird ein technisches Objekt. Eine solche Bewegung von offen zu geschlossen zeigt sich deutlich in Carliles empirischen Daten, indem er die Arbeit beobachtet, mittels derer ein Objekt von seinem derzeitigen Status zu einem geforderten Endstadium verschoben wird. Ken, der Vertriebsleiter eines Ventilherstellers, bemerkt zum Objekt seiner Arbeit, nach deren Abschluss, dass seine Makellosigkeit eine beleidigende Verschleierung all der langen Abende, Schmerzen und Frustrationen auf dem Weg dorthin sei. 46 Mit Kens Worten lässt sich die charakteristische geschlossene Natur des technischen Objekts ab dem Zeitpunkt markieren, an dem es kein epi41 Ebd. 42 Knorr Cetina: Objectual Practice, S. 181. 43 Ebd., S. 182. 44 Austin, Robert/Darsø, Lotte: »A Framework for Examining the Concept of Closure in Innovation Process«, in: Art of Management and Organization, Krakau 2006. 45 Knorr Cetina: Sociality with Objects, S. 10. 46 Carlile: A Pragmatic View of Knowledge and Boundaries, S. 447.
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stemisches Objekt mehr ist. Plötzlich ist es nicht mehr die Quelle leidenschaftlichen Arbeitens und Hinterfragens, von langen Abenden, Schmerz und Frustration. Sowohl in ihren geschlossenen Formen, als technische Objekte, als auch in den offenen Formen, als Instantiierungen des epistemischen Objekts, können visuelle Repräsentationen ein großes Wissensspektrum verkörpern, das von technikspezifischem Wissen47 bis zu ästhetischem Wissen und Empfinden48 reicht. Sie sind mobil und können leicht in Umlauf gebracht werden, um so normative Parameter und gemeinsame Einsichten zu etablieren.49 Gleichzeitig lassen sie sich auf eine Weise auffassen, die es Fachleuten mit unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht, den Sinn eines neuen Produktentwicklungsprozesses zu erkennen und zu diesem beizutragen.50 Damit bieten sie theoretisch ein Beispiel, das die mehrdimensionale Natur des Objekts illustriert, und so wenden wir uns nun unseren empirischen Daten zu, um zu sehen, wie diese in die Praxis umgesetzt werden.
Setting und Methode Die Praxis: Forschungszusammenarbeit mit Edward Cullinan Architects Edward Cullinan Architects ist ein 1965 gegründetes Unternehmen für Fachdienstleistungen, das in der Baubranche Architekturentwürfe anbietet. Es verfügt über ein umfangreiches Portfolio von Architekturprojekten, die in der Architekturpresse und in Monografien vielfach beschrieben werden.51 Innerhalb des Unternehmens gibt es eine gut etablierte Kultur, die das Kollektiv betont. Edward Cullinan Architects ist eine unge47 Vincenti, Walter G.: What Engineers Know and How They Know It, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1990. 48 Ewenstein, Boris/Whyte, Jennifer: »Beyond Words: Aesthetic Knowledge and Knowing in Organization«, in: Organization Studies 28 (2007), S. 689—708. 49 Latour, Bruno: »Visualization and Cognition: Thinking with Eyes and Hands«, in: Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Culture Past and Present 6 (1986), S. 1—40. 50 Eckert, Claudia/Boujut, Jean-Francois: »The Role of Objects in Design Co-Operation: Communication Through Physical or Virtual Objects«, in: Computer Supported Cooperative Work 12 (2003), S. 145—151. K. Henderson: On Line and On Paper. 51 Edward Cullinan Architects: Edward Cullinan Architects, London: RIBA Publications Limited 1984. Hale, Jonathan: Ends, Middles, Beginnings, London: Blackdog Publishing 2005. Powell, Kenneth: Edward Cullinan Architects, London: Academy Editions 1995.
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wöhnliche Form einer kommerziellen Organisation, bei der jedes Belegschaftsmitglied Partner werden und als solcher in der nationalen Unternehmensdatenbank gelistet werden kann. Partner halten keine Anteile am Unternehmen, sondern konstituieren gemeinsam die Unternehmensleitung. Das kollektive Ethos dieser Praxis manifestiert sich in einem Büro, das sich in einem alten Lagerhaus in North London befindet. In dem Zeitraum, in dem wir unsere Studie vornahmen, befanden sich im Erdgeschoss des Gebäudes Konferenzräume und eine Küche, im oberen Geschoss gab es einen einzigen offenen Bürobereich. Hier befanden sich die Arbeitsplätze aller Mitarbeiter/-innen; Nischen innerhalb dieses Bereichs beherbergten die unterschiedlichen Projektteams. Datenerhebung Bei unserer Forschung verfolgten wir die Designpraxis für laufende Projekte. Dabei beobachteten und befragten wir Schlüsselmitarbeiter/innen, sammelten Sekundärdaten und waren bei informellen Gesprächen, die die Arbeit betrafen, anwesend. Um die damit einhergehenden Störungen zu minimieren, übernahm der erste Autor den größten Teil der tiefgreifenderen Beobachtungsarbeit, sobald der Erstkontakt hergestellt war. Im Jahr 2004 verbrachte er über einen Zeitraum von 6 Monaten hinweg etwa 130 Stunden (von 33 Tagen) mit der Firma. In diesem Zeitraum wurde er auch in Besuche vor Ort und in Kundenmeetings einbezogen. Beide Autoren/-innen besuchten das Unternehmen bei zahlreichen Gelegenheiten. Hierbei befragten sie gemeinsam Schlüsselmitarbeiter/-innen innerhalb des Unternehmens und arrangierten mehrere Feedback-Sitzungen mit Gruppen von Architekten/-innen, die sich für die Forschung interessierten. Die beiden Autoren/-innen tauschten sich oft über ihre Eindrücke aus dem Feld aus. Das Projekt: Royal Botanic Gardens in Kew – Erweiterung von Herbarium und Bibliothek Das Projekt, das in diesem Artikel analysiert wird, ist die neue Erweiterung des Herbariums in den Royal Botanic Gardens in Kew, London. Obwohl das Projekt an sich schon faszinierend ist und eine detaillierte Darstellung in der Architektur- und Ingenieurspresse verdient, ist dies hier nicht unser Ziel. Wir geben nur einen einfachen Überblick, um eine Grundlage für unsere Analyse der damit verbundenen Wissensarbeit zu schaffen. Bei diesem Projekt handelt es sich um die Erweiterung eines der weltweit bedeutendsten Herbarien. Dort befin-
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den sich auch eine Bibliothek sowie die Abteilung für Informationsdienste der Kew Gardens. Die geplante Herbariumserweiterung schließt an einen Flügel des bestehenden Herbariums an und soll Lagerraum für getrocknete Pflanzenproben bieten. Die Vorgabe fordert, dass Voraussetzungen für die Lagerung in den kommenden 50 Jahren geschaffen werden. Die Umgebung muss sowohl feuersicher sein, um die Sammlung zu schützen, als auch klimakontrolliert, um zu verhindern, dass Ungeziefer (wie z.B. Käfer) die Sammlung zerstört. Die Massenlagerung in beweglichen Kompaktor-Einheiten mit Feuerschutz für mindestens zwei oder vier Stunden und Temperaturregulierung auf etwa 15 Grad Celsius bewirkt eine Reihe spezifischer struktureller, mechanischer und räumlicher Einschränkungen für die Gestaltung. Eine weitere Anforderung der Vorgabe ist, nicht nur Raum für die weltweit umfangreichste Sammlung getrockneter Proben zu bieten, sondern auch einen Lesesaal von Weltklasse für die Sammlung von Bibliotheksbeständen und insbesondere für die seltenen Bücher. Diese Bibliothek benötigt einen Konservierungsraum, in dem Gegenstände gelagert oder für die langfristige Erhaltung vorbereitet werden. Bibliotheksangestellte und Botaniker brauchen Büros, zudem müssen die gesamte Abteilung für Informationsdienste in Kew sowie deren Grafikdesign und Visualisierungstechnik in dem neuen Gebäude untergebracht werden. Wir untersuchten den Zeitraum ab Juni 2004 – vom Ende der ersten Machbarkeitsstudien, als wir Diskussionen beobachteten, die den Bericht über diese Aktivitäten abschlossen (die sogenannte Stufe A/B des Royal Institute of British Architects, RIBA) bis zum Ende der konzeptuellen Designphase, die durch den C-Bericht im November 2004 formalisiert wurde. Dieser Zeitraum bildet einen produktiven Kontext für die Untersuchung von wissensintensiver Praxis, denn in dieser Phase wird das Gesamtkonzept für das geplante Gebäude entwickelt. Die Entwicklung der konzeptuellen Logik des Gebäudes schließt die intensive Zusammenarbeit von Kunden, beratenden Ingenieuren/-innen und den Architekten/-innen des Projekts mit ein. Tabelle 2 zeigt den Zeitraum der Datenerhebung im Kontext tatsächlicher und veranschlagter Zeitpläne für das gesamte Bauprojekt. Da wir eine kontinuierliche Forschungsbeziehung mit Edward Cullinan Architects pflegen, wissen wir inzwischen, dass der Prozess für die Planungsgenehmigungen länger dauerte als für dieses Projekt angenommen. Dies ändert jedoch nichts an der Wichtigkeit ihrer Planungsarbeit im Zeitraum unserer Datenerhebung.
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Tab. 2: Zeitleiste Erweiterungsbauprojekt für Herbarium und Bibliothek, Royal Botanic Gardens in Kew. *Quelle: Stufe-E-Bericht. 52 Die Zeitleiste war im Mai 2005, als der Antrag auf Planungsgenehmigung für das Projekt gestellt war, korrekt. (Mit + markierte Elemente werden in der Zeitleiste nicht angezeigt.)
Datenanalyse Ausgehend vom methodologischen Prinzip der gegenstandsverankerten Theoriebildung, der »Grounded Theory«, bewegten wir uns iterativ zwischen Datenerhebung und Datenanalyse. 53 Unser Ansatz für die ethnografische Arbeit waren eine Reihe konzeptueller Kategorien, die sich aus dem Lesen vorhandener Literatur ergaben. Im Verlauf der Erhebung, Organisation und Interpretation unserer Daten verfeinerten wir diese konzeptuellen Kategorien und kehrten für weitere Untersuchungen zurück an die Standorte im Feld. Während nicht alle konzeptuellen Kategorien bis zur »theoretischen Saturierung«54 untersucht werden konnten, ermöglichte uns die iterative Bewegung zwischen Analyse und Datenerhebung eine kontinuierliche Verfeinerung unserer Interpretationen, indem wir unsere Forschungsteilnehmer und deren Feedback ständig einbezogen. Wir richteten unseren Fokus weiterhin auf spezifische analytische Belange hinsichtlich der Nutzung visueller Materialien und arbeiteten auch induktiv, um den Daten aufkommende Ideen, beispielsweise zum Verhältnis zwischen 52 Edward Cullinan Architects: Herbarium and Library Extension at the Royal Botanic Gardens, Kew: Report for Stage E (Final Proposals), London: unveröffentlichter Bericht 2005. 53 Glaser, Barney G./Strauss, Anselm G.: The Discovery of Grounded Theory, London: Weidenfeld & Nicolson 1967. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet: Basics of Qualitative Research: Techniques and Procedures for Developing Grounded Theory, London: Sage 1998. 54 Ebd.
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der physischen und der digitalen Instantiierung visueller Repräsentationen, zu entnehmen. Die Analyse umfasste sorgfältiges Lesen und Sichten der gesammelten Dokumente, Fotografien, Transkripte von Meetings und Interviews sowie Feldnotizen. So untersuchten wir beispielsweise, wie Begriffe wie »Wissen«, »Informationen«, »Lösung«, »Wandel«, »Update«, »evolvieren«, »entwickeln« und »koordinieren« in Verbindung mit tatsächlichen oder besprochenen visuellen Repräsentationen verwendet wurden. Im Verlauf wiederholter Lesungen und Durchsichten ergab sich daraus eine Methode, eine Fülle von Daten in Hinblick auf die zwei Leitfragen unserer Forschung zu organisieren: (1.) »Wie gelangt man zu den unterschiedlichen Optionen, Lösungen oder Versionen? Welche Rolle spielen Zusammenarbeit und die Nutzung visueller Repräsentation?« und spezifischer (2.) »Wie gelangt man in Gesprächen und durch visuelle Repräsentation zu den Inhalten im Stufe C-Bericht, den Edward Cullinan Architects verfasst hatten«? Angesichts dieses Referenzrahmens wurden die Daten, auf Designepisoden bezogen, geclustert und wiederkehrende Themen über die verglichenen Cluster hinweg identifiziert (diese wiederum schlossen spezifische Fotografien, Feldnotizen, Dokumente und Transkripte ein). Bei weiterer Feldforschung – und gelegentlich durch den Einsatz spezifischer Follow-up-Interviews – wurden wiederkehrende Themen sowie aufkommende Ideen validiert und detaillierter untersucht.
Ergebnisse: Die Rolle von Objekten in multidisziplinären Wissenspraktiken Innerhalb des Architekturbüros wird wissensintensive Arbeit mithilfe multipler Interaktionen erreicht, in deren Zentrum visuelle Repräsentationen stehen. Zu diesen Interaktionen gehören Zeigen, Zeichnen, Anmerken, Reflektieren und Besprechen. Abbildung 1 zeigt Momentaufnahmen von Praktiken während des Zeitraums, den wir beobachteten. Sie demonstrieren, wie gemeinsame Interaktion in einem relativ informellen Kontext stattfindet: Die erste Fotografie zeigt Arbeit neben Teetassen und einem Teller mit Gebäck. Dies ist intensiv kollaborativ: Die zweite Fotografie zeigt die Hand der Architektin, wie sie das Transparentpapier hält, während der Ingenieur zeichnet. Zudem beruht sie auf mehrfachen Iterationen: Die dritte Fotografie zeigt, auf welche Weise Zeichnungen zum Fokus späterer epistemischer Arbeit werden, wenn Dimensionen geprüft und sie selbst nochmals überarbeitet werden.
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Als Objekte werden visuelle Repräsentationen in der Wissensarbeit auf eine intersubjektive Weise eingesetzt, die sowohl den Projektprozess als auch sein Produkt, die Gestaltung eines Gebäudes, entwickelt. Sie werden im Rahmen prozessorientierter Methoden eingesetzt, beispielsweise durch die Visualisierung von Übergängen in das nächste Stadium oder durch die Symbolisierung anderer Sätze von Zeichnungen, sowie deren Verortung und Status. Wir richten unseren Fokus jedoch auf ihren Einsatz bei produktorientierten Methoden bei der Planung eines Gebäudes. Hier werden visuelle Repräsentationen genutzt, um Designideen zu kommunizieren, gemeinsam an der Problemlösung zu arbeiten und die Beiträge verschiedener Parteien zu koordinieren. In diesem Abschnitt untersuchen wir die intersubjektive Natur von Wissensarbeit im Design mithilfe einer Anzahl von Vignetten aus dem Feld. Die Feldforschung konzentriert sich auf Stufe C, in der »verstärkt auf die Arbeit des Machbarkeitsstadiums eingegangen wurde und gleichzeitig die Verfeinerung des groben Bildes begann«55. Diese Arbeit gipfelt im Stufe-C-Bericht für die Erweiterung des Herbariums. Wir nutzen zunächst eine Analyse dieses Berichts, um die Dichte der involvierten Wissensformen zu diskutieren, sowie die Arten, auf die sie sichtbar gemacht werden. Anschließend ziehen wir das Beispiel eines Meetings mit der leitenden Architektin, dem Statiker und dem Gebäudetechniker kurz vor Beginn unserer Studie (Ende von Stufe A/B) heran, um Aufmerksamkeit auf die transepistemische Natur der kollaborativen Arbeit zu lenken, die sich um die visuellen Repräsentationen in diesem Umfeld dreht. Wir fokussieren auf eine spätere Interaktion von Architektin und Statiker, um die Rolle von Zeichnungen als technische Objekte und die Instantiierungen des epistemischen Objekts in ihrer kollaborativen Umgebung zu erläutern. Abschließend beobachten wir, wie visuelle Repräsentationen unterschiedliche Perspektiven auf das gesamte Datenset bieten; und wie sich die Entwicklung von Designwissen durch Interaktionen mit Objekten weiterentwickelt, die sowohl physische als auch digitale Instantiierungen entfalten.
55 Edward Cullinan Architects: Herbarium and Library Extension at the Royal Botanic Gardens, Kew: Report for Stage C (Outline Proposals), London: unveröffentlichter Bericht 2004, S. 1.
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Dichte von Wissensformen im Stufe-C-Bericht Berichte zur jeweiligen Stufe erfassen die Komplexität und Dichte der Wissensformen innerhalb des Projekts. Da Objekte Wissen repräsentieren, umfassen diese Berichte mehrere Arten von Repräsentation: Schreiben, Berechnungen, Fotos, 2D- und 3D-Skizzen und exakte Zeichnungen in unterschiedlichen Stilen und Maßstäben. Sie werden erstellt, um das Erreichen eines vorab bestimmten Punktes oder Übergangs zur nächsten Stufe innerhalb des Projekts zu kennzeichnen. Damit werden die von der RIBA empfohlenen Entwurfsstadien und Verfahren beachtet. Statusberichte fassen zusammen, welche Aktivität stattgefunden hat, und bilden eine Vorlage, der Auftraggeber zustimmen und die sie »abzeichnen« können.
Abb. 1: Ausgewählte Aufnahmen von der Arbeit am Gebäude auf Stufe C: Sie zeigen den relativ informellen Arbeitskontext, seine kollaborative Natur und die Art und Weise, wie Zeichnungen überarbeitet werden.
Der Bericht für Stufe C wurde am Ende des von uns beobachteten Zeitraums erstellt. Er umfasst das Grundkonzept für das neue Bauvorhaben, das in diesem Zeitraum entwickelt wurde. Diese Stufe konzentriert sich auf die Entwicklung einer Projektbeschreibung, bei der die Flexibilität und Wahlmöglichkeiten in Schlüsselbereichen erhalten bleiben, in denen es noch Unsicherheiten gibt. Es folgt auf die Machbarkeitsstudie (Stufe A/B) und geht detaillierteren Beschreibungen (Stufe D) voraus. Abbildung 2 zeigt ausgewählte Seiten aus dem 97-seitigen Dokument, das den Bericht zu Stufe C bildet. Obwohl nicht vollkommen festgeschrieben und unveränderlich, stellt es eine relativ definierte Beschreibung des Herbariums der Royal Botanic Gardens in Kew und der Bibliothekserweiterung dar. Bestimmte Abschnitte existierten bereits im Text des 58-seitigen Berichts für Stufe A/B. Während der Fokus des Berichts für Stufe A/B jedoch auf Zielen, Anforderungen, Analysen, Möglichkeiten und Strategien lag, richtet sich der Fokus des Stufe-C-Berichts besonders auf architektonische, strukturelle, umweltrelevante und landschaftliche Vorhaben. Der vielleicht entscheidendste Wissenskomplex, auf den der Fokus des Berichts gerichtet sein sollte, bezieht sich auf die Interessen und Anforderungen des Auftraggebers. Aus dessen Spezifikationen
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für die Gestaltung ergeben sich die konzeptionellen Ideen und Lösungen, die von einem interdisziplinären Projektteam entwickelt werden. Zu den formulierten Projektzielen gehören die Bereitstellung neuer Lagerungsmöglichkeiten für den Überhang existierender botanischer Exemplare und Bücher aus der Bibliothek, die Bereitstellung von Raum für Neuzugänge des Herbariums für 50 Jahre und für Erwerbungen der Bibliothek für 30 bis 50 Jahre. Insbesondere formuliert der Statusbericht, dass die Unterbringung der Sammlung sorgfältige Kontrolle der Umgebungsbedingungen im Inneren mit sich bringt, um so das Risiko von Schädigungen der Sammlung zu minimieren. Weitere Spezifikationen benennen den Bedarf an Büros und Arbeitsräumen, Einrichtungen zur Dekontaminierung von Pflanzenproben sowie eine Einrichtung zur Restaurierung des Bibliotheksbestands. Diese Ziele wurden im Bericht für Stufe A/B ausführlich benannt, in Stufe C jedoch überarbeitet, um einen Verweis auf die Einrichtung einer Parkmöglichkeit (Parkplatz/Parkhaus/Tiefgarage) als positiven Aspekt des Besuchererlebnisses mit einzubeziehen. Sowohl Vorgaben, die vom Auftraggeber definiert waren, als auch Vorgaben, die sich im Projektverlauf ergeben und Gestalt angenommen hatten, dienten als übergreifende Organisationsprinzipien, die die Aktivitäten von Architekten/-innen und Beratern/-innen (Statiker/-innen, Gebäude- und Umweltschutzdienste usw.) strukturieren. Spezielle Expertengemeinschaften generieren und kommunizieren ihr Projektwissen in Reaktion auf diesen weiteren Bezugsrahmen. So spezifizieren beispielsweise die Strukturvorschläge für die Dachgestaltung im Stufe-C-Bericht eine leicht gewölbte Kuppel mit Oberlichtern, wie auf einer Seite in Abbildung 2 gezeigt. Drei Optionen werden vorgestellt und diskutiert, und zwar der Einsatz von Stahlträgern, »Glulam«-Holzbalken (Brettschichtholz) und vorgegossene Betonträger. Diese Optionen erfüllen folgende Anforderungen: »Klare, offene Überspannung der vollen Breite des Dachraums, um eine offene Etagenaufteilung sowie Flexibilität bei der späteren Nutzung zu gewähren« sowie »Erfordernis von Speichermasse für die Dachkonstruktion zur maximalen Temperaturkontrolle«.56 Dem haben die Statiker noch eine Reihe von Zeichnungen (Grundriss und Schnitt) hinzugefügt: Sie repräsentieren einen Vorschlag zur Dachaufteilung, der die Dimension und Position der Träger zeigt. Diese technischen und hochgradig codierten Informationen befinden sich neben recht andersartigem, jedoch gleichermaßen validem und signifikantem Wissen: ästhetischem Wissen.
56 Ebd.
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Das entwickelte ästhetische Wissen ist im Text sowohl visualisiert als auch artikuliert, wie Abbildung 2 zeigt. Die Architekten/-innen schreiben, dass ein entscheidendes Ergebnis bisher die Forderung dieses Entwurfsstadiums ist, sich stärker mit der Vorgabe des Auftraggebers zu befassen und sie daraufhin »zu untersuchen, wie diese Essenz sich in Architektur ausdrücken lässt«57. Diese Untersuchung architektonischer Form erfordert sowohl nonverbale als auch sinnenbasierte Modi von Wissen.58 Die Entwicklung und Anwendung ästhetischen Wissens verdeutlicht folgende Passage: Der Vorschlag, für das Hauptlagergebäude recycelte Backsteine zu verwenden, ist eine Fortführung des Wunschs nach einer robusteren Ästhetik, die die Masse und Solidität dieses massiven, kühlen, dunklen »Archiv«-Lagers ausdrückt. In Kontrast hierzu »hängen« die leichten hölzernen und verglasten Elemente von diesem Element, um so kontrollierte Arbeitsräume zu schaffen, die auf ihre spezifische Gestaltung und Orientierung reagieren. Die leicht gewölbten hölzernen und verglasten Elemente auf der westlichen Seite des Archivlagers ermöglichen Zirkulation, indem sie sämtliche Elemente miteinander verbinden.59
Diese Passage beschreibt eine »robuste Ästhetik«, massiv und solide, die im Kontrast zu »zarteren« und »leichten« Elementen steht. Hier kommen eine ästhetische Sensibilität und Kompetenz zum Ausdruck, die das Design prägen. Zusätzlich zu diesem Text verweist eine Reihe von Perspektivzeichnungen auf die Anmutung des zu schaffenden Raums, wie er aussehen und sinnlich erfahrbar werden wird.
Die Natur transepistemischer kollaborativer Arbeit, in deren Mittelpunkt visuelle Repräsentationen stehen Im Rahmen der Erweiterung des Kew Herbarium finden auch die unabhängige und die kollaborative Arbeit von Architekten/-innen (Edward Cullinan Architects), Umwelt- und Servicetechnikern/-innen, Statikern/-innen, Kostenplanern/-innen, externen Umwelt- und Landschaftsberatern/-innen, Verkehrsingenieuren/-innen und selbstverständlich die instruktiven Beiträge des Auftraggebers in Kew Gardens 57 Ebd., S. 14. 58 Ewenstein/Whyte: Beyond Words. Strati: Organization and Aesthetics. 59 Edward Cullinan Architects: Herbarium and Library Extension at the Royal Botanic Gardens, Kew, S. 14.
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statt. Weitere Beteiligte wie Stadtplaner/-innen und Organisationen wie English Heritages sind ebenfalls einbezogen, und zusätzliche Personen beteiligen sich, sobald das Projekt am eigentlichen Standort umgesetzt wird. Diese unterschiedlichen Parteien repräsentieren bestimmte Gemeinschaften und Kulturen. Wissenspraxis im Kontext dieses Projekts schließt funktionsübergreifende Teams ein, die nicht nach Organisationsgrenzen zusammengesetzt sind. Oft beobachteten wir jedoch sehr enge Formen von Zusammenarbeit über berufliche Spezialisierungen hinweg.
Abb. 2: Zwei Seiten aus dem Stufe-C-Bericht: (a) strukturelle Erwägungen zur Dachgestaltung, (b) architektonische Vorschläge mit Blick auf das geplante Gebäude.
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So gab es beispielsweise etwa zu Beginn unserer ethnografischen Studie (Ende Juni) eine einstündige Besprechung zwischen der Projektarchitektin, dem Statiker und einem Gebäudetechniker, um ihre Beiträge in früheren Berichtsstufen (A/B) aufeinander abzustimmen und das Thema Parkmöglichkeiten weiter zu diskutieren. Dies fand in einem Besprechungszimmer im Architekturbüro an einem großen Tisch statt, auf dem Teebecher standen. Die Projektarchitektin hatte morgens ein Gespräch mit dem Auftraggeber gehabt, und ein Zweck des Meetings war, die anderen Experten darüber zu informieren und das weitere Vorgehen zu besprechen. In den ersten fünf Minuten unterhielten sich die drei Teilnehmer/innen über frühere Meetings und plauderten über die Ansichten von Branchenkollegen/-innen, die sie alle kannten. Dabei ging es auch um Bedenken hinsichtlich des Brandschutzes der bestehenden Gebäude und Sorgen wegen des Prince of Wales, der sehr entschiedene Ansichten zu Architektur hat. Die Stimmung war freundlich, es wurde gelacht. Dann erinnert die Architektin die anderen daran, dass sie über Parkmöglichkeiten gesprochen hatten, und nennt einige der Optionen und die damit verbundenen Probleme. Sie hat den Berichtsentwurf vor sich ausgebreitet, als Farbdruck auf großen, lose verbundenen Bogen (A2). Der Statiker schlägt ihr vor, über den aktuellen Plan für eine Parkmöglichkeit zu sprechen, den sie im Folgenden näher ausführt, ebenso einige diesbezügliche Alternativen. Er sitzt neben ihr und hat einen Block mit liniertem Papier, auf dem er seine Notizen festhält. In der Tischmitte liegt ein Farbausdruck des Geländes mit dem Plan der Parkmöglichkeiten, über den eine Filzstiftskizze auf Transparentpapier gelegt ist. Diese Skizze enthält zahlreiche Linien, da Ideen darauf entwickelt und überarbeitet wurden. Sie war im früheren Meeting erstellt worden. Nun deutet die Architektin darauf und erklärt den anderen Experten die Gespräche und Überlegungen. Das Gespräch über Parkmöglichkeiten ist für das Design des Gebäudes fundamental, denn der Bedarf an Parkraum wird den Standort des Gebäudes auf dem Gelände bestimmen. Darüber hinaus gibt es jedoch auch interne Faktoren, die das Gebäudedesign einschränken, und während das Team sich bemüht, die maßgeblichen Unsicherheiten zu verstehen, springt das Gespräch von einer Diskussion der Landschaftsgestaltung zu einer Diskussion der Innenraumgestaltung. Die Architektin fasst die drei wichtigsten Optionen für Parkmöglichkeiten zusammen, danach sprechen sie detailliert über das Potenzial, die Funktion eines der geplanten Innenräume umzuwandeln, sollte sich in Zukunft ein erhöhter Bedarf an Büroräumen ergeben. Der Gebäudetechniker sagt: »Eigentlich lässt dieser Raum
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sich wirklich ganz leicht in Büros verwandeln.« Gemeinsam überlegen sie, was getan werden kann, um den Raum im Sommer zu kühlen, indem man Oberlichter oder Lüftungsöffnungen im Dach verwendet, um die Nutzungsqualität zu steigern. Daher bewegt sich das Gespräch anhand der Zeichnungen über vielfältige Wissenssets und -themen hinweg, während die Entwurfsarbeit voranschreitet. Gegen Ende des Meetings fassen sie zusammen und entscheiden, welche Schritte zu unternehmen sind. Die Architektin weist auf den Zeitplan hin: Der Stufe A/B-Bericht wird dem Stiftungsrat wahrscheinlich erst im September vorgelegt, und sie muss das Druckdatum, das Präsentationsdatum und die gesamte Serie der folgenden Stufe-C-Meetings planen. Sie sprechen darüber, wann sie während der Sommerferien nicht da sein werden. Noch immer ist etwas Arbeit am Berichtstext erforderlich, der in die visuelle Repräsentation eingearbeitet wird, um diese zu erläutern. Der folgende Austausch gibt einen Hinweis auf das beinahe intime Arbeitsverhältnis über Organisationsgrenzen hinweg. Statiker: Ich denke, es wäre nützlich, wenn du mir meine zwei Seiten zusenden würdest, denn ich finde, im Moment sollten wir es entweder kleiner machen oder irgendwie besser kompatibel mit dem Stil, den ihr im restlichen Bericht habt. Ich denke, ich kann sie wahrscheinlich nochmal genauer ausarbeiten. Letzten Mittwoch habe ich mir nicht allzuviel Zeit genommen. Ich kann dieser Sektion noch etwas hinzufügen. Leitende Architektin: Und dann müssen wir überlegen, wie die Informationen für dieses neue Stück Arbeit zusammenbringen. Gebäudetechniker: Für mich klingt das, als sollten wir einen gemeinsamen Kommentar abfassen: Leitende Architektin: Ja, so scheint es.
Der Gebäudetechniker äußert, dass es ein recht komplizierter Teil des Entwurfs sei, doch der Statiker weist darauf hin, dass es für die grundlegende Gebäudeform drei Optionen gebe, die sich mit »einigen wenigen Stichpunkten von jedem von uns« beschreiben ließen. Anschließend schlägt die leitende Architektin vor, das Gelände erneut aufzusuchen: Leitende Architektin: Dann würde ich sagen, das Erste, was wir tun sollten, ist, nochmal gemeinsam dorthin zu fahren. Wir sehen uns um und laufen mal um die Gebäude, um die vorhandenen Teile, herum. Gebäudetechniker: Ja. Statiker: Ja
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Leitende Architektin: Und dann können wir darüber reden und uns besprechen und dabei herumgehen. Gebäudetechniker: Ja. Leitende Architektin: Und Fotos machen und… Statiker: Das könnten wir gemeinsam machen… Leitende Architektin: Wie sieht’s diese Woche mit eurer Zeit aus? Denn das sollten wir lieber früher als…
Im Anschluss an die oben beschriebene Interaktion verabreden sie sich zu einem Treffen im Zug am übernächsten Tag. Dann verabschieden sich die Experten, da sie schnell weg müssen, und das Meeting löst sich auf. Das Gelände, »die Gebäude, d.h. die vorhandenen Teile«, ist eindeutig ein wichtiger Bezugspunkt bei dieser Art von Arbeit – wichtig genug, um den Weg dorthin zu unternehmen und es relativ kurzfristig anzusehen. Doch sind es die visuellen Repräsentationen des Geländes und der Entwurf, die für die Wissensarbeit bei dieser Besprechung im Mittelpunkt standen. Der Farbausdruck mit dem Plan der Parkmöglichkeiten, über den eine Transparentpapierskizze gelegt war, in der Mitte des Tisches, ist in Abbildung 3 gezeigt. Bei einem früheren Meeting hatte der Farbausdruck als technisches Objekt gedient, das es der darübergelegten Transparentpapierskizze ermöglichte, zum Fokus der epistemischen Arbeit zu werden, während sie bei der Besprechung verändert und aktualisiert wurde. Das Foto in Abbildung 3 wurde während des Meetings aufgenommen: Man sieht die Architektin, die auf die Skizze zeigt, während sie diese dem Statiker und dem Gebäudetechniker erklärt. In diesem Kontext dient das kombinierte Bild – die Filzstiftskizze und der Farbausdruck – als fokales Objekt, welches das Wissen der verschiedenen Teilnehmer/-innen vermittelt. Angesichts der ganzheitlichen Natur komplexer Bauprojekte wird Designwissen in enger Abstimmung und Aushandlung mit anderen Mitgliedern des funktionsübergreifenden Entwurfsteams entwickelt. Doch ist hier der Modus der Koordination anders als oft in der Fachliteratur zu Grenzobjekten beschrieben. Die Repräsentanten/innen unterschiedlicher epistemischer Gemeinschaften arbeiten gemeinsam an Problemen, wobei sie die Arbeit untereinander aufteilen. Oft bemühen sie sich eher, ein gemeinsames Verständnis von Problemen zu entwickeln, als durch formale Funktionen und Zuständigkeiten zu interagieren. Alle drei Besprechungsteilnehmer/-innen interagieren während der gesamten Diskussion, ermutigen sich gegenseitig und machen Scherze, wenn sie nicht direkt zur Wissensarbeit beitragen.
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Epistemische Objekte in kollaborativer Wissensarbeit
Abb. 3: Die Architektin zeigt auf die aufgelegte Skizze, während sie die Optionen für die Gestaltung der Parkmöglichkeiten und die Lage des neuen Gebäudes auf dem Gelände erklärt.
Bei der Feldforschung ließ sich die charakteristische Offenheit oder Unvollständigkeit epistemischer Objekte bei zahlreichen Gelegenheiten beobachten, bei denen visuelles Material verwendet wurde. Während dies für einen konzeptionellen Entwurf im ersten Stadium, beispielsweise dem im Catch-up-Meeting, ein besonderes Gütezeichen ist, fanden wir Vorkommen derartiger Offenheit und Formbarkeit im gesamten Entwurfsprozess. Ein gutes Beispiel ist auch die handgezeichnete, mit zahlreichen Markierungen versehene Skizze, die einen Teil eines Wettbewerbsprojektes bildete, das von Ewenstein und Whyte detailliert diskutiert wurde.60 Hier dient dies als empirischer Hinweis auf epistemische Objekte im Design. Als Kommentar zu den Schichten von Beschriftungen, die aus der Skizze ein wahres Palimpsest von Ideen und Markierungen (hervorgegangen aus der Veranschaulichung diverser Erwägungen) machten, erklärt Seniorarchitekt und Partner Johnny: In dieser grünen Skizze hier liegt mehr Betonung auf Teilen, die als wichtiger oder stärker überarbeitet empfunden werden. Oder die vielleicht mehr Fragen aufwerfen; denn die Skizze scheint zu sagen: »Ich weiß nicht genau, wo diese Linie ist, vielleicht ist sie hier, vielleicht auch hier«. 60 Ewenstein/Whyte: Beyond Words.
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Die Skizze beginnt, Designwissen zu verkörpern. Sie ist jedoch nicht völlig ausgeformt oder definiert, stattdessen wirft sie Fragen auf. Sie nimmt eine nahezu helfende Rolle ein, wird ein »nichtmenschlicher« Aktant61. Dies wird von der aktiven Stimme widergespiegelt, die die Skizze in Johnnys Darstellung erhält. Die Skizze ist ein epistemisches Objekt, das aktiv Aufmerksamkeit auf seine eigene Unvollständigkeit zieht und die Frage an den Praktizierenden zur weiteren Entwicklung zurückgibt. In der Tat – wo soll diese Linie gezogen werden? Wenn eine Antwort nicht direkt parat ist, reagiert der Planer, indem er mehrere Linien ausprobiert und deren Auswirkungen auf den Entwurf einschätzt, nachdem sie eingezeichnet sind. Design nimmt hier die Gestalt einer Untersuchung oder Nachforschung an. Die Zeichnung ist ein aktiver Teilnehmer an einem Prozess erkundender, projektiver Reflexion. Sie bildet nicht einfach ab oder repräsentiert die vorherigen Reflexionen des oder der Designer/-innen. Daher ist die Rolle, die visuelle Repräsentationen als Wissensobjekte spielen, nicht nur deshalb so wichtig, weil sie Wissen einbetten oder einschreiben können.Einschreiben, Einbetten und Enthalten ist nur die eine Seite, die andere ist Fehlen, Mangel und ungelenkte Entfaltung. Epistemische Objekte an sich werfen Fragen auf. Doch wie lassen sie sich modifizieren und kollaborativ nutzen, um Antworten zu finden, um Wissen gemeinsam zu entwickeln? Zweck des folgenden Meetings zum Herbariumprojekt soll sein, visuelle Repräsentationen in ihren vielfältigen Funktionen als technische Objekte und als Instantiierungen epistemischer Objekte näher zu verstehen. Inzwischen haben wir Anfang Oktober, und der Statiker und die leitende Architektin sind zurück und sitzen in Begleitung jüngerer Kollegen/-innen um den Tisch. Die Designherausforderung ist, eine strukturelle Lösung für das Dach der geplanten Herbariumserweiterung zu finden. Langfristig, nach über 15—20 Jahren der Nutzung, wird der Büroraum als weiteres Pflanzenlager gesehen. In diesem Szenario können die Mauern, welche die verschiedenen Lagerabteilungen voneinander trennen, als Strukturelemente fungieren. Kurzfristig jedoch muss sich eine Designidee damit befassen, wie bei einer offenen Etage mit der Dachkonstruktion umzugehen ist. Wenn während des Meetings Probleme angesprochen werden, kommen unterschiedliche Repräsentationen zum Einsatz, die sich aufeinander beziehen. Das Meeting findet in den Büroräumen des Statikers statt, an einem Tisch, der mit visuellen Repräsentationen übersät ist. Sektionen bieten Seiten- und Vorderansichten von Dach und Oberlichtern, 61 Law, John: »Notes on the Theory of the Actor- Network: Ordering, Strategy and Heterogeneit«, in: Systems Practice 5 (1992), S. 379—393.
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welche die Punkte zeigen, an denen Dach und Seitenwände aufeinandertreffen. Etagenpläne des Gebäudes sind ebenso in Benutzung wie verschiedene Bogen markierten und nicht markierten Transparentpapiers. Lineale, Marker, Farb- und Bleistifte runden das Bild ab. Das Meeting beginnt mit einer Diskussion der aktuellsten Version der Pläne und einer kurzen Diskussion über die Treppen. Indem er auf die Pläne zeigt, sagt der Statiker, dass alles Geschwungene dem Kostenplaner, der für die Kostenkontrolle verantwortlich ist, Kopfzerbrechen bereiten könnte, doch die rechtwinkligen Elemente seien in Ordnung. Anschließend sprechen sie über Dachfenster und die Vorund Nachteile verschiedener Alternativlösungen für die Dachkonstruktion. Der Statiker spricht über Materialeigenschaften, beispielsweise über das Gewicht und die Speichermasse von Beton. Die Architektin äußert Vorlieben in Bezug auf »Look and Feel« des geplanten Gebäudes. Sie halte Beton für »zu klobig«, falls dadurch nicht viel Fensterfläche übrig bliebe. Später erklärte sie: Eine der Lösungen, die wir hierfür hatten, waren diese sehr teuren vorgegossenen Elemente mit bloß einem Stahlriegel im unteren Bereich des Bogens, um sie zu verbinden… Strukturell und als Element wirkte das ziemlich elegant – uns wurde bewusst, dass es in diesem Raum, in dem es auch Leuchten und alles andere gab, unglaublich überfüllt wirken würde, wenn auch noch 30 Stahlverbindungen über die Decke verliefen – zusätzlich zu den Leuchten und allem anderen. Und das war einer der Hauptgründe dafür, dass wir davon absahen, abgesehen von den Kosten.
Ihre Erklärung weist darauf hin, dass die Zeichnungen Informationen ebenso verbergen wie offenlegen und ständige Interpretation erfordern; auf den Zeichnungen wirkten die vorgegossenen Elemente elegant, doch als sie darüber nachdachten, wie es sein würde, sich regelmäßig in dem Raum aufzuhalten, konnten sie eine Reihe von Problemen voraussehen. Im Verlauf der Diskussion erwägten sie die Alternativen: Verwendung von Balken aus »Glulam« (Brettschichtholz) oder Stahl. Sie begannen zu zeichnen, mit den Alternativen zu experimentieren. Beispielsweise wird in einer Designepisode der Grundriss der oberen Etage in Verbindung mit einem Grundriss der direkt darunterliegenden genutzt. Diese Repräsentation wird in der Diskussion nicht modifiziert. Sie dient nun als technisches Objekt, das einen stabilen Referenzpunkt bietet. Damit kann die Architektin sich ein Bild davon machen, in welchem Abstand die Träger, die bautechnischen Zwecken dienen, unter dem Dach anzubringen sind. Dies beeinflusst, wel-
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ches Material sie für die Konstruktion wählen. Sie versuchen, die strukturelle Basis berechenbar zu machen, und sie sagt, dass sie hierzu einige Studien vornehmen sollten. Auf Transparentpapierbogen werden denkbare Anordnungen solcher Balken von der Architektin gezeichnet, die sich dabei auf die ausgedruckten Pläne bezieht (siehe Abbildung 4). Im Gespräch mit dem Statiker möchte sie den exakten Abstand zwischen den Balken ermitteln. Sie fügt der Skizze Bemaßungen hinzu und erwägt verschiedene Optionen. Indem er sich auf die visuelle Repräsentation bezieht, darauf deutet und sie berührt, drückt der Techniker sein Wissen zu möglichen und geeigneten Positionen der Träger aus, die die Architektin auf Transparentpapier skizziert. Als epistemisches Objekt wirft die hier verwendete visuelle Repräsentation eine Frage oder ein Problem auf: Wie lässt sich eine geeignete Anordnung von Trägern zum Abstützen des Dachs finden? Als ein Objekt bringt es das Wissen sowohl der Architektin als auch des Statikers hervor. Sie untersuchen die entscheidenden strukturellen Elemente wie (horizontale) Balken, und wie sie das Gewicht über die verschiedenen Etagen des Gebäudes stützen. Auf einem Grundriss der Etage sind diese strukturellen Elemente rot markiert. Auf eine fortschreitende und dynamische Weise ergeben sich für die Architektin und den Statiker neue Fragen, während verschiedene Zeichnungen entwickelt und die Planung vorangetrieben werden.
Abb. 4: Transparentpapier, das benutzt wird, um eine geeignete Balkenanordnung für die obenliegende Etage zu definieren (links); lastentragende Elemente sind rot markiert (Mitte); mehrere verworfene Objekte der Untersuchung (rechts).
Es gibt eine auskragende Sektion im ersten Geschoss, und der Fokus des Gesprächs wendet sich dieser zu. Der Ingenieur konsultiert ein Buch, das Economic Concrete Frame Elements, um weitere Informationen zu Vorgaben für Trägertiefe, Deflektion usw. zu beschaffen. Die Architektin fragt, ob der Stützpfeiler versetzt werden könne, um Möbel und Zwischenwände unterzubringen; der Pfeiler ist jedoch notwendig, da der Bereich, von dem sie spricht, zu lang ist, um ohne Stützträger überspannt werden zu können. Die Architektin zeichnet daraufhin erneut und diskutiert den Schnitt des gesamten Gebäudes einschließlich Dach. Sie kreisen um die Frage der zu verwendenden
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Materialien, doch da Unsicherheiten bleiben, zögern die Teilnehmer/innen, eine Wahl auf Basis der verfügbaren Informationen zu treffen. Die drei in diesem Meeting diskutierten Optionen werden verfeinert und im Stufe-C-Bericht präsentiert. Hier werden Fragen dazu aufgeworfen, was es bedeutet, wenn etwas ein epistemisches Objekt ist. Was die vorliegende Arbeit betrifft: Ist das Gebäude selbst das epistemische Objekt oder seine Träger? Der Fokus verlagert sich kontinuierlich zwischen der Repräsentation und dem Gebäude, für das sie steht. Mit Blick auf die Zeichnung sagte uns die Architektin: Es gibt diese drei Kästen, von denen sie letztlich möchten, dass sie Lagerräume für das Herbarium werden, mit Partitionen, die bis hinauf zum Dach reichen …
Ihre Worte weisen auf die Uneindeutigkeit hinsichtlich der Frage hin, was das Objekt ist. Sie beginnt damit, Eigenschaften zu beschreiben, die die Zeichnung zeigt – »Sie haben diese drei Kästen« – wendet sich dann jedoch schnell einem Gespräch über das, was »sie sein sollten« zu.
Das Design weiterentwickeln: Objekte von physischen zu digitalen Formen entfalten und umgekehrt Als wir die Arbeit der Architekten/-innen über eine Reihe von Meetings und Designepisoden hinweg verfolgten, ergaben sich neue Fragen: Wie wird der Prozess des Designfortschritts im Detail erreicht? Wie ist das sich weiterentwickelnde Wissen in neuen Sätzen von Repräsentationen verkörpert? Transparentpapierbogen und Abbildungen, die in Designmeetings wie dem Meeting von Architektin und Statiker zum Dachentwurf mit Anmerkungen versehen werden, enthalten Rückstände von Denkprozessen. Dieses zutage tretende Wissen wiederum wird in neue Zeichnungen und Repräsentationen eingeschrieben, die wiederum innerhalb des Designteams zirkulieren. Zum Prozess gehört auch CAD – dies erweitert die Definition dessen, was wir als Objekt betrachten könnten. Ausdrucke und Freihandskizzen auf Papier sind physische Artefakte, die zentral sind für unterschiedliche Typen von Wissenspraxis. Sie stehen jedoch mit digitalen Zeichnungen in Zusammenhang, die zur Bearbeitung ebenfalls einbezogen werden. So ist beispielsweise beachtenswert, wie die Architektin, der Statiker und der Gebäudetechniker ihre jeweiligen Vorschläge für die architektonische Gestaltung, allgemeine strukturelle Anordnungen und das Belüftungssystem entwickeln. Die Versionen, die im Stufe-C-
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Bericht verwendet werden, zeigt Abbildung 5. Insofern es sich um Objekte mit »koinzidenten Grenzen«62 handelt, lassen sie sich als Grenzobjekte auffassen: Sie sind relativ stabile Versionen der Zeichnungen, aus denen die unterschiedliche Wissensarbeit der beteiligten Experten/-innen ersichtlich wird. Diese vielfältigen Zeichnungen wurden durch Modifikation und erneutes Abspeichern digitaler Zeichnungsdateien auf den Computern entwickelt. Im Prozess der Erarbeitung dieser unterschiedlichen Versionen wurde von den Architekten ein CAD-Plan der zweiten Etage mit mehreren Ebenen in Umlauf gebracht. Die unterschiedlichen Ebenen können mithilfe einer Funktion namens »Cross-Referencing« ein- oder ausgeblendet werden. Die anderen Experten/-innen konnten Ebenen ausblenden, wenn die darin enthaltenen Informationen nicht unmittelbar relevant oder sogar hinderlich für ihre eigenen fachkundigen Beiträge waren (z.B. Vorschläge zur Anordnung des Mobiliars). Die Abbildungen zeigen, wie die drei speziellen Berufsgruppen sich die Zeichnungsdatei aneigneten und dabei ihre jeweiligen Wissensformen einbrachten. Statiker und Gebäudetechniker konnten ihre Lösungen entwickeln und zwischen den Ebenen einbetten, die sich unmittelbar auf ihre Arbeit beziehen. In der Praxis erfolgt die Entwicklung interdisziplinären Wissens durch die Nutzung physischer Artefakte. Des Weiteren tritt sie jedoch auch durch Zeichnungsdateien mit mehreren Ebenen auf, die Schichten spezifischer Informationen verkörpern und dadurch zu selektiven Interpretationen und Beiträgen einladen. Die Objekte in unserer Studie sind zu verstehen als eine Erweiterung vom Physischen ins Digitale, was die selektive Aneignung von Bedeutung und den Beitrag von Wissen erleichtert. Die Beziehung zwischen dem individuellen Planer und der Repräsentation auf seinem Computerbildschirm ist inhärent dyadisch. Weniger einfach als die Beobachtung der Meetings und Interaktionen war es für uns, diese Form der Wissensarbeit zu beobachten. Abbildung 6 zeigt eine Momentaufnahme einer mit Anmerkungen versehenen Zeichnung neben dem Computer eines Designers. Die Informationen auf dieser Zeichnung werden als Referenz genutzt, während auf dem Bildschirm epistemische Arbeit vorgenommen wird. Bei diesem Beispiel von August 2004 werden bestimmte Nutzeranforderungen in Designlösungen übertragen. Auf der Entwurfszeichnung sieht man das Untergeschoss, und Anmerkungen darauf zeigen beispielsweise, dass die Fotografen/-innen gern hochgelegene Fenster hätten oder dass es Bedenken gibt, dass dieser Entwurf zu viel Zirkulationsraum lässt. 62 Star/Griesemer: Institutional Ecology, ›Translations‹ and Boundary Objects, S. 392.
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Somit werden unterschiedliche Beiträge von fachkundigen Designern/-innen und Endbenutzern/-innen gleichermaßen angeregt und unter Zuhilfenahme visueller Repräsentationen integriert. Zeichnungen, Skizzen, Pläne oder Schnitte agieren daher als »Dienstverpflichtung« oder erheben Anspruch auf die Beiträge anderer (Henderson 1999). Dies kann ein sehr subtiler Prozess der Offenlegung von Lücken, Problemen oder Unsicherheiten sein, die von spezifischen Akteuren zu lösen sind. Bei anderen Beispielen beinhalten sie eine direkte Einladung an Mitglieder anderer epistemischer Gemeinschaften, ihr Wissen auf dieselbe Weise einzubringen, wie ein Kommentar auf Papier dies könnte. So zeigt beispielsweise eine Zeichnung im Stufe-C-Bericht die Gebäudetechnik und ist mit folgenden Anmerkungen versehen: »Hinweis: Grundriss des Pflanzenraums erfordert in der nächsten Designphase Abstimmung von Architektur und Statik. Derzeitiger Grundriss ist nicht angemessen.« Sehr ausdrücklich fordert diese Repräsentation die Beiträge von anderen Beteiligten. Abb. 5: 3 Seiten aus dem Stufe-C-Bericht:(a) Architektenzeichnung des Grundriss 2. Etage, (b) Statikerzeichnung 2. Etage, (c) Umwelttechnikerzeichnung Belüftungssystem 2. Etage.
Diskussion und Abschlussbemerkungen Unsere theoretische und empirische Arbeit lässt darauf schließen, dass Objekte multidimensional sind. Anhand der Benennung von
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Dimensionen der Objekte (stabil – im Wandel, abstrakt – konkret, Einsatz innerhalb von Praktiken oder diese übergreifend) beginnen wir, die Arten von Funktionen zu klären, die Objekte bei wissensintensiver Arbeit einnehmen können. Das epistemische Objekt ist ein breites, abstraktes Phänomen, das teilweise innerhalb einer visuellen Repräsentation erfasst wird, die eine Instantiierung desselben ist. In dem Kontext, den wir erforschten, beobachten wir, wie visuelle Repräsentationen genutzt werden, um epistemische Objekte zu manipulieren. Sie werden genutzt, um einige Aspekte planerischer Arbeit zu stabilisieren und andere weiterzuentwickeln. Durch diese Arbeit entwickelt sich das Projektwissen, und das Konzept des Gebäudes wird definiert und verfeinert.
Abb. 6: Ein Plan mit Markierungen, um Nutzeranforderungen zu zeigen. In der Nähe eines Architektencomputers im Büro.
In dieser Umgebung sind Beziehungen zum Objekt eher multipel als dyadisch. Mitglieder unterschiedlicher Expertengemeinschaften werden angeregt, ihr Wissen einzubringen, da visuelle Repräsentationen aktiv Entwicklung oder Definition fordern. Als sich weiterentwickelnde epistemische Objekte werfen visuelle Repräsentationen Fragen auf, während sie andere beantworten.63 In multifunktionellen Teams sind Elemente visueller Repräsentationen unterschiedlich relevant für unterschiedliche Akteure. Bedeutungen verschieben sich und unterstützen so unterschiedliche Interpretationen, während gleichzeitig 63 Knorr Cetina: Sociality with Objects. Knorr Cetina: Objectual Practice.
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uneindeutige Arbeitszeichnungen sich auf den/die Betrachter/-in verlassen, um die Aussage der Repräsentation zu vervollständigen – und gerade weil sie mehrere Ebenen (möglicherweise präziser) Informationen und Signifikationen enthalten, die für unterschiedliche Akteure unterschiedliche Implikationen tragen, abhängig von deren Kontext und Agenda. Im Gegensatz zu jüngeren Beschreibungen von Grenzobjekten, die Wissensarbeit unter bestimmten Gegebenheiten an vorgegebenen Grenzen vermitteln, reflektieren diese Objekte einen Prozess der Wissensentwicklung, der fortlaufend und dialogisch voranschreitet: Er verkörpert einen Mangel, wirft eine Frage auf, sucht dringend eine Antwort, entfaltet sich, entwickelt einen Mangel an anderer Stelle, wirft neue Fragen auf und so weiter. Während das Grenzobjekt relativ stabil und konkret ist, ist das epistemische Objekt relativ dynamisch und abstrakt, und es besteht aus Kaskaden sich entfaltender Instantiierungen. Im von uns beobachteten Kontext wird konzeptuelles Designwissen nicht so sehr durch relativ stabile Grenzobjekte entwickelt, als vielmehr durch sich stetig entfaltende epistemische Objekte. In ihrer epistemischen Funktion sind zirkulierende Repräsentationen nicht so sehr unveränderliche mobile Objekte64, die normative Standards oder akzeptierte »Wahrheiten« etablieren, als vielmehr essentiell veränderbare Objekte, die durch ihre Tendenz, sich zu entfalten oder weiterzuentwickeln, charakterisiert sind. Doch nicht alle Repräsentationen entwickeln sich mit einem Mal weiter. In bestimmten Designepisoden, die sich um ein spezifisches Thema drehen, werden multiple Repräsentationen nebeneinander verwendet. Während bestimmte Repräsentationen modifiziert oder weiterentwickelt werden, werden andere als technische Objekte genutzt, um Bezugspunkte zu bieten. Repräsentationen wie der Grundriss, der strukturelle Schlüsselelemente unterhalb jener Etage darstellt, an der Architektin und Techniker arbeiten, werden nicht problematisiert; sie werden konstant gehalten. Innerhalb des Kontexts einer spezifischen Episode wird das Wissen, das in diesen Abbildungen repräsentiert ist, vorübergehend instrumental genutzt und als gegeben behandelt. Mit ihrer Artikulierung der mehrdimensionalen Natur von Objekten bildet diese Arbeit zudem eine neue Agenda für Forschungen. Es ist weitaus mehr zu erfahren über die unterschiedlichen Dimensionen von Objekten, die in der Praxis verwendet werden. Anders als im wissenschaftlichen Labor ist im Architekturbüro möglicherweise nicht offensichtlich, was das epistemische Objekt ist und was das techni64 Latour: Visualization and Cognition.
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sche, außer bei bestimmten flüchtigen Zusammentreffen. Wir beobachten eine gemeinsame Zuständigkeit für Materialien, wobei multiple Hybridformen visueller Repräsentationen in einer Reihe formeller und informeller Zusammenkünfte direkt bearbeitet oder von Skizzen überlagert werden. Hierin unterscheiden sie sich vom Muster der Interaktion, das bei der Entwicklung von High-Tech-Produkten zu beobachten ist, bei der Teammitglieder klare Zuständigkeiten und Verantwortung für bestimmte visuelle Materialien haben und diese in regelmäßigen geplanten Besprechungen zusammenfügen.65 Unsere Arbeit birgt eine Reihe von Implikationen für das Verständnis der Funktion von Objekten hinsichtlich der Weise, in der wissensintensive Arbeit in der Praxis erreicht wird. Sie reflektiert die dialogische Natur kollektiver Wissensarbeit in diesem Kontext.66 Ein analytischer Fokus auf Objekte in Organisationen wirft ein Schlaglicht auf die Materialbedingungen, symbolischen Kontexte und sozialen Beziehungen, in denen Praxis verortet ist. Ein Fokus auf Objekte kann die iterativen und sogar die dialogischen Prozesse offenlegen, durch die Wissen sowohl mithilfe von Subjekten als auch von Objekten entwickelt wird. Beide fragen, beantworten und werfen neue Fragen auf ihre eigene Weise auf. Doch es ist diese Hilfswirkung epistemischer Objekte – ihre Kapazität, Fragen zu generieren und unterschiedlichen Beteiligten unterschiedliche Problematiken zu eröffnen –, durch die sie schwer in den Griff zu bekommen sind. Während sie für Wissensarbeit in den Organisationszusammenhängen, die wir beobachteten, zentral waren, können epistemische Objekte »nicht regelgemäß« werden, wodurch ihre Bedeutungen schwer zu fassen sind. Praktiker/-innen und Manager/-innen sollten sich dessen bewusst sein, wenn sie miteinander und mit externen Beteiligten kommunizieren.
Anmerkungen Wir bedanken uns für die Unterstützung des Economic and Social Research Council (ESRC), Vereinigtes Königreich, durch das Evolution of Business Knowledge Program. Des Weiteren sind wir dankbar für die Unterstützung unseres kooperativen Ansprechpartners in der Branche, Edward Cullinan Architects, und der Designer/-innen, über die und bei denen wir in diesem Büro forschten und neue Erkenntnisse gewannen. Wir danken Kollegen/-innen an der Business School, 65 Whyte, Jennifer/Ewenstein, Boris/Hales, Michael/Tidd, Joe: »Visualizing Knowledge in Project-Based Work«, in: Long Range Planning 41 (2008), S. 74—92. 66 Tsoukas, Haridimos.:» The Firm as a Distributed Knowledge System: A Constructionist Approach«, in: Strategic Management Journal 17 (1996), S. 11—25.
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Imperial College London, an der wir diese Forschung vornahmen, Senior Editor, anonymen Rezensenten/-innen und den vielen anderen Kollegen/-innen, welche im Verlauf der Studie wertvolle Kommentare abgaben. (Übersetzung: Dorothee Hoffmann und Dagmar Seidel) Die endgültige Version dieses Aufsatzes ist in Organization Studies 30/01, Januar 2009, SAGE Publications Ltd auf Englisch erschienen. Alle Rechte vorbehalten.© siehe http://oss.sagepub.com/cgi/content/abstract/30/1/07. Die hier veröffentlichte Übersetzung unterliegt den Bedingungen der Autorenvereinbarung. Zitierweise: Ewenstein, Boris/Whyte, Jennifer (2009) »Knowledge Practices in Design: The Role of Visual Representations as ›Epistemic Objects‹«, in: Organization Studies 30 (1), S. 7—30.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Wissen und Nicht-Wissen im Entwurf Peter Friedrich Stephan Eines aber ist sicher: Die Praktiken des Wissens sind ausgereizt. Immer mehr von immer weniger zu wissen, lohnt nicht mehr. […] Jetzt bedarf es neuer Anstrengungen, das Nichtwissen strategisch zu fassen.1
1 / Wissensforschung als Designaufgabe Sowohl in der Wissenschaftsgeschichte als auch in der kulturwissenschaftlichen Forschung findet das »Knowledge in the making«2 zunehmend Interesse. Dabei wird die Wissensgenese in ihrer dynamischen Entwicklung beobachtet und die Bezüge von Denken und Machen sowie die Rolle der beteiligten Artefakte werden neu bewertet. Diese Entwicklung trifft auf die neuen Aufgaben der Wissensarbeit in Organisationen. Unternehmen und Universitäten müssen sich an die neuen globalen sozialen und technischen Verhältnisse nicht nur anpassen, sondern sie müssen deren dynamische Entwicklung mit gestalten und ihr Selbstverständnis entsprechend neu definieren. Dafür ist ein entwerfendes Denken unverzichtbar, das mit spezifischen Risiken von Nichtwissen und Antizipation umgehen kann. Dies wird gegenwärtig vor allem in der Innovationsforschung als »Design Thinking«3 diskutiert. Damit gibt es zwei gute Gründe, die Erkenntnis bildenden Funktionen der Gestaltung neu zu bedenken: Einerseits gilt es, das Wissen im Design genauer zu bestimmen, damit die Selbstverständigung der Disziplin zu verbessern und an kulturtechnische Forschungen anzuschließen. Andererseits sind die Funktionen des Designs für die Wissensprozesse Dritter herauszuarbeiten, um den anspruchsvollen Aufgaben künftiger Wissensgestaltung gerecht zu werden. 1
Kamper, Dietmar: »Zur Frage der Darstellbarkeit von Nichtwissen«, in: Helmar Schramm/Hans-Christian von Herrmann, Florian Nelle/Wolfgang Schäffner/ Henning Schmidgen/Bernhard Siegert (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin: Dahlem University Press 2003, S. 383—387, hier S. 387.
2
Englischer Titel des Projekts »Wissen im Entwurf« am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin und dem Kunsthistorischen Institut in Florenz. http://knowledge-in-the-making.mpiwg-berlin.mpg.de
3
Vgl. http://dschool.stanford.edu
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Peter Friedrich Stephan
Beide Aufgabenfelder erkennen zunehmend eine Vielfalt von Denkund Arbeitsstilen, Entwurfs- und Erkenntnisweisen, Wissens- und Darstellungstypen an (»cognitive diversity«). Das Design kann diesen Ausgangspunkt nutzen, um sich neu zu positionieren in der Gestaltung von Handlungs- und Vorstellungsräumen der Wissensarbeit (»enabling spaces«). Es ist die integrierte Gestaltung von Wissen, Medien und Raum als »cognitive design«, die profunde Innovation (»radical innovation«) ermöglicht. Der unter dem Eindruck der aufkommenden digitalen Medien schon sehr früh formulierte Begriff des »Wissensdesigns«4 erfährt somit eine Aktualisierung und Präzisierung.
2 / Design und Wissen 2.1 Kontext Die Frage nach der »Verfertigung der Gedanken«5 wurde im Design seit den 1980er Jahren in Bezug auf Entwurfstheorien diskutiert.6 Auch die Beschreibung des Entwerfens als »Denken am Objekt«7 belegt bereits ein praktisches Verständnis für die später formulierte »Exteriorität des Denkens«8. Die These »Design ist unsichtbar«9 deutet schon ein gewandeltes Verständnis für die zu gestaltenden erweiterten Dimensionen der Dinge an, wie sie heute als »matters of concern«10 diskutiert werden. Schließlich wird noch die 30 Jahre alte Formel »Dasein ist Design« 11 neu entdeckt, die bereits bei ihrem ersten Aufkommen12 fragwürdig erschien. 4
Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis – Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink 1993.
5 Kleist, Heinrich: »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders.: Gesammelte Werke, München: Hanser 1805/1988, S. 810-814, auch: www. kleist.org/texte/UeberdieallmaehlicheVerfertigungderGedankenbeimRedenL.pdf 6
Roericht, Han: »Fünf Kurztexte zum Design«, in: Christian Borngräber (Hg.): Berliner Design Handbuch, Berlin: Merve 1987, S. 37—50, hier S. 48.
7
Aicher, Otl: »Die Welt als Entwurf«, in: ders: Die Welt als Entwurf, Berlin: Ernst & Sohn 1991, S. 168—199.
8 Koch, Peter/Krämer, Sybille (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen: Stauffenburg 1997. 9
Burckhardt, Lucius: »Design ist unsichtbar«, in: Helmuth Gsöllpointner/Angela Hareiter/Laurids Ortner (Hg.): Design ist unsichtbar, Wien: Löcker Verlag 1981, S. 13—20. www.lucius-burckhardt.org/Texte/Lucius_Burckhardt.html#Design
10 Latour, Bruno: »A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design (with Special Attention to Peter Sloterdijk)«, Keynote lecture for the Networks of Design meeting of the Design History Society Falmouth, Cornwall, 03.09.2008. www.bruno-latour.fr/articles/article/112-DESIGN-CORNWALL.pdf 11 Ebd. 12 Hanks, Kurt/Belliston, Larry/Edwards, Dave: Design Yourself!, Los Altos: Crisp ››› Publications 1977. Gorb, Peter (Hg.): Living by Design, Surrey: Lund Humphries 1979.
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So können Designer die Frage nach dem »Knowledge in the making« als eine späte theoretische Einholung der von ihnen immer schon praktizierten und reflektierten Handlungs- und Erkenntnisweisen erleben, die auf Kontextgebundenheit, Musterbildung und Reframing setzen. Es ist genau jener Zusammenhang, der anderen Disziplinen im Laufe ihrer Spezialisierung verlorenging und der heute, im Zeitalter von »converging technologies«13 und »Wissen Mode 2«14 wiederentdeckt wird.15 Daher erscheint es aussichtsreich, eine originär gestalterische Epistemologie zu entwickeln, statt einem fragwürdig gewordenen Wissenschaftsideal nachzueifern. Dabei geht es weniger darum, Erklärungen anzubieten, als Interventionen zu erzeugen.16 2.2 Wissensarbeit Das Wissen erster Ordnung wie das Sammeln von Daten oder die Beschreibung eines Verfahrens kann als Versatzstück (»commodity«) betrachtet werden, das planmäßig produziert und gehandelt wird. Diese Ebene wird zunehmend trivialisiert durch globale Automatisierung und Verteilung. Beschreibungen, die die Bedingungen und Auszeichnungen des Wissens zum Gegenstand haben, führen dagegen als Beobachtung zweiter Ordnung erst in die heutige Wissensarbeit und zu Begriffen wie »informiertes Wissen«17 und dem »shaping of knowledge«18.
13 Roco, M. H./Bainbridge, W. S. (Hg.): Converging Technologies for Improving Human Performance: Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science, 2002. www.wtec.org/ConvergingTechnologies 14 Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbons, Michael: Wissenschaft neu denken – Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist: Velbrück 2004. (Original 2001: Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge: Polity.) 15 Vgl. Bateson, Gregory: Geist und Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979/1987 (original 1979: Mind and Nature: A Necessary Unity): »The pattern which connects« und Fuller, Richard Buckminster: Konkrete Utopie, Düsseldorf/Wien: Econ 1966/1974. (Original 1966: Utopia or Oblivion, New York: Bantam Books.) S. 32: »Ich bin sicher, dass wir die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mit den begrifflichen Mitteln des Kindergartens geschlossen haben.« 16 Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, 4. Auflage, S. 49: »Der ästhetische Imperativ: Willst Du erkennen, lerne zu handeln.« 17 Degele, Nina: Informiertes Wissen – Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft, Frankfurt/NewYork: Campus 2000. 18 Amelunxen, Hubertus von: Programm des Kongress Cognitive Design 2004 www.cognitive-design.org (2010 nicht mehr aktiv).
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Einer so verstandenen Wissensarbeit geht es darum, eine Akkumulation großer Wissensbestände und die damit verbundenen Aufwendungen zu vermeiden, um vielmehr planvoll Irritationen der Bestände auszulösen und damit neues Wissen zu generieren. Die kurze Geschichte organisierter Wissensarbeit führt daher von der Entdeckung des »knowlege workers«19 über verschiedene konjunkturelle Zyklen, deren letzter das Wissensmanagement war, zur »Krise des Wissens«20 und den Versuchen, neue Formen der Wissensproduktion zu beschreiben, die sowohl empirischen als auch normativen Anspruch haben können.21 Die Relevanz von Design für Wissensarbeit folgt aus dieser Abkehr von eindimensionalen Wissensmodellen, denn die Wissensgestaltung entwickelt Verfahren, mit Wissen umzugehen, indem sie nach der Außenseite des Begriffs fragt: Wissen im Verhältnis zu was? Gewohnheit? Nichtwissen? Handeln? Macht? 2.3 Wissen im Design Wenn sich Designer für die Wissensprozesse Dritter zuständig machen (extern), ist eine Vorbedingung die Bestimmung des Wissens im Design (intern). Dies wurde in den letzten Jahren intensiv diskutiert und mit Bezügen zu System-, Evolutions- und Kognitionstheorien formuliert.22 Vorläufiger Konsens scheint die Bestimmung einer Position des »Dazwischen« zu sein, im »Sumpf […], in dem die potenziellen Sinnpfade sich bilden können«23. Hier realisieren sich spekulative Praxis, Entwerfen und inkrementelles Vorgehen zwischen Inseln der Kausalität.24 Daher hat »Design […] keine Grundlagen, weil das Ent-
19 Drucker, Peter F.: Landmarks of Tomorrow, New Brunswick/London: Transaction Publishers 1957/1992. (Original 1957: Harper&Row.) 20 Willke, Helmut: Dystopia – Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 21 Weingart, Peter: »Formen der Wissensproduktion: Fakt, Fiktion und Mode, Forschungszentrum Karlsruhe, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)«, in: TA Datenbank-Nachrichten, 8 (1999), S. 48—57. www.itas.fzk.de/deu/tadn/tadn993/wein99a.htm 22 Jonas, Wolfgang: »Mind the gap! Über Wissen und Nicht-Wissen im Design«, in: Maximilian Eibl/Harald Reiterer/Peter Friedrich Stephan/Frank Thissen (Hrsg.): Knowledge Media Design – Theorie, Methoden, Praxis, München: Oldenbourg 2005, S. 47—70. 23 Jonas, Wolfgang: Die Spezialisten des Dazwischen – Überlegungen zum Design als Interface-Disziplin, Konferenz Bauhaus Universität Weimar 2002, http://home.snafu.de/jonasw/JONAS4-58.html, S. 13. 24 Populär auch als »The Science of Muddling Through«. Lindblom, Charles E.: »The Science of Muddling Through«, in: Public Administration Review 19 (1959),S. 79—88, www.emerginghealthleaders.ca/resources/Lindblom-Muddling.pdf, oder ›››
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werfen selbst die grundlegende menschliche Aktivität darstellt«.25 Dies »impliziert die Zurückweisung des Konzepts einer wissenschaftlichen Wissensbasis zugunsten eines Schemas des Umgangs mit Wissen«26, das aber keineswegs statisch ist, sondern stets aufs Neue erzeugt, erprobt und angepasst wird. Reuter beschreibt daher ein »besonderes Profil von Wissen im Design […]: es ist unsicher, umstritten, unvollständig, problembezogen und a-disziplinär«27. Jonas geht noch einen Schritt weiter und fordert »mutig die Grenze vom Wissen zum Nicht-Wissen zu überschreiten«28. Damit wird Nichtwissen nicht länger ausschließlich als defizitär, sondern als Ressource betrachtet.29 Eine Konkretisierung des angesprochenen »Schemas im Umgang mit Wissen« kann in der Verschiebung des Komplexes »Wissen« innerhalb einer Kausalkette gefunden werden, die sich so darstellen lässt: A: Haltung
A
Praxis
A
Wissen
Ausgangspunkt ist die Haltung (»attitude«), also eine bestimmte Art, die Dinge zu sehen. Ziel des Designs ist es, immer wieder neue Haltungen zu entwickeln, zu praktizieren und anderen anzubieten. Daraus folgt eine Praxis des experimentellen Eingriffs, aus dessen Erfahrungen sich Erfahrungswissen bilden kann. Da Design aber stets temporär und lokal handelt, ist die Übertragbarkeit und Generalisierbarkeit von Designwissen fraglich, weshalb es keine Grundlagen und keinen Fortschritt im Design geben kann. Es gibt nur anfänglich gesetzte Unterscheidungen, die Folgen haben, ähnlich wie in Systemtheorie und Kybernetik einerseits und improvisierenden, zeitbasierten Künsten wie Musik andererseits.
A
B: Wissen
Praxis
A
Haltung
Am Anfang steht ein Wissenskorpus der Überlieferung, dessen Bestände und Regeln gelernt oder kritisiert werden. Dies wird in der »Durchwursteln«. Dörner, Dietrich: »Einfach mehr durchwursteln«, in: Brand Eins /1 (2006), www.brandeins.de/uploads/tx_brandeinsmagazine/084_dietrich_doerner.pdf 25 Jonas: Mind the Gap! Über Wissen und Nicht-Wissen im Design, a.a.O. S. 48. 26 Ebd., S. 58. 27 Reuter, Wolf: Wissen im Design, 2002. http://home.snafu.de/PARADOXReuterD.html 28 Jonas: Mind the Gap! Über Wissen und Nicht-Wissen im Design, a.a.O. S. 68. Diese Grenze kann immer nur temporär angegeben werden und könnte am ehesten als fraktale Dimension visualisiert werden, die selbstähnliche Muster produziert, die vom Fokus des Betrachters abhängen und nicht an Gegenstandsbereichen festgemacht werden können. 29 Vgl.: Stephan, Peter Friedrich: »Nicht-Wissen als Ressource sowie sieben Thesen zu künftiger Wissensarbeit«, in: i-com, Heft 2 (2006), S. 4—10.
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Peter Friedrich Stephan
Praxis angewandt und gegebenenfalls revidiert. Durch Routinen bildet sich über die Zeit die Haltung des Profis, der Problemlagen auch mit unzureichender Wissensbasis zuverlässig einschätzen und bearbeiten kann. Designprofis übernehmen die Rolle der kreativen Zerstörung von Gewissheiten und suchen Anlässe für Irritationen, die neue Passungen erfordern und ermöglichen. Dabei können sie nicht von gestrigen Erfolgen auf künftige hochrechnen, vielmehr müssen sie die Bereitschaft haben, jeden Tag neu anzufangen und sich dabei immer wieder in Amateure zu verwandeln, um in Kontakt mit Nichtwissen und potenziellen Neuerungen zu kommen. 30 Dieses Verhältnis wird auch in externen Beobachtungen des Designs aus system- wie evolutionstheoretischer Perspektive beschrieben: Man wird das Design als Praxis des Nichtwissens auf unterschiedlichste Interfaces hin lesen können, aber dominierend sind wahrscheinlich die Schnittstellen zwischen Technik, Körper, Psyche und Kommunikation: Wenn man diese »Welten«, die jeweils von einem mehr oder weniger elaborierten Wissen beschrieben werden, miteinander in Differenz setzt, verschwindet dieses Wissen und macht Experimenten Platz, die die Experimente des Design sind. […] Hier nichts mehr für selbstverständlich zu halten, sondern Auflösungs- und Rekombinationspotenzial allerorten zu sehen, wird zum Spielraum eines Designs, das schließlich bis in die Pädagogik, die Therapie und die Medizin reicht.31
Auch Sloterdijk beschreibt Design als »Souveränitäts-Simulation« und belegt dies durch Beispiele wie archaische Überlebenstechniken, Tanz- und Rhetorikkurse des Barock, sowie das heutige InterfaceDesign.32 Deren Aufgabe ist es, einen jeweils hinreichend kohärenten Weltbezug auch inmitten prinzipiell unbeherrschbarer Verhältnisse zu 30 Vgl.: Foerster, Heinz von: »Bitte nie zu sagen ›das ist langweilig, das kenne ich schon‹. Das ist die größte Katastrophe! Immer wieder sagen, ›ich habe keine Ahnung, ich möchte das noch einmal erleben‹«, in: »Ethics and Second Order Cybernetics«, in: Vortrag auf dem Internationalen Kongress »Système et thérapie familiale«, Paris 04.10.1990 (übersetzt von Birger Olrogge) in: You can´t judge a book by its cover, arrangiert von Hans Peter Kuhn und Hanns Zischler, Berlin: Merve (Audio CD). 31 Baecker, Dirk: »Wie steht es mit dem Willen Allahs?«, in: Wozu Systeme?, Berlin: Kadmos 2002, S. 126—169. 32 Sloterdijk, Peter: »Das Zeug zur Macht: Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz«, in: ders.: Der ästhetische Imperativ, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Weibel, Hamburg 2007, S. 138—161. www.communicationnext.de/peter.htm7.
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gewährleisten. Daraus leitet Sloterdijk die paradoxe Formel vom Design als »Können des Nichtkönnens« ab. Design ist daher nur insofern eine Disziplin, als sie Disziplinbildung in einem endlosen Aufschub vermeidet und grundsätzlich immer neue Verhältnisse zum Wissen erprobt: […] Design als undisziplinierte und undisziplinierbare Disziplin zu beschreiben oder als transitorisches oder transformatorisches Kompetenz-Bündel. […] Denn Design ist wahrhaftig jung genug, um nicht mehr dem Disziplinierungswahn des 19. Jahrhunderts folgen zu müssen […]. Damit fordert Design aber zugleich eine völlig neue Formulierung des Wissenschaftlichen und des (»wilden«) Handelns und Denkens im Wissen.33
3 / Wissenstechnik Entwerfen 3.1 Entwurf und Forschung Für die Gestaltung ist das Entwerfen zentral. Hier bildet und realisiert sich das gestalterische Wissen. Aber auch jeder andere Wissensarbeiter kann als ein Entwerfender verstanden werden, denn: Das Entwerfen erscheint […] nicht als eine Tätigkeit neben vielen anderen, sondern als spezifisch moderner modus operandi, der dem Begriff des entdeckenden, forschenden, schöpferischen zukunftsoffenen Subjekts als dessen Bedingung vorausgeht.34
Diese ehemals nur Künstlern und Erfindern als »Projektemachern«35 zugestandene Haltung und Methodik werden heute als Normalfall für Wissensarbeiter vorausgesetzt und sind unter anderem durch folgende Aspekte gekennzeichnet: − Aufgaben sind nicht eindeutig, sondern unscharf bestimmt (»fuzzy«, »ill-defined«), − Entscheidungen werden auf der Basis unzureichender Informationslagen getroffen, 33 Erlhoff, Michael: »Thesen zu Design zwischen Wissen und Wissenschaft«, in: Unveröffentlichtes Manuskript zur Tagung der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung (DGTF), Hamburg 30./31.01.2004, o.S. 34 Research Fellow Programm »Werkzeuge des Entwerfens« des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie Weimar (IKKM), http://ikkm-weimar.de 35 Krajewski, Markus (Hg.): Projektemacher, Berlin: Kadmos 2004.
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− der Referenzrahmen für Erfolgskriterien ist flexibel, − Möglichkeiten müssen als Variantenbildung aktiv erzeugt werden. Eine als »Knowledge in the making« verstandene Wissensgestaltung lässt sich daher als produktives Abarbeiten und gegenseitiges Verschieben von Wissen und Nichtwissen beschreiben. Aus einer solchen Perspektive werden gemeinsame Aspekte von Forschungs- und Entwurfsprozessen sichtbar, wie sie bei Rheinberger beschrieben werden: So gewinnt man den Eindruck eines hochgradig fluktuierenden Forschungsprozesses, in dem bei jedem Schritt dasjenige, was gerade Gestalt annimmt, unvorhergesehene Alternativen für die Richtung erzeugt, in die ein weiterer Schritt getan werden kann.36 Man könnte versuchsweise sagen, das »epistemische Ding« sei für die wissenschaftliche Tätigkeit das Äquivalent zur »Skulptur« für die Bildhauerei, zum »Bild« für die Malerei, oder zum »Gedicht« für die Poesie. Es ist das in der wissenschaftlichen Aktivität hervorgebrachte »Wissenschaftswirkliche«.37
3.2 Experimentalsystem In seiner Beschreibung von Experimentalsystemen führt Rheinberger38 die Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlichen Objekt (WO) und einem technologischen Objekt ( TO) ein, wobei dies eine rein funktionale und keine materielle Zuschreibung ist. Danach ist ein TO das routiniert eingesetzte Verfahren und dessen Instrumente, wozu Datensammlungen und grafische Darstellungen gehören können. Das WO dagegen ist das notwendig unscharf bestimmte Gebiet, dem das Forschungsinteresse gilt (Fragemaschine), und das durch TO manipuliert wird mit dem Ziel, diese Unschärfe zugunsten eindeutiger Konturen aufzulösen und in TO (Antwortmaschine) zu überführen. Ehemalige WO werden so zu gesicherten Verfahren, die häufig als Geräte oder Software objektiviert werden. Als unkontrollierbarer Nebeneffekt entgehen die TO in diesem Prozess jedoch nicht der Veränderung, sondern die vermeintliche Trivialisierbarkeit zur Black Box weicht einer Fragwürdigkeit, die deren Routinen problematisch macht und sie ihrerseits zu WO werden lässt. 36 Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment — Differenz — Schrift, Marburg: Basilisken-Presse 1992, S. 63. 37 Ebd., S. 69. 38 Ebd.
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Abb. 1: »Experimentalsystem und Forschungsprozess«, Grafik: Peter Friedrich Stephan, Rheinberger interpretierend.
Aus einer solchen Beschreibung des Forschungsprozesses sind mehrere Folgen abzuleiten: − Ein Experimentalsystem, das einen solchen Prozess realisiert, muss Unschärfen enthalten, um produktiv sein zu können,
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−
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gleichzeitig aber differenziert genug sein, um Ergebnisse zu liefern (Signal-Rauschen Abstand), Rheinberger zitiert Max Delbrücks »Prinzip der gemäßigten Schlampigkeit«39. Unscharf sind sowohl das WO als auch die Wechselwirkungen zwischen WO und TO. Diese sind teils kausal, teils aber auch unvorhersehbar und werden als »Interkalationen«40 beschrieben. Das Experimentalsystem gibt nur Auskunft über sich selbst: Was eingebracht wurde, wird prozessiert nach einigen der im System angelegten Möglichkeiten. Über die Generalisierbarkeit von Aussagen über Verhältnisse außerhalb des Systems kann nur spekuliert werden, notwendige Schlüsse sind nicht möglich. Die Aktivität des Forschers besteht darin, Durchläufe und Veränderungen im Experimentalsystem zu organisieren, die das WO und TO auf neue Art in Beziehung setzen. Diese Aktivität unterliegt dem Paradox, Umgebungen zu planen, die den Eintritt des Unplanbaren ermöglichen.
Wissenschaftliche Forschung bildet zwei Beschreibungsebenen aus: Das innerhalb des Systems Wissenschaft (Leitunterscheidung: wahr/ falsch) bewertete Experiment muss im Außenverhältnis (Exo-Perspektive) den Zuwachs von Erkenntnis und Einhaltung der wissenschaftlichen Regeln darstellen. Im Binnenverhältnis (Endo-Perspektive) dagegen erscheinen die unwissenschaftlichen Faktoren wie Ahnung, Intuition, Zufall und Nichtwissen, sowie deren funktioneller und materieller Anteil an der Wissensgenese etwa in Form von informellen Quellen wie Gesprächen, Tagebüchern und Alltagsbeobachtungen. Die Begründung einer solchen Auffassung des Forschungsprozesses gewinnt an Gewicht und Wirkung durch den Umstand, dass sie innerhalb der Wissenschaft entwickelt wurde und von namhaften Autoren und Institutionen vertreten wird. Von außerhalb des Wissenschaftssystems betrachtet entspricht die Entwicklungsdynamik dieser neuen Deutung genau dem darin behaupteten Modell: Die in der traditionellen Wissens- und Technikgeschichtsschreibung vorausgesetzten technischen Objekte werden problematisiert und zu neuen wissenschaftlichen Objekten gemacht. Damit erscheinen vorher trivialisierte Aspekte der TO nun als fragwürdige WO: − Verfahren der Aufzeichnung und Repräsentation werden zur 39 Ebd., S. 55. 40 Ebd. S. 73 unter Bezug auf Galison, Peter/Thompson, Emily (Hg.): The Architecture of Science, Cambridge: MIT 1999.
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bedenkenswerten Frage nach dem Verhältnis von Spuren und Daten,41 − die physischen Orte der Produktion werden als in die Erkenntnisbildung eingehende Faktoren neu gewürdigt,42 − am Prozess beteiligte Artefakte werden nicht länger als unproblematische Objekte gesehen, sondern als Dinge mit Eigensinn und Handlungsmacht gewürdigt.43 Die Beschreibung macht deutlich, wie Entwerfen und Forschen zusammen gedacht werden können und welche Möglichkeiten sich der Wissensgestaltung in der Konzeption von Experimentalsystemen bieten.
4 / Design im Wissensprozess: Zwei Positionen Gegenwärtig werden unterschiedliche Auffassungen über die Rolle von Design in Wissensprozessen vertreten, die anhand zweier Positionen exemplarisch gezeigt werden sollen. Bonsiepe sieht für das Design in Bezug auf Wissensarbeit hauptsächlich Funktionen der Vermittlung durch die sachgerechte Aufbereitung von Inhalten und die Erstellung von Visualisierungen. Dabei geht es um den »Entwurf für Wissen«, und der Designer wird am Ende von Wissensprozessen positioniert. Krippendorf dagegen postuliert einen »semantic turn«, der über die Gestaltung von Produkten und Projekten hinausgeht und sich der Gestaltung von Diskursen zuwendet. Dabei geht es um ein Wissen
41 Ebd., Vgl.: Rheinberger, Hans-Jörg/Hagner, Michael/Wahrig-Schmidt, Bettina: Räume des Wissens – Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin: Akademie Verlag 2000. Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst: Spur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Wichmann, Barbara (Hg.): Spuren erzeugen – Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Berlin: diaphanes 2008. Hoffmann, Christoph (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Berlin: diaphanes 2008. 42 Latour, Bruno/Woolgar, Steve: Laboratory Life – The Construction of Scientific Facts, Princeton: University Press 1979. Galison/Thompson: The Architecture of Science. Dierig, Sven: Wissenschaft in der Maschinenstadt – Emil Du BoisReymond und seine Laboratorien in Berlin, Göttingen: Wallstein 2006. 43 Latour, Bruno: »Visualization and Cognition: Drawing Things Together«, in: Henrika Kuklick (Hg.): Knowledge and Society Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Jai Press 6 (1986), S. 1-40. www.bruno-latour.fr/articles/article/21DRAWING-THINGS-TOGETHER.pdf Rammert, Werner: Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
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durch Entwurf, wodurch dem Designer Funktionen der Ermöglichung (»enabling«) von Erkenntnis zugeschrieben werden und er an den Anfang von Wissensprozessen gestellt wird. 4.1 Strukturierung und Visualisierung Nach Bonsiepe kommen der Designtätigkeit generell keine epistemologischen Qualitäten zu: Designers are not known for producing new knowledge – though there are exceptions. In general however, knowledge production is not the designer’s expertise. But designers can play a significant role in the presentation of knowledge.44
Die im englischen Text von 2000 noch zugestandenen Ausnahmen sind in der deutschen Version von 2009 verschwunden. Bonsiepe argumentiert, dass es weniger drauf ankäme, neues Wissen zu erzeugen, als vielmehr das vorhandene Wissen zu verbreiten und anzuwenden. Der Designer erscheint in der Rolle des »visual facilitators«, der seine Expertise der medialen Aufbereitung in den Dienst einer »Sozialisierung von Wissen«45 stellt. Bonsiepe begründet dies an anderer Stelle mit einer Arbeitsteilung, wonach die »kognitive Innovation« die Aufgabe der Wissenschaft ist, während Design die »sozio-kulturelle Innovation« zum Ziel hat und in der Technik die »operationelle Innovation« verfolgt wird. 46 Entsprechend wird für die als Beispiel dienende Lernsoftware für Medizinstudenten eine objektive Wissensbasis vorausgesetzt, und die »Stimmigkeit der Ausarbeitung des Materials« wird vom medizinischen Experten überprüft.47 Mit dem ursprünglichen Titel des Vortrags: »Design as Tool for Cog nitive Metabolism: From Knowledge Production to Knowledge Presentation« wird das Bild eines »kognitiven Stoffwechsels« bemüht, der durch die Veränderung der Darreichungsform eines Inhalts optimiert wird, ohne diesen substanziell zu verändern: 44 Bonsiepe, Gui: Design as Tool for Cognitive Metabolism: From Knowledge Production to Knowledge Presentation, 2000. http://guibonsiepe.com.ar/guiblog/ wp-content/uploads/2009/12/descogn.zip 45 Bonsiepe, Gui: »Kognition und Gestaltung – Die Rolle der Visualisierung für die Sozialisierung des Wissens«, in: ders. 2009: Entwurfskultur und Gesellschaft – Gestaltung zwischen Zentrum und Peripherie, Basel: Birkhäuser 2009, S. 99—127 (erweiterte deutsche Fassung von Bonsiepe 2000). 46 Bonsiepe, Gui: Interface - Design neu begreifen, Mannheim: Bollmann 1996, S. 45. 47 Ebd., S. 112.
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Das Projekt startete mit dem Inhalt und endete mit der Mitteilung des Inhalts. Das Wissen lag zwar in Rohform vor, aber nicht in einem geeigneten, kohärenten Darstellungsmodus. Es genügt eben nicht, Wissen zu produzieren, sondern das Wissen muss auch dargestellt und mitgeteilt werden und zwar in geeigneter Form unter Nutzung der zur Verfügung stehenden Technik.48
Wissen und Technik werdend als gegeben angenommen und die Variable der Strukturierung und Visualisierung wird durch Gestaltung optimiert. 4.2 Cognitive Design Einen weit darüber hinaus gehenden Anspruch formuliert Krippendorf. Am Ende eines Vektors zunehmender Künstlichkeit (»trajectory of artificiality«) erscheinen Diskurse als neuester und komplexester Gegenstand des Designs.
Abb. 2: »Trajectory of Artificiality« 49 .
48 Bonsiepe: Kognition und Gestaltung, S. 112—113. 49 Aus: Krippendorf, Klaus: The Semantic Turn – A New Foundation of Design, Boca Raton: Taylor & Francis 2006, S. 6.
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Unter Bezug auf Wittgensteins Begriff der Sprachspiele definiert Krippendorf fünf Aspekte. »Ein Diskurs… − erscheint in der Form von Textmaterial, in den Artefakten, die er konstruiert und zurücklässt, − wird innerhalb einer Gemeinschaft von Praktikern am Leben gehalten, − etabliert seine wiederkehrenden Praktiken, − zeichnet seine eigene Grenze, − rechtfertigt seine Identität zu Außenstehenden.«50 Der Designer formuliert Ansprüche an partizipative Wissenskulturen und realisiert mediale Randbedingungen für deren Diskursformen. Hier kann also kein Wissen vorausgesetzt werden, sondern es geht im Gegenteil um die Bedingungen und die Beobachtung seiner Herstellung. Diese können als eine sozial und medial eingebettete Praxis beschrieben werden, die Forschungs- und Verhandlungscharakter hat. Autoren wie Krippendorf, van den Boom und Romero-Tejedor sehen hier die größte Zukunftsaufgabe des Designs: Das cognition design ist vom heutigen Standpunkt aus als ultimative Aufgabe des Designs zu erahnen. Das beinhaltet nicht mehr allein Informationsgestaltung zur leichteren Verständlichkeit, vielmehr die Gestaltung von Sinn und Bedeutung selbst, die heute noch an eigene kulturelle Instanzen wie z.B. Kunst und Religion delegiert ist. Dieses Bedeutungsdesign liefert uns zuletzt jenen semantischen Formbegriff, gemäß dem alle vermeintlichen Inhalte als formale Strukturen erkannt werden, ein Formbegriff, der es so erst recht ermöglichen wird, vom neuen Jahrhundert als dem Jahrhundert des Designs zu sprechen.51
Allerdings bleibt noch unklar, wie sich die neuen Aufgaben der Kognitionsgestaltung zu den traditionellen Aufgaben des Designs verhalten. Insofern ist Krippendorfs Vektor zunehmender Künstlichkeit zu ergänzen durch eine Rückkopplungsschleife, die die Stufen von Projekten, Netzwerken, Interfaces, Services und Produkten auch absteigend integriert, denn diese werden ja nicht verlassen, sondern neu bestimmt im Spannungsfeld von Materie und Kognition.52 Konstant
50 Ebd., S. 23-24, Übersetzung PFS. 51 van den Boom, Holger/Romero-Tejedor, Felicidad: Design – Zur Praxis des Entwerfens, Hildesheim: Olms 2003, 2. Auflage, S. 195. 52 Parallel zur Ausrichtung des Designs auf den neuen Attraktor Kognition eröffnen sich ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten im Materiellen und Organischen, die
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bleibt die Bearbeitung von Anschauungsqualitäten. Daher ist es unverständlich, wenn Kognition und Ästhetik gegeneinander ausgespielt werden sollen: »Dieser Paradigmenwechsel stellt in das Zentrum des Designs die Kognition statt Ästhetik.«53 Vielmehr zeigt sich gerade im zunehmenden Verständnis der Kognition, dass diese grundlegend ästhetisch angelegt ist und sich durch Vergleiche, Musterbildung, räumliche Organisation und Rhythmisierung organisiert.54 4.3 Diskussion Gestalter, die sich mit Informationsvisualisierung beschäftigen, beziehen sich häufig auf die Forderung nach einer »Lesbarkeit der Welt«.55 Diese Formel verdankt sich einer spezifischen historischen Situation und brachte das neue Selbstbewusstsein von Staatsbürgern zum Ausdruck, die des Lesens unkundig waren, aber gegen den Alleinvertretungsanspruch der Scholastik durch die belesenen Kleriker aufbegehrten. Schon damals wurde der Buchbestand als beängstigend umfangreich angesehen und dagegen die Klarheit des »Buches der Natur« gesetzt, dass sich durch einfache Anschauung erschließt.56
etwa durch Begriffe wie »Bio-Bricks« angedeutet werden. »How would you ››› design nature?« ist die Frage an Designer und Künstler, die in biologischen Labors arbeiten sollen (www.syntheticaesthetics.org), vgl. Hampe, Michael/Lang, Silke (Hg.): The Design of Material, Organism and Minds – Different Understandings of Design, Heidelberg/Berlin: Springer 2010. 53 Romero-Tejedor, Felicidad: Der denkende Designer, Hildesheim u.a.: Olms 2007, S. 22. 54 »Überall setzt sich heute in den Wissenschaften das Bewusstsein vom grundlegend ästhetischen Charakter des Erkennens und der Wirklichkeit durch. Ob zeichentheoretisch oder systemtheoretisch, ob in Soziologie, Biologie oder Mikrophysik, allenthalben bemerken wir, dass es kein erstes oder letztes Fundament gibt, dass wir vielmehr gerade in der Dimension der Fundamente auf eine ästhetische Verfassung stoßen. […] Wirklichkeit wird zu einem Angebot, das bis in seine Substanz hinein virtuell, manipulierbar, ästhetisch modellierbar ist.« Welsch, Wolfgang (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München: Fink 1993, S. 41. Vgl. »Visual and Spatial Reasoning in Design«, Konferenz veranstaltet von der University of Sydney (Key Centre of Design Computing and Cognition), Stanford University (Department of Psychology) und MIT (School of Architecture and Planning) 2004. www.arch.usyd.edu.au/kcdc/conferences/vr04/ 55 Z.B: Rurik, Thomas: »Die Konstruktion des Entwurfshandelns. Umrisse, Konzepte und Perspektiven einer Soziologie der visuellen Informationsgestaltung im Aspekt zukünftiger Wirklichkeitsentwürfe.« Diss. phil. Bremen 1992. Meurer, Bernd: Die Zukunft des Raums, Frankfurt a.M. u.a.: Campus 1994. Aicher, Otl: Die Welt als Entwurf, in ders.: Die Welt als Entwurf, Berlin: Ernst & Sohn 1991, S. 168—199 56 Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 58.
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Eine Übertragung auf die Ansätze von Informationsgestaltung heute ist daher nicht unproblematisch. Weder können die Rezipienten als uninformiert gelten, denn Anlass zur Klage ist eher die Überfülle der Information, noch gibt es eine naturanaloge Gewissheit von zu visualisierenden Daten. Gleichwohl bilden Gestalter gerne eine Genealogie vom »orbis pictus« des Comenius im 17. Jahrhundert bis heute. So wurde im Projekt »Globoscope«, prominent platziert im »Laboratorium der Zivilisation« des Deutschen Werkbunds, eine »Reduktion der Komplexität auf existentielles Basiswissen über globale Sachverhalte«57 gefordert. Noch deutlicher wird der Anspruch, »Gestaltung als Aufklärung« betreiben zu wollen: »Die visuelle Gestaltung will die Kompliziertheit der Welt abbauen und sie einfacher machen zum Zweck der besseren Verständigung.«58 Damit ist ein entscheidender Punkt berührt: Wer entscheidet, was »existenzielles Basiswissen« ist? Was sind »globale Sachverhalte«? Gerade aus der Betrachtung historischer Projekte zu Weltmodellen lässt sich ablesen, dass es keine neutralen Karten gibt, sondern Verfahren und Darstellungen immer an Interessen gebunden sind: »Souverän ist, wer über die Verflachung entscheidet.«59 Bei Bonsiepes Beispiel der medizinischen Lernsoftware scheint der Fall eindeutig zu sein: Über den Inhalt entscheidet der MedizinExperte, über die Strukturierung und Visualisierung der Designer und über den Erfolg der Umsetzung wieder der Medizin-Experte. Hier lassen sich noch die Zumutungen der »programmierten Unterweisung« aus den Anfängen kybernetischer Lernmodelle aus den 1960er Jahren erspüren.60 Die oben erwähnte Trennung von kognitiver, sozio-technischer und operationeller Innovation61 erscheint als ein Theoriekonstrukt, das in der kulturtechnischen Perspektive der mikrografischen Betrachtung von Operationsketten keine empirische Entsprechung findet. Das Entscheidende beim Entwurfs- und Forschungsprozess ist 57 Klar, Michael: »Globale Information – ein Projekt«, in: Meurer, Bernd: Die Zukunft des Raums, Frankfurt a.M.: Campus 1994, S. 165—172, hier S. 170. 58 Burke, Michael/Rurik, Thomas: »Gestaltung als Aufklärung – Historische Konzepte und Perspektiven einer anderen Designgeschichte«, in: FH Schwäbisch-Gmünd: Standpunkte Heft 4 (1994), S. 14—14, wiederveröffentlicht in: Meier, Cordula (Hg.): Designtheorie, Frankfurt a.M.: Anabas 2003, S. 144—150, hier S. 147. 59 Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 161. 60 Oelkers, Jürgen: »Kybernetische Pädagogik: Eine Episode oder ein Versuch zur falschen Zeit?«, in: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 196—228. 61 Bonsiepe, Gui: Interface – Design neu begreifen, a.a.O. S. 45.
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gerade das unhintergehbare Ineinandergreifen von wissenschaftlichen und technischen Objekten, organisiert durch die Gestaltung von Experimentalsystemen. Das Verhältnis von Gestaltung und Wissen wird dadurch als bedingtes, gestalterisch-technisches Denken neu bestimmt und am Begriff der Form orientiert. Entwerfen, Wissen und Produzieren treffen sich im integrativen Prozess des Cognitive Designs.
5 / Design for the Real World Beim Anliegen, »design for the real world«62 machen zu wollen, war es eine zentrale Einsicht, alle zu beteiligen, deren Interessen berührt sind (»Stakeholder«). Genau dies könnte die Stärke des Cognitive Designs sein, wenn es gelingt, unterschiedliche Denk- und Artikulationsstile als »cognitive diversity« auf Anschauungsniveau zu bringen und für gemeinsame Wissensarbeit pragmatisch zu organisieren. Dabei kann kein einfaches Abbildmodell von Inhalten verfolgt werden, sondern es können immer nur Vorschläge für Sichten (»renderings«) erstellt werden, die sich je nach Inhalt, Interesse, Nutzer, Medium und Situation verändern lassen. Bonsiepes Forderung nach einer »Sozialisierung von Wissen« scheint so eher eingelöst zu werden, als durch statische Lernsysteme, die nur der Popularisierung von Wissen dienen und von andernorts erzeugten Erkenntnissen und Erfolgskriterien abhängig bleiben. Eine zentrale Frage bei diesem Vorhaben ist, ob es sich die technische Implementierung der »kommunikativen Vernunft«63 zum Ziel setzen soll und welche normativen Vorgaben es dafür geben muss, oder ob es sich eher um die Möglichkeit handelt, die Selbstorganisation und damit die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation zu beobachten. Hier hängt alles ab von der Fähigkeit, Bereitschaft oder Notwendigkeit, mit Systemen und zu deren Bedingungen zu kommunizieren. Fragen der Motivation können aber nur außerhalb dieser Systeme bearbeitet werden. Ein praktisches Beispiel – nicht für die Gestaltung von Diskursen, aber von Kontroversen – kommt interessanterweise nicht aus dem Design, sondern entstammt der Zusammenarbeit des Soziolo62 Papanek, Viktor: Das Papanek-Konzept. Design für eine Umwelt des Überlebens, München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1972 (Original: Stockholm 1970); auch als ders.: Design for the Real World, Human Ecology and Social Change, Chicago: Academy Chicago Publishers 1985. 63 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981.
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gen Bruno Latour mit dem MIT (USA) und später dazugekommenen Hochschulen (www.demoscience.org). Hier ist der Anspruch, »Knowledge in the making« nicht historisch zu untersuchen, sondern aktiv in Form technisch und gestalterisch realisierter Netzplattformen zu betreiben: Scientific and technological knowledge is always presented in its final form, without ever offering insight into how its certitude has been achieved; yet those intermediate stages, corresponding to the actual research process, best highlight the connections between scientific work and other types of activities. Inventing new ways of description of complex socio-scientific and socio-technical issues is challenging. The aim of the course is to lead you to a deeper understanding of the difficulties associated with the accounting of disputes involving science and technology in the making, for which no agreement or settlement has yet been found.64
Die Beispiele behandelter wissenschaftlicher Kontroversen umfassen Fragen wie: Soll der Wolf wieder in den Alpen angesiedelt werden? Sollen Wahlcomputer zugelassen werden? Wie soll mit Atommüll umgegangen werden? Der inhaltlichen Vielfalt der Themen von Krebskrankheit bis Street Art entspricht die Vielfalt der unterschiedlichen Aufbereitungen, die überwiegend jedoch als traditionelle Websites realisiert werden. Verbindungen zum Einsatz von »Computer Supported Argument Visualization«, die etwa im Bereich des E-Governments eingesetzt werden, sind nicht zu erkennen, trotz Latours Vorarbeiten zu »soziotechnical graphs«65. Auch historische oder systematische Referenzierungen werden bei diesem Projekt kaum angegeben, und der Ansatz lässt sich daher nicht umfassend einschätzen. Das Projekt ist aber ein Experiment, das jene Fragen adressiert, die ins Cognitive Design führen: »Es gab eine Ästhetik der Tatsachen, der Objekte, der Gegenstände. Können wir eine Ästhetik der Angelegenheiten, der Dinge ersinnen?«66
64 Latour, Bruno: »Mapping Scientific Controversies«, in: Powerpoint Präsentation 2008, www.macospol.eu/streaming2, Projektseite »Mapping Controversies – Preparing scientists and engineers for a complex world«, www.demoscience.org/controversies/description.php – Description of the course. 65 Latour, Bruno: »A Note on Socio-Technical Graph«, in: Social Studies of Science 22 (1992), S. 33—58 und 91—94 (mit Philippe Mauguin and Geneviève Teil). www.bruno-latour.fr/articles/article/47-GRAPHS-S. pdf 66 Latour, Bruno: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin: Merve 2005, S. 33.
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Eine angemessene Antwort hierauf kann kein wissenschaftlicher Text sein, sondern müssen Projekte werden, die auf der Basis der angedeuteten Reflexionen solide begründet und in die Forschungslandschaft eingepasst sind, dabei aber längst eine andere Kultur der »Mischformen des Wissens« 67 praktizieren. Vom »Hochsitz des Wissens«68 wird es nicht immer zu erkennen sein, aber die neuen »kognitiven Behausungen«69 werden täglich gebaut und umgebaut, entworfen und verworfen. Dies sind temporäre und prekäre Passungen, die der unübersehbaren Matrix eine Illusion von Orientierung und Verortung abringen auf dem Wege »von der symbolischen Weltordnung zur Weltentwurfsordnung«70. So wie die Architektur die Unterscheidung zwischen Innen und Außen prozessiert 71 und beide Qualitäten wechselseitig steigert, gestaltet das Cognitive Design das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen.
67 Rheinberger, Hans-Jörg: Iterationen, Berlin: Merve 2005 68 Hagner, Michael/Laubichler, Manfred D. (Hg.): Der Hochsitz des Wissens – Das Allgemeine als wissenschaftlicher Wert, Berlin: diaphanes 2006. 69 Winkels, Hubert: Leselust und Bildermacht – Über Literatur, Fernsehen und Neue Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 67. 70 Siegert, Bernhard: »Weiße Flecken und finstre Herzen. Von der symbolischen Weltordnung zur Weltentwurfsordnung«, in: Daniel Gethmann/Susanne Hauser (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen, Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: transcript 2009, S. 19-47. Videovortrag unter www.fk-427.de/DasPlanetarische/Siegert 71 Baecker, Dirk: »Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen der Architektur«, in: Niklas Luhmann/Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt – Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 67—104.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Hypothesen beim Entwerfen Gert Hasenhütl
Hypothesen in Entwurfsprozessen aus Architektur, Grafik und Industriedesign zu identifizieren impliziert, Entwurfshandlungen selbst als Forschungsprozesse zu begreifen. Der folgende Beitrag untersucht die Frage, ob es beim Entwerfen1 eine Form der Erkenntnisgewinnung gibt, die mit Hypothesen verläuft. Entwerfen vor dem Hintergrund des Konzeptes von Hypothesen zu diskutieren, kann zur wissenschaftstheoretischen Fundierung von Architektur- und Entwurfstheorien beitragen. In praktischer Hinsicht entstehen dann wissenschaftliche Bezugnahmen beim Entwerfen, wenn Theorien und Metho den z.B. aus den Natur- Struktur- oder Sozialwissenschaften adaptiert werden.2 Grundsätzlich sind inhaltliche, methodische und metaphorische wissenschaftliche Bezugnahmen möglich. 3 Bei inhaltlichen Bezugnahmen werden Modelle und Erkenntnisse anderer Wissenschaften zur Bildung von eigenen Architektur- und Entwurfstheorien verwendet. Z.B. adaptiert Friedrich Kiesler für seine Grundlagenforschung des sogenannten »Correalismus« ansatzweise Theorien aus den Naturwissenschaften. Bei methodischen Bezugnahmen werden Methoden und Verfahren anderer Wissenschaften in die Architekturund Entwurfsforschung übertragen. Zum Beispiel adaptiert die Firma IDEO für ihre Entwurfsverfahren beobachtende Methoden aus Kulturanthropologie und Soziologie. Bei metaphorischen Bezugnahmen werden Beschreibungen und theoretische Modelle anderer Wissen1
Entwerfen wird in den folgenden Ausführungen als Prozess verstanden, der neben der logischen Planung von Artefakten auch deren ästhetische Ausführung umfasst. Im Unterschied zum englischen »Design« (Muster, Konstruktion, Entwurf [project]), das sehr viele Tätigkeiten denotiert, kann im deutschsprachigen Raum klarer zwischen Planen und Entwerfen differenziert werden, welche die Kerntätigkeiten von Architekten/-innen und Industriedesignern/-innen ausmachen. Planen ist eher theorieorientiert und umfasst mehr als Entwerfen, wohingegen Entwerfen eher praxisgeleitet ist und häufig auch ästhetische Formwerdungen umfasst. Vgl. Schill-Fendl, Monika: Planungsmethoden in der Architektur, Norderstedt 2004, S. 50.
2
Vgl. Akın, Ömer: A Cartesian Approach to Design Rationality, Ankara 2006, S. 14.
3
Vgl. Picon, Antoine: »Architektur und Wissenschaft: Wissenschaftliche Exaktheit oder produktives Mißverständnis«, in: Ákos Moravánszky/Ole W. Fischer (Hg.): Precision. Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2008, S. 48—81, hier S. 52ff.
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schaften in die Reflexion des Entwurfsprozesses mit aufgenommen. Z.B. adaptiert Peter Eisenman für seine diagrammatische Architekturtheorie Modelle aus der Psychoanalyse und der Sprachphilosophie. Inhaltliche und methodische Bezugnahmen sind am schwersten zustande zu bringen, weil Entwerfen als praktische Tätigkeit eine theoretische Reflexion grundsätzlich nicht so hoch gewichtet, wohingegen metaphorische Bezugnahmen ein häufiges Argument für den nichtwissenschaftlichen Charakter von Entwurfsprozessen abgeben. Wissen im Entwurf innerhalb der Ingenieurwissenschaften und damit auch in Architektur, Grafik und Industriedesign dient in erster Linie der Praxis und weniger der Theorienbildung. Wenn sich eine Heuristik oder Lösungsmethode praktisch bewährt, so ist deren theoretische Begründung nebensächlich.4 Trotz diesem Einwand gibt es Bestrebungen, Entwurfsprozesse als eigenständige Forschung zu begreifen. Die Ausgangsthese für diesen Beitrag besteht darin, dass sich in Entwurfsprozessen, wenn sie einen wissenschaftlichen Charakter besitzen, Hypothesen als Grundbausteine der Entwurfshandlung identifizieren lassen müssten. Eine Diskussion von Entwurfshandlungen im wissenschaftlichen Kontext kann nur unter Berücksichtigung bestimmter Aspekte erfolgen, die der Autor wie folgt zusammenfasst: 1 Entwurfsprozesse verlaufen eher von gedanklichen Konzepten hin zur Veränderung materieller Phänomene, wohingegen wissenschaftliche Prozesse von realen Phänomenen gedankliche Konzepte ableiten, um neue Theorien zu gewinnen.5 2 Entwurfsprozesse schaffen neue Formen, wohingegen empirische Wissenschaften mit logischen Aussagen bestehende Formen erforschen.6 3 Entwerfer/-innen interessieren sich eher für die Evidenz ihrer Entwurfsansätze, wohingegen Wissenschaftler/-innen ihre Hypothesen an empirischen Materialien überprüfen. 4 Entwerfer/-innen verwenden im Vergleich zu Wissenschaftlern/innen häufig privatsprachliche Argumente und Schlussfolgerungen mit nicht eindeutigem Charakter, was die wissenschaftliche 4
Vgl. Banse, Gerhard u.a.: »Erkennen – Gestalten – Technikwissenschaften«, in: Gerhard Banse/Armin Grunwald/Wolfgang König/Günter Ropohl (Hg.): Erkennen und Gestalten. Eine Theorie der Technikwissenschaften, Berlin 2006, S. 343—348, hier S. 343ff.
5 Vgl. Eekels, Johan/Roozenburg, Norbert F. M.: »A Methodological Comparison of the Structures of Scientific Research and Engineering Design. Their Similarities and Differences«, in: Design Studies 12, 4 (1991), S. 197—203, hier S. 198ff. 6
Vgl. March, Lionel: »The Logic of Design and the Question of Value«, in: Lionel March (Hg.): The Architecture of Form, London u.a. 1976, S. 1—40, hier S. 15.
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Begründung des Entwurfsvorganges erschwert. (HumptyDumpty-Argumente)7 5 Entwurfsprozesse basieren auf Wissensformen, die schwer objektivierbar sind, weil sie auch intuitiv-experimentelle Prozesse beinhalten, die eine logische Betrachtung dieser verwässern. 6 Entwurfsprozesse in Architektur, Grafik und Industriedesign lassen sich nicht so leicht auf das Niveau einer wissenschaftstheoretischen Diskussion bringen, wohingegen die Wissenschaft sehr wohl auch als Kunst betrachtet werden kann.8 7 Die Frage, wie Neues entsteht, z.B. ein architektonischer Entwurf, ein musikalisches Thema oder eine Filmhandlung, ist aus der Sicht bestimmter Erkenntnistheorien eher Frage der empirischen Psychologie als der Erkenntnislogik.9 Der Beitrag versucht von einer scharfen Trennung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen (pseudowissenschaftlichen), sprich »entwerferischen« Entwurfsprozessen wegzukommen, um sich der Frage nach einer spezifischen Erkenntnisproduktion in Architektur, Grafik und Industriedesign mit Diagrammen und Einschreibungen anstelle von sprachlichen Hypothesen oder Problemstrukturierungen anzunähern.
Hypothesen Hypothesen in der Wissenschaft sind Grundbausteine zur Theorienbildung.10 Sie können z.B. (i) als unbewiesene Sätze, (ii) als Vordersätze einer Theorie und (iii) als universell gültige Leitsätze oder Leitgedanken betrachtet werden, von denen aus auf besondere Fälle geschlossen wird.11 Der im Folgenden aufgegriffene Hypothesenbegriff orientiert sich vor allem an mathematischen sowie physischen
7
Vgl. Frayling, Christopher: »Research in Art and Design«, in: Royal College of Art Research Papers 1, 4 (1993), S. 1f.
8 Vgl. Feyerabend, Paul: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a.M. 1984. 9
Vgl. Popper, Karl R.: Logik der Forschung, 10. Auflage, Tübingen 1994, S. 6.
10 Das grch. »Hypothesis«, aus »hypo« (grch. unter) und »thesis« (Leitsatz, Platz, Stelle) bedeutet, dass etwas darunter gelegt werden kann oder die Grundlage von etwas anderem darstellt. Hypothesen sind unbewiesene Vorannahmen oder Voraussetzungen, die einer Untersuchung zugrunde gelegt werden. Sie sind zunächst unbewiesene Unterstellungen, die im Gegensatz zu Mutmaßungen später verifiziert bzw. falsifiziert werden sollen. Vgl. Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel u.a. 1974, Band 3, Sp. 1260ff. 11 Vgl. Popper: Logik der Forschung, S. 36.
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(astronomischen)12 und weniger an philosophischen sowie geometrischen (Axiome, Postulate) Hypothesen. Hypothesen beim Entwerfen lassen sich nur bedingt mit Hypothesen aus den Wissenschaften vergleichen, weil sich Entwurfsprozesse in grundlegenden Punkten von Argumentationsprozessen aus den empirischen Wissenschaften unterscheiden. Hypothesen im Kontext der Wissenschaften sind allgemeine Prinzipien, die aus Einzelfällen gebildet werden, wohingegen Hypothesen im Kontext von Planungsprozessen Erklärungen sind, die im Licht allgemeiner Beobachtungen gemacht werden.13 Hypothesen beim Entwerfen beruhen häufig auf subjektiven Wissensanteilen und Vermutungen, die mit strikt logischen Begründungen wissenschaftlicher Sätze nicht verglichen werden können, weil sie eher mit abduktiven Schlussfolgerungen überraschende Tatsachen (Entwurfsansätze) mit provisorischen Argumenten (Hypothesen) vor dem Hintergrund bestimmter Theorien (Entwurfsprogramme) erklären. 14 Abduktive Schlussfolgerungen sind selbst Hypothesen oder produktive Argumente, die Annahmen beinhalten, die eine Ähnlichkeit zu überraschenden Tatsachen vorwegnehmen.15 Für diese Ähnlichkeitskonstruktion von Hypothesen, die neue, mitunter spontane Entwurfsansätze erklären, sind neben streng logischen auch intuitive oder produktive Denkweisen erforderlich. Somit bedienen sich Entwurfsprozesse aus Architektur, Grafik und Industriedesign ganz spezifischer Wissensformen, wie z.B. implizitem oder ikonischem Wissen, die gegenüber ausschließlich sprachlich-logischen Wissensformen Vorteile besitzen können, wie z.B. an den zeichnenden Künstler-Ingenieuren der Renaissance deutlich wird, welche sich mit dem Medium der Zeichnung eine 12 »Die Erde dreht sich in 24 Stunden um sich selbst, und in einem Jahr bewegt sie sich auf einer elliptischen, aber sehr kreisähnlichen Bahn um die Sonne. Die anderen Planeten tun das ebenfalls. Die Reihenfolge der Planeten ist von innen nach außen: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn. Der Mond umkreist in vier Wochen einmal die Erde.« Seiffert, Helmut: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 13. Auflage, München 2003, S. 162. 13 »In science an hypothesis is a general principle induced from particular events and observations, but in design an hypothesis is a particular instance produced from a general notion. In science, hypothesis is commonly used to mean a tentative general statement about a class for cases (and this is its Popperian sense), but it originally meant a particular case of a general proposition (and this is closer to what Pierce means by hypothesis).« March, Lionel: »The Logic of Design and the Question of Value«, in: Lionel March (Hg.): The Architecture of Form, London u.a. 1976, S. 1—40, hier S. 18. 14 Vgl. Wirth, Uwe: »Zwischen Zeichen und Hypothese: für eine abduktive Wende in der Sprachphilosophie«, in: Wirth, Uwe (Hg.): Die Welt als Zeichen und Hypothese, Frankfurt a.M. 2000, S. 133—157, hier S. 149. 15 Vgl. Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften, Band 1, 1865—1903, Frankfurt a.M. 2000, S. 393.
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entscheidende medientheoretische Überlegenheit gegenüber langwierigen hermeneutischen Interpretationen von Phänomenen verschafften. Die Bildung eines eigenen Hypothesenbegriffs im Entwurf wird durch die Tatsache erschwert, dass Architektur, Grafik und Industriedesign teilweise Anwendungen von Erkenntnissen aus den empirischen Wissenschaften sind, was die Frage nach einer eigenen Erkenntnistheorie des Entwurfsprozesses relativiert. Die Untersuchung von Hypothesen beim Entwerfen erfolgt z.B. über die empirische Psychologie, d.h., es wird versucht, aus Sprechprotokollen von Entwerfern eine Argumentationsstruktur freizulegen, die Rückschlüsse auf die mentalen Vorgänge und Schlussfolgerungen beim Entwerfen ermöglichen soll. Da Entwurfshandlungen ganz wesentlich auf verinnerlichte Wissensformen zurückgehen, kann das Konzept des impliziten Wissens ansatzweise für die erkenntnistheoretische Erforschung der Entwurfshandlung fruchtbar gemacht werden, d.h., Entwerfer/-innen wissen aufgrund ihrer Praxis häufig mehr, als sie sprachlich formulieren können.16 Ausgehend vom Konzept des impliziten Wissens lässt sich die Entwurfshandlung als eine Lernhandlung begreifen, innerhalb der es stärker darum geht, sich einem Problem gegenüber zu situieren und dieses mithilfe von geeigneten Hypothesen zu restrukturieren.17 Hypothesen im Entwurf zu haben setzt voraus, diese später zu testen. Dieses Testen verläuft im Entwurf häufig anders als in den empirischen Wissenschaften. Entworfene Artefakte können im weitesten Sinn selbst Hypothesen verkörpern, die von den Endverbrauchern getestet werden.18 Durchaus werden Entwürfe durch Industrie und Konsum bestätigt, aber nicht im Sinne einer Verifikation, sondern eher im Sinne einer Bewertung oder eines »Annahmewertes«.19 Gemäß dem Falsifikationismus lassen sich realisierte Projekte nicht als überprüfbare Hypothesen auffassen, weil diese keinen eindeutig überprüfbaren Wahrheitswert besitzen.20 Wenn es so etwas wie Hypothesen im Entwurf gibt, dann müssten das Hilfsmittel zur dialogischen 16 Vgl. Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985, S. 21. 17 Vgl. Schön, Donald A.: »The Design Process«, in: Howard, Vernon A. (Hg.): Varieties of Thinking. Essays from Harvards Philosophy of Education Research Center, New York 1990, S. 127f. 18 »The individual design hypothesis, together with the style it is embedded within, is being empirically tested through its detailed elaboration, construction and subsequent social use.« Schumacher: Style as Research Programme, S. 13. 19 Vgl. Müller, Johannes: Arbeitsmethoden der Technikwissenschaften. Systematik, Heuristik, Kreativität, Berlin u.a. 1990, S. 8. 20 Vgl. March, Lionel: The Logic of Design and the Question of Value, S. 34 und S. 39.
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und diskursiven Reflexion von Entwurfsansätzen sein. Die folgenden Punkte dienen als erste Eingrenzung dessen, was Hypothesen im Entwurf leisten müssen: − Hypothesen dienen den Entwerfern als produktive Argumente, wie z.B. Metaphern oder Wortspiele. − Hypothesen dienen zur Reflexion und weiteren Evaluierung von Entwurfsansätzen. − Hypothesen dienen der Erzeugung von Allianzen innerhalb der Erklärung des Entwurfsansatzes. − Hypothesen dienen der Vermarktung eines konkreten Entwurfes, in dem sie als »Forschung für den Entwurf« Entwurfsprozesse im Nachhinein legitimieren. Im Folgenden werden sprachliche Aussagen zu Entwurfsprozessen auf der metatheoretischen, theoretischen und praktischen Ebene des Entwurfs untersucht, um die Frage zu klären, inwieweit es sich dabei um Hypothesen handelt.
Abb. 1: Betrachtungsebenen des Entwurfsvorgangs. 21
Die Abbildung veranschaulicht metatheoretische (W, Wissenschaft), theoretische (T, Theorie) und praktische (M, Methode) Betrachtungsebenen des Entwurfsvorganges, die unterschiedlich auf die Theorienbildung einwirken. Umgelegt auf die Entwurfshandlung finden Metasprache, »Sprache über den Entwurf«22 und »Sprache im Entwurf«23 z.B. folgende Entsprechungen: Beim Verwenden von einem speziellen CAD-Programm, wie z.B. »Form Z«, ist ein/-e Entwerfer/-in dem 21 Abbildung: Gert Hasenhütl, 2008. 22 Vgl. Schön, Donald A.: The Reflective Practitioner. How Professionals think in Action, Aldershot 2006, S. 81. 23 Vgl. ebd, S. 81.
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Symbolsystem des Programms unmittelbar verhaftet, ohne es theoretisch zu reflektieren. Vergleicht der/die Entwerfer/-in z.B. »Form Z« mit »Rhino«, so begibt er/sie sich auf eine theoretische Reflexionsebene des Entwerfens. Der Einfluss des Entwurfswerkzeuges auf das Ergebnis kann auf dieser Ebene vergleichend festgestellt werden. Entwerfer/-innen entwickeln mit hoher Wahrscheinlichkeit durch den Vergleich unterschiedlicher Entwurfswerkzeuge eine Theorie über das Entwerfen. Unterhalten sich ein/-e CAD-Experte/-in und ein/-e Spezialist/in für Modellbau über ihre Theorien, so können im besten Fall Aussagen über den Entwurf auf der metatheoretischen Ebene gewonnen werden. Anhand der drei Betrachtungsebenen des Entwurfsvorganges werden im Folgenden Beispiele für Hypothesen vorgestellt:
Hypothesen auf der metatheoretischen Ebene Aussagen auf der metatheoretischen Ebene des Entwerfens können allgemeine Reflexionen zur Architektur- und Entwurfsforschung beinhalten, wie z.B. die folgende Hypothese, dass Entwerfen interdisziplinär verläuft: Was ist das Spezifische an der akademischen Disziplin Architektur? […] Die erste Antwort lautet, dass Architektur ein interdisziplinäres Feld ist. Architektur ist Entwurf, Technologie, Baupraxis. Recht gut ist der Konnex aufgehoben in dem heute antiquiert klingenden Begriff ›Baukunst‹, der eben auch Technologie und Handwerk in einem älteren Verständnis des Ausdrucks als ›Kunst‹ umfasst. Insofern ist Architektur interdisziplinär ab ovo [von Anfang an, d.V.].24
Ausgangspunkt zur Aufstellung solcher Hypothesen sind oft wissenschaftstheoretische Ansätze zur Architektur- und Entwurfsforschung.
24 »What is specific to the academic discipline of architecture? […] The first answer to this question is that architecture is an interdisciplinary field. Architecture comprises design, technology and the practice of construction. This interdisciplinarity is expressed by the German ›Baukunst‹ (the art of construction), a term that has a slightly antiquated ring to it, but that manages to comprise technology and, in the old understanding of the term, craftsmanship as ›art forms‹. In this respect, architecture is abovo an interdisciplinary study and thus structurally unrelated to specialised disciplines and their approaches to research.« Hauser, Susanne: »Das Wissen der Architektur. Ein Essay/The Knowledge of Architecture. An Essay« in: Urs Hirschberg (Hg.): Design Science in Architecture, Vienna 2005, S. 21—27.
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Hypothesen auf der theoretischen Ebene Aussagen auf der theoretischen Ebene des Entwerfens können, analog zu Theorien aus den empirischen Wissenschaften, als Systeme von Hypothesen zur Förderung neuer Erkenntnisse gedacht werden. Sie können Hypothesen auf einer theoretischen Ebene beinhalten, indem Entwurfsprozesse sprachlich oder grafisch reflektiert werden, wobei Entwerfer/-innen häufig in der Alltagssprache über ihren Entwurf reden und diesen begründen. Das Sprachsystem, das sie dabei verwenden, kann als »Sprache über den Entwurf« bezeichnet werden, wobei Entwerfer/-innen ihre Entwurfshandlungen nachträglich auf einer theoretischen Ebene beschreiben. Wenn sich z.B. eine Architektin mit ihrer Kollegin über Maßstab, verschiedene verwendete Symbole oder die Ausführung eines Plans unterhält, spricht sie in der »Sprache über den Entwurf«.25 Auf dieser Ebene kann es zu Theoriebildung kommen, weil die Entwurfshandlung durch einzelne Annahmen und im besten Fall hypothetisch begründet wird, wobei Entwerfer/-innen Übersetzungen in ihnen fremde Kontexte vornehmen müssen. Das folgende Beispiel veranschaulicht die Grundzüge eines Forschungsvorganges26 anhand verschiedener Phasen, die sich durch ein Beispiel aus der Stadtplanung ergänzen lassen. Die Problemeingrenzung des Beispiels vollzieht sich auf der Ebene der »Sprache über den Entwurf«: 1 Eine Frage aufwerfen, ein Problem erkennen oder das Gefühl zu haben, ein Problem zu haben: Z.B. die Frage nach der Verbesserung lokaler Wohnverhältnisse in einem relativ verarmten Stadtteil. Es werden Bestandsaufnahmen der Wohnverhältnisse durchgeführt, die in Form von Berichten diskutiert werden. 2 Die bisherige Antwort auf ein Problem bezweifeln, das bisher als wahr Angenommene bezweifeln: Bisherige stadtplanerische Eingriffe gehen davon aus, verarmte Stadtteile großflächig touristisch zu nutzen. Ein Bericht erzeugt ein Bild, das die Bevölkerung als arm und verwahrlost darstellt, wodurch das zu erneuernde Stadtviertel als etwas Abgeschiedenes, das nur von außen verbessert werden kann, begriffen wird. Ein einst gesunder, nun aber krank gewordener Zustand soll wiederher25 Vgl. Baumgartner, Peter: Der Hintergrund des Wissens. Vorarbeiten zu einer Kritik der programmierbaren Vernunft, Klagenfurt 1993, S. 280. 26 Vgl. Lipman, Matthew: Harry Stottelmeiers Entdeckungen. Philosophieren mit Kindern, Handbuch, Wien 1990, S. 8.
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gestellt werden.27 Die bisherigen wohnpolitischen Maßnahmen, die von dieser Annahme ausgingen, sind zwar ökonomisch und bewähren sich, führen aber zu einer Abwanderung der ärmeren Gesellschaft und damit zu einer Ghettoisierung der abgesiedelten Personengruppe am Stadtrand. Das Neuformulieren eines Problems: Touristische Baumaßnahmen sind zwar sinnvoll, aber nicht alles, was ökonomische Vorteile bringt, ist kulturell und sozial wünschenswert. Ein alternativer Bericht begreift den Stadtteil als einen lebendigen Organismus, der nicht von der übrigen Gesellschaft abgetrennt werden kann, und erzeugt so ein Bild von der Stadt, die als Gemeinschaft begreifbar ist. Der bauplanerische Eingriff besteht darin, die Absiedelung zu verhindern, indem touristische und regionale Kultur nebeneinandergestellt werden. Aufstellen einer Hypothese im Entwurf: Das lokale Nebeneinander autochthoner und touristischer Personengruppen kann eine Identitätsaufwertung bei der ärmeren Bevölkerungsschicht auslösen, sowie nachhaltigen Tourismus fördern.28 Überprüfen einer Hypothese: Die Hypothese kann in einer Fallstudie durch Befragungen überprüft werden. Falsifizieren der Hypothese; entdecken eines Beispiels, das der Hypothese widerspricht: Findet sich nur eine Bewohnerin, die das stärkere Miteinander mit Touristen nicht als Identitätssteigerung empfindet, so gilt die Hypothese als falsifiziert. Ebenso gilt die Hypothese als falsifiziert, wenn sich nur ein Tourist findet, der die Konfrontation mit den Einheimischen nicht als kulturell bereichernd empfindet. Verbessern der Hypothese: Im Falle der Falsifizierung muss die Hypothese abgeändert werden, um den Einwänden standzuhalten. Etwa das man z.B. nur bestimmte Gruppen beider Seiten in diese baupolitischen Maßnahmen miteinbezieht, und jenen, welche die Hypothese bezweifeln, ein alternatives Konzept vorschlägt. Anwenden der revidierten Hypothese: Erneute Fallstudie und Befragung.
27 Vgl. Schön, Donald A.: »Generative Metaphor: A Perspective on Problem-Setting in Social Policy«, in: Andrew Ortony (Hg.): Metaphor and Thought, 2. Auflage, Cambridge 1980, S. 254—283, hier S. 263. 28 Danke an Peter Leidlmayer für die Diskussion und ausschlaggebenden Hinweise für das Beispiel aus der Stadtplanung. Vgl. Leidlmayer, Peter: Raval, Raval – urbanes Ghetto oder Vielfalt der Kulturen?, Diplomarbeit TU Graz, 2009.
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Hypothesen auf der praktischen Ebene Aussagen auf der praktischen Ebene des Entwerfens umfassen unmittelbar beim Entwerfen auftretende Symbolsysteme, wie z.B. Diagramme, Gesten, Metaphern oder subvokale Anweisungen. Aussagen auf dieser Ebene können als »Sprache im Entwurf« bezeichnet werden.29 Sprechprotokolle erlauben es, die »Sprache im Entwurf« zu untersuchen, um heuristische Vorgänge genau nachzuvollziehen. Die Vorannahme des Verfahrens besteht darin, dass das, was Entwerfer/innen während oder nach Entwurfssequenzen sagen, Rückschlüsse auf mentale Vorgänge zulässt. Die Frage an dieser Stelle lautet, ob Entwerfer/-innen innerhalb ihrer Entwurfssequenzen hypothetische Annahmen machen, die sich in der »Sprache im Entwurf« äußern. Sprechprotokolle von Entwurfshandlungen beinhalten z.B. folgende Aussagen:30 Entwerfer/-innen dokumentieren oder reflektieren die im Briefing enthaltene Information. […] Könnte es ein Spannbügel oder eine Art Gestell sein? […] Könnten nur einige Spanner richtig angebracht sein, um den Fahrradrahmen als Grundträger zu verwenden? […]31 Entwerfer/-innen analysieren eine Problemstellung basierend auf ihrem Hintergrundwissen. […]59. Da kommt das Wasser die Wand herunter […] 60. schlägt gegen das Blech und […] 61. geht in die Mauer hinein […]32 Entwerfer/-innen machen Aussagen, die helfen neue Entwurfsansätze zu entwickeln.
29 Vgl. Schön: The Reflective Practitioner, S. 81. 30 Vgl. Eckersley, Michael: »The Form of Design Processes. A Protocol Analysis Study«, in: Design Studies 9, 2 (1988), S. 86—94, hier S. 88 und Popovic, Vesna: »Design Activity Structural Categories«, in: Nigel Cross/Henri Christiaans/Kees Dorst (Hg.): Analysing Design Activity, Chichester 1996, S. 211—224, hier S. 213ff. 31 »Is it a clamp, or a bike rack, a pannier? Could it be just a few snaps put on the bike in the right position, using the frame of the backpack itself as the frame of the fastening device?« Eine Entwerferin, zit.n.: Dorst, Kees: »The Design Problem and his Structure«, in: ebd., S. 28. 32 »59. The water coming down that wall […] 60. hit that […] 61. and penetrate back into the wall. […]« Eine Entwerferin, zit.n.: Akın, Ömer: »A Structure and Function Based Theory for Design Reasoning«, in: Nigel Cross/Kees Dorst/Norbert Roozenburg (Hg.): Research in Design Thinking, Delft 1991, S. 37—60, hier S. 44.
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[…] 2. Du könntest das als eine Art Puzzle behandeln. 4. Ich könnte mir z.B. vorstellen, dass es eine Casbah-Situation [afrikanische Bezeichnung u.a. für Zitadelle oder Getreidespeicher, d.V.] ist. […]33 Entwerfer/-innen äußern sich über beabsichtigte Entwurfsschritte, um Handlungen einzuleiten.34 […] wir möchten entscheiden, wo wir sie halten […]35 1. Was du dann tun könntest, ist, an den Quadraten als Basiselemente zu arbeiten.36 Entwerfer/-innen äußern sich über aktuelle Entwurfsbewegungen mit Aussagen, die Entwurfsbewegungen auf der inhaltlichen Ebene dokumentieren.37 […] Ich habe entschieden, das zu verlängern, um eine schnelle Montage zu ermöglichen […]38 […] 8 wir machen es aus Stahlrohr 9 oder aus Aluminiumrohren 10 mit einem U-Kanal darauf 11 das brauchen wir gar nicht […]39
33 »2. AS: You could treat this as a puzzle sort of thing. 3. THAT: This does not seem to suggest any context for how it could get along with what´s around it. 4. AS: For example, I can imagine this as a casbah situation […]« Eine Entwerferin, zit.n.: Goldschmidt, Gabriela: »The Dialectics of Sketching«, in: Creativity Research Journal 4, 2 (1991), S. 123—143, hier S. 132. 34 Vgl. Akın: A Structure and Function Based Theory for Design Reasoning, S. 41. 35 »[…] we wanna decide where to keep them […].« Eine Entwerferin, zit.n.: Akın, Ömer/Lin, Chengtah: »Design Protocol Data and Novel Design Decision«, in: Design Studies 16, 2 (1995), S. 211—236, hier S. 220. 36 »1. THAT: What you could do then is work on those squares as your basic element.« Eine Entwerferin, zit.n.: Goldschmidt: »The Dialectics of Sketching«, S. 132. 37 Vgl. Akın: »A structure and Function Based Theory for Design Reasoning«, S. 43. 38 »I’ve decided that I could just stretch that out and we would have a quick mount on the real wheel.« Eine Entwerferin, zit.n.: Akın: »Design Protocol Data and Novel Design Decision«, ebd., S. 220. 39 »[…] 5 OK first thing is that to make it a proprietary product for the Batavus backpack the er [sic!] […] 6 this this this this frame here will have U-channels on it […] 7 OK mounted on it unfortunately […] 8 alright so we´re gonna make it out of er… like a steel tube […] 9 or an aluminium tube […] 10 with an U-channel on it and erm [sic!] […] 11 no we don´t even need that […].« Eine Entwerferin, zit.n.: Goldschmidt, Gabriela: »Capturing Indeterminism: Representation in the Design Problem Space«, in: Design Studies 18, 4 (1997), S. 441—455, hier S. 448.
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Entwerfer/-innen äußern sich über die Qualität ihrer Entwurfsschritte und evaluieren den Entwurf. […] 26 Da sind ein paar Bäume … 27 Ich denke, das erste, was ich probiere … 28 Ich denke … Oft sind die ersten Ideen doch die besten […] 30 Zuerst probiere ich die Idee, das dort der Eingang ist. […]40 Entwerfer/-innen äußern Verbalisierungen, die in keine der Gruppen passen.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass subvokale Anweisungen kaum hypothetischen Charakter besitzen, weil Entwerfer/-innen hauptsächlich Handlungen beschreiben und keine Ebene erreichen, wo sie über Entwurfsansätze und Inhalte reflektieren. Entwerfer/-innen können zwar aus ihren sprachlichen Reflexionen durch Sprachspiele auf »generative Metaphern«41 kommen, aber der erkenntnistheoretische Wert dieser Aussagen bleibt zu hinterfragen. Deutlicher wird die Funktion von Hypothesen innerhalb der praktischen Reflexion des Entwurfes im Entwurfsprozess von Christopher Alexander, welcher in mehrfacher Hinsicht als hypothetisches Verfahren begriffen werden kann: (i) Wird der Entwurf von Aussagen, die den einzelnen Entwurfsoder Problemlösemustern (Patterns) beigefügt sind, beeinflusst. Bei einem Entwurf zu einem Hauseingang sind z.B. folgende Aussagen zur Eingrenzung des Entwurfes möglich:42 1 Die Bewohner hören gerne die Besucher kommen, bevor diese anläuten. 2 Die Besucher nehmen tendenziell den kürzesten Weg von der Straße bis zur Haustür. 40 »26 There are some trees here … [draws trees to the south of the driveway]. 27 I think the first thing I am going to try is … 28 I think … I often found that the first ideas are; often are the best … 29 After examining several ideas [they] are the best. 30 So I’ll first experiment with the idea of trying to enter right here [draws line to indicate entry from the corner].« Eine Entwerferin, zit.n.: Akın, Ömer: Psychology of Architectural Design, London 1986, S. 31. 41 Das Konzept der »generativen Metapher« stammt von Donald A. Schon, der verschiedene Theorien u.a. von Ernst Cassirer (radikale Metapher), Michael Reddy (Röhrenmetapher) oder Ludwig Wittgenstein (Sprachspiel) für dieses Konzept aufnimmt. Vgl. Schön, Donald A.: Invention and the Evolution of Ideas (Displacement of Concepts), London 1967, S. 74ff. 42 Vgl. Alexander, Christopher/Poyner, Barry: The Atoms of Environmental Structure, 1967, zit.n. March: »The Logic of Design and the Question of Value«, S. 5.
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3 Die Bewohner tendieren dazu, sich möglichst weit von der Straße entfernt aufzuhalten. 4 Die Bewohner versuchen es zu vermeiden, dass die Innenräume von der Straße aus sichtbar sind.43 Diese Aussagen wurden später unter das Entwurfsmuster Nr. 130 »Eingangsraum« zusammengefasst.44 Wird eine Person gefunden, die es mag, so wäre diese Aussage im Sinne einer Hypothese bewahrheitet.45 Christopher Alexander beschreibt diese Aussagen als empirischen Hintergrund, der den Inhalt eines Entwurfsmusters beschreiben und dessen Gültigkeit begründen soll.46 Aus der Perspektive der Erkenntnislogik besitzen diese Aussagen keinen wissenschaftlichen Wert, weil es sich um nicht überprüfbare Annahmen handelt, die nicht eindeutig quantifizierbar sind.47 (ii) Wird der Entwurf aus kurzen sprachlichen Anweisungen, die den Problemkontext erzeugen, den sogenannten »Fehlvariablen« gebildet. Diese Fehlvariablen sind Vermutungen oder Unterstellungen, die universelle Gültigkeit innerhalb der Entwurfssynthese beanspruchen, bis sie falsifiziert werden. Die Liste der Fehlvariablen ergibt einen Anforderungskatalog, der den Problemkontext erzeugt. Für den Problemkontext einer Viehstallung lassen sich zum Beispiel folgende Fehlvariablen feststellen:
43 »1. People like to hear visitors coming before the doorbell rings. 2. Visitors tend to take the shortest path off the street, the path to the door is usually within range of street noise, and the noise of arrival is often unnoticed. 3. People tend to ›live‹ away from the street, or if they do live on the street side they tend to keep the windows closed. 4. People do not want the inside of the house to be visible from the street.« Alexander/Poyner: Atoms of Environmental Structure, zit.n.: March: »The Logic of Design and the Question of Value«, S. 5. 44 Vgl. Alexander, Christopher/Ishikawa, Sara/Silverstein, Murray: Eine Muster-Sprache. Städte, Gebäude, Konstruktion, Wien 1995, S. 673ff. 45 Vgl. March: »The Logic of Design and the Question of Value«, S. 6. 46 Vgl. Alexander/Ishikawa/Silverstein: Eine Muster-Sprache, S. xi. 47 »Take the statements of tendencies first. They are supposed to be testable scientific statements. They are no such thing! Without quantifiers these statements are mere clichés. At the very least we must know whether the statements are universal or existential, whether they refer to all people, or some of the people. Finding one person who dislikes hearing visitors arrive will falsify the universal statement, and finding just one person who likes hearing visitors arrive will verify the existential statement. It would be possible to introduce plural quantifiers, ›nearly all‹, ›few‹, or ›many‹, but according to Popper’s argument such statements would remain metaphysical rather than empirical, for only universal statements are falsifiable.« March, Lionel: The Logic of Design and the Question of Value, in: March (Hg.): The Architecture of Form, S. 5f.
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[…] 31. Gründlicher und sparsamer Umgang mit Düngemittel und Saatgut. 80. Sicherheit für das Vieh. 94. Unterstützung des Viehtransportes. 106. Junge Bäume vor hungrigen Ziegen schützen. […]48
(iii) Wird der Entwurf durch sogenannte »konstruktive Diagramme« unterstützt, die ähnlich wie Hypothesen in der Wissenschaft funktionieren. Christopher Alexander vergleicht die »konstruktiven Diagramme« mit Hypothesen, weil sie allgemeingültige Annahmen über Problemkontexte darstellen, weil sie sich begrifflich auf physische Phänomene beziehen, weil sie nicht deduktiv hergeleitet werden können und weil sie ständig modifiziert werden müssen.49 Diese »konstruktiven Diagramme« vermitteln zwischen den konkreten Bildern aus der Mustersprache und dem durch die Fehlvariablen erzeugten Problemkontext. »Konstruktive Diagramme« sind schematische Darstellungen einzelner Entwurfslösungen, die auf unterschiedlichen Ebenen eines Lösungsbaumes den Entwurf darstellen. Die Entstehung »konstruktiver Diagramme« in der Entwurfstheorie von Christopher Alexander kann nicht eindeutig hergeleitet werden.50
Abb. 2: Hypothese im Entwurf. 51 48 »[…] 31. Efficient distribution of fertilizer, manure, seed, from village storage to fields. […] 80. Security for cattle. […] 94. Provision for animal traffic.« Alexander, Christopher: Notes on the Synthesis of Form, Cambridge 1964, S. 137ff. 49 »Each constructive diagram is a tentative assumption about the nature of the context. Like a hypothesis, it relates an unclear set of forces to one another conceptually; like a hypothesis, it is usually improved by clarity and economy of notation. Like a hypothesis, it can not be obtained by deductive methods, but only by abstraction and invention. Like a hypothesis, it is rejected when a discrepancy turns up and shows that it fails to account for some new force in the context.« Alexander: Notes on the Synthesis of Form, S. 91f. 50 Vgl. Bonsiepe, Gui: »Arabesken der Rationalität. Anmerkung zur Methodologie des Designs«, in: Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung Ulm 19, 20 (1967), S. 9—23, hier S. 16. Kühn, Christian: »Christopher Alexanders Pattern Language«, in: Arch+ 189 (2008), S. 26—31, hier S. 30. 51 Alexander, Christopher: Notes on the Synthesis of Form, Cambridge 1964, S. 88.
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Die Abbildung zeigt ein konstruktives Diagramm aus der Formsynthese für den Entwurf einer Viehstallung. Das konstruktive Diagramm als Hypothese fungiert als Brücke zwischen Anforderung und der Form.51 Anforderungen umfassen die Fehlvariablen als sprachliche Eingrenzungen, wie sie oben beispielhaft angeführt sind. Form bei Christopher Alexander umfasst Ausgangsmaterialien für einen Entwurf, und nicht visuelle Merkmale. Das Diagramm dient als Platzhalter oder Stelle (grch. »thesis«) zukünftiger Verhandlungen zwischen Architekten/-innen, Bauherrn/-innen und Endnutzern/-innen. Alternativ zu sprachlichen Hypothesen beim Entwerfen kann im Anschluss an Christopher Alexander der Begriff des Diagrammes aufgenommen werden, mit folgenden Begründungen: Diagramme stellen eine Zwischenform von sprachlicher Assoziation und visueller Analogie dar und ermöglichen so zwei grundlegende Modi zur Aneignung von Realität: beschreibend (diskursiv) oder darstellend (ikonisch). Diagramme sind eine Art Verkörperung von Begriffen und Aussagen in einer grafischen Form, die von sprachlichen Assoziationen dominiert ist.52 Diagramme ermöglichen es, viel Information durch Symbole oder vorläufige Platzhalter in den Entwurfsprozess mit aufzunehmen.53 Die Eigenschaft als provisorischer Platzhalter unterstreicht ihren hypothetischen Charakter. Diagramme erzeugen aufgrund ihrer Unfertigkeit ebenso wie einfache schematische Zeichnungen eine geringere kommunikative Nähe als gestische oder phonische Äußerungen, d.h., sie enthalten Hinweisreize, die vielfältig interpretiert werden können, was einer sprachlichen Vervollständigung bedarf. Schriftlichgrafische Äußerungen (Graphé54) sind in geringem Maße dazu in der Lage, kommunikative Nähe oder eine kommunikative Situation zu erzeugen.55 Kommunikative Nähe wird stärker durch gestisch und phonisch realisierte Zeichen erzeugt. Da das Ziel von Entwurfsprozessen darin besteht, kommunikative Nähe aufzubauen, können Diagramme oder auch schematische Zeichnungen zur Grundlage von logischen Schlussfolgerungen oder Verhandlungen werden. Sie werden damit
52 Vgl. Bogen, Steffen/Thürlemann, Felix: »Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen«, in: Alexander Patschovsky (Hg.): Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Stuttgart 2003, S. 1—22, hier S. 14. 53 Vgl. Laseau, Paul: Graphic Thinking for Architects & Designers, 3. Auflage, New York 2001, S. 113. 54 »Gráphein« bezeichnet im Griechischen schreiben, einritzen, malen oder sticken. 55 Koch, Peter: »Graphé. Ihre Entwicklung zur Schrift, zum Kalkül und zur Liste«, in: Koch, Peter/Krämer, Sybille (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen 1997, S. 43—81, hier S. 44.
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zu Kommunikationszeichnungen, die sich mit den hauptsächlich gestisch und phonisch vermittelten sogenannte »beredten Skizzen«56 in Verbindung bringen lassen. Kommunikationszeichnungen im Sinne von Eugene Ferguson stellen eher Fragen, anstatt Resultate zu speichern, wobei sie verschiedene Personen an einem zentralen Verhandlungsgegenstand zusammenbringen. Christopher Alexander versucht konstruktive Diagramme empirisch zu testen, d.h. mit den Endverbrauchern/-innen gemeinsam diese Diagramme einzusetzen, bzw. will er erreichen, dass diese eigenständig mit solchen Diagrammen entwerfen.57 Somit besitzen Diagramme und Kommunikationszeichnungen bestimmte Eigenschaften von Einschreibungen.58
Einschreibungen Einschreibungen oder Inskriptionen ermöglichen es, Phänomene über Zeichen in eine Trägerstruktur einzuschreiben. Sie enthalten Information, die primär der Kommunikation, sozialen Interaktion und zusätzlich zur Sprache der Instruktion dient. Als Einschreibungen können zu Beispiel Aktien, Bestandslisten, Blaupausen, Buchhaltungen, Diagramme, Drucke, geometrische Projektionen, Karten, Kommunikationszeichnungen, Labortagebücher, Moodboards, Netzwerkpläne, Notizen, technische Zeichnungen, Rechnungen oder Wegeskizzen fungieren. Einschreibungen sind Mittel wissenschaftlicher Beweisführung, ohne die Überzeugungen nicht immer argumentierbar und durchsetzbar wären.59 Wird die wörtliche Argumentation bezweifelt, wird mit Einschreibungen weiterargumentiert. Es geht im Konzept der Einschreibungen darum, wie Personen Papiermedien im weitesten Sinne verwenden und welche Implikation das für die Aufteilung von Macht zwischen einzelnen Personen hat. Einschreibungen haben ähnlich wie Skizzen im Entwurf den Vorteil, dass sie flexibel und beweglich (mobil) sind, im Gegensatz zu »schwer beweglichen Forschungsgegenständen« wie z.B. Planeten oder Kontinenten, weshalb in diesem Zusammenhang von sogenannte »unveränderlichen mobilen Elementen« 56 »Sprechende Skizzen.« Vgl. Ferguson, Eugene S.: Das innere Auge. Von der Kunst des Ingenieurs, Basel u.a. 1993, S. 99. 57 Vgl. Christopher Alexander im Gespräch mit Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist: »Von fließender Systematik zu generativen Prozesse«, in: Arch+ 189 (2008), S. 20-25, hier S. 22. 58 Vgl. Latour, Bruno: »Visualization and Cognition: Thinking with Eyes and Hands«, in: Henrika Kuklick/Elizabeth Long (Hg.): Knowledge and Society. Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Vol. 6, London 1986, S. 1—40, hier S. 20ff. 59 Vgl. Latour, Bruno: »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge 1990, S. 19—68, hier S. 36.
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gesprochen werden kann.60 Unter mobil ist die Übertragbarkeit von Wissen durch Symbole in andere Medien und Zeichnungssysteme zu verstehen. Daraus ergibt sich, dass Einschreibungen gut mit anderen Einschreibungen mischbar sind, wobei neuartige Zusammenhänge sichtbar werden können. Im Begriff »mobil« steckt auch der Begriff »Mobilisieren«, d.h. mithilfe von Einschreibungen Verbündete gewinnen und andere davon zu überzeugen, gewohnte Sichtweisen zu verlassen. Entwerfer/-innen begründen ihre Entwurfsansätze, wenn die sprachliche Argumentation nicht mehr ausreicht, häufig mit Einschreibungen, welche die Formfindungen maßgeblich beeinflusst haben. Entwurfsprozesse werden in diesem Zusammenhang zu Verhandlungen, innerhalb derer die verwendeten Einschreibungen in ähnlicher Weise fungieren wie empirische Daten von Wissenschaftlern/-innen, die helfen Hypothesen zu testen, wobei Hypothesen beim Entwerfen häufig erst retrospektiv auf Basis von Einschreibungen gebildet werden. Beide Formen der Ausgangsmaterialien, ob Einschreibungen beim/bei der Entwerfer/-in oder empirische Daten beim/bei der Wissenschaftler/-in, werden von realen Phänomenen losgelöst und gesondert interpretiert. Entwerfer/-innen und Forscher/-innen sind ihren Einschreibungen insofern verhaftet, als sie an die Bedeutung dieser vom Ursprungskontext isolierten Symbole glauben und mit ihnen weiterarbeiten.61 Einschreibungen beim Entwerfen sind aufgrund ihres medialen Status einerseits etwas Immateriell-Symbolisches und andererseits aufgrund ihrer Funktion als Tausch- und Grenzobjekt etwas Materielles. Aufgrund ihrer Anmutungsqualität besitzen sie entscheidende Vorteile, wenn es um die Miteinbeziehung von unterschiedlichen Spezialisten in den Entwurfsprozess geht. Die Objektivierung von wissenschaftlichen Prozessen und damit auch Entwurfsprozessen vollzieht sich nicht nur über Fakten, sondern auch über Verhandlungen über bestimmte Sachverhalte. Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Ding als »thing« im Sinne von Volks- und Gerichtsverhandlung, geht die Theorie der »Dingpolitik«62 davon aus, dass sich in Artefakten und dem materiellen Teil von Einschreibungen nicht nur Tatsachen widerspiegeln, sondern 60 Englisch: »immutable mobiles«, vgl. Latour, Bruno: »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge 1990, S. 19—68, hier S. 26. 61 »[…] the researcher who deals with prints and images has to believe in the power of signs and symbols isolated from anything else.« Latour, Bruno: »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge 1990, S. 22f. 62 Vgl. Latour, Bruno: »From Realpolitik to Dingpolitik or How to Make Things ››› Public« in: Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.): Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge, 2005, S. 14—41, hier S. 22ff.
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dass sich an ihnen auch Angelegenheiten von öffentlichem Interesse vollziehen.63 Bruno Latour greift die philosophischen Überlegungen von Martin Heidegger zum Wesen des Dinglichen auf, um seine Theorie der Dingpolitik zu untermauern. Martin Heidegger nimmt für seine Reflexion zum »Ding« die Metapher des Gefäßes auf und fragt: »Was ist das Dingliche am Ding?« Dieses kann aus zweierlei Richtungen gedacht werden: (i) Aus der Perspektive des/der Herstellers/-in, d.h. ein Krug z.B. bedarf einer Herstellung, bzw. Vorstellung (Idee als das Aussehen), er wird zum »Her-Stand«, im Sinne des Herstammens. (ii) Aus der Perspektive des/der Betrachters/-in oder Nutzers/-in, d.h. ein Krug wird zum Herein-Stand, er stellt sich dem »Subjekt« entgegen als objektiver Widerstand. Das Ding wird aus dieser Perspektive zur Tücke, zum Problem oder zum Gegen-Stand. Martin Heidegger gelangt zu folgender Definition des Dinges: »Alles Vorstellen des Anwesenden im Sinne des Herständigen und des Gegenständigen gelangt jedoch nie zum Ding als Ding. Das Dinghafte des Kruges beruht darin, daß er als Gefäß ist. Wir gewahren das Fassende des Gefäßes, wenn wir den Krug füllen.«64 Das Ursprüngliche oder Mythische am Ding lässt sich als etwas bezeichnen, dass eher von dem her wahrgenommen wird, was fehlt. Das Ding als Artefakt fungiert als Gefäß und sein Wesen besteht in der Möglichkeit des Geschenks. Genau diese Möglichkeit zur Gabe oder des Geschenks bewirkt das Wesen eines Kruges, egal ob dieser mit Wasser gefüllt ist oder nicht. Das Wesen eines Kruges umfasst schließlich die Möglichkeiten zwischen »profanem« und »göttlichem« Trunk und zwischen Erde und Himmel. Diese vier Faktoren werden im Wesen des Kruges versammelt zum »thing« bzw. »Ding«. Ausgehend von diesen Überlegungen sind Dinge oder Einschreibungen nicht einfach als außerhalb der sozialen Umwelt liegende Phänomene aufzufassen, sondern sie bezeichnen einen Fall, eine Streitsache, bzw. eine Sache, die kollektiv zu entscheiden ist.65 Entwurfsmedien als Einschreibungen zu interpretieren, stellt die sozialen Aspekte beim Entwerfen in den Vordergrund, wobei es darum geht, neben Tatsachen, die in den Entwurfskontext
63 Vgl. Latour, Bruno: »A Cautious Prometheus? A few Steps toward a Philosophy of Design (With Special Attention to Peter Sloterdijk)«, in: Jonathan Glynne/Fiona Hackney/Viv Minton (Hg.): Networks of Design. Proceedings of the 2008 Annual International Conference of the Design History Society (UK), Florida 2009, S. 2—10, hier S. 7. 64 Heidegger, Martin: »Das Ding«, in: Petra Jaeger (Hg.): Bremer und Freiburger Vorträge, Band 79, Einblick in das was ist, Bremer Vorträge 1949, Frankfurt a.M., 1994, S. 7. 65 Vgl. Latour, Bruno: »Von ›Tatsachen‹ zu ›Sachverhalten‹«, in: Henning Schmidgen/ Peter Geimer/Sven Dierig (Hg.): Kultur im Experiment, Berlin 2004, S. 16—36, S. 21.
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Hypothesen beim Entwerfen
passen, auch Sachverhalte hervorzubringen, an denen verschiedene Personen teilhaben, wie z.B. in partizipativen Planungsprozessen.
Resümee Entwerfen vor dem Hintergrund der Dingpolitik ist das Zusammenziehen von verschiedenen Zeichnungssystemen, Symbolen, Schriftzeichen oder Nummern in Einschreibungen.66 Hypothesen beim Entwerfen haben, wie oben gezeigt wird, etwas mit Überzeugungsarbeit zu tun, wobei Erkenntnis dialogisch entsteht und die dabei verwendeten Entwurfsmedien eine wesentliche Rolle spielen. Kurz: Bestimmte Entwurfsmedien schaffen jeweils eine ganz bestimmte Entwurfspolitik und damit ganz bestimmte Hypothesen. Es ergibt sich die Frage, ob die verwendeten Entwurfsmedien die Art der Argumentation von Entwerfern verändern, d.h. eine CAD-Darstellung z.B. für die Argumentation im Entwurf als »wertvoller« erachtet wird als eine Handzeichnung, eine Äußerung in der »Sprache über den Entwurf« oder ein analoges Modell. Die klassischen Entwurfsmedien, ausgehend vom Disegno-Paradigma, erzeugen hauptsächlich Tatsachen auf Basis visueller Merkmale, d.h., sie erlauben zwar eine perfekte mediale Erfassung von Dingen, aber nur eine ungenügende Miteinbeziehung sozialer Faktoren. Diese Ablösung des Entwurfsprozesses vom realen Kontext durch visuell ausgefeilte Entwurfsmedien erzeugt eine ganz spezifische Entwurfspolitik, die zur Folge haben kann, dass Entwurfslösungen zunehmend auf Erfahrungen aus zweiter Hand basieren und zu stark von realen Bedingungen abgelöst werden. Entwurfsprozesse behandeln zumeist keine klar definierten Aufgaben, die sich wie wohlstrukturierte Probleme lösen lassen, sondern sie verknüpfen unterschiedlichste Sachverhalte, die materiell wie auch sozial bestätigt werden müssen. Der imaginäre Raum, den Entwurfsmedien erzeugen, wird dem häufig nicht gerecht und hat wenig mit dem realen Handlungsraum von Architektur, Grafik und Industriedesign zu tun. Entwerfer/-innen lernen zwar, wie sie Gegenstände erfassen und simulieren können, aber sie lernen nicht, wie sie »Dinge« zur Diskussion stellen können.
66 Vgl. Latour, Bruno: »A Cautious Prometheus? A few Steps toward a Philosophy of Design (With Special Attention to Peter Sloterdijk)«, in: Jonathan Glynne/Fiona Hackney/Viv Minton (Hg.): Networks of Design. Proceedings of the 2008 Annual International Conference of the Design History Society (UK), Florida 2009, S. 2—10, hier S. 3.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
The »Nature« of Design . Konzeptionen einer impliziten Wissenskultur Claudia Mareis
David Pye, Professor für Möbeldesign am Royal College of Art London, veröffentlichte 1964 einen schmalen Band mit dem Titel »The Nature of Design«. Darin geht er der Frage nach der »essential nature of design«, dem ureigensten »Wesen« des Designs nach. Seine Analyse beginnt mit der Diagnose eines doppelten Mangels im Design, die uns nachfolgend interessieren soll: »Although the importance of design is realised, the essential nature of the activity seems not to be understood except by designers, and they have not formulated what they know.«1 Es sei sinnlos, zu fragen, was »gutes« Design sei, bevor nicht zuerst die Frage beantwortet werden könne, was Design überhaupt sei, so Pye.2 Eine substantielle Einsicht in die spezifische »Eigennatur« des Designs erschien ihm, zumindest zum Zeitpunkt seiner Diagnose, noch ausstehend – mit der bemerkenswerten Ausnahme, dass Designer diese Einsicht sehr wohl besäßen, sie bislang aber noch nicht formuliert hätten – oder womöglich nicht formulieren konnten. Dem Unverständnis für die Designpraxis steht, so kann Pyes Aussage lesbar gemacht werden, ein Hemmnis seitens der Designpraktiker gegenüber, ihr praktisches Wissen in Worte zu fassen. Pyes Einschätzung der paradoxen, da impliziten »epistemischen Mangellage« des Designs hat bis heute nur wenig an Aktualität eingebüßt. So haben z.B. Filippo Salustri und Nathan Eng unlängst für die Designforschung konstatiert: »One question that persists in design research, despite many vigorous and on-going research efforts, is ›What is design?‹«.3 Auch sie sehen die Antwort auf diese Frage im impliziten Wissen von Designerinnen und Designern. Schließlich habe jeder, der selbst Design praktiziere, ein »intuitives Gefühl« dafür, was Design sei, so die Autoren. Rund vierzig Jahre sind seit Pyes Suche 1
Pye, David: The Nature of Design, London 1972 [1964], S. 7.
2
Pye: The Nature of Design, ebd.
3 Salustri, Filippo A./Eng, Nathan: »Design as… : Thinking of what Design might be«, in: Journal of Design Principles and Practices 1 (2007), S. 19—28, hier S. 19.
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nach der »essential nature of design« vergangen, und doch ist die Frage nach einer grundlegenden Designdefinition, die mit der Bestimmung eines impliziten praktischen »Designwissens« korreliert, virulent geblieben. Aus der inhärenten Anlage der Fragestellung ergibt sich für die Designtheorie und -forschung die bisweilen prekäre Situation, dass das pragmatische »Sprachspiel« der Designpraktiken vor allem jenen obliegt, die nur bedingt darüber Auskunft geben – sei es, weil sie nicht können oder weil sie nicht wollen. Die implizite »Bedingtheit« von Designwissen kann unterschiedlich gedeutet werden: Zum einen weist die Schwierigkeit, über praktische Aktivitäten hinreichend Auskunft geben zu können, auf wissenssoziologische Erkenntnisse hin, wonach unser Wissen und Können immer auch aus impliziten Bestandteilen besteht, die sich einer sprachlichen Diskursivierung entziehen. Dieses Wissensparadoxon haben beispielsweise Michael Polanyi und Donald Schön beschrieben. Zum anderen kann die »Sprachlosigkeit«, die gerade Praktikern oft attestiert wird, aber auch mit normativen Sprachregelungen und tradierten Wertediskursen in Verbindung gebracht werden, wie sie etwa in Pierre Bourdieus Habitus-Konzept thematisiert werden. Auf die genannten Autoren wird im Folgenden näher eingegangen. Zu fragen ist, inwiefern Designer tatsächlich nicht in der Lage sind, ihr praktisches Wissen zu artikulieren, oder ob damit nicht auch (bewusst oder unbewusst) eine durch die entsprechenden Qualifikationspraktiken erworbene Redehoheit markiert und weitergeführt wird – die sich möglicherweise umso besser behaupten lässt, je mehr sie sich einer sprachlichen Diskursivierung entzieht. Clive Dilnot diagnostiziert diesbezüglich für die Designtheorie und -forschung eine fast schon diktatorische Rede- und Deutungshoheit von Designpraktikern, die mit einem gleichzeitigen Mangel an akademischer Aufmerksamkeit einhergehe: »Design not only suffers from a general unwillingness of the culture to grant it the status of an activity worth studying and defining, [but of] an unwillingness shared by design practitioners who want design defined merely in terms of what designers do«.4 Gegenwärtig kommt diese spannungsreiche Konstellation in der Designforschung besonders im Format der praxisgeleiteten Forschung durch Design zum Tragen, »where practice itself is seen as a valid form of knowledge enquiry and where communicable knowledge may be embodied in the artefact«.5 Dieses Format, 4
Dilnot, Clive: »The State of Design History. Part II: Problems and Possibilities«, in: Victor Margolin (Hg.): Design Discourse. History. Theory. Criticsm. Chicago/London 1989, S. 233—250, hier S. 233.
5 http://www.rae.ac.uk/submissions/ra5a.aspx?id=63&type=uoa&subid=1279 [Februar 2010].
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das bereits an einigen europäischen Kunsthochschulen erprobt wird,6 fordert eine von der Praxis ausgehende und an ihr bemessene Theoriebildung ein und leidet zugleich, wie von Dilnot pointiert beschrieben, an mangelnder akademischer Aufmerksamkeit. Der enge Nexus von Designpraxis und Designforschung birgt, ungeachtet seiner Vorzüge, das problematische Potenzial, dass durch ihn unausgesprochene historische Auffassungen und Wertediskurse über Gestaltung und Design unhinterfragt in zentralen Fragestellungen und Prämissen heutiger Designforschung perpetuiert werden. In dieser Situation scheint eine kritische Kontextualisierung der neueren Wissensbestimmungen in Designtheorie und -forschung angebracht. Einen sinnvollen Zugang dazu bieten Konzeptionen zum impliziten Wissen beziehungsweise deren kritische Diskussion und historische Verortung. Im Folgenden wird dies am Beispiel von Wissenskonzeptionen bei Michael Polanyi, Donald Schön und Pierre Bourdieu ausgeführt. Ziel ist es, unterschiedliche Dimensionen und Aspekte des Phänomens eines »impliziten Wissens« mit Blick auf virulente Fragestellungen in Designtheorie und -forschung zu diskutieren, um damit die oft redundanten Diskussionen über das Verhältnis von Design und Wissen zu verdichten und insgesamt zu fundieren.
Zur Dimension eines impliziten Wissens Mit seiner Aussage, dass praktizierende Designer über ihr Wissen keine Auskunft geben, ist David Pye in die Nähe jener Erkenntnistheoretiker und Wissenssoziologen zu rücken, die seit den 1960er Jahren menschlichem Wissen (insbesondere praktischem Erfahrungswissen) eine begrenzte Artikulierbarkeit und Formalisierbarkeit attestieren. Ohnehin bleiben die 1960er Jahre als das Jahrzehnt im kollektiven Gedächtnis verhaftet, in dem die Wissensgesellschaft zu ihrem einschlägigen Namen kam und im Zuge dessen eine bis heute andauernde Verhältnisbestimmung von wissenschaftlich-technischem Wissen und praktischem Erfahrungswissen initiiert wurde.7 Dass solche Verhältnisbestimmungen oft sehr viel mehr pragmatischen
6
Eine Übersicht der aktuellen Debatten findet sich in: Mareis, Claudia: Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, Dissertation, Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung, Linz 2010, S. 38—49.
7
Vgl. etwa: Böhle, Fritz: »Wissenschaft und Erfahrungswissen«, in: Stefan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.): Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 143—177.
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Effizienzkriterien als erkenntnistheoretischer Neugierde folgten, sei hier nur als Randnotiz angemerkt. Als einflussreichster, wenngleich nicht einziger, Begründer einer kohärenten Theorie des impliziten Wissens gilt Michael Polanyi. Die Grundlagen dazu sind bereits in seinem philosophischen Hauptwerk »Personal Knowledge« von 1958 angelegt.8 1966 publizierte er dann die Beiträge seiner »Terry Lecture«, die er im Jahre 1962 an der Yale University gehalten hatte, in dem Band »The Tacit Dimension«. Darin ist die im Zusammenhang mit implizitem Wissen oft zitierte Stelle zu finden, »we can know more, than we can tell«9. Menschliche Erkenntnis beinhaltet nach Polanyi stets gewisse implizite, also stumme oder unbewusste Bestandteile.10 So können Menschen Fahrradfahren, Musikinstrumente beherrschen oder in einer Menschenmasse einzelne Gesichter erkennen, ohne genau sagen zu können, wie sie dies tun. Polanyi stützt seine Ausführungen auf einer Unterscheidung des Philosophen Gilbert Ryle, der zwischen »knowing that« und »knowing how« unterschied und Können entsprechend als eine Form von praktischem Wissen auswies. 11 Polanyi konzipierte eine Wissens- und Bewusstseinstheorie, die keinen statischen Wissensbefund (»knowledge«), sondern den Akt beziehungsweise den Prozess des Erkennens und Wahrnehmens (»knowing«) behandelte.12 An sehr unterschiedlichen und nur schwer miteinander vergleichbaren Beispielen führt Polanyi in »The Tacit Dimension« aus, dass, vor allem aber wie gewisse intelligente Leistungen unbewusst (subliminal oder verinnerlicht) vorhanden seien oder angewendet würden, ohne dass diese ausreichend artikuliert oder formalisiert werden könnten.13 Die impliziten Bestandteile von Wissen und Können umfassen bei Polanyi, analog zu den Beispielen, die er bespricht, so Verschieden8 Polanyi, Michael: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago/London 1974 [1958]. 9
Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, Gloucester, Mass. 1984 [1966], S. 4, Kursivsetzung im Original.
10 Polanyi, Michael: Implizites Wissen. Frankfurt a.M. 1985, S. 14. 11 Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, Chicago 1949. 12 Neuweg, Georg Hans: Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis, Münster et al. 2004 [1999], S. 134. 13 Obwohl Polanyis Vorstellung eines »impliziten Wissens» eine thematische Nähe zu psychoanalytischen Ansätzen zum sowohl individuellen als auch kollektiven Unbewussten aufweist, bezog er sich selbst kaum darauf. Es scheint vielmehr, dass Polanyi sich gegen die Psychoanalyse wendete, da er in deren wissenschaftlichen Zugriff auf das implizite Wissen einen Verlust von eben diesem zu erkennen glaubte. Vgl. dazu Orange, Donna M.: Emotional Understanding: Studies in Psychoanalytic Epistemology, New York 1995, S. 107.
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artiges wie Affekte, physiognomische Wahrnehmung (Einzelheiten werden zu einer ganzen Gestalt ergänzt),14 verinnerlichte und als »intuitiv« wahrgenommene Regelausübung (durch die ständige Wiederholung einer praktischen Tätigkeit), bis hin zu unausgesprochenen, dennoch leitenden Moral- und Wertvorstellungen im Rahmen der wissenschaftlichen Wissensproduktion.15 »Implizit« muss dabei nicht zwangsläufig das Gegenteil von »explizit-sprachlich« bedeuten, sondern kann, etwa bei der Gestaltbildung, als Gegensatz zu »fokal bewusst« gedeutet werden.16 Eine weitere Bedeutung der Wendung »we can know more then we can tell« wird auch darin gesehen, dass implizites Wissen zwar nicht immer ausgesprochen werden, sich aber dennoch im Verhalten zeigen kann. »Implizit« wäre demnach als Gegenteil von »artikulierbar« zu verstehen. 17 So können erfahrene Handwerker ihre Kenntnisse vielleicht nicht vollständig artikulieren, aber sie können diese durchaus erfolgreich demonstrieren und ihre Lehrlinge damit zur Nachahmung anleiten. Polanyi, der eine medizinische Erstausbildung besaß und sich zunächst in physikalischer Chemie wissenschaftlich profilierte, bedient sich in seinem erkenntnistheoretischen Werk eines unorthodoxen Referenzapparates. Er berührt unterschiedliche Diskurse und Disziplinen, führt diese Bezüge oft aber nicht explizit an. Wesentliche Berührungspunkte bestehen aber mit Sicherheit zur Gestaltpsychologie18 und zu behavioristischen Experimenten aus den 1950er Jahren zur Affektkonditionierung und unterschwelligen Wahrnehmung. 19 Insbesondere das von der Gestaltpsychologie beschriebene Vermögen, Einzelheiten als Ganzheiten zu verstehen und, je nach Fokus, die Dinge auf die eine oder andere Art zu interpretieren, stellten für ihn wichtige intellektuelle Fähigkeiten dar.20 Seine Ausführungen zum impliziten Wissen sind jedoch nicht als ahistorische Theoreme zu verstehen, für die Belange des vorliegenden Textes sind sie auch historisch zu kontextualisieren. So kritisierte Polanyi wiederholt eine ideologisch angeleitete Wissenschaftstheorie, wie sie in der ehemaligen Sowjetunion 14 Polanyi: Implizites Wissen, S. 15. 15 Vgl. Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen, S. 12ff. 16 Ebd., S. 138. 17 Ebd, S. 138. 18 Polanyi: Implizites Wissen, S. 15f. 19 Hier bezieht sich Polanyi auf Experimente von Lazarus und McCleary (1949) und Eriksen und Kuethe (1958). Vgl. Polanyi: Implizites Wissen, S. 15—17 sowie Fußnote 9 auf S. 85. 20 Polanyi sprach diesbezüglich von einer »von-zu-Struktur« von Wissen: »Wir wenden uns von etwas her und etwas anderem zu und werden seiner im Lichte dieses anderen gewahr.« Polanyi: Implizites Wissen, S. 20. Vgl. dazu auch Neuweg: Implizites Wissen und Könnerschaft, S. 136.
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unter Stalin gelehrt wurde.21 Mit Blick darauf suchte er für die »westlichen« Wissenschaften nach Wegen und Möglichkeiten, ein (zumindest seiner Ansicht nach) ideologiefreies, dennoch an Werte und Traditionen gebundenes, holistisches Wissensmodell zu formulieren. Mithin wandte er sich nicht nur gegen eine »marxistisch-leninistische Epistemologie«,22 sondern auch gegen das zentrale Motiv des Existenzialismus, »Auffassungen und Anschauungen sozusagen von einem Nullpunkt aus frei zu wählen«.23 Zusammenfassend formuliert, gehören für Polanyi also nicht nur theoretische und praktische Kenntnisse zur Dimension eines impliziten Wissens, sondern auch »verinnerlichte Werte« und »Lebensweisheiten« sowie ideologische Konnotationen.24 Er unterstreicht damit den Umstand, dass implizites Wissen, ja Wissen überhaupt, durch moralische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Autoritäten nicht nur geprägt wird, sondern sich erst innerhalb der dadurch geschaffenen sozialen Grenzen realisieren kann.
Implizites Wissen und reflektierte Praxis Polanyi konzipierte seine Thesen zum impliziten Wissen insbesondere auch mit Blick auf den Erwerb und die Vermittlung von künstlerischbildnerischen Fähigkeiten und handwerklichem Geschick. Es erstaunt somit kaum, dass seinem Konzept des impliziten Wissens gerade bei der Erforschung von professionellen, gestalterischen Praktiken eine große Aufmerksamkeit zukommt. In den 1980er Jahren nahm zum Beispiel der Soziologe Donald Schön den Gedanken eines impliziten Wissens mit Blick auf professionelle Berufstätigkeiten auf, unter anderem untersuchte er dabei auch die Designpraxis. Im Anschluss an Polanyi konstatiert er: »The best professionals know more than they can put in words.«25 Schön nähert sich in seiner Studie »The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action« (1983) praktischem Erfahrungswissen vor dem Hintergrund von gesellschaftlich geführten Wissensund Technologiedebatten in der Nachkriegszeit an. Zwischen 1960 und -80 sei das gesellschaftliche und ökonomische Vertrauen in die professionelle Expertise von Berufsfachkräften zunehmend verloren gegangen zugunsten einer massiven Förderung und Wertschätzung 21 Polanyi: Implizites Wissen, S. 75. Vgl. dazu ders.: Personal Knowledge, S. 237—245. 22 Polanyi: Personal Knowledge, S. 237. 23 Polanyi: Implizites Wissen, S. 11. 24 Ebd., S. 24. 25 Schön: The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action, Klappentext.
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von wissenschaftlich-technischem Wissen, so seine Diagnose.26 Tatsächlich wurde in den 1960er Jahren erstmals explizit von einer »Wissensgesellschaft« gesprochen.27 Im Zentrum der gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit der Nachkriegszeit standen die Expansion staatlicher und industrieller Forschungsaktivitäten, die Zunahme wissensbasierter Wirtschaftsaktivitäten sowie die Ausweitung einer vermeintlich neuen Klasse professionalisierter und technisch qualifizierter »Wissensarbeiter«. Daniel Bell zeichnet 1973 in seiner Studie »The Coming of Post-Industrial Society« das Bild einer nachindustriellen Gesellschaft, die sich durch die zentrale Stellung von theoretischem Wissen sowie durch eine zunehmende Wissenschaftsabhängigkeit des technologischen Wandels charakterisiert.28 Unter diesen Vorzeichen galt fachberufliches, praktisches Wissen in der Regel als wissenschaftlich unzureichend, methodisch unsystematisch, willkürlich oder ineffizient.29 Schön kritisiert diese vorherrschende Beschreibung einer rein wissenschaftsbasierten »technischen Rationalität«, also die Vorstellung, dass wissenschaftliches (oder verwissenschaftlichtes) Wissen praktischem Handeln und Erfahrungswissen überlegen sei.30 In seiner Studie konstatiert er vielmehr einen eklatanten Mangel an theoretisch fundierten Zugängen, die zu erhellen im Stande seien, wie kompetente Berufsfachleute – beispielsweise Therapeuten, Ärzte, Ingenieure, Designer, Stadtplaner oder Manager – im Rahmen ihrer Praxis nützliches Wissen generierten beziehungsweise ihre Praxis erkenntnisfördernd und gewinnbringend reflektierten: We are in need of inquiry into the epistemology of practice. What is the kind of knowing in which competent practitioners engage? How is professional knowing like and unlike the kinds of knowledge presented in academic textbooks, scientific papers, and learned journals? In what sense, if any, is there intellectual rigor in professional practice?31
Als einen Grund, weshalb sich praktisches Wissen wissenschaftlichen sowie technisch-rationalistischen Beschreibungsmodellen entzieht, nennt er den Umstand, dass praktisches Handeln verglichen mit dem 26 Ebd., S. 9. 27 Der Begriff »knowledgeable society« findet sich erstmals 1966 in: Lane, Robert: »The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society«, in: American Sociological Review, Heft 31 (1966), S. 649—662. 28 Bell, Daniel: The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973. 29 Schön: The Reflective Practitioner, S. 39. 30 Ebd., S. 37ff. 31 Ebd., S. Viii.
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Selbstverständnis von positivistisch evaluiertem, wissenschaftlichem Handeln oft weniger Methodenstrenge und Zielgerichtetheit aufweise, dafür öfters mit subjektiven Werturteilen und unsicheren Bewertungsgrundlagen zu tun habe.32 Als weitere Gründe führt er eine zunehmende Komplexität von gesellschaftspolitischen Anforderungen an Berufsfachleute an, eine Instabilität bezüglich professioneller Normen und eine Nichtwiederholbarkeit von praktischen Lösungsansätzen.33 All dies seien Aspekte, die praktisches Handeln beträfen, so Schön, die aber aus dem Modell der technischen Rationalität mit seinen klar definierten Problemstellungen, Methoden und Zielsetzungen ausgeschlossen seien oder darin anders (nämlich als unzureichend) bewertet würden. Er schlug demhingegen vor, eine eigenständige Epistemologie der Praxis zu entwickeln, welche auch die praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten und die »intuitiven« Prozesse einschließt, mit denen gute Praktiker selbst unsichere, instabile, einmalige und konfliktreiche Situationen erfolgreich zu bewältigen vermögen.34 Den Schlüssel zu seiner Epistemologie der Praxis stellt die erfolgreiche Selbstreflexivität im Rahmen von praktischen Tätigkeiten dar, die sich allerdings selten im Medium der Sprache vollzieht. Bei der Durchführung von (vermeintlich) spontanen, intuitiven Handlungen im Alltag könne man oftmals nicht genau darüber Auskunft geben, was man wisse, so Schön. Dennoch sei anzunehmen, dass Wissen in unseren Handlungen sei. »Our knowing is ordinarily tacit, implicit in our patterns of action and in our feel for the stuff with which we are dealing. It seems right so say that our knowing is in our action.«35 Professionelle Praktiker dächten oft über ihr Tun nach, bisweilen sogar während der eigentlichen Ausübung einer Tätigkeit. Entsprechend lautet Schöns Kernaussage zum impliziten Wissen von Praktikern: »It is this entire process of reflection-in-action which is central to the ›art‹ by which practitioners sometimes deal well with situations.«36 Er führt weiter aus: When someone reflects-in-action, he becomes a researcher in the practice context. He is not dependent on the categories of established theory and technique, but constructs a new theory of the unique case. […] He does not separate thinking from doing […], reflection-in-action
32 Ebd., S. 45ff. 33 Ebd., S. 39. 34 Ebd., S. 49. 35 Ebd., S. 49. Kursivsetzung im Original. 36 Ebd., S. 50.
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can proceed, even in situations of uncertainty or uniqueness, because it is not bound by the dichotomies of Technical Rationality.37
Hier wird nahegelegt, dass Theoriebildung dem praktischen Tun weder vorgängig noch nachfolgend sei, sondern dass beide Modi bei der Wissensgenerierung miteinander verschränkt seien – und mehr noch, dass Herstellen und Machen als eigenständiger Reflexionsmodus zu bewerten sei. Die Idee, dass in unserem Tun Wissen sei – »making is thinking« – stellte unlängst auch für Richard Sennett die zentrale Prämisse seines Buches über das Handwerk dar.38 In einer zentralen Stelle in »The Reflective Practitioner« bezeichnet Schön Design als eine »conversation with the materials of a situation«39. Er versucht, jene interaktiven, materialbasierten Prozesse zu beschreiben, mit denen Designerinnen und Designer in konkreten Problemlösungssituation konfrontiert sind: A designer makes things. Sometimes he makes the final product; more often, he makes a representation – a plan, program, or image – of an artifact to be constructed by others. He works in particular situations, uses particular materials, and employs a distinctive medium and language. Typically, his making process is complex. […] He shapes the situation, in accordance, with his initial appreciation of it, the situation »talks back«, and he responds to the situation’s back-talk. In a good process of design, this conversation with the situation is reflective.40
Doch dieses gestalterische Reflexionsvermögen ist in Schöns Augen nicht bei allen Designpraktizierenden gleich ausgeprägt, sondern hängt maßgeblich von individuellen Zugängen und normativen Prägungen ab, etwa durch eine bestimmte Ausbildung oder stilistische Vorbilder.41 Damit akzentuiert er die historisch-kulturelle Dimension von Designpraktiken und grenzt sich zugleich von generalistischen, verallgemeinernden Designtheorien ab, wie sie in den 1960er Jahren populär waren (und es noch heute sind): »Herbert Simon and others have suggested that all occupations engaged in converting actual to preferred situations are concerned with design. Increasingly there has been a tendency to think of policies, institutions, and behavior 37 Ebd., S. 68f. 38 Vgl. Sennett, Richard: The Craftsman, New Haven 2008. 39 Schön: The Reflective Practitioner, S. 78. 40 Ebd., S. 78f. 41 Ebd., S. 103.
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itself, as objects of design.«42 Schön stand der Frage, wie weit beziehungsweise wie allgemein Design gefasst werden sollte, interessiert, aber kritisch gegenüber. Bei einem zu weiten, allgemeingültigen Designverständnis sah er die Gefahr, dass relevante Differenzen zwischen unterschiedlichen Medien, Kontexten, Zielen und Wissensbeständen unterschätzt oder sogar ignoriert würden. Anders gesagt, war er zwar an einem impliziten Wissensmodell interessiert, das den spezifischen Praxissituationen gerecht wird. Dabei strebte er jedoch nicht nach einer allgemeinen Theorie der (Design-)Praxis, die zulasten der Beschreibung von konkreten soziokulturellen Praktiken sowie konkreten historischen Kontexten gehen sollte. Das Konzept des »reflective practitioner« und der »reflection-inaction« liefert vielen Designforschenden bis heute eine willkommene theoretische Basis, um das Format einer praxisgeleiteten Designforschung zu fundieren. Schön thematisiert in seiner Studie eine Vielzahl von Aspekten und Fragen, die auch für die gegenwärtige praxisgeleitete Designforschung virulent sind. So stellte bereits er die Frage, ob ein reflektiertes praktisches Vorgehen als ›Forschung‹ bezeichnet werden könne. Er kommt zum Schluss: Clearly, then, when we reject the traditional view of professional knowledge, recognizing that practitioners may become reflective researchers in situations of uncertainty, instability, uniqueness, and conflict, we have recast the relationship between research and practice. For on this perspective research is an activity of practitioners.43
Doch obwohl er praktischem Handeln ein eigenes Forschungs- beziehungsweise Erkenntnispotenzial zusprach, hielt er doch die Grenze zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktischem Wissen aufrecht. In einem wissenschaftlichen Sinne könne nicht von einem Austausch zwischen Forschung und Praxis oder von einer Implementierung praktischer Forschungsresultate gesprochen werden, da das Experimentieren in einer praktischen Situation diese immer auch verändere, so Schöns Argumentation.44 Seiner Ansicht nach erhält praxisgeleitete Forschung ihre Legitimation vornehmlich durch ihre Relevanz für die Praxis, das heißt für die jeweilige Profession und das jeweilige Berufsfeld, nicht aber hinsichtlich eigenständiger wissenschaftlicher Erkenntnisse. Für diese sah er nach wie vor die wissenschaftlichen Disziplinen und Methoden als zuständig an. 42 Ebd., S. 77. 43 Ebd., S. 308. 44 Ebd., S. 308f.
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Im Anschluss an und über die Aussagen von Schön hinausgehend, wird auch für die Designforschung gegenwärtig postuliert, dass diese ein für die Designpraxis relevantes Wissen produzieren solle, das aber – in Abgrenzung zu Schön – zugleich wissenschaftlichen Kriterien und Standards genügen müsse. Alain Findeli schlägt beispielsweise eine projektgeleitete Forschung durch Design (»research through design«) vor, die sowohl wissenschaftlich anerkannt als auch für die Designpraxis produktiv sein solle. Idealerweise solle diese Forschung im Rahmen eines Designprojekts situiert und partizipatorischer Art sein. 45 Des Weiteren wird im Anschluss an Schön argumentiert, Designforschung unterscheide sich von wissenschaftlicher Forschung dadurch, dass sich ihre Rahmenbedingungen fortlaufend, das heißt noch während des Forschungsverlaufs, veränderten.46 Diese Annahme mag zwar zutreffend sein – sie gilt jedoch nicht einzig für die Designforschung. Sie kann beispielsweise auch für die experimentelle Forschung in den Naturwissenschaften geltend gemacht werden, wie der Epistemologe Ludwik Fleck bereits um 1930 argumentierte: »Denn Erkennen ist weder passive Kontemplation, noch Erwerb einzig möglicher Einsicht im fertig Gegebenen. Es ist ein tätiges, lebendiges Beziehungseingehen, ein Umformen und Umgeformtwerden, kurz ein Schaffen.«47 Problematisiert wird zudem eine unbedarfte Adaptation von Schöns Thesen für die Belange der praxisgeleiteten Designforschung. So warnt etwa James Elkins davor, dass eine naive Privilegierung der Begriffe »Praxis«, »Intuition« und »Kreativität« den Begriff der »Forschung« überstrapazieren könnten.48 Überhaupt stellt sich die Frage, ob eine Designforschung, die auf einer oppositionären Dichotomie von Praxis versus Theorie oder Design versus Wissenschaft aufbaut, noch zeitgemäß sein kann – oder ob nicht gerade die zumindest zeitweilige Suspendierung dieser Dichotomie produktiv wäre. Zumal ebendiese von Seiten der Kultur- und Wissenschaftsforschung seit einiger Zeit schon in Frage gestellt und im Zuge dessen die prakti45 Vgl. etwa Findeli, Alain: »Die projektgeleitete Forschung: Eine Methode der Designforschung«, in: Swiss Design Network (Hg.): Erstes Design Forschungssymposium, Zürich 2004, S. 40—51. 46 In diesem Sinne etwa bei Jonas, Wolfgang: »Forschung durch Design«, in: Swiss Design Network (Hg.): Erstes Design Forschungssymposium, Zürich 2004, S. 26—33, hier S. 30. 47 Fleck, Ludwik: »Zur Krise der ›Wirklichkeit‹«, in: Die Naturwissenschaften, Heft 17 (1929), S. 425—430, hier S. 425. Zit. nach Rheinberger, Hans-Jörg: Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a.M. 2006, S. 28. 48 Elkins, James: »On Beyond Research and New Knowledge«, in ders: James Elkins (Hg.): Artists with PhDs. On the new Doktoral Degree in Studio Art, Washington 2009, S. 111—134, hier S. 113.
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sche Dimension von wissenschaftlicher Wissensproduktion intensiv beleuchtet wurde und wird.49
Zur sozialen Struktur von implizitem Wissen Obwohl das Konzept des impliziten Wissens in der Designforschung einen wichtigen Stellenwert einnimmt,50 wird nur selten thematisiert, inwiefern das Phänomen, »daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«, auch als ein Effekt sozialer Prägung und Habitualisierung verstanden werden kann. Implizites Wissen ist in dieser Lesart nicht bloß als eine persönliche Form von eingeübtem, verinnerlichtem Wissen und Können zu verstehen, sondern zeigt sich als ein sowohl individuell verinnerlichtes, als auch durch kollektiv perpetuierte Normen, Werte und Traditionen geprägtes Wissen. An den Begriffen »Expertise« und »Connoisseurship«, die mit dem Konzept des impliziten Wissens oft in Verbindung gebracht werden, lässt sich dieser Effekt vielleicht am besten diskutieren. Bereits Polanyi stellte einen unmittelbaren Bezug zwischen implizitem Wissen, Expertise und Connoisseurship her.51 In aktuellen Texten zur praxisgeleiteten Designforschung wird dieser Bezug aufgegriffen, aber nur selten hinsichtlich der sozialen Dimension von Wissen diskutiert. Stattdessen steht der vermeintlich »professionelle« Aspekt einer eingeübten praktischen Kennerschaft im Vordergrund und wird als solcher isoliert betrachtet – also losgelöst von den sozialen Rahmenbedingungen, in denen Kennerschaft überhaupt erst erlernt und vermittelt wird. So schreibt etwa Kristina Niedderer: »Tacit knowledge is an important requirement for achieving best results in research and practice, which is associated with expertise and connoisseurship.«52 Sie hält weiter fest: »Connoisseurship […] is referring to an ability for very fine (qualitative) discrimination that is (usually) beyond scientific measurement and that is acquired through extensive training.«53 Sie führt die Beziehung zwischen Designpraxis, implizitem Wissen, Expertise und Connoisseurship nicht 49 Vgl. Latour, Bruno: Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge Mass. 1988 sowie Schatzki, Theodore et al.: The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001. 50 Zum Beispiel Rust, Chris: »Design Enquiry: Tacit Knowledge and Invention in Science«, in: Design Issues 20 (2004), S. 76—85. 51 Polanyi: Personal Knowledge, S. 54f. Vgl. auch zur Kritik der feministischen Kunstgeschichte an diesem Begriff bei Pollock, Griselda: Differencing the Canon. Feminism and the Writing of Art’s Histories, London 1999, S. 13ff., hier S. 136. 52 Niedderer, Kristina: »Mapping the Meaning of Knowledge in Design Research«, in: Design Research Quarterly. Design Research Society 2 (2007), S. 1—13, hier S. 6. 53 Niedderer: Mapping the Meaning of Knowledge in Design Research, S. 6.
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näher aus, ihr Text suggeriert aber, dass sich diese Phänomene in der Designforschung irgendwie überlagern und sich als »Wissenskomponenten« bedingen. Dabei unterlässt sie es jedoch, Expertise und Connoisseurship als Konzepte selbst in Frage zu stellen und sie hinsichtlich einer möglicherweise naiven Verwendung zu problematisieren. Um darzulegen, in welcher Weise Expertise und Connoisseurship mit der Habitualisierung und Perpetuierung sozialer Normen, Werte und Traditionen in Verbindung stehen, kann erneut auf Polanyi Bezug genommen werden. Dieser hielt fest, dass Connoisseurship, wie viele andere praktische Kompetenzen, nur durch Beispiele, nicht aber durch Regeln kommuniziert werden könne.54 An anderer Stelle wird Connoisseurship als »Kennerblick« beschrieben, der simultan auf eine Vielzahl nuancierter, an sich unbeschreibbarer Einzelheiten und Qualitätsmerkmale achte und von diesem Eindruck auf ähnliche, bereits erlebte, aber nicht bewusst präsente Fälle zurückschließen könne.55 Im Ergebnis sehe der Experte, so Polanyi, ein reiches Panorama »charakteristischer Physiognomien«, wo das Auge des Laien nichts sehe, das von Bedeutung wäre.56 Als Beispiel für einen solchen Kennerblick nannte er die diagnostische Kompetenz von Ärzten, die bereits aus dem Gesichtsausdruck eines Patienten auf eine mögliche Krankheit zu schließen vermögen: »The medical diagnostician skill is much an art of doing as it is an art of knowing«.57 Derselbe Kennerblick kann auch Kunst- und Weinkennern, Meteorologen, Seeleuten oder Botanikern zugeschrieben werden und in gewisser Weise attestierte Polanyi sogar Wissenschaftlern ein antizipatorisches Vermögen für relevante wissenschaftliche Fragestellungen.58 Ein wesentlicher Aspekt bei der Analyse von Expertise und Connoisseurship ist der Umstand, dass eine »Erziehung zum Können« in der Regel in der Begegnung mit »Könnern« und in »Expertenkulturen« stattfindet.59 Ein solches Lehr-Lern-Verhältnis ist insbesondere dort zentral, wo durch Nachahmung selbst Erfahrung erlangt werden soll. Auch Designerinnen und Designer lernen vornehmlich durch Nachahmung. Bekanntlich findet die Designausbildung bis heute vorzugsweise in einer praxisnahen, atelierähnlichen Ausbildungssituation statt und realisiert sich vielfach (im weitesten Sinne) nach dem Vor-
54 Polanyi: Personal Knowledge, S. 54. 55 Vgl. Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen, S. 176f. 56 Polanyi, Michael: »Skills and Connoisseurship«, in: Fátima Silva (Hg.): Atti del Congresso di Metodologia, Turin 1952, S. 381—395, hier S. 393. 57 Polanyi: Personal Knowledge, S. 54. 58 Polanyi: Implizites Wissen, S. 28f. 59 Vgl. dazu Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen, S. 378.
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bild einer Meister-Lehrlings-Beziehung.60 Die Vermittlung von »Expertise« und »Connoisseurship« kann aber, wie oben bereits angedeutet, nach Polanyi kaum durch verbalisierte Regeln kommuniziert werden, sondern muss anhand von Beispielen exerziert werden: »An art which cannot be specified in detail cannot be transmitted by prescription, since no prescription for it exists. It can be passed only by example from master to apprentice«.61 Diese Form der Vermittlung gelingt allerdings nur zum Preis einer zunächst unkritischen Imitation bestehender (lokaler) Traditionen und Autoritäten eines Faches: »To learn by example is to submit to authority. You follow your master because you trust his manner of doing things even when you cannot analyse and account in detail for effectiveness«.62 Doch nicht nur der Lehrling übergibt sich »blindlings« der Autorität seines Meisters, sondern dieser folgt selbst gewissen Regeln, die er als solche nicht immer explizit benennen kann. By watching the master and emulating his efforts in the presence of his example, the apprentice unconsciously picks up the rules of the art, including those which are not explicitly known to the master himself. These hidden rules can be assimilated only by a person who surrenders himself to that extend uncritically to the imitation of another.63
Polanyi folgert daraus, dass eine Gesellschaft, die einen Fundus an persönlichem, implizitem Wissen bewahren wolle, sich zur Tradition bekennen müsse.64 In seinen Texten finden sich bezeichnenderweise immer wieder Passagen, in denen er die Bedeutung von Tradition und Autorität im Sinne einer impliziten Prägung, Strukturierung oder Rahmung von Wissen (sowohl von praktischen Kompetenzen als auch von wissenschaftlichem Wissen) bespricht.65 Er selbst strebte in bisweilen paradoxer Weise danach, sowohl Traditionen und Wertesysteme zu erhalten als auch jene stillschweigenden Grenzen von Wissen aufzuzeigen, die sich beim Erwerb und der Vermittlung von Wissen in Form von tradierten Wertvorstellungen manifestieren und welche im Rahmen von autoritativen Verhältnissen perpetuiert wer60 Vgl. zur Kunstausbildung Bippus, Elke: »Kurzer Abriß einer Geschichte der Akademien«, in: Elke Bippus/Michael Glasmeier (Hg.): Künstler in der Lehre. Texte von Ad Reinhardt bis Ulrike Grossarth, Hamburg 2007, S. 297—328. 61 Polanyi: Personal Knowledge, S. 53. 62 Ebd., S. 53. 63 Ebd., S. 53. 64 Ebd., S. 53. 65 Vgl. Polanyi: Implizites Wissen, S. 30, S. 65—84; ders.: Personal Knowledge, S. 53f, S. 299—324.
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den. Dazu führt er an: »Die schöpferischen Kräfte des Menschen können neue Werte nur stillschweigend, implizit hervorbringen; wir können ein neues Wertesystem nicht ausdrücklich wählen, sondern müssen ihm gehorchen, auch wenn wir es zu schaffen oder bewußt zu übernehmen scheinen«.66
Implizites Wissen und soziale Habitualisierung Auf diese Einsicht in die soziale Begrenztheit individuellen Handelns schließt sich unmittelbar die Frage an nach den Bedingungen einer stabilen kollektiven Verankerung von Wertvorstellungen, Traditionen und Normen im individuellen menschlichen Denken und Handeln. Diese Frage wurde in besonderem Maße von Pierre Bourdieu bearbeitet. Seine Thesen diesbezüglich sind auch für eine kritische Bestimmung einer impliziten Wissensdimension im Design produktiv. Das Habitus-Konzept von Bourdieu67 weist zahlreiche Anknüpfungspunkte zu Polanyis Ausführungen zum impliziten Wissen auf, wenngleich Bourdieu sich im Endeffekt weniger am Fortbestand von Wertesystemen, sondern an der Entscheidungs- und Wahlfreiheit der Individuen interessiert zeigt. Ähnlich wie Polanyi, der die Dimensionen des impliziten Wissens auf verschiedenen, miteinander verschränkten Ebenen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns ansiedelt, geht auch Bourdieu davon aus, dass eine analytische Unterscheidung zwischen Wahrnehmen, Denken und Handeln nicht haltbar sei. Habitualisierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata verschränken sich seines Erachtens in individuellen Praktiken miteinander und wirken als implizite Strukturen, als »sozialer Sinn« beständig zusammen.68 Der Habitus ist als dauerhafte und umfassen-de, dennoch unbewusste und unreflektierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrix zu verstehen.69 Er ist nicht angeboren, sondern beruht auf erlernten individuellen und kollektiven Erfahrungen, die sich in einem Individuum als determinierende Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen. Von frühester Kindheit an bestimmen vorgegebene materielle und kulturelle Existenzbedingungen, soziale Klasse und Geschlecht die Grenzen individuellen Handelns, Wahrnehmens und Denkens. Bourdieu spricht 66 Polanyi: Implizites Wissen, S. 10. 67 Vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S. 97—121. 68 Vgl. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976, S. 139—202. 69 Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 169.
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diesbezüglich von einer »stillen Pädagogik«70. Die Genese des Habitus ist den Akteuren »unbewusst«, sie wird im Verlauf der Habitualisierung zu einer Selbstverständlichkeit, zu etwas als »natürlich« Erlebtem.71 Diese frühe und vor allem implizite Prägung führt laut Bourdieu dazu, dass Habitusformen sich zu Systemen dauerhafter Dispositionen entwickeln, zu »strukturierten Strukturen«, die ihrerseits wiederum als »strukturierende Strukturen« wirken, »als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Reprä-sentationen«.72 Entscheidend ist für Bourdieu die Annahme, dass sich der »soziale Sinn« in den menschlichen Körper einschreibt und dass vermittels habitualisierter Schemata auch die vorherrschende gesellschaftliche Ordnung in den Körper eingeschrieben wird: »Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.«73 Diesbezüglich spricht er auch von einer »Somatisierung« von Wissen: Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden durch Habitualisierung verinnerlicht und als »natürlich« angenommen (naturalisiert) und somit vergessen.74 Der Begriff des Habitus ist bei Bourdieu unauflöslich mit jenem des sozialen Feldes gekoppelt, erst in gemeinsamer Interaktion umreißen beide die Dimension der Praxis.75 Die Dialektik von Habitus (verstanden als »leibgewordene Geschichte«) und sozialem Feld (verstanden als »Ding gewordene Geschichte«) beruht auf der Annahme, dass Handeln stets in einem bestimmten Kontext stattfindet und von einer bestimmten Position aus agiert.76 Erst unter Einbezug der Position eines Akteurs in einem gesellschaftlich ausdifferenzierten Feld erhält Handlung Bedeutung, in der Wissenschaft ebenso wie in Politik, Religion, Kunst oder Design.77 Individuen werden in distinkte Felder hinein sozialisiert, und lernen, sich entsprechend der dort
70 Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 128. 71 Vgl. ebd., S. 128 sowie Schwingel, Markus: Bourdieu zur Einführung, Hamburg 2003 [1995], S. 68. 72 Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 164f. 73 Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 135. 74 Bourdieu, Pierre: »Die männliche Herrschaft«, in: Irene Dölling/Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M. 1997, S. 169. 75 Vgl. Schwingel: Bourdieu zur Einführung, S. 76. 76 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und »Klassen«. Frankfurt a.M. 1985, S. 69. 77 Bourdieu führte entsprechende Studien am Beispiel der akademischen Sozialisierung, der Genese des literarisch-künstlerischen Felds im neunzehnten Jahrhundert sowie des politischen und religiösen Feldes durch. Vgl. Bourdieu, Pierre: Homo Academicus, Frankfurt a.M. 1992 sowie ders.: Die Regeln der Kunst, Frankfurt a.M. 1998.
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geltenden »Spielregeln«78 und dem »symbolischen Kapital«79 angemessen zu verhalten. Anders als Handlungskonzepte, die den sozialen Akteuren ein rational abwägendes Verhalten unterstellen, betont das Habituskonzept »die Implizitheit, kurz: die Unreflektiertheit der alltäglichen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen«80. Soziale Felder bieten Akteuren zwar individuelle Handlungsmöglichkeiten, diese sind aber zugleich begrenzt, sie unterliegen bestimmten Zwängen und ihre habituelle Prägung bleibt den Akteuren oft unbewusst. Diese Beobachtung kann man für den Erwerb und die Vermittlung von Wissen beziehungsweise von Connoisseurship und Expertise in Design und Designforschung geltend machen. Designausbildung, -praxis und -forschung werden durch bestimmte implizite, praktische und soziale Regeln und Selbstverständnisse in einem distinkten Feld strukturiert, die durch Tradition und Autorität weitergegeben werden. Dies ist auch dann der Fall, wenn diese Weitergabe nicht kontinuierlich, sondern kontingent vonstattengeht und durch jede Generation erneuert und verändert wird. Oftmals bleiben nämlich genau jene Bestandteile des Wertediskurses im Design implizit, die an soziale Tradition und Autorität gebunden sind. Dies gilt etwa für die Bemessung von Qualitätskriterien im Design oder für die geschlechterspezifischen Ein- und Ausschlussverfahren in der Designausbildung und -praxis. Wie Polanyi wies auch Bourdieu auf eine gewisse strukturelle Determiniertheit menschlichen Handelns – und damit auch Wissens – hin. Der Habitus stellt für Bourdieu einen unausweichlichen Bestandteil einer individuellen Lebensgeschichte und Identität dar, dennoch erkannte er gerade im Wissen um dessen Grenzen und Determinanten einen Verhaltensspielraum, in dem Individuen selbstbestimmt agieren können: »So macht uns die Soziologie paradoxerweise frei, indem sie uns von der Illusion der Freiheit befreit.« 81 Anders als Polanyi suchte Bourdieu nicht nach einer neuen übergeordneten, sinnstiftenden Instanz oder Leiterzählung, sondern projektierte eine kollektiv unternommene Selbstermächtigung und -befreiung des Individuums. Mit Blick auf diese vielleicht illusionäre, dennoch mögliche Wahlfreiheit, bietet sich Bourdieus Habitus-Konzept als eine sozialwissenschaftliche Ergänzung zu Polanyis eher konservativer Sichtweise zum impliziten Wissen an.
78 Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 123. 79 Vgl. zum Konzept des »symbolischen Kapitals«: Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 205—221. 80 Schwingel: Bourdieu zur Einführung, S. 74. 81 Bourdieu, Pierre; Wacquant, Loïc: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S.80.
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Resümee Mit Blick auf das Gesagte kann der Umstand, »dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«, dahingehend lesbar gemacht werden, dass implizites Wissen auch in Design und Designforschung keine »natürliche« epistemische Qualität oder Dimension darstellt, sondern dass sich darin immer auch Effekte sozialer Habitualisierung manifestieren. Michael Meier hält fest, dass implizites praktisches Wissen erst dann als ein bestimmter Komplex des inkorporierten kulturellen Kapitals interpretiert werden könne, wenn man Bourdieus Konzept als Gesamtheit sämtlichen (sowohl impliziten als auch expliziten) Wissens begreife, das Handlungs- wie Bedeutungswissen, Schemata, Regeln und Skripte genauso wie Werte und Normen und auch Fähigkeiten, Kompetenzen und Fertigkeiten umfasse. 82 Überträgt man diese Deutung auf Designpraxis und Designforschung, dann ist auch hier davon auszugehen, dass soziale und kulturelle Determinanten es erlauben, aber eben auch erschweren oder sogar verunmöglichen, einen bestimmten Sachverhalt, eine Tätigkeit oder ein Wissen explizit zu benennen und darüber umfassend Auskunft zu geben. Damit soll nicht gesagt werden, dass theoretisch alles Wissen und Können verbalisierbar, quantifizierbar und formalisierbar ist, vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass es nicht evidenterweise einer »natürlichen« epistemischen Struktur von implizitem Wissen im Design geschuldet ist, wenn das Wissen von Designpraktikern »stumm« bleibt. In diesem Sinne schreibt auch Sennett in seinem Buch »Handwerk«, dass ein Großteil der Autorität von Meistern daher rühre, dass sie Dinge wüssten, die andere nicht wüssten, und dass sich diese Autorität im Schweigen zeige.83 Es zeigt sich, dass die Grenzen des Sagbaren von Individuen nur schwer als solche identifiziert werden können, da gewisse gesellschaftliche Ordnungen durch Habitualisierung »einverleibt« sind, da die Regulationsmechanismen eines Diskurses meist unausgesprochen und als solche unerkannt vollzogen und perpetuiert werden. Auf diesen Mechanismus hat vor allem Michel Foucault wiederholt hingewiesen. Folgt man Foucault, dann werden Diskurse durch gewisse Tabus und Sprechverbote domestiziert, die daran zu erkennen seien, »daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder 82 Meier, Michael: »Bourdieus Theorie der Praxis – Eine ›Theorie sozialer Praktiken‹?«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S 55—69, hier S. 66. 83 Sennett, Richard: Handwerk, Berlin 2008, S. 109.
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Beliebige über alles Beliebige reden kann«84. Er trifft diese Aussage zwar mit Blick auf das Sprechen über Vernunft und Wahrheit, dennoch können damit auch Debatten zu Expertise und Connoisseurship, überhaupt zur Wissenskultur im Design mit Blick auf die ihnen immanenten Sprechverbote und Tabus kritisch befragt werden. Zu fragen wäre etwa, wie Geschlechterkonstruktionen und damit verbundene Ein- und Ausschlussverfahren sich im Feld des Designs durch die unterschiedliche Bewertung und Sichtbarkeit von »männlich« oder »weiblich« konnotierten Praktiken etablieren konnten.85 »Geschlecht« ist hier als eine hegemoniale Wissenskategorie zu denken. Auch mit den Begriffen »Expertise« und »Connoisseurship« sind zweifellos hegemoniale Wertediskurse verbunden, mittels derer Sinn und damit auch Wissen auf eine soziale Weise produziert und reproduziert wird.86 Für Wissensbestimmungen in Design und Designforschung kann geltend gemacht werden, dass eine Sensibilität für den sozialen Charakter und die soziale Dimension von Wissen unerlässlich scheint, wenn man eine positivistische Verkürzung oder aber eine »romantizistische Verklärung«87 von implizitem Wissen vermeiden will. Dieses Vorgehen gilt insbesondere für den Umgang mit der eingangs zitierten Frage von David Pye nach der »essential nature of design«. Mit Blick auf die vorgängig diskutierte implizite Habitualisierung und Somatisierung von Wissen ist es angebracht, die oft als »natürlich« deklarierten, also naturalisierenden und essentialistischen Apriori des Designs kritisch zu hinterfragen. Essentialistische Designdefinitionen suggerieren, Design sei eine »von Natur« aus angeborene Fähigkeit oder ein »genuines« (beziehungsweise genialisches) Talent. Damit marginalisieren sie jedoch die vielfältigen Einflüsse, die unterschiedliche Designpraktiken maßgeblich prägen, und verschleiern den kulturellen Kontext und die sozialen Konventionen, die den Erwerb dieser 84 Foucault unterscheidet zwischen drei Arten von Verboten: dem Tabu des Gegenstandes, dem Ritual der Umstände und dem bevorzugten oder ausschließlichen Recht des sprechenden Subjekts. In: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 2003 [1991], S. 11. 85 Cheryl Buckley weist darauf hin, dass Frauen in Designbereichen, die als »männlich« gelten (beispielsweise im Industriedesign) weniger Erfolgsaussichten hätten und dass im Allgemeinen in der Geschichtsschreibung des Design die Rolle von Frauen ausgeblendet oder auf bestimmte Bereiche beschränkt würde. Vgl. Buckley, Cheryl: »Made in Patriarchy: Toward a Feminist Analysis of Women and Design«, in: Victor Margolin (Hg.): Design Discourse. History. Theory. Criticsm, Chicago/ London 1989, S. 251—262, hier S. 254. 86 Vgl. Robinson, Hillary: »Historical and Critical Practices. Introduction«, in: dies. (Hg.): Feminism-Art-Theory. An Anthology 1968—2000, Oxford et al. 2007, S. 162—166, hier S. 165. 87 Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen, S. 401.
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Praktiken erst ermöglichen. Laut Roland Barthes stützt sich »der Mythos von der conditio humana […] auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darin besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen«88. »Naturalisierung« bedeutet hier, dass soziale, von Menschen geschaffene Bedeutungen und Ordnungen als von »Natur« aus, oder als aus der »Natur« der Dinge heraus vorgegeben verstanden werden und als derart naturalisierte Befunde, als Mythen, die Geschichte prägen. So wird auf der Suche nach der spezifischen »Eigennatur« des Designs dieses bisweilen in prekärer Weise naturalisiert, indem es als »natural human ability«, als »essentially innate human capacity«89 oder als »one of the highest forms of human intelligence« beschrieben wird. 90 Designforschung wird im Zuge solcher Naturalisierungen an das zweifelhafte Ziel gekoppelt, »converting this highly developed natural intelligence into forms of artificial intelligence«. 91 Gerade weil das Modell einer »praxisgeleiteten Forschung«, einer Forschung durch Design, gegenwärtig in der Designforschung favorisiert wird, um die Belange der »Praktiker der Wissenserzeugung«92 besser zu adressieren, gilt der kritischen Befragung seiner Naturalisierungen und Essentialismen eine besondere Aufmerksamkeit. Der enge Nexus von Designpraxis und Designforschung zeigt möglicherweise eine Anfälligkeit dafür, dass durch ihn historisch tradierte und sozial normierte (Selbst-)Verständnisse von Design als »naturalisierte« Befunde in die Designforschung einfließen und dort unhinterfragt perpetuiert werden. So werden durch die kritiklose Annahme eines impliziten Wissens des Designs bestimmte historische Topoi des »genialen Künstlersubjekts« in die Gegenwart transportiert – so etwa die Annahme, Designer und Gestalter seien »von Natur« aus besonders empfänglich für intuitive und originelle Einfälle. Würde Design – wie dies Sennett für das Handwerk vorschlägt, als überwiegend erlernbare Expertise oder Kompetenz verstanden, dann würde dieser identitätsstiftende Topos womöglich obsolet. Dort wo die Begriffe von »Praxis« und »Forschung« sich verbinden und unscharf überlagern, ist es keineswegs unerheblich, was explizit, vielmehr aber noch implizit in der Geschichte des Designs als »gute«, »richtige« 88 Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 17. 89 Vgl. Salustri/Eng: Design as… : Thinking of what Design might be, S. 24f. 90 Cross, Nigel: »Natural Intelligence in Design«, in: Design Studies 20 (1999), S. 25—39, hier S. 31. 91 Cross: Natural Intelligence in Design, S. 31. 92 Gibbons, Michael et al.: The New Production of Knowledge: The Dynamics of Sciences and Research in Contemporary Societies, London 1994, S. 3. Übersetzung durch die Autorin.
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oder »gültige« Praxis bewertet wurde. Entsprechend gilt es heute in der Designforschung, solche Zuschreibungen bezüglich der Designpraxis als historische Wertediskurse kenntlich zu machen. Das Beharren darauf, gestalterische Praktiken selbst noch im Kontext von Forschung als »implizit« zu deklarieren, könnte sich ansonsten gegen einen transparent geführten Wissensdiskurs richten, der die kritische Analyse von Naturalisierungs- und Mythisierungsfiguren in Designdiskursen umgeht oder verweigert. Vielleicht sind es die tiefgehenden Veränderungen im Bereich des Designs selbst, die den hohen Stellenwert des Konzepts des impliziten Wissens in der Designforschung erklären können. Wissen und Forschung werden gegenwärtig als ebenso zeitgemäße wie zukunftsträchtige Schlüsselkonzepte für das Design gehandelt. Richard Buchanan zeichnet diesbezüglich einen historischen Wandel des Designs nach: Design began as a trade activity, closely connected to industrialization and the emergence of mass communication. After a period of time, professions began to emerge, with traditions of practice and conscious recognition of a distinct type of thinking and working that distinguished our profession from others. However, we are now witnessing the beginnings of the third era of design, marked by the emergence of design as a field or discipline.93
Maßgeblich angeleitet wird dieser Wandel von »Design als Produktivkraft«94 hin zu Design als (akademischer) Disziplin auch durch bildungspolitische Bestrebungen. Aktuell ist an die Bologna-Reform mit ihrem dreistufigen Ausbildungsmodell zu denken und an die Bestrebungen, Designforschung an den europäischen Kunsthochschulen zu etablieren. Die Durchsetzung und Etablierung einer »autonomen Praxis als wissenschaftliches Feld« geht indes nicht reibungsfrei vonstatten, sondern verlangt, so schreibt der Soziologe Franz Schultheis in Anlehnung an Bourdieu, ein hohes Maß an Disziplinierung ihrer Akteure und deren Praktiken sowie die Unterwerfung unter die Regeln des wissenschaftlichen Feldes. 95 Über eine institutionelle Dimension hinaus bedeute die »Disziplinierung« der Designpraxis zur Designforschung »die Durchsetzung eines strukturierten […] Habitus«, 93 Buchanan, Richard: »Education and Professional Practice in Design«, in: Design Issues 14 (1998), S. 63—66. 94 Selle, Gert: Geschichte des Designs in Deutschland, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 35. 95 Schultheis, Franz: »Disziplinierung des Designs«, in: Swiss Design Network (Hg.): Forschungslandschaften im Umfeld des Designs, Zürich 2005, S. 65—84, hier S. 67.
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der wiederum eine »Disziplinierung der Akteure und ihrer individuellen Manifestationen« zu bewirken vermöge, so Schultheis.96 Was folgt, ist die Rationalisierung beziehungsweise die systematische Strukturierung einer bis dahin nur implizit erfahrenen Praxis sowie ein Prozess ihrer »Entzauberung« (Max Weber).97 Dieses Moment der Entzauberung stellt einen zentralen Aspekt in den Debatten zur Designforschung und den darin verhandelten Potenzialen eines impliziten Wissens dar. Polanyis Konzeption des impliziten Wissens und damit auch verwandte Derivate wirken als holistische Epistemologien dieser Entzauberung entgegen, indem sie das Versprechen auf »Wiederverzauberung« und »Ganzheit« in sich tragen. Ein solch ganzheitlicher Zugang zu und Anspruch an Wissen mag heute aus vielerlei Gründen (wieder) sinnvoll scheinen. Sei es, um damit einer Überspezialisierung und Zersplitterung von Wissen entgegenzuwirken, oder um die wissenschaftliche Wissensproduktion und ihren gesellschaftlichen Anwendungskontext enger miteinander zu verschränken. Dennoch sind Konzeptionen einer impliziten Wissensdimension selbst nicht frei von »blinden Flecken«. Auch wurden und werden sie durch spezifische zeithistorische Wissensdebatten sowie durch gesellschaftliche (und ökonomische) Bedürfnisse geprägt. In der Nachkriegszeit, als der Ansatz Polanyis entstanden ist, waren dies etwa die Debatte um die separierten »zwei Kulturen« der Natur- und Geisteswissenschaften und das Bemühen, diese in einer sinnvollen Weise zu einer neuen Wissenskultur zu verbinden.98 Solche zeithistorischen Prägungen gilt es bei der Analyse von implizitem Wissen in Designtheorie und -forschung zu berücksichtigen. Insbesondere ist dies dort von Belang, wo nach der »essential nature of design«, dem ureigensten »Wesen« des Designs, gefragt wird. Wissen ist nicht als »selbständiger Stoff« zu verstehen, sondern als Wissen von etwas, als »kulturelle Repräsentationsform der Welt«99. Die soziale Dimension von Wissen im Design kann folglich kaum dadurch erhellt werden, dass Wissen, zumal implizites Wissen, voraussetzungslos als »natürliche« oder »autonome« Entität verstanden und für die Zwecke der Designforschung instrumentalisiert wird. Statt96 Schultheis: Disziplinierung des Designs, S. 79 97 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1995, S. 19. 98 Vgl. Snow, Charles P.: The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge 1959. 99 Nassehi, Armin: »Von der Wissensarbeit zum Wissensmanagement. Die Geschichte des Wissens ist die Erfolgsgeschichte der Moderne«, in: Christa Maar (Hg.): Weltwissen, Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, Köln 2000, S. 97—106, hier S. 99.
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dessen scheint eine Betrachtungsweise sinnvoll, die nach den kulturellen, institutionellen, politischen und sozialen Voraussetzungen, Rahmengebungen und Diskursen fragt, welche die Begriffe »Design« und »Wissen« überhaupt erst miteinander in Beziehung gebracht und dem Sprechen über das »Implizite« Raum gegeben haben.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
What Should be Done with the Different Versions of Research-Through-Design? Rosan Chow
Introduction Since the 1970s, designing to generate new knowledge and the potential thereof have been debated and investigated in different design domains in various countries. However, in my opinion, the most intense debates involving many domains and countries have happened in the establishment of design research as a formal institution, most notably doctoral education. Since the late 1990s, the international design community has fiercely debated Practice-Led Research or PLR (also known as Practice-Based Research) and Research-ThroughDesign (RTD). These perspectives assume that design practice and designing can generate new knowledge, perhaps even specific kinds of knowledge. Now, in 2010, more and more people are taking interest in and siding with these perspectives. Publications on the subject are popping up at almost every design conference. This development is exciting and shows that RTD has gained some legitimacy and currency. However, there are also »teething issues« because there seem to be different versions of RTD. Having different versions is certainly not in itself a problem and can even be an advantage. The problem is rather that we do not know how these versions relate to one another, and thus we are prevented from clear understanding when RTD is spoken of. Some versions based on the same arguments have different practices. Other versions share similar practices but have different theoretical underpinnings or different names. There is research that focuses on one particular model but overlooks, omits, or ignores the rest. Currently, the discourse on RTD is not only divergent but also confusing. The relations between the different models are opaque, and this opacity ought to be cleared if we are to move forward with RTD. The task now is not to debate whether design practice or designing generates knowledge, but rather to make explicitwhich positions, perspectives, or experiences of RTD promise us what. It is time to make an inventory. I have chosen three models that have been developed over the years by authors who are not new or occasional writers on the topic. I
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will compare and contrast these three models to gain some clarity and identify their individual strengths and difficulties. The end of this exercise is a map highlighting the models’ relations. With this map in hand, I will quickly navigate through some recent literature on RTD by other authors. I will examine if they fall within the map or if they present something different. This examination is therefore not only comparative but also synthetic. The aim is not to pigeonhole the various models, but rather to make them explicit so that we can engage them collectively. The first three models I will examine are Practice-Led Research (PLR), Project-Grounded Research ( PGR), and Research through Design (RtD).
Categories for Comparison To compare these models, ten categories are used. The first eight categories consider the elements of the research model relating to its substantive, methodological, and theoretical dimensions. The last two categories refer to the social context in which the models are constructed. One could increase or decrease the number of categories, but these ten are meaningful and manageable for the task at hand. In the following, the three models will be described in these terms: − − − − − − − − − −
Name: What is it called? Definition: How is it framed? Propositions: What does it claim? Subject matters: What does it investigate? Processes and methods: How does it investigate? Forms of knowledge generated: What is its outcome? Theoretical underpinnings: What are its assumptions and beliefs? Examples: How much is it realized? Goals: What is it aimed for? Background: What is the context in which it was developed?
Practice-Led Research Practice-Led Research1 (PLR) is »research in which the professional and/or creative practices of art, design or architecture play an instru1
In 2005, Rust and others on the commission of the Arts and Humanities Research Council reviewed the latest developments of PLR in art, design, and architecture. The review traces the background and development of PLR. It provides a good ›››
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mental part in an inquiry.«2 Practices here imply the creation of an artifact; thus the knowledge and ability to conceive and to make artistic, design, or architectural artifacts are an essential part of PLR. The definition makes very clear that practice serves as a means for research and is subservient to it. The creation of an artifact in PLR is not its goal, but rather the key to generating knowledge and understanding. It also means that the existing academic research model remains intact and practice forms a »logical step between research question and answer«; it must fit into and meet with established research structures, processes, methods, and evaluation criteria. The subject matters of PLR are the same as those dealt with by the traditional departments of the university. These are the fine arts, including the performing arts, crafts, design, and architecture. However, since design and architecture projects are often interdisciplinary by nature, the subject matter of PLR is broader and situated within the interaction between different domains and knowledge. Processes and methods are not explicitly articulated but illustrated implicitly through examples. Rust et al. have taken an important and necessary step in collecting examples of PLR. The researchers of PLR develop their own processes and methods as they practice it. It is claimed, though not elaborated, that PLR is able to generate a certain kind of knowledge that »disrupt[s] the status quo« and opens up new ways of understanding and dealing with the world. Although not as carefully articulated as one might expect, the theories on which PLR are based include Polanyi’s concept of »tacit knowing« and Ryle’s »knowing how«. In brief, these epistemologies focus on embodied knowing that stands in contrast to abstract and explicit knowledge such as theories. The followers of PLR believe that an artist, a designer, or an architect has acquired tacit knowing and know-how through practice which can and should be harvested for research purposes. The goals of PLR are not discussed very widely. In the discourse of PLR, the institutional change that took place in the UK in the 1990s is very noticeable.3 One can observe that much of the discourse surrounding PLR is more concerned with institutional requirements overview of the literature and, more importantly, a set of examples of PLR. Arguably, the review represents a British orientation to the subject matter, but it is the most authoritative one to date. In their review, Rust and others replaced Practice-Based Research with Practice-Led Research as the preferred label for this model. 2
Rust, Chris/Mottram, Judith/Till, Jeremy: »AHRC Research Review. Practice-Led Research in Art, Design and Architecture«, in: Arts & Humanities Research Council (2007), p. 11.
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In 1992 the Polytechnics in the UK, where most art and design schools are located, were granted university status. Granting PhDs and engaging in research became required activities for art and design schools.
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than theoretical underpinnings of the model. Some have realized this situation and initiated symposiums aiming at diverting the discourse from the institutional to the more fundamental.4
Project-Grounded Research Project-Grounded Research5 (PGR) is »a systematic search for and acquisition of knowledge related to general human ecology considered from a designerly way of thinking, i.e. project oriented perspective«6. The systematic search and acquisition of knowledge are general characteristics of research, thus what is special about PGR is that the research is considered from the perspective of a »designerly way of thinking«. More specifically, it is considered from a particular epistemological stance. Like others, Findeli sees that design thinking and knowing are diagnostic, projective, and geared toward change. The epistemological stance of design is therefore different from what is descriptive, explanatory, and predictive. Design knowing is pragmatist in nature in the sense that it is situated in a project. A project has a beginning and an end and is aimed for some extrinsic goal. A project implies practice and for PGR, it is design practice oriented toward future change. Findeli sees the design fields as dealing with ordinary everyday matters that concern many people. Design outcomes are in the fabric of human existence. The subject matter of PGR is therefore perceived as general human ecology and is not confined to disciplinary boundaries. Findeli claims that PGR is a hybrid of grounded theory and action research. Similar to grounded theory, PGR begins inquiry without clearly defined questions and hypotheses deduced from theories. It begins in the midst of a highly uncertain situation – a design project (or a wicked problem) – and it gains knowledge through iterative observation and theoretical reflections. PGR is similar to action research in that both approaches value »knowing« and »changing« the world. Therefore, PGR practitioners do not only observe (as in the case of grounded theory) but also intervene with a situation by using design. Findeli describes the general steps of 4
See the »Research into Practice« Symposiums initiated by Michael Biggs et al.
5 Findeli has replaced the term »Research-Through-Design« with »Project-Grounded Research«. It signifies a change in the conceptualization of his research model. 6
Findeli, Alain/Brouillet, Denis/Martin, Sophie/Moineau, Christopher/Tarrago, Richard: »Research Through Design and Transdisciplinarity: A Tentative Contribution to the Methodology of Design Research«, in: »Focused« Swiss Design Network Symposium (2008), Berne.
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PGR as »design question ››› research question ››› (design answer) ››› research answer«. In this outline, PGR begins with a design question, an uncertain situation that demands action. Through designing, observing, and reflecting, a research question is formulated, a design answer is produced, and knowledge is gained as a research answer. Findeli believes that PGR will produce both knowledge of and knowledge for design. Findeli states clearly that the theory underpinning PGR is American pragmatism, especially the form advanced by John Dewey. It is often thought that pragmatism maintains that we gain knowledge because we want to act or to achieve an end extrinsic to knowing. This is certainly a part of the philosophy, but more importantly, central to Dewey’s pragmatist philosophy is the notion that action must be performed to gain knowledge. Reflecting and acting inform one another and both are necessary for knowing to take place.7 I believe it is this latter aspect that underpins PGR. Examples of PGR are scanty, but an example can be found in Findeli et al.8 For Findeli, the goal of PGR is to establish design research as a knowledge-generating discipline in a way that is congruent with the essence of design: the project. The schism between research and practice has been known for a long time in other fields: On the one hand, practitioners find much knowledge generated by research irrelevant to their practice. On the other hand, knowledge produced by practitioners often does not fulfil rigorous academic standards. To overcome these problems, Findeli proposes PGR as a way forward: it will produce both relevant and trustworthy knowledge of and knowledge for design. Ideally, PGR will contribute to a body of knowledge and inform practice and education. Furthermore, stakeholders affected by design research should also appreciate its outcomes.
Research through Design I have not found a published definition of Researcht hrough Design (RtD) according to Jonas,9 but the following describes the position he holds: »The scientific paradigm has to be embedded into the design 7
Dewey, John: The Quest for Certainty: A Study of the Relation between Knowledge and Action, New York: Minton Balch 1929.
8 Findeli/Brouillet/Martin/Moineau/Tarrago: Research Through Design and Transdisciplinarity. 9
In an unpublished manuscript, Jonas has suggested that »Research THROUGH design means the reflected, purposive and playful use of observer positions during the design process.«
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paradigm: research is guided through design process logic; and design is supported/driven by phases of scientific research and inquiry.«10 Jonas sees »design« as the basis for how humans make their world. It is the basis not only for constructing practical or fine arts, but also scientific facts. Siding with Glanville,11 he proposes that scientific processes are only a particular kind of designing; they are more controlled and dedicated to a singular or confined subject matter. He suggests that design researchers should not follow the scientific research model because it is a limited one. Rather, we should take designing itself as the basis for research. Designing includes three major domains of knowing: analytical, projective, and synthetic. The sciences champion analytical knowing, the arts privilege projective knowing, and design represents synthetic knowing. RtD includes all three.12 Jonas also maintains that the sciences, as a result of modernist disciplinary differentiation, have lost the potential to improve human conditions in highly complex situations. In contrast, design has never been modern and has thus retained the capacity to integrate incoherent chunks of knowledge or to fill knowledge gaps. RtD might become an epistemological and methodological model for the so-called Mode-2 Science – a new type of transdiscipline.13 Jonas does not state the subject matter of RtD but mentions that it is concerned with the question of how we want to live. In brief, RtD deals with all domains of human activity. Jonas has developed an elaborate model of design that is composed of a macro process (analysis, projection, synthesis) with each phase containing a micro process (observe, reflect, plan, and act). Each micro step has a set of methods that have been collected from the fields of business, engineering, and design. Even a tool has been developed to support the design (research) efforts.14 RtD produces both knowledge of and knowledge for design.
10 Jonas, Wolfgang: »Research through DESIGN through Research: A Cybernetic Model of Designing Design Foundation«, in: Kybernetes 36 (2007), pp. 1362—1380. 11 Glanville, Ranulph: »Researching Design and Designing Research«, in: Design Issues 15 (1999), pp. 80—91. 12 Jonas: Research through DESIGN through Research. 13 Jonas, Wolfgang: »Design Research and its Meaning to the Methodological Development of the Discipline«, in: Michel, Design Research Now (2007), pp. 187—206. 14 Chow, Rosan/Jonas, Wolfgang: »Beyond Dualisms in Methodology. An Integrative Design Research Medium ›MAPS‹ and some Reflections«, in: DRS 2008 Conference »Undisciplined« (2008), Sheffield, UK.
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What Should be Done with the Different Versions of RTD
The theories that inform Jonas’s thoughts are evolutionary epistemology, cybernetics, and systems theory. Although termed in different jargons, these perspectives are similar to pragmatism in the assumption that knowing arises from problematic situations of interacting with the world. One constructs knowledge to deal with living. One is always situated in a specific context where s/he can gain knowledge. According to Jonas, RtD must be the model for design research if design is to establish itself as a knowledge-generating discipline. For Jonas, design is concerned with things that do not yet exist – the question, of course, is if it does not exist, how can we know it? This philosophical question carries major implications for establishing a suitable paradigm of design research. Jonas’s conclusion is that design is the basis.
Comparison and Contrast These three research models are all based on the belief that designing is a way of knowing and this way of knowing ought to be used in and for research. Their theoretical underpinnings are related and not contradictory. However, the goals of these models are different and so are their concerns and orientations. Although Practice-Led Research, like Project-Grounded Research, claims design practice as a means for research, it does not share the goal of establishing design as an independent discipline. In comparison to PGR and RtD, PLR has less clearly articulated its processes and theoretical underpinnings. PLR fundamentally addresses methodological issues and offers an answer to the question of how to fit creative practices into traditional research processes, a question triggered by institutional demands. PLR has by far the most practitioners, although many of the projects based on PLR are still in progress and some might have quality issues. In my view, these examples are very important in legitimizing PLR. They contribute to making the discourse on Research-Through-Design more concrete and to this PGR and RtD have yet to contribute. PLR offers those trained in design a legitimate way to make use of their design competences (as tacit knowledge) for the purpose of research and to make the transition to research more meaningful and continuous. Reflecting on and evaluating the practice of PLR seem to be the next challenge for the followers of this model. PGR aims to establish design as an independent discipline that overcomes the schism between research and practice. It draws on grounded theory and action research and is articulated in a language
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that is quite current in some sectors and thus it is easier to understand and be accepted. It offers a theoretically and methodologically sound model to address the question »How can (design) projects be combined with traditional research in a way that produces both relevant and trustworthy knowledge?« In my view, although PGR is claimed to be a method, it holds promise as a research strategy. Design practice is not subservient but a strategic partner in research. PGR can only achieve its promise if it is practiced on a large scale. Successful realization of the model is still up for grabs. From this perspective, those who have the resources and chances of mobilizing the collective, such as research institutions and PhD programs, have the best position to take advantage of and experiment with this model as a programmatic approach to design research. In my opinion, RtD is the most theoretically elaborate and most ambitious proposal among the three research models. RtD might appear similar to the other two models, but its agenda is fundamentally different. Design is not a means or a partner of research, it is the basis for research. Design practice is not to be put in or combined with existing research practice, but instead scientific and interpretive ways of knowing are incorporated into RtD. RtD aims to become the paradigm of research and is concerned with the question of how to make design the paradigm of knowing. Despite the strong arguments for RtD, its radical goal and bold propositions would likely invite serious scepticism from within and without design, especially given the prestigious status science holds on knowledge production and design’s newcomer status. Given its radicalism, much effort, time, and dedication would be necessary to realize this model. RtD offers ambitious researchers a model to follow but demands much in return.
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What Should be Done with the Different Versions of RTD Name
Practice-Led Research (PLR)
Project-Grounded Research (PGR)
ResearchthroughDesign (RtD)
Definition
»Research in which the professional and/or creative practices of art, design or architecture play an instrumental part in an inquiry«
»Design research is a systematic search for and acquisition of knowledge related to general human ecology considered from a designerly way of thinking, i.e. project oriented perspective«
Unspecified. (see footnote 5)
Propositions
Practice as a means and as a logical step between research questions and answers.
Practice as a means. Epistemological stance: change, diagnostic, prescriptive-projective. Pragmatization of knowledge.
Design is the basis. Science must be embedded in RtD.
Subject Matters
Fine arts, design, architecture
General human ecology
Unspecified. (Perhaps »our lives«)
Processes & Unspecified. Methods (Demonstrated by examples)
Design Questions Research Questions (Design Answers) Research Answer Action Research. Grounded Theory.
Macro process (analysis, projection, synthesis) and micro process (observe, reflect, plan, and act). More than 200 methods and counting.
Forms of Knowledge
Unspecified.
Situated knowledge. Knowledge for creation Knowledge for and of objects about design. Relevant and trustworthy.
Theoretical Underpinnings
Unspecified. Perhaps Polanyi’s “tacit knowing.”
Pragmatism
Evolutionary epistemology, cybernetics, systems theory
Examples
Some completed and many in progress
Scanty.
Scanty.
Goals
Unspecified. (Practice to disrupt the status quo)
Establish design as a knowledge-creating discipline.
Establish design as a knowledge-creating discipline.
Background
Institutional change
Practical problem
Theoretical drive
Main Question
How can creative practice be fit into traditional research processes?
How can design projects be combined with traditional research?
How can design be made the paradigm of knowing?
Role
Design as means
Design as means and partner
Design as basis
Concern
Methodological concern
Strategic concern
Paradigmatic concern
Tab. 1: Comparisons of PLR, PGR, and RtD.
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Rosan Chow
Examining other RTDs According to my interpretation, in Practice-Led Research design practice is a methodological means for research. Project-Grounded Research employs design as a means and a partner in research on a strategic level. Research through Design takes design as the basis for research and offers a paradig matic model for research. After mapping PLR, PGR, and RtD, I examined works by other authors and found more versions of RTD. Space will not allow detailed explication here, but briefly, the following are also claimed to be RTD: 1 Designing products and testing them systematically.15 2 Conceptualizing and prototyping products iteratively.16 3 Designing and investigating new materials for products in ways that meet academic research standards.17 4 Design that meets very high but adjusted academic research standards.18 5 Design on a meta-level.19 6 Designing artifacts as instruments for experimental research.20 There are differences not only in what these authors mean by RTD but also in the clarity and depth of their articulations. Cases 1 and 2 are very different from the models Rust, Findeli, or Jonas propose. Cases 3, 4, and 5 appear to treat design practice as research, and this is a very different approach from PLR and PGR. These cases are similar to RtD in that designing is assumed to be the basis for research. However, whereas in RtD both theoretical knowledge and practical 15 Keyson, David V./Bruns Alonso, Miguel: »Empirical Research Through Design«, in: IASDR 2009 »Design Rigor & Relevance« (2009), Seoul Korean Society of Design Science. 16 Walker, Stuart: »Research Through Design: The Development of Sustainable Material Cultures«, in: Eighth International Conference of the European Academy of Design »Design & Connexity« (2009), Aberdeen, Scotland: Gray’s School of Art, The Robert Gordon University. 17 Melles, Gavin/Ginters, Lotars/Kuys, Blair: »Research through Industrial Design: Industrial Design in the Context of an Australian Cooperative Research Centre«, in: IASDR 2009 »Design Rigor & Relevance« (2009), Seoul Korean Society of Design Science. 18 Zimmerman, John/Forlizzi, Jodi/Evenson, Shelley: »Research Through Design as a Method for Interaction Design Research in HCI«, in: CHI 2007 (2007), San Jose, USA. 19 Boess, Stella: »Designing in Research: Characteristics and Criteria«, in: IASDR 2009 »Design Rigor & Relevance« (2009), Seoul Korean Society of Design Science. 20 Ross, Philip: »Ethics and Aesthetics in Intelligent Product and System Design« (2008), Technische Universiteit Eindhoven, Eindhoven.
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What Should be Done with the Different Versions of RTD
knowledge are aimed for, cases 3, 4, and 5 seem to focus on gaining practical knowledge for specific design practice only. They are not interested in paradigmatic issues. In case 6 design practice is used not as a method, a strategy, or a paradigm for research, but rather as a technique or instrument for generating information in research. Arguably, case 6 is an experimental research project in which designing is used as a means to generate experimental objects. These various RTDs are positioned in relation to the three models in Figure 1. Jonas
Paragim
RTD
Findeli
Strategy
PGR
Zimmerman
Theoretical Knowledge
Practical Knowledge
Boess
Rust
Method
PLR
Melles, Keyson, Walker
Ross
Instrument
Fig. 1: Different RTDs and their respective focus and concern.
Conclusions The above-mentioned authors share similar views: making/designing is a way of knowing and therefore one can research through design. Problems emerge as solutions are constructed. Prototyping creates new possibilities to reframe problems, allowing new questions, perspectives, and understanding to emerge. The wicked, the situated, the experiential, the tacit, the actionable, know-how, the future oriented, the artifactual, the interdisciplinary, and the integrative are key characteristics of designerly ways of knowing. How the author perceives, understands, and puts to use the implications of this belief/ understanding can vary. The proponents of RTD can also have different goals: to deal with institutional change, to establish research pro-
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Rosan Chow
grams, to satisfy one’s intellectual curiosity, to integrate design into a science-dominated field, and/or to follow the current trend. They develop their version of RTD to achieve the goals that they have in mind. This explains why there are different versions and highlights the need to make their differences clear. As more and more practices are labelled RTD, it will serve us well if we are clear about what they mean. The analysis and comparison done here are a first attempt at gaining clarity. It is important to mention that the conclusions here are more interpretive than empirical, as the comparisons made are mostly based on what the authors say and report rather than what they actually do. The next important task is to examine actual projects in detail and, equally important, to identify quality control criteria. There is much to do before we understand how and whether RTD fulfils its promise as instrument, method, strategy, or paradigm of research.
Further Readings Archer, Bruce: »Design As a Discipline«, in: Design Studies 1 (1979), pp. 17—20. Archer, Bruce: »A View of the Nature of Design Research«, in: Jaques Robin/James A. Powell (ed.): Design: Science: Method, Guildford: Westbury House 1981, pp. 30—47. Bayazit, Nigan: »Designing: Design Knowledge: Design Research: Related Sciences«, in: M. J. de Vries/Nigel Cross/D. P. Grant (ed.): Design Methodology and Relationships with Science, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 1993, pp.120ff. Biggs, Michael A. R.: »Editorial: The Foundations of Practice-based Research«, in: Working Papers in Art and Design, 1 (2000). Biggs, Michael A. R./Büchler, Daniela: »Rigor and Practice-based Research«, in: Design Issues 23 (2007), pp. 62—69. Cross, Nigel: »Designerly Ways of Knowing«, in: Design Studies 3, pp. 221—227. Chow, Rosan: »Evolution, Epigenesis and Recycling in Design Theorizing«, in: The 6th International Conference of the European Academy of Design, EAD06. »Design System Evolution − The Application of Systemic and Evolutionary Approaches to Design Theory, Design Practice, Design Research and Design Education« 2005. — »Fallman Meets Jonas: Compare and Contrast two Models of Design Research«, in: Communicating by Design, edited by J. Verbeke/A. Jakimowicz, Brussels: Hogeschool voor Wetenschap & Kunst, School of Architecture Sint-Lucas 2009. Chow, Rosan/Ruecker, Stan: »The Many Arts of Designing Research«, in: DIS 2006 Workshop »Exploring Design As a Research Activity«, Penn State University 2006. Dilnot, Clive: »The Science of Uncertainty: The Potential Contribution of Design to Knowledge«, in: Proceedings of the Ohio Conference on Ph.D. Education in Design, Columbus: Ohio 1998. Douglas, Anne/Scopa, Karen/Gray, Carole: »Research through Practice: Positioning the Practitioner as Researcher«, in: Biggs/Büchler, Research into Practice. Findeli, Alain: »La recherche en design. Questions épistémologiques et méthodologiques«, in: International Journal of Design and Innovation Research 1 (1998), pp. 3—12. — »A Quest for Credibility: Doctoral Education and Research in Design at theUniversity of Montreal«, in: Doctoral Education in Design, Columbus: Ohio 1998. — »Will Design Ever Become a Science?
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What Should be Done with the Different Versions of RTD Epistemological and Methodological Issues in Design Research, Followed by a Proposition«, in: Strandman: No Guru, No Method. Discussion on Art and Design. — »Design Research Special Issue«, in: Design Issues 15 (1999), pp. 1—3. — »The State of the Art: Theoretical, Methodological and Ethical Foundations for a Renewal of Design Education and Research«, in: European Journal of Arts Education 3 (2000), pp. 54—63. — »Les fondements épistémologues d‘une formation universitaire de recherche en design et complexité«, in: Perrin, Les sciences de la conception. L‘enjeu scientifique du XXXIème siècle (2002). — »La recherche en design. Une genèse épistèmologique erratique«, in: Jollant-Kneebone: La critique en design. Contribution à une anthologie (2003). — »Theorie und Praxis: Eine neue Einheit, ein funktionstüchtiges Modell für die Designforschung«, in: hfg Forum 18 (2003), pp. 70—80. — »Die projektgeleitete Forschung: eine Methode der Designforschung«, in: Swiss Design Network Symposium, Zürich 2004. — »Qu’appelle-t-on ‘théorie’ en design? Réflexions sur l‘enseignement et la recherche en design«, in: Paris, Le design, Essai sur les théories et les pratiques (2006). — »Searching for Design Research Questions: Some Conceptual Clarifications«, in: Chow/Jonas/Joost: Questions, Hypotheses & Conjectures (In Print). Findeli, Alain/Coste, A.: »De la recheerche-création à la recherche-projet: un cadre théorique et méthodologique pour la recherche architecturale«, in: Lieux Communs 10 (2007), pp. 139—161. Forlizzi, Jodi/Stolterman, Erik/Zimmerman, John: »From Design Research to Theory: Evidence of a Maturing Field«, in: IASDR 2009 »Design Rigor & Relevance« (2009), Seoul Korean Society of Design Science. Frayling, Christopher: »Research in Art and Design«, in: Royal College of Art Research Paper #1 (1993). Jonas, Wolfgang: »On the Foundations of a ›Science of the Artificial‹«, in: Useful and Critical − the Position of Research in Design International Conference, Helsinki 1999. — »The Paradox Endeavour to Design a Foundation for a Groundless Field«, in: International Conference on Design Education in the University, Perth 2000. — »A Scenario for Design«, in: Design Issues 17 (2001), pp. 64—80. — Mind the Gap! On Knowing and not Knowing in Design, Bremen: Hauschild Verlag 2004. — »Research through DESIGN through Research − a Problem Statement and a Conceptual Sketch«, in: DRS Conference Wonderground, Lisabon, Portugal 2006. — »Design Research Thinking − a Narrative Sketch, or: Elements of a Theory of Design Research«, in: Communicating (by) design, Sint-Lucas Hoogeschool voor Wetenschap & Kunst, Brussels 2009. Krippendorf, Klaus: The Semantic Turn. A New Foundation for Design, Boca Raton/ London/New York: Taylor & Francis 2006. — »Design Research, an Oxymoron?«, in: Michel: Design Research Now, pp. 67—80. Melles, Gavin: »An Enlarged Pragmatist Inquiry Paradigm for Methodological Pluralism in Academic Design Research«, in: Artifact 2 (2008), pp. 3—10. Nelson, Harald/Stolterman, Erik: The Design Way: The Intentional Change in an Unpredictable World. Foundations and Fundamentals of Design Competence, Educational Technology Publications 2003. Norman, E. W. L./Heath, R.J./Pedgley, O.: »The Framing of a Practice-Based Ph.D. in Design« (2000).www.core77.com/research/thesisresearch.html [02.02.2010]. Pedgley, Owain/Wormald, Paul: »Integration of Design Projects within a Ph.D.«, in: Design Issues 23 (2007), pp. 70-85. Rittel, H. W. J./Weber, M. M.: »Dilemmas in General Theory of Planning«, in: Policy Science 4 (1973), pp. 155—69.
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Rosan Chow Rust, Chris: »Design Enquiry: Tacit Knowledge and Invention in Science«, in: Design Issues 20 (2004), pp. 6—85. — »In the Eating: Grounding the Validation of Investigative Designing in the Experience of Stakeholders«, in: IASDR 2009 »Design Rigor & Relevance« (2009), Seoul Korean Society of Design Science. Schön, Donald A.: The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action, New York: Basic Books 1983. Simon, Herbert A.: The Sciences of the Artificial, Cambridge: M.I.T. Press 1969. Swann, Cal. 2002. »Action Research and the Practice of Design«, in: Design Issues 18 (2002), pp. 49—61.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Umsetzung. Interpretative Herausforderungen praxisferner Designtheorie Mads Nygaard Folkmann
»Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt« – so beginnt Georg Lukács seine geschichtsphilosophische »Theorie des Romans« (1916)1 mit einer hypostasierten Annahme eines vorzeitigen, präreflexiven Zustands transzendentaler Verankerung, die es, so der Logik der projizierten Hypostase folgend, in der Wirklichkeit nie gab. Um Lukács noch weiter zu folgen, leben die modernen Menschen in einer Zeit der »transzendentalen Obdachlosigkeit«2, in der wir ohne feste Landkarte stets unseren eigenen Weg suchen oder schöpfen müssen. So ist es auch mit unserer Relation zur Designtheorie und deren Umsetzung in der Praxis: Ohne sichere Verankerung müssen wir stets unsere eigene Bahn brechen. Auch hat es nie einen Zustand der Unschuld gegeben, der »good old days«, wo die theoretischen Einsichten direkt am Himmel geschrieben standen oder nahtlos in die Praxisarbeit einverleibt waren; diese Vorstellung erweist sich als eine Illusion, die sich zugleich als irreversibel enthüllt. Als zukunftsgerichtete Disziplin soll die Frage nach der Beziehung von Theorie und Praxis im Design jedoch nicht in Hinblick auf eine unmögliche, konstitutiv niemals zugängliche illusorische Vergangenheit gestellt werden, sondern soll stattdessen vorwärts gerichtet sein: 3 Wenn Theorie unvermeidbar Praxis durchdringt und, ob wir es wollen oder nicht, diese vielleicht auch erschwert, kann offen und zukunftsgerichtet die Frage gestellt werden: Wie Designtheorie und -forschung praktisch umsetzen? Welche Strategien kann es geben? Welche Rolle spielt dabei 1
Lukács, Georg: Theorie des Romans, München: DTV 1994, S. 21.
2
Ebd., S. 32.
3
In der theoretischen Literatur wird Design oft mit der Eröffnung neuer Möglichkeiten verknüpft; so in Herbert Simons berühmten Diktum: »[E]veryone designs who devises courses of action aimed at changing existing situations into preferred ones«, Simon, Herbert: The Sciences of the Artifical. Cambridge, Mass. & London: MIT Press 31996 [1969], S. 111.
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Mads Nygaard Folkmann
die Interpretation? Diesen Fragen wohnt ein Paradox inne, da Theorie und Praxis gleichzeitig ineinander integriert und auseinanderdifferenziert sind.
Theorie und Praxis Einerseits steht die Prämisse, dass Theorie und Praxis im Design dicht ineinander verwoben sind. Es gibt keine Designpraktiken, die nicht auch zugleich als Wissenspraktiken operieren und dabei theoretisch informiert sind; jede Praxis im Sinne eines Entwerfens kann als Ausdruck einer theoretischen Einstellung angesehen werden, die mehr oder wenig explizit zur Erscheinung kommt. Ebenso macht es wenig Sinn, von einer Theorie des Designs zu sprechen, die nicht auch in die Praxisarbeit hineinspielen oder durch konkrete Designobjekte oder -lösungen materiell geäußert werden kann. Design ist vielseitig: Es ist sowohl ein Prozess des Entwerfens von konkreten Artefakten als auch eine Produktion von Wissen, welches durch die Designobjekte materialisiert und verhandelt wird. Diese Gleichzeitigkeit von konkreter Praxisarbeit und der Erzeugung von Wissen macht zusammen eine Eigenheit von Design aus. Theorie und Praxis sind also ebenso wenig zu trennen, wie auch Forschung zum Design stets mit der »Umsetzung von Konzepten und Entwürfen« zu tun hat.4 Zusätzlich ist Design ein umfassendes und implikationsreiches Feld. Multiple Diskurse greifen in das Feld des Designs formend ein; soziale, politische, ökonomische, kulturelle und ökologische Diskurse und Verhältnisse haben spezifische Bedeutung und Einwirkungen, prägen neue Möglichkeiten, bilden aber auch Begrenzungen. Zum einen geht es darum, wie wir heute Design auffassen; Design ist nicht und war wohl nie »nur« Gestaltung von zwei- und dreidimensionalen Produkten (so der Lukács’schen Logik der Vergangenheitskonstruktionen folgend), und es gibt ja auch in der Designtheorie zahlreiche Modelle zu den verschiedenen Ordnungen oder Schichten des Designs, die von konkreten Produkten hin zu Organisationsprinzipien reichen.5 Zum anderen geht es aber auch darum, wie die konstitutive Diskursvielfältigkeit eine Einwirkung auf die Praxis hat, deren dringende Herausforderung es ist, sich entlang dieser Bedingungen produktiv zu definieren, d.h. letztendlich, wie die umgebenden Diskurse, die Design von 4
Brandes, Uta/Erlhoff, Michael/Schemmann, Nadine: Designtheorie und Designforschung, Paderborn: UTB 2009, S. 84.
5 Vgl. Buchanan, Richard: »Wicked Problems in Design Thinking«, in: Richard Buchanan/Victor Margolin (Hg.): The Idea of Design, London: MIT Press 1995, S. 3—21. Heskett, John: Toothpicks and Logos, Oxford: Oxford UP 2002.
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Interpretative Herausforderungen praxisferner Designtheorie
außen und innen prägen und mitbestimmen, in einem Anwendungskontext zu verstehen sind. Diese Diskurse können in Theorie und Forschung bearbeitet und verhandelt werden. So kann etwa das Ergebnis einer solchen Bearbeitung in relevante kulturtheoretische Ansätze münden, die sich beispielsweise mit der Artikulation kultureller Bedeutung durch Designobjekte6 oder mit den Grenzen und Möglichkeiten der materiellen Kultur beschäftigen.7 Das Ergebnis kann aber auch anwendungsorientierter sein und, wie in der Designsemantik, von einer Produktsprache handeln oder als ökonomische Theorie verschiedene Rahmen für das Verständnis von Design bereitstellen.8 Zusätzlich hat es seit den 1960er Jahren Ansätze zu praxisimmanenten Designtheorien gegeben. Besonders die »Design-MethodsBewegung«, die 1962 anlässlich einer von John Christopher Jones und Peter Slann organisierten Tagung initiiert wurde, versuchte, Methoden und Modelle der Designarbeit auf eine Weise zu konzipieren, die dazu geeignet war, den Herausforderungen einer gestiegenen Komplexität in der Designpraxis zu begegnen.9 Da Design weitgehend eine Praxisdisziplin ist, hat es seitdem vielerlei Versuche gegeben, normativ Modelle des Designprozesses aufzuzeigen, auch um so eine fehlende Methodologie des Designs zu kompensieren, 10 struturelle Beschreibungen für Designprobleme zu liefern (wobei eine »underlying structural correspondance« mit dem »process of designing a physical form which answers that problem« anzubieten wäre)11 oder den Bereich der »tacit knowledge« in der Praxisarbeit zu thematisieren.12 Praxisbasierte Theorie aufzustellen oder Theorie durch Praxis zu untermauern kann – muss jedoch nicht – zu Fehlschlüssen führen. Indem Theorie u.a. als diskursive und dabei verhandelbare 6
du Gay, Paul et al.: Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London: Sage 1997.
7
Vgl. z.B. Attfield, Judith: Wild Things. The Material Culture of Everyday, Oxford: Berg 2000.
8 Vgl. Heskett, John: »Creating Economic Value by Design«, in: International Journal of Design, Vol. 3, No. 1 (2009), S. 71—84. 9
Vgl. John Christopher Jones (in 1970 zeitgemäße) enzyklopädische Darstellung von Designmethoden: Design Methods. Seeds of Human Futures, New York: John Wiley 21980. Siehe ferner die Modellarbeit bei Bryan Lawson: How Designers Think, Oxford: Architectural Press 42005 [1980].
10 Vgl. Bürdek, Bernhard E.: Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, Basel: Birkhäuser 32005, S. 255. 11 Zitiert wird hier aus Christopher Alexanders berühmter Abhandlung von 1964: Notes on the Synthesis of Form, Cambridge, Mass./London: Harvard UP. 12 Vgl. dazu z.B. Schön, Donald A.: The Reflective Practitioner – How Professionals Think in Action, New York: Basic Books 1983.
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Mads Nygaard Folkmann
Modelle der Wirklichkeit beschrieben werde, bestehe Ken Friedman zufolge eine Gefahr im Verwechseln der Kategorien von »stillschweigendem Wissen« und »generellem Designwissen«: One of the deep problems in design research is the failure to develop grounded theory out of practice. […] Instead of developing theory from practice through articulation and inductive inquiry, some designers simply argue that practice is research and practice-based research is, in itself, a form of theory construction. Design theory is not identical with the tacit knowlegde of design practice.13
Theorie ist dazu geeignet, die Praxis zu beschreiben, soll aber nicht mit der Praxis verwechselt werden. Theorie ist dagegen aber nicht für die Praxis »schädlich« oder als eine Bevormundung der Praxis anzusehen, da Theorie die Reflexivität in der Designpraxis erhöhen könne und Design durch die Verflechtung von Theorie und Praxis Anerkennung als »seriöse Disziplin« gewinnen würde.14 Andererseits ist es stets eine Herausforderung für das Design gewesen, ein theoretisches Verständnis in die Praxis einfließen zu lassen, d.h. als synthetische Kompetenz von einer analytischen solchen bereichert zu werden. Es besteht im Design eine Zuneigung zur Theorieferne; wie Beat Schneider präzise sagt, interessiert sich Design vorwiegend »nicht für Theorie, sondern für Rhetorik. Nicht das Warum und Wofür, sondern das Wie steht im Vordergrund« 15. Historisch gesehen hat die Ausbildung an den Design(hoch)schulen, zumindest ist dies in Dänemark der Fall,16 nicht zwingend die Integration von Theorie und Praxis gefördert. Meine eigene Erfahrung als Lehrer in einem dänischen Postgraduate Masterprogramm ist die, dass die Designer/innen in ihrer Designerstausbildung nur wenig Theorie gelernt haben; zumindest wird dies in ihren Selbstauskünften so dargestellt. Aus dieser Situation ergeben sich viele Herausforderungen und Fragen: Wie sollte man pädagogisch und didaktisch mit Designtheorie arbeiten, sodass diese in den praktischen Designunterricht integriert werden kann? Vor allem aber muss man sich im Klaren darüber sein, warum Designtheorie wichtig ist und wozu sie taugt, auch sollte man 13 Friedman, Ken: »Theory Construction in Design Research: Criteria, Approaches, and Methods«, in: Design Studies 24 (2003), S. 507—522. 14 Schneider, Beat: Design – Eine Einführung. Entwurf im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext, Basel: Birkhäuser 2009, S. 266. 15 Ebd., S. 260. 16 In Dänemark sind die Designschulen bislang noch nicht akademisiert worden. Für Anfang 2011 wird jedoch erwartet, dass sie als akademische Institutionen im Sinne des Bologna Prozesses anerkannt werden.
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Interpretative Herausforderungen praxisferner Designtheorie
ein Bewusstsein dafür haben, dass der Fächerkanon innerhalb des Designs sehr unterschiedlich ausfallen und demgemäß von verschiedenen Theorien profitieren kann. Informationstechnologische Fächer benötigen andere Theorien und Theorieschwerpunkte als beispielsweise das Textildesign. Die unterschiedlichen Designfächer brauchen aber Theorie; die Frage ist nur welche, warum und wie. Ohne eine bewusste Einbeziehung von Theorie verspielt sich das Design viele Vorteile. So könnte die Designpraxis z.B. bestimmt von kulturanalytischem Wissen profitieren. Könnte dieses Wissen produktsemantisch in die Praxis einbezogen werden, könnten vermutlich bessere und wissensintensivere Produkte entwickelt werden. Denn den Designobjekten wird, sobald sie den Wirkungsbereich der Designer/-innen und Hersteller/-innen verlassen haben und auf dem Markt zirkulieren, unvermeidlich eine kulturelle Bedeutung zugesprochen. Durch ihre Position und Rezeption auf dem Markt werden sie gegeneinander differenziert und in ihrer Funktion, Operation und medialen Struktur verändert.17 Viele Forschungsbereiche wirken dabei auf das Design ein: Forschung über das Endverbraucherverhalten, z.B. Consumer Culture Theory (CCT)18, soziologische Forschung über Verbraucher- und Nutzergruppen, anthropologisch basierte Forschung (z.B. durch Observation) über Reaktionen und implizite Ideologien der Verbraucher sowie geisteswissenschaftliche Forschung über kulturelle Strukturen und über die Genese von Bedeutung. Mit Blick darauf ist es unabdingbar, diese formexternen, jedoch einflussreichen Mechanismen des Designs zu begreifen und Konzepte dafür zu entwickeln, damit sie in die Designforschung einbezogen und ferner auch als Wissenskomponente in die Praxis integriert werden können. Auf der Ebene methodologischer Reflexion besteht die Herausforderung darin, zwischen verschiedenen Typen von Theorien mit unterschiedlichen Applikationsreichweiten und Fokussen zu unterscheiden. Zum Beispiel liegen Theorien, die im Umfeld der Designmethode oder des »practice-based research« entstanden sind, im Geltungsbereich nahe an der Praxis, während allgemeinere Theorien, die nicht unmittelbar in direktem Dialog mit Designpraxis entstanden sind, gewiss praxisferner sind. Die Umsetzung relevanter Theorien sollte deshalb meines Erachtens nach auf zwei Ebenen erfolgen:
17 Vgl. den produktsoziologischen Ansatz von Lash, Scott/Lury, Celia: Global Culture Industry: The Mediation of Things, Cambridge: Polity Press 2007. 18 Vgl. Arnould, Eric J./Thompson, Craig J.: »Consumer Culture Theory (CCT): Twenty Years of Research«, in: Journal of Consumer Research, 31 (March 2005), S. 868—882.
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Es bedarf eines Bewusstseins zur »Stratifizierung von Theorien«. Vorgeschlagen wird, Designpraxis als Metatheorie aufzufassen, die eine neue Form von designrelevanter Theorie generiert, indem sie andere Theorien kritisch adaptiert. Daraus ergäbe sich eine Theorie des Zusammenhangs, die »an allen existierenden Theorien klug partizipiert, deren wichtigste Einsichten zusammenfasst und daraus eine Theorie der Komplexität entwickelt und gesellschaftlich propagiert«19. Zugleich ist es aber notwendig, die verschiedenen und jeweils spezifischen Bereiche, Themen und Zielsetzungen der unterschiedlichen Theorien im Auge zu behalten. Sonst bestünde das Risiko, unterschiedslos alle diese Aspekte der Theorien zu einem »Brei« von Theorien zu vermengen; zu einem diffusen Feld, in dem potenziell alles Designtheorie sein könnte. Man muss also abgrenzen und differenzieren. Eine Spanne kann aufgezeichnet werden von einerseits Theoriebildungen, die sich nah an der Praxis befinden – das wären z.B. Theorien zur Designmethodik – bis hin zu andererseits praxisferneren Theorien, etwa geisteswissenschaftlichen »grand theories« wie die Semiotik, der Strukturalismus und die Phänomenologie, philosophische Ansätze oder Kulturtheorie.20 Zunächst müssen Strategien der Interpretation erarbeitet werden, um so die praktische Umsetzung der Theorien zu sichern. In diesem Sinne kann man darüber sprechen, dass Designtheorie und sonstige theoretisch verankerte Einsichten (z.B. Kulturtheorie) erst in Praktiken der Interpretation entfaltet und dabei umgesetzt werden. 19 Brandes/Erlhoff/Schemmann: Designtheorie und Designforschung, S. 25. 20 Eine andere Möglichkeit wäre die von Frayling vorgeschlagene differenziert-methodologische Spanne von einer (kunst-)theoretischen Forschung über Design (»research about design«), einer auf Entwicklung der Methode und des Designprozesses fokussierten Forschung für Design (»research for design«) hin zu einer artefakten- und praxisbasierten, lösungsorientierten Forschung durch Design (»research through design«); Frayling, Christopher: »Research in Art and Design«, Royal College of Art Research Papers, Vol. 1, No. 1 (1993), S. 1—5. Die hier vorgeschlagene Spanne geht jedoch ausschließlich auf Praxisnähe und -ferne und deren hermeneutische Implikationen ein, und nicht so sehr auf die methodologischen Konsequenzen für das Verständnis des Design- und Forschungsobjektes, d.h. die Rolle des Designprojekts in der Forschung. Vgl. ferner auch die Ansätze von Archer, Bruce: »A View of the Nature of Design Research«, in: Design: Science: Method. Design Research Society Conference, Portsmouth: J. A. Powell 1980, S. 30—47 und Jonas, Wolfgang: »Design Research and its Meaning to the Methodological Development of the Discipline«, in: Ralf Michel (Hg.): Design Research Now. Essays and Selected Projects, Basel: Birkhäuser 2007, S. 187—206. Allgemein in wissenschaftstheoretisch spricht Friedman von einer Spanne von »macro level theories covering wide areas or fields, midlevel theories covering specific ranges of issues or micro level theories focused on narrow questions«; »Theory construction in design research«, S. 510. Friedmans Unterscheidungen beziehen sich auf die Ausweitung der Theorie, nicht deren Praxisbezug.
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Interpretative Herausforderungen praxisferner Designtheorie
Verschiedene Modelle sind anwendbar und diskutierbar. In diesem Sinne ist Interpretation stets ein offener Prozess, in dem Fragestellungen, Einstellungen, Verständnisse sowie Handlungsanweisungen verhandelt werden. Dieses Problemfeld – also wie Designtheorie und -forschung praktisch umgesetzt werden kann und soll – möchte ich anhand folgender Frage diskutieren: Wie kann/soll mit praxisferner Designforschung umgangen werden? Wie ist sie zu diskutieren und dabei anwendbar zu machen? Ich werde meine Diskussion anhand von zwei Beispielen führen. Zuerst möchte ich eigene Überlegungen zur Rolle des Imaginären im Design durch Interpretationsstrategien diskutieren. Danach möchte ich didaktische Implikationen für den Designunterricht erörtern, die wir am Danish Centre for Design Research im Rahmen des Masterprogramms mit einer gewissen diskursiven Diskontinuität erarbeitet haben. Wir haben die Diskrepanz zwischen abstrakter Theorie und praktischer Designarbeit nicht zugedeckt, sondern in der Diskussion offengelegt, eine Aushebung der Spalte zwischen Praxis und Theorie durch seine bewusste Überbetonung forciert und dabei auch die interpretative Leistung der Studierenden befragt.
Interpretationsstrategien praxisferner Designforschung Die Frage, wie mit abstrakter Theorie innerhalb eines Anwendungskontextes umgegangen werden kann/soll, ist für meine eigene Forschung eine zentrale Frage. Ich bin ursprünglich Literaturwissenschaftler und arbeite zu einem weitgehend abstrakten Forschungsthema im Bereich des Designs: Einerseits beschäftige ich mich mit der Rolle der Imagination seitens der Designer/-innen, andererseits mit der Rolle des Imaginären im Design, also wie – und ob überhaupt – das Imaginäre in Designobjekten zu verorten ist und wie es durch Designobjekte kulturell tätig wird. Um die Herausforderungen der praktischen Umsetzungen meines Ansatzes zu erörtern, möchte ich kurz die zentrale Idee des Projektes beschreiben. In einer früheren Arbeit habe ich mich mit der Imagination im Kontext der europäischen literarischen Romantik beschäftig. Das zentrale methodologische Ergebnis dieser Arbeit war, dass es produktiver ist, mit der Imagination auf der Ebene ihrer medialen Bearbeitung zu operieren, also nach der medialen Umsetzung der Imagination zu fragen, anstatt nach einer ihr zugrunde liegenden Ideologie. Ich entwickelte eine Analyseoptik, die mit der medial umgesetzten Imagination durch Phasen der Internalisierung, Irrealisierung und Transfiguration operierte. Die gleichen
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Fragen stellen sich mir jetzt wieder: Kann die Imagination in Design mit den genannten Begriffen beschrieben werden?21 Wie ist sie analytisch zu erarbeiten, und wo lässt sie sich orten? Im Kopf des/der Designers/-in, d.h. in der Imagination im Sinne von Kreativität und als einer erkenntnistheoretischen Struktur, die den spezifischen Zugang des/der Designers/-in zum Designprozess beschreibt, oder in den Objekten des Designs, d.h. im medial umgesetzten Imaginären, was eine andere, offenere Ontologie der sonst fixierten Materialität von Designobjekten geben würde? Methodisch habe ich mit der Analyse des Imaginären und dessen Räumen von realisierten und potenziell aktualisierbaren Möglichkeiten angefangen, um dann zu einer Reihe von ausgewählten Designern/-innen zurückzukehren und zu fragen, wie ihre Prozesse und die Art und Weise ihrer Designpraxis in diesem Zusammenhang zu begreifen und zu konzeptualisieren sind. Der Forschungsansatz ist theoretisch-experimentell, und die Ergebnisse und praktische Anwendung sind noch ungewiss. Es soll hier aber nicht darum gehen, die spezifische Verfahrensweise und die inhaltlichen Interessen meines Ansatzes im Detail zu verfolgen,22 sondern darum, die daraus resultierenden Implikationen auf methodischer Ebene zu hinterfragen. Die These ist, dass eine praxisferne Forschung, wie sie oben beschrieben wurde, in praxisrelevante Einsichten umsetzbar ist. Das heißt, dass sie nur »scheinbar« praxisfern ist und sich auf die Praxis beziehen lässt. Wenn es jedoch keine Forschung ist, aus der beispielsweise direkt Werkzeuge für Designprozesse hervorgehen, muss nach dem Charakter jenes Wissens gefragt werden, das durch das Projekt generiert wird. Auch muss danach gefragt werden, wie es praktisch relevant gemacht werden kann, wenn eine Distanz zwischen Theorie und ihrer Nutzung im Anwendungskontext besteht. Von der Reflexion der Stratifizierung der Theorie, d.h. deren Nähe oder Ferne zur Praxis, ergibt sich ein methodologischer Rahmen der Theorie, innerhalb dessen Strategien der Interpretation entwickelt werden müssen. Dabei kann es ergiebig sein, hermeneutische Modelle einzubeziehen, da sich auch das Design in Bezug auf einen Kon21 Siehe dazu die Aufsätze: Folkmann, Mads Nygaard: »The Transfigurative Mode of Romantic Discourse: Poetic Models in Novalis, Keats, and Stagnelius«, in: Prism(s) – Essays in Romanticism, Vol. 14 (2006), S. 27—56; ders: »Inversive Transfiguration. Imagination und Imaginäres bei Stagnelius«, in: Annegret Heitmann/Hanne Roswall Laursen (Hg.): Romantik im Norden, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 22 Siehe dazu Folkmann, Mads Nygaard: »›The Inner Border Crossing. Imagination in Design‹. Paper für die Cumulus-Konferenz ›Borderline – Pushing Design over the Limit‹«, 26.—29. Mai 2010, Genk, Belgien.
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Interpretative Herausforderungen praxisferner Designtheorie
text und in der Handhabung von konstitutiver Komplexität und Unschärfe23 immer eines interpretativen Verfahrens bedient. Als Beispiel will ich Momente der hermeneutischen Theorie von Paul Ricœur anführen, die darauf hinweisen, dass der interpretative Akt einen Umweg über eine tiefere, nicht unmittelbar anwendbare Dimension der Analyse gehen könnte, um letztendlich zu einem besseren Verständnis zu gelangen, das richtungsgebend für eine neue Handlung sein kann.24 Ricœur geht es darum, in einem ersten Schritt das Objekt der Analyse zu isolieren, um dann dessen innere strukturelle Kohärenz zu erarbeiten. Der Sinn dieser Analyse ist gemäß Ricœur jedoch nicht unmittelbar sichtbar, gibt aber eine Richtung vor, die in einem zweiten Schritt die Deutungspraxis auf eine neue Ebene führt. Ricœur nennt dies den Prozess der »appropriation«25, der Aneignung. Er spricht, um es mit den Begriffen von Dilthey auszudrücken, von Erklären und Verstehen, wobei der »Text« mit einem beliebigen Analyseobjekt vertauscht werden kann: Erklären, das ist die Struktur befreien, d.h. die interne Beziehungen von Abhängigkeit, die das Statische im Text bilden; verstehen, das ist den Weg des Denkens nehmen, den der Text geöffnet hat, und die Richtung nehmen, deren Orientierung der Text angegeben hat.26
Es geht also darum, interne Strukturen aufzudecken (»Erklären«) und danach dem von ihnen angegebenen Weg und der indizierten Orientierung zu folgen (»Verstehen«). Die hermeneutische Einsicht wäre dann, dass »appropriation« anhand von Distanz entsteht, die nicht als problematisch, sondern als produktiv beurteilt wird, da »appropriation« eben Verstehen durch und in der Distanz sei: die Distanz, »distanciation«, »ist die Bedingung der Interpretation; die Verfremdung [deutsch im Original, MNF] ist nicht nur das, was das Verstehen überwinden muss, sondern auch was sie bedingt«27.
23 Brandes/Erlhoff/Schemmann: Designtheorie und Designforschung, S. 98. 24 Ricœur, Paul: Du texte à l’action, Paris: Éditions du Seuil 1986. 25 Ebd., S. 153. 26 Ebd., S. 156; »expliquer, c’est dégager la structure, c’est-à-dire les relations internes de dépendance qui constituent la statique du texte; interpréter, c’est prendre le chemin de pensée ouvert par le texte, se mettre en route vers l’orient du texte«. 27 Ricœur, Paul: »La fonction herméneutique de la distanciation«, in: François Bovon/ Grégoire Rouiller (Hg.): Exegesis, Paris & Neuchâtel: Delachaux & Niestlé 1975, S. 201—215; S. 214 & 210: »[la distanciation] est aussi la condition de la interprétation; la Verfremdung n’est pas seulement ce que la compréhension doit vaincre, mais aussi ce qui la conditionne.«
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Dabei ist aber zu beobachten, dass Ricœurs Theorie eben ursprünglich auf Texte gemünzt ist, d.h. auf das Objekt per se klassischer hermeneutischer Theorien von Schleiermacher bis zu Gadamer, und die Frage natürlich ist, inwiefern sie sich auf Kunstprodukte anderer Typen von Medialität und Materialität verallgemeinern lässt. Die Eigenart des Text-Mediums ist in diesem Zusammenhang, dass es aus einer mehr oder weniger beliebigen Oberfläche von arbiträren Zeichen besteht (Buchstaben), die in ihrer Funktion der Repräsentation auf eine schwerer greifbare Tiefe (Inhalt) hinweisen. Visuelle und materielle Objekte und Phänomene kommunizieren durch andere Verfahren, vor allem weil sichtbare und taktile Oberflächen anscheinend die ganze Repräsentation enthalten, und dabei einer anderen analytischen Verfahrensweise als der textuellen bedürfen. Dabei hat es auch in den letzten 15 Jahren z.B. Ansätze zu einer designspezifischen Semiotik gegeben,28 wogegen die Geschichte der frühen französischen Semiotik von einer Reihe von Versuchen geprägt war, textuelle Verfahrensweise zu anderen, vorwiegend populärkulturellen und weit verbreiteten Medien wie Film (z.B. die Filmsemiotik bei Christian Metz), Fotografie, Reklame und Design (z.B. bei Roland Barthes) zu überführen. Wenn aber dennoch die textuelle Hermeneutik in Beziehung auf Design anwendbar ist, liegt es m.E. der methodologischen Reflexion über die Distanz zwischen Oberfläche und Tiefe zugrunde; anhand einer Hermeneutik wie der von Ricœur kann man zuerst darüber reflektieren, dass es eine Distanz in der Repräsentation gibt, um danach ihre genauen Bestandteile zu analysieren. Oder genauer: Durch den Griff der Hermeneutik können sich die Oberflächen in den Designprodukten und -lösungen öffnen und zeigen, dass sie auch bedeutungsgemäß mehr sind. Die Hermeneutik analysiert nicht nur die Distanz, sie evoziert sie auch und legt sie bloß. Theoretische Forschung wäre als analytische Distanz, als ein konzeptueller Umweg anzusehen, durch den strukturelle Einsichten gewonnen werden können, z.B. über das Imaginäre und die daraus entstandenen Möglichkeitsräume im Design, deren genauer Beitrag zur Praxis auf den ersten Blick nicht einleuchtend ist, die aber eine neue Richtung zum Verständnis von den Prozessen und Mechanismen in der Designpraxis sowie im Umgang mit Designobjekten angeben. Im Laufe der Zeit kann so ein tieferes Verständnis darüber er-
28 Vgl. Vihma, Susann: Products as Representations: A Semiotic and Aesthetic Study of Design Products. University of Arts and Design Helsinki: Art Books International 1995; Hjelm, Sara Ilstedt: Semiotics in Product Design. Report Number CID-175, Stockholm: Centre for User Oriented IT Design, Royal Institute of Technology 2006. Http://cid. nada. kth. se/en/publicat/all. html
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möglicht werden,29 wie Design nicht nur zu seinen »Objekten«, sondern auch in einem Spannungsverhältnis zum Möglichen und Unsichtbaren steht. Dies ist ein Wissen, das vielleicht lange Zeit nur latent bleibt, in einem Sprung der Erkenntnis plötzlich aber zur Erscheinung kommen könnte.
Abb. 1: Hermeneutisches Modell der Umsetzung von Einsichten struktureller Analyse. Die Analyse sei Paul Ricœur zufolge als einen Umweg anzusehen, der dann vermittelt eine neue Richtung im Verständnis und weiter in der (vielleicht sprunghaften) Aneignung, »appropriation«, angeben könne.
Wenn ich z.B. Interviews mit verschiedenen Designbüros durchführe und mit praxisferner Theorie nach der Beziehung der Designer/-innen zur Imagination frage, muss ich auch einen Umweg gehen, indem ich keine direkten Fragen über das Verfahren in den Köpfen der Designer/-innen stellen kann.30 Stattdessen kann ich mit der theoretischen Konzeption von Imagination und Imaginärem indirekt nach der Ideengenerierung, der innovativen Umsetzung der Ideen und dem Charakter der fertigen Designprodukte fragen. Fragen wie diese können dann zu einer strukturellen Analyse leiten, wobei die Fragen nicht – und wohl nie – direkt beantwortet werden können. Es können dadurch aber indirektere Einsichten über die Art und Weise der Designarbeit und deren Produkte gewonnen werden, die auch für Designer/innen nützlich sein können: Einsichten darüber, wie sie arbeiten und inwiefern ihre Produkte Ausdruck ihrer mentalen Einstellung sind, sowie wie die Produkte dadurch in einer spezifischen Weise kommunizieren. Wenn die Analyse Klammern um den äußeren Kontext der 29 Dieser Beschreibung liegt die Annahme zugrunde, die zugleich die Prämisse von Ricœurs Hermeneutik ist, dass das »détour« durch die Distanz oder die Differenz in der Sicherheit eines Zurückkehrens, des »retour«, verankert ist. In seinem dekonstruktiven Denken der »différance« hat Derrida diese Prämisse angezweifelt; siehe besonders Derrida, Jacques: Marges de la philosophie, Paris: Éditions de Minuit 1972. Vgl. ferner auch Frank, Manfred: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, und das hermeneutikkritische Buch von Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21998. 30 Zur prinzipiellen Unzugänglichkeit der Imagination der Designer vgl. Liddament, Terry: »The Myths of Imagery«, in: Design Studies Vol. 21, No. 6, Elsevier, S. 589—606.
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Designarbeit setzt, um dadurch auch allgemeine Strukturen zu finden, kann die Analyse eine Richtung angeben, die weiter interpretiert und neu angeeignet werden kann im Sinne von Ricœurs »appropriation«.
Didaktische Implikationen für den Designunterricht Theorie bleibt jedoch nicht nur in der Praxis versteckt und muss herausgeholt und expliziert werden, sondern kann auch direkt die Praxis – und die Auffassung von Praxis – herausfordern und dadurch erheblich bereichern. Dabei spielt nicht nur die Stratifizierung der Theorie eine Rolle, d.h. wie nah die Theorie an der Praxis ist, sondern auch wie deutlich ablesbar sie ist. Wichtig dabei ist auch, dass theoretische Einsichten früh den Designern/-innen zu Nutzen werden. Deshalb spielt Ausbildung eine große Rolle. Als Lehrer und Moderator des dänischen Masterprogramms in Design, d.h. der Weiterausbildung für berufstätige Designer/-innen und ferner auch für Fachlehrer/-innen an Designhochschulen,31 möchte ich eine Methode darlegen, die wir oft mit Erfolg angewandt haben. Dabei ist jedoch im Blick zu behalten, dass unsere Studierenden eben schon Designer/-innen sind, sie sind nicht unterwegs im Werden als Designer/-innen mit den Prozessen der Sozialisation, die daraus folgen.32 Die Erfahrung an den Designhochschulen in Dänemark ist die, dass die Studierenden zwar gerne konzeptuell und abstrakt arbeiten möchten, aber nicht – oder sehr selektiv – mit Theorie und Forschung. Andererseits haben die Studierenden im Masterprogramm an einem jahrelangen Mangel an Theorie fast gelitten (ihren Aussagen zufolge) und hungern oft danach. Im Sinne einer Didaktik für Designtheorie macht dieser Umstand es relativ leicht, mit ihnen zu arbeiten. Ich werde kurz die Methode im Masterprogramm in zwei Schritten beschreiben: zuerst im Unterricht, danach durch zwei Beispiele der abschließenden Prüfung, wo Studierende die Theorie in neue Einsichten umgesetzt haben. Methodisch wird die Diskrepanz zwischen abstrakter Theorie und praktischer Designarbeit nicht zugedeckt, sondern in der Diskussion bloßgelegt. Die interpretative Leistung wird befragt und aktiviert 31 Zu den Studienelementen des Masterprogramms siehe ferner Engholm, Ida: »Master’s Degree in Design: Research-Based Master’s Programme for Professional Designers«, in: Nordisk Arkitekturforskning, Nr. 2 (2008), S. 105—111. 32 Vgl. zu diesem Aspekt die Ansätze von Cuff, Dana: Architecture: The Story of Practice. Cambridge, Mass.: MIT Press 1991. Wang, David/Ilhan, Ali O.: »Holding Creativity Together: A Sociological Theory of the Design Professions«, in: Design Issues 25:1 (2009), S. 5—21.
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dabei die Relevanz der theoretischen Abstraktionen. Auf diese Weise haben wir z.B. mit Themen und Theoriebereichen wie Bedeutungslehre und Semiotik, Ästhetik, »Cultural Studies«, Konsumstudien und Kommunikations- und Medientheorie gearbeitet und offen gefragt: Wozu diese Theorien in Zusammenhang mit Design? Womit tragen sie zum Reservoir des Designwissens bei? Das kann jedoch als ein Scheinmanöver wirken: Im Programm wissen wir schon, was »richtige« Theorie ist und wie sie zum Designwissen beiträgt und fragen die Studierenden daher nur rhetorisch. Dazu ist zu sagen, dass diese Methode des theoretischen Umwegs die Studierenden aktiviert, und dass wir oft neue und unerwartete Antworten bekommen, eben weil die Studierenden ihre eigenen Erfahrungen hineinspielen lassen. Wissenschaftstheoretisch ist die Bemühung nicht, dass die Studierenden Theoretiker werden, die verschiedene Theorien in ihrer Praxis applizieren können. Wir versuchen stattdessen im Sinne von Donald Schön das Verhältnis von Theorie und Praxis umzukehren, um den Studierenden ein großes und relevantes Reservoir an Wissen zu geben, das sie in ihren jeweiligen Praxissituationen hervorrufen, aktualisieren und sich so aneignen können.33 Die theoretischen Diskurse werden produktiv durch die Praxis verhandelt und erlangen dabei eine praxisspezifische Qualität und Eigenart. Nachher gibt es keine »reine« Theorie mehr, die als Modell von der Praxis erscheint und ihre Modi diktiert. Dagegen ist Theorie immer schon durch ihre Praxisrelevanz formuliert. Es geht dabei darum, das Theoriereservoir der Studierenden aufzubauen. Ein Beispiel ist die Arbeit mit Kommunikationstheorie, wo wir mit Design in Bezug auf Kommunikationsmodelle und als Medium der Kommunikation gearbeitet haben. Design ist dabei in seiner ganzen Breite zu sehen: Vom Industriedesign bis zum Web 2.0 Wir haben z.B. mit der medialen Duplizität von Ver- und Entschlüsselung, Kodierung und Dekodierung, »encoding« und »decoding« gearbeitet. Der Zweck war, über die Kodierung von kultureller Bedeutung in Designprodukten und die sinngebende Rolle der Dekodierung seitens der Konsumenten zu reflektieren: Wie Bedeutung in Design entsteht, wo sie entsteht und von welchen Faktoren sie abhängig ist. Der englische Kulturwissenschaftler Stuart Hall hat im Rahmen der englischen Cultural Studies ein Modell vorgeschlagen – von älterem Datum, aber sehr anschaulich – das wir dann diskutiert und in einem Workshop überprüft haben.34 Die Aufgabe war, dass die Studierenden versu33 Vgl. dazu Schön: The Reflective Practitioner. 34 Hall, Stuart: »Encoding/Decoding«, in: Stuart Hall et al. (Hg.): Culture, Media, Language, London: Hutchinson 1980, S. 128—138. Der Workshop war von Halls eigenen Workshops mit Lego inspiriert; siehe www.theory.org.uk/lego-hall.html ›››
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chen sollten, verschiedene Situationen in Lego zu bauen, zu kodieren und dann zu sehen, ob andere sie ablesen, dekodieren, konnten. Das Designmaterial war gegeben und allen vertraut; die Studierenden sollten die dabei implizierten »frameworks of knowledge«35 überlegen und darüber reflektieren, was die Bedingungen der Kodierung/Dekodierung überhaupt sind: Wie sind die Prozesse der Bedeutungsübertragung in Design? Ferner konnten die Studierenden sich selber fragen, wie sich die Bewegung von Kodierung und Dekodierung in ihren eigenen Praxen spiegelt, und wie sie von diesem Wissen profitieren können. Die Umsetzung der theoretischen Ansätze ist stets ein unendlicher Prozess, muss aber irgendwo ansetzen. Abb. 2: Kodierung und Dekodierung mit Lego als Medium. In einem Workshop sollten die Studenten im Programm »Master in Design« versuchen, verschiedene soziale Situation in Lego zu bauen und dabei gewisse Intentionen hineinlegen, kodieren, die dann andere zu dekodieren versuchen sollten.
In den Masterabhandlungen, die die Studierenden zur abschließenden Prüfung im Sommer 2009 verfassten, war es häufig ihre eigene Ambition, Aspekte der eigenen Designpraxis »zur Sprache« zu bringen. Dabei ging es darum, Theorien zum Schlüssel eines gesteigerten Verständnisses zu verwenden, wobei auch genau vorgeführt wurde, dass Theorie im Design nur ihre Relevanz als umgesetzte Theorie gewinnt, was freilich eine Arbeit der Interpretation fordert, die wegen der unermesslichen Breite des Designbereiches sehr weitgreifend sein kann. Im ersten Projekt des Grafikdesigners Hans Christian Asmussen ging es darum, zu fragen, wie Grafikdesigner/-innen arbeiten, und ihnen dann eine Reihe von Modellen innerhalb der Designmethodentheorie zu präsentieren. Die Prämisse war, dass diese Art von Theorie unmittelbar Praxis thematisiert, jedoch den Designern/-innen völlig unbekannt ist. Dabei könnten sie aber von dieser Kenntnis profitieren. Asmussen hat dann versucht, verschiedene theoretische Ansätze (Lawson, Schön) in eigene, grafisch bearbeitete Modelle umzusetzen, [17.02.10]. In der jüngsten Zeit ist auch produktiv mit Design innerhalb eines Kommunikationsparadigmas gearbeitet worden; Crilly, Nathan et al.: »Design as Communication: Exploring the Validity and Utility of Relating Intention to Interpretation«, in: Design Studies Volume 29, Issue 5 (2008), S. 425—457. 35 Vgl. Hall: »Encoding/Decoding«, S. 130.
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die er dann Grafikdesignern/-innen vorgelegt und mit ihnen diskutiert hat. Das Ergebnis, welches eigentlich eine Vorstufe zu einem weiteren Projektes ist, war, dass sich viele grafische Designer/-innen mit der Reflexion-in-Handlung, »reflection-in-action«, von Donald Schön identifizieren konnten; dass sie darin ihre eigenen Designprozesse gespiegelt sahen. Hans Christian Asmussen hat danach ein eigenes Modell entwickelt, das basierend auf diesem Wissen faktische Designprozesse grafischer Designer/-innen abzubilden versucht. Ein nächster Schritt wäre zu fragen, wie dieses Wissen für diese auch praktisch von Nutzen sein könnte. Das Projekt von Asmussens ist ein Beispiel direkter Vermittlung und Übersetzung von Theorie in und für die Praxis. Abb. 3: Modell der praktischen Umsetzung von Donald Schöns reflection-in-action, wie grafische Designer es nach Hans Christian Asmussen beschrieben haben. Dem Modell zufolge vollzieht sich der Designprozess auf zwei Ebenen. Zuerst besteht eine immerwährende Dialektik von Reflexion und Handlung. Dann verläuft der Designprozess spiralförmig zum Entschluss, indem der Reflexions- und Handlungsraum sich stets in der Suche einer grafischen Lösung einengt. Modell: Hans Christian Asmussen.
Im zweiten Projekt hat Textildesignerin Helle Graabæk mit dem schwer zu greifenden Begriff von »Atmosphäre« gearbeitet. Sie hat die Frage gestellt, wie Atmosphäre in Räumen überhaupt zu begreifen ist und wie sie mit Techniken der Textildesigner/-innen zu evozieren wäre. Sie hat dann produktiv mit den zwei Operationen von Stratifizierung der Theorien und Interpretation gearbeitet, wobei sie das philosophisch-phänomenologische Rahmenwerk von Gernot Böhme verwendet hat und sie mit Patrick Jordans instrumentellem Begriff von emotionellen Dimensionen in Design ergänzt.36 In dieser Schichtung 36 Die Haupttexte waren das Buch von Jordan, Patrick: Designing Pleasurable Products, London: Taylor & Francis 2000, und zwei Aufsätze von Böhme, ins Dänische übersetzt: Atmosfære. Den kropslige tilstedeværelses rum og rummet som fremstillingsmedie + Atmosfærer: Forbindelsen mellem musik og artiktektur hinsides fysikken, Kopenhagen: Kunstakademiets Arkitektskole 2007. Andere relevante Texte von Böhme wären Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Wilhelm Fink Verlag 2001, und Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.
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Abb. 4: Tietgenkollegiet (Studentenwohnheim) in Kopenhagen, 2005. In der Arbeit mit Farben und mit der Taktilität und Textur der Oberflächen wurden Techniken aus Textildesign verwendet, wobei, so die These von Helle Graabæk, eine besondere Atmosphäre evoziert werde. Hauptarchitekt: Lundgaard & Tranberg, Textildesign: Mathilde Aggebo/ Julie Henriksen, Photo: Helle Graabæk.
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der Theorien liegt schon eine interpretative Operation, d.h. eine Entwicklung eines interpretativen Verfahrens. Dabei zeigte es sich wieder, dass »reine«, nichtempirische Theorie in diesem Zusammenhang untauglich ist; erst in der Analyse eines Beispiels hervorragenden Zusammenspiels von architektonisch durchdachten Räumen und Einrichtung mit der Einbeziehung textildesignfachlicher Kompetenzen zeigte sich, wie genau in diesem spezifischen Fall Atmosphäre evoziert werden konnte. Durch den Umweg über die Theorien von Böhme und Jordan ergaben sich strukturelle Einsichten darüber, wie Atmosphäre in Räumen generell möglich ist (Ricœurs »Erklären«), die dann eine Orientierung der Analyse angab, wobei aber auch klar wurde, dass es erst durch die genauen Konstituenten der Analyse und ihres Bezugs auf den konkreten Fall des Tietgen-Wohnheims in Kopenhagen überhaupt möglich war, die Theorie anzueignen (Ricœurs »Verstehen«). In einem »Verstehen durch und in der Distanz« wurde die Distanz zwischen Theorie und konkreter textildesignfachlicher Praxis die produktive Prämisse für ein neues Verstehen darüber, wie Atmosphäre überhaupt in Architektur und Räumlichkeit aufzufassen und zu analysieren wäre. In der Analyse entwickelte sich die anwendbare, umgesetzte Theorie, die eine Richtung dafür angab, wie Atmosphäre im Spiel der harten und weichen Oberflächen, in Ornamenten, in Wahl der Farben, d.h. durch die Planung der sinnlichen Begegnung zwischen Oberflächen und Menschen, zu evozieren sei. In Graabæks Projekt wurden scheinbar praxisferne philosophische Konzepte in Bezug auf Designpraxis reflektiert, was freilich eine interpretative Herausforderung war, die einerseits die Komplexität der Umsetzung vorführte, andererseits aber auch deren Möglichkeit indizierte: Dass es stets produktiv ist, den Rahmen der Theorie und Forschung um Design zu erweitern, da Design sich produktiv von vielen Seiten informieren lässt, sodass es zugleich ein Bewusstsein der interpretativen Herausforderung bedarf, damit die Theorien und Einsichten der Forschung durch die Praxis aktualisiert und umgesetzt werden können.
Umsetzung durch Interpretation Design kann heute eine Position einnehmen, die sowohl Herausforderungen mit sich bringt als auch eine erhebliche Chance bedeutet: Als eine Disziplin, die verschiedene zeitgenössische Diskurse, Entwicklungen und Prozesse enthalten und synthetisieren und diesen dadurch eine zukunftsweisende Richtung geben kann, stellt sich Design in seiner Vielfalt und vermittels seinen methodischen Verfahren
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als zentrales Werkzeug für eine produktive Bearbeitung der Zukunft dar. Einerseits ist Design in seiner Ausweitung und Einbeziehung von einer Vielfalt von Diskursen zentrifugal konstituiert; alles kann in und durch Design verhandelt und neu gedeutet werden. Andererseits ist Design auch als eine Reihe von konkreten Fächern anzusehen, die mit ihren jeweiligen verschiedenen Traditionen, Techniken und Form- und Materialkenntnissen den Prozess der Synthetisierung von unterschiedlichen Diskursen vollziehen sollen. In diesem Sinn ist Design zentripetal konstituiert. In der Bewegung zwischen zentrifugaler Ausweitung und zentripetaler Synthetisierung öffnet sich ein Raum der Interpretation, und je komplexer und umfangreicher die Konzeption von Design wird, desto notwendiger wird die Erhöhung des Bewusstseins des interpretativen Verfahrens. Nur mit hoher Reflexivität kann Design komplexe Problemfelder in konkrete Lösungsvorschläge umsetzen und nur so kann Design sich als eine generelle Methode und als eine allgemeine Disziplin der Umsetzung darbieten.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Auf den Spuren einer Kunst der Forschung Sønke Gau und Katharina Schlieben
Kurze Vorrede In diesem Band werden unter anderem Designpraktiken als Wissenspraktiken befragt. Unser Beitrag »Auf den Spuren einer Kunst der Forschung«,1 der in Form eines Dialoges konzipiert ist, nähert sich dem befragten Kontext von einer leicht verschobenen Perspektive her. Er beschäftigt sich mit Wissen generierenden Praxen im Feld der Kunst und geht der Frage nach den verbindenden Momenten zwischen einer »forschenden Kunst« und einer »Kunst der Forschung« nach. Unsere Überlegungen gehen dabei von der Annahme aus, dass Aspekte dieser Verbindungen sich in ähnlicher Weise auch grundlegend in dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Theorie und Praxis finden lassen – wie es derzeit auch in der Designforschung intensiv diskutiert wird. Neben offensichtlichen Übersetzungsproblemen ermöglicht der Austausch, bzw. ein »Dazwischen«, aber auch produktive Ergänzungen und Kommentierungen. »Wissensproduktion« wird häufig nach wie vor den Wissenschaften per se zugeordnet. Es ist unserer Meinung nach aber dringend notwendig, hier gewohnte Zuordnungen, bzw. Zuschreibungen zu reflektieren und zu durchbrechen. Epistemische Praxen sollten ohne disziplinäre Einschränkungen nach ihren Möglichkeiten und Potenzialen befragt werden. Auch wenn die in manchen Kontexten beinahe inflationäre Verwendung des Begriffs »Wissensgesellschaft« auch einen Wunsch nach transdisziplinärer »Wissensproduktion« zu transportieren scheint, so kommt die Diskussion über methodologische Ansätze verschiedener Wissenskontexte aus Theorie und Praxis und ein Dialog zwischen ihnen oft zu kurz. Dieser Beobachtung folgend, erscheint es uns auch nicht sinnvoll, eine Trennung zwischen 1
Der Text basiert auf Gedanken, die wir erstmals für unseren Beitrag »Verbindungen zwischen einer forschenden Kunst und einer Kunst der Forschung«, in: Anton Rey/ Stefan Schöbi für das ipf – Institute for the Performing Arts and Film (ZHdK) (Hg.): Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven, Zürich 2009, S. 52—78 formuliert haben. Für unsere dialogische Lesung im Rahmen der DGTF-Jahrestagung 2009 wurde der Text überarbeitet und ergänzt.
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gestaltenden angewandten Praxen des Designs und anderen künstlerischen Praxen vorzunehmen, so weit sie jeweils ihre Produktionsund Rezeptionskontexte kritisch reflektieren. Trotz teilweise unterschiedlicher Vorgehensweisen lassen sich in beiden Bereichen zahlreiche Beispiele finden, welche die kritische Reflexion der gesellschaftsrelevanten Kontexte zu einem inhärenten Bestandteil ihrer Praxis gemacht haben. Gerade auch die Designforschung zeigt in vielen Fällen, dass sie an einer kritischen Befragung und Visualisierung epistemischer Praxen und Prozesse interessiert ist. Daraus ergibt sich ein Potenzial, dass unserer Meinung nach einen wichtigen Beitrag leisten kann für eine grundlegende und transdisziplinäre Diskussion um den »blind spot«, der sich aus der Frage nach einer Beschreibbarkeit und Greifbarkeit von Denkfiguren im Zusammenhang mit »Wissensproduktion« speist. Denkfiguren verstehen wir hierbei in der Diskurstradition quasi als »Werkzeugkasten« einer Disziplin. Ihre Funktion besteht darin, die Komplexität von Informationen zu erfassen, zu beschreiben und Wissensfelder zu strukturieren. Diese Formung und Gliederung von Informationen geht zwangsläufig einher mit einer Reduktion, die einerseits produktiv sein kann, aber andererseits Gefahr läuft, Wissen und Methoden der Wissensgenerierung, die abseits des eigenen Zugangs liegen, zu marginalisieren oder gleich gänzlich zu übersehen. So finden sich derartige Denkfiguren sowohl in theoretischen Modellen der Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften als auch in Kunst- und Designdiskursen wieder. Diese zu erforschen – auch in Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Differenzen –, sie zu beschreiben und sie miteinander in Dialog zu bringen ist notwendig, um nicht weiterhin polare disziplinäre Denkmuster zu reproduzieren. Stattdessen muss es darum gehen, möglichst offen voneinander zu lernen und produktiv eine Methodenvielfalt zu generieren, die eine gleichberechtigte Anschauungsvielfalt herstellt, welche wiederum erneut zur Disposition gestellt werden kann. Eine Untersuchung fachspezifischer Methodologietraditionen ermöglicht dabei Rückschlüsse zu ziehen, welche Methoden wiederum welche Denkfiguren hervorgebracht haben und in welcher Performativität diese erfahrbar werden. Dies führt weiter zu Fragen nach ihrer Materialität, genauso aber zu Fragen nach den beteiligten Akteurskonstellationen und ihren jeweiligen Kontexten, welche sie hervorbringen. Das eine derart angelegte Untersuchung des Zusammenhangs zwischen einer »forschenden Kunst« und einer »Kunst der Forschung« zu Übersetzungsproblemen und Missverständnissen führen kann, liegt auf der Hand, da das Sich-ins-Verhältnis-Setzen vor dem Hintergrund der jeweils eigenen Sprache erfolgt. Über den Prozess des
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dialogischen Verhandelns kann jedoch eine Annäherung stattfinden, die Differenzen anerkennt und diese produktiv macht.
Ein möglicher Dialog auf der Suche nach einer Kunst der Forschung Y »Missverstanden-Werden« und »Missverstehen« gehören wahrscheinlich zusammen und sind Teil eines kommunikativen Prozesses, der um einen Kern des Unaussprechlichen kreist. Aber woher rührt das Unaussprechliche bzw. das Missverständnis? Bei einem Missverständnis treffen zwei Sicht- oder Interpretationsperspektiven zusammen, die im ersten Moment nicht zusammenzubringen sind, aber in gewisser Weise dazu auffordern, die Spur des anderen und des eigenen Gedankens gleichzeitig aufzunehmen und die Argumentationslogiken rückzuverfolgen, um sie zusammenbringen zu können. Bei diesem Versuch können eine ganze Reihe von Reaktionen ausgelöst werden. Sie können produktiv, manipulativ, witzig, perspektivisch ergänzend, verletzend oder hilfreich sein. Auf jeden Fall motivieren und provozieren sie einen Kommunikationsbedarf, der nicht selten zu komplexen Ebenen führt. Manchmal im rechthaberischen Sinne, oder aber im notwendigen Sinne des sich »Erklären-Wollens« oder auch »-Müssens«. X Ein Verstehen im wörtlichen Sinne kann es wohl gar nicht geben. Letztendlich bleibt es immer eine Annahme, jemanden anderen verstehen zu können, da wir niemals genau wissen können, was ein/-e Kommunikationspartner/-in wirklich zum Ausdruck bringen möchte. Daher ist meiner Meinung nach der Begriff »Verstehen«, zumindest soweit er die Möglichkeit eines vollkommenen Verstehens impliziert, irreführend, denn er suggeriert dann ein unerreichbares Ideal und verstellt den Blick auf seine Grundlage, die äußerst porös ist. Der schöne Schein des gegenseitigen Verstehens beruht eigentlich auf dem Nicht-Verstehen. Ein völliges Äquivalenzverhältnis zwischen zwei Subjekten kann es nicht geben, Kommunikation ist also selbst in ein und derselben Sprache nur durch einen permanenten Übersetzungsprozess auf der intersubjektiven Ebene denkbar – also eigentlich nur als Annäherung an das, was in etwa gemeint sein könnte, und dabei kann es natürlich auch zu Missverständnissen kommen. Das liegt auch daran, dass in jedem Versuch von Kommunikation immer ein gewisser Anteil von Projektion enthalten ist – von mir auf den anderen und umgekehrt. Im besten Fall überprüfen wir jedes Mal während des Kommunikationsprozesses dieses Bild und revidieren es gegebenenfalls. Problematisch wird es erst in dem Moment, in dem die Bereit-
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schaft dazu aufgegeben wird, weil man bestimmte Typisierungen getroffen hat, zum Beispiel wenn man glaubt jemanden so gut zu kennen, dass man diese Überprüfung nicht mehr vornehmen muss. Dann glaubt man zwar zu verstehen, aber eine Übersetzung findet nicht mehr statt… Y Diese Überlegungen zu Übersetzungsvorgängen ließen sich erweiternd nicht nur auf die kommunikative Beziehung zweier Subjekte, sondern auch die Beziehung zwischen Akteursfeldern, Praxisfeldern und Wissensfeldern beschreiben. Dies ist in der kulturellen Wissensproduktion zum Beispiel notwendig, da ansonsten sich Bilder von Programmen verselbstständigen und festsetzen, ohne diese Projektionen auf ihren Wirklichkeitscharakter oder ihre Handlungsfelder zu überprüfen. Das Bild hat sich quasi zum Phantasma ausgewachsen, welches sich aber – auf Grund dessen, dass es nicht als solches erkannt wird – manchmal als ziemlich wirkungsmächtig herausstellt. X Ja, zum Beispiel das Bild und Verständnis von Wissenschaft und Kunst. Eines, das häufig polar gedacht wird, genauso wie das Verhältnis von Wissen und Produktion, Theorie und Praxis, angewandte und nichtangewandte Kunst oder eine Opposition von kulturellen Praxen und forschenden Erkenntnissen. Künstlerische Arbeiten bedienen sich historisch schon immer wissenschaftlicher Verfahren und die Wissenschaften künstlerischer Darstellungs- und Visualisierungstechniken. Forschung ist aber ein Begriff, der heute als Erstes mit wissenschaftlichen Bereichen in Verbindung gebracht wird – trotzdem findet Forschung natürlich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen statt, zum Beispiel in den Künsten. Dass in jüngster Zeit die Verbindung von Kunst und Forschung vermehrt und teilweise äußerst kontrovers diskutiert wird, hat verschiedene Gründe. Y Als Auslöser der aktuellen Debatte lässt sich unter anderem der Wandel der Hochschulen, Universitäten und Akademien im Zusammenhang mit dem sogenannten Bologna-Prozess benennen. Der Versuch, einen einheitlichen europäischen Bildungsraum zu schaffen, hat neben den angestrebten Harmonisierungen in der Hochschullandschaft auch zu einem stärkeren Einfluss ökonomischer Interessen, sowohl auf die Lehr- und Lernstrukturen als auch deren Inhalte geführt. Der Bachelor-Abschluss zielt auf eine schnelle Qualifikation für und eine Integration in den Arbeitsmarkt, für den zusätzliches Wissen quasi »unnützliches Wissen« im Sinne einer direkten beruflichen Anwendbarkeit wäre. Die daraus resultierende Bewertung von Wissen basiert auf einem ökonomischen Imperativ (der sich mittlerweile auch an anderer Stelle an Hochschulen durchgesetzt hat und in der Zunahme von Vertreter/-innen der Wirtschaft in Gremien oder in der
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Ausrichtung von Forschungsprogrammen manifestiert). Meist steht der Wunsch einer Verwertbarkeit im ökonomischen Kontext im Vordergrund – es handelt sich im weitesten Sinn also um angewandte Forschung. In diesem Zusammenhang fällt der Großteil der finanziellen Mittel wissenschaftlichen Disziplinen zu, deren Forschungsergebnisse einen direkten wirtschaftlichen Nutzen erhoffen lassen: zum Beispiel insbesondere Naturwissenschaften, welche »Zukunftstechnologien« ermöglichen sollen. X Hingegen erhalten Geistes- und Kulturwissenschaften nur einen kleinen Teil des Etats und werden zunehmend marginalisiert. Die künstlerischen Disziplinen rangieren dann weit abgeschlagen am Ende der Skala. Abgesehen von dem Umstand, dass noch Uneinigkeit darüber herrscht, ob es künstlerische Forschung und Wissensproduktion überhaupt gibt, und was sie sein könnte, wird vorsorglich auch hier eine ökonomische Verwertbarkeit angestrebt. Neben diesem Legitimationsdiskurs lässt sich als weiterer Grund für die kontroverse Diskussion um künstlerische Forschung die Vereinnahmung des Begriffs und der Tätigkeit »Forschung« durch die (Natur-)Wissenschaften anführen. Dies zeigt sich an der Oberfläche schon daran, dass häufig von »Kunst und Forschung« gesprochen wird und eben nicht von »künstlerischer Forschung«. In dieser Sprachregelung drückt sich aus, dass sich die Kunst der Forschung maximal über ein »und« annähern kann und eine genuin künstlerische Forschung eigentlich nicht denkbar ist. Y In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die sogenannten exakten Wissenschaften fast schon hegemoniale Ansprüche ihres Wissenschaftsbegriffs ausüben und dass sie bestrebt sind, ihn auch gegenüber anderen Dispositionen des Wissens durchzusetzen. Dabei ausgeblendet wird die jedoch historisch enge und kontinuierliche Verbindung von Kunst mit Wissensgenerierung, -darstellung und Forschung. Die derzeitige Hegemonie einer bestimmten Definition von Forschung, die für sich beansprucht, maßgeblich für die Wahrheit und Relevanz auch anderer Forschungsbereiche zu sein, führt zu einer homogenisierenden Wertung, die letztendlich andere Zugänge der Wissensgenerierung und Inhaltsproduktion ausschließt. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe haben in ihrer Hegemonietheorie2 darauf hingewiesen, dass jede vermeintliche Objektivität notwendigerweise die Unterdrückung dessen voraussetzt, was sie durch ihr Zustandekommen ausschließt. Hegemoniale Systeme, politische Systeme, Wertvorstellungen und letztlich auch Identitäten konstituieren 2
Vgl. Laclau, Ernesteo/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen 1998.
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sich über kontingente Grenzziehungen. Sie alle definieren sich über Ein- und Ausschlussmechanismen. X Die notwendige Kritik von Ausgrenzungs- und Ausblendungsmechanismen muss auch ihre eigenen Inklusionen und Exklusionen reflektieren, will sie nicht durch die Verschleierung der diffizilen Konstruktionen von Grenzziehungen ungewollt neuerliche Festschreibungen (re-)produzieren. Insofern ist es notwendig, im Zusammenhang mit der Frage nach künstlerischer Forschung nicht nur den hegemonialen Wissenschafts- und Forschungsbegriff zu hinterfragen, sondern auch das immer noch weit verbreitete (Selbst-)Verständnis von Kunst oder künstlerischer Produktion als das gesellschaftlich »Andere«, welches über Zuschreibungen und Begrifflichkeiten wie dem Schöpferischen, dem Schönen, dem Freien, Autonomen und Ungebundenen oder auch dem Genie definiert wird. Die Wirkmächtigkeit dieser tradierten Klischeevorstellung von Kunst und künstlerischen Tätigkeiten lässt sich zu einem Teil auch darauf zurückführen, dass die Konstruktion und Aufrechterhaltung dieses Mythos eben nicht nur Nachteile für die Beteiligten mit sich brachte und immer noch bringt. Der Frage »Was ist ein Künstler?« müsste man nach Irit Rogoff zunächst begegnen mit der Frage »Was ist ein Theoretiker?«.3 Y Gerade in dieser Dichotomie von »Eigenem/Anderem« übernimmt das vermeintlich »Andere« die Funktion eines Spiegels, in dem sich das »Eigene« spiegelverkehrt erkennen kann. Letztendlich sind daher sowohl der hegemoniale Forschungsbegriff als auch die Konstruktion von Kunst als das gesellschaftlich »Andere« Teil ein und desselben Prozesses der Selbstvergewisserung über Abgrenzungen, die verschleiern, wie eng die Künste mit dem epistemischen Feld von Wissen und Forschung verbunden sind oder sich gar als epistemische Praxis begreifen. Die Verfestigung der jeweiligen Gebietsansprüche und -einteilungen könnte man mit Laclau auch als eine »Verräumlichung« von Diskursen beschreiben. Als »Verräumlichung« bezeichnet Laclau Praktiken, die an einer Fixierung von Bedeutung arbeiten. Da jedes System jedoch von konstitutiven Ambivalenzen durchzogen ist, kann eine vollständige Festschreibung nicht erreicht werden. Gegen die »dislokatorischen« Effekte von Zeit bedarf es einer kontinuierlichen Artikulation der Fest- und Fortschreibung von Bedeutung. Dies geschieht unter anderem durch Wiederholungen. X In Bezug auf die konstruierte Opposition von Kunst vs. Wissenschaft/Forschung bedarf es aber dringend einer Unterbrechung 3 Rogoff, Irit: »What is a Theorist?«, in: Maria Hlavajova/Jill Winder/Binna Choi (Hg.): On Knowledge Prodduction, Frankfurt a.M.: BAK, basis voor actuele Kunst, Utrecht und revolver, Archiv für aktuelle Kunst 2008, S. 142.
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dieser Wiederholung und damit einer statischen Kategorisierung, welche das »Eigene« als abgeschlossene Einheit begreift und das »Andere« im »Außen« lokalisiert. Dagegen sollte eine prozessuale Differenzerfahrung ermöglicht werden, welche verschiedene Modi der Produktion und Organisation von Wissen anerkennt und hegemoniale Konstellationen aufbricht zugunsten von differenzierten Sichtweisen, welche die hybriden Positionen des »Dazwischen« berücksichtigen und bestärken. Ernesto Laclaus Konzept der »Zerstreuung« (»dislocation«) favorisiert Diskontinuitäten, Fragmentierungen, Differenzen und Antagonismen. Für Laclau hat die Zerstreuung positive Züge, wie Stuart Hall festhält. Sie bringe die stabilen Identitäten der Vergangenheit ins Wanken und eröffne die Möglichkeit neuer Artikulationen, die Erfindung neuer Identitäten, den Entwurf neuer Subjekte und damit das, was Stuart Hall »die Neugruppierung der Struktur um einzelne Knotenpunkte der Artikulation herum« nennt.4 Y Passend wäre da auch der Verweis auf Paul Feyerabends Idee, dass Wissenschaft sich als anarchistische Aktivität oder Praxis verstehen könnte. Mit seinem Buch »Wider den Methodenzwang« hat er sich ja nicht nur Freunde gemacht. Er liest die Wissenschaftsgeschichte in einem anarchistischen Sinne, indem er darlegt, dass Wissenschaftler/-innen sich gerade häufig nicht an feste Regeln gehalten haben und dies zu wichtigen Erkenntnissen geführt habe. Er forderte gewissermaßen einen selbstkritischen und gleichzeitig toleranteren Umgang mit Widersprüchen und Inkonsequenten.5 X Was bedeutet dies nun für die Krux zwischen Theorie- und Praxisforschung? Oder Wissen und Produktion? Einem vergleichbaren Legitimationsdruck – wie derzeit die künstlerische Forschung ihn erlebt – sahen sich auch Forschungsansätze von Geisteswissenschaften und vor allen Dingen von kulturwissenschaftlichen Disziplinen ausgesetzt. Während Erstere längst als »wissenschaftlich« anerkannt worden sind, wurde die Kulturwissenschaft nach wie vor mit dem Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit konfrontiert. Nicht selten wurde und wird das kulturwissenschaftliche Programm für seine transdisziplinäre Herangehensweise kritisiert. Dabei handelt es sich um dynamische Wechselbeziehungen: Das Programm der kulturwissenschaftlichen Forschung hat sich intensiv mit der Forschungspraxis von Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie auseinandergesetzt, genauso wie Geistes- und Sozialwissenschaften vom »cultural turn« nicht unberührt geblieben sind. Gerade 4
Hall, Stuart: »Die Frage der kulturellen Identität«, in: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994, S. 185.
5 Vgl. Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 13ff.
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die Kulturwissenschaften untersuchen die Einflussnahme und die Schnittstellen von künstlerischen und wissenschaftlichen Methoden, welche sowohl die kulturelle Produktion als auch die kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze nicht unberücksichtigt gelassen haben. Y Die Theoriediskussion und Forschungspraxis ist jedoch nach wie vor geprägt von der Frage, ob Kultur sich auf der Ebene von Diskursen/Texten oder auf der Eben von Praktiken bewegt und entsprechend untersucht werden müsste. Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch »Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie«6, dass die zwei kulturtheoretischen Ansätze »Kultur als Text und Kultur als Praxis« unterschiedliche forschungspraktische Optionen liefern in Bezug darauf, was Kultur ausmacht: Nämlich, ob Kultur in erster Linie auf der Ebene von Diskursen oder auf der Ebene sozialer Praktiken zu situieren ist. Reckwitz beschreibt, inwiefern einem textualistischen Kulturverständnis, Kulturtheorien gegenüberstehen, welche »die symbolischen Ordnungen der Kultur auf der Ebene körperlich verankerter, Artefakte verwendender und öffentlich wahrnehmbarer sozialer Praktiken verorten«7. Verschiedene Versionen praxeologischer Ansätze finden sich seiner Meinung nach in Pierre Bourdieus »Theorie der Praxis« (1972), Judith Butlers »Politik des Performativen« (1997), aber auch schon in Wittgensteins Sprachspielphilosophie (1953), die alle sozialen Praktiken untersuchen.8 X In diesem Sinne ist Marion von Ostens Einwand, den sie unter anderem in dem Buch »On Knowledge Production«9 darlegt, ein wesentlicher. Wissen und Erfahrungen sind oft zunächst nicht an Universitäten verhandelt worden, sondern aus sozialen Bewegungen hervorgegangen. Etwa die queer-kulturellen Bewegungen, koloniale Widerstandsbewegungen, Arbeiter/-innenbewegungen und andere subkulturelle Bewegungen haben neue Kontexte des Wissens und gesellschaftlich aktivierte Diskurse hervorgebracht, die später in die Forschung und Theoriebildung eingegangen sind. Aus kulturwissenschaftlich-praxeologischer Perspektive, so beschreibt Reckwitz, 6
Reckwitz, Andreas: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: transcript 2008.
7
Ebd. S. 43.
8 Vgl. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976; Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009; Wittgenstein, Ludwig: »Philosophische Untersuchungen«, in: Werkausgabe, Bd. 1 Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. 9
von Osten, Marion: »Such Views Miss the Decisive Point … the Dilemma of Knowledge-Based Economy and its Opponents«, in: Hlavajova/Winder/Choi: On Knowledge Prodduction, S. 126ff.
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erscheinen dann einerseits zum Beispiel »soziale Institutionen […] als Konfigurationen historisch-spezifischer sozialer Praktiken und auch Texte stellen sich als Bestandteile von bestimmten Rezeptions- und Produktionspraktiken dar« 10. Praxeologische Ansätze antworten andererseits durchaus aber auch auf textualistische Modelle und betreiben so etwas wie eine »Entintellektualisierung des Kulturverständnisses«, welche den Ort der Kultur und des Wissens in Richtung des praktischen Wissens verschiebt.11 Y Da sind wir nicht weit entfernt von dem berüchtigten »performative turn«, der Wissen nicht zuletzt in Handlungen und Prozessen verorten und verstehen möchte. Dieter Mersch12 betont seinerseits, dass es gerade die Performativität ist, in welcher sich die Praktiken der kulturellen Produktion und die der Wissenschaften unterscheiden. Die Praxis der kulturwissenschaftlichen Forschung müsste sich demnach derzeit mit der Frage nach praxeologischen Forschungsansätzen auseinandersetzen. Untersuchungen von Akteurkonstruktionen, Netzwerken, Artefakttheorien, informellen Praxen oder einer Kunst des Handelns, wie sie zum Teil die zeitgenössische künstlerische Praxis, aber auch soziologische und politische Theorien vorschlagen, müssten im Sinne der theoretischen Überlegungen, inwiefern Forschung und Kunst miteinander in Beziehung stehen, bzw. inwiefern künstlerische Praktiken von einer praxeologischen Forschung berücksichtigt werden müssten, dann verknüpft werden. X Neben den Kulturwissenschaften ist es aber auch der kuratorische Diskurs, welcher künstlerische Praxen abseits des Kunstmarktes in den Blick genommen hat und diese diskutiert. Notwendigerweise war und ist die kuratorische Praxis gezwungen, über die Möglichkeiten der Produktionsbedingungen von künstlerischer Recherche, Forschung und Praxis nachzudenken. Formate und Laborsituationen wurden entwickelt und ausprobiert. Herausgefordert haben dazu in erster Linie jene künstlerischen Praxen, die weniger werk- oder produktorientiert sind, sondern gesellschaftliche Prozesse analysieren, soziale Räume des Austauschs provozieren und Langzeitrecherchen künstlerischer Praxis oder translokale Verortungen favorisieren. Zu nennen wären da zum Beispiel die Copenhagen Free University, oder die School of Missing Studies oder die Future Academy usw., Wissensproduktionen, welche außerhalb der Univer-
10 Reckwitz: Unscharfe Grenzen, S. 44. 11 Ebd. S. 45. 12 Vgl. Mersch, Dieter: »Kunst als epistemische Praxis«, in: Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich/Berlin: diaphanes 2009, S. 34.
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sitäten stattfinden und notwendigerweise durch Selbstorganisation motiviert sind. Y Die Frage, was das für die Kunstinstitutionen bedeutet, führt an dieser Stelle zu weit, nur so viel vielleicht, dass diese, wenn sie sich als Ort der Wissensproduktion verstehen wollen, Modifikationen und Evaluationen in Bezug auf institutionelle Produktionsbedingungen mitdenken und -gestalten müssen. Sehr deutlich machen dies ja die forschenden künstlerischen Praxen, die Recherche nicht vor- oder nachgestellt definieren, sondern als Teil der Projektpraxis definieren und in ihrer Performanz auch in dieser Form sichtbar werden. Die Kunstinstitutionen müssen sich daher als Akteure in der Frage um die Verbindungen von Theorie und Praxis, Repräsentation und Produktion ebenso positionieren wie die akademischen Institutionen. X Also, wenn die Künste nicht nur andere und neue Wissensformen entwickeln, dann müsste die künstlerische Wissensbildung zugleich auch als Weiterentwicklung und Modifizierung wissenschaftlichen Wissens fungieren und verstanden werden. Eine Hierarchie zwischen »forschenden« und »beforschten« Positionen wird hier fragwürdig. Man müsste von Beziehungen in einem horizontalen Verhältnis sprechen und nicht von Subjekt-Objekt-Konstellationen. Bruno Latour hat diese Konstellation als »Interobjektivität« zwischen Menschen und Dingen beschrieben: Indem wir die Interaktion verschieben und uns mit dem Nicht-Menschlichen verbinden, können wir über die aktuelle Zeit hinaus in einer anderen Materie als unseren eigenen Körper überdauern und auf Distanz interagieren. […] Die alte Differenz der Ebenen resultiert einzig aus dem Vergessen um die materiellen Verbindungen, die es einem Ort ermöglichen, sich mit anderen zu verknüpfen, und aus dem Glauben, dass Interaktionen nur face-to-face ablaufen.13
Inwiefern verfolgt künstlerische Forschung aber eigene oder andere Praxen der Wissensgenerierung, die nicht in der akademischen Agenda bereits durchdekliniert worden sind? Welche Formate, Versuchsanordnungen und Methoden schlagen künstlerische Recherche und Praxis vor? Inwiefern kann die künstlerische Forschung dazu beitragen, die Frage nach der Forschung auch auf Prozesse der gesellschaftlichen Emanzipation zu übertragen? Welche Rolle spielt hierbei die Idee von Enthierarchisierung von Wissen und Wissensproduktion? Was ist unter Experten/-innenwissen und autodidaktischem Wis13 Vgl. Latour, Bruno: »Eine Soziologie ohne Objekte? Anmerkungen zur Interobjektivität«, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001), S. 237—252, hier S. 249f.
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sen zu verstehen? Wie funktionieren und verstehen sich kollektive Formen der Inhaltsproduktion? Auf welches Wissen wird zurückgegriffen, und wie werden transdisziplinäre Versuchsanordnungen durch künstlerische Verfahren erweitert, verändert, decodiert oder erneut generiert? Y In vielerlei Hinsicht haben Theoretiker/-innen, Philosophen/innen und Künstler/-innen immer wieder auf die Nichttrennbarkeit von Denken, Produktion und Präsentation gepocht. Nietzsche in den »Fröhlichen Wissenschaften«14 zum Beispiel. Gerade die Frage nach Enthierarchisierung von Wissen und Ansätze, das »Unmögliche zu denken« sind hier interessant. Derrida stellt in seiner Schrift »Die unbedingte Universität«15 das Unmögliche als die Bedingung der Möglichkeit des Möglichen dar. Das Unkontrollierbare, das Wege öffnen kann. Es müsste ja eigentlich auch um die Frage gehen, wo Wissensproduktion und künstlerische Forschung sich sehr nahe kommen, bzw. im Sinne eines gesellschaftlich emanzipativen Anliegen, wo eine Trennung unerheblich ist, sondern vielmehr die Ansätze an sich spannend sind. X Jacques Rancières Gedanken in »Der unwissende Lehrmeister«16 sind interessant in Bezug auf die Idee der Enthierarchisierung von Wissen und Wissensakteuren/-innen und auf die Fragen nach den Prozessen des Lernens selbst. In seinem Buch beschreibt er gewissermaßen »Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation«. Sein Untersuchungsgegenstand ist die »Jacotot-Methode«, die Anfang des 19. Jahrhunderts für Unruhen in Europa sorgte. Er beginnt sein Buch mit dem Satz: »Im Jahre 1818 erlebte der Franzose Jean Joseph Jacotot, Lehrbeauftragter für französische Literatur an der Universität von Löwen, ein intellektuelles Abenteuer«. 17 Der unwissende Lehrmeister Jean Joseph Jacotot lehrte, was er nicht wusste, und verkündete die Botschaft der intellektuellen Emanzipation: Alle Menschen haben die gleiche Intelligenz. Zurück zu Jacotots Methode selbst, die eng mit seinem Lehrauftrag in Löwen in Beziehung zu sehen ist. Die Situation war Folgende: Da Jacotot des Flämischen nicht mächtig war und seine Schüler des Französischen nicht, hatten sich die Schüler das Französische durch das Lesen von Literatur in zwei Übersetzungen selbst gelehrt. »Verstehen ist immer nur übersetzen, […]. Es gibt keine Sprache des Lehrmeisters. […] Lernen und 14 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Ditzingen: Reclam 2000. 15 Vgl. Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 16 Vgl. Rancière, Jacques: Der unwissende Lehrmeister – Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien: Passagen 2007. 17 Ebd. S. 11.
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Verstehen sind zwei Weisen, denselben Akt der Übersetzung auszudrücken«18, so analysiert Ranciere. Y Nora Sternfeld hat in »Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und Lernen bei Ranciere, Gramsci und Foucault«19 die implizierten autoritativen Strukturen der Lehre als Herrschaftstechniken genauer unter die Lupe genommen. Ihre Vermutung ist, wenn Wissen und dessen Vermittlung in Zusammenhang mit einer emanzipativen Veränderung der Gesellschaft gedacht werden, dann müsste das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden genauer betrachtet werden. X Rancière fasst Jacotots empirische Erfahrung in Löwen folgendermaßen zusammen und kritisiert gleichzeitig die überlieferte Idee einer Hierarchisierung von Wissen und Unwissen, die umgekehrt werden müsste: Man muss die Logik des Erklärsystems umdrehen. Die Erklärung ist nicht nötig, um einer Verständnisunfähigkeit abzuhelfen. Diese Unfähigkeit ist im Gegenteil die strukturierende Fiktion der erklärenden Auffassung der Welt. Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst zu beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann. Bevor die Erklärung ein Akt des Pädagogen ist, ist sie der Mythos der Pädagogik, das Gleichnis einer Welt, die in Wissende und Unwissende geteilt ist, in reife Geister und unreife Geister, fähige und unfähige, intelligente und dumme.20
Das Prinzip der Erklärung ist für Jacotot nach Rancière das Prinzip der Verdummung. Y Spannend sind Rancières Überlegungen in Bezug auf Enthierarchisierungsmomente von Wissensverortung und -aneignung, sowie die Idee individueller Ansätze von Lernen und was diese für eine individuelle (oder auch kollektive) Emanzipation bedeuten können. Wie kann nach autodidaktischen Verfahren Wissen produziert werden, oder die Frage nach dem sogenannten Expertenwissen neu gestellt werden? Ausgehend von systemtheoretischen Gedanken könnte man selbst organisiertes Lernen als einen selbst organisierten Prozess verstehen, in dem gleichberechtigte Elemente eines Systems in sich permanent verändernden Konstellationen miteinander vernetzt sind und in dem keine Trennung zwischen organisierenden, 18 Ebd. S. 20. 19 Vgl. Sternfeld, Nora: Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und Lernen bei Ranciere, Gramsci und Foucault, Wien: Turia und Kant 2009. 20 Rancière: Der unwissende Lehrmeister, S. 16/17.
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gestaltenden oder lenkenden Teilen stattfindet. Übertragen auf gesellschaftliche Bereiche ließe sich Selbstorganisation als ein Prozess beschreiben, in dem sich Subjekte in nicht hierarchischen Strukturen zusammenfinden, wobei Grundlagen, Ziele, Selbstverständnis, Methoden etc. dieser Gruppe aus sich selbst heraus entwickelt werden. Die Bereitschaft zur Kommunikation im Sinne eines polyfonen Austausches und antagonistischer Meinungsfindung wäre dementsprechend konstitutiv für selbst organisiertes Lernen. X Wenn Wissensproduktion und Lernen nicht kategorisch getrennt voneinander gedacht werden sollen, stellt sich neben den grundsätzlichen Fragen – wie wird Wissen produziert und wer vermittelt an wen warum – die Frage nach deren Verhältnis zueinander. Interessant ist die Überschneidung zwischen beiden Bereichen, welche vermeintlichen Dichotomien nicht reproduziert, sondern das »Dazwischen« als produktive Möglichkeit fokussiert. Ein möglicher Ansatz besteht darin, dass sich »Akteure/-innen« (seien sie praxis- oder/und theorieorientiert) und »Interessenten/-innen« des jeweiligen Wissensfeldes in einem Dialog begegnen, in welchem »Experten/-innenwissen« und »Interessiertenwissen« als gleichberechtigte Ebenen und die Rollen(-zuschreibungen) im Zusammenhang mit kollektiver Wissensproduktion austauschbar sind. Voraussetzung dafür ist es, den Moment der Vermittlung untereinander als gemeinsames Lernen/Verstehen zu begreifen und ihm ein eigenständiges wissensproduzierendes Potenzial zuzugestehen. Anders gesagt: Vermittlung versteht sich als ein Fragen, das keine Antwort impliziert, oder als ein Antworten, das keine Fragen vorwegnimmt. Y Ein enthierarchisierendes Moment steckt gewissermaßen auch im transdisziplinären Denken, welches eine lange Geschichte hat. Wie nah transdisziplinäre Verfahren der Wissenschaft dem künstlerischen Denken und Forschen sind, fällt zum Beispiel besonders auf, wenn man Carlo Ginzburgs Text zur Spurensicherung wieder neu liest. »Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«,21 so beginnt Ginzburg seinen Text »Spurensicherung«, auf den sich viele Theoretiker/-innen in Bezug auf die Erforschung des Forschens berufen haben. Er verweist auf analysierende, entdeckende Vorgehensweisen im Sinne der Erkenntnis im Bereich der Humanwissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die, so schlägt er vor, vielleicht dazu beitragen, »aus dem Dilemma der seichten Gegenüberstellung von Rationalismus und Irrationalismus heraus zu 21 Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin: Wagenbach 1995, S. 7.
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kommen«22. Ginzburg stellt dabei Verfahren von Sherlock Holmes jenen von Sigmund Freud oder jenen des Kunstwissenschaftlers Giovanni Morelli gegenüber. Diese Verfahren beschreibt er als Methoden der Interpretation oder Formen der »Indizienforschung«. Kleinen Details, Nebensächlichkeiten, scheinbar Wertlosem, unwillkürlichen Gesten und nicht beachteten Objekten oder Konstellationen, dem Singulären oder Individuellen werden dabei Interesse und Aufmerksamkeit geschenkt. X Ginzburg verweist auf Freud, der bereits in seinen Schriften Morellis Verfahren als eine nahe Verwandte der ärztlichen Psychologie dechiffriert hat, oder auf Castelnuovo, der Morellis Methode in Verbindung mit der Indizienforschung Sherlock Holmes’ gebracht hat. Er stellt Analogien der Methoden fest, die es allen Dreien erlauben würden, »unendliche feine Spuren, eine tiefere sonst nicht erreichbare Realität einzufangen«23. Spuren werden bei Sigmund Freud als Symptome, von Conan Doyle mit der Figur des Sherlock Holmes als Indizien und bei Giovanni Morelli als malerische Details definiert. Y Ja, er beschreibt die Indizienforschung auch als ein tendenziell stummes Wissen, weil sich seine Regeln nicht dazu eignen würden, formalisiert zu werden: »Niemand erlernt den Beruf des Kenners oder Diagnostikers, wenn er sich darauf beschränkt, schon vorformulierte Regeln in der Praxis anzuwenden. Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente […] eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition«.24 Ginzburg bringt vermeintliche Attribute und Formen der Erkenntnis, die häufig dem Irrationalen zugeschrieben worden sind, in Verbindung mit Verfahren des Entdeckens, Forschens und Analysierens. X Schon Freud hatte ja gefordert, wie Rancière beschreibt, eine Wissenschaft zu stützen, die gleichsam beabsichtigt, die Phantasie, die Poesie und die Mythologie inmitten der wissenschaftlichen Rationalität wieder herzustellen:25 Der neue Dichter, der geologische oder archäologische Dichter tut gewissermaßen, was der Gelehrte der Traumdeutung tut. Er geht davon aus, dass es nichts Unbedeutendes gibt und dass die prosaischen Details, die ein positivistisches Denken nicht beachtet oder auf eine schlichte physiologische Rationalität zurückführt, die Zeichen sind, in denen eine Geschichte verschlüsselt ist. Aber er kennt auch 22 Ebd. S. 7. 23 Ebd. S. 17. 24 Ebd. S. 49. 25 Rancière, Jacques: Das ästhetische Unbewusste, Zürich: diaphanes 2006, S. 36.
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die paradoxe Voraussetzung dieser Hermeneutik: Damit das banale sein Geheimnis preisgibt, muss es zunächst mythologisiert werden.26
Y In diesem Sinne beschreibt Rancière die Geschichte der Kunst als eine Geschichte von Denkregimen der Kunst, wobei man sich, so sagt er, »unter Denkregime der Kunst eine spezifische Weises der Verbindungen zwischen Praktiken, einem Modus der Sichtbarkeit und Denkbarkeit dieser Praktiken vorstellen muss, das heißt definitiv, eine Idee des Denkens selber«27. X Sowohl Rancière als auch Ginzburg sehen die Notwendigkeit, in Formen des Denkens, Wissens und Forschens eine Verbindung zwischen Praktiken und dem Modus der Sichtbarkeit, die das Denken erst ausmacht, herzustellen oder zu generieren. Dies betrifft sozusagen auch die Frage nach den Denkfiguren. Eine Denkfigur könnte man in diesem Zusammenhang auch als eine Annäherung an den »blind spot« beschreiben, der sich zwischen den Praktiken und dem Modus des Denkens verortet und versucht, diesen sichtbar zu machen. Y Die forschende wissenschaftliche und künstlerische Recherche arbeitet damit im eigentlichen Sinn transdisziplinär – wobei Transdisziplinarität weniger als Methode, sondern als Modus verstanden wird, als eine performative Praxis selbst, die erst auf Grund der dabei erscheinenden Phänomene wieder erweitert und fortgesetzt werden kann. Die recherchierenden, forschenden künstlerischen Praktiken sind damit einerseits nicht weit von Freud und Sherlock Holmes entfernt und bringen andererseits Phänomene zum Vorschein, die ihrerseits wieder untersucht werden können. Es handelt sich also mehr um ein Changieren zwischen dem Modus der Praxis und der Forschung, der Beobachtung und dem Verfolgen von sichtbaren und unsichtbaren Phänomenen, um eine Art permanente Erforschung der Möglichkeiten des Erkennens und deren Methoden selbst. Das Denken der Kunst wäre damit auch ein Denken über die Methoden und Performanz der Transdisziplinarität. X Häufig operiert die künstlerische Praxis mit sozusagen »entliehenen« wissenschaftlichen Methoden. Zum Beispiel wurden aus der Ethnologie und der Anthropologie das Modell der »Fallstudie«, des »Interviews« oder auch das Prinzip des »Mappings« adaptiert. Das »archivarische Vorgehen« gehört ebenfalls zur Tradition künstlerischer Praxis. Es geht bei diesen Adaptionen jedoch nicht um eine Eins-zu-eins-Übernahme, sondern sie werden durch den Prozess und 26 Ebd. S. 28. 27 Ebd. S. 35.
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die Manifestation der künstlerischen Praxis vorgeführt, reflektiert, modifiziert und/oder erweitert. Die enge Zusammenarbeit von Künstlern/innen mit »Experten/-innen« aus anderen Wissens- und Produktionsfeldern ist häufig Grundlage einer dialogischen Praxis, die eine erweiterte Form der Wissensproduktion im transdisziplinären Sinne experimentell erproben möchte. Y Enthierarchisierung von Wissen, transdisziplinäres Denken, das Unsichtbare, das sich im Modus des Denkens und der performativen Intervention zeigt, … all das muss berücksichtigt werden, wenn wir auf den Anfang unseres Gespräches zurückkommen. Wir haben die Tendenz eines hegemonialen Anspruchs der Wissenschaften auf den Begriff »Forschung« angesprochen, durch den andere, nicht der eigenen Definition entsprechende forschende Praktiken, wie zum Beispiel die künstlerische Forschung, ausgeschlossen oder marginalisiert werden. Dieser hegemonialen Vereinnahmung von »Forschung« durch einen dominanten Wissenschaftsbegriff mit einer Gegen-Artikulation zu begegnen, welche eine konfliktuelle Debatte darüber anregt, ob die ausschließliche und ausschließende Definition von Forschung als wissenschaftlicher Forschung nicht zu kurz greift und die derart konstituierten Grenzen der Disziplinen nicht zu eng gezogen sind, ist notwendig. Hiermit wird auch eine politisch-gesellschaftliche Ebene artikuliert, welche die Frage stellt: Was wollen wir wissen, welchen Wissensbegriff wollen wir verhandeln, welches Wissen produzieren, um nicht zuletzt auch den neoliberalen Vorstellungen von Wissen gegenübertreten zu können? X Das Dilemma der Frage, inwiefern die Kunst forscht oder die ästhetische Produktion eine epistemische ist, könnte als Frage umformuliert werden, inwiefern die diskursorientierte Forschung die Praxiserfahrungen der künstlerischen Produktion mitdenken müsste. Sozusagen den Ball zurückspielend müssten wir die Frage stellen: Inwiefern ist die Forschung, die sich für eine Kultur als Praxis interessiert, auf die Erforschungen, Methodologien und Erfahrungen der Praxis angewiesen? Vielleicht ist es an dieser Stelle notwendig, den Begriff der »Denkfigur« weiter zu fassen und ihn als einen produktiven und gestalterischen Akt zu verstehen, der zwischen Abstraktions- und Konkretisierungswunsch durchaus unausgesprochene Ebenen des Wissens mittransportiert. Würde man in diesem Sinn eine praxeologische Herangehensweise ernst nehmen, die auch impliziert, sich den materiellen Ausprägungen anzunehmen, und die damit sicherlich Design/ Designforschung mitberücksichtigen müsste, könnte man dem »blind spot«, der um die Frage der Wissensverortung kreist, näher kommen.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
DQI Interaction Design Research Kees Overbeeke, Stephan Wensveen, Caroline Hummels, Joep Frens and Philip Ross Im Anfang war die Tat (Goethe, Faustus)
Introduction The central question of the Designing Quality in Interaction Group (DQI) of the Eindhoven University of Technology, is »How to design for…?« The dots are filled in by the research objectives of the Department of Industrial Design, the environment in which we operate. What are these objectives, and how does our group approach them?
1 / Beliefs Before answering these questions, we will take a stance on our beliefs. Every scientist has a body of knowledge and a body of beliefs. Knowledge results from painstakingly conducted experiments, from theory, abstraction, and system. Knowledge is about how things are, about causality. Beliefs result from philosophy, intuition, awareness, experience, from our being-in-the-world, in a given culture, in a given time. Beliefs are about how we feel things might be, about serendipity. We find it important to spell out these beliefs, because these beliefs guide what we do, where we go, how we see, and what strikes our eyes. In particular, we believe the following: − Design is about people. It is about our lives, our hopes and dreams, our loneliness and joy, our sense of beauty and justice, about the social and the good. It is about being in the world. − There is a primacy of action. In accordance with Dourish’s and others’ approaches to epistemology, we strongly believe that meaning cannot be detached from action.1 Meaning is in (inter) action. There is a primacy of embodiment. 1
Dourish, Paul: Where the Action is: The Foundations of Embodied Interaction, Cambridge u.a.: MIT Press 2001.
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A design theory consequently must first be a theory of action and embodiment, and only then of meaning – not the other way round. Reflection on action is the source of knowledge.2 The methods used in research must be rooted in design practice, in the socio-cultural and multi-cultural environment, and they must be invigorated by experimental and technological methods from other disciplines. Intuition and common sense should be high on the agenda. They should be exploited to the maximum. »Le sens commun n’est pas si commun«, as Voltaire said. − We believe that design practice and research are powerful generators of knowledge. They are a way of looking at the world and transforming it, just as traditional disciplines are. Design teaching and research should therefore be interwoven. Where have these beliefs led us?
Lamps Figure 1 shows a highly interactive reading lamp designed and built by Philip Ross.3 Interacting with the lamp supports or even changes your value system. The lamp can also be programmed to support or change different values according to your personality. The lamp invites you, sees you, feels your touch and how you touch it: caressingly or not so caressingly. Figure 2 shows a lamp that »behaves«. It was designed and built by one of our bachelor students, Rutger Menges. It actually moves to seduce you.4 One might wonder its function could be. Surely nobody buys a lamp that does not do what they want? But these are not products for the market – these objects are physical hypotheses. They are carriers for research. Where did these hypotheses come from? The lamps are the result of integrating, through design skills, the knowledge and beliefs of a wide variety of fields into an experimental context: human sciences, movement sciences, socio-cultural awareness, and technology sciences ranging from electronics and informatics to the material sciences. This, in a nutshell, is what we think DQI research is about.
2
Schön, D. A.: Educating the Reflective Practitioner, San Francisco: Jossey-Bas 1990.
3 Ross, P. R.: »Ethics and Aesthetics in Intelligent Product and System Design«, Doctoral Dissertation, Eindhoven University of Technology 2008. www.idemployee. id.tue.nl/p.r.ross/ 4
Ibid.
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Fig. 1: Interactive lamp by Philip Ross. Fig. 2: Behaving lamp by Rutger Menges.
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A quick analysis of these lamps reveals the following: − They are about interaction, about opening up their functionality through the user’s actions. The problem with electronic devices is that they are not open to our actions. Our body is mechanical. We therefore need an »interface« that we can touch, push. Buttons? Interaction design is about exploring human perceptual-motor skills. − They are about reading in cozy corners, about feeling good, about beauty, about emotions. Interaction design is about exploiting human emotional skills. − They are about reading, about the cognitive. Interaction design is about exploring human cognitive skills. − They are about values. Values are personal but also essentially social. They make a social framework possible. Interaction design is about exploring human social skills. We will now discuss these points in detail and give our personal view.
Perceptual-Motor Skills About 25 years ago, these skills were our starting point and we have never let them go. Designers create meaning for people. Knowing how people perceive meaning is essential. We turned to J.J. Gibson’s theory of direct perception because it is a functional theory, it is about why we perceive.5 Gibson holds that the world is inherently meaningful, and that objects afford us possibilities of acting according to the scale of our bodies. Meaning emerges in action. Designing meaning therefore becomes designing »affordances«,” action possibilities that become meaningful in interaction. Gibson’s theory resulted from a long line of »new« thinking in Western philosophy, including phenomenology6 and American pragmatism.7 In his book about interaction design, »Where the Action is«, Paul Dourish made this point brilliantly. 8 Quite recently, the Swiss robot scientist Pfeifer made basically the same point in his book »How 5 Gibson, J. J.: The Ecological Approach to Visual Perception, Hillsdale, NJ, USA: Lawrence Erlbaum Associates 1986. 6
Merleau-Ponty, M.: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945.
7
James, W.: «What is an Emotion?», in: Mind (1884), pp. 188—205. Dewey, J.: We Think, Lexington, MA: D.C. Heath 1910.
8 Dourish, P.: Where the Action is.
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the Body Shapes the Way we Think«. 9 All these authors stress the importance of »acting-in-the-world,« of reflection being essentially reflection-on-action. At the same time, they abandon the central control paradigm. We are not beings that are solely defined by rational thinking. Our skills make us be. We will return to this point later. In his doctoral thesis, Stephan Wensveen made a model that predicts when meaning emerges in interaction: people need inherent information coupled to feedback from the product. 10 Inherent information is information that results from our actions, from the sensors in our muscles, our skin, from our sense of balance, etc. In brief, the body »knows« the impact it makes on the world. For all our admiration of Gibson’s theory, we felt uncomfortable with the notion of affordance. In 2000 we wrote: »Lament this clinical interpretation of affordance. People are not invited to act only because a design fits their physical measurements. They can also be attracted to act, even irresistibly so, through the expectation of beauty of interaction.«11 This leads us to our next point.
Emotional Skills Expressivity, beauty, and meaning are at the core of design. In 1999 we were confronted with the fact that our research and our teaching did not match. The research was about structural aspects of perception in the Gibsonian tradition, and the teaching was about the beauty of interaction. We could not change the teaching, as we taught what design is about. So we changed the research. Emotion became important. Stephan Wensveen did his PhD on emotionally intelligent products. He designed and built an alarm clock that reads your emotions by the way you set the wake-up time, thus integrating perceptualmotor and emotional skills.12 He is interested in how we interact and how we express ourselves in interaction, not just in the fact that we interact. This presupposes a freedom of interaction, i.e. there are multiple ways of interacting. Preferably, we should also be able to interact in a continuous and simultaneous way, and not just in a discrete and serial way as is the case with pushing buttons. Wensveen con9
Pfeifer, R.: The Body Shapes the We Think, Cambridge MA: MIT Press 2006.
10 Wensveen, S. A. G.: «A Tangibility Approach to Affective Interaction», Doctoral Dissertation, Delft University of Technology 2002. 11 Djajadiningrat, J. P./Overbeeke, C. J./Wensveen, S. A. G.: »Augmenting Fun and Beauty: A Pamphlet«, in: of DARE (2000), pp. 131—134. 12 Wensveen: A Tangibility Approach to Affective Interaction.
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cluded that product form is therefore not arbitrary. The form should allow us to interact freely with products.
Cognitive Skills It may be clear by now that we think human cognitive skills are overrated, although their celebration reaches very far back. We blame the Greeks. Timeo Danaos et dona ferentes, as Virgil said. We think the Romans were right. Western culture narrowly escaped this obnoxious influence.13 The Greeks had slaves, and they did the work. The rich had the time to philosophize, and quite naturally praised the hkakn (and the warfare) that made this pastime possible. We believe this led to a reversal of what is truly important: it led to a separation between making and thinking, between the physical and the spiritual, between the soul and the body in Western philosophy. This dualism is dangerous for engineers, and certainly for designers. Our colleagues Matthias Rauterberg and Christoph Bartneck have shown in Nature that significantly more Nobel prizes are bestowed on discoveries than on inventions.14 However, we are not anti-rationalists, far from it. We are also thinking beings. But we do think the balance between thinking and making should be redressed. In design, this balance has become very skewed indeed. Almost all electronic devices contain an abundance of buttons that overload our cognitive skills. You need to plow through manuals. The solution is standardization, but this only leads to boring interaction. Joep Frens in his doctoral thesis compared interaction styles: those that were cognitive-based, i.e. buttons and menus, with those that were perceptual-motor skills-based, i.e. based on inherent information (figure 3).15 In design, the balance should also be redressed.
13 Conner, C. D.: A People’s History of Science. Miners, Midwives and »Low Mechanicks«, New York: Nation Books 2005. 14 Bartneck, C./Rauterberg, G. W. M.: »Physics Nobels Should Favour Inventions«, in: Nature 448 (2007), p. 644. 15 Frens, J. W.: »For Rich Interaction: Integrating Form, Interaction and Function«, Doctoral Dissertation, Eindhoven University of Technology 2006. www.richinteraction.nl
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Fig. 3: Behavioral interface by Joep Frens. Instead of buttons, the camera offers action possibilities.
Social Skills A colleague once asked us if societal relevance is part of our teaching. It is worse than that, we answered, we cannot escape it. Designers make things that become part of our culture. They humanize technology, throw it into society, and thus change society. Socio-cultural awareness is part of designing, design research, and teaching. This is a blessing as well as a curse. It forces us to stay in touch with daily life, but it stands in the way of abstraction, of generalization. But we do not have a comprehensive theory of the socio-cultural. In her PhD thesis, Johanna Kint used the Brussels World’s Fair of 1958 as a carrier for her analysis of modernism. 16 She found that, although the virtues of modernism were questioned or even aban16 Kint, J.: »Expo 58 als belichaming van het humanistisch modernisme«, Doctoral Dissertation, Rotterdam/NL: 010 Publishers 2001
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doned by the great cultural thinkers, they thrived in science and technology. Remember the optimism of that time. In his book »Voltaire’s Bastards«,17 Saul, fiercely attacked Western rationalism that he accused of suffocating traditional values.
2 …et maintenant? We have spelled out our beliefs and how we have tested them through design. Human skills and the socio-cultural context are the guiding forces of our work. We use them to answer the question: »How to design for… ?« Let us now turn our attention to the ellipsis points. The Department of Industrial Design has the following mission statement: At the department of Industrial Design at the Eindhoven University of Technology (TU/e), we aim for a new type of engineering discipline: the design and creation of intelligent systems, products, and related services. An intelligent system and product is characterized by adaptive behavior based on the situation, context of use, and users’ needs and desires. In particular we focus on problems and opportunities that are of benefit to individuals, societies, and different cultures worldwide. With system we primarily mean an adaptive environment in which humans can interact with intelligent products to access provided services. The intelligent products are connected to each other and the surrounding system to achieve new types of user experiences. To create such kinds of interactive and intelligent environments, we provide expertise for defining the context of use, the conceptual design, its implementation and realization, and the evaluation of the intelligent system. Appropriate expertise for production processes is provided to realize all of these in an industrial and commercial setting. The main target of our design expertise is the interaction (I) between users (U) and systems (S) in a context of use (C): I = f (U,S,C). The design of these interactive patterns means creating a dynamic structure in four dimensions: space and time. Our department is thus insisting on the impossible. It has chosen a new paradigm combining design, science, and engineering. It attracts new kinds of students who are able to combine these areas of knowledge and skills in their work. This aim is also supported by our project-driven teaching model, although time and space limitations 17 Saul, J.R.: Voltaire’s Bastards: The dictatorship of Reason in the West, The Free Press, 1992.
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prevent us from dealing with this subject here. What is the role of the DQI group in all this?
Fig. 4: DQI on the move.
Figure 4 gives an overview of how we are moving toward more complexity. We find ourselves between the professional world and the world of academic and industrial design research centers, next to the three other groups of our department. We have a foundation in the auxiliary sciences that abound at the TU/e. Our work always contains two lines. There is the doing, and there is the reflecting, modeling, and knowing. As we have illustrated above, our work in the past has concentrated on Technology-Person (T-P) interaction. Remember that Stephan Wensveen made a framework of interaction based on inherent information.18 We are now moving to more complex interaction. How can we do that? How can we design for highly complex interactive systems? We do not yet know. But we do have some ideas. Let us give some examples from our research and teaching. Caroline Hummels designed and built ISH, a platform for exploring and researching new forms of interaction.19 She has examined the interactions that make us resonate with the built world, just as the beauty of the real world makes us resonate (figure 5). Again, this presupposes freedom of interaction instead of prescribed interaction.
18 Wensveen: A Tangibility Approach to Affective Interaction. 19 Hummels, C. C. M.: »Searching for Salient Aspects of Resonant Interaction«, in: Knowledge, Technology, and Policy 20 (2007), pp.19–29.
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Fig. 5: The ISH platform by Caroline Hummels. The installation consists of several interaction possibilities that generate image and sound.
Rob Tieben and Koen van Boerdonk, two of our bachelor students, built TouchMeDare, inspired by Sietske Klooster 20 (figure 6). TouchMeDare consists of a large screen that invites people to explore each other by touching the screen. As they do this, they create music. This screen has been experimentally tested, but it has also been tried out at Lowlands, a Dutch music festival.
Fig. 6: TouchMeDare by Rob Tieben and Koen van Boerdonk.
Sietske developed an original approach to design based on dance or movement called Choreography of Interaction .21 Sietske developed an original approach to design based on dance or movement called 20 Boerdonk, K. van/Tieben, R./Klooster, S./Hoven, E. van den: »Contact Through Canvas: An Entertaining Encounter«, in: Personal and Ubiquitous Computing 13 (2009), pp. 551–567. 21 Klooster, S./Overbeeke, C. J.: »Designing Products as an Integral Part of Choreography of Interaction; The Product’s Form as an Integral Part of Movement«, ›››
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Fig. 7: The Choreography of Interaction approach by Sietske Klooster.
Choreography of Interaction.22 She teaches our students to exploit the freedom of interaction in movement. To put it simply, what emerges is the interaction with a not-yet-existing object that can then be materialized (figure 7). In 2008 we were invited by Microsoft Research to their annual Design Expo. Design schools from all over the world were invited to participate: Hong Kong Polytechnic, School of Design; Institute of Technology Bombay, Industrial Design Centre; Carnegie Mellon University, School of Design; York University, Department of Design; Tisch School of the Arts Interactive Telecommunications Program; Universidade do Estado do Rio de Janeiro, ESDI ; University of Washington, Interaction Design Division of Design.23 in: and Semantics of Form and Movement, Proceedings of the 1 st European workshop on Design and Semantics of Form and Movement 2005, pp. 23—35. 22 Klooster, S./Overbeeke, C. J.: »Designing Products as an Integral Part of Choreography of Interaction; The Product’s Form as an Integral Part of Movement«, in: and Semantics of Form and Movement, Proceedings of the 1 st European workshop on Design and Semantics of Form and Movement 2005, pp. 23—35. 23 Frens, J. W./Tomico, O./Overbeeke, C. J. (Eds.): Eindhoven Designs/Volume One, Eindhoven: Eindhoven University of Technology 2008.
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Our students’ work was very much appreciated. Why was that? Because not only did they have ideas and concepts, they could make their ideas. They built not just one working prototype, but nine (figure 8). The little ball designed by John Helmes and Mehmet Yalvac and their fellow master students enables young children to trigger a conversation in an awkward situation. They can input a voice message, a dynamic light pattern, and an expressive color. The ball is then left blinking for attention, for example on their parents’ bed. The message can be heard only once, as this is about intimacy. People at Microsoft asked us why our students worked on such »heavy« subjects. We believe it is because they see that there is more to design than the complexity of ideas, technology, and making. They are aware of the socio-cultural context. They want to let us experience a better world, in accordance with our mission statement. Figure 4 is not complete. What is the context we are operating in?
A Better World »Better« is a word often heard in commercials. Post-modernistic jitterers have tried to make us believe that everything is relative, also the good or the better. »It depends,« seemed to be the answer to everything for a while. It is not. Ethics, the good, has an absolute dimension. In our class on Ethics and Design, we let students experience this. In this one-week module, we introduce them to several ethical systems (Romanticism, Confucius, Kant, and Nietzsche). We also show them the artistic and social context in which these developed.24 They must then create a design for interaction in two of the systems. The results show them how an »ethical system« defines the beauty of interaction (figure 9). Philip Ross has pushed us towards okg_hki, the Greek notion that the good and the beautiful are the same. In our course on Aesthetics in Interaction we work with classical music to make the students sensitive to the beauty in interaction.25 First the students must make a short video illustrating the connection between the music and several interactions. Then we ask them to design for interaction (figure 10). 24 Ross: Ethics and Aesthetics in Intelligent Product and System Design. 25 Ross, P. R./Overbeeke, C. J./Wensveen, S. A. G./Hummels, C. C. M.: »Exploring Ethics and Aesthetics in Interactive Product Design: A workshop.«, in: Proceedings of Designing Pleasurable Products and Interfaces 2009 Conference, pp. 65–76.
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Fig. 8: Fida by John Helmes und Mehmet Yalvac. Fig. 9: A Nietzschian vending machine. You are standing on a wobbly box. The vending machine has a sapeech interface. You have to shout into the tube. The candy is dangling above your head and threatens to fall on you. Fig. 10: Aesthetics of Interaction by Bas Groenendaal. You interact with your tongue. The music player consists of a lump of wood.
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How should students be educated? Louis Menand puts it like this, speaking of Dewey, who we mentioned above: People learn, Dewey insisted, socially. They learn, as every progressive nursery school director will tell you, by doing. Dewey believed that the classroom was a laboratory in which to experiment with the business of participating in the associated life. American higher education provides almost no formal structure, almost no self-conscious design, for imagining pedagogy in this spirit. But the only way to adevelop curiosity, sympathy, principle, and independence of mind is to practice being curious, sympathetic, principled and independent. For those of us who are teachers, it isn’t what we teach that instills virtue; it’s how we teach. We are the books our students read most closely.26 Let this be a lesson to us.
The Future We have not talked about the upper right part of Figure 4 yet. What exactly are the problems of designing for highly complex interactive systems? These systems communicate with each other and with us. They must be able to adapt to individuals and groups. How do we envisage designing such systems? We believe that there are two major challenges: − There is a mapping problem. − There is a visual language problem. Introducing more and more sensors into the environment, and this will surely happen, results in loads of data. These data are fed into a computer and translated into rows of zeros and ones. These control actuators. How will all this become meaningful to people? This is the mapping problem. How can designers decide what to measure? It is the task of designers to combine all this knowledge into interaction with a working system through their design skills, again by working together in interdisciplinary groups. These skills will also have to change. Designers are not yet used to designing for interacting with systems. The second challenge surfaces here. There is not yet a form language. Worse still, we do not know exactly what we will interact with. If we enter a room and the light is automatically switched on, what do we look for if it doesn’t? 26 Lewis, H. R.: Excellence Without a Soul. How a Great University Forgot Education, New York: PublicAffairs 2006.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Event. Design. Trash. Der Beitrag des Designs zur Erlebnisgesellschaft Kai Rosenstein
Einleitung Designpraxis und Designtheorie – diese beiden Felder werden gerne und oft zusammen genannt, zusammen geschrieben und womöglich auch oft zusammen gedacht. Doch was heißt das für eine theoretisch fundierte Praxis? Was heißt es für die Praxis der Theorie? Und, vor allem, welche Möglichkeiten bieten sich für einen praktisch arbeitenden Designer, den Spagat zwischen Praxis und Theorie ganz handfest zu meistern? Begibt man sich als klassisch ausgebildeter Industriedesigner aus der tätigen Praxis in die forschende Theorie, weht einem nicht nur der kalte Wind des »außerdisziplinären« Wissens und der vielseitigen Belesenheit entgegen. Auch ganz praktisch muss man die Zeit, den Zugang und auch die notwendigen Mittel für diese so unterschiedliche und gleichwohl bereichernde Arbeit finden. 1 Für mich hat sich dieser Weg über ein Aufbaustudium aufgetan: So ist die vorliegende Arbeit ein Auszug aus der im Rahmen des Postgraduierten-Masterprogramms »Design Culture« entstehenden Forschungsarbeit am Zürcher Institut für Designforschung Design2context. Dabei ist mein eigenes Betätigungsfeld – im breiten Designspektrum will ich es eingangs nur als »Design von Ereignissen« bezeichnen – nicht nur Ausgangspunkt der Forschung, sondern eben auch meine spezifischpraktische Kompetenz. Dies macht es möglich und erforderlich, im hier vorliegenden Text zwei Perspektiven einzunehmen. Zum einen die Perspektive des Praktikers, dem es um die Entwicklung einer kritischreflektierten Haltung gegenüber dem eigenen Designschaffen geht. Also um die Fähigkeit, das eigene Handeln – und dessen Folgen – in 1
Viele, in kulturellen Kontexten arbeitende Designer werden diese Frage im ersten Moment schnell dahingehend beantworten wollen, dass sie doch genau dies bei ihrer Arbeit leisten. Doch möchte ich zu bedenken geben, dass es einen erheblichen Unterschied gibt zwischen der sehr freien, wenn auch budgetär begrenzten, Arbeit für kulturelle Institutionen und der Arbeit im durchaus engen wirtschaftlichen, aber gestalterisch erheblich eingegrenzten Bereich der freien Wirtschaft.
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Kai Rosenstein
seine vielschichtigen Kontexte einordnen zu können.2 Aus der Perspektive des Designforschers steht die Entwicklung eines explizit designspezifischen Blicks auf gesellschaftliche Phänomene im Mittelpunkt. Denn die Interdependenzen von Design und Gesellschaft werden sonst eher von außen, also aus anderen Disziplinen,3 untersucht. Für einen designspezifischen Diskurs ist es aber entscheidend, aus der Praxis heraus aufzuzeigen, wie eng die gestalterische Haltung und das Designhandeln mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft sind. Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen finden sich auch in drei Kategorien, denen ein möglicher Erkenntnisgewinn zugeordnet werden kann: Erstens die theoretischen Erkenntnisse für mögliche nachfolgende Designforschungen (design research community), zweitens Erkenntnisse für die Designausbildung (design education community) und natürlich, drittens, Erkenntnisse für die Designpraxis selbst (design practice community)4. Alle drei Bereiche gilt es aber eben auch auf ihre »gesellschaftliche Eingebundenheit«5 hin zu betrachten. So bieten sich vielfältigste Blickwinkel auf ein und dieselbe Untersuchung. Doch um was geht es nun in der Forschung aus der Perspektive des Ereignisdesigners? Wie allgegenwärtig gestaltete Ereignisse in unserer Gesellschaft sind, erkennt, wer einen Blick über den disziplinären Tellerrand wagt. Die Diskussion um Events, Ereignisse und Erlebnisse kann dabei bis in die (fast schon traditionelle) Medien- und Kulturkritik zurückverfolgt werden und zieht sich aktuell durch allerlei Diskurse von der kapitalismusskeptischen Philosophie 6 am einen 2
An dieser Stelle zeigt sich schnell, dass der hier naheliegende Begriff der Designkritik genauso wenig das gesamte Spektrum abdeckt, wie die aktuelle Vorstellungen eines kritischen Designs. Auf diese Problematik wird später genauer einzugehen sein.
3 Knapp die Hälfte der Referenten auf der Tagung, in deren Rahmen diese Publikation erscheint, sind vom akademischen Abschluss her keine Designer. 4
Vgl. Findeli, Alain: »Research Through Design and Transdisciplinarity: A Tentative Contribution to the Methodology of Design Research«, in: Roman Aebersold/ Bettina Minder/Arne Scheuermann (Hg.): FOCUSED – Current Design Research Projects and Methods, Genève: Swiss Design Network 2008, S. 74.
5 Gui Bonsiepe beschreibt diese notwendige Verbindung von Theorie und Gesellschaft mehrfach. Hier sehr explizit: »Entwurfstheorie als pensiero discorrente – als das Denken gegen den Strich – agiert in der Domäne gesellschaftlichen Diskurses und damit letztlich in der Politik, wo es um die Frage geht, in was für einer Gesellschaft die Mitglieder dieser Gesellschaft denn leben möchten.« Bonsiepe, Gui: Entwurfskultur und Gesellschaft. Gestaltung zwischen Zentrum und Peripherie (Zürcher Hochschule der Künste: Schriften zur Gestaltung, Band 3), Basel/Boston/ Berlin: Birkhäuser 2009, S. 166. 6
So wird dabei mehrfach auf Georgio Agamben als einen der philosophischen ›››
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Ende bis zur marktpositivistischen Ökonomie7 am wohl eher anderen Ende. Wie diese vielfältigen Diskurse sich dann doch auch wieder im Design der Ereignisse und Erlebnisse widerspiegeln, bildet den einen Kern der Forschungsarbeit. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Ereignis selbst und die Kontexte, in denen dadurch Design wirkt.8 Immer betrachtet aus der Perspektive des produzierenden Designers, von der wir uns, das werden wir später feststellen, nur schwer lösen können. Skizzenhaft stelle ich dazu einige Ereignisse vor, um so zuerst das Feld ganz praktisch zu eröffnen und es in einem zweiten Schritt abstrahierter und im dritten Schritt schließlich in seinem theoretischen Rahmen zu begreifen. Daraus ergeben sich fast zwangsläufig eine Reihe von Forschungsfragen, welche uns zur anfänglichen These zurückführen, warum es mir notwendig erscheint, aus dem Design heraus Ereignisse zu erforschen und zur Verantwortung des Designers als »Ereignisproduzent« Stellung zu beziehen, welches den zweiten Schwerpunkt der Arbeit darstellt. Am Ende dieses Berichts gilt es eine Art Zwischenbilanz zu ziehen, da das Projekt erst im Ende 2010 seinen Abschluss finden wird. Man kann den Vortrag und diesen daraus resultierenden Text also als eine Diskussionsgrundlage verstehen, die sich zwar auf Ereignisdesign konzentriert aber auch den Anschluss an einen allgemeinen designtheoretischen Diskurs sucht. Hauptprotagonisten verwiesen, z.B. Isabelle Graw in Lettre International: www.lettre.de/archiv/74_Graw.html [21.08.2009]: »Agambens Rede von [der] ›spektakulären Phase‹ des Kapitalismus weist auf eine grundlegende Veränderung hin: Sämtliche Aspekte des Lebens – somit auch künstlerische Produktion – sind heute dem bioökonomischen Imperativ der Wertsteigerung unterworfen.« Oder Ute Pinkert in einem Statement zum Symposium »Das Rad erfinden – Inventing the Wheel«: http://ngbk.de/site/images/stories/PDF/Inventing_the_wheel/ leoniebaumann2.pdf?645faabe4c13dd13259252536c5f9e2a=d7541a36c5824 3768b77e66af3f7ecfe [21.08.2009]: »Wenn wir heute, wie Georgio Agamben feststellt, in der ›spektakulären‹ Phase des Kapitalismus leben, in der das Spektakuläre und der Konsum ›die beiden Seiten einer einzigen Unmöglichkeit des Gebrauchs [bilden]‹.« 7
Hier ist sicher Norbert Bolz eine zentrale Figur an der Schnittstelle von Ökonomie und Design: »Das ist die strategische Grundfigur, mit der das Marketing auf alle Herausforderungen der Zukunft reagieren sollte: technische Revolution und humane Kompensation. […] Deshalb müssen Marketing und Werbung der Banken von Sachlichkeit auf Emotional Design umstellen.« Bolz, Norbert: Die Wirtschaft des Unsichtbaren. Spiritualität – Kommunikation – Design – Wissen: Die Produktivkräfte des 21. Jahrhunderts, München: Econ 1999, S. 218f. Auch Horst W. Opaschowski stimmt in diesen Kanon ein: »Der Verbraucher von morgen wohnt und lebt in zwei Gebäuden: Im eisernen Käfig (›iron cage‹) der wirtschaftlichen Notwendigkeit und im luxuriösen Schloss romantischer Träume und Genüsse.« Opaschowski, Horst W.: Kathedralen des 21. Jahrhunderts. Erlebniswelten im Zeitalter der Eventkultur, Hamburg: B.A.T. Freizeit-Forschungsinstitut 2000, S. 25.
8 Eine begriffliche Klärung folgt, den wissenschaftlichen Konventionen entsprechend, nach der Einführung in die Thematik im Kapitel 2 Events und Kommunikation.
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1 / Überall Erlebnisse Wenn man sich in der Praxis brüstet, »dreidimensionale Markenkommunikation« zu betreiben, gehört die alle zwei Jahre stattfindende Internationale Automobilausstellung zum Pflichtprogramm des Trendscoutings. Nicht die Automobile selbst, sondern deren kommunizierte Erlebniswelten, multimediale Verschlagwortung und gebaute Marken-Architektur stehen dabei im Abb. 1: Die Begrüßung durch die Marken Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Daimler AG, IAA 2009, Frankfurt a.M. des beobachtenden Designers. Schon im Jahr 2007 war das Thema »Nachhaltigkeit« ein wichtiger Baustein dieser Form der Markenkommunikation in der Automobilbranche. Nicht ohne Grund: Die öffentliche Wahrnehmung schwenkte langsam vom »Benzinverbrauch« auf das neue Schlagwort des »CO2Ausstoßes«, die »Umweltplakette« sollte als Folge der »FeinstaubDiskussionen« in vielen deutschen Städten eingeführt werden und der schon 2005 erlassenen Richtlinie der Europäischen Union zur »umweltgerechten Gestaltung energiebetriebener Produkte«9 folgten langsam die ersten national bindenden Gesetze10. Die Automobilindustrie, allen voran die deutsche, wirkte auf der Messe aber ein wenig aufgeschreckt oder vielleicht auf dem falschen Fuß ertappt.11 Renault potenzierte da die Ökologie mit ECO2 in einer 9
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServdo?uri=CELEX:32005L0032:DE: NOT und http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sustainable-business/ documents/eco-design/index_en.htm [06.05.2010].
10 www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Presse/pressemitteilungen,did=213610.html [06.05.2010]. 11 Sicher wurden auch schon früher ressourcensparende und alternative Automobilkonzepte präsentiert (z.B. die BMW CleanEnergy World Tour 2001), jedoch ging es dabei immer um die Präsentation und Kommunikation einer Einzeltechnologie. Die gesamtheitliche Markenkommunikation war davon zu diesem Zeitpunkt noch nicht betroffen. Das die Frage der Nachhaltigkeit eine so enorme Schlüsselposition in den Kommunikationsstrategien der Automobilhersteller erhalten hat, war erstmals auf der IAA 2007 zu beobachten: »›Die deutsche Automobilindustrie – Hersteller wie Zulieferer – ist in der umweltpolitischen Offensive. Sie hat mit harten Fakten, klaren Konzepten und Terminangaben zur Einführung neuer Produkte selbst hartnäckige Kritiker überzeugt. Dies ist die Leistung unserer Unternehmen, für die Klimaschutz heute eindeutig Chefsache ist‹, betonte Wissmann.« http://archiv.iaa.de/07/index.php?id=521&L=0&tx_ttnews[tt_news] 6071&tx_ttnews[backPid]=520&cHash=c87e83f552 [12.05.2010].
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Nische des Messestands, die von hinterleuchteten, meterhohen, folienbespannten Wänden umgeben war. Fiat präsentierte ein grün lackiertes CO2-Concept-Car auf Plastikblumen und Volvo – gerade Volvo – behauptete mit unterschiedlichen Energiequellen im Motorenbau besonders gut umgehen zu können und nannte das Konzept »FLEXIFUEL«. Wohlgemerkt in massiven, lackierten, 150 cm großen Buchstaben. Zwar hatten fast alle vertretenen Unternehmen es geschafft, scheinbar über Nacht zu Experten auf dem Gebiet effizienter Antriebstechnologien und alternativer Energiequellen zu werden, doch diese Präsentationen wirkten wie immer: Hier hätte auch für neue Sportsitze, besonders leise Reifen oder für eine neue Trendfarbe – schon damals übrigens unschuldiges Weiß – geworben werden können.
Ausschnitte von Messeständen auf der IAA 2007, Frankfurt a.M.: Abb. 2: Marke Renault, Abb. 3: Marke Fiat, Abb. 4: Marke Volvo
Abgesehen davon, dass keine einzige präsentierte »Ökovision« der Autobauer in absehbarer Zeit serienreif werden würde, trat an vielen Stellen deutlich hervor, dass hier Themen in branchenüblicher Weise dargestellt wurden. Die Neuartigkeit der Entwicklungen hätte aber auch einer Neuinterpretation der Kommunikationsmittel, zumindest aber einer durchdachten Herangehensweise und im besten Fall einer ernsthaften Auseinandersetzung bedurft. In meiner Wahrnehmung hatte hier ganz deutlich die Marketingfalle zugeschnappt: Umweltschonende Technik als neues Verkaufsversprechen emotional aufladen, ein Bedürfnis nach Nachhaltigkeit auf die gleiche Weise wecken, wie man auch ein Bedürfnis nach Geschwindigkeit, gutem Aussehen oder tollen Fernreisen weckt. Doch der Themenkomplex ist zu vielschichtig, die Notwendigkeit des nachhaltigen Wirtschaftens sicher zu sehr ein gesamtgesellschaftliches Thema, als dass man es sich hätte so einfach machen dürfen. Deutlich wird dabei – und das ist für den designschaffenden Forscher die entscheidende Frage – wie bedingungslos die ausführenden Designer, Szenografen und Architekten diesem Paradigma des Marketings gefolgt sind und glänzende Oberflächen für eine brüchige Argumentationskette geschaffen haben. Genau hier zeigt sich am Beispiel des Umgangs mit einem so imma-
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nent wichtigen Thema wie der Nachhaltigkeit, wo heute die eigentliche Schwierigkeit im Design steckt: Für welche Kontexte gestalten wir? Wer entscheidet heute über das Design und die Kommunikation eines Unternehmens? Können wir heute überhaupt noch von unabhängig gestalteten Kommunikationsmaßnahmen und Produkten reden? Welche Kompetenzen müssen wir uns aneignen, um in diesen komplexen Zusammenhängen nicht ständig Gefahr zu laufen, Brüche und Widersprüche zu generieren, die entweder das Design selbst oder die Kommunikation der Marke dahinter ad absurdum führen? Auf diese Fragen sucht die vorliegende Forschung Antworten. Wäre das Phänomen nur auf der IAA 2007 in Frankfurt zu beobachten gewesen, könnte man noch von einem »Ausrutscher« oder einer »Modeerscheinung« reden, doch gibt es eben auch zahlreiche Beispiele außerhalb der Messewelt und außerhalb des Schlagworts »Nachhaltigkeit«. So hat die Mobilfunkmarke O 2 im Jahr 2008 eine Deutschlandtournee in einer mobilen Konzerthalle, der O2-World (Abb.5) veranstaltet, die dann mit der Eröffnung der O2-Arena in Berlin ihren End- und Höhepunkt hatte. Kostenfrei wurden in der schicken Event-Location Konzerte namhafter deutscher Pop-Bands angeboten. Rundum durchgestylt, von der Website über Plakate bis hin zur Zelthalle an sich. Die sah aber nur auf den Postern und bei dunkler Nacht so glamourös aus, wie sie zum Markenimage passen würde. Im Tageslicht eines frühen Abends – also zu der Zeit, zu der die Besucher in Massen zur Veranstaltung strömen – steht der ganze Komplex in einer Brache, die Zugänge erfolgen durchs Gestrüpp und auf dem nass-matschigen Boden sind Gummimatten verlegt, damit die Partygänger nicht vollkommen im Morast versinken. Nur die Vorderseite der blass-grau wirkenden Zeltverkleidung ist mit einer dynamischen Pegelanzeigen zitierenden Grafik versehen. Dort steht groß zu lesen, was die jugendlichen Besucher erwartet: »Entertainment« – in den Renderings der Agenturpräsentation sah das sicher gut aus, doch das eher gelangweilt wartende Publikum macht nicht den Eindruck, als würde es dieser Aufforderung Folge leisten wollen. Ist das jetzt als ein handwerklicher Fehler des Designers zu verstehen? War das Budget einfach nicht hoch genug, um auch noch die perfekte Umgebung und Sonnenstunden einzukaufen? Oder muss man sich vielleicht eingestehen, dass hier vom falschen Ende aus, einem künstlich zusammengewobenen Themen-Werte-Trendscouting-Kommunikations-Briefing-Mix, entworfen wurde? Letzteres erscheint naheliegend und daher eine Untersuchung wert, vor allem, wenn der Designer als Unfallverursacher dabei so schlecht wegkommt. Die sich bis jetzt in Sicherheit wiegenden Kommunikationsdesigner und Grafiker muss ich an dieser Stelle aber ebenso enttäuschen.
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Die Modezeitschrift Maxi (Abb. 6) hatte 2008 auch eine tolle Idee: Das Magazin wurde Grün – allerdings nur für eine Ausgabe. In dieser dafür aber umso grüner, von der Papierumverpackung, die sonst gerne mal aus Cellophan ist, wechselte man auf eine Papiertüte (»This is not a plastic bag«) mit sauberem braunem Streifendruck, der die typische Oberfläche von Recyclingpapieren nachempfindet(!). Die CrossMarketing-Beileger kamen von Weleda und der Titel versprach StilAnleitungen für den »Green Glamour«. Wie kann der Topos der Umweltverträglichkeit, der so eng mit dem griffigen Schlagwort der Nachhaltigkeit verbunden ist, allen Ernstes für eine einmalige(!) Verkaufsförderungsaktion missbraucht werden? Wo ist der Ausweg aus diesem Widerspruch oder habe ich irgendwas Entscheidendes nicht verstanden? Auf dem Weg zurück zur IAA 2007 wenden wir uns noch kurz einem persönlichen Highlight von widersprüchlichen Aussagen zu: Mercedes hat es 2009 auf der IAA geschafft, einen mächtigen Geländewagen direkt vor den großformatigen Schriftzug »Verantwortung« zu positionieren (Abb. 7). Dass hier ein Fahrzeugtyp steht, welcher nachweislich die Aggressivität des Fahrers steigert12 und bei Unfällen Fußgänger, besonders Kinder, stärker gefährdet als die niedrigen Motorhauben normaler PKWs, kann ja mit »Verantwortung« nicht gemeint sein. Gemeint ist wohl eher die »Verantwortung«, dem Fahrer im rauer gewordenen Verkehrsalltag mehr Übersicht, Schutz und Kraft anzudienen – auch eine Variante. Am augenfälligsten und damit derzeit am tauglichsten für eine formale Untersuchung ist aber ein Geniestreich von BMW. Nochmal zurück ins Jahr 2007: Die zentrale Präsentationsfläche in der eigens für die Veranstaltung errichteten Messehalle wird von einer Licht- und LED-Projektion beherrscht, die aus einzelnen vertikalen Streifen besteht (Abb. 8). Jeder Streifen ist mittels einer Hydraulik in der Höhe verfahrbar. Die seitlich montierten Tageslicht-Scheinwerfer sind direkt nach vorne ausgerichtet und so stark, dass sie bei der Präsentation der Neuheiten im wahrsten Sinne des Wortes das Publikum blenden. Direkt seitlich zu dieser Installation befindet sich eine etwa halb so hohe Plakatwand, auf der, mit blauem Himmel und dramatischen Wolken hinterlegt, der Schriftzug »BMW Efficient Dynamics« prangt. Effiziente Dynamik? Ist damit die mehrere tausend Watt verschlingende Lichtwand gemeint? Oder eher der insofern effiziente Einsatz von Blendwerk, als dass die Besucher sich von den neuen Modellen mehr 12 www.welt.de/motor/article984955/Warum_fahren_die_Deutschen_so_auf_Gelaendewagen_ab.html und www.marathonrally.com/news/index.2627.0.html [06.02.2010].
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beeindrucken lassen als von den dürftigen Ergebnissen der Bemühungen um ressourcenschonende Mobilitätskonzepte? Spätestens der Verdacht, welches Ziel hier eigentlich effizient und erfolgreich Verfolgt wird, führt mich als Designer der »dreidimensionalen Markenkommunikation« zu der Frage, wessen Diener ich sein möchte. Und welche Auswirkungen Design letztlich auf Gemeinschaften13 konstituierende Prozesse hat. Ob Designer sich dieser Verantwortung bewusst sind und inwieweit sie handwerklich und intellektuell in der Lage sind, mit der Erklärung der Autorschaft auch die Verantwortung für diese zu übernehmen, ist dabei nicht die erste, sondern wohl eher die abschließende Frage. Notwendig für eine fundierte Diskussion ist es, zuerst die Werkzeuge, die Wirkweisen und die Zusammenhänge im Design solcher Erlebnismomente zu erforschen, und sie damit in einen verhandelbaren Rahmen zu rücken. So ergibt sich in meinem Fall der Weg in die Designforschung aus einer spezifischen Fragestellung der designerischen Praxis. Über diese persönliche Wahrnehmung hinaus sollte das Forschungsinteresse aber auch eine Verallgemeinerung und theoretische Fundierung erfahren, die Designschaffenden, -lernenden und -lehrenden die Anwendbarkeit auf ihre spezifischen Fragestellungen ermöglicht.
2 / Events und Kommunikation Das kleine Wörtchen »Event« ist aus dem deutschen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken und zum alltäglich verwendeten Anglizismus geworden. Dabei übersehen wir leicht, dass der Begriff in einer strengen Übersetzung einen wesentlich engeren Bedeutungsraum hat, als wir ihm gemeinhin zuschreiben. Daher ist es sinnvoll, sowohl die Wortherkunft als auch Sinnzusammenhänge etwas genauer zu untersuchen. Wie schon angedeutet, wird »Event« wörtlich mit »Ereignis« übersetzt und kommt etymologisch gesehen von »ereignen« (älter »eröugen«) also vom »vor Augen stellen«14, dem »erscheinen«.
13 In diesem Fall eine vom ökonomischen Marketing-Paradigma geprägte Gemeinschaft. 14 »ereignen (älter eröugen) Vswrefl std. (8. Jh., Form 17. Jh.), althochdeutsch irougen ›vor Augen stellen‹. Eine (Präfix-)Ableitung zu althochdeutsch ouga ›Auge‹ (vgl. gotisch at-augjan ›zeigen‹).« Kluge: Etymologisches Wörterbuch, 24. Aufl. bearbeitet von Elmar Seebold, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002.
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Abb. 5: Außenansicht der O2-World, 2008, Frankfurt a.M.
Abb. 6: Verkaufsverpackung der Zeitschrift Maxi. Abb. 7: Ausschnitt des Messestands von Mercedes, IAA 2009, Frankfurt a.M.
Abb. 8: Ausschnitt der Messestands von BMW, IAA 2007, Frankfurt a.M.
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Dieses »Ereignis« bleibt, streng genommen, zunächst vollkommen folgenlos für die subjektive Wahrnehmung, doch für unser Verständnis vom »Event« ist gerade die persönliche Auseinandersetzung mit dem »Ereignis« ein zentraler Bestandteil. So wäre eine inhaltliche Übersetzung wohl auch mit »Erlebnis« gut getroffen. Die synonyme Verwendung im »Event« entspricht dabei in keiner Weise den sehr unterschiedlichen Konzepten von »Ereignis« und »Erlebnis«. Die Übersetzung von »Erlebnis« erfolgt allerdings, genau wie »Erfahrung«, als »Experience« ins Englische. Ergänzen wir dieses Wortspiel jetzt nochum die lateinischen Wortstämme von »Event«15 und »Experience«16, so weiten wir den Bedeutungsraum des deutschen »Event« noch bis zum »Experiment« (gleicher Wortstamm: lat. »experientia«) am einen Ende bis zum »Ergebnis« (Übersetzung von lat. »eventus«/Wortstamm: lat. »venire«) am anderen Ende des Prozesses aus. Zusammengenommen erhalten wir also mit der deutschen Verwendung des Begriffs »Event« ein weites Feld von Bedeutungen, das für diese Forschung als Sammelbegriff der verschiedensten Konzepte gelten soll. In diesem Verständnis wirkt er auch öffnend gegenüber dem simplifizierenden Event-Begriff des Marketings.
Abb. 9: Begriffszusammenhänge, deutsch/englisch/latein.
Um die bisherigen Beobachtungen abstrahieren zu können, bilde ich sie in einer Topologie ab und setze so die Vorstellungen und Wahrnehmungen der Initiatoren und Besucher verschiedenster Events in Beziehung zueinander. Aus den bisherigen Beobachtungen und Analysen lässt sich dafür festhalten, dass wir Events als eine Form der Kommunikation betrachten können. Dies ermöglicht uns, die ablaufenden Kommunikationsprozesse als eine doppelte Form von kogni-
15 www.etymonline.com/index.php?search=event&searchmode=none [12.05.2010]. 16 www.etymonline.com/index.php?search=Experience&searchmode=none [12.05.2010].
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tiver Konstruktion darzustellen.17 Ziel ist es, mithilfe einer Analyse der Konstruktionsprozesse darzustellen, was beim Besuch des eingangs beschriebenen BMW -Messestands schiefging. In diesem Modell können wir vier Dimensionen bezeichnen, die sich gegenseitig konstruieren und indizieren, aufeinander verweisen und bedingen.
Abb. 10: Anwendung des semantischen Modells nach André V. Heiz.
Denken wir uns zurück an den Moment, als dieser Messestand entwickelt wurde. BMW und seine Kommunikationsstrategen haben sich vorgenommen, auf dem Messestand die Modellneuheiten zu präsentieren und ergänzend zu kommunizieren, dass es BMW in der Entwicklung neuer Modelle vor allem um effiziente Dynamik geht, die selbstverständlich dem Markenkern des Unternehmens entspringt. 17 Welches Modell dabei ausgewählt wird, könnte man als Methodenfrage ausdiskutieren, aber genauso gut als an dieser Stelle zu weit führend erachten. Denn egal, welches Modell wir auswählen, solange allen Modellen ein antiontologischer Charakter zugeschrieben wird und wir uns darauf verständigen, dass es lediglich ein Modell zum Zwecke der Veranschaulichung bleibt und so niemals Wirklichkeit oder allgemeine Gültigkeit aufweist, kommen wir mit allen Modellen mehr oder weniger gut zurecht, oder?
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Gemeinsam mit Architekten, Szenografen und Designern produzierte man also eine Ereignis, dass diese Vorstellungen indiziert und dem Besucher als Sachverhalt mit einem vorbestimmten kommunikativen Ziel vorgestellt wird. Mittels der aktiven Teilhabe des Besuchers entsteht dabei ein Erlebnis, dass dieser in Bezug setzt zu seinen bisherigen Kenntnissen über die Marke, über Messen im Allgemeinen und über andere Erlebnisse. Bei dieser Reflexion werden die gesammelten Kriterien herangezogen und deren Übereinstimmungen bzw. Differenzen mit dem Erlebten führen zur Bewertung und Einordnung in den eigenen Schatz der Erfahrungen. Selbstverständlich hat alles, was über diese Aspekte und Kriterien der Besucher im Vorfeld bekannt war, schon die Vorstellungen der Kommunikationsstrategen mitbestimmt. So schließt sich vorerst der Kreis innerhalb des Modells. Wir können jetzt ebenso gut abbilden, was bei diesem Konstruktionsprozess nicht funktionierte. Wo also die Probleme oder besser Brüche entstehen. Ein erster Widerspruch ergibt sich zwischen dem bezeichneten Markenversprechen der »Efficient Dynamics« und der dargestellten Licht-, Medien- und Kinematik-Installation, welche aufgrund des hohen Energiebedarfs für sich genommen noch nicht den Anschein erweckt, besonders effizient zu sein. Denn im Abgleich mit meinen Kriterien von »Effizienz« bekommt eine Lichtinstallation diesen Ausmaßes ganz schlechte Noten. Die Kriterien stimmen also nicht überein und es ergibt sich in der Folge auch ein Widerspruch zwischen meinen Kriterien für Effizienz und dem von BMW intendierten Kommunikationsziel – der effizienten Dynamik. Als Besucher komme ich zu dem Schluss, dass BMW, bezogen auf die hier angestrebte Energieeffizienz, eben nicht energieeffizient handelt. Daraus lässt sich konsequenterweise nur schlussfolgern, dass es auch eine Differenz zwischen der ursprünglichen Intention und dem gestalteten Ereignis gibt. Dafür mag es zwei Gründe geben: Entweder können die Kommunikationsexperten von BMW tatsächlich nicht das zum Ausdruck bringen, was sie eigentlich sagen wollen, oder sie versuchen eine Interpretation, eine eigene Teilwahrheit, vielleicht auch ein Ablenkungsmanöver aufzutischen. Ersteres wollen wir BMW und den vielen kompetenten Kommunikationsstrategen, die für den Autobauer arbeiten, nicht unterstellen, bleibt – zugegebenermaßen zugespitzt formuliert – nur die Vermutung, dass BMW bei einer der beiden Kernaussagen versucht etwas vorzutäuschen, das nicht der eigentlichen Intention, im Sinne des unternehmerischen Paradigmas, entspricht. Nur bei welcher der beiden Aussagen? Diese Beobachtung basiert nicht auf einer designspezifischen Kompetenz, sondern wohl eher auf einer kritisch-aufmerksamen Auseinandersetzung mit einem Erlebnisdesign als Besucher der IAA.
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Jedem Besucher, der sich etwas länger mit der Situation auf dem Messestand beschäftigt hat, hätte dieser Gedanke kommen können, einigen ist er bestimmt auch gekommen und hoffentlich haben ein paar auch darüber diskutiert, geschrieben und hinzugelernt. Andere werden der Argumentation nicht folgen wollen und gerade in der Kombination der beiden widersprüchlichen Aussagen die eigentliche Stärke der Automobil-Kommunikation sehen. Doch selbst dieses Argument würde die grundsätzliche Behauptung, dass es eine Differenz zwischen Gesagtem und Gemachtem gibt, nicht aushebeln und mit dem Erfolg von BMW eher auf eine besonders hohe Frustrationsgrenze der Besucher schließen lassen.18 Was ist aber nun für mich als Designer das Interessante an der Beobachtung? Um das zu erkennen, benötige ich einen distanzierten Blick, wie er aus der Perspektive des beobachtenden Beobachters19 eingenommen werden kann und sich auf den modellierten Konstruktionsprozess und die daran beteiligten Akteure bietet. Diese Perspektive lässt auch den Designer als eine der zentralen Figuren im beschriebenen Modell in Erscheinung treten. Ich sehe mich, den EventDesigner, selbst beim Entwerfen solcher Medienspektakel, beteiligt an der Konstruktion einer eben noch als widersprüchlich entlarvten Kommunikation. Nun ja, nicht genau bei dieser, aber das gleiche passiert ja auch an vielen anderen Stellen, und an ähnlichen Projekten bin ich auch beteiligt. Was mache ich dort? Ich unterstütze durch bewusstes transformieren (indizieren) von Vorstellungen in Darstellungen (Designleistung) Erlebnisprozesse, die sich als Erfahrungen bei Besuchern einschreiben sollen. Kann ich das ungeachtet der Widersprüche, die sich innerhalb dieses Erfahrungsprozesses ergeben haben, leisten? Welche Verantwortung trage ich als Autor? Kann ich mich auf eine Position des »winzigen Rädchens« zurückziehen? Bin ich mir der Auswirkungen meines Design-Schaffens bewusst? Welche Mittel setze ich als Event-Designer ein und welche Wirkung haben diese?
18 Dazu Gerhard Schulze in seiner Einleitung zur Erlebnisgesellschaft: »Im Hinblick auf diese […] Diagnose ist das Logo der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland in verquerer Weise aufschlussreich. […] Der Kartenvorverkauf im Jahr 2005 zeigt nicht nur die Faszinationskraft des Fußballspiels, sondern auch die Dickfelligkeit des Publikums gegenüber den Fehldeutungen seines Geschmacks.« Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005, S. VI. 19 Nach Luhmann gilt, »dass alles Beobachten durch einen Beobachter, also als System durchgeführt werden muss und deshalb beobachtbar ist«. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 76.
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Mit den Worten von Niklas Luhmann wäre die Untersuchung, die sich mit diesen Fragen aufdrängt, vielleicht als eine Frage des »Designs der Gesellschaft« zu beschreiben. Denn darin nimmt heute, wie wir im Folgenden sehen werden, das intentional gestaltete »Ereignis« und sein »Erlebnisversprechen« eine zentrale Position ein. Um als Designer dazu eine eigene – erkenntnisgeleitete – Haltung entwickeln zu können, müssen wir jedoch erst die bereits vorhandenen Ansätze eines solchen Forschungsfelds umreißen können.
3 / Diskurse und Kontexte der Erlebnisindustrie Da anfänglich die Frage nach den Auswirkungen des Designs auf gesellschaftliche Prozesse formuliert wurde, gilt es, verschiedene Diskurse vor allem auf ihren möglichen Beitrag für eine Theorie des Event-Designs kurz zu beleuchten. Suchen wir also nach Diskurssträngen, nach Antworten und nach den Eckpfeilern, die in unserer und anderen Disziplinen eingerammt wurden und zur dargestellten Thematik beitragen können. Bleibt man bei dieser Umschau vorerst auf den Begriff des »Event« beschränkt, so öffnet sich zuerst ein von ökonomischen Aspekten geprägter Diskurs, des Marketings um Events als Mittel der direkten Marken-Kommunikation20 mit bestehenden oder potenziellen Kunden. Im Sinne einer anleitenden Managementliteratur ist das Thema dort sehr ausführlich behandelt, allerdings wird es in Form eines Werkzeugs eher in ein breites Spektrum der heute möglichen Werbemittel eingeordnet (Stichwort: Marketing-Mix). Praktisches Event-Design findet sich dort nur insofern wieder, dass es im mittlerweile verbreiteten Studiengang des »Event-Managers« als Nebenfach im Bereich »Kreativtechniken«21 abgehandelt wird – keine schöne Aussicht, diesen Event-Managern demnächst in einem Kreativmeeting gegenüberzusitzen, oder? Ein designspezifisch-theoretischer Diskurs
20 Beispielhaft: Mikunda, Christian: Der verbotene Ort oder die inszenierte Verführung. Unwiderstehliches Marketing durch strategische Dramaturgie, Frankfurt a.M.: Redline Wirtschaft 2005. Pühl, Harald/Schmidbauer, Wolfgang (Hg.): Eventkultur, Berlin: Ulrich Leutner Verlag 2007. Wuthe, Nicole: Das Event im Erleben des Rezipienten. Wie das Publikum Medienereignisse über emotionales Erleben zu Events macht, Saarbrücken: VDM 2007. 21 So z.B. an der Karlshochschule/International University: Täubner, Mischa: »Badische Revolution«, in: Brand Eins 12 (Heft 01/2010), S. 73 und direkt: http://karlshochschule.de/de/mein-studium/messe-kongress-und-eventmanagement/ #studium-in-kurze-4 [28.03.2010].
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lässt sich hier allenfalls in Bezug auf die Anforderungen der Unternehmen an die Praxis des Event-Designs beobachten.22 Die Entwurfsmethodik des Event-Designs kommt, und dahin geht der zweite Blick, bisher nicht aus einer designspezifischen Event-Design-Ausbildung. Ein Designstudium dieser spezialisierten Art gibt es – zumindest im deutschsprachigen Raum – nicht.23 Designer beziehen ihr Entwurfswissen, neben den üblichen Grundlagen der zwei- und dreidimensionalen Gestaltung, wie so häufig, aus angrenzenden Disziplinen. So zum Beispiel ganz pragmatisch aus der Szenografie und Dramaturgie24 und aus der Architektur-, Medienund Raumtheorie25 und, in Bezug auf die Teilhabe am Ereignis, stark aus der noch jungen Ritualtheorie26. Aktuelle Positionsnahmen oder Untersuchungen der Designtheorie zum Phänomen der »Eventifizierung«, also der Infizierung aller Lebensbereiche mit Event-Mechanismen, finden sich darunter aber nicht. Es lässt sich festhalten, dass sich die Beiträge in diesen ökonomisch geprägten Disziplinen auf das Erfassen, Darstellen und Vergleichen der beim Event-Design zur Anwendung kommenden EntwurfsMethodik konzentrieren. Wer beurteilt nun aber die unmittelbaren Qualitäten des Event-Designs? Welche Kriterien können angelegt werden, um die designspezifischen Qualitäten der uns täglich involvierenden Events zu beurteilen? Wird die Qualität von Event-Design im öffentlichen Meinungsbild der Feuilletons oder zumindest unter Designern besprochen? Die Antwort fällt dürftig aus: Einen Kritik-
22 Beispielhaft: H. W. Opaschowski: Kathedralen des 21. Jahrhunderts oder deutlich ausgeprägter im angelsächsischen Sprachraum: www.designcouncil.org.uk/en/ About-Design/Design-Disciplines/Experience-design/ [30.12.2008] und sehr spezialisiert bei Nathan Shedroff: www.nathan.com/ 23 Die derzeit entstehenden Studiengänge im Ausstellungsdesign oder szenischem Interior-Design bilden keine explizite Grundlage für eine Theorie des Event-Design: FH Düsseldorf, Master Exhibition Design: http://design.fh-duesseldorf.de/c_ stud/a_ma_exi [26.03.2010]/ZHdK, Master Design: »Basierend auf individuellen Studienprofilen werden Karrieren in Produkt-, Kommunikations-, Interaktions-, Eventdesign oder der Trendforschung vorbereitet.« www.zhdk.ch/index. php?id=master_design [26.03.2010]/die FH Nürnberg schreibt erstmals eine Professur für Raum- und Event-Design aus: www.academics.de/jobs/professur_47563.html [26.03.2010]. 24 Vgl. Fischer-Lichte, Erika/Pflug, Isabel (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel: Francke 2000 oder auch Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 25 Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 26 Interessanterweise gerade aus der Perspektive des Designs ausführlich behandelt in: Gründel, Harald: The Death of Fashion. The Passage Rite of Fashion in the Show Window, Wien/New York: Springer 2007.
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diskurs dazu gibt es weder innerhalb noch außerhalb der Disziplin.27 Allenfalls Kolumnen oder Zwischenzeilen, die vereinzelt ein unscharfes Phänomen aufgreifen. Für eine exakte und spezifische Diskussion der Verantwortlichkeiten im Event-Design erscheint es also notwendig, diesen Diskurs einzugrenzen und gleichzeitig in Gang zu setzen. Zwei Ableitungsstränge aus den gesamtdisziplinären Diskursen bilden dabei die Leitplanken: erstens die unterschiedlichsten Stellungnahmen um die Folgen bzw. Grenzen und Verantwortlichkeiten des Designs.28 Den zweiten Bezugspunkt stellt die notwendige (Weiter-)Entwicklung einer kritisch-reflektierten Haltung innerhalb des Designprozesses bis hin zu einer spezifischen »kritischen Event-Design-Theorie« dar, die heute praktisch nicht existent ist. Außerhalb des Designs wird der Event nicht nur im ökonomischen Kontext verhandelt, sondern findet sich als gesellschaftliches Phänomen in den Diskursen der Geistes- und Kulturwissenschaften wieder. Dabei lässt sich der Diskussionsstrang von einer sozialen Kritik an den Massenmedien spätestens vom »Kulturindustrie«-Aufsatz Theodor W. Adornos und Max Horkheimers 29 über die schon hinsichtlich der aufkommenden Erlebnisindustrie spezialisierte Künstlerkritik30 der nach 68er31 bis heute verfolgen. Seit den 1990er Jahren wird die (graduelle) Verschiebung der Orientierung von den zwi27 Vgl. Critical Design, wie bei Anthony Dunne und Fiona Raby entwickelt: Dunne, Anthony: Hertzian Tales. Electronic Products, Aesthetic Experience, and Critical Design, Cambridge/London: The MIT Press 2005/Raby, Fiona: »Critical Design«, in: Erlhoff, Michael/Marshall, Tim (Hg.): Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design. Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser 2008. Im Gegensatz dazu Design-Kritik wie z.B. von Rosemary O’Neill im gleichen Wörterbuch dargestellt: O’Neill, Rosemary: »Design-Kritik«, ebd. Diese beiden vorherrschenden Konzepte verfehlen meines Erachtens den Kern einer kritischen Design-Theorie, da sie das kritisch-reflektierte Bewusstmachen der Kontexte, in die hinein Design wirkt, nicht im Schaffensprozess thematisieren. Hier legt die Formulierung schon nahe, sich an der Kritischen Theorie zu orientieren: »Der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Konzepte kritischer Theorien ist ihre Sensibilität für Zivilisationsbrüche für soziale Pathologien der Moderne, d.h. für das Ungerechte, das diese Theorien in all seinen sozialen, ökonomischen und politischen Erscheinungsformen zum Gegenstand ihrer Analyse machen.« Müller-Doohm, Stefan: »Theodor W. Adorno«, in: Dirk Kaesler/Vogt Ludgera: Hauptwerke der Soziologie, 2., durchgesehene Auflage, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2007, S. 5ff. 28 Was ja bei weitem keine neue Fragestellung ist und doch in vielen Teilbereichen heute wieder höchst aktuell erscheint: Maldonado, Tomàs: Umwelt und Revolte. Zur Dialektik des Entwerfens im Spätkapitalismus, Reinbek: Rowohlt 1972 oder: Bonsiepe: Entwurfskultur und Gesellschaft. 29 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2002, S. 128ff. 30 Zur Unterscheidung von Sozial- und Künstlerkritik vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Eve: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK-Verlags-Gesellschaft 2003. 31 Vor allem: Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Tiamat 1996.
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schenmenschlichen Verantwortlichkeiten hin zur »Erlebnisrationalität«32 der Innenorientierung als eins der Schlüsselthemen in den Diskussionen um den öffentlichen Raum, die gesellschaftliche Konstitution und unser Verständnis von politischer Teilhabe angesehen. Diese »Innenorientierung im Außen«33 führt gemäß dem Erlebnisimperativ »Erlebe dein Leben!«34 zur zunehmenden Ausrichtung des persönlichen Fortkommens auf eine breitgefächerte Erlebnisorientierung, die sich nicht nur auf Events beschränkt, sondern dieses Erlebnis praktisch in allen Lebensbereichen sucht. Jedes Design enthält somit eine Erlebnisebene, die unter den Aspekten des Event-Designs betrachtet werden kann und muss. Diese Ausrichtung auf das Selbst und das persönliche Glück kann selbstverständlich positiv verstanden werden. So entwickelt sich die Idee eines »guten« Kapitalismus aus der Vorstellung, dass es sich für Personen und Unternehmen lohnt, in einem Wettbewerb um Aufmerksamkeit einen sozialen Geist zu entwickeln.35 Da dies nicht nur nach außen gut aussieht, sondern im »Gutes tun« und im »sozialen Reichtum« auch eine persönliche Erfüllung liege,36 wird die Erlebnisorientierung hier als positiver Effekt für die gesellschaftliche Entwicklung verstanden. Das gerade eine solche Auflösung der Kritik am Kapitalismus selbst seine besondere Stärke ist,37 macht es indes notwendig, auch die Kritik ständig zu erneuern und zu aktualisieren. Nun, da das Erlebnis an sich in den Mittelpunkt unserer persönlichen Bestrebungen gerückt ist, trifft die Forderung nach einer neuen Kritik vor allem auch auf die Umstände seiner Produktion – also das Event-Design – zu und bietet damit den Anknüpfungspunkt des intradisziplinären Diskurses an einen allgemeinen Diskurs der Eventisierung. 32 Mit Erlebnisrationalität meint Gerhard Schulze »die Funktionalisierung der äußeren Umstände für das Innenleben«. Schulze: Erlebnisgesellschaft, S. 35. 33 Als Grundmuster der Erlebnisgesellschaft: »Erlebnisrationale Beeinflussung des eigenen Innenlebens durch Situationsmanagement wird zum zentralen Thema.« Ebd., S. 52. 34 Ebd., S. 33. 35 »Wenn es einen Ausweg aus der Fixierung aufs Materielle gibt, dann nur innerhalb der hedonistischen Grundorientierung. […] Es müssen sich neue Realisierungschancen für das aggressive Kämpfen um große Ziele auftun. Dieser Wandel der Zielvorstellungen kann nur von einer Ökonomie kommen, die sich in Augenhöhe der alten als Alternative anbietet.« Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München/Wien: Carl Hanser Verlag 1998. 36 Norbert Bolz beschreibt das in einem Interview so: »Man kann vier Bereiche bzw. vier Faktoren unterscheiden, die sozialen Reichtum schaffen: Selbstverwirklichung oder Selbsttranszendenz, Soziale Netzwerke, Vorsorgender Sozialstaat und Caring-Capitalism.« www.trendbuero.de/index.php?f_categoryId=481&f_articleId=3263 [28.03.2010]. 37 Vgl. Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus.
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die fehlende Fundierung des Wissens um Methoden der Eventifizierung und um Parameter der Event-Kritik dem Anschluss des disziplinären Diskurses an den allgemeinen Eventisierungsdiskurs im Weg stehen. Ohne diese Einordnung fällt es aber schwer, die Folgen des eigenen Entwerfens abzuschätzen und entsprechend Verantwortung zu übernehmen. Als ergänzender Exkurs bezüglich der Verbindung von Praxis und Forschung sei hier erwähnt, dass durch die forcierte Besetzung der Design-Professuren mit promovierten Designern und die Professionalisierung der Designforschung die aufgezeigten Erkenntnisse und Diskurse sicher zurück in die Lehre finden. Doch der praktische Output jener neuen Design-Generation steht noch aus. Außen vor bleiben dabei die bereits tätigen Designer. In der Praxis ist die Auseinandersetzung mit Fragen um Folgen und Verantwortung des Designs sicher vom Willen des Einzelnen abhängig. Auf der anderen Seite aber auch vom möglichen Zugang zu diesen Diskursen und so letztlich auch von der Art der Aufbereitung der gewonnenen Erkenntnisse. Dabei fällt ganz nebenbei auf, dass es in Deutschland praktisch keine nennenswerten Fortbildungsmodi für Designer gibt. Dem Designschaffenden bleibt die Wahl zwischen den stark anwendungsbezogenen (Werbe-)Tagungen der Verbände und eigener projektbezogener Recherche, die selten über den akuten Projekt-Kontext hinaus reichen kann. Nur wenige Büros können es sich leisten, eine langfristige bzw. dauerhafte Forschung und Weiterbildung zu etablieren, um so eine fruchtbare Beteiligung an den sie betreffenden Diskursen zu realisieren. Hier fehlt, und das kann ich aus der eignen Praxis bestätigen, der Weg (über mittlerweile einige vielversprechende Publikationen hinaus) aus der Forschung und Theoriebildung zurück in die – und ein Austausch mit der – Praxis.38
4 / Ansätze einer Forschungsfrage Wie ich beschrieben habe, fehlt es dem Event-Design an fundamentalen theoretischen Grundlagen und Orientierungspunkten, die Möglichkeiten bieten würden, eine nachvollziehbare und verargumentierbare Haltung einzunehmen oder auch nur ansatzweise die scheinbar naheliegendsten Fragen zu beantworten: Gesetzt den Fall, wir wollen den Kreislauf der die Reflexionsräume verstellenden Erlebnisorien38 In Deutschland fehlt dafür ein fundiertes Fortbildungsangebot, dass die Rückkopplung in die Praxis bieten könnte. Wie dieses Ziel der Designforschung erreicht werden kann, dafür bieten die Schweizer MAS-, aber vor allem die CAS-Angebote ein lohnenswertes Beispiel an hochkarätiger Fortbildung.
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tierung durchbrechen – wie können wir dies als Designer befördern? Wie müssen wir Ereignisse gestalten, damit Betrachter durch sie nicht manipuliert, sondern ermächtigt werden? Es läuft darauf hinaus, zu Fragen, wie und ob wir uns in die Lage versetzen können, die eingangs beschriebenen Brüche entweder nicht entstehen zu lassen oder im Nachhinein kritisch zu diskutieren und daraus im Idealfall auch noch zu lernen. Welche Grundlagen müssen geschaffen werden, damit Fragen dieser Art überhaupt im Sinne einer Event-DesignTheorie beantwortet werden können und nicht fragmentarisch, einzeln im Raum stehen bleiben? Wie schon im vorigen Kapitel erscheint es mir sinnvoll, diese Frage im Kontext dreier Ebenen zu beleuchten, die den Diskursraum des Events sowohl innerhalb der Disziplin als auch im gesellschaftlichen Zusammenhang darstellen. Der Beitrag zum Diskurs der Eventifizierung Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Erforschung der Designmethoden, die beim Gestalten der Ereignisse angewendet werden oder angewendet werden könnten. Dabei ist erstens der Moment der Gestaltung von Interesse, also: Welche Techniken kommen zur Anwendung und werden sie strategisch gewählt? Unterscheiden sich die Techniken und das Vorgehen im Entwurf von anderen Designbereichen? Wie stark spielen zeitbasierte, multimediale und multisensuale Aspekte des Ereignisses eine Rolle? Zweitens kann die Untersuchung auch von den Designergebnissen, also den Events selber ausgehen. Welche Mittel der Inszenierung werden hier eingesetzt? Welche Analogien, welche Vorbilder sind erkennbar? Lassen sich kulturelle, geografische oder branchenspezifische Unterschiede oder Regelmäßigkeiten erkennen? An welchen Punkten und wo können wir bewusstes Gestalten des Erlebnismoments (den Eingriff des Designers) ausmachen? Die Entwicklung einer qualitativen Event-Kritik Dafür ist eine Zusammenstellung der Parameter erforderlich, die zur Einordnung der Ereignisse in Bezug auf verschiedenste Qualitätsmaßstäbe (oder eben Kriterien) herangezogen werden können. Dadurch wird es möglich sein, in der präzisen Distinktion der Qualitäten eines Events zu Beurteilungen jenseits des subjektiven schönen Erlebnisses zu kommen ohne dieses selbst in Abrede zu stellen. Diese differenzierte Betrachtung bildet die Grundlage einer objektiveren Diskussion um Nutzen und Folgen der designten Ereignisse, und wir
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lernen womöglich, Vor- und Nachteile dieser oder jener Vorgehensweise im Gestalten der Ereignisse besser abschätzen zu können. Zugleich kommt die Frage auf, welche Kriterien bei welchen Zielen relevant sind. Und genau an dieser Stelle entsteht die Diskussion um die richtigen Kriterien, die uns am Ende vielleicht zu einem Beitrag zur von Boltanski und Chiapello geforderten neuen Künstlerkritik bringt. Sollen wir eingrenzen oder ausgrenzen? Entscheiden wir uns für die Effizienz und Geschwindigkeit oder vielleicht für Rücksicht und Gewissenhaftigkeit? Geht es um kurzfristige oder um langfristige Ziele? Um ökonomische oder um soziale Ziele? Um mikro oder makro? Der Beitrag zum Eventisierungsdiskurs Keine Frage, der Diskurs um die Erlebnisorientierung ist in vollem Gange, doch erst wenn der Diskurs innerhalb der Disziplin ein gerüttelt Maß an Kontur und Prägnanz gewonnen hat, können wir uns wohl ernsthaft um die Anschlussfähigkeit an den gesamtgesellschaftlichen Diskurs bemühen. Dazu benötigen wir einen überschaubaren theoretischen Verhandlungsrahmen, also eine eigenständige Theoriebildung, die sich zu anderen Disziplinen klar abgrenzen kann. Wir nähern uns merklich der zentralen Frage, wenn wir diese drei Untersuchungsbereiche nochmals zusammenfassen: 1 Welche Methoden stehen dem Event-Design zur Verfügung? 2 Welche Kriterien werden zur Beurteilung der Ereignisse herangezogen? 3 Welchen Anteil hat Event-Design an der Zunahme der Erlebnisorientierung? Mit der Beantwortung dieser Fragen kommen wir sicher auch der Antwort auf die letzte (oder die erste?) Frage näher: Was ist eigentlich »Event-Design«? Oder: Was kann »Event-Design« sein?
5 / Die Erlebnisdimension des Designs Bis hierhin konnten wir also beobachten, dass Designer zentrale Akteure im Prozess der Event-Produktion sind. Alles Forschen und Wissenschaften hilft am Ende aber nicht weiter, wenn wir, als beteiligte Disziplin, nicht in der Lage sind, im gesamtgesellschaftlichen Eventisierungsdiskurs zwischen Kultur- und Sozialkritik einerseits und kapitalistischer Markt- und Marketing-Theorie andererseits Stellung zu beziehen. Folgen wir der von Schulze beobachteten und analysierten
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Verschiebung der sozialen Orientierung zur Erlebnisrationalität, dann müssen wir für das Design schlussfolgern, dass heute jedes gestaltete Artefakt auch auf seine potenzielle Erlebnisqualität hin wahrgenommen wird. Diese Erlebnisqualität reiht sich so als eine Metaqualität, vergleichbar mit der Ästhetik und verwoben in die ergonomische, ökonomische, ökologische oder soziale Funktion39 eines Entwurfs, in den Kriterienkatalog aller Designs ein. Der Designforschung fallen vor dem Hintergrund dieser Beobachtung dabei drei Aufgaben zu: 1 Die Dokumentation der Methoden und Strategien des Event-Designs. 2 Die Entwicklung von Kriterien zur distinkten Diskussion der Ergebnisse des Event-Designs. 3 Die Herstellung der Anschlussfähigkeit des EventDiskurses innerhalb der Disziplin an den Eventisierungsdiskurs außerhalb der Disziplin. Verschiedene Diskursstränge der Designtheorie, vor allem aber Diskurse in der angrenzenden Architekturtheorie, den Kulturwissenschaften und der Soziologie, beinhalten bereits Ansatzpunkte zur Beantwortung der ausgebreiteten Fragestellungen und bieten so Bausteine für eine zu konstituierende Theorie des Event-Designs. Hierbei zählen die Fragen des zivilgesellschaftlichen Raums, der Urbanität, der Gouvernementalität, der Partizipation; Fragen des ästhetischen Erlebens und der Wahrnehmbarkeit der Dinge, also der Authentizität; Fragen der Homogenisierung und Hybridisierung, der Kontextualisierung und Dekontextualisierung; Fragen zum Einfluss von Ritualen und Traditionen auf die Konstitution von Gesellschaft und schließlich Fragen zu den Rhythmen, der Beschleunigung und Entschleunigung, der Euphorie und Disphonie von Lebensphasen zu diesen Diskurssträngen. Diese Liste ließe sich noch um einige Fragestellungen erweitern und bildet nur einen subjektiven Ausschnitt möglicher Anknüpfungspunkte für weiterführende Diskussionen der Erlebnisdimension von Design.
39 Vgl. Heinz Habermann: »Und auch die Aufgabenstellung selbst bzw. das konkrete Problem steht nicht für sich allein, sondern lässt sich, geht man der Frage nach dem Entstehen oder dem Dasein von Problemen auf den Grund, in ein alles umfassendes Handlungssystem einbinden […].« Habermann, Heinz: Kompendium des Industrie-Design. Grundlagen der Gestaltung, Berlin/Heidelberg/New York ››› u.a.: Springer 2003, S. 10. Nach Habermann zählen zu diesen grundlegenden Vorgaben immer die technische Funktionalität, die Bedienbarkeit, die Wirtschaftlichkeit, die Ästhetik, die Verständlichkeit, die Wahrnehmbarkeit und die soziale wie auch ökologische Vertretbarkeit. Ebd. S. 565f.
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6 / Ein kurzer Einblick in die Untersuchung Im Rahmen eines Postgraduierten-Masterprogramms sind sowohl Zeit als auch Mittel für die Forschung stark begrenzt, daher beschränkt sich auch diese Forschung auf eher exemplarische und exkursive Untersuchungen im Feld, die sich vor allem auf die Dokumentation, Gegenüberstellung und Analyse bereits ereigneter Events beschränken. Die Untersuchung der Methoden erfolgt dabei hauptsächlich durch eine phänomenologische Bestandsaufnahme40 . Damit wird die Basis für eine exemplarische Topologie der Stilmittel, Grundmuster und Überschneidungen geschaffen. Interviews mit verschiedenen Akteuren der Event-Produktion bilden ein breites Spektrum der Bewertungskriterien ab, die aus unterschiedlichen Richtungen an Events angelegt werden. In der Überlagerung dieser Interviewaussagen mit der phänomenologischen Bestandsaufnahme ergibt sich so eine erste, grobe Übersicht auf das Feld des Event-Designs. Ein weiterer Ansatz der Untersuchungen liegt in der Auswertung sowohl disziplinärer als auch disziplinfremder Schriften, Essays und Vorträge, die sowohl der Methoden-Erfassung als auch der Erarbeitung von Bewertungskriterien dienen. Dazu werden sie systematisch in die eingangs ausgebreitete antiontologische Topologie projiziert und auf ihre Erkenntnispotenziale für das Event-Design ausgewertet (Abb. 11). Geplant ist abschließend, in Form von Workshops oder Seminaren verschiedene Laborsituationen herzustellen, die, in Form einer »projektbasierten Forschung«41, die bis dahin gesammelten Erkenntnisse mit praktischen Kontexten konfrontieren soll. Das Erkenntnisinteresse liegt dabei auf der Frage, wie sich die Designergebnisse durch das Wissen um spezifische Methoden und Kriterien des EventDesigns verändern. Dabei sollen Designstrategien ausgearbeitet werden, die mit dem theoretisch formulierten Anspruch an eine verantwortliche Designhaltung praktisch umgehen, ohne sich in einer rein dekonstruierenden Sozial- und Künstlerkritik zu verlieren.
40 Vgl. dazu die Methoden zur Erfassung, zum Vergleich und zur Auswertung verschiedener architektonischer Phänomene in Venturi, Robert/Scott Brown, Denise/ Izenour, Steven: Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage, Basel/Boston/ Berlin: Birkhäuser 2007, S. 30ff. 41 Vgl. das Konzept des Project-grounded Research: Findeli: Research Through Design and Transdisciplinarity, S. 69f.
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Abb. 11: Von der antiontologischen Topologie eines möglichen kognitiven Konstruktionsprozesses in der Massenkommunikation zum konkreten Auswerten von möglichen Beiträgen.
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7 / Ein möglicher Zwischenbericht Zum aktuellen Stand der begonnen Forschung bleibt vorerst nur die überaus spannenden Beobachtung, welch weites und unscharfes Feld sich für den jungen Designforscher plötzlich auftat – das Bild vom Wespennest drängt sich unweigerlich auf. Auch wenn die Feldforschung sich bisher auf die Ergebnisse der Event-Produktion beschränkte und die vielfältigen Designprozesse der Produktion selbst bis dato noch gar nicht näher untersucht wurden, so zeigt sich doch schon jetzt, wie stark die Forschungsfrage die praktische Designarbeit heute berührt. Für weitergehende Forschungen müsste dies allerdings sehr bald, nachdem das theoretische Fundament nun ansatzweise bereitet wurde, in den Vordergrund rücken. Wie lässt sich nun ein Zwischenergebnis der Forschung formulieren? In Bezug auf den anfänglich formulierten Spagat zwischen Theorie und Praxis haben wir zwei Zielrichtungen für die Fragestellung ausgemacht. Einmal der Erkenntnisgewinn für Forschung, Lehre und Praxis des Designs und zum Zweiten die Erkenntnisse zur Praxis der Designforschung. Die zweite Frage lässt sich leichter beantworten: Für den Rahmen des berufsbegleitenden Master-Programms stellt schon allein der Weg bis an den hier vorliegenden Punkt – das Feld ausgebreitet vor sich liegen zu sehen – ein fruchtbares Ergebnis dar. Bis zum Abschluss des Masters findet die Arbeit sicher auch noch die Form, das Konzept der »Erlebnisdimension« im Design ausführlicher, als es hier möglich ist, darzustellen. Doch beginnt nun erst die eigentliche Forschung oder war das schon Forschung? Wie lässt sich das künftig mit der, nicht nur finanziell notwendigen, täglichen Arbeit als Designer verbinden? Welche Formen der Forschung lassen sich, im wissenschaftlichen wie monetären Sinne, gewinnbringend in den Designalltag integrieren? Und wie verändert sich schließlich – und das war ja ein zentrales Ziel zu Beginn der Forschung – die eigene Designarbeit durch die Erkenntnisse aus der Forschung? Viele Fragen werden wie in diesem Projekt unbeantwortet bleiben müssen und bieten damit gleichzeitig zahlreiche Ansatzpunkte für eine Fortsetzung der Forschung. Wie das gehen soll? Wir werden sehen. Der zentrale Beitrag im Sinne eines »Designwissens«, welcher sich anhand der dokumentierten Ereignisse, Diskurse und Modelle darstellen lässt, liegt meines Erachtens in der Entwicklung des Konzepts der Erlebnisdimension, die jedem Artefakt innewohnt. Als Beitrag für Designforschungsprojekte, die sich mit den Interdependenzen von Design und Gesellschaft beschäftigen, ist dabei der aufgezeigte Ansatz des Zusammenhangs von Erlebnisrationalität, Design-
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rezeption und gesellschaftlicher Konstitution genauso von Belang wie für den Diskurs um eine sich notwendigerweise formierende »kritische (Event-)Design-Theorie«. Womit auch der Beitrag für die Designausbildung, neben dem Aufzeigen der primären Gestaltungsmomente des Event-Designs, schon dargelegt wäre. Denn nach meiner Einschätzung ist es ein elementarer Bestandteil der Designausbildung, eine Verortung des Designs in den gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Wirkungszusammenhängen zu diskutieren und den Lernenden dadurch die Bildung einer kritisch-reflektierten Haltung gegenüber dem eigenen Schaffen zu ermöglichen. Die so gefestigte Haltung spiegelt auch die beiden Seiten der in der Praxis eingeforderten Anerkennung der Autorschaft des Designers, nämlich Rechte und Pflichten, wieder. Dabei ist der Beitrag dieser Forschung für die Designpraxis in erster Linie im Aufzeigen des engen Gestaltungsspielraums (Rituale, Schemata, Unter- und Überdetermination), in dem sich Event-Design derzeit bewegt, zu sehen. Diese Kombination aus Banalisierung des Designrepertoires einerseits und der hier breit dargestellten Orientierung an der Erlebnisdimension des Designs andererseits ist die Wegmarke, an der sich das Design (und nicht nur das Event-Design im engeren Sinn dieser Forschung) entweder seiner gesellschaftlichen Verantwortung stellt oder sich, als ausführendes Organ des Marketings, endgültig selbst marginalisiert.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Die Farbe des Unbewussten oder: Wie Design zu einer Bedingung auch wissenschaftlichen Wissens geworden ist1 Christof Windgätter
Der Dichter stellt fest: Es ist eine ganz einfache Thatsache des Verstandes, daß derjenige, der […] zu verkaufen, zu vertauschen, zu verhandeln hat, sagen müsse, daß und was er zu verschleißen wünsche, oder die Sachen selber zur Ansicht auslege: jedoch nicht so ganz einfach scheint es, daß diese Auslagen und Ankündigungen nicht nur den Zweck haben, daß der kaufe, der will, sondern vielmehr und eigentlich den, daß der kaufe, der nicht will. […] [Außerdem lehrt d]ie Erfahrung, daß namentlich die Waarenauslagekästen immer mehr und mehr werden, so daß an gewissen Plätzen Wiens buchstäblich streckenlang kein einziges Mauerstückchen des Erdgeschoßes zu sehen ist, sondern lauter an einander gereihte, elegante, hohe Gläserkästen, in denen das Ausgesuchteste funkelt und lockt. […] Da ist die Schnittwaarenhandlung, und vor ihr, wie ein wahres Farbengetümmel, hinter glänzendem Spiegelglase die Stoffe aus Seide, aus Wolle, aus Baumwolle […]; dann die Blechwaarenhandlung mit allen erdenklichen bekannten und unbekannten Gefäßen und Leuchten und Klammern und Lampen, in gelben, weißen, grünen und anderen Farben, dann die Buchhandlung mit den Kunstwerken der Typographie und des Grabstichels. […] Freilich muß ich als ein aufrichtiger Schriftsteller eingestehen, daß auch hier allerdings eine Art Aufschneiderei möglich ist, die aber eben so gut im Schönheits- und Harmoniesinne ihren Grund haben mag, als in etwas Anderem, und jedenfalls dem Verkäufer nicht zur Last fallen kann, da der Käufer die Sache ja sieht, und er sich selber zuschreiben muß, wenn er so unvernünftig ist, von außerwesentlichen Nebendingen, die 1
Dies ist die leicht überarbeitete Fassung meines Textes: »Das Unbewusste im Schaufenster. Zur Typographie- und Farbpolitik des Internationalen Psychoanalytischen Verlages (1919—1938)«, in: Typographie und Literatur. Beihefte zu TEXT . Kritische Beiträge 1, hg. v. Thomas Rahn und Rainer Falk, Frankfurt a.M. 2010.
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die Pracht der Erscheinungen darstellen helfen, nicht abstrahieren zu können.2
So Adalbert Stifter 1844, nicht weniger fasziniert als alarmiert von den Entwicklungen des Wiener Auslagen- und Werbewesens seiner Zeit. Dabei dürfte ihm dergleichen nicht gänzlich fremd gewesen sein: Als Händler-Sohn stand er in den 1840er Jahren ja nicht nur vor seinem literarischen Durchbruch, sondern nach mehreren Pfändungen in seinem Haushalt auch vor dem finanziellen Ruin. Angeblich neigte seine Frau Amalie zur Verschwendungssucht. Es ist meines Wissens nicht überliefert, ob die funkelnden Schaukästen am Graben, dem Kohlenmarkt oder der Kärntnerstraße zu dieser Kalamität beigetragen haben, sicher aber ist, dass Schaufenster zu dieser Zeit im Straßenleben der europäischen Metropolen noch relativ neu gewesen sind.
Schaufenster I: Die Stadt als Graphosphäre Die Geschichte des Schaufensters beginnt, von wenigen Ausnahmen abgesehen,3 um 1800 mit der Frontverglasung einzelner Luxusgeschäfte: Aus den Tiefen der Innenräume, Regale und Werkstätten heraus rücken die Waren in den Vordergrund vitrinenartig ausgebauter Fenster. Um 1830, durch Verbesserungen in der Glasherstellung und die Entstehung des Ingenieurwesens unterstützt,4 breitet sich die neue Ladenarchitektur dann im städtischen Kleinhandel aus; ist jedoch erst ab den 1890er Jahren (in Frankreich etwas früher) zu dem bis heute bekannten Massenphänomen geworden.5 Jetzt sind es, wie Stifter schreibt, die vorgebauten Gläserkästen oder Schaufronten mit 2
Stifter, Adalbert: »Warenauslagen und Ankündigungen« [1844], in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 15, Vermischte Schriften, zweite Abteilung, hg. v. Gustav Wilhelm, Reichenberg 1935, S. 167—180, hier S. 167, 170, 176f.
3
Vgl. Reinhardt, Dirk: »Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland«, Berlin 1993, S. 269ff. bzw. Seÿffert, Rudolf: »Werbelehre. Theorie und Praxis der Werbung«, Stuttgart 1966, S. 912f., die von »mittelalterlichen Kaufgewölben« mit »horizontal aufklappbaren Holzläden« und von »Schautischen« im 17. Jahrhundert berichten.
4
Erst jetzt wird es überhaupt möglich, blasenfreies, ungetrübtes und also durchsichtiges Glas in größeren Abmessungen herzustellen. Vgl. Reinhardt: Reklame, S. 269.
5 Vgl. Spiekermann, Uwe: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850—1914, München 1999, S. 573f. Peter Borscheid: »Am Anfang war das Wort. Die Wirtschaftswerbung ››› beginnt mit der Zeitungsannonce«, in: ders.: Clemens Wischermann (Hg.): Bilderwelt des Alltag. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (Stuttgart 1995), S. 20—43, hier S. 29f.
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ihren versprossten Fenstern, die sich an den Plätzen, Boulevards und Straßen der europäischen Metropolen etabliert haben.
Abb.1: Gläserkästen und versprosste Schaufenster in Wien, 1840. Seÿffert: Werbelehre, S. 918, 921.
Einer Notiz Benjamins zufolge taucht in dieser Zeit auch die »Reklame« als Wort und unübersehbare Tatsache in den urbanen Zentren auf.6 Ab den 1850er Jahren nämlich, nach dem Übergang von der Zunftzur Marktwirtschaft, treten konkurrenzbetonte Handelsformen in den Vordergrund, die sich schnell in einer Eskalation werblicher Aktivitäten und einer Ausdifferenzierung der daran beteiligten oder auch eigens dazu erfundenen Medien bemerkbar machen.7 Wie später nur noch die Ornamente des Jugendstils überwuchern seither Texte, Symbole, Plakate, Lichtkörper oder (emaillierte) Schilder die Fassaden, Säulen und Vitrinen der Geschäfts- und sogar der Wohnhäuser. Aber man sieht Reklame auch an den Straßenbahnen und Bussen, an Zäunen, Mauern oder in Form sogenannter »Sandwichmänner« 8, die mit betexteten und/oder bebilderten Papptafeln behängt durch die Geschäftsviertel spazierten. »Die Schrift«, kommentiert Benjamin, »wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt […]. 6
Benjamin, Walter: »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« [1935], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/1, Frankfurt a.M. 2003, S. 45—59, hier S. 51, 59. Vgl. auch Haas, Stefan: »Sinndiskurse in der Konsumkultur. Die Geschichte der Wirtschaftswerbung von der ständischen bis zur postmodernen Gesellschaft«, in: Michael Prinz (Hg.): Der lange Weg zum Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn/München/Wien 2003, S. 292, 294f.: »Die eigentliche Geschichte der Werbung beginnt mit dem Industriezeitalter, mit der Aufhebung des Zunftzwanges zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Etablierung eines freien Unternehmertums.«
7
Reinhardt: Reklame, S. 169ff. Borscheid: Am Anfang war das Wort, S. 21ff. Haas: Sinndiskurse in der Konsumkultur, S. 294f.
8 Reinhardt: Reklame, S. 242f.
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Wenn vor Jahrhunderten sie allmählich sich niederzulegen begann, von der aufrechten Inschrift zur schräg auf Pulten ruhenden Handschrift ward, um endlich sich im Buchdruck zu betten, beginnt sie nun ebenso langsam sich wieder vom Boden zu heben.«9 So verwandeln sich die Städte (vor allem Paris, Berlin, London und Wien) in eine Art »Graphosphäre«, wenn damit, Benjamin weiter folgend, eine Schrift gemeint ist, die »immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt«. Die veränderte Ordnung des städtischen Raumes jedenfalls geht einher mit veränderten Formen der Öffentlichkeit und der Veröffentlichung. Nicht zuletzt »Schaufensterbummeln«, »lécher les vitrines« oder »window-shopping« gehören seither zur Alltags- und Freizeitbeschäftigung keineswegs nur bürgerlicher Schichten. Immer wieder werden sie angezogen von der endlosen Parade der Gläserkästen, die dann, durch gusseiserne Konstruktionen und die Einführung der Elektrobeleuchtung ermöglicht, in den spektakulären, weil großflächig durchbrochenen Fassaden der Warenhäuser gipfeln.10 Solchermaßen entwickelt sich das Schaufenster, wie Weibel und Pakesch schreiben, zum »visuellen Enviroment« der Moderne, das nicht nur ein »Kernstück des Urbanismus« darstellt, sondern auch als »Kommunikationserreger« zwischen Passanten und Waren, Straßen und Läden, Wünschen und Wirklichkeiten funktioniert.11 Wenig überraschend ist daher Stifters Ambivalenz angesichts des neuen Auslagewesens, das ja im Laufe des 19. Jahrhunderts neben Schreibtischen und Bibliotheken zu einem privilegierten Ort auch der Bücher zu werden beginnt: Einerseits sind da die ökonomischen und informationspraktischen Möglichkeiten, die sich durch das Vorzeigen der Waren ergeben, verbunden mit den bekannten städte9
Benjamin, Walter: »Passagen, Magasins de nouveautés, calicots«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V/1, S. 103. Ebenso das direkt folgende Zitat. Nur wenige Oberflächen der Stadt sind in dieser Zeit keine Werbeträger geworden; einschließlich des Himmels durch sog. »Wolkenschreiber«. Vgl. Haas: Sinndiskurse in der Konsumkultur, S. 301.
10 Vgl. Weibel, Peter/Pakesch, Peter (Hg.): Künstlerschaufenster. Katalog zu »Kunst im Schaufenster«, Graz 1980, S. 11f.. Osterwold, Tilmann: Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums, Stuttgart 1974, S. 26ff. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2004, S. 141: »Als um 1850 die Herstellung großflächiger Scheiben und damit eine Glasfront möglich würde, die […] als ununterbrochene Glasmasse von der Decke bis zum Boden reichte, veränderte das die Erscheinungsweise der dahinter ausgestellten Waren.« Vgl. auch die bisher einzige deutschsprachige Schaufenster-Monografie, der die vorliegenden Ausführungen zahlreiche Anregungen verdanken: Nina Schleif: SchaufensterKunst, Berlin und New York, Köln 2004, hier S. 16ff. 11 Weibel/Pakesch: Künstlerschaufenster, S. 5, 7, 9. Osterwold: Schaufenster, S. 6.
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baulichen und verkehrspraktischen Implikationen; auf der anderen Seite aber gilt es auch, mit dem Auftauchen und der Verbreitung der Schaufenster eine bisher unbekannte Verführungsmacht zur Kenntnis zu nehmen, die allemal in der Lage ist, die Vernunft und Urteilskraft des redlichen Bürgers zu unterlaufen. »Der erste Geschäftsmann«, weiß Stifter zu berichten, »war die Schlange im Paradiese«, indem sie »Waren, die unsere Leidenschaft und Begierde reizen, in Natura herumbreitete, und mitten darunter saß« 12. Nicht anders im Wien seiner Zeit: Wenn sich gläserne Vitrinen als Anfechtungen des Willens erweisen, wenn beleuchtete Fenster (erst recht bei Nacht) Alltagsgegenstände in Objekte des Begehrens verwandeln, wenn aus der Information über Angebote raffinierte Inszenierungen werden, ist höchste Vorsicht geboten. Der Blick in den Straßen und auf die Stadt gerät da »durch alle Stände und Alter« hindurch zu einem riskanten Unterfangen; 13 jederzeit in der Gefahr, unbeherrschte, ja unbeherrschbare Kaufakte auszulösen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, kann man daher sagen, ist der Flaneur zum Voyeur geworden; oder: In den Straßen der europäischen Metropolen wird der zunächst noch souveräne, dann nur noch melancholische Beobachter vom »Passanten als Kunden« verdrängt, den die Reize der Waren durch die Lochfassaden der Häuser wie in einer Peepshow attackieren.14 Dabei ist es weniger der moralische Aspekt, durch den sich Stifters Feststellung auszeichnet, auch nicht deren konsumkritische oder kulturpessimistische Tendenz, vielmehr, dass hier der Dichter des Biedermeier ein »epistemologisches Vorurteil« aufruft, das zum Teil bis in unsere Gegenwart hinein wirksam ist. Dieses Vorurteil besagt: Eine Sache kann durch ihre äußere Erscheinung zwar die (Un-)Lust der Betrachter oder Benutzer hervorrufen, gleichzeitig aber soll diese Äußerlichkeit nur ein »außerwesentliches Nebending« sein, da es im Bereich des Ästhetischen bzw. des Sinnlichen angesiedelt ist. Und liest man genau, dann impliziert Stifters Formulierung gar eine doppelte Abwertung und Hierarchie: Die Pracht der Erscheinung nämlich ist nicht nur nicht wesentlich, sondern außerdem auch kein Hauptding.
12 Stifter: Warenauslagen und Ankündigungen, S. 167f. 13 Ebd., S. 171. 14 Duchamp, Marcel: »Die Weisse Schachtel, 1966: Im Infinitiv«, in: Die Schriften, Bd. 1, hg. von Serge Stauffer, Zürich 1994, S. 121—170, hier S. 125 hat von einem »Koitus durch die Glasscheibe hindurch mit einem oder mehreren Objekten« gesprochen. Zur Sexualisierung des Schaufensters und vor allem der Schaufensterpuppen vgl. außerdem Weibel/Pakesch: Künstlerschaufenster, S. 7, 14. Osterwold: Schaufenster, S. 176ff.. Bouillon, Jean-Paul: »The Shop Window«, in: Jean Clair (Hg.): The 1920. Age of the Metropolis, Montreal 1991, S. 162—181, hier S. 169, 181.
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Diskurs und Materialität der Zeichen Ganz einerlei, wie man dieses Vorurteil weiter beschreiben möchte, ob als »Sekundarität des Signifikanten« oder »Neutralisierung des Diskurses«, ob als »Vergessen des Mediums« oder »Imperialismus des Logos«,15 bekanntlich gibt es Theoriebildungen, die dieses Vorurteil demontiert, auf den Kopf gestellt und schließlich aufgegeben haben. Gemeinsamer Ausgangspunkt dürfte eine allgemeine Kritik des Zeichens als Stellvertretung, Repräsentation oder Wiederholung gewesen sein; einer Ordnungsvorstellung also, nach der Oberflächen durchdrungen, Geheimnisse enthüllt oder Hintergründe aufgedeckt werden müssen. Schon deswegen konnte man von einem »antihermeneutischen Impuls« dieser Unternehmungen sprechen, mit dem Ziel, fortan auf semiotische und interpretatorische Modelle zu verzichten.16 Stattdessen, und auch das ist längst keine Nischen- oder Dissidentenforschung mehr, hat man begonnen, sich mit den materialen Kulturen des Wissens zu beschäftigen, die nach einer initiierenden Formel Foucaults nur als »Denken des Außen«17 zu erreichen sind: eines Außen allerdings, das weder dialektisch noch ideografisch noch sonst wie Ausdruck, Anwendung oder Abweichung eines »Innen« darstellt,18 sondern eigenen, ebenso irreduziblen wie historisch 15 Derrida, Jacques: Grammatologie [1967], Frankfurt a.M. 2001, S. 17. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a.M. 1998, S. 72. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, New York/London 1964, S. 19. Vgl. auch Windgätter, Christof: Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift, Berlin 2006, S. 55f. 16 Witte, George: »Textflächen und Flächentexte. Das Schriftsehen der literarischen Avantgarde«, in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 375—396, hier S. 378. Wellbery, David: »Die Äußerlichkeit der Schrift«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hg.): Schrift, München 1993, S. 337—348, hier S. 337f.; neuerdings auch Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 15, 18 bzw. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2005, S. 9. 17 Foucault, Michel: »Das Denken des Außen« [1966], in: ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987, S. 46—68, hier S. 46. Wellbery: Die Äußerlichkeit der Schrift, S. 342. 18 So klassischerweise bei Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes [1807], hg. v. Hans-Friedrich Wessels/Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, S. 47f., 208f.; in neuerer Zeit aber auch Raible, Wolfgang: »Von der Textgestalt zur Texttheorie. Beobachtungen zur Entwicklung des Text-Layouts und ihren Folgen«, in: Peter Koch/Sybille Krämer (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen 1997, S. 29—41, hier S. 29, 31. Krämer, Sybille: »Kann das ›geistige Auge‹ sehen? Visualisierung und die Konstitution epistemischer Gegenstände«, in: Bettina Heintz/Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken: Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich/Wien/New York 2001, S. 347—365, hier S. 353. Dies.: »›Schriftbildlichkeit‹.›››
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variablen Regeln folgt. In den Worten Bruno Latours: »Procedures to authorize and legitimize are important, but it’s only half of what is needed to assemble. The other half lies in the issues themselves, in the matters that matter […].«19 Jenseits einer (Re-)Naturalisierung des Wissens also geht es um die Frage nach der Kodierung von Substanzen, um dadurch Gegenstand und Gesetz, Materie und Matrize, die Dinge und ihr Design in einer gemeinsamen Perspektive zu verbinden. Ein solches Denken hat in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos einen massiven Theorieschub ausgelöst und eine beeindruckende Vielfalt an Forschungen hervorgebracht. Dabei wurde diese Intervention, wie Wellbery retrospektiv festgestellt hat, zumeist unter dem »Vorzeichen der Schrift« ausgetragen.20 Über »l’avenèment de l’écriture« war bereits 1967 bei Derrida zu lesen.21 Eine Wendung, nicht selten zum Paradigmenwechsel erhoben, die zunächst über die Strukturalität und die Spur, dann über Aufschreibetechniken, Inskriptionen und Schriftbilder sowie neuerdings über die Gesten und Praktiken des Notierens fortgesetzt wurde. Kennzeichen dieser Debatten ist allerdings nicht nur deren Heterogenität, sondern auch der Umstand, dass dabei nur selten zwischen Skriptografie und Typografie, d.h. zwischen Feder-, Maschinen- und Druckschrift unterschieden wurde. Was auch immer die Gründe dafür sein mögen, bemerkenswert ist die Konsequenz dieser Unschärfe, durch die nämlich das Buch bzw. die Drucksache allmählich in einen historiografischen Randbereich abgedrängt wurde. Wissenschaftsund mediengeschichtlich jedenfalls scheint es heute leichter, über das Davor und Danach von Büchern, also über handschriftliche oder elektronische Medien zumal in Laboren, Schreibstuben oder Netzwerken, zu forschen. Und selbst die üblicherweise für bedrucktes Papier zuständigen Disziplinen (von der Literatur- und der Buchwissenschaft über die Paläografie bis zur Kunstgeschichte) haben ihre Gegenstände nur selten unter epistemologischen, weil zumeist anthropologischen, gewerblichen oder ästhetischen Gesichtspunkten behandelt.22 Oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 156—176, hier S. 161/167. 19 Latour, Bruno: »From Realpolitik to Dingpolitik. Or How to Make Things Public«, in: ders./Peter Weibel (Hg.): Making Things Public. Atmospheres of Democracy. Cambridge, Mass. 2005, S. 14—41, hier S. 16, 24. 20 Vgl. Wellbery: Die Äußerlichkeit der Schrift, S. 337f. 21 Derrida: Grammatologie, S. 16. 22 Vgl. exemplarisch McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962. Eisenstein, Elizabeth: The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early Modern Europe, Cambridge 1979. Killius, Christina: Die Antiqua-Fraktur Debatte um ›››
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Der Perspektivwechsel freilich ist keineswegs einfach. Wie nachhaltig nicht zuletzt die Gelehrtenrepublik Deutschland davor zurückschreckte, zeigt noch Hans-Georg Gadamer, als er ganz im Sinne eines Logozentrismus erklärt: »Sprache und Schrift bestehen immer in ihrer Verweisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen.«23 Dagegen hat andernorts und früher schon Paul Valéry auf zwei sehr unterschiedliche Lektüreverhalten hingewiesen:24 1 Man lässt sich in einem »sukzessiven und linearen Akt« auf die Aneinanderreihung der Worte und Zeilen ein, um dadurch eine »Menge aufeinander folgender mentaler Reaktionen hervorzurufen« (»provoque […] une quantité de reactions mentales successives«). So wird in jedem Augenblick die visuelle Wahrnehmung der Zeichen getilgt (»destruire à chaque instant la perception visuelle des signes«). Es ist eben diese Praxis, die wir Lesen nennen (»la lecture«): die Umwandlung eines Textes in ein Geschehen des Geistes, die zugleich seinen Verbrauch bedeutet, seine »Vernichtung durch den Geist« (»la destruction par l’esprit«). 2 Und alternativ dazu: Man behandelt die Seiten der Bücher als Blöcke im Sinne von Text- oder Buchblöcken, bzw. als »Gefüge von Blöcken und Schichten, aus schwarz und weiß«. Valéry nennt dies ein Betrachten der Bücher (»un mode de regard«), das nicht auf einzelne Zeichen oder Zeichenketten reagiert (indem es dazu »virtuelle oder wirkliche Töne« assoziiert, also eine Phonem-Graphem-Entsprechung herstellt), sondern von den Buchseiten einen »Gesamteindruck« (»une impression totale«) empfängt. So wird die Seite zum Bild. »Une page«, schreibt Valéry, »est une image«; bestehend aus »schwarzen Massen auf einem sehr reinen Feld«. Beide Arten, mit Büchern umzugehen, heißt es dann weiter, »sind voneinander unabhängig. Der Text, den man betrachtet, der Text, den man liest, sind ganz verschiedene Dinge (›Le texte vu, le texte lu sont chose toutes distintes‹), da doch die Aufmerksamkeit für den einen die Aufmerksamkeit für den anderen ausschließt.« 1800 und ihre historische Herleitung, Wiesbaden 1999. Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000. Ernst, Albert: Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung, Würzburg 2005. 23 Gadamer, Hans-Georg: »Text und Interpretation« [1981], in: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation, München 1984, S. 24—55, hier S. 51. 24 Die direkt folgenden Zitate: Valéry, Paul: »Les deux vertus d’un livre« [1927], in: ders.: Œuvres, hg. v. Jean Hytier, Bd. II, Paris 1960, S. 1246—1250, hier S. 1246f.
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Nun kann man aus guten Gründen skeptisch sein gegenüber der Behauptung, bei Bildern (und seien es Schrift- bzw. Druckbilder) handle es sich um Ordnungen der Simultanität, die deshalb schon einer phonographisch-sequenziellen Bestimmung der Buchstabenschriften entgegenstehen würden:25 Denn erstens sind auch Bildern »visuelle Abtastbahnen« eingeschrieben, sodass sie nicht »auf einmal« oder »als Ganzes« gesehen werden, und zweitens ist selbst die Linearität der Textverarbeitung nicht nur wahrnehmungsphysiologisch längst widerlegt, sondern auch als progrediente Praxis (als würde man stets von links nach rechts, von oben nach unten, von vorne nach hinten lesen) eine Ausnahme.26 Die Bild-Schrift-Dichotomie implodiert bei Valéry deshalb in anderer Weise: Unter dem Bild-Begriff nämlich thematisiert er Bücher und Buchseiten vor allem als Gegenstände, als dreidimensionale Objekte (»un livre a son physique, son extérieur visible et tangible«),27 sodass sie für den Betrachter (wenn schon nicht für den Leser) weder auf die Eindimensionalität der Zeilen noch auf die Zweidimensionalität der Flächen reduziert werden können. Sofern man sich also schrift- oder druckbildtheoretisch mit Büchern beschäftigt, hat nach Valéry deren Körperlichkeit im Vordergrund zu stehen.
Die Psychoanalyse und ihr erster/einziger Verlag Im Folgenden wird dementsprechend eine Art »Physio-Analyse« erprobt, die an ausgewählten Drucksachen Aspekte ihrer Exteriorität erforscht. Nicht ohne eine gewisse Ironie, denn es werden dazu Publikationen der »Psycho-Analyse« herangezogen, genau genommen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, der von 1919 bis zur Zerschlagung durch die Nationalsozialisten 1938 in Wien existierte. Der Verlag ist auf Sigmund Freuds Initiative hin während des V. Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Budapest ge25 Vgl. Raible, Wolfgang: »Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses«, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1991, Nr. 1, S. 5—44, hier S. 5f. bzw. Krämer: ›Schriftbildlichkeit‹ in Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). 26 Vgl. Groß, Sabine: »Schrift-Bild. Die Zeit des Augenblicks«, in: Georg Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 231—246, hier S. 235f., 244; außerdem Ernst, Ulrich: »Lesen als Rezeptionsakt. Textpräsentation und Textverständnis in der manieristischen Barocklyrik«, in: Brigitte Schlieben-Lange (Hg.): Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 15, H. 57/58: Lesen – historisch, Göttingen 1985, S. 67—94, hier S. 73. 27 Valéry, Paul: Le physique du livre, Paris 1945, S. 3.
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gründet und in den ersten Jahren durch eine Stiftung des ungarischen Brauereibesitzers, Millionärs und Ex-Freud-Analysanden Anatal Freund von Tószeg finanziert worden. 28 »Der auf meinen [= Freuds, d.V.] Namen getaufte und mir zur Verfügung gestellte Fonds wurde von mir zur Gründung eines ›Internationalen Psychoanalytischen Verlages‹ bestimmt. Ich hielt dies für das wichtigste Erfordernis unserer gegenwärtigen Lage.«29 So der Wiener Chefanalytiker im Herbst 1918; zumal ihm die Abhängigkeit von seinen bisherigen Verlegern (insbesondere Franz Deuticke und Hugo Heller in Wien) schon länger ein Dorn im Auge war.30 »Der Verlag«, heißt es dann in einer Dokumentation des Budapester Kongresses, wird das »regelmäßige Erscheinen und eine verlässliche Austeilung der beiden Zeitschriften = Imago, IZP, d.V. sichern«. Außerdem soll er »in das Gebiet der ärztlichen und angewandten Psychoanalyse einschlägige Bücher und Broschüren zum Druck befördern, und da er kein auf Gewinn zielendes Unternehmen darstellt, kann er die Interessen der Autoren besser in Acht nehmen, als dies von Seite der Buchhändler-Verleger zu geschehen pflegt«31. Seine Ankündigungen allerdings konnte der Verlag nicht in jeder Hinsicht realisieren. Vor allem wirtschaftliche Krisen haben ihn immer wieder an den Rand des Ruins und an die Grenzen seiner Personalpolitik getrieben. Dennoch hat er während der knapp 20 Jahre seines Bestehens sämtliche Titel der damaligen, von Wien ausgehenden psychoanalytischen Bewegung veröffentlicht: darunter Freuds Erstausgaben seit 1920, das erste psychoanalytische Wörterbuch, als Jahrbuch den sogenannten »Almanach«, die vier maßgeblichen Zeitschriften (neben Imago und IZP die Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik und Die Psychoanalytische Bewegung) sowie, in 12 luxuriösen Bänden, die erste Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften. 28 Zu Details der Verlagsgründung vgl. vor allem Fallend, Karl: Sonderlinge, Träumer, Sensitive. Psychoanalyse auf dem Weg zur Institution und Profession, Wien 1995, S. 69—88. Marinelli, Lydia: »Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags«, in: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1919—1938, hg. vom Sigmund Freud-Museum Wien, Wien 1995, S. 9—29. Dies.: Psyches Kanon. Zur Publikationsgeschichte der Psychoanalyse rund um den Internationalen Psychoanalytischen Verlag [1999], Wien 2009. Huppke, Andrea: »Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlages«, in: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 9. Jg., H. 18: Institutionalisierungen, Tübingen 1996, S. 7—33. 29 Freud, Sigmund (Hg.): Internationale Zeitschrift für (ärztliche) Psychoanalyse [= IZP], Bd. 5, S. 137. 30 Vgl. dazu u.a. Freud, Sigmund/Rank, Otto: Correspondence, hg. v. E. James Lieberman (in Vorbereitung), Nr. 150723/R, 150802/R, 160322/R (mit Dank an den Herausgeber). 31 IZP 5, 137f.
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Mit anderen Worten: Das Verlagsprogramm bestand keineswegs nur aus einer Versammlung von Einzelwerken, auch ging es nicht darum, die Texte bereits bekannter, in manchen Fällen sogar berühmter Psychoanalytiker zu publizieren oder eigene Reihen zu Themen der Psychoanalyse zu starten; vielmehr wollte man als einziger Verlag in ausschließlicher Weise für die komplette Veröffentlichung einer ganzen Theorieform zuständig sein. Ein bemerkenswerter Anspruch, zumal die Buchwissenschaft zeigt, dass es »bis in die 1860er Jahre hinein« noch nicht einmal das »Beispiel eines Verlegers gibt, der sich planmäßig und systematisch um Autoren einer bestimmten Disziplin bemüht hätte, um seinen Programmen ein fachspezifisches Profil zu geben« 32. Sehr anders die neue psychoanalytische Firma: Als sie 1919 ihre Produktion aufnimmt, trifft sie nicht nur auf eine inzwischen professionalisierte Verlagsbranche und einen stark segmentierten Buchmarkt, sondern sie hat es auch mit einer zunehmenden Dissoziation der Wissenschaft in abgrenzbare Disziplinen sowie deren Binnendifferenzierung in konkurrierende Forschungsfelder zu tun. Anstatt darauf aber, wie um 1900 üblich, durch Spezialisierung zu reagieren, indem man etwa eine »disziplinenorientierte Verlagspolitik« betreibt oder sich als »Dienstleister« an den Vorgaben der Wissenschaftsinstitutionen ausrichtet,33 ging es dem Wiener Verlag darum, eine noch im Aufbau befindliche Theorieform durch die Formierung ihrer Printmedien auch als wissenschaftlichen Diskurs hervorzubringen. So wird, wie Lydia Marinelli gezeigt hat,34 dessen fundamentale Rolle für die Wiener Bewegung sichtbar, denn: 1 Neben der »Propagierung psychoanalytischer Literatur« wollte er zugleich als »Zentralsammelstätte der analytischen Autoren und Publikationen« fungieren.35 »[D]ie ganze reiche und schöne 32 Estermann, Monika/Schneider, Ute: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung, Wiesbaden 2007, S. 8. Gleichzeitig gilt bis heute: »Die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichem Verlagswesen und Disziplinenentwicklung ist […] noch kaum untersucht worden.« Ebd., S. 7. 33 Ebd., S. 8f. Ebenso Jäger, Georg: Buchhandel und Wissenschaft. Zur Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Buchhandels, Siegen 1990. Wischermann, Clemens: »Einleitung. Der kulturgeschichtliche Ort der Werbung«, in: Peter Borscheid/ders. (Hg.): Bilderwelt des Alltag. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 8—19, hier S. 12. 34 Marinelli: Psyches Kanon. Vgl. auch Anm. 92. 35 Doppelfaltblatt zur Verlagsgründung: Collection Philippe Helaers. Vgl. auch IZP 23, S. 242. Ebenso der zweite Direktor des Verlages, Adolf József Storfer, im September 1925: Der Verlag entwickelt sich »immer mehr zu einem zentralen Organ der psa. Bewegung.« IZP 11, S. 521.
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Literatur«, erklärt Freud im Frühjahr 1932, »wäre nicht zustande gekommen oder nur vereinzelt, zersplittert, mit Untauglichem vermengt, wenn der Verlag sie nicht zum Leben befördert hätte. […] Noch für längere Zeit wird es notwendig sein, daß Analytiker zusammenhalten, enger zu einander halten.«36 Insofern gilt das Diktum Max Eitingons, der 1927 von einer »nobile officium« des Verlages gesprochen hat, alle wichtigen psychoanalytischen Schriften herauszugeben;37 weshalb ihm Marinelli die Funktion einer »literarischen Kanonisierungsanstalt«38 zuschreiben konnte. Nicht zuletzt sollte auf diesem Wege das Vokabular der Freud’schen Psychoanalyse als wissenschaftliche Terminologie etabliert und gegen konkurrierende Theorien in Stellung gebracht werden. Die Verlagsprodukte jedenfalls sind eine »primäre Vermittlungsform« zwischen den Analytikern der Gründergeneration und den Alltags-, Kultur- oder Wissenschaftswelten nach 1900 gewesen. Auch deshalb war es von großer Bedeutung für die Verlagspolitik, nicht nur vergleichbaren Initiativen postalisch oder per Gerichtsbeschluss den Namen »Psychoanalyse« zu verbieten, sondern auch mit allen möglichen Mitteln gegen »wilde nicht von Wien legitimierte, d.V. Analytiker« oder unautorisierte Übersetzungen vorzugehen. »Linguistische Hegemonie« war dementsprechend das Ziel:39 Durch den eigenen und exklusiven Namen wollte man wieder Herr werden über die psychoanalytische Sache. Oder, in einer Formulierung von Ernest Jones: »We should thus still achieve the essential aim of the Press, to distinguish between trustworthy psa books and the rubbish otherwise published […].«40 Jeder Kanon, heißt das dann aber, beginnt mit einem Trennstrich, der im Fall der Psychoanalyse durch die Produkte des Verlages gezogen wurde. In diesem Sinne hat auch Otto Rank als dessen erster Direktor damit begonnen, von anderen Verlagen die Rechte psychoanalytischer Werke samt
36 Freud, Sigmund: Spendenaufruf. An die Vorsitzenden der psychoanalytischen Vereinigungen! Ostern 1932: Collection Philippe Helaers, S. 2. 37 Freud, Sigmund/Eitingon, Max: Briefwechsel 1906—1939, hg. von Michael Schröter, Tübingen 2004, S. 570. 38 Marinelli: Psyches Kanon, S. 183. Das direkt folgende Zitat S. 182. 39 Ebd., S. 154. Zur Namenspolitik des Verlages vgl. auch Windgätter, Christof: »Zu den Akten. Verlags- und Wissenschaftsstrategien der frühen Wiener ››› Psychoanalyse«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Cornelius Borck, Bd. 32, H. 3 (2009), S. 246—274. 40 Freud, Sigmund/Jones, Ernest: Complete correspondence. 1908—39, Cambridge, Mass. 1995, S. 538.
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den dazugehörigen Lagerbeständen aufzukaufen.41 Bis auf wenige Ausnahmen war er damit erfolgreich, sodass Abraham und Eitingon von einem »wichtigen Schritt zur Vereinheitlichung des Verlagswesens« gesprochen haben.42 Nach den Zerwürfnissen der Anfangsjahre sollten die psychoanalytischen Bewegungen erneut an die Theorien Freuds gekoppelt werden, um dann als »Psychoanalyse im Singular« aufzutreten. Noch einmal Eitingon: »Man muß wirklich den Leuten zu Gemüte zu führen suchen, was der Verlag für die Bewegung bereits getan hat und wie er unter großen Opfern auch das herausgebracht hat, was zum ganzen unserer Literatur gehört und aus dem man in späterer Zeit in vollständiger Weise wird erlernen können, was Sie [= Freud, d.V.] und mit Ihnen wir für Psychoanalyse halten«.43 Mit dem eigenen Publikationsort also hoffte man zugleich einen Identifikationsort geschaffen zu haben. Demzufolge ist 6 der Verlag weder nur das Instrument seiner Autoren gewesen, eingereiht in die psychoanalytischen Tischgesellschaften, Ortsvereine, Polikliniken etc. zur Stabilisierung der damals noch jungen Bewegung, noch fungierte er als neutrale Schnittstelle zwischen den internen Diskussionen oder individuellen Schreibakten und den öffentlichen, weil gedruckten Werken. Vielmehr versuchten seine Aktivitäten, wie Freud 1932 im Rückblick schreibt, »eine Art von offizieller Aichung«44 zu leisten. Aus dem Gewirr der zahllosen Psychologien und Pseudo-Analysen sollte durch gezielte Publikationen das eine und unverwechselbare Profil der Wiener Psychoanalyse hervorgehen: »our mainbody«45 als Körperschaft aus lauter papiernen Einzelkörpern. So wird das »Kontrollieren der Anderen« durch die »Normierung des 41 Vgl. u.a. Tögel, Christfried/Wittenberger, Gerhard (Hg.): Die Rundbriefe des ›Geheimen Komitees‹ 1913—1936, Tübingen 1999, Bd. 2, S. 215, 221. Ebd., Bd. 4, S. 52, 54; Freud/Rank: Correspondence, Nr. 240723/F; IZP 6, S. 533. 42 Tögel/Wittenberger: Die Rundbriefe des ›Geheimen Komitees‹, Bd. 2, S. 221. Ganz ähnlich kommentiert der damals als Geschäftsführer amtierende Storfer seine Arbeit zur ersten Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften: »Damit, daß der Verlag das zerstreute Lebenswerk des Begründers der Psychoanalyse einheitlich zusammenstellt und in würdiger Art unter Dach bringt, erfüllt er seine wichtigste und ehrenvollste Aufgabe.« IZP 11, S. 521. 43 Freud/Eitingon: Briefwechsel 1906—1939, S. 785. 44 Freud: Spendenaufruf, S. 1. 45 Freud/Eitingon: Briefwechsel 1906—1939, S. 311. Hughes, Athol: »Letters from Sigmund Freud to Joan Riviere (1921—1939)«, in: International Review of Psycho-Analysis, Bd. 9 (1992), S. 65—284, hier S. 273. Vgl. auch Storfer in: IZP 11, S. 521f.
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Eigenen« ergänzt. Eine ebenso pragmatische wie weitsichtige Einstellung, die 7 schon Jones zu der Forderung veranlasst haben dürfte, die Verlagsprodukte als »Marken« bzw. »Markierungen« der Psychoanalyse zu konzipieren.46 Aufgabe der Firma war ja nach eigenem Bekunden weniger der kommerzielle Erfolg, als vielmehr ein diskursstrategischer Versuch: Wie ist es möglich, nach der relativen Popularität psychoanalytischer Einsichten in literarisch-kulturellen Milieus seit 1900 auch in die bisher unerreichten Kreise der »Fachgelehrten« vorzudringen?47
Buchgestaltung und Wissen(schaft)sbildung Demzufolge soll der Verlag über seine ökonomischen, personellen und distributiven Aspekte hinaus eine »epistemische Funktion« erfüllen. Seine Aktivitäten und Produkte jedenfalls haben nicht nur verkauft und verbreitet, was auch anders oder ohne sie gewusst werden konnte, sondern sie sind zu einer wesentlichen Voraussetzung dafür geworden, jene Wiener Theorien als Subjekt und Objekt eines Wissenschaftswissens akzeptabel zu machen. Neben seiner Rolle als Kommunikationsinstrument ist deshalb der Verlag als »Evidenzmedium« der Psychoanalyse beschreibbar. Genauer noch: Es waren seine Layout-Strategien (die Gestaltung seiner Bücher, Journale, Anzeigen, Lesezeichen, Waschzettel usw.), durch die er versucht hat, die Psychoanalyse sowohl in bestehende Forschungsrichtungen einzuschleusen, als auch, ihr im wissenschaftlichen und nicht zuletzt universitären Feld des 20. Jahrhunderts ein eigenes Terrain abzustecken, zu besetzen und dieses (wenigstens eine Zeit lang) zu verteidigen.48 Zentrale Merkmale dieser Strategien sind, neben der bereits erwähnten Durchsetzung des Verlagsnamens, die Umschlaggestaltung,
46 Die Formulierung lautet im Original: »should be a mark«. Tögel/Wittenberger: Die Rundbriefe des ›Geheimen Komitees‹, Bd. 3, S. 249. 47 Vgl. Faltblatt zur Verlagsgründung, S. 1 bzw. Storfer, Adolf József: Memorandum über die Zukunftsmöglichkeiten des I. PsA Verlag, Oktober 1930, Wien: Collection Philippe Helaers, S. 3; IZP 5, S. 138. 48 Zum konfliktreichen Verhältnis der Psychoanalyse zu den Universitäten und umgekehrt vgl. Freuds Schrift »Soll die Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt werden?« von 1919, in: ders.: Gesammelte Werke, Nachtragsband, hg. v. Angela Richards (Frankfurt a.M. 1987), S. 699—703; ebenso die Protokolle und Briefe der ersten Analytiker über ihre Versuche, Universitätsprofessuren zu erlangen: u.a. Freud, Sigmund/Ferenczi, Sándor: Briefwechsel. 1912—1914, hg. v. Eva Brabant/Ernst Falzeder, Wien 1993, Bd. II/2, S. 178.
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die Farbwahl der Einbände, die Typografie, die Einführung eines Firmenlogos und verschiedene Public-Relations-Versuche gewesen. Durch ihr Zusammenwirken aber, so die weiterführende These, spielen sie nicht nur eine fundamentale Rolle in der Geschichte der Psychoanalyse, sondern sie können darüber hinaus auch als Symptome aufgefasst werden, die Auskunft über einen allgemeinen Wandel in den Produktions- und Legitimationsbedingungen des Wissens geben. Das heißt: Mit seinen Gestaltungsstrategien steht der Verlag am Anfang einer Entwicklung, die Markt- und Markenbildungen in wissenschaftliche Arbeitsprozesse eingeführt hat. Als Naming, Branding, Product-Placement, Labeling etc. stellen sie seither und bis heute prägende Eigenschaften des Wissenschaftsbetriebes dar. Denn tatsächlich gibt es inzwischen wohl keinen Bereich der akademischen oder gelehrten Arbeit mehr, der ohne Strategien der Sichtbarmachung, der Aufmerksamkeitssteigerung, des Theoriemarketings oder der Verwandlung von Begriffen und Methoden in Warenzeichen auskommen könnte. Insofern geht es nachfolgend um eine Fallstudie, die zugleich auf Reformen und Regelmäßigkeiten in der Wissen(schaft)sbildung zielt. Sie soll beispielhaft zeigen, dass und wie in der Moderne das Auftauchen und die Stabilisierung neuer Wissensfelder nicht allein an die Modellierung von Autorschaft, die Macht der besseren Argumente oder die Standards technischer Einrichtungen gebunden ist, sondern überdies mit den Formen der Darstellung zusammenhängt. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jedenfalls beginnt das Layout von Drucksachen in zunehmendem Maße den Platz eines »epistemischen Agenten« einzunehmen. Statt äußerlich zu sein, ist so das Außen des Buches zu einer internen Bedingung seines Wissens geworden.49 Noch anders ausgedrückt: Der Wiener Verlag wird hier als eine Art Brennglas verwendet, durch das sich eine Verschiebung in der Genesis und Geltung wissenschaftlicher Diskurse beobachten lässt. Eine Verschiebung allerdings, die keine neuerliche oder erneuerte Autonomie in Aussicht stellt, da sie die Konstituenten von Wissenschaft um die druckgrafische Materialität und deren Gestaltung ergänzt. Die Bedingungen der Szientifizierung sind nicht selber szientifisch; vielmehr sind Layoutstrategien zu Begründungsgesten geworden, denen nicht länger der Makel des Sekundären anhaftet. Was bei Stifter noch »außerwesentliches Nebending« war, stellt nun ein »aktives Element des Wissens« dar; oder, wie Ludwik Fleck an anderer Stelle schreibt: »Das Bild gewinnt Oberhand über die spezifi49 Zum weiteren Kontext dieser Fragestellung vgl. auch Windgätter, Christof: »Das ›Blattwerk der Signifikanz‹ oder: Auf dem Weg zu einer Epistemologie der Buchgestaltung«, in: ders. (Hg.): Wissen im Druck. Zur Epistemologie der modernen Buchgestaltung, Wiesbaden 2010, S. 6—50 .
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schen Beweise und kehrt in dieser neuen Rolle vielfach zum Fachmann zurück.«50 »Schlagwörtern« oder »Kampfrufen« gleich wirkt es »durch bloße Gegenwart«, nicht mehr »durch logischen Sinn«. Zwar mag diese Feststellung zunächst auf die Konjunktur der Aufzeichnungstechniken in den modernen Naturwissenschaften bezogen sein (Fleck war ja Biologe), um dort den Status und die Funktion der Diagramme, Kurven oder Schautafeln zu überdenken, doch lässt sich darin genauso die Reaktion auf eine neue Kultur der Visualisierung um 1900 erkennen,51 der sich nicht nur die Wissenschaften nicht entziehen konnten, sondern deren Ubiquität und Wirkmächtigkeit auch mit der Etablierung des Schaufensters zu tun hat. Als »Präsentifikation« wäre mit Hans-Ulrich Gumbrecht der Mechanismus dieser Verfahren auf den Punkt gebracht;52 und etwas programmatischer steht dazu bei Dieter Mersch 53: »Das Sichzeigen geht dem Sagen voraus«. Daher liegt die »Bedingung des Zeichens in einem Nichtzeichenhaften«, einer »unverzichtbaren« und zugleich »irreversiblen […] Präsenz«; noch »bevor die Frage nach seiner Bestimmtheit, seiner Bedeutung sich stellt. […] Denn es ist keineswegs gleichgültig, ›daß‹ ein Zeichen gegeben wurde und nicht vielmehr nicht«.54 Die Aufgabe ist also, sowohl zu erforschen, wodurch sich Wissen in der Öffentlichkeit jeweils zeigt, nach Mersch die »Ekstatik der Materialität«, als auch den Akt, der diese Materialität (im drucktechnischen ebenso wie im präsenztheoretischen Sinne) setzt, Mersch zufolge das »Ereignis des In-Erscheinung-Tretens«. Das aber heißt für eine Epistemologie der Wiener Verlagsprodukte: Anstatt sich um eine vertiefte oder verbesserte Deutung psychoanalytischer Theorien zu bemühen, für oder gegen Freud, im Interesse der Orthodoxie oder als Aufforderung zur Dissidenz, treten nunmehr »paratextuelle Elemente« in den Vordergrund, die, wie Gérard Genette es beschrieben hat, als »Schauplatz einer Pragmatik und einer Strategie« dafür sorgen, den »Text […] im vollsten Sinne des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen«.55 Doch solche Präsentifikationen sind keine Informationsveranstaltungen, ihre Strategien liefern keine neutralen oder zweckfreien Angebote. Vielmehr 50 Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [1935], Frankfurt a.M. 1980, S. 59, 155. Ebenso die direkt folgenden Zitate. 51 Vgl. stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen: Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur [1999], Frankfurt a.M. 2002. 52 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 111. 53 Kursiv im Original. 54 Mersch: Was sich zeigt, S. 21, 24f., 27. Die direkt folgenden Zitate S. 18, 373. 55 Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches [1987], Frankfurt a.M. 2003, S. 9f. Ebenso das direkt folgende Zitat. Kursiv im Original.
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gilt auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch, dass Verlage und ihre Drucksachen eine »Schwelle« zu jenem Prozess der Vergesellschaftung darstellen, der nicht nur über Verkaufserfolge, Absatzzahlen oder Gewinnspannen entscheidet, als »Einbeziehung des Buches in die kapitalistische Wirtschaft«56, sondern der darüber hinaus aus dem »Schauplatz« der Waren einen »Richtplatz des Wissens« 57 macht: Hier nämlich werden »Theorien aufgerichtet, aber auch hingerichtet«. Was sichtbar ist und sich zu lesen gibt, hat daran seinen Anteil. Kein öffentliches Erscheinen ohne Erscheinungsbild, dessen Gestaltung zu den Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Wissenschaft gezählt werden muss. Mit der Konsequenz, dass Publikationspraktiken und Public-Relations, Wissen(schaft)sbildung und Werbung nicht mehr als die Gegensätze dastehen, die sie traditionell gewesen sind oder sein sollten.58
Schaufenster II: Layout hinter Glas »Omnibus Omnia«: Alles für Alle, so steht es über dem Haupteingang der 1847 in Brüssel eröffneten Galeries Royales Saint-Hubert. Nachdem seit Anfang des Jahrhunderts glasüberdachte Ladenstraßen die Ansichten und die Darstellungsformen europäischer Metropolen zu verändern begannen, ging es auch für deren Bewohner darum, neue »Subjektivierungsweisen« einzuüben. Als Passanten einer nunmehr urbanen Umwelt, könnte man im Anschluss an Jonathan Crary sagen, mussten sie zu veritablen Aufmerksamkeitstieren werden. 59 Das hat zweifellos mit einer ungewohnten Temporalität des städtischen Lebens zu tun, ebenso mit den Anforderungen bisher unbekannter Kom56 Schaefer, Helma: »Zur Dauer und Zierde. Gestaltungsgeschichte des Einbandes von 1765 bis 1897«, in: Dag-Ernst Petersen (Hg.): Gebunden in der Dampfbuchbinderei. Buchbinden im Wandel des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1994, S. 9—53, hier S. 39. 57 Cahn, Michael: »Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie. Zum Beispiel die Fußnote«, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissen Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 91—109, hier S. 91. 58 Eine knappe Skizze des Nicht-Verhältnisses von Wissenschaft und Werbung liefert Wischermann: Einleitung, S. 9f. Ebenso Thomas Wegmann, zusammen mit Erhard Schütz (Hg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing, Berlin 2002 bzw. ders. (Hg.): Markt literarisch, Berlin/Bern/Bruxelles et al. 2005, die als eine der wenigen Literaturwissenschaftler die Beziehung von Literatur und Markt ausloten. 59 Vgl. Crary: Aufmerksamkeit – obwohl er das Schaufenster an keiner Stelle erwähnt. »Steigerung des Nervenlebens« heißt das bei Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 7. Frankfurt a.M. 1995, S. 116—131, hier S. 116.
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munikationstechniken und Verkehrsformen, aber eben auch mit einer visuellen Infrastruktur, die nicht nur, wie hinlänglich beschrieben, durch Fotografie und Film, sondern auf den Straßen, Plätzen und Alleen auch durch das Auftauchen und die Ausbreitung von Schaufenstern geprägt worden ist.60 Entsprechend fungiert das städtische Wegenetz nicht mehr nur als Verbindung von Durchgangsorten, als Transitraum oder Vektor der Fortbewegung und der permanenten Mobilisierung, sondern es hat sich zu einem eigenen Ereignis- und Erlebnisraum entwickelt: Ein »Blickwispern«, so Benjamin, »füllt die Passagen«. 61 Von überall her stürmen nicht zuletzt optische Reize auf den Passanten ein, der deshalb seinen Gang immer wieder verlangsamt, unterbrochen oder umgelenkt findet. Die Straße wird zu einem Parcours, mit Aufmachungen, die sich als »Stolpereffekte«62 erweisen: Kein Schritt außer Haus ist mehr möglich, ohne dass nicht versucht würde, den vorwärts hastenden Fußgänger in einen kaufbereiten Kunden zu verwandeln. In den Schaufenstern und gläsernen Vitrinen soll er das »Spiegelkabinett seiner Wünsche«63 entdecken. »Was man im Lichte der Sonne sieht, ist weniger interessant als das Geschehen hinter einer Scheibe«, kommentiert Baudelaire 1863 dieses mäandernde Schauen und Promenieren.64 Nun sind wir, einem wohlbekannten Reflex zufolge, gerne bereit, solche Verhaltensweisen zivilisationskritisch zu verurteilen oder ihnen die Zerstreuung unseres Bewusstseins vorzuwerfen. Schon Benjamins »Archäologie der Moderne« trägt ja diese Züge. Indem nämlich, wie er 1935 notiert, die »Schrift unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt« wird, gibt es neben solchen »Heuschreckenschwärmen von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes des Großstädters verfinstern«, auch noch den umgekehrten Weg der Reklame zu fürchten, durch den »nächsthin das Buch in 60 Einschlägige Studien zeigen, dass sich die Buchhandlungsdichte im Wien der konstitutionellen Ära fast verdreifacht hat, im Gebiet des heutigen Österreich mehr als verdoppelt, bis 1909 sogar verfünffacht. Eine ähnliche Entwicklung ist auch für das sehr viel größere Deutsche Reich belegt: Dort stieg die Zahl der Buchhandelsbetriebe zwischen 1869 und 1890 von 3506 auf 7474. Vgl. Bachleitner, Norbert/Eybl, Franz M./Fischer,Ernst: Geschichte des Buchhandels in Österreich, Wiesbaden 2000, S. 207ff. Jäger: Buchhandel und Wissenschaft, S. 24f. 61 Benjamin, Walter: »Pariser Passagen II«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/2. Frankfurt a.M. 1991, S. 1044—1059, hier S. 1050. 62 Osterwold: Schaufenster, S. 92, 96. 63 Weibel/Pakesch: Künstlerschaufenster, S. 14. 64 Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen. Der Spleen von Paris, Leipzig 1990, S. 455.
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seiner überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht«.65 Als Beispiel dient ihm Mallarmés »Coup de dés« von 1897, weil dort »zum erstenmal … die grafische Spannung des Inserates ins Schriftbild verarbeitet« worden sei. Nach einer Formulierung Blumenbergs findet so bei Benjamin die »Apokalypse des Buches« ihr »graphisches Menetekel«.66 Eine Position, die bis heute zahlreiche Nachahmer gefunden hat, die dabei jedoch die konstruktive Rolle der Werbung in der Buch- und Wissenschaftsproduktion verkennt. Dagegen wird hier die »Komplizenschaft zwischen Passanten und Buchhandlungsschaufenster« als ein Szenario beschrieben, in dem Drucksachen, also auch wissenschaftliche Bücher oder Zeitschriften, die Gelegenheit ihres ersten öffentlichen Auftritts erhalten; unterstützt durch Kulissen, Requisiten, Podien, Beleuchtungen usw., die als Wirkungsmittel der modernen Bühnentechnik entstammen.67 Das Schaufenster, schreibt Tilman Osterwold,68 stellt eine »primäre Kontaktzone« dar, ein eigenes »Publikationsorgan«, das nicht nur mit der Leser-Betrachter-Differenz rechnet, sondern zugleich von einer Affektion weiß, die jeder Lektion vorhergeht. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts (und wohl bis in die 1980er Jahre hinein) kann daher vom Schaufenster als einem »epistemischen Paradigma« 69 gesprochen werden. Ist man bereit, diesem Szenario zu folgen, lassen sich darin spezifische Anforderungen für das Layout von Büchern erkennen: 1 Deren Präsentation in Schaufenstern unterscheidet sich signifikant von den Buchaufstellungsweisen in Bibliotheken, Lese65 Benjamin: Passagen: magasins de nouveautés, calicots, S. 102. Ders.: »Baudelaire«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/1, Frankfurt a.M. 2003, S. 301—489, hier S. 480. Ebenso das direkt folgende Zitat. 66 Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt [1982], Frankfurt a.M. 1999, S. 317. 67 Wie sehr das Schaufenster räumlich, sachlich und technisch als Schaubühne verstanden wurde, dokumentiert, besonders in den 1920er Jahren, die Berliner Zeitschrift Schaufenster-Kunst und -Technik. Vgl. auch Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 140—143. 68 Osterwold: Schaufenster, S. 28, 73. 69 Weibel/Pakesch: Künstlerschaufenster, S. 16. Eine »Euphorie für Schaufenster« lässt sich von den 1910er bis in die späten 1920er Jahre hinein nachweisen. Vgl. Schleif: SchaufensterKunst, S. 87. Bachleitner/Eybl/Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich, S. 256f. In diese Zeit fällt auch die Gründung der ››› ersten Berufsorganisationen für Schaufensterdekorateure mit speziellen Lehrbüchern sowie eigenen Zeitschriften; in Österreich etwa der Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel, der regelmäßig Schaufensterwettbewerbe ausgeschrieben hat. Vgl. auch Reinhardt: Reklame, S. 271ff.. Haas: Sinndiskurse in der Konsumkultur, S. 301f.
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sälen oder privaten Arbeitsräumen.70 Werden dort nämlich, wie seit der Renaissance üblich, die einzelnen Bände aufrecht und parallel zueinander mit ihren Rücken nach vorne in Regale einsortiert, lässt sich in Schaufenstern, durch Bauweise und Zwecksetzung bedingt, eine Praxis beobachten, die eher an die Katheder des 16. Jahrhunderts erinnert. Darin wurden Bücher entweder vertikal auf Einfassungen oberhalb der Arbeitsfläche gestellt, horizontal in Fächer gelegt oder an abgeschrägte Borde gelehnt. In jedem Fall aber waren ihre Buchdeckel den Blicken der potenziellen Leser zugewandt. Nicht anders moderne Buchhandlungen: Auch sie zeigen in ihren Schaufenstern, meist im Gegensatz zum Ladeninneren, die Vorderansichten der Bücher (als sog. »Schauseiten«71), deren Gestaltung sie zugleich voraussetzen und herausfordern.
Abb.2: : Katheder-Systeme und modernes Buchschaufenster. Aus: Petroski, »The Book in the Bookshelf«, S. 70f.
Das Betrachten einer Buchauslage hat nur wenig mit der ordnenden Perspektive eines Bibliothekars oder dem intimen Blick des Lesers zu tun, die ja ihre Bücher direkt vor sich haben und außerdem in die Hand nehmen oder durchblättern können. Über »den Erfolg«, heißt es deshalb in Fachorganen für Schaufensterdekorateure, entscheidet weder die »Vernunft des Produktes«, noch die »Herstellung der Ware, sondern die Art, wie sie dem Publikum angeboten wird«.72 Insofern ist 2 auch bei Buchauslagen neben dem Gebrauchs- und dem 70 Eine Geschichte der Buchaufstellungsweisen ist noch nicht geschrieben worden. Bis auf weiteres vgl. Petroski, Henry: The Book in the Bookshelf, New York 1999. 71 Schauer, Georg Kurt: Wege der Buchgestaltung. Erfahrungen und Ratschläge, Stuttgart 1953, S. 73. 72 Geiger, H. M.: »Dekoratives im Sommer«, in: Schaufenster-Kunst und -Technik, 1. Jg., Nr. 9 (Juni 1926), S. 6. Zeller, Ursula: »Vorwort«, in: Hubert Riedel (Hg.): ›››
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Tauschwert der »Ausstellungswert«73 der einzelnen Bände bzw. des Fensters insgesamt wesentlich geworden; die Möglichkeit also, durch ihre Gestaltung innerhalb sehr kurzer Zeit und aus einer Distanz von vielleicht zwei oder drei Metern heraus als »Blickfang« auf den Passanten zu wirken.74 Es kommt, wie der Journalist und Theaterkritiker Ludwig Börne erklärt, »auf eine Minute, auf einen Schritt an, die Anziehungskräfte spielen zu lassen; denn eine Minute später, einen Schritt weiter steht der Vorübergehende vor einem anderen Laden … Die Augen werden Einem wie gewaltsam entführt, man muß hinsehen und stehen bleiben, bis der Blick zurückkehrt.«75 Daraus aber folgt 3 dekorationspraktisch, dass in Schaufenstern die Einbände bzw. Umschläge der Bücher von entscheidender Bedeutung sind. Durch die Industrialisierung des Drucks (als Abkehr von handwerklichen Arbeitsabläufen und zusammen mit der Einführung der Gewerbefreiheit)76 ist deren Gestaltung ja erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Produktionsmoment der Verleger geworden.77 Vorher wurden Bücher (für Schaufenster gänzlich unattraktiv) in rohen oder gehefteten Bogen verkauft, manchmal zum Schutz in neutrales Papier eingeschlagen, und dann vom Kunden, nachträglich und eigenen Wünschen Lucian Bernhard. Werbung und Design im Aufbruch des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1999, S. 7. 73 Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [1939], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2, Frankfurt a.M. 1991, S. 435—508, hier S. 443f. 74 Sluyterman von Langeweyde, Wolf: Das Künstlerplakat im modernen Schaufenster, Wien/Berlin/Leipzig 1927, S. 32. Osterwold: Schaufenster, S. 69. Bücherfenster sind keine Bücherlager, heißt es immer wieder in den Fachzeitschriften: Man solle die Ware nicht stapeln, sondern arrangieren. Vgl. u.a. Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel, Jg. 69, Nr. 44, 2. November 1928, S. 253. 75 Börne, Ludwig: »Schilderungen aus Paris, VI, Die Läden«, in: ders.: Sämtliche Werke, Hamburg/Frankfurt a.M. 1862. Ebenso Schauer: Wege der Buchgestaltung, S. 80. In den Fachzeitschriften wird entsprechend lebhaft diskutiert, welcher Platz hinter dem Glas für Werbezwecke der beste sei. Vgl. z.B. Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel, Jg. 69, Nr. 41, 12. Oktober 1928, S. 219. 76 Die zünftischen Regularien sind in Österreich am 1. Mai 1860 abgeschafft worden. Vgl. Bachleitner/Eybl/Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich, S. 206. 77 Vgl. Rhein, Adolf: »Die frühen Verlagseinbände. Eine technische Entwicklung«, in: Gutenberg-Jahrbuch 162 (1962), S. 519—532, hier S. 519, 531. Biesalski, Ernst-Peter: »Die Entwicklung der industriellen Buchbinderei im 19. Jahrhundert«, in: Dag-Ernst Petersen (Hg.): Gebunden in der Dampfbuchbinderei. Buchbinden im Wandel des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1994, S. 61—98, hier S. 62f.. Ders.: »Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850—1900«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 36 (1991), S. 1—94, hier S. 5, 12. Ebenso Schaefer: Zur Dauer und Zierde, S. 22f., 25f.
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gemäß, beim Buchbinder mit einem Einband versehen. Das Ergebnis waren handwerklich-gestalterische Einzelstücke, sodass damals äußerliche Gleichheit viel eher unter den Büchern einer privaten oder öffentlichen Bibliothek als unter den Exemplaren einer Auflage anzutreffen war. Das Zusammenspiel von Buchschaufenstern und Verlagseinbänden setzte dieser Tradition ein Ende: Nicht nur, worauf man immer wieder hingewiesen hat, als Übergang zu Massenproduktion und Großbuchbinderei, um der Nachfrage einer zunehmend alphabetisierten Bevölkerung gerecht werden zu können,78 sondern auch, indem jede Auflage nunmehr aus identisch aussehenden und deshalb in den Auslagen leicht wiederzuerkennenden Büchern besteht. So »herrscht der Einband vor, den der Verleger durch den Buchhandel anbietet«79; weshalb sich 4 deren Gestaltungskriterien an einem anderen, sehr erfolgreichen Medium des frühen 20. Jahrhunderts orientieren: dem Plakat.80 Genau wie dieses nämlich, müssen auch Bücher, die aus den Magazinen und Regalen in die Ladenfenster versetzt worden sind, »aus der Ferne […] zünden«81. Kleinteilig dekorierte Einbände schienen dazu wenig geeignet, denn ein »Blickfang«, konstatierte 1926 die Schaufenstergestalterin Elisabeth Stephani-Hahn, »könne nur durch Plakatwirkung erzeugt werden«82; d.h., um des »werblichen Erfolges willen« solle man »Texte und Motive zugunsten monumentaler Form, einprägsamer Botschaft und spontaner Faßlichkeit vereinfachen«. Ein Leitsatz, der wohl von den Eigenschaften des »Sachplakates« beeinflusst war,83 der aber 78 Vgl. Rhein: Die frühen Verlagseinbände, S. 530. Biesalski: Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850—1900, S. 62. Zur Progression der Lesefähigkeit in Mittel- und Westeuropa vgl. etwa Estermann, Monika/Jäger, Georg: »Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung des Buchhandels im Deutschen Reich bis 1871«, in: Georg Jäger (Hg.): Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Das Kaiserreich 1870—1918, Teil 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 17—41, hier S. 21f. 79 Schauer: Wege der Buchgestaltung, S. 58. 80 Vgl. u.a. Borscheid: Am Anfang war das Wort, S. 38. Schleif: SchaufensterKunst, S. 108. 81 Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamekünstler, Nr. 23, 1911, S. 13. 82 Zit. nach Schleif: SchaufensterKunst, S. 108. Ebenso Rosner, Charles: Die Kunst des Buchumschlages, Stuttgart 1954, S. XVII in seiner frühen Geschichte des Schutzumschlages: »Einbände und Schutzumschläge […] waren natürlich Plakate ›en miniature‹.« 83 Als »Erfinder« dieses Plakatstils gilt der in Stuttgart geborene Grafiker Emil Kahn alias Lucian Bernhard, der 1903 mit einer Arbeit für Priester-Zündhölzer in Berlin berühmt wurde. Bis zu seiner Übersiedlung nach New York folgten zahlreiche,
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5 schon bald durch die Entdeckung des Buchäußeren als Werbeträger wieder relativiert worden ist. Das gilt für die fest mit dem Buchblock verbundenen Einbände und mehr noch für die losen Umschläge.84 Erst in den 1890er Jahren jedoch wird sich die Praxis durchgesetzt haben, Inhaltsverzeichnisse, Pressestimmen, Verlagsanzeigen oder eigens verfasste Werbetexte auf die Vorder- und sogar Rückseiten der Bücher zu drucken. Auch einzelne, um das Buch gefaltete Papierstreifen, sogenannte Bauchbinden, entstehen zu dieser Zeit, meist um auf unerwartete Ereignisse zu reagieren, die für den Vertrieb des jeweiligen Titels förderlich sein könnten.85 Die herkömmliche Schutz- und Verpackungsfunktion der Umschläge also ist im Zeitalter des Schaufensters gestaltungspraktisch überformt worden.86 Eine Emanzipationsgeschichte, die sich als doppelte Loslösung entwickelt hat: Zum einen trennt sie das innere vom äußeren Erscheinungsbild des Buches (etwa bei der Wahl der Typografie), zum anderen befreit sie es durch ihre Logik der Aufmerksamkeitssteigerung auch von dem Anspruch, Form und Inhalt, Text und Ausstattung aufeinander beziehen zu müssen. Stattdessen treten Einbände und Umschläge als selbständige Medien auf. Durch ihre Gestaltung könnten sie nun, wie Georg Schauer bestätigt, »ebenso gut als Prospekt oder Plakat neben dem Buch hergehen«, da sie »im Grunde nur eine Aufgabe« erfüllen müssen: »den Beschauer zum Kaufentschluß hinzureißen«.87 heute als Ikonen der Werbegrafik gefeierte Entwürfe u.a. für Stiller, Manoli, Bosch, Audi oder Kaffee-Hag. Auch Buchumschläge hat Bernhard gestaltet: vor allem für den Axel Juncker Verlag, Meyer & Jessen sowie den Erich Reiss Verlag. Vgl. Riedel: Lucian Bernhard, S. 120ff.. Meißner, Jörg: »Die Straße als Bühne«, in: ders.: Strategien der Werbekunst 1850—1933, München 2004, S. 200—233. 84 Rosner: Die Kunst des Buchumschlages, S. V. Es ist nach wie vor umstritten, ob der Buchumschlag aus dem Einschlagpapier der Druckereien oder aus einer Verselbständigung des Broschurumschlages hervorgegangen ist. Als Zeitpunkt aber werden übereinstimmend die 1830er Jahre genannt. Ebd., S. VII. Ebenso Schauer: Wege der Buchgestaltung, S. 72f.. Holstein, Jürgen: Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919—1933, Berlin 2005, S. 22. 85 Vgl. Holstein: Blickfang, S. 23. 86 »Erst diese Kleider [= Verpackungen] machten die wahren Produkte.« Borscheid: Am Anfang war das Wort, S. 30. Ebenso Haefs, Wilhelm: »Ästhetische Aspekte des Gebrauchsbuches in der Weimarer Republik«, in: Mark Lehmstedt/Lothar Poethe (Hg.): Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 6 (1996), S. 353—382, hier S. 353, der besonders für die 1920er Jahre eine »Autonomisierung […] des Buchumschlages« konstatiert. 87 Schauer: Wege der Buchgestaltung, S. 75. Ebenso Rosner: Die Kunst des Buchumschlages, S. XVII.
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Abb.3: Umschlag-Exemplare des Internationalen Psychoanalytischen Verlages mit Bauchbinde und Werbetexten. Collection Philippe Helaers.
Sammlungen und Bestände des Wiener Verlages Wien, im Mai 1938: Nur wenige Wochen nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich wird der Chemiker, Sprengstoffexperte und NS-Parteigänger Anton Sauerwald als »kommissarischer Leiter« des Internationalen Psychoanalytischen Verlages eingesetzt. Sein Auftrag: »Sofortige Liquidierung«88 – ein zunächst administrativer Vorgang, der den Wiener Handelsgerichtsakten zufolge ebenso akribisch wie erfolgreich durchgeführt wurde. Bereits Ende 1938 ist der Verlag de facto aufgelöst; die Löschung aus dem Handelsregister erfolgt am 15. März 1941.89 Dagegen ist sein Bücher- und Aktenarchiv diesem Schicksal nur teilweise gefolgt. Zwar wurde auch davon vieles durch die Nationalsozialisten vernichtet, ein gewisser Teil jedoch scheint über verschiedene, noch heute nicht identifizierte Kanäle abgezweigt und verteilt worden zu sein. Auf Auktionen oder im Zuge von Restituierungsmaßnahmen jedenfalls tauchen einige dieser Exemplare und Papiere inzwischen wieder auf.90 88 Wiener Stadt- und Landesarchiv [= WStLA], Reg. C 55—223 (85, 87). Die Vorgänge dieses Bestandes sind mit einer fortlaufenden, allerdings lückenhaften Nummerierung versehen. Bei Zitaten ist diese jeweilige Nummer bzw. das Datum in Klammern hinter das Archivkürzel gesetzt. Details zu den Aktivitäten Sauerwalds gibt außerdem Hall, Murray G.: »The Fate of the Internationale Psychoanalytische Verlag«, in: Edward Timms/Naomi Segal (Hg.): Freud in Exile. Psychoanalysis and its Vicissitudes, New Haven/London 1988, S. 90—105, hier S. 97ff.. Ders./Christina Köstner (Hg.): … allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern… Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien 2006, S. 222f. 89 WStLA Reg. C 55—223 (123—126). 90 Vgl. etwa Hall/Köstner: …allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern…,S. 227f.. Adunka, Evelyn: Der Raub der Bücher, Wien 2002.
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Andererseits gibt es bis heute keine öffentliche Einrichtung in Österreich, Deutschland oder sonst wo, die sich über die Jahre hinweg systematisch und kontinuierlich mit der Anschaffung und Archivierung der Verlagsprodukte befasst hätte.91 Auch die Psychoanalyseforschung ist bisher nur in wenigen Aufsätzen und kurzen Kapiteln auf die Wiener Firma eingegangen.92 Dabei dominieren wissenschaftssoziologische, biografische und ideengeschichtliche Interessen. Eine Ausnahme allerdings bilden die Arbeiten von Murray Hall, der als erster die Verlagsakten in den Wiener Handelsarchiven erschlossen und in Bezug auf die Liquidierung ausgewertet hat, sowie die Dissertation von Lydia Marinelli, die sich entgegen einer »eng gefassten, immanenten Geschichte der Psychoanalyse« mit den »Entstehungsbedingungen« der »ersten psychoanalytischen Bücher« beschäftigt hat. 93 Ihrem institutionalisierungs- und publikationsgeschichtlichen Ansatz entsprechend hat sie dazu nicht nur eine Vielzahl seinerzeit unpublizierter und unbekannter Quellen ausfindig gemacht, sondern auch erstmalig die Kanonisierungsfunktion des Verlages für die Psychoanalyse nachgewiesen. Gleichwohl bleibt selbst vor diesem Hintergrund bestehen, dass die Gestaltungs- und Erscheinungsweisen der Bücher zusammen mit den Einbänden, Umschlägen, Anzeigen, Waschzetteln, Beilagen, Banderolen oder Werbepostkarten noch niemals umfassend beschrieben und analysiert worden sind. Die Frage nach den Layout-Strategien der Wiener Firma stellt nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar; zumal aus einer medienhistorisch-epistemologischen Perspektive, die darin zugleich die Symptome veränderter Legitimationsbedingungen des Wissens in der Moderne zu erkennen sucht. Als Material kommen allein die Originalausgaben des Verlages in Frage, die jedoch in sehr unterschiedlichen Zuständen überliefert wurden. Schlechtes, weil säurehaltiges Papier ist ein Problem, min91 Das gilt meinen Recherchen zufolge für die Freud-Museen in Wien und London genauso wie für die entsprechenden National- und Landesbibliotheken sowie die Sigmund Freud Collection in der Washingtoner Library of Congress bzw. die Otto Rank Paper’s Collection in der New Yorker Columbia University. 92 Vgl. Tömmel, Siglinde: Die Evolution der Psychoanalyse. Beiträge zu einer evolutionären Wissenschaftssoziologie, Frankfurt a.M. 1985. Leupold-Löwenthal, Harald: »Die Vertreibung der Familie Freud 1938«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 43, H. 10 (1989), S. 918—928. Fallend: Sonderlinge, Träumer, Sensitive, S. 69—88. Huppke: Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlages. 93 Hall: The Fate of the Internationale Psychoanalytische Verlag. Marinelli: Psyches Kanon. Für die folgenden Ausführungen sind nicht nur diese Texte, sondern auch die Gespräche, die ich mit beiden Autoren in Wien und Berlin führen konnte, wegbereitend gewesen.
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derwertige Druck- und Einbandfarben ein anderes. Hinzu kommt die Angewohnheit vieler Bibliotheken, die Verlagsbindungen durch eigene stabilere Einbände zu ersetzten. Dass die Wiener Drucksachengestaltung trotzdem untersucht werden kann, ist deshalb drei privaten Sammlern zu verdanken, die inzwischen nicht nur sämtliche Verlagspublikationen zusammengetragen haben, sondern diese hier auch erstmalig und großzügigerweise einem Forschungsprojekt zur Verfügung stellen: die Collection Philippe Helaers, das Fachantiquariat für Psychoanalyse Urban Zerfaß und das Antiquariat Jürgen Läßig. Auf dieser Materialbasis lässt sich Folgendes feststellen: Zwischen 1919 und 1938 hat der Verlag 248 Einzelausgaben produziert, einschließlich der Sonderdrucke, Beihefte und Bindevarianten;94 davon sind 57 Ausgaben (= 23 %) in den vier Verlagsreihen erschienen: − − − −
Internationale Psychoanalytische Bibliothek (1919— 1927) Quellenschriften zur seelischen Entwicklung (1919—1924) Imago-Bücher (1921— 28) Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse (1924—1927)95
Die Produktivität des Verlages aber ist während der fast 20 Jahre seines Bestehens sehr unterschiedlich gewesen. Der Grund waren zumeist finanzielle Engpässe, die wiederholt zu Verzögerungen in den Geschäftsabläufen oder zu Ausfällen bei den Honoraren bzw. Gehältern geführt haben. In den 1930er Jahren stellt außerdem der Antisemitismus in Österreich und Deutschland eine zunehmende Schwierigkeit für die Herstellung und den Absatz der Bücher dar. Entsprechend zeigt die Grafik eine insgesamt absteigende Linie. Doch schon ein flüchtiger Blick stolpert über zwei Amplituden, die diesem Trend widersprechen: 1924 und 1931. Neben allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Problemen im ehemaligen Habsburgerreich hat zu diesen Zeiten aber nicht nur die Währungsreform für Unsicherheiten in Österreich gesorgt, und eine dramatische Finanzkrise ist über Europa hereingebrochen, sondern es scheinen ebenso jene Jahre gewesen zu sein, in denen die Betriebsamkeit des Verla94 Unberücksichtigt bleiben die vier Zeitschriften des Verlages, der »Almanach«, Freuds »Gesammelte Schriften«, einige übernommene und dann unter eigenem Label vertriebene Titelsowie fremdsprachige Publikationen z.B. der Londoner Filiale (= International Psycho-Analytical Press). 95 Da hier der Fragestellung gemäß auch Bindevarianten einbezogen werden, unterscheidet sich die Zählung von allen bisher vorgelegten Verlagsverzeichnissen, die zwischen 162 und 165 Einzeltitel aufführen: vgl. Huppke, Andrea/Zerfaß, Urban: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1919—1938. Eine Dokumentation der Originalausgaben, Berlin 1995. Marinelli: Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags. Dies.: Psyches Kanon.
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ges durch seine Direktorenwechsel neu entfacht worden ist. Im November 1924 nämlich steigt Adolf József Storfer, ein aus Rumänien stammender Journalist, Bohemien und Nicht-Analytiker, vom Assistenten zum Leiter der Wiener Firma auf, um dann wegen Streitigkeiten über Bilanzen, Werbekosten und Gehaltsforderungen sowie einer Rücktrittsofferte im März 1931 ein knappes Jahr später endgültig von Freuds Sohn Jean Martin abgelöst zu werden.96 Bezeichnenderweise ereignen sich die wichtigsten Gestaltungsinitiativen des Verlages im Rahmen dieser beiden Zeitpunkte.
Abb.4: Gesamtproduktion der deutschsprachigen Monografien des Verlages.
Die farbliche Präsenz der Psychoanalyse »Es gibt«, wie uns Georg Schauer an eine ebenso triviale wie häufig vernachlässigte Eigenschaft gedruckter Medien erinnert, »kein farbloses Buch«.97 Demzufolge zeigt bereits eine kursorische Sichtung 96 Zu Storfers Ernennung als Verlagsleiter vgl. Freud/Rank: Correspondence, Nr. 210730/R, 220822/R, 220903/R. Tögel/Wittenberger: Die Rundbriefe des ›Geheimen Komitees‹, Bd. 2, S. 104. Ebd.: Bd. 4, S. 263. Freud/Ferenczi: Briefwechsel, Bd. III/1, S. 255. Ebd.: Bd. III/2, S. 27. WStLA Reg. C 55—223 (20. Mai 1925). Zu seiner Demission u.a. Freud/Eitingon: Briefwechsel 1906—1939, S. 718, 721—727, 736, 965. Zeitschrift für psychoanalytische ››› Pädagogik, Bd. IV, S. 171. Freud/Ferenczi: Briefwechsel, Bd. III/2, S. 278. Die Psychoanalytische Bewegung, Bd. IV, S. 192. WStLA Reg. C 55—223 (59, 65). 97 Schauer: Wege der Buchgestaltung, S. 82. Zu den weiteren Gestaltungsmerkmalen des Verlages (Firmenname, Typografie, Logo und Public Relations) vgl. Windgätter: Zu den Akten. Ders.: Das Unbewusste im Schaufenster.
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der Verlagsprodukte, dass nicht nur deren Druckqualität erheblich schwankt (z.B. sind Färbungen ungleichmäßig verteilt, das Leinen ist zum Teil knotig gewebt und Titelschriften sind schief aufgebracht bzw. in ungleichmäßigen Laufweiten gesetzt), sondern man erkennt auch, dass seine frühen Veröffentlichungen gestalterisch noch stark an den Vorgängerverlagen seiner Autoren orientiert waren. Ab 1922 aber, beginnend mit Freuds »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, und dann auffallend häufig ab 1924, beginnend mit Bernfelds »Vom dichterischen Schaffen der Jugend«, sind immer öfter gelbe und orange-rote Einbände mit schwarzer Schrift zu finden.
Abb. 5: Die ersten gelb und orange-rot eingebundenen Bücher des Verlages. Collection Philippe Helaers (links); Antiquariat Jürgen Läßig (rechts).
Eine Auszählung der entsprechenden Ausgaben ergibt zunächst, dass die Kurve der gelben Einbandexemplare ungefähr parallel zur Kurve der Gesamtproduktion des Verlages verläuft, die Amplituden für die orange-roten Bände jedoch zeitlich vor dem gehäuften Einsatz der gelben Einbandfarbe liegen. Darüber hinaus lässt sich Folgendes feststellen: Von den genannten 248 Einzelausgaben des Verlages
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sind 35 Ausgaben (= 14 %) in orange-roten, 78 Ausgaben (= 31,5 %) in gelben sowie 15 Ausgaben (= 6 %) in anteilig gelben Einbänden erschienen. Das heißt, es haben 93 Ausgaben (= 37,5 %) des Verlages gelbe und anteilig gelbe Einbände; oder: Insgesamt sind 128 Titel, also mehr als die Hälfte aller Verlagsbücher in den zwei dominanten Einbandfarben Gelb und Orange-Rot erschienen. Dieses Ergebnis lässt sich noch weiter zuspitzen; etwa um auf die Bedeutung Storfers für die Farbpolitik des Verlages hinzuweisen, denn im Laufe seines Direktorates vom November 1924 bis Ende 1931 sind allein 82 % aller gelben und anteilig gelben Verlagsbücher entstanden. Im Einzelnen heißt das: Während dieser Zeit hat die Wiener Firma 156 Monografien publiziert; beinahe ihrer Gesamtproduktion. Davon wurden 63 Ausgaben mit gelben und 13 Ausgaben mit anteilig gelben Umschlägen gestaltet. Zusammen ergibt das 76 Ausgaben (= 49 %) in dieser Farbe und also 11,5 % mehr als in der Gesamttendenz des Verlages. Berücksichtigt man außerdem die zweite dominante Einbandfarbe, dann wurden unter Storfer 69 % aller orange-roten Verlagsbücher hergestellt. Das sind 24 Titel oder, bezogen auf sämtliche Monografien während seines Direktorates, 16 % und also 2 % mehr als in der orange-roten Gesamttendenz der Wiener Firma. Insofern gilt: Von den 156 Büchern, die unter Storfer publiziert wurden, sind 100 Ausgaben, also fast zwei Drittel in den beiden genannten Einbandfarben erscheinen. Diese Gestaltungstendenz gilt nicht nur für die Einzelausgaben des Verlages, sondern auch für seine Zeitschriften. Dazu ganz kurz: 1926 gründete Storfer innerhalb der Wiener Firma die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik. Sie erschien stets in gelber Broschur, zuerst durch einen grünen, dann durch einen roten Rand ergänzt. Auch der von Storfer seit 1926 herausgegebene »Almanach der Psychoanalyse« erschien häufig in gelbem oder orange-rotem Leinen. Ab Mai/Juni 1927 kam der Verlag mit der Zeitschrift Die psychoanalytische Bewegung auf den Markt. Sie war durchwegs in gelber Broschur eingeschlagen, zumeist mit rotem Rand. Und schließlich initiierte Storfer zwischen 1930 und 1931 die Umstellung der Imago und der IZP auf gelbe Einbände. Warum immer wieder und vor allem diese Farbe? Einen ersten Hinweis dazu liefert die von Storfer ab Mai 1939 im shanghaier Exil herausgegebene Halbmonatsschrift Gelbe Post. Im Vorwort des ersten Heftes nämlich erklärt der ehemalige Wiener Verlagsdirektor: Man lege ihn [= den Namen »Gelbe Post« – d.V.] nicht aus und nichts in ihn hinein. Tiefere Bedeutung suche man nicht hinter ihm. Er hat weder mit der gelben Rasse, noch mit dem gelben Fleck, noch mit
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dem Schwarz-Gelb der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie zu tun. Auch kann wohl niemand Vernünftiger auf den Gedanken kommen, daß wir uns selbst in jene mit Recht verrufene der ultrapatriotischen und skandallüsternen Presse einreihen wollen, die der Amerikaner als »Yellow Press« zu bezeichnen pflegt. Es ist experimentell nachgewiesen worden, daß schwarzer Druck auf gelbem Papier die dem Auge günstigste Zusammenstellung darstellt. Der Herausgeber hat in Europa eine Reihe von Zeitschriften verlegt, welche gelbe Umschläge hatten und wünscht auch seine neue Zeitschrift im gelben Gewand in die Welt zu schicken.98
Abb. 6: Verlagsexemplare der Zeitschriften in gelb. Collection Philippe Helaers (oben), Antiquariat Jürgen Läßig (unten).
Diese Auskunft mag Psychoanalytiker erstaunen. Storfer jedoch war in seinen Interessen niemals nur auf deren Theoriebildungen festgelegt. Als Kaffeehaus-Enthusiast, Feuilleton-Schreiber und Sprach98 Storfer, Adolf József: »In eigener Sache«, in: ders.: Gelbe Post. Ostasiatische Halbmonatsschrift, Jg. 1, H.1, Mai 1939, S. 1.
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forscher jedenfalls scheint er nicht nur einen »hervorragenden Geschmack« besessen zu haben,99 sondern er scheint auch aufmerksam für Mitteilungen zur experimentellen Leseforschung gewesen zu sein. Anstatt also, wie vielleicht zu erwarten, für die Gestaltung der Verlagseinbände auf psychologische, symboltheoretische oder historische Überlegungen zurückzugreifen,100 liefert Storfer eine wahrnehmungsphysiologische Begründung. Das heißt: Er koppelt Erkenntnisse aus der Laborpraxis mit buchhändlerischen Entscheidungen, die dann zu epistemischen, auf die Rezeptionsverhalten der Leser einwirkenden Faktoren werden.
Abb. 7: Storfers Gelbe Post. Heft 1, 1939. Sigmund Freud Privatstiftung, Wien.
Durch den Umstand, dass von Storfer nur wenige Dokumente überliefert wurden, muss leider offen bleiben, auf welche Experimente er sich genau bezogen hat. Entsprechende Befunde freilich gibt es einige; etwa bei Wilhelm Ostwald oder Horst Kliemann. 101 Auch die Farbstudien des Physikers und »Father of the Science of Seeing« Matthew Luckiesh passen ebenso zeitlich wie sachlich zu den Wiener 99 Vgl. Sterba, Richard: Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers [1982], Frankfurt a.M. 1985, S. 49f. und Anna Freud: »Vorwort der Herausgeber« [1951], in: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M. 1999, S. V–VII, hier S. V, die Storfer bescheinigen, dass er als »begabter Gestalter« insbesondere Sigmund Freuds Gesammelte Schriften »äußerlich ausgezeichnet ausgestattet« hat. Ebenso Danckwardt, Joachim F.: »A. J. Storfer (1888—1944). ›Räuberhauptmann‹ und ›Bohémien‹ oder verkappter psychoanalytischer Sprachund Kulturforscher«, in: Adolf Joseph Storfer (Hg.): Wörter und ihre Schicksale, Reprint, Berlin 2000, Bd. 1, S. 11—23, hier S. 17. 100 »Am Beginn des 19. Jahrhunderts«, schreibt Genette: Paratexte, S. 30, »waren gelbe Umschläge gleichbedeutend mit anzüglichen französischen Büchern«; so beispielsweise »The Yellow Book«, illustriert von Aubrey Beardsley. 101 Ostwald, Wilhelm: Die Farbenfibel, Leipzig 1916. Kliemann, Horst: Die Werbung fürs Buch, Stuttgart 1937.
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Gestaltungsstrategien: »Satisfactory seeing«, heißt es nämlich bei Luckiesh in einem Kapitel über Schaufenster, »is largely a matter of a proper contrast.«102 Entsprechende Testreihen »on the legibility of various combinations of colors in advertisements« haben dann aber keineswegs die Förderlichkeit von schwarzer Schrift auf weißem Grund belegt, sondern »Black on Yellow« als die lesefreundlichste Kombination bewiesen. Angesichts dieser Befunde kann abschließend folgendes behauptet werden: 1 Die gestalterische Bedeutung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages liegt nicht darin, ästhetisch einzigartige oder kunsthistorisch bemerkenswerte Bücher vorgelegt zu haben. Ganz im Gegenteil, denn es gilt, 2 dass der Verlag in den fast 20 Jahren seiner publikatorischen Tätigkeit eine Tendenz zur Vereinheitlichung seiner Einbandund Umschlagentwürfe gezeigt hat. Man könnte deshalb 3 von einer »Entindividualisierung seines Buchäußeren« sprechen. Statt jedem Band ein eigenes Gesicht zu geben, kam es auf deren Uniformierung an, die dann zugleich als eine Bedingung ihrer epistemischen Funktion erscheint: Die gestalterischen Differenzen nach Innen sind minimiert worden, sodass sich ihre Unterscheidbarkeit nach Außen maximieren konnte. Distinktionsgewinn ist das erste Resultat dieser Strategie, die darüber hinaus aber auch ein Verfahren der Diffusion gewesen ist: Durch das Layout der Bücher, Journale etc. sollte die Implementierung psychoanalytischen Wissens in bereits etablierte wissenschaftliche Zusammenhänge erreicht werden. 4 Mit dieser Strategie wendet die Wiener Firma ein allgemeines Kennzeichen der modernen Buchproduktion ins Besondere. An der Uniformität ihrer Publikationen nämlich sind keineswegs nur die Folgen der Industrialisierung mit ihren Massenauflagen abzulesen, die dann ja nicht selten als »Verelendung« der Buchdruckkunst gedeutet wurden, sondern sie zeigen mindestens genauso, dass und wie die Affirmation dieser Verhältnisse zu einer Waffe im agonistischen Feld der Wissenschaften geworden ist. Aus der Serialität des Maschinenfabrikates jedenfalls hat der Wiener Verlag 5 die Konsequenz gezogen, seine Bücher als »Markenartikel« zu entwickeln. Dabei geht es weniger um eine erwartbare 102 Luckiesh, Matthew: Light and Color in Advertising and Merchandising, New York 1927, S. 166. Das direkt folgende Zitat S. 250. Dank an Jana Schmidt für den Hinweis.
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Absatzförderung, auch stehen hier nicht nur die Anforderungen überregionaler Märkte oder die Verbindung von Semiotik und Ökonomie im Vordergrund, vielmehr handelt es sich um einen »Registerwechsel«, der die Produktion des Wissens an ein visuelles Marketing gekoppelt hat. Die Etablierung von Verlagsfarben gehört unbedingt dazu. Sie fungieren als eine Art Schnittstellendesign, das neben der Produktgestaltung genauso die »Produktbeziehung« gestaltet. An den Dingen = Büchern entsteht auf diese Weise eine konnotative Dimension, die über alle Tauschwerte und Textgehalte hinaus wuchert und wirkt. Der Verlag arbeitet darum auch 6 nicht nur an der »Kanonisierung« psychoanalytischer Schriften, sondern seine Gestaltungsstrategien geben auch Auskunft über ein »neues Signifikationsprinzip«103 in den Praktiken der Szientifizierung. Das heißt: Indem die Wiener Firma jene Verschiebung von der Produktgestaltung zum Markendesign anzeigt, lässt sie gleichermaßen erkennbar werden, dass in der Moderne eine Informationspolitik über Bücher die Fabrikation und Schaustellung von Images eingeschlossen hat. Das Layout ist die Basis dieser Imagologie, die Werbung ihr vielseitiger Motor. Als solche setzt sie eine Wunsch- und Bildermaschine in Gang, die historisch wohl nur mit dem Kino vergleichbar ist. »An die Stelle der zeitaufwendigen Begutachtung einzelner Güter tritt die Begutachtung von Medien, von Namen, Texten und Bildern ….«104 Statt Produktkenntnissen werden seither Markenkenntnisse erwartet. Eine Kompetenz, die längst auch für die Rezipienten von Sachtexten und Fachliteratur relevant geworden ist, weshalb sich hier 7 nicht nur ein neues Betätigungsfeld für die Werbung, sondern zugleich ein neues Verhältnis der Wissenschaften zu ihren Präsentationsformen eröffnet hat: »Mit dem Aufkommen der Markenartikel gewann die Verpackung eine nie dagewesene Bedeutung.«105 Die Einband- und Farbstrategien des Wiener Verlages bezeugen und vollziehen diesen Wandel, denn es ist 8 überhaupt nicht ungewöhnlich, dass er seine Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften in einem einheitlichen Layout
103 Wischermann: Einleitung, S. 14. 104 Wegmann, Thomas: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Markt literarisch, Berlin/Bern/ Bruxelles et al. 2005, S. 7—19, hier S. 11. Vgl. auch Haas: Sinndiskurse in der Konsumkultur, S. 295. 105 Borscheid: Am Anfang war das Wort, S. 30.
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publiziert hat,106 auch nicht, dass daneben mehrere fachspezifische Reihen eingerichtet worden sind, deren Ausgaben gestalterisch aufeinander verweisen; bemerkenswert ist es aber sehr wohl, dass ein wissenschaftlicher Verlag in den 1920er Jahren danach strebt, seine Drucksachen insgesamt in ein gleichförmiges Layout zu bringen. Umsetzbar wurde dies, indem die Wiener Firma
Abb.8: Werbeseite aus Storfers »Almanach« von 1926. Original und farbige Rekonstruktion. Collection Philippe Helaers.
106 Zur Politik der Gesamtausgabe vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: »Gesammelte Werke«, in: Günter Abel/Hans-Jürgen Engfer/Christoph Hubig (Hg.): Neuzeitliches Denken, ›››
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9 als eine Pioniertat im Bereich wissenschaftlicher Publizistik auf Darstellungsmittel der Industriekultur zurückgriff, die in den 1910er Jahren vor allem von dem »Produkt-, Schrift- und Raumgestalter« Peter Behrens für die Berliner AEG entwickelt wurden und die man heute als »Corporate Design« bezeichnet.107 »Diesem Moment«, schreibt Henning Rogge über die Allianz von künstlerischer und industrieller Arbeit, »kommt historische Bedeutung zu«, denn hier wird zum ersten Mal »die visuelle Koordination des gesamten Firmengefüges vom Einzelbestandteil über das Produkt, seine Werbung, seine Produktionsstätten bis hin zum sozialen- und Repräsentationsbereich zu einem einheitlichen Erscheinungsbild gestaltet«108. Nicht anders der Wiener Verlag, der dieses Modell in doppelter Weise für sich nutzbar gemacht hat: als Übergang von der Konzerngestaltung zur Buchgestaltung, der zugleich einen Wechsel von der Ästhetik zu Epistemologie bedeutet. Statt kommerzieller Interessen oder künstlerischer Vorzüge geht es nun um Strategien der Szientifizierung. »Im allgemeinen«, erklären Karl Abraham und Hanns Sachs 1922 gegenüber Freud, »ist es sicher günstiger, wenn die Werke eines Verlages einander möglichst ähnlich sind, schon um in den Fenstern der Buchhandlungen durch ihr gleichartiges Äußeres aufzufallen.«109 Der Passant also, um auf dieses Szenario zurückzukommen, soll 10 in den Schaufenstern schon von weitem die Produkte des Verlages (wieder)erkennen. So wird das Layout seiner Einbände sowohl zu einem Signalelement, das Aufmerksamkeit hervorruft und öffentliche Sichtbarkeit bewirkt, als auch zu einem »Leitsystem«, das in der Unübersichtlichkeit des Buchmarktes Orientierung verschafft, Zusammengehörigkeiten oder Konkurrenzen markiert und auf diese Weise die Profilbildung steuert. Michael Cahn hat eben dies eine »Rhetorik des Drucks«110 genannt
Berlin 2002, S. 13—22. Cahn, Michael: »Opera Omnia. The Produktion of Cultural Authority«, in: Karine Chemla (Hg.): History of Science, History of Text, Doderecht 2004, S. 81—94. 107 Buddensieg, Tilmann: »Industriekultur. Peter Behrens und die AEG (1907—1914)«, in: ders. (Hg.): Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907—1914, Berlin 1979, S. 9—89, hier S. 12. 108 Rogge, Henning: »Ein Motor muß aussehen wie ein Geburtstagsgeschenk«,››› in: Buddensieg: Industriekultur, S. 91—126, hier S. 108, 113. 109 Tögel/Wittenberger: Die Rundbriefe des »Geheimen Komitees«, Bd. 3, S. 124. 110 Cahn, Michael: »Die Medien des Wissens. Sprache, Schrift, Druck«, in: ders. (Hg.): Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation, Wiesbaden 1991, S. 31—64, hier S. 43.
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11 Das Layout der Verlagsprodukte fungiert dabei als »optische Konditionierung«111. Es versucht, einen zunächst willkürlichen Zusammenhang zwischen der noch jungen Wiener Bewegung und ausgewählten gestalterischen Merkmalen zu konventionalisieren und zu kollektivieren. Ziel ist die Verselbständigung dieser Konvention, um zugleich einen Automatismus in der Wahrnehmung des Betrachters auszulösen. Mit Fleck wäre ein solches Kalkül auch als »passive Koppelung« zu bezeichnen, die ihre Wirksamkeit jenseits »formal-logischer Verhältnisse« oder den »individuellen Prozessen eines theoretischen Bewußtseins« entfaltet.112 Neue »Motive« für die Produktion und Legitimation wissenschaftlicher Tatsachen müssen deshalb hinzugezogen werden; nur das damit im vorliegenden Fall kein »Denkkollektiv« gemeint ist, dessen Erforschung die »soziale Bedingtheit allen Erkennens« aufzeigt, sondern eine Art »Drucksachenkollektiv«, das durch seine integrale Gestaltung einen gleichermaßen verbindlichen »Zwang auf das Denken ausübt«.113 Noch der Umstand, dass Freuds »Traumdeutung« nie im eigenen Verlag erschienen ist, spricht schließlich dafür: Um ein Terrain im Feld der Wissenschaften zu erobern, zu besetzen und zu verteidigen, reicht kein einzelnes Buch, und sei es, wie immer wieder beschworen wird, der »Gründungstext einer Bewegung«.114 Dabei ist es inzwischen fraglich, ob diese Bewegung als Theorie und Therapeutik noch anhält oder gar eine Zukunft hat – die Layoutstrategien ihres ersten und einzigen Verlages dagegen sind nicht nur für Buchproduzenten bis heute selbstverständlich, sondern sie haben auch den Sprung aus der »Gutenberg-Galaxis« hinaus in elektronische Medien geschafft. Vielleicht also ist es Zeit, das Erbe der Psychoanalyse weniger durch die Interpretation ihrer Texte, als vielmehr durch eine Historiografie ihrer Etikette zu bestimmen.
111 Strätling, Susanne/Witte, Georg: Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität, München 2006, S. 10. 112 Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S.131, 40, 54. 113 Ebd., S. 54, 57, 59. Mit der Konsequenz, dass Werbung nicht einfach Täuschungen oder Scheinwelten produziert, sondern veränderte Realitäten. 114 Marinelli, Lydia/Mayer, Andreas: Träume nach Freud. Die ›Traumdeutung‹ und die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, Wien 2002, S. 7.
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Abb.9: Schaukasten mit Verlagsprodukten aus Storfers »Almanach« von 1938. Collection Philippe Helaers.
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Visueller Atlas des Spitalalltags – Visualisierung organisatorischer und kommunikativer Abläufe im Patientenprozess Barbara Hahn und Christine Zimmermann
Einleitung Spitäler, wie auch andere Unternehmen mit einer vergleichbar komplexen Organisationsstruktur, stehen nicht selten vor der Aufgabe, schwer überschaubare komplexe Datensätze zu analysieren und auszuwerten. Bei der visuellen Analyse und Umsetzung von Daten wird in solchen Fällen häufig auf standardisierte Darstellungsformen wie z.B. Kuchen- oder Balkendiagramme zurückgegriffen. Aus der Perspektive der Visuellen Kommunikation wird dabei das Potenzial von Visualisierungen bei weitem nicht ausgeschöpft. Eine Zusammenarbeit zwischen Statistikern/-innen und Gestaltern/-innen – mit der Bündelung themenspezifischer fachlicher und gestalterischer Kompetenzen – ist deshalb in jedem Fall anzustreben. Das Forschungsprojekt »Visueller Atlas des Spitalalltags«1 bringt diese Kompetenzen zusammen, um die Möglichkeiten alternativer Visualisierungsformen komplexer Datensätze zur Prozessoptimierung zu erforschen. Die Fachstelle für Qualitätsmanagement des Inselspitals Bern, welche für dieses Forschungsprojekt die Daten von vier ausgewählten Teilprozessen zur Verfügung stellte, ist für das Gesamtspital eine Anlaufstelle in Qualitätsbelangen. Bei Prozessoptimierungen wird das Ziel verfolgt, spitalinterne Abläufe zu analysieren und zu optimieren. Bei der Datenerhebung kommen oftmals qualitative Vorgehensweisen (z.B. Feldforschung, teilnehmende Beobachtung, Interviews) zum Einsatz. Wenn es um die Analyse und Auswertung geht, werden fast ausschließlich standardisierte quantitative Darstellungsmodelle wie etwa Balkendiagramme verwendet. Der Visualisierung qualitativer Daten wird dagegen kaum Bedeutung zugemessen. 1
Das Forschungsprojekt ist ein von der Hochschule der Künste Bern in Zusammenarbeit mit dem Inselspital Bern (Fachstelle für Qualitätsmanagement) initiiertes Projekt. Laufzeit: Januar 2008-Juli 2009; Finanzierung: Berner Fachhochschule.
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»Knowledge Visualization«2 generiert als Teildisziplin der Visuellen Kommunikation kontextspezifische visuelle Darstellungen von quantitativen und qualitativen Daten. Ziel der visuellen Umsetzung ist der Zugang zu komplexen Datensätzen – oft mit großem Vorteil gegenüber sprachlichen oder standardisierten visuellen Darstellungsmodellen. Edward Tufte beschreibt dieses Potenzial folgendermaßen: »Often the most effective way to describe, explore, and summarize a set of numbers – even a very large set – is to look at pictures of those numbers.«3 Eine Betrachtung solcher Zahlenbilder kann helfen, Arbeitsprozesse übersichtlicher abzubilden und dadurch Abläufe zu analysieren und effizienter zu steuern. Ziel des Forschungsprojekts war es, für vier ausgewählte arbeitsorganisatorische und kommunikative Teilprozesse alternative Darstellungsformen zu entwickeln. Als visuelle Sekundäranalyse sollten die im Projekt entwickelten Visualisierungen einen alternativen – visuellen – Zugang und eine Auswertung der Daten ermöglichen. Die forschungsleitenden Fragen lauteten: Wie und in welchen Spezifikationen können die unterschiedlichen Strategien und Methoden der »Knowledge Visualization« komplexe Abläufe innerhalb des Patientenprozesses sicht- und erkennbar machen und somit die Arbeitsabläufe am Inselspital verbessern helfen? Leistet die visuelle Analyse gegenüber den konventionellen statistischen Methoden einen informativen Mehrwert? Welche neuen Erkenntnisse können aus der alternativen Darstellungsform gewonnen werden?
Ausgangslage Die Daten wurden im Vorfeld innerhalb von spitalinternen Prozessoptimierungsprojekten erhoben und bereits nach konventionellen statistischen Methoden4 durch die betreffenden Kliniken ausgewertet und analysiert – bei zwei Projekten hatte bereits eine Prozessoptimierung stattgefunden. Bei den im Forschungsprojekt entwickelten Visualisierungen handelt es sich um eine visuelle Sekundäranalyse der Daten. 2
Die Wissensvisualisierung (engl. »Knowlegde Visualization«) ist eine Form der Wissensvermittlung, die sich grafischer Mittel jeder Art bedient, um einen effektiven Transfer von Informationen zu gewährleisten. Über die bloße Vermittlung von Fakten hinaus (vgl. Informationsvisualisierung) zielt die Wissensvisualisierung darauf, durch eine aktive Auseinandersetzung mit den Inhalten Erkenntnisgewinne zu ermöglichen, Entscheidungen zu unterstützen und Handlungen auszulösen.
3 Tufte, Edward R.: Visual Display of Quantitative Information, Cheshire, Connecticut: Graphics Press 2001, S. 9. 4
Die statistische Analyse wurde mit der Software SPSS vorgenommen.
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Die Daten der vier Teilprozesse lassen sich sowohl zeitlich als auch thematisch an unterschiedlichen Stellen des Patientenprozesses (Abb. 1) – dem Prozess, welchen der/die Patient/-in vom Eintritt bis zum Austritt und zur Nachbehandlung durchläuft – einordnen. Alle im Forschungsprojekt behandelten Teilprozesse spielen sich auf der organisatorischen Ebene »Klinik« ab. Anhand dieser vier Teilprozesse sollten im Projekt exemplarisch Strategien und Methoden zur »Knowledge Visualization« erprobt und weiterentwickelt werden. Im Folgenden werden die Datensätze erläutert und die Rahmenbedingungen der Erhebung geschildert. 1 Wartezeiten: Bei dieser Prozessanalyse ging es darum, wie lange Patienten/-innen vor der Arztkonsultation warten mussten und wie stark sie das Warten gestört hat. Die Daten wurden mit Fragebogen und Stoppuhr erhoben. Zusätzlich zur Wartezeit und dem individuellen Störfaktor (Selbsteinschätzung auf einer Skala von 1—5) wurden die Station der Behandlung, das Fachgebiet, das Alter und das Geschlecht der Patienten/-innen festgehalten. Die Daten zu den Wartezeiten wurden 2006 bei 349 und 2007 bei 283 Patienten/-innen erhoben. Zwischen der ersten und zweiten Erhebung wurde eine Prozessoptimierung vorgenommen, mit dem Ziel, die Wartezeiten zu verkürzen.5 2 Dekubitusrisiko: Dekubitus ist ein Druckgeschwür, das durch langes unbewegtes Liegen entstehen kann. Zur Früherkennung und Vorbeugung wird vom Pflegepersonal bei jedem/jeder Patienten/-in regelmäßig eine Dekubitus-Risikoeinschätzung vorgenommen und in der Patientenakte dokumentiert. Bei der Datenerhebung wurden 171 Patientenakten dahingehend geprüft, ob eine Erst- und Zweiteinschätzung des Dekubitusrisikos vorgenommen und wie hoch das Risiko eingeschätzt wurde (Erhebung gemäß Braden-Skala)6/7. Zusätzlich wurden bei der Erhebung weitere Informationen wie zum Beispiel Krankenstation, Fachgebiet, Mobilität, Art der Lagerung, Geschlecht, Alter der Patienten/-innen etc. festgehalten.8 5 Vgl. Puliafito, Sandra: Resultate Evaluation Massnahmen Poliklinik, Bern: Inselspital Bern 2007. 6
Vgl. Neander, Klaus-Dieter: »Aktuelle Therapieformen des Dekubitus«, in: Die Schwester/der Pfleger 35 (11/95).
7
Vgl. Direktion Pflege, medizinisch-technische und medizinisch-therapeutische Bereiche, Pflegequalitätssicherung/Pflegestandards: Pflegestandard Dekubitusprophylaxe und Dekubituspflege, Bern: Inselspital Bern 2005, S. 19.
8 Vgl. Hürlimann, Barbara/Höfagruppe DMLL: Monitoring Konzept Erfassung und Behandlung Decubitus DMLL, Bern: Inselspital Bern 2008.
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Abb. 1: Der Modellprozess Patientenbetreuung zeigt den gesamten Prozess, den ein/-e Patient/-in vom Eintritt bis Austritt und Nachbehandlung durchläuft.
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3 Visite: Hier war der Gegenstand der Untersuchung das Funktionieren der Zusammenarbeit sowie der Informationsweitergabe und der zeitlichen Abstimmung der Arbeitsabläufe zwischen Assistenzärzten/-innen und Pflegenden. 2006 und 2008 wurde die Einschätzung von 20 Aspekten der Zusammenarbeit bei Assistenzärzten/-innen und Pflegenden mittels Fragebogen abgefragt. Beide Berufsgruppen beantworteten die gleichen Fragen im Hinblick auf die andere Gruppe. Aufgrund der Erkenntnisse der ersten Erhebung wurde eine Prozessoptimierung vorgenommen, deren Effekt schließlich mit einer zweiten Datenerhebung überprüft wurde.9 4 Patientenaustritt: Hier ging es darum, herauszufinden, wie gut Patienten/-innen bei Spitalaustritt in Bezug auf wichtige Aspekte zu ihrer Genesung informiert sind. Die Daten wurden mittels Fragebogen (18 Fragen) bei einer Gruppe von 89 Patienten/-innen erhoben.10 Bei allen Prozessoptimierungsprojekten lag bereits eine konventionelle statistische Auswertung der Daten in Form von sequentiellen Abfolgen von 15—35 PowerPoint-Folien mit ebenso vielen Balkendiagrammen vor (Abb. 2).
Methodik Die im Forschungsprojekt angewandten Methoden sind entwurfsbasiert und entstammen der Disziplin der Visuellen Kommunikation bzw. dem Kommunikationsdesign. Wir sehen großes Potenzial darin, als Kommunikationsdesignerinnen an Inhalte aus einem gestaltungsfernen Kontext heranzutreten und diese aus unserer Perspektive zu bearbeiten. Das bedeutet, die visuellen Darstellungen, mit welchen die Fachstelle für Qualitätsmanagement normalerweise arbeitet, gestalterisch zu hinterfragen und Alternativen dafür zu entwickeln. Außerdem wurden die Teilprozesse nicht ausschließlich auf einer inhaltlichen und textbasierten Ebene untersucht, sondern vielmehr auch mit visuellen Mitteln und Arbeitsmethoden analysiert und exploriert. Dieser visuell geleitete, reflektierte Forschungsprozess lässt sich als ein systematisches Erproben von inhaltlichen Parametern (z.B. Wartezeit, Störfaktor, Geschlecht, Alter etc.) und ihrer adäquaten 9
Vgl. Puliafito, Sandra: Evaluation Projekt AA-Visite, Bern: Inselspital Bern 2008.
10 Vgl. Puliafito, Sandra: Projekt PAOK Resultate Patientenbefragung (Ist-Analyse), Bern: Inselspital Bern 2008.
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Abb. 2: Statistische Auswertung zum Teilprozess »Visite« in Form von 35 PowerPointFolien mit Balkendiagrammen.
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Übersetzung in visuelle Variablen beschreiben. Bei dieser »grafischen Transkription«11 spielen drei Faktoren eine wichtige Rolle. Erstens geht es um die Art der Informationsträger – dies können Typografie, Fotografie, kartografische und grafische Elemente (Punkt, Linie, Fläche, unregelmäßige Form etc.) sein. Zweitens geht es um grafische Parameter wie Größe, Farbe, Deckkraft, Helligkeit, Winkel, Länge/Breite/Höhe, Struktur/Oberfläche/Material etc. Drittens geht es um den Vorgang der grafischen Bearbeitung beziehungsweise Sichtbarmachung wie z.B. Abstraktion, Vergleich/Gegenüberstellung, Skalierung, Überlagerung, Markierung etc. Das strukturierte Experimentieren mit diesen drei Ebenen der visuellen Codierung von Inhalten eröffnet zahlreiche Möglichkeiten zur Entwicklung einer großen Breite alternativer Darstellungsformen. Beim Forschungsprojekt handelte es sich um einen kollaborativen Designprozess, welcher von uns als seit mehreren Jahren gemeinsam praktizierendem Designteam geprägt war. Oft wurden Skizzen und Entwürfe ausgetauscht und gemeinsam weiterentwickelt. Das unterstützende Medium für diesen kollaborativen Arbeitsprozess war die Pinnwand, auf welcher fortlaufend Skizzen und Entwürfe (Bild und Text) gesammelt und innerhalb einer Auslegeordnung verortet wurden, um sie gemeinsam zu diskutieren, reflektieren und evaluieren. Diese Arbeitsfläche ermöglichte ein kontinuierliches Mapping der Entwurfselemente auf eine physisch reale und visuelle Art und Weise. Die Evaluation und Beurteilung von Skizzen und Entwürfen wurde schriftlich auf Arbeitsprotokollen festgehalten. Die Protokolle wurden pro Teilprozess datiert, aufsteigend durchnummeriert und können so einzelnen Entwürfen zugeordnet werden. Eine Kurzbeschreibung des besprochenen Gegenstandes, eine Beurteilung, gewonnene Erkenntnisse sowie Bemerkungen, Fragen und das weitere Vorgehen wurden darauf festgehalten (Abb. 3, 4 und 17). Die Entwürfe und Visualisierungsansätze wurden fortlaufend zusammen mit dem Praxispartner evaluiert. In regelmäßigen Abständen wurde geprüft, ob wichtige Fragen mit der Visualisierungssystematik sichtbar wurden und welche zusätzlichen Aspekte und Erkenntnisse zum Vorschein kamen. Zum Schluss wurde gemeinsam – basierend auf mehreren Evaluationsschlaufen – je eine Visualisierungssystematik pro Thema ausgewählt. Diese wurde ausgearbeitet und gegen Ende des Projektes an die Klinikverantwortlichen und Pflegefachpersonen zurückgespielt und in Gesprächen ausgewertet.
11 Vgl. Bertin, Jacques: Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten, Berlin/ New York: Walter de Gruyter 1974, S. 24.
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Abb. 3
Abb. 4 Abb. 3/4: Zwei Arbeitsprotokolle; farbliche Unterschiede der Protokolle/vier Teilprozesse (Wartezeiten: gelb, Dekubitus: rosa, Visite: blau, Patientenaustritt: grün).
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Vorgehen Am Anfang stand eine Einführung in die spitalinternen Teilprozesse durch die Fachstelle für Qualitätsmanagement in Form von Gesprächen. Gegenstand war stets Inhalt und Ziel der vorgenommenen Prozessanalysen, die erhobenen Daten sowie deren Auswertung. In den einleitenden Gesprächen galt es, herauszufinden, welche Erkenntnisse mit den bisherigen Analysen bereits gewonnen werden konnten und wo noch offene Fragen sind. Anschließend ging es darum, das zur Verfügung gestellte Material im Detail zu studieren und die Struktur der Informations-Komplexe12 zu erfassen. »Die genaue Bestimmung der Komponenten der Information, ihrer Anzahl, ihrer Länge und ihrer Gliederungsstufe gehen jeder graphischen Bearbeitung voraus.«13 Pro Teilprozess wurden in unserem Fall jeweils zwischen 24—42 Parameter bei zwischen 52—350 Personen erhoben bzw. abgefragt. Die Fragebögen, Daten und bisherigen Auswertungen wurden nach einer intensiven Lektüre und Betrachtung mittels geordneten Listen, hierarchischen Baumdarstellungen und Handskizzen analysiert. Eine breite inhaltsbezogene und visuelle Recherche zum Thema folgte. Dabei ging es darum, das visuelle Potenzial der vier Themen zu eruieren. Einerseits geschah dies mit Hilfe eines assoziativen Brainstormings, in dessen Rahmen erste Ideen in Form von Stichworten und Handskizzen entwickelt wurden. Andererseits durch eine breite Bildrecherche zu Themen, Ideen, Schlüsselbegriffen, Assoziationen und Metaphern zu den einzelnen Prozessen. Dies mündete in einer breiten und sehr freien Auslegeordnung visueller und textlicher Elemente, aus welcher in einem nächsten Schritt erste Visualisierungsansätze und -ideen gesammelt und von Hand skizziert wurden. Nicht selten wird eine thematische Assoziation in Form eines Fotos aus der Phase »Bildrecherche« mit Hilfe einer Skizze abstrahiert und mit entsprechenden Parametern versehen, sodass daraus eine erste Visualisierungsidee entstehen kann. Es folgten erste digitale Umsetzungen von ausgewählten Ideenskizzen. In diesem Arbeitsschritt wurde noch nicht mit den bestehenden Datensätzen gearbeitet. Diese wurden nur grob simuliert, um herauszufinden, welche inhaltlichen Parameter mit welchen formalen Parametern codiert werden können. Erst in einer nächsten Arbeitsphase wurden einzelne Visualisierungsansätze ausgewählt und grob mit den Daten umgesetzt. Es ging darum, ein Gefühl für die Daten zu 12 Vgl. Bertin, Jacques: Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten, S. 40. 13 Ebd., S. 40.
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entwickeln, welches für die Konzeption einer adäquaten und aussagekräftigen Visualisierung von zentraler Bedeutung ist. Eine Gegenüberstellung der einzelnen Entwürfe half herauszufinden, welches Visualisierungssystem was leistet, welche Aspekte jeweils sichtbar und ob die Daten unverfälscht gezeigt werden. Hierbei spielen häufig Skalierung, Datenverteilung und Datenvarianz eine wichtige Rolle. In dieser Arbeitsphase wurde also geprüft, ob die Übersetzung von inhaltlichen in grafische Parameter sinnvoll gewählt wurde und welche Skalierung bzw. welches Raster für die Visualisierung Sinn macht. Die Suche nach einer angemessenen »grafischen Dichte« ist meist eine Gratwanderung zwischen Komplexität und Reduktion, bei der herausgefunden und definiert werden muss, wie viele inhaltliche Parameter innerhalb einer Visualisierung gezeigt werden können, sodass die Visualisierung ausreichend komplex ist und die einzelnen Aspekte gleichzeitig aber vom Betrachter noch erfasst und verstanden werden können. Stephen Few beschreibt die Suche und Definition inhaltlicher Parameter und ihrer Bezüge als Kernaufgabe beim Visualisieren: »Most data analysis involves searching for and making sense of relationships among values and making comparisons that involve more than just two values at a time.« Abschließend wurde gemeinsam mit der Fachstelle für Qualitätsmanagement pro Thema ein Visualisierungssystem ausgewählt und im Hinblick auf die grafische Detailgestaltung ausgearbeitet. Hier wurde auch festgelegt, welches Medium für die jeweilige Visualisierung geeignet ist (Plakat, Kartenset, Leporello etc./ Abb. 5).
Ergebnisse Die entwickelten Visualisierungen münden in einer Wandinstallation (Abb. 6), welche als visuelles Arbeitsinstrument zur Prozessanalyse gedacht ist und eine gleichzeitige, systematische Betrachtung und Analyse aller Teilprozesse ermöglicht. Die Wandinstallation macht anhand der vier visualisierten Prozesse exemplarisch das Potenzial der Visualisierung als Arbeitsmittel zur Prozessoptimierung im Spital sichtbar. Die Installation repräsentiert in ihrer Modularität mit den 3 x 5 Prozessstufen den Modellprozess der Patientenbetreuung (Abb. 6). Die Visualisierungen, die zu den vier Themen »Wartezeiten«, »Dekubitusrisiko«, »Visite« und »Patientenaustritt« entwickelt wurden, finden sich an entsprechenden Stellen im Prozess in dafür vorgesehenen Klemmbrettern, die als objekthafte Zitate auf den Spitalalltag verweisen (Abb. 7).
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Abb. 5
Abb. 6
Abb. 5: Von der ersten Inhaltsanalyse bis zur fertigen Visualisierung: Auszüge aus dem Arbeitsprozess am Beispiel »Wartezeiten«. Abb. 6: Wandinstallation mit 15 Klemmbrettern, welche die Prozessstufen des Modellprozesses der Patientenbetreuung repräsentieren.
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Was Medium und Format der Visualisierungen betrifft, so wurde hier bewusst variiert (Plakate, Leporellos, Kartensatz, Schuber mit Karten) und mit ihrer Eignung experimentiert. Die spezifischen Formate sollen die Kommunikation der Inhalte über die Darstellungsform hinaus unterstützen. Das Format wird unter Berücksichtigung eines optimalen Verhältnisses an Informationsmenge und Platz – sprich »Data Density«14 – gewählt. Zusätzlich wurden verschiedene Printmedien eingesetzt, welche unterschiedliche Lesarten ermöglichen, wie zum Beispiel die Gesamtschau auf einem Plakat, Fokusansichten auf einem Leporello oder ein Kartenset, welches ein nichtlineares Lesen der dargestellten Information unterstützt. Die bewusste Wahl eines Mediums kann hilfreich sein, wenn es darum geht, das Visualisierungsprinzip »focus+context«15 einzulösen – also dem Leser die wichtigsten Daten im Detail, gleichzeitig aber auch in der Relation zum Gesamtkontext zu zeigen. Im Folgenden werden die entwickelten Visualisierungen kurz erläutert: 1 Wartezeiten: In den Jahren 2006 und 2007 wurden zu den Wartezeiten und deren Störfaktor Erhebungen vorgenommen. Zu beiden Erhebungen wurden jeweils ein Plakat mit einer Gesamtansicht aller Wartezeiten und ein Leporello mit diversen Fokusansichten (Stationen, Teams, Geschlecht, Alter etc.) entwickelt. Die Wartezeit von Patienten/-innen (Dreiecksbreite) wird visuell direkt in Zusammenhang mit der Einschätzung gesetzt, wie stark die Patienten das Warten gestört hat (Dreieckshöhe und Einfärbung). Je unproportionaler die Wartezeit in Bezug auf den Störfaktor bei einem/einer Patienten/-in war, desto unproportionaler wird somit auch die Dreiecksform. (Abb. 8 / 9) 2 Dekubitusrisiko: Das Plakat zeigt, wie konsequent Daten zum Dekubitusrisiko erfasst wurden und wie sich das Risiko aller Patienten/-innen zwischen zwei Einschätzungen verändert hat. Die zwei Risikoeinschätzungen werden durch zwei Kreishälften visualisiert und einander gegenübergestellt. Das Visualisierungselement wurde vom Bild eines Fingerabdrucks abgeleitet und zeigt in abstrahierter grafischer Form eine Druckstelle. Drei Kreisgrößen zeigen, ob ein geringes, mittleres oder hohes Risiko vorliegt; die Linienstärke nimmt mit steigendem Risiko zu. Patienten/-innen, welche tatsächlich einen Dekubitus entwickelt
14 Vgl. Tufte, Edward R.: Visual Display of Quantitative Information, S. 162. 15 Vgl. Few, Stephen: Now you See it, S. 113.
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haben, sind rot hervorgehoben. Fehlende Daten sind grau markiert. (Abb. 10 / 11) 3 Visite: Mittels Fragebögen wurde das Funktionieren der Zusammenarbeit zwischen Assistenzärzten/-innen und Pflegepersonal in den Jahren 2006 und 2008 abgefragt. Die Rauteform zeigt die Einschätzung der Zusammenarbeit durch die Assistenzärzte/-innen (blau; oben) und das Pflegepersonal (grün; unten) im Jahresvergleich (2006 = links, 2008 = rechts). Eine Rauteform entspricht jeweils einer Frage. Die unterschiedlichen Einschätzungen werden anhand der Deckkraft der Farbflächen (dunkel = sehr gut, hell = sehr schlecht) gezeigt. Somit ist auf einen Blick in einer komprimierten Form sowohl ein Vergleich der Einschätzungen beider Berufsgruppen als auch die zeitliche Veränderung durch die Optimierungsmaßnahmen ersichtlich. Resultat ist ein Kartenset, welches zehn Fragen (auf der Rückseite) und deren Visualisierung (auf der Vorderseite) im Berufsgruppen- und Jahresvergleich explorierbar macht. (Siehe Abb. 12 und 13) Patientenaustritt: Bei rund 90 Patienten/-innen wurde bei Spitalaustritt die Informiertheit in Bezug auf wichtige Fragen zur Genesung mittels Fragebogen erhoben. In der visuellen Matrix werden sämtliche Fragen auf der Horizontalen und sämtliche befragten Patienten/-innen (unterteilt in fünf Behandlungsteams) auf der Vertikalen gezeigt. Wenn ein/-e Patient/-in gut informiert ist, wird die Matrix an der betreffenden Stelle mit einem schwarzen Quadrat ausgefüllt. Informationslücken werden mit roten Punkten markiert. Je größer die Informationslücke beim/bei der Patienten/-in, desto größer die roten Punkte in der Matrix. Es ist schnell zu erkennen, bei welchen Fragen die Information die Patienten/-innen nur lückenhaft erreicht hat und welche Information gut vermittelt werden konnte. Die Matrix ermöglicht zwei verschiedene Lesarten: Fokus Einzelpatient/-in (horizontal) und Fokus Frage (vertikal).
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Abb. 12 Abb. 7: Klemmbrett »Patientenaustritt«. (Außen: handschriftliche Eckdaten für Teilprozess, Innen: Visualisierung) Abb. 8: Visualisierung »Wartezeiten« (2 Plakate 2006/07, 8 Leporellos/Fokusansichten) Abb. 9: »Wartezeiten« (Plakat zur Erhebung 2006) Abb.10: Visualisierung »Dekubitusrisiko« (Plakat, Leporello mit Fokusansichten) Abb. 11: Visualisierung »Dekubitusrisiko« (Plakat) Abb. 12: Visualisierung »Visite« (10 Karten) Abb.13: Visualisierung »Visite« (Umschlaghülle mit Legende und 4 Karten im Vergleich)
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Abb. 17 Abb. 14: Visualisierung »Patientenaustritt« (Schuber und 8 Karten) Abb. 15: Visualisierung »Patientenaustritt« (Karte mit Gesamtansicht). Abb. 16: Dokumentation des Forschungsprojektes (je ein farbiges Heft zu den vier Teilprozessen und ein graues für das Gesamtkonzept) Abb. 17: Innenseite der Arbeitsdokumentation »Visite« (Entwürfe an der Pinnwand und dazugehörige Arbeitsprotokolle)
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Auf einzelnen Karten können verschiedene Fokusansichten (5 Stufen der Informiertheit von »sehr gut informiert« bis »sehr schlecht informiert« sowie »nicht erhobene Daten«) isoliert betrachtet werden. Für das Kartenset gibt es einen Papierschuber, dessen Schlitz auf der Vorderseite eine isolierte Betrachtung einzelner Fragen ermöglicht. Graue Bereiche zeigen, an welchen Stellen keine Daten erhoben wurden. (Siehe Abb. 14 und 15) Der gesamte Visualisierungsprozess wurde in fünf Arbeitsdokumentationen (Abb. 16) fotografisch festgehalten und mittels schriftlichen und skizzenhaften Arbeits- und Diskussionsprotokollen (Abb. 17) reflektiert und dokumentiert.
Diskussion Da sämtliche vier Prozesse bereits nach herkömmlichen sozialwissenschaftlichen und statistischen Methoden ausgewertet wurden, konnte am Ende des Forschungsprojekts ausführlich der Frage nachgegangen werden, was die Visualisierungen gegenüber der bisherigen Auswertungsmethodik der Fachstelle für Qualitätsmanagement leisten. Die Beurteilung der vorliegenden Ergebnisse beruht also einerseits auf einem Vergleich mit den Erkenntnissen, die aus den herkömmlichen Auswertungsmethoden gezogen werden konnten. Zum anderen wurden die Visualisierungen an ihrem ursprünglichen Entstehungsort wieder eingespeist, also an die Fachstelle für Qualitätsmanagement zurückgespielt und in Gesprächen mit medizinischem Fachpersonal ausgewertet. Die Diskussionen waren sehr fruchtbar, da die Beteiligten im jeweiligen Fachgebiet am Spital tätig und mit den spitalinternen Studien vertraut waren. Die im Projekt entwickelten Visualisierungen wurden bereits im Rahmen von Forschungs- und Fachsymposien sowohl im Design- als auch im medizinischen Kontext bzw. dem der Prozessoptimierung präsentiert und diskutiert. Aus diesen Diskussionen lassen sich einerseits der Mehrwert, aber auch gewisse Problematiken formulieren. Als Mehrwert kann eindeutig festgehalten werden, dass die Effekte der Prozessoptimierungen in den Visualisierungen grundsätzlich sehr gut sichtbar sind. Es hat sich gezeigt, dass die Visualisierungen Aspekte sichtbar machen, die in den statistischen Auswertungen untergegangen sind oder nicht ersichtlich waren. Zudem werfen die Visualisierungen neue Fragen auf, die sich durch die primäre Analyse zum Teil nicht gestellt hatten. Am Beispiel der Visualisierung zum Thema »Wartezeiten« lässt sich das veranschaulichen: Die kurzen Wartezeiten wurden in der statistischen Auswertung als unproble-
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matisch angesehen. Mit der Annahme, dass kurze Wartezeiten nicht optimiert werden müssen, wurden diese nicht in die Auswertung miteinbezogen. Die Visualisierung berücksichtigt jedoch diese Daten und zeigt sehr viele kurze Wartezeiten mit hohem Störfaktor. Dieses wiederkehrende Muster wirft die Frage auf, ob die Patienten/-innen sich während der kurzen Wartezeit möglicherweise nicht auch durch andere Faktoren (z.B. Raumsituation, Lärm etc.) gestört fühlten. Diese zusätzlichen Faktoren mögen zwar primär nichts mit der Wartezeit, aber mit der Wartesituation an sich zu tun haben, und können deshalb auch von Interesse für eine Prozessoptimierung sein. Positiv wurde auch gewertet, dass die Visualisierungen – verglichen mit der sequentiellen Betrachtung der statistischen Auswertungen – als Gesamtbild einen kompakten Überblick über die Daten leisten und trotz der hohen Komplexität Zusammenhänge und Muster sichtbar machen. Bei der abschließenden Betrachtung der Visualisierung zum »Patientenaustritt« (Abb. 15) war z.B. die Fachfrau, welche die Befragung vorgenommen hatte, über das Bild der Daten, welche sie selbst erhoben und analysiert hatte, überrascht. Sie war erstaunt, wie viele Fragen auf Patientenseite noch ungeklärt waren. Den gleichen Datensatz hatte sie bei ihrer Auswertung anders – nicht so erheblich – wahrgenommen und vermutet, dass die Visualisierung als Gesamtbild einen besseren Überblick über die Daten liefert als die in ihrer Studie verwendeten sequentiellen Balkendiagramme (Abb. 2). Der/die Betrachter/-in wird außerdem stärker in den Informtionsaufnahmeprozess involviert, und dazu angeregt, seinen eigenen Fragestellungen nachzugehen und diese mit Hilfe der Visualisierung zu beantworten. Er bekommt nicht alle Ergebnisse gemäß einer bereits eingeschränkten Fragestellung linear vorgesetzt und lässt auch andere Fragen zu. Dies erachten wir als einen zentralen Aspekt bei der Rezeption von komplexen visuellen Darstellungen. Die Visualisierungen mit dem Anspruch, einen/eine Betrachter/-in zu involvieren und faszinieren, beschreibt Edward Tufte als »[…] intriguing and curiosityprovoking, drawing the viewer into the wonder of the data, sometimes by narrative power, sometimes by immense detail, and sometimes by elegant presentation of simple but interesting data.«16 Gemäß Einschätzung des medizinischen Personals eignen sich die Visualisierungen auch gut zur Diskussion im Team. Das visuelle Material könnte als gemeinsame Gesprächsgrundlage dienen, welches das Team in seiner Diskussion gemeinsam erkundet, befragt und die damit in Zusammenhang stehenden Arbeitsabläufe thematisiert und reflektiert. 16 Tufte: Visual Display of Quantitative Information, S. 121.
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Ein weiterer Mehrwert leitet sich aus der präzisen formalen Umsetzung von Inhalten ab. Die Darstellungsform einer Visualisierung wird im Optimalfall aus dem jeweiligen Inhalt entwickelt und hilft dann, diesen präzise zu kommunizieren und auf einer intuitiven Ebene wahrnehmbar zu machen. Den Visualisierungen wurde zum Teil auch ein gewisser emotionaler Wert zugeschrieben, welcher bei einer Zahlentabelle oder bei einem Balkendiagramm nicht erkennbar ist. Es wurde festgehalten, dass eine Visualisierung, die sich bewusst formaler Mittel zur Kommunikation eines Sachverhalts bedient (Abb. 11), mehr auszulösen vermag als ein standardisiertes Diagramm. Die ästhetische Dimension ermöglicht, dass Assoziationen des Rezipienten zur Informationsaufnahme und -verarbeitung beitragen. Folglich kann die Visualisierung als Arbeitsinstrument – im spezifischen Fall der Visualisierung zum Thema »Dekubitusrisiko« als klare Handlungsaufforderung – für medizinisches Fachpersonal gesehen werden. Ein weiterer Mehrwert liegt in der Patientenansicht, die in den Visualisierungen immer in Form des/der einzelnen Patienten/-in sichtund nachvollziehbar ist. In den statistischen Auswertungen geht diese Patientenansicht verloren – gerade diese Information kann aber zu relevanten Erkenntnissen führen. Einzelne Patienten/-innen können auf diese Weise verfolgt werden und durch das individuelle Abbild kann entsprechend auf die Behandlung Einfluss genommen werden – somit sind andere Schlussfolgerungen für die klinische Praxis möglich. Auch die Daten, welche nicht oder nur teilweise erhoben wurden, sind in den im Forschungsprojekt entwickelten Visualisierungen konsequent als »Datenlücken« erkenntlich – in der statistischen Auswertung sind diese untergegangen oder wurden vernachlässigt. Erst durch die Visualisierungen wurde somit das Verhältnis von erhobenen und nicht erhobenen Daten sichtbar und die Frage zur Qualität der Datenerhebung aufgeworfen. Als problematisch hat sich innerhalb der Diskussionen erwiesen, dass die hohe Komplexität der Visualisierungen zunächst einen abschreckenden Charakter haben kann. Es benötigt die Bereitschaft auf der Betrachterseite, sich mit der jeweiligen Systematik der Visualisierung zu beschäftigen. Da die Visualisierung – ebenso wie die Inhalte – hochkomplex sein kann, erschließt sie sich nicht auf den ersten Blick, sondern verlangt nach einer längeren Auseinandersetzung, um zu einem Verständnis zu gelangen. Der »geistige Aufwand«17, der investiert werden muss, um Informationen und Erkenntnisse aus der 17 Vgl. Zipf, Georges Kingsley: The Psycho-Biology of Language, London: George Routledge&Sons, Ldt. 1936, S. 147.
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Visualisierung zu lesen, ist größer als beim Erfassen der Inhalte eines Balkendiagramms. Es wird vom/von der Betrachter/-in verlangt, sich auf ungewohnte Darstellungsformen und -modelle einzulassen, die ihm im Gegensatz zu den herkömmlichen Balken- oder Kuchendiagrammen weder bekannt noch geläufig sind. Im Gegensatz zum Textverständnis wird eine Bildkompetenz heutzutage leider kaum geschult, sodass der/die Betrachter/-in im ersten Augenblick bereits mit einer neuen, ihm unbekannten Darstellungsform überfordert sein mag oder sich durch diese abschrecken lässt. Betrachter/-innen sind es – verglichen mit dem Textverständnis – nicht gewohnt, dass Bilder komplexe Informationen kommunizieren können. Allerdings muss man sich fragen, ob eine statistische Auswertung in Form von dreißig Balkendiagrammen auf ebenso vielen PowerPoint-Slides (Abb. 2) der Komplexität der Daten gerecht wird und diese abbildet? Edward Tufte analysiert in seinem Essay »The Cognitive Style of PowerPoint« die Qualität von PowerPoint-Präsentationen und stellt deren Eignung zur Vermittlung statistischer Analysen grundsätzlich in Frage: »Alas, slideware often reduces the analytical quality of presentations. In particular, the popular PowerPoint templates (ready-made designs) usually weaken verbal and spatial reasoning and almost always corrupt statistical analysis.«18 Das bloße Abfüllen von Daten in vorgefertigte Darstellungsmodelle wird häufig also nicht nur der Komplexität nicht gerecht, sondern kann eine differenzierte Analyse gar verhindern. Ein weiterer ganz konkreter Kritikpunkt betrifft die mögliche numerische Zielsetzung bei Prozessoptimierungen, welche beispielsweise lauten könnte: »80 % der Wartezeiten sollen unter 20 Minuten liegen«. Dieser rein numerische Aspekt ist im Gegensatz zur statistischen Auswertung (Balkendiagramme) bei den entwickelten Visualisierungen nicht auf einen Blick sicht- oder ablesbar. Da die entwickelten Visualisierungen erst nach den Prozessoptimierungen erstellt wurden, lässt sich leider keine Aussage darüber machen, wie die Prozessoptimierungen verlaufen wären, wenn die Fachstelle als Arbeitsmittel auf die entwickelten Visualisierungen zurückgegriffen hätte – eine Wirksamkeitsmessung wurde nicht vorgenommen. Wenn man sich die Frage stellt, wie und welches Wissen im Projekt entstanden ist, muss man zwei Punkte bzw. Disziplinen unterscheiden. Zum einen haben die entwickelten Visualisierungsformen zu neuen Erkenntnissen und Fragestellungen hinsichtlich der unter18 Tufte, Edward R.: The Cognitive Style of PowerPoint, Cheshire, Connecticut: Graphics Press 2001, S. 3.
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suchten Arbeitsabläufe geführt und tragen somit zur Verbesserung bestehender Prozessoptimierungsverfahren im Modellprozess Patientenbetreuung bei – relevante Erkenntnisse für den Spitalalltag. Zum anderen steckt in dieser Forschungsarbeit Wissen, was die Anwendung und Weiterentwicklung von Methoden und Strategien unserer eigenen Disziplin – der Visuellen Kommunikation bzw. des Feldes »Knowledge Visualization« – betrifft. Als nächsten Schritt sehen wir eine systematische Methodensammlung, -benennung und -auswertung, um das gewonnene Wissen explizit zu machen und zu vermitteln. Es gilt, die methodischen Erkenntnisse aus diesem Projekt weiterzuentwickeln, zu verdichten, zu systematisieren und zu strukturieren, um sie schließlich für die Bereiche Kommunikationsdesign und »Knowledge Visualization« übertrag- und anwendbar zu machen. Bildnachweis Abb. 1: Annekäthi Bischoff: ProPat Prozessbeschreibungen, Bern: Inselspital Bern 2007. Abb. 2: Sandra Puliafito: Resultate Evaluation Massnahmen Poliklinik, Bern: Inselspital Bern 2007. Abb. 3—17: Barbara Hahn und Christine Zimmermann: Bern: 2008—2009.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Rosan Chow is a research scientist at the Deutsche Telekom Laboratories in Berlin. She holds a Bachelor and a Masters Degree in Communication Design and a Ph.D in Designwissenschaft. She has studied, practiced and seasonally taught design in Canada, United States and Germany. Her research focuses on design theory and methodology. She is also the project manger of the Design Research Network. Boris Ewenstein ist Consultant in der Organization Practice von McKinsey & Company. Seine Forschungsinteressen sind die Epistemologie von Wissen in Organisationen und Erkenntnis, der Prozess von Reflexivität und die Soziologie formellen und informellen Lernens. Er führte die Forschungsarbeit für diesen Artikel als Research Associate an der Imperial College Business School, London, durch. Mads Nygaard Folkmann (M. A., Ph.D) ist seit 2007 Postdoc und Dozent im Programm Master in Design am DCDR, Danish Centre for Design Research. Studium der Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Kopenhagen und Freiburg i. Br. 2007 Promotion mit einer Dissertation über »Möglichkeitsräume. Poetische Imagination in der europäischen Romantik (Novalis, Keats, Stagnelius)«. Aktuelles Forschungsprojekt über »Design und Imagination«. Publikationen zu theoretischen, ästhetischen und thematischen Problemfelder in Design und Literatur. Joep Frens is presently assistant professor at the Technische Universiteit Eindhoven. After obtaining his master degree in Industrial Design Engineering from Delft University of Technology, Joep Frens went to Switzerland to pursue a career in research at the Swiss Federal Institute of Technology in Zürich. Back in the Netherlands he received in 2006 a doctoral diploma from the Technische Universiteit Eindhoven on a thesis called: ‘Designing for Rich Interaction: Integrating Form, Interaction, and Function’. Presently he teaches several courses at bachelor and master level and continues his research on designing for interaction. In the recent past he has been invited for teaching and lecturing to the USA (CMU), Germany (HFGSG), and SouthKorea (KAIST). Sønke Gau, Kurator, Kulturwissenschaftler, Kunstkritiker (Zürich) Katharina Schlieben, Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin (Köln/
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Entwerfen, Wissen, Produzieren
Zürich): Gemeinsam haben sie von 2004 bis 2009 als kuratorisches Team der Shedhalle (www.shedhalle.ch) gearbeitet. Seit 2004 jeweils gemeinsame und individuelle Dozenturen und Lehraufträge an verschiedenen Schweizer Hochschulen. Regelmäßige Vorträge und Veröffentlichungen, Herausgeber/-in folgender Publikationen: »siteseeing: disneyfizierung der städte?«, bbooks, Berlin 2003; »Spektakel, Lustprinzip oder das Karnevaleske? Ein Reader über Möglichkeiten, Differenzerfahrungen und Strategien des Karnevalesken in kultureller/künstlerischer Praxis«, bbooks, Berlin 2008; »Work to do! Selbstorganisation in prekären Arbeitsverhältnissen«, Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2009; sowie zweimal jährlich 2004—2009 die »Shedhalle Zeitung« (10 Ausgaben). Barbara Hahn ist seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Bern, Forschungsschwerpunkt Kommunikationsdesign. 2005 Diplom in Visuelle Kommunikation FH; zwischen 2000 und 2007 Tätigkeiten in diversen Grafikbüros. 2008 Gründung der Firma »Hahn und Zimmermann« in Bern, Projekte in den Bereichen Kommunikationsdesign, Visualisierung und Designforschung. 2008 Publikation der Arbeit »Von B und C – Datenvisualisierung jenseits von Kuchen- und Balkendiagrammen« beim Christoph Merian Verlag, Basel. Ausstellungen, Publikationen und Vorträge im In- und Ausland. Gert Hasenhütl studiert 1994—2000 an der Universität für angewandte Kunst Wien Industrial Design. 2001—2007 folgt eine freiberufliche Mitarbeit bei den Firmen EOOS Design GmbH, bkm-design working group und GP designpartners, jeweils in Wien. 2004—2008 Promotionsstudium an der Universität für angewandte Kunst Wien, Lehrkanzel »Kunst- und Wissenstransfer«. Lehrtätigkeiten seit 2007 laufend an der Akademie der bildenden Künste Wien und von 2008 —2010 an der Technischen Universität Graz, u.a. in den Fächern Architekturtheorie, Technik und Gesellschaft und Wissenschaftstheorie. Dr. ir. C.C.M. (Caroline) Hummels is associate professor and director of education at the department of Industrial Design at the Eindhoven University of Technology. Her research, education and design activities concentrate on developing a holistic design framework to answer the overall question »How to design for interaction within adaptive and highly dynamic systems«. She is member of the steering committee of the Tangible Embedded, and Embodied Interaction Conferences (TEI) and she has been a member of a variety of program committees and national Think Tanks since 2001. She has given a variety of keynote speeches and has been guest editor of Knowledge, Technology and Policy, and the International Journal of Design. Gesche Joost (Prof. Dr. phil.) leitet als Professorin für Interaction Design & Media das Design Research Lab an den Deutschen
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Zu den Autorinnen und Autoren
Telekom Laboratories, An-Institut der TU Berlin. Sie verantwortet als Wissenschaftlerin die Designforschung der zentralen Innovationsabteilung der Telekom. Gesche Joost ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung (DGTF) und Jurymitglied der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Gemeinsam mit internationalen Partnern entwickelt sie Forschungs- und Lehrprojekte, u. a. zur taktilen Human Computer Interaction, zu Sustainability im Design und zu Gender- und Diversity-Aspekten in der Mensch-Maschine-Interaktion. Kora Kimpel (Prof.) hat Industrial Design mit dem Schwerpunkt Interface studiert und lehrt seit 2004 an der Universität der Künste Berlin das Fach Gestalten mit digitalen Medien. Ihre Tätigkeiten umfassen neben Interface- und Interaktionsdesing auch die Ausstellungsgestaltung. In ihrer Lehre und Forschung untersucht sie die visuellen und kommunikativen Möglichkeiten des digitalen Mediums – neue Technologien werden genutzt, hinterfragt, manipuliert. Ein Schwerpunkt ist dabei das Erforschen von algorithmisch beschreibbaren visuellen Chiffren und Interaktionen. Sie ist seit 2007 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung ( DGTF) und seit 2008 dort Mitglied im Vorstand. Claudia Mareis (Prof. Dr. phil.) ist Forschungsprofessorin für Designtheorie an der Hochschule der Künste Bern. Promotion in Kunst- und Kulturwissenschaften mit einer Arbeit über »Design als Wissenskultur«. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Gestaltungs- und Designtheorien im 20. Jh. mit besonderer Berücksichtigung epistemologischer und methodologischer Aspekte. Weitere Schwerpunkte sind die Geschichte und Pragmatik von Ideenfindungsund Kreativitätstechniken sowie zeitgenössisches Grafikdesign und Illustration. Sie ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung ( DGTF) sowie Mitglied des Board of International Research in Design BIRD des Birkhäuserverlags. Kees Overbeeke is full professor at Eindhoven University of Technology. He heads the Designing Quality in Interaction group (DQI ) one of the leading design research groups. He strongly believes that design research should be theory driven, and that collaboration with industry is paramount (among others, collaboration with Philips, BMW, Unilever, Nissan, Adidas, and Microsoft). Kees Overbeeke initiated several new subjects in design research: design and emotion, funology, aesthetics of interaction, rich interaction and design and ethics. He published extensively on these subjects in journals, books and conference papers. He initiated the »Design and Emotion« and the »Designing for Pleasurable Products and Interfaces DPPI« conferences. Kai Rosenstein studierte Industriedesign in Darmstadt und Manchester. In seiner Forschungsarbeit »Event. Design. TrashDer
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Beitrag des Design zur Erlebnisgesellschaft« im Rahmen des MAS Designculture befasst er sich mit der Ausweitung des Produktdesigns in räumliche Zusammenhänge. Seit 2008 ist Kai Rosenstein am Institut Design2context der Zürcher Hochschule der Künste als Forscher tätig. Er konzipierte u.a. die Ausstellung »Mapping Design Research« anlässlich des DMY Berlin oder »Multilingual Typography. The Streets of Hong Kong« an der Polytechnic University, School of Design in Hong Kong. Kai Rosenstein ist als Dozent tätig und Autor verschiedener Artikel und Papers. Er ist Mitglied der Aktionsgruppe Rennsalon und der DGTF. Philip Ross holds a Master’s degree in Industrial Design Engineering from Delft University of Technology and a PhD degree (2008) with the thesis »Ethics and aesthetics in intelligent product and system design«. This thesis explored how to incorporate ethics in design of intelligent systems, focusing on interactive lighting systems. Philip Ross currently works as assistant professor in the Designing Quality in Interaction group at the Eindhoven Industrial Design department. He is also active in the TU/e Intelligent Lighting Institute, researching socially intelligent lighting environments. Wolfgang Schäffner ist Professor für Wissens- und Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin und Profesor invitado permanente und Direktor des Walter Gropius Forschungsprogramms an der Universidad de Buenos Aires. Seine Arbeitsschwerpunkte sind materiale Epistemologie, Architekturen des Wissens, transatlantischer Wissenstransfer (Europa-Iberoamerika), Interdisziplinäres Design des Wissens. Veröffentlichungen (Auswahl): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003 (Mithg.); Un Colón para los Datos. Humboldt y el Diseño del Saber (Ein Kolumbus der Daten. Humboldt und das Wissensdesign) (Mithg.); Buenos Aires 2008. Punkt 0.1 Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit (Berlin Zürich, erscheint 2010); Arquitecturas del Saber (Rosario, erscheint 2011). Peter Friedrich Stephan ist Professor an der Kunsthochschule für Medien Köln für Theorie und Design der Hypermedien und Gastdozent im Masterprogramm »Leadership in digitaler Kommunikation« an der Universität der Künste Berlin und der Universität St. Gallen/ Schweiz. Studien von Musik, Design, Wirtschafts- und Gesellschaftskommunikation sowie Marketing in Berlin, Hamburg und New York/USA. Projekte im Bereich Design Thinking, Cognitive Design und Creative Business Design. Anwendungsfelder sind die interne und externe Unternehmenskommunikation sowie Innovationen in der Produkt- und Service-Entwicklung. Forschung zu intelli-
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Zu den Autorinnen und Autoren
genten Objekten, Ambient Intelligence und Enabling Spaces. www. peterstephan.org Dr. ir. S. A. G. (Stephan) Wensveen is currently assistant professor at the department of Industrial Design at the Technische Universiteit Eindhoven. He studied Industrial Design Engineering at Delft University of Technology, where he was one of the initiators of the IDStudiolab design research studio. He gained his PhD in 2005 with his thesis, which aimed to bridge the tangible interaction, affective computing and product design communities. His current interests are in using the power of design to integrate research, education and innovation and then especially in the area of textiles and electronics. Jennifer Whyte ist Dozentin für Innovation und Design an der University of Reading. Ihre Forschungsinteressen sind visuelle Praktiken, Design, Innovation und komplexes Organisieren. Darüber hinaus leitet sie Forschung im Rahmen des Innovative Construction Research Centre. Ihre kontinuierliche Arbeit untersucht die Rolle von Technik im Design, Koordination und Governance großer Bauprojekte. Sie führte die Forschung für diesen Artikel an der Imperial College Business School durch, an der sie Senior Research Fellow war, bevor sie zur University of Reading kam. Christof Windgätter, Dr. phil., nach einer Ballettausbildung in Köln bzw. New York studierte er Philosophie, Germanistik und Kulturwissenschaften in München, Los Angeles und Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sprachtheorien, Ästhetik, Wissenschafts- und Mediengeschichte. Zwischen 2002 und 2007 war er Lehrbeauftragter in Berlin, Cottbus und Jena. Von 2007 bis 2009 forscht er am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Ende 2009, Anfang 2010 war er Fellow an der Stuttgarter Akademie Schloss Solitude. Zurzeit schreibt er mit Unterstützung des Referates Wissenschafts- und Forschungsförderung der Stadt Wien an seiner Habilitation zu den Gestaltungsstrategien des Internationalen Psychoanalytischen Verlages (1919—1938). Christine Zimmermann ist seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Bern, Forschungsschwerpunkt Kommunikationsdesign. Lehrerdiplom (1997); Diplom Visuelle Kommunikation FH (2005); Zwischen 1998–2001 und 2005–2008 Arbeit in diversen Grafikbüros. 2008 Gründung der Firma »Hahn und Zimmermann« in Bern, Projekte in den Bereichen Kommunikationsdesign, Visualisierung und Designforschung. 2008 Publikation der Arbeit »Von B und C – Datenvisualisierung jenseits von Kuchen- und Balkendiagrammen« beim Christoph Merian Verlag, Basel. Ausstellungen, Publikationen und Vorträge im In- und Ausland.
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Kultur- und Medientheorie Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika November 2010, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7
Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien März 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3
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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz
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Mai 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3
Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld September 2010, 372 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Juli 2010, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8
Marie-Hélène Gutberlet, Sissy Helff (Hg.) Die Kunst der Migration Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs. Material – Gestaltung – Kritik Februar 2011, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1594-4
Anna Häusler, Jan Henschen (Hg.) Topos Tatort Fiktionen des Realen März 2011, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1510-4
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Leben als Kunstwerk Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna Januar 2011, ca. 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1211-0
Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8
Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs April 2011, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6
Theo Röhle Der Google-Komplex Über Macht im Zeitalter des Internets Juli 2010, 266 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1478-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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