Vorsorgevollmacht in theologischer Perspektive: Eine evangelisch-ethische Untersuchung zu Autonomie und Fürsorge [1 ed.] 9783788731892, 9783788730840, 9783788730833


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German Pages [544] Year 2016

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Vorsorgevollmacht in theologischer Perspektive: Eine evangelisch-ethische Untersuchung zu Autonomie und Fürsorge [1 ed.]
 9783788731892, 9783788730840, 9783788730833

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Forschungen zur Reformierten Theologie

Herausgegeben von Marco Hofheinz / Georg Plasger / Michael Weinrich

Band 7 Helena Kohlberger Vorsorgevollmacht in theologischer Perspektive

Helena Kohlberger

Vorsorgevollmacht in theologischer Perspektive Eine evangelisch-ethische Untersuchung zu Autonomie und Fürsorge

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3084-0 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Helena Kohlberger

Meiner Familie

Vorwort

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Psalm 90,12

„Mensch sein heißt, das gegenüber seiende Wesen sein.“ Martin Buber Manchmal ist es verwunderlich, auf welche Wege uns das Leben führt. So hat wohl die Möglichkeit zum Verfassen meiner Dissertation mich selbst am meisten überrascht und ich konnte diese Zeit des wissenschaftlichen Arbeitens in besonderer Weise als Geschenk erfassen. Eine erkenntnisreiche, interessante Zeit brachte es mit sich. Ich bin dankbar für die nicht mehr zu missende Erfahrung, mich selbständig aus purem Interesse heraus in derartigem Umfang mit einem für die persönliche Lebensführung sowie gesellschaftlich relevanten Themenbereich beschäftigt zu haben. Das Themenfeld Vorsorgevollmacht begegnet als ein aktuelles, wenngleich kaum spezifisch reflektiertes. Der grundlegende Zugang besteht somit in einer multiperspektivischen Aufarbeitung der Situation und der Stellung der Vorsorgevollmacht hier. Auch innerhalb der sodann eingenommenen theoretischen Reflexionsebene bleibt der anfänglich gelegte Bezug zur Praxis sichtbar, welcher sich am Ende der Studie wieder deutlicher in den Vordergrund setzt. Zentrales Kennzeichen ist ein Weg von der Praxis in die Praxis, der jedoch nicht auf dieser Ebene verhaftet bleibt. Lebenspraktische Fragestellungen geraten mit wissenschaftlicher Reflexion in den Dialog. So ist es Ziel, Möglichkeiten für einen existenziellen Erkenntnisfortschritt anzubieten. Vor diesem Hintergrund können sich nicht nur an einer umfassenden Aufarbeitung des großen Themenfeldes Vorsorgevollmacht (und Patientenverfügung) lebenspraktisch Interessierte angesprochen fühlen, sondern auch all jene

VIII

Vorwort

an einer fachwissenschaftlich ethischen, intensiven und präsenten Diskussion. Den größten Verdienst am Gelingen der Arbeit tragen die Menschen, die mir durch ihre Unterstützung – teils aber auch durch ihre kritische Einstellung – nicht nur Antrieb vermittelten, sondern mich auch immer wieder zum Prüfen und Hinterfragen anregten. In diesem Sinne widme ich das Buch meiner Familie und allen, die sich als zu ihr zugehörig begreifen. Über alle Maßen hinaus ist wohl der Dienst zu werten, den meine Korrekturleser erbracht haben – insbesondere hinsichtlich des vorliegenden Umfangs der Arbeit. Ihre Hilfsbereitschaft, Offenheit und Verlässlichkeit übersteigt einen Freundschaftsdienst bei Weitem und hat die Arbeit erst zu dem gemacht, was sie ist. Dafür danke ich von Herzen Marina Wagener, Vanessa und Dominik Jost, Sophie Reuter, Kerstin Scheler, Daniela Osenberg und Kathrin Barth. Für die Durchsicht mancher Aspekte auf inhaltlicher Ebene, die Bereitschaft zum Diskurs und die fachkundige Einschätzung danke ich besonders Dr. Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer und Dr. Dennis Schönberger. Ein großer Dank geht zudem an Prof. Dr. Marco Hofheinz für seine Begleitung in der Anfangsphase. Herrn Prof. Dr. Frank Mathwig danke ich in besonderer Weise für seine Bereitschaft zur Begutachtung der Arbeit sowie für seine freundliche Einschätzung, ebenso wie der gesamten Prüfungskommission. Dankbar bin ich auch für die wertvollen Unterhaltungen über Erfahrungen aus der Praxis, für die sich besonders Gisela Homrighause, Gabriele Hermann und Dr. Frank Radicke Zeit genommen haben. Die Liste der Personen, denen ich zum Dank verpflichtet bin, ist lang, sodass ich darauf verzichten muss, sie hier alle namentlich aufzuführen. Allen, die mich im Entstehungsprozess auf ihre Weise begleitet haben, ein herzliches Dankeschön. Ich habe es stets als Bereicherung wahrgenommen, von so vielen Vertrauten Zuspruch und Ansporn zu erfahren. Dass sie, mehr als ich es zumeist tat, uneingeschränkt an mich glaubten, hat mir sicherlich die entscheidende Unterstützung verliehen. Zwei Personen möchte ich dafür – last, but not least – in besonderer Weise herausheben, deren Beistand und Perspektive auf mich die notwendige Essenz für das entstandene Produkt ist: Meinem Doktorvater Prof. Dr. Georg Plasger danke ich von Herzen für seine Begleitung und Förderung sowie für die vielen Gespräche, die mir halfen immer wieder ein Stück weiter zu denken, vorwärts zu kommen und Zusammenhänge zu sehen. Und meinem Mann Arne Kohlberger ist es gelungen die Wahrnehmung meiner selbst und meiner Arbeit unermüdlich zu justieren und mir mit seinem bedingungslosen Zutrauen die nötige Kraft zu vermit-

Vorwort

IX

teln. Erfüllt von großer Dankbarkeit freue ich mich, diese Erfahrung gemacht zu haben. Die vorliegende Arbeit wurde im März 2015 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen angenommen und für die Drucklegung nur an wenigen Stellen aktualisiert. Auch für die Aufnahme in die Reihe Forschungen zur Reformierten Theologie sei an dieser Stelle dem Neukirchener Verlag, insbesondere Herrn Ekkehard Starke, sowie den Herausgebern Prof. Dr. Marco Hofheinz, Prof. Dr. Georg Plasger, Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Weinrich ein Dank entgegengebracht. Für die Gestaltung des Satzes hat sich Simon Plasger verdient gemacht. Über den Erhalt des Studienpreises des Kreises Siegen-Wittgenstein 2015 freue ich mich sehr und danke erneut auf diesem Wege. Zudem hat dankenswerterweise die Karl Barth-Gesellschaft e. V. sowie die Evangelische Kirche von Westfalen die Drucklegung großzügig bezuschusst. Bad Laasphe, im Juni 2016

Helena Kohlberger

Inhalt

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie . . 1.1 Die Vorsorgevollmacht in interdisziplinärer Wahrnehmung 1.2 Die Vorsorgevollmacht aus theologischer Perspektive . . 2. Aufbau und Methodik der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 1 12 15

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen . . . . . 1. Das Betreuungsgesetz und die gerichtliche Betreuung . . . 1.1 Die gerichtliche Bestellung eines Betreuers . . . . . . . 1.2 Pflichten und Rechte des Betreuers . . . . . . . . . . . 1.3 Die gerichtliche Kontrolle des Betreuers . . . . . . . . 2. Die Betreuungsverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Vorsorgevollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Aufbewahrung der Vollmacht . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Beglaubigung und Beurkundung . . . . . . . . . . . . 3.3 Wirksamkeit und Widerruf . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Divergenzen zur gerichtlichen Betreuung und anderen Vorsorgemöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Generalvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die rechtliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Das Verfassen einer Patientenverfügung . . . . . . . . . 5.3 Die Umsetzung der Patientenverfügung . . . . . . . . . 6. Behandlungswünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kombination von Verfügungen und Vollmachten . . . . . . 8. Der mutmaßliche Patientenwille . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht . . 10. Angrenzende Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Advance Care Planning . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Palliative Care und Palliativmedizin . . . . . . . . . . 10.3 Sterbehilfe und assistierter Suizid . . . . . . . . . . . 10.3.1 Direkte bzw. aktive Sterbehilfe . . . . . . . . . . 10.3.2 Sterbebegleitung bzw. passive Sterbehilfe . . . . . 10.3.3 Behandlungsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.4 Indirekte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

21 21 23 26 28 29 31 34 35 35

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 40 41 41 44 49 54 55 56 57 64 65 66 68 69 74 74 75

XII

Inhalt

10.3.5 Assistierter Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.5.1 Exkurs: Kirchliche Stellungnahmen zum Thema assistierter Suizid . . . . . . . . . . . . . . 10.3.5.1.1 Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.5.1.2 Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) . . . . . . . . . . . . . 10.3.5.1.3 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge . . . . . . . 1. Die Dominanz des Paternalismus im früheren Vormundschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Instrumente persönlicher Vorsorge in ihrer wachsenden Bedeutung in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Debatte um die rechtliche Regelung und Verankerung der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die rechtspolitische Debatte, Gremienempfehlungen und Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz . . . . . . . 3.1.2 Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende 3.1.3 Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Nationaler Ethikrat . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Deutsche Stiftung Patientenschutz . . . . . . . . . 3.1.6 Bioethik Kommission Bayern . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Gesetzesentwürfe zur Änderung des Betreuungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.8 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Beiträge der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Beiträge der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Stellungnahmen der Bundesnotarkammer . . . . . . . . 4. Exemplarische Ergebnisse interdisziplinärer Praxisstudien und Beratungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Gesellschaftlich bedingte Dissense zur Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Formale Dissense zur Patientenverfügung . . . . . . . . 5.2.1 Vor und während der Abfassung einer Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Bei der bestehenden Patientenverfügung . . . . . .

75 79 79 84 86

. 91 . 91 . 93 . 98 . 99 .101 .103 .105 .108 .110 .113 .113 .115 .118 .130 .137 .139 .145 .147 .150 .150 .157

Inhalt

5.2.3 Bei der Umsetzung und Anwendung einer Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Spezifische Dissense der Patientenverfügung . . . . . . 5.3.1 Individualität von Sterben und Tod und die Fiktion der Planbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Angst als Einflussfaktor . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Reichweitenproblematik . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Prospektivität als Problem der Patientenverfügung . 5.3.5 Die Patientenverfügung als Überforderung . . . . . 5.3.6 Loslösung vom Mitmenschen . . . . . . . . . . . . 5.4 Problematische Auswirkungen der Patientenverfügung . 5.4.1 Lebensverkürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Lebensunwerturteile . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Das Primat der Selbstbestimmung . . . . . . . . . 6. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs . 7.1 Das gegenwärtige gesellschaftliche Autonomiekonzept und seine Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Etymologische Erkenntnisse zum Autonomie-Begriff . 7.2.1 Der αὐτ ός-Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Der νόµoς-Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Semantische Erkenntnisse zum Autonomie-Begriff im Sinne von Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Theologische Erkenntnisse zum Autonomie-Begriff . . 7.5 Konklusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Konkretisierungen im Hinblick auf die Patientenautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Grundlinien einer relationalen Autonomie . . . . .

XIII .158 .161 .161 .164 .166 .168 .170 .173 .174 .174 .175 .177 .179 .185 .187 .191 .191 .192 .193 .195 .201 .202 .203

IV. Bestehende theologische Konzeptionen . . . . . . . . . . . . .207 1. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .207 2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach . . . . . . . . .209 2.1 Die Grundlegung der Theologie Ulrich Eibachs anhand der Anthropologie Karl Barths . . . . . . . . . . . . . .210 2.1.1 Motivation und Grundentscheidungen . . . . . . . .210 2.1.2 Das (geschaffene) Leben – Kriterium des Menschseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213 2.2 Übergänge zu einer veränderten Grundlegung . . . . . .215 2.2.1 Verhältnisbestimmung von Bundes- und Schöpfungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215 2.2.2 Die Fürsorge als rechte Lebensweise . . . . . . . . .218

XIV

Inhalt

2.3 Die Grundlegung der Theologie Ulrich Eibachs aus der Praxisperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .221 2.3.1 Eschatologische Hoffnungsperspektive zur retrospektiven Sinngebung . . . . . . . . . . . . . . . . .222 2.3.2 Begründungsstrukturen zur Stärkung der Praxisperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .223 2.3.3 Die Ethik der Fürsorge in Abgrenzung zur Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .231 2.4 Handlungsmaßstäbe für medizinische Entscheidungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .234 2.4.1 Der Mitmensch als Maßstab . . . . . . . . . . . . .235 2.4.2 Kriterien des Lebensrechts . . . . . . . . . . . . . .239 2.4.3 Kriterien stellvertretender Entscheidungen . . . . . .241 2.4.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .242 2.5 Konkretionen der Ethik Ulrich Eibachs . . . . . . . . . .244 2.5.1 Grundfunktionen und -dimensionen des menschlichen Lebens zur Verwirklichung des Lebenssinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244 2.5.2 Die Interpretation von Krankheit und Behinderung .250 2.5.3 Die Interpretation der menschlichen Freiheit . . . . .255 2.5.4 Beendigung von Leben . . . . . . . . . . . . . . . .256 2.6 Die Ethik der Fürsorge in Anwendung auf das Thema Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .259 2.7 Konklusionen aus Ulrich Eibachs Ethik der Fürsorge . . .266 3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .270 3.1 Hinführung zu Hartmut Kreß: Der Weg zur Subjektzentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .270 3.1.1 Grundlegung und Ansatzpunkt einer Verantwortungsethik im Kontext relational-dialogischer Konzepte im Frühwerk . . . . . . . . . . . . . . . .271 3.1.1.1 Einschub: Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik . . . . . . . . . . . . . . .276 3.1.1.2 Exkurs: Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . .280 3.1.2 Akzentverschiebungen: Steigerung der Person- und Subjektkonzentration im Horizont der Verantwortungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .289 3.1.2.1 Einschub: Der veränderte Gebrauch des Verantwortungsbegriffs . . . . . . . . . . . . .295 3.1.2.2 Das relational-dialogische Personenverständnis .297

Inhalt

XV

3.1.2.3 Das Verständnis des Menschen als Freiheitsund Vernunftwesen . . . . . . . . . . . . . . .300 3.1.2.4 Der normative Stellenwert des Personenbegriffs in seiner Auswirkung auf die Medizinethik . . .303 3.2 Rechtsgrundsätze als normative Grundlage für eine Subjektzentrierung mit Fokus auf Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .307 3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit . . . . .309 3.2.2 Menschenwürde als rechtlicher und normativer Ausgangspunkt und ihre Konsequenzen . . . . . . .328 3.2.2.1 Menschenwürde im Hinblick auf die Pränatalund Präimplantationsdiagnostik . . . . . . . . .329 3.2.2.2 Menschenwürde im Hinblick auf die Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . .340 3.2.2.2.1 Exkurs: Das Verständnis von Freiheit . . .343 3.2.2.2.2 Die Patientenverfügung im Lichte der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . .356 3.2.2.2.3 Die Fürsorge als Einschränkung der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . .361 3.2.2.3 Menschenwürde im Hinblick auf Sterbehilfe und das Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . .365 3.2.2.3.1 Einschub: Das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Sterben . . . . . . . .372 3.2.2.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . .377 3.2.2.5 Analogisches Verfahren im Hinblick auf (theologische) Grundlagen für die Menschenwürde .381 3.2.3 Freiheit und Selbstbestimmung als Primat des Menschlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .389 3.3 Konklusionen aus Hartmut Kreß´ subjektzentrierter Ethik 398 4. Vergleichende Linien von Ulrich Eibach und Hartmut Kreß .405 5. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .409 V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht . . . . . .413 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .413 2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth . . . .415 2.1 (Theologische) Einsichten der vorausgegangenen Kapitel 415 2.2 Skizze eines relationalen Konzepts in Anlehnung an Karl Barth und Dominik A. Becker . . . . . . . . . . . . . . .418 2.2.1 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .418 2.2.2 Die Wahrnehmung des ganzen Menschen . . . . . .419 2.2.3 Menschsein in Relationen . . . . . . . . . . . . . . .426 2.2.3.1 Das Ineinander von Sein und Aufgabe . . . . .426

XVI

Inhalt

2.2.3.2 Das Ineinander von Begegnung und Subjektsein 432 2.2.3.3 Zusammengehörigkeit und Ganzheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .438 2.2.3.4 Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen . . .441 2.3 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .444 3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik . . .445 3.1 Identität, Ehre und Würde des Menschen . . . . . . . . .447 3.1.1 Relationale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . .449 3.1.2 Relationale Ehre und Würde . . . . . . . . . . . . .456 3.1.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .463 3.2 Das Sein in der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . .463 3.3 Relationale Autonomie und relationale Fürsorge im Modus der Wechselseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . .466 3.4 Der Aspekt des Sorgens . . . . . . . . . . . . . . . . . .472 3.4.1 Care-Ethik und die Ethik der Achtsamkeit . . . . . .475 4. Implikationen der relationalen Anthropologie und Ethik für die Vorsorgevollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .479 4.1 Relationale Anthropologie und Ethik in Anwendung auf die Vorsorgevollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .479 4.1.1 Die Vorsorgevollmacht in Entsprechung der Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .482 4.1.2 Spezifische Schwierigkeiten aus der Praxisperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .487 4.2 Fortschritt und Herausforderung . . . . . . . . . . . . . .492 5. Abschließendes Votum als einladende Ethik . . . . . . . . .493 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .497

I. Einleitung

„Wer christliche Ethik verstehen will, wird sich nicht weigern dürfen, sich wenigstens hypothetisch an den wunderlichen Ort zu begeben, von dem aus sie denkt und redet, an dem der Mensch immer zuerst zu hören, auf Gottes Wort zu hören, und dann erst zu denken und zu reden hat. Christliche Ethik bezieht sich auf eine zwischen Gott und dem Menschen geschehene und noch geschehende und in Zukunft geschehen werdende Geschichte, und zwar im besonderen [sic!] auf den aktiven Anteil des Menschen an dieser Geschichte.“1

1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie 1.1 Die Vorsorgevollmacht in interdisziplinärer Wahrnehmung Wie kann ich Vorsorge treffen für ungewollte Lebenszustände? Wer entscheidet für mich, wenn ich es selbst nicht mehr kann? Wie kann ich meinem Willen Gültigkeit verleihen? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen nicht nur viele Menschen persönlich, sie sind auch Inhalt interdisziplinärer, etwa rechtspolitischer, medizinischer oder theologischer Debatten. Rechtliche Veränderungen der vergangenen 25 Jahre sind Wegbereiter des Diskussionsfeldes Vorsorge, wenngleich die vollständige Implementierung sowie die Bewusstheit dieser Grundzüge und Auswirkungen innerhalb der deutschen Gesellschaft noch fraglich ist. Das Betreuungsrecht2 ist bereits seit 1990 im Bürgerlichen Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland als Ablösung der Regelungen zur Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft verankert. Einer persönlichen, vom Betreuungsgericht bestellten Betreuung soll so Rechnung getragen werden, sofern die eigenen Belange des persönlichen Lebens vollständig oder in Teilen nicht mehr erledigt werden können. Zugleich erfahren die Möglichkeiten der privaten Vorsorge Relevanz, zumal sie mitunter jene gerichtliche Betreuerbestellung zu umgehen vermögen. Hier zeigt die Vorsorgevollmacht Bedeutsamkeit, denn 1 2

Barth, Christliche Ethik, 6f. Vgl. BGB, § 1896 – § 1908 k.

2

1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie

sie gilt als Instrument, welches einer Vertrauensperson die juristische Geltungsmacht verleiht, im Bedarfsfalle für den Vollmachtgeber als rechtskräftiger Vertreter zu entscheiden und zu handeln. Die Einsetzung eines gerichtlichen Betreuers erübrigt sich so. Eher öffentlich bekannt und im Diskurs verhafteter erscheint die Patientenverfügung3 als weiteres Instrument der persönlichen Vorsorge. Sie ermöglicht es, spezifische medizinische Behandlungs- und Therapieentscheidungen im Vorhinein zu bewilligen oder abzulehnen. Seit Ende der 70er Jahre steht die Patientenverfügung in der Diskussion, welche sich vorwiegend mit Fragen ihrer Reichweite (etwa für welche Stadien einer Krankheitssituation in der Verfügung Behandlungsentscheidungen getroffen werden können) und Bindungskraft (etwa in welchem Maße eine Patientenverfügung auch ärztliches Handeln bindet) beschäftigt hat – und teils noch immer beschäftigt.4 Der Zenit der Debatte wurde wohl 2009 mit der rechtlichen Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsgesetz ohne Reichweitenbegrenzung erreicht. Resultat ist, dass der prospektive, frühere Wille mithilfe des Instruments als aktueller, in die Zukunft hinein verlängerter Patientenwille bewertet wird. Der Gesetzgeber beschied die programmatische Entwicklung durch dieses Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (Patientenverfügungsgesetz) auch auf gesellschaftlichen Druck hin. Denn, so ist innerhalb der wenigen existenten, teils veralteten und mitunter nichtrepräsentativen Umfragen ersichtlich, die Bindungskraft der Patientenverfügung wird gesellschaftlich positiv bewertet. Eine Forsa-Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e. V., in der 73 % der Befragten die uneingeschränkte Bindungskraft befürworten, bestätigte 2007 diesen Trend.5 Als Diskrepanz dazu erscheint die (nach wie vor) eher geringe Verbreitung der Patientenverfügung, welche die Bertelsmann Stiftung in ihrem Gesundheitsmonitor von 2005 zum Thema Patientenverfügungen verdeutlichte. Obwohl rund 67 % der Befragten diese Art der Willensfestlegung befürworten und nur 3 % jene Ansicht explizit nicht teilen, beläuft sich dennoch die Zahl derer, die eine Patientenverfügung verfasst haben, zu diesem Zeitpunkt nur auf etwa 10 %.6 Jener Bruch 3

4 5 6

Vgl. BGB, § 1901 a Abs. 1f. Für eine genauere Beschreibung des Instruments vgl. Kapitel II.5. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 7. Vgl. DGHS, Forsa-Umfrage März 2007. Vgl. http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-D0CE1A4C-9C7BB97 8/bst/hs.xsl/nachrichten_3847.htm, Stand: 21.02.2012. Auch neuere Zahlen bekräftigen diese Tendenz. Im Westfälischen Ärzteblatt 11 (2012) wird von einer Verbreitung der Patientenverfügung in der Bevölkerung von ca. 15 – 20 % gesprochen. Vgl. hierzu Dorsel, 1000 Tage, 14. Konkrete aktuelle, empirische und repräsentative Be-

I. Einleitung

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zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und Verbreitung deutet auf Dilemmata oder Problemanfragen im Hinblick auf Praktikabilität und Validität hin. In der gängigen Praxis scheint der Umgang mit der Patientenverfügung auf Schwierigkeiten zu stoßen, was noch intensiver zu thematisieren sein wird.7 „Zudem gibt es keine Studien darüber, inwiefern schriftliche P[atientenverfügungen; d. Vf.] überhaupt exakt die tatsächlichen Wünsche einer Person für ihre Versorgung am Lebensende wiedergeben.“8 Erwähnte Bekanntheit und verbreitete Zustimmung zur Patientenverfügung sind auf vielschichtige Entwicklungen zurückzuführen. Einerseits lässt sich nennen, dass der gesamte Themenbereich Vorsorge und der zur Patientenverfügung im Speziellen das persönliche Interesse vieler Menschen erreicht. So werden Fragen nach dem individuellen Leben und Sterben gestellt. Darüber hinaus stehen etwa Grundängste im Fokus, wie beispielsweise das Angewiesensein auf fremde Hilfe, die Missachtung des eigenen Willens oder die Furcht vor ungewollter Behandlung, auf die die Patientenverfügung eine Antwort zu geben scheint.9 Andererseits kann eine mediale Präsenz der Thematik wahrgenommen werden, etwa in Tageszeitungen, Onlineportalen oder im Fernsehen.10 Auch ein umfangreiches Angebot von Informationsmaterialien und -veranstaltungen ist aufzufinden. Zudem werden von diversen Stellen, Organisationen oder Verbänden Beratungsbroschüren und Musterexemplare insbesondere zur Patientenverfügung oder auch zur Vorsorgevollmacht angeboten, welche auf große Nachfrage stoßen.11

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fragungen zur tatsächlichen Eruierung der Verbreitung von Patientenverfügungen oder anderen Vorsorgedokumenten sind nicht aufzufinden. Vgl. Sommer, Patientenverfügungen, 577. Vgl. Kapitel III.5. Nauck, Das Lebensende gestalten, 556. Vgl. Sass, Patientenverfügung, 7ff. Vgl. etwa exemplarisch in der Süddeutschen Zeitung Bartmann, Klarheit, 15; Hardenberg, Wenn der Wille unklar ist, 5; Bettzieche, Vertrauen, 27; oder in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bzw. Sonntagszeitung etwa Ewig, Der Patientenwille, 60; Eberle, Der Wunsch, 42; Oberhuber, Die Angst, 26. Vgl. darüber hinaus im Onlineangebot http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-06/patientenver fuegung-deutsche-stiftung-patientenschutz-beratung, Stand: 16.01. 2015; http:// www.zeit.de/online/2009/26/patientenverfuegung-kommentar, Stand: 16.01.2015. Ebenfalls beschäftigen sich regionale Zeitungen mit dem Themenfeld. Vgl. exemplarisch Pflegst Du schon, oder lebst Du noch, 8; Vertrauensperson, 22; Patientenverfügung, 6. Dies zeigt sich etwa an der Vielzahl der Broschüren und Leitfäden, die auf einen vorhandenen Absatzmarkt schließen lassen. Aber auch Neuauflagen bereits erschienener Werke deuten darauf hin. Als Beispiel lässt sich hierzu auf die Handreichun-

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1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie

Eine exemplarische Liste diverser vorhandener Formulare, Mustertexte oder Formulierungshilfen ist vom Ethikzentrum in Recklinghausen zusammengetragen worden und beziffert die Anzahl vorhandener Einträge im Mai 2015 auf ca. 250 Stück.12 Die vorhandene Vielfalt der Broschüren spiegelt sich auch in ihrer weltanschaulichen Ausrichtung und Akzentsetzung wider, wodurch mitunter differierende Empfehlungen ausgesprochen werden.13 Nicht zuletzt sind mittlerweile von einigen Stadtverwaltungen Seniorenberatungsstellen eingerichtet worden, die Ansprechpartner speziell für die Themen Vorsorge, Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht beratend zur Seite stellen. Bei der intensiveren Betrachtung der Beratungsmaterialien fällt auf, dass die Patientenverfügung im Vergleich zur Vorsorgevollmacht thematisch im Vordergrund steht. Erklärungsansatz dessen kann sein, dass die Verfügung in Kohärenz zur Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung beschrieben wird. Jene Propagierung ist eine über Gesellschaft und wissenschaftliche Disziplinen hinweg wahrnehmbare Forderung14 , der wiederum die Patientenverfügung als geeignetes Instrument zur Achtung der Patientenrechte Rechnung tragen soll. Zugleich jedoch bleibt das Paradoxon zwischen öffentlicher Bekanntheit und breiter Zustimmung der Patientenverfügung im Kontrast zu ihrer zurückhaltenden Verbreitung. Ein Hinweis auf eine mit diesem Instrument einhergehende innere Schwierigkeit ist also gegeben. Die Ursachen dessen gilt es im Verlauf der Arbeit begründet zu analysieren.

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gen der Evangelischen Kirche in Deutschland in Kooperation mit der Deutschen Bischofskonferenz verweisen. Ihre erste Handreichung zum Themengebiet wurde 1999 veröffentlicht, zu der 2003 eine zweite Auflage entstand. Eine vollständige Neubearbeitung wurde 2011 aufgelegt. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge; Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung. Vgl. zur exemplarischen Sichtung diverser Beratungsbroschüren Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge; Diakonie in Südwestfalen, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht; BMJ, Patientenverfügung; Ärztekammer Westfalen-Lippe, Patientenverfügung; Verbraucherzentrale, Patientenverfügung; DGHS, Patientenschutz- und Vorsorgemappe. Beratungsangebote werden etwa von Betreuungsbehörden und -vereinen oder der Volkshochschule angeboten. Vgl. http://www.ethikzentrum.de/patientenverfuegung/verfuegungsliste/verfuegun gen.htm, Stand: 09.01.2016. Bereits mit Stand vom 06.01.2012 wurde die Stückzahl mit etwa 250 benannt. Vgl. beispielsweise DGHS, Patientenschutz- und Vorsorgemappe; Verbraucherzentrale, Vorsorge selbstbestimmt, 41; Verbraucherzentrale, Patientenverfügung, 5f.; Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 3; Ärztekammer Westfalen-Lippe, Patientenverfügung, 3; Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener, Handbuch PatVerfü, 5f.; Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge. Vgl. Maio, Mittelpunkt Mensch, 120ff.; Becker, Sein, 98ff.; Illhardt, Die ausgeblendete Seite der Autonomie, 13. Vgl. außerdem Kapitel III.7.1.

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Angedeutet wurde bereits ein (gesellschaftliches) Bestreben zur Stärkung von Patientenrechten, was nicht nur im Kontext des Patientenverfügungsgesetzes erkennbar ist und wiederum eine Autonomie- und Selbstbestimmungsforderung unterstreicht. Rechte von Patienten werden in Deutschland als fundamentale Rechte angesehen. Aktuell erfolgt eine weitere gesetzliche Stärkung jener durch das sog. Patientenrechtegesetz. Das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, welches am 26.02.2013 in Kraft getreten ist, stärkt nachdrücklich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) Ansprüche wie Einwilligung und Aufklärung des Patienten oder Einsichtnahme in die Behandlungsakte. Jenes Gesetz unterstreicht explizit, dass eine Person aktiv in jegliche medizinische Maßnahmen einwilligen muss. Im Falle der Einwilligungsunfähigkeit wird entweder eine entsprechende Patientenverfügung als Ausdruck des Willens des Patienten herangezogen oder derartige Entscheidungen sind von hierzu berechtigten15 Personen zu geben. Insofern ist eine juristische Notwendigkeit festgelegt, Einwilligungen zu geben, um ärztliches Tun – Notfälle sind hier ausgenommen – zu legitimieren. Ziel ist es dabei, die Mündigkeit von Patienten durch Aufklärung und Informationen zu stärken. Dieser Anspruch soll zusätzlich durch das Instrument der Patientenverfügung, in der Behandlungsentscheidungen prospektiv festgelegt werden können, bekräftigt werden. Zu reflektieren ist, inwiefern die Patientenverfügung ein geeignetes Instrument prospektiver Festlegungen sein und wie sie zur Mündigkeit der Menschen beitragen kann. Die Bedeutsamkeit dieses Themas der vorliegenden Arbeit für jeden Einzelnen in der Gesellschaft ist also bereits von den rechtlichen Gegebenheiten her ersichtlich. So sieht das Betreuungsrecht, sofern eine Unfähigkeit vorliegt die Belange des persönlichen Lebens ganz oder in Teilen regeln zu können, eine juristische Notwendigkeit zur Betreuerbestellung vor. Vorausgesetzt ist dabei, dass keine private Vorsorge getroffen wurde. Darüber hinaus betrifft die Thematik nicht ausschließlich ältere Menschen. Auch Jüngere können etwa infolge eines Unfalls oder einer Krankheit von plötzlicher Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit betroffen sein. Die allgemeine Relevanz des Themas steigt zudem hinsichtlich der Möglichkeiten einer hoch technisierten und weit entwickelten Medizin, die dazu in der Lage ist, in Krankheits- und Sterbeprozesse einzugreifen. Nicht zuletzt ruft mitunter eine machtvoll gewordene Medizin die Angst hervor, ihr in Zuständen der Entscheidungs15

Diese Berechtigung erfolgt entweder durch Bevollmächtigung oder durch die Bestellung zum Betreuer durch das Betreuungsgericht. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden diese Verfahren eingehend erläutert.

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1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie

und Äußerungsunfähigkeit ausgeliefert zu sein, was wiederum die positive Resonanz der Patientenverfügung begünstigen kann. Die – teils auch medial vermittelte – Unzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem, die sich beispielsweise in der Furcht vor unnötigem Leiden, ungewollten medizinischen Interventionen und dem Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber der sog. Apparatemedizin ausdrückt, kann Menschen zur privaten Gesundheitsvorsorge und insbesondere zur Abfassung einer Patientenverfügung veranlassen.16 Wichtige Ursachen dieser Tendenz liegen in innergesellschaftlichen sowie in medizinisch-technischen Entwicklungen. „Deutschland unterliegt einem drastischen demografischen Wandel, der darin zum Ausdruck kommt, dass sowohl die absolute Zahl der älteren Menschen als auch deren relativer Anteil an der Gesamtbevölkerung zunimmt.“17 Zudem entwickelt sich der medizinische Fortschritt stetig weiter. Beide Sachverhalte sind ursächlich für eine älter werdende Bevölkerung, deren Risiko auf Multimorbidität mit zunehmendem Alter ansteigt. Erhöhte Pflegebedürftigkeit ist eine Folge.18 Jener Mehraufwand resultiert in einem steigenden Bedarf an Beschäftigten in Gesundheitsberufen.19 Hinderlich ist hierbei die geringe Attraktivität der Pflegeberufe aufgrund ihrer teils schlechten Arbeitsbedingungen.20 Die Bevölkerung zeigt Umfragen zufolge ein abnehmendes Vertrauen in das deutsche Gesundheitswesen. Auch die Vielzahl der Reformen im Gesundheitssystem kann ursächlich für eine wachsende Verunsicherung sein.21 Zugleich lässt sich die These formulie16

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Vgl. DGHS, Patientenschutz- und Vorsorgemappe; Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener, Handbuch PatVerfü; Sass, Patientenverfügung, 10ff. http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Analyse-Kopetsch.pdf, Stand: 11.03.2013. Vgl. Nowossadeck, Demografische Alterung, 1; http://www.bundesaerztekammer. de/downloads/Analyse-Kopetsch.pdf, Stand: 11.03.2013. Vgl. Nowossadeck, Demografische Alterung, 6; http://www.bundesaerztekammer. de/downloads/Analyse-Kopetsch.pdf, Stand: 11.03.2013; http://www.welt.de/wirt schaft/article109597726/2030-fehlen-Deutschland-ueber-300-000-Pflegekraefte. html, Stand: 11.03.2013. Vgl. http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/36070/Pflegeberuf-soll-attraktiver-wer den, Stand: 11.03.2013; http://www.bmg.bund.de/ministerium/presse/pressemittei lungen/2011-01/steigerung-der-attraktivitaet-der-pflegeberufe.html, Stand: 11.03. 2013. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Das Gesundheitswesen. Eine umfassende Aufarbeitung der Auswirkungen der demografischen sowie der medizinischtechnischen Entwicklung auf das Gesundheitswesen kann an dieser Stelle nur schlaglichtartig vorgenommen werden. Neben den bereits benannten Quellen sei zudem nochmals auf die 2012 erschienene Studie des Robert Koch-Instituts Nowossadeck, Demografische Alterung verwiesen, die den Zusammenhang der demo-

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ren, ob spiegelbildlich dazu auch die vorhandene Verunsicherung eine Ursache für entsprechende Reformen darstellt und somit ggf. eine Wechselwirkung vorliegt. Resultat dessen ist auch, dass die Notwendigkeit privater Vorsorge bewusster zu werden scheint, nicht nur, um sich selbst vor einem System, dem nicht voll vertraut wird, zu schützen, sondern auch, um den Folgen der alternden Bevölkerung persönlich zu entgehen. Hier zeigt sich, dass die private Vorsorge tatsächlich innergesellschaftlich ein brisantes Thema ist. Der demografische Wandel sowie die (Weiter-)Entwicklungen in der Medizin begünstigen dies. Die Thematik um Betreuung und Möglichkeiten zur Vorsorge für Situationen der Äußerungs- und Entscheidungsunfähigkeit betrifft die fundamentalen Belange von Menschen. Jene Regelungen sind zugleich Zuspruch und Anspruch. Eine Wohlinformiertheit zum Sachverhalt müsste folglich vorausgesetzt sein. Gleichwohl, so wird sich im Verlaufe der Aufarbeitung zeigen, kann derzeit von keiner allgemein ausreichenden Informiertheit ausgegangen werden.22 Innerhalb der vorausgegangenen Darstellung klingen spezifische Aspekte der Patientenverfügung sowie der Vorsorgevollmacht bereits an. Grundsätzlich zeigt sich eine wesentliche Differenz zwischen beiden Instrumenten. Ersterer inhäriert ein (gesellschaftlich stattfindendes) Autonomiebestreben, welches sich bewusst von der Mit- und Umwelt abgrenzt und eigenständige, ggf. sogar isolierte Entscheidungen fordert und fördert. Die Vorsorgevollmacht hingegen ist ein auf Dialog basierendes Instrument, welches den Aspekt des Miteinanders und der Begleitung in den Vordergrund stellt. Hiermit trifft sie den Tenor des Betreuungsrechts, welches die Bedeutung personaler Begegnung verkörpert. Ihm wiederum liegt die Einsicht zugrunde, dass der Mensch nicht isoliert und in Unabhängigkeit seiner Mitmenschen leben kann. Zu diesem Aspekt steht die Vorsorgevollmacht also in Kohärenz mit dem Betreuungsgesetz. Die Patientenverfügung jedoch trägt den Anspruch, dieses Abhängigkeitsverhältnis zu umgehen. Gleichwohl wird noch zu zeigen sein, dass auch die Verfügung notwendig auf die Umsetzung durch Mitmenschen angewiesen ist und in alleinig isolierter Wahrnehmung keine Funktion aufweisen kann.

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grafischen Alterung und den Folgen für das Gesundheitswesen näher untersucht. Ferner sei auf die Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland verwiesen, die ebenso wichtige Konnexe benennen. Vgl. hierzu Evangelische Kirche in Deutschland, Solidarität und Wettbewerb; Kirchenamt der EKD, "Und unsern kranken Nachbarn auch!" Vgl. Schöffner, Patientenverfügung, 489.

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1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie

Insbesondere während der rechtspolitischen Debatte zur Frage der gesetzlichen Verankerung der Patientenverfügung sind interdisziplinär Kontroversen aufzufinden, welche gleichwohl auch nach dem Gesetzesbeschluss keinen merklichen Rückgang oder gar eine Auflösung wahrnehmen lassen. Vielmehr lässt sich darstellen, dass jene Regelung wenig Fortgang hinsichtlich der diskutierten Themenfelder bewirkt hat.23 Dass aber nicht nur juristische Fragestellungen betroffen sind, wurde bereits ersichtlich. Da sich die Thematik um Vorsorge auch unweigerlich auf den gesundheitsfürsorglichen Bereich bezieht und die Patientenverfügung in besonderem Maße medizinische und therapeutische Maßnahmen zum Inhalt hat, sind notwendigerweise medizinische und pflegerische Perspektiven zu durchdenken. Zugleich bedingen gesellschaftliche Entwicklungen das Problemfeld. Nicht zuletzt fordert, wie bereits angesprochen, die stark älter werdende Gesellschaft24 in Kombination mit dem Ausbau der medizinisch-technischen Möglichkeiten Reflexionen im Bereich der Medizinethik immer wieder heraus – besonders im Hinblick auf Behandlungsentscheidungen. Und auch Kirche und Theologie tragen eine notwendige Perspektive aus ihrer genuinen Wahrnehmung des Menschen ein und sind so Gesprächspartner in einer interdisziplinären, multiperspektivischen Debatte. Jene disziplinübergreifende Herangehensweise ermöglicht es, den Blickwinkel nicht zu verengen und damit das gesamte Problemfeld mit seinen Implikationen in größtmöglicher Weite zu erfassen. Die gleichzeitig dominierende theologische Perspektive soll jene Dimensionen inkludierend übersteigen und einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen eröffnen. „Die ethische Diskussion muß also so geführt werden, daß nicht nur Maxime gegen Maxime, Imperativ gegen Imperativ gestellt wird, sondern sie muß zeigen, in welchem Indikativ der Imperativ wurzelt, woher er sein Recht und seine Kraft nimmt.“25 Innerhalb dieses vielschichtigen Problemfeldes ist gerade der Umgang mit Vorsorgedokumenten für alle Beteiligten zu beleuchten und stellt demnach etwa Verfasser, Angehörige, medizinisches oder pflegerisches Personal vor Herausforderungen. Konkret lässt sich fragen, wie Entscheidungen valide und nachhaltig getroffen werden können, welche Rolle dabei die Kommunikation mit nahestehenden Menschen oder Fachpersonal spielt und wer in welchem Maße zuständig sowie betroffen ist. Wenngleich der explizite Fokus der Arbeit auf der Vorsorgevollmacht liegt, so würde es eine unzulängliche Verkürzung des Themen23 24 25

Vgl. Kapitel III.1 – III.6. Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands, 6; 16. Kreck, Grundfragen, 11.

I. Einleitung

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feldes darstellen, die Diskussionen unabhängig von der Patientenverfügung zu führen. Diverse Gründe sind hierzu anzuführen. Einerseits besteht eine thematische Zusammengehörigkeit im rechtlichen Kontext. Dem Betreuungsrecht liegt der Gedanke der Sozialität zugrunde, indem es eine Betreuerbestellung zumeist voraussetzt, wenn die persönlichen Aufgaben und Belange nicht mehr (vollständig) erledigt werden können. Die Patientenverfügung hingegen vermittelt, autonome Entscheidungen treffen zu können und mitunter durch persönliche Festlegungen nicht in den Abhängigkeitsbereich anderer Menschen zu geraten. Die Vorsorgevollmacht wiederum geht einen dritten Weg und kann daraufhin als Zwischenlösung beschrieben werden. Sie geht beispielsweise davon aus, dass es Lebenslagen gibt, in denen Menschen aufeinander angewiesen sind und in denen sie nicht (mehr) in Unabhängigkeit von Anderen agieren können. Zugleich aber baut sie auf Eigenaktivität, indem eine Vertrauensperson aktiv dazu bevollmächtigt wird, im Bedarfsfalle als rechtmäßiger Vertreter aufzutreten. Sie besteht also – sogar reziprok – aus den zwei Säulen der Gemeinschaft bzw. des Dialogs in Verbindung mit der Achtung der jeweiligen Autonomie. Ihr Ansatz entspricht der Einsicht, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist – was keine Nivellierung oder gar Negation der Individualität impliziert. Die Grundausrichtung von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ist also different. Gleichwohl, und dies sei andererseits angemerkt, ist die thematische Zusammengehörigkeit der vorfindlichen Debatte geschuldet, denn hier wird ersichtlich, dass zumeist die Vorsorgevollmacht mitsamt der Reflexion über ihren differenten Ansatzpunkt höchstens periphere Thematisierung findet. Im Brennpunkt der Debatte liegt, wie auszuführen sein wird, vorwiegend die Patientenverfügung. So ist sie es, die gemeinhin gesellschaftlich befürwortet wird – teils ohne über Alternativen, jeweilige Eigenarten und ihre Differenzen ausreichend informiert zu sein. Unterstrichen wird dieser Zusammenhang dadurch, dass nahezu keine spezifische, auf die Vorsorgevollmacht und ihre Reflexion hin ausgerichtete (Fach-)Literatur existiert.26 Hinzu kommt, dass qualitativ-statistische Untersuchungen nur spärlich (und mitunter nichtrepräsentativ) aufzufinden sind.27 Als dritter Aspekt kann nochmals die subjektive Wahrnehmung beschrieben werden, dass sich auch die öffentliche Darstellung und Thematisierung, wie bereits deutlich werden konnte, vorwiegend auf die Patientenverfü26

27

Die einzige, bisher auffindbare Untersuchung, die einen spezifischen Fokus auf die Vorsorgevollmacht einnimmt, ist eine 2013 erschienene juristische Studie zur Komplementarität von Zivil- und Sozialrecht. Vgl. hierzu Beetz, Stellvertretung. Vgl. van Oorschot, Patientenverfügungen; Sommer, Patientenverfügungen, 577.

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1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie

gung beschränkt. Ersichtlich wird dies etwa darin, dass Ratgeber zur persönlichen Vorsorge oftmals zwar den Begriff der Vorsorgevollmacht aufführen, gleichwohl keine Reflexion oder Diskussion hierüber durchführen und so letztlich ausschließlich die Patientenverfügung im Fokus steht. Zudem tritt in der öffentlichen Darstellung, bei Zeitungsartikeln oder bei Informations- oder Veranstaltungsangeboten vorwiegend der Begriff der Patientenverfügung auf. Wegbereitend für die Arbeit wird also die Wahrnehmung und Aufarbeitung eines grundlegenden Dilemmas sein: Auf der einen Seite lässt sich eine gesellschaftliche Autonomieforderung, geradezu nach einem Selbstbestimmungsrecht, nachzeichnen. Hierauf scheint die Patientenverfügung in besonderem Maße zu reagieren. Auf der anderen Seite ist, auch nach jahrelanger öffentlicher Thematisierung, von keiner weiten Verbreitung verfasster Verfügungen auszugehen, was auf Schwierigkeiten in ihrem Umgang hindeutet. Hinzu kommt, dass die Vorsorgevollmacht als solche eher am Rande ihren Platz in der Debatte fand und findet, wenngleich ihr zur Patientenverfügung differenter Ansatz Potenzial zu bieten scheint. Beobachtungen zur jüngsten Entwicklung weisen eine leicht verschobene Tendenz auf. Scheinbar in gesteigertem Maße wird gegenwärtig, auch in öffentlichen Darstellungen oder im Kontext von Beratungen, auf Schwierigkeiten im Umgang mit der Patientenverfügung hingewiesen. Infolgedessen gewinnen Vorsorgevollmachten, weitere Varianten persönlicher Vorsorge oder Kombinationsmodelle diverser Dokumente zunehmend an Bedeutung. Beispielhaft sei diesbezüglich auf die Handreichungen der Bundesnotarkammer oder der Evangelischen Kirche in Deutschland verwiesen.28 Exemplarisch nachgezeichnet werden kann daran eine Tendenz zur Abkehr von der Patientenverfügung, die vormals im Vordergrund stand, hin zur Zunahme einer Unterstreichung der Wichtigkeit der Vorsorgevollmacht. Eine genauere Untersuchung wird im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlicher gewährt. Innerhalb dieser vorfindlichen Fragen offenbart sich die grundlegende Debatte zu Autonomie und Fürsorge, die eo ipso durch ein spezifisches Verständnis des Menschen gespeist wird: Ist der Mensch ein autonomes und solipsistisches Wesen oder kennzeichnet ihn die Beziehungshaftigkeit und ein Füreinander? Denn die Vorsorgevollmacht baut auf ein Miteinander und den Dialog sowie darauf, dass der Mensch nicht isoliert lebt. Sie ist damit in besonderer Weise theologisch zu reflektieren. Mithilfe der theologischen Anthropologie, 28

Vgl. beispielsweise Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge; Bundesnotarkammer, Selbstbestimmung; Bundesnotarkammer, Leben; Bundesnotarkammer, Jetzt schon; Bundesnotarkammer, Patientenverfügung.

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die ja gerade den Menschen in Sein und Aufgabe als Gegenstand hat und damit auf die interdisziplinäre Problemaufnahme zu reagieren vermag, wird aufzuzeigen sein, dass eine Wahrnehmung des Menschen als ontologisches, auf Relationen, also Beziehungen angelegtes Wesen Autonomie und Fürsorge zugleich impliziert und beide Aspekte in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Die Theologie wird folglich in der Arbeit eine entscheidende Perspektive auf die Thematik eintragen. Dass der Umgang mit Vorsorgedokumenten im Allgemeinen und der mit der Vorsorgevollmacht im Speziellen den Menschen in seiner ontologischen Relationalität, als von Gott geschaffenes Beziehungswesen, betrifft, ist eine Grundthese der Arbeit, auf der die zu entfaltenden Gedanken basieren. Explikation findet dies etwa darin, dass die Wirksamkeit der Vollmacht auf ein handelndes Gegenüber angewiesen ist. Aber auch der Beschäftigungsprozess mit der Materie gilt als Anlass zum Dialog, der in besonderer Weise zwischen Vollmachtgeber und Vollmachtnehmer zu führen ist, darüber hinaus aber auch weitere Mitmenschen und Vertraute oder fachliche Beratungsangebote einbeziehen kann. Zudem stehen zumeist Zustände des Älterwerdens oder des Krankseins im Zusammenhang der Einsetzung des Dokuments und entsprechend resultierenden Handlungen. Insbesondere von Vollmachtgeberseite aus treten hier Situationen stärker in den Vordergrund, in denen das Angewiesensein auf Andere und ein Miteinander (wieder) vermehrt in den Blick rücken. Gleichwohl wäre der Beziehungsprozess verkürzt wahrgenommen, würde er einseitig auf die Abhängigkeit einer hilfsbedürftigen Person beschränkt. Vielmehr ist eine reziproke Gegenseitigkeit im Miteinander der Beteiligten grundlegend, welche nicht auf ein stets symmetrisches Füreinander beschränkt bleiben kann. Folglich tangiert die Thematik um die Vorsorgevollmacht grundlegend die Beziehungen des Menschen und darüber hinaus das Verständnis des Menschen sui generis.29 Jenes Verständnis des Menschen unterliegt nicht zuletzt auch Wandlungen in der Zeit, die besonders in der Debatte um die Verankerung der Patientenverfügung die Tendenz hervorbringen, das isoliert-autonome Sein des Menschen zu betonen. Die Eingebundenheit ins bzw. der Bezug zum Betreuungsrecht wiederum deutet darauf hin, dass Leben und Sterben nicht ausschließlich solipsistisch zu verstehen sind, sondern dass Menschen in Beziehungen sind und sich darin das Personsein erhält und stärkt. Die vorfindliche Diskussion um Vorsorge und besonders zur Patientenverfügung ist mithin angetrieben von Ängsten des Aus29

Vgl. Kapitel V.1 – V.4.

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1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie

geliefertseins, etwa durch eine mächtig gewordene Medizin, die ihre Schranken nicht mehr zu kennen scheint, durch die Angst vor Behandlungen, die über jede empfundene Sinngrenze hinaus durchgeführt werden, oder durch die Furcht davor, Mitmenschen zur Last zu fallen.30 So zeigt sich eine Tendenz, bereits „allein den Zustand des Angewiesenseins auf andere [Menschen; d. Vf.] als ausreichenden Grund dafür zu nehmen, dieses Leben komplett abzulehnen.“31 Ins Abseits geraten dabei nicht selten die Kraft der Beziehung und die Möglichkeiten der Kommunikation, etwa in Form eines klärenden, gemeinschaftlichen Gesprächs mit Vertrauten. Auch fachkundige Beratung über medizinische Möglichkeiten und Strategien kann vorhandenen Ängsten entgegentreten.32 Eine Gesellschaft jedoch, die Autonomie im Sinne von Unabhängigkeit als eines ihrer höchsten Prinzipien definiert und dabei auch die geistig-kognitive Seite des Menschen als entscheidenden Maßstab benennt, steht in der Gefahr Wert und Würde des Menschen anhand dieser Fähigkeiten zu bemessen. Besonders die in ihrer Reichweite und Gültigkeit unbeschränkte Patientenverfügung kann das Credo vermitteln, den eigenen Tod Zuständen von Schwachheit und Krankheit vorzuziehen. Dabei sollte gefragt werden, wie human eine Gesellschaft, die ihre schwächsten Glieder nicht tragen will, tatsächlich ist.33 Nur im Vollbesitz aller Kräfte ein würdiger Mensch zu sein, vermittelt ein besorgniserregendes, da reduktionistisches Menschenbild. Zugleich zeigt sich, dass die Theologie in besonderem Maße zu diesen Fragen des Menschseins eine entscheidende, den Blick öffnende Perspektive eintragen kann, indem sie in der theologischen Anthropologie den Menschen als Beziehungswesen als von Gott erwählt, konstituiert und erhalten versteht. Die Frage nach Sein und Aufgabe des Menschen steht somit im Fokus der Reflexion zur Vorsorgevollmacht. 1.2 Die Vorsorgevollmacht aus theologischer Perspektive Angesprochen wurde, dass die Theologie durch ihre genuine Perspektive auf den Menschen ein entscheidender Gesprächspartner in medizinethischen Fragestellungen ist. Der Mensch ist von Gott als Bundespartner erwählt, konstituiert und erhalten und so als Beziehungswesen, in Relationen, geschaffen.34 Diese Perspektive, die hier Entscheidendes 30 31 32 33 34

Vgl. Klie, Patientenverfügung, 7ff.; Maio, Mittelpunkt Mensch, 353; 348; 366ff. Maio, Mittelpunkt Mensch, 366. Vgl. Maio, Die heilende Kraft der Begegnung, 58ff. Vgl. Maio, Mittelpunkt Mensch, 366ff. Vgl. Kapitel V.2.

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zur Erarbeitung der Thematik beitragen kann, ist insbesondere von Karl Barth durchdacht worden. Speziell innerhalb seiner Kirchlichen Dogmatik wird der Mensch als Beziehungswesen beschrieben, was schöpfungstheologisch grundgelegt ist und immer ausgehend vom wahren Menschen (und wahren Gott) Jesus Christus schließlich ein ausgewogenes Menschenbild zeichnet. Dabei wird die grundlegende, ontologische Beziehungsebene von Gott und Mensch in Jesus Christus ersichtlich, die zugleich die Würde dem menschlichen Verfügungsbereich entzieht und als gottgegeben versteht. Denn sie ist die von Gott aus Gnade und durch die Auszeichnung als Bundespartner zukommende Würde, die so an keine empirischen Eigenschaften des Menschen angebunden ist. Zugleich lässt dies den Menschen nicht in reiner Passivität verharren. Vielmehr entspricht der Beziehungsebene von Gott und Mensch ein in Beziehung Sein von Mensch und Mitmensch. Der Mensch ist gar dazu bestimmt, Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein. In der Auszeichnung des Menschen als Bundespartner Gottes liegt somit zugleich ein Gestaltungsauftrag, was als Ineinander von Sein und Handeln beschrieben werden kann. So ergibt sich die Perspektive, die zuerst auf Gottes Wort schauend schließlich in Entsprechung des Verhältnisses Gottes zum Menschen, welches in Jesus Christus ersichtlich wird, Konkretionen für Sein und Tun des Menschen beschreiben kann. Jene Grundlage wiederum zeigt Auswirkung auf das Verständnis von Autonomie und Fürsorge. Beide Aspekte begegnen so von Relationalität gekennzeichnet und von Wechselseitigkeit geprägt. Ein reziprok symmetrisches Verhältnis ist dabei nicht vorausgesetzt, vielmehr zeichnen sich Beziehungen durch ihre Asymmetrie aus. Auch die Verständnisse von Identität, Freiheit und Würde sind desgleichen von einem relationalen Verständnis des Menschen betroffen und werden so selbst als relationale, zuerst von Gott er- und gehaltene Größen zu diskutieren sein. Denn insbesondere der Diskurs mit der Patientenverfügung legt einen Bezug zur Frage nach Freiheit, Identität und Würde, vorrangig im Kontext von Krankheits- und Leidenssituationen, dar. Von all jenen Begrifflichkeiten geprägt wird ersichtlich werden, dass das Verständnis des Menschen als nicht isoliertes, zugleich aber individuelles Wesen in seinen Relationen Fortschritte für die vorliegende medizinethische Debatte sowie darüber hinaus zeigen kann. So ist vorausgesetzt, dass die zu erarbeitenden anthropologischen Erkenntnisse nicht ausschließlich auf Umgangssituationen mit Vorausverfügungen zu begrenzen sind, sondern vielmehr einen Konnex zum Verständnis des Menschsein aufweisen.

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1. Die Vorsorgevollmacht als Herausforderung der Theologie

Dieser Hintergrund verdeutlicht außerdem, warum gerade die theologische Anthropologie für den Diskurs zur Vorsorgevollmacht fruchtbar ist. Infolge der vorausgegangenen äußeren Betrachtung der Vorsorgevollmacht ist bereits ersichtlich, dass ihre Gestaltung grundlegend dialogisch ist und hier (mindestens) Vollmachtgeber und Vollmachtnehmer in eine Beziehung, eine Relation, eintreten. Die relationale Anthropologie wiederum beleuchtet das Verhältnis von Gott und Mensch sowie von Mensch und Mitmensch konzeptionell und lässt aus dieser spezifischen Perspektive ein fundiertes Verstehen des Sachverhalts sowie ein Weiterkommen innerhalb vorhandener Dissense erwarten. Mithilfe der theologischen Anthropologie und basierend auf einer interdisziplinären Wahrnehmung der Thematik ist in einen dialogischen Prozess einzutreten, welcher über die Grenzen der theologischen Wissenschaft hinaus zum Diskurs einlädt. Normative Dogmen hervorzubringen ist folglich kein definiertes Ziel dieser Arbeit. Zugleich wird dem Wirklichkeitsanspruch theologischer Aussagen entsprochen, indem keine unmittelbare Gleichsetzung oder Transferierung auf säkulare Aspekte hin erfolgt. Vielmehr ist durch eine fundiert-stringente theologische Argumentation ein in sich schlüssiges Begründungsfundament aufzubauen. Schließlich kann so zur interdisziplinären Diskussion eingeladen werden und es zeigt sich der Gehalt für die Praxis.35 „Die Theologie bedarf also einer eigenen Sprache und Hermeneutik, um ihrem Gegenstand, dem Worte Gottes, in seiner Fülle gerecht zu werden; und dies um so [sic!] mehr, als selbst diese, der Theologie eigene Sprache immer nur ein Nachbuchstabieren, ein Nachsprechen dessen sein kann, was ihr in der Fülle des Wortes Gottes erschlossen ist.“36

So nimmt die Theologie die Herausforderung um die Thematik der Vorsorgevollmacht an und trägt eine eminente Sichtweise ein. Denn ihr inhäriert ein ganzheitlicher Blick auf den Menschen, dessen Sein sich als grundlegend relational erweist und als Sein in der Begegnung beschrieben werden kann. Ein solches Verständnis von Sein und Begegnung kann asymmetrischen Strukturen standhalten. Für den Umgang mit der Vorsorgevollmacht hat jene Perspektive besondere Relevanz, da dieses Instrument geradezu als weltliche Entsprechung dieses Seins des Menschen begegnet und so relationale Autonomie und relationale Fürsorge in Wechselseitigkeit gewährt und wahrt. 35 36

Vgl. Plasger, Einladende Ethik. Becker, Sein, 15.

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Die Anforderung der Arbeit liegt demgemäß darin, einen Beitrag zu leisten, den Menschen als Beziehungswesen, und so in relationaler Autonomie sowie in relationaler Fürsorge, wahrzunehmen. In praktischer Konkretion zum Diskussionsfeld des Vorsorgens und der Vorausverfügungen wird in der Arbeit der Blick dahingehend geweitet, sich nicht prospektiv, also vor Eintritt eines möglichen Zustandes, einer antizipierten Tragik einer Situation zu ergeben, sondern die tragende und gestaltende Kraft des Seins in der Begegnung sichtbar zu machen und dabei den Menschen und so auch das Leben als von Gott konstituiert, erhalten und gehalten – als dynamisches Geschehen und gelebte Geschichte – wahrzunehmen.

2. Aufbau und Methodik der Arbeit Die Herausforderung, der sich die theologische Anthropologie innerhalb dieser Arbeit für die Thematik um die Vorsorgevollmacht stellt, ist vorausgehend verdeutlicht worden. Unterstrichen wurde zudem die Wichtigkeit einer interdisziplinären Herangehensweise. Besonderes Augenmerk liegt auf der durch die theologische Anthropologie eingenommenen Perspektive, welche in entscheidender Weise die Wahrnehmung des Problemfeldes beeinflusst. Dabei wird der Mensch auf der Grundlage des Wortes Gottes verstanden, wie es in Jesus Christus begegnet.37 So zeigt es sich als Aufgabe, die vorliegende Thematik aus dieser spezifischen Perspektive wahrzunehmen, welche zudem von einer multiperspektivischen Aufarbeitung des Problemfeldes eingeleitet und begleitet wird. Berücksichtigt werden muss dabei, dass der interdisziplinäre Anspruch stets von der Theologie geprägt bleibt, und somit keine genuine Innenperspektive der entsprechenden Disziplin vorliegt.38 „Alle Erkenntnis, und somit jedes Urteil, ist von der Perspektive abhängig, in der wir die Dinge sehen. Eine perspektivlose Sicht gibt es nicht, ebenso wenig wie eine Perspektive, aus der wir unsere Perspektive sehen und objektiv beurteilen können. “39 So ist es insbesondere die interdisziplinäre Betrachtungsweise, die die ersten Kapitel der Arbeit als Hinführung zur Problematik prägt. Vorgestellt werden dabei einleitend im Abschnitt II die Gegenstände der Arbeit sowie die unweigerlich für die spätere Diskussion vorausgesetzte Kenntnis im Themenfeld auftretender Rahmenbedingungen. Dabei werden zuvörderst die (juristischen) Vorgaben zum Betreuungsgesetz 37 38 39

Vgl. Becker, Sein, 19. Vgl. Härle, Ethik, 453f.; Lachmann, Ethische Urteilsbildung, 18. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 55.

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2. Aufbau und Methodik der Arbeit

und der gerichtlichen Betreuung als vorhandener Bezugspunkt vorgestellt und ihre Verbindung zu den Varianten der privaten Vorsorge sowie ihre spezifischen Eigenarten aufgezeigt. Besonderer Fokus wird auf die Erläuterung der Vorsorgevollmacht (Kapitel II.3) und ebenso der Patientenverfügung (Kapitel II.5) gelegt. Wie bereits in den vorausgegangenen Kapiteln ersichtlich wurde, steht die Forderung nach der Selbstbestimmung und einem Selbstbestimmungsrecht und damit ein Streben nach individueller Autonomie in der Gesellschaft in starker Kohärenz zur grundlegenden Thematik der Gewichtung bzw. einer Verhältnisbestimmung von Autonomie und Fürsorge. Die vorhandenen Vorgaben und stattfindenden Tendenzen zu der Begrifflichkeit der Selbstbestimmung sind Thema in Kapitel II.9. Darüber hinaus muss notwendigerweise eine Abgrenzung von angrenzenden und unweigerlich im Zusammenhang anzusprechenden Themenfeldern erfolgen. Gleichwohl würde es eine unzulängliche Verkürzung darstellen, blieben jene unberücksichtigt. Folglich werden derartige Themenfelder, die in der thematischen Diskussion etwa begrifflich tangiert werden, exkursartig in Kapitel II.10 behandelt. Realisiert wird insofern, dass die jeweiligen zugrunde liegenden Diskussionen wenigstens in Grundzügen nachgezeichnet werden. All jene einführenden ersten Kapitel sind notwendig, um den Gegenstand der Arbeit zu definieren und wichtige im Kontext auftretende Begrifflichkeiten zu umreißen. „Sichtung, Wahrnehmung und Klärung von Sachverhalt und Situation und [. . . ] Identifizierung des ethischen Problems “40 kennzeichnen den Einstieg in die vorliegende Untersuchung. Die thematische Diskussion wird sodann im Abschnitt III als Situationsanalyse, die die Genese der geführten Debatten in den Blick nimmt, vorbereitet. Dass die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Fürsorge bereits hier als grundlegend erkannt werden kann, steht im Fokus. Dabei ist eingangs in den Kapiteln III.1 und III.2 abzubilden, von welchen vorausgehenden Entwicklungen die vorherrschende Situation um Vorsorgedokumente sowie zum Betreuungsrecht maßgeblich beeinflusst ist. Es zeigt sich etwa, dass die stattfindende Autonomieforderung als Resultat der Abkehr vom vormalig paternalistisch geprägten Vormundschaftsrecht zu interpretieren ist und die persönliche Vorsorge in Resonanz dieser Entwicklung an Bedeutung gewinnt. Die Nachzeichnung der vorausgegangenen Debatte zur rechtlichen Verankerung der Patientenverfügung (Kapitel III.3) offenbart daraufhin, dass jene sowohl im rechtspolitischen Kontext als auch in Stellungnahmen von Kirche, Medizin oder der pflegerischen Praxis um die Frage einer 40

Lachmann, Ethische Urteilsbildung, 18.

I. Einleitung

17

Gewichtung von Autonomie und Fürsorge – der Grundproblematik der Arbeit – kreist. Im Anschluss daran fordern die vorhandenen Dissense zum Themengebiet dazu auf, die vorfindlichen, an die Patientenverfügung herangetragenen Problematiken deskriptiv darzustellen sowie darüber hinaus ihre resultierenden und denkbaren Auswirkungen aufzuzeigen. Die grundlegende Verbindung zu theologischen Fragen ist an vielen Stellen offenkundig, was sich etwa an der Frage nach der Würde des Lebens verdeutlicht. Das Kapitel III.5 wird diese Aspekte entsprechend bearbeiten, sodass schließlich die theologische Relevanz der Thematik eindeutig vor Augen steht. Um für die folgenden Untersuchungen eine geeignete Argumentationsbasis herzustellen, werden in einem vorangestellten Zwischenschritt der Begriff Autonomie und sein inneres Verständnis analysiert. Hierbei wird infolge einer etymologischen sowie semantischen Betrachtung dahin geführt, dass bereits begrifflich eine relationale Struktur zugrunde liegt. Aufgegriffen wird dieser Aspekt in weiterer Tiefe durch eine theologische Aufarbeitung, welche sodann den Autonomie-Begriff als relationale Autonomie verdeutlicht. Diese Schärfung des Terminus, wozu einerseits bereits die im Voraus dargestellten Debatten herausfordern, dient als Abschluss des Abschnitts III. Andererseits wird dieses Grundverständnis dann notwendig sein, um die im Folgenden herangezogenen theologischen Positionen argumentativ, speziell im Blick auf ihr spezifisches Autonomie-Verständnis, befragen zu können. Hauptteil der Arbeit ist der Abschnitt IV, welcher die theologisch-ethischen Positionen der den Diskurs maßgeblich beeinflussenden Theologen Ulrich Eibach und Hartmut Kreß analysiert. Beide verkörpern den Grunddissens um Fürsorge und Autonomie exemplarisch – wenngleich sie sich vorwiegend auf die Patientenverfügung beschränken. Folglich sind es gerade diese beiden Positionen, deren Untersuchung für die Thematik der Arbeit einen entscheidenden Beitrag leistet, zumal bisher keine spezifisch-theologische Reflexion der Vorsorgevollmacht aufzufinden ist. Zu fragen ist, wie Eibachs und Kreß´ Argumentationen insbesondere theologisch aufgebaut sind und welche Schlüsse sich sodann ziehen lassen. Explikation findet schließlich, dass beide Theologen je auf ihre Weise ein verkürztes und vereinseitigendes Menschenbild zeichnen, sodass sie entweder den Aspekt der Fürsorge oder den der Autonomie verabsolutieren. Diese in beiden Positionen auffindbare reduktionistische Tendenz ist entsprechend kritisch anzufragen. Sie zeigt auf, dass, wie vormals in interdisziplinärer Perspektive, auch in der theologischen Ethik und damit im öffentlichen Diskurs als theologische Meinung mitunter verkürzte, argumentativ anzufragende Hal-

18

2. Aufbau und Methodik der Arbeit

tungen vertreten sind. Infolge dieser Aufarbeitung ist der Weg bereitet, nun herausstellen zu können, dass es den in den Diskurs eingebrachten Menschenbildern zumeist entweder an einer Beachtung der Subjekthaftigkeit des Menschen oder aber an einer Wahrnehmung seiner Sozialität fehlt – folglich seine Relationalität nicht grundgelegt ist. Schon bei der Klärung des Autonomie-Begriffs deutet ein Rückgriff auf Karl Barth an, dass relationale Anthropologie über jene reduktionistischen Tendenzen im Verständnis des Menschen hinausführt. Infolgedessen wird innerhalb der Diskussionen zu Eibach und Kreß bereits Karl Barths Ansatz mit ins Gespräch gebracht, da dieser eine Hilfe für einen verbindenden und weiterführenden Weg bietet. Im abschließenden Abschnitt V wird die im Voraus bereits angedeutete Relationalität weiter skizziert und schließlich als Spezifikum der Vorsorgevollmacht gekennzeichnet. Ethische Konsequenzen und praktische Implikationen konkretisieren folglich die vorausgegangenen Entfaltungen des Themengebiets auf die Vorsorgevollmacht und den Umgang mit diesem Instrument hin. Notwendig erscheint es dafür, die auch schon in den vorausgegangenen Analysen und Diskussionen eingebrachte relationale Anthropologie als existierendes Moment genauer zu kennzeichnen. Hierfür bearbeitet zuerst das Kapitel V.2 eine Skizze relationaler Anthropologie in Anlehnung an Karl Barth und Dominik A. Becker. Aufgezeigt wird dabei, inwiefern relationale Anthropologie beide vorgebrachten Anliegen Ulrich Eibachs sowie Hartmut Kreß´ integriert und zugleich ihre jeweiligen Reduktionen überschreitet. Die Beachtung der Relationalität statuiert den Mehrwert für das Themengebiet – gerade für seine Praxistauglichkeit. Zugleich kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, ein weiteres, drittes Modell umfassend zu analysieren, sondern vielmehr darauf zurückzugreifen, dass das Barthsche Konzept – insbesondere in der Interpretation Dominik A. Beckers – als verbindendes Element, welches zugleich über herausgestellte Vereinseitigungen hinausführt, als solches schon aufzufinden ist. Insofern dient das Kapitel V.2 dazu kurz die Grundlage der Barthschen Perspektive, die den ganzen Menschen in seinen Relationen wahrnimmt, für weitere Konkretionen zu skizzieren. Ein Gehalt dieser die vorfindlichen Positionen Eibachs und Kreß´ verbindenden und weiterführenden Perspektive in Verbindung mit dem Thema der Arbeit, speziell zur Vorsorgevollmacht, wird sodann in Kapitel V.3 aufzuzeigen sein. Ein Verständnis von relationaler Autonomie und relationaler Fürsorge im Modus der Wechselseitigkeit ist dabei grundlegend.41 Praktische Implikationen der relationalen Anthropologie und 41

Vgl. Kapitel V.3.3.

I. Einleitung

19

Ethik für die Vorsorgevollmacht exemplarisch darzustellen ist Aufgabe des die Arbeit inhaltlich abschließenden Kapitels V.4. Aufzuzeigen ist hier, warum gerade die Vorsorgevollmacht die Bedingungen der relationalen Anthropologie erfüllt, welche spezifischen Schwierigkeiten zu bedenken sind und auf welche Weise Eibachs und Kreß´ Positionen integrierend überboten werden. Das abschließende Votum als einladende Ethik42 statuiert nochmals die Bedeutung der Aufarbeitung – auch und besonders für den interdisziplinären Diskurs. Dabei ist zu bedenken, dass das (juristische) Dokument der Vorsorgevollmacht nicht (theologisch) verklärt werden soll. Vielmehr zeigt die Untersuchung auf, dass jenes dem entwickelten relationalen Menschenbild entspricht und somit theologisch in besonderer Weise Legitimierung erfahren kann. Entscheidend ist dabei, dass die Vorsorgevollmacht auf Dialog und Begegnung aufbaut. Die Theologie nimmt die Thematik der Vorsorgevollmacht als Herausforderung wahr und geht bei der Untersuchung von ihrer genuinen Perspektive, den Menschen im Lichte des Wortes Gottes wahrzunehmen, aus. Die Struktur der Arbeit ermöglicht somit, aus theologischanthropologischen Überlegungen heraus ethische Implikationen zu entwickeln. Folglich zeigt sich eine Zusammengehörigkeit von Dogmatik und Ethik.43 Unter Bezugnahme auf Heinz Eduard Tödt kann hier von reziproken Implikationen gesprochen werden.44 Methodisch ist eine iterative Annäherung an die Thematik kennzeichnend: Ausgehend von der begrifflichen Beschreibung der Gegenstände der Arbeit wird aus geschichtlicher sowie divers interdisziplinärer Blickrichtung der Fokus auf die Grundproblematik des Verhältnisses von Autonomie und Fürsorge gelegt, wobei stets der persistierende Bezug zur Theologie aufgezeigt wird. Die Analyse vorhandener theologischer Modelle und Argumentationsweisen verweist schließlich auf die die Diastasen überwindende relationale Anthropologie. Dabei orientiert sich die Methodik der Arbeit in vielen Schritten an dem von H. E. Tödt45 entwickelten Schema sittlicher Urteilsfindung, indem – wie bereits beschrieben – in den ersten Schritten das Problem gezielt wahrgenommen wird und eine Situationsanalyse zum Grunddissens von Autonomie und Fürsorge erfolgen soll. Im Anschluss hieran stehen mögliche Verhaltensalternativen im Zentrum. Kernstück dieser Arbeit stellt 42 43

44 45

Vgl Plasger, Einladende Ethik. Eine intensivere Auseinandersetzung zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik erfolgt in Kapitel IV.3.1.1.1. Vgl. Tödt, Perspektiven, 15. Vgl. Tödt, Perspektiven, 21–48.

20

2. Aufbau und Methodik der Arbeit

die Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven dar: Theologische Konzeptionen werden dargelegt und diskutiert, woraufhin schließlich der Urteilsentscheid getroffen werden kann. „Das Schema kann voraussetzen, aber braucht – als sachlogische, nicht psychologische Gliederung – nicht zu berücksichtigen, daß die faktische Urteilsbildung in aller Regel ein iterativer Prozeß sein dürfte, in welchem die einzelnen Sachmomente des gedanklichen Urteilsverlaufs mehrfach und in verschiedener Reihenfolge ins Spiel kommen und durch ihre wechselseitige Beleuchtung immer schärfer herausgearbeitet werden, bis es zum Urteilsentscheid kommt. “46

Diskussionen und Anfragen leiten den Weg zum angestrebten ethischen Urteil. Es geht gewissermaßen um ein – mit Reiner Lachmann gesprochen – „Zweifeln [. . . ] und Ringen um das rechte, das sach- und menschengerechte ethische Urteil, das argumentativ überzeugend verantwortet werden muss “47 .

46 47

Tödt, Perspektiven, 29. Lachmann, Ethische Urteilsbildung, 15.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

Zentrale Begrifflichkeiten, die unmittelbar in Verbindung mit der Vorsorgevollmacht bzw. mit dem Themenbereich der (Gesundheits-)Vorsorge in toto stehen, sollen in diesem in die Gegenstände der Arbeit einführenden Kapitel erläutert und voneinander abgegrenzt werden. Im weiteren Verlauf werden sich Rückgriffe zeigen, welche dann die entsprechenden Topoi sowie ggf. bestehende Dissense als bekannt voraussetzen können. Auch die Begriffe Betreuungsverfügung und Generalvollmacht begegnen in engem Zusammenhang zur Vorsorgevollmacht. Herausgefordert ist sodann, Kennzeichen und Unterschiede der entsprechenden Verfügungs- und Vorsorgearten, auch unter Tangierung der rechtlichen Situation in Deutschland1 , zu schildern.

1. Das Betreuungsgesetz und die gerichtliche Betreuung Während in Vergangenheit bei medizinischen Entscheidungssituationen, die etwa einen äußerungs- und entscheidungsunfähigen Patienten betreffen, teils automatisch Familienangehörige wie Ehepartner oder volljährige Kinder über das weitere Vorgehen verfügen konnten, so stellt dies heute i. A. kein rechtsgültiges Tun dar. Dennoch ist diese Vorstellung, dass nahestehende Personen im Bedarfsfalle entscheiden können, in der deutschen Gesellschaft nach wie vor verankert – und auch gängige Praxis und gültiges Recht differieren mitunter. Dass Entscheidungen oder Einwilligungen zum medizinischen Vorgehen gar nicht oder nicht komplett selbstständig getroffen werden können, kann Resultat von Krankheits- oder Alterungsprozessen sowie von Unfäl1

Im Wissen darum, dass sich das gesamte Themenfeld insbesondere mit seinen angrenzenden Diskussionsbereichen komplex zeigt, wird sich die vorliegenden Arbeit des Umfangs wegen hauptsächlich auf die Situation in Deutschland begrenzen müssen. Gleichwohl würde besonders im Hinblick auf den Umgang mit der Patientenverfügung eine vergleichende Aufarbeitung der Situationen etwa der Nachbarländer Schweiz und Österreich oder auch der USA eine weitere Erkenntnisquelle darstellen. Desgleichen kann zum Diskussionsfeld Sterbehilfe bzw. Euthanasie nur knapp auf die legeren Regelungen etwa der Niederlande sowie in Belgien verwiesen werden.

22

1. Das Betreuungsgesetz und die gerichtliche Betreuung

len sein. Das Eintreten solcher Situationen ausschließlich auf ein hohes Lebensalter zu verorten, entspricht nicht der lebensweltlichen Realität. Auch junge Menschen erfahren solche Situationen beispielsweise infolge eines Unfalls oder einer plötzlichen Krankheit (auch psychischer Art).2 In derartigen Fällen wird relevant, dass das deutsche Rechtssystem keine automatische Zuschreibung der Zuständigkeiten vorsieht. Eine Ausnahme ergibt sich bei minderjährigen Kindern, für die Eltern bzw. Erziehungsberechtigte die rechtliche Vertretungsmacht innehaben. Handlungsvorgaben für Situationen der Äußerungs- und Entscheidungsunfähigkeit, der Unfähigkeit, die eigenen Belange vollständig oder in Teilen regeln zu können oder die Notwendigkeit einer Betreuung werden vom Betreuungsrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt. Hierzu ist das Betreuungsgesetz vom 12. September 1990 inklusive des Ersten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes, welches am 1. Januar 1999 zur Stärkung der privaten Vorsorge in Kraft trat, und des Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes (am 18. März 2005 verabschiedet) zu betrachten. Dieses erneute Änderungsgesetz entstand als Reaktion auf hohe Betreuungskosten und der daraus resultierenden starken Belastung der Haushalte der Länder und stärkt zudem das Selbstbestimmungsrecht.3 Das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts, seit dem 1. September 2009 in Kraft, implementiert selbstbestimmte Vorsorge durch Regelungen zur Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht in das Betreuungsrecht.4 In Abgrenzung zum vormaligen Vormundschaftsrecht5 wird diese Entwicklung nicht selten positiv bewertet: „Das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz – BtG) vom 12. September 1990 [. . . ] hat erhebliche Verbesserungen für erwachsene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die früher unter Vormundschaft oder Gebrechlichkeitspflegschaft standen, gebracht.“6

Ziel ist dabei der Vollzug eines Wandels weg von Entmündigung und Vormundschaft hin zur „Rechtsfürsorge zum Wohl des betroffenen 2 3

4

5 6

Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 3. Vgl. http://www.bmj.bund.de/enid/290db2c29c55ed07a8c89335100c6a8d,33d0e45 f7472636964092d0933303334/Familienrecht/Betreuungsrecht_kx.html, Stand: 15.12.2010. Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 6. Für eine Begriffsbestimmung zur Patientenverfügung sowie zur Vorsorgevollmacht sei auf Kapitel II.3 und II.5 verwiesen. Eine Erläuterung dessen erfolgt in Kapitel III.1. BMJ, Betreuungsrecht, 6.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

23

Menschen“7 . Sofern eine volljährige Person infolge von Krankheit oder Behinderung psychischer, geistiger, körperlicher oder seelischer Art (§ 1896 Abs. 1 BGB) die eigenen Belange vollständig oder teilweise nicht mehr selbstständig erledigen kann und auf fremde Hilfe und Fürsorge angewiesen ist, zudem keine Vorsorgevollmacht für diesen betroffenen Lebensbereich verfasst hat, wird vom Betreuungsgericht von Amts wegen oder auf eigenen Antrag ein Betreuer bestellt, „der in einem genau festgelegten Umfang für sie handelt.“8 Der Wille der Person verdient laut Gesetz Beachtung, einerseits in dem Sinne, dass gegen den freien Willen einer Person kein Betreuer bestellt werden darf (§ 1896 Abs. 1 a BGB), andererseits, um etwa Behandlungsentscheidungen am Willen der Person auszurichten (§ 1901 – § 1901 c BGB). Die Beachtung persönlicher Wünsche im Rahmen des Wohls des Betreuten wird in diesem Kontext als Berücksichtigung und Aufrechterhaltung des Selbstbestimmungsrechts einer Person interpretiert.9 1.1 Die gerichtliche Bestellung eines Betreuers Eine Betreuerbestellung kann bei vorliegender Notwendigkeit10 und meist nach Prüfung durch ein Sachverständigengutachten für verschiedene Bereiche erfolgen, wie beispielsweise für Vermögens-, Rentenoder Wohnungsangelegenheiten, aber auch zur Gesundheitsfürsorge und zu Fragen des Aufenthalts.11 Die Bestellung erfolgt auf (eigenen) Antrag (z. B. bei körperlicher Behinderung) oder auch von Amts wegen 7 8 9

10

11

BMJ, Betreuungsrecht, 6. BMJ, Betreuungsrecht, 6. Vgl. BGB, § 1901 Abs. 2f.; BMJ, Betreuungsrecht, 6f. Für eine Erläuterung des sog. Selbstbestimmungsrechts siehe Kapitel II.9. Notwendigkeit besteht nach § 1896 BGB, sofern eine Person aus psychischen, körperlichen, geistigen oder seelischen Gründen die eigenen Angelegenheiten ganz oder in Teilen nicht mehr besorgen kann. Sobald ein solcher Zustand eintritt, wird nach geltendem Recht i. A. eine Betreuung eingerichtet. In dem Fall, dass eine Vorsorgevollmacht im Vorhinein für den entsprechenden Bereich übergeben wurde, tritt der Vollmachtnehmer als rechtmäßiger Vertreter ein und die rechtliche Betreuung erübrigt sich. Zudem gilt der § 1896 Abs. 1 a BGB. Folglich darf ein Betreuer nicht gegen den freien Willen einer volljährigen Person bestellt werden. Was genau der freie Wille einer Person ist, begegnet an dieser Stelle interpretationsoffen. Verwehrt sich also die Person, die ihre Angelegenheiten ganz oder in Teilen nicht mehr besorgen kann gegen die gerichtliche Betreuung, so kann auch kein Betreuer zugewiesen werden. In Zuständen der Äußerungsunfähigkeit, wie beispielsweise im Koma, ist diese Rechtsausübung den Umständen entsprechend nicht mehr möglich. Insofern erfolgt hier die Betreuerbestellung nach geltendem Recht, sofern keine Vorsorgevollmacht die Bestellung unnötig macht. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 7.

24

1. Das Betreuungsgesetz und die gerichtliche Betreuung

(z. B. bei Entscheidungs- und Äußerungsunfähigkeit).12 Ferner können gemäß § 1899 BGB auch mehrere Betreuer für denselben oder je eigene Aufgabenbereiche bestellt werden. Sind sie für den gleichen Zuständigkeitsbereich eingesetzt, dürfen sie nur gemeinsam agieren, sofern hiermit keine Gefahr durch einen möglichen Aufschub für den Betreuten verbunden ist. Darüber hinaus können mehrere Betreuer auf die Weise bestellt werden, dass sie sich bei Verhinderung gegenseitig vertreten können.13 Sind Vorschläge oder Wünsche zur Auswahl des Betreuers im Vorhinein getätigt worden (z. B. in Form einer Betreuungsverfügung14 ), werden diese möglichst berücksichtigt. § 1897 BGB regelt die durch Betreuungsgerichte initiierte Bestellung einer natürlichen Person, „die geeignet ist, in dem gerichtlich bestimmten Aufgabenkreis die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen und ihn in dem hierfür erforderlichen Umfang persönlich zu betreuen.“15 Auch Mitarbeiter in Betreuungsvereinen oder -behörden können mit ihrer Einwilligung bestellt werden.16 Personen, die zu einer Anstalt, einem Heim oder einer anderen Einrichtung, in der die zu betreuende Person untergebracht ist, in einem Abhängigkeitsverhältnis oder einer engen Beziehung stehen, dürfen hingegen nicht bestellt werden.17 Generell wird vorzugsweise ein Wunsch des Betreuten für seinen zu bestellenden Betreuer berücksichtigt. Falls kein solcher Wunsch eruiert werden kann, sollen ferner innerfamiliäre und verwandtschaftliche Verhältnisse bei der Betreuerauswahl berücksichtigt werden – auch unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Interessenkonflikts. Berufsbetreuer sollten, sofern sich ein geeigneter ehrenamtlicher Betreuer (meist ein Familienangehöriger) findet, möglichst nicht eingesetzt werden.18 Der finanzielle Aspekt ist somit ein weiterer Grund dafür, vorrangig Familienangehörige als Betreuer zu bestellen.19 Gleichwohl wächst in der deutschen Gesellschaft der Anteil der Menschen, die weit entfernt von Verwandten und Bekannten oder auch sozial vollkommen alleinstehend leben. In solchen Fällen stehen Betreuungsvereine oder Berufsbetreuer zur Seite, die die Aufgabe der Betreuung übernehmen. Eine Konsequenz dessen kann sein, dass jene Personen selten im Vorhinein 12 13 14 15 16 17 18 19

Vgl. BGB, § 1896 Abs. 1. Vgl. BGB, § 1899. Näheres hierzu ist in Kapitel II.2 erläutert. BGB, § 1897 Abs. 1. Vgl. BGB, § 1897 Abs. 2. Vgl. BGB, § 1897 Abs. 3. Vgl. BGB, § 1897 Abs. 5ff. Vgl. Thüringer Justizministerium, Wie vorsorgen, 33.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

25

persönlich bekannt sind und so keine Gelegenheit hatten bereits eine Beziehung zueinander aufzubauen. § 1898 BGB formuliert eine Übernahmepflicht der gesetzlichen Betreuung: „Der vom Betreuungsgericht Ausgewählte ist verpflichtet, die Betreuung zu übernehmen, wenn er zur Betreuung geeignet ist und ihm die Übernahme unter Berücksichtigung seiner familiären, beruflichen und sonstigen Verhältnisse zugemutet werden kann.“20 Für die Feststellung dieser Eignung gibt es keine fest definierten Kriterien, außer, dass der Betreuer den betroffenen Menschen im erforderlichen Umfang betreuen kann und ihm die Übernahme zumutbar ist.21 Es steht eine Prüfung im Einzelfalle an. Eine wichtige zu leistende Aufgabe des Betreuers ist also die Aufnahme der persönlichen Betreuung, etwa durch Zuwendung.22 Die Bestellung zum Betreuer setzt nach § 1898 Abs. 2 BGB die Einwilligung des Ausgewählten voraus. Schwerwiegende Sachverhalte bedürfen besonderer Umstände der Betreuung. Beispielsweise ist aufgrund des weitreichenden Eingriffs in die körperliche Integrität für eine Entscheidung über die Einwilligung in eine Sterilisation ein gesonderter Betreuer zu bestellen.23 Bei erheblichem Betreuungsaufwand, der durch die Betreuung von einer oder mehreren Personen nicht gewährleistet werden kann, können nach § 1900 BGB gerichtlich auch Betreuungsvereine oder sogar die zuständige Behörde bestellt werden, welche wiederum die Betreuung auf einzelne Personen weiterverteilen.24 Aus Gründen der „Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten“25 kann das Gericht gemäß § 1903 BGB einen Einwilligungsvorbehalt beschließen. Hierdurch wird eine Einwilligung des Betreuers in den entsprechenden Bereichen generell notwendig, etwa weil von einer freien Willensbestimmung des Betreuten nicht auszugehen ist. Sofern die Voraussetzungen für eine Betreuung nicht mehr erfüllt sind, ist nach § 1908 d Abs. 1 BGB die Betreuung aufzuheben. Gemäß der Empfehlung des Bundesministeriums der Justiz26 (BMJ) ist nach spä20 21 22 23 24 25 26

BGB, § 1898. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 11. Vgl. BGB, § 1897 Abs. 1. Vgl. BGB, § 1899 Abs. 2. Vgl. BGB, § 1900. BGB, § 1903 Abs. 1. Obwohl die aktuelle Bezeichnung des Ministeriums korrekt mit Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) wiedergegeben werden müsste, wird in dieser Arbeit von dieser Bezeichnung abgewichen, indem der vorherige Name Bundesministerium der Justiz (BMJ) Verwendung findet. Die Begründung dafür ist

26

1. Das Betreuungsgesetz und die gerichtliche Betreuung

testens sieben Jahren die Verlängerung oder Aufhebung der gerichtlichen Betreuung zu prüfen.27 1.2 Pflichten und Rechte des Betreuers Ein gerichtlich bestellter Betreuer muss allen Erfordernissen nachkommen, um die Angelegenheiten des Betreuten nach dessen Wohl zu besorgen. Zu wahren sind dabei etwa Möglichkeiten zur Lebensgestaltung im Sinne des Betreuten, oder die Entsprechung seiner Wünsche, sofern dies zuzumuten ist. Ebenso muss sich die Vertretungsperson um mögliche Beibehaltung und Besserung der Gesundheitssituation des Betreuten bemühen.28 Werden Umstände ersichtlich, die die Aufhebung der Betreuung oder die Einschränkung bzw. Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers rechtfertigen, so hat dieser das Betreuungsgericht darüber in Kenntnis zu setzen.29 Für die gerichtliche und außergerichtliche Vertretung ist der Betreuer nach § 1902 BGB ebenso verpflichtet. Der Umfang des Aufgabenkreises ergibt sich aus der Erforderlichkeit, in welchen Bereichen ein Betreuter seinen Aufgaben, Interessen und Belangen nicht mehr nachkommen kann. Eine Aufgabe des Betreuers innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs ist gemäß § 1897 Abs. 1 BGB auch stets die persönliche Betreuung, die den persönlichen Kontakt mit einschließt. Ein gerichtlicher Betreuer hat auf Grundlage der Darstellungen des Bundesministeriums der Justiz ferner die Aufgabe, mindestens einmal jährlich dem Betreuungsgericht über Verlauf und Entwicklung der persönlichen Betreuung sowie über das Verhältnis zum Betreuten Auskunft zu geben.30 Grundsätzlich sind insbesondere im medizinischen und gesundheitsfürsorglichen Bereich stets Patientenwille, Behandlungswünsche oder mutmaßlicher Wille einer Person zu wahren, auch wenn ein Betreuer zur Seite gestellt wurde. Zur Ermittlung derartiger persönlicher Vorstellungen soll nahen Angehörigen und anderen Vertrauenspersonen des Betreuten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden.31 Zudem ist stets vor der Einwilligung in eine medizinische Maßnahme zu prüfen,

27 28 29 30 31

einerseits, dass in Vergangenheit diverse Namensänderungen durchgeführt wurden und so eine gewisse Einheitlichkeit gewährleistet werden soll. Andererseits gehen etliche, hier herangezogene Quellen auf den Herausgeber BMJ zurück, sodass auch so eine gewisse Stringenz gewahrt ist. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 9. Vgl. BGB, § 1901. Vgl. BGB, § 1901 Abs. 5. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 13. Vgl. BGB, § 1901 b.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

27

ob der Betreute selbst einwilligungsfähig ist und insofern die Zustimmung oder die Ablehnung erteilen kann. Als einwilligungsfähig gilt, wer „Art, Bedeutung und Tragweite der beabsichtigten Maßnahme erfassen und seinen Willen hiernach bestimmen kann.“32 Liegt eine Einwilligungsfähigkeit des Patienten nicht vor, so entscheidet der Betreuer entweder auf Grundlage einer vorliegenden Patientenverfügung33 oder anhand des zu eruierenden mutmaßlichen Patientenwillens34 , ggf. mit Genehmigung des Betreuungsgerichts bei einer für den Betreuten durch die anstehende Maßnahme bestehenden Gefahr.35 Die Pflichten des Betreuers werden im Betreuungsrecht, besonders im § 1901 BGB explizit benannt und sind in weiterer Interpretation, etwa durch das BMJ, auffindbar. Weniger deutlich statuiert sind Rechte des Betreuers, die ihm mit der Aufgabe des Betreuerseins zukommen. Innerhalb des Betreuungsrechts sind jene nicht auffindbar. In den Erläuterungen des Bundesministeriums der Justiz zum Betreuungsrecht jedoch werden einige Rechte des Betreuers ausgeführt. Sie konzentrieren sich vorrangig auf den Ersatz von Aufwendungen. So steht dem Betreuer für mit der Betreuung verbundene Auslagen ein Kostenzuschuss oder -ersatz zu. Ist er für die Vermögenssorge des Betreuten legitimiert, so kann er den Geldbetrag dem Vermögen des zu Versorgenden entnehmen.36 Etwa bei Mittellosigkeit des Betreuten „richtet sich der Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen gegen die Staatskasse.“37 Bei Erhalt einer „jährlichen pauschalen Aufwandsentschädigung [. . . ] zählt sie zum steuerpflichtigen Einkommen.“38 Eine generelle Vergütung der Aufgaben des Betreuers erfolgt nur bei berufsmäßiger Betreuung.39 Ferner hat der Betreuer gemäß BMJ das Recht, sich Kosten einer möglichen Haftpflichtversicherung gegen Schadensersatzansprüche eventueller schuldhafter Pflichtverletzungen erstatten zu lassen. Ein weiteres Recht kann außerdem darin gesehen werden, Hilfen oder Beratungsangebote von Betreuungsbehörden oder -vereinen in Anspruch zu neh-

32 33 34 35 36 37

38 39

BMJ, Betreuungsrecht, 15. Vgl. BGB, § 1901 Abs. 2; 5. Für nähere Erläuterungen siehe Kapitel II.5. Für nähere Erläuterungen siehe Kapitel II.8. Vgl. BGB, § 1904; BMJ, Betreuungsrecht, 15. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 22. BMJ, Betreuungsrecht, 22. Die Mittellosigkeit tritt gemäß BMJ nach überschreiten festgelegter Sockelbeträge ein. Vgl. dazu BMJ, Betreuungsrecht, 22. BMJ, Betreuungsrecht, 22. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 23.

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1. Das Betreuungsgesetz und die gerichtliche Betreuung

men.40 Für alle gerichtlichen, ehrenamtlichen Betreuer sowie für Vorsorgebevollmächtigte41 stehen diese Unterstützungen zur Verfügung.42 1.3 Die gerichtliche Kontrolle des Betreuers Ist ein Betreuer durch das Betreuungsgericht bestellt worden, bedeutet dies keine generelle Handlungsfreiheit in allen anliegenden Entscheidungen. Insbesondere im Bereich der Gesundheitsfürsorge müssen teils Rücksprachen mit den Gerichten getroffen und Genehmigungen eingeholt werden. Bei Zustimmungen oder Ablehnungen bzw. Widerrufen von Untersuchungen, Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen mit der Gefahr des Todes oder der körperlichen Schädigung des Betreuten existiert etwa eine Genehmigungspflicht durch das Gericht.43 Eine Ausnahme stellen Notfallinterventionen dar. Entscheidungsgrundlage für die Gerichte ist der Wille des Patienten, der allerdings ggf. nicht mehr – oder nur schwer – ermittelt werden kann. Liegt hingegen eine valide Patientenverfügung vor und behandelnder Arzt und Betreuer stimmen darin überein, dass die Willensentscheidung des Patienten für die eingetretene Situation hierin geregelt ist, so bedarf es keiner weiteren Genehmigung der Gerichte.44 Gleiches gilt für die Regelung der Unterbringung des Betreuten in geschlossenen Einrichtungen oder Abteilungen oder bei Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen45 , sofern dies zum Wohle des Patienten notwendig erscheint.46 Ebenfalls bedürfen, nach Einschätzung des BMJ, außerhalb von geschlossenen Einrichtungen regelmäßige freiheitsentziehende Maßnahmen jeglicher Art (z. B. Gurte, Gitter, spezielle Medikamente) der Genehmigung, sofern der Betreute nicht einwilligungsfähig ist.47 Auch zur Regelung von anfallenden Aufgaben muss der gerichtlich bestellte Betreuer Genehmigungen einholen, wie beispielsweise bei der 40 41 42 43 44

45

46 47

Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 23. Vgl. hierzu Kapitel II.3. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 33. Vgl. BGB, § 1904ff. Vgl. BGB, § 1904. Am Rande sei hier der Hinweis gegeben, dass dieser Aspekt teils in Ratgebern different thematisiert wird. Es entsteht der Eindruck, dass diesbezüglich auch bei den handelnden Akteuren noch Unklarheit besteht. Vgl. exemplarisch BMJ, Betreuungsrecht, 14–16; Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 18; Verbraucherzentrale, Patientenverfügung, 40; Höfert, Von Fall zu Fall, 238. Hierzu zählen beispielsweise Bettgitter, Leibgurte, Fixierungen von Armen und Beinen, Abschließen von Räumen oder sedierende Medikamente zur Ruhigstellung. Vgl. BGB, § 1906. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 17f.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

29

Kündigung eines vorherigen Mietverhältnisses oder Pachtverträgen des Betreuten.48 Ferner stehen Betreuer laut BMJ – wie im vorherigen Abschnitt bereits erwähnt – durch eine jährliche Berichtspflicht gegenüber dem Betreuungsgericht bezüglich Verlauf und Entwicklung der persönlichen Betreuung sowie bezüglich des Verhältnisses zum Betreuten in der Verantwortung.49 An dieser Stelle ist zusammenfassend der Hinweis zu geben, dass das Betreuungsgesetz im Konnex der Persönlichkeitsrechte steht. Ankerpunkt dessen ist die Formulierung innerhalb des Gesetzes: Es wird eine Betreuung eingerichtet, sobald Zustände eintreten, in denen die eigenen Belange ganz oder in Teilen nicht mehr erledigt werden können. So wird gesetzlich dafür Sorge getragen, dass der Mensch in spezifischen Lebensverhältnissen auf Fürsorge angewiesen ist. Voraussetzung bleibt dabei, dass keine persönliche Vorsorge (in Form der Vorsorgevollmacht) getroffen wurde und zudem kein aktiver Widerspruch erfolgt. Eine juristische Notwendigkeit wird also formuliert. Die Möglichkeit, eine Betreuung zu verwehren, ist gemäß § 1896 Abs. 1 a BGB gegeben, indem sich der potenziell Betreute dagegen verweigert – sofern dies sein Gesundheitszustand zulässt. Eine Willensbildung muss also möglich sein. Verliert eine Person die Möglichkeit zur Regelung der eigenen Belange und hat keine private Vorsorge initiiert, so bedeutet dies eine automatische Zustimmung zum im BGB festgeschriebenen Betreuungsrecht und folglich zur gerichtlichen Bestellung eines Betreuers im Bedarfsfalle. Dieser (juristischen) Realität inhäriert, dass das Betreuungsrecht jede Person tatsächlich betrifft und insofern eine Auseinandersetzung mit dem Thema Vorsorge angemessen erscheint. Auf welche Weise diese Auseinandersetzung gestaltet wird, liegt im individuellen Ermessen: Werden indes die vorhandenen Möglichkeiten der privaten (Gesundheits-)Vorsorge, auch zum möglichen Umgehen einer gerichtlichen Betreuung (bewusst) nicht genutzt, so erfolgt implizit die Zustimmung zu den Regelungen des Betreuungsgesetzes. Jene Möglichkeiten einer privaten und persönlichen Gestaltung der (Gesundheits-)Vorsorge werden in den nachfolgenden Kapiteln beschrieben.

2. Die Betreuungsverfügung Die Betreuungsverfügung steht in starkem Zusammenhang zur gerichtlichen Betreuung und ist in diese eingebunden. Sie berechtigt zwar 48 49

Vgl. BGB, § 1907. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 13.

30

2. Die Betreuungsverfügung

nicht zur rechtlichen Vertretung, dient aber als Instrument, um nachhaltig Wünsche zu äußern, welche Person bzw. Personen im Bedarfsfalle durch das Gericht als Betreuer eingesetzt werden sollen. Ebenso kann hierin festgeschrieben werden, wer nicht als Betreuer in Erwägung kommt. Diese festgehaltenen Wünsche werden nach § 1897 Abs. 4 BGB möglichst vom Betreuungsgericht bei der rechtlichen Bestellung eines zuständigen Betreuers berücksichtigt. Hierdurch kann die Bestellung eines völlig unbekannten oder ungewollten Betreuers verhindert und die Einsetzung der benannten Vertrauensperson ermöglicht werden. Diese steht dann nach gerichtlicher Legitimation mit allen Aufgaben und Pflichten in der Funktion des oben beschriebenen gerichtlichen Betreuers und wird für die Bereiche eingesetzt, in denen der Betroffene seine Angelegenheiten und Belange nicht mehr oder teilweise nicht mehr selbst ausführen und regeln kann.50 Zur Abfassung einer Betreuungsverfügung ist (ebenso wie bei der Patientenverfügung) nicht die volle Geschäftsfähigkeit51 des Verfassers erforderlich, da sie ausschließlich eine Äußerung von Wünschen enthält. Hingegen erfordert eine Vorsorgevollmacht52 die volle Geschäftsfähigkeit und impliziert hierdurch bereits eine größere Reichweite. Die gewünschte Vertrauensperson kann erst für den Verfasser handeln, wenn das Betreuungsgericht diesen offiziell als Betreuer bestellt hat. Er ist somit nicht unmittelbar im Falle der Äußerungs- und Einwilligungsunfähigkeit des zu Betreuenden handlungsbefugt.53 Ferner besteht die Möglichkeit, in der Betreuungsverfügung Hinweise aufzunehmen, an denen sich der Betreuer bei anstehenden Entscheidungen orientieren soll.54 Alle Verfügungs- und Vorsorgedokumente (Betreuungsverfügung, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht) können seit März 2005 beim Zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer registriert werden.55 Anfang 2016 haben dort insgesamt 2,7 Mio. Bürger der Bun50 51

52 53 54 55

Vgl. Bayerisches Staatsministerium, Vorsorge, 9. Geschäftsfähig ist, wer „im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte“ ist (Bühler, Betreuungsrecht, 21). Genaue Beschreibungen der Geschäftsfähigkeit liefert das BGB in Abschnitt 3 Titel 1. Der § 104 BGB definiert daraufhin die Geschäftsunfähigkeit in folgender Weise: „Geschäftsunfähig ist: 1. wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, 2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.“ Siehe Kapitel II.3. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 9. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 9. Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 11.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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desrepublik ihr verfasstes Dokument registrieren lassen.56 Es ist dem Betreuungsgericht durch die Abfrage des Vorsorgeregisters möglich, bei Bedarf zügig zu prüfen und so etwa dem behandelnden Arzt mitzuteilen, ob bereits private Vorsorge getroffen wurde und sich sogar ggf. eine gerichtliche Bestellung eines Betreuers hierdurch erübrigt. Ferner kann auf die Kontaktdaten z. B. des Vorsorgebevollmächtigten zurückgegriffen werden.57 Für den Fall der Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit kann allerdings auch außergerichtlich vorgesorgt werden, was somit dieses – teils zeitaufwendige – Verfahren der Bestellung eines Betreuers durch die Gerichte umgeht. Ein wichtiges Instrument hierzu ist die Vorsorgevollmacht, die im Folgenden näher erläutert werden soll.58 Neben dieser Vollmacht werden weitere Maßnahmen der persönlichen Vorsorge vorgestellt.

3. Die Vorsorgevollmacht Wie bereits oben vermerkt, ist eine automatische Autorisierung etwa von Ehepartnern oder volljährigen Kindern als Entscheidungs- und Handlungsbevollmächtigte bei aufgetretener Entscheidungs- und Äußerungsunfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit des zu Versorgenden nach deutschem Recht nicht vorgesehen.59 Sie müssen hierfür entweder, wie in Kapitel II.1 herausgestellt, gerichtlich bestellt oder alternativ dazu aufgrund einer Vorsorgevollmacht befähigt werden. Der Vollmachtgeber kann durch eine Vorsorgevollmacht einer oder mehreren Personen die Vertretungsmacht für seine Aufgaben, Interessen und Belange für den Fall erteilen, dass er entscheidungs- und äußerungsunfähig wird und seine Angelegenheiten – vollständig oder auch nur teilweise – nicht mehr besorgen kann. Der Bevollmächtigte bzw. die Bevollmächtigten können so in dieser Situation verbindlich und rechtskräftig für den Vollmachtgeber in dessen Namen agieren. Aufgabe der voll autorisierten Bevollmächtigten ist es für den Betreuten, der seine Entscheidungskompetenz an sie übertragen hat, in seinem Sinne zu handeln. Der oder die Vorsorgebevollmächtigten sind unmittelbar handlungsfähig, falls dies erforderlich wird, sofern sie die Vollmacht vorweisen können. 56 57

58 59

Vgl. http://www.vorsorgeregister.de, Stand: 20.11.2014. Vgl. http://www.vorsorgeregister.de/ZVR-Zentrales-Vorsorgeregister/ZentralesVorsorgeregister-ZVR.php, Stand: 09.01.2016. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 3. Vgl. Schöffner, Patientenverfügung, 489.

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3. Die Vorsorgevollmacht

Ein gerichtliches Bestellungsverfahren und die gerichtliche Abhängigkeit entfallen. Das Bürgerliche Gesetzbuch spricht die Vorsorgevollmacht in § 1896 Abs. 2 Satz 2 sowie in § 1901 c nur sehr knapp und formal an. In der zweitgenannten Stelle ist die Verpflichtung zur Unterrichtung des Betreuungsgerichts über eine bestehende Vorsorgevollmacht geregelt, falls sonst eine gerichtliche Betreuung angestrebt würde. Eine Bevollmächtigung zur Wahrnehmung der Aufgaben und Belange umgeht folglich eine gerichtliche Betreuung. Rein äußerlich betrachtet ist der Schwerpunkt der Vorsorgevollmacht wie folgt zu bezeichnen: „Die Vollmacht umschreibt das rechtliche Können des bzw. der Bevollmächtigten im Außenverhältnis, also seine ‚Rechtsmacht‘/ Befugnis, mit anderen (z. B. dem Vertragspartner, Behörden, Ärzten usw.) Rechtsgeschäfte im Namen des Vollmachtgebers bzw. der Vollmachtgeberin vorzunehmen.“60

Das Innenverhältnis, welches mögliche Absprachen zwischen Vollmachtgeber und -nehmer bezeichnet, sind rein rechtlich und für die äußere Form der Vollmacht nicht relevant, zumindest nicht gegenüber Dritten. Dieses Innenverhältnis kann hingegen für Geber und Nehmer der Vollmacht entscheidend und für einen Auseinandersetzungsprozess konstitutiv sein sowie mögliche Rahmenbedingungen beiderseits zum Ausdruck bringen.61 Gemäß BMJ muss die Geschäftsfähigkeit des Vollmachtgebers in vollem Umfang zum Zeitpunkt der Abfassung des Dokuments vorausgesetzt sein. Darüber hinaus sind außer der Angabe von Ort, Datum sowie der eigenhändigen Unterschrift keine Bestimmungen zur Form der schriftlich verfassten Vollmacht verbindlich.62 Die Vorsorgevollmacht kann generell unterschiedliche Wirkungsbereiche betreffen sowie auf ebendiese beschränkt werden. Hierzu zählen etwa Gesundheitssorge, „Vermögens-, Renten-, Versorgungs-, Steuerund sonstige[n] Rechtsangelegenheiten“63 sowie die Bestimmung des Aufenthalts. Soll die Vollmacht auch die Kompetenz zur Einwilligung, zur Nichteinwilligung oder zum Widerruf einer medizinischen Maßnahme umfassen, so sollte dies nach § 1904 Abs. 5 BGB auch ausdrücklich und schriftlich in der Vollmacht festgehalten sein. Diese Gesetzesgrundlage ist der Hintergrund dafür, dass zumeist in beratenden 60 61 62 63

Thüringer Justizministerium, Wie vorsorgen, 8 (Formatierung d. Vf.). Vgl. Bayerisches Staatsministerium, Vorsorge, 16. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 28f. Bühler, Betreuungsrecht, 91.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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Handreichungen von verschiedensten Stellen explizit darauf verwiesen wird, die Geltungsbereiche der Vollmacht zum Umgehen jeglicher Unklarheiten vollumfänglich, dezidiert und explizit zu benennen. Nur so kann nachhaltig gesichert dargelegt werden, dass der Umfang der entsprechenden Wirkungsbereiche auch bedacht wurde. Demnach sollte die Vorsorgevollmacht für Gesundheitsangelegenheiten – so etwa die Empfehlung der beiden großen Kirchen – „die Befugnis zur Einwilligung bzw. Untersagung von ärztlichen Maßnahmen (Untersuchungen des Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztlicher Eingriff) ausdrücklich umfassen.“64 Soll die Entscheidungskompetenz zu Aufenthaltsfragen und freiheitsentziehenden Maßnahmen oder zu Fragen der Organspende ebenfalls übertragen werden, ist auch dies aus gleicher Begründung schriftlich zu fixieren.65 Diese Empfehlung, die Geltungsbereiche der Verfügung deutlich und ausdrücklich zu benennen, ist in unterschiedlichsten Ratgebern zu finden.66 Für die einzelnen Wirkungsbereiche einer Vorsorgevollmacht können zudem auch unterschiedliche Personen bevollmächtigt werden. Angeraten wird dabei mitunter, mit jedem Vollmachtträger eine eigene Vollmachturkunde für seinen Zuständigkeitsbereich zu verfassen, damit sie sich im Bedarfsfalle je entsprechend autorisieren können.67 Alternativ können mehrere Bevollmächtigte für das gleiche Aufgabengebiet eingesetzt werden. Hierbei wird jedoch häufig auf die mögliche Gefahr hingewiesen, dass differierende Meinungen zwischen den Bevollmächtigten zu Problemen und letztlich zur Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit führen können. Die Vertreter sind laut Gesetz nur im Falle ihrer Einigung handlungsfähig.68 Angeraten wird des Öfteren, eine weitere Person als Vertretung des Bevollmächtigten anzugeben, falls der Vollmachtnehmer im Akutfalle 64 65 66

67 68

Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 16. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 16. Wie bereits angedeutet wird in vielen beratenden Handreichungen zu Vorsorgeinstrumenten auf diesen Aspekt verwiesen. Deutlich wird dabei der Hinweis ausgeführt, bei der Abfassung einer Vorsorgevollmacht die Geltungsbereiche auf Grundlage des § 1904 Abs. 5 BGB en détail zu benennen, um Unklarheiten bezüglich ihres Umfangs möglichst zu umgehen. Hinweise solcher Art finden sich bei unterschiedlichsten Herausgebern. Vgl. hierzu beispielsweise Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 16; Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 12; BMJ, Betreuungsrecht, 28; Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Was Sie über die Vorsorgevollmacht und das Betreuungsrecht wissen sollten, 6f.; Röchling, Betreuung, 60; Bayerisches Staatsministerium, Vorsorge, 5f.; Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 878; Verbraucherzentrale, Vorsorge selbstbestimmt, 25ff. Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 10. Vgl. BGB, § 1899 Abs. 3; BMJ, Betreuungsrecht, 29.

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3. Die Vorsorgevollmacht

selbst verhindert oder nicht mehr in der Lage sein sollte, die Vollmacht wahrzunehmen. Darüber hinaus kann in der Vollmacht die Befähigung an den Bevollmächtigten übergeben werden, weitere Untervollmachten (z. B. zur Delegierung der anfallenden Aufgaben) erstellen zu können.69 Die enorme Reichweite der Vorsorgevollmacht über alle Bereiche des persönlichen Lebens und die übertragene und übernommene Verantwortung von Vollmachtgeber und -nehmer veranlassen nachdrücklich zur Empfehlung, Personen des besonderen Vertrauens zu bevollmächtigen.70 Das Einvernehmen über dieses Vorgehen sollte für einen angemessenen Umgang mit dem Instrument vorausgesetzt sein. Steht keine Vertrauensperson zur Verfügung, so kann auch ein Rechtsanwalt oder ein Berufsbetreuer mit dieser Aufgabe ausgestattet werden. Vorsorgebevollmächtigte sollten gemäß diverser Empfehlungen volljährig und (mindestens eingeschränkt) geschäftsfähig sein, da sie als gesetzliche Vertreter, Geschäfts- oder Gesprächspartner auftreten und nur so vollumfänglich handeln können.71 3.1 Aufbewahrung der Vollmacht Die erteilte Vorsorgevollmacht sollte – so eine verbreitete Meinung in diverser Beratungsliteratur – dem Bevollmächtigten im Original zugänglich sein, damit er sie im Bedarfsfalle umgehend vorweisen kann.72 So ist er in der Lage, sich als Vertretungsperson zu identifizieren und ohne Umwege handlungsfähig zu sein. Auch bei anstehenden Rechtsgeschäften muss ggf. das Original vorweisbar sein. Für eine reibungslose Umsetzung empfiehlt es sich, die Vollmacht an einem für den Bevollmächtigten leicht zugänglichen Ort aufzubewahren oder ihm direkt im Original auszuhändigen. Möglicherweise kann sie auch einer weiteren Vermittlerperson (z. B. einem Notar) übergeben werden, welcher sie im Bedarfsfalle aushändigt. Bedacht werden sollte bei dieser Möglichkeit allerdings, dass die Vollmacht so nicht unmittelbar zugänglich und ggf. mit Verzögerungen bei ihrer Beschaffung zu rechnen ist. Seit März 2005 ist ebenfalls eine Registrierung der Vorsorgevollmacht bei dem Zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer mit Sitz in Berlin möglich.73 69 70 71 72

73

Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 29f. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 16f. Vgl. Ärztekammer Westfalen-Lippe, Patientenverfügung, 11. Vgl. beispielsweise Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 23; BMJ, Betreuungsrecht, 30; Ärztekammer Westfalen-Lippe, Patientenverfügung, 17. Vgl. etwa BMJ, Betreuungsrecht, 30; Verbraucherzentrale, Patientenverfügung, 46.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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3.2 Beglaubigung und Beurkundung Eine notarielle Beurkundung der Vorsorgevollmacht ist de jure nicht zwingend notwendig oder gar vorgeschrieben. Für bestimmte Arten von Rechtsgeschäften ist allerdings, so lässt sich in der Beratungsliteratur auffinden, eine notarielle Beurkundung empfehlenswert, speziell bei der Berechtigung zu Grundstücks- oder Wohnungsveräußerungen, der Darlehensaufnahme oder wenn der Vollmachtgeber Handelsgewerbetreibender ist. Als weiteres Zeichen der Echtheit kann die Unterschrift unter der Vollmacht beglaubigt werden.74 3.3 Wirksamkeit und Widerruf Für eine uneingeschränkte Nutzbarkeit der Vorsorgevollmacht sollte, so wird empfohlen, kein Zweifel an ihrer Wirksamkeit oder über ihre Wirkungsbereiche hervorzurufen sein. Werden etwa ärztliche Bescheinigungen o. Ä. für ihren Einsatz vorausgesetzt, könnte Skepsis an ihrer Tauglichkeit erregt werden. Auch die Frage nach der Form oder der Aktualität solcher geforderter Schriftstücke kann zu Unklarheiten im Umgang mit der Vollmacht beitragen. „Eine Vollmacht zur Vorsorge ist nur dann uneingeschränkt brauchbar, wenn sie an keine Bedingungen geknüpft ist“75 – zumindest nicht im Außenverhältnis. Das Innenverhältnis hingegen setzt gar einen allgemeinen Austausch über die jeweiligen Vorstellungen zum Umgang mit der Vollmacht sowie ggf. Absprachen über ihren Einsatz voraus. Für den uneingeschränkten Gebrauch der Vollmacht wird ferner, wie bereits beschrieben, dazu geraten, dass sie dem Vollmachtnehmer im Original vorliegt bzw. leicht zugänglich ist.76 Darüber hinaus kann in der Vollmacht vermerkt werden, dass sie über den Tod des Vollmachtgebers hinaus Bestand haben soll. Ermöglicht wird so, weiterhin alle anfallenden Rechtsgeschäfte erledigen zu können (z. B. Beerdigung, Wohnungsauflösung, etc.). Ein Widerruf der Vollmacht ist jederzeit möglich, beispielsweise durch das Vernichten des Dokuments. 77 Ein Hauptaugenmerk der Arbeit liegt auf der Betrachtung der Vorsorgevollmacht in Gesundheitsangelegenheiten. Diese ermöglicht die Vertretung bei Entscheidungen und Fragen zu medizinischen Maßnahmen sowie zur pflegerischen Versorgung. Insbesondere mit Blick auf die 74 75 76 77

Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 29. BMJ, Betreuungsrecht, 37. Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 170f. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 31.

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3. Die Vorsorgevollmacht

evangelisch-ethische Ausrichtung der Arbeit ergeben sich viele Diskussionspunkte. Hierbei ist nicht nur die Erteilung der Vollmacht oder das Vorhandensein dieser zu reflektieren, sondern im Besonderen auch ihre Umsetzung und der Umgang mit diesem Instrument, welches darauf baut, dass Menschen miteinander agieren und füreinander Sorge tragen. Beachtenswert erscheinen dabei notwendige Zusammenhänge mit und spezifische Unterschiede zur Patientenverfügung. Jeweilige Rahmenbedingungen, Entscheidungs- oder Dilemmasituationen werden zudem zum Ausdruck zu bringen sein. 3.4 Divergenzen zur gerichtlichen Betreuung und anderen Vorsorgemöglichkeiten Ein erheblicher Unterschied gegenüber der gerichtlichen Betreuung besteht darin, dass Vorsorgebevollmächtigte nicht vom Betreuungsgericht bestellt werden und somit seinen Kontroll- und Rechenschaftspflichten weitestgehend entgehen.78 Umfasst und erteilt die Vorsorgevollmacht etwa schriftlich die Entscheidungskompetenz für eine Einwilligung, Nichteinwilligung oder einen Widerruf einer Einwilligung in Untersuchungen, Heilbehandlungen und Eingriffe mit der Gefahr des Todes sowie die zur Regelung der Unterbringung, so ist diesbezüglich gemäß § 1904 Abs. 4 BGB keine weitere gerichtliche Zustimmung erforderlich, sofern behandelnder Arzt und Bevollmächtigter einvernehmlich der Meinung sind, dass dies dem Willen des Patienten entspricht.79 Nur im Falle der Uneinigkeit von Bevollmächtigtem und behandelndem Arzt oder zwischen mehreren Bevollmächtigten für gleiche Zuständigkeitsbereiche muss das Betreuungsgericht konsultiert werden.80 78 79

80

Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 28. Vgl. BGB, § 1904 Abs. 5. Die Fragestellung nach erforderlichen Genehmigungen des Betreuungsgerichts speziell für Vorsorgebevollmächtigte stößt derzeit auf Unklarheit in vorhandener Beratungsliteratur. Teils wird der Eindruck vermittelt, dass Genehmigungen zwingend erforderlich sind. Diese Haltung wird damit begründet, eine Schutzmaßnahme für den Vollmachtgeber zu gewähren. Die Entscheidungen des Vorsorgebevollmächtigten werden in diesem Falle von einer weiteren Instanz geprüft. Vgl. hierzu beispielsweise Bühler, Betreuungsrecht, 26f. Fragen ließe sich in diesem Kontext, ob nicht jegliche erforderlichen Genehmigungen durch eine weitere Instanz dem Wesen einer Vorsorgevollmacht widersprechen. Denn sie ist ein Instrument, welches bewusst eine solche Entscheidungskompetenz für den Bedarfsfall an den Bevollmächtigten übergibt, nicht zuletzt womöglich auch, um gerichtliche Verfahren zu vermeiden. Hinsichtlich freiheitsbeschränkender Maßnahmen wurde am 10. Juni 2015 ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gefasst, in dem festgestellt wird, dass trotz Vorliegen einer Vorsorgevollmacht auf eine gerichtliche Genehmigung nicht ver-

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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Für die vorliegende Untersuchung entscheidend ist ein weiterer Aspekt: Die Vorsorgevollmacht scheint sich im Gegensatz zu möglichen weiteren Vorsorgeinstrumenten wie etwa der Patientenverfügung81 , die autonome Entscheidungen fördern und sichern soll, auf einer anderen Ebene zu bewegen. Ausgangspunkt dessen ist, dass hier Menschen miteinander in Beziehung treten, mit- und füreinander rechtsverbindlich handeln sowie für Wille und Wohl des Gegenübers eintreten. „Es geht vielmehr darum, dass eine andere Person das Recht erhalten soll, für mich, für den Patienten, in verbindlicher Weise zu entscheiden. Der Bevollmächtigte vertritt den Patienten gegenüber den behandelnden Ärzten und Pflegekräften und hat die Rechtsmacht, für ihn zu entscheiden, solange er den Willen und das Wohl des Patienten befolgt.“82

Reflexionsgegenstand und grundlegende Frage wird insofern im Folgenden weiter sein müssen, ob gerade durch die Vorsorgevollmacht, obwohl – oder besser: indem – sie auf die Beziehungsebene und ein Miteinander von Menschen baut ein hohes Maß an Autonomie garantiert und gar dauerhaft gewährt wird. Diskussionsnotwendig erscheint dies besonders im Kontext dessen, dass – wie noch zu zeigen sein wird – gegenwärtig vorrangig die Patientenverfügung im Anspruch auf Sicherung der persönlichen Autonomie Stärkung findet. Die Frage nach einem Verständnis sowie einer Gewichtung von Autonomie und Fürsorge wird somit die Arbeit maßgeblich beschäftigen müssen. In der Betrachtung wahrnehmbarer Divergenzen der Vollmacht zu anderen Verfügungsvarianten oder der gerichtlichen Betreuung lässt sich ein dialogischer Aspekt beleuchten: Mit der Bevollmächtigung einer Vertrauensperson steht idealiter ein Austausch über Wünsche, Werte und Vorstellungen im Zusammenhang. Die Vorsorgevollmacht scheint somit in stärkerem Maße als andere Vorsorgeinstrumente die Notwendigkeit eines Gesprächs in den Vordergrund zu stellen, da sie auf die Kooperation und die Kommunikation unter Vertrauenspersonen ange-

81 82

zichtet werden kann. Gemäß der Begründung gilt dies sogar dann, wenn innerhalb der Vollmacht diese Kompetenz ausdrücklich übergeben wurde. Zu prüfen wäre, inwiefern dieser Entscheid dem Instrument als solchem widerspricht und seine Reichweite einschränkt. Auch eine Etablierung in der Praxis bleibt abzuwarten. Vgl. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/0 6/rk20150610_2bvr196712.html, Stand: 09.01.2016; https://www.bundesverfass ungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/bvg15-047.html, Stand: 09.01.2016. Vgl. hierzu Kapitel II.5. Klie, Die Patientenverfügung 2006, 34.

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3. Die Vorsorgevollmacht

wiesen ist. Dieser Auseinandersetzungsprozess kann Sicherheit verleihen, etwa im Hinblick auf den Vollmachtgeber, da seine Vertrauensperson aktiv in diese Verpflichtung eingewilligt hat und er sich somit im Bedarfsfalle versorgt weiß. Auch der Vollmachtnehmer profitiert maßgeblich vom Austausch und erhält dadurch Einblick in die Wünsche und Vorstellungen seines Gegenübers, die sich wiederum im Gespräch konkretisieren können. Basierend auf dieser Auseinandersetzung kann er sich nicht zuletzt fragen, ob er jene Verantwortung tragen kann und will. Ersichtlich wird hier bereits, dass die Vorsorgevollmacht zum einen – sowohl für Vollmachtgeber als auch für Vollmachtnehmer – stark auf persönliche Autonomie baut und bewusstes Handeln voraussetzt. Zum anderen kennzeichnet es das Wesen einer Vorsorgevollmacht, dass der Vollmachtgeber willentlich und vorsorglich in den Verfügungsbereich einer anderen Person eintritt, falls dieser seine Belange nicht mehr selbstständig besorgen kann. Die Frage nach der Verwobenheit von Autonomie und Fürsorge und dem hierin zugrunde liegenden Menschenbild stellt sich unweigerlich erneut. So scheint die Vorsorgevollmacht auf einem Miteinander zu basieren und es wird ein Verständnis des Menschen als Beziehungswesen transportiert. Im Vorgriff auf die eingehende Thematisierung der Patientenverfügung in den nächsten Kapiteln kann bereits an dieser Stelle auf eine weitere Wahrnehmung der Verschiedenheit dieser Instrumente verwiesen werden. Steht die jeweilige Reichweite im Fokus, so scheint der Wirkungsbereich der Vorsorgevollmacht im Vergleich zur Patientenverfügung größer zu sein. Die Patientenverfügung richtet sich etwa eo ipso auf konkrete Untersuchungen des Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe aus. Die Vollmacht hingegen kann für alle Bereiche des persönlichen Lebens übergeben werden. Formaliter belegt dies bereits den Eindruck. Darüber hinaus scheint es gerade ein besonderes Kennzeichen der Vollmacht zu sein, dass situationsangepasst in den real eingetretenen Umständen entschieden und gehandelt werden kann. Im Gegensatz dazu ist es Ziel der Patientenverfügung konkrete Handlungsanweisungen für prospektive (und damit noch ungewisse) Situationen festzulegen.83 Auch hier wird die Frage herausgefordert, was dem gesamten Menschsein zu entsprechen scheint. Zusammenfassend lassen sich auf mehreren Ebenen wesentliche Unterschiede zur gerichtlichen Betreuung herausstellen: 1. Zum einen ist das Auftreten der Vollmacht oder der Betreuung in Verbindung mit dem Gesundheitszustand zu betrachten. Ei83

Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 37.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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ne Vorsorgevollmacht ist ein Instrument, das in aller Regel im gesunden Zustand für die Zukunft verfasst wird. Hingegen wird die gerichtliche Betreuung eingerichtet, wenn Aufgaben und Belange des persönlichen Lebens tatsächlich nicht mehr selbstständig erledigt werden können, hier also bereits eine Einschränkung Realität für die betreute Person geworden ist. Gleichwohl kennzeichnet es eine Vorsorgevollmacht in ebendieser Weise, dass auch sie erst zum tatsächlichen Einsatz kommt, wenn ein eigenes Eintreten für die persönlichen Belange nicht mehr realisiert werden kann. Die Wirkungsbereiche entsprechen sich somit, die vorherige Auseinandersetzung zeigt hingegen i. A. Unterschiede. 2. Zum anderen ist auf die Formalitäten Bezug zu nehmen. Einerseits initiiert ein gerichtliches Verfahren die Bestellung der Betreuungsperson, wodurch sich Pflichten gegenüber dem Betreuungsgericht generieren. Andererseits führen – so kann als Anspruch formuliert werden – Vertrauenspersonen miteinander eine Auseinandersetzung über die Vorsorgevollmacht mit der Thematisierung entsprechend übergebener und übernommener Rechte und Pflichten. Ein gerichtliches Verfahren steht einem auf Eigeninitiative basierenden Diskurs von Vertrauenspersonen (ggf. mit weiteren fachkundigen Personen oder ihrem größeren Umfeld) gegenüber. 3. Die Art und Weise der Wahl des Betreuers kann ferner divergieren. Zum Vorsorgebevollmächtigten wird in aller Regel eine Vertrauensperson selbstständig gewählt. Da hier eine enorme Verantwortung übergeben sowie übernommen wird, sollte ein inniges Vertrauensverhältnis zwischen Vollmachtgeber und -nehmer Grundlage dieser Auseinandersetzung sein. In vielen Fällen wird das bestehende Vertrauensverhältnis ebenso Basis einer Betreuung sein. Darüber hinaus ergeben sich mögliche weitere Bedingungen für die gerichtliche Betreuung: Sie kann besonders dann zum Tragen kommen, wenn keine Vertrauten in räumlicher Nähe oder gar Betreute völlig alleinstehend sind. Die Möglichkeit, Berufsbetreuer oder Betreuungsvereine diese Pflichten übernehmen zu lassen, ist auch hierfür eingerichtet. In derartigen Konstellationen kann es dazu kommen, dass sich Betreuter und Betreuer zuvor unbekannt waren und im Vorhinein keine Beziehung zueinander aufgebaut haben.

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4. Die Generalvollmacht

4. Ferner sind Divergenzen in der Ausübung einer Vorsorgevollmacht und einer gerichtlichen Betreuung wahrnehmbar. Beispielsweise kann die Vorsorgevollmacht für alle Bereiche des persönlichen Lebens übergeben werden und ist im Bedarfsfalle für die entsprechenden Bereiche je unmittelbar einsatzfähig. Im Gegensatz dazu ist bei einer gerichtlichen Betreuung stets das gerichtliche Verfahren vorzuordnen, bevor Handlungsfähigkeit besteht. Folglich müssen die Bereiche der Betreuung auch bei Veränderungen des Zustandes vom Gericht angepasst werden.

4. Die Generalvollmacht Die Generalvollmacht begegnet als Instrument zur Ermöglichung einer „Vertretung ‚in allen Angelegenheiten‘ oder ‚in allen finanziellen und persönlichen sowie Gesundheits- und Behandlungsangelegenheiten‘“84 . Sie entspricht also einer allgemeinen Vollmacht ohne dezidierte Konkretion. Kennzeichen ist dabei zumeist, dass sie ausschließlich den Hinweis auf die übergeordneten Wirkungsbereiche wie Vermögen, Gesundheit und Behandlung i. A. beinhaltet. Gleichwohl kann sie auch auf einzelne Wirkungsbereiche beschränkt werden.85 Im Hinblick auf die Wirksamkeit der Generalvollmacht, speziell für den Gesundheits- und Pflegebereich, ist auf einen bereits entfalteten Hinweis zu verweisen. Im Kontext der Vorsorgevollmacht wurde bereits die gängige Empfehlung verschiedenster Beratungsliteratur in Anlehnung an § 1904 Abs. 5 BGB aufgegriffen, in die Vollmacht genaue Konkretionen zu den Wirkungsbereichen aufzunehmen. Mögliche Unklarheiten über ihren entsprechenden Geltungsraum sollen demzufolge umgangen werden. Gesichert erscheint daraufhin die Übernahme der Entscheidungskompetenz durch den Bevollmächtigten nur, sofern die Wirkbereiche explizit und im Einzelnen Erwähnung finden. Zu allgemeine Formulierungen können – insbesondere bei Gesundheitsund Betreuungsangelegenheiten – die Anwendbarkeit infrage stellen. So darf beispielsweise nicht generell die Zustimmung bzw. die Verweigerung für einen ärztlichen Eingriff, eine Behandlung oder eine Untersuchung gegeben werden, wenn dabei für den Patienten Lebensgefahr oder mögliche Gesundheitsschäden bestehen. Dies ist etwa bei Herzoperationen oder Amputationen der Fall. Nicht abgedeckt ist ferner die 84 85

Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 12. Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 12.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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Anordnung der Durchführung oder der Beendigung einer lebensverlängernden Maßnahme, Einwilligung in freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Bettgitter oder Gurte oder die Zustimmung zur Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung sowie die zur Organspende.86 „In diesen Fällen verlangt das Gesetz, dass die schriftliche Vollmacht diese Befugnisse ausdrücklich bezeichnet.“87 Konsequenz zeigt dieser Aspekt für die Generalvollmacht, da sie auf jene Konkretionen i. A. verzichtet. Es resultiert ein Auslegungsproblem, ob die nicht explizierte Generalvollmacht die Zuständigkeit in den entsprechenden Bereichen tatsächlich übertragen soll. Dadurch, dass keine Benennung des Wirkungskreises en détail erfolgt, bleibt ein Spielraum dessen, was genau gemeint ist. Im Speziellen wäre ggf. anhand des mutmaßlichen Patientenwillens88 zu recherchieren, ob die vorliegende Generalvollmacht jene oben genannten Bereiche umfasst und die Verantwortungsübergabe dieser entsprechend reflektiert wurde, oder nicht. Ein juristisches Auslegungsproblem entsteht also, was durch einzelne Konkretionen (in Form einer Vorsorgevollmacht) umgangen werden kann. Folglich ist die Wirksamkeit dieser Vorausverfügung ohne genaue Differenzierung und Aufzählung der Zuständigkeiten in Gesundheitsangelegenheiten nicht garantiert.

5. Die Patientenverfügung 5.1 Die rechtliche Grundlage Die Patientenverfügung89 wurde im BGB durch das am 1. September 2009 in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts verankert. Hierin heißt es: „Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der Betreuer, ob diese Festle86 87 88 89

Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 12. BMJ, Betreuungsrecht, 28. Eine genauere Beschreibung dieses Topos erfolgt in Kapitel II.8. Die teilweise verwendete Betitelung Patiententestament hat sich gegenwärtig nicht durchgesetzt, insbesondere daher, da der Terminus Testament vermuten lässt, dass es sich um Regelungen handelt, die nach dem Tod relevant werden, was gerade nicht das Wesen der Patientenverfügung kennzeichnet. Ebenso wird heute der Begriff Patientenschutzbrief weitgehend nicht mehr verwendet.

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5. Die Patientenverfügung

gungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden. Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.“90

In einer Patientenverfügung kann also jeder Volljährige schriftlich festhalten, wie und ob er im Falle der Entscheidungs- und Äußerungsunfähigkeit behandelt werden will. Sie gilt als Instrument, den eigenen Willen, Einstellungen und Überzeugungen in Bezug auf antizipierte, zukünftige, noch nicht eingetretene medizinische Maßnahmen und Behandlungen – insbesondere auf Sterbebegleitung und indirekte Sterbehilfe91 – und zur pflegerischen Versorgung verbindlich und im Voraus mitzuteilen. Sie kommt in dem Fall zum Tragen, dass eine Willensäußerung situationsspezifisch nicht mehr möglich ist. Der Patientenverfügung wird der Anspruch entgegengebracht, in Situationen, in denen nicht mehr autonom gehandelt und entschieden werden kann, das Selbstbestimmungsrecht einer Person zu wahren und zu stärken.92 „Eine Patientenverfügung wird mit dem Ziel aufgesetzt und unterzeichnet, dass auch dann, wenn ich als Patient nicht mehr in der Lage bin, selbst zu entscheiden, mein früher geäußerter Wille respektiert und befolgt wird. Eine Patientenverfügung ist gewissermaßen ein in die Zukunft hinein verlängerter Wille für den Fall, dass ich selbst nicht mehr entscheiden kann.“93

Die 2009 in Kraft getretene Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht stärkt dieses Instrument dahingehend, als dass die Willensäußerungen in der Verfügung als verbindlich gelten und insofern 90 91

92 93

BGB, § 1901 a Abs. 1f. Eine genauere Abgrenzung der verschiedenen Arten von Sterbehilfe mit ihrer jeweiligen rechtlichen Bewertung ist in Kapitel II.10.3 dargestellt. Vgl. BMJ, Patientenverfügung, 9. Klie, Die Patientenverfügung 2001, 31.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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auch ärztliches Handeln unmittelbar binden – und dies unabhängig eines Stadiums einer Erkrankung. Der prospektive Wille einer Person wird somit rechtlich mit dem aktuellen Willen in einer erst zukünftig real werdenden Situation der Entscheidungsunfähigkeit gleichgesetzt. Diese rechtliche Aufwertung der Patientenverfügung zur Verbindlichkeit verschafft ihr eine enorme Tragweite. Verfasser der Patientenverfügung müssen nicht in vollem Umfang geschäftsfähig sein, sehr wohl aber – wie es im Gesetz heißt – einwilligungsfähig. „Das ist die Fähigkeit, nach ärztlicher Aufklärung und Beratung Art, Bedeutung und Tragweite (Risiken) der ärztlichen Maßnahme zu erfassen und wirksam in diese Maßnahme einzuwilligen.“94 Gemäß § 1901 a Abs. 1 BGB ist eine Patientenverfügung jederzeit formlos zu widerrufen. Eine genauere Beschreibung eines solchen Widerrufs ist nicht gegeben und fordert insofern zur Interpretation heraus. Ein formloser Widerruf erfolgt nicht zwingend schriftlich. Welche Anforderungen hingegen an mündliche Aussagen oder nonverbales Verhalten gestellt werden, ist im Speziellen ggf. situativ zu entscheiden. Auch durch entsprechende Zeichen kann ein Widerruf der früher fixierten Aussagen in einer Patientenverfügung getätigt werden, falls beispielsweise eine Artikulation nicht mehr möglich ist. Etwa auch Hilferufe, die trotz vorherig festgelegten Behandlungsverzichts klar zur Handlung bei der eingetretenen Situation auffordern, könnten als formloser Widerruf gewertet werden. „Die Gesetzesbegründung führt als Beispiel ‚situativ spontanes Verhalten des Patienten gegenüber vorzunehmenden oder zu unterlassenden ärztlichen Maßnahmen‘ an. ‚Unwillkürliche, rein körperliche Reflexe‘ scheiden dagegen als Anhaltpunkt aus.“95

Offen bleibt die Frage, wie nonverbales Verhalten in Reaktion auf die medizinische Maßnahme mitunter von einem rein körperlichen Reflex abgegrenzt werden kann. Eine gewisse Notwendigkeit zur Interpretation des Verhaltens wird herausgefordert. Demgegenüber bestehen rigidere Positionen: Es „kann ein wirksamer Widerruf nur angenommen werden, wenn der Patient zum Zeitpunkt des Widerrufs einwilligungsfähig ist [. . . ]. ‚Situativ spontanes‘ Verhalten eines schweren Demenzkranken kann also nicht ausreichen.“96 Noch nicht umfassend reflektiert bleibt ferner die Auswirkung eines erfolgten Widerrufs auf weitere Inhaltsaspekte einer bestehenden, schrift94 95 96

Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 10. Taupitz, Das Patientenverfügungsgesetz, 173. Taupitz, Das Patientenverfügungsgesetz, 173.

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5. Die Patientenverfügung

lichen Patientenverfügung. Ausschlaggebend für Diskussionen hierbei ist die Schrifterfordernis, die an Patientenverfügungen gerichtet wird. Wird – verbal oder nonverbal – nun ein Widerruf bezüglich eines in der Verfügung festgeschriebenen Aspekts erlassen, so ist fraglich, wie die übrigen bestehenden, schriftlichen Teile der Verfügung bewertet werden können und ob der Widerruf eine Abänderung oder gar eine Aufhebung der gesamten Patientenverfügung hervorruft.97 5.2 Das Verfassen einer Patientenverfügung Für die Abfassung einer rechtsgültigen Patientenverfügung begegnen als einzige rechtlich definierte Kriterien das Schriftformerfordernis, die Bestätigung mit Ort, Datum und eigenhändiger Unterschrift98 sowie die Festlegung auf bestimmte Untersuchungen, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe. Alle weiteren, in Beratungsliteratur verbreiteten Kriterien weisen eher den Charakter von Empfehlungen auf bzw. resultieren aus gewissen Erfahrungswerten – insbesondere der medizinischen Praxis. Als Vorbereitung auf das Verfassen einer Patientenverfügung wird zumeist eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Themengebiet empfohlen, auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Besonders sollte dabei berücksichtigt werden, welche Reichweite die Festlegungen in der Verfügung haben: Ein Behandlungsverzicht in bestimmten Situationen bedeutet etwa ein bewusstes Ablehnen einer Chance auf Weiterleben. Dem wird oft gegenübergestellt, dass ungewiss ist, wie ein etwaiges Weiterleben dann aussehen kann.99 Dem neuen § 1901 a BGB zufolge können in einer Patientenverfügung ausschließlich Anweisungen zu zukünftigen Untersuchungen, Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen festgelegt werden. Hierzu zählen „spezifische medizinische Maßnahmen wie z.B. Reanimation, künstliche Beatmung, Operationen oder eine antibiotische Behandlung z.B. bei Lungenentzündungen“100 . Künstliche Ernährung und künstliche Flüssigkeitszufuhr gelten ebenso als Heilbehandlung. Infolgedessen kann wirkkräftig in einer Patientenverfügung der Abbruch oder das Unterlassen ebendieser angeordnet werden. „Hat der Patient in seiner Patientenverfügung das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen mit den Worten ‚Heilbehandlung oder ärztliche Maßnahmen‘ angeordnet, dann hat er damit die künstli97

Vgl. Taupitz, Das Patientenverfügungsgesetz, 173. Vgl. BGB, § 126. 99 Vgl. BMJ, Patientenverfügung, 10. 100 Coeppicus, Gesetz, 47 (Formatierung d. Vf.). 98

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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che Ernährung und die künstliche Flüssigkeitszufuhr untersagt.“101 Von der Beratungsseite wird die Notwendigkeit einer genau durchdachten und sorgfältig formulierten Verfügung deutlich. Um dies zu realisieren, wird teils eine dezidierte, auch medizinische Beratung empfohlen. Explizit rechtlich verpflichtend ist diese allerdings nicht. In der Genese des Gesetzgebungsverfahrens zur Patientenverfügung galt die Frage nach einer Beratungsverpflichtung als Streitpunkt. Im Folgenden wird dies an verschiedenen Stellen zur Sprache kommen. Mitunter wird in diversen, zur Verfügung stehenden Muster-Formularen und -Texten der Eindruck erweckt, als könne der Inhalt einer Patientenverfügung ausschließlich aus Behandlungsbegrenzungen oder Behandlungsverzichten bestehen. Gemäß § 1901 a Abs. 1 BGB ist dies explizit nicht der Fall. Ebenso können Einwilligungen in zukünftige Maßnahmen getätigt werden oder Wünsche über die Fortführung einer Behandlung oder Therapie zusätzlich Äußerung finden. Rechtlich wird also offen gehalten, ob die Festlegungen in einer Patientenverfügung lebensoder therapieverlängernder Art sind oder nicht, worüber mitunter die öffentliche Darstellung hinwegzusehen scheint. Als Spezifikum der Patientenverfügung kann die „zeitliche[n] Distanz“102 beschrieben werden. Sie kennzeichnet sich dadurch, dass die Verfügung prospektiv, also i. A. vor einer spezifischen Krankheitssituation und somit zumeist im gesunden Zustand verfasst wird. Folglich bilden die Willensäußerungen zuerst einmal die gegenwärtigen Einstellungen ab. Befürworter der Patientenverfügung treten besonders dafür ein, mit dem Instrument der Verfügung das Selbstbestimmungsrecht zu wahren und dem persönlichen Willen in die Zukunft hinein zu verlängern und dort Ausdruck und Geltung zu verschaffen.103 Denn die Neuerung der Rechtsprechung von 2009 spricht auch den vor einer Krankheits- oder Behandlungssituation getroffenen Festlegungen innerhalb einer Patientenverfügung bindenden Charakter zu. Sie bleiben über die Zeit, auch in der Einwilligungsunfähigkeit, wirksam.104 Kritische Stimmen berufen sich mitunter auf die Veränderbarkeit von Meinungen und Einstellungen sowie auf die Schwierigkeit, prospektive Zustände zu durchdenken, sodass sie in der Realsituation dann valide zum Einsatz zu bringen sind.105 101

Coeppicus, Gesetz, 47. Verrel, Rechtliche Aspekte, 25. 103 Vgl. etwa BMJ, Patientenverfügung, 9. 104 Vgl. Verrel, Rechtliche Aspekte, 25. 105 Diese Aspekte werden tiefergehend im Kapitel III.5 diskutiert. Vgl. ferner Sommer, Patientenverfügungen, 577. 102

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5. Die Patientenverfügung

Etliche Beratungsliteratur weist darauf hin, dass eine angemessene Formulierung einer Patientenverfügung keineswegs einfach und schnell abgetan ist, auch damit sie dann situationsspezifisch zur Geltung kommen kann. „Die in einer Patientenverfügung getroffenen Festlegungen zu Art und Umfang der künftigen medizinischen Behandlung müssen sich auf bestimmte Lebens- und Behandlungssituationen beziehen“106 , wie es auch explizit im § 1901 a Abs. 1 BGB formuliert ist. Eine rechtliche Verbindlichkeit kann nicht gesichert werden, wenn die Aussagen in der Verfügung zu vage oder unpräzise sind, wie beispielsweise die zu allgemeine Formulierung „Ich möchte nicht sinnlos leiden“ oder „Ich möchte in Würde sterben“. Von einer wirkkräftigen Verfügung werden konkrete, situationsgemäße Äußerungen zur Durchführung oder Unterlassung einer ärztlichen Maßnahme oder Untersuchung verlangt, die sich bestenfalls auf konkrete Krankheitssituationen beziehen.107 Konkretion scheint somit eine wichtige inhaltliche Anforderung an geltungsfähige Patientenverfügungen in der Praxis zu sein. Aufgrund dessen werden von unterschiedlichen Stellen vorformulierte Patientenverfügungen, etwa mit Formularcharakter oder Satzbausteinen, angeboten mit dem Ziel unklare Formulierungen zu umgehen. Da außer der Schriftformerfordernis keine weiteren formalen Anforderungen von offizieller Stelle verabschiedet wurden, können ebenso eigenständige Formulierungen umgesetzt werden. Angemerkt wird diesbezüglich mitunter kritisch, dass die Eindeutigkeit sowie die Klarheit einer individuell formulierten Verfügung von Laien nicht immer überschaut und gewährleistet werden kann.108 Zusätzlich können auch persönliche Wertvorstellungen und Einstellungen, religiöse Orientierung und weitere Hinweise aufgenommen werden, um eine mögliche Interpretationshilfe auch für die Bestimmung des mutmaßlichen Patientenwillens zu bieten. Als weitere Empfehlung ist aufzufinden, die große Reichweite der Verfügung nicht zu unterschätzen: Um einerseits ihre Wirkung durch ungenaue Formulierungen nicht zu beschränken und um andererseits keine unbedachten oder gar ungewollten Anweisungen zu erteilen, sollten spezifische Lebens- und Behandlungssituationen benannt werden, für die die Anweisungen zu gelten haben. Hierbei kann es hilfreich sein, die Situation klar zu umreißen und auszuführen, ob sich die Festlegungen z. 106

Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 21. Vgl. Bayerisches Staatsministerium, Vorsorge, 15. 108 Es besteht eine große Diskussion über die sachgemäße Abfassung von Patientenverfügungen. Eingehend beleuchtet sowie nachgezeichnet wird diese im weiteren Verlauf in Kapitel III.5. 107

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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B. auf die finale Sterbephase, akute Lebensgefahr, irreversible Bewusstlosigkeit oder schwere Krankheit o. Ä. beziehen und welche Behandlungsmaßnahmen dann gemeint sind (z. B. Beatmung, Operationen, künstliche Ernährung, Reanimation, Antibiotika-Therapie, etc.).109 Sowohl im Gespräch mit Ärzten, die in ihrer täglichen Praxis mit dem Umgang von Patientenverfügungen konfrontiert sind, als auch in manchen Studien bezüglich der Korrelation von im Voraus getroffenen Festlegungen in einer Patientenverfügung mit tatsächlichen Wünschen einer Person am Lebensende ergibt sich nicht selten eine kritische Perspektive auf die Patientenverfügung. Es zeigt sich in Erfahrungswerten offenbar, dass ein Großteil der prospektiven Äußerungen die Realsituation nicht oder nur ungenau trifft, wodurch wiederum die Umsetzung und Anwendung der Patientenverfügung infrage steht. Ihre Validität und ihre Aussagekraft werden angezweifelt.110 Zudem kann gefragt werden, „inwiefern schriftliche P[atientenverfügungen; d.Vf.] überhaupt exakt die tatsächlichen Wünsche einer Person für ihre Versorgung am Lebensende wiedergeben.“111 Exemplarisch konnten durch Interviews im Rahmen einer multizentrischen Studie Inkongruenzen von bestehenden Verfügungen zu tatsächlichen Wünschen von Patienten gezeigt werden.112 Ein tatsächliches Zutreffen einer Patientenverfügung scheint selten gegeben zu sein, wodurch sich wiederum die Notwendigkeit des Gesprächs von Ärzten und Vertrauten des Patienten zeigt, um so den Patientenwillen zu ermitteln. Praxiserfahrungen fragen auch hier nach der Umsetzung dieses dialogischen Aspekts: „Patientenverfügungen, die ‚im Ernstfall‘ wirklich auf die eingetretene Krankheitssituation zutreffen, sind immer noch als Ausnahme anzusehen. Hinzu kommt, dass die Existenz einer Patientenverfügung im Anwendungsfall nicht immer bekannt oder dass sie nicht auffindbar ist. Deshalb müssen bei rund 95 % aller Patienten, die nicht mehr für sich selbst entscheiden können, Behandlungswünsche (mündliche Patientenverfügung) festgestellt bzw. der mutmaßliche Patientenwille/das subjektive Wohl ermittelt werden. [. . . ] Mein subjektiver Eindruck, der hoffentlich trügt, ist der: Patientenverfügungen werden seit September 2009 besser beachtet und genauer auf ihre Anwendbarkeit in der konkreten Situation hin geprüft. Treffen sie nach dieser Prüfung aber nicht zu, dann wird auf weitere klärende Gespräche zum mut109

Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 21. Vgl. Sommer, Patientenverfügungen, 577ff. 111 Nauck, Das Lebensende gestalten, 556. 112 Vgl. Nauck, Das Lebensende gestalten, 554–558. 110

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5. Die Patientenverfügung

maßlichen Willen häufig verzichtet und es bleibt alles beim Alten, d. h. es wird nach ‚objektiven Gesichtspunkten‘ und noch immer häufig ärztlich-paternalistisch entschieden.“113

Generell müssen Patientenverfügungen schriftlich abgefasst und durch persönliche Unterschrift oder notariell beglaubigt werden. Ein Widerruf ist während der Einwilligungsfähigkeit jederzeit auch mündlich möglich. Zudem darf nach § 1901 a Abs. 4 BGB das Abfassen einer Patientenverfügung keine Verpflichtung oder Bedingung sein. Aktualisierungen durch z. B. erneute Unterschriften sind nicht verpflichtend, werden aber z. T. empfohlen, um die Aktualität des verfügten Willens zu bekunden.114 Eine weitere Auswirkung einer verfassten Patientenverfügung, in der Behandlungsverzichte etwa in Form von Widersprüchen zur Intensivtherapie formuliert sind, bleibt nicht selten von Verfassern sowie von manchen Vordrucken unreflektiert: Eine Patientenverfügung zeigt Korrelation zum Thema Organspende und kann sogar einen Widerspruch zu einer ebenfalls bekundeten Organspendebereitschaft generieren. Etwa muss bei der Befolgung einer Patientenverfügung, die beispielsweise die Unterlassung jeglicher lebensverlängernder Maßnahmen fordert, die Möglichkeit einer Organspende unmittelbar ausgeschlossen werden. Denn für eine Explantation müssten notwendigerweise jene abgelehnten lebensverlängernden Maßnahmen – und damit entgegen dem festgeschriebenen Willen des Patienten in seiner Verfügung – durchgeführt werden. Dies wiederum widerspräche der rechtlichen Bindungskraft der Patientenverfügung. Jene (mögliche) Diskrepanz zwischen Patientenverfügung und Organspendeerklärung verdient Reflexion in Bezug auf die gültige Rechtsprechung, bei der Abfassung einer Verfügung sowie besonders auch bei etwaigen Beratungsgesprächen. In einem Arbeitspapier eines Expertenkreises aus Medizinern, Juristen und Ethikern zum Verhältnis von Patientenverfügung und Organspendeerklärung bietet die Bundesärztekammer einen Orientierungsrahmen zum Umgang mit der formulierten Thematik anhand von Fallkonstellationen an. „Bei einem vermuteten Hirntod halten die Experten den in der Patientenverfügung ausgedrückten Wunsch nach Therapiebegrenzung mit der Bereitschaft zur Organspende und der dafür erforderlichen kurzzeitigen Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen 113 114

Bickhardt, Folgerungen, 56. Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 28f.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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zur Feststellung des Hirntodes für vereinbar. Eine isolierte Betrachtung der Patientenverfügung ohne Rücksicht auf die Organspendererklärung würde dem Willen des Patienten nicht gerecht werden.“115

Wird hingegen der Eintritt des Hirntodes erst in näherer Zukunft vermutet, so kommt der Kreis zu dem Ergebnis, sich nicht über die verfügte Behandlungsbegrenzung in einer Verfügung hinwegzusetzen.116 Eine eindeutige Rechtsprechung steht bis dato aus.

5.3 Die Umsetzung der Patientenverfügung Eine den formalen Voraussetzungen genügende Patientenverfügung gilt als Zeugnis des prospektiven, vorweggenommenen Patientenwillens und muss als solcher auch umgesetzt werden. Sie ist beispielsweise für ärztliches Handeln i. A. verbindlich, sofern sie nicht rechtlich unzulässige oder medizinisch nicht indizierte Handlungen fordert. Es ist also zu beachten, dass der in der Patientenverfügung festgelegte Wille oder der hieraus ermittelte mutmaßliche Patientenwille117 (falls die Festlegungen nicht der konkreten Lebens- oder Behandlungssituation entsprechen) seit 2009 bindenden Charakter aufweist und ein Zuwiderhandeln als Körperverletzung strafbar ist.118 Der Gesetzgeber hat sich dazu entschieden, diese Bindungskraft unabhängig von vorheriger insbesondere medizinischer Beratung zu gestalten, worüber bereits während des Gesetzgebungsverfahrens und bis heute Diskussionen geführt werden.119 Ferner gibt es für die Festlegungen in einer Patientenverfügung keine Reichweitenbegrenzung; folglich gilt sie unabhängig eines Stadiums

115

http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=3.71.11025.11138.11171, Stand: 23.10.2014. 116 Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=3.71.11025.11138.11171, Stand: 23.10.2014. Vgl. ferner Bundesärztekammer, Arbeitspapier. 117 Für eine genauere Erklärung dieses Begriffs siehe Kapitel II.8. 118 Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 10. 119 Die entsprechenden Diskussionspunkte, die u. a. auch aus einem Verzicht auf eine Beratungsverpflichtung resultieren, sind in Kapitel III.5 genauer Thema. Vgl. etwa darüber hinaus Sommer, Patientenverfügungen, 581; Borasio, Patientenverfügungsgesetz, 1957; Schöffner, Patientenverfügung.

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5. Die Patientenverfügung

einer Erkrankungssituation.120 Ausnahmen hiervon bilden rechtlich unzulässige Forderungen wie z. B. die aktive Sterbehilfe.121 Ein bestellter Betreuer oder ein Vorsorgebevollmächtigter unterliegt laut Gesetz der Bindungskraft einer (auf die Situation zutreffenden) Patientenverfügung und fungiert als „Vollstreckungsorgan“122 dieser in der Verfügung fixierten prospektiven Willensbekundungen bzw. muss den sich hieraus zu ermittelnden mutmaßlichen Patientenwillen in Kooperation mit dem behandelnden Arzt bestimmen.123 Die in einer Patientenverfügung getätigten Festlegungen sind zusätzlich auf die Umsetzung durch weitere Personen, insbesondere von medizinischem Personal, angewiesen. Sind die Festlegungen in der Patientenverfügung genau auf die Krankheits- und Behandlungssituation übertragbar, so sind Ärzte und medizinisches Personal sowie ggf. Betreuer oder Bevollmächtigter unmittelbar an die Umsetzung derer gebunden. Diese „Situationsbezogenheit“ 124 ist Voraussetzung ihrer uneingeschränkten Verbindlichkeit. Anforderungen und Herausforderungen im Umgang mit dem Dokument ergeben sich in der Eruierung dessen, ob die Patientenverfügung den tatsächlichen Willen des Patienten in der konkreten Situation abbildet und ob sie valide sind. Eine Änderung des Patientenwillens ist nur durch konkrete Anhaltspunkte wie beispielsweise klare Gesten eindeutig feststellbar.125 Kann jedoch keine direkte Übertragung der prospektiven Willensäußerungen in der Patientenverfügung auf die tatsächlich eingetretene Situation erfolgen, so muss ein Bevollmächtigter oder ein bestellter Betreuer den mutmaßlichen Willen z. B. aus anderen Anweisungen in der Verfügung, aus früheren mündlichen Äußerungen, Wertvorstellungen oder sonstigen Anhaltspunkten feststellen.126 Der § 1901 a Abs. 2 BGB weist eindeutig auch frühere mündliche Äußerungen des Patienten als verbindlich aus, die der Berücksichtigung zur Bestimmung des mutmaßlichen Patientenwillens bedürfen. Diesen Sachverhalt unterstrich 120

Beispielhaft verdeutlicht bedeutet dies, dass in einer Patientenverfügung durchaus Festlegungen zum Behandlungsabbruch oder zur Verweigerung einer medizinischen Therapie bei Demenz oder komatösen Zuständen getroffen werden können, wenngleich etwa die Krankheitssituation als solche durch sachgemäße Behandlung nicht lebensbedrohlich ist. Vgl. Coeppicus, Gesetz, 11. 121 Vgl. Coeppicus, Gesetz, 11. 122 Verrel, Rechtliche Aspekte, 35. 123 Vgl. BGB, § 1901 a. 124 Verrel, Rechtliche Aspekte, 26. 125 Vgl. Verrel, Rechtliche Aspekte, 26f. 126 Vgl. BGB, § 1901 a Abs. 2; BMJ, Patientenverfügung, 12f.

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der Bundesgerichtshof mit seinem Sterbehilfeurteil vom 25.06.2010, nach dem auch der frühere mündlich geäußerte Wille einen Behandlungsabbruch bzw. das Unterlassen einer medizinischen Maßnahme begründet.127 Der Arzt hat also bei der Umsetzung von Patientenverfügungen eine mehrfache und zentrale Funktion. Zum einen ist es seine Aufgabe gemeinsam mit dem Betreuer oder Bevollmächtigten und ggf. weiteren Vertrauenspersonen zu prüfen, ob und inwieweit Festlegungen in der Verfügung auf die aktuelle Situation zutreffen. Zum anderen kann als gewisse „Kontrollfunktion“128 gewertet werden, dass Vertreter und Arzt zu einer einhelligen Bestimmung über das weitere Vorgehen gelangen müssen. Andernfalls ist das Betreuungsgericht anzurufen. Ferner liegt die alleinige Entscheidungskompetenz des Arztes in der Indikationsstellung.129 Festgelegte Willensäußerungen können nur solange berücksichtigt werden, wie eine medizinische Indikation ärztlicher Maßnahmen besteht. Nur wenn medizinische Maßnahmen oder Untersuchungen auch indiziert sind, bedarf der festgelegte Patientenwille 127

Vgl. Coeppicus, Gesetz, 16. Verrel, Rechtliche Aspekte, 37. 129 In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass es durchaus Betrachtungen gibt, die sich damit auseinandersetzen, inwieweit ein Wunsch des Patienten therapieentscheidend Einfluss auf die Indikation nehmen kann. Vgl. hierzu Alt-Epping, Der Wunsch des Patienten. In diesem Aufsatz wird unter Zuhilfenahme weiterer bestehender Studien und Modelle der Stellenwert eines eigenständigen Patientenwunsches bei klinischen Indikationsstellungen erörtert. Es stellt sich die Frage nach der Patientenautonomie, da sie im bisherigen informed consent als negatives Recht im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung einer indizierten medizinischen Maßnahme gewährt wird, also „eher ein Abwehrrecht und nicht ein Gestaltungsrecht zur freien Therapiewahl [. . . ] impliziert“ (Alt-Epping, Der Wunsch des Patienten, 22). Dargelegt wird, dass vielfältige, durchaus reflektierte Wünsche von Patienten im Klinikalltag begegnen, wodurch sich die Frage stellt: „Reicht das Argument der ärztlichen Fürsorgepflicht aus, um meine individuelle Autonomie lediglich als negatives Recht zu definieren“ (Alt-Epping, Der Wunsch des Patienten, 25)? Als mögliche Handlungsoption für den Arzt wird beispielsweise das partizipative Konzept des shared decision making vorgestellt, bei der „spezifische Aspekte der Arzt-Patient-Interaktion im Vordergrund“ stehen (Alt-Epping, Der Wunsch des Patienten, 25). Als Ergebnis wird angeführt, dass es Situationen geben kann, in der es geboten erscheint, den Patientenwunsch als weiteren Faktor mit in die Indikationsstellung mit einzubeziehen. Es „kann ein Patientenwunsch unter bestimmten, definierten Umständen in einem rechtfertigenden Kontext [. . . ] in den Indikationsbegriff mit seinem derzeitigen Verständnis subsummiert werden [. . . ]. Ein solches erweitertes, prozedurales Verständnis von Indikation und Autonomie lässt sich auch aus normativen Erwägungen heraus klar abgrenzen von einer ‚wunscherfüllenden Medizin‘, und unterscheidet sich ebenfalls von einem absolutistischen Autonomie(miss)verständnis“ (Alt-Epping, Der Wunsch des Patienten, 27). 128

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5. Die Patientenverfügung

in einer Verfügung auch der Berücksichtigung.130 Ein Auslegungsproblem besteht derzeit im Umgang mit der Frage, ob ein Arzt auch ohne Kooperation mit bestellten oder bevollmächtigten Patientenvertretern entscheiden kann, sofern die Festlegungen der Patientenverfügung auf die aktuelle Situation zuzutreffen scheinen. Unklar ist hierbei, ob zusätzlich zur Einschätzung des Arztes ein Betreuer gerichtlich bestellt werden muss. Handlungsunsicherheit besteht also darin, ob der Arzt bereits unmittelbar die Patientenverfügung umsetzen darf.131 Formal wurden neben der Schriftformerfordernis keine weiteren Anforderungen an die Wirksamkeit der Patientenverfügung gestellt. Beispielsweise hat der Gesetzgeber bewusst auf die Verbindlichkeit einer vorausgehenden ärztlichen Aufklärung ebenso wie auf eine zeitliche Beschränkung der Gültigkeit oder auf eine Aktualisierungserfordernis verzichtet, was in der vorausgegangenen Debatte bis zur rechtlichen Validierung der Patientenverfügung eingehend diskutiert wurde. Hierzu wurden verschiedenste Vorschläge zur gesetzlichen Regelung eingebracht, die mitunter die Aufklärungs- und Aktualisierungserfordernis befürworteten.132 Die aktuelle Ansicht des Bundesministeriums der Justiz hierzu scheint nicht rechtsgültig und entsprechend korrekt zu sein: Gemäß ihrer Stellungnahme wird der fälschliche Eindruck vermittelt, dass bei einer Anordnung in der Patientenverfügung zu einem „Eingriff in die körperliche Integrität (beispielsweise eine Operation)“133 eine vorherige ärztliche Aufklärung vorausgegangen bzw. explizit auf diese verzichtet worden sein muss. Jenes ist, so die Darlegungen, in den Festlegungen in der Patientenverfügung erkennbar zu machen, um den Äußerungen Wirksamkeit zu verleihen.134 Eben solche vorausgegangenen verpflichtenden Beratungen bzw. Beratungsverzichte wurden bewusst im Gesetzgebungsverfahren zum Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetz verneint. Der Eindruck kann entstehen, dass durch die Festlegungen innerhalb einer Patientenverfügung Verantwortliche, insbesondere Mediziner, ih130

Vgl. Verrel, Rechtliche Aspekte, 37f. Die genauere Diskussion dieses Auslegungsproblems ist nachzulesen bei Verrel, Rechtliche Aspekte, 38ff. Vgl. auch Taupitz, Das Patientenverfügungsgesetz, 177; Kutzer, Ärztliche Pflicht, 532; Borasio, Patientenverfügungsgesetz, 1954. 132 Vgl. Verrel, Rechtliche Aspekte, 32f. Die Debatte mit ihren thematischen Diskussionen wird genauer im Kapitel III.3 erläutert. Hierbei werden auch jene Diskussionen um die Notwendigkeit einer ärztlichen Aufklärung oder fachkundigen Beratung vor Abfassung einer Patientenverfügung betrachtet sowie die unterschiedlichen Einstellungen zu den formalen Voraussetzungen dargestellt. 133 BMJ, Patientenverfügung, 12. 134 Vgl. BMJ, Patientenverfügung, 12. 131

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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re Verantwortung zunehmend umgehen. So scheint die derzeitige Praxis der Patientenverfügung die Entwicklung zu begünstigen, Verfassern die alleinige Verantwortung für medizinische Maßnahmen, das Leben und das Sterben zu übergeben.135 „Festlegungen in einer Patientenverfügung bedeuten, dass man selbst die Verantwortung für die Folgen übernimmt, wenn eine Ärztin oder ein Arzt diesen Anordnungen entspricht.“136 Ein genaues Zutreffen jener verfügten Situationen ist hierbei allerdings wichtige Voraussetzung. Andernfalls müssen Interpretationen zugrunde gelegt werden, die eo ipso der Irrtumswahrscheinlichkeit unterliegen. „Schliesslich [sic!] wird das Sterben mit der wachsenden Bedeutung von Patientenverfügungen zu einem selbst zu verantwortenden Entscheidungsraum.“137 Von einigen Seiten wird zudem empfohlen, eine Person zu bevollmächtigen, die für die Umsetzung der Patientenverfügung im Ernstfall eintreten oder in anderen, nicht in der Verfügung antizipierten Lebensoder Behandlungssituationen entscheiden kann.138 So heißt es: „Aus ärztlicher wie juristischer Sicht ist die Kombination von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zu empfehlen“139 . Auch etwa das Bundesministerium der Justiz unterstreicht die Sinnhaftigkeit einer Verbindung von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht.140 Diese Empfehlungen scheinen bereits entsprechende Reaktionen auf Praxiserfahrungen mit der Patientenverfügung zu sein, dass sie einerseits der autonomen prospektiven Willensbekundung für die Zukunft bindende Wirkung verleiht, sie aber andererseits ohne Fürsprecher in der Praxis schwerlich zur Umsetzung gelangen kann und sich ferner hier bereits Fragen der Validität ergeben. Unterstrichen werden sollte, dass auch eine bestehende Patientenverfügung, aus der sich womöglich kein genauer Wille des Patienten ablesen lässt, den Grundsatz in dubio pro vita nicht infrage stellt und dann so lange, wie medizinisch indiziert, therapiert wird.141 Wie schon kurz in der Einleitung benannt, gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der Patientenverfügung und der Vorsorgevollmacht. Deutlich wird dies bereits dadurch, dass beide Vorsorgevarianten Relevanz im Betreuungsrecht zeigen und recht differente Konzepte ver135

Vgl. BMJ, Patientenverfügung, 10. BMJ, Patientenverfügung, 10. 137 Mathwig, Das Sterben leben, 6. 138 Vgl. BMJ, Patientenverfügung, 14f. 139 Borasio, Patientenverfügungsgesetz, 1957. 140 Vgl. BMJ, Patientenverfügung, 15. 141 Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 44–46. 136

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6. Behandlungswünsche

körpern. Vor diesem Hintergrund wird nunmehr der Gedanke verstärkt, dass zu einer eingehenden Betrachtung der Vorsorgevollmacht, wie sie diese Arbeit leisten möchte, unweigerlich additiv und kombinativ die Patientenverfügung in den Blick gerät. Hinzu kommt, dass in gängiger Praxis diese Verbindung bislang wenig Stellenwert erfährt und auch das Instrument der Vorsorgevollmacht, wie noch zu zeigen sein wird, kaum reflektiert und relevant erscheint. Infolgedessen ergibt sich die Notwendigkeit, im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder gezielt die Patientenverfügung mit in den Untersuchungsgegenstand hinein zu nehmen. Deutlich ist bereits an dieser frühen Stelle der wesenhafte Unterschied von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht erkennbar, der primär an den Aspekten Autonomie und Fürsorge Halt findet. So lässt sich nochmals explizit benennen, dass eine Patientenverfügung den Anspruch trägt autonom und prospektiv Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen, die für die Zukunft ihre Gültigkeit behalten. Hingegen ist die einzig festgeschriebene prospektive Entscheidung bei der Vorsorgevollmacht die Bestimmung des Bevollmächtigten mit seinen Zuständigkeitsbereichen. Sie wiederum konzentriert sich also auf die Wahl einer fürsorgenden Person, der die Entscheidungskompetenz für Situationen der Entscheidungs- und Äußerungsunfähigkeit übergeben wird. Wie hier Autonomie und Fürsorge normativ zu verstehen und zu gewichten sind und welches Wechselverhältnis beider vorliegt, wird im weiteren Verlauf der Arbeit tiefergehend zu beleuchten sein. Zugleich wird deutlich, dass mit diesen Erläuterungen ebenso die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschenbild, welches auch die Topoi von Autonomie und Fürsorge bedingt, zu stellen ist.

6. Behandlungswünsche Behandlungswünsche können zusätzlich zu oder auch unabhängig von allen Vollmachten oder Verfügungen mitgeteilt werden. Zweckmäßig erscheint hierbei, gemäß Beratungsliteratur, ihre schriftliche Verfassung. Gleichwohl verdienen de jure – wie mehrfach hervorgehoben – auch mündliche Äußerungen Berücksichtigung und Geltendmachung. Ein zuständiger Betreuer oder Bevollmächtigter kann diese Mitteilungen als Orientierungsrahmen für anstehende Entscheidungen nutzen, da es seine Aufgabe ist, den Willen des Patienten festzustellen und ihm Ausdruck und Geltung zu verschaffen.142 142

Vgl. BGB, § 1901 a und b; Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 18.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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Behandlungswünsche können, ebenso wie die Patientenverfügung, Aussagen zu konkreten medizinischen Maßnahmen oder Untersuchungen enthalten, worin sich beide Varianten zunächst gleichen. Ihr spezifischer Unterschied besteht vielmehr in ihrer jeweiligen, rechtlich zugesicherten Reichweite und Gebundenheit. „Behandlungswünsche und Patientenverfügung unterscheiden sich darin, inwieweit Sie Ihrem Bevollmächtigtem oder Betreuer Handlungsspielraum einräumen wollen. Behandlungswünsche sind eine Richtschnur für die Entscheidung Ihres Bevollmächtigten oder Betreuers über Ihre Behandlung in der konkreten Situation. Demgegenüber treffen Sie mit einer Patientenverfügung bereits selbst die Entscheidung über Ihre künftige Behandlung.“143

Die Patientenverfügung wird folglich mit einem Ausdruck des Willens gleichgesetzt, Behandlungswünsche hingegen dienen zur Feststellung des (mutmaßlichen) Patientenwillens.

7. Kombination von Verfügungen und Vollmachten Das Verfassen einer Patientenverfügung schließt das Anfertigen anderer Vollmachten eo ipso nicht aus. Wie bereits Erwähnung fand, ist es möglich, sie mit einer Vorsorgevollmacht oder einer Betreuungsverfügung zu kombinieren. Auf diese Weise kann im Falle der Unfähigkeit, die eigenen Belange zu regeln, der Betreuer unmittelbar bestellt werden bzw. der Bevollmächtigte handeln. Dieser hat die in der Patientenverfügung bekundeten Willensentscheidungen gemäß dem Betreuungsrecht zu berücksichtigen.144 Ferner kann es eine Option darstellen, die Vorsorgevollmacht mit einer Betreuungsverfügung zu kombinieren. Diese Synthese reagiert auf den Fall, wenn zu einer bestehenden Vorsorgevollmacht eine zusätzliche Betreuerbestellung durch das Betreuungsgericht notwendig erscheint. Geboten ist dies etwa, wenn eine Betreuung in Bereichen erforderlich wird, für die in der Vorsorgevollmacht keine Kompetenz übertragen wurde. Mitunter sehen diverse Vordrucke diese Kombination als Absicherung bereits vor.145 143

Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 18. Vgl. BGB, § 1901 a Abs. 1, 2; § 1901 b; Ärztlicher Arbeitskreis Sterbebegleitung, Patientenverfügung, 13. 145 Vgl. beispielsweise Diakonie in Südwestfalen, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, 9; Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge (Formular); BMJ, Betreuungsrecht. 144

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8. Der mutmaßliche Patientenwille

Ein weiterer Aspekt wird Reflexionsgegenstand dieser Arbeit sein müssen: Bedacht werden kann sodann, ob eine abgefasste Vorsorgevollmacht eine zusätzliche Patientenverfügung überflüssig erscheinen lässt bzw. die Verfügung gar eine einschränkende Auswirkung auf die Vollmacht ausübt, da die bevollmächtigte Person de jure an die prospektiven Festlegungen der Verfügung – sofern sie genau auf die Situation zutreffen – gebunden ist. Zu prüfen gilt etwa in dem Zusammenhang, ob die Reichweite der Vorsorgevollmacht nicht gar umfassender erscheint als ggf. begrenzt mögliche prospektive Festlegungen. Dabei wird der Aspekt situativer Entscheidungen eine beachtliche Rolle einnehmen müssen.

8. Der mutmaßliche Patientenwille Im Kontext der vorausgegangenen Darstellungen diverser Vorsorgeund Verfügungsvarianten im Betreuungsrecht ist bereits der Begriff des mutmaßlichen Patientenwillens aufgetreten, welcher nun dezidiert Erläuterung findet. Bestellter Betreuer bzw. Bevollmächtigter und behandelnder Arzt müssen ihre Handlungen bei eingetretener Äußerungs- und Einwilligungsunfähigkeit des Betreuten an seinem sogenannten mutmaßlichen Patientenwillen maßgeblich orientieren, wie es das BGB in den § 1901 a und b beschreibt. Falls keine Festlegungen des Patienten in einer Patientenverfügung auf die nun konkrete Lebens- oder Behandlungssituation zutreffen oder keine Verfügung erstellt wurde, ist der mutmaßliche Wille „aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.“146 Unter Berücksichtigung dieses mutmaßlichen Patientenwillens werden dann aktuelle Behandlungsentscheidungen getroffen, wenngleich seine Ermittlung eine Herausforderung darzustellen scheint. „Die Ermittlung kann immer nur indirekt erfolgen und ist deshalb an zusätzliche kommunikative, technische und methodische Probleme gebunden. Nach den Ausführungen des Bundesgerichtshofs [1994] und den Festlegungen der Bundesärztekammer [1998] ergeben sich vorläufige Anhaltspunkte und Vermutungen für den Patientenwillen aus dessen (1) altersbedingter Lebenserwartung, (2) dem Ausmaß von Schmerzen, (3) frühe146

BGB, § 1091 a Abs. 2.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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ren Äußerungen, (4) der religiösen Überzeugung und (5) persönlichen Wertvorstellungen des Patienten.“147

Wird der Patientenwille nicht z. B. innerhalb einer Patientenverfügung schriftlich fixiert, so gilt dessen Beachtlichkeit dennoch uneingeschränkt. Der mutmaßliche Wille ist dazu ggf. zusammen von Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigtem zu ermitteln. Zudem räumt § 1901 b Abs. 2 BGB nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen des Betroffenen die Möglichkeit dazu ein, sich zur Bestimmung des mutmaßlichen Patientenwillens zu äußern, sofern dies ohne erhebliche Verzögerung möglich ist. Insofern sind in diesem Fall konkrete Kommunikationsmöglichkeiten für den Arzt mit Angehörigen und nahen Vertrauten geschaffen – auch über die Schweigepflicht hinweg. Können sich der behandelnde Arzt und der eingesetzte Betreuer nicht über den Willen des Patienten einigen, muss das Betreuungsgericht eingeschaltet werden.148 Angemerkt wird mitunter, dass situationsspezifisch, sofern keine konkreten Äußerungen der betroffenen Person mehr getätigt werden können, der ermittelte mutmaßliche Patientenwille immer nur scheinbar mit dem tatsächlichen Willen übereinstimmen kann.149 Für die (frühzeitige) Mitteilung der eigenen Wünsche und Vorstellungen in mündlicher oder schriftlicher Form sieht das BMJ beispielsweise die Patientenverfügung oder auch separate Wert- und Wunschlisten als Möglichkeit an.150 Darüber hinaus stellen Gespräche unter Familienmitgliedern, Vertrauten und Freunden eine Option für einen Einblick in die persönlichen Wünsche dar.

9. Die Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht Bei der Beschäftigung mit der Thematik (gesundheitlicher) Vorsorge und insbesondere im Kontext der Patientenverfügung begegnet nicht selten der Terminus der Selbstbestimmung oder des Selbstbestimmungsrechts – mitunter gar synonym ausgedrückt als Autonomie. Eine Reflexion der Begrifflichkeiten ist folglich herausgefordert und notwendig zum weiteren Verständnis der Diskussionen dieser Arbeit vorausgesetzt. 147

Sass, Patientenverfügung, 92. Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 42. 149 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 93. 150 Vgl. BMJ, Betreuungsrecht, 33. 148

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9. Die Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht

Vorfindliche Beratungsliteratur und -formulare (zumeist mit einem großen Fokus auf die Patientenverfügung) berufen sich oft auf die von der Patientenverfügung gebotenen Möglichkeiten das Selbstbestimmungsrecht jeder Person zu sichern und anhand dieses Instruments ein humanes und damit selbstbestimmtes Sterben zu schützen und zu garantieren. Dabei wird mitunter der Eindruck hervorgerufen, dass dieses Selbstbestimmungsrecht gerade im Krankenhausalltag oder bei schweren Erkrankungen – etwa durch Übertherapie – gegenwärtig stark infrage steht.151 Unter Rekurs auf die Ausübung der Selbstbestimmung sowie die Nutzung des Selbstbestimmungsrechts und der persönlichen Autonomie wird nicht selten in öffentlichen Darstellungen besonders die Patientenverfügung gestärkt. Dazu wird zumeist aufgeführt, dass das Selbstbestimmungsrecht jeder Person ein verfassungsmäßig garantiertes Grundrecht in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt, welches zudem in der Menschenwürde bzw. dem Persönlichkeitsrecht Verankerung findet sowie Ausdruck der Freiheit jedes Menschen ist. Zur Präzisierung soll es ferner im Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) kommen. Konkret wird auf Grundlage dessen das Selbstbestimmungsrecht von Patienten („voluntas aegroti“152 ) als Recht beschrieben, dass „jeder Patient aufgrund seiner Menschenwürde und seines Persönlichkeitsrechts über seinen Körper und das, was mit ihm geschieht, frei bestimmen“153 kann. Zuweilen heißt es: „Die Selbstbestimmung eines Menschen als Ausdruck seiner Autonomie ist ein Recht, das jedem zusteht, auch dem kranken Menschen.“154 Infolgedessen wird die Unverlierbarkeit dieses Rechts auch im Falle der Bewusstlosigkeit oder Äußerungsunfähigkeit hervorgehoben, wofür wiederum die Patientenverfügung sodann eintreten soll.155 Zur kritischen Reflexion der Topoi Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht ist auf den Sachverhalt zu verweisen, dass es ein solches Recht auf Selbstbestimmung de jure nicht von sich heraus gibt, sondern es vielmehr aus den vorhandenen Grundrechten der ersten Artikel des Grundgesetzes interpretiert wird. Zu nennen sind diesbezüg151

Vgl. beispielsweise DGHS, Patientenschutz- und Vorsorgemappe; Verbraucherzentrale, Vorsorge selbstbestimmt, 41; Verbraucherzentrale, Patientenverfügung, 5f.; Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 3; Ärztekammer Westfalen-Lippe, Patientenverfügung, 3; Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener, Handbuch PatVerfü, 5f. 152 Bühler, Betreuungsrecht, 11 (Formatierung d. Vf.). 153 Bühler, Betreuungsrecht, 11. 154 Bühler, Betreuungsrecht, 52. 155 Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 11.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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lich insbesondere die in Artikel 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen, das in Artikel 2 Abs. 1 GG zugesprochene Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nebst dem in Artikel 2 Abs. 2 GG bezeichneten Recht auf körperliche Unversehrtheit. Auf dieser Grundlage aufbauend wird ein solcher Rechtsstatus nicht selten automatisch vorausgesetzt und mitunter gar in Urteilsbegründungen verwendet. Der Anspruch des Selbstbestimmungsrechts und seine interdisziplinär vorfindliche Implementierung in die Persönlichkeitsrechte basieren folglich bereits auf einer spezifischen Ableitung der Grundrechte, speziell der Menschenwürde. Analog gilt dies für die Selbstbestimmung des Menschen als solche, welche auf ähnlicher Interpretation beruht. Die Selbstbestimmung des Menschen etwa bei dem Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit vorauszusetzen, erscheint einerseits nachvollziehbar, andererseits dennoch als spezifische Auslegung. Zudem lässt sich fragen, ob aus der im Grundgesetz zugesagten Würde des Menschen automatisch Selbstbestimmung abgeleitet werden kann. Der Begriff der Menschenwürde ist folglich vorab hinlänglich zu klären.156 Unweigerlich wird damit die Frage deutlich, welches Menschenbild zugrunde liegt, sofern Menschenwürde mit Selbstbestimmung verknüpft oder gar identifiziert wird. Dass eine solche Entwicklung bereits jetzt in der Debatte um die (rechtliche Regelung zur) Patientenverfügung aufzufinden ist, ist zu vermuten. Folglich wird das weitere Ziel der Arbeit sein, jene Tendenzen tiefergehend aufzuarbeiten, um dabei das Verhältnis von Menschenwürde und Selbstbestimmung mit den entsprechenden Konsequenzen für das Menschenbild zu untersuchen. Dabei kann schon an dieser Stelle der Hinweis gegeben werden, dass in den das Themengebiet betreffenden Darstellungen zumeist keine begriffliche Differenzierung zwischen Selbstbestimmung und Autonomie erfolgt. Ihr synonymer Gebrauch fordert zur weiteren Begriffsanalyse heraus.157 Da sich ein Vorhandensein von Selbstbestimmung und des Selbstbestimmungsrechts auf oben beschriebene Weise in Deutschland implementiert hat, begegnen besonders für den medizinischen und medizinethischen Kontext gängige Konkretionen, die sodann teils unreflektiert gezogen werden. Jene werden im Folgenden darstellend aufgeführt, um die existente Verankerung der Interpretation eines Selbstbe156

An dieser Stelle sei auf die folgende Aufarbeitung verwiesen. Insbesondere in der theologischen Beschäftigung mit der Thematik wird die Begrifflichkeit der Würde immer wieder eine Rolle spielen. Vgl. etwa Kapitel IV.2; IV.3; V.3.1. 157 Besonders zum Verständnis des Autonomie-Begriffs sei auf das Kapitel III.7 verwiesen, welches eine nähere Verortung dieses Topos vornimmt und einen etymologischen sowie semantischen Verstehenshorizont aufarbeitet.

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9. Die Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht

stimmungsrechts aus dem Grundgesetz nicht verkürzend nachzubilden. Dabei wird etwa beschrieben, dass die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts in Bezug auf eine Behandlungssituation an die Kriterien „Einsichts-, Urteils- und Ausdrucksfähigkeit“158 gebunden ist. Aufgabe des Arztes ist es zu prüfen, ob eine Einwilligungsfähigkeit gegeben ist. „Zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit gibt es zwei Modelle. Im objektiven Modell wird die Entscheidung des Patienten in der Einwilligungssituation mit jener eines ‚vernünftigen Menschen‘ verglichen, ohne nach den Beweggründen zu fragen, die zur Entscheidung geführt haben. Das subjektive Einwilligungsmodell orientiert sich vorwiegend an der individuellen Störung des Einzelnen und an den Auswirkungen dieser Störung auf die zu treffende Entscheidung. Die meisten Ärzte gehen aber eher pragmatisch nach dem objektiven Modell vor, obwohl dies sowohl von Juristen als auch von Psychiatern kritisch gesehen wird, da sich nur schwer definieren lässt, was eine ‚vernünftige Entscheidung‘ sein soll.“159

Selbstbestimmung ist somit als bedeutsamer Zuspruch für Menschen vorfindlich, gleichzeitig fordert sie aber auch einen erheblichen Anspruch daran, sich mit seinen eigenen Belangen auseinanderzusetzen und für sich selbst einzutreten, um eigene Entscheidungen zu treffen. „Selbstbestimmung setzt die Fähigkeit zur Willensbildung voraus. Dem Einzelnen wird zugetraut, dass er in verantwortlicher Weise Entscheidungen für sich selbst treffen kann. Zugleich trägt er damit die Last des Entscheidens.“160 Im medizinischen Bereich wird Selbstbestimmung besonders darin verortet, dass jeder frei über Durchführung, Unterlassung, Abbruch oder Weiterführung einer indizierten Maßnahme entscheiden kann. Ein Zuwiderhandeln des Arztes oder des medizinischen Personals ist als Körperverletzung strafbar.161 Außer in Notfallsituationen bedarf folglich jede medizinische Intervention der expliziten Zustimmung – entweder vom Patienten selbst oder von seinem Betreuer oder Bevollmächtigten. Zudem wird mitunter die Forderung nach fundierter Aufklärung für medizinische Maßnahmen und Entscheidungssituationen mit dem Selbstbestimmungsrecht begründet.162 Diesen Akt der informierten Zustimmung des Patienten zu medizinischen Angelegenheiten infolge einer 158

Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 13. Bühler, Betreuungsrecht, 15 (Formatierung d. Vf.). 160 Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 9. 161 Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 9. 162 Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 12. 159

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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Aufklärung durch den behandelnden Arzt wird mit informed consent163 bezeichnet. Informed consent ist wohl die heute gängige Methode zur Aufklärung von Patienten. „Eine Erweiterung des informed consent ist die Partizipative Entscheidungsfindung (PEF oder im Englischen: shared decision making). Diese stellt einen Interaktionsprozess dar, dessen Ziel es ist, unter gleichberechtigter aktiver Beteiligung von Patient und Arzt auf Basis geteilter Informationen zu einer gemeinsamen verantworteten Übereinkunft zu kommen.“164

Die landläufige Praxis des informed consent wendet sich dagegen, dass dem Mediziner die alleinige Entscheidungskompetenz in die den Patienten betreffenden medizinischen Maßnahmen obliegt. Demzufolge ist hohe Eigenverantwortung auf Patientenseite eine Folge, da eine persönliche, tiefgehende und reflektierte Auseinandersetzung mit den gegebenen Möglichkeiten gewissermaßen gefordert ist.165 Mit der Begründung eines Selbstbestimmungsrechts wird der Anspruch deutlich, selbstständig Entscheidungen – auch und insbesondere im medizinischen Kontext – treffen zu können, wenngleich das Fundament einer Entscheidungsfindung auf umfassender Aufklärung zu ruhen scheint. Mitunter kann dennoch das Gefühl der Überforderung auftreten, indem Folgen, Risiken und Probleme trotz ärztlicher Aufklärung letztlich schwer abschätzbar bleiben. In der Diskussion um die Forderung der Selbstbestimmung, des Selbstbestimmungsrechts sowie des Autonomieanspruchs wird korrektiv auf Aspekte der Fürsorge verwiesen. Mitunter wird dabei aufgeführt, dass Selbstbestimmung Fürsorge notwendig zur Voraussetzung hat.166 Am informed consent lässt sich dies beispielhaft verdeutlichen: Um der Forderung einer selbstbestimmten Entscheidung nachkommen zu können, wird die Fürsorge des Arztes in Form einer umfassenden Aufklärung vorausgesetzt. Letztlich wird gar bezweifelt, ob Entscheidungen 163

Vgl. Beauchamp, Principles of Biomedical Ethics, 117ff. In diesem oft rezipierten Lehrbuch für moderne Medizinethik entwickeln die Amerikaner Tom L. Beauchamp und Jamesf. Childress eine Prinzipienethik basierend auf den vier Prinzipien Autonomie (respect for autonomy), des Nicht-Schadens (nonmaleficence), der Fürsorge (beneficence) und der Gerechtigkeit (justice) (vgl. Beauchamp, Principles of Biomedical Ethics, 99ff.). Innerhalb des Prinzips respect for autonomy erfolgt eine eingehende Thematisierung des informed consent, auf die an dieser Stelle verwiesen wird. Vgl. außerdem Maio, Mittelpunkt Mensch, 144ff. 164 Schulze, Selbstbestimmt, 167 (Formatierung d. Vf.). 165 Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 52–54. 166 Vgl. hierzu etwa Kapitel IV.2.

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9. Die Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht

solcher Art als tatsächlich selbstbestimmt bezeichnet werden können. Auch im Diskussionsfeld um die Patientenverfügung geht es um Fragen des Verhältnisses von Selbstbestimmung und Fürsorge. Beispielhaft sei der Aspekt genannt, ob die im Anspruch auf Selbstbestimmung festgehaltenen prospektiven Entscheidungen innerhalb einer Patientenverfügung höherwertiger sind als Schutz und Erhalt des Lebens, wofür der Heilauftrag des Arztes („salus aegroti“167 ) einzutreten hat. Nicht nur gesellschaftlich – wie im Folgenden zu thematisieren ist – scheint der Forderung nach Selbstbestimmung wachsender Raum zuzukommen, auch Gerichtsurteile berufen sich auf die Interpretation des Grundgesetzes im Sinne der Selbstbestimmung. Eine Stärkung des Selbstbestimmungsrechts erfolgte beispielsweise durch das Grundsatzurteil des BGH vom 25.06.2010168 , in dem ein Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen auf Grundlage des Patientenwillens als zulässig erachtet wird. Beschränkt wird es gleichzeitig von der Einsicht, dass zwar Ablehnungen von bestimmten Behandlungen getroffen werden können, jedoch keine rechtlich unerlaubten Handlungen von Anderen gefordert werden dürfen, wie beispielsweise die aktive Sterbehilfe.169 „Aus dem Selbstbestimmungsrecht folgt allerdings lediglich ein Abwehrrecht gegen Eingriffe in die eigene körperliche Sphäre, jedoch kein Anspruch auf aktive Handlungen anderer. Deshalb kann eine medizinisch nicht indizierte Maßnahme vom behandelnden Arzt verweigert werden. Auch kann sich der Arzt auf seine Gewissensfreiheit berufen. Er kann deshalb z. B. aktive Handlungen zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen ablehnen.“170

Wahrnehmbar sind differente Deutungen von Selbstbestimmung in verschiedenen Perspektiven. Mitunter erscheint sie als völlige Unabhängigkeit von Anderen in der Stärkung individueller Autonomie und zeigt dementsprechend gar gewisse Nähe zur Autarkie.171 Der Auffassung der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz entspricht beispielsweise, dass Selbstbestimmung „nicht als völlige Unabhängigkeit missverstanden werden“172 kann und sie auf die Fürsorge von Anderen angewiesen ist. Gleiche Einstellung vertritt der nationale Ethikrat, der 167

Bühler, Betreuungsrecht, 11 (Formatierung d. Vf.). Vgl. BGH 2 StR 454/09. 169 Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 10f. 170 Taupitz, Die Debatte, 115 (teils Fettdruck im Original). 171 Vgl. etwa für die Diskussion um Konzeptionen der Autonomie Ernst, Patientenverfügung, 240–247; Brauer, Die Autonomiekonzeption, 230–239. 172 Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 12. 168

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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ebenso vor einer Überbewertung der Selbstbestimmung zulasten von Fürsorge und Mitmenschlichkeit warnt.173 Diese Einstellungen scheinen der Erkenntnis Rechnung zu tragen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und in Gemeinschaft lebt. Die Kirchen stärken etwa aktuell das Verständnis, dass Vorausverfügungen und Vorsorgeinstrumente auf dieses so verstandene Selbstbestimmungsrecht bauen, was sie zugleich wiederum ethisch und rechtlich validieren soll. Der Wille eines Menschen findet folglich Beachtung. Deutlich zu trennen ist in ihren Darstellungen das Selbstbestimmungsrecht von einer vollkommenen Unabhängigkeit oder Autarkie von anderen Menschen. Vielmehr werden das Miteinander und die Fürsorge durch Andere zugleich aufgewertet. Am Beispiel der Vorausverfügungen gesprochen bedürfen diese ihrer Einstellung gemäß auch immer der fürsorgenden Handlung der Mitmenschen, die die Äußerungen und Festlegungen entsprechend umsetzen.174 Die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) differenziert nochmals ihr Verständnis von der Selbstbestimmung speziell in Gesundheitsfragen von dem reinen „Der Patient bestimmt.“175 Vielmehr steht die persönlich getroffene Erkenntnis über Zulassen des Todes im Zentrum: Ein Zeitpunkt ist eingetreten, in dem der Entscheidung Raum zu verschaffen ist, dass dem Sterben und dem Tod nichts mehr entgegengesetzt werden soll und kann. Die EKD definiert die Selbstbestimmung in diesem Kontext als „gleichbedeutend damit, dass man für sich selbst das Recht einfordert, bestimmen zu können, das verbleibende Leben gemäß dieser Erkenntnis zu verbringen und auszurichten und von Anderen darin geachtet zu werden, auch in der Art, wie man von ihnen behandelt wird.“176

Hinsichtlich der Ansicht der EKD zeigt sich nicht eine reine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts auf Autarkie, sondern zugleich eine Hochschätzung dieses in Verbindung mit der Beziehung zu den Mitmenschen. Die vorhandenen Interpretationen der Selbstbestimmung sind folglich vielfältig. Ein unmittelbar abgeleitetes Recht ist ferner anzufragen. Wie nun bereits mehrfach erwähnt, wird in Beratungsliteratur nicht selten herausgestellt, dass die Patientenverfügung ein Mittel darstellt, das eigene Selbstbestimmungsrecht für Situationen der Äußerungs- und 173

Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 10. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 12. 175 Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 16. 176 Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 16. 174

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10. Angrenzende Themenfelder

Entscheidungsunfähigkeit zu wahren. Die neue Gesetzgebung von 2009 orientiert sich daran, dem Selbstbestimmungsrecht durch die Patientenverfügung erneute Geltung zu verschaffen, wenngleich der Zuspruch eines solchen Rechts auf Interpretation beruht. Ebenso fand bereits Andeutung, dass jenes Selbstbestimmungsrecht – insbesondere in Konnotation von Autarkie – auch kritisch hinterfragt wird und sich dabei von besonderer Brisanz die Frage nach der Gewichtung und einem Zusammenspiel von Selbstbestimmung bzw. Autonomie und Fürsorge vor Augen stellt. Die Notwendigkeit einer Thematisierung dessen, die durch Entwicklungen und Debatten im Themenfeld Vorsorge hervorgerufen wird, gilt es im weiteren Verlauf der Arbeit herauszustellen. Dabei scheint es unerlässliche Voraussetzung zu sein, ein umfassendes Begriffsverständnis der gebrauchten Topoi um Selbstbestimmung, Autonomie und Fürsorge aufzuarbeiten. Als Ziel der Arbeit zeigt sich hier bereits, auf Grundlage vorhandener Entwicklungen derzeitige Tendenzen nachzuvollziehen, kritisch zu reflektieren und ihre Konsequenzen zu kennzeichnen. Dies zur Grundlage nehmend, ist ein entsprechendes Menschenbild zu skizzieren, welches den sodann gewonnenen Erkenntnissen Rechnung trägt. Da nun der spezifische Fokus der Arbeit zudem auf die Vorsorgevollmacht ausgerichtet ist, gilt es nachfolgend ferner zu klären, wie sie sich zu den weiter zu entwickelnden Fragen zu Selbstbestimmung, Autonomie und Fürsorge verhält. Einem gewissen bereits jetzt vorfindlichen Verhältnis von geforderter Selbstbestimmung in Verbindung mit Fürsorge scheint sie Rechnung zu tragen. Aufgabe der vorliegenden Arbeit wird es also im Weiteren sein, das Verhältnis von Selbstbestimmung und Fürsorge – besonders auf die Vorsorgevollmacht und die Patientenverfügung bezogen – näher zu bestimmen, da keineswegs eine einhellige Bewertung dessen festzustellen ist.

10. Angrenzende Themenfelder Das gesamte Themenfeld der Vorsorge und ihrer Instrumente begegnet im Konnex zu diversen sekundär angrenzenden Bereichen und Begrifflichkeiten. Im Wissen darum, dass die jeweiligen Thematiken, insbesondere mit ihren kritischen Diskussionen, nicht vollumfänglich im Rahmen der Arbeit dargestellt werden können, würde es dennoch eine Verkürzung darstellen, nicht auf notwendig im Zusammenhang auftretende Topoi mitsamt ihrer knappen Kontroverse einzugehen. In den folgenden Kapiteln werden also Bereiche vorrangig begrifflich erklärt, auf

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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die mitunter die thematisierten Dissense im Verlauf der Arbeit zurückgreifen werden. 10.1 Advance Care Planning Wie bereits angesprochen wurde, sind Implementierung und Umsetzung der Patientenverfügung in der Praxis mitunter diffizil. Mit dem aus den USA stammenden, im hiesigen Raum noch wenig verbreiteten Konzept des Advance Care Planning177 wird vorrangig versucht, eine gesundheitliche Vorausplanung in einen kommunikativen Prozess einzubetten, so eine Patientenverfügung auf eine umfassende Grundlage zu stellen und zudem etwa mithilfe von Notfallbögen und der Einbeziehung wichtiger Instanzen der medizinischen Versorgung ihre Umsetzung zu gewährleisten.178 „Mit Advance Care Planning ist in den USA ein Modell der gesundheitlichen Vorausplanung entwickelt worden, in dem die Patientenverfügung nur ein Element in einem umfassenderen kommunikativen Prozess der Vorausplanung ist.“179 Die gesundheitliche Vorausplanung soll einerseits dafür sorgen, die Voraussetzungen für informed consent grundzulegen und andererseits Patientenwünsche umzusetzen. Dies wird etwa durch professionelle Gesprächsprozesse initiiert, die sich darauf ausrichten eigene Präferenzen zu entwickeln und schließlich im sozialen Umfeld zu reflektieren. Auf diese Weise wird erhofft, valide Vorausplanungen, auch in Form einer Patientenverfügung, hervorzubringen. Darüber hinaus werden regional beteiligte Partner medizinischer Versorgung entsprechend informiert, sodass die Vorausplanung im Ernstfall respektiert und umgesetzt wird.180 Kennzeichnend ist also der multiperspektivische und kommunikative Ansatz, der Aufklärung und Gespräche als Grundlage für valide Patientenverfügungen einstuft. „Zusammenfassend weisen die internationalen Erfahrungen darauf hin, dass mit einem System der gesundheitlichen Vorausplanung nicht nur die Selbstbestimmung am Lebensende effektiv berücksichtigt, sondern dass darüber hinaus die medizinische Versorgung und Betreuung von Patienten und Angehörigen in der letzten Lebensphase signifikant verbessert werden kann.“181 177

Vgl. Happ, Advance Care Planning. Vgl. Schmitten, Patientenverfügungen, 465f. 179 Schmitten, Gesundheitliche Vorausplanung, 96. 180 Vgl. Schmitten, Gesundheitliche Vorausplanung, 100f. 181 Schmitten, Gesundheitliche Vorausplanung, 106f. 178

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10. Angrenzende Themenfelder

Zudem richtet sich diese Art der Vorausplanung zumeist an chronisch kranke Patienten, bei denen eine Verschlechterung ihres Zustands konkreter absehbar ist und somit eine Vorausplanung situativ antizipiert werden kann. „Der Versorgungsplan hat den großen Vorteil, dass die Betroffenen zu einem Zeitpunkt über ihre Behandlungswünsche entscheiden, zu dem sie Erfahrungen mit der Krankheit haben.“182 10.2 Palliative Care und Palliativmedizin Palliative Care findet Anwendung, wenn eine unheilbare Krankheit ihren Verlauf nimmt und das Therapieziel Heilung und Lebensverlängerung nicht erreicht werden kann bzw. nicht mehr medizinisch indiziert ist. Die kurative Behandlung eines Patienten wird bei fortgeschrittener Erkrankung mit infauster Prognose eingestellt und eine palliativmedizinische, an Linderung ausgerichtete Versorgung beginnt. „Die Versorgung durch Palliative Care möchte die bestmögliche Lebensqualität in der noch verbleibenden Lebenszeit erreichen. Die palliative Versorgung bezieht alle Lebensbereiche ein, auch die Familie und das soziale Umfeld. Diese Fürsorge geht über den Tod des kranken Menschen hinaus. [. . . ] Palliative Care beinhaltet das Vorbeugen und Lindern von Leiden und zwar durch frühzeitiges Erkennen, einwandfreie Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.“183

Ziel ist folglich die Herstellung und die Erhaltung bestmöglicher Lebensqualität des Erkrankten sowie seines Umfelds. Hierbei steht besonders die Schmerzlinderung sowie die Linderung weiterer belastender Symptome im Vordergrund, aber auch die bestmögliche soziale Teilhabe und Begleitung des Patienten.184 „Die Palliativmedizin bejaht das Leben und betrachtet Sterben und Tod als zum Leben zugehörig. Deshalb wird der Tod weder beschleunigt noch hinausgezögert.“185 Zur palliativen Versorgung gehört „ein multidisziplinäres Team aus Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Psychologen, Phy182

http://www.medknowledge.de/abstract/med/med2010/06-2010-18versorgungsplan.htm, Stand: 23.10.2014. 183 Bühler, Betreuungsrecht, 48. 184 Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 48f. 185 Bühler, Betreuungsrecht, 49.

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siotherapeuten und ehrenamtlichen Kräften“186 , etwa auch durch Pflege- und Hospizdienste. Begrifflich bezeichnet die Palliativmedizin die entsprechende medizinische Disziplin, die keinen kurativen Ansatz mehr verfolgt. Die Palliative Care beschreibt die Tätigkeiten in Form von Pflege und Begleitung des zusammengestellten Teams.187 Zu differenzieren ist zudem inhaltlich zum einen die Palliative Therapie: Gezielte medizinische Interventionsmaßnahmen sind gemeint, wie eine Chemotherapie, Bestrahlungen oder ein operativer Eingriff zum Verlangsamen des Fortschreitens einer unheilbaren Krankheit. Solange wie medizinisch indiziert und erwünscht werden derartige Maßnahmen fortgeführt.188 Zum anderen ist die Palliative Pflege zu kennzeichnen, die in Zusammenarbeit von Patient, medizinischem Personal und sozialem Umfeld des Patienten realisiert wird. Die Lebensqualität soll nach den notwendigen und gewünschten Maßstäben bestmöglich gestaltet werden.189 Die palliativmedizinische Versorgung sowie ihr Ausbau treffen i. A. auf große Unterstützung, wobei derzeit noch nicht von einer umfassenden und flächendeckenden Etablierung gesprochen werden kann. „Die Optimierung der Palliativ-Medizin, also die Sicherstellung der bestmöglichen Schmerzlinderung der Patienten, kann als ethische Forderung angesehen werden, die allgemeinen Konsens findet. Gravierende Defizite gibt es indessen bei ihrer Verwirklichung.“190 Diese Kritik an der fehlenden Umsetzung vorhandener Möglichkeiten zur Schmerz- und Symptomlinderung – und somit auch zur Leidminderung von Patienten, die sich oft in der finalen Lebensphase befinden – ist in der Literatur mehrfach aufzufinden. Weit verbreitet ist die Auffassung, dass „die Qualifizierung der Hausärzte und der Pflegekräfte im Bereich der Schmerzund Palliativversorgung unzureichend [ist; d. Vf.], so dass dem Wunsch [. . . ] nach einer individuell zugeschnittenen Schmerzbehandlung bisher kaum entsprochen werden kann“191 . Die Hospizbewegung verkörpert beispielsweise seit Langem das Vorantreiben und die Implementierung der Palliativ-Versorgung. Die Unterversorgung im Bereich der Palliativ- und Schmerztherapie führt in direkter Konsequenz dazu, dass ein Erleben der Wirksamkeit 186

Bühler, Betreuungsrecht, 49. Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 48f. 188 Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 49. 189 Vgl. Bühler, Betreuungsrecht, 49. 190 Bedford-Strohm, Bioethik, 350. 191 Schulze, Selbstbestimmt, 65. Vgl. ferner Kreß, Selbstbestimmungsrecht, 13. Hier wird in Bezug auf Berichte der Ärztezeitung aus 2009 angenommen, dass nur etwa 20 % der Schmerzpatienten adäquat versorgt werden. 187

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10. Angrenzende Themenfelder

individueller Therapie und Begleitung trotz schwerer Krankheit in der letzten Lebensphase nicht selten auszubleiben scheint.192 Hospize hingegen haben sich die Palliative Care zur Aufgabe gemacht. Bestmögliche, ganzheitliche Versorgung, bei der großer Wert auf die Begleitung der Sterbenden sowie ihrer Angehörigen gelegt wird, steht hierbei im Mittelpunkt. Nicht zuletzt jedoch kann die noch unzureichende Implementierung der Palliativmedizin sowie die allgemeine Unkenntnis ihrer Möglichkeiten die Wahrnehmung einer übermächtigen, grenzenlosen Medizin im Sinne einer sog. Apparatemedizin fördern, wodurch wiederum eine gesellschaftliche Forderung nach Legalisierung aktiver Sterbehilfe hörbar werden kann – besonders in Verbindung mit einer Forderung nach Selbstbestimmung.

10.3 Sterbehilfe und assistierter Suizid Beim Begriff Sterbehilfe oder Euthanasie193 (εὐθανασία, griechisch: guter Tod; Zusammensetzung aus εὖ, griechisch: gut, wohl, leicht, richtig und θάνατ oς, griechisch: Tod) sind verschiedene Ausprägungen formalrechtlich in Deutschland voneinander abzugrenzen. Allerdings gelingt eine eindeutige Klassifikation der einzelnen Nuancen schwer und ist in manchen Grenzfällen kaum zu vollziehen. Im Folgenden soll nun eine Begriffsklärung vorfindlicher Klassen von Sterbehilfe sowie ihre Abgrenzung untereinander erfolgen, um die entsprechenden Topoi für die nachfolgende Diskussion inhaltlich zu füllen.194 Eine kurze Einführung in die Diskussion um Sterbehilfe ist dabei zu geben. Bedacht werden soll etwa, dass die Thematik auch für den Gegenstand der Arbeit nicht unerheblich erscheint, zumal immer wieder Zusammenhänge sichtbar werden und Grenzbereiche Übergänge schaffen. 192

Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=3.71.9972.10263.10266, Stand: 27.10.2014. 193 Die Begrifflichkeit Euthanasie wird besonders in Deutschland aufgrund der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges wenig gebraucht. 194 Am Rande sollte darauf hingewiesen werden, dass die Terminologie der Klassen der Sterbehilfe aktuell einer gewissen Wandlung unterliegt. Während in Vergangenheit zumeist unter den vier Typen aktiver Sterbehilfe, passiver Sterbehilfe, indirekter Sterbehilfe und assistiertem Suizid differenziert wurde, so begegnen aktuell eher die Termini direkte Sterbehilfe / Tötung auf Verlangen / Sterbenlassen, Sterbebegleitung, Therapie am Lebensende und Beihilfe zur Selbsttötung (vgl. Maio, Mittelpunkt Mensch, 339ff.). Die Bezeichnung der Formen der Sterbehilfe steht folglich unter einer gewissen Kritik und in Diskussion.

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Die öffentliche Diskussion trägt ebenso dazu bei, dem Thema eine gewisse Relevanz zuzuschreiben. Medial wird dieses Thema regelmäßig aufgegriffen, „etwa 2001 im Zusammenhang der Praktiken der Sterbehilfeorganisation ‚Exit‘ in Zürcher Altersheimen oder 2002 im Rahmen der Legalisierung der Sterbehilfe in den Niederlanden und Belgien. Den jüngsten Anlass bildet die Gründung des Vereins ‚Dignitas Deutschland‘ in Hannover, einer Tochter der schweizerischen gleichnamigen Sterbehilfeorganisation mit Sitz in Zürich, die eine heftige Diskussion in Deutschland ausgelöst hat.“195

Auch aktuelle Entwicklungen, wie etwa die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe bei Kindern in Belgien im Februar 2014 oder der Entscheid im Deutschen Bundestag zur Neuregelung der Sterbehilfe im November 2015, rücken die Diskussionen zu diesem Thema über Ländergrenzen hinweg in den Fokus. 10.3.1 Direkte bzw. aktive Sterbehilfe „Als aktive Sterbehilfe wird die Beendigung schweren Leidens oder die Erleichterung des Sterbens bei aussichtsloser Prognose durch eine gezielte Tötung verstanden.“196 Eine aktive und bewusste Tötungshandlung liegt vor, die beispielsweise durch die Verabreichung eines tödlich wirkenden Medikaments erzielt wird.197 Trotz stetig aufkommender Diskussionen, die die hohe gesellschaftliche Akzeptanz direkter Sterbehilfe, besonders im Rekurs auf persönliche Autonomie, verdeutlichen,198 bleibt sie in Deutschland nach § 216 StGB verboten. 195

Mathwig, Selbstbestimmt leben, 1. Klie, Die Patientenverfügung, 127. Die Begriffe der direkten oder aktiven Sterbehilfe werden mitunter synonym benutzt, wobei gesellschaftlich derzeit noch der der aktiven Sterbehilfe eine größere Relevanz zu tragen scheint. Der Begriff der direkten Sterbehilfe wird in neueren Darstellungen mitunter verwendet, um aktive und passive Sterbehilfe nicht antonym zu verstehen. Dabei soll aktive Sterbehilfe nicht nur als rein aktives Handeln herausgestellt werden, während passive Sterbehilfe durch ausschließliche Passivität im Sinne von Untätigsein gekennzeichnet erscheint. Auch passive Sterbehilfe erfordert aktives Tun, wie etwa Sterbebegleitung. Im nachfolgenden Kapitel wird dies tiefergehend erläutert. 197 Vgl. Klie, Patientenverfügung, 129. 198 Gezeigt werden kann dies durch eine 2008 vom Institut für Demoskopie Allensbach veröffentlichte Befragung. Hierbei bezeugen 58 % der Befragten ihre Zustimmung zur Gewährung von aktiver Sterbehilfe. Nur 19 % sprechen sich dagegen aus. Vgl. hierzu http://de.statista.com/statistik/daten/studie/1398/umfrage/pro-undkontra-zu-aktiver-sterbehilfe/, Stand: 21.03.2013. 196

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10. Angrenzende Themenfelder

Wichtiges Argument hierfür ist, dass insbesondere palliativmedizinische und hospizdienstliche Möglichkeiten eine ethisch vertretbare Alternative zur aktiven Sterbehilfe bieten. Ein Anstieg der Präsenz der Thematik um aktive Sterbehilfe in Deutschland scheint nicht zuletzt dadurch wahrnehmbar, dass in den Nachbarländern Belgien und Niederlande diese aktive Intervention in ein menschliches Leben offiziell durchgeführt werden darf.199 In Deutschland existiert seit Langem in Rekurs auf die Regelungen der Nachbarländer ein Diskurs zum Thema Legalisierung der Sterbehilfe. Der Tiefe der Thematik geschuldet können hier nur einige Grundzüge der Dissense aufgeführt werden. Direkte Konsequenz weist das Thema etwa für die Ärzteschaft auf. In den seit 1979 stetig veröffentlichten Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung werden einige Grundlinien, nicht zuletzt zur Sterbehilfethematik, beschrieben. Nach wie vor gilt für Mediziner das Verbot der aktiven Sterbehilfe als wesentlicher Grundsatz und wurde in den vergangenen Neuauflagen der Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung weiter bekräftigt. Eine ärztliche Mitwirkung bei einer Selbsttötung wird ferner nicht als Aufgabe der Ärzteschaft gesehen.200 Entgegen dem klaren Verbot der aktiven Sterbehilfe existieren kontroversere Debatten in Bezug auf die ärztlich assistierte Selbsttötung, worauf in Kapitel II.10.3.5 näher eingegangen wird. Hier sei nur der Verweis gegeben, dass gemäß der aktuellen Grundsätze der Bundesärztekammer der ärztlich assistierte Suizid nicht mehr mit einem Widerspruch des ärztlichen Ethos gleichgesetzt werden kann, dennoch nach der (Muster-)Berufsordnung für Ärzte untersagt ist. Zugunsten einer pluralen Gesellschaft und verschiedenster Moralvorstellungen wird in den Grundsätzen der Bundesärztekammer diese Formulierung gelockert, „ohne die Grundausrichtung und die grundlegenden Aussagen zur ärztlichen Sterbebegleitung infrage zu stellen.“201 Die Frage nach aktiver Sterbehilfe betrifft folglich unmittelbar das Standesethos der Mediziner. Auch der 104. Deutsche Ärztetag im Jahre 2001 beratschlagte beispielsweise zum Thema und bündelte wichtige Argumente im Beschlussprotokoll. Übergreifender Tenor hierbei ist:

199

Auch in der Schweiz erscheinen die gesetzlichen Regelungen im Vergleich zu Deutschland offener, wenngleich dort ebenfalls die aktive Sterbehilfe verboten bleibt. Hier jedoch ist der assistierte Suizid, solange keine selbstsüchtigen Motive leitend sind, straffrei. Vgl. hierzu Kapitel II.10.3.5. 200 Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze 2011, 346. 201 Bundesärztekammer, Grundsätze 2011, 346.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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„Aktive Sterbebegleitung statt Tötung auf Verlangen“202 . Aktive Sterbehilfe wird mit vorsätzlicher Tötung von Menschen identifiziert, was „im krassen Widerspruch zum ärztlichen Auftrag, das Leben zu schützen“203 , steht. Insofern kann, so das damalige Ergebnis, grundsätzlich die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe von ärztlicher Seite nur negiert werden. Hinzu treten weiterführende Argumente, die diese Ablehnung bekräftigen. Herausgestellt wird beispielsweise ein bereits durch die Möglichkeit zur aktiven Sterbehilfe erzeugter Druck auf Kranke. Ursächlich hierfür kann ein evozierter Rechtfertigungszwang für Kranke sein, die aktive Sterbehilfe ablehnen. Auch ein ökonomisches Argument spielt eine Rolle: Hohe Behandlungskosten könnten wiederum mit aktiver Sterbehilfe umgangen werden.204 Ferner bleibt als wichtiger Kritikpunkt zu nennen, dass ernst zu nehmende medizinische Alternativen zur Tötung auf Verlangen angeführt werden: Die Implementierung von Schmerztherapie sowie „bestmögliche Pflege, Nähe und Zuwendung“205 in Form von aktiver Begleitung tragen nach Ansicht großer Teile der Ärzteschaft dazu bei, das Lebensende ohne aktive Sterbehilfe menschenwürdig zu gestalten.206 Auch vonseiten der Kirchen ist eine Stellungnahme zum Thema zu erwarten. Ihre generelle Ablehnung der aktiven Sterbehilfe bringen sie u. a. in Stellungnahmen oder Pressemeldungen zum Ausdruck. Einigkeit besteht innerhalb der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) zur gesamten Sterbehilfe-Debatte keineswegs. Dennoch kann eine gemeinsame Position formuliert werden: „Alle Kirchen seien sich einig, dass vorsätzliche Tötung schwer kranker und sterbender Menschen eine schwere Sünde darstelle, heißt es. Zudem bestehe Übereinstimmung über die Notwendigkeit einer guten Sterbebegleitung einschließlich seelsorgerlichen Beistands.“207 202

http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.23.2618.2619.2628&all= true, Stand: 21.03.2013. 203 http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.23.2618.2619.2628&all= true, Stand: 21.03.2013. 204 Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.23.2618.2619.2628& all=true, Stand: 21.03.2013. 205 http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.23.2618.2619.2628&all= true, Stand: 21.03.2013. 206 Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.23.2618.2619.2628& all=true, Stand: 21.03.2013. 207 http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2004_02_10_2_kek_sterbehilfe.html, Stand: 25.03.2013.

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10. Angrenzende Themenfelder

Im Jahre 2011 erarbeitete die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ein gemeinsames Papier208 zur Positionsbestimmung bezüglich aktiver Sterbehilfe und Suizidbeihilfe. Hierin beschreiben sie die Tötung auf Verlangen als „ethisch höchst problematisch“209 . „Sie steht im Widerspruch zu einigen der am tiefsten verwurzelten moralischen Überzeugungen, nicht nur einer spezifisch christlichen Tradition, sondern eines breiteren, allgemeinen moralischen Erbes, nämlich dem Ideal, nicht unschuldiges Leben zu nehmen, und der Pflicht, Leben zu schützen, besonders das verletzliche und gebrechliche. [. . . ] Tötung auf Verlangen ist schwer vereinbar mit einer der wesentlichsten und beständigsten Überzeugungen und Glaubensaussagen der christlichen Tradition, nämlich dass die fundamentale und unabdingbare Würde menschlichen Lebens nicht auf seiner Fähigkeit zu unabhängiger Selbstbestimmung und Handlung beruht, sondern in der schöpferischen und rechtfertigenden Liebe, die die Menschen von Gott in Christus empfangen.“210

Hervorgebrachte Argumente für aktive Sterbehilfe berufen sich beispielsweise auf die Angst vor Schmerzen und unnötigem Leiden und bekräftigen dies mit der Forderung eines menschenwürdigen Sterbens. Wie bereits im vorherigen Kapitel ersichtlich wurde, hat die Palliativmedizin sowie die Hospizarbeit besonders bei schmerztherapeutischen Möglichkeiten große Erfolge zu verzeichnen, wobei sie noch keineswegs flächendeckend implementiert sind. Insofern kommt die derzeit anzutreffende Meinung zustande, dass durch geeignete und umfassende Sterbebegleitung, beispielsweise durch Palliativversorgung und Hospize, das analoge Ziel der aktiven Sterbehilfe – aber auf ethisch vertretbare Weise – erreicht werden kann.211 Die innergesellschaftlich wahrzunehmende Forderung nach aktiver Sterbehilfe kann zum Großteil auf die Angst zurückgeführt werden, diese umfassende Symptomund Schmerzversorgung nicht zu erhalten. Hospiz-Verbände wie beispielsweise der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband e. V. beschreiben in Pressemitteilungen oder Stellungnahmen jene Wahrnehmung. Sie fordern auf Grundlage ihrer Erfahrungen im Bereich der Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden ein klares Nein zur aktiven Sterbehilfe. Gleichwohl sehen sie eine Notwendigkeit zum Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung, die fachlich in der Lage ist, weitgehend belastende Symptome wie Übelkeit, Atemnot oder Schmerzen zu 208

Vgl. GEKE, Leben hat seine Zeit. GEKE, Leben hat seine Zeit, 16. 210 GEKE, Leben hat seine Zeit, 16. 211 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 23f. 209

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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lindern sowie eine persönliche Begleitung der Betroffenen zu garantieren. Auch ein Ausbau der Aufklärung über palliative Möglichkeiten ist angestrebt. Die Verbände stellen fest, dass eine Verbesserung solcher Rahmenbedingungen in der Gesundheitsversorgung dazu führt, „dass der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe sehr viel seltener empfunden wird als häufig behauptet“212 . Auch die Forderung nach aktiver Sterbehilfe im Rekurs auf das Argument der persönlichen Autonomie, wie es oft hervorgebracht wird, scheint keine umfassende Reflexion zu Konzeption und Ausprägung des Autonomie-Verständnisses aufzuweisen. Ferner wird nicht gefragt, „ob der ausschließliche Rekurs auf die Autonomie zur moralischen Rechtfertigung einer Tötung ausreichen kann.“213 Die Grundannahme der Gegebenheit des Lebens müsste darüber hinaus in den Betrachtungshorizont rücken.

„Die Kernfrage der Diskussion um die aktive Sterbehilfe ist also nur vordergründig die der Autonomie, denn hinter dem Argument der Autonomie verbirgt sich eine bestimmte Vorstellung von Leben. Es geht letztlich um die Frage, ob das Leben das Gegebene und damit Unverfügbare ist oder ob es etwas nur Gemachtes ist und damit zu unserer Disposition steht.“214

Gleichermaßen zeigt sich die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschenbild, welche dann auch die Gleichsetzung eines menschenwürdigen Sterbens mit aktiver Sterbehilfe zu überprüfen hat. Die Frage nach einem Verständnis des Menschen, dem einerseits eine Autonomie- und Selbstbestimmungsforderung entgegengebracht wird und der andererseits im Verhältnis zu seinen Mitmenschen wahrzunehmen ist, wird im obigen Kontext deutlich.215 212

http://www.dhpv.de/stellungnahme_detail/items/2001-04-12_Gesetz-aktive-Sterb ehilfe-Niederlande.html, Stand: 25.03.2013. Vgl. weiter http://www.dhpv.de/presse erklaerung_detail/items/2012-05-24_Aufklaerung-am-Lebensende-gefordert.html, Stand: 25.03.2013; http://www.dhpv.de/presseerklaerung_detail/items/2009-0914_nein-sterbehilfe.html, Stand: 25.03.2013; http://www.dhpv.de/presseerklaerung _detail/items/2012-03-24_Gemeinsam-in-die-Zukunft.html, Stand: 25.03.2013. 213 Maio, Mittelpunkt Mensch, 359. 214 Maio, Mittelpunkt Mensch, 360. 215 Vgl. für eine umfassendere Darstellung geführter Diskussionen um die aktive Sterbehilfe Maio, Mittelpunkt Mensch, 356ff. Die Frage nach einem ausgewogenen Menschenbild wird den weiteren Verlauf der Arbeit kennzeichnen.

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10. Angrenzende Themenfelder

10.3.2 Sterbebegleitung bzw. passive Sterbehilfe Vorweggenommen sei, dass die frühere Terminologie der passiven Sterbehilfe derzeit in den Hintergrund rückt. Geschuldet ist dies beispielsweise ihrer fehlerhaften Einschätzung, ein rein passives Verhalten liege in dieser Art der Sterbehilfe begründet. Aktuelle Tendenzen wählen stärker den Begriff Sterbebegleitung oder Sterben lassen. In dieser Terminologie wird mehr die bleibende Aktivität im Handeln etwa in Form des Begleitens hervorgehoben, die beispielsweise auch die Palliativmedizin realisieren will.216 „Als passive Sterbehilfe wird der Verzicht oder der Abbruch ärztlicher Behandlung oder lebensverlängernder Maßnahmen angesehen, wenn die Krankheit bei aussichtsloser Prognose unumkehrbar einen tödlichen Verlauf genommen hat und der Tod in kurzer Zeit eintreten wird.“217

Der bereits eingesetzte Sterbeprozess rechtfertigt auch rechtlich das Unterlassen und Beenden lebensverlängernder Maßnahmen (z. B. künstliche Ernährung, Beatmung, medikamentöse Therapie). Gleichzeitig bedeutet dies allerdings keine völlige Passivität im Umgang mit dem Patienten. Das Unterlassen bzw. der Abbruch einer Maßnahme fordert zugleich palliativmedizinische Versorgung und Begleitung.218 Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass klare Abgrenzungen zwischen den Begrifflichkeiten und den unterschiedlichen juristischen Bewertungen kaum möglich sind. Die Grenzen fließen ineinander. Ferner sind diese oft juristisch gewählten Begrifflichkeiten schwerlich konkret in die medizinische Praxis übertragbar, in der Grenzfälle teils einer klaren Klassifikation widersprechen. 10.3.3 Behandlungsabbruch Von der passiven Sterbehilfe ist nochmals der Behandlungsabbruch zu differenzieren. Kennzeichen hiervon ist, dass trotz Beendigung oder Verzichts einer Behandlung der irreversible Sterbeprozess noch nicht unmittelbar eingesetzt haben muss. Für die Durchführung eines Behandlungsabbruchs muss eine Einwilligung des Patienten vorliegen bzw. muss diese aus dem mutmaßlichen Patientenwillen ermittelt werden können.219 216

Vgl. Klie, Patientenverfügung, 123. Klie, Die Patientenverfügung, 128. 218 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 46. 219 Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 128f. 217

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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10.3.4 Indirekte Sterbehilfe Indirekte Sterbehilfe steht in Verbindung mit einer Behandlung eines schwerkranken Menschen, bei dem ein vorzeitiger oder beschleunigter Eintritt des Todes aufgrund der Behandlung, z. B. durch starke Medikamente, in Kauf genommen, aber nicht aktiv beabsichtigt und herbeigeführt wird.220 Die indirekte Sterbehilfe gilt nicht als Tötungshandlung und ist insofern auch straffrei sowie Ärzten nach § 16 ihrer Berufsordnung erlaubt.221 10.3.5 Assistierter Suizid Eine weitere Unterscheidung muss zum Begriff assistierter Suizid erfolgen, zu dem viele kontroverse Diskussionen bestehen. Wie bereits der Name erklärt, wird durch eine weitere Person (z. B. Ärzte, Angehörige, Betreuer) beispielsweise ein tödlich wirkendes Medikament besorgt und bereitstellt, das der Suizidant willentlich und wissentlich zu sich nimmt, um seinem Todeswunsch, etwa aufgrund schweren Leidens durch Krankheit, nachzukommen. Besonders die Grenzziehung zur aktiven Sterbehilfe ist nicht immer eindeutig, was weitere Diskussionen herausfordert. Deutlich wird dies vorwiegend in Situationen, in denen der Suizidwillige aufgrund von starken körperlichen Beeinträchtigungen sich die todbringende Substanz nicht mehr selbst zuführen kann. Die Beihilfe zum Suizid in Deutschland ist nach derzeitiger deutscher Rechtslage straffrei. Hinsichtlich dessen erfolgte im November 2015 nach langer Diskussion eine Neufassung des Strafgesetzbuchs. Dieser ging eine unklare Gesetzeslage voraus, da sich eine Person unmittelbar strafbar macht, „die nicht umgehend Massnahmen [sic!] zur Rettung des Selbstmörders ergreift.“222 Solange die Tatherrschaft beim Suizidanten liegt, war die Rechtslage eindeutig. Endet jedoch die Tatherrschaft etwa durch Eintreten von Bewusstlosigkeit, so stellte sich die Frage nach der Garantenpflicht des Suizidhelfers (§ 13 StGB) als Voraussetzung für den Tatbestand der Unterlassung (§ 323 c StGB). Folglich konnte die paradoxe Situation entstehen, dass die eigentliche Beihilfe unter Straffreiheit steht, der Mitwirkende sich hingegen unmittelbar der unterlassenen Hilfeleistung schuldig macht, wenn er den Suizidanten während des Suizids begleitet. Aus diesem Grund durfte keine weitere Person während der Handlung anwesend sein. Die Schweiz traf diesbezüglich schon früher andere Regelungen. Hier „ist 220

Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 128. Vgl. Klie, Patientenverfügung, 128. 222 Mathwig, Selbstbestimmt leben, 2. 221

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10. Angrenzende Themenfelder

nach Art. 115 StGB die Beihilfe zum Suizid rechtlich möglich, sofern sie nicht ‚aus selbstsüchtigen Beweggründen‘ geleistet wird.“223 In der Schweiz ermöglicht die Gesetzeslage also die organisierte Suizidhilfe, aber auch jeder Bürger kann, wenn obige Voraussetzung gilt, Suizidhilfe leisten.224 Zur Erreichung des Todes wird hierbei oft das verschreibungspflichtige Barbiturat Natrium-Pentobarbital (NAP) eingesetzt. Zum Umgehen der Verschreibungspflicht kommt ferner die sog. Helium-Methode (Inhalation von Helium; Erstickung) zur Anwendung.225 Eine Regelung der rechtlichen Situation in Deutschland in Bezug auf geschäftsmäßige Suizidhilfe ist mit der Rechtsprechung von 2015 erreicht und stellt diese nach § 217 StGB unter Strafe. Etliche Bundestagsdebatten gingen über Jahre hinweg voraus. Die zentrale Diskussion im Parlament kann exemplarisch anhand zweier Gesetzesentwürfe nachgezeichnet werden. 2006 verfassten die Länder Saarland, Thüringen und Hessen einen Gesetzesantrag zum Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung.226 Dieser Vorschlag trat dafür ein, kommerzielle sowie organisierte Suizidhilfe in Deutschland zu verbieten. Der 2012 eingereichte Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung227 der Bundesregierung sah hingegen nur das Verbot gewerbsmäßiger, also kommerzieller Suizidhilfe vor, während organisierte Suizidhilfe Straffreiheit und damit Ermöglichung finden konnte. Vier zentrale Gesetzesentwürfe verstärkten 2015 die Diskussion.228 „Der Bundestag entschied sich am Freitag, 6. November 2015, für die Annahme eines von den Abgeordneten Michael Brand (CDU/CSU), Kerstin Griese (SPD), Kathrin Vogler (Die Linke) und Dr. Harald Terpe (Bündnis 90/Die Grünen) und anderen fraktionsübergreifend initiierten Gesetzentwurfs (18/5373). Darin ist vorgesehen, geschäftsmäßige Suizidbeihilfe unter Strafe zu stellen und einen entsprechenden Paragrafen im Strafgesetzbuch zu schaffen.“229 223

Mathwig, Selbstbestimmt leben, 2. Vgl. Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen, 20. 225 Vgl. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, SEK-Kolloquium, 5; 9. 226 Vgl. Drucksache 230/06. 227 Vgl. Drucksache 17/11126. 228 Vgl. Drucksache 18/5373; Drucksache 18/5374; Drucksache 18/5375; Drucksache 18/5376. 229 http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw45_de_sterbebegleitung/ 392450, Stand: 10.01.2016. 224

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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Gemäß dieses nun neu geschaffenen § 217 im Strafgesetzbuch droht Vereinen, Organisationen oder Einzelpersonen eine Verurteilung, führen sie die Suizidassistenz mit gewerbsmäßiger Absicht durch. „Angehörige oder dem Suizidwilligen nahestehende Personen, die im Einzelfall handeln, sind hingegen von der Strafandrohung ausgenommen.“230 Wie sich diese Neuregelung in Deutschland implementiert, bleibt abzuwarten. Ein Grund für die Präsenz der Diskussionen um die Legalisierung der Suizidhilfe auch in Deutschland ist in der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieses Themas zu vermuten. Einer im Jahre 2007 durch den Spiegel veröffentlichten Umfrage zur Akzeptanz der aktiven, ärztlich begleiteten Sterbehilfe in Deutschland zufolge stößt das Thema innergesellschaftlich auf hohe Zustimmung. 69 % der Befragten stimmen für die Legalisierung, 26 % sprechen sich dagegen aus.231 Insofern ist ein Bestehen von konträren Ansichten um die Debatte über die Legalisierung des (ärztlich) assistierten Suizids nachvollziehbar. Unmittelbar von der Frage nach (ärztlich) assistiertem Suizid betroffen ist die Ärzteschaft. Nach einer Klarstellung der Bundesärztekammer im Mai 2011 ist die Beihilfe zum Suizid Ärzten in Deutschland untersagt und wurde darüber hinaus zur Bekräftigung dessen in den § 16 ihrer (Muster-)Berufsordnung aufgenommen.232 Die Begründung hierfür liegt im Zweifel zur Vereinbarkeit von assistiertem Suizid mit dem Arztethos sowie in der ethischen Fragwürdigkeit allgemein, die beispielsweise die EKD folgendermaßen formuliert: „Wer Beihilfe leistet, akzeptiert im konkreten Fall den Suizid, er bejaht die Motive und die Gründe. Insofern erstreckt sich die Verantwortung der Beihilfe nicht bloß auf die Bereitstellung des Mittels, sondern auch auf die vorhersehbare Folge, d. h. die Tötungshandlung selbst. Wer das Mittel zur Verfügung stellt, trägt Mitverantwortung an dem Suizid. Beihilfe zum Suizid entspricht ethisch der von uns verworfenen aktiven Sterbehilfe.“233

Suizidale Gedanken können, so wird mitunter angeführt, im Zusammenhang mit dem Motiv auftreten, das Leben auf die Weise, wie es 230

http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw45_de_sterbebegleitung/ 392450, Stand: 10.01.2016. 231 Vgl. den Artikel Mehrheit für ärztliche Sterbehilfe, in: Der Spiegel 15 (2007), 153 und darüber hinaus http://de.statista.com/statistik/daten/studie/555/umfrage/erlau ben-von-aktiver-sterbehilfe/, Stand: 21.03.2013. 232 Vgl. (Muster-)Berufsordnung für Ärzte, 16; 35; Klie, Patientenverfügung, 124. 233 Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 28.

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10. Angrenzende Themenfelder

aktuell erscheint, nicht mehr leben zu wollen. Dies eröffnet einen kategorischen Unterschied zu einem Gefühl, überhaupt nicht mehr leben zu wollen. Darüber hinaus kann der Wunsch Ausdruck finden, nicht allein sein zu müssen. Insofern werden suizidale Gedanken teils als Hilfeschrei verstanden, dem die Aufforderung unterliegt, an den Lebensumständen etwas zu verändern.234 Überdies bestanden und bestehen in der Ärzteschaft Dissense zum Thema, die bereits die Positionsbestimmung von 2001 nicht lösen konnte. Gegenwärtig erscheint ein übergreifender Konsens diffizil, da ein Teil der Mediziner Beihilfe zum Suizid nicht generell ablehnen würde. „Denn immerhin steht Umfragen zufolge ein Drittel der deutschen Ärztinnen und Ärzten [sic!] der Frage des assistierten Suizids offen gegenüber.“235 Eine gewisse Lockerung erfolgte durch die Umformulierung der Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung der Bundesärztekammer von 2011, welche den ärztlich assistierten Suizid nicht mehr als dem Arztethos widersprechend kennzeichnet. Ausgedrückt wird nun, dass die Mitwirkung am Suizid keine ärztliche Aufgabe sei.236 Auch die Debatte über ein Gesetzgebungsverfahren, insbesondere die Vorlage eines Referentenentwurfs, legt eine Möglichkeit offen, „die Entscheidung zur Suizidassistenz nur auf der Grundlage einer Gewissensentscheidung des Arztes erfolgen“237 zu lassen. Trotz jener Dissense erfolgte eine erneute Positionierung des Deutschen Ärztetags im Jahre 2012 gegen jede Form organisierter Suizidhilfe. „Mit großer Mehrheit forderten die Delegierten ein generelles Verbot. [. . . ] Die Bundesregierung hat reagiert und einen Gesetzentwurf zum Verbot gewerbsmäßiger Sterbehilfe auf den Weg gebracht. Kommerzielle Suizidhelfer machen sich dem Entwurf zufolge strafbar. Im privaten Rahmen aber steht die Beihilfe zum Suizid, wie der Freitod selbst, weiterhin nicht unter Strafe.“238

Die Beihilfe zum Suizid in Deutschland ist also nach derzeitiger Rechtslage in der BRD für nicht geschäftsmäßig handelnde Angehörige und nahestehende Personen straffrei. Mit der neuen Rechtsprechung zur Ablehnung geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung scheint sich die Gesetzeslage weiter zu konkretisieren. 234

Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 99. Ridder, Pro & Kontra, 1968. 236 Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze 2011, 346. 237 Ridder, Pro & Kontra, 1968. 238 Richter-Kuhlmann, Pro & Kontra, 1969. Vgl. Klinkhammer, Darf ein Arzt, 500. 235

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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10.3.5.1 Exkurs: Kirchliche Stellungnahmen zum Thema assistierter Suizid Von kirchlicher Seite gibt es zum Großthema Sterbehilfe, aber auch mit spezieller Ausrichtung auf den Aspekt assistierter Suizid, Stellungnahmen und Positionsbestimmungen. Gerade die Kirchen sehen sich diesbezüglich zur Stellungnahme verpflichtet, da sie durch ihre Anthropologie und ihr Bild vom Leben und Sterben in besonderer Weise dazu herausgefordert werden. Nicht zuletzt schöpfungstheologische Aspekte, Gott als den Herrn über Leben und Sterben wahrzunehmen, prägen die Sichtweisen. Im Rahmen dieses Exkurses werden exemplarisch einige Positionen angeführt, die eine Ahnung der Tiefe der Diskussion vermitteln sollen. Das Problemfeld um Sterbehilfe nebst assistiertem Suizid ist, wie bereits deutlich wurde, interdisziplinär von vielen Dissensen geprägt. Einige Stellungnahmen von Kirchen oder Gemeinschaften werden zur tiefergehenden Verdeutlichung dessen ausgewählt und vorgestellt. 10.3.5.1.1 Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) Exemplarisch ist die Diskussion in der Schweiz anzuführen, da hier, wie schon gezeigt, die rechtlichen Rahmenbedingungen eine größere Offenheit zum Thema assistierter Suizid signalisieren, sofern dieser nicht, wie oben beschrieben, aus selbstsüchtigen Motiven geschieht. Etabliert haben sich somit beispielsweise die schweizerischen Sterbehilfe-Organisationen Exit oder Dignitas. Vor diesem Hintergrund sind kirchliche und religiöse Stellungnahmen zum Themenbereich aufzufinden. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) trägt mit veröffentlichten Positionen und Vernehmlassungen zur Meinungsbildung bei. Durch die besondere Konfrontation im Bereich des assistierten Suizides stellen die Stellungnahmen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes mit ihrer Argumentationsstruktur eine besondere Erkenntnisquelle auch für die Argumentation und Diskussion in Deutschland dar.239 239

Am Rande sollte Erwähnung finden, dass zwischen SEK und EKD im Nachgang der Veröffentlichung des Positionspapiers Wenn Menschen sterben wollen der EKD, welches auch als Reaktion auf das Positionspapier des SEK Das Sterben leben entstand, Unstimmigkeiten hervorgerufen wurden. Auslöser dessen ist eine Passage im Positionspapier der EKD, die dem SEK eine einseitige Sichtweise sowie die „ökumenische Dimension der kirchlichen Existenz“ zu vernachlässigen entgegenhält (Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen, 23. Vgl. Barth, Ein bisschen schnell, 12; Mathwig, Das Sterben leben). Als Gegenargument wurde et-

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10. Angrenzende Themenfelder

In einer Vernehmlassung zu medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) für die Betreuung von Patienten am Lebensende240 aus dem Jahre 2004 sind die Grundzüge der Argumentation geschildert. Grundlegender Rekurs erfolgt auf die unveräußerliche Würde des Menschen, die ein „Recht auf Achtung seiner Person“241 unabhängig von seiner Verfassung impliziert und zugleich zum Respekt vor persönlichen Einstellungen – auch dem eigenen Tod gegenüber – herausfordert. Es zeigt sich hier eine Übertragung der Würde eines Menschen auf die persönliche Ebene, die zur Konsequenz der Achtung seiner Einstellungen Dritten gegenüber führt. Gleichsam ist Solidarität sowie Begleitung gefordert, die in besonderem Maße Menschen am Ende ihres Lebens zuteilwerden muss. Die palliative Pflege und ihr Ausbau ist ein entsprechendes Mittel. Hingegen wird zu dieser Zeit bekräftigt, dass der assistierte Suizid keine ärztliche Aufgabe darstellen kann, wobei der SEK seine Ansicht übermittelt, dass sie Ärzten jegliche Befugnis hierfür entsagen, Suizidhilfe anzubieten. Definierte Bedingungen werden aber akzeptiert, einer Bitte um Suizidbeihilfe möglicherweise nachzukommen. Ein Verweigerungsrecht des Arztes wird also zugestanden.242 Ferner werden Mindestanforderungen definiert, die nach Maßgabe des SEK einen assistierten Suizid rechtfertigen könnten. Hierzu zählen Krankheiten, die zu „unerträglichem seelische[n; d. Vf.] oder körperliche[n; d. Vf.] Leiden“243 führen sowie die Fähigkeit zur Willensäußerung, sodass ein unmissverständlicher Sterbewunsch geäußert wird.244 Kritisch müsste bei diesen Kriterien bedacht werden, welchen Maßstäben die Identifikation von unerträglichem Leiden genügt und auf wa angeführt, dass die Position des SEK „im Horizont einer Rechtslage und gesellschaftlichen Praxis [entstand; d. Vf.], die sich von der deutschen Situation signifikant unterscheidet“ (Mathwig, Rigide Regelung, 12) und sich die angesprochenen Differenzen hauptsächlich auf die „Beurteilung der Funktion des Rechts und der Rolle des Arztes“ (Mathwig, Rigide Regelung, 13) beziehen. Hierbei steht besonders die Gewissensentscheidung des Arztes im Fokus, ob Suizidhilfe geleistet wird, was auf Schweizer Seite Unterstützung findet (vgl. Barth, Ein bisschen schnell, 13). Für eine tiefergehende Aufarbeitung der Debatte vgl. Mathwig, Das Sterben leben; Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen; Mathwig, Rigide Regelung; Fischer, Unglückliche Sätze; Barth, Ein bisschen schnell; Mathwig, Selbstbestimmt Leben; Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Zur rechtlichen Regelung. 240 Vgl. Wipf, Vernehmlassung. 241 Wipf, Vernehmlassung, 1. 242 Vgl. Wipf, Vernehmlassung, 2ff. 243 Wipf, Vernehmlassung, 4 (Fettdruck im Original). 244 Vgl. Wipf, Vernehmlassung, 4.

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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welche Weise eine Willensäußerung zum Sterbewunsch erfolgen muss. Solch allgemeine Mindeststandards sind nicht selten fraglich in ihrer Umsetzung und Praktikabilität. Als generelles Ziel wollen sie den „tiefen Respekt vor dem Leben des Patienten“245 betonen. In einer Stellungnahme des darauffolgenden Jahres wird die Unerlässlichkeit der Menschenwürde als Fundament der Argumentation deutlich gemacht, in Verbindung mit dem Hinweis auf den Respekt vor einer Person, welcher auch einen möglichen Sterbewunsch ernst nehmen sollte.246 Unverändert bleibt ferner die Ablehnung, dass ein Recht auf Sterbehilfe bestehen darf oder gar Sterbehilfe als politisches Instrument oder als Alternative zur Sterbebegleitung eingesetzt wird. „Sterbehilfe darf aus gesellschaftlicher Perspektive keine wählbare Alternative zu jeglicher Form palliativer Sterbebegleitung darstellen!“247 Ein Recht auf Sterbehilfe sollte also keine Alternative sein, hingegen ist ein „Recht auf palliative Betreuung“248 für den SEK ethisch zu befürworten. Weiterhin ist nach Maßgabe des SEK vor einem gesellschaftlichen Klima zu warnen, das in einer alternden Gesellschaft bei Legalisierung des assistierten Suizids einen Druck auf alte, pflegebedürftige und kranke Menschen ausübt, sich selbst – auch aus ökonomischen Gründen – das Leben zu nehmen. Oberstes Ziel sollte immer, so die Position, der Lebensschutz bleiben.249 Deutlich gemacht wird aber dennoch, dass kein theoretisches und prinzipielles Urteil möglich ist und letztendlich solche Fragen die Gewissensentscheidung des Einzelnen fordern.250 Begründungsstruktur ist die Identifizierung des Lebens als Geschenk Gottes, was zugleich Beginn und Ende des Lebens menschlicher Verfügbarkeit entzieht. Aber auch Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen, so heißt es, haben biblisch-theologisches Fundament: „in der biblischen Anthropologie von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und der universalen Gemeinschaft Gottes mit den Menschen in Jesus Christus.“251 Die Argumentationsgrundlage für alle Betrachtung der Fragestellungen zu Sterbehilfe kann wie folgt zusammengefasst 245

Wipf, Vernehmlassung, 4. Vgl. Mathwig, Selbstbestimmt leben, 1. 247 Mathwig, Selbstbestimmt leben, 2. 248 Mathwig, Selbstbestimmt leben, 2. 249 Vgl. Mathwig, Selbstbestimmt leben, 3. 250 Vgl. Mathwig, Selbstbestimmt leben, 1; 4f. 251 Mathwig, Selbstbestimmt leben, 3. 246

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10. Angrenzende Themenfelder

werden: „Eine theologisch-christliche Antwort auf die Frage nach der Sterbehilfe muss zwischen diesen drei Eckpfeilern von Tötungsverbot, menschlicher Autonomie und christlicher Nächstenliebe entwickelt werden.“252 Mit 2. Kor 12,9 „wird nicht nur jede Idee einer leidfreien Existenz zurückgewiesen, sondern die Gebrochenheit des menschlichen Lebens als integraler Bestandteil seiner Existenz anerkannt.“253 Ein deutlicher Hinweis wird auf Grenzsituationen gegeben, sodass achtsam mit generellen und prinzipiellen Urteilen umgegangen werden soll. Betont wird ebenso die persönliche Gewissensentscheidung zum Thema sowie ein entsprechender Respekt hiervor. Von keiner Instanz kann abschließend ein festes Urteil gefällt werden. Dritten obliegt es einzig, die Rahmenbedingungen mitzugestalten.254 Besonders in den 2007 veröffentlichten Positionen255 zu Entscheidungen am Lebensende betont der Schweizerische Evangelische Kirchenbund die Nützlichkeit der Stärkung der Palliative Care, fordert gar „einen Rechtsanspruch auf Palliative Care und spricht sich gegen ein Recht auf Suizidhilfe aus.“256 Grundlage aller Überlegungen sind fernerhin die drei zentralen Aspekte Lebensschutz, Fürsorge und Selbstbestimmung, die miteinander verwoben sind und deren relationale Bezogenheit Grundlage von Entscheidungsprozessen sein muss.257 Diese drei Prinzipien werden vom SEK als „normative[s; d. Vf.] Dreieck“258 bezeichnet, in dem sich die ethischen Debatten bewegen. „Die Herausforderung besteht darin, dass die Prinzipien zwar grundsätzlich gleich, aber nicht in jeder Situation gleichrangig gelten.“259 In der Stellungnahme zum Thema wird eine theologisch-ethische Orientierung und Urteilsfindung anhand verschiedener Bausteine entfaltet.260 Das Leben als Gabe Gottes und darin verbunden als Aufgabe zu verstehen ist hierbei ein Pfeiler. Konsequenz dessen ist die unverlierbare Würde des Menschen sowie der unbedingte Schutzanspruch des Lebens. Zugleich „sind alle Menschen zu einem Leben in Freiheit 252

Mathwig, Selbstbestimmt leben, 3. Mathwig, Selbstbestimmt leben, 4. 254 Vgl. Mathwig, Selbstbestimmt leben, 5. 255 Vgl. Mathwig, Das Sterben leben. 256 http://www.kirchenbund.ch/de/pressemitteilung/2007/das-sterben-leben, Stand: 23.05.2013. 257 Vgl. Mathwig, Das Sterben leben, 15. 258 Mathwig, Das Sterben leben, 15. 259 Mathwig, Das Sterben leben, 16. 260 Vgl. Mathwig, Das Sterben leben, 20ff. 253

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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berufen (Gal 5,13a).“261 Ferner prägt die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod bereits das irdische Leben, in der Gewissheit, dass durch Christus die Macht des Todes besiegt ist. Ein moralisches Urteil über ein Menschenleben zu fällen, entzieht sich dem Fähigkeitsbereich von Menschen.262 Ferner begegnet das menschliche Leben oft „im Spannungsfeld von Angewiesensein und Freiheit.“263 Herausgestellt wird hier, dass menschliches Leben nicht nur aus einer aktiven und autonomen Seite besteht, sondern Schwachheit und Angewiesenheit ebenso Bestandteile menschlichen Lebens sind. Aktivität und Passivität bedingen sich gegenseitig.264 Auch der Leidbegriff spielt eine Rolle in der Gesellschaft. Aufgabe ist es nach Maßgabe des SEK auf Grundlage der oben entwickelten Bausteine des Lebens, ein Menschenbild als Ganzes zu schärfen, welches sich folglich nicht nur auf den Menschen als autonomes Wesen stützt, gleichwohl den Menschen „unabhängig von allen tatsächlichen Fähigkeiten, gegenwärtigen Zuständen und zukünftigen Möglichkeiten“265 in seiner Würde wahrnimmt. Wie dies realisiert werden kann, unterstreicht der SEK in folgender Konklusion: „Die Würde im Schmerz, im Leiden und in der Verzweiflung zu respektieren, anzuerkennen, ernst zu nehmen und zu bewahren, bedeutet bei existenziellen Entscheidungen am Lebensende, sich jeder prinzipiellen ‚Lösung‘ zu enthalten. Nicht die moralisch richtige oder ethisch begründbare Handlung ist gefordert, sondern die Bereitschaft von allen Beteiligten, Verantwortung zu übernehmen, sich (selbst) hineinzuversetzen und einzusetzen sowie – aus christlicher Perspektive – im Ernstfall auch das Bewusstsein und die Entschlossenheit, schuldig zu werden.“266

Zusammenfassend soll an dieser Stelle unterstrichen werden, dass auch in dieser Positionsbestimmung des SEK eines sehr deutlich herausgestellt wird: die Unmöglichkeit einer prinzipiellen Lösung oder eines festen ethischen Urteils. Gründe dieser Position sind beispielsweise die Individualität jeder zu entscheidenden Situation sowie die Existenz tragischer Grenzfälle, bei denen kategorische Urteile fehlschlagen. 261

Mathwig, Das Sterben leben, 20. Vgl. Mathwig, Das Sterben leben, 20. 263 Mathwig, Das Sterben leben, 21. 264 Vgl. Mathwig, Das Sterben leben, 21. 265 Mathwig, Das Sterben leben, 22. 266 Mathwig, Das Sterben leben, 22. 262

84

10. Angrenzende Themenfelder

In aktuelleren Stellungnahmen, wie beispielsweise im Jahre 2010, nimmt der SEK nochmals explizit Stellung, dass „Suizidhilfe [. . . ] keine allgemeine Dienstleistung, sondern Nothilfe im Einzelfall“267 darstellen sollte. Lebensschutz gilt dabei nach wie vor als vorrangige Aufgabe, die folglich notwendigerweise auch Suizidprävention und Suizidhilfeprävention sowie den Ausbau von Palliative Care inkludiert.268 Generell wird eine staatliche Kontrolle der Suizidhilfeorganisationen gefordert.269 10.3.5.1.2 Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) Zur Stellungnahme mit der zentralen Ausrichtung auf lebensverkürzende Maßnahmen sowie der Sorge um Sterbende hat ferner im Jahre 2011 die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) herausgefordert.270 In ihrem Bericht nimmt sie Bezug zu „Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung“271 . Auch sie führen als wesentliche evangelische Begründung zum Verständnis des Menschenlebens an, „nach dem Bilde Gottes geschaffen zu sein“272 . Resultat des Empfangs des Lebens aus Gottes Hand ist „eine fundamentale Verantwortung des Menschen gegenüber Gott“273 . Zugleich konkretisiert sich diese Verantwortung „einerseits in der Freiheit gegenüber der ausschließlichen Festlegung des Menschen durch weltliche Gegebenheiten und angeborene Eigenschaften, andererseits ist sie [. . . ] dazu befreit, dem Nächsten in Liebe zu dienen.“274 Ihre Argumentationen knüpfen an den Aspekt der Gottebenbildlichkeit sowie an das Verständnis des Lebens als empfangendes Geschenk Gottes an. Hierdurch wird zudem die hohe Verantwortung des Menschen unterstrichen. Zugleich verstehen sie Würde unabhängig von irdischen Qualitäten und als Resultat der Beziehung Gottes zu den Menschen.275 Gebündelt werden diese Aussagen dann in der zur Anwendung kommenden Nächstenliebe, zu der jeder Mensch befreit ist. Insofern liegt dem Menschenleben ein relationaler Charakter zugrunde, der sich durch Gott in Schöpfung und Rechtferti267

Mathwig, Perspektiven am Lebensende, 2. Vgl. Mathwig, Perspektiven am Lebensende, 2. 269 Vgl. Mathwig, Perspektiven am Lebensende, 12. 270 Vgl. GEKE, Leben hat seine Zeit. 271 GEKE, Leben hat seine Zeit, 13. 272 GEKE, Leben hat seine Zeit, 8. Vgl. weiter S. 34ff. 273 GEKE, Leben hat seine Zeit, 8. 274 GEKE, Leben hat seine Zeit, 8. 275 Vgl. GEKE, Leben hat seine Zeit, 9. 268

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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gung ereignet und auf menschlicher Ebene in der Nächstenliebe zum Ausdruck kommt. Diese theologische Begründungsstruktur ist in der weiteren Stellungnahme Anker für entsprechende Aussagen zum Thema, wie etwa der besonderen Schutzwürdigkeit, die einem Menschenleben inhäriert. Gleichzeitig sind Mitfühlen, Achtsamkeit, Hilfe und Unterstützung zentrale Elemente, die dazu auffordern, gerade Sterbenden und Kranken beizustehen und ihnen Fürsorge entgegenzubringen.276 Diese beschriebene Fürsorge kann sich etwa in der Realisierung der Möglichkeiten der Palliativmedizin zeigen, wie ebenso darin, weitere medizinische Möglichkeiten ungenutzt zu lassen, um wiederum das Sterben zuzulassen. Ausschlaggebend sollte hierbei, wie es die GEKE feststellt, besonders der Wunsch des Patienten sein, für den eine Patientenverfügung eine Erkenntnisquelle darstellen kann.277 Hinsichtlich der spezifischen Themen Tötung auf Verlangen sowie Suizidbeihilfe wird in der Begründungsstruktur zuerst darauf verwiesen, vorschnelle moralische Urteile zu vermeiden. Ferner wird es als generelle gesellschaftliche Aufgabe angesehen, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass auch Schwerkranken und Sterbenden ermöglicht wird, „ihr Leben als Träger einer unantastbaren und unbegrenzten Würde zu begreifen.“278 Die Bewertung der Tötung auf Verlangen erfolgt schließlich als „ethisch höchst problematisch“279 , was vorrangig auf dem Grundsatz des Lebensschutzes sowie dem Verständnis der Menschenwürde unabhängig von empirischen Fähigkeiten beruht, wodurch die Entscheidung zur Tötung auf Verlangen nicht allein auf der Fähigkeit zur Selbstbestimmung oder „rein als Angelegenheit des individuellen Gewissens angesehen werden“280 kann. Auf Grundlage dessen bezieht die GEKE ferner wie folgt Position: „Die Mitgliedskirchen der GEKE unterstützen den Schutz der Menschenrechte von Sterbenden und Todkranken. Das schließt sowohl das Recht auf Leben bis ans Ende ein, als auch das Recht, sich gegen weitere Behandlung zu entscheiden. Fürsorge und Selbstbestimmung, die sich gegen Behandlung entscheidet, bilden keinen Gegensatz.“281 276

Vgl. GEKE, Leben hat seine Zeit, 9f. Vgl. GEKE, Leben hat seine Zeit, 11f. 278 GEKE, Leben hat seine Zeit, 13. 279 GEKE, Leben hat seine Zeit, 14. 280 GEKE, Leben hat seine Zeit, 14. 281 GEKE, Leben hat seine Zeit, 15. 277

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10. Angrenzende Themenfelder

Sichtbar wird also die Hochschätzung von Lebensschutz, der zugleich die Verantwortung impliziert, das eigene Sterben zu akzeptieren und seinem Eintritt nichts mehr entgegenzusetzen. Im Hinblick auf den assistierten Suizid sieht die GEKE eine ethische Fragwürdigkeit in einem Gesichtspunkt, der besonders im christlichen Horizont an Tragweite zu gewinnen scheint: Zur christlichen Vorstellung einer Begleitung von Menschen am Lebensende zählt auch eine Sterbebegleitung, ein Dabeisein und Beistehen in Mitgefühl und Fürsorge. Ein assistierter Suizid hingegen fordert in seinem Rechtsrahmen ein Sterben ohne mitmenschliche Begleitung bis zum Eintritt des Todes.282 Vor dem Hintergrund, dass Dritte durch die Akzeptanz des Vorhabens des assistierten Suizides das Ziel der Selbsttötung unterstützend in Kauf nehmen, bewertet die GEKE dies als Widerspruch zur christlichen Einstellung zu Lebensschutz und Lebenserhalt sowie zur Aufgabe, zum Leben zu ermutigen.283 Im gleichen Atemzug wird jedoch unterstrichen, dass kein Recht besteht, „jemanden zu verurteilen, der wegen eines irreversibel schlechter werdenden medizinischen Zustandes und der damit verbundenen Qual und dem Leid, seine oder ihre Situation im Leben nicht länger als sinnvoll sehen kann und nicht länger die Kraft oder den Willen hat, das Leben fortzusetzen.“284

10.3.5.1.3 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) Die Evangelische Kirche in Deutschland beschäftigt und beschäftigte sich ebenfalls mit dem gesamten Themenkomplex der Sterbehilfe. Wichtige Fragen zum Leben und Sterben behandelt die EKD in der im Jahre 2000 veröffentlichten Schrift Gott ist ein Freund des Lebens. Die besondere Würde des Menschen, die Verantwortung für den Schutz des Lebens sowie konkrete Herausforderungen beim Schutz des Lebens sind zentral.285 Das Leben wird als Gabe Gottes gekennzeichnet, was wiederum zu besonderer Ehrfurcht sowie zum Schutz des Lebens aufruft. Um die Besonderheit der Würde des menschlichen Lebens zu erklären, wird sich auch hier auf die biblische Bezeichnung des Menschen als Bild Gottes (Gen 1,26f.) berufen. „Die Gottebenbildlichkeit wird darum in der geistigen Welt des Christentums zu einem Zentralbegriff in der Beschrei282

Vgl. GEKE, Leben hat seine Zeit, 93f. Vgl. GEKE, Leben hat seine Zeit, 95. 284 GEKE, Leben hat seine Zeit, 95. 285 Vgl. Kirchenamt der EKD, Gott. 283

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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bung der besonderen Würde des menschlichen Lebens.“286 Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik steht ebenso in dieser Tradition. Das Herausgehobensein des Menschen und die Zuschreibung dieser Qualität für jeden einzelnen Menschen sind zentral.287 „Theologisch entspricht dem die Sicht, daß jeder einzelne Mensch sich verstehen darf als von Gott geschaffen und gewollt und diese Beziehung zwischen Gott und Mensch ihre Erfüllung gefunden hat in Christus, in dem Gott den Menschen, jeden Menschen unbedingt angenommen hat.“288

Diese Aussagen konkretisieren sich auch auf Menschenleben mit Krankheit, Behinderung oder im Sterben. Der Wert des Lebens realisiert sich eben nicht in seiner Leistungsfähigkeit und Produktivität, sondern in dem Angenommensein durch Gott, so die Position der EKD. Folglich ist auch kein anderer Mensch fähig über Wert und Unwert eines Lebens zu urteilen.289 „Die Überzeugung, daß letztlich nicht eigene Qualitäten, sondern Gottes Annahme und Berufung dem Menschen Gottebenbildlichkeit und damit seine Würde verleihen, muß sich gerade gegenüber dem kranken, behinderten und sterbenden Leben bewähren.“290 In Bezug auf Selbsttötung wird von der EKD in Kooperation mit der Deutschen Bischofskonferenz festgestellt, dass es Menschen nicht zusteht, in der Außenperspektive über ein solches Tun zu urteilen. Respekt und Toleranz diesem Menschen entgegenzubringen ist die Aufgabe, vor der Mitmenschen stehen. Gleichwohl, so stellt es die EKD heraus, kann diese Tat letztendlich nicht gebilligt werden, da bedacht sein muss, dass der Mensch „nicht nur für sich lebt.“291 In dieser Ansicht wird also vermittelt, dass generell die Selbsttötung als lebensverneinender Akt nicht gutgeheißen werden kann. Dennoch existieren Gründe, Ursachen und Situationen, in denen die Selbsttötung die einzige Alternative für einen Menschen zu sein scheint. Im Respekt hiervor ist vor moralischen Urteilen oder Verurteilungen zu warnen. Tötung auf Verlangen hingegen kann nicht gebilligt werden, da nach Ansicht der EKD die Verantwortung der aktiven Tötung eines Menschen nicht getragen werden kann sowie in Bezug auf die Arzt-Patient-Beziehung das Vertrauensverhält286

Kirchenamt der EKD, Gott, 39. Vgl. Kirchenamt der EKD, Gott, 39. 288 Kirchenamt der EKD, Gott, 40. 289 Vgl. Kirchenamt der EKD, Gott, 46f. 290 Kirchenamt der EKD, Gott, 47. 291 Kirchenamt der EKD, Gott, 107. 287

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10. Angrenzende Themenfelder

nis unweigerlich zerstört wird.292 Diese Ansicht fügt sich in das Verständnis ein, dass der Tod des Menschen abzuwarten und nicht herbeizuführen ist. Leben und Sterben liegen nach christlichem Verständnis in der Hand Gottes und werden als Geschick verstanden.293 Im Jahre 2008 beschäftigte sich die EKD in einem gesonderten Beitrag mit dem Thema der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung.294 Hierin bezieht sie klare Position, indem sie einer Einschränkung der Garantenpflicht295 von Ärzten widerspricht, eine rechtliche Verankerung der ärztlichen Suizidbeihilfe ablehnt sowie ein Verbot von Sterbehilfeorganisationen im Sinne der gewerbsmäßigen und organisierten Suizidhilfe befürwortet.296 Zur ethischen Beurteilung wird erneut mit Vehemenz auf die Problematik von festen, ablehnenden, moralischen Urteilen verwiesen. Denn „derartige moralische Urteile verfehlen die existenzielle Dimension, um die es bei der Problematik des Suizids und der Suizidbeihilfe geht.“297 Ferner sollte auch Respekt vor der Selbstbestimmung sowie vor Entscheidungen eines Anderen entgegengebracht werden, wobei Suizidprävention als wichtiges Ziel bestehen bleibt.298 Die Stellungnahme als Ganzes betrachtet scheint weniger eine theologische Reflexion zu sein als vielmehr eine Positionsbestimmung infolge der Darlegung aktueller Entwicklungen in Medizin, Recht und Gesellschaft. Tiefe theologische Argumentationsstrukturen werden kaum entfaltet. Im Bemühen um Orientierung zum Themenbereich veröffentlichte die EKD gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz im Jahre 2011 in zweiter Auflage eine Sammlung kirchlicher Texte und Stellungnahmen. Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe299 ist das übergreifende Votum. Ziel dieses gemeinsamen Textes ist es, „die Haltung der Kirchen deutlich zu dokumentieren und auf die Kontinuität in den kirchlichen Verlautbarungen zu diesem Thema hinzuweisen [. . . ], sich für eine menschenwürdige Beglei292

Vgl. Kirchenamt der EKD, Gott, 109. Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 12. 294 Vgl. Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen. 295 Die Garantenpflicht bezeichnet die Pflicht zur Abwehr eines Suizides, fordert also das Eingreifen eines Arztes in eine Suizidhandlung. Die Einschränkung der Garantenpflicht steht in offensichtlicher Spannung zur ärztlichen Pflicht zum Lebenserhalt und -rettung. Vgl. Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen, 30. 296 Vgl. Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen, 6. 297 Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen, 24. 298 Vgl. Kirchenamt der EKD, Wenn Menschen sterben wollen, 24f. 299 Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterbebegleitung. 293

II. Hintergrundinformationen und Rahmenbedingungen

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tung Kranker und Sterbender einzusetzen und sich den Tendenzen hin zu aktiver Sterbehilfe entgegenzustellen.“300

Hauptsächlich steht hierbei die Thematik der aktiven Sterbehilfe im Fokus.301 Aber auch die zuletzt oben benannte Orientierungshilfe der EKD zur ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung mit dem Titel Wenn Menschen sterben wollen findet hierin ihren Platz. Zusammenfassend lässt sich anhand dieser exemplarischen Positionen festhalten, dass es der Meinung der Kirchen entspricht, aktive Sterbehilfe mit Vehemenz abzulehnen sowie assistierten Suizid als problematisch zu kennzeichnen. Aktive Sterbebegleitung soll dazu beitragen, dass Wünsche nach Sterbe- und Suizidhilfe vermieden werden. Besonders von der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund wird darüber hinaus angemerkt, dass es Grenzfälle geben kann, sodass vor generalisierenden moralischen Urteilen zu warnen ist. Solch existenzielle Dimensionen scheinen sich eines pauschalen Urteils zu verwehren. Deutlich wurde in den Aufarbeitungen der vergangenen Kapitel, dass grundlegende Fragen an das Menschenbild und im theologischen Kontext insbesondere nach einem Verständnis des Menschen im Verhältnis zu Gott gestellt werden müssen, um wiederum ethische Aussagen etwa zur Wahrnehmung des Lebens oder der Würde treffen zu können. Die unterschiedlichen Positionen zeigen darüber hinaus auf, dass sie um die Gewichtung von Autonomie und Fürsorge kreisen und nach dem jeweiligen Verständnis dieser Aspekte fragen. Das folgende Großkapitel III wird Wegbereiter sein müssen, jene Zusammenhänge zu konkretisieren.

300 301

Kirchenamt der EKD, Sterbebegleitung, 12. Weitere inhaltlich verwandte Positionen und Stellungnahmen der EKD werden in Bezug auf Äußerungen zu Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht in Kapitel III.3.2 fernerhin ausgeführt, wodurch an dieser Stelle nur darauf verwiesen wird.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

Der vorliegende Abschnitt III wird im Anschluss an die vorausgegangene begriffliche Klärung der Gegenstände der Arbeit den Weg zu ihren zentralen Fragestellungen dezidiert aufarbeiten. Leitend sein wird dabei eingangs eine interdisziplinäre Blickrichtung auf die nachzuzeichnende Genese der Debatte um das Themenfeld Vorsorge und ihrer Vorsorgeinstrumente. Unterdessen ist zu untersuchen, welche Dissense im Grundsatz greifbar sind, welche Voraussetzungen sowie Problemstellungen existieren und inwiefern genuin theologische Fragestellungen – scilicet im Grundsatz nach dem Sein des Menschen – aufgeworfen sind. Ausgehend von den bereits getätigten Verweisen im Abschnitt II ist nun mithilfe der Analyse der erfolgten Debatten zum Thema herauszustellen, dass interdisziplinär jener Grunddissens von Autonomie und Fürsorge existiert und Tendenzen aufzuzeigen sind, die eine isolierte Fixierung auf einen dieser Topoi als defizitär kennzeichnen. Die Wirklichkeit des Menschen scheint so nicht vollumfänglich beachtet zu sein. Grundlegende Fragen nach einem Verständnis des Seins des Menschen werden dabei aufgeworfen. Die Darstellungen verweisen des Weiteren kritisch auf den vorherrschenden Autonomie-Begriff, welcher zum Abschluss des vorliegenden Großkapitels notwendigerweise in einem Zwischenschritt zu konkretisieren ist. Sodann kann dieses gewonnene Verständnis die weiteren Analysen und Diskussionen untermauern. Bereits vorwegzunehmen ist, dass auch die Theologie ein Spiegel der gegenwärtig vorfindlichen Dissense um Autonomie und Fürsorge ist, was schließlich im nachfolgenden Abschnitt IV Konkretisierung findet.

1. Die Dominanz des Paternalismus im früheren Vormundschaftsrecht Das oben dargelegte Betreuungsrecht in den Paragraphen 1896 bis 1908 k des BGB vom 12. September 1990 ist seit dem 1. Januar 1992 in Kraft und durch die Betreuungsrechtsänderungsgesetze bis zuletzt im Jahre 2009 weiter angepasst worden. Erst innerhalb dieses Betreuungsrechts wurde die gerichtliche Betreuung eingerichtet. Abgelöst wurde dabei die vormalige Regelung zur Vormundschaft und Gebrechlich-

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1. Die Dominanz des Paternalismus im früheren Vormundschaftsrecht

keitspflegschaft über Volljährige durch Entmündigung, die seit Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 dort implementiert war.1 Prägung fand folglich das bis dahin gültige Recht dadurch, dass bei Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft zumeist eine automatische Einschränkung des gesamten Rechtsverkehrs und der Geschäftsfähigkeit einer Person einherging, die Persönlichkeitsrechte also mithin begrenzt wurden. Im Rückblick, so wird betont, wies das ursprüngliche Recht ein großes Defizit im Bereich der persönlichen Betreuung auf. Der staatlich bestellte Vormund war zu keiner persönlichen Betreuung oder gar einer Berücksichtigung von Wünschen des Mündels angehalten oder verpflichtet.2 Im heutigen Betreuungsrecht sind diese Aspekte besonders hervorgehoben. Zuvor galt aber: „Bei der Ausübung ihres Amts haben Vormünder und Pfleger für das Wohl der Betroffenen zu sorgen. Zur Frage, inwieweit hierbei Willensäußerungen der Betroffenen zu berücksichtigen sind oder dem Willen des Vormunds oder Pflegers der Vorrang zukommt, geht die ganz überwiegende Auffassung grundsätzlich von folgendem [sic!] aus: Bei der Vormundschaft kommt dem Willen des Vormunds der Vorrang zu. Für die Gebrechlichkeitspflegschaft gilt dies nur, wenn der Pflegling geschäftsunfähig ist; andernfalls kommt dem Willen des Pfleglings der Vorrang zu.“3

Eine Entsprechung der Wünsche war also per se nicht vorgesehen und auch persönliche Anhörung erhielt keine Notwendigkeit.4 Unter Vormundschaft oder Gebrechlichkeitspflegschaft stehende Personen galten als testierunfähig und wurden von Wahlen ausgeschlossen.5 „Voraussetzung der Vormundschaft über einen Volljährigen ist, daß der Betroffene entmündigt wurde“6 , was infolge von „Geisteskrankheit oder Geistesschwäche“7 oder sog. Verschwendungs-, Trunk- oder Rauschgiftsucht möglich war, ein Gebrechlichkeitspfleger wurde bestellt, sofern die eigenen Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht selbstständig erledigt werden konnten.8 Eine unzureichende Regelung der Gegenstände des gesundheitsfürsorglichen Bereichs war im früheren Gesetz außerdem feststellbar.9 Auch der Zeitraum einer Entmündi1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Drucksache 11/4528, 45. Vgl. Drucksache 11/4528, 50ff. Drucksache 11/4528, 40. Vgl. Drucksache 11/4528, 1f. Vgl. Drucksache 11/4528, 39. Drucksache 11/4528, 38. Drucksache 11/4528, 38. Vgl. Drucksache 11/4528, 38. Vgl. Drucksache 11/4528, 39.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

93

gung fand, entgegen der heutigen rechtlichen Regelung, keine Begrenzung auf ihre Notwendigkeit: „Entmündigungen dauern überwiegend lebenslang oder doch sehr lange.“10 Gerade alte Menschen zählen überdurchschnittlich oft zu den Entmündigten.11 Der kurze Abriss der vormundschaftsrechtlichen Regelungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts an weist als übergreifendes Kennzeichen eine starke heteronome Ausrichtung der Gesetzeslage auf. Sie spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass ein Antrag auf Entmündigung nicht vom Betroffenen selbst gestellt werden konnte und sein Einverständnis nicht erforderte.12 Ferner erstreckte sich eine Vormundschaft auf alle Angelegenheiten des Betroffenen. Es erfolgte somit keine Eingrenzung auf Notwendigkeiten,13 wie dies im heutigen § 1896 Abs. 2 BGB festgeschrieben ist. „Die Entmündigung führt stets und für alle Bereiche zur Geschäftsunfähigkeit. [. . . ] Diese Rechtswirkungen treten unabhängig davon ein, ob der Betroffene im natürlichen Sinn geschäftsunfähig [. . . ] ist oder nicht. [D]ie Entmündigung stärkt also nicht die Rechte des Betroffenen, selbst am Rechtsverkehr teilzunehmen.“14

Eine starke Ausweitung der Entmündigung über die tatsächliche Fürsorgebedürftigkeit hinaus ist zugleich festzustellen. „Gutachten zeigen auf, daß ein so starker Grad der Entrechtung, wie er in der Bundesrepublik Deutschland bei der Entmündigung – insbesondere bei der Totalentmündigung wegen Geisteskrankheit – vorgesehen ist, in anderen Ländern nicht für erforderlich erachtet wird.“15

Vor diesem Hintergrund erschien eine Reform hin zum heutigen Betreuungsrecht zentral geboten.

2. Instrumente persönlicher Vorsorge in ihrer wachsenden Bedeutung in der Gesellschaft Die Thematik um Vorsorgemöglichkeiten und -instrumente für Krankheitssituationen oder das Ende des Lebens kann nun bereits auf eine 10 11 12 13

14 15

Drucksache 11/4528, 43. Vgl. Drucksache 11/4528, 43. Vgl. Drucksache 11/4528, 38. Vgl. Drucksache 11/4528, 38f. Gebrechlichkeitspflegschaften wiesen hierbei ein anderes Verfahren auf. Drucksache 11/4528, 39. Drucksache 11/4528, 48.

94

2. Instrumente persönlicher Vorsorge in der Gesellschaft

gewisse Entwicklungsgeschichte zurückblicken. „Seit Ende der 70erJahre wird das Instrument der Patientenverfügung, insbesondere für den Bereich der medizinischen Entscheidungen am Ende des Lebens, in der Öffentlichkeit diskutiert.“16 Die Patientenverfügung trägt dabei den Anspruch, unter Berufung auf die Selbstbestimmung17 einer Person für ein humanes, da selbstbestimmtes Sterben einzutreten und somit die Menschenwürde zu stärken. Dieses Bestreben wird mitunter als Resultat einer Entwicklung von der Aufklärung her wahrgenommen, insbesondere auch als Reaktion auf die heteronomen und paternalistischen Strukturen, die durch Vormundschaft und Entmündigung vormalig Realität waren.18 Der Rekurs auf Individualität und Autonomie des Menschen sowie die Abkehr von Fremdbestimmung – in facto auch gegen die moderne Medizin – scheint sich in der Patientenverfügung widerzuspiegeln. „Häufig wird in der Debatte auch die Angst vor fremdbestimmten Entscheidungen einer als übermächtig empfundenen Medizin genannt, die zu lange Leben erhalte und zu wenig gegen Schmerzen unternehme.“19 Nebstdem begünstigen gesellschaftliche Veränderungen des 20. Jahrhunderts speziell in westlichen Industrienationen die Verbesserung der Lebensverhältnisse, etwa bedingt durch bessere Einkommensstrukturen, Hygiene- oder Ernährungsstandards. Ein Rückgang der Kindersterblichkeit und ein höheres Durchschnittsalter der Bevölkerung ist eine Folge.20 Zugleich bewirkt diese Entwicklung die Wahrnehmung, dass Sterben und Tod am Ende eines langen, erfüllten Lebens stehen. Es ist somit eine gewisse Tendenz der Verlagerung oder gar Verdrängung des Sterbens und des Todes aufzuspüren. Medizinische Interventionen begünstigen überdies jene Tendenz. Gleichzeitig löst diese Vorstellung Unbehagen und Furcht vor gesellschaftlich diskreditiertem Paternalismus aus, der auch ausgehend von der weit entwickelten Medizin verspürt wird.21 Die Patientenverfügung erscheint in diesem Kontext als eine Möglichkeit sich vorsorglich gegen Paternalismus in Krankheitsphasen und am Ende des Lebens zu schützen. Besondere Tragweite entwickeln dabei Situationen im medizinischen Bereich, in denen nicht mehr selbstständig agiert und über sich selbst verfügt werden kann. So kann die Wahrnehmung entstehen, dass gera16 17 18 19 20

21

Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 7. Vgl. hierzu Kapitel II.9. Vgl. hierzu das vorausgegangene Kapitel III.1. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 7. Vgl. Nowossadeck, Demografische Alterung, 1ff.; http://www.bundesaerztekam mer.de/downloads/Analyse-Kopetsch.pdf, Stand: 11.03.2013; Bundeszentrale für politische Bildung, Das Gesundheitswesen. Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 14.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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de die Patientenverfügung ein „Wundermittel gegen die Unbilden der letzten Lebensphase“22 ist. Fortschreitende Veränderungsprozesse in Bezug auf die gesellschaftliche Struktur i. A. sind bereits angesprochen. Ergänzend dazu ist auf das (familiäre) Zusammenleben als solches einzugehen. Die frühere bürgerliche Ordnung, dass eigene Kinder im Elternhaus oder zumindest in räumlicher Nähe zu den Eltern bleiben und sich später um deren Versorgung kümmern, ist nicht mehr garantiert. Der Anteil der Menschen, die im Alter sozial alleinstehend sind, scheint zu wachsen. Hier ebenfalls wirkt sich der Ausbau der medizinischen Möglichkeiten aus. Des Weiteren ereignet sich eine Verlagerung der Sterbekultur weg von einem Sterben im Kreise der Angehörigen hin zu einem Sterben im Krankenhaus oder im Seniorenheim, oft nach langer medizinischer Therapie.23 „Zusammengefasst bietet der medizinische Fortschritt heute auf der einen Seite zahlreichen Patienten eine Chance auf erwünschten Lebenserhalt und -verlängerung mitten im Leben, auf der anderen Seite schürt er in der Bevölkerung die Angst vor Übertherapie und sinnloser Leidensverlängerung am Lebensende.“24

Auch gegen ungewollte Maximaltherapien und der damit verbundenen Angst vor langem Siechtum scheinen Patientenverfügungen Abhilfe schaffen zu können. Jene angesprochenen Entwicklungen und Veränderungen begünstigen die gesellschaftliche Tendenz, der Thematik um die Patientenverfügung Gehör zu schenken. Im Vergleich zur verbreiteten Akzeptanz der Verfügung ist hingegen die Vorsorgevollmacht eher unbekannt.25 Offen diskutiert und thematisiert wird die Vorsorgevollmacht nahezu nicht. Ihre sich bietenden Möglichkeiten persönlicher Vorsorge, speziell für Gesundheitsangelegenheiten, bleiben demzufolge derzeit eher unreflektiert.26 Exemplarisch zeigen, wie bereits erwähnt, wenige Befragungsergebnisse den der Patientenverfügung entgegengebrachten gesellschaftlichen Zuspruch auf. Eine 2007 in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage durch die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben ermittelt die Befürwortung der uneingeschränkten Gültigkeit von Patientenverfügungen bei knapp 22 23 24 25

26

Klie, Die Patientenverfügung, 19. Vgl. Krug, Patientenverfügungen, 121. Krug, Patientenverfügungen, 122. Deutlich wird dies u. a. daran, dass derzeit keine Untersuchungen oder Befragungen gezielt zur Vorsorgevollmacht, ihrer Akzeptanz und Verbreitung aufzufinden sind. Anzumerken ist, dass entgegen dieser allgemeinen Tendenz in manchen Bereichen des Lebens die Erteilung einer Vollmacht eher etabliert zu sein scheint, wie dies etwa auf eine Vollmacht für Bankgeschäfte zutrifft.

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2. Instrumente persönlicher Vorsorge in der Gesellschaft

drei Viertel der Befragten.27 Die Patientenverfügung kann also auf starke Akzeptanz in der Bevölkerung bauen. Eine große Diskrepanz dazu zeigt sich allerdings in ihrer Verbreitung, die sich durch eine Befragung aus 2011 auf etwa 13,9 % schätzen lässt.28 Im Wissen darum, dass diese Angaben nur als Hochrechnung dienen können und ein direkter Rückschluss auf die heute real existierende Anzahl von Patientenverfügungen nicht möglich ist, so verdeutlichen sie gleichwohl eine vorfindliche Tendenz: Speziell die Patientenverfügung trifft auf große innergesellschaftliche Zustimmung, ist aber keineswegs weit verbreitet. Obwohl das Thema im Bewusstsein vieler Menschen verankert ist, kommt es eher selten zur Niederschrift einer Patientenverfügung. Der Thematik inhäriert somit eine innere Diskrepanz. Einige Gerichtsentscheidungen stießen die Diskussion in der Vergangenheit weiter an und beeinflussten zudem die oben beschriebene Wahrnehmung in der Gesellschaft. Zu nennen ist etwa das Kemptener Urteil des BGH von 1994, das die Zulässigkeit der passiven Sterbehilfe bei noch nicht eingesetztem Sterbeprozess herausstellte und die Gültigkeit des mutmaßlichen Patientenwillens als maßgeblich erachtete. Oder der Beschluss des BGH vom 17. März 2003, wodurch bereits verfassten Verfügungen juristische Bindungskraft für Arzt und Betreuer zugesprochen wurde, weil diese nach Maßgabe des Gerichts als gültiger Wille zu werten seien.29 Hintergründig ist allerdings zu berücksichtigen, dass hier der Gültigkeitsbereich von Patientenverfügungen noch auf irreversibel tödliche Situationen beschränkt war.30 Auch tragische Fallbeispiele geraten besonders in das öffentliche Interesse, eignen sich zur medialen Inszenierung und stoßen nicht zuletzt den Diskurs weiter an. So auch beispielhaft der familiär zerstrittene und gerichtlich lang erkämpfte Tod von Terri Schiavo (USA) im Jahre 2005, die bis dahin 15 Jahre lang im Wachkoma lag. Ihr Ehemann erwirkte dann entgegen den Interessen der Eltern nach mehrmaligen Gerichtsentscheiden und darauf folgender Einsprüche, dass vorherige mündliche Äußerungen Terris, ihr Leben bei unheilbarer Krankheit nicht künstlich zu verlängern, beachtet und die künstliche Ernährung darauf-

27 28

29 30

Vgl. DGHS, Forsa-Umfrage März 2007. Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 520ff. Eine Umfrage der Bertelsmannstiftung von 2005 berichtet von 10 % der Befragten, die eine Patientenverfügung verfasst haben. Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 70. Aktuelle und belastbare empirische Studien zum Themengebiet sind jedoch kaum aufzufinden. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 7f. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 19.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

97

hin eingestellt wurde.31 Solche Krankengeschichten und ihre – auch mediale – Darstellung verstärken die Angst vor ungewollter Lebensund Leidensverlängerung, Vormundschaft, Ausgeliefertsein sowie vor der Nichtbeachtung der eigenen Wünsche. Psychologisch gesehen werden hierin Grundängste berührt, gegen den eigenen Willen schutzlos zu sein. Die Debatten um Willensbeachtung, der Gültigkeit der Patientenverfügung und auch um Sterbehilfe wurden daraufhin in Deutschland wieder vermehrt öffentlich geführt. Solch bewegende Einzelschicksale regen zu der Einstellung an, die eigenen Belange möglichst strikt zu regeln, um sich selbst vor ebendiesen Situationen bestmöglich zu schützen. Eine uneingeschränkt gültige und beachtenswerte Patientenverfügung scheint hierzu das geeignete Instrument zu sein. Sie offeriert eine Möglichkeit, diesen ungewollten Situationen frühzeitig entgegenzuwirken und verleiht gleichzeitig ein Stück Sicherheit, nicht hilflos in der Äußerungs- und Entscheidungsunfähigkeit ausgeliefert zu sein. Vor Augen steht dabei etwa ungewollte Apparatemedizin, die Furcht vor einem Dahinvegetieren und Siechtum oder auch die Besorgnis, Anderen zur Last zu fallen. Aber auch andere Sorgen können hervorgerufen werden, wie die Angst davor, Leben und Lebenswert zu früh abgesprochen und somit reale Chancen zum Lebenserhalt verwehrt zu bekommen. In einer Vielzahl von Ratgebern oder auch in öffentlichen Diskursen wird zum einen die Wichtigkeit betont Vorsorge zu treffen und zum anderen dazu angeregt, sich mit dem Sterben und dem Umgang mit schweren Erkrankungen auseinanderzusetzen. Mitunter findet sich dabei der Hinweis in einen Dialog einzutreten, beispielsweise mit Angehörigen, aber auch transdisziplinär mit (medizinischem) Fachpersonal oder Beratungsstellen. Von Tageszeitungen32 wird das Thema ebenso – teils kritisch – aufgegriffen, sei es durch Kurzbeiträge zu unterschiedlichen Vorsorgemaßnahmen oder auch durch Hinweise auf Informationsveranstaltungen, etwa der Betreuungsgerichte oder von Beratungsstellen. Bei vorfindlichen Materialien scheint nicht selten der persönliche Schutz vor unwürdigen Krankheitssituationen, die Vorausplanung, 31

32

Vgl. http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/4398131.stm, Stand: 21.11.2014; http:// www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/umgang-mit-dem-tod-terri-schiavomord-oder-erloesung-1215418.html, Stand: 13.12.2012. Vgl. etwa exemplarisch in der Süddeutschen Zeitung Bartmann, Klarheit, 15; Hardenberg, Wenn der Wille unklar ist, 5; Bettzieche, Vertrauen, 27; oder in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bzw. Sonntagszeitung etwa Ewig, Der Patientenwille, 60; Eberle, Der Wunsch, 42; Oberhuber, Die Angst, 26. Vgl. darüber hinaus im Onlineangebot http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-06/patientenverfue gung-deutsche-stiftung-patientenschutz-beratung, Stand: 16.01.2015; http://www. zeit.de/online/2009/26/patientenverfuegung-kommentar, Stand: 16.01.2015.

98

2. Instrumente persönlicher Vorsorge in der Gesellschaft

solange es noch möglich erscheint sowie die Bewahrung vor Paternalismus im Vordergrund zu stehen. Eine tiefe Reflexion bestehender Möglichkeiten ist dabei nicht immer vorauszusetzen.33 Das Empfinden einer Notwendigkeit zur persönlichen Vorsorge trifft auf weite Zustimmung und wird u. a. auch von den Kirchen befürwortet. So stellen z. B. katholische und evangelische Kirche fest, dass Vorsorge für das Leben und das Sterben als eine wichtige Aufgabe des menschlichen Lebens bestimmt werden kann: „Das Leben ist uns von Gott gegeben. Er befähigt uns dazu, es in allen seinen Phasen verantwortlich zu gestalten. Dazu gehört, sowohl für das tätige Leben als auch für das Sterben Vorsorge zu treffen.“34 Auch von medizinischer Seite werden Vorsorgeinstrumente als notwendige Hilfe zur Willensbeachtung des Patienten angesehen, die darüber hinaus zum Dialog mit der Familie und dem Arzt anregen können.35 Ebenso die Einstellung von Regierung und Justiz, wodurch sich letztendlich feste Regelungen etabliert haben. Dieser Fingerzeig auf den Dialog und die Begegnung zwischen Menschen verweist neben dem vordergründig erfahrbaren Fokus auf die persönliche Autonomie und die Stärkung der Selbstbestimmung auf ein weiteres Element innerhalb des Diskurses, welches im Folgenden tiefere Reflexion beanspruchen kann. Bis zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht ist ein langer Weg zurückgelegt worden. Viele Diskussionen um diverse Dissense wurden geführt und unterschiedlichste Vorschläge sind eingebracht worden. Dieser Verlauf soll im Folgenden aus differenten Blickwinkeln heraus skizziert werden, um so auch die Veränderungen mit ihren resultierenden Reaktionen unterstreichen zu können. Die Ankerpunkte der Dissense aufzuspüren, wird das Vorgehen leiten.

3. Die Debatte um die rechtliche Regelung und Verankerung der Patientenverfügung Wie bereits oben festgestellt, veranlasst zum einen die Abkehr von Fremdbestimmung und Vormundschaft, zum anderen Angst und Sorge 33

34 35

Vgl. exemplarisch http://www.putz-medizinrecht.de/recht-am-lebensende/patienten verfugung-vorsorgevollmacht.html, Stand: 30.01.2015; DGHS, Patientenschutzund Vorsorgemappe; http://apd-muenster.de/service/patientenverf%C3%BCgung/, Stand: 30.01.2015. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 11. Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze 1998, 2367; Bundesärztekammer, Grundsätze 2004, 1299.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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um Ausgeliefertsein vor Maximaltherapie oder Apparatemedizin vorrangig zur Diskussion. „Aus dem Wunsch, Einfluss auf die zukünftige medizinische Behandlung zu nehmen und insbesondere [. . . ] Maßnahmen wie maschinelle Beatmung und Reanimation in bestimmten Situationen auch abzulehnen, sind Patientenverfügungen entstanden.“36 Ihr größeres öffentliches Interesse im Gegensatz zur Vorsorgevollmacht ist gerade auch diesen Problemsituationen geschuldet, auf die sie vorrangig eine Antwort zu bieten scheint. Die Vorsorgevollmacht steht somit nicht im Brennpunkt der Debatte. Eine Folge hiervon ist, dass sich kaum eine Entwicklungsgeschichte zur Vorsorgevollmacht auffinden lässt, im Gegensatz zu jener der Patientenverfügung, die insofern nun eingehender erläutert werden muss. „In Deutschland wurde das erste Formular einer Patientenverfügung im Jahr 1978 von dem Juristen Uhlenbruck herausgegeben. In Anlehnung an den Arztbrief bezeichnete er seine Verfügung als ‚PatientenBrief‘“37 . Bis heute stieg – wie eingangs erwähnt – die Anzahl der Formulare von verschiedenen Organisationen, Verbänden und öffentlichen Stellen an, wobei sich die ursprüngliche Verwendung der Begriffe Patienten-Brief sowie Patiententestament nicht durchgesetzt hat.38 Die Debatte um die (rechtliche Verankerung der) Patientenverfügung verlief und verläuft interdisziplinär und ist insofern auch exemplarisch aus unterschiedlichster Perspektive im Folgenden aufzuarbeiten. Eckpfeiler bilden dabei die rechtspolitische Debatte, diverse Gremienempfehlungen und Stellungnahmen, Beiträge und Positionen von kirchlicher und medizinischer Seite sowie von der Bundesnotarkammer.

3.1 Die rechtspolitische Debatte, Gremienempfehlungen und Stellungnahmen Im Wesentlichen haben zwei Urteile des Bundesgerichtshofs maßgeblich den Wandel der Einstellungen gegenüber der Patientenverfügung begünstigt. In beiden Entscheidungen ging „es um die Einstellung der künstlichen Ernährung bei nicht sterbensnahen Wachkomapatienten“39 . Das Kemptener Urteil des Strafsenats vom 13.09.1994 bekräftigte die Beachtlichkeit des mutmaßlichen Patientenwillens. Patientenverfügungen galten bereits von da an als Indiz für den mutmaßlichen Patien36 37 38 39

Simon, Medizinethische Aspekte, 61. Simon, Medizinethische Aspekte, 62. Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 62. Verrel, Rechtliche Aspekte, 18.

100

3. Die Debatte um die Patientenverfügung

tenwillen und erhielten insofern größeres Gewicht.40 Das Gericht beschied, dass nach Maßgabe des mutmaßlichen Patientenwillens eine ärztliche Behandlung oder Maßnahme auch dann abgebrochen werden kann, wenn der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat. Diese Entscheidung ging über die damaligen Grundsätze der Bundesärztekammer hinaus, die einen Abbruch solcher medizinischer Maßnahmen erst bei im Sterbeprozess befindlichen Patienten vorsahen.41 „Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs ging mit seinem Beschluss zum ‚Lübecker Fall‘ vom 17. März 2003 sogar noch einen Schritt weiter, indem er die konkrete und situationsbezogene Patientenverfügung mit dem erklärten Willen des Patienten gleichsetzte.“42 Eine Identifikation von der Patientenverfügung und dem gültigen Patientenwillen ist seither charakteristisch. Im Gegensatz zur vorherigen Rechtsprechung des Strafsenats beschränkt dieses Urteil die unmittelbare Bindungskraft auf Situationen, in denen das Grundleiden des Patienten einen irreversibel tödlichen Verlauf genommen hat. „Durch diese auf einer Missdeutung der Kemptener Entscheidung beruhende Einschränkung, die als sog. Reichweitenbegrenzung im Gesetzgebungsverfahren eine ganz erhebliche Rolle spielen sollte, kommt es zu einem Bruch zwischen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Beurteilung von vorausverfügten Behandlungsbegrenzungen außerhalb der Sterbephase.43

Eine klärende Entscheidung des Gesetzgebers gewann also an Notwendigkeit. Zu den großen Streitpunkten der Debatte gehört die Frage nach der Reichweite der Patientenverfügung, die auch in den vorgebrachten Gesetzesentwürfen unterschiedlich zum Ausdruck gebracht wurde.44 Ausgangspunkt war zu dieser Zeit ihre Beschränkung auf den irreversibel, unumkehrbar tödlichen Verlauf der Krankheit, was aber, wie soeben deutlich wurde, unterschiedlich interpretiert wurde. Letztendlich sollte sich eine Entscheidung noch bis 2009 hinziehen. Bis dahin wur40 41 42

43 44

Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 63. Vgl. Bundesärztekammer, Richtlinien 1993, 2404f. Simon, Medizinethische Aspekte, 63. Vgl. den Beschluss des Bundesgerichtshofs XII ZB 2/03 vom 17. März 2003. Ausgangspunkt dieser Entscheidung war der Fall eines 72-jährigen Apallikers, der zuvor handschriftlich einen Verzicht auf Intensivbehandlung und künstliche Ernährung bei irreversibler Bewusstlosigkeit, schwersten Dauerschäden des Gehirns, dauerndem Ausfalls lebenswichtiger Körperunktionen oder im Endstadium einer zum Tode führenden Krankheit verfügt hat, welche sodann mit Zustimmung des Betreuungsgerichts zur Umsetzung gelangen soll. Verrel, Rechtliche Aspekte, 19. Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 63; Verrel, Rechtliche Aspekte, 19.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

101

den von verschiedensten Einrichtungen und Institutionen Stellungnahmen veröffentlicht, welche die Debatte um eine rechtliche Regelung der Patientenverfügung mit ihren differenten Ansichten prägten. Zur Verdeutlichung der verschiedensten Akzente werden einige Stellungnahmen exemplarisch nachgezeichnet. 3.1.1 Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz Die Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz veröffentlichte beispielsweise 2004 ihre Aufarbeitung des Themengebiets, in der sie die gesetzliche Regelung befürwortet und diesbezüglich Empfehlungen auch speziell zur Patientenverfügung formuliert.45 Die rechtliche Regelung wird in Rückbezug auf das Grundgesetz hochgeschätzt, da hierdurch nach Meinung der Kommission das Selbstbestimmungsrecht eine Stärkung erfährt und die Gewährung eines selbstbestimmten Sterbens ein Gebot der Menschenwürde darstellt.46 Ihre Begründung liegt darin verortet, „dass die Menschenwürde, die jedem Individuum zu eigen ist, sich in dem persönlichen Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung konkretisiert.“47 Diese Selbstbestimmung wird in der Argumentation wahrnehmbar mit dem Ziel gestärkt, sie als Konkretisierung der Menschenwürde aufzufassen und ferner die Fürsorge von Mitmenschen, die somit automatisch die Persönlichkeitsrechte einschränkt und als Fremdbestimmung aufzufassen ist, zurückzudrängen. Die Kommission stellt fest: „Der erklärte Wille des Patienten besitzt Vorrang vor dem ärztlichen Heilauftrag, und es ist grundsätzlich ausgeschlossen, diesem persönlichen Willen des Patienten, dessen Subjektstatus und Selbstbestimmungsrecht rechtlich und ethisch gesehen unwiderlegbar sind, einen objektivierten ‚eigentlichen Willen‘ zur medizinischen Indikation entgegenzusetzen, der durch den Arzt oder einen Betreuer durchgesetzt werden könnte.“48

Hier findet also eher eine auf den Grundrechten fußende Interpretation und daraus folgende Argumentation mit Konzentration und Polarisierung auf das Selbstbestimmungsrecht statt. Zur Bindungswirkung der Patientenverfügung stuft die Kommission generell die Schriftform sowie eine vorausgegangene Beratung als nicht 45 46 47 48

Vgl. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Vgl. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 26f. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 27. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 30.

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

notwendig ein und verzichtet ebenso auf stetige Aktualisierungserfordernisse der Verfügung. Nach Maßgabe der Kommission sollte sie allerdings bei Festlegungen zu lebensgefährdenden Maßnahmen schriftlich verfasst sowie diesbezüglich eine hinreichende Beratung erfolgt sein.49 Solche Situationen verdienen also, so ihre Position, eine gesonderte Betrachtung. Die Festlegungen zu gesundheits- oder lebensgefährdenden Maßnahmen stellt hier eine veränderte Wertigkeit dar, sodass daraufhin höhere Maßstäbe an die zu befolgende Patientenverfügung gestellt werden, wobei dennoch die generelle Bindungswirkung der Festlegungen außer Frage stehen soll. Die grundsätzliche Beachtlichkeit der Verfügung, auch in weiterer Interpretation zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens, ist Standpunkt der Kommission. Dennoch führen sie vor Augen, dass eine zu starke Konzentration auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch die Realität verfehlen kann und unterstreichen dies mit den schwierigen Entscheidungssituationen, vor denen Ärzte bei der Umsetzung von Patientenverfügungen stehen können. Die Frage bleibt präsent, inwieweit der Verfasser tatsächlich hinreichend über die medizinischen Möglichkeiten, die sich ihm konkret in seiner spezifischen Situation bieten, aufgeklärt wurde, inwieweit er seine Entscheidung aus seiner Laienposition heraus reflektieren konnte und ob ihm so überhaupt eine valide selbstbestimmte Entscheidung möglich war. Beachtlich erscheinen diese Schwierigkeiten besonders dann, wenn die Abfassung der Willensäußerung bereits lange zurückliegt, keine Aktualität dieses Willens ermittelbar ist und sich ferner erst im Laufe der Zeit neue medizinische Möglichkeiten ergeben haben.50 Vor diesem Hintergrund thematisiert die Kommission „die Frage, ob es Ärzten zugemutet werden kann, sich entgegen ärztlicher Erkenntnis dem Willen von Patienten unterordnen zu müssen, von denen man unter anderem nicht weiß, ob sie über die Folgen ihrer Erklärung ausreichend aufgeklärt worden sind und ob sie bei Abgabe der Erklärung einsichts- und urteilsfähig waren.“51

Den Spagat zwischen der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts und der Berücksichtigung obiger Bedenken sieht die Kommission dadurch überwunden, die Bindungswirkung von Festlegungen mit der Gefahr für Gesundheit und Leben an eine vorausgegangene Aufklärung zu knüpfen, um eine fundierte Meinungsbildung ermöglichen und sodann 49 50 51

Vgl. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 10. Vgl. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 41f. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 42.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

103

voraussetzen zu können. Auch dem Perspektivwechsel, der sich erst im Erleben von Krankheitssituationen vollziehen kann, soll so Rechnung getragen werden.52 Sichtbar wird in diesen Darlegungen, dass sich die Kommission einerseits für die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts ausspricht, gleichzeitig aber auch damit verbundene Problemsituationen reflektiert und im Bestreben der Aufrechterhaltung des Selbstbestimmungsrechts bemüht ist, eine praktikable Lösung zu finden. Die Forderung einer vorausgegangenen Aufklärung für Festlegungen, die Gesundheit und Leben gefährden, deutet andererseits auch die Hochschätzung des Lebensschutzes an. Hinzu kommt die Thematisierung der Vorsorgevollmacht als „wichtiges Instrument der Selbstbestimmung für die Situation der Einwilligungsunfähigkeit.“53 Die Vorteile der Vollmachterteilung werden von der Kommission vorwiegend darin verortet, dass eine Person des besonderen Vertrauens ermächtigt wird, in Situationen der eigenen Entscheidungsunfähigkeit die notwendigen Entschlüsse treffen zu können. Das zugrunde liegende Vertrauensverhältnis schafft in besonderer Weise eine Atmosphäre, die dabei helfen kann über Vorstellungen, Wünsche und Ängste bezüglich des Lebensendes ins Gespräch zu kommen. „Die Kommission empfiehlt daher eine insoweit verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, um die Bedeutung und Vorteile der Vorsorgevollmacht in der Bevölkerung weiter bekannt zu machen.“54 Wohl wissend, dass eine Bevollmächtigung einem Rechtsgeschäft gleicht, ist nach Einschätzung der Kommission die Einsichtsfähigkeit des Verfassers bei der Errichtung einer Vorsorgevollmacht ein hinreichendes Kriterium.55 3.1.2 Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende Die im September 2003 eingesetzte interdisziplinäre Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende vom Bundesjustizministerium bekam den Auftrag, vorhandene Unklarheiten und ungelöste Dissense zur Patientenverfügung weiter zu thematisieren, wie z. B. ihre Reichweitenbegrenzung, ihre generelle Bindungskraft oder die Frage nach genehmigungsbedürftigen Entscheidungen von Betreuer oder Bevollmächtigten durch das Betreuungsgericht. Ergebnis56 ist ein Votum für die Stärkung 52 53 54 55 56

Vgl. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 42f. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 48. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 49. Vgl. Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 49. Vgl. Patientenautonomie am Lebensende.

104

3. Die Debatte um die Patientenverfügung

des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Erreicht werden soll dies durch die Hochschätzung und Verbindlichkeit der getroffenen Festlegungen und durch den mutmaßlichen Patientenwillen. Eine gerichtliche Genehmigung sieht die Arbeitsgruppe nur bei Uneinigkeit zwischen Patientenvertreter und Arzt als notwendig an.57 Ihre konkreten Empfehlungen zur Patientenverfügung sehen keine Formvorschriften für die Wirksamkeit vor. Die Schriftlichkeit der Verfügung sowie eine grundsätzliche vorausgegangene ärztliche Aufklärung (bzw. der verkündete Aufklärungsverzicht) sollten jedoch vermerkt sein, wenn die Festlegungen Eingriffe in die körperliche Integrität mit sich ziehen. 58 Neben der Stärkung der Patientenverfügung beachtet die Arbeitsgruppe ferner die Vorsorgevollmacht und empfiehlt: „Wer Vorsorge für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit treffen möchte, sollte nach Auffassung der Arbeitsgruppe auch eine Vorsorgevollmacht und/oder eine Betreuungsverfügung erstellen“59 . Explizit verweisen Sie darauf, dass sie „die Verbreitung der Vorsorgevollmacht fördern und die Stellung des Bevollmächtigten stärken“60 wollen. Dies ist dadurch zu realisieren, dass kein Gericht für Entscheidungen zu gefährlichen Maßnahmen bei vorliegender Vollmacht eingeschaltet werden muss, dies also ein Vorsorgebevollmächtigter selbstständig bestimmen kann, sofern er hierfür explizit bevollmächtigt ist. Eine wichtige Begründung dessen liegt darin, dass eine Vollmachterteilung einer bewussten und persönlichen Entscheidung entspricht und einem „privatrechtlichen Vertretungsauftrag“61 gleicht. Im Vergleich zu den Ergebnissen der Bioethik-Kommission RheinlandPfalz lässt sich in der Grundausrichtung und zu ihren Ausführungen eine gewisse Ähnlichkeit feststellen. Das Bundesministerium der Justiz legte auf Grundlage der Ergebnisse der Arbeitsgruppe Ende 2004 dann einen Referentenentwurf für das neue Gesetz vor. Der Vorschlag der Formfreiheit von Patientenverfügungen wurde hierin aufgenommen. „Noch vor Ende der 15. Legislaturperiode zog die Bundesjustizministerin den Referentenentwurf im Februar 2005 zurück.“62 Die Debatte verstärkte sich weiter und ver57

58 59 60 61 62

Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 64f. Vgl. hierzu ebenfalls den Bericht der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ vom 10. Juni 2004. Vgl. Patientenautonomie am Lebensende, 16. Patientenautonomie am Lebensende, 21. Patientenautonomie am Lebensende, 49. Patientenautonomie am Lebensende, 49. Höfling, Das neue Patientenverfügungsgesetz, 2849.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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schiedenste Regelungsvorschläge und Stellungnahmen wurden vorgebracht.63 3.1.3 Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin Kurz nachfolgend veröffentlichte die Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin ihren Zwischenbericht64 zu Patientenverfügungen unter Bezugnahme auf die Ergebnisse obiger Arbeitsgruppe. Sie unterstreicht darin nun die Diastase zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge. Mehr als im Ergebnis der Arbeitsgruppe ist hier vor einer zu starken alleinigen Gewichtung der Selbstbestimmung gewarnt und die Notwendigkeit „der Prinzipien Fürsorge und Lebensschutz für ein würdevolles Sterben betont.“65 In der Abwägung ihres Ergebnisses beleuchtet die Kommission das Verhältnis von Selbstbestimmung und Fürsorge auf folgende Weise: „Orientierung am Wohl des Patienten und Fürsorge bedeuten immer den Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten. Fürsorge muss immer die körperbezogenen, psychosozialen und spirituellen Wünsche und Vorstellungen des Betroffenen einbeziehen. Nur so wird sie dem Anspruch der Wahrung von Menschenwürde und dem Verständnis von Selbstbestimmung gerecht. ‚Fürsorge im Respekt vor der Freiheit des Anderen‘ (C. Saunders), ein Leitmotiv der Hospizbewegung, trifft auch auf die Anwendung von Patientenverfügungen zu.“66

Ziel der Kommission ist es, einer Vereinseitigung durch eine ausschließliche Stärkung des Selbstbestimmungsrechts entgegenzuwirken. Insofern nehmen sie, im Gegensatz zu den Ergebnissen der oben erläuterten Arbeitsgruppen, die Patientenverfügung in einem anderen Kontext wahr: „Werden Patientenverfügungen im Kontext von Fürsorge und Gerechtigkeit betrachtet, dann werden sie in ihrer ethischen und rechtlichen Bedeutung nicht gemindert, aber sie werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern in den Gesamtzusammenhang von individueller Freiheit, menschlichem Wohl, ärztlichen und pflegerischen Pflichten, patientenrechtebasierter Regeln und medizinischer Effektivität gestellt.“67 63 64 65 66 67

Vgl. Höfling, Das neue Patientenverfügungsgesetz, 2849. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen. Simon, Medizinethische Aspekte, 66. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 10. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 10.

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Ihre zugrunde liegenden Kritikpunkte betreffen hauptsächlich die Reichweite der Patientenverfügung und konkretisieren sich beispielsweise in der mangelnden Vorhersehbarkeit der Situationen, die für die Verfasser tatsächlich einmal Realität werden, zudem im unzureichend implementierten Kommunikationsverhältnis von Arzt und Patient, oder in der Fraglichkeit eines ausreichenden Prozesses bis hin zur Entscheidung und Niederschrift der Verfügung. Eine Missachtung von Veränderungen vorherrschender Einstellungen in unterschiedlichen Lebensphasen wird ebenso problematisiert wie die Nähe der Patientenverfügung zur aktiven Sterbehilfe.68 Vor diesem Hintergrund unterstreicht die Kommission die Anerkennung der grundsätzlichen Verbindlichkeit der Patientenverfügung, wollen dies aber nicht unabhängig vom Stand eines Krankheitsverlaufs gewährt sehen. Insofern wird für eine Reichweitenbegrenzung unter verfassungsrechtlicher und ethischer Legitimation plädiert.69 Eine genaue Ausführung dessen, welche Aspekte bei der verfassungsrechtlichen Legitimation leitend sind, erfolgt nicht. In ethischer Hinsicht sehen sie konkret die Gültigkeit eines verfügten Behandlungsabbruchs oder -verzichts mit Todesfolge bei irreversiblem Grundleiden, das trotz Weiterbehandlung zu Tode führen wird, für möglich an. Sie widersetzen sich hierdurch der Befürchtung, Tod durch Unterlassen zu verursachen und ihn nicht als Geschick infolge von Krankheit oder Leiden anzunehmen. Die Hochachtung des Lebensschutzes führt folglich zum Plädoyer für die Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen. Bei schwerer Krankheit sollte gemäß der Enquete-Kommission ebenfalls berücksichtigt werden, dass sich eine Diskontinuität der Persönlichkeit ergeben kann und insofern prospektive Festlegungen in ihrer Gültigkeit fraglich erscheinen.70 Die Kommission stellt fest: „Aus den genannten Gründen stellt eine Beschränkung der Reichweite von Patientenverfügungen keine Einschränkung des aktuellen Selbstbestimmungsrechts dar, sondern eine wohlbegründbare Einschränkung des Rechtes zur Selbstbindung.“71 Ein gesondertes Augenmerk richtet die Kommission ferner auf mögliche sozialmoralische Folgen, um so eine Reichweitenbegrenzung weiter zu legitimieren. Als problematisch wird ein 68

69 70 71

Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 10–14. Eine tiefergehende Darlegung der vorhandenen und thematisierten Probleme und Diastasen im Zusammenhang mit der Patientenverfügung werden in entsprechender Tiefe gesondert im Kapitel III.5 behandelt. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 37. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 38. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 38.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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möglicher von der Patientenverfügung ausgehender Druck angesehen, der nicht zuletzt durch Ressourcenknappheit oder ökonomische Faktoren wie Kostengenerierung durch hohen Pflegeaufwand bei schwerster Pflegebedürftigkeit möglich ist.72 Ein weiteres Ergebnis der Kommission ist das Plädoyer, eingesetzte Betreuer oder Bevollmächtigte durch Konsile mit Beratungsfunktion zu unterstützen, wenn sie Entscheidungen über „die Verweigerung der Aufnahme oder Fortsetzung einer medizinisch indizierten lebenserhaltenden Maßnahme“73 zu treffen haben. Eine dialogische Entscheidungsfindung in Form von Konsilen soll in den Vordergrund gestellt werden, um so auch belastende Alleinentscheidungen des Patientenvertreters sowie entsprechende Fehlentscheidungen besser umgehen zu können.74 Betreuer und Bevollmächtigter stehen nach Meinung der Enquete-Kommission in der Pflicht bei der Ablehnung von medizinisch indizierten Maßnahmen eine gerichtliche Genehmigung einzuholen, die einerseits eine Kontrolle der Vertretungsperson gewähren, andererseits ein Schutzinstrument für den Patienten darstellen soll. Folge dieser Empfehlungen ist die (bewusste) Gleichsetzung von Bevollmächtigtem und gerichtlichem Betreuer.75 Formal ist nochmals zu bündeln, dass die Kommission Beratungs- oder Aufklärungsgespräche nicht als Wirksamkeitsvoraussetzung der Patientenverfügung definiert, gleichwohl aber empfohlen hat, da jene als Hinweis auf die Ernsthaftigkeit sowie auf die Einwilligungsfähigkeit bei der Abfassung gedeutet werden können.76 Die Schriftlichkeit ist einzige Formvoraussetzung für eine Patientenverfügung, deren Gültigkeit auf irreversibel zum Tode führende Situationen beschränkt werden soll. Eine Ablehnung der Möglichkeit, einen Behandlungsverzicht bei Demenz oder apallischem Syndrom verfügen zu können, wird vorgenommen.77 Auch die Verbindung einer Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht sieht die Kommission als empfehlenswert an.78 Darüber hinaus sollte gemäß ihren Hinweisen eine umfassende Sterbebegleitung, beispielsweise durch den Ausbau der Palliativmedizin und der Hospizarbeit, implementiert werden. Es wird, so ihr Verständnis, durch die Kon72 73 74 75

76 77 78

Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 40. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 43. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 43. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 44f.; Simon, Medizinethische Aspekte, 65f. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 41. Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 65f. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 11; 45.

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

zentration auf die Patientenverfügung „nur ein Teilaspekt des Umgangs mit sterbenden Menschen in unserer Gesellschaft berührt“79 . Abschließend ist festzuhalten, dass die Enquete-Kommission argumentativ und stärker als in vorausgehenden Empfehlungen auch auf kritische Seiten der Patientenverfügung verweist sowie darauf bedacht ist, keine alleinige Bestärkung eines Selbstbestimmungsrechts vorzunehmen. Sie will explizit den Aspekt der Fürsorge auch in Bezug auf Sterbebegleitung integriert wissen. Mit Blick auf das Thema der Arbeit sei nochmals darauf verwiesen, dass auch die Enquete-Kommission die Wichtigkeit der Vorsorgevollmacht anspricht, wenngleich sie sie als solche wenig reflektiert. Zu klären bleibt, ob die Empfehlung zur gerichtlichen Kontrolle des Vorsorgebevollmächtigten einer Stärkung des Instruments gar entgegenwirkt und zu einer Abschwächung ihrer Wirksamkeit führen kann. Eine annähernde Gleichsetzung von Bevollmächtigtem und gerichtlichem Betreuer wäre die Folge. 3.1.4 Nationaler Ethikrat Es folgte die Veröffentlichung des Nationalen Ethikrats80 zum Thema im Jahre 2005, worin die Reichweitenbegrenzung erneut negativ konnotiert und eine gerichtliche Genehmigung nur im Verdachtsfall des Missbrauchs der Verfügung bzw. bei Unstimmigkeiten zwischen Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigtem forciert wird. Beim Thema Behandlungsverzicht und Demenz erhält das Selbstbestimmungsrecht Vorrang. Falls gar in der Erkrankung ein erkennbarer Lebenswille feststellbar ist und auf diesen Fall explizit in der Verfügung Bezug genommen und dennoch ein Behandlungsverzicht niedergeschrieben ist, so hat dann sogar der verfügte Wille Vorrang, so die Anschauung des Ethikrats.81 Ausgangspunkt der Darlegungen des Ethikrats ist der Bezug auf das ihrer Ansicht nach verfassungsgemäße Recht auf Selbstbestimmung.82 „Selbstbestimmung setzt die Fähigkeit zur Willensbildung voraus. Dem Einzelnen wird zugetraut, dass er in verantwortlicher Weise Entscheidungen für sich selbst treffen kann. Zugleich trägt er damit die Last 79 80 81 82

Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 47. Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung. Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 66f. Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 9. Vgl. dazu nochmals Kapitel II.9, welches auch darauf hinweist, dass Selbstbestimmung bzw. das Selbstbestimmungsrecht eine spezifische Interpretation der Grundrechte darstellt.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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des Entscheidens.“83 Die Perspektive der Darstellung erfolgt hier vorrangig eindimensional ausgehend vom Persönlichkeitsrecht, was wiederum die Verantwortlichkeit für Entscheidungen ebenso voll dem persönlichen Bereich zuordnet. Dennoch wird auch die Notwendigkeit der Mitmenschlichkeit in Lebensphasen, in denen das Selbstbestimmungsrecht nicht allein ausgeübt werden kann, angeführt und darauf verwiesen, dass ein Spannungsverhältnis zwischen der Selbstbestimmung und der Fürsorge entstehen kann. Der Ethikrat löst den Dissens durch die Feststellung der Vorrangstellung der eigenverantwortlichen Selbstbestimmung.84 Die Patientenverfügung gilt nach Meinung des Komitees als Möglichkeit zur Ausübung der Selbstbestimmung, wobei zu klären bleibt, inwieweit sie mit aktuellen Entscheidungen und situativem Willen automatisch gleichgesetzt werden kann. Darüber hinaus lehnen sie die Aufklärungsnotwendigkeit bei der Abfassung einer Patientenverfügung ab.85 In Bezug auf die Reichweitenbeschränkung der Patientenverfügung sieht der Ethikrat die Problematik, „dass damit an die Stelle von Selbstbestimmung Fremdbestimmung gesetzt und letztlich eine Plicht zum Weiterleben statuiert würde.“86 Insofern ist nach Maßgabe des Ethikrates einer entscheidungsfähigen Person das Recht zu gewähren, „in einer Patientenverfügung Festlegungen für oder gegen eine spätere medizinische Behandlung zu treffen.“87 Die Befürwortung der Patientenverfügung als verbindliches Instrument, die zudem „nicht auf bestimmte Phasen der Erkrankung beschränkt werden“88 sollte, ist also ersichtlich. Die Wirksamkeit der Verfügung ist auch auf eingesetzte Betreuer oder Bevollmächtigte zu übertragen, die jene Festlegungen zur Geltung zu bringen und umzusetzen haben.89 Der Entscheidungsspielraum eines Bevollmächtigten sollte gegenüber dem eines Betreuers nur in der Situation gestärkt werden, sofern keine Patientenverfügung vorliegt. In diesem Falle ergeben sich die Kompetenzen des Bevollmächtigten aus der erteilten Vollmacht, wodurch dieser auch ohne gerichtliche Genehmigung zur Entscheidung befugt ist.90

83 84 85 86 87 88 89 90

Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 9. Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 10. Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 16f. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 19. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 30. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 31. Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 31f. Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 32.

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Die Schriftform oder eine vergleichbare Dokumentationsform ohne Notwendigkeit zur Aufklärung und Beratung wird für die Patientenverfügung angeraten.91 Eine tiefgehende Diskussion ihrer Empfehlungen erfolgt im Bericht des Nationalen Ethikrats nicht. 3.1.5 Deutsche Stiftung Patientenschutz92 Die Deutsche Stiftung Patientenschutz (vormals Deutsche Hospiz Stiftung) beteiligt sich an der Debatte. Von ihrer Seite wird in frühen Stellungnahmen erneut eine Art Augenwischerei oder falsche Sicherheit durch die Ausweitung der Patientenverfügungen verdeutlicht. Explizit stellt sie dafür heraus, dass auf diese Weise keine Selbstbestimmung mit der Patientenverfügung implementiert werden kann, weil fehlende Aufklärung und damit verbunden fälschliche Vorstellungen gegen eine auf Selbstbestimmung fußende Entscheidung sprechen.93 Wichtiges Fundament sollte vielmehr zum einen die flächendeckende Erweiterung der professionellen palliativen Begleitung und zum anderen die konkrete (medizinische) Aufklärung sein, die dann wiederum als Qualitätskriterium der Patientenverfügung angesehen werden kann. Hierzu zählen ferner regelmäßige Aktualisierungen zur Unterstreichung ihrer Gültigkeit.94 Auch die Schriftlichkeit von Vorausverfügungen muss aufgrund der Gefahr der Fehlinterpretation, des falschen Verstehens oder der Unüberlegtheit von mündlichen Äußerungen nach Meinung der Hospiz Stiftung gewahrt werden, was selbst manche Gesetzesentwürfe nicht fordern (z. B. der Entwurf von Zöller).95 Werden hingegen jene Kritikpunkte gebührlich berücksichtigt, kann eine so verfasste Patientenverfügung durchaus als gültiger Patientenwille verbindlich beachtet werden.96 Weitere kritische Einstellungen werden gegenüber dem Konstrukt des mutmaßlichen Patientenwillens ausgedrückt.97 Beratungsgremien hingegen können eine fundierte Entscheidungsinstanz darstellen. Insofern 91 92

93 94 95 96 97

Vgl. Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 33. Seit 2012 hat sich der Name der Deutschen Hospiz Stiftung in Deutsche Stiftung Patientenschutz verändert. Die Benennung der Stiftung erfolgt in dieser Arbeit in Anlehnung an den Veröffentlichungszeitpunkt eines entsprechenden Beitrags und ihrem dabei vorliegenden Namen. Vgl. Brysch, Angst, 1. Vgl. Brysch, Angst, 1f. Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Hospiz Info Brief, 2. Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Hospiz Info Brief, 3. Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Hospiz Info Brief, 4f.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

111

wird die Ansicht vertreten, klare Maßstäbe an die Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens stellen zu müssen.98 Die Stiftung reagierte ferner mit einer kritischen Stellungnahme auf das Ergebnis der Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende.99 Ihre Einstellungen wurden dann im Jahre 2005 als Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Autonomie und Integrität von Patienten am Lebensende100 zusammengefasst. Inhalt dessen ist die Verbindlichkeit von konkreten und situationsgemäßen Patientenverfügungen. Formale Voraussetzungen hierfür sind die Schriftformerfordernis, die verpflichtende fachkundige (ärztliche) Beratung sowie eine zweijährige Aktualisierungsfrist.101 In der Begründung jener Entscheidungen wird ebenfalls auf das verfassungsgemäße Recht auf Autonomie verwiesen.102 Das Aufklärungserfordernis gründet sich nach Ansicht der Stiftung darauf, dass eine strikte Bindungswirkung der Patientenverfügung auch strengere Formanforderungen notwendig erscheinen lässt. Hierzu heißt es: „Selbstbestimmung darf nicht formalistisch bereits dann unterstellt werden, wenn jemand nur irgendeine Entscheidung kundtut. Voraussetzung ist – dies ist Standard der internationalen medizinethischen und medizinrechtlichen Diskurse – die Wohlinformiertheit; aus der allgemeinen Debatte über die Legitimation ärztlicher Eingriffe ist dies im Hinblick auf das Erfordernis der Aufklärung bekannt. Der Patient oder die Patientin muss über die Folgen einer Patientenverfügung [. . . ] informiert sein, damit man ihm/ihr seine/ihre Äußerung als Willensäußerung zurechnen kann.“103

Ferner sollen die Aktualisierungen der Veränderbarkeit der persönlichen Einstellungen wie der medizinischen Praxis und Methoden Rechnung tragen.104 Generell wird ein dreistufiger Entscheidungsprozess bei der Umsetzung von Patientenverfügungen angestrebt: Sind alle Anforderungen an die Verfügung zweifelsfrei erfüllt, so gilt eine strikte Bindungswirkung für alle Beteiligten wie Ärzte, Betreuer oder Bevollmächtigte. Ist dies nicht sicher gegeben, muss der mutmaßliche Patientenwille auf Grundlage von früheren Äußerungen des Betroffenen durch ein beratendes Gremi98

Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Hospiz Info Brief, 5f. Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Hospiz Info Brief. 100 Vgl. Höfling, Gesetz zur Sicherung der Autonomie. 101 Vgl. Höfling, Gesetz zur Sicherung der Autonomie, 2. 102 Vgl. Höfling, Gesetz zur Sicherung der Autonomie, 6. 103 Höfling, Gesetz zur Sicherung der Autonomie, 9. 104 Vgl. Höfling, Gesetz zur Sicherung der Autonomie, 11. 99

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

um ermittelt werden. Bestehen dennoch Meinungsverschiedenheiten, so ist in letzter Instanz eine gerichtliche Genehmigung einzuholen.105 Zur Frage der Reichweitenbegrenzung bezog die Patientenschutzorganisation ferner Stellung und verwies einerseits auf verfassungsrechtliche Bedenken, andererseits auf nicht praktikable Abgrenzungsprobleme in der Praxis: Laut Grundgesetz der Bundesrepublik ist es beispielsweise jedem Bürger erlaubt in medizinisch notwendige Behandlungen nicht einzuwilligen. Insofern stellt sich die Frage, warum dieses Recht in Bezug auf die Patientenverfügung nicht auch gelten soll. In der Praxis hingegen begegnen eher die Probleme, ab wann und welches Leiden als irreversibel zu bezeichnen ist oder welche Krankheit das Grundleiden bei Multimorbidität darstellt.106 Sie treten also explizit für einen Verzicht auf Reichweitenbegrenzung ein, wobei die sonstigen hohen Anforderungen – auch formaler Art – nicht außer Acht gelassen werden sollen. In jener Zeit wurde in besonderem Maße von der Hospiz Stiftung betont, Motive und Emotionen, die im Zusammenhang mit dem Verfassen von Patientenverfügungen stehen, nicht zu unterschätzen. Zu beachten ist dabei „vor allem die Angst vor Abhängigkeit von hochtechnisierter Medizin“107 , die zur Verweigerung von lebenserhaltenden Maßnahmen führen kann. Sie stellen die Problematik heraus, dass „diese unbestimmte Angst vor etwaigem Ausgeliefertsein nichts mit Selbstbestimmung gemein“108 hat. Fundierte Aufklärung und Beratung, so ihre Ansicht, kann dazu Abhilfe schaffen. Hinzu treten notwendige Qualitätskriterien für Patientenverfügungen wie beispielsweise regelmäßige Aktualisierungen, um der Verfügung erst eine beständige Validität zusprechen zu können.109 Gestützt werden die Ansichten der Stiftung durch ihre bei der TNS Infratest in Auftrag gegebene Studie zum Thema Patientenverfügung.110 Es zeigt sich also besonders unter Betrachtung des Gesetzesentwurfs, dass die Deutsche Stiftung Patientenschutz eine Achtungswürdigkeit des Selbstbestimmungsrechts und infolgedessen auch eine Beachtlichkeit der Patientenverfügung kommuniziert, dennoch den Gefahren einer vorschnell verfassten Verfügung durch hohe formale Anforderun-

105

Vgl. Höfling, Gesetz zur Sicherung der Autonomie, 6. Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Sonder Hospiz Info Brief 2 / 2008, 1f. 107 Brysch, Angst, 1. 108 Brysch, Angst, 1. 109 Vgl. Brysch, Angst, 1f. 110 Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Wie denken die Deutschen. 106

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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gen entgegenwirken will. Klare Regelungen zur Bestimmung des mutmaßlichen Patientenwillens sollen dies ebenso realisieren. 3.1.6 Bioethik Kommission Bayern Zu den stark diskutierten Streitpunkten äußerte sich ebenfalls die Bioethik Kommission Bayern im Jahre 2007 und tritt für eine Stärkung der rechtlichen Verbindlichkeit der Patientenverfügung ein, um Unklarheiten somit zu vermeiden.111 Auch sie sind Befürworter dessen, keine Verbindlichkeiten an vorausgegangene Beratung oder stetige Aktualisierungen festzulegen, wenngleich sie beides als sinnvoll kennzeichnen.112 Die bayrische Kommission fordert jedoch in Schriftform oder in vergleichbarer Dokumentation (beispielsweise eine Videoaufnahme) abgefasste Patientenverfügungen.113 Zum ambivalent diskutierten Thema der Reichweitenbegrenzung besteht auch hier intern keine Übereinkunft. Ein Mehrheitsentscheid spricht sich gegen eine Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung aus. Sie fordern allerdings die Abstimmung mit einem Konsil, sofern ein Betreuer über die Durchsetzung der in einer Patientenverfügung bekundeten Ablehnung bzw. Abbruch von lebensverlängernden Maßnahmen entscheiden soll.114 3.1.7 Gesetzesentwürfe zur Änderung des Betreuungsrechts Auch in den in den Bundestag eingebrachten Gesetzesentwürfen zur Änderung des Betreuungsrechts bestehen ebenso die Uneinigkeiten in Bezug auf die Reichweitenbeschränkung und den Einfluss des Betreuungsgerichts. Insofern spiegeln sie die interdisziplinär kontroverse Debatte wider. „Die Fraktionsspitzen von Union und SPD sollen sich gemäß einer Pressemeldung vom 23.1.2007 darauf geeinigt haben, nach Möglichkeit noch vor der Sommerpause ein Gesetz zu verabschieden. Dieses Vorhaben ist jedoch nicht gelungen.“115 Konkret standen drei Gesetzesentwürfe verschiedener Abgeordnetengruppen zur Diskussion. Der sog. Stünker-Entwurf (SPD) mit seinem sehr formalen Autonomiekonzept und der Bosbach-Entwurf (CDU) mit seiner Reichweitenbegrenzung verdeutlichen besonders die Differenzen. Ein dritter Entwurf von Zöller (CSU) konnte trotz Parallelen zum Entwurf von Stünker keine Mehrheit durch seine Minimallösung (Verzicht auf die Schriftform, 111

Vgl. Bioethik-Kommission Bayern, Sterben in Würde, 15. Vgl. Bioethik-Kommission Bayern, Sterben in Würde, 59f. 113 Vgl. Bioethik-Kommission Bayern, Sterben in Würde, 60. 114 Vgl. Bioethik-Kommission Bayern, Sterben in Würde, 60ff. 115 Taupitz, Die Debatte, 114. 112

114

3. Die Debatte um die Patientenverfügung

keine Ermittlung des mutmaßlichen Willens) überzeugen.116 Auch die vorgebrachten Gesetzesentwürfe weisen Differenzen in den wesentlichen Streitpunkten der breiten Debatte auf. Gravierende Unterschiede finden sich auch hier in Bezug auf die Begrenzung der Reichweite der Patientenverfügung. Wie schon die Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin plädiert, schließt sich auch der Entwurf von Bosbach einer Begrenzung der Reichweite an. Gefordert wird hier die Zulässigkeit der Ablehnung von lebensverlängernden Maßnahmen nur im Zustand irreversibel tödlicher Erkrankungen. Bei heilbarem Leiden überwiegt der Lebensschutz. Ferner sieht der Entwurf eine Verpflichtung zur vorausgegangenen umfassenden ärztlichen oder rechtlichen Beratung vor, sofern in der Patientenverfügung der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme (ohne Reichweitenbegrenzung) angeordnet wird.117 Eine umfassende Beratungspflicht wird jedoch nicht gefordert.118 Der Bosbach-Entwurf enthält also einen abweichenden Tenor de lege lata: „Eine gesetzliche Regelung, die Patientenverfügungen ohne Beratung oder Reichweitenbegrenzung für verbindlich erklärte, würde zu einer Verabsolutierung des Selbstbestimmungsgedankens unter Vernachlässigung der Schutzpflicht für das Leben führen.“119 Der Entwurf des Abgeordneten Zöller hingegen verkörpert das Ziel, „Rechtsunsicherheit im Hinblick auf die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu beseitigen. Dabei werden die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Menschenwürde und zum Selbstbestimmungsrecht einfachgesetzlich umgesetzt, indem klargestellt wird, dass Patientenverfügungen verbindlich sind.“120 116

Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Sonder Hospiz Info Brief 3 / 2009, 3ff. Vgl. Drucksache 16/11360, 2f.; Taupitz, Die Debatte, 114. 118 Die Entwürfe von Zöller und Stünker sehen keinerlei Wirksamkeitsvoraussetzungen durch Beratung und Aufklärung vor. Auch dieser Aspekt wurde debattiert. So tritt beispielsweise die Deutsche Hospiz Stiftung für eine solche Aufklärungs- und Beratungspflicht ein. Vgl. hierzu Taupitz, Die Debatte, 114. 119 Drucksache 16/11360, 3. Für die vorliegende Arbeit, die ihren Schwerpunkt auf die Thematik um die Vorsorgevollmacht legt, ist ein weiterer Aspekt auffallend. Im Bosbach-Entwurf ist entgegen heute gültigem Recht im Rechtstext eine andere Reihenfolge der Vorsorgeinstrumente aufzufinden. Der neue § 1901 a BGB wäre nach Vorschlag von Bosbach der Vorsorgevollmacht und der Betreuungsverfügung gewidmet. Die Patientenverfügung würde dann im nachfolgenden Paragraphen benannt. Vermuten lässt sich also vor diesem Hintergrund, dass die benannte Reihenfolge auch ein Ausdruck der empfundenen Wertigkeit jener Instrumente darstellt. Vgl. Drucksache 16/11360, 4. 120 Drucksache 16/11493, 3. 117

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Dieser Anspruch kann gemäß dem Entwurf bestmöglich realisiert werden, wenn keine Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung zugrunde liegt. Um auch Individuallösungen nicht zu gefährden, sind hier einzig die Unerlässlichkeiten gefordert. So heißt es im Entwurf: „Angestrebt wird daher ein praktikables Verfahren, das unnötige Vorgaben und bürokratische Prozeduren vermeidet und deshalb geeignet ist, der Individualität des Sterbens in einer humanen Gesellschaft gerecht zu werden.“121 Diese Minimallösung zeigt sich ferner darin, dass keine Schriftformerfordernis für die Patientenverfügung gefordert wird. Neben Reichweitenbeschränkung, Aufklärungspflicht oder Schriftformerfordernis stellt auch die Frage nach periodischen Aktualisierungen der Patientenverfügung Anlass zu Debatten dar. Die drei vorgebrachten Gesetzesentwürfe sehen dies als keine notwendige gesetzliche Regelung an.122 Der „am 18. Juni 2009 vom Bundestag in einer namentlichen Abstimmung mit einer Mehrheit von 317 Stimmen bei 233 Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen“123 beschlossene Entwurf legt nun keine Begrenzung sowie eine erforderliche Genehmigung durch die Gerichte ausschließlich im Unstimmigkeitsfall fest.124 Verabschiedet wurde der Stünker-Entwurf in etwas modifizierter Fassung.125 Der Gesetzgeber beschied also durch jenes neue Gesetz eine Gleichsetzung des prospektiven mit dem aktuellen Willen eines Menschen. Für diese Reform des Betreuungsrechts wurde im Bundestag bei der Abstimmung der Fraktionszwang aufgehoben. Die Deutsche Hospiz Stiftung „begrüßt insbesondere den Wegfall der Reichweitenbeschränkung für Patientenverfügungen“126 in ihrer Stellungnahme von 2008. 3.1.8 Fazit und Ausblick Kennzeichnen lässt sich, dass die Patientenverfügung im Verlauf der Debatte gestärkte Geltung zugesprochen bekommt, gleichwohl Gegenstimmen den Prozess umfassend begleiten und auch heute noch bestehende Diastasen aufzeigen. Die rechtliche Stärkung der Verfügung stellt ein Zwischenziel dar und sollte zu einer Klärung der Situation führen. In kritischer Weiterführung dessen ist nochmals anzufragen, war121

Drucksache 16/11493, 4. Vgl. Taupitz, Die Debatte, 114. 123 Simon, Medizinethische Aspekte, 69. 124 Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 69. 125 Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Sonder Hospiz Info Brief 3 / 2009, 5f. 126 Deutsche Hospiz Stiftung, Sonder Hospiz Info Brief 2 / 2008, 1. 122

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

um jener Beschluss trotz übergreifend interdisziplinärer Bedenken beschieden wurde. Es kann bereits an dieser Stelle vor dem Hintergrund der dargestellten und im Folgenden weiter ausgeführten Kritiker und Befürworter des Patientenverfügungsgesetzes die These formuliert werden, dass jene Beschlüsse vorrangig auf gesellschaftlichen Druck und in Konsequenz dessen durch die Unterstützung in Form der Ergebnisse der vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) eingesetzten Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende gründen. Auf die jüngste Vergangenheit blickend ist in den letzten Jahren erneut eine leichte Veränderung der Debatte festzustellen. Die Diskussionen gehen wieder hin zu bereits geführten und bekannten, aber dennoch persistierenden Dissensen. Hatte sich mittlerweile der Diskurs dahingehend verlagert, dass die Patientenverfügung unabdinglich gestärkt werden soll (was durch die Gesetzesänderung von 2009 gesetzlich bekräftigt wurde), so lässt sich bei der Recherche auffinden, dass die Debatte auch schon vor 2009 mit anderem Schwerpunkt geführt wurde. Die eingesetzte Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin, die in ihrer Funktion den Deutschen Bundestag beratend unterstützt, setzt in ihren Berichten von 2004 andere Akzente. Nicht nur, dass sie in großer Einigkeit in ihrer interdisziplinären Arbeitsgruppe zu dem Ergebnis kamen, die Patientenverfügung in ihrer Reichweite auf infauste Krankheitssituationen zu beschränken,127 sondern sie empfehlen dem Verfasser auch gezielt Aufklärungsgespräche in Anspruch zu nehmen. Die Beratung des Betreuers oder Bevollmächtigten bei Entscheidungssituationen durch Konsilien zu stärken ist ebenfalls Ziel.128 Sie stellen ferner die Wichtigkeit der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden heraus, nicht zuletzt durch die Stärkung der Palliativmedizin sowie der Hospizeinrichtungen.129 Die Enquete-Kommission sieht die Patientenverfügung, trotz der formulierten Einschränkungen, als ein mögliches Mittel zur humanen Gestaltung der Bedingungen des Sterbens in der Gesellschaft.130 Ein Nutzen von Patientenverfügungen wird nicht verkannt. Dennoch wird ihre Einschränkung aufgrund vorhandener und bekannter Probleme als logische Konsequenz gesehen. Dementsprechend wird keineswegs eine Alleinstellung der Patientenverfügung angestrebt. Vielmehr gelten Fürsorge, Betreuung und Begleitung als wichtige Fundamente, die nicht vernachlässigt und aus dem Blick geraten sollen. Stehen diese Funda127

Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 37f. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 43. 129 Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen Kurzfassung, 6. 130 Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen Kurzfassung, 6. 128

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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mente, so kann darauf aufbauend eine Kultur um Patientenverfügungen gestaltet werden. Diese Perspektive hingegen ist im derzeit gültigen Recht nicht berücksichtigt. Hier kann nur im Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung bis hin zum neuen Patientenverfügungsgesetz erwogen werden, dass jener Aspekt bewusst aus Gründen der Abkehr vom früher negativ vorherrschenden Paternalismus vernachlässigt wurde, um so einem potenziellen Verlust der geschichtlich erkämpften Selbstbestimmung entgegenzuwirken. Patientenverfügungen wurden uneingeschränkt gestärkt. In jüngster Literatur taucht nun wieder eine vorsichtige Abkehr von dieser Entwicklung auf, wie beispielsweise durch vermehrte Hinweise auf die Wichtigkeit einer Verbindung von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht deutlich wird. Die neuartige Ausrichtung der aktuellen Handreichung der Kirchen zum Thema unterstreicht den Eindruck. Gleichwohl wurde von verschiedenen Seiten auch schon in der Debatte vor der gesetzlichen Festschreibung im Jahre 2009 auf ein notwendiges, fürsorgendes Element verwiesen.131 Charakteristisch erscheint an vielen Stellen in der dargestellten Debatte die Berücksichtigung der Vorsorgevollmacht, sogar teils betitelt als wichtiges Instrument, welches auch in seiner Verbreitung gestärkt werden soll. Hingegen ist keinerlei Reflexion über das Instrument der Vorsorgevollmacht auffindbar.132 Im Rekurs auf jene stetig hintergründig zugesprochene Bedeutung der Vorsorgevollmacht in Kombination mit ihrer gegenwärtig erfahrbaren Stärkung steht eine eingehende Reflexion weiter aus. Interessant ist hierbei die Position der beiden großen Kirchen. Schon während der geführten Debatten zur Patientenverfügung

„machen sich die Kirchen für eine Stärkung der Vorsorgevollmacht stark. [. . . ] Die Kirchen empfehlen, dass ein Betreuer oder Bevollmächtigter des Patienten prüfen sollte, ob sich der vorab schriftlich fixierte Patientenwille von dem aktuellen Wille unter131

Vgl. hierzu beispielsweise Klie, Patientenverfügung und Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge. 132 Die einzige auffindbare Untersuchung mit spezifischerem Schwerpunkt auf die Vorsorgevollmacht ist eine 2013 erschienene juristische Studie mit Fokus auf die Komplementarität von Zivil- und Sozialrecht. Dabei werden Instrumente zur Stärkung der Vorsorgevollmacht als Modell zur Sicherung der Patientenautonomie erarbeitet. Stellvertretung – als fürsorgendes Element – wird dabei im Konnex zu Autonomie erkannt. Zugleich wird die Vorsorgevollmacht als Instrument beschrieben, „mit dem die Patientenautonomie nachhaltig wahrgenommen und gesichert werden kann“ (Beetz, Stellvertretung, 236). Eine Stärkung der Vorsorgevollmacht wird angestrebt. Für eine genauere Sichtung der Studie vgl. Beetz, Stellvertretung.

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

scheide. In Ausnahmefällen müsse der Arzt auf der Basis der Patientenverfügung über die weitere Behandlung entscheiden.“133

Die dezidierten Äußerungen in Bezug auf Vorsorgedokumente sowie ihr Bild von der Vorsorgevollmacht soll im folgenden Kapitel tiefer dargelegt werden. Innerhalb der Debatten und Beiträge konnte aufgefunden werden, dass sie im Grundsatz um die Frage nach Autonomie und Fürsorge und ihrer jeweiligen Gewichtung kreisen. Selbstbestimmung wird mitunter in enger Verbindung zur Menschenwürde wahrgenommen, dem wiederum entgegengehalten wird, dass ihre alleinige Stärkung dem Menschen nicht gerecht zu werden und Selbstbestimmung Fürsorge gar zur Voraussetzung zu haben scheint. Ein genaueres Verständnis dieser zentralen Thematik ist im Folgenden weiter zu präzisieren. Ziel muss notwendig sein, fundierte Verständnisse von Selbstbestimmung bzw. Autonomie und Fürsorge mit Blick auf ein ausgewogenes Menschenbild zu konkretisieren. Zur Wegbereitung dessen stehen zuvörderst weitere zentrale Positionen beteiligter Instanzen und Disziplinen nebst der Thematisierung vorfindlicher patientenverfügungsspezifischer Dissense im Fokus. 3.2 Beiträge der Kirche Nach derzeitigem Kenntnisstand hat sich die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) nicht explizit theologisch-reflektiert zum Umgang mit der Vorsorgevollmacht geäußert. Insbesondere ein ethisch begründeter Standpunkt wurde bis dato nicht entwickelt. Hingegen gibt es seit 1999 verschiedene Beiträge, herausgegeben von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, zum Umgang mit der Patientenverfügung sowie Handreichungen und Formulare zum Erstellen einer Christlichen Patientenverfügung, die als Orientierungshilfe genutzt werden können. Zum Teil ist bei diesen Beiträgen die Vorsorgevollmacht integriert und als Kombinationsmodell mit der Patientenverfügung erwähnt. Die Thematisierung der Debatte um Patientenverfügungen innerhalb der Kirchen weist ebenfalls eine längere Entwicklungsgeschichte auf, die sich anhand der herausgegebenen Beiträge nachzeichnen lässt. Evangelische und katholische Kirche stehen in besonderer Verantwortung, ihre Stellungnahmen zum Thema Sterben und Tod aus christlicher 133

http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2008_05_16_1_patientenverfuegung.html, Stand: 11.03.2013.

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Sicht zu reflektieren und zu veröffentlichen. Dabei verstehen sie Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi als Grundlage, wodurch dem Menschen wiederum eine Hoffnung für das Leben zuteilwird. Mit der ersten Handreichung von 1999 sollte der Verantwortung nachgekommen werden, sich als Kirche zum Themenfeld zu positionieren. Tenor war hierbei die enge Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen, die in der zweiten Auflage von 2003 auf Verfügungen auch außerhalb der Sterbephase bei Demenz oder Wachkoma erweitert wurde.134 Das Leben, so wird beschrieben, ist als ein Geschenk Gottes anzusehen, das aber gleichzeitig die Mitwirkung und die Verantwortung jedes Menschen fordert. Um dieser auch am Ende des Lebens nachkommen zu können, kann die Patientenverfügung eingesetzt werden.135 Wichtiges Kennzeichen ist also hier die Achtung der persönlichen Einstellungen und Wünsche sowie der Respekt vor der Selbstbestimmung. Zugleich sind Wert und Würde des Menschen von Gott gegeben und insofern dem Verfügungsbereich des Menschen entzogen. Der Mensch kann folglich nicht über den Wert oder das Lebensrecht einer Person entscheiden oder dieses gar absprechen, wodurch die aktive Sterbehilfe strikt abzulehnen bleibt.136 Nach der formulierten Auffassung in der Handreichung von 2003 kommen Patientenverfügungen zur Anwendung, wenn bei Einwilligungsunfähigkeit eine Situation „ohne Aussicht auf Besserung“137 eingetreten ist und eine Entscheidung über Verzicht oder Abbruch einer Behandlungsmaßnahme getroffen werden muss. Insofern muss der Sterbeprozess als solcher noch nicht eingesetzt haben. Zudem kann die Verfügung individuell auf weitere Situationen ausgeweitet werden, sofern diese speziell Erwähnung finden.138 Es ist ferner auf das Verhältnis von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht in der Handreichung hinzuweisen. Bei der Thematisierung steht die Verfügung an erster Stelle. Nahezu unauffällig zeigt sich an einer Stelle aber eine andere Wertigkeitsverteilung: Falls keine Vorsorgevollmacht verfasst werden kann oder will, sollte dann die Verfassung einer Verfügung nahegelegt werden. Konkret heißt es im Text: „Wenn Sie keiner Ihnen bekannten Person die Verantwortung für weitere Entscheidungen in Ihrem Krankheitsfall in Form einer Vorsorgevollmacht übertragen möchten oder niemand diese 134

Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 3. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 10. 136 Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 10f. 137 Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 20. 138 Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 20. 135

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Aufgabe zu übernehmen bereit und in der Lage ist, dann ist es sinnvoll, jedenfalls eine Patientenverfügung zu verfassen. [. . . ] Wir empfehlen Ihnen daher, wenn möglich zusätzlich zu einer Patientenverfügung eine Person Ihres Vertrauens zu bevollmächtigen [. . . ] und/oder als Betreuer bzw. Betreuerin vorzuschlagen“139 .

Hieraus kann geschlossen werden, dass vorrangig geprüft werden sollte, ob eine Vertrauensperson zur Übernahme einer Vorsorgevollmacht zur Verfügung steht. Ist dies nicht der Fall, so ist das Verfassen einer Patientenverfügung anzuraten, bestenfalls ebenso in Kombination mit der Vollmacht. Hier scheint bereits die Bedeutsamkeit der Vorsorgevollmacht höherwertiger zu sein – trotz klarer Vordergrundstellung der Patientenverfügung. Ferner wird sie als wichtige, nicht zu vernachlässigende Ergänzung zur Patientenverfügung angesehen. Im veröffentlichten Beitrag von 2005 zum Umgang mit der Patientenverfügung wurde auch die Reichweitenbegrenzung weiter diskutiert und die Erkenntnisse verfeinert. Die EKD reagierte hiermit auf die zunehmende Debatte um die gesetzlichen Regelungen zum Betreuungsrecht. Sie formulierte nun vier verschiedene Fälle („ethische Regeln“140 ) bezüglich der Umsetzung der in einer Patientenverfügung getätigten Willensäußerungen, in denen sie je unterschiedliche Empfehlungen zu ihrer Geltung ausspricht. 1. Zum einen soll geprüft werden, ob durch therapeutische Möglichkeiten neue Lebensperspektiven eröffnet werden können. Sofern dies nach Maßgabe von medizinischem Personal der Fall ist, kann keinem früher geäußerten Sterbewunsch Geltung verschafft werden. Hierbei wird berücksichtigt, dass sich Einstellungen und speziell auch der Lebenswille in der Krankheitssituation ändern.141 2. Zum anderen soll im Falle der Bewusstlosigkeit mit guten Aussichten auf Rückerlangung des Bewusstseins und der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit alles für den Erhalt des Lebens getan werden, um die Entscheidungs- und Äußerungsfähigkeit des Patienten möglichst wiederzuerlangen. Sodann soll er selbst seine Entscheidungen bekunden, „die sein Leben und Sterben betreffen“142 . 139

Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 24. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 8 (Fettdruck im Original). 141 Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 8; 23f. 142 Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 8. 140

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3. Im dritten Fall werden Situationen der Entscheidungs- und Äußerungsunfähigkeit betrachtet, in denen aber ein aktueller Lebenswille erkennbar ist, wie dies beispielsweise der Fall sein kann, wenn eine Person mit demenzieller Erkrankung Lebensfreude ausstrahlt oder Essen und Trinken als Bedürfnis kenntlich macht. Hier wird nun zwischen unterschiedlichen Stadien der Krankheit differenziert. Insbesondere im Anfangsstadium ist es Aufgabe der Fürsorge, den aktuellen Lebenswillen zu stärken. Im Endstadium hingegen sollte der verfügte Wille stärkeres Gewicht erhalten und ggf. einem Behandlungsabbruch stattgegeben werden.143 Merklich ist hier besonders die Frage nach der Gewichtung von Fürsorge und Selbstbestimmung. 4. Zuletzt äußert sich die EKD über Situationen der Bewusstlosigkeit ohne Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins, in denen stets der verfügte Wille beachtet werden soll, auch wenn dies eine Verkürzung des Lebens mit sich bringt.144 Für alle menschlichen Handlungen bleibt beachtlich, dass der Tod eines Menschen nicht aktiv herbeigeführt werden darf. Sowohl die Geburt als auch der Tod müssen nach Meinung der Kirche aus dem christlichen Verständnis heraus als Geschick verstanden werden. Dies drückt wiederum keine absolute Passivität des Menschen und kein reines Abwarten, Erdulden und Erwarten aus. „Denn geschöpfliches Leben ist immer zu gestaltendes Leben.“145 Hochgeschätzt wird auch der Respekt vor der Selbstbestimmung jedes Menschen, der nur selbst eine gesicherte Erkenntnis über Eintreten seines Sterbens und Todes erhalten kann. Eine Balance zwischen einer je für sich recht verstandenen Selbstbestimmung und Fürsorge muss geschaffen und gewahrt werden, auch durch Einbeziehung von und besonders Gesprächen mit beteiligten und nahestehenden Personen.146 Herausgestellt werden sollte ferner, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit zur Kombination von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht oder einer Betreuungsverfügung genannt wurde, um persönliche Vorsorge zu treffen.147 Generell lag das Augenmerk aber vermehrt auf der Debatte um Patientenverfügungen. 143

Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 24. Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 24. 145 Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 12. 146 Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 13, 15. 147 Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 11. 144

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Unterstrichen wurde zudem die Notwendigkeit, in der Gesetzgebung Freiräume für Ermessensentscheidungen in Grenzsituationen treffen zu können.148 Dies ist der Unplanbarkeit des Sterbens sowie der Individualität des Todes geschuldet. In den Überlegungen der EKD zum Umgang mit Patientenverfügungen von 2005 wird deutlich, dass es nicht Auffassung der Kirche ist, dem verfügten Patientenwillen in jeder Situation Folge zu leisten. Abgesehen von der strikten Ablehnung der aktiven Euthanasie wird die Ansicht vermittelt, dass das Menschenleben – auch gegen den Sterbewunsch des Patienten – zu erhalten ist, sofern neue Lebensperspektiven eröffnet oder das Bewusstsein oder die Urteilsfähigkeit zurückerlangt werden können.149 Hieraus resultiert die Sichtweise, dass Patientenverfügungen in ihrer Reichweite auf irreversibel zum Tode führende Zustände beschränkt werden sollten. Durch diese Beschränkung der Wirksamkeit und Reichweite ist gewährleistet, dass der Tod als Geschick akzeptiert wird und nicht antizipierte Lebenssituationen über die Verkürzung des Lebens entscheiden. Bei einer uneingeschränkten Akzeptierung besteht nach Meinung der EKD die Gefahr, keine Abgrenzung zur Tötung auf Verlangen mehr definieren zu können.150 Diese Auffassung, die ja – wie sich bereits zeigte – nicht nur von den Kirchen propagiert wird, ist in der neuen Rechtsprechung von 2009 nicht berücksichtigt. Als Folge hiervon gelten Reichweite und Wirksamkeit der Patientenverfügung derzeit uneingeschränkt, auch für nicht unweigerlich zum Tode führende Situationen. Mehrere Beobachtungen, auch kritischer Art, sind an diese Stellungnahme von 2005 sowie besonders an die getroffenen Fallunterscheidungen zu richten. Zum einen spiegelt sich in diesen Aussagen eine Art (Gegen-)Reaktion auf die innergesellschaftlich zunehmende Wichtigkeit eines Selbstbestimmungsrechts wider, was mitunter Tendenzen zur Absolutierung aufweist. Auf Grundlage dieser Entwicklungen wird versucht das (geforderte) Selbstbestimmungsrecht zu akzeptieren und folglich Entgegenkommen zu zeigen. In der beanspruchten Rigorosität jedoch grenzt sich die Kirche von der öffentlichen Tendenz bewusst ab. Das entscheidende Kriterium des Lebensschutzes erfährt indes Stärkung. Der Akzent lässt sich also setzen, dass diese Bestimmungen gerade auf die zunehmende Konzentration auf Autonomie und Selbstbestimmung in der Gesellschaft kritisch reagiert und darum ringt, den Aspekt der Fürsorge und des Lebensschutzes integriert zu wissen. Insofern 148

Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 22. Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 23. 150 Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 20. 149

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wird hier eine scheinbar logische Differenzierung der Fälle getroffen, in denen stärker der Schutz des Lebens zur Anwendung kommen muss und anderen, in denen es darum geht, individuelle Entscheidungen zu respektieren. Inhaltlich sollen einige Fragen angeregt werden, die sich in Konsequenz der getroffenen Fallunterscheidungen ergeben können. Im ersten Punkt ist klar eine Hochschätzung des Lebensschutzes vor dem Respekt der Selbstbestimmung gegeben. Anzufragen ist hierbei, ob die Klassifizierung dieses ersten Zustandes womöglich zu eindimensional wahrgenommen und pauschalisiert wird und so tatsächlich spezifische und sehr individuelle Situationen treffen kann. Der zweite Punkt ist in seiner Ausführung und Konsequenz für die Praxis schwer umsetzbar. Was passiert beispielsweise, wenn der Patient therapiert wird und das Bewusstsein sowie die Urteilsfähigkeit wiedererlangt, und sich dann für seine ursprünglichen Festlegungen zum Behandlungsverzicht ausspricht? Entweder können generell Verfügungen solcher Art keine Berücksichtigung finden, da die zutreffende Behandlungssituation, in der die Patientenverfügung hätte zur Anwendung kommen können, ja dann bereits wieder durch die Fortsetzung der Behandlung vergangen ist. Oder die Diskussion rückt automatisch in den Bereich der aktiven Sterbehilfe und des assistierten Suizids, falls die getroffene Behandlungsentscheidung im Nachhinein korrigiert werden muss. Auch die dritte Fallunterscheidung wirft Fragen auf. Welche Zustände sind hier konkret bedacht und wie kann z. B. der Arzt jene ethische Regel umsetzen? Wo liegen die genannten Einschränkungen für den Arzt und was genau bedeutet dies? Solche vagen Formulierungen scheinen die Anwendung zu erschweren. In der letzten formulierten Regel der EKD wird im Falle der mit großer Wahrscheinlichkeit irreversiblen Bewusstlosigkeit dem prospektiv geäußerten Willen des Patienten der Vorrang eingeräumt. Das entscheidende Kriterium hier ist die unabänderliche Bewusstlosigkeit, die dann zur Beachtung des Willens veranlasst und auch zur Beendigung von Leben führen kann, selbst wenn der irreversible Sterbeprozess noch nicht begonnen hat. Da in allen anderen Fällen der Lebensschutz überwiegt, liegt es nahe, die irreversible Bewusstlosigkeit als Zustand zu definieren, bei dem der Lebensschutz nicht mehr hochzuschätzen ist. Insofern ergibt sich die Anfrage, ob hier in letzter Konsequenz ein Lebensunwert-Kriterium formuliert ist, das sogar utilitaristische Tendenzen in sich birgt, indem das Lebensrecht in Verbindung mit Be-

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

wusstsein gesehen wird.151 Ferner widerspricht diese Kategorie dem Argument der Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen auf Situationen, in denen der Sterbeprozess irreversibel begonnen hat.152 Zu fragen bleibt weiter – und nun eher aus medizinischer Perspektive – über welche Zustände der Bewusstlosigkeit überhaupt die Aussage getroffen werden kann, dass eine Wiedererlangung des Bewusstseins aussichtslos ist. Selbst bei langjährigen Apallikern kann eine Zurückerlangung des Bewusstseins nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Von welchen medizinischen Krankheitsbildern ist hier also die Rede? Ob sich etwa auf diagnostizierte Hirntote bezogen wird, bleibt nur zu vermuten. Unter Betrachtung dessen eröffnet sich ein weiteres großes Diskussionsfeld (ohne den Rahmen an dieser Stelle zu sprengen, bleibt einzig ein Verweis auf angrenzende Fragestellungen). Vorausgesetzt, das sog. Hirntod-Kriterium ist dafür geeignet, den Tod eines Menschen zu beschreiben, so bleibt doch die Frage, ob nicht in derartigen Zuständen eo ipso keine medizinische Indikation (mehr) besteht, eine Behandlung und medizinische Maßnahmen weiterzuführen.153 Da also keine Indikation zur Kuration mehr existiert, obliegt es dem behandelnden Arzt eingesetzte Maßnahmen zu beenden – ausgenommen derer zur Palliation. Es zeigt sich also, dass genau genommen auch Situationen des diagnostizierten Hirntodes nicht unter das formulierte Kriterium fallen können. Zu erwähnen bleibt ferner, dass die EKD in keiner nachfolgenden Veröffentlichung zum Thema auf diese entwickelten Grundsätze, Unterscheidungs- und Entscheidungskriterien zurückgreift, sondern sie vielmehr unerwähnt belässt. Nur vermutet werden kann, dass sie sich nicht als praktikabel oder als logische Differenzierungen erwiesen haben. 151

Der wohl bekannteste Vertreter eines utilitaristischen Lebenswert-Konzeptes in Anknüpfung an das Bewusstsein eines Menschen ist der australische Philosoph Peter Singer. Er entwickelte ein aufsehenerregendes und kontrovers diskutiertes Konzept des Präferenzutilitarismus. Vgl. hierzu Singer, Peter, Praktische Ethik, Stuttgart 1994. 152 Bei diesem Argument ist stets zu berücksichtigen, dass es äußerst diffizil erscheint und ebenso diastatisch diskutiert wird, eine Abgrenzung vorzunehmen, wann der Beginn eines irreversiblen Sterbeprozesses festzulegen ist. Eine statische Kategorisierung erscheint vor dem Hintergrund von ineinander verschwimmenden Grenzen schier unmöglich. Hier ist der Sterbeprozess im engeren Sinne, als tatsächliches zu Ende Gehen des Lebens in den nächsten Tagen oder Stunden gemeint. 153 Ausgenommen hiervon müsste die Organspende betrachtet werden. Bei der Freigabe zur Organspende besteht allerdings im engsten Sinne auch keine medizinische Indikation zur Lebenserhaltung mit dem Ziel der Kuration mehr, sondern einzig die Indikation zur Aufrechterhaltung von Lebensfunktionen mit dem Ziel der Explantation.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Zusätzlich zeigt sich vor dem Hintergrund der sich verändernden Stellungnahmen, dass auch innerkirchlich debattiert wurde und wird und auch hier keine eindeutige und feststehende Einstellung zu verzeichnen war und ist. Es zeichnet sich dabei zudem ein gewisser Entwicklungsprozess ab. Auch für die politisch geführten Debatten zur gesetzlichen Regelung des Betreuungsrechts wurden Eingaben der EKD vorgenommen, um sich anhand von Eckpunkten zu positionieren. Hierbei verdeutlichten sie 2007 und im folgenden Jahr, dass eine einseitige Konzentration und Stärkung der Selbstbestimmung zu kurz greift. Vielmehr stellt sich für sie die Aufgabe, Selbstbestimmung und Fürsorge einander verbindend und aufeinander bezogen zu denken.154 Dies hat auch zur Folge, die Patientenverfügung stärker in Verbindung mit der Vorsorgevollmacht wahrzunehmen. In beiden Stellungnahmen drückt es die EKD sogar noch expliziter aus: „Aus Sicht der evangelischen Kirche ist die Verbreitung der Vorsorgenden Vollmacht [sic!] zu fördern und die Stellung des Bevollmächtigten zu stärken.“155 „Die Kirchen treten für die Stärkung des Instituts der Vorsorgevollmacht ein.“156 Kritisch ist an dieser Stelle der Verweis auf die Handreichungen der Kirchen zu Vorsorgedokumenten zu zeichnen, in denen zwar positiv die Ergänzung der Verfügung mit einer Vollmacht Erwähnung findet, hingegen die Stärkung der Vorsorgevollmacht keineswegs offensiv vorangetrieben wird oder gar eine theologische Auseinandersetzung auffindbar ist. Zur Frage der Reichweite der Patientenverfügung ist auch 2007 und 2008 die Ablehnung einer von Art und Stadium einer Erkrankung unabhängigen Verfügung vorherrschend. Eine Ausweitung der Reichweite auf lange Stadien des Wachkomas oder auf das Endstadium einer Demenz wird als Möglichkeit anerkannt.157 Eine uneingeschränkte Geltung der Patientenverfügung wird vonseiten der evangelischen und katholischen Kirche kritisiert. Eine Differenz im Vergleich der Auffassungen der Kirchen besteht bei Verfügungen etwa zum Wachkoma, bei dem die Protestanten im Gegensatz zu den katholischen Empfehlungen einen Behandlungsverzicht als möglich ansehen.158 Auch zu dem u. a. vom Abgeordneten Joachim Stünker vorgelegten Referentenentwurf zur Änderung des Betreuungsrechts mit dem Ziel 154

Vgl. Rat der EKD, Eckpunkte, 2; Zollitsch, Zur gesetzlichen Regelung, 1. Rat der EKD, Eckpunkte, 5. 156 Zollitsch, Zur gesetzlichen Regelung, 2. 157 Vgl. Rat der EKD, Eckpunkte, 4f.; Zollitsch, Zur gesetzlichen Regelung, 2. 158 Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 67; Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 21f. 155

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

der Implementierung der Patientenverfügung formulieren die beiden großen Kirchen Einwände. Diese beziehen sich vorrangig auf die normative Stellung des prospektiven Patientenwillens sowie auf die Rolle von Bevollmächtigten bzw. Betreuern: „Entgegen dem Gesetzentwurf machen sich die Kirchen für eine Stärkung der Vorsorgevollmacht stark. Deren Rolle bei der Auslegung einer Verfügung sei in dem Entwurf nicht ausreichend gewichtet. Die Kirchen empfehlen, dass ein Betreuer oder Bevollmächtigter des Patienten prüfen sollte, ob sich der vorab schriftlich fixierte Patientenwille von dem aktuellen Wille [sich!] unterscheide. In Ausnahmefällen müsse der Arzt auf der Basis der Patientenverfügung über die weitere Behandlung entscheiden.“159

Ersichtlich wird auch hier, dass die Rolle des Vorsorgebevollmächtigten eher in Verbindung mit einer Patientenverfügung gesehen wird und folglich auf die Umsetzung bzw. Auslegung der Verfügung ausgerichtet ist. Dennoch kommen die beiden großen Kirchen im 2008 durchgeführten Gespräch mit der Bundesärztekammer zu dem Ergebnis, „dass Vorausverfügungen keinen Königsweg darstellen und immer auf Interpretation angewiesen sind. Deswegen sei die Bedeutung der Vorsorgevollmacht hervorzuheben, damit im Ernstfall eine Person beteiligt ist, die das besondere Vertrauen des Patienten genießt und mit allen Entscheidungsvollmachten ausgestattet ist.“160

An den Stellungnahmen der Kirche lässt sich eine weitere Beobachtung nachzeichnen. In der laufenden Debatte wurden etliche Argumente – nicht ausschließlich von kirchlicher Seite – aufgezeigt, die dem beschlossenen Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetz zuwiderlaufen. Jedoch ist im Nachgang zum verabschiedeten Gesetz keine kritische Stellungnahme unter Berufung auf die vorherigen Einstellungen erfolgt. Eine offene Thematisierung als Reaktion auf die Entwicklung sowie eine deutliche Positionierung daraufhin bleibt aus. Als Reflex auf die neuen Gesetzesbeschlüsse sahen die Kirchen allerdings eine Überarbeitung ihrer Handreichung und Formulare als notwendig an, sodass am 15. Januar 2011 eine überarbeitete Fassung herausgebracht werden konnte. Die generelle Ausrichtung differiert von 159

http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2008_05_16_1_patientenverfuegung.html, Stand: 11.03.2013. 160 http://www.ekd.de/presse/pm303_2008_gespraech_aerztekammer.html, Stand: 31.10.2014.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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den vorherigen Dokumenten. Zu nennen ist in besonderem Maße die veränderte Stellung der Patientenverfügung. Entgegen den vorherigen Veröffentlichungen, bei denen die Verfügung eher im Vordergrund stand, ist nun eine andere Orientierung festzustellen. Bereits die Wahl des Titels Christliche Patientenvorsorge durch Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Behandlungswünsche und Patientenverfügung macht dies ersichtlich. Bewusst wird eine Abkehr von der vorherigen Betitelung Christliche Patientenverfügung erwirkt. Folglich spricht schon die Titelwahl der Patientenverfügung geminderte Geltung zu, wohingegen die Vorsorgevollmacht eine Stärkung erfährt. Weitere Verdeutlichung findet dies z. B. an den Aspekten, dass explizit die Wichtigkeit der Bevollmächtigung einer Vertrauensperson angesprochen161 sowie als Empfehlung die Möglichkeit der Vorsorgevollmacht an erster Stelle aufgeführt wird. Entgegen früherer unterschwelliger und impliziter Erwähnung der Vorsorgevollmacht und ihrer Bedeutung wird diese hier offensiver dargestellt und auch propagiert. Ferner wird darauf verwiesen, dass die Vorsorgevollmacht – auch in Kombination mit der Betreuungsverfügung – ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Selbstbestimmung und der notwendigen Fürsorge schafft.162 Ähnlich wie in der Handreichung von 2003 wird ebenfalls die wenn-dann-Beziehung zwischen Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung aufgebaut: Für den Fall, dass keine Vollmacht übergeben werden kann oder will, sollte dann eine Patientenverfügung verfasst werden, die die Behandlungswünsche gegenüber den zuständigen Personen deutlich macht. Sie unterstreichen nun vermehrt das Motto „Fürsorge im Respekt vor der Selbstbestimmung des Anderen“163 . Einige Probleme und Risiken von Patientenverfügungen – die tiefergehend noch im Kapitel III.5 angesprochen werden – finden nun auch in ihren Erläuterungen Erwähnung. Beispielsweise wird der Dissens um die Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen aufgeführt. Herausgestellt ist dabei, dass die EKD infolge der nicht realisierten Begrenzung der Reichweite in der Gesetzgebung die Notwendigkeit sieht, sich „auf die ethische Frage [zu; d. Vf.] konzentrieren, ob man die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten in Anspruch nimmt oder aus guten Gründen darauf verzichtet.“164 Die Akzeptanz des Rechtlichen ist unbestritten, inwiefern gültiges Recht persönlich jedoch in Anspruch genommen wird, muss wiederum selbstständig entschieden werden. 161

Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 7. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 9. 163 Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 12. 164 Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 13. 162

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Dieser neue Beitrag verdeutlicht die bereits angesprochene Tendenz zur Stärkung der Vorsorgevollmacht, die wahrscheinlich auch auf die diskutierten Probleme und Risiken zur Patientenverfügung zurückgeführt werden kann. Die Kirchen raten in ihrer Handreichung dazu, eine Vorsorgevollmacht mit einer Betreuungsverfügung durchaus zu kombinieren. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass in allen Eventualitäten die in der Vollmacht benannte Vertrauensperson die Entscheidungskompetenz und Zuständigkeit erhält. Zusätzliche Behandlungswünsche oder eine Patientenverfügung erleichtern dem Vertreter anfallende Entscheidungen zu treffen, so die Empfehlung. Sofern keine Vertrauensperson benannt werden kann, sind Hinweise oder Festlegungen durch Behandlungswünsche oder eine Patientenverfügung anzuraten.165 Sie explizieren deutlich die Wichtigkeit von Selbstbestimmung und warnen gleichzeitig vor einem Missverstehen dessen als Unabhängigkeit von Mitmenschen. Der soziale Kontext bleibt immer vorherrschend und eingebunden. Es ist sogar hervorzuheben, dass das Selbstbestimmungsrecht gar nur in einem sozialen Kontext Gestalt gewinnt.166 „Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorge für den Patienten sind miteinander zu verbinden und aufeinander zu beziehen. Selbstbestimmung ist auf Fürsorge angewiesen. Ebenso gehört es zu recht verstandener Fürsorge, die Selbstbestimmung eines Patienten zu achten und ihr so weit wie möglich Folge zu leisten. Fürsorge muss daher immer die körperbezogenen, psychologischen, sozialen und spirituellen Wünsche und Vorstellungen des Patienten einbeziehen. ‚Fürsorge im Respekt vor der Freiheit des Anderen‘, ein Leitmotiv der Hospizbewegung, trifft auch auf die Anwendung von Vorsorgeverfügungen zu.“167

Hier lässt sich eine Differenz zu vorherigen Darstellungen erkennen. Dieses Miteinander von Selbstbestimmung und Fürsorge wird nun hervorgehoben, ohne die Bedeutsamkeit jedes Aspekts für sich zu beschränken. Hiermit verbunden ist die wahrnehmbare Stärkung der Vorsorgevollmacht. Geklärt werden muss also, welchen Mehrwert sie gegenüber der Patientenverfügung aufzuweisen scheint und inwiefern sie dem gezeichneten Bild vom ausgewogenen Verhältnis der Selbstbestimmung und der Fürsorge entspricht. Resümierend kann festgestellt werden, dass deutlich ein Paradigmenwechsel weg von einer starken Bedeutungszuschreibung der Patienten165

Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 9. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 12. 167 Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge, 12. 166

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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verfügung hin zur Stärkung der Vorsorgevollmacht in den Darstellungen der Handreichungen nebst Formularen der beiden großen Kirchen erkennbar ist.168 In der 2003 herausgebrachten Auflage erhält die Patientenverfügung das Primat. Als Ergänzung, so die damalige Ansicht, kann zusätzlich eine Vorsorgevollmacht verfasst werden, was das Zitat „Für den Fall, dass Sie auch eine Vorsorgevollmacht ausstellen möchten, [. . . ]“169 verdeutlicht.170 In der neuen Auflage bzw. der Gesamtüberarbeitung von 2011 erscheint dies nahezu vollständig spiegelbildlich. Bereits im Titel der Neuausgabe ist die Patientenverfügung an die letzte Position getreten. Nun wird die Vorsorgevollmacht präferiert mit eventuellen Ergänzungen durch kommunizierte Behandlungswünsche oder die Patientenverfügung. Ferner drücken sie die Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung darin aus, dass ebendiese nur in Situationen gelten soll, „bei der jede lebenserhaltende Maßnahme ohne Aussicht auf Besserung ist und das Sterben nur verlängern würde.“171 Urteile über den Wert eines Menschenlebens sollen so vermieden werden. Insofern wird anhand der Diskussion und Meinungsbildung innerhalb der beiden großen Kirchen ebenso ein Entwicklungsprozess sichtbar, der unterschiedliche Schwerpunktsetzungen erkennen lässt. Die Frage liegt nahe, warum die Entwicklung nach diesem Muster verlaufen ist und stets lang diskutierte Probleme im Dissens bleiben. Vonseiten der Kirchen wird insbesondere auf einen Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge hingewiesen, der zudem in Verbindung mit Verantwortung und Lebensschutz zu verstehen ist. Dabei ist der Gedanke leitend, das Menschenleben als Geschenk Gottes aufzufassen. Auf die Sozialität des Menschen wird rekurriert und Selbstbestimmung nicht als Unabhängigkeit interpretiert. Zu klären bleibt ein tieferes Verständnis der gebrauchten Begrifflichkeiten sowie ein theologisch begründetes Konzept, wie die Elemente Selbstbestimmung und Fürsorge ins Verhältnis gesetzt werden können nebst ihrer 168

Vgl. hierzu Kirchenamt der EKD, Patientenvorsorge sowie Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung. 169 Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 14. 170 Im laufenden Text der Handreichung wird dann allerdings auch auf die Wichtigkeit einer Vorsorgevollmacht sowie auf die Begrenztheit der Patientenverfügung auf spezielle Situationen hingewiesen. Mit Blick auf die gesamte Darstellung hingegen bleibt obige Aussage zu unterstreichen. Dennoch wird die Empfehlung ausgesprochen zusätzlich zu einer Patientenverfügung (hier also an erster Stelle) auch eine Vorsorgevollmacht (folglich rangmäßig hinter der Verfügung) abzufassen. Vgl. Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 24. 171 Kirchenamt der EKD, Patientenverfügung, 21.

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Anwendung auf die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht hin. Wie dies in der Theologie exemplarisch vorfindlich ist, wird besonders im Abschnitt IV aufzuarbeiten sein.

3.3 Beiträge der Medizin Die ärztliche Akzeptanz der Patientenverfügung war bis Mitte der 1990er Jahre nicht sehr hoch. Mediziner sahen i. A. keine Hilfestellung oder Erleichterung in der Verfügung. Der noch heute bestehende und vielfach vorgebrachte Einwand gegen die Bindungskraft von Patientenverfügungen wurde schon damals von der Ärzteschaft formuliert: Einstellungen in gesunden Tagen verändern sich im Erleben von Krankheitssituationen.172 Die aktuellen Einstellungen der Bundesärztekammer haben sich dahingehend modifiziert, dass sie eine rechtliche Regelung sinnvoll sowie generell die Patientenverfügung als sehr hilfreich empfinden. Dennoch bleiben kritische Stimmen keine Seltenheit und auch der Nutzen der Vorsorgevollmacht wird gesehen. Die Entwicklungsgeschichte der breiten medizinischen Einschätzungen wird im Folgenden nachzuzeichnen sein. Eine Änderung der Einstellung weiter Teile der Ärzteschaft zu Vorsorgedokumenten, speziell zur Patientenverfügung, ist nach 1993 aufzuzeigen. In den damaligen Richtlinien findet eine eher negative Bewertung der Patientenverfügung statt. Die einzig erkennbaren Vorteile seien „juristisch einfache Problemlösungen“173 . Ein Nutzen der Verfügung, speziell für die Medizin, wird nicht erkannt, „ethisch und ärztlich sind sie keine nennenswerte Erleichterung.“174 Hauptargument hierfür ist, dass prospektive Willensäußerungen keinen Bestand in der realen Krankheitssituation aufweisen und zudem oft zu stark beeinflusst sind vom Miterleben einer Krankheitssituation eines Nahestehenden. Dennoch ist bei jeder Behandlung auch hier der Respekt vor dem Willen bzw. mutmaßlichen Willen des Patienten hochzuschätzen.175 Die Ärzteschaft sah dann bis 1998 nach wie vor keine Dringlichkeit darin, zur Sterbebegleitung gesetzliche Regelungen anzustreben. Bei dieser Einstellung ist die Individualität jedes Krankheitsprozesses und jeder spezifischen Entscheidung von der Kuration hin zur Palliation ausschlaggebend. So wird festgestellt: „Gesetzliche Regelungen können 172

Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 62f. Bundesärztekammer, Richtlinien 1993, 2404. 174 Bundesärztekammer, Richtlinien 1993, 2404. 175 Vgl. Bundesärztekammer, Richtlinien 1993, 2404. 173

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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dabei nicht hilfreich sein, es sei denn man legt ex ante Behandlungsbegrenzungen fest.“176 Sicherlich stand entgegen der früher überwiegenden Fremdbestimmung durch den Arzt nun schon stärker die Selbstbestimmung sowie weiterhin die Orientierung am Willen jedes Patienten im Vordergrund.177 Das kurative Therapieziel bleibt dennoch auch bei infauster Prognose bis zum Endstadium einer Krankheit bestehen. „Bei Patienten mit infauster Prognose, die sich noch nicht im Sterben befinden, kommt eine Änderung des Behandlungsziels nur dann in Betracht, wenn die Krankheit weit fortgeschritten ist und eine lebenserhaltende Behandlung nur Leiden verlängert.“178

Instrumente persönlicher Vorsorge wie Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht oder Betreuungsverfügung gelten als „eine wesentliche Hilfe für das Handeln des Arztes.“179 Bei der Bewertung der Patientenverfügung wird zu dieser Zeit der Hinweis auf die Differenz vom prospektiven zum aktuellen Willen in der Krankheitssituation hochgehalten. Insofern können Patientenverfügungen lediglich verbindlich sein, sofern sie auf die eingetretene Situation genau zutreffen.180 Diese deutliche Begrenzung der Gültigkeit der Patientenverfügung ist in den 2007 veröffentlichten Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung vermindert worden. Vielmehr hervorgehoben wird nun die generelle Verbindlichkeit der in der Verfügung getätigten Willensäußerungen (auch außerhalb der Sterbephase, außer bei rechtlich unzulässigen Forderungen181 ), über die sich Ärzte nicht hinwegsetzen dürfen. Vorsorgedokumente werden als Hilfe für das medizinische Personal angesehen.182 Im Gegensatz zu vorherigen Stellungnahmen wird hierin die Möglichkeit der Selbstbestimmung des Patienten unterstrichen sowie entgegen früheren Ansichten vertreten, „dass der Wille eines Patienten insbesondere in Bezug auf die Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen eine hohe Konsistenz aufweist.“183 Die vormalige Kritik zur Veränderbarkeit prospektiver Willensäußerungen findet folglich keinen Bestand mehr. Gleichwohl 176

Bundesärztekammer, Grundsätze 1998, 2366 (Formatierung d. Vf.). Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze 1998, 2366. 178 Bundesärztekammer, Grundsätze 1998, 2367. 179 Bundesärztekammer, Grundsätze 1998, 2367. 180 Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze 1998, 2367. 181 Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2007, 893. 182 Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2007, 891. 183 Bundesärztekammer, Empfehlungen 2007, 891f. 177

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

schließen sich Stimmen weiter Teile der Ärzteschaft, besonders Palliativmediziner, zusammen, die 2007 eine gesetzliche Regelung als realitätsfern und zu verfrüht empfinden.184 Beachtlich erscheint, dass einerseits eine Stärkung der Patientenverfügung vorangetrieben, gleichzeitig jedoch festgestellt wird: „In der ärztlichen Praxis haben sich insbesondere die Vorsorgevollmacht und eine Kombination aus Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung bewährt.“185 Aber dennoch bleibt das Augenmerk bei der Verfügung, anstatt die empfundenen Vorzüge der Vollmacht zu reflektieren. Präferiert wird die Vorsorgevollmacht oder das Kombinationsmodell auch, um Fehlinterpretationen bei unklar beschriebenen Situationen zu vermeiden. In Ähnlichkeit zu den oben dargelegten Einstellungen der Kirchen erfolgt die implizite Hochschätzung der Vorsorgevollmacht im Hintergrund bei offensiver Diskussion der Patientenverfügung. Gleichwohl bleibt die Ansicht bestehen und wird auf dem 110. Deutschen Ärztetag im Jahre 2007 bekräftigt, dass aufgrund der Individualität jedes Sterbeprozesses eine umfassende rechtliche Regelung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht nicht sinnvoll erscheint, die Einführung dieser ins Betreuungsrecht hingegen schon.186 Mit einem Schreiben an Mitglieder des Bundestags vom 17.11.2008 nimmt die Bundesärztekammer in Vertretung durch ihren damaligen Präsidenten Jörg-Dietrich Hoppe Stellung zu den drei im Bundestag diskutierten Referentenentwürfen zur Änderung des Betreuungsrechts. Hierin wird die Fragwürdigkeit einer gesetzlichen Regelung erneut unterstrichen, zumal bereits Patientenverfügungen als generell beachtenswert aufgefasst werden. Sie formulieren explizit: „Wir Ärztinnen und Ärzte halten ein solches Vorhaben, Patientenverfügungen und damit die Frage nach dem Umgang mit dem Lebensende gesetzlich im Detail regeln zu wollen, für mehr als fraglich, weil es zu mehr Rechtsunsicherheit führen wird, wo bereits Rechtsklarheit besteht. Denn nach geltendem Recht ist der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille grundsätzlich verbindlich. Patienten haben damit schon jetzt die Möglichkeit eine Vorausverfügung zu hinterlegen, ohne dass sie fürchten müssen, dass ihr darin erklärter Wille ignoriert wird.“187

Geschuldet ist diese Auffassung nach wie vor der Erkenntnis der Individualität von Krankheit und Sterben sowie der Schwierigkeit, eine vali184

Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 67f.; Bundesärztekammer, Regelung. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2007, 892. 186 Vgl. Bundesärztekammer, Regelung. 187 Bundesärztekammer, Musterschreiben. 185

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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de, umfassende und alle Eventualitäten durchdenkende Patientenverfügung herzustellen. Sie präferieren vielmehr den Ausbau und „ein klares Bekenntnis zu Palliativmedizin, Hospizbewegung und einer Stärkung der Sterbebegleitung“188 sowie die Unterstreichung der Bedeutung einer Vorsorgevollmacht. Erneut wird deutlich, dass die Bedeutsamkeit der Vorsorgevollmacht – auch im qualitativen Unterschied zur Patientenverfügung – erkannt, aber weder ausdrücklich und vordergründig von der Bundesärztekammer selbst noch vom Bundestag aufgenommen und starkgemacht wird. Auch in den überarbeiteten Grundsätzen zum Umgang mit Vorsorgedokumenten von 2010189 und auf ähnliche Weise von 2013190 wird stets die Vorsorgevollmacht sehr hoch geschätzt. Sie „ist das am ehesten geeignete Instrument, um für den Fall der eigenen Geschäfts- oder Einwilligungsunfähigkeit Vorsorge zu treffen und dem Willen Geltung zu verschaffen.“191 Ebenso wird die Kombination dieser mit der Patientenoder Betreuungsverfügung nahegelegt, um Handlungskriterien speziell zur Erleichterung für den Vollmachtnehmer in schwierigen Situationen zu übermitteln. Aber nicht nur für die Vertretungsperson, sondern auch für behandelnde Ärzte sind Vorteile zu nennen. Durch die Vorsorgevollmacht – oder auch mithilfe einer Betreuungsverfügung – sind Ansprechpartner für den Arzt bekannt und ein Dialog ist möglich.192 Weiterhin wird die – ja auch rechtsgültige – Auffassung vertreten, dass eindeutige und auf die Situation zutreffende Patientenverfügungen ärztliches Handeln unmittelbar binden bzw. vorhandene Betreuer oder Bevollmächtigte für die Wirksamkeit der Verfügung eintreten müssen.193 Die Notwendigkeit einer ärztlichen Aufklärung wird darüber hinaus hochgeschätzt. Präferiert wird dabei die Beratung als wichtige Expertenmeinung, um zu einer reflektierten Festlegung gelangen zu können. Der Arzt „kann wesentlich dazu beitragen, die Meinung des Patienten zu verbessern und abzusichern. Er kann dem Patienten nicht nur das 188

Bundesärztekammer, Musterschreiben. Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlung 2010. 190 Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlung 2013. Hierin wird zudem auf „aktuelle Fragestellungen zum Verhältnis von Patientenverfügung und Organspendeerklärung“ (Bundesärztekammer, Empfehlung 2013, 1580) verweisen, welche in einem Arbeitspapier gebündelt wurden. Vgl. dazu Bundesärztekammer, Arbeitspapier. 191 Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 878. 192 Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 878. 193 Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 879. 189

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Für und Wider seiner Entscheidung vor Augen führen, sondern ihm durch die Aufklärung auch Ängste nehmen.“194

Die Initiative zum Gespräch soll, bis auf einige Fälle, in denen es die Fürsorgepflicht des Arztes gebietet (z. B. bei absehbarer Einwilligungsunfähigkeit des Patienten), allerdings vom Patienten ausgehen.195 Es wird ebenfalls als Aufgabe des Arztes angesehen, über den Konflikt von prospektiven Festlegungen und aktualen Wünschen in real eingetretenen Situationen aufzuklären. Aufgrund einer solch fachkundigen Beratung in medizinischer Hinsicht wird, so die Meinung der Bundesärztekammer, dem Patienten eine fundierte Entscheidungsgrundlage geboten.196 Der Arzt sieht sich nach wie vor in erster Linie verantwortlich für die Indikationsstellung von Behandlungs- und Verfahrensmöglichkeiten sowie für die Feststellung, ob der Patient in der aktuellen Situation einwilligungsfähig ist oder nicht. Ist dies der Fall, so trifft er selbst die Entscheidungen für das weitere Vorgehen, andernfalls muss der Betreuer oder Bevollmächtigte mithilfe des mutmaßlichen Patientenwillens oder den Festlegungen in einer Patientenverfügung diese Entscheidung treffen. Ist kein Bevollmächtigter benannt und auch kein Betreuer bestellt, so prüft vorrangig der Arzt, ob er Anweisungen aus der Patientenverfügung auf die aktuelle Situation umsetzen kann und verschafft dieser Geltung. Andernfalls beantragt er die Betreuerbestellung beim zuständigen Gericht.197 Notfallsituationen sind anders zu bewerten als obige Grundsätze. Hier „ist die medizinisch indizierte Behandlung einzuleiten, die im Zweifel auf die Erhaltung des Lebens gerichtet ist.“198 In den aktuellsten Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung von 2011 wird ein rechtlich unklar geregelter Fall expliziert. Diesen Grundsätzen entspricht es, dass ein Arzt eine auf die Behandlungssituation zutreffende Patientenverfügung direkt umsetzen kann, ohne ein Bestellungsverfahren eines Betreuers einzuleiten.199 Nach wie vor werden Willensbekundungen anhand von Vorsorgedokumenten als „wesentliche Hilfe für ärztliche Entscheidungen“200 gewertet. 194

Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 880. Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 880. 196 Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 880. 197 Vgl. Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 881f. 198 Bundesärztekammer, Empfehlungen 2010, 882. 199 Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze 2011, 347. 200 Bundesärztekammer, Grundsätze 2011, 348. 195

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Die Ärzteschaft vertritt derzeit kein rein positives Verhältnis speziell zur Patientenverfügung und zeigt stets Diskussionsbedarf. Im Deutschen Ärzteblatt von 2011 wird das Thema, wie oben bereits erwähnt wurde, erneut durch eine exemplarische Befragung von 500 Patienten in einer Gemeinschaftspraxis für Allgemein- und Innere Medizin kritisch dargestellt. Nicht nur die zahlenmäßig noch sehr geringe Verbreitung der Patientenverfügung (nur etwa 13,9 % der Befragten haben eine Verfügung verfasst201 ) deutet auf den noch nicht realisierten Anspruch dieser. Eindrücklich kann zudem eine weitere Diskrepanz kenntlich gemacht werden: Die stärksten Motive, die zur Hochwertung der Verfügung veranlassen, sind das Selbstbestimmungsrecht und Vermeidung von Leiden.202 Dieser Anspruch wird stets, wie die Befragung zeigt, mit der Patientenverfügung in Verbindung gebracht und führt insofern innergesellschaftlich zu ihrer starken Befürwortung. Die Befragung ermittelt hierbei Gründe, die zur Abfassung einer persönlichen Patientenverfügung geführt haben bzw. theoretisch führen würden. Es „stehen das Selbstbestimmungsrecht und die Vermeidung unerwünschter Leiden an erster Stelle, ebenso der Wunsch nach individueller Gestaltung des letzten Lebensabschnitts.“203 Dies ist das theoretische Konstrukt, in der die Verfügung wahrgenommen wird. Die Realität scheint aber von dieser Vorstellung zu differieren. Gerade dieses geforderte Selbstbestimmungsrecht für die letzte Lebensphase entspricht nicht dem realen Wunsch der Befragten, sie fühlen sich, so die Antworten, besser aufgehoben in den Händen ihres Arztes und ihrer Vertrauenspersonen, denen sogar ohne tiefgehende Gespräche über Werte, Wünsche, Vorstellungen und Ängste zugetraut wird, die richtigen Entscheidungen zu treffen.204 Anhand der Befragungsergebnisse lässt sich dies wie folgt deutlichmachen: Das generell sehr hohe entgegengebrachte Vertrauen sowohl gegenüber nahestehenden Personen als auch gegenüber dem Hausarzt pointiert sich in dem Motto: „Sie werden schon das Richtige für mich tun, wenn ich nicht mehr für mich selbst entscheiden kann!“ Viele Befragte unterstreichen dies. Zudem wird deutlich, dass dennoch kaum Kommunikation über Krankheitssituationen und die eigenen Wünsche und Vorstellungen im Familien- und Freundeskreis stattfindet. Die Autorin betitelt diesen Sachverhalt mit „Vertrauensvorschuss“205 . Infolgedessen resultiert die Frage, aufgrund welcher Anhaltspunkte und Äuße201

Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 520f. Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 521. 203 Geitner, Grundvertrauen, 521. 204 Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 521. 205 Geitner, Grundvertrauen, 521. 202

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

rungen Personen im Ernstfall für ihre Angehörigen oder Vertrauten entscheiden können.206 Dennoch besteht keinerlei Zweifel aufseiten der Befragten, dass sie bei ihren Ärzten und ihrer Familie bzw. Vertrauenspersonen „in schwierigsten Lebenssituationen gut aufgehoben“207 sind. Hier zeigt sich die große Diskrepanz einerseits zur Forderung nach Selbstbestimmung, andererseits dazu, dass dieses Recht entsprechend der Befragung nicht wahrgenommen werden will in Situationen der Krankheit und des Sterbens. Ein Grund kann in der Überforderung durch die Situation gesehen werden. So kommt die Autorin zu der Feststellung, dass sich vor diesem Hintergrund gefragt werden muss, „ob es nicht unethisch ist, einem Menschen eine Entscheidung in schwierigen Lebenssituationen abzuverlangen, die ihn mental, emotional und von der Tragweite her überfordert.“208 Um diese Einschränkungen zu wissen und sie sich bewusst zu machen ist Aufgabe aller Beteiligten im Diskurs. Eine angemessene Aufklärung – besonders auch zu medizinischen Möglichkeiten und laienhaften Fehleinschätzungen – ist dringend notwendig, so der Tenor, um sich angemessen mit der Thematik befassen zu können. Zum anderen sollte sich eine Gesprächskultur auch mit Verwandten oder Vertrauenspersonen etablieren können, die den Austausch über eigene Vorstellungen, Ängste und Wünsche anstrebt. Dieser Auseinandersetzungsprozess, so die Empfehlung des Aufsatzes, kann helfen der Thematik angemessener zu begegnen und reflektierter mit den eigenen Ängsten umzugehen. Fehleinschätzungen zu minimieren ist ein Ziel.209 Damm fasst die Entwicklung zur Stärkung der Patientenautonomie seit den 60er und 70er Jahren wie folgt zusammen: „Insgesamt ist aus der Entwicklung aus medizinrechtlicher Sicht der ‚Selbstbestimmungsgedanke als neues Paradigma‘ hervorgegangen. Er prägt den Wandel von ärztlichem Paternalismus zu Partnerschaftlichkeit der Arzt/Patient-Beziehung im Sinne einer Einbeziehung des Patienten als (Mit-)Entscheidungssubjekt. Dies führt, was nicht immer die gleiche Aufmerksamkeit erfährt, zu einer folgenschweren normativen Akzentverlagerung vom Patientenwohl zum Patientenwillen, von ‚salus aegroti suprema lex‘ zu ‚voluntas aegroti suprema lex‘.“210 206

Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 521. Geitner, Grundvertrauen, 522. 208 Geitner, Grundvertrauen, 522. 209 Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 522. 210 Damm, Imperfekte Autonomie, 377f. (Formatierung d. Vf.). 207

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Deutlich wird also der Paradigmenwechsel zur Stärkung des informed consent und zur Etablierung einer partnerschaftlichen Entscheidungssituation, bei der besonders die Rechte des Patienten eine Stärkung erfahren. Ebenso beachtet werden muss hierbei der Normenwechsel vom Patientenwohl hin zum Patientenwillen. In diesem Zusammenhang stehen auch ethische Fragen, wie beispielsweise nach dem Verhältnis von Wohl und Wille oder von Lebensschutz und Selbstbestimmung. Zu fragen ist dabei im Speziellen, wie der Anspruch des Patienten, partnerschaftliches (Mit-)Entscheidungssubjekt darstellen zu können, realisiert werden kann. In den Beiträgen der Bundesärztekammer zeigt sich paradigmatisch eine gewisse Weiterentwicklung sowie eine diskussionsbegleitende Akzentverlagerung in ihren gängigen Einstellungen und Empfehlungen. Dennoch persistieren gerade auch in der Ärzteschaft kritische Anfragen und es wird „eine juristische Regulierung individueller Krankheitsund Sterbeverläufe für eher problematisch“211 gehalten. Ein konstanteres Bild zeigt sich in den nachfolgend dargestellten Stellungnahmen der Bundesnotarkammer. Im Rückblick auf diese exemplarischen Positionen der Bundesärztekammer ist nochmals zu betonen, dass hier einerseits eine Stärkung der Patientenrechte als positiv erachtet wird, andererseits aber Selbstbestimmung nicht ausschließlich isoliert wahrgenommen werden kann. Hinweise dazu sind etwa die betonte Notwendigkeit von Expertenmeinungen zur Abfassung valider Patientenverfügungen und eine generelle Betonung des Gesprächs – zwischen Arzt und Patient sowie zwischen Vertrauenspersonen. 3.4 Stellungnahmen der Bundesnotarkammer In Pressemitteilungen der Bundesnotarkammer bzw. der Notarkammern der Länder ist durchgängig eine starke Präferenz der Vorsorgevollmacht zu erkennen, wie es sonst kaum in anderen Stellungnahmen der Fall ist. Im Gegensatz zu den vorherigen Darstellungen steht die Vorsorgevollmacht klar im Vordergrund und die deutliche Haltung, eine Patientenverfügung stets in Kombination mit der Vorsorgevollmacht abzufassen, zieht sich durch die Jahre hindurch. Bereits 2004 wird die Erteilung einer Vorsorgevollmacht angeraten, hingegen eine Patientenverfügung eher als (ergänzende) Möglichkeit gesehen, unerwünschte Behandlungsmaßnahmen abzulehnen.212 211 212

Dorsel, 1000 Tage, 14. Vgl. Bundesnotarkammer, Selbstbestimmung.

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3. Die Debatte um die Patientenverfügung

Im darauffolgenden Jahr wird in einer erneuten Pressemitteilung die Notwendigkeit eines Vorsorgebevollmächtigten bei der Umsetzung und Geltendmachung einer Patientenverfügung hervorgehoben. Deutliches Votum hier ist, dass eine Patientenverfügung allein nicht auszureichen scheint: „Wer optimal vorsorgen möchte, sollte zusätzlich zur Patientenverfügung einer Person des Vertrauens eine Vorsorgevollmacht erteilen.“213 Der gleiche Gedanke wird 2008 noch deutlicher ausgesprochen: „Auch die beste Patientenverfügung nützt ohne eine begleitende Vorsorgevollmacht kaum.“214 Weitere Vorzüge einer Vollmacht werden zudem expliziert, etwa bedingt durch ihre unterschiedlichen Wirkbereiche. So gilt sie für alle Bereiche des persönlichen Lebens, nicht ausschließlich für den Gesundheitsbereich, sondern z. B. auch für Bank-, Behörden- oder Versicherungsangelegenheiten. Die Einrichtung des Zentralen Vorsorgeregisters erleichtert, so die Auffassung der Bundesnotarkammer, im Ernstfall das Auffinden der Vollmacht. Gleichzeitig wird vor dem bloßen Ausfüllen von Musterformularen gewarnt sowie eine notarielle Beratung und Beurkundung hochgeschätzt.215 Eine angestrebte gesetzliche Regelung der Patientenverfügung wird zum Zwecke der Rechtsklarheit bezüglich Form, Wirksamkeit und Beachtung positiv bewertet. Stets wird auf ihre wichtige Verbindung mit einer Vorsorgevollmacht verwiesen.216 Neuere Mitteilungen von 2010 pointieren das bereits Gesagte durch ihre eindeutigen Überschriften: Auf Nummer sicher: Die notarielle Vorsorgevollmacht217 oder Keine Patientenverfügung ohne Vorsorgevollmacht!218 Klares Votum ist, dass (durch notarielle Beratung und Beurkundung) die „Vorsorgevollmacht das beste Instrument zur Vorsorgegestaltung“219 und sogar nahezu „noch wichtiger als eine Patientenverfügung ist“220 . Die Bundesnotarkammer bzw. die Notarkammern der Länder erkennen folglich den Nutzen einer Patientenverfügung, Wünsche und Einstellungen mitzuteilen. Zugleich scheinen sie ein Defizit zu sehen, eine Verfügung ohne fürsorgliche Handlungen von Mitmenschen umsetzen zu wollen. Hier lässt sich eine Angewiesenheit auf die Vorsorgevollmacht unterstreichen, deren Nutzen wiederum von der Bundesnotarkammer 213

Bundesnotarkammer, Leben. Bundesnotarkammer, Jetzt schon. 215 Vgl. Bundesnotarkammer, Jetzt schon; Bundesnotarkammer, Patientenverfügung. 216 Vgl. Bundesnotarkammer, Patientenverfügung. 217 Vgl. Bundesnotarkammer, Auf Nummer sicher. 218 Vgl. Bundesnotarkammer, Keine Patientenverfügung ohne Vorsorgevollmacht. 219 Bundesnotarkammer, Auf Nummer sicher. 220 Bundesnotarkammer, Keine Patientenverfügung ohne Vorsorgevollmacht. 214

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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in ihrer umfassenden Reichweite für alle Bereiche des Lebens gesehen wird. Im Gegensatz zu bestehenden Einschätzungen anderer Disziplinen nimmt die Bundesnotarkammer im Besonderen einen mitunter vernachlässigten Aspekt der Vorsorgevollmacht wahr: Auch sie ermöglicht Selbstbestimmung und Autonomie. Sie garantiert in besonderer Weise, falls notwendig, eine Betreuung durch eine Vertrauensperson – die selbstständig gewählt ist. Hervorgehoben wird dies in aktuellen Flyern der Bundesnotarkammer zum Zentralen Vorsorgeregister.221 Ein (nach wie vor klärungsbedürftiger) Konnex zwischen Autonomie und Fürsorge deutet sich folglich erneut an.

4. Exemplarische Ergebnisse interdisziplinärer Praxisstudien und Beratungsliteratur Für die darzustellende interdisziplinäre Situation beachtenswert erscheinen Beiträge aus der Praxis, die meist dem medizinischen oder pflegerischen Bereich entstammen. In diesem Tätigkeitsfeld kommen Vorsorgedokumente vorwiegend zum Tragen und ihre Praktikabilität sowie sich stellende Problemkonstellationen können im Umgang sichtbar werden. Wichtige Betonung findet auch in diesem Kontext die Aufklärung durch Experten, die als Fundament der Abfassung eines Vorsorgedokumentes angesehen wird, zugleich derweil aber noch nicht ausreichend institutionalisiert erscheint. Die oben dargelegten Beiträge der Ärzteschaft, die ja eo ipso auch im Praxisbezug mit Willensbekundungen anhand von Vollmachten oder Verfügungen konfrontiert sind, haben dies bereits betont.222 Insofern wird die These hervorgebracht, dass ebendiese geforderte fundierte und fachkundige – auch interdisziplinäre – Beratung zuweilen nicht der Realität entspricht, was zugleich auf eine Schwachstelle hindeuten kann. Von Hans-Martin Sass heißt es hierzu: „Die Beratung zu Vorsorgedokumenten und speziell zu Patientenverfügungen erfordert eine Koordinierungsstelle für die Schaffung eines Netzwerks von Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen und Perspektiven.“223 Hochgeschätzt werden Patientenverfügungen zumeist (eine hinreichende Validität vorausgesetzt) in Einrichtungen der Altenpflege, in denen sie als „ein hilfreicher Ausgangspunkt für die Frage nach den individuellen Werten und Wünschen von Menschen“224 angesehen und her221

Vgl. Bundesnotarkammer, Zukunft selbst gestalten. Vgl. May, Selbstbestimmt leben, 3f. 223 May, Selbstbestimmt leben, 3f. 224 May, Selbstbestimmt leben, 4. 222

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4. Exemplarische Praxisstudien und Beratungsliteratur

angezogen werden können. Eine solche Tendenz zeigt sich zudem in praxisbezogenen Modellprojekten vor der neuen Rechtsprechung von 2009. Sie zielten darauf ab, die Selbstbestimmung uneingeschränkt zu akzeptieren.225 Exemplarisch angeführt wird hier das Modellprojekt LIMITS226 (2001 bis 2004) mit dem Ziel der „Weiterentwicklung und Absicherung einer humanen Sterbekultur“227 sowie das Verbundprojekt228 Selbstbestimmt leben – menschlich sterben – füreinander entscheiden (bis 2009) zur „Förderung der Selbstbestimmung in besonderen Lebenslagen“229 mit dem Teilprojekt Abschied leben – Sterbebegleitung in der stationären Altenhilfe zur Qualitätssteigerung einer vernetzten Abschiedskultur in Seniorenzentren. Vordergründig fällt bereits auf, dass das Thema Selbstbestimmung einen breiten Raum einzunehmen und deren Stärkung Ziel der Vorhaben zu sein scheint. Während der Durchführung der Projekte erscheint hingegen eine isolierte Stärkung der Selbstbestimmung problematisch. Eine Reduzierung auf Autonomie und Selbstbestimmung offenbart sich als ungenügend, sodass sich eine inkludierende Verbindung zum Aspekt Fürsorge nahelegt. Beim Modellprojekt LIMITS wird dazu herausgestellt: „Im Verlauf der umfangreichen Forschungsarbeiten wurde deutlich, dass Autonomie nicht alleiniges Ziel einer humanen Sterbekultur ist. Ihr muss eine Form der Fürsorge zur Seite gestellt werden, die nicht die des herkömmlichen – oftmals medizinisch/ ärztlich begründeten – Paternalismus sein kann.“230

Noch expliziter drückt Schulze es selbst aus: „Wir hatten uns zu Projektbeginn die Förderung von Autonomie am Lebensende auf die Fahne geschrieben und haben im Projektverlauf festgestellt, dass diese Autonomie nicht alleine stehen darf, sondern dass es ebenso der Fürsorge – oder Fürsorglichkeit – bedarf, um ethisch schwierigen Entscheidungssituationen gerecht zu werden.“231

Dennoch bleibt eine Stärkung der Patientenverfügung verbunden mit der der Selbstbestimmung von ihrer Seite zu befürworten.232 Ersichtlich wird jedoch in obigen Zitaten von einem Praxisbezug her ein nicht 225

Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 5. Vgl. Schulze, Selbstbestimmt. 227 Schulze, Selbstbestimmt, 19. 228 Vgl. May, Selbstbestimmt leben. 229 May, Selbstbestimmt leben, 15. 230 Schulze, Selbstbestimmt, 19. 231 Schulze, Selbstbestimmt, 47. 232 Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 21. 226

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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zu vernachlässigender Aspekt: Der Aspekt der Fürsorge wird als notwendige Ergänzung zu Selbstbestimmung und Autonomie angesehen. Fürsorge soll – so die Erfahrung – Autonomie nicht ausschalten, sondern mit ihr in ein Verhältnis treten, um so erst die Autonomie zu komplettieren. Ferner wird herausgestellt, dass eine solche Fürsorge eben nicht die des negativ verstandenen vormundschaftlichen Paternalismus sein kann. Ausgedrückt werden hier die Erfahrung und die Wahrnehmung, was nicht sein soll. Eine genauere inhaltliche Füllung ist an dieser Stelle nicht möglich. Insofern sei der Verweis auf die theologische Perspektive dieser Arbeit gegeben, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein genaueres Verständnis dieser Wechselwirkung von Autonomie und Fürsorge zu thematisieren und mithilfe geeigneter Konzeptionen inhaltlich zu füllen, um so schließlich ein Weiterkommen in dieser mit Fragezeichen gefüllten Thematik erwarten zu können. „Eine wesentliche Aufgabe des Modellprojekts LIMITS bestand darin, zu erforschen, welche Anliegen und Probleme alte Menschen – ob zu Hause oder im Altenheim lebend, ob 60 oder über 80 Jahre alt, ob gesund oder schwerkrank – im Hinblick auf ihr Sterben haben. Wie stehen diese Anliegen und Probleme in Beziehung zu den Schwierigkeiten der Menschen, die sie begleiten?“233

Dazu zählt in besonderer Weise eine Annäherung an ihre Lebenswelt, um zu den Empfindungen bezüglich ihres eigenen Sterbens einen Zugang zu finden.234 „Vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse wurden Konzepte und Instrumente entwickelt, die dazu beitragen können, dass Selbstbestimmung in der letzten Lebensphase zum wegweisenden Moment der Sterbebegleitung wird.“235 Interviews und Befragungen wurden durchgeführt, bei denen eindrücklich gezeigt wird, „dass Sterben und Tod ganz individuelle Ereignisse, ganz persönliche Themen sind, die mit der jeweiligen Biographie und den eigenen Wertvorstellungen, Lebenserfahrungen und der aktuellen Lebenssituation zusammenhängen.“236 Große Übereinstimmung ist bei der zunehmenden Angst vor medizinischen Möglichkeiten nachzuweisen, die mitunter mit der Vorstellung eines hinausgezögerten, künstlich verlängerten, fremdbestimmten Tod verbunden sind. Gewünscht wurde dabei oft, „den ‚eigenen‘ Tod sterben zu können.“237 Wichtiger Tenor ist stets die 233

Schulze, Selbstbestimmt, 59. Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 59. 235 Schulze, Selbstbestimmt, 59. 236 Schulze, Selbstbestimmt, 64. 237 Schulze, Selbstbestimmt, 64. 234

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4. Exemplarische Praxisstudien und Beratungsliteratur

aufrichtige Achtung der Person, die auch im Sterbeprozess entgegengebracht werden soll.238 Die große Mehrheit der Befragten hat keine genaue Kenntnis zum Thema Vorsorgedokumente, speziell zur Patientenverfügung.239 Auch bezüglich der Selbstbestimmung in Verbindung mit Vorsorgedokumenten konnte bei Befragungen herausgestellt werden, dass (hier ja noch zeitlich vor der gesetzlichen Regelung von 2009) Hausärzte, die ihre Patienten meist jahrelang kennen, die Selbstbestimmung auch in und durch die Patientenverfügung hochschätzen und sich an diesen Festlegungen orientieren. Ein anderes Bild zeigt sich bei Vertretungsärzten, denen jene Patienten und ihr Krankheitszustand zumeist unbekannt sind. Zur persönlichen Absicherung des Arztes, beispielsweise gegen den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung, bleiben Wünsche und Verfügungen teils unbeachtet. Dieses Problem scheint, so der vermittelte Eindruck, insbesondere auch durch mangelhafte Erreichbarkeit der Hausärzte, v. a. am Wochenende, bestärkt zu werden.240 Wichtiger Ansatzpunkt für die Wirksamkeit von Verfügungen ist also eine bestehende Beziehung nicht nur zwischen Arzt und Patient, sondern auch zu Angehörigen und Vertrauten. Im entsprechenden Diskurs können Wünsche und Vorstellungen klar erscheinen und ein gegenseitiges Vertrauen und ein aufeinander Verlassen kann entstehen. Aus dem Projekt wird zudem der Impuls gegeben, dass sich auch Pflegende leicht überfordert fühlen können, beispielsweise mit der Entscheidung bezüglich der Unterlassung oder der Durchführung einer Krankenhauseinweisung.241 Aus der Notsituation heraus wird mitunter ein fremder Notarzt konsultiert. Als Gründe hierfür werden neben der Überforderung und Unsicherheit sowie ggf. fehlender familiärer Unterstützung auch die bis dato rechtlich unklarere Situation zu Vorsorgedokumenten angesehen.242 Unsicherheit oder ein Sicherheits- und Absicherungsbedürfnis der Beteiligten erscheint, so der Tenor, als wichtige Ursache für die Missachtung eines Patientenwillens. Anhand von Befragungen wurde überdies der große Verdrängungsaspekt des Themas Sterben und Tod erneut unterstrichen. Eine persönliche Auseinandersetzung und Vorbereitung scheint oft nicht oder nur unzureichend zu erfolgen.243 238

Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 84. Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 72f. 240 Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 103f. 241 Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 110f. 242 Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 108. 243 Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 113. 239

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Generell wahrgenommen wird abermals eine noch nicht ausreichend implementierte Beratungskultur, besonders zur Patientenverfügung.244 Deren Verbesserung sollte durch das Modellprojekt, u. a. auch durch Beratungssprechstunden, gewährleistet werden und dabei einen persönlichen, tiefgehenden Auseinandersetzungsprozess einleiten sowie fundiert begleiten.245 Festzustellen ist erneut ein thematischer Fokus auf das Patientenverfügungsdokument. Gleichwohl zeigt sich eine gedankliche Verbindung zur Vorsorgevollmacht. Jene dient sodann zur Sicherung oder Versicherung der Patientenverfügung. Das hier dargestellte Projekt LIMITS „legte den Schwerpunkt auf Patientenverfügungen, da durch sie die Selbstbestimmung am Lebensende mittels der geäußerten Wünsche betont wird. Eine Patientenverfügung sollte mit einer Vollmacht für Gesundheitsangelegenheiten kombiniert werden. Wenn eine Person benannt und bevollmächtigt ist, die zur Patientenverfügung Auskunft geben kann, ist größere Sicherheit für die Umsetzung eigener Wünsche gegeben.“246

Festgehalten werden kann also die Befürwortung und Stärkung der Patientenverfügung – die stets als Garant der Selbstbestimmung angesehen wird – bei gleichzeitigem Verweis auf wichtige Defizite. Diese beschränken sich nicht nur auf die (damals) noch ungenügende Beratungskultur und Rechtslage, sondern zeigen auch das genuine Angewiesensein der Patientenverfügung auf die Umsetzung durch Andere. Insofern wird die Verfügung – wenn auch nicht immer explizit – stets in starker Verbindung zur und wichtiger Ergänzung durch die Vorsorgevollmacht gedacht. Diese Erfahrung des Modellprojekts LIMITS im Bereich der Praxis veranlasste offenbar zur Veränderung der ursprünglichen Zielsetzung zur absoluten Stärkung der Selbstbestimmung. Auch das Folgeprojekt Selbstbestimmt leben – menschlich sterben – füreinander entscheiden definiert die Schaffung und Wahrung einer persönlichen Ebene sowie eines individuellen Netzwerkes beispielsweise durch Selbsthilfegruppen, der Initiierung eines Trauercafés aber besonders auch durch fundierte Beratungsangebote als ihre Aufgabe. Speziell die Beratung zur Patientenverfügung und anderen Vorsorgedokumenten wird gezielt ausgebaut247 , da auch hier der große Beratungsbedarf stets sichtbar erscheint.248 Die Implementierung von Angeboten 244

Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 126. Vgl. Schulze, Selbstbestimmt, 194. 246 Schulze, Selbstbestimmt, 188. 247 Vgl. May, Selbstbestimmt leben, 74f.; 78ff. 248 Vgl. May, Selbstbestimmt leben, 128. 245

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4. Exemplarische Praxisstudien und Beratungsliteratur

„für die Begleitung am Lebensende“249 ist Ziel des Projekts, welches die Selbstbestimmung hochschätzt und zu stärken versucht, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit einer umfassenden Beziehungsstruktur unterstreicht. „Die individuelle Begleitung von Sterbenden steht im Mittelpunkt sowie die Verbesserung der Lebensqualität und ein gutes Miteinander aller am Prozess Beteiligten.“250 Die Schaffung einer empathischen Beziehungsebene erscheint somit unerlässlich für eine umfassende Begleitung am Lebensende. Mehrfach wurde bereits die Fülle von Beratungsliteratur herausgestellt. Abgesehen von unterschiedlichsten Handreichungen und Formularvordrucken soll auf ein Autorenteam hingewiesen werden, das besondere Praxisnähe gepaart mit interdisziplinärem Sachverstand aufzuweisen scheint. Der Jurist und Gerontologe Thomas Klie und der Mediziner und Hospizleiter Johann-Christoph Student beteiligen sich schon seit Jahren an der Diskussion um Patientenverfügungen, besonders auch durch ihre leicht verständlich wirkende und damit zugängliche Beratungsliteratur. Eine absolute Alleinstellung der Patientenverfügung entspricht nicht ihrer Auffassung, wodurch sie immer wieder die notwendige Kombination von Verfügung und Vollmacht herausstellen.251 Einen neuen Ansatz formulieren sie in ihrem 2011 erschienenen Ratgeber Patientenverfügung – So gibt sie Ihnen Sicherheit.252 Nicht das gesamte Konzept von Patientenverfügungen ist infrage zu stellen, aber eine Veränderung ist notwendig: Eine „andere Patientenverfügung“253 wird gebraucht, so ihre Forderung. Grundlage dessen ist ihre praxisnahe Einsicht, dass die Vorsorgevollmacht primär aufgrund ihres dialogischen Charakters einen Mehrwert gegenüber der Patientenverfügung aufweist.254 Und so kann der Satz formuliert werden, der erst in der neusten Erscheinung ihres Buches an Deutlichkeit gewinnt: „keine Patientenverfügung ohne Vorsorgevollmacht.“255 „Ohne personale Vertretung kann eine Patientenverfügung in der Praxis ganz unterschiedlich ausgelegt werden. Es bedarf immer einer Person, die sich für die richtige Auslegung, aber auch für die Befolgung der Patientenverfügung einsetzt.“256 Diese Einsicht durchzieht ihre gesamten Darstellungen. Der Mehrwert einer Vorsorgevollmacht sollte, so das Votum, bei der 249

May, Selbstbestimmt leben, 246. May, Selbstbestimmt leben, 246. 251 Vgl. Klie, Die Patientenverfügung. 252 Vgl. Klie, Patientenverfügung. 253 Klie, Patientenverfügung, 8. 254 Vgl. Klie, Patientenverfügung, 18. 255 Klie, Patientenverfügung, 144. 256 Klie, Patientenverfügung, 194. 250

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Niederschrift einer Verfügung nicht vernachlässigt werden. Dennoch wird der Wert einer Patientenverfügung trotz vorhandener Probleme, die vor Augen stehen, nicht diskreditiert. Dieser kann stärker in Situationen zum Tragen kommen, in der bereits absehbar erscheint, was für ein Krankheitsbild aufgetreten ist, um daraufhin auch gezielte medizinische Beratung und Aufklärung zu erlangen. Fundierte und situationsangepasste Aussagen sind so zu treffen.257 Zudem wird das Konzept einer „Dialogischen Vorausplanung“258 vorgestellt, bei der ein kontinuierlicher Kommunikationsprozess zwischen allen Beteiligten stattfindet. Ziel soll es sein, im Dialog dem Wesen des Menschen gerecht zu werden und folglich auch Veränderungen zu berücksichtigen. Hierbei steht Aktualität stärker als langfristige Vorausplanungen im Zentrum.259 In der Praxis begegnet folglich eine Reduzierung auf Autonomie als ungenügend, während sie notwendig in ein Verhältnis zur Fürsorge zu setzen ist. Dieses verdeutlicht die Erforderlichkeit fundierter Beratungskultur, einer guten Arzt-Patient-Beziehung sowie von Sterbebegleitung, die die Individualität von Sterben und Tod berücksichtigt und dem Menschen als Ganzem Achtung entgegenbringt. Dazu finden der Dialog, die Begleitung und das Miteinander Betonung.

5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen In der vorausgegangenen Darstellung der Debatte um die Patientenverfügung sowie der bisherigen Praxiserfahrungen mit dieser wurde bereits ein Einblick dahingehend gewährt, dass disziplinübergreifend verschiedenste Kritikpunkte an die Verfügung gerichtet werden. In besonderer Weise ist die Praxis mit Schwierigkeiten im Umgang mit der Patientenverfügung konfrontiert, die gleichwohl durch das Patientenverfügungsgesetz bislang eher nicht aufgelöst wurden. Ersichtlich ist längst, dass diese Diskussionsfelder auch nach der gesetzlichen Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht keineswegs als abgeschlossen oder überwunden betrachtet werden können, sie folglich nach wie vor real existieren oder gar von Neuem entfaltet werden. Dennoch wurden vor der Regelung der Patientenverfügung im Jahre 2009 im Bundestag wichtige Unklarheiten aktiv debattiert, die durch die Konsolidierung des Gesetzesentwurfs in eine gezielte Entscheidung – nämlich für die Stärkung der Verfügung – mündeten. Lange bestehende Diastasen er257

Vgl. Klie, Patientenverfügung, 160. Klie, Patientenverfügung, 177. 259 Vgl. Klie, Patientenverfügung, 175ff. 258

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

scheinen aber nach wie vor nicht geklärt und bis heute steht eine Konsensfindung aus. Es ist sogar wieder eine Zunahme an kritischer Diskussion nachzuzeichnen. Insofern erscheint eine Dringlichkeit zu bestehen, die in Vergangenheit und ebenso gegenwärtig debattierten Problemfelder rund um die Patientenverfügung aufzuzeigen und daraufhin die bestehende Kritik reflektieren zu können. Gerade die Permanenz der Dissense fordert dazu heraus, sich mit diesen Kritikpunkten auseinanderzusetzen, um so wiederum den Grund und Ansatz der Debatten nachvollziehen zu können. Vor dem Hintergrund dieser Sachlage ist es unumgänglich, vorhandene Problemfelder für eine reflektierte Situationsanalyse aufzuarbeiten. In besonderer Weise stehen für die vorliegende Arbeit dabei die tangierten theologischen Aspekte im Fokus. Mehrfach wurde bereits darauf verwiesen und im Folgenden wird weiter deutlich werden, dass grundlegend anthropologische Fragestellungen zu Sein und Aufgabe des Menschen im Zusammenhang zu den Dissensen stehen. Daraufhin wird schon angedeutet, dass notwendige Linien einer anthropologischen Konzeption, die auf die vorhandenen Dissense reagiert, eine Zieldimension dieser Arbeit benennt. Dabei wird stets zu prüfen sein, inwiefern die Vorsorgevollmacht den vorhandenen Problemen begegnet, sie befragt und ggf. auch beantworten kann. Zudem wird konkretisiert, dass Fragen nach einem Verständnis sowie einem Verhältnis von Autonomie und Fürsorge auch hier ein weiteres Zentrum darstellen. In diesem Zusammenhang soll einleitend nochmals die Intention dieses Kapitels verdeutlicht werden: Obwohl der vorliegende Inhalt sich hauptsächlich auf die Darstellung von Problemkonstellationen in Bezug auf die Patientenverfügung fokussiert, so liegt das Bestreben nicht darin, eo ipso die Patientenverfügung zu diffamieren. Vielmehr reagiert das Kapitel darauf, dass gerade im Rückblick auf die Debatte viele unüberwundene und zeitlich resistente Dissense existieren. Insofern soll diese Aufarbeitung gerade die Persistenz – die eindrücklich auch in der Praxis unterstrichen werden konnte – ernst nehmen und in weiterer Konsequenz hierauf und hierzu anschließend auch die Vorsorgevollmacht ins Gespräch bringen. Dabei wird wahrzunehmen sein, welche Fragen des Menschseins hinter diesen Dissensen stehen, um dann im weiteren Verlauf der Arbeit anstreben zu können, auf welche Weise besonders die Theologie hier zu reagieren scheint. Zudem sollte nicht verkannt werden, dass womöglich in der bisherigen öffentlichen Darstellung der Patientenverfügung vorhandene Schwierigkeiten eher wenig thematisiert und daher (auch öffentlich) unreflektiert bleiben, sodass ein weitgehend positives Bild in der Gesellschaft entsteht und die Verfügung

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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mitunter uneingeschränkte Fürsprache erhält. Zu einer ausgewogenen Beschäftigung mit dem Thema gehört insofern die Reflexion der Dissense notwendigerweise hinzu. Methodisch richtet sich das vorliegende Kapitel darauf aus, die im Diskurs über die Patientenverfügung auffindbaren Kritiken und Problemstellungen deskriptiv aufzuführen, zu klassifizieren und schließlich in Ausrichtung auf anthropologische, und damit auch theologische Fragestellungen weiterzudenken. Die aus den Problemfeldern resultierenden Konsequenzen sind sodann vor Augen zu stellen. Alle aufgeführten Argumente spiegeln einen exemplarischen Charakter wider und sind keineswegs sui generis zu verallgemeinern. Ihre Thematisierung erfährt speziell dadurch Berechtigung, da diese Dissense in der Debatte und darüber hinaus vorfindlich sind. 5.1 Gesellschaftlich bedingte Dissense zur Patientenverfügung In der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts erscheint die Vorstellung eines autonomen und selbstbestimmten Lebens zunehmend erstrebenswert, wie bereits die vorausgegangenen Kapitel verdeutlichen konnten.260 „Seit den 1960er Jahren hat sich in westlichen Industrienationen ein Wandel der Lebensvorstellungen vollzogen. Dessen Kern bildet das Streben nach Selbstverwirklichung, Autonomie und persönlichem Glück.“261 Deshalb können gerade Situationen des Sterbens oder der Äußerungs-, Handlungs- und Einwilligungsunfähigkeit Sorge bereiten, in denen genau dieses Ideal hinfällig geworden ist. Es kann nicht mehr (ausschließlich) selbstbestimmt und unabhängig von Anderen agiert werden. Hilfe und Fürsorge durch Mitmenschen werden nicht selten existenziell. Die Patientenverfügung – so ihr Anspruch – bietet ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung in Krankheitssituationen und am Lebensende. Sie soll eine Hilfe sein, das eigene Leben nicht durch andere Personen und deren Entscheidungen beeinflussen zu lassen.262 Bei der Wahrnehmung bestehender Einschätzungen zur Patientenverfügung wurde und wird hingegen deutlich, dass diese Art der Vorausbestimmung nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten ist. Einige grundlegende Entwicklungen haben Einfluss auf die Patientenverfügung und ihr vermitteltes Bild.263 Etwa prägen gesellschaftliche Entwicklungen die Sicht auf und den Umgang mit dem Tod. Zu nennen 260

Vgl. Eibach, Menschenwürde, Menschenrechte, 3. Eibach, Menschenwürde, Menschenrechte, 3. 262 Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 14f. 263 Vgl. zudem Kapitel III.1 und Kapitel III.2. 261

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

wäre diesbezüglich exemplarisch die gestiegene Lebenserwartung der Bevölkerung aufgrund besserer Lebensbedingungen sowie einer weitreichenden medizinischen Versorgung, oder die geringere Säuglingsund Kindersterblichkeit, was dazu führt, den Tod weniger präsent und alltäglich erscheinen zu lassen. Infolge dieser resultierenden Distanz zum Tod ist gesellschaftlich eine zunehmende Furcht vor dem Tod wahrnehmbar. Zudem entwickelt sich eine Vorstellung des Todes, der sich am Ende eines langen, erfüllten Lebens ereignet.264 Die Patientenverfügung scheint folglich auf der einen Seite gerade das Instrument zu sein, welches dem Individualisierungsbestreben einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zur Stärkung der persönlichen Autonomie entspricht. Sie vermittelt sogar Sterben und Tod selbstbestimmt regeln zu können. Gleichwohl kann es als gewisse Diskrepanz zu jenem intendierten Anspruch der Verfügung gedeutet werden, dass sie sich aktuell keiner weiten Verbreitung erfreut – trotz hohen Bekanntheitsgrades und teils offensiver Vermarktung. Als mögliche Ursache konnte dafür bereits – neben der Schwierigkeit der Thematik als solcher – auch die Fülle der unterschiedlichsten Informationsmaterialien und -angebote genannt werden, die keine klare und einheitliche Ausrichtung vermitteln. Zudem lassen etwa die in Kapitel III.3 dargestellten Debatten mitunter den Eindruck vermitteln, dass eine konkrete Informationsund Beratungskultur – auch zu Risiken und Problemen – noch unterentwickelt erscheint,265 sodass ein nicht geringes Gefahrenpotenzial zu ggf. unreflektierten Festlegungen in der Patientenverfügung aufzufinden ist. Im weiteren Verlauf wird dieser Aspekt mit seinen Konsequenzen zunehmend verdeutlicht. Hinzu kommt, dass von Beginn der nun schon zeitlich langen Entwicklung der Patientenverfügung stets kritische Expertenstimmen laut wurden und werden, deren Argumente auch nach Jahren der Diskussion nicht abgeschwächt sind (obwohl diese durch entsprechende Außendarstellung gesellschaftlich kaum bekannt werden266 ). Auch die vermehrte 264

Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 15–17. Den Aspekt einer bislang unterentwickelten Beratungskultur zeigen beispielsweise auch die in Kapitel III.4 exemplarisch dargestellten Praxisstudien auf. 266 Dies wird etwa daran deutlich, dass in Vordrucken, Formularen und Handreichungen, die zur Verfassung einer Patientenverfügung von unterschiedlichster Stelle angeboten werden, weniger die Auseinandersetzung mit dem Themengebiet und folglich eine reflektierte Entscheidung pro oder contra der Niederschrift als vielmehr die Abfassung der Verfügung im Vordergrund steht. Ein Überblick über die bestehenden Dissense wird zumeist nicht thematisiert. Des Weiteren wird nur teilweise der Hinweis auf den Nutzen von Beratungen, etwa von medizinischem Fachpersonal, gegeben. 265

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Propagierung der Verfügungen zeigt keine durchgängig positive Resonanz. Johann-Christoph Student stellte beispielsweise im Jahre 2007, also schon vor der Neuregelung des Betreuungsgesetzes, heraus, dass die Ansprüche an Patientenverfügungen eher nicht erfüllt werden können: „Mit dem verstärkten Einsatz von Patientenverfügungen hat sich allerdings gezeigt, dass diese nicht die in sie gesetzten hohen Erwartungen erfüllen. Es gelingt offenbar nicht, durch eine Patientenverfügung das erhoffte Maß an Sicherheit und Klarheit in allen Situationen zu bringen, in denen Entscheidungen bei bewusstlos gewordenen Menschen anstehen. Denn die komplexen Situationen, die hier eintreten, lassen sich schwerlich einmalig durch eine schriftliche Willensäußerung angemessen bewältigen.“267

Die Beschreibung der Schwierigkeit einer validen Formulierung zu jeglichen eventuellen Zuständen wird im Folgenden durch weitere Anfragen konkretisiert. Ein überdies wichtiger Aspekt, der die Patientenverfügung in manchen Darstellungen kritisch erscheinen lässt, zeigt sich nochmals hinsichtlich der Beratungskultur sowie systembedingt. Beratungs- und Informationsangebote sind zwar zu finden, sie haben teils aber eher die Verbreitung der Verfügung zum Ziel und lassen demnach womöglich Kritikpunkte außer Acht. Eine Anleitung zur Reflexion über das Themengebiet ist selten gegeben. Ein Beispiel hierfür sind etwa allgemein zugängliche Handreichungen und Mustertexte, die oft von keiner kritischen Diskussion eingeleitet werden. Ferner ist bewusst keine fundierte medizinische Beratung systemisch verankert worden. Von Kritikern wird dies teils als Problem charakterisiert, da die Patientenverfügung zumeist medizinische Sachverhalte betrifft, über die als Laie wenig Kenntnis vorherrschen kann und so bestehende Möglichkeiten und Verfahren selten tatsächlich bekannt sind.268 Interessierte müssen, sofern sie von sich heraus daran Interesse haben und eine Notwendigkeit sehen, eigenverantwortlich diese Beratung suchen; ob sie gewährt wird, ist eine andere Frage. Zum einen spielt die bestehende Unklarheit über Patientenverfügungen aufseiten von Ärzten oder medizinischem Personal eine Rolle. Etwa innerhalb der Ausbildungsstrukturen sind diese Aspekte nicht fest implementiert. Zum anderen sind Abrechnungs- und nicht selten Zeitprobleme Ursache für wenig fundierte medizinische 267 268

Student, Warum wir, 1. Vgl. Schöffner, Patientenverfügung, 490.

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

Aufklärung und Beratung. Es fehlt die notwendige Zeit, um ein intensives Gespräch in einen Praxisablauf integrieren zu können. Ferner ist eine Abrechnung eines Beratungsgesprächs unzureichend, wie es Kritiker sehen, in der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) implementiert und kann etwa nach Nummer 34 GOÄ binnen sechs Monaten höchstens zweimal honoriert werden.269 „Ein kompliziertes und ausführliches Beratungsgespräch muß angemessen honoriert werden; das ist aber leider in der Gebührenordnung nicht vorgesehen und muß im Nachgang zum Betreuungsgesetz schnellstens geändert werden [. . . ]. Es ist ein Skandal, daß einfache bildgebende Verfahren höher honoriert werden als schwierige und wiederholte Beratungsgespräche über Sterben und Sterbebegleitung.“270

Diese Faktoren bedingen eine nicht oder nur schwerlich gelingende Etablierung einer vor allem auch medizinischen Beratungskultur, die es Laien ggf. erst ermöglichen kann, reflektiert ihre Festlegungen in der Patientenverfügung einzuschätzen. Ob somit die mitunter vermittelte Realisierung von Autonomie durch die Patientenverfügung tatsächlich gewährleistet ist, lässt sich anfragen. 5.2 Formale Dissense zur Patientenverfügung 5.2.1 Vor und während der Abfassung einer Patientenverfügung Deutlich sollte noch einmal hervorgehoben werden, dass die Situation oder der Zustand, über den zukünftig in den Patientenverfügungen verfügt wird, zumeist eine für den Verfasser unbekannte oder nur wenig bekannte Situation darstellt – sofern sie nicht als Resultat einer Krankheitserfahrung retrospektiv oder im Horizont einer existierenden Krankheit abgefasst wird. Zur Zeit der Abfassung der Verfügung befindet sich der Ersteller i. A. noch nicht in diesem bis dahin rein antizipierten Krankheitszustand. Hinzu kommt, wie bereits angesprochen, dass medizinische Laien eher keinen umfassenden Einblick in bestehende Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten samt Wirkungen und Nebenwirkungen haben. Insofern wird die Frage diskutiert, ob die reale Reichweite der Niederschrift tatsächlich als reflektiert beachtet werden kann.271 Angeführt wird im Kontext ebenfalls, dass es möglich er269

Vgl. Patientenautonomie am Lebensende, 19. Sass, Sterbehilfe, 110. Vgl. weiter Dorsel, 1000 Tage, 15. 271 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 47f. 270

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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scheint, einen Weg trotz Krankheit, etwaigen Einschränkungen und empfundener Schwäche zu finden, der dem Leben erst in der vormals unbekannten Lebenssituation neuen Mut und entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.272 Erfahrungen aus der Praxis zeigen dazu, wie ungenau und unrealistisch das wirkliche Befinden in einer Krankheitssituation antizipiert werden kann. Es erscheint nicht abwegig, dass sich in Zuständen, in denen prospektiv der Wunsch verspürt wird das Leben zu beenden und nicht mehr weiterzuleben, neue Perspektiven auftun und die entsprechende Situation mitunter nicht als unwürdig empfunden wird, wie zuvor vermutet. In gesunder Verfassung, demnach nur in der Außenperspektive geurteilt, können also Situationen als unerträglich aufgefasst werden, die betroffene Personen aber keineswegs so wahrnehmen. Einstellungen zu Krankheiten und persönlicher Schwäche können sich, so der Einwand, ändern, wenn ein Krankheitszustand Realität wird. Neue Lebensperspektiven werden erst im Erleben sichtbar.273 Zudem ist zu fragen, wie und warum eine Seinsweise als unwürdig bezeichnet werden kann. Dies eröffnet unmittelbar eine notwendige theologische Reflexion darüber, wie die Würde eines Menschen zu begründen ist. Überdies stellen sich hier auch Fragen an eine Gesellschaft, in der sich die Einstellung zu implementieren scheint, dass Krankheit und Schwäche unwürdige Zustände darstellen. Ferner sollte realisiert werden, dass sich der Wille eines Menschen ändern kann. Die Veränderbarkeit und Entwicklungsfähigkeit des Menschen gehört gar notwendig zum Leben dazu. Maio beschreibt dazu: „Keine Überzeugung, erst recht nicht die über die eigene Haltung zu Krankheit und Tod, ist unumstößlich. Die große Gefahr der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung liegt in der Scheinsicherheit hinsichtlich einmal geäußerter Überzeugungen, die die Form des Gesetzes vielen Menschen suggeriert"274 .

Zu reflektieren ist, dass Äußerungen des Willens mithilfe von Patientenverfügungen nur eine Vermutung darüber anstellen können, was in diesen antizipierten Situationen der reale und faktische Wille sein wird. „Dabei verdient die Erfahrung Berücksichtigung, dass Gesunde den Wert eines Lebens mit massiven Einschränkungen wesentlich geringer einschätzen, als es die Betroffenen selbst tun.“275 Als Beispiel lässt sich nochmals auf (Alzheimer-)Demenz Bezug nehmen. Demenz begegnet gesellschaftlich als gefürchtete Krankheit und 272

Vgl. Sass, Patientenverfügung, 96. Vgl. Sass, Patientenverfügung, 96. 274 Maio, Mittelpunkt Mensch, 355. 275 Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 7. 273

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

vermittelt gar ein Schreckensbild. Festgestellt werden kann, dass dieser Zustand für die erkrankten Personen selbst oft nicht unerträglich ist. Es „sollte daher stets mitbedacht werden, dass es sich bei dem, vor dem ich mich durch Vorsorge schützen will, auch um qualitativ ganz andere Seinszustände und andere Dimensionen des Lebens handeln kann“276 , in die sich prospektiv mutmaßlich nicht hineinversetzt werden kann und dessen Durchdenken nahezu unmöglich ist. Diskutiert wird ebenfalls, dass es schwerlich zu realisieren ist, alle möglicherweise eintretenden Krankheitssituationen sowie die sich dazu bietenden medizinischen Behandlungs- und Therapiemaßnahmen zu durchdenken und passende Handlungsanweisungen in einer Patientenverfügung formulieren zu können. „Die prospektive Festlegung von Werten und Wünschen für die Zukunft ist generell mit entscheidungstheoretischen Risiken belastet.“277 Als Alternative und gewisser Mehrwert wird angeführt, dass ein bestellter Betreuer oder Bevollmächtigter für den Patienten eintreten und situativ entscheiden kann. Zu beobachten ist, dass die eigenen, konkreten Vorstellungen über unbekannte Situationen meist äußerst zurückhaltend geäußert werden, hingegen aber die persönliche Angst vor Schmerzen und Leiden dominiert. Der Wunsch ist i. A. leitend, Schmerzen bestmöglich zu lindern und die Angst ist feststellbar, dass schmerztherapeutische Maßnahmen versagen.278 Gerade Schmerzen lassen eine Krankheit unerträglich erscheinen. Entgegen verbreiteten Meinungen können diese jedoch heutzutage durch gute Schmerztherapie oder insbesondere in der Endphase des Lebens durch Palliativmedizin wirkungsvoll vermindert werden.279 Dieser Aspekt zeigt die Notwendigkeit auf, erneut darauf hinzuweisen, dass in der Ausbildung von Medizinern bezüglich Schmerztherapie und Palliativmedizin sowie demnach ihre flächendeckende Implementierung in Deutschland noch große Defizite aufweisen. Befragungen zeigen, dass die nicht selten als unangenehm empfundenen Themen Leiden, Sterben und Tod wenig im Vorhinein in der eigenen Familie, bei Freunden oder auch mit dem Hausarzt thematisiert werden. Infolgedessen kann es dazu kommen, dass Werte und Wünsche bei den nächsten Vertrauten unbekannt sind. Kommt es zu der Notwendigkeit stellvertretende Entscheidungen treffen zu müssen, kann die durch die bestehende Unwissenheit verursachte Last dieser anstehenden Entscheidung groß erscheinen. In der Diskussion tritt ein weite276

Klie, Die Patientenverfügung, 35. Sass, Patientenverfügung, 47. 278 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 47. 279 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 47f. 277

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rer Aspekt mit direkter Auswirkung auf eine Patientenverfügung auf. Werden Vorstellungen und auch Ängste vertrauten Personen mitgeteilt, könnten sie im Gespräch mitunter gemildert und möglicherweise auch durch eine Beratung beim Arzt abgeschwächt werden. Zugleich ließe sich auf diesem Wege eine eingehende medizinische Aufklärung implementieren.280 Ein Modell dazu bietet beispielsweise die narrative Wertanamnese durch den Arzt bei nichtakuten Zuständen oder routinemäßigen Kontrollen. Hierzu können vorgefertigte wertanamnestische Fragekataloge benutzt werden. Diese gezielte Erfassung der Werte oder auch das Gespräch mit Vertrauenspersonen über Werte und Wünsche soll ermöglichen, mehr über persönliche Vorstellungen und Ängste auszusagen, als es in Patientenverfügungen durch einfache Verfügungen über Behandlungsmöglichkeiten möglich erscheint.281 Als fraglich stellt sich sodann dar, ob individuelle Wünsche und Wertvorstellungen in von Vordrucken angebotenen allgemeinen Formulierungen überhaupt zutreffend erfasst werden können. Ebenfalls bleibt teils ungeachtet, dass es verschiedenste Varianten und Ausprägungen von Krankheitszuständen gibt. Der Vorwurf wird formuliert, dass die Patientenverfügung diesbezüglich nur allgemeine Handlungsanweisungen erfassen kann. Sowohl ein individueller Spielraum als auch die medizinische Bandbreite bleiben unreflektiert.282 Dieser zusätzliche Aspekt unterstreicht die Sinnhaftigkeit eines Gesprächs mit einem Mediziner, der auch dann gezielter auf persönliche Risikofaktoren eingehen und die konkrete Angst vor bestimmten medizinischen Interventionen und Vorgehensweisen abmildern kann. Eine weitere Problematik können etwa von juristischer Seite angebotene, vorformulierte Patientenverfügungen hervorbringen. Hier wird angemerkt, dass sich juristische Sprache kaum auf medizinische und klinische Sachverhalte transferieren lässt.283 Ebenso problematisch können vom Laien selbstständig formulierte Verfügungen sein, da sie oftmals die Eindeutigkeit, Genauigkeit und Reichweite nicht ausreichend bedenken und gewährleisten können. Das Abfassen einer solch weitreichenden Verfügung setzt eine intensive Auseinandersetzung, Reflexion und Prüfung voraus. Ein ebenso kontrovers diskutierter Gesichtspunkt besteht in mitunter vorgeschlagenen und vorformulierten Textbausteinen, die sich etwa in Ratgebern und Handreichungen zur Patientenverfügung befinden. Hier 280

Vgl. Sass, Patientenverfügung, 48f. Vgl. Sass, Sterbehilfe in der Diskussion, 91f. 282 Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 23. 283 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 49. 281

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

besteht die Kritik, dass sie zum vorschnellen Zustimmen ohne intensive Auseinandersetzung, Diskussion und Abwägung verleiten. Auch ist fraglich, ob vom medizinischen Laien die Tragweite der Aussage des Textes überblickt wird.284 Exemplarisch zeigt sich dies beim Thema lebenserhaltende Maßnahmen, wie etwa Reanimation, künstliche Beatmung, PEG-Sonden, Dialyse oder Ähnliches. Sie werden teilweise aufgrund der bekannten Risiken (z. B. Hirnschädigung) generell abgelehnt, wobei die Bandbreite der Anwendungen unreflektiert bleibt. So werden beispielsweise bei einer generellen Ablehnung solcher medizinischer Interventionen auch nur vorübergehende Maßnahmen, die etwa zur Besserung eines Zustands indiziert sind, untersagt.285 Implizit wurde in etlichen obigen an die Patientenverfügung herangetragenen Kritikpunkten ein weiterer Hinweis gegeben, dem eine nicht zu verkennende Rolle im Auseinandersetzungsprozess zugemessen wird. Hinsichtlich dessen sollte genauer betrachtet werden, welche Auslöser zum Abfassen einer Patientenverfügung aufzufinden sind. Angst – auch vor einer mächtig gewordenen Medizin – ist als wichtiger Einflussfaktor merklich. 286 Verschiedene Situationen, die dann das Verfassen einer Patientenverfügung notwendig erscheinen lassen, werden genannt, wie etwa ein Unfall oder eine schwere Krankheit eines nahen Vertrauten. Deutlich gemacht wird dabei, dass diese Situationen geprägt sind von hoher emotionaler Belastung. Folglich ist zu reflektieren, ob die Tragik der Situation den Reflexionsprozess überschattet. Außerdem wird angeführt, dass gesellschaftlich verfestigte und nicht selten medial vermittelte Schreckensbilder Anlass sind, sich mittels einer Patientenverfügung vor derartigen Situationen schützen zu wollen. Folglich existiert die Kritik, dass Patientenverfügung insbesondere aus einer (mitunter unbegründeten) Angst vor Übertherapie entstehen. „Es ist die Befürchtung, von der Macht der Medizin überwältigt zu werden. Es ist die Sorge, unerwünschten technischen Maßnahmen wie Wiederbelebung, Beatmung oder Blutwäsche noch zu einer Zeit ausgeliefert zu sein, in der sich das Leben bereits unweigerlich dem Ende zugeneigt hat, ein ruhiges Verlöschen dem Lebensideal eher entspricht als ein gewaltsames Zurückholen in ein krankes Leben. Und dann ist da das Gefühl der Abhängigkeit; die Furcht vor dem Verlust an Möglichkeiten, den eigenen Alltag selbständig regeln und bestimmen zu können. Die 284

Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 155. Vgl. Diakonisches Werk, Patientenverfügungen, 27. 286 Vgl. Klie, Patientenverfügung, 7. 285

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Abhängigkeit von Anderen, die Verantwortung für uns übernehmen, vielleicht übernehmen müssen“287 .

Als Beweggrund der Erstellung von Patientenverfügungen werden mitunter durch verschiedene Faktoren ausgelöste Ängste wahrgenommen. Zu nennen ist etwa die Furcht vor dem Ausgeliefertsein einer mächtigen Medizin, der scheinbar nur durch rigide Verfügungen zu entkommen ist, vor dem unnötigen Hinauszögern des Sterbens und auch davor, anderen Menschen zur Last zu fallen. Ängste hingegen, so die Kritik, können sich zementieren und verhindern so eine rationale Auseinandersetzung. Die Erfahrung mit alltäglichen Ängsten lehrt, dass eine Angst im Vorhinein überdimensional erscheinen kann, im Erleben und Durchstehen von Situationen und besonders im Rückblick vergleichsweise schwach. Dennoch sollen keineswegs das Bestehen dieser Ängste und auch ihre Berechtigung verkannt werden. Ein Gespräch kann etwa das Abschwächen oder das Überwinden dieser ermöglichen. Zum einen ist dabei an Gespräche mit Medizinern zu denken, die bereits teils verfestigte Vorurteile entkräften können, zum anderen an solche mit Vertrauenspersonen, mit denen besonders das Thema zur Last Fallen besprochen werden kann. Auch hierbei kann möglicherweise die Befürchtung abgemildert werden, indem herausgestellt wird, dass die Verantwortung füreinander gerne übernommen wird. Propagiert wird teils, dass bei der Abfassung einer Verfügung konkrete Situationen vor Augen stehen sollten, wie beispielsweise Demenz oder ein Schlaganfall. In der Reflexion erscheint es nahezu unmöglich, jeglichen Variantenreichtum einer Erkrankung angemessen in einer Formulierung auszudrücken und auch zu bedenken.288 Erneut ist zu nennen, dass ein klärendes Arztgespräch größeren Aufschluss gewähren kann. Es bleibt die Problematik, dass Patientenverfügungen schwerlich prospektiv einen notwendigen Genauigkeitsgrad erreichen, um in erst später real werdenden Situationen zur Anwendung kommen zu können. Die Frage ihrer Validität ist zu stellen. Der mutmaßliche Patientenwille, der auch immer nur eine Spekulation über den tatsächlichen Willen abbilden kann, ist somit mitunter auch im Umgang mit der Patientenverfügung zu eruieren. Diese Aspekte lassen den Eindruck aufkommen, dass etliche Patientenverfügungen als ungenau angesehen werden, auch weil sie nicht auf spezielle und konkrete Krankheitssituationen zutreffen.289 Nebulöse 287

Klie, Patientenverfügung, 7. Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 21. 289 Vgl. Coeppicus, Gesetz, 54f. 288

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

Verfügungen bleiben ohne direkte und unmittelbare Wirkkraft. Sie können dann wiederum zur Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens eingesetzt werden. Hier zeigt sich, dass die mitunter propagierte Klarheit von Patientenverfügungen fraglich ist und sie daraufhin hermeneutischen Problemen unterliegt. „Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass das Ausmaß der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen und damit auch das Ausmaß der zu erzielenden Rechtssicherheit zuvörderst ein Auslegungsproblem ist: Die Verbindlichkeit kann nur so weit reichen, wie sie der Betroffene selbst gewollt hat – aber sie sollte auch nur so weit reichen, wie sie der Betroffene gewollt hat. Dieses Auslegungsproblem kann der Gesetzgeber nicht lösen.“290

Zudem ist, so die bestehende Kritik, die Gefahr von Irrtümern bei der Formulierung nicht von der Hand zu weisen. In besonderem Maße lässt sich dies darauf zurückführen, dass ein medizinischer Laie schwerlich die Tragweite seiner Entscheidung überblicken kann.291 Eine weitere Problematik wird aufgrund fehlender Verpflichtung zur medizinischen Beratung formuliert. Erfolgt keine fundierte Beratung auch speziell medizinischer Art, so wird die Gefahr gesehen, dass eine Zuschreibung sowie eine Überprüfung der geforderten Einwilligungsfähigkeit per se diffizil ist. Bereits während der Debatte zur rechtlichen Verankerung der Verfügung wurde diese Schwierigkeit gesehen und diskutiert. Die konträre Problematik hierzu, eine gesetzliche Verpflichtung zur Beratung zu implementieren, besteht mit der Begründung der Verletzung der Persönlichkeitsrechte ebenfalls. Fraglich ist geblieben, ob eine Erklärung, bewusst auf Beratung zu verzichten, eine Lösungsmöglichkeit darstellen kann. Die Problematik um die Beratungserfordernis wird durch einen Vergleich mit gängiger Aufklärungspraxis zudem unterstrichen: Stehen Behandlungs- und Therapieentscheidungen bei einwilligungs- und äußerungsfähigen Patienten an, so ist es die Pflicht des Arztes umfassend aufzuklären. „Demgegenüber soll der Arzt bei Vorliegen einer Patientenverfügung einer Erklärung eines Patienten folgen, den er u. U. nicht kennt, den er nicht über die konkret gegebenen Handlungsoptionen mit ihren Vor- und Nachteilen informiert hat und bei dem er von daher nicht wissen kann, auf welcher Informationsgrundlage und aufgrund welcher (möglicherweise übersteiger290 291

Taupitz, Die Debatte, 117 (teils Fettdruck im Original). Vgl. Coeppicus, Gesetz, 55f.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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ten) Sorgen und Ängste der Betroffene seine Entscheidung getroffen hat.“292

Die Sorge besteht also, dass die medizinische Expertise, die Grundlage rationaler und reflektierter Behandlungsentscheidung ist, umgangen wird, wodurch wiederum die Validität einer Patientenverfügung infrage gestellt werden kann. Es deutet sich wiederum vielschichtig an, dass eine Ausübung der eigenen Autonomie auf Mitmenschen angewiesen ist, die den Auseinandersetzungsprozess mit der Patientenverfügung begleiten und im Dialog dazu beitragen, eigene Wahrnehmungen und Vorstellungen konkret auszubilden und zu schärfen. 5.2.2 Bei der bestehenden Patientenverfügung An eine bestehende Verfügung wird die Frage gerichtet, ob sie dazu verleiten kann einen Gedankenprozess (vorschnell) als abgeschlossen zu betrachten. Nach einer Phase der aktiven Auseinandersetzung mit der Thematik und dem Ergebnis einer unterschriebenen, scheinbar (rechts-)gültigen Patientenverfügung ist das vorläufig gesetzte Ziel erreicht und für den Moment erledigt. Die besondere Eigenart der Patientenverfügung, dass sie einen prospektiven Willen darstellt, scheint allerdings dazu aufzufordern, die darin getätigten Entscheidungen nicht sinnbildlich in einer Schublade verschwinden zu lassen. Dem Menschen entspricht es, sich selbst, seine Meinungen und Einstellungen im Laufe der Zeit zu verändern. In diesem Zusammenhang existiert somit eine gewisse Notwendigkeit, die vergangenen Festlegungen in der Verfügung erneut zu durchdenken und auf ihre Gültigkeit hin zu befragen. Eine Gefahr kann darin bestehen, die Kontinuität des einhergehenden Prozesses zu missachten. „Patientenverfügungen gaukeln häufig eine vermeintliche Sicherheit vor und ihr Ausfüllen und Formulieren hat nicht selten Ähnlichkeit mit einem Ritual: Mit dem, was in der Patientenverfügung in juristischer Sprache geschrieben wurde, verbinden die Bürgerinnen und Bürger oftmals andere oder weitergehende Vorstellungen und Wünsche. Wie auch sonst bei einem Ritual, erhoffen sie sich eine Einbindung ihrer Wünsche und Absichten in einen sozialen Zusammenhang; so als könnte durch eine Patientenverfügung nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine wirksame soziale und emotionale Absicherung erfolgen.“293 292 293

Taupitz, Die Debatte, 118. Klie, Patientenverfügung, 9.

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

Auch das Auftreten von Krankheiten nach der (erstmaligen) Abfassung einer Verfügung kann eine Anpassung dieser nahelegen. Sie könnte beispielsweise tiefergehend auf die eigenen, zu erwartenden Diagnosen und Symptome hin konkretisiert werden. Die vermittelte Sicherheit, die fertige Verfügungen ausstrahlen, ist, so bestehende Kritik, leicht zu überschätzen. 5.2.3 Bei der Umsetzung und Anwendung einer Patientenverfügung Kommt es zu dem Fall einer Äußerungs- und Einwilligungsunfähigkeit und somit zur möglichen Einsetzung einer bestehenden Patientenverfügung bei etwaigen Behandlungsentscheidungen, so konkretisieren sich viele bereits angesprochene Aspekte deutlicher. Zum einen kann sich zeigen, dass getätigte Aussagen unpräzise und vage sind oder aber nicht vollends auf die konkret eingetretene Lebenssituation zutreffen. Hieraus können variable Deutungsmöglichkeiten einer Patientenverfügung resultieren, bis hin zum Extremfall, dass ihre Umsetzung unmöglich erscheint. Die Gründe dafür, die Situationen solcher Art hervorrufen, sind vielschichtig und wurden teils oben bereits thematisiert. Bei der konkreten Umsetzung einer Patientenverfügung bestehen deutliche hermeneutische Herausforderungen. Angezweifelt wird diesbezüglich etwa, ob ein rein mechanisches Abarbeiten den getätigten Willensäußerungen in einer Patientenverfügung tatsächlich gerecht wird. Dazu wird angemerkt, „dass ein adäquates inhaltliches Verstehen einer Patientenverfügung die Auseinandersetzung mit dem Lebensumfeld des Patienten erfordert.“294 Ein Aufbau einer Beziehung wird von Einigen als Notwendigkeit für ein korrektes Verstehen der Patientenverfügung vorausgesetzt, um dann wiederum eine Patientenverfügung verantwortungsvoll umsetzen zu können. Hingewiesen wird also auf den Sachverhalt, dass die Patientenverfügung keine einfachen Entscheidungen transportiert und gar eine Verlagerung der Verantwortung weg vom medizinischen Fachpersonal hin zum Patienten erfolgt. Konkrete Ansprüche an die Medizin werden folglich formuliert: „Ob Patientenverfügungen adäquat umgesetzt werden können, hängt also nicht zuletzt davon ab, ob die Umsetzung im Rahmen einer Beziehungsmedizin erfolgt. Patientenverfügungen ohne eine solche verstehende Beziehungsmedizin werden in der Regel defizitär bleiben.“295 294 295

Maio, Mittelpunkt Mensch, 353. Maio, Mittelpunkt Mensch, 354.

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Folglich unterstreichen Kritiker die Verantwortung, die sich besonders an medizinisches Personal richtet, Entscheidungen, die nur auf Grundlage ihres Fachwissens getroffen werden können, auch ernst zu nehmen sowie mit dem Inhalt der Patientenverfügung und seiner Interpretation pflichtbewusst umzugehen.296 Dies wiederum wirft die Frage auf, ob der Anspruch einer Patientenverfügung, solipsistisch für die Zukunft bindende Entscheidungen zu formulieren, tatsächlich gewährleistet werden kann. Sowohl das Verfassen als auch das Umsetzen einer Patientenverfügung scheint notwendigerweise auf mitmenschliche Begegnung, Beratung und auch Fürsorge durch Einsatz für den Betroffenen angewiesen zu sein. „Living wills are not self-executing: someone must decide whether the patient is incompetent, whether a medical situation described in the living will has arisen, and what the living will then commands.”297 Daraufhin ist zu fragen, ob der Anspruch einer vollkommen losgelösten Selbstbestimmung im Sinne des Solipsismus, der mitunter als Bild mit der Patientenverfügung einhergeht, realistisch ist sowie der Existenzweise und dem Sein des Menschen gar entgegensteht. Der Dialog mit Vertrauenspersonen, die im Ernstfalle für Werte und Wünsche eintreten, scheint eine Möglichkeit für eine situative Umsetzung des Willens darzustellen. Zur Realisierung dessen werden mitunter Kombinationsmodelle von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht oder Betreuungsverfügung hochgeschätzt. Hierdurch könnte bereits die Instanz der Umsetzung inkludiert sein, als gewisser Mehrwert dazu, dass isolierte Patientenverfügungen noch auf eine geeignete Umsetzung durch handelnde Akteure angewiesen sind. Ferner kann hier erneut darauf verwiesen werden, dass diesem Gedanken ein Bild des Menschen als Beziehungswesen nicht fern liegt. Eine erneute Schwierigkeit ist auch in diesem Kontext anzuführen, die etwa juristischen Patientenverfügungen entgegengehalten wird. Diese in ihnen behaftete Ausdrucksweise kann, so die entgegengebrachte Kritik, kaum in medizinische Realsituationen transferiert werden. Hinzu tritt, dass hier zumeist keine Wert- oder Wunschaussagen aufgenommen werden, welche mitunter von Ethikern als geeigneter Anhaltspunkt für (notwendige) Interpretationen der Patientenverfügung angesehen werden.298 Fehlende Verstehensgrundlagen der Verfügung können die direkte Anwendbarkeit verhindern und ggf. eine Betreuerbestellung notwendig machen. Es zeigt sich folglich, dass es mitunter dazu führen 296

Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 122. Fagerlin, Enough, 35f. 298 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 49. 297

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kann, dass prospektiv und autonom angestrebte Entscheidungen ohne eine vorhandene Beziehungsstruktur fehlschlagen. Ein weiterer wahrnehmbarer Kritikpunkt ergibt sich daraus, dass von der Patientenverfügung und ihrem Anspruch zugleich ein gewisser Druck entstehen bzw. sie als Druckmittel eingesetzt werden kann. Dem genuinen Sinn einer Verfügung widerspricht dies gleichzeitig und versteht sie miss. Verfügungen erfüllen ihren Sinn, wenn sie ohne äußeren Druck verfasst werden und das Bestreben dazu ein intrinsisches ist. Wird hingegen ihr möglicher Nutzen für Andere (auch ökonomischer Art) ausgenutzt oder sollen in erheblichem Maße die Vorstellungen des Gegenübers indoktriniert werden, so wird der hoch individuelle Anspruch der Verfügung missachtet. Exemplarisch verdeutlicht sei dies damit, wenn ein Bestehen einer Patientenverfügung beispielsweise als Voraussetzung für die Unterbringung in einem Pflege- oder Seniorenheim statuiert wird. Der Nutzen für die Heimbetreiber ist darin zu sehen, dass sie für die Eingliederung einen Verzicht z. B. auf lebensverlängernde Maßnahmen im Allgemeinen oder eine Einwilligung in das Legen einer PEG-Sonde wünschen, um etwa bei der sonst womöglich umständlichen Ernährung auf diese Weise etwa Zeit einsparen zu können. Es fordert wohl keine lange Diskussion, um rein wirtschaftliche Faktoren beim Verfassen einer Verfügung, die zumeist von außen an den Betroffenen herangetragen werden, als unethisch darzustellen. Der Gesetzgeber hat sich dazu entschlossen, diesem Missbrauch explizit vorzubeugen und in § 1901 a Abs. 4 BGB zu regeln. Während der Debatte hierzu nahm auch die Enquete-Kommission Stellung: „Aus der Verpflichtung des Staates zum Schutz menschlichen Lebens ergibt sich die Pflicht, die Entstehung eines Klimas zu vermeiden, in dem Druck auf ältere und schwerkranke Menschen ausgeübt werden kann, ihr Leben für den Fall des Verlustes ihrer Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit mittels einer Patientenverfügung beenden zu lassen.“299

Im Rückblick auf die in den vorausgegangenen Kapiteln sich stellenden Schwierigkeiten zum Umgang mit der Patientenverfügung konnte in etlichen Anfragen der Hinweis aufgedeckt werden, ob der durch die Patientenverfügung verkörperte und mitunter propagierte Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung, welche eher in Abgrenzung vom Gegenüber im Sinne von Solipsismus verstanden werden, der vorfindlichen Realität entspricht. Angedeutet wurde mithilfe einiger Punkte, dass auch eine Patientenverfügung auf ein Gegenüber angewiesen zu 299

Enquete-Kommission, Patientenverfügungen Kurzfassung, 8.

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sein scheint. Erinnert wurde daran, dass der Mensch in Beziehungen lebt, was auch ein Verständnis und einen Umgang mit der Patientenverfügung prägen sollte. Maio fasst diesbezüglich zusammen: „Auch und gerade nach dem Gesetz aus dem Jahr 2009, durch das die Patientenverfügung definitiv als verbindlich deklariert wird, ist es umso notwendiger, eine Patientenverfügung als Auftrag zu sehen, sich noch viel mehr mit dem Patienten und seinem Umfeld zu beschäftigen. Einen ethisch sorgsamen Umgang mit Patientenverfügungen zu üben bedeutet, die Patientenverfügungen gleichsam als Rückerinnerung daran zu betrachten, dass eine Medizin nur dann human sein wird, wenn sie sich nicht nur nach Formularen richtet, sondern wenn sie eine neue Kultur des Sterbens mit auf den Weg bringt. Dazu gehört auch eine neue medizinische Kultur, die die Patientenverfügung als Teil einer Beziehung begreift sowie als Chance, früh genug über das Sterben in ein Gespräch zu treten.“300

Es stellt sich die Frage nach dem der Patientenverfügung zugrunde liegenden Menschenbild, was derzeit Würde in engem Konnex zu Autonomie anzusiedeln scheint. Insofern ist es eine konkrete Herausforderung der Theologie, diese Aspekte zu durchdenken und in Form einer Anthropologie grundzulegen. 5.3 Spezifische Dissense der Patientenverfügung Nachfolgend stehen nicht mehr die Problematiken im Zentrum, die sich speziell bei Abfassung und Einsetzung der Patientenverfügung ergeben können. Das Hauptaugenmerk soll nun auf Aspekte gerichtet werden, die in direktem Zusammenhang zu einer Patientenverfügung als solcher, wie sie derzeit verstanden wird, stehen. Ihre auch im Diskurs immer wieder benannten spezifischen Eigenarten und resultierenden Probleme gilt es zu durchdenken. 5.3.1 Individualität von Sterben und Tod und die Fiktion der Planbarkeit Im obigen Abschnitt ist vermehrt der Hinweis darauf gegeben worden, dass das Sterben sowie die sich damit ereignenden Bedürfnisse und Wünsche in der Lebensendphase individuell sind. Die Frage ist daraufhin aufzufinden, ob es wohl der Individualität des Sterbens besser entspricht, auf eine strikte gesetzliche Regelung zu verzichten. Denn allgemeingültige (rechtliche) Maßstäbe zu implementieren, kann in diesem 300

Maio, Mittelpunkt Mensch, 356.

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Kontext auf Probleme treffen. Als Alternative werden mitunter die Einrichtung und der Ausbau von Konsilen vorgeschlagen, welche multiperspektivisch und dialogisch individuelle Entscheidungen fördern. Juristische Grenzfälle, wie etwa bei Terri Schiavo, können zuungunsten des Betroffenen ausufern. Solchen Kommunikationsproblemen „kann ggf. besser durch Fallkonferenzen und Konsile begegnet werden, als durch klare juristische Regelungen. Die personale Verantwortung für jede Entscheidung am Lebensende darf nicht durch juristische Regelungen relativiert werden. Es geht bei den Entscheidungen am Lebensende immer um ethisch-dilemmatöse Entscheidungen, die personale Verantwortung verlangen.“301

Angehörige und nahestehende Personen erwirken in Gemeinschaft mit entsprechendem Fachpersonal anstehende Entscheidungen. Somit sind einerseits die Angehörigen fachlich unterstützt und können sich durch gemeinschaftlich erwirkte Optionen entlastet fühlen. Durch eine multiperspektivische Beleuchtung der individuellen Situation wird eine gewisse Lebensnähe angestrebt. In diesem Sinne lässt sich fragen, wie die Individualität von Sterben und Tod durch vereinheitlichte Verfügungen, speziell auch durch AnkreuzVordrucke, gewahrt werden kann. Dem stellt sich wiederum entgegen, dass eigenständige Formulierungen in Patientenverfügungen – wie oben dargelegt – in der Gefahr von Ungenauigkeit und Unfundiertheit stehen. Eine Beratungs- und Gesprächskultur, die die individuellen Ängste, Vorstellungen und Wünsche ernst nimmt, kann womöglich diese Probleme abmildern. Die Patientenverfügung kennzeichnet der Anspruch, prospektiv Festlegungen treffen zu können, die, ohne i. A. bereits diese Situation aus der Innenperspektive zu kennen, Bestand für den zukünftigen Willen haben. Eine Planbarkeit des Empfindens in unbekannten Situationen wird postuliert. Entgegnet wird dem auf Grundlage von Praxiserfahrungen, dass Lebensphasen, die aus der Außenperspektive betrachtet unerträglich erscheinen, im Erleben oft keineswegs diesen Anschein besitzen und Wert und Sinn eines Lebens, welche sich zuvor von außen verschlossen haben, erst im Erleben erschließen.302 Berufen wird sich dabei auf sich ändernde Einstellungen im Verlauf eines Lebens. Diese Veränderbarkeit des Menschen steht in Abhängigkeit von eigenen Erfahrungen. Als konkreter Vorwurf an Patientenverfügungen wird diesbezüglich bestimmt, dass es unrealistisch und wider die menschliche 301 302

Klie, Die Patientenverfügung, 185. Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 62f.

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Natur erscheint, festgelegte Aussagen über die Zukunft zu treffen, besonders für Situationen, in die prospektiv kein direkter Einblick erlangt werden kann, wie etwa Zustände der Demenz, der Bewusstlosigkeit oder des Wachkomas. Bestärkt wird dies von dem Gedanken, dass es unrealistisch erscheint, eine Verfügung für alle möglicherweise eintretenden Krankheitssituationen treffen zu können. Vor diesem Hintergrund spricht Eibach gar von einer Fiktion, die Patientenverfügungen manifestieren. „Die Fortschritte der Medizin haben einerseits die Fiktion bestärkt, dass das Leben und auch das Sterben nach menschlichen Vorstellungen durchgehend planbar und ‚machbar‘ sei. Gleichzeitig wächst die geheime oder offene Angst, dass diese Vorstellungen von der Planbarkeit eine trügerische Illusion ist, dass der Mensch spätestens in schwerster Krankheit und im Sterben oft in seinen autonomen Fähigkeiten entmächtigt wird. Durch eine PV kann die Fiktion vom selbstbestimmten Leben und Sterben festgehalten und die Angst vor einer Entmächtigung der Persönlichkeit im Sterben gemindert und sollen die möglichen unerwünschten Nebenfolgen des medizinischen Fortschritts ausgeschaltet werden.“303

Gefordert wird mitunter eine gesellschaftliche Akzeptanz anderer „Seinszustände“304 , die zuvor nur antizipiert werden können und deren Binnenperspektive sich erst im Erleben erschließt. Angefragt werden muss in diesem Kontext, ob von einer generellen Kontinuität der persönlichen Einstellungen im gesunden Zustand in Krankheitssituationen hinein per se ausgegangen werden kann. Zu verweisen ist diesbezüglich auf die Veränderbarkeit des Menschen im Laufe der Zeit. Unweigerlich zeigt dies erneut die Notwendigkeit auf, das zugrunde liegende Menschenbild genauer zu reflektieren. Die Frage nach der Realisierung von Individualität durch die Patientenverfügung ist hier ebenfalls nochmals zu benennen. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass sich Wunsch- und Wertprofile für Krankheitsund Lebensendphasen stark unterscheiden.305 Anzufragen bleibt in diesem Kontext, auf welche Weise vereinheitlichte Patientenverfügungen dieser Individualität gerecht werden können. Hinzu tritt, dass sich persönliche Wünsche und Werte womöglich erst im gemeinsamen Gespräch und im Miteinander ausbilden und konkretisieren. 303

Eibach, Fiktion, 115. Vgl. auch Eibach, Patientenautonomie, 7f. Klie, Die Patientenverfügung, 121. 305 Vgl. Sass, Patientenverfügung, 47f. 304

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Die diskutierte Kritik im Fokus auf Individualität pointiert folglich, dass die derzeit praktizierte Patientenverfügung in vielerlei Hinsicht eine – bleiben wir bei der Begrifflichkeit – Fiktion zu vermitteln scheint. Kritisch gesehen wird dabei, dass Menschen alleine, ohne fundierte, insbesondere medizinische Beratung und ohne tiefgehende Gespräche mit Vertrauenspersonen oder dem Hausarzt verlässliche Patientenverfügungen in Form von ausfüll- oder ankreuzbaren Vordrucken erstellen können – und dies womöglich noch durch einen gewissen äußeren Druck veranlasst, ohne Patientenverfügung in der Gefahr von Übertherapie zu stehen oder aus der Angst heraus ohne diese Regelungen etwas versäumt haben zu können. Kritisiert wird, dass die Patientenverfügung die Fiktion vermittelt, in diesen Vordrucken der Individualität jedes Menschen mit seinen persönlichen Werten, Wünschen, Ängsten und Vorstellungen, sowie in seiner individuellen Lebenssituation gerecht werden zu können. Des Weiteren wird von einer durch die Patientenverfügung vermittelten Fiktion einer Konsistenz und Beständigkeit von prospektiven Festlegungen gesprochen. Gleichwohl versehen dies lebenswirkliche Erfahrungen mit einem Fragezeichen. Der Eindruck eines Defizits in der Berücksichtigung von Individualität bei Patientenverfügungen, besonders bezüglich Sterben und Tod, erhärtet sich. 5.3.2 Angst als Einflussfaktor Beleuchtet wird weiter, welche Faktoren das Verfassen einer Patientenverfügung auslösen und begünstigen können. Erfahrungsgemäß zeigt sich dabei, dass eine Forcierung eines Themas durch bestimmte Anlässe ausgelöst werden kann bzw. aufgrund äußerer Umstände Aktualität erhält. Über Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Patientenverfügungen wird beispielsweise vermehrt gesprochen, wenn einem Menschen oder ihm bekannte Personen Schicksalsschläge ereilen, wie etwa eine Krankheit oder ein Unfall. Emotionalität und persönliche Betroffenheit stellen sich zumeist ein. Sie kann der Situation eine zusätzliche Tragik verleihen. Erfahrungen solcher Art zeigen Einfluss auf persönliche Einstellungen, auf die auch mediale Darstellungen einwirken. Herauszustellen ist, dass der Faktor Angst hierbei eine besondere Rolle spielt. Unbekannte Krankheitssituationen, mit denen etwa eine Wesensveränderung einhergeht, wie dies beispielsweise bei Demenz oder Wachkoma der Fall ist, und gesellschaftliche Normen so ihre Macht verlieren, lösen beispielsweise die Angst aus, selbst einmal in solche Situationen zu geraten. Eine verständliche und menschliche Reaktion ist die, sich vor diesen angstauslösenden Situationen schützen zu wollen, um

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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sie bestmöglich nicht zur eigenen Realität werden zu lassen. Situationen, in die sich nur schwerlich hinein versetzt und gedacht werden kann, lösen Angst aus. Die Patientenverfügung scheint nun diese Möglichkeit der Abgrenzung vor solchen Situationen real werden zu lassen. Vordergründig zeigt sich eine Option, durch das Verfügen eines Behandlungsverzichts jene ungewollten Lebenszustände zu vermeiden. Ängste können sich ferner durch das Miterleben von Leidenszuständen in der Außenperspektive verfestigen, wenn z. B. Bekannte in eine Pflege- oder Krankheitssituation gelangen, die auf das Gegenüber eine angsteinflößende Wirkung zeigt. Erneut kommt zum Tragen, dass, so die Erfahrung der Praxis, Situationen im Erleben anders wahrgenommen werden als es prospektiv sowie von der Außenperspektive realisiert werden kann. Somit ist die Frage zu stellen, ob der Lebensschutz geringwertiger erscheint als das Umgehen von oder gar die Flucht vor angstbehafteten Situationen. Einen solchen Eindruck kann die derzeit praktizierte Patientenverfügung vermitteln. Auch hierzu zeigt sich ein Zusammenhang zur Frage, ob Verfügungen in gleicher Weise ohne vorherige Aufklärung gelten sollen. Denn besonders medizinische Laien können wahrscheinlich vorhandene Möglichkeiten und Vorgänge nicht vollends überblicken und konstruieren ihre Vorstellungen nicht selten realitätsfern. Weitergedacht bedeutet dies, dass die Patientenverfügung selbst entgegen ihrer vorrangigen Erscheinung unter der Gefahr der Fremdbestimmung zu stehen scheint und insofern anzufragen ist, inwiefern sie ihrem Anspruch als Garant der Autonomie gerecht wird. Heteronomie beispielsweise kennzeichnet sie, falls ihr Verfassen von immenser Fremdbestimmung durch die eigenen Ängste charakterisiert ist oder aber, wenn sie unter dem Druck von Anderen konstituiert werden musste.306 Obwohl dieser Fall keine rechtliche Haltbarkeit aufweist, ist er wahrscheinlich – wenn auch unbewusst – nicht vollends zu verhindern, wenn beispielsweise Menschen gedrängt werden, eine Verfügung abzufassen. Angehörige etwa können dazu herausfordern, um genaue Handlungsvorgaben zu erhalten. Fremdbestimmung durch Angehörige zum Nutzen ihrer eigenen Sicherheit liegt sodann vor. In entscheidendem Maße scheinen, wie gerade verdeutlicht, persönliche Ängste die Patientenverfügung zu beeinflussen. Die Verbindung zur Thematik – das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge und deren Gewichtung im Einzelnen – wird so erneut sichtbar. Offengelegt wurde die Anfrage, ob die Patientenverfügung ihren Autonomie-Anspruch wahren kann oder vielmehr selbst heteronome Strukturen aufweist. In 306

Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 9.

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

Weiterführung dessen ist zu klären, ob gerade auch aus theologischer Perspektive unterstrichen werden kann, sich der Mitmenschlichkeit bewusst zu werden, Vertrauen zu üben und sich darauf zu besinnen, nicht die Fähigkeit zu besitzen, auch das kleinste Detail einer ungewissen Zukunft zu durchdenken und sich entsprechend absichern zu können. 5.3.3 Reichweitenproblematik Ein schon häufig angesprochenes Problem im direkten Zusammenhang mit der Patientenverfügung ist das ihrer Reichweite. Über welche Situationen und in welchem Stadium einer Krankheit entwickelt die Patientenverfügung ihre rechtlich zugesicherte Bindungskraft? Prägnantes Thema war dies bereits in der Debatte um die gesetzliche Verankerung vor 2009, ist es aber auch heute noch stetig geblieben. Beispielsweise die Deutsche Hospiz Stiftung (jetzt Deutsche Stiftung Patientenschutz) kritisiert die Diskussion um die Beschränkung der Reichweite von Patientenverfügungen auf unumkehrbar tödlich verlaufende Krankheiten, wie dies etwa in der Stellungnahme der EnqueteKommission307 oder in der ersten Auflage der Christlichen Patientenverfügung der Kirchen308 von 1999 gefordert wurde. Zum einen, so die Begründung, spricht Artikel 2 Abs. 1 GG hiergegen, der das stetige Recht auf freie Entfaltung einer Person und somit auch auf Ablehnung eines medizinischen Eingriffs zuspricht. Zum anderen ist die Klassifizierung solch unumkehrbar tödlich verlaufender Krankheiten schwer und eine Abgrenzung erscheint teils willkürlich. Was genau ist etwa das spezifische Grundleiden bei Multimorbidität? Was gilt bei Demenz oder bei Wachkomapatienten? Engstirnig betrachtet, so wird eingewendet, verläuft das gesamte Leben an sich unumkehrbar tödlich. Die Hospiz Stiftung zweifelt an der Praxistauglichkeit.309 Gleichwohl sprechen gewichtige Faktoren, die auch schon dargestellt wurden, für einen ausgeprägteren Schutz des menschlichen Lebens durch eine Begrenzung der Reichweite der Verfügung. Bei der Diskussion um die Reichweitenbeschränkung müssen all diese Sichtweisen reflektiert werden. Dabei ist auch zu fragen und abzuwägen, welche Regelung in der Praxis eher standzuhalten scheint und welche Prämissen zu setzen sind. Sicherlich werden in der Praxis Grenzfälle auftreten, bei denen eine genaue Entscheidung und Einordnung in dieses Raster schwierig bis unmöglich wirkt. Sollen aber zugunsten die307

Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 37f. Vgl. Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 3. 309 Vgl. Deutsche Hospiz Stiftung, Entwurf Bosbach, 1f. 308

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ser Grenzfälle andere Risiken per se bewusst eingegangen werden, wie beispielsweise die Gefahr einer unbewusst verfassten Patientenverfügung auf nicht irreversibel zum Tode führende Situationen aus Unwissenheit und fehlender Aufklärung? Insofern ist zu klären, wie dieses Dilemma entkräftet werden kann. Die stärkere Implementierung von Konsilen, die es sich zur Aufgabe setzen individuelle Entscheidungen anzustreben, kann ein alternativer Ansatzpunkt sein. Ein solcher interdisziplinärer Zusammenschluss ermöglicht dann situativ Patientengeschichten zu betrachten und ist in der Lage auch bei Grenzfällen nach kreativen Lösungen zu suchen, die sich einer allgemeinen Regelung zu entziehen scheinen. Die Darstellung der Debatte um die rechtliche Regelung veranschaulichte bereits kontroverse Diskussionen bezüglich der Reichweite von Patientenverfügungen. Fraglich erschien hierbei auch, wann eine eventuelle Behandlungsbegrenzung angesetzt werden sollte. Diskutiert wird beispielsweise, ob die bereits eingetretene Sterbephase, wenn konkret vitale Funktionen versagen, einen Indikator darstellt. Als alternativer Fall wird ein unumgänglich zum Tode führendes Hauptleiden genannt.310 Welche Kriterien können also eingesetzt werden, um diese Situationen abzugrenzen? Ebenso wird eine Gefahr in der uneingeschränkten Gültigkeit von Patientenverfügungen seit 2009 gesehen. Sie kann womöglich die umsetzenden Personen verleiten, ohne Prüfung des aktuellen Willens die verfügten Anweisungen durchzusetzen. Ursächlich hierfür sind ggf. auch Ängste vor Rechtsfolgen.311 Besonders in Situationen der Äußerungsunfähigkeit von Patienten stellt sich diese kritische Frage nach verfügtem und faktischem Willen. Die umsetzende Instanz einer Patientenverfügung ist dieser Unsicherheit ausgesetzt. Gleichwohl würde auch eine Patientenverfügung mit begrenzter Reichweite auf etwa unumkehrbar tödlich verlaufende Krankheiten immer die Frage stellen müssen, ob die in der Verfügung beschriebene Situation nun vorliegt. Diese aufgeführten Fragestellungen betreffen grundlegend den Dissens zwischen Lebensschutz und selbstbestimmtem, prospektivem Willen und fragt somit notwendig auch nach einer Gewichtung sowie einem entsprechenden Verständnis von Autonomie und Fürsorge. An vielen Stellen wurde etwa bereits gefragt, ob die Patientenverfügung ihrem eigenen Anspruch auf autonome Festlegungen tatsächlich gerecht wird. Die Frage stellt sich, welches Verständnis von Autonomie einerseits in diesem Kontext vorausgesetzt wird. Andererseits ist grundsätzlich zu 310 311

Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 30. Vgl. Enquete-Kommission, Patientenverfügungen, 31.

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5. Vorfindliche Dissense zur Patientenverfügung und ihre Auswirkungen

klären, wie Autonomie verstanden werden kann, um auch im Diskurs eine fundierte Rolle einzunehmen. Hinzu tritt, so wurde bereits sichtbar, dass sich das Instrument der Verfügung nicht vollends in Abgrenzung vom Gegenüber als wirksam erweist. Eine gewisse Art der Fürsorge scheint notwendig. Zugleich ist auch in diesem Kontext nach einem korrekten Verständnis von Fürsorge zu fragen und ebenso, ob dieser Begriff bereits vom meist negativ konnotierten Topos Paternalismus erfasst ist. Speziell im Kontext der Reichweitenproblematik lässt sich nachdenken, ob eine Beschränkung der Patientenverfügung notwendig als Paternalismus im negativen Sinne zu verstehen ist. Diese Fragestellungen betreffen elementar das Verständnis des Menschen. Folglich erweist sich die Entwicklung einer Anthropologie, welche ein besonderer Gegenstand der Theologie ist, als maßgebend für eine ausgewogene Reflexion der vorfindlichen Dissense im Themenfeld Patientenverfügung. Die bereits angesprochenen Kritikpunkte, die an die Patientenverfügung, wie sie derzeit konstituiert ist, herangetragen werden, kanalisieren sich im Problem ihrer seit 2009 geöffneten Reichweite. Gefahren der unbewussten oder frühzeitigen Beendigung eines Menschenlebens werden formuliert. Hierin eröffnet sich ein Zusammenhang zur Frage nach dem Wert und der Würde des Lebens. Ersichtlich wird erneut, dass grundlegende theologische Fragen tangiert sind, die im weiteren Verlauf tiefer im Fokus stehen sollen.

5.3.4 Prospektivität als Problem der Patientenverfügung Diskutiert wird des Weiteren über die Prospektivität der Patientenverfügung. Das Instrument verkörpert eine Möglichkeit dazu, prospektive Festlegung mit dem Anspruch auf unumstößliche Gültigkeit für die Zukunft zu tätigen. Dass dieser Aspekt angezweifelt werden kann, wurde bereits oben angezeigt. Dabei ist zentral, wie und ob es möglich sein kann, einen zukünftigen Willen bereits gegenwärtig hinreichend vorausschauend zu formulieren. Ein nahezu banales und alltägliches Beispiel verdeutlicht die Problematik: Bereits tägliche, womöglich sogar nur kurzfristige Planungen für die nächsten Tage machen einerseits deutlich, wie schwer sie selbst bei alltäglichen Dingen durchführbar sind, andererseits, wie selten der getätigte Plan dann der Realität zu entsprechen scheint. Nicht umsonst existiert das Sprichwort Es kommt immer anders, als man denkt. Unterstreichen lässt sich dies anhand von psychologischen Forschungen, die die Schwierigkeiten von Festlegungen für die Zukunft herausstellen.

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„Und noch schwerer gelingen uns schließlich solche Vorausplanungen für Situationen, für die uns praktische eigene Erfahrungen naturgemäß fehlen – wie z.B. das eigene Sterben. Mindestens ebenso sehr gilt dies für schlicht ‚unvorstellbare‘ Seinszustände, wie Demenz oder Wachkoma“312 .

Kann in solchen Fällen von einer Kontinuität des früheren Willens aus gesunden Tagen ausgegangen werden, oder ist eher eine Veränderung der Persönlichkeit in der Zeit und in der Lebenssituation zu antizipieren?313 Fagerlin und Schneider stellen in Ihrer Studie314 über das Scheitern der Patientenverfügung offensiv die Frage: „Do People Know What They Will Want?“315 Die begrenzte Vorhersehbarkeit der Zukunft bedarf der Berücksichtigung. Grenzen zeigen sich auch in der Unmöglichkeit, alle denkbaren Szenarien zu durchdringen und entsprechende Verfügungen zu tätigen. Dies gilt bereits für alltägliche Dinge, in besonderer Weise aber auch für die Reflexion von Krankheitszuständen und medizinischen Möglichkeiten. „Even patients making contemporary decisions about contemporary illnesses are regularly daunted by the decisions’ difficulty. How much harder, then, is it to conjure up preferences for an unspecifiable future confronted with unidentifiable maladies with unpredictable treatments?”316

Ein Alternativmodell, welches die genannten Schwierigkeiten umgehen soll, wird in der Literatur bereits angeboten. Patientenverfügungen, so 312

Klie, Die Patientenverfügung, 121. Vgl. Klie, Die Patientenverfügung, 121f. 314 Vgl. Fagerlin, Enough. Die US-amerikanische Studie, die bereits 2004 verfasst wurde, führt ein Scheitern der Patientenverfügung vor Augen und nennt dabei etliche, auch für Deutschland zutreffende und damit bereits oben aufgeführte Problemfelder im Umgang mit der Patientenverfügung. Ein Tenor, der die Wirksamkeit des Instruments anzweifelt obwohl es im Allgemeinen auf große Zustimmung und öffentliche Proklamation stößt, ist merklich: „Nor can any degree of tinkering ever make the living will an effective instrument of social policy” (Fagerlin, Enough, 30). Fagerlin und Schneider plädieren dafür, die Patientenverfügung nicht gesetzlich zu verankern und die Vorsorgevollmacht zu stärken. „Patients anxious to control future medical decisions should be told about durable powers of attorney, which have many advantages over living wills. As these things go, they are simple, direct, modest, straightforward, and thrifty” (Fagerlin, Enough, 38). Vgl. außerdem Klie, Die Patientenverfügung, 122. 315 Fagerlin, Enough, 33. 316 Fagerlin, Enough, 33. 313

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der Vorschlag, könnten situationsspezifischer dann zum Einsatz kommen, wenn sich konkrete Erkrankungsprozesse eingestellt haben, deren individuelle Verlaufs- und Therapieformen klarer abzusehen sind. Hier kann es Menschen möglich sein, Entscheidungen aus der Innenperspektive und aus dem realen Erleben einer Krankheit heraus zu treffen. Eine realistischere Einschätzung des Empfindens sowie der medizinischen Möglichkeiten wäre das Ziel.317 Ferner sollte nochmals auf den Aspekt der Meinungsänderung hingewiesen werden. „Aus der Begleitung von Menschen in Krisensituationen und auch aus der zugehörigen Forschung wissen wir heute recht genau, dass sich zu keinem Zeitpunkt unseres Lebens einschneidendere Einstellungsveränderungen vollziehen als in Krisen. Krisen und deren Bewältigung sind gerade gekennzeichnet durch solche Veränderungen“318 .

Eine valide Festlegung eines Willens aus gesunden Tagen für einen Krankheitszustand, der völlig unbekannt ist, ist vor diesem Hintergrund stark anzuzweifeln. Eine prospektive Aussage uneingeschränkt und unhinterfragt auf die Zukunft zu übertragen und dies mit dem Prädikat der Autonomie zu kennzeichnen, ist fraglich. Im Reflexionsprozess sollte Berücksichtigung finden, dass es zum Wesen des Menschen zu gehören scheint, sich zu verändern. Ein dialogischer Prozess ermöglicht die Achtung der Situativität. 5.3.5 Die Patientenverfügung als Überforderung „Eine Patientenverfügung überfordert alle Beteiligten – diejenigen, die sie aufsetzen ebenso, wie diejenigen, die sie zu befolgen suchen.“319 Diese Überforderung setzt bereits bei der Auseinandersetzung ein, Situationen der Krankheit und des Sterbens durchdenken zu sollen. Je nach Lebenssituation kann diese Auseinandersetzung gar zur großen Last werden. Zu denken ist dabei etwa an Krankheitssituationen, in denen sich eine Person befindet und diese bereits an ihren Kräften zehren. Auch mit zunehmendem Alter kann die Beschäftigung mit der Patientenverfügung eine Überforderung darstellen. Nicht nur, dass in hohem Lebensalter die Reflexionsfähigkeit womöglich reduziert ist, sondern auch die Präsenz des Sterbens oder gar einer zunehmenden Angst vor 317

Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 83f. Student, Wie nützlich, 5. 319 Student, Warum wir, 3 (Fettdruck im Original). 318

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dem Tod können das Nachdenken über die Thematik hemmen und teils unmöglich werden lassen. Zudem stellt sich die Frage innerhalb einer solchen Situation, ob der Verzicht auf eine Patientenverfügung unweigerlich ein Versäumnis darstellt und ob somit äußerer Druck für die Abfassung einer Verfügung angebracht sein kann. Maio erinnert in diesem Zusammenhang an die „Bedeutung der Gelassenheit am Ende des Lebens“320 und der Stärkung der Vorstellung, dass sich gerade das Sterben eines Kontrollimperativs entzieht. Während die Auseinandersetzung als solche bereits auf Zeichen der Überforderung hinweist, kann sich dies ebenso bei der Frage über den Inhalt einer Verfügung widerspiegeln. Die Entscheidung über Formulierungen scheint keineswegs klar und unproblematisch zu sein. Schwierigkeiten im Sinne einer Überforderung können sich auch bei beteiligten Personen bei der Umsetzung einer Verfügung ergeben. Zu denken wäre etwa an Ärzte, die mit unklar formulierten Verfügungen konfrontiert sind, die Frage nach der Aktualität des Willens bedenken müssen und vor den Herausforderungen der Ermittlung des mutmaßlichen Willens stehen. Auch für Angehörige und Bekannte ist beispielsweise die rechtliche Lage schwierig zu überblicken. Die Frage nach der Gültigkeit, Anwendbarkeit und Aktualität der Verfügung kann sie darüber hinaus vor große Herausforderungen stellen. Zudem ist ggf. eine Konfrontation mit einer Betreuerbestellung ebenfalls belastend. Hinzu tritt, dass die Situation einer Krankheit oder des Sterbens von Angehörigen als solche bereits überfordern kann; und dabei bleibt oft die Frage präsent, welches Handeln genau – möglicherweise trotz vorhandener Verfügung – in der aktuellen Situation angebracht ist. Nochmals zeigt sich: Obwohl die Patientenverfügung große Hoffnung auf autonome Entscheidungen und Selbstbestimmung vermittelt, ist ihre Umsetzung auf weitere Personen, auf Mitmenschen, angewiesen. Die reine (propagierte) Selbstbestimmung wird mitunter als Fiktion verstanden, sogar in zweifacher Hinsicht: Einerseits von ihrer Außendarstellung, wie gerade beschrieben wurde, andererseits aber auch vom inneren Erleben. Im Vorhinein, etwa im gesunden Zustand, erscheint die Möglichkeit der Selbstbestimmung durch die Patientenverfügung für die eigene Abgrenzung und den Schutz vor angstbehafteten Situationen wie Äußerungsunfähigkeit und Bewusstlosigkeit ein hohes, sicherheitsvermittelndes Gut zu sein. Doch nicht selten wird eine andere Tendenz hervorgehoben, was erneut den Fiktionscharakter aufweist.

320

Maio, Mittelpunkt Mensch, 367 (Fettdruck im Original).

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„Schwerkranke Menschen wissen, dass nicht die Autonomie, sondern das Vertrauen und die Geborgenheit in mitmenschliche Beziehungen, die Solidarität, also letztlich die Liebe die grundlegende, Leben ermöglichende Dimension des Menschseins ist.“321

Aller Propaganda und Rufen nach Selbstbestimmung zum Trotz erscheint mitunter in schwierigen Situationen des Lebens die tragende Dimension des Beistands durch Mitmenschen als Signum des Menschlichen. Die neuere Untersuchung der im Bundesärzteblatt veröffentlichten Befragung322 von 2011 unterstreicht diesen Aspekt. Folglich wird auf jene Darstellungen an dieser Stelle nochmals zurückgegriffen. Als ein interessantes Ergebnis konnte festgestellt werden, dass generell ein hohes Vertrauen sowohl gegenüber nahestehenden Personen als auch gegenüber dem Hausarzt vorzufinden war. Das Motto „Sie werden schon das Richtige für mich tun, wenn ich nicht mehr für mich selbst entscheiden kann!“ zeigt darin gängigen Tenor. Ferner wurde deutlich, dass dennoch kaum Kommunikation über Krankheitssituationen und die eigenen Wünsche und Vorstellungen im Familien- und Freundeskreis stattfindet. Die Autorin betitelt diesen Sachverhalt mit „Vertrauensvorschuss“323 . Gefragt wird infolgedessen, aufgrund welcher Anhaltspunkte und Äußerungen Personen im Ernstfall für ihre Angehörigen oder Freunde entscheiden können.324 Dennoch besteht keinerlei Zweifel aufseiten der Befragten, dass sie „in schwierigsten Lebenssituationen gut aufgehoben“325 sind bei ihren Ärzten und ihrer Familie bzw. Vertrauenspersonen. Hier manifestiert sich die obige Diskrepanz. Einerseits lässt sich eine laute Forderung nach Selbstbestimmung wahrnehmen. Andererseits zeigt sich mitunter, dass dieses Recht in Situationen der Krankheit und des Sterbens gar nicht wahrgenommen werden will. Ein Grund kann etwa wieder in der Überforderung durch die Situation als solche gesehen werden. So kommt die Autorin zu der Feststellung, dass sich vor diesem Hintergrund gefragt werden muss, „ob es nicht unethisch ist, einem Menschen eine Entscheidung in schwierigen Lebenssituationen abzuverlangen, die ihn mental, emotional und von der Tragweite her überfordert.“326 Um diese Einschränkungen zu wissen und sich dessen bewusst zu sein, ist Aufgabe aller Beteiligten im Diskurs. Zum einen erscheint hierzu eine angemessene Aufklärung – 321

Eibach, Fiktion, 122. Vgl. Geitner, Grundvertrauen. 323 Geitner, Grundvertrauen, 521. 324 Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 521. 325 Geitner, Grundvertrauen, 522. 326 Geitner, Grundvertrauen, 522. 322

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besonders auch zu medizinischen Möglichkeiten und laienhaften Fehleinschätzungen – notwendig, um sich reflektiert und angemessen mit der Thematik befassen zu können. Zum anderen sollte sich eine Gesprächskultur etablieren können, auch mit Verwandten oder Vertrauenspersonen bezüglich der eigenen Vorstellungen, Ängste und Wünsche. Dieser Auseinandersetzungsprozess kann helfen, der Thematik angemessener zu begegnen und sich nicht primär darauf auszurichten, sich vor Fremdbestimmung durch Andere zu schützen, sondern auch die Fremdbestimmung durch die eigenen Ängste und durch fehlerhafte Einschätzungen innergesellschaftlich, besonders auch zu medizinischen Fragen, zu reflektieren.327 5.3.6 Loslösung vom Mitmenschen Der abschließend thematisierte spezifische Aspekt pointiert sich in der an die Eigenart einer Patientenverfügung herangetragenen Kritik, sich vom Miteinander, vom Mitmenschen, loszulösen, um die Selbstbestimmung bis an die Grenzen des Lebens und darüber hinaus hochzuschätzen. Es kann wohl als ein Ziel der gesamten Debatte identifiziert werden, sich von paternalistischen Strukturen lösen zu wollen. Deutlich wurde jedoch, dass hierdurch viele der diskutierten Probleme ausgelöst zu werden scheinen. Der kommunikative Aspekt, der dem Menschen als sozialem Wesen sowie jeder tiefgreifenden Entscheidungssituation zugrunde liegt, wird damit infrage gesetzt. Aber, so heißt es von Kritiker-Seite, Patientenverfügungen „sind nur dann hilfreich, wenn sie eingebettet sind in eine derartige mitmenschliche Kommunikation.“328 Und dies auch dazu, dass der getätigte Wille in einer Patientenverfügung umgesetzt und zur Geltung gebracht werden muss.329 Es bedarf der erneuten Unterstreichung, dass auch Patientenverfügungen, die den Anspruch in sich tragen, das Selbstbestimmungsrecht in Zustände der Selbstbestimmungsunfähigkeit hinein zu verlängern und auf die Alleinverantwortlichkeit sowie den Solipsismus bauen, notwendigerweise auch auf die Umsetzung durch ein Gegenüber, einen Mitmenschen angewiesen sind. Die teils angestrebte Loslösung vom Mitmenschen kann also in Situationen der Umsetzung von Patientenverfügungen nicht aufrechterhalten werden. Einer isoliert wahrgenommenen Patientenverfügung, wie es die derzeitige Tendenz zeigt, scheint es also an einer wichtigen Komponente des 327

Vgl. Geitner, Grundvertrauen, 522. Eibach, Fiktion, 117. 329 Vgl. Bayerisches Staatsministerium, Vorsorge, 15. 328

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Menschseins zu mangeln: am Miteinander als Humanum des Menschseins. In dieser Aussage eröffnet sich zugleich die Verbindung zur theologischen Dimension, deren Aufgabe es im Folgenden sein wird, dieses Menschsein zu buchstabieren. Ferner tritt in den Blick, ob in diesem Zusammenhang ein Mehrwert in der Vorsorgevollmacht zu finden ist. Womöglich scheint sie sich auf die anthropologische Grundlage des Miteinanders zu stützen. Für die Patientenverfügung – allerdings ebenso wie für die Vorsorgevollmacht – scheint eine Reduktion in problematische Strukturen zu führen. Die Patientenverfügung, wie sie 2009 rechtlich gestärkt wurde, basiert auf einem isolierten Autonomieverständnis, welches es im Folgenden weiter zu befragen gilt. Auf eine derartige Vereinseitigung können die dargelegten Problemskizzen herangetragen werden. Auf gleiche Weise steht eine isoliert verstandene Vorsorgevollmacht in der Gefahr, das Subjekt zu missachten und in paternalistische Strukturen hineinzuführen. Um mit diesem Grunddissens reflektiert umgehen zu können, scheint es notwendig die Frage nach einem Menschenbild zu stellen, welches den Menschen weder als isoliertes Subjekt, noch als reines Massenwesen versteht. Hierzu eine ausgewogene theologische Konzeption aufzuarbeiten, wird Aufgabe der nächsten Kapitel sein.

5.4 Problematische Auswirkungen der Patientenverfügung Zum Abschluss der Thematisierung der an die Patientenverfügung herangetragenen Problemanzeigen sollen Charakteristika und spezifische Probleme der derzeitigen Patientenverfügung weitergedacht und bedenkliche Auswirkungen kenntlich gemacht werden. Eine direkte Anknüpfung an vorherige Aussagen ist somit notwendigerweise gegeben. Gleichwohl erfolgt die Betrachtung aus dieser veränderten Perspektive heraus, mit dem Ziel nähere und fernere Konsequenzen deutlich zu machen.

5.4.1 Lebensverkürzung Obwohl die Patientenverfügung als solche nicht das Erfordernis dazu ausdrückt, so scheint es, dass zumeist Umstände der Lebensverkürzung verfügt werden. Denn auch gewünschte Lebensverlängerung bzw. Weiterbehandlung, sofern eine medizinische Indikation vorliegt, kann hierin Ausdruck finden. Besonders in vorformulierten Musterexemplaren von Patientenverfügungen wird vielfach die Möglichkeit des vorgezo-

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genen und verkürzenden Endes gestärkter dargestellt.330 Insofern wird unmittelbar eine spezifischere Ausrichtung der Verfügung erzielt, als es ihr eigentlich entspricht. Teils wird vermittelt, dass Lebensverkürzung solcher Art Leidminderung ermöglicht. Gleichzeitig kann es daraufhin so erscheinen, als garantiere alleinig eine Patientenverfügung ein leidfreies Sterben, wodurch wiederum eine äußere Notwendigkeit im Verfassen einer Verfügung empfunden werden kann. Das gesellschaftlich gängige Bild der Erforderlichkeit von Vorausverfügungen zum Schutz vor ungewollter Lebens- und Leidensverlängerung manifestiert sich sodann. Da zusätzlich die Tragweite verfasster Verfügungen (vom medizinischen Laien und ohne fundierte Beratung) oft wenig reflektiert sein kann, vermag eine so verstandene Patientenverfügung durchaus auch ungewollte Lebensverkürzung mit sich zu ziehen. Geklärt und weiter betrachtet werden muss also, inwiefern ein stärkerer Schutz von Leben im Umgang mit der Patientenverfügung angebracht ist. Der starke Zusammenhang zur Theologie durch die unmittelbaren Fragen nach Leben, Lebenswert, Würde, Sterben und Tod ist erneut deutlich. Besonders der genannte Aspekt zur Frage der Würde eines Menschen wird im Laufe der Arbeit zu thematisieren sein. 5.4.2 Lebensunwerturteile Die vermittelte und dadurch vorgegebene Ausrichtung der Mustertexte weist eine weitere Auswirkung auf, die es kritisch zu reflektieren gilt. Nicht selten werden, wie wir bereits gesehen haben, Formulierungsanregungen zur Lebensverkürzung bei bestimmten Zuständen gegeben. Zu nennen wäre insbesondere Demenz oder Apallisches Syndrom.331 Vermittelt wird dabei mitunter eine Charakterisierung dieser Zustände als lebensunwert, sodass im Erkrankungsfall das Weiterleben zu beenden geboten erscheint. Sicherlich reagieren diese Formulierungsvorschläge auf gesellschaftlich vorhandene Ansichten, deren Ursprünge und Berechtigungen dennoch anzufragen bleiben. Beachtenswert sind erneut bereits genannte Forschungsergebnisse, die u. a. aufzeigen, dass einerseits ein Hineinversetzen in einen Krankheitszustand schwer möglich und somit der dann tatsächlich gültige Wille nicht zu eruieren ist, und andererseits darauf verweisen, dass Menschen mit diesem Krankheitsbild durchaus Lebenswillen zeigen können. Es besteht die Gefahr einer Stigmatisierung im Vorhinein, die zudem vorhandene gesellschaftliche Vorurteile und Ängste weiter verfestigt, statt etwa 330 331

Vgl. Student, Warum wir, 6. Vgl. auch Eibach, Patientenautonomie, 8f.

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Akzeptanz und Inklusion anderer Seinszustände zu fördern. Folglich können vorschnelle „Lebensunwerturteile“332 durch die Patientenverfügung begünstigt werden. Eingewendet wird dazu: „Der Tod darf niemals das Resultat eines Werturteils über einen Menschen werden.“333 Patientenverfügungen und nicht selten deren Ratgeber und Mustertexte forcieren gängige gesellschaftliche Vorurteile besonders bezüglich kognitiv-geistiger Einschränkungen. „Ein Patienten-Verfügungs-Gesetz droht die bestehenden Mängel in der Versorgung von Menschen, die mit Bewusstseins Einschränkungen [sic!] leben müssen, zu zementieren.“334 Die Unwürdigkeit und Hoffnungslosigkeit solcher Zustände wird alternativlos herausgestellt. Das gesellschaftlich teils vorhandene Bild der Anknüpfung der Würde eines Menschen an seine kognitiven Fähigkeiten erfährt hierdurch wachsende Bedeutung. „Indem kognitive Möglichkeiten des Menschseins zum Kriterium erhoben werden, werden einzelne Entfaltungsmöglichkeiten des Menschseins verabsolutiert; damit aber werden anthropologische Einsichten über die Ganzheitlichkeit des Menschen vergessen, indem man sich einseitig auf die Kognition, in der das Menschsein [. . . ] nicht allein aufgeht, fokussiert. Problematisch werden solche Vorstellungen insbesondere dort, wo sie – zur Norm erhoben – zur Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen (mit Demenz) führen, die diese nicht oder nur teilweise erfüllen können.“335

Dies wiederum mündet weitergeführt unmittelbar in die Diskussion der Eugenik und Euthanasie im Sinne von Vernichtung ungenügenden oder unwerten Lebens. Maßstäbe an einen Seinszustand von außen anzulegen, ist auch hier wieder problematisch. Rein kognitiv-geistige Kriterien als Grundlage für die Würde eines Menschen zu statuieren, erscheint bereits an dieser Stelle defizitär. Die Theologie bietet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, eine andere Wahrnehmung des Menschen zur Weiterführung der Diskussion zu implementieren, sodass sich der Wert des Menschen nicht ausschließlich an seinen (empirischen) Eigenschaften bemisst. Wie eine solche Anthropologie zu statuieren ist, wird im Folgenden Thema sein. 332

Eibach, Fiktion, 116. Mathwig, Das Sterben leben, 24. 334 Student, Warum wir, 6 (Fettdruck im Original). 335 Becker, Sein, 101. 333

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5.4.3 Das Primat der Selbstbestimmung Mit der Patientenverfügung und ihrer derzeitigen Ausgestaltung geht ferner einher, dass sie zu vermitteln scheint, nur ein selbstbestimmtes (Leben und) Sterben eingebettet in möglichst viele Festlegungen sei menschenwürdig. Die Frage stellt sich also – wie Eibach sie formuliert – ob im Umkehrschluss ein nicht selbstbestimmtes Sterben menschenunwürdig ist: „Viele Formulare von PV vermitteln diese Fiktion vom menschenwürdigen, weil selbstbestimmten Sterben durch PV. Diese ‚idealistische‘ Theorie besagt implizit, dass ein nicht selbstbestimmtes Sterben menschenunwürdig, wenigstens aber ‚minderwertig‘ sei.“336

Anzumerken ist hierbei, dass auch Passivität etwas dem Leben Ursprüngliches zu sein scheint, wie beispielsweise beim Werden des Lebens zu verzeichnen ist. Alleinig die Autonomie – verstanden als Unabhängigkeit – in einem Menschenleben als Würde-Maßstab anzusehen, erscheint wenig reflektiert.337 Ferner sollte hinsichtlich der Patientenverfügung nochmals erwähnt werden, dass es nahezu unmöglich ist, prospektiv alle Eventualitäten zu durchdenken, um eine geeignete Verfügung, die uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, zu formulieren. „Es gehört zu den harten Fakten des personalen Lebens, dass zu seinem Ende Phasen auftreten können, bei denen es überaus schwierig ist, Lebensschutz, Selbstbestimmung und Fürsorge in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Patientenverfügungen sind nicht geeignet, diese Schwierigkeiten grundsätzlich aufzuheben, sie sind aber ein wichtiges Instrument, den Dialog zwischen Patient und Angehörigen, Ärzten und Pflegepersonal verbindlicher zu gestalten.“338

Verrel verweist hier auf einen wichtigen Aspekt. Zweifelhaft erscheint durch die Beleuchtung der mit der Patientenverfügung einhergehenden Problematiken, ob die Verfügung ihrem Anspruch uneingeschränkt gerecht werden kann, eine isolierte Selbstbestimmung am Ende des Lebens zu gewähren. In diesem Zusammenhang wurde bereits von Fiktionen gesprochen, welche die Patientenverfügung zu vermitteln scheint. Gleichwohl kann ein Nutzen dieses Instrument in der Ermöglichung 336

Eibach, Patientenautonomie, 8. Vgl. Eibach, Fiktion, 115. 338 Verrel, Rechtliche Aspekte, 10. 337

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6. Rückblick und Ausblick

und Steigerung von Kommunikation über Krankheit, Sterben und Tod gesehen werden – sofern sie stattfindet.339 Dieser kommunikative Aspekt fällt derzeit hinter der öffentlichen Stärkung der Selbstbestimmung zurück. Gegenwärtig scheint eine Konzentrierung auf Autonomie und Autarkie zu erfolgen, was die kommunikative und dialogische Ebene des Menschseins mithin abwertet. Ob sich jene Konzentration auf die Autonomie in einem umfassenden Menschenbild standhaft erweist, wird zu klären sein. Bei einer Reduzierung des Menschseins bzw. einer Koppelung von Menschenwürde an gewisse Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen, besonders auch in Bezug auf die oben erläuterte Stigmatisierung von Menschen mit Einschränkungen, besteht die Gefahr, dass ein Druck von der Patientenverfügung ausgehen kann und es sich gar gesellschaftlich etabliert, eine Verfügung zur Vermeidung solcher Situationen einzusetzen. Eine Folge kann in einer Rechtfertigungsbedürftigkeit gesehen werden, sofern dieses Instrument nicht genutzt wird. Auch ökonomische Interessen können dabei leitend sein. Ein Türöffner hin zur Legalisierung und Anerkennung der aktiven Sterbehilfe sowie in letzter Konsequenz zur Eugenik wäre denkbar.340 Dies wiederum widerspricht nicht nur dem Gleichheitsgrundsatz von Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes oder Artikel 1 der UN-Menschenrechtscharta, sondern ist auch theologisch in Bezug auf das vermittelte Menschenbild zu befragen. Ferner kann die reine Konzentration auf die Selbstbestimmung aus einem weiteren Blickwinkel heraus kritisch bedacht werden. Unweigerlich, wie sich zeigte, sind bei der Umsetzung einer Patientenverfügung mehrere Personen beteiligt, mindestens medizinisches Personal, häufig aber auch Verwandte oder andere Vertraute. Infolgedessen kann es ggf. zu einer konfliktreichen Überlagerung der Selbstbestimmungsbereiche des Verfassers der Verfügung und der handelnden Personen kommen. Eine gewisse Gefährdung des ärztlichen Berufsethos wäre gar denkbar,341 wie dies etwa bei einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe ebenso in Diskussion steht. In Abgrenzung dieser an die Patientenverfügung herangetragenen Problemkonstellationen ist bereits jetzt der Hinweis gegeben, dass die Vorsorgevollmacht die geforderte dialogische und mitmenschliche Ebene zu inkludieren scheint. Welches Menschenbild für die Beachtung einer 339

Vgl. Maio, Mittelpunkt Mensch, 353ff. Maio stellt hierzu allerdings einschränkend die Frage, ob ein gewisses Defizit im Umgang miteinander ausgedrückt wird, wenn es einer Patientenverfügung als Gesprächsinitiator bedarf. 340 Vgl. Simon, Medizinethische Aspekte, 89. 341 Vgl. Mieth, Patientenverfügung.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

179

Ganzheit des Menschen theologisch dabei zugrunde zu legen ist, gilt es im Folgenden zu eruieren.

6. Rückblick und Ausblick Die Darstellungen der vorausgegangenen Kapitel zeigen interessante Entwicklungen in der Debatte um Vorsorgedokumente sowie in der Diskussion um die Gewichtung von Selbstbestimmung und Fürsorge, Autonomie und Heteronomie. Sichtbar wurde zum einen, dass die Diskussionsprozesse meist eine Entwicklung und Weiterentwicklung der Einstellungen mit sich gebracht haben und sich insofern Veränderungen im Themengebiet ergeben. Die Wahrnehmung des gesamten Sachverhalts ist über die Jahre hinweg eine andere geworden, was nicht zuletzt auf veränderte innergesellschaftliche, aber zum Großteil auch auf medizinisch-technische Entwicklungen zurückzuführen ist. Eine starke Befürwortung speziell der Patientenverfügung durch die Einführung und Änderungen des Betreuungsrechts begegnet nachvollziehbar vor dem Hintergrund der in Kapitel III.1 dargestellten, im 20. Jahrhundert vorherrschenden heteronomen Strukturen. Eine Abkehr hiervon erscheint angebracht. Als Reaktion dessen werden Selbstbestimmung und Autonomie, welche landläufig als Unabhängigkeit von Anderen verstanden werden, angestrebt und eine Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht wird lauter. Mit dem Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetz aus 2009 wurde vorerst das Extremum der Entwicklung erreicht. Vor dem Hintergrund der stattgefundenen und stattfindenden Debatten zeigt sich deutlich ein Anzweifeln jener Extremwege in Form einer vormaligen Konzentration auf Heteronomie und einer heute merklichen Beschränkung auf Autonomie. In Beiträgen der Medizin beispielsweise lässt sich besonders gut die Entwicklung des Gedankenprozesses erkennen: Eine Genese von der ursprünglichen Infragestellung des Nutzens einer Patientenverfügung bis hin zur Unterstützung ihrer Bindungskraft ist ersichtlich. Kritische Stimmen treten heute wieder durch Anfragen an ihre Praxistauglichkeit auf. Jene, an die Patientenverfügung herangetragenen Kritikpunkte wurden exemplarisch in Kapitel III.5 deskribiert und ihre weitreichenden Konsequenzen auf das Verständnis des Menschen, seiner Würde und seines Lebens gezeichnet. Eine Veränderung in der Perspektive kennzeichnet auch den Gedankenprozess der Kirchen, die 1999 der Patientenverfügung eine enge Reichweite zusprachen, diese bis 2005 ausweiteten, nun aber aktuell den Nutzen der Verfügung stärker mit einem Fragezeichen versehen.

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6. Rückblick und Ausblick

Interessant erscheinen in Addition dessen die eher konstanten Einstellungen der Bundesnotarkammer, die auch schon in der Vergangenheit die Vorsorgevollmacht präferierten. Insofern ergibt sich unweigerlich die Frage, ob vor dem Hintergrund der Diskussionen und Diastasen, die, wie wir gesehen haben, bis heute Gültigkeit aufweisen, einer der genannten Extremwege Heteronomie oder Autonomie der Thematik sowie dem Menschsein als Ganzem gerecht wird. Aufgabe sollte es vielmehr sein, ein belastbares Konzept zu entwickeln, das beide Anliegen in den Blick sowie wahrnehmbare Kritikpunkte ernst nimmt und einen gangbaren Weg auffindet. Speziell zur Vorsorgevollmacht sind nochmals einige Wahrnehmungen zu betonen. Die Vollmacht wurde, wie sich in obigen Darstellungen zeigte, während der gesamten Debatte von vielen Seiten implizit hochgeschätzt, hingegen keineswegs ausführlich diskutiert und reflektiert. Es stellt sich offensichtlich die Frage, warum die Vorsorgevollmacht – wenn auch indirekt – ein zu förderndes Vorsorgedokument zu sein scheint, wie sie in etlichen Darstellungen betitelt wird. Hinzu kommt, dass sie dennoch in den Schatten der Patientenverfügung gerät, die wiederum öffentlich als (einziges) geeignetes Mittel zur Abkehr von paternalistischen und heteronomen Strukturen wahrnehmbar wird. Es folgt als Konsequenz eine Phase der primären Stärkung der Patientenverfügung. Zu unterstreichen ist dies erneut mit den herausgegebenen Broschüren des Bundesministeriums der Justiz. In den aktuellen, stark patientenverfügungszentrierten Informationsmaterialien tritt die Vorsorgevollmacht klar zurück. Eine 2003 erschienene Broschüre zeigte noch eine andere Tendenz. Ihr etwas reißerischer Titel Wer klug ist, sorgt vor! Alter – Krankheit – Unfall: Wer vertritt mich, wenn ich nichts mehr regeln kann? Mut zur Vorsorgevollmacht bezeugt eindrücklich ihre starke Ausrichtung auf die Vorsorgevollmacht.342 Diese exemplarische Darstellung verdeutlicht eine polaritäre Ausrichtung der Handreichungen sowie gar eine sich mitunter ereignende Bewegung von der Vorsorgevollmacht hin zur Patientenverfügung. In neueren Materialien wird stark die Patientenverfügung zentriert.343 Aktuell verstärken sich jedoch wieder negative Anfragen an die Verfügung, sodass eine Welle der Abkehr von ihr zugunsten der Vollmacht spürbar ist – etwa vertreten durch die beiden großen Kirchen. Die Notwendigkeit zur Ergänzung einer Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht wird nun vermehrt dargestellt. Praxisstudien hingegen zeigen dennoch auf, welchen Nutzen Patientenverfügungen in sich bergen – sofern sie valide sind und in 342 343

Vgl. BMJ, Wer klug ist, sorgt vor. Vgl. BMJ, Patientenverfügung.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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ein Begegnungsgeschehen eingebettet werden. Eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Verfügung und ihrer tatsächlichen Handhabbarkeit in der Praxis wurde an etlichen Stellen deutlich. Ungeklärt bleibt, warum die dargestellte Entwicklung ihren Verlauf derart genommen hat. Verwunderlich ist dabei, dass gerade die Vorsorgevollmacht vor der gesetzlichen Verankerung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen im Jahre 2009 weithin präferiert und als umfassende Vorsorgemöglichkeit dargestellt wurde, sogar in Abgrenzung zu auch heute noch bestehenden und weiter diskutierten Problemen der Patientenverfügung. Die Entwicklung der letzten fünfundzwanzig Jahre scheint wenig zur Klärung, vielmehr aber zur Aufrechterhaltung und Stärkung der Schwierigkeiten beigetragen zu haben. Es können nur Mutmaßungen angeführt werden, warum die Möglichkeit der Vorsorgevollmacht aus dem öffentlichen Diskurs nahezu verschwand. Hierzu ist zum einen der höhere Abstraktheitsgrad einer Vorsorgevollmacht zu nennen. Der Nutzen einer Patientenverfügung, in der spezielle Anweisungen erteilt werden können, erscheint womöglich vordergründig größer als eine abstrakte Vollmacht, in der vermeintlich keine weitreichenden Regelungen getroffen werden. Insofern trägt die Patientenverfügung den Anschein, gesellschaftlich auf größeren Zuspruch zu stoßen. Ebenso verkörpert sie den Ruf nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit und passt insofern in die sich ereignende innergesellschaftliche Entwicklung. Unterstrichen werden konnte dies auch medial durch tragische Grenzfälle wie etwa bei Terri Schiavo, der erneut eine Forderung nach Selbstbestimmung durch Patientenverfügungen stärkte. Es ergibt sich das Postulat, dass aufgrund von vorrangig gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. gesellschaftlichem Druck der Trend hin zur Patientenverfügung stattfand, der außerdem durch die Ergebnisse der vom Bundesjustizministerium eingesetzten Arbeitsgruppe Patientenautonomie am Lebensende unterstützt werden konnte. Dennoch kann als Zwischenfazit zu der bislang stattgefundenen Darlegung aktuell wieder eine vermehrte Anfrage an die Patientenverfügung registriert werden, gepaart mit einer derzeit noch eher schwachen Hervorhebung der Vorsorgevollmacht. Ersichtlich wurde bereits hierzu, dass einige kritische Haltungen – auch schon in Vergangenheit – im Zusammenhang laut werden und bis heute Resistenz aufweisen. Die Genese zeigt, dass die rechtliche Verankerung der Patientenverfügung die Gretchenfrage bis jetzt nicht auflösen konnte: „Lassen sich antizipative Verfügungen normativ wirklich in gleicher Weise behandeln wie Äußerungen eines einsichtsfähigen Patienten?“344 344

Höfling, Das neue Patientenverfügungsgesetz, 2852.

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6. Rückblick und Ausblick

Ziel muss es also sein, die Anfragen zum einen durch einen gezielten Fokus auf die Vorsorgevollmacht mit dieser ins Gespräch zu bringen und zum anderen Wege über die Problematiken hinaus zu entwickeln, um so schließlich eine normative Gewichtung vornehmen zu können. Dazu ist es entscheidend, ein tieferes Verständnis auftretender Begrifflichkeiten – insbesondere der Topoi Autonomie / Selbstbestimmung und Fürsorge – anzustreben, ihren Zusammenhang zum zugrunde liegenden Menschenbild aufzuzeigen und daraufhin mithilfe der Theologie belastbar in den Diskurs eintreten zu können. Ein besonderer Mehrwert begegnet im Rahmen der Theologie, da sie den Menschen in Beziehung zu Gott wahrnimmt und ihn somit von außen begründet, konstituiert und erhalten weiß. Der Mensch ist so ein Beziehungswesen. Darüber hinaus resultiert die Aufgabe zur Lebensgestaltung, zum Handeln und zum aktiven Dasein des Menschen. Diese Aspekte konzeptionell auszubuchstabieren, zu diskutieren und in einen Zusammenhang zum Themenfeld Vorsorge einzuordnen, wird die folgenden Darstellungen der Abschnitte IV und V vorantreiben müssen. Als weitere Perspektive dieses Rückblicks sollen nun nochmals die beiden Instrumente Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, auf die sich der Diskurs vorwiegend konzentriert, mit ihren spezifischen Eigenarten zentriert werden. Gezeigt werden konnte, dass die Patientenverfügung auf einem Autonomiekonzept aufbaut, welches dazu tendiert als Unabhängigkeit und als Abgrenzungsfreiheit verstanden zu werden, was wiederum mit Selbstbestimmung und gar einer Forderung eines Selbstbestimmungsrechts begründet wird. Hierin scheint die Patientenverfügung dem Zeitgeist zu entsprechen. Mit der Rechtsprechung von 2009 sind diese Aspekte validiert worden, sodass die uneingeschränkte Gültigkeit der Verfügung Selbstbestimmung vor Lebensschutz ordnet und einen prospektiven Willen als faktischen Willen identifiziert. Unterdessen zeigt sich als doppelte Diskrepanz einerseits ihre starke innergesellschaftliche Befürwortung mit ihrer derzeit noch recht geringen Verbreitung, andererseits ihre rechtliche Aufwertung mit der Praxiserfahrung zu mangelnder Validität, Genauigkeit und Umsetzungsfähigkeit. Folglich ist die Kritik, die Patientenverfügung vermittele Fiktionen und damit letztlich nur eine Scheinsicherheit, in mehrfacher Hinsicht ernst zu nehmen. Diesbezüglich ist etwa darauf zu verweisen, dass ihr mitunter solipsistischer Anspruch nicht ohne die Mitwirkung von Mitmenschen zur Umsetzung kommt und sie sich der Frage stellen muss, ob sie ihrem Autonomie-Anspruch aus der Flucht vor den eigenen Ängsten heraus und mit zumeist fehlender medizinischer Expertise tatsächlich gerecht

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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werden kann. Eine Unterwerfung unter eigene Ängste kann ebenso als Heteronomie wahrgenommen werden. Eine nach heute rechtsgültigen Maßstäben verstandene Patientenverfügung negiert die soziale Struktur und die dialogische Ebene im Menschsein, insbesondere dadurch, dass sie sich von einem fürsorgenden Element abzugrenzen versucht. Theologisch wird weiter zu fragen sein, auf welches anthropologische Konzept sich diesbezüglich aufbauen lässt und in welches strukturelle Verhältnis Autonomie und Fürsorge einzugliedern sind. Ein alleiniges Konzentrieren auf ebensolche Autonomie und Selbstbestimmung scheint, so die Praxiserfahrung, dem Menschen in seinem individuellen Leben und Sterben nicht zu entsprechen. „Das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge hat in den Hintergrund treten lassen, dass Selbstbestimmung Fürsorge auch zur Voraussetzung hat.“345 Festzustellen ist, dass es einer missverstandenen Patientenverfügung, die alleinig und isoliert auf die Autonomie hin wahrgenommen wird, an jenem wichtigen und für das menschliche Leben entscheidenden Aspekt des Miteinanders zu fehlen scheint. Auch die Eindrücke zur Vorsorgevollmacht bedürfen im Folgenden einer eingehenden Konkretisierung, besonders aus theologischer Perspektive, die sich aus den bereits dargestellten Hintergrundinformationen und Grundlegungen speisen. Explizit in den Blick zu nehmen bleibt der Eindruck der vorrangig eher schwach hervorgehobenen Vorsorgevollmacht in der gesamten Debatte trotz vorhandener Wertschätzung jener. Auch die rechtliche Stellung der Vorsorgevollmacht verleitet dazu, weiteren Fragen nachzugehen. Hierbei sei erwähnt, dass durch die Einführung des und die Änderungen im Betreuungsrecht zwar auch die Bevollmächtigung einer Vertretungsperson innergesetzlich benannt, aber dennoch mit Einschränkungen festgeschrieben ist. Fraglich ist also, ob das Gesetz einem generellen Verständnis einer Vollmacht gar widerspricht. Erscheint etwa das wesentliche Attribut einer Vollmacht, die Uneingeschränktheit, hier gestört? Oder fordert gerade die große Reichweite der Vorsorgevollmacht, nämlich Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen, notwendigerweise eine Kontrollinstanz in Form der Betreuungsgerichte? Am Beispiel des § 1904 BGB können diese Fragen verdeutlicht werden. Hiernach kann auch ein Vorsorgebevollmächtigter, dem für betreffende Bereiche explizite Entscheidungsbefugnis übergeben wurde, seine Einwilligung, Nichteinwilligung oder seinen Widerruf für eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff mit der begründeten Gefahr für Leib und Leben der Person nur geben, sofern er hierfür eine 345

Kirchenamt der EKD, Sterben hat seine Zeit, 16.

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6. Rückblick und Ausblick

Genehmigung vom Betreuungsgericht eingeholt hat oder dies in Einigkeit mit dem Arzt erfolgt. Folglich ist ein Bevollmächtigter hier nicht voll autorisiert handlungsfähig. Anzufragen bleibt also, ob die rechtliche Bewertung einer Vorsorgevollmacht für Gesundheitsangelegenheiten neu überdacht werden müsste. Ein wesentliches, übergreifendes Kennzeichen der Vorsorgevollmacht scheint zu sein, dass sie von sich heraus den Aspekt des Dialogs und des Miteinanders inhäriert. Zugleich kann sie nicht auf einen (negativ konnotierten) Paternalismus beschränkt werden. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass eine Vorsorgevollmacht selbstständig und selbstverantwortlich abgefasst wird und somit der Vollmachtgeber aus intrinsischer Überzeugung heraus seine Vertrauensperson bevollmächtigt und ihr selbst die Entscheidungskompetenz im Namen seiner Person für den Bedarfsfall übergibt. Die Vorsorgevollmacht setzt somit bereits einen selbstbestimmten Akt voraus. Beide Aspekte um Autonomie und Fürsorge scheinen hier also in ein Wechselverhältnis, eine Relation einzutreten, welches es im weiteren Verlauf zu konkretisieren gilt – insbesondere angesichts eines theologischen Verständnisses des Menschen. Gerade die Darstellung der praxisnahen Studien zeigt weitere Bezugspunkte zur theologischen Relevanz auf. Sie unterstreichen beispielsweise den dialogischen Charakter als Mehrwert. Der Mensch wird als Beziehungswesen wahrgenommen und die Brücke zur (theologisch begründeten) Relationalität des Menschen ist geschlagen. Eine solche Implementierung einer Beziehungsebene zeigt wiederum besonders in der Praxis positive Wirkung. Insofern lässt sich anhand dieser Praxisbeispiele eine beachtenswerte Bewegung kennzeichnen: Wenngleich ursprünglich nahezu ausschließlich die Selbstbestimmung gestärkt werden sollte, so wurde die Erfahrung gemacht, dass dies zu einseitig erscheint. Eine Bewegung hin zu einem Wechselverhältnis von Autonomie und Fürsorge findet statt. Ein entsprechendes Grundlagenkonzept liegt in den dargestellten Studien nicht vor, was zugleich abermals den Zugang zur theologischen Disziplin hier eröffnet. In den nachfolgenden Kapiteln soll geprüft werden, welchen Beitrag die Theologie zum Fortgang dessen leisten kann. Festzuhalten ist, dass auch in der Praxis bereits eine Verbindung von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht gedacht wird, sich zugleich aber ein genuiner Mehrwert der Vorsorgevollmacht trotz persistierender Hochschätzung der Patientenverfügung offenlegt. Inwiefern hierzu Grundlegungen erfolgen können, bleibt zu klären.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Eine einseitig wahrgenommene Patientenverfügung steht letztlich in der Gefahr, die Sozialität des Menschseins zu negieren, während auch eine vereinseitigende Wahrnehmung der Vorsorgevollmacht dazu führen kann, das Subjekt zu vernachlässigen. Ziel muss es somit im Folgenden sein, mithilfe weiterer Untersuchungen ein theologisches Konzept aufzufinden, welches die Subjekthaftigkeit sowie die Beziehungshaftigkeit des Menschen wahrnimmt und ins Verhältnis setzt. Wie und ob dieses bereits expliziert ist, wird insbesondere Thema der Kapitel IV.2 bis V.2 sein. Genuine Frage ist dabei, welches Bild vom Menschen in seiner Ganzheit zu zeichnen ist, ohne wiederum ein reduktionistisches Menschenbild hervorzubringen. Ziel muss es also sein, einen Dialog der Ebenen des Menschseins herzustellen und sie zusammenzuführen. Hierzu leistet die Theologie ihren besonderen Beitrag, indem sie den Menschen in seiner Ganzheit wahrzunehmen versucht und in ein relationales Verhältnis zwischen Mensch und Mensch, besonders aber auch zwischen Gott und Mensch stellt. Welche anthropologischen Konzepte von theologischer Seite bereits zum Thema Vorsorge zur Sprache gebracht wurden, wird sogleich im Abschnitt IV anzusprechen sein. Gleichwohl steht es zuvörderst noch aus, das Verständnis des Autonomie-Begriffs zu schärfen, um diesen in den nachfolgenden Diskussionen nachhaltig einsetzen zu können. Insofern wird zum Abschluss des vorliegenden Abschnitts III und als Resultat der bereits erfolgten Analysen gezielt darauf verwiesen, dass der innerhalb der Debatten zumeist vorfindliche Autonomie-Begriff hinsichtlich eines reduktionistischen Verständnisses differenziert zu prüfen ist. In besonderer Weise kann die theologische Füllung des Topos eine sich öffnende Perspektive entwickeln. Notwendig erscheint der angefügte Zwischenschritt nicht nur als Resultat der vorausgegangenen Wahrnehmungen, sondern besonders auch als Gesprächsgrundlage für die weitere Aufarbeitung im Abschnitt IV. Ermöglicht wird hervorgebrachte Argumentationsweisen mithilfe des zu entwickelnden relationalen AutonomieBegriffs, der bereits eine Beziehungsebene umfasst, kritisch und belastbar anzufragen.

7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs Eine zentrale Relevanz des Autonomie-Begriffs für das vorliegende Thema wurde im Rückblick bereits mehrfach hervorgehoben. Gerade in Bezug auf den Terminus Patientenautonomie oder im Disput über die Gewichtung von Autonomie oder Fürsorge zeigt sich, wie zentral die Begrifflichkeit ist. Andererseits tritt in der Debatte der Begriff der

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

Selbstbestimmung hervor, der offenbar in Korrelation zum Begriff Autonomie steht und nicht selten in den vorausgehenden Debatten synonym verwendet wurde. Jedoch ist ein tieferes Verständnis jener inhaltsstarken Topoi noch nicht ausreichend dargelegt. Sie wurden vielmehr ohne Reflexionsgrundlage verwendet. Notwendigerweise wird nun an dieser Stelle einer Aufarbeitung der Begrifflichkeit nachgekommen, um angestrebte Argumentationsstrukturen nachhaltig auf ein fundiertes Verständnis der Begriffe aufbauen zu können. Methodisch wird hierzu, zur anfänglichen Motivation des vorliegenden Zwischenschritts, eine Skizzierung des vorherrschenden gesellschaftlichen Verständnisses von Autonomie vorgenommen, welches auch die bisher dargestellte Debatte um die Patientenverfügung maßgeblich bestimmt. Diesbezügliche Erkenntnisse bauen vorrangig auf die bereits gewonnenen Einsichten auf, die, wie in den Abschnitten III.1 bis III.4 beschrieben, die Situation rund um das Thema Vorsorge geprägt haben. Auch die vorherrschenden Parallelen zum Thema Vorsorgevollmacht im Diskurs mit der Patientenverfügung werden betrachtet. Anschließend soll gezielter die etymologische sowie die semantische Konstruktion des Begriffs Autonomie in den Fokus rücken und ferner in eine theologische Fundierung münden. Die Dringlichkeit einer Klärung der Begriffe fasst Härle eindrücklich zusammen. Seine Einschätzung soll der Aufarbeitung insofern als längeres Zitat im Sinne einer Hinführung vorangestellt werden: „Zu den Begriffen, die in den letzten Jahren eine große Konjunktur erlebt haben, aber meiner Meinung nach auch zu den verschleiernden, unklaren, irreführenden Begriffen gehören, zähle ich ‚Autonomie‘. Ich habe den Eindruck, dass das vielfältige Reden von ‚Autonomie‘ – auch von ‚Patientenautonomie‘ – dringend einer Klärung und Reinigung bedarf, wenn es nicht unser Denken und Handeln und damit auch unser gesellschaftliches Zusammenleben stören, verwirren oder beschädigen sollen. Diese Gefahr sehe ich vor allem deshalb gegeben, weil der Begriff ‚Autonomie‘ an vielen Stellen – verdeckt oder offen – zum Interpretations- oder sogar Ersatzbegriff für ‚Menschenwürde‘ geworden ist. Insbesondere im Blick auf das Ende des menschlichen Lebens wird häufig ein menschenwürdiges mit einem ‚autonomen‘ Sterben gleichgesetzt und umgekehrt eine Sterbesituation, in der die ‚Autonomie des Patienten‘ nicht gewahrt oder geachtet wird, als menschenunwürdig empfunden und bezeichnet. In vielen neueren Texten scheint ‚Menschenwürde‘ geradezu als Synonym für ‚Selbstbestimmungsrecht‘. Und nicht selten wird dabei ‚Selbstbestimmung‘ bzw. ‚Selbstbestimmungsrecht‘

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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einfach mit ‚Autonomie‘ bzw. konkret mit ‚Patientenautonomie‘ gleichgesetzt.“346

7.1 Das gegenwärtige gesellschaftliche Autonomiekonzept und seine Prägung In der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist ein Streben nach Autonomie, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung merklich. Jenes wird essenziell von Krankheit, Leiden, Sterben und Tod durchkreuzt: Ist eine Beschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit zu verzeichnen, so geraten die Ansprüche an das Leben infrage. Als eine Strategie, einer derartigen Beschränkung entgegenzuwirken, ist die Patientenverfügung als Instrument für den fortgeltenden Willen einer Person gestärkt worden. In den vorausgegangenen Kapiteln wurde darüber hinaus deutlich, dass zu den Themen Autonomie und Selbstbestimmung innerhalb des Diskurses Heteronomie und Fürsorge als (nicht selten negativ konnotierte) Antonyme begegnen.347 Die Autonomie, die Individualisierung sowie die persönliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der eigenen Lebensgestaltung erfahren gegenwärtig gesellschaftliche Hochkonjunktur und haben sich zu erstrebenswerten Gütern entwickelt. Schon begriffsmäßig ist die Verbindung zur Patientenautonomie, die zum Thema Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht in entscheidender Korrelation steht, vorhanden und somit auch nachzuzeichnen. „Wirft man allerdings einen Blick in die Begriffsgeschichte, so wird der Bedeutungswandel bzw. die Reduzierung des Begriffsinhalts auf einen bestimmten Bereich deutlich. Autonomie spielt erst seit der Neuzeit, und hier besonders in Verbindung mit Immanuel Kant eine zentrale Rolle.“348

Bereits durch Kant wird eine Annäherung – nicht selten wird diese als Gleichsetzung interpretiert – von Autonomie und Würde erreicht, was auch heutiges Denken prägt: Schwindet die Fähigkeit zu autonomer Selbstbestimmung beispielsweise im Alter oder durch Krankheit, so wird diese Entwicklung teils als menschenunwürdig betitelt. Eine Identifikation von Autonomie und Menschenwürde wird merklich, wie bereits die vorausgegangenen Kapitel aufweisen konnten. Es heißt dabei: Autonomie ist „der Grund der Würde der menschlichen und jeder 346

Härle, Menschsein, 213f. Vgl. Student, Warum wir, 1. 348 Becker, Sein, 98. 347

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

vernünftigen Natur“349 , da der Mensch einzig Mensch ist, wenn er autonom, also „sein eigener Herr“350 ist. „Der Mensch ist für Kant nur dort ganz Mensch, wo er sich selbst bestimmt, indem er sich von seinem naturwüchsigen Begehren distanziert, um sich vermöge seiner praktischen Vernunftkompetenz zu vergewissern, was er wollen soll.“351 Die Formierung des neuzeitlichen Autonomie-Begriffs erfolgt besonders nach der Aufklärung. Große Verbindung zeigt er zum Begriff der Freiheit, welcher gegenwärtig vornehmlich im Sinne einer Wahlfreiheit interpretiert wird.352 „Die Sache, die nach der Aufklärung durch den Begriff bezeichnet wird, steckt seit der Antike im Begriff der Freiheit“353 . Der autonome Mensch achtet aus Freiheit die Würde anderer Personen. „Nur ein autonom handelndes Wesen erhebt sich durch Selbstachtung zur Würde der Person, die es auch in anderen Personen aus Freiheit und um der Freiheit willen achtet.“354 Jene Freiheit ereignet sich in Anlehnung an Kant „durch die Einsicht in das allgemeine Sittengesetz und durch den Gebrauch der Vernunft“355 . Autonomie und Freiheit vollziehen sich so durch den Gebrauch der Vernunft, welche sich am allgemeinen Sittengesetz orientiert und somit eine Maxime zugrunde liegt, die als allgemeines Gesetz gelten kann. Sich selbst Gesetze und Pflichten aufzulegen und sich an diese zu halten macht die Würde einer Person aus.356 Kant beschreibt also die Autonomie als „Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“357 . Die Reduzierung der Würde auf die Vernunft und auf die Autonomie ist in der Interpretation Kants mitunter auffindbar. Dieses Verständnis beeinflusst die heutige Auffassung innerhalb der westlichen Leistungsgesellschaft, in der die Individualisierung ein ho349

Becker, Sein, 98. Becker, Sein, 98. 351 Pieper, Art. Autonomie, 290. Eine Interpretation der Philosophie Immanuel Kants kann an dieser Stelle nicht gewährleistet werden. Es muss auf den Exkurs: Immanuel Kant in Kapitel IV.3.1.1.2 verwiesen werden. Dort wird auch nochmals genauer die Frage nach einer Identifikation von Autonomie und Würde bei Kant gestellt. Die Abhandlung hier kann folglich nur einen knappen Verweis auf die KantInterpretation ziehen. 352 Für ein genaueres Verständnis von Freiheit sei an dieser Stelle auf den Exkurs: Das Verständnis von Freiheit in Kapitel IV.3.2.2.2.1 verwiesen, der eine Begriffsklärung dieses Topos zum Ziel hat und hinterfragt, ob in der Interpretation von Freiheit als Wahlfreiheit die Bedeutung aufzugehen scheint. 353 Amelung, Art. Autonomie, 4. 354 Pieper, Art. Autonomie, 290. 355 Becker, Sein, 98. 356 Vgl. Kant, Grundlegung, 15ff.; 50ff.; Becker, Sein, 98f. 357 Pieper, Art. Autonomie, 290. 350

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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hes Gut zu sein scheint. Allerdings lässt sich derweil kein allgemeingültiges theoretisches Konzept der Autonomie beschreiben, vielmehr sind es verschiedene Strömungen, die das gängige Verständnis kennzeichnen und insbesondere auch die Debatten zum vorliegenden Themengebiet prägen. Wichtiges Kennzeichen des gesellschaftlich verbreiteten Autonomie-Bildes ist die Loslösung der eigenen Biographie, die Selbstgestaltung – unabhängig von vorgegebenen Prägungen – sowie die Eigenverantwortlichkeit und damit verbunden die Loslösung und Reduzierung der Beeinflussung von sozialen Strukturen und von Beziehungen. Dementgegen wird immer wieder herausgestellt: „These perspectives are premised on a shared conviction, the conviction that persons are socially embedded and that agents´ identities are formed within the context of social relationship and shaped by a complex of intersecting social determinants, such as race, class, gender, and ethnicity.”358

Die Ich-Zentriertheit durch Eigenaktivität ist jedoch zumeist vorrangiges Ziel geworden, ein „ichzentriertes Weltbild“359 entsteht.360 Im Gegensatz zu Kant, dem die allgemeingültige Maxime zugrunde liegt (kategorischer Imperativ), erfolgt nun eher eine Akzentsetzung auf die eigene Person, das individuelle Subjekt sowie auf das Durchsetzen der persönlichen Lebenspläne. Weitere Dimensionen, etwa die Sozialität des Menschen und seine Solidarität gegenüber Anderen, geraten aus dem Blick.361 „Autonomie basiert auf der Gemeinsamkeit und den vielfältigen Strategien zum Aufbau dieser Gemeinsamkeit, [. . . ], sie zu übersehen bedeutet eine Ausblendung der Realität.“362 Diese Unterschätzung der Beziehungsstrukturen im Menschenleben zeigt weitreichende Konsequenz: „Damit geht eine Hoch- bzw. Überschätzung der eigenen Lebens- und Verwirklichungsmöglichkeiten einher, deren Bedingungen wiederum nur für einen Teil der Gesellschaft – und zumeist auch nur in bestimmten Abschnitten ihres Lebens – realisierbar sind.“363 Dieser Aspekt ist von besonderer Relevanz für die vorliegende Diskussion. In Situationen der Entscheidungs- und Äußerungsunfähigkeit, die mit der Umsetzung von Vorsorgevollmachten sowie von Patientenverfügungen einhergehen, wird genau dies wieder wichtig. Die Autonomie – im Sinne von Freisein von jeglicher Fremdeinwirkung – zeigt 358

Mackenzie, Introduction, 4. Becker, Sein, 100. 360 Vgl. Becker, Sein, 99f. 361 Vgl. Becker, Sein, 100. 362 Illhardt, Die ausgeblendete Seite der Autonomie, 13. 363 Becker, Sein, 100. 359

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

Grenzen, wie auch die kritischen Diskussionen zur Patientenverfügung deutlich werden ließen. Hier hingegen wird eine existenzielle Notwendigkeit der Fürsorge durch Mitmenschen aufgezeigt und gefordert. Ferner birgt diese Reduzierung des Autonomieverständnisses infolge der Gleichsetzung mit Würde weiterführende problematische Auswirkungen, besonders in der heutigen Gesellschaft, die einen starken demographischen Wandel zu verzeichnen hat: Alternde und alte Menschen nehmen mittlerweile einen großen Anteil ein.364 Das Vorantreiben beispielsweise von medizinischen Möglichkeiten, der Anti-Aging-Kultur und dem Wunsch nach einem langen Leben fördert dies wiederum. Zugleich ist innergesellschaftlich aufgrund der Ich-Zentriertheit eine Risikobereitschaft merklich, die wenig Platz für die Schattenseiten dieser Entwicklungen lässt, in denen Selbstbestimmung und Autonomie mitunter infrage geraten. Altersschwache oder kranke Menschen, nicht zuletzt Menschen mit Demenz, sind so schwerlich in das Schema – und somit in die Gesellschaft – einzugliedern. Rational betrachtet lässt sich dieses gesellschaftliche Idealbild höchstens auf eine Zeit in der Mitte eines gesunden Lebens reduzieren. Anfangs- und Endphase, aber auch jegliche Art von Krankheit und Schwachheit, die ontisch auf Hilfe von außen und Fürsorge angewiesen sind, bleiben außer Acht. Gerade die starke Korrelation bis hin zur Gleichsetzung von Autonomie und Menschenwürde verleitet dazu, für einen Teil der Gesellschaft eben diese Würde mit einem Fragezeichen zu versehen.365 Hierfür wird es notwendig, jene empirisch feststellbaren, oft kognitiven Qualitäten eines Menschen als Grund seiner Würde zu definieren. „Die entscheidende Weichenstellung in diese Richtung wird erstens vollzogen, indem man die Würde des Menschen inhaltlich primär von der Autonomie her versteht, sodass die Achtung der Menschenwürde mit der Achtung der Autonomie zusammenfällt und in ihr aufgeht. Der zweite entscheidende Schritt wird vollzogen, indem man die Autonomie und mit ihr dann auch die Würde als empirisch feststellbare Qualitäten versteht, deren Vorhandensein und Fehlen man empirisch messen kann.“366

Nun ist ebenso aus theologischer Perspektive erneut anzufragen, wie ein geeignetes Verständnis von Autonomie (und darüber hinaus von Freiheit und Fürsorge und insbesondere von der Würde eines Menschen) entwickelt werden kann, dem keine derartige Vereinseitigung 364

Vgl. Nowossadeck, Demografische Alterung, 1ff.; http://www.bundesaerztekam mer.de/downloads/Analyse-Kopetsch.pdf, Stand: 11.03.2013. 365 Vgl. Becker, Sein, 99ff. 366 Eibach, Menschenwürde, Menschenrechte, 5.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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des Menschseins zugrunde liegt. Um eine geeignete Antwort entwickeln zu können, stehen nun etymologische wie semantische Zusammenhänge zur Autonomie im Zentrum, die dann den Übergang zur theologischen Erläuterung eröffnen. 7.2 Etymologische Erkenntnisse zum Autonomie-Begriff Der Begriff Autonomie setzt sich aus den altgriechischen Begriffen αὐτ ός (griechisch: selbst) und νόµoς (griechisch: Gesetzlichkeit, Gesetzgebung) zusammen und kann insofern als Selbst-Gesetzlichkeit oder Selbst-Gesetzgebung genauer wiedergegeben werden, „d.h. der Begriff bezeichnet die Fähigkeit und Berechtigung selbst die Gesetze aufzustellen, die für das eigene Dasein gelten sollen.“367 Vor diesem Hintergrund erschließt sich begrifflich ferner der Gegensatz zur Heteronomie, also der Fremd-Gesetzlichkeit oder Fremd-Gesetzgebung. Zudem ist insbesondere im theologischen Horizont nach dem Verhältnis zur Theonomie, der gegebenen Gesetzlichkeit durch Gott, zu fragen. Wie lassen sich also die gegebenen Gesetze Gottes mit der menschlichen Autonomie zusammendenken? Tritt hierin eine weitere Größe auf oder ist die Theonomie gar in Verbindung mit der Autonomie zu denken, da Gott nicht außerhalb des Selbst sein kann? 368 7.2.1 Der αὐτ ός-Aspekt Was aber beschreibt genau dieses Selbst im Sinne von αὐτ ός im Begriff der Autonomie? Bezeichnet ist ein Selbstsein, ein Identischsein mit sich selbst. „Und in diesem Sinne kann man sagen: Alles ist, sofern es mit sich identisch ist, es selbst.“369 Selbst ist also der Mensch gemäß seinem Sein als unverwechselbare Person. „Das Vielversprechende, Verlockende, Einladende, Faszinierende am Begriff ‚Autonomie‘ liegt jedenfalls sicher weniger im Nomos-Bestandteil dieses Begriffs, sondern in dem Verweis auf das ‚Selbst‘, der Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung verspricht.“370 Ein individueller Aspekt im Sinne der eigenen Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist in dem αὐτ ός-Begriff aufzufinden. Ein tiefergehender Blick offenbart eine weitere ontologische Dimension. Diese liegt darin zugrunde, wie und auf welche Weise ein Selbst konstitu367

Härle, Menschsein, 214. Vgl. Härle, Menschsein, 214. 369 Härle, Menschsein, 216. 370 Härle, Menschsein, 217. 368

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

iert und geprägt wird. Zu kurz gedacht erscheint es, dabei nur auf die eigene Selbstbestimmung Bezug zu nehmen. Denn ein Selbst ist nicht isoliert oder solipsistisch. „‚Selbst‘ ist ein komplexer Relationsbegriff, zunächst in dem Sinn, dass das Wissen um sich selbst eine Beziehung zu sich selbst voraussetzt, die den Charakter von Selbstwahrnehmung, Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung hat, sodann aber auch in dem Sinn, dass das Relat ‚Selbst‘ auch in sich relational verfasst ist.“371

Hier zeigt sich also bereits eine ontologische Relationalität des SelbstSeins, durch die eine Beziehung zu sich selbst wie auch zu Anderen inkludiert ist und keineswegs rein individualistisch gedacht wird. Die Relationalität ist folglich konstitutiv angelegt. „Es gibt kein Selbst ohne Relation zu Anderem.“372 Härle kommt somit zu der Feststellung: „Menschsein und Dasein heißt konstitutiv In-Beziehung-Sein.“373 Die etymologische Betrachtung der Begrifflichkeit Autonomie mit speziellem Blick auf das Selbst offenbart bereits eine ontologische Relationalität, die wesentliches Element im Verständnis der Autonomie ist und insofern ausdrücklich unterstrichen werden muss.374 7.2.2 Der νόµoς-Aspekt Ferner ist die zweite Wortkomponente, das νόµoς, entscheidend und trägt gleichwohl zu einem Verständnis der Autonomie bei. Im ursprünglichen Sinne ist mit νόµoς ein Gesetz bzw. eine Regel gemeint, „die idealerweise ausnahmslos gilt.“375 In diesem Sinne bezieht sich die Autonomie darauf, die eigenen Gesetze des persönlichen Handelns selbst zu definieren, also genaugenommen als der eigene Gesetzgeber aufzutreten. Gleichzeitig deckt sich eine deontologische Komponente auf: 371

Härle, Menschsein, 217. Härle, Menschsein, 217. 373 Härle, Menschsein, 218. An dieser Stelle soll kurz darauf verwiesen werden, dass es sich in besonderer Weise anbietet, in der Aufarbeitung von Autonomie Härle zu folgen. Mithilfe seiner Werke kann eine strukturierte Aufarbeitung gewährleistet werden; das erarbeitete Autonomie-Verständnis exponiert sich gar auf besondere Weise in der dargestellten Literatur. Über sie hinaus kann des Weiteren auf Thomas Pröpper verwiesen werden, welcher ebenfalls Autonomie in Verbindung mit Sozialität und Solidarität zeichnet. Vgl. hierzu insbesondere Pröpper, Evangelium, 57–71. 374 Vgl. Härle, Menschsein, 216ff. 375 Härle, Menschsein, 215. 372

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Werden die Gesetze des eigenen Handelns selbst definiert, so folgt daraus gleichzeitig eine intrinsische Verpflichtung zur Befolgung jener Regeln. Autonomie impliziert und fordert also eine Deontologie. Postuliert wird vor diesem Hintergrund, dass das stark sich selbst verpflichtende und auffordernde Handeln heute eher weniger mit dem Autonomie-Begriff in Verbindung gebracht wird. Ein weiterer Hinweis darauf, dass der Topos nicht in seinem umfassenden Bedeutungsspektrum präsent ist, ist gegeben. Der vorausgegangene Abschnitt verweist außerdem bereits auf klärungsbedürftige Zusammenhänge bzw. eine noch fragwürdige Verhältnisbestimmung von Autonomie und Selbstbestimmung. Nicht selten werden beide Begrifflichkeiten im alltäglichen Diskurs synonym verwendet. Doch nach der etymologischen Grundlegung des Begriffs Autonomie lässt sich diese Gleichsetzung bereits infrage stellen: Die Selbst-Gesetzlichkeit geht nicht vollkommen in einer Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen, auf. Insofern ist eine genauere semantische Betrachtung der Zusammenhänge von Autonomie und Selbstbestimmung vonnöten.

7.3 Semantische Erkenntnisse zum Autonomie-Begriff im Sinne von Selbstbestimmung Ein begrifflicher Zusammenhang zwischen Autonomie und Selbstbestimmung376 liegt auf der Hand, wobei es dennoch zu kurz erscheint, eine Identifikation beider unmittelbar vorzunehmen. Ein entscheidender Unterschied ist im Wortteil νόµoς zu finden: „Der Begriff ‚Selbstbestimmung‘ ist jedoch insofern bescheidener, anspruchsloser und darum realistischer, als er das Moment der ‚Gesetzgebung‘ nicht enthält.“377 Selbstbestimmung kann also nicht als Definition für Autonomie verwendet werden. Eine Gleichsetzung schlägt fehl. Härle schlägt eine anderweitige Verwendung der Begrifflichkeiten vor, eine Ersetzung oder Ablösung des Begriffs Autonomie durch Selbstbestimmung, um der ur376

An dieser Stelle sei der Hinweis gegeben, dass neben dem Aspekt der Selbstbestimmung weitere semantische Akzentuierungen im Autonomie-Begriff aufzufinden sind. Eine Auswahl derer bietet beispielsweise Härle an. So lassen sich weitere Bedeutungsakzente der Autonomie im Sinne von Selbstsetzung, politische Selbstgesetzgebung, Eigengesetzlichkeit, Unabhängigkeit, Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft oder von (Willens-)Freiheit benennen, die im Rahmen dieses Zwischenschritts nicht en détail aufgearbeitet werden können und zudem für das Thema der Arbeit nicht notwendig betrachtet werden müssen. Vgl. hierzu Härle, Menschsein, 218–229. 377 Härle, Menschsein, 228.

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

sprünglichen Bedeutung in der heutigen Nutzung des Begriffs wieder näher zu kommen. „‚Selbstbestimmung‘ bezeichnet eine spezifische Form der Beziehung, in der ein zur Bestimmung fähiges Subjekt zu sich selbst steht. Diese spezifische Form hat den Charakter einer intentionalen, also zielgerichteten Wahl, die sich auf die eigene Person, auf ihr Tun und Lassen, auf ihr Erleiden und Ergehen bezieht. Dabei ist zu bedenken, dass solche Selbstbestimmung bei irdischen Instanzen niemals absoluten Charakter hat und haben kann, sondern in vielfältiger Hinsicht relativiert ist oder zu relativieren ist.“378

Ziel ist es hierbei auch, den bereits oben beschriebenen Charakter der relationalen Autonomie in den Vordergrund zu stellen und durch eine begriffliche Veränderung zu schärfen. Zudem verweist Härle darauf, dass absolute Autonomie alleinig aufseiten Gottes zu finden ist, was im folgenden Kapitel noch weiter auszuführen ist.379 Ferner wird die Selbstbestimmung als wesentliche Kompetenz des Menschen deutlich. „Selbstbestimmung ist eine anthropologische Notwendigkeit“380 , wie es Härle verdeutlicht und weiter ausführt: „Wer in der Lage ist, sich selbst – durch sein Wählen – zu bestimmen, der muss dies auch tun, d.h., er kann dies gar nicht unterlassen. [. . . ] Wer die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu bestimmen, kann diese Fähigkeit entweder so ausüben, dass er Entscheidungen über sich trifft oder dass er es unterlässt, solche Entscheidungen über sich zu treffen, und sie anderen überlässt – sei es anderen Menschen oder Mächten oder dem Zufall. Aber auch dieses Überlassen der Entscheidung ist eine Form der Selbstbestimmung.“381

Deutlich wird, dass Selbstbestimmung mehrere Komponenten auszudrücken scheint. Sie erschließt sich nicht völlig in der Forderung nach eigener Handlung und aktivem Tun. Sie geht nicht darin auf, das eigene Leben isoliert abzusichern. Nicht nur derjenige, der im allgemeinen Verständnis seine Selbstbestimmung gebraucht und einsetzt, wird ihr auch gerecht. Auch das Überlassen ist ein Akt der aktiven Selbstbestimmung. Die gewählte Passivität zeugt ebenso vom Sein in der Selbstbestimmung. Dieser Aspekt verdeutlicht ferner die Relationalität der 378

Härle, Menschsein, 229. Vgl. Härle, Menschsein, 228f. 380 Härle, Menschsein, 230. 381 Härle, Menschsein, 230. 379

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Autonomie im Sinne von Selbstbestimmung. Ebenso wie die Relationalität ereignet sich auch die Selbstbestimmung in verschiedenen Dimensionen. In der Bezogenheit auf sich selbst beschreibt sie die aktive und persönliche Bestimmung zu Einsichten oder zu einem bestimmten Handeln. In der Relation zu Mitmenschen kann sie gerade die aktive Wahl sein, einem Mitmenschen Entscheidungen zu überlassen. In Bezug auf Gott konkretisiert sie sich beispielsweise im Vertrauen auf Gott und im Geborgensein durch die Gott-Mensch-Beziehung. Der Aspekt des Miteinanders zeigt sich ferner in einer weiteren Erkenntnis. „Das Wichtige an diesem Punkt ist die Einsicht, dass Selbstbestimmung, wenn sie konkret gedacht wird, immer eine soziale Komponente hat und grundsätzlich relational verfasst ist. Sie enthält Zielvorstellungen, die wir aus der Begegnung mit anderen Menschen gewonnen haben, und sie enthält Erwartungen an andere Menschen – sei es an deren Tun oder Lassen.“382

Insofern steht Selbstbestimmung auch immer im Einfluss der Mit- und Umwelt, an Erfahrungen und Erlebnissen, nicht nur der eigenen, auch derer der Mitmenschen. Sie ist folglich grundsätzlich relational zu denken. 7.4 Theologische Erkenntnisse zum Autonomie-Begriff Becker beschreibt treffend in Anlehnung an Welker den Begriff Autonomie als ursprünglich nicht der Theologie inhärent. Insofern muss einer theologischen Darlegung vormals eine Dekonstruktion der Begrifflichkeit vorangehen, bevor diese im Hinblick auf das Wort Gottes wiederum neu wahrgenommen und bestimmt werden kann.383 Dies bedeutet, dass hier ein weiteres Augenmerk auf die Begrifflichkeit Autonomie gerichtet wird – als neue Erkenntnisquelle und wichtige Perspektive für ein umfangreiches Verständnis des Terminus. Wird auch nun wieder die Zusammensetzung von Auto-Nomie aus αὐτ ός und νόµoς betrachtet, so lässt sich zuerst fragen, in welchem Horizont theologisch das αὐτ ός, das Selbst eines Menschen zu verstehen ist. Becker bezieht sich hierbei auf die Anthropologie Karl Barths384 382

Härle, Menschsein, 231. Vgl. Becker, Sein, 283; Welker, Der Vorgang Autonomie, 185ff. 384 Karl Barths Anthropologie lässt sich zur Aufarbeitung des relationalen Verständnisses der Autonomie in besonderer Weise anführen, da seine Anthropologie grundsätzlich relational zu verorten ist. Vgl. hierzu den Abschnitt V dieser Arbeit, in dem Barths Theologie nochmals gezielter zur Sprache kommt. 383

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

sowie beispielsweise auf die Frage 1 des Heidelberger Katechismus und stellt fest: „Aus systematisch-theologischer Sicht ist [. . . ] der Mensch gerade nur in der Relation zu Gott und den Menschen wirklich autos.“385 Denn in Jesus Christus – dem wahren Menschen und dem wahren Gott – erschließt sich die Bestimmung des Menschen zum Bundespartner Gottes, auf die hin er erwählt und geschaffen ist. Dieses Erwähltsein des Menschen aus freier Gnade Gottes zeigt, dass der Mensch grundsätzlich nur in Beziehung zu Gott (und in Entsprechung dazu auch zum Mitmenschen) verstanden werden kann. Im Vollzug und damit in der Verwirklichung dieser Bestimmung ist der Mensch frei.386 Anders ausgedrückt ist der Mensch „gerade in seiner Bindung an Gott frei.“387 Es zeigt sich hier eine Vorordnung der Freiheit und Autonomie Gottes, sich in die Gemeinschaft mit dem Menschen zu stellen, die somit zugleich die Freiheit und Autonomie des Menschen begrenzt. Die Frage nach einem Verhältnis von Theonomie und Autonomie tritt hier wieder in den Blick. „In Christus fallen Theonomie und Autonomie zusammen, denn in ihm erwählt Gott den Menschen. Es ist der theonome Akt Gottes, in dem die Autonomie des Menschen Ereignis wird. Nur in diesem Akt und nur in der Zustimmung des Menschen zu seiner Erwählung ist die Autonomie in irgendeiner Weise theologisch relevant“388 .

Die Autonomie Gottes geht voraus, die dann die Autonomie des Menschen Wirklichkeit werden lässt. „Es ist also ganz schlicht, aber auch ganz umfassend die Autonomie des Geschöpfs, die im Akte der ewigen göttlichen Erwählung ursprüngliches Ereignis ist und legitime Wirklichkeit wird.“389 Dieser Akt der Erwählung konkretisiert sich ebenso im Erwähltsein durch Gott und im menschlichen Antworten auf dieses göttliche Geschenk. „Gott wählt den Menschen, und es wird das 385

Becker, Sein, 284. Vgl. KD II/2, 146ff.; 234; 673; Hütter, Evangelische Ethik, 33ff.; Becker, Sein, 129ff. 387 Becker, Sein, 284. 388 Amelung, Art. Autonomie, 7. Anzufragen ist an dieses dargestellte Zitat am Rande, wie hier wohl das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit zu verstehen ist. Folgt man der Darstellung, so entsteht der Eindruck, dass erst infolge der Zustimmung des Menschen seine Erwählung durch Gott auch real wird. Folglich würde das Erwähltsein eine Möglichkeit darstellen, die in der Zustimmung des Menschen Wirklichkeit wird. Gerade diesen Aspekt jedoch will Karl Barth verwehrt wissen und hebt hervor, dass die Erwählung aus freier Gnade Gottes in Jesus Christus Wirklichkeit und Realität ist. Vgl. hierzu besonders Barths Erwählungslehre in KD II/2. 389 KD II/2, 194. 386

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Erwähltsein dieses Menschen darin wirklich, daß er seinerseits Gott wählt, um in diesem Willen Gottes frei zu sein, seine eigene Eigenheit und Selbstständigkeit vor Gott zu bekommen und zu haben.“390 Der Charakter des Ereignisses, des Aktes, ist hier besonders zu unterstreichen: „Das läßt sich ja wirklich nur als Akt verstehen und beschreiben, weil es in sich selber ganz und gar Akt ist: die Theonomie Gottes, die als solche die Autonomie des Menschen will und beschließt, dieses Wählen Gottes, dieses menschliche Gewähltwerden, das als solches als menschliches Wählen Ereignis wird, in welchem nun doch auch der Mensch sich selbst wählen, bestätigen und betätigen darf und soll.“391

Ein deutlicher Hinweis auf die zugrunde liegende relationale Struktur der menschlichen Autonomie ist somit erneut gegeben. Gottes Theonomie ermöglicht die Autonomie des Menschen, die wiederum Reaktion und Antwort des Menschen durch sein Wählen impliziert. Die Autonomie des Menschen liegt schließlich darin, dass er frei sein darf und sogar frei ist, indem er der Bestimmung Gottes zur Freiheit entspricht und sich in die Relation begibt.392 „Der Mensch ist in Entsprechung zu Gottes Autonomie gerade darin auto-nom, dass er dieser Bestimmung entspricht. Autonomie in diesem Zusammenhang heißt, der Mensch soll nicht frei sein, muss nicht frei sein, er darf frei sein, ja er ist frei, indem er seiner Bestimmung zur Freiheit, die in Gottes Freiheit gründet, entspricht.“393

Erneut wird die starke Ausrichtung der Autonomie auf Relationalität deutlich. Gleichzeitig impliziert dies die Verantwortung des Menschen, was wiederum den Aspekt νόµoς in den Blick ruft. Wird nun die Auto-Nomie in Blick auf das νόµoς reflektiert, so ist die anthropologische Grundentscheidung, dass Sein und Aufgabe des Menschen zusammengehören, wichtiger gedanklicher Ausgangspunkt. Das menschliche Sein als Bundespartner Gottes trägt die Aufgabe, Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein.394 Grundlage dessen ist die Gnadenwahl des Menschen durch Gott, wodurch das Sein 390

KD II/2, 197. KD II/2, 198. 392 Vgl. Becker, Sein, 284f. 393 Becker, Sein, 285. Vgl. KD II/2, 25; KD III/1, 309. 394 Vgl. Becker, Sein, 287f. 391

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

des Menschen von Gott her und als von Gott abhängiges Sein konstituiert wird. In Jesus Christus, dem Subjekt und Objekt der Erwählung, sind wiederum alle Menschen erwählt, was zugleich Menschsein und Würde des Menschen beschreibt. Es entspricht der Gnade Gottes Dank zu entgegnen und als Antwort darauf aktiver Partner in der Beziehung zu werden. Insofern erkennt der Mensch Gott und sich selbst und wird somit in der Relation zu Gott zum Subjekt. Die Freiheit des Menschen realisiert sich folglich erst und überhaupt in der Relation zu Gott – im für Gott Sein.395 „Daß der wirkliche Mensch von Gott zum Leben mit Gott bestimmt ist, hat seine unangreifbare Entsprechung darin, daß sein geschöpfliches Sein ein Sein in Begegnung ist [. . . ]. In dieser Begegnung ist es menschlich, und in dieser seiner Menschlichkeit ist es das Gleichnis des Seins seines Schöpfers und ein Sein in der Hoffnung auf ihn.“396

Insofern findet das Menschsein für Gott in Form einer analogia relationis eine Entsprechung darin, Mensch für den Mitmenschen zu sein. Auch dies wird offenbar in Jesus Christus, der radikal der Mensch für den Mitmenschen ist. Folglich ist es eine Entsprechung zum Sein als Bundesgenosse, sich in die Zweisamkeit zu begeben. Diese Entsprechung erfolgt wiederum als Entsprechung zu Jesu Sein für den Mitmenschen. Das Ich-Du-Verhältnis ist folglich in Gottes Sein in Beziehung begründet.397 Nicht zuletzt in Anknüpfung an die Anthropologie Karl Barths liegt eine christologische Bestimmung des Aspekts νόµoς nahe. Jesus Christus, als der Erfüller des Gesetzes, ist Bezugspunkt, durch den sich das Gesetz in Form des Evangeliums aufzeigt. Der Mensch soll und kann so diesem Gesetz entsprechen.398 „Im Rahmen dieser Überlegungen ist die Auto-nomie in diesem Sinne als Christo-nomie zu verstehen, in der die Möglichkeit 395

Vgl. KD III/2, 167; 101ff.; 217; KD IV/2, 52ff.; Kreck, Grundentscheidungen, 188– 283; Becker, Sein, 130ff. 396 KD III/2, 242 (Fettdruck im Original). 397 Vgl. KD III/2, 242ff. (besonders 251; 259); 261; 290ff.; Becker, Sein, 144ff. Karl Barth bindet an die Beschreibung der Humanität Jesu im Sein für den Mitmenschen sein Verständnis von Gottebenbildlichkeit an, um daraufhin die Gottebenbildlichkeit des Menschen im Sein in Beziehungen grundzulegen. Eine intensivere Abhandlung dessen wird im Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit, Kapitel IV.3.2.1, geboten, auf welches somit verwiesen wird. 398 Vgl. Kreck, Grundfragen, 76ff.; 187; Becker, Sein, 287f.

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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zur Entfaltung unserer ontologischen Relationalität verwirklicht sind. Autonomie als Christonomie heißt also, in der (ontologischen) Relation zu Gott und den Mitmenschen ver-antwort-lich zu handeln. Der Gedanke der Autonomie reflektiert also den Vorgang solchen christonomischen Handelns.“399

In dem verantwortlichen Handeln des Menschen als Antwort auf Gottes Handeln zeigt sich die Autonomie. Der Vollzug dessen ereignet sich in der Begegnung von Mensch und Mitmensch. „Signatur solcher Begegnung ist die Ver-Antwortung“400 , die sich wiederum in der Relationalität ereignet. Es legt sich eine Autonomie dar, die grundsätzlich relational verortet ist. Auf diese Weise impliziert solches Verständnis der Autonomie eine Handlungstheorie, die das Handeln für Andere fordert. „Ver-Antwortung soll in diesem Sinne als Mit-Verantwortung für die Autonomie des Gegenübers verstanden werden, die (in Grenzfällen) die Autonomie des Gegenübers garantieren oder sogar realisieren muss.“401 Konkret wird dies beispielsweise bei Patienten, deren Selbstverfügung über sich selbst eingeschränkt ist, und somit Betreuende in der Pflicht stehen, die Autonomie des Patienten zu gewährleisten und auszuüben. So konstatiert beispielsweise Baumann-Hölzle: „Das einem Menschen angemessene Handeln in der Medizin lässt sich nur von Betreuenden finden, die die Patientinnen und Patienten in ihren konkreten Lebenssituationen mit den dazugehörigen Geschichten ernst nehmen.“402 Die Autonomie ereignet sich in konkreten Situationen in der Begegnung.403 Gleichzeitig zeigt sich hier der Übergang einer relational verorteten Autonomie zur Fürsorge auf, welcher in der Mitverantwortung eines Menschen für sein Gegenüber zu finden ist. „Relationale Autonomie wird dort zur Fürsorge, wo Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre (relationale) Autonomie selbst wahrzunehmen.“404 Fürsorge – nicht verstanden als reiner Paternalismus, sondern im Sinne des Seins in der Begegnung – zeigt sich dahingehend nicht als Antonym der Autonomie. Dies verdeutlicht einerseits die bereits oben hervorgebrachte Hochschätzung des Selbst-Seins, andererseits kann dies nochmals mithilfe Barths Konstruktion des Seins in der Begegnung405 399

Becker, Sein, 288. Becker, Sein, 288. Vgl. Kreck, Grundfragen, 187. 401 Becker, Sein, 289. 402 Baumann-Hölzle, Autonomie und Freiheit, 314f. 403 Vgl. Becker, Sein, 289. 404 Becker, Sein, 290. 405 Vgl. KD III/2, 299ff.; Becker, Sein, 158ff. 400

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

unterstrichen werden. Barth entwickelt sein Verständnis hierzu in vier Stufen. Auf der ersten Ebene wird herausgestellt, dass sich der erste Moment der Humanität darin abbildet, dass der Eine dem Anderen in die Augen sieht. Verdeutlichen soll dies für das Verständnis des Seins in Begegnung eine reziproke Offenheit des Einen zum Anderen.406 Miteinander zu reden und aufeinander zu hören können sodann als grundlegende Bedürfnisse identifiziert werden, sodass die Humanität als Begegnung auch zum Ereignis der Sprache wird. Reziprok empfangen Ich und Du im Dialog ihre Konstitution.407 Die Mitteilung (in Form des Dialogs) stellt eine Überschreitung der eigenen Grenze dar. Hieraus ergibt sich zugleich eine Form des Beistands, da die Selbstkundgabe dabei hilft, das dem Du inhärierende Bild des Ichs zu konkretisieren. Die wechselseitige Angewiesenheit ist dabei konstitutiv.408 Die dritte Stufe beschreibt die Tat des Seins in Begegnung in der Form, sich gegenseitig Beistand zu leisten. Dies wiederum kann aber nur als beschränktes füreinander da Sein realisiert werden und grenzt sich somit explizit von einseitig verstandenem Paternalismus ab. Betont wird hingegen der Beistand, der nicht in eine Vertretung münden kann und soll. Die Reziprozität zeigt sich abermals im Beistand Bedürfen und Beistand Gewähren.409 Barth führt hierzu aus: „ich handele als Einer, der den Ruf des Anderen vernommen hat, und ich handele als Einer, der seinerseits dem Anderen gerufen hat und immer wieder rufen muß.“410 Zuletzt bezieht sich Barth auf den Modus der vorausgegangenen Stufen, die dem „gerne“411 unterstehen und ein Ungern somit keineswegs zur Wahl steht. Es kennzeichnet die Freiheit des Menschen, frei zu sein zum Sein in der Begegnung.412 Folglich zeigt sich, dass die Mitmenschlichkeit grundsätzlich zur Natur des Menschen gehört und sogleich gefordert ist, dieses Sein in der Begegnung in der Entsprechung des Bundes von Gott und Mensch auch auf den Bund von Mensch und Mensch hin zu leben. Ein solches Sein in der Begegnung entspricht somit dem Sein in der Bestimmung zum Bundesgenossen.413 406

Vgl. KD III/2, 299; Becker, Sein, 158. Anfragend lässt sich hieran kritisieren, ob womöglich in diesem Sinne Sprache vereinseitigend als verbale Kommunikation verstanden wird. 408 Vgl. KD III/2, 303ff.; Becker, Sein, 158ff.; Buber, Ich und Du, 12. 409 Vgl. KD III/2, 312ff.; Becker, Sein, 161f. 410 KD III/2, 313. 411 KD III/2, 318. 412 Vgl. KD III/2, 318ff. (besonders 323); Becker, Sein, 162ff. 413 Vgl. KD III/2, 322ff.; 389f.; Becker, Sein, 164f. 407

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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Die nicht selten hervorgebrachte Opposition der Begrifflichkeiten Autonomie und Fürsorge in gegenwärtigen Diskursen erscheint vor dem Hintergrund der Begriffsdarlegung nicht haltbar. Nachdrücklich wird eine Allianz der Begriffe. Autonomie realisiert sich in einer Dimension in Form der Fürsorge, beispielsweise dadurch, dass sich menschliche Autonomie auch im Handeln für Andere, im Schutz und Eintreten für deren Autonomie, zeigt. Insofern kann Fürsorge als eine Dimension einer relationalen Autonomie verstanden werden. Zur Vermeidung einer einseitig verstandenen Autonomie oder Selbstbestimmung in Anlehnung an (öffentlich) geführte Diskurse legt es sich nahe, die aus obiger Herleitung resultierende Begrifflichkeit der relationalen Autonomie im weiteren Verlauf der Arbeit vorauszusetzen und zu verwenden. Das Selbst des Menschen ist also als solches bereits aus theologischer Perspektive heraus relational zu erschließen. Idealiter zeigt sich ein Gesamtbild der Autonomie als grundsätzlich relational: als ermöglichte Autonomie durch die Theonomie Gottes, die zur Relation zum Selbst befähigt und schließlich in eine Antwort führt, die die Autonomie zur gelebten Wirklichkeit werden lässt sowie die Freiheit schenkt, die Autonomie in der Relation zu wählen. 7.5 Konklusionen Vorherrschende gegenwärtige Tendenzen zur Identifizierung von Autonomie und Menschenwürde veranlassen zu einer kritischen Betrachtung einer Verabsolutierung eines solchen Autonomie-Gedankens sowie nachdrücklich zu einer Forderung nach einer detaillierten Begriffsklärung. Die Entwicklungsgeschichte der Autonomie in der industrialisierten westlichen Welt zeigt eine deutliche Konzentration auf den Aspekt der Autonomie des Einzelnen, zuweilen auf eine solipsistisch geprägte Konnotation. Relationale Strukturen werden als Einschränkung der persönlichen Autonomie und der individuellen Verwirklichungsmöglichkeiten empfunden. Damit einher geht eine Konzentration auf kognitive Fähigkeiten des Menschen, die es ermöglichen soll, eine derartige persönliche Autonomie zu nutzen. „Indem kognitive Möglichkeiten des Menschseins zum Kriterium erhoben werden, werden einzelne Entfaltungsmöglichkeiten des Menschseins verabsolutiert; damit aber werden anthropologische Einsichten über die Ganzheitlichkeit des Menschen vergessen, indem man sich einseitig auf die Kognition, in der das Menschsein – wie sich zeigen wird – nicht allein aufgeht, fokussiert. Problematisch werden solche Vorstellungen insbesondere

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dort, wo sie – zur Norm erhoben – zur Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen (mit Demenz) führen, die diese nicht oder nur teilweise erfüllen können.“414

7.5.1 Konkretisierungen im Hinblick auf die Patientenautonomie Diese Voraussetzungen werden der Arzt-Patient-Beziehung, die sich zumeist im informed consent ereignet, zugrunde gelegt. Somit lohnt sich an dieser Stelle ein genauerer Blick auf den Terminus der Patientenautonomie, welcher zusehends den Status des höchsten Gutes erhält sowie bereits durch verschiedene Gesetze und Gesetzesentwürfe manifestiert wurde.415 „Das Autonomiemodell geht von der Fiktion des unabhängigen, autonomen Menschen aus, der wisse, was für ihn oder sie gut oder schlecht sei, wenn er oder sie nur ausreichend informiert werde. [. . . ] Die Arzt-Patienten-Beziehung wird im Autonomiemodell auf einen Informationsaustausch reduziert, in der zwischen Arzt und Patient nicht wirklich eine Beziehung entsteht.“416

Die Betonung der Kognitivität sowie der Rationalität des Patienten wird ersichtlich, indem ihm zugetraut wird, in persönlichen Krisensituationen, als welche eine Krankheit durchaus bezeichnet werden kann, auf neutraler Information fußende Entscheidungen valide zu treffen. Dies entspricht der Forderung nach einer persönlichen Autonomie. Kritisch in Bezug auf die Autonomie-Forderung ist die Frage zu stellen, ob nicht gerade in solchen Arzt-Patienten-Beziehungen, in denen nicht selten der Patient ein medizinischer Laie ist, eine notwendige Abhängigkeit (hier also von den Informationen des Mediziners) gegenüber dem Arzt deutlich wird. Gleichwohl erfolgt eine entsprechende (Meinungs-)Prägung infolge der Darstellungen des Arztes. In welchem Maße also in der Arzt-Patient-Beziehung tatsächlich von einer Patientenautonomie zu sprechen ist, bleibt fraglich. Härle verweist in diesem Zusammenhang zudem auf den Aspekt, inwieweit die Patientenautonomie zur unmittelbaren Anwendung kommt. Klärungsbedürftig ist auch noch in der heutigen Anwendungssituation, ob in der Praxis jegliche Willensäußerung eines Patienten im Rekurs 414

Becker, Sein, 101. Vgl. Härle, Menschsein, 234. 416 Baumann-Hölzle, Autonomie und Freiheit, 308. 415

III. Der Grunddissens von Autonomie und Fürsorge

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auf seine Autonomie unmittelbar umgesetzt wird und insofern die Autonomie tatsächliche Konsequenz zeigt oder ob erst konsistentes, mehrmaliges Wiederholen des Willens als autonome Entscheidung überzeugend wirkt.417 Hinzu tritt, dass weitere Einflussfaktoren wie persönliche Vorprägung, Erfahrungen, Mitteilungen aus dem Umfeld oder auch die eigene Sozialisation entscheidenden Einfluss auf die Autonomie zeigen. Es stellt sich erneut die Frage, ob die Rede von der Autonomie – oder im Speziellen von der Patientenautonomie – die Realität trifft. Härle verweist diesbezüglich darauf, den Terminus Selbstbestimmung einzusetzen, der in diesem Falle eher wirklichkeitskonform zu sein scheint, indem dieser keine Absolutheit fordert sowie in gewissem Maße hinterfragbar bleibt.418 Auch Baumann-Hölzle unterstützt diesen Gedanken, da die Autonomieforderung dem Menschsein nicht völlig zu entsprechen scheint. „Die Arzt-Patienten-Beziehung geht aber nicht in dieser Autonomieregel auf, sondern bedarf des narrativen Elements, mit welchem den vor- und irrationalen Seiten der menschlichen Existenz Rechnung getragen wird.“419 7.5.2 Grundlinien einer relationalen Autonomie Eine Wichtigkeit zeigt sich, das Autonomie-Verständnis in ein umfassendes Menschenbild zu integrieren, wozu die theologische Betrachtung einen entscheidenden Beitrag leistet. Die Kennzeichen, die über Autonomie in diesem Kapitel gewonnen wurden, sollen nun zusammenfassend gebündelt werden. Das Selbst kann sich theologisch nur aus der Relation zu Gott erschließen, ist somit unmittelbar relational veranlagt. Zur weiteren Beschreibung der Autonomie des Menschen ist eine christologische Blickrichtung vonnöten: Die Theonomie ereignet sich in Christus und ermöglich so wiederum die menschliche Autonomie, die durch das Erwähltsein durch Gott sowie die menschliche Antwort (im Gebet) zur Wirklichkeit kommt. Hierin vollzieht sich Freiheit. Der Mensch darf frei sein und ist sogar frei dazu, sich in die Relation zu begeben. Insofern wird die Autonomie als die Entsprechung von Gottes Autonomie, die Relationalität zu wählen, kenntlich. Im νόµoς-Gedanken zeichnet sich die Verantwortung ab, die ein Handeln in Entsprechung zu Jesus Christus beschreibt. Im Vollzug der Begegnung von Mensch und Mitmensch konkretisiert sich die menschli417

Vgl. Härle, Menschsein, 234. Vgl. Härle, Menschsein, 234. 419 Baumann-Hölzle, Autonomie und Freiheit, 309. 418

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7. Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs

che Autonomie als verantwortliches Handeln. Ein Handeln für Andere bedeutet auch ein Einsetzen und ein Aufrechterhalten der Autonomie des Gegenübers, sofern er dies selbst nicht mehr leisten kann. Hierin wird der Übergang zu einer Fürsorge ersichtlich, die sich als ein Element der menschlichen Autonomie in diesem Kontext zeigt. Etymologische und semantische Betrachtung des Autonomie-Begriffs sind Wegbereiter eines relationalen Verständnisses: Auto-Nomie unter Betrachtung des Selbst zeichnet bereits mehrere Dimensionen. Einerseits beschreibt sie eine Freiheit, Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung, die als solche eine Relation zu sich selbst im Wissen um sich selbst voraussetzt. Andererseits ist das Selbst als Relat relational und trägt ferner eine soziale Komponente in sich, beispielsweise durch sozialisatorische Prägungen, die eo ipso das Selbst mitprägen. Eine konstitutive und ontische Relationalität ist also im Autonomie-Begriff mitgegeben. Zugleich beinhaltet der Begriff eine stark verpflichtende Komponente in Form einer Deontologie, die im vorherrschenden Autonomie-Verständnis oft hintergründig bleibt. Ersichtlich wird, dass der Bedeutungsaspekt der Autonomie im Sinne von Selbstbestimmung, zu sich selbst zu stehen und sich selbst bestimmen zu können, eine wichtige und entscheidende Eigenschaft im Menschsein darstellt, jedoch keineswegs absolut gesetzt wird. Unterschiedliche Dimensionen und Relationen werden erneut sichtbar: Selbstbestimmung realisiert sich in Aktivität genauso wie in Passivität. Konstatieren lässt sich eine Autonomie, die in jeder Dimension als relationale Autonomie verstanden werden will und sich so in das Sein des Menschen einfindet. Zu diesem Ergebnis tragen alle Betrachtungslinien dieses Kapitels bei, wodurch ein merklicher Kontrast zum gegenwärtig, oft solipsistisch geprägten Autonomie-Begriff gezeigt wurde. Betonung sollte ferner finden, dass eine relationale Autonomie keinen Gegensatz zur Hochschätzung der Individualität formuliert oder gar das Selbst missachtet wird. Vielmehr inkludiert die Relationalität die Beziehung zu und das Bewusstsein von sich selbst. Ersichtlich wird dies in der eigenen Freiheit, eine Relation zum Selbst zu haben und Selbstbestimmung zu praktizieren. Kennzeichen dieser beschriebenen relationalen Autonomie ist es ja gerade, die unterschiedlichsten Dimensionen zu vereinen und keine für sich zu verabsolutieren. Insbesondere in der theologischen Betrachtung zeigt sich die Beachtung des Selbst in Form einer Hochschätzung der Individualität. Gott schenkt die Autonomie, sie ist Ereignis der Erwählung des Menschen und insofern wertzuschätzen. Die relationale Autonomie wahrzuneh-

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men und zu nutzen ist die menschliche Antwort, wozu der Mensch zugleich auch fähig ist. Dieses Können zeigt sich im verantwortlichen Handeln für sich selbst, für die Mitmenschen sowie für Gott. Zusammenfassend ist zu unterstreichen, dass die relationale Autonomie als menschliche Fähigkeit große Wichtigkeit besitzt. Sie vereinseitigt auf keiner Ebene, sondern schätzt gleichermaßen die Individualität, die Verantwortlichkeit für die Mitmenschen sowie das in Beziehung Sein mit Gott.420

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Vor diesem Hintergrund erscheint in Nachfolge Beckers die Begrifflichkeit relationale Autonomie die geeignetste zu sein, um jene Dimensionen zu inkludieren. Sie wird folglich im weiteren Verlauf, entgegen dem oben erwähnten Vorschlag Härles, eingesetzt bzw. vorausgesetzt, wenn auf die Autonomie des Menschen argumentativ Bezug genommen wird. Im Gegensatz zur Verwendung des Begriffs Selbstbestimmung wird der Mehrwert darin gesehen, dass durch relationale Autonomie in stärkerem Maße alle angesprochenen, auch theologischen Dimensionen ersichtlich werden. Womöglich verleitet Selbstbestimmung zu stark dazu, das in Beziehung Sein als solches in den Hintergrund zu stellen.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

1. Hinführung Grundlegende Dissense zur Gewichtung von Autonomie und Fürsorge begleiten maßgeblich die nachgezeichneten Debatten und Entwicklungen um die Thematik Vorsorge. Darüber hinaus wurde bereits gekennzeichnet, dass sich die im Zusammenhang angesprochenen Fragestellungen konstitutiv mit einem Verständnis des Seins des Menschen befassen. Die Theologie ist damit genuin angesprochen, da sie in ihrer spezifischen Perspektive auf den Menschen im Verhältnis zu Gott ein Menschenbild zeichnen kann. Notwendigerweise gilt folglich zu klären, welche theologischen Beiträge einerseits eine wichtige Position einnehmen und als solche bereits vorzufinden sind. Auf welche Argumentationsstrukturen sie andererseits aufbauen und welche Antworten sie anbieten, wird zudem zu untersuchen sein. Zwei exemplarische Positionen der Theologen Ulrich Eibach und Hartmut Kreß werden Untersuchungsgegenstand sein. Ihre genuin theologische Argumentationsweise mit ihrem einhergehenden Menschenbild ist es also, die essenziell zur Beantwortung sich stellender Fragen sowie zu auftretenden Dissensen befragt wird. Wie wir sehen werden, so begegnet auch die Theologie als Spiegel der zur Debatte auffindbaren Dissense, welche sich besonders anhand jener exemplarischen Positionen Eibachs und Kreß´ nachzeichnen lassen. Die Aufarbeitung der Standpunkte ist von besonderem Wert, da beide Theologen maßgeblich den öffentlichen Diskurs, besonders zur Patientenverfügung nebst den angrenzenden Themenfeldern, beeinflusst haben und auch gegenwärtig beeinflussen sowie mit ihrer jeweiligen Ausrichtung ebendiesen zu treffen scheinen.1 Eibach und Kreß rekurrieren je auf die vorfindlich zentralen Aspekte, um die die vorausgehend vorgestellten Debatten kreisen. Eibach tut dies, in1

Erinnert sei einschränkend an dieser Stelle nochmals daran, dass in der Theologie bis dato keine Reflexionen mit spezifischem Fokus auf die Vorsorgevollmacht aufzufinden sind. Insofern ist an dieser Stelle auf entsprechende Betrachtungen zum Themenbereich Patientenverfügung zurückzugreifen. Gleichwohl können die Darstellungen von Eibach und Kreß sowohl von ihrer Grundlagenkonzeption als auch in weiterführenden Gedankengängen für die Thematik der Vorsorgevollmacht fruchtbar gemacht werden.

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1. Hinführung

dem er die Fürsorge, welche in aktuellen Tendenzen in den Hintergrund zu geraten droht, gestärkt wissen will. Kreß hingegen kann in der Linie der in Vergangenheit stattgefundenen und mitunter stattfindenden Missachtung der Autonomie gesehen werden und sieht ihre Aufwertung als notwendig an. Da nun, wie bereits beschrieben, die genuin theologischen Fragen nach dem Sein des Menschen grundsätzlich betroffen sind, müssen infolge einer Analyse der jeweiligen Argumentationsstrukturen Eibachs und Kreß´ ihre theologischen Konstruktionen angefragt werden. Währenddessen wird in Form einiger Exkurse auf zentrale Topoi, deren Verständnis eine bedeutsame Funktion im vorliegenden Zusammenhang aufweisen wird, einzugehen sein. Zu nennen sind diesbezüglich etwa die Aspekte Freiheit oder Gottebenbildlichkeit. Übergreifendes Ziel des vorliegenden Kapitels wird es sein, die im Themenfeld begegnenden Verständnisse des Menschen kritisch zu reflektieren, dabei reduktionistische Tendenzen begründet abzuwehren und schließlich die Ganzheit des Menschen kennzeichnen zu können, wobei immer – wie bereits in den vorausgegangenen Abschnitten II und III aufzufinden war – die Frage nach einem Verhältnis von Autonomie und Fürsorge leitend ist. Implizit werden innerhalb der Analysen zu beiden bestehenden Konzepten Karl Barths Positionen mit ins Gespräch gebracht. Seine Theologie und Anthropologie wird sich, so ist im Folgenden herauszustellen, zwischen den Standpunkten Eibachs und Kreß´ nachzeichnen lassen. Dabei wird es explizit nicht Ziel sein können, Barth als zusätzliche, dritte Position umfassend analytisch darzustellen. Vielmehr ist insbesondere herkommend von den vorausgegangenen Abschnitten II und III bereits die Einsicht aufzuspüren, dass der Mensch in seinem vollen Menschsein wahrgenommen wird, sofern er in Relationen beschrieben ist. Dass diese Relationen die Ebene von Gott und Mensch sowie von Mensch und Mitmensch umfassen, ist besonders von Karl Barth expliziert worden und so als bestehendes Moment in der Theologie existent. Insofern wird die Analyse von Eibach und Kreß dahingehend zu führen sein, dass ihre – wie sich zeigen wird – reduktionistischen Tendenzen, entweder die Fürsorge oder die Autonomie eines Menschen exponiert zu betonen, mithilfe der Wahrnehmung des Menschen in Relationen Überwindung finden. Zugleich bietet sich Karl Barths Anthropologie in besonderer Weise an mit im Diskurs verhaftet zu sein, weil er nicht eine verbindungslose Alternative bietet, sondern gerade die je eminent wichtigen Anliegen Eibachs und Kreß´ aufzunehmen vermag. So wird sich schließlich im die Arbeit abschließenden Abschnitt V zeigen, dass für den Menschen, wird er in Relationen betrachtet, Autonomie und

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

209

Fürsorge – Subjektsein und Begegnung – entscheidende Größen sind. Folglich wird es auch schon in der nun folgenden Analyse zu Eibach und Kreß dazu kommen Hinweise zu Barths integrierender und weiterführender Position, die unweigerlich bereits mit im Diskurs steht, zu ziehen. Exemplarisch geschieht dies etwa bei Eibachs früher Grundlegung in Anlehnung an Barths Anthropologie (Kapitel IV.2.1), die unmittelbar den Diskurs mit Barth öffnet. Auch indem Eibach zunehmend die Passivität des Menschen (Kapitel IV.2.3.2) und die soziale Dimension als entscheidende Größe (Kapitel IV.2.4.2) darstellt, oder aber in der Diskussion seines Freiheitsverständnisses (Kapitel IV.2.5.3), ergeben sich Rückfragen an Barth bzw. von Barth an Eibach. Zugleich fordert Kreß´ Subjektkonzentration auf, besonders aus theologischer Perspektive nach der Berücksichtigung der Gott-Mensch-Beziehung zurückzufragen (Kapitel IV.3.1.2). Auch innerhalb der Darlegungen zum Verständnis der Gottebenbildlichkeit (Kapitel IV.3.2.1) wird Barth, dem der Vorwurf der Vernachlässigung des Individuums entgegengebracht wird, mit ins Gespräch zu bringen sein. Barths christologische Anthropologie ist so als Hilfe zu kennzeichnen, über bestehende Dissense hinauszuführen. Dass seine Position stets als Größe zwischen Eibach und Kreß wahrnehmbar wird und er ferner beide Anliegen integriert, wird im weiteren Verlauf angedeutet und schließlich im Abschnitt V genauer ausgeführt.

2. Die „Ethik der Fürsorge“2 nach Ulrich Eibach Ulrich Eibach (*1942) ist seit Jahrzehnten bei Fachdiskursen im Bereich der medizinischen Ethik beteiligt. Bereits seine Dissertation Recht auf Leben – Recht auf Sterben aus dem Jahre 1974 beschäftigt sich mit ethischen Fragestellungen. Als Assistent Martin Honeckers und in seiner späteren apl. Professur für Systematische Theologie und Ethik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn konnte er dieses Themengebiet vertiefen und dabei mit Praxiserfahrungen als Pfarrer am Universitätsklinikum Bonn sowie als Beauftragter der Evangelischen Kirche im Rheinland für Fortbildung in Krankenhausseelsorge und Fragen der Ethik in Biologie und Medizin untermauern und wechselseitig beeinflussen. Seine wichtigsten Forschungsgebiete sind der medizinischen Ethik und der Bioethik, der Krankenhausseelsorge sowie der Neurobiologie zuzuordnen.3 2 3

Eibach, Menschenwürde, 31. Vgl. http://www.ev-theol.uni-bonn.de/fakultaet/ST/prof.-dr.-ulrich-eibach, Stand: 17.11.2012.

210

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

Ulrich Eibachs Positionen sind für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung, zumal er sich als Theologe zum Umgang mit der Patientenverfügung sowie zu den damit unweigerlich in Zusammenhang stehenden Fragen bezüglich einer Gewichtung von Autonomie und Fürsorge maßgeblich geäußert hat. Für eine möglichst umfassende Grundlegung der Positionen Eibachs werden seine das Themengebiet betreffenden Schriften hier analysiert. In besonderem Fokus steht dabei die theologische Argumentationsbasis mit ihren hierauf aufbauenden Gedankengängen, die – auch kritisch – befragt werden und insofern einen Nutzen für die vorliegende Arbeit mit der Konzentration auf die Vorsorgevollmacht eruieren soll. Das vorliegende Kapitel dient dazu, die Positionen Eibachs einerseits nachzuzeichnen, sie andererseits gleichzeitig auf ihre Standfestigkeit und Wirkung hin zu prüfen. Methodisch werden unterdessen seine Gedankengänge deskribiert und je mit sich stellenden weiterführenden Fragen unterlegt. 2.1 Die Grundlegung der Theologie Ulrich Eibachs anhand der Anthropologie Karl Barths 2.1.1 Motivation und Grundentscheidungen Ulrich Eibach wählt in seinen frühen Schriften zur Grundlegung seiner Ethik den Zugang über Barths christologische Anthropologie4 (im weiteren Verlauf wird ersichtlich, dass dieses einstige Fundament später nicht mehr grundlegend sein wird). Richtungsweisend ist hierbei das Ziel, den Menschen in seiner Ganzheit wahrzunehmen. „Es spricht vieles dafür, daß der Körper zum spezifischen Sein des Menschen gehört, daß nicht nur die Geistigkeit, sondern auch der Körper die ‚Person‘ konstituiert und daß der Mensch die nur im Leib verwirklichte Einheit von Körper und Seele und nicht nur isolierte Seele ist.“5 4

5

An dieser Stelle der Arbeit wird gewissermaßen ein Vorgriff auf die Theologie und Anthropologie Karl Barths vorgenommen, ohne sie vorweg bereits eingehend und ausreichend dargelegt zu haben. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird dieser eine stetig wichtige Position beigemessen und insofern rückwirkend an geeigneter Stelle ausführlicher dargestellt. Wichtiges Referenzwerk hierzu ist die Kirchliche Dogmatik (KD) Karl Barths, auf die derzeit nur verwiesen werden kann. Für den vorliegenden Teil der Arbeit steht vorrangig die Interpretation Karl Barths nach Ulrich Eibach im Fokus. Insofern wird sich hier größtenteils auf seine Darlegungen und sein Verständnis der Theologie Barths beschränkt. Eibach, Recht auf Leben, 101.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

211

Dieser Rekurs auf die Ganzheit des Menschen dient dazu, die Dimension der Geistigkeit nicht zu überhöhen und sich der Körperlichkeit bewusst zu bleiben. Die Barthsche Konstitution des Menschen als leibseelische Einheit6 liegt entsprechend zugrunde. Da Jesus Christus der in der Bibel geoffenbarte wahre Mensch ist, kann ein christologischer Zugang zur Anthropologie auch für Eibach die einzig mögliche Näherung zum Sein des Menschen darstellen.7 Eibachs Begründung in Anlehnung an Barth lautet: „‚Das ecce homo ist der Schlüssel sowohl zur Theologie wie zur Anthropologie‘, da in Jesus Christus offenbar und wirklich geworden ist, worin die Bestimmung und damit auch der Sinn, die Würde und das spezifische Wesen des menschlichen Lebens besteht und was der Tod des Menschen in bezug [sic!] auf diese Bestimmung wirklich bedeutet; d. h. nicht nur, daß der Mensch nur von Jesus Christus her in seinem ‚eigentlichen Wesen‘ erkannt wird, sondern auch, daß sich die Bestimmung aller Menschen aus der Gestalt und Geschichte dieses einen Menschen Jesus erschließt, in dem die Bestimmung aller Menschen zur Gemeinschaft mit Gott und zur Teilhabe an seinem Leben so wirklich geworden ist, daß der Mensch überhaupt nur Mensch ist, indem er an dem mit Gott geeinten Leben dieses einen Menschen Jesus teilhat. So ist Jesus Christus der Schlüssel zur Erkenntnis des Menschen und der Bedeutung des Todes. Dieser Weg ist in der Anthropologie insbesondere von K. Barth beschritten worden, der betont darauf hinwies, daß, wer Mensch sagt, immer, ‚ob er es weiß oder nicht, zuerst ‚Gott‘ gesagt‘ hat und daß die Christologie von so konstitutiver Bedeutung für die Anthropologie ist, daß nur von dem in Jesus Christus eröffneten Heil und Leben her der Mensch als Mensch, d. h. als Bundespartner Gottes, ist und konstituiert wird.“8

Jesus Christus ist also der uns in der Bibel bezeugte wahre Mensch, in dem Bestimmung, Sinn und Würde des Menschen wahrnehmbar werden. Die Bestimmung des Menschen, Gemeinschaft mit Gott zu haben, also Bundespartner Gottes zu sein, lässt sich in Jesus Christus erkennen. Die Christologie zeigt sich somit als konstitutive Grundlegung zur Anthropologie. Zugleich setzt dies die (Selbst-)Offenbarung Gottes voraus, in der der Mensch angeredet und insofern zur Erkenntnis befähigt 6

7 8

Vgl. KD III/2, § 46, 391–524. Darüber hinaus sei bereits auf Kapitel V.2.2.3.3 verwiesen, in dem Barths Verständnis des Menschen als Seele und Leib Vertiefung findet. Vgl. hierzu beispielsweise Joh 19,5. Eibach, Recht auf Leben, 126f.

212

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

wird.9 Die Befähigung hierzu gründet in der „Rede Gottes“10 . Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, der wahre Gott, wie es beispielsweise die Barmer Theologische Erklärung ausdrückt. Ein solcher theoretisch-christologischer Zugang zur Anthropologie muss gewählt werden, da das Eigentliche des Menschen – und hier sei explizit betont: aller Menschen – nicht empirisch vorzufinden ist. Besonders Wissenschaftsgebiete, die sich auf bestimmte, empirisch beschreibbare Eigenschaften des Menschen konzentrieren, wie es z. B. die Hirnforschung betreibt, untersuchen und beschreiben wichtige Teilbereiche des Menschseins. Eine Kennzeichnung des Menschen als Ganzheit, als Person, gelingt hier allerdings nicht. Durch eine solche partielle Betrachtung des Menschen lassen sich ausschließlich spezifische Aspekte seiner selbst weiter erforschen. Zugleich sind empirisch auffindbare Eigenschaften schwerlich für alle Menschen gleichermaßen generalisierbar, wodurch jene Kategorisierungen die Notwendigkeit – oder problematisierend ausgedrückt: die Gefahr – von Ausschlüssen vom Menschsein mit sich bringen. Diese Problematik steht Eibach vor Augen, sodass er die Ganzheit des Menschen (unter Beachtung der Körperlichkeit) betonen möchte. „Für eine medizinische Ethik ist nur ein solches Menschenbild tauglich, das alle Menschen in ihrer Ganzheit umfaßt.“11 Zur Beschreibung des ontologischen Menschseins reicht somit eine reine empirische Innenperspektive nicht aus. Es bleibt der Blick in die Bibel, in der der wahre Mensch und wahre Gott in Jesus Christus offenbar wird. Diese genuine Perspektive der Theologie kennzeichnet einen qualitativen Unterschied zu partiellen Betrachtungen des Menschen. So erscheint es als einzig gangbarer Weg von der Christologie zur Anthropologie zu schreiten, ohne dabei eine exklusive Anthropologie zu formulieren. Hierin wird die besondere und genuine Perspektive der Theologie sichtbar: Sie bezieht eine weitere Ebene des Menschseins mit ein: seine Bestimmung, sein „Wozu“12 . Anhand dieser auch von Eibach vorgenommenen Verortung ist die Grundlegung der christologischen Anthropologie entsprechend motiviert. Eibach konstatiert hierzu: „Nicht zuletzt weil die besondere Würde des Menschen aus der vorfindlichen Wirklichkeit heraus nicht mit empirischer Forschung beweisbar ist, beschritten viele Theologen den im Ansatz deduktiv von der Offenbarung ausgehenden Weg, den Menschen 9 10 11 12

Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 126. Eibach, Recht auf Leben, 126. Eibach, Recht auf Leben, 128. Eibach, Recht auf Leben, 128.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

213

zu erkennen: ‚Wir suchen den Menschen über die Welt zu erreichen, wir erreichen ihn aber nur über Gott.‘ Das besagt auch, ‚daß die Theologie nicht die höchste Möglichkeit der Anthropologie, sondern Voraussetzung aller Anthropologie wäre‘.“13

Deutlich wird im Ansatz von Ulrich Eibach also seine starke christologische Ausrichtung zur Konstituierung der Anthropologie, die er mit obigen Argumenten untermauert. Seine nähere theologische Grundlegung in Interpretation von Barth erfolgt im Rekurs auf die Bundestheologie: Gott hat den Menschen zu seinem Bundespartner erschaffen14 und sich selbst zur Gemeinschaft mit dem Menschen bestimmt. Der Mensch kann also ontisch nie ohne Gott sein. Er ist aus Gnade zu Gottes Bundespartner erwählt.15 Wesen und Wert sind dem Menschen insofern nicht immanent, sondern kommen ihm von außen durch seine Bestimmung zum Bundespartner zu,16 wodurch des Menschen Würde keineswegs als Habitus verstanden werden kann.17 Die Menschenwürde ist damit dem Verfügungsbereich des Menschen entzogen, da sein Sein außerhalb seiner selbst konstituiert ist.18 Die „unverlierbare Würde des Menschen und die Kontinuität seiner Person über Sünde, Krankheit und Tod hinaus“19 ist der Grund dafür, dass kein Mensch einem Mitmenschen das Personsein, seine Würde und insofern das Recht auf Leben absprechen kann.20 Die Erkenntnis von Gottes Verhalten zum Menschen sowie vom wirklichen Menschen, also dem zur Gemeinschaft mit Gott erschaffenen Menschen, ist alleinig durch Gottes Offenbarung in Jesus Christus möglich, die durch den „im Glauben geschenkten Heiligen Geist“21 wahrnehmbar wird.22 2.1.2 Das (geschaffene) Leben – Kriterium des Menschseins Wie im gerade vorausgegangenen Absatz bereits angesprochen wird, ist der Aspekt Leben in Eibachs Darstellungen nicht zu vernachlässigen und sollte folglich expliziert werden. Hierzu sei nochmals ein kleiner Bogen geschlagen: Die Argumentation Eibachs geht aus von der 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Eibach, Recht auf Leben, 126. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 129f. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 130. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 133f. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 134. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 136. Eibach, Recht auf Leben, 137. Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 60. Eibach, Recht auf Leben, 130. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 130.

214

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

Fragestellung, was nun diese oben bereits eingehend motivierte theologische Perspektive und die genuine christologische Anthropologie im Konkreten für die medizinische Ethik beitragen kann. Er sieht die Gefahr, bei einem idealtypischen Menschenbild, das sich alleinig darauf beschränkt, das Eigentliche des Menschen nicht (empirisch) vorzufinden, verhaftet zu bleiben und insofern ein Anschluss der theologischen Perspektive an die Lebenswirklichkeit gefährdet ist. Nach Eibach genügt es nicht, ausschließlich beim nicht Vorfindbaren stehen zu bleiben und die Rede vom Menschen alleinig hierauf zu beschränken.23 Eine sichtbare Auswirkung dieser (theoretisch) gewonnenen Erkenntnisse über Sein und Bestimmung des Menschen ist für Eibach die Folge. Er betont, „daß sich die Bestimmung immer nur in den konkreten Verhältnissen des Lebens verwirklichen läßt.“24 Die Theologie hat also die Aufgabe vom Licht der Bestimmung auf die Verhältnisse des Lebens zu schauen und einzutragen, welche konkrete Lebensweise die der Bestimmung entsprechende ist. Der Sinn des Menschen soll die Perspektive auf die Lebenswirklichkeit vorgeben.25 Hieraus entwickelt Eibach seine Konkretion für den Beitrag der Theologie zur Ethik: Die Bestimmung des Menschen zum Leben mit Gott soll geltend gemacht werden. Explizit bedeutet dies, dass sich diese Bestimmung zum Leben im Menschsein bewähren muss und mit speziellem Blick in die medizinische Ethik auch alle Entscheidungen von dieser Bestimmung ausgehend geleitet sein müssen.26 Zusammenfassend wird hier deutlich, dass sich in der Entscheidung zum Leben die Bestimmung des Menschen in der Welt zeigt. Medizinische Probleme fungieren dann als Bewährungsprobe der zugrunde liegenden Anthropologie. Während der frühe Eibach (in Anlehnung an Barth und Abgrenzung von Schweitzer) von der Erwählung des Menschen zum Bundespartner Gottes den Wert des Lebens erklärt, wird im Folgenden ein veränderter Fokus ersichtlich werden. In seiner Dissertationsschrift beschreibt er: „Nur durch die in der Menschwerdung Christi begründete und kundgewordene Erwählung der Menschen zu Mitmenschen Jesu und zu Bundespartnern Gottes ist das Leben der Menschen so ausgezeichnet und so von allen anderen Leben unterschieden, daß seinem Leben ein ehrfurchtgebietender Wert zukommt.“27 23 24 25 26 27

Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 127. Eibach, Recht auf Leben, 127. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 127f. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 128f. Eibach, Recht auf Leben, 176.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

215

Somit ist das Leben, dem der von außen konstituierte Wert zukommt, gerade das vorfindliche Leben. In der späteren Wahrnehmung Eibachs wird eine Veränderung seiner Perspektive aufzuarbeiten sein, welche sich ebenfalls in eine modifizierte Beschreibung des Lebens einträgt und hier somit knapp vorweggenommen werden soll. So wird einerseits der schöpfungstheologisch begründete Aspekt gestärkt, dass das Leben als solches Schutz gebietet sowie ein geschaffenes, und daher angewiesenes und abhängiges Leben ist. Die Passivität – auch im Empfangen des Lebens – wird Betonung finden, dem wiederum die Fürsorge die entsprechende Lebensweise ist. Ferner wird in späteren Schriften der Gedanke gestärkt, dass das irdische Leben seinen Wert von der Vollendung im ewigen Leben her erhält.

2.2 Übergänge zu einer veränderten Grundlegung Bei der Aufarbeitung Ulrich Eibachs Ethik der Fürsorge liegt die Wahrnehmung nahe, dass sich die Grundentscheidungen seiner Argumentationen im Laufe der Zeit verändern. War ursprünglich die Grundlegung einer bundespartnerschaftlich-christologischen Anthropologie angestrebt, so justiert er seine Perspektive auf die Praxis hin sowie auf die Frage nach Handlungsmaßstäben für die Praxis. Wie noch zu zeigen ist, entstammt dies einer Wahrnehmung, dass die Realität der Würde, nicht zuletzt durch eine Gleichsetzung mit solipsistisch geprägter Autonomie, in Gefahr steht. Somit ergibt sich die Frage nach einer nachhaltigen Sicherung der Würde, was schließlich aus einer eschatologischen Hoffnungsperspektive erfolgt und ferner jene Konstitution durch den Schöpfer voraussetzt. Folglich lässt sich vor dem Hintergrund der ursprünglichen Grundlegung nun in einem ersten Schritt ein Übergang von der Bundes- zur Schöpfungstheologie zeigen. Anschließend wird die Ausrichtung auf eine eschatologische Perspektive ersichtlich.

2.2.1 Verhältnisbestimmung von Bundes- und Schöpfungstheologie Ulrich Eibach fordert in seiner Grundlegung eine christologische Anthropologie in Anlehnung an Barth, welche er anfänglich entscheidend motiviert. Genauere Prüfung verlangt nun sein dargestelltes Verhältnis von Bundes- und Schöpfungstheologie im Hinblick auf die Verknüpfung beider. Ausgangspunkt ist die Frage, ob die Verbindung, dass der Mensch Würde und Gottebenbildlichkeit durch sein Geschöpfsein er-

216

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

hält,28 eine angemessene Darstellung in seinen Argumentationen widerspiegelt. Vermuten lässt sich, dass Ulrich Eibach in seinen Ausführungen eine gewisse Entwicklung durchlaufen hat. In den frühen Schriften wird, wie oben bereits gezeigt, der bundestheologische Ansatz sehr stark motiviert. Hingegen zeigt sich ein zunehmender Übergang zu schöpfungstheologischen Argumenten. Der ursprüngliche Ansatz tritt in den Hintergrund. Die theologische Begründung der Würde einer Person zieht Eibach letztlich zugleich aus dem schöpfungstheologischen Gottebenbildlichkeitsstatus des Menschen sowie aus dem bundespartnerschaftlichen Ansatz, als Partner Gottes erwählt zu sein. Beide Argumentationsstränge münden in die Zusage einer unverlierbaren Würde. Die Konstitution des Menschen zur Person wird beschrieben.29 Exemplarisch wird an dem Vergleich von frühen und späteren Textstellen jene These entfaltet. Zur Kennzeichnung der christologisch-bundestheologischen Argumentation Eibachs ist erneut auf seine Dissertationsschrift30 zu verweisen, die in Auszügen bereits vorgestellt wurde und an die hier nochmals angeknüpft werden soll. Grundlage ist dort, dass Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott letztlich Ausgangs- und Bezugspunkt aller Anthropologie und des Würdeverständnisses ist und nur im Rückblick von Jesus Christus auf den Menschen hin die Bestimmung des Menschen wahrgenommen werden kann, nämlich Gemeinschaft mit Gott zu haben sowie dieser Bestimmung in der Begegnung mit den Mitmenschen zu entsprechen.31 Jesus Christus begegnet als wahrer Mensch als Bundespartner Gottes, der zugleich in Gänze der menschlichen Bestimmung entspricht: „der Mensch, der ganz für Gott und ganz für den Mitmenschen da ist, der in Unterlassung aller anderen Werke ‚Gottes Werk‘ tut und so mit Gott ‚Eins‘ ist [. . . ]. Darin ist Jesus das Ebenbild Gottes“32 . In Jesus Christus ist auch jeder Mensch Ebenbild Gottes, was Eibach wie folgt darstellt: „So gibt Gott in Jesu Sein allen Menschen Anteil an Jesu Sein für Gott und den Menschen, so daß jeder Mensch ‚Ebenbild Gottes‘ ist. Alles menschliche Sein hat seinen Grund in der Erwählung des einen Menschen Jesu, dessen Geschichte die aller Menschen umgreift. Menschsein heißt daher, mit diesem Jesus zusammen sein und an seiner Geschichte teilhaben.“33 28 29 30 31 32 33

Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 58. Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 59. Vgl. Eibach, Recht auf Leben. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 123ff. Eibach, Recht auf Leben, 136. Eibach, Recht auf Leben, 136.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

217

Deutlich wird eine rein christozentrische, bundestheologische Argumentationslinie, die entsprechend die Begriffe der Würde oder der Ebenbildlichkeit charakterisieren. In Gegenüberstellung mit Eibachs späteren Werken sind nun andere theologische Begründungszusammenhänge leitend, die im Folgenden Darstellung finden und befragt werden sollen. Exemplarisch für einen veränderten Blickwinkel und eine veränderte theologische Herangehensweise in den jüngeren Beiträgen Eibachs wird sein Buch Autonomie, Menschenwürde und Lebensschutz in der Geriatrie und Psychiatrie34 aus 2005 herangezogen. Seine Argumentationsgrundlage ist die kritische Anfrage, ob Autonomie als Voraussetzung von Menschenwürde gelten kann. Hierbei steht offensichtlich die Gefahr vor Augen, dass der Schutz des Lebens besonders für die Menschen vermindert wird, die nicht einem solchen Autonomieideal entsprechen (können).35 Eibach untermauert dies mit einem verfassungsrechtlichen Argument, da sich gemäß dem Grundgesetz die Achtung der Menschenwürde im Schutz des menschlichen Lebens konkretisiert. „Träger der Menschenwürde ist demnach das ganze menschliche Leben und nicht nur Teile dessen. Das Leben selbst gebietet Achtung und nicht nur die autonomen Fähigkeiten.“36 Das Leben ist also hier als solches vorhanden und symbolisiert von sich heraus eine Schutzwürdigkeit. Wenn folglich vor dem Hintergrund der obigen Darstellung das Leben als solches durch sein Vorhandensein Achtung und Schutz beansprucht, so lässt sich hier eine erste Andeutung naturrechtlicher Gedankengänge vermuten. In einem nächsten Schritt geht Eibach dazu über, das Verständnis der Würde von der Gottebenbildlichkeit her zu erklären. Als Reaktion darauf, dass ein rein autonomes, an empirischen Qualitäten orientiertes Verständnis des Menschen unzureichend ist, formuliert Eibach seinen Widerspruch gegen eine Gleichsetzung von Autonomie und Menschenwürde.37 Würde gründet hingegen darin, „dass Gott ihn zu seinem Ebenbild bestimmt hat, das heißt, ihn zu seinem Partner erwählt und geschaffen hat, der für sein Leben und das Leben anderer und die Schöpfung Verantwortung übernehmen soll, und dass er ihn zu ewiger Gemeinschaft mit sich bestimmt hat.“38 34 35 36 37 38

Vgl. Eibach, Autonomie. Vgl. Eibach, Autonomie, 16f. Eibach, Autonomie, 17. Vgl. Eibach, Autonomie, 11f. Eibach, Autonomie, 17.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

Im Vergleich zu der obigen Darlegung ist nun trotz Verwendung des Ebenbildlichkeitsbegriffs hier keine christologische Argumentation leitend. Es ist keine Rede mehr von Jesus Christus, durch den alle Menschen an der Ebenbildlichkeit teilhaben. Die Kausalkette hier geht eher von der Erwählung bzw. Erschaffung des Menschen aus, der darum ebenfalls als Verantwortungsträger auftritt. Zudem benennt Eibach die Vollendung der menschlichen Bestimmung „im Sein bei Gott, im ‚ewigen Leben‘ [. . . ]. Hier erst vollendet sich alles Leben zu seiner Bestimmung, zur Gottebenbildlichkeit.“39 Dies kennzeichnet den Charakter der Vorläufigkeit im irdischen Leben sowie den Bestand der Zusage und der Bestimmung durch Gott. Deutlich macht Eibach ferner, dass auch die Gottebenbildlichkeit fragmentarischen Charakter besitzt und von ihrer Vollendung gesehen dem Menschen auch jetzt schon „als ‚transzendentes‘ Prädikat zugeeignet ist.“40 Sichtbar wird erneut eine veränderte Argumentation: Eibach geht nun nicht mehr davon aus, dass in Jesus Christus, dem wahren Ebenbild Gottes, auch bereits der Mensch Gottes Ebenbild ist. Seine Darstellungen gehen vielmehr dazu über, das christologische Fundament auszutauschen gegen die Argumentationslinie, die Gott stärker als Schöpfer und Vollender wahrnimmt. Menschenwürde wird verändert begründet als die (verheißene) Gottebenbildlichkeit durch den Schöpfergott,41 statt durch geschenkte Relationalität im Anruf Gottes.42

2.2.2 Die Fürsorge als rechte Lebensweise Vor obigem Hintergrund zeigt sich jene veränderte Perspektive auch in der Begründung und Grundlegung der Fürsorge. War Eibachs Darstellung in seinen älteren Schriften eher geprägt von einem Entsprechungsmodell aus der Freiheit heraus, so ergibt sich nun die Fürsorge als Konsequenz des geschaffenen Lebens als angewiesenes und abhängiges Leben. Genauer belegen lässt sich diese Wahrnehmung anhand der nun folgenden Darlegung: In Eibachs christologischer Grundlegung seiner Theologie wird in Jesus Christus als dem wahren Menschen die Bestimmung des Menschen, Gemeinschaft mit Gott und mit dem Mitmenschen zu haben, wahrnehmbar.43 Als Konsequenz hieraus ist es 39 40 41 42 43

Eibach, Autonomie, 17. Eibach, Autonomie, 17f. Vgl. Eibach, Autonomie, 17ff. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 150f. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 126ff.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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„Echo und Antwort“44 auf Gottes Offenbarung, dieser Bestimmung des Menschseins auch zu entsprechen: „Menschsein heißt daher, mit diesem Jesus zusammen sein und an seiner Geschichte teilhaben.“45 Das Entsprechungsmodell gründet in der Erkenntnis, dass der zum Bund bestimmte Mensch insofern auch bündnisfähig ist, seine Bestimmung zu erkennen und daraufhin tätig werden kann. „Wenn es auch ‚keine dem Dasein und Sosein des Geschöpfs immanente Bestimmung, keine mit seiner Erschaffung aufgerichtete und ihm zu eigen gemachte selbständige Teleologie des Geschöpfes gibt‘ [. . . ], so ist der Mensch von Gott doch so erschaffen, daß er seiner ihm transzendenten Bestimmung entsprechen kann.“46

Hier zeigt sich, dass einerseits die Bestimmung des Menschen in Jesus Christus erkannt werden kann sowie sichtbar wird, andererseits der Mensch zudem fähig ist, seiner Bestimmung zu entsprechen. Dies ereignet sich in einem Hören auf das Wort Gottes, was wiederum die Tat des Menschen fordert und insofern dem Gehorsam gegenüber Gottes Wort entspricht. 47 „Im Hören auf das Wort Gottes wird der Mensch zur Tat aufgerufen.“48 Die Fürsorge ergibt sich als Konsequenz aus der Bestimmung des Menschen. „Das Sichbegegnen und Sichfinden Gottes in sich hat eine Entsprechung in der Beziehung von Mensch zu Mensch, denn Gott schuf den Menschen als eine Zweiheit, als Mann und Frau.“49 „Die Grundform der Humanität besteht also in der Bestimmtheit des Seins des Menschen zum Zusammensein mit anderen Menschen.“50 Die Fürsorge ergibt sich also aus der ontologischen Bestimmung des Menschen. Fernerhin unterstreicht Eibach einen weiteren charakteristischen Aspekt der Tat der Fürsorge. „Der Mensch hat eine geschöpfliche Freiheit dazu, gerne für den anderen da zu sein [. . . ]. Er hat Freiheit zur Hilfe und Verantwortung für den anderen. [. . . ] Diese Humanität ist des Menschen Natur selbst [. . . ], sie ist das dem Christen und Nichtchristen gemeinsame Humanum, eine jener Kontinuitäten und Geheimnisse der Geschöpfwelt, die nicht erst wie die Agape durch die Gnadengabe des Heiligen Geistes gegeben sind.“51 44 45 46 47 48 49 50 51

Eibach, Recht auf Leben, 129. Eibach, Recht auf Leben, 136. Eibach, Recht auf Leben, 145. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 148. Eibach, Recht auf Leben, 148. Eibach, Recht auf Leben, 151f. Eibach, Recht auf Leben, 152. Eibach, Recht auf Leben, 153.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

Hier wird der Aspekt des Gerne in der Freiheit hervorgehoben. Aus seiner Freiheit begegnet der Mensch dem Mitmenschen in Form der Fürsorge, und er tut es gerne. Ersichtlich wird also einerseits das Entsprechungsmodell, welches aus der relationalen Bestimmung des Menschen erwächst, ihn aber zugleich in eine Freiheit versetzt, selbst Subjekt zu sein und aus Freude und Dank auf die ihm erwiesene Gnade zu reagieren. In Gegenüberstellung hierzu nun Eibachs späteres Gedankenmodell: Ausgangspunkt ist, dass sich das Leben sowie die Würde der Menschen dem Handeln Gottes verdanken und der Mensch so von Gott konstituiert wird. Dem Leben liegt also eine „Passivität“52 zugrunde. Der Mensch erscheint insofern als abhängiges Wesen, einerseits von seinem Schöpfergott, dessen Handeln er sein Dasein verdankt, andererseits von seinen Mitmenschen, auf die der Mensch in seinem gesamten Leben (mal mehr, mal weniger) angewiesen ist und bleibt.53 Dieses Angewiesensein ist so für Eibach im menschlichen Leben vorfindbar und es verwirklicht sich in diesem Sein in Beziehungen.54 Die Fürsorge ist also „Teil ihrer unverwechselbaren Lebensgeschichte“55 , sie gehört folglich zur Natur des Menschen dazu. Da zuerst die Fürsorge Gottes zuteilwurde, ist es auch hier die Aufgabe des Menschen dieser Fürsorge zu entsprechen.56 Eibach statuiert aus dem Geschöpfsein des Menschen: „Die Ethik der Fürsorge gründet in dieser fundamentalen Grundstruktur, dem Angewiesensein auf die Zuwendung Gottes und anderer Menschen, und auch in der bleibenden Abhängigkeit des Menschen, seines Geistes und seiner Freiheit von den Naturbedingungen des Lebens, der Leiblichkeit und ihrer Hinfälligkeit.“57 Fernerhin findet hier die Freiheit eher mit einem veränderten Aspekt im Sinne von Abhängigkeit und Verzicht auf autonome Fähigkeiten Verwendung.58 Fürsorge entspricht in der jüngeren Darstellung Eibachs also stärker der Konsequenz, ein vorfindbar abhängiges und angewiesenes Geschöpf zu sein, ohne hierbei eine individuelle Ebene im Menschsein wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Insofern ist die Fürsorge, die schlicht als solche vorhanden ist, die natürliche Haltung des Menschen, wodurch erneut die Beto52 53 54 55 56 57 58

Eibach, Autonomie, 19. Vgl. Eibach, Autonomie, 19. Vgl. Eibach, Autonomie, 19f. Eibach, Autonomie, 20. Vgl. Eibach, Autonomie, 20. Eibach, Autonomie, 20. Vgl. Eibach, Autonomie, 21. Siehe ferner Kapitel IV.3.2.2.2.1 Exkurs: Das Verständnis von Freiheit, in dem eine genauere Interpretation von Freiheit aufgearbeitet und diskutiert wird.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

221

nung der schöpfungstheologischen Dimension hervortritt und sich eine gewisse Nähe zum Naturrecht aufzeigen lässt. Von der Wahrnehmung der Fürsorge Gottes erfolgt eine unmittelbare sowie unhinterfragte Parallelisierung auf die Ebene von Mensch und Mitmensch. Anhand dieser Eibachschen Konstitution des Menschen scheint das Menschsein somit bereits völlig in der Dimension der Fürsorge aufzugehen. Problematisch bleibt daran, dass er das Selbst-Sein des Menschen nicht als genuine Komponente des Menschseins auffindet, beschreibt und stärkt, sondern sie letztlich mit seiner Definition von Fürsorge aushebelt und ersetzt. Kennzeichen dieser Darstellung ist die fortschreitende Gleichsetzung (bis hin zum Austausch) von Bundes- und Schöpfungstheologie, die zu Eibachs ursprünglichem Ansatz in Spannung steht. Seine erstrebte bundestheologische Grundlegung von Jesus Christus her verwischt hier also mit der Schöpfungstheologie und seinen natürlichen Zuordnungen. Beide werden mitunter gar als Chiffre synonym verwendet, ohne auf eine veränderte theologische Wahrnehmung hinzuweisen. Eine klarere, positionsbezogenere Argumentation ist nicht auffindbar. Sein genaueres Verständnis dieser Theologien wird ferner nicht näher erläutert.

2.3 Die Grundlegung der Theologie Ulrich Eibachs aus der Praxisperspektive Angedeutet wurde bereits, dass bei Eibach eine Veränderung seiner argumentativen Grundlegung nachzuzeichnen ist. Sein enger Praxisbezug, etwa in Form seiner Erfahrungen als Krankenhausseelsorger, kann eine entsprechende Begründung anbieten. Wie es scheint prägt diese praktische Arbeit seine Äußerungen und Argumentationen. Er nimmt wahr, dass offensichtlich die Würde des Menschen bedroht ist und insofern auch das Leben, das bereits als solches als Konsequenz der Schöpfungstheologie (oder gar infolge naturrechtlicher Gedankengänge) Schutz gebietet, nicht hinreichend unter Schutz steht.59 Wie also kann die Würde gesichert werden? Ausgehend von den bereits oben dargestellten Übergängen zur Stärkung einer Schöpfungstheologie, kann nun ergänzend festgestellt werden, dass unter der Zuschreibung einer eschatologischen Komponente eine nachhaltige Sinngebung retrospektiv gesichert werden soll. 59

Vgl. Eibach, Autonomie, 17.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

2.3.1 Eschatologische Hoffnungsperspektive zur retrospektiven Sinngebung Eibach integriert, wie bereits kurz angedeutet, die eschatologische Komponente in Form der verheißenen Gottebenbildlichkeit in seine Darlegungen. Das Leben in Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit vollendet sich im „Sein bei Gott“60 . „Nicht allein aufgrund der biologischen Zugehörigkeit zur ‚Gattung Mensch‘, sondern aufgrund dieser Verheißung der vollendeten Gottebenbildlichkeit im ‚ewigen Leben‘ kommt schon dem irdischen Menschenleben die Würde zu, Ebenbild Gottes zu sein.“61

Auch hier unterstreicht Eibach eine Unzulänglichkeit der Konzentration auf die rein biologische, empirische Komponente des Menschen und wendet sich insofern zugleich gegen utilitaristische Würdekonzepte, wie etwa von Peter Singer vertreten. Eibach öffnet seinen Blick auf die beispielsweise in Röm 8,29 und 1. Kor 15,49 eröffnete Verheißung Ebenbilder Gottes zu werden. Speziell für ein krankes oder behindertes Leben, bei welchem gerade die biologisch-empirischen Qualitäten infrage stehen können, unterstreicht Eibach jene hoffnungstheologischen Aussagen.62 Es findet also wiederum eine Eingliederung der bundespartnerschaftlichen und schöpfungstheologischen Würdedimension in jene endzeitlich orientierte statt. Offen bleibt, warum er, trotz seiner anfänglich christologisch orientierten Anthropologie, auf eine Rede von Jesus Christus in diesem Zusammenhang gänzlich verzichtet. Dies deutet erneut darauf hin, dass die ursprüngliche christologische Anthropologie zunehmend verblasst und insofern auch Christus als Bezugspunkt und Anhaltspunkt in seinen Darstellungen schlicht nicht mehr notwendig zu sein scheint, wobei Eibach gerade jene Notwendigkeit einer christologischen Anthropologie anfänglich eindrücklich zugrunde gelegt hat. Eine Anknüpfung oder Einordnung der Aussagen an seine ursprüngliche Grundlegung findet folglich nicht statt. Ein Begründungsversuch jener Wahrnehmungen kann nur hypothetischen Charakter aufweisen und soll demnach hier explizit mit einem Fragezeichen versehen werden. Der Gedanke liegt nahe, dass Eibach mit diesen Darstellungen auf ein gängiges, auch gesellschaftlich akzeptiertes Konzept, oder anders ausgedrückt, auf die übliche Konnotation 60 61 62

Eibach, Autonomie, 17. Eibach, Autonomie, 18. Vgl. Eibach, Autonomie, 17.

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des Begriffes Menschenwürde mit Gottebenbildlichkeit einschließlich einer Hoffnungsdimension reagiert, diese aufgreift sowie jenes vorfindliche Bild mit einem Versuch einer christologischen Begründung unterlegt. Insofern laufen alle Linien in diesem Resultat, welches eher eine Mischung der Bundes-, Schöpfungs- und Hoffnungstheologie darstellt, zusammen. Die Bundestheologie scheint dann zusehends zu verschwinden; derartige Argumentationen werden nicht mehr angeboten. Möglicherweise kann Eibach gerade in dieses Bild seine fundierten Praxiserfahrungen projizieren. Ausgangspunkt dessen können seine Erfahrungen aus der Geriatrie sein, die in besonderer Weise diese Hoffnungsdimension fordern, die Eibach wiederum gezielt einführt, um auch Zuständen schwerster Krankheit und Pflegebedürftigkeit ein standhaltendes Würdekonzept zuzusprechen. Dies untermauert Eibach in seiner Feststellung: „Wer die Dimension des ‚ewigen Lebens‘ verliert, gerät unter den Zwang, die Würde und den ‚Lebenswert‘ nach weltimmanenten empirischen Wertmaßstäben rechtfertigen und dabei die Würde und die Menschenrechte schwerst pflegebedürftiger Menschen doch irgendwann Preis geben zu müssen.“63

2.3.2 Begründungsstrukturen zur Stärkung der Praxisperspektive Nachdem Eibach diese frühere, noch theologische Argumentation aufgebaut hat, verschwindet sie zusehends aus seinen Darlegungen und fungiert nicht mehr als aktive Begründungsstruktur. Weitere theologische Argumente sind in seinen späteren Werken nicht auffindbar. Zur Verdeutlichung dieser Wahrnehmung bietet sich eine chronologische Darstellung seiner wichtigen Beiträge an. Bereits mehrfach hervorgehoben wurde die erfolgte theologische Grundlegung in Eibachs Dissertation, in der ausführlich christologisch-bundestheologische Argumente zur Grundlegung seiner Anthropologie in Anlehnung an Barth herangeführt wurden.64 Sein nachfolgendes Werk65 setzt die Dissertationsschrift in dem Sinne fort, dass nun verstärkt konkrete ethische Probleme, die nicht zuletzt aus der Weiterentwicklung der medizinischen Möglichkeiten resultieren, Betrachtung finden. Diese Arbeit soll eher, so formuliert es Eibach, als „‚Übersetzung‘ allgemeiner ethischer Überzeugungen in das 63 64 65

Eibach, Autonomie, 18. Vgl. Eibach, Recht auf Leben. Vgl. Eibach, Medizin.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

praktische Betätigungsfeld“66 fungieren. Hieraus ergibt sich unmittelbar die vorliegende Ausrichtung auf konkrete Problemkonstellationen verbunden mit der Frage, was das Handeln der beteiligten Personen (besonders Ärzte, medizinisches Personal, Seelsorger) leiten kann. Nicht zuletzt ergibt sich der Anspruch der Transferierung theoretischer Ansätze in die Praxis aus den eigenen Erfahrungen Eibachs als Seelsorger im Krankenhausumfeld.67 Ein Rekurs auf die in der Dissertation dargelegten anthropologischen Grundsätze findet, wenn auch in geringerem Umfang, noch statt, wobei auch schon hier auf die bereits angesprochene zunehmende Verbindung von bundestheologischen Argumenten mit schöpfungstheologischen hinzuweisen ist. Zentral ist die Begründung von Würde und Bestimmung des Menschen. Zuerst wird in bundestheologischer Argumentation darauf verwiesen, dass die Würde des Menschen an die besondere Beziehung Gottes zu den Menschen geknüpft ist und nicht darin Begründung findet, „daß er über dem Tier steht, sondern damit, daß er in besonderer Weise unter Gott steht“68 . Folglich muss die Frage nach der Menschenwürde auf das Ziel und die Bestimmung des Menschen hin ausgerichtet sein: „Die Bestimmung, der Sinn menschlichen Daseins darf nicht von seinem biologischen Zweck für die Gattung her erschlossen werden, vielmehr sind die biologischen Voraussetzungen des Menschseins im Lichte der und im Bezug auf die dem Menschen von Gott gesetzte Lebensbestimmung zu sehen und in ihrem Sinn zu deuten.“69

Die biologischen Qualitäten eines Menschen sind also nicht Ansatzpunkt seines Sinnes und Wertes, „sondern die dem Menschen gesetzte Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen.“70 Ferner konstatiert Eibach ein Recht auf Leben, was alleinig aus dem Dasein an sich besteht.71 Gott setzt sich zu seinem Geschöpf, dem Menschen, in eine besondere Beziehung, indem er ihn als seinen Bundespartner erwählt. In dieser „einzigartigen Zuwendung Gottes zum Menschen“72 gründen Auftrag und Bestimmung des Menschen, letztlich das Leben zu empfangen. Der Mensch erhält also in reiner Passivität durch die 66 67 68 69 70 71 72

Eibach, Medizin, 7. Vgl. Eibach, Medizin, 7f. Eibach, Medizin, 83. Eibach, Medizin, 84. Eibach, Medizin, 84. Vgl. Eibach, Medizin, 85. Eibach, Medizin, 86.

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Aktivität Gottes in seinem Schöpferhandeln seinen Wert und seine Bestimmung.73 Eine gewisse Ähnlichkeit Eibachs zu Barths Anthropologie lässt sich hier darin zeichnen, dass auch Barth das Sein des Menschen von Gott her und als von Gott abhängiges Sein auf Grundlage der Erwählung Gottes aus freier Gnade beschreibt und insofern die Würde des Menschen darin besteht, dass er von Gott erwähltes Geschöpf ist.74 Der weitere Aspekt der Barthschen Darstellung hingegen tritt bei Eibach eher nicht in den Vordergrund, dass sich nämlich diese Relation von Schöpfer und Geschöpf in Sein und Aufgabe des Menschen manifestiert und folglich der Mensch nicht vollends beschrieben zu sein scheint, wird ausschließlich seine Passivität im Empfangen des Lebens betont. Eibach kennzeichnet diese Passivität gemäß den obigen Darstellungen gar zugleich als Sein und Aufgabe. Barth hingegen stellt die Aktivität des Menschen hinsichtlich seiner Aufgabe deutlich heraus, nämlich Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein. Als Antwort auf die zuteilgewordene Gnade als Subjekt ist es Aufgabe des Menschen, selbst im Sein in der Begegnung aktiv zu sein.75 Insofern deutet sich an dieser Stelle in Anlehnung an die obige Kennzeichnung der Eibachschen Aussagen an, dass er hier die menschliche Würde zunehmend aus der Schöpfung begründet und insofern die vorausgehenden bundespartnerschaftlichen Argumente nun keine rekursive Funktion mehr aufweisen. Zugleich relativiert sich dies in einem nächsten Schritt, in dem die Würde als Grund der Gottebenbildlichkeit angesehen wird, die wiederum aus der Erschaffung des Menschen als Partner Gottes, also einer besonderen Beziehung Gottes zu den Menschen, hervorgeht und insofern eine Größe außerhalb des Menschseins ist. Solange der Mensch lebt, erhält er diese unverlierbare und unzerstörbare Würde.76 Ferner unterstreicht Eibach auch hier die beschriebene Notwendigkeit einer eschatologischen Hoffnung auf ein neues Leben ohne Krankheit, Leiden und Tod, da der Wert des reinen Daseins nicht alleinig ausreichend ist bzw. verloren zu gehen droht.77 Besonders für die letz73 74 75

76 77

Vgl. Eibach, Medizin, 86. Vgl. KD III/2, 101ff.; 167; Eibach, Recht auf Leben, 149; Becker, Sein, 136f. Vgl. KD III/2, 148; 167ff.; 217; Becker, Sein, 130ff.; 286ff. Vgl. ferner den Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs (Kapitel III.7), in dem bereits herausgestellt wurde, dass einerseits Autonomie relational verstanden werden kann und andererseits das Subjektsein des Menschen Berechtigung zur Betonung (innerhalb einer relationalen Anthropologie) besitzt. Auf die dargestellten Aspekte in Anlehnung an Barth wird ferner in Kapitel V.2.2.3 dezidierter Bezug genommen. Vgl. Eibach, Medizin, 88. Vgl. Eibach, Medizin, 87.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

te Lebens- und Sterbephase genügt nach Eibach eine Begründung der Würde aus Gottes Schöpfung zur Bundespartnerschaft heraus nicht. „Allein der Glaube, daß auch solches Menschenleben Geschöpf Gottes ist und als solches an der Bestimmung menschlichen Seins teilhat und so vor Gott Wert hat, gibt auf diese Fragen keine hinreichende Antwort.“78 Letztlich bestimmt Eibach den bleibenden Wert des Menschenlebens erst vom Aspekt der Vollendung her, wodurch jedes auch noch so versehrte Leben auf Erlösung und „eine einzigartige Zukunft“79 hoffen darf. Der oben beschriebene Eindruck einer Vermischung von Bundes-, Schöpfungs- und Hoffnungstheologie bestätigt sich so erneut, wobei explizit durch die Betonung der Vollendung eine soteriologische Perspektive unterstrichen wird. In diesem frühen Werk Eibachs erhält die Rede von Christus einen – wenn auch geringen – Raum. In Jesus Christus wird der „leidende Gottesknecht“80 offenbar, in dem sich „Gottes ‚Ja‘ zu seinem Geschöpf und [. . . ] ‚Nein‘ gegen das Nichtige“81 zeigt. In Jesu Tod und Auferstehung konkretisiert sich Gottes Versöhnung mit den Menschen und die verbürgte Vollendung im ewigen Leben.82 Zugleich zeigt Jesu Gebot der Nächstenliebe eine geeignete Haltung des Menschen an, Beistand für Hilflose entgegenzubringen. Eibach zieht als Konsequenz: „Vielleicht ist gerade der Beistand für den ganz hilflosen Menschen, der nicht einmal mehr um Hilfe rufen kann und der in seiner stummen Hilflosigkeit der Hilferuf selbst ist, ein ‚Abglanz‘ der bedingungslosen Zuwendung Christi zum Menschen, die Wert schafft, statt Wert zu fordern und ‚Unwert‘ zu vernichten.“83

Eine anthropologische Grundlegung wird also in Kurzform zur Erklärung wichtiger Begrifflichkeiten abgehandelt. Spürbar erscheint die Prägung von Erfahrungen aus dem Krankenhausalltag her. Es wird förmlich darum gerungen eine Definition einer unverlierbaren Würde des Menschen zu erhalten, die sich als tragfähig erweist, wenn der offensichtliche Lebenswert eines Menschenlebens infrage geraten ist. Auch in der 1988 veröffentlichten Schrift zur Sterbehilfe84 bleiben ähnliche theologische Begründungsstrukturen zur Würde des Menschen 78 79 80 81 82 83 84

Eibach, Medizin, 91. Eibach, Medizin, 93. Vgl. Eibach, Medizin, 94. Eibach, Medizin, 90. Eibach, Medizin, 92. Vgl. Eibach, Medizin, 93. Eibach, Medizin, 95f. Vgl. Eibach, Sterbehilfe.

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bestehen, gleichermaßen sind christologische Argumentationen aufzufinden. Sie werden als theologische Grundlegung vor der ethischen Beurteilung von Fragen zum Großthema Sterbehilfe entfaltet. Ansatzpunkt der theologischen Betrachtung ist das wahrgenommene Defizit einer an den geistigen oder biologischen Fähigkeiten orientierten Anthropologie. Wohingegen Jesu Kreuz ein Gegenbild zeichnet, das den wahren Menschen, den gekreuzigten Christus, als das Ebenbild Gottes kennzeichnet und so auch Konsequenzen für eine christliche Anthropologie zeigen muss.85 Offengelegt wird, dass in der anfänglichen theologischen Grundlegung die christologische Perspektive stark leitend ist, die sodann in die Hoffnungsdimension mündet. Eibach kennzeichnet das Kreuz Christi als „Folge des Kampfes Gottes gegen Sünde und Elend in dieser Welt“86 . Die Auferstehung fungiert als Zeichen der verheißenen Vollendung, wodurch auch letztlich Krankheit und Leiden innerweltlich ihren Sinn finden.87 Die theologischen Linien ähneln der obigen Darstellung, sodass Eibach erneut eine unverlierbare Würde und somit Gottebenbildlichkeit infolge des Geschöpfseins zuspricht, wobei das irdische Leben „im Lichte des Auferstehungsglaubens“88 zu sehen ist.89 Der Mensch zeigt sich hier ebenfalls als passiver Empfänger, zu dem „sich Gott in besonderer Weise in Beziehung setzt und entsprechend an ihm handelt.“90 Ähnliche theologische Begründungsstrukturen bleiben in der im Jahre 2000 veröffentlichten Einführung in Fragen der Bioethik91 erhalten. Ausgangspunkt der Darstellung, dessen Erläuterung nun wachsenden Raum einnimmt, ist die vorfindliche „ethische Verunsicherung“92 sowie die Wahrnehmung einer defizitären Beschränkung der Menschenwürde auf die Autonomie.93 Zur Darlegung seiner christlichen Sicht von Menschenwürde bezieht sich Eibach erneut auf Gottes Bestimmung und Verheißung zu seinem Partner, mit Betonung der eschatologischen Vollendung dieses Gottebenbildlichkeitsstatus.94 Die Konstitution der Person obliegt der Handlung Gottes, die Ausgestaltung der Persönlichkeit eines Menschen ist von seinen menschlichen Beziehungen abhängig. 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 55ff. Eibach, Sterbehilfe, 57. Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 57f. Eibach, Sterbehilfe, 59. Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 58f. Eibach, Sterbehilfe, 60. Vgl. Eibach, Menschenwürde. Eibach, Menschenwürde, 11. Vgl. Eibach, Menschenwürde, 17. Vgl. Eibach, Menschenwürde, 25f.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

Zugleich kennzeichnet Eibach deutlich das Angewiesensein auf diese Beziehungsstrukturen, denen der Mensch sein Leben hauptsächlich verdankt.95 Hier zeigt sich zunehmend eine Betonung der Beziehungsebene Mensch – Mensch, aus der das Angewiesensein sehr deutlich wird. Ferner wird der Gedanke der Freiheit als Abhängigsein, sich also der „Fügung und Fürsorge Gottes und der der Menschen anvertrauen“96 zu können, betont.97 Die theologischen Linien von Autonomie, Menschenwürde und Lebensschutz in der Geriatrie und Psychiatrie (2005)98 wurden im vorangegangenen Absatz bereits eingehend mit seinen früheren Grundlegungen gegenübergestellt, sollen demnach hier nur nochmals kurz aufgegriffen werden. Merklich ist die Wichtigkeit einer Abgrenzung seiner Ethik zu einer Ethik der Autonomie, die eher als „theoretisches Konstrukt“99 klassifiziert werden kann. In der gesamten Darstellung kontrastiert Eibach die Autonomie als Konstrukt und reale Bedrohung gegen eine am Wohlergehen ausgerichtete Fürsorge, die die lebensweltliche Realität Eibach gemäß zu treffen scheint.100 Es folgt nun die Darstellung seines Würdekonzepts in christlicher Perspektive (s. o.), das aus der dargestellten Kombination von Bundes-, Schöpfungs- und Hoffnungstheologie eine unverlierbare Würde sowie die Zusage einer Vollendung des Lebens im Sein bei Gott vermittelt und ein ontisches Angewiesensein des Menschen kennzeichnet, wodurch die Fürsorge als dem Geschöpfsein entsprechende Haltung und als Entsprechung zu Gottes Fürsorge zu werten ist.101 Aktuellste Beiträge102 Eibachs kommen in Gänze ohne jegliches theologisches Fundament aus, wobei dennoch der übliche Aufbau Einsatz findet. Ein aktuelles gesellschaftliches Bild der Betonung der Autonomie wird vor Augen geführt sowie eine nahezu erfolgte Gleichsetzung von Autonomie und Menschenwürde problematisiert. Eine ethische Krise ist demnach wahrnehmbar.103 Seine Wahrnehmung wird mit Befragungsergebnissen untermauert.104 Auf dieser Grundlage kommt Eibach nun zu dem Schluss, dass es entscheidend für die Würde eines 95

Vgl. Eibach, Menschenwürde, 29f. Eibach, Menschenwürde, 45. 97 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 31ff. 98 Vgl. Eibach, Autonomie. 99 Eibach, Autonomie, 11. 100 Vgl. Eibach, Autonomie, 7–16. 101 Vgl. Eibach, Autonomie, 17ff. 102 Vgl. Eibach, Patientenautonomie. 103 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 1f. 104 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 2f. 96

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Menschen ist, wieweit Anderen im Angewiesensein vertraut werden kann. Erfahrungswerte untermauern, dass es die mitmenschliche Beziehung ist, die über Krisensituationen trägt.105 So ergibt sich, dass statt einer theologischen Grundlegung nun Befragungsergebnisse und Fallbeispiele als Grundlage für Eibachs Ethik dienen. Die Anbindung an Praxiserfahrungen wird also stets bedeutsamer. Theologisch vernachlässigt er seine zuvor benannte Komponente des Menschseins als Sein für Gott und in der Gott-Mensch-Beziehung. Nahezu eindimensional ist nun ausschließlich die Mensch-Mensch-Beziehung im Fokus. In der Krankheitssituation sind die mitmenschlichen Beziehungen also letztlich die „Leben ermöglichende Dimension des Menschseins“106 . Ähnliche Feststellungen sind auf einen Beitrag im Deutschen Pfarrerblatt107 aus 2013 anwendbar, mit dem Unterschied, dass hier vermehrt Glaubensaussagen herausgestellt werden, dennoch keine theologische Argumentationslinie entfaltet wird. Kenntlich wird erneut die Abgrenzung vom gegenwärtigen Menschenbild, das Autonomie mit Menschenwürde gleichsetzt, und von den Fortschritten der Medizin, die für ein leidvolles Sterben trotz weniger Schmerzen verantwortlich sind. Ferner veranlassen Säkularisierung und Individualisierung dazu, das Leben nicht mehr als von Gott verdankt wahrzunehmen, die Sinnfrage nicht mehr beantworten zu können und folglich auch keinen Sinn in einem Erleiden des Lebens bis zum Ende sehen zu können.108 Zur Verdeutlichung seiner Aussagen gebraucht Eibach wieder verschiedene Beispiele mit dem Ergebnis, dass gerade im Angesicht des Todes viele Menschen feststellen ihr Leben verfehlt zu haben. Eibach identifiziert die Angst vor dem Tode in besonderem Maße als Resultat der verbreiteten Glaubenslosigkeit. Eine Vollendung des Lebens wie auch das irdische Leben als solches ist aber Gabe Gottes, wodurch Eibach ein ontisches Angewiesensein unmittelbar folgert.109 Die geeignete Haltung des Menschen ist somit „sich loszulassen, sich anderen anzuvertrauen, ja auch über sich verfügen zu lassen.“110 Das letztendliche Urteil über ein Leben obliegt alleinig Gott. Der Glaube und – von medizinischer Seite – die Palliativmedizin helfen, das Sterben erträglich zu machen und auch schwerstes Leiden tragen zu können.111 In Eibachs Begrün105

Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 5. Eibach, Patientenautonomie, 15. 107 Vgl. Eibach, Menschenwürdig sterben. 108 Vgl. Eibach, Menschenwürdig sterben, 1. 109 Vgl. Eibach, Menschenwürdig sterben, 2f. 110 Eibach, Menschenwürdig sterben, 3. 111 Vgl. Eibach, Menschenwürdig sterben, 3f. 106

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

dungsstruktur schlägt er nun eine Parallele zum leidenden Christus, der auch Orientierungspunkt im eigenen Leiden sein soll und an dem erneut deutlich wird, dass Leben Stellvertretung, Anwaltschaft und Angewiesensein auf Gott und auf Mitmenschen bedeutet und sich diese Stellvertretung Christi hier auf Erden „im Dienst der Nächstenliebe“112 zeigt. Der Mensch ist nach Eibach dieser Beziehungen bedürftig. „Wer aus einer solchen Beziehung heraus stellvertretend für einen bedürftigen Menschen entscheidet und handelt, der handelt nicht paternalistisch, missachtet erst recht nicht die Würde eines Menschen und setzt sich nicht über seinen Willen hinweg, sondern sorgt dafür, dass der Mensch als Subjekt und Person gemäß seinen Bedürfnissen und seinem Willen und damit zugleich auch seiner nicht auf die Autonomie reduzierten Würde geachtet und behandelt wird.“113

Die Leidensfähigkeit stellt sich als gewisse Bewährung des Glaubens dar, polarisiert könnte man sagen, es ist eine Entsprechung Christi, das Leiden zu ertragen. Im Lichte des Glaubens, so Eibach, wirkt das Leiden nicht mehr zwingend destruktiv. Ein Verzicht auf seine Selbstbestimmung und sich ganz in Gottes Hand zu geben, ist die rechte Haltung, die auch eine „Leidensfähigkeit“114 kennzeichnet.115 Etwas steil formuliert wirkt ein Erleiden hier als rechte Haltung des Glaubens, der in Entsprechung zu Jesu Leiden ebenfalls hierzu aufruft. Ferner wird deutlich, dass das Leben nur gelingen kann, wenn sich ganz auf die das Menschsein konstituierende Beziehungen zu Gott, besonders aber zu den Mitmenschen, eingelassen wird. Es zeigt sich also, dass Eibachs ursprüngliche christologische Anthropologie im Lichte der Bundestheologie in der chronologischen Entwicklung zunehmend keine konstituierende Begründungsfunktion mehr einnimmt. Hingegen werden Erfahrungswerte und Glaubensaussagen dafür eingesetzt sowie eschatologische Hoffnungsdimensionen stetig unterstrichen. Auch die Anknüpfung und die Einbindung seiner Erkenntnisse in Interpretation der Barthschen Grundsätze finden nahezu nicht mehr statt. Sein Schwerpunkt, der auch immer wieder im Vordergrund seiner Begründungen zu stehen scheint, liegt auf seinen Praxiserfahrungen im Krankenhaus, speziell aus dem Bereich der Seelsorge. Vorrangig auf die Heilung von Menschen ausgerichtet zu sein und die112

Eibach, Menschenwürdig sterben, 5. Eibach, Menschenwürdig sterben, 5. 114 Eibach, Menschenwürdig sterben, 7. 115 Vgl. Eibach, Menschenwürdig sterben, 6f. 113

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se primär anzustreben scheint die Grundausrichtung der Darstellungen Eibachs in diesen Kontexten zu sein. 2.3.3 Die Ethik der Fürsorge in Abgrenzung zur Autonomie Eibachs vorwiegend gewählter Ansatzpunkt, welcher als Anker und Beginn vieler späterer Darstellungen dient, liegt vermehrt auf der empirischen Erfahrung, dass das gesellschaftlich entwickelte, gängige Bild des Menschen ein stark leistungsorientiertes sowie die geistigen Fähigkeiten glorifizierendes Bild ist.116 Dargestellt wird hierbei die aktuelle vorfindliche Situation mit besonderem Blick auf Gesundheitsangelegenheiten. Gesundheit gilt in der Gesellschaft als sehr wichtiges Gut und als Voraussetzung eines gelingenden, glücklichen Lebens, sogar ein gewisser „Zwang zum gesunden und autonomen Leben“117 ist zu verzeichnen.118 Verursacht wird unterdessen, dass die Menschenwürde vorrangig von der Autonomie her verstanden und inhaltlich gefüllt wird, wodurch diese Autonomie als Ausschlusskriterium fungiert, wem Würde zustehen kann.119 Hinzu kommt, dass, so Eibachs praxisbasierende Erfahrungen, die Autonomie eines kranken Menschen eingeschränkt ist, sogar nur als „‚theoretisches Konstrukt‘“120 beschrieben werden kann, wodurch der Patient notwendig auf Fürsorge angewiesen ist.121 Insofern kann eine Ethik der Autonomie mit einer utilitaristischen Ethik der Starken gleichgesetzt werden.122 Tendenzen einer Identifizierung der Autonomie mit Menschenwürde sind für Eibach wahrnehmbar und werden insofern, wie oben gezeigt, zunehmend auch benannt.123 Seine Ethik der Fürsorge wird demnach als Gegenmodell hierzu stärker profiliert, was wiederum die bereits beschriebenen Entwicklungen in den Eibachschen Darstellungen begünstigt. Denn diese „‚Ethik der Autonomie‘ kann so zur Bedrohung des Lebensrechts derer führen, die dem ‚Autonomieideal‘ nicht zu entsprechen vermögen.“124 Dieses als defizitär kennzeichnend, stellt Eibach zunehmend das ontische Angewiesensein – und somit auch, wie oben beschrieben, die Passivität – des Menschen in den Vordergrund. Er bekräftigt dabei, 116

Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 55. Eibach, Menschenwürde, 15. 118 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 14f. 119 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 16f. 120 Eibach, Autonomie, 11. 121 Vgl. Eibach, Autonomie, 7. 122 Vgl. Eibach, Autonomie, 16. 123 Vgl. Eibach, Autonomie, 7ff. 124 Eibach, Autonomie, 16. 117

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

sich ganz in diese Beziehungen der Liebe hinein zu geben, reduziert aber gleichzeitig die Darstellung des christlichen Würdeverständnisses, gegründet auf Gottes Bestimmung und Verheißung des Menschen zu seinem Partner. Wichtig bleibt die Hoffnungsdimension auf Vollendung des Reiches Gottes, wodurch letztlich auch jedes Leiden einen Sinn erhält.125 Eine Lösung, die sich sowohl gegen die Tendenzen der Überbewertung der Autonomie richten und die Ansprüche eines christlichen Lebens inkludieren, bietet nach Eibach „ein am Wohlergehen der kranken und pflegebedürftigen Menschen orientiertes Ethos der Fürsorge“126 . Die Ethik der Fürsorge beinhaltet für ihn die Kommunikation mit den Kranken, die Anteilnahme an ihrem Geschick sowie die Achtung der autonomen Fähigkeiten.127 An dieser Stelle sowie an weiteren seiner jüngeren Veröffentlichungen zum Thema betont er stärker als zuvor die Differenz dieser Ethik der Fürsorge zu einem Paternalismus in einem negativen Sinne. Insofern spricht er explizit die Berücksichtigung der selbstbestimmten Fähigkeiten eines Menschen an. Sicherlich wird Eibach missverstanden, sofern seine Äußerungen als reine Entmündigung und Missachtung jeglicher Individualität ausgelegt werden. Fraglich bleibt aber, inwiefern und wie weit er eine tatsächliche Berücksichtigung der Autonomie und der Individualität eines Menschen denkt und für angebracht hält. Nach Eibach ist insbesondere die Krankheitssituation gekennzeichnet davon, dass es dem Menschen nicht mehr möglich ist, seine autonomen Fähigkeiten wahrzunehmen und selbstbestimmt zu agieren. In einer solchen Situation wird die Kompetenz abgesprochen, rational Entscheidungen zu treffen sowie dem eigenen Wohle gemäß zu handeln. Dieses hingegen können dann die in Beziehung stehenden Menschen besser beurteilen und erhalten in logischer Konsequenz dieses Gedankengangs die Entscheidungskompetenz. Ferner sind sie – ihre Perspektive in der Situation scheint mehr Weitblick zu versprechen – auch nicht daran gebunden, dem Patienten die Wahrheit über seine Situation mitzuteilen.128 Infolge der Darstellung der Argumentationsstruktur und der Grundsätze lässt sich dennoch anzweifeln, ob Eibach eine tatsächliche Realisierung und Berücksichtigung der Selbstbestimmung auf Patientenseite für geboten hält. Auch eine bleibende Aktivität im Kranksein und trotz Schwäche ist eher nicht leitend. Zu unterstreichen ist dies durch folgendes Zitat Eibachs: Es 125

Vgl. Eibach, Menschenwürde, 25f. Eibach, Autonomie, 7. 127 Vgl. Eibach, Autonomie, 8. 128 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 52. 126

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„wird [. . . ] eine ‚Ethik der Fürsorge‘ [. . . ] entwickelt, die nicht mit einem ‚Paternalismus‘ zu verwechseln ist, der sich anmaßt, ‚über‘ das Leben anderer Menschen bestimmen zu dürfen, ohne wirklich in eine Beziehung zu den behandelten Menschen treten zu müssen, ohne sich von ihrer leidvollen Situation betreffen zu lassen. Eine Ethik der Fürsorge beruht auf Kommunikation mit dem kranken Menschen und Anteilnahme an seinem schweren Lebensgeschick. Die Achtung seiner Würde geht nicht in der Achtung seiner autonomen Fähigkeiten auf und unter. Die Achtung der autonomen Fähigkeiten ist aber dennoch ein unverzichtbarer Teil der Achtung der Menschenwürde und einer menschenwürdigen Behandlung.“129

Dieses Zitat verdeutlicht nochmals bereits Angedeutetes, dass Eibach hier die Autonomie mitdenkt und benennt, Paternalismus ferner auf fehlende Beziehungen und Mit-Leiden begrenzt. Der Gedanke liegt nahe, dass Eibach Paternalismus – nicht wie sonst üblich – im Sinne einer Bevormundung durch Andere wahrnimmt, sondern es vielmehr als Paternalismus empfindet, sich alleinig auf die eigene Perspektive zu beschränken oder gar auf das Selbstbestimmungsrecht zu beharren. Er nämlich erkennt paternalistische Strukturen dort, wo keine Beziehungsebene zu den Mitmenschen zugrunde liegt oder zugelassen wird und sich eine Entscheidungsinstanz herausbilden kann. Überspitzt ausgedrückt stellt gerade die fehlende Bevormundung durch Andere Paternalismus dar. Eibach lässt sich also so lesen, dass Fürsorge sogar als Garant gegen jenen Paternalismus erscheint. Offen bleibt, ob bei vorhandener Beziehung Fürsorge generell nicht mehr Paternalismus im herkömmlichen Sinne sein oder werden kann. Gegebenenfalls überschätzt Eibach hier die Dimensionen der Fürsorge. Ferner zeigt sich abermals der Lebensschutz als großes Anliegen, worauf bereits oben hingewiesen wurde. „Der Schutz der Menschenwürde wird demnach in erster Linie im Schutz des Lebens konkret.“130 Eibach rekurriert die Betonung des Lebensschutzes mit Vehemenz an die vorfindliche, in seinen Augen defizitäre Konzentration auf Autonomie in der Gesellschaft, wodurch er besonders kranke Menschen unter einem Schutz wissen will, den sie sich selbst in Situationen der Angewiesenheit auf Andere nicht mehr geben können.131 Er nimmt jenes Angewiesensein auf Beziehungen als Grunddimension des Menschseins wahr.132 129

Eibach, Autonomie, 8. Eibach, Autonomie, 66. 131 Vgl. Eibach, Autonomie, 65. 132 Vgl. Eibach, Autonomie, 75ff. 130

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

2.4 Handlungsmaßstäbe für medizinische Entscheidungssituationen Vorausgehend wurde bereits deutlich, dass Eibach in einem ersten Schritt eine theologische Grundlegung unter Bezug auf Karl Barth133 aufbaut, mit dem Ziel, die Gemeinschaft und die Mitmenschlichkeit als das Wichtigste im Leben eines Menschen darzustellen sowie eine Verankerung der Menschenwürde außerhalb des Menschen anzulegen. Der Barthsche Grundsatz Sein für Gott und Sein für den Mitmenschen134 lässt sich hier mit gezielter Unterstreichung der Mitmenschlichkeit wiederfinden. „Die theologische Anthropologie geht davon aus, daß der Sinn des Menschseins sich in der Bezogenheit des Menschen auf Gott und den Mitmenschen verwirklicht.“135 Bedacht werden muss, dass der Mensch sein ganzes Leben hindurch auf Beziehungen angewiesen ist.136 Das Bestehen der sozialen Dimension bzw. von Beziehungen, die die Grundlage des Seins des Menschen in seiner Konstituierung als relationales Wesen darstellen, ist ebenso Grundlage in medizinischen Entscheidungssituationen. Der Mitmensch gilt für Eibach als entscheidendes Bewertungskriterium. 137 „Diese soziale Dimension der menschlichen Existenz kann also den Ausschlag für oder gegen eine medizinische Behandlung, ihren Beginn, ihre Fortsetzung und ihren Abbruch geben.“138 Ferner lassen sich die Kriterien für medizinische Entscheidungssituationen nach Eibach explizit benennen. Das Totum des Menschen muss berücksichtigt werden: Nützt oder schadet eine medizinische Intervention dem „körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden“139 , also auch den in Beziehung stehenden Personen bzw. dem Beziehungsgeflecht des Patienten. Als Anfrage ist zu formulieren, ob dies nicht – über Eibachs Aussagen hinausgehend – besagt, dass die soziale Dimension über Leben und Tod, Behandlung oder Sterbenlassen entscheidet. Zudem erfolgt eine erneute Ausweitung, indem Eibach beschreibt: „Weiter kann es sinnvoll sein, Leben zu erhalten, wenn davon der Lebenssinn oder die materielle Existenz anderer abhängt.“140 Es lässt sich eine sehr optimistische und positivistische Sichtweise bei Aussagen solcher Art unterstellen. Völlig 133

Hier meist unter Benutzung der Bände III der Kirchlichen Dogmatik Barths. Vgl. KD III/2, 242ff.; Becker, Sein, 279ff. 135 Eibach, Recht auf Leben, 367. 136 Vgl. Eibach, Autonomie, 19. 137 Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 291ff.; 299. 138 Eibach, Recht auf Leben, 299. 139 Eibach, Recht auf Leben, 291. 140 Eibach, Recht auf Leben, 299. 134

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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außer Acht bleiben Gedankengänge, die anfragen, ob diese Sichtweise haltbar und generalisierbar ist, also ob tatsächlich jedes Verhalten nur positiv von der Nächstenliebe bestimmt wird. Es stellt sich doch vielmehr die über Eibachs eigene Aussagen hinausgehende Anfrage, ob der in diesem Fall behandelte Mensch nicht verobjektiviert wird, einzig aus Interesse seines Gegenübers heraus. Die Beachtung des Subjektseins steht in Gefahr. Beispielsweise dürfte aus Gründen des nicht loslassen Könnens das Leben eines Sterbenden so lange wie irgend möglich auf Anordnung seines Gegenübers hin verlängert werden, da dieser wiederum seinen Lebenssinn – auch in materieller Hinsicht – infrage gestellt sieht, wenn diese Person verstirbt. Eibachs Kriterien, das Leben zu schützen,141 aber auch den Tod zuzulassen und ggf. auf weitere medizinische Interventionen aktiv zu verzichten, wenn ihm nichts mehr entgegengesetzt werden kann,142 geraten in letzter Konsequenz der obigen Aussagen selbst in Gefahr. Denn sowohl die Achtung des Gegenübers als auch die Akzeptanz der Endlichkeit des Menschen stehen in Disposition, wenn entgegen medizinischer Indikation weiterbehandelt würde. Subjekt ist in Eibachs Darstellungen der Fürsorger und weniger der Patient selbst. Folglich ist achtzugeben, dass seine formulierten Kriterien über die Entscheidung zu Behandlungssituationen, die Stärkung der Sozialität sowie seine eingenommene Perspektive vom Mitmenschen her nicht so hoch gewichtet werden. Bedenklich ist, dass das Bezugssubjekt, in diesem Falle der Patient, verobjektiviert und die Interessen des Gegenübers sogar höher gewichtet werden als das Wohlergehen des Patienten. Die Grenze zu paternalistischen Strukturen, gegen die sich Eibach selbst wehrt, verläuft sehr eng. 2.4.1 Der Mitmensch als Maßstab Es zeigt sich, dass die Mitmenschen den Maßstab für medizinische Behandlungssituationen setzen, fußend darauf, dass dieses in Beziehung Stehen und das sich in liebender Fürsorge für das Leben Begegnen die einem christlichen Leben entsprechende Lebensweise ist.143 Abermals kann zur genaueren Betrachtung auf den Wandel in den Begründungsstrukturen Eibachs verwiesen werden: Ursprünglich ist es Jesus Christus, von dem ausgehend der Mensch betrachtet werden muss.144 Konkrete Lebensverhältnisse können nur recht im Lichte der Bestimmung 141

Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 128f. Vgl. Eibach, Autonomie, 16f.; 66. Vgl. Eibach Menschenwürdig sterben, 3f.; 7. 143 Vgl. Plasger, In Beziehung leben, 8. 144 Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 126f.; 142. 142

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

des Menschen wahrgenommen werden, um so wiederum dieser Bestimmung gerecht zu werden und ihr zu entsprechen.145 Bei allen ethischen Entscheidungen muss also die „Bestimmung des Menschen zum Leben mit Gott“146 geltend gemacht werden, die sich dann im Menschsein bewähren und alle Entscheidungen leiten muss.147 Der Mensch verantwortet sich seiner Bestimmung zum Sein mit Gott auf die Weise, „daß er darin auch Verantwortung für die Mitmenschen, die Kreatur und die gesamte Umwelt übernehmen kann.“148 Die Entscheidungen zum Leben sind also die Entsprechung der Bestimmung des Menschen, und der Mensch ist dazu fähig seine Verantwortung wahrzunehmen. „Gott hat den Menschen zum Sein für den Mitmenschen, besonders den bedürftigen und hilflosen bestimmt. Mein Leben und mein Recht auf Leben hat der von Gott gesetzten Bestimmung gemäß nur zwei Grenzen, meine von Gott gefügte kreatürliche Endlichkeit und die von Gott mir zum Partner geschaffenen Mitmenschen, die von Gott nicht weniger als ich geliebt sind und deren Lebensrecht darum nicht geringer ist als das meine. Mein Recht auf Leben endet also da, wo Gott meinem Leben ein Ende setzt und wo ich mein Leben nur auf Kosten des Lebens anderer erhalten kann.“149

Den weltlichen Grenzrahmen des Lebens hat, so Eibach, Gott selbst in der Bestimmung des Menschen an seine zum Partner geschaffenen Mitmenschen angebunden. Ob also ein Leben, wie es oben gesagt wird, nur noch auf Kosten der Mit- und Umwelt erhalten wird, muss im Bewertungshorizont und von der Perspektive dieser Mitmenschen aus entschieden werden. Unweigerlich stellt sich einerseits die Frage, was ein Leben auf Kosten Anderer ausmacht und wie es als solches definiert werden kann. Andererseits sollte auf ein Kriterium Eibachs verwiesen werden, welches er sehr stark zu machen versucht: Ziel seiner Darstellungen ist auch immer die unverlierbare Menschenwürde daran zu binden, dass es keinem Menschen zusteht, ein Werturteil über ein anderes Leben zu fällen. Eine Begründung bietet Eibach in der Setzung, dass dem Menschen eine eigenmächtige Verfügung über das gottgegebene Leben und den geschenkten Leib untersagt ist.150 An späterer Stelle beschreibt er nochmals diesbezüglich, dass das Urteilen über ein Leben 145

Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 127f. Eibach, Recht auf Leben, 128. 147 Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 128f. 148 Eibach, Recht auf Leben, 165. 149 Eibach, Recht auf Leben, 181f. 150 Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 368. 146

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Gott allein obliegt, da er den Menschen konstituiert hat und ihm Würde zuspricht.151 Der Mensch begegnet somit wieder vorrangig als das Leben (passiv) Empfangender. Im Grunde wird dem Menschen folglich jede Verfügung über das Leben entzogen. Vor der obigen Aussage sei daher angefragt, ob das Kriterium der Unverfügbarkeit über Menschenleben nicht gerade dadurch preisgegeben wird, dass Mitmenschen gemäß dem obigen Zitat bewerten können, ob das Leben ihres Gegenübers auf ihre Kosten gelebt und erhalten wird. Ist dies nämlich der Fall, so scheint es nun nicht mehr wert zu sein, fernerhin erhalten zu werden. Der innerweltliche Maßstab über ein Leben liegt letztlich doch in den Händen der Mitmenschen, wodurch wiederum die Gefahr besteht, dennoch Werturteile zu fällen, die, so Eibach, eigentlich nicht dem Menschen obliegen. Der Mensch kann durch Gottes Bestimmung zum Sein für den Mitmenschen nie ausschließlich als isoliertes Individuum betrachtet werden, sondern ist immer in seiner Bezogenheit zum Mitmenschen zu sehen. Als Konklusion im Speziellen müssen bei medizinischen Entscheidungssituationen zum Erhalt des Lebens auch die Gesamtgesellschaft sowie die Mitmenschen mit in den Betrachtungshorizont gezogen werden. Als Mensch in Beziehung betrifft eine Entscheidung nicht nur eine Person isoliert, sondern trägt Konsequenz in die Mit- und Umwelt ein.152 Da nun in einer solchen Entscheidungssituation der Patient die Entscheidung oft nicht mehr selbst treffen kann, stehen notwendigerweise Arzt und Mitmenschen in der Dringlichkeit die Situation entsprechend zu bewerten und die Konsequenz zu tragen, also ihre Verantwortung auch wahrzunehmen. Eibach formuliert folglich: „Es kann unter diesen Gesichtspunkten nicht nur den Fall geben, daß ein Menschenleben um anderer Menschen willen aufzugeben ist, sondern auch den, daß ein Leben um anderer willen – z. B. der Familie – länger zu erhalten ist, als es der Kranke will, als es seinem Wohle dient und als es ohne die Dimension der Bezogenheit auf und der Verantwortlichkeit für die Mitmenschen gefordert wäre.“153

Konsequenz ist eine Wertigkeit der vorhandenen Kriterien, aufgrund derer Entscheidungen zu fällen sind. Vor dem individuellen Willen sowie vor dem Wohle einer Person wird hier die Komponente des MitSeins angeordnet. Somit sind es die Mitmenschen, die letztlich entscheidendes Kriterium – auch für oder gegen das Leben – sind. 151

Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 60. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 181; 186f. 153 Eibach, Recht auf Leben, 245f. 152

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

„Wenn der Mensch immer Person in Beziehung zum Mitmenschen und seiner Umwelt ist, dann ist der soziale Aspekt für die menschliche Daseinssituation so konstitutiv, daß er bei einer Diagnose, einer Indikation und einer Therapie immer berücksichtigt werden muß.“154

Es ist also eine Folge des ontologischen Menschseins als Sein für den Mitmenschen, dass der Mensch nicht in erster Linie Individuum, sondern nur in der Beziehung zum Mitmenschen zu denken ist. In Kontinuität dessen kann schließlich die Sozialität für die Entscheidungen über Leben und Tod ausschlaggebend sein. In späteren Darstellungen reagiert Ulrich Eibach dann – wie bereits oben erläutert – vermehrt auf die gesellschaftlich vorfindliche Stärkung der Autonomie, wodurch er den Schutz des Lebens, speziell den Lebensschutz von Kranken und Schwachen, gefährdet sieht und insofern seine Ethik der Fürsorge ein Gegenbild dazu zeichnen soll. Entscheidende Grunddimension des Menschseins ist hierbei die konstitutive Passivität. Durch Gottes schöpferisches Handeln konstituiert, ist der Mensch von Grund auf ein abhängiges Wesen und auch in seinem gesamten Leben auf die ihn umgebenden Beziehungen angewiesen. Aufgabe des Menschen ist die Entsprechung der vorausgegangenen schenkenden Fürsorge Gottes.155 Ferner stellt es ein Resultat von Erfahrungswerten dar, dass kranke oder pflegebedürftige Menschen darauf hoffen, dass Ärzte oder Angehörige ihnen ihre persönlichen Entscheidungen abnehmen. Somit trifft die ontische Passivität wie auch die schlichte Vorfindlichkeit des Wunsches zur mitmenschlichen Entscheidung in die praxisbezogene Erfahrungswelt hinein. Wesentliche Basis dafür ist dann eine wirkliche Beziehung, die Kommunikation, entsprechendes Einfühlungsvermögen, sowie für den Schutz des Lebens Sorge zu tragen.156 Elementares Kennzeichen hier ist die Abhängigkeit und das Angewiesensein des Menschen, wodurch die Entscheidungen durch die Mitmenschen eine Entsprechung dieses Bildes darstellen und es der Verantwortung des Gegenübers entspricht, diese Entscheidungen zu tragen. „Als solches ist Leben auf Stellvertretung und Anwaltschaft angewiesen, die letztlich auch im Dienst der Nächstenliebe Stellvertretung Christi ist“157 . Nach Eibach wird ein solches Handeln empfangender Mensch nicht paternalistisch behandelt. Vielmehr findet seine Wür154

Eibach, Recht auf Leben, 296. Vgl. Eibach, Autonomie, 19ff. 156 Vgl. Eibach, Autonomie, 21ff.; 66. 157 Eibach, Menschenwürdig sterben, 5. 155

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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de in einer Weise Beachtung, die nicht nur auf Autonomie beschränkt bleibt.158 Die Individualität jedes Menschen, seine persönlichen Vorstellungen und Wünsche stehen also sichtbar nicht im Vordergrund. Obwohl Eibach an einigen Stellen seine eigenen Darstellungen selbst vor dem Vorwurf des Paternalismus zu schützen versucht, lässt sich die Frage nicht vermeiden, ob eine Überschätzung der sozialen Dimension vorliegt. Zugespitzt formuliert herrschen in diesem dargestellten Abhängigkeitsverhältnis durchaus paternalistische Tendenzen vor, die den Betroffenen unmündig erscheinen lassen, indem ihm selbst die Entscheidungskompetenz in Krankheitssituationen abgesprochen sowie diese Kompetenz zusätzlich aufseiten des Gegenübers gesehen wird. Hierbei ist besonders kritisch wahrzunehmen, dass er einerseits ein Wertigkeitsurteil der menschlichen Verfügung entziehen will, andererseits jedoch letztlich der Mitmensch doch als Bewertungsinstanz über Leben und Tod verstanden werden kann. Überspitzt dargestellt kann gar der Mitmensch auf einer Stufe mit Gott verstanden werden. Bei den Darlegungen Eibachs muss stets bedacht werden, dass er von der Nächstenliebe als Grundlage allen menschlichen Handelns ausgeht: „Ein theologisch wesentliches Kennzeichen der Person ist, daß sie zur Liebe zum Nächsten aufgerufen und befähigt ist, d. h., daß sie Verantwortung für das Wohl und Heil des Mitmenschen tragen soll und kann.“159 Ungelöst bleibt dennoch, ob diese positivistische Pauschalisierung angemessen ist und wo entsprechende Grenzen zu ziehen sind. 2.4.2 Kriterien des Lebensrechts Eibach sieht klare Kriterien, in denen das Lebensrecht einer Person zu begrenzen ist, etwa wenn das Lebensrecht160 und das „Wohlbefinden“161 Anderer angetastet wird. Kritisch anzufragen ist hier wohl der zweitgenannte Aspekt. Was bedeutet die Formel, das Wohlbefinden der Mitmenschen anzutasten? Auch hier ist abzulesen, dass die Grundlage seines Denkens von der Fürsorge und Mitmenschlichkeit ausgeht. Jedoch scheint erneut die Tragweite der Aussagen Eibachs unreflektiert zu sein, insbesondere bei der Auffassung, „daß bei jedem medizinischen Eingriff auch berücksichtigt werden muß, inwieweit das Leben anderer dadurch beeinträchtigt 158

Vgl. Eibach, Menschenwürdig sterben, 5. Eibach, Recht auf Leben, 298. 160 Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 299. 161 Eibach, Recht auf Leben, 296. 159

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

oder bewahrt wird, ob die Beeinträchtigung vertretbar und ob eine soziale Rehabilitation überhaupt möglich ist.“162

Hier werden die Kriterien von Lebensrecht oder Beendigung des Lebensrechts von außen angelegt, indem das Gegenüber die Entscheidungs- und Bewertungskompetenz besitzt, und letztendlich auch prüfen muss, ob eine persönliche Beeinträchtigung vorliegt. Das Kriterium des Zur-Last-Fallens bekommt automatisch übermäßiges Gewicht. Fraglich bleibt, ob der Mitmensch die Kompetenz besitzt, in diesem Maße für Menschen entscheiden zu können sowie ebenfalls seine eigene Individualität über die seines Gegenübers zu stellen. In letzter Konsequenz widerspricht Eibach hier auch seinem eigenen Grundsatz der Verankerung der Würde des Menschen gemäß Barth in der Bundespartnerschaft, die dem Menschen von außen zuteilwird. Die angestrebte Konsequenz, innermenschlich keine Kriterien über Wert und Unwert eines Menschenlebens ansetzen zu können, steht dabei in Gefahr. Indem das Wohlergehen eines Menschen durch sein Gegenüber in medizinischen Situationen angetastet ist, endet das Lebensrecht dieses Gegenübers. Anzufragen ist in Kontinuität dessen ebenso, ob nicht durch intensive Pflege einer pflegebedürftigen Person per se das Wohlergehen des Pflegenden angetastet sein kann. Zu denken wäre nur an die schwere physische Anstrengung oder die ständig geforderte Erreichbarkeit bis hin zu der einhergehenden psychischen Belastung. Da die „soziale Dimension“163 über Leben und Tod, Weiterbehandlung oder Sterbenlassen entscheidet, muss ferner ergründet werden, was ein Fehlen von sozialen Dimensionen zur Folge hat. In der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist es keine Seltenheit mehr, dass v. a. ältere Menschen sozial vereinsamen. In stringenter Weiterführung der Gedanken Eibachs könnte der soziale Tod sogar als der Tod des Menschen definiert werden: Ein Lebenssinn besteht dann, wenn Beziehungen vorhanden sind. Im Umkehrschluss erlischt der Lebenssinn, wenn keine Beziehungen bestehen. Insofern sollte in Rückbezug auf Eibachs Grundlegung geprüft werden, ob dieser Gedankengang im Konsens zu Karl Barth steht. Vordergründig erscheint dies so, da auch er das Sein des Menschen als Sein für Gott und Sein für den Mitmenschen164 beschreibt und grundsätzlich ist, dass jeder Mensch in Beziehungen lebt sowie ontisch nicht ohne Gott sein kann. Diese Aussagen stellen 162

Eibach, Recht auf Leben, 299. Eibach, Recht auf Leben, 299. 164 Vgl. KD II/2, 242ff. 163

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die theologisch objektive Begründung dar. Getrennt werden muss dies aber von einer direkten Parallelisierung auf die subjektive, lebensweltliche Realität. Eine direkte Übertragung jener Aussagen als Bewertungsmaßstab sollte zuerst geprüft werden. Hierbei läge zugrunde, dass die Ebene Gott – Mensch, die diese theologisch-objektiven Begründungsstrukturen hervorbringt, in direkter Kontinuität auf die Ebene Mensch – Mensch übertragen wird.165 Stärker untersucht werden sollte weiter die Betonung der Fürsorge. Eibach pointiert seine Aussage, dass Lebenssinn solange besteht, wie soziale Beziehungen vorhanden sind, darauf, dass das reine Versorgtwerden einem Patienten schon genügend Lebenssinn überträgt.166 Es erfolgt also eine Zuschreibung des Lebenssinns durch die Zuwendung und die Fürsorge Anderer. Diese Zuschreibung richtet sich von außen, also durch den Mitmenschen, auf den Patienten. Der Mitmensch fungiert als Garant des Lebenssinnes seines Gegenübers. Dies zieht unweigerlich eine große Verantwortung mit sich, sodass anzufragen ist, ob diese getragen werden kann. Ferner wird auch hier keine Autonomie, keine Individualität, keine Innenperspektive insbesondere der zu versorgenden Person berücksichtigt. Es stellt sich explizit die Frage, ob eine Überschätzung der sozialen Dimension vorliegt. 2.4.3 Kriterien stellvertretender Entscheidungen Als Basis der Eibachschen Ethik der Fürsorge fungieren drei Säulen, die die Tragfähigkeit seines Ethos garantieren sollen. Erste Voraussetzungen sind der Aufbau einer Beziehung sowie die Kommunikation mit dem „kranken, behinderten und pflegebedürftigen Menschen“167 . Hinzu tritt die „Einfühlung ins Geschick des einzelnen Menschen“168 . Liegt diese Trias zugrunde, können stellvertretende Entscheidungen getroffen werden, „weil nicht über den Menschen, sondern aus einer wirklichen Beziehung zu ihm und in Anteilnahme an seinem Geschick für ihn und zu seinem Wohl entschieden wird“169 und so das Gegenüber den fürsorgebedürftigen Menschen „als ganzen Menschen mit all seinen 165

Vgl. Plasger, In Beziehung leben, 12. Vgl. ferner besonders die Kapitel V.2 und V.3.3, in denen Erläuterung findet, dass Barth die Ebenen Gott – Mensch und Mensch – Mensch nicht unmittelbar parallelisiert, sondern hier von Zuspruch und Anspruch zu reden ist. 166 Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 323. 167 Eibach, Autonomie, 23. 168 Eibach, Autonomie, 23. 169 Eibach, Autonomie, 23.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

Bedürfnissen“170 wahrnimmt. Eibach betont auch hier die Notwendigkeit einer möglichst langen Erhaltung der Selbstständigkeit des kranken Menschen.171 So fasst Eibach seine Gedanken nochmals zusammen: „Wer am Geschick eines kranken Menschen Anteil nimmt, ihm in der Grundhaltung der Liebe zugewandt ist, nach seinem wirklichen Wohlergehen fragt, ihn als leidendes Subjekt und nicht nur als zu behandelndes Objekt wahrnimmt, kann und darf stellvertretend für einen Menschen Entscheidungen fällen, ohne ihn damit zu entwürdigen.“172

Anzumerken bleibt etwa zu diesen Aussagen, ob sich erneut eine zu starke Ausweitung sowie Vereinseitigung des Fürsorgegedankens herausstellt. Dem obigen Zitat gemäß darf ein Mensch für einen anderen entscheiden, sofern er mit ihm in Beziehung steht, nach seinem Wohlergehen fragt, ihm in Liebe begegnet und an seinem Geschick Anteil nimmt. Eine Folgerung kann sein, dass generell keine aktive Zustimmung des Gegenübers mehr nötig ist, sofern diese Voraussetzungen gegeben sind. Eine Ausschaltung des Selbstbestimmungsrechts – auch in Zeiten der Zurechnungsfähigkeit – ist in letzter Konsequenz denkbar, da diesen Gedanken zugrunde liegt, dass der die Entscheidung übernehmende, in Beziehung stehende Mensch die Situation und Tragweite letztendlich besser überblickt sowie das Wohl des Gegenübers klarer erfasst. Desgleichen drängt sich erneut die Anfrage auf, ob Eibach die Bewahrung der Selbstbestimmung nicht in zu großem Maße ausschließlich auf Situationen vor einer Krankheitssituation beschränkt. 2.4.4 Zwischenfazit Im Wissen darum, dass Eibach selbst in seiner Argumentation keine problematischen heteronomen Strukturen wahrnehmen wird,173 konnte durch obige Anfragen auf einige Unklarheiten in der Begründungs- und Argumentationsstruktur verwiesen werden. Deutlich wurde eine Betonung des Solidaritätsprinzips, das Eibach hochschätzt. Grundlage dessen ist das Gebot zur Nächstenliebe, das auch durch Leiden und Sterben hindurch Bestand hat. Wichtig ist ferner die Aufrichtung von Wert und Würde jedes Menschen durch Jesus Christus. In unmittelbarer Konsequenz, so Eibach, ist auch jeder Mensch zur Solidarität verpflichtet. 170

Eibach, Autonomie, 25. Vgl. Eibach, Autonomie, 21ff.; 35f. 172 Eibach, Patientenautonomie, 15. 173 Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 323f. 171

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Diese Parallelisierung führt dazu, dass diese Linie auf die MenschMensch-Beziehung übertragen wird und so gewissermaßen der Mitmensch zum Garanten der Würde seines Gegenübers wird. Folglich wird die Würde auch nicht rein individualistisch gesehen. Eine optimistische Verhaltensprägung ausgehend vom Gedanken der Nächstenliebe liegt zugrunde, wodurch Eibach das Sein in Beziehungen und in Mitmenschlichkeit unterstreicht. Diese Darstellungen weisen eine bedenkliche paternalistische Begründungsstruktur auf, die den Menschen als individuelles Wesen mit persönlichen Wünschen und Vorstellungen vernachlässigt. Theologisch ist dies, wie im Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs in Kapitel III.7 gezeigt, kritisch zu bewerten. Wesentliche Komponente des Menschseins ist die in Christus ermöglichte relationale Autonomie. Die Hochschätzung des SubjektSeins, auch um sich selbst zu bestimmen, kennzeichnet eine eminente Dimension und ist Ereignis der Erwählung Gottes. Er hat uns dazu befähigt, als tätiges Subjekt auch Verantwortung zu übernehmen. Übertragen auf die Argumentation Eibachs ergeben sich problematische Strukturen, wenn ausschließlich die Fürsorge als Konsequenz des Angewiesenseins auf Beziehungen als christlich rechte Lebensweise bezeichnet wird. Insofern stehen mehrere Ebenen einer relationalen Autonomie in der Gefahr der Vernachlässigung: einerseits offensichtlich das SubjektSein, das als Konsequenz der eigenen Freiheit durch Gott zur relationalen Autonomie fähig ist, andererseits aber auch die Respektierung des Gegenübers als eigenständiges Subjekt. In besonderen Situationen oder Grenzfällen kann es dazu kommen, die Autonomie des Gegenübers in Konkretion eines verantwortlichen Handelns zu realisieren. In Abgrenzung zu Eibach ist hier wiederum kein vollständiger Ersatz durch Andere gemeint. Vielmehr ist es eine Entsprechung der in Gottes Bestimmung des Menschen ersichtlichen Freiheit zur relationalen Autonomie. Es konnte nachgezeichnet werden, dass sich in Eibachs Grundlegung und Argumentationsweise eine entsprechende Entwicklung vollzogen hat, die letztlich obige Reduktionen fördert. Indem er sich zunehmend von der Orientierung an einer christologischen Anthropologie, die die Ganzheit des Menschen nicht-exklusiv im Blick hat, abgrenzt und nun vermehrt den passiv angewiesenen Menschen fixiert, treten jene paternalistischen Tendenzen in den Vordergrund. Infolge der Überhöhung der Ebene Mensch – Mensch, die sich besonders darin zeigt, dass der Mitmensch als Bewertungs- und Entscheidungsinstanz hochgeschätzt wird, gerät letztlich auch die Gottesdimension aus dem Fokus.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

2.5 Konkretionen der Ethik Ulrich Eibachs 2.5.1 Grundfunktionen und -dimensionen des menschlichen Lebens zur Verwirklichung des Lebenssinns Die grundlegende Funktion und Dimension des menschlichen Lebens, wie auch Eibach sie in erster Instanz definiert, wurde bereits herausgestellt: Die Beziehung des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen, wobei mitunter in den Darstellungen Eibachs zeitweilig eine Betonung des Aspekts Mitmensch festzustellen ist. „Er [der Mensch; d. Vf.] lebt in und aus diesen Beziehungen und nicht aus sich selber, er verdankt ihnen und damit in erster Linie den ‚anderen‘ und nicht sich selbst sein Leben.“174 Gott konstituiert das Personsein des Menschen. Hierbei ist alleinig die Passivität des Menschen zu verzeichnen. Eibach formuliert: „Leben beginnt in einer Passivität, die durch die Aktivität anderer bedingt ist. Hinsichtlich des ins Dasein rufenden Aktes des Schöpfers ist der Mensch ein grundlegend abhängiges Wesen.“175 Eigene Aktivität ist dem Menschen sekundär in der Ausgestaltung des Lebens und der sich dadurch bildenden Persönlichkeit anhand der eigenen Fähigkeiten zuzusprechen.176 Entscheidenden Einfluss daran tragen ferner die in Beziehung stehenden Mitmenschen: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“177 Jene menschlichen Beziehungen bilden das Selbstbewusstsein aus. Zentral ist, dass der Mensch nie ohne diese Beziehungsstruktur zu denken ist und sein gesamtes Leben als grundlegend abhängiges Wesen auf sie angewiesen bleibt.178 Solche Beziehungsstrukturen des Menschen sind indes nicht rein monolateral zu betrachten und münden idealiter in Wechselseitigkeit.179 Der entscheidendere Aspekt speziell für Eibach ist aber das Angewiesensein des Menschen auf Andere, was, wie er darstellt, konstitutiv und ontischen Ursprungs ist und somit Vorrang hat.180 Weniger ist also die Individualität jeder Person Ansatz der Darstellungen Eibachs; vielmehr unterstreicht er das Angewiesensein auf die soziale Dimension, die auch entsprechendes Vertrauen fordert. Als nicht unwesentliche Anfrage muss erneut hervorgebracht werden, ob seine 174

Eibach, Menschenwürde, 29f. Eibach, Autonomie, 19. 176 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 27. 177 Buber, Ich und Du, 28. 178 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 29. 179 Eine genauere Beschreibung des Verständnisses der Wechselseitigkeit wird in Kapitel V.3.3 durchgeführt. 180 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 29f. 175

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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starke Anbindung einer Person an ihr Gegenüber den Menschen als Subjekt vernachlässigt. Ohne eine deutliche Betonung des Angewiesenseins des Menschen auf Beziehungsstrukturen abzusprechen – jene tragen ja in erheblichem Maße zur Konstitution und Sozialisation eines Menschen bei –, ist dennoch fraglich, ob der persönlichen, eigenverantwortlichen und subjektiven Ausgestaltung eines Lebens keinerlei Raum zu gewähren ist. Zumal eine relationale Autonomie Ereignis der Erwählung Gottes ist, wodurch auch das Selbst-Sein sowie die Fähigkeit, sich selbst bestimmen zu können, eine Hochschätzung erfährt.181 In Eibachs Betrachtungen liegt der Fokus auf dem konstitutiven Angewiesensein. Die vorausgehenden Betrachtungen machen eine Akzentverlagerung offenbar: Gott schenkt in Christus die geschöpfliche Autonomie, die nun der Mensch ebenso bestätigen darf und soll. Der Mensch ist also frei dazu, sich in diese Freiheit zu begeben. Ein wesentlicher Unterschied dieser Darstellungen liegt darin, dass Eibach den Menschen grundsätzlich in Passivität wahrnimmt. Die Einwirkung von außen lässt den Menschen zum Selbst werden. Die Wahrnehmung, die Kapitel III.7 vermittelt und später ab Kapitel V.2 weiter Thema sein wird, geht von der eigenen Freiheit des Menschen aus, in der er sich zu seinem Sein bestimmen darf und kann. Dies wiederum impliziert eine Relationalität auf allen Ebenen, Mensch für Gott und für den Mitmenschen zu sein. Der Mensch ist und wird Subjekt durch sein Selbst-Sein sowie durch konstitutive Relationen. Implikat ist das verantwortliche Handeln für Gott und die Mitmenschen. Im Zusammenhang mit Eibachs Argumenten oben ist dies besonders von Bedeutung, wenn das Angewiesensein eines Menschen beispielsweise durch Krankheit offensichtlich überwiegt. Im Kontext einer relationalen Autonomie jeder Person wird hier der Aspekt der Mitverantwortung für die Autonomie des Gegenübers gestärkt, die „die Autonomie des Gegenübers garantieren oder sogar realisieren muss“182 und sich in einer Fürsorge183 konkretisiert. Eibach beschreibt es weiter als erste und entscheidende Aufgabe des Menschen, dieser Fürsorge Gottes, die ihm in dem schöpferischen Akt der Konstitution des Menschen zuteilwird, zu entsprechen, was er wie-

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Vgl. hierzu die Aufarbeitung des Verständnisses einer relationalen Autonomie in Kapitel III.7. 182 Becker, Sein, 289. 183 Verwiesen werden muss an dieser Stelle darauf, dass eine eingehende Reflexion des Fürsorge-Begriffs noch aussteht und als Resultat der Betrachtungen in diesem Kapitel schließlich noch neu aufgearbeitet werden soll. Vgl. dazu Kapitel V.3.3.

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

derum in seiner Ethik der Fürsorge gewährleistet sieht.184 Entscheidende Elemente sind stets „Empfangen und Gewähren von Liebe“185 , die immer mitgeltend Beziehungen zum Mitmenschen garantieren, die der Würde des Menschen Achtung entgegenbringen.186 Eibach kennzeichnet dies als „Beziehungen der Liebe“187 . Diese so gestaltete Ethik der Fürsorge gründet auf die Abhängigkeit von und Angewiesenheit auf die Zuwendung Gottes und des Mitmenschen und passt sich hier entsprechend ein.188 Insofern wird sie als angemessene Aufgabe und Handlungsmaßstab des Menschen betrachtet. Zur Verdeutlichung und Prüfung dieses Abschnittes ist eine tiefere Auseinandersetzung mit der Argumentation Eibachs in verschiedenen Perspektiven vonnöten. Anfänglich ist dafür Eibachs theologische Argumentation zu untersuchen. Wie kommt Eibach zu dem Schluss: „Erste Aufgabe von Menschen ist es, in ihrem Handeln dieser Fürsorge Gottes zu entsprechen“189 ? Sachlogisch beschreibt er vorausgehend den Menschen in seiner Konstitution als abhängiges Wesen in ontischer Passivität, wodurch die Notwendigkeit des Angewiesenseins auf Beziehungen unmittelbar mitgegeben ist. In jenen Begegnungen baut sich das Selbst-Sein auf. Die schenkende Fürsorge Gottes geht den von der Liebe bestimmten Beziehungen voraus. Somit ereignet sich die Entsprechung der Fürsorge Gottes, worin sich das Leben verwirklicht.190 Eine tiefgehende theologische Begründung, warum der Mensch der vorausgehenden Fürsorge Gottes gemäß dem Modell entsprechen soll, erfolgt nicht. Beispielsweise nutzt Eibach keinen Bezug zur Nachfolge Christi, wodurch er wiederum eine theologische Argumentationslinie zu seiner ursprünglichen bundestheologischen Grundlegung aufzeigen könnte. Festgestellt wird hier hingegen nur, dass es seine Aufgabe ist, der Fürsorge Gottes zu entsprechen. Ferner bestimmt Eibach das Sein in Beziehungen zu den Mitmenschen (das Mit-Sein) als Bedingung dazu, überhaupt eine Möglichkeit zur Entwicklung zum eigenen Individuum zu sehen: „Daher ist das ‚Mit-Sein‘ (Miteinandersein) Bedingung der Möglichkeit des Selbstseins, hat seinsmäßigen Vorrang vor dem Selbstsein.“191 Insofern ist also eine mögliche Selbstwerdung an das Sein in 184

Vgl. Eibach, Menschenwürde, 31; Eibach, Autonomie, 20. Eibach, Autonomie, 20. 186 Vgl. Eibach, Autonomie, 20. 187 Eibach, Autonomie, 20. 188 Vgl. Eibach, Autonomie, 20. 189 Eibach, Autonomie, 20. 190 Vgl. Eibach, Autonomie, 18ff. 191 Eibach, Autonomie, 19. 185

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mitmenschlichen Beziehungen geknüpft.192 Sogleich muss angefragt werden, ob diese Möglichkeit des Selbstseins alleinig vom Tun des Menschen, hier also vom Sein in Beziehungen abhängt? Ist es also die alleinige Verantwortung eines Menschen, ob er ein Selbst, ein Individuum werden kann? Fraglich ist, ob hier einerseits eine Überforderung des Menschen, andererseits eine Überschätzung seiner Fähigkeiten vorliegt. Das Tun des Menschen als Bedingung zu formulieren, lässt sich ferner mithilfe der Frage 64 des Heidelberger Katechismus befragen.193 Hier wird die Ansicht vermittelt, dass im Glauben an Jesus Christus die „Frucht der Dankbarkeit“194 gebracht wird. Das Realwerden wird also aus der Dankbarkeit heraus positiv unterstellt, da „die Freiheit des inneren Menschen nach außen strahlt – nicht als Automatismus, aber als Selbstverständlichkeit.“195 Anders als in der Frage 64 könnte bei Eibach eher eine Verpflichtung zur Mitmenschlichkeit kenntlich werden, da er das Mit-Sein als Bedingung zur Möglichkeit des Selbstseins herausstellt sowie eine Verfehlung oder ein Nichtgelingen des Lebens schlussfolgert, sofern die Sozialität nicht gelebt wird.196 Insofern erscheint problematisierungswürdig, das Tun der guten Werke als Verpflichtung und Muss zu beschreiben. Eine Lösungsmöglichkeit wäre, die Selbstverständlichkeit dieses Handelns, wie es beispielsweise Plasger beschreibt, stärker in den Vordergrund zu stellen: „Das Geschenk der Freiheit führt in die Freiheit, sich anderen zuzuwenden und ihnen beizustehen.“197 Es entspricht wahrscheinlich einer gängigen theologischen Interpretation, ein Entsprechungsmodell von Gottes schenkender Fürsorge auch an die Dankbarkeit aufseiten des Menschen zu binden. Ohne dass Eibach explizit in obigem Kontext darauf hinweist, kann dieser Grundgedanke angenommen werden und entspricht auch früheren Verweisen seiner-

192

An dieser Stelle sei nochmals auf die bereits vorgebrachte Diskussion der Konzentration Eibachs auf den Aspekt Fürsorge sowie auf das Angewiesensein und die Passivität des Menschen verwiesen. In gewisser Abgrenzung dazu sei an die Darstellungen der relationalen Autonomie, fußend auf den Erkenntnissen des Kapitels III.7 erinnert. Ähnliche Argumentationen könnten auch hier angeführt werden. 193 Vgl. Evangelisch-reformierte Kirche, Heidelberger Katechismus, 41. 194 Evangelisch-reformierte Kirche, Heidelberger Katechismus, 41. Die gleiche Konnotation ist in der Theologie Martin Luthers hervorgehoben, indem er in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen feststellt, dass ein guter Baum auch gute Früchte bringt. 195 Plasger, Glauben heute, 113. 196 Vgl. Eibach, Autonomie, 19f. 197 Plasger, Glauben heute, 114.

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seits.198 Fraglich bleibt aber seine daraus gezogene Konsequenz, ob aus der Dankbarkeit eine Verpflichtung zu bestimmtem Handeln vorausgesetzt werden kann, was als problematische Interpretation beispielsweise des Heidelberger Katechismus identifiziert wurde. Ferner ist nicht offensichtlich, wie sich diese Handlungsaufgabe an den Menschen erschließen oder erkennen lässt. Resultiert dies aus der Natur des Menschen als abhängiges Wesen oder vielmehr aus seiner Verantwortung heraus? Beide Linien sind im Kontext von Eibachs Darstellungen denkbar. Diese Ethik der Fürsorge fordert ferner unweigerlich eine Verantwortungsübernahme. „Wenn der Mensch sich außerhalb dieser Beziehung stellt, sich autonom wähnt, nur sich sieht, gewollt oder unfreiwillig, dann vergisst er, dass er sein Leben immer primär anderen verdankt, dass er deshalb auch den anderen gegenüber immer Verpflichtungen hat, für sie Verantwortung trägt, er seine Lebensentscheidungen nie nur vor sich, sondern auch vor den anderen zu verantworten hat.“199

Jede Entscheidung muss folglich auf die bestehenden Beziehungsstrukturen hin befragt und überprüft werden, um hierbei die Mitmenschen und ihre Bedeutung für das eigene Leben nicht aus dem Blick zu verlieren. Schnell zeigt sich das große Primat der Fürsorge in den Positionen Eibachs, was abermals an dieser Stelle Gewicht erhält. Keineswegs soll die Berechtigung dessen in toto infrage gestellt werden. Dennoch kann aus der Außenperspektive erneut ein Fragezeichen an jene übermittelte Intensität und Reichweite gesetzt werden. Aufs Neue ist darauf zu verweisen, wie auch schon in den vorausgehenden Abschnitten diskutiert, dass der Aspekt einer relationalen Autonomie von Eibach nicht bedacht wird – wohl wissend, dass Eibach dies aus der Binnenperspektive seiner Argumentation nicht als Verkürzung wahrnehmen wird. Insofern steht die abschließende Bewertung aus, auf welche Weise die verschiedenen, die Ganzheit des Menschen betonenden Dimensionen innerhalb einer Anthropologie verankert und in ein Verhältnis gesetzt werden können. Eine Klärung dessen muss in den folgenden Kapiteln angestrebt werden. 198

Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 149f. Die dem Menschen zuteilgewordene Gnade Gottes resultiert in der Dankbarkeit, so Eibach hier. Zugleich ist es die aktive Tat des Menschen. Im Danken wird also der Mensch Subjekt und erweist sich ferner als Geschöpf und Partner Gottes. 199 Eibach, Autonomie, 77.

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Eibach kann nun aufbauend auf diese Gedankengänge Mindest-Maßstäbe für ein sinnvolles Leben definieren, die sich an Aufgabe und Ziel des Lebens, Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen zu haben, orientieren. Zur Erfüllung dieses Anspruchs müssen Mindest-Voraussetzungen der Verfassung des Menschen gegeben sein, wie Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit, ein Mindestmaß an körperlicher Eigentätigkeit sowie schlechtestenfalls ein begrenztes Höchstmaß an Schmerzen, sodass keine dauerhafte Trübung des Bewusstseins besteht.200 Eibach fasst diese Gedankengänge präzise zusammen: „Wenn der Mensch dazu bestimmt ist, Gott zu vertrauen und zu verehren, als Mensch dem anderen in helfender Liebe zu begegnen und Verantwortung vor Gott für die Mit- und Umwelt zu tragen, so setzt die Erfüllung dieses Auftrags für die irdische Lebenszeit voraus, daß der Mensch die Fähigkeit hat, das Wort Gottes zu vernehmen, zu verstehen und ihm entsprechend zu leben, dem Mitmenschen zu begegnen und zu antworten und sich vor Gott und ihm zu verantworten. Psychische Voraussetzung dafür ist die Kommunikationsfähigkeit, die wiederum Bewußtsein im Sinne von Selbstbewußtsein zur Bedingung hat. Dafür ist aber auch ein gewisser Grad an Unversehrtheit des Körpers, an Beweglichkeit und eigentätiger Beherrschung von Körperfunktionen und eine Begrenzung des Maßes an physischem und psychischem Leiden Voraussetzung.“201

Insofern müssen auch alle medizinischen Maßnahmen und Entscheidungssituationen von der Bestimmung des Menschen her gerechtfertigt werden, d. h. also ausgehend von der Beziehungsfähigkeit und der Gewährung der formulierten Mindest-Voraussetzung eines Menschenlebens.202 Die Definition jener Mindeststandards eines sinnvollen Lebens nach Ulrich Eibach muss als Resultat des Auftrags an die Menschen, Gottes Wort zu vernehmen, wahrgenommen werden und steht somit rein sachlogisch betrachtet in nachvollziehbarer Konsequenz. Dennoch lässt sich in besonderer Weise theologisch fragen, ob Menschen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, per se den Lebenssinn verfehlen. Automatisch stellt dies das Ringen um die unverlierbare Menschenwürde, die als Geschenk Gottes jedem Menschen zugesprochen ist, wieder infrage. Vor diesem Hintergrund ist Eibach wahrscheinlich eher missverstanden, wenn seine formulierten Kriterien zu stark gemacht oder 200

Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 108f. Eibach, Medizin, 166. 202 Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 111. 201

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

gar als Appell verstanden werden. Sachgemäßer wird sein, die Kriterien mit keiner Ausschlussfunktion zu belegen, sondern sie vielmehr als Beschreibung des Normalen zu benutzen. Sind hingegen jene Voraussetzungen zweifelsfrei erfüllt, kann nach Eibach keineswegs an der Erhaltungswürdigkeit des Lebens gezweifelt werden. 2.5.2 Die Interpretation von Krankheit und Behinderung Ulrich Eibach beginnt seine Darlegungen über Krankheit und Behinderung bei der vorfindlichen Realität. Schwaches, krankes, behindertes und leidendes Leben wird durch eine von der „autonomen Selbstbegründung des Subjekts“203 gestützten Würde des Menschen verachtet. Diese Prädikation als defizitär herausstellend, zeichnet er das Gegenbild in Form einer christologischen Anthropologie durch den gekreuzigten Christus nach. Durch Leben und Kreuz Christi zeigt sich im Besonderen die Zuwendung Jesu zu den Ausgegrenzten der Gesellschaft, den Kranken und Schwachen. Und da uns gerade in Jesus Christus das wahre Ebenbild Gottes204 begegnet, hat dieses „christologische Verständnis der Gottebenbildlichkeit“205 Auswirkungen für das christliche Bild des Menschen, was allerdings nach Eibach keineswegs eine Glorifizierung von Krankheit und Schwäche zur Folge haben darf: „Das Kreuz Christi kann nicht als Verklärung des kranken Menschseins gedeutet werden, weil es Folge des Kampfes Gottes gegen Sünde und Elend in dieser Welt ist. Es ist zusammen mit der Auferstehung Jesu Christi tiefer Ausdruck dessen, daß Gott gegen Sünde und Elend an seiner Schöpfung festhält und ihr die Erlösung und darin die Vollendung verheißt. Der letzte Sinn von Krankheit und Behinderung kann deshalb nur in ihrer Überwindung, in der Erlösung aller Kreatur vom Leiden bestehen (Röm 8,19ff; Offb 21,1ff), die wir mit dem Hereinbrechen des Reiches Gottes, der neuen Schöpfung erwarten.“206

Nicht unkommentiert kann diese Aussage Eibachs bleiben, da sie Fragwürdigkeiten hervorruft. Krankheit wird hier mit Elend und Sünde in der Welt identifiziert, wogegen sich Gottes Kampf richtet. Eibach macht also deutlich, dass solche Zustände insofern nicht von Gott gewollt sein können und auch nicht Resultat seiner Schöpfung sind, sie folglich 203

Eibach, Sterbehilfe, 56. Vgl. beispielsweise 2. Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3. 205 Eibach, Sterbehilfe, 57. 206 Eibach, Sterbehilfe, 57f. 204

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überwunden werden müssen. Diese Überwindung und Erlösung steht als Verheißung der Neuschöpfung aus. In der Wirkung dieser Aussagen liegt der Schluss nahe, kranken, leidenden, und auch behinderten Menschen eben nicht zusagen zu können, dass auch sie, so, wie sie sind, von Gott gewollt, sondern stattdessen gar ein Fehler in der guten Schöpfung sind. Hiergegen wandte sich Ulrich Bach207 in seiner Theologie – nicht zuletzt aus der BetroffenenPerspektive heraus – ganz explizit, wodurch sich ein Rückgriff auf seine Argumentationen zur Beschreibung einer Kritik obiger Aussagen anbietet. Bach geht von der Wahrnehmung des menschlichen Lebens aus und kommt somit zu dem Ergebnis, dass das Nicht-Können zu jedem Leben als etwas völlig Normales hinzugehört, insofern eben menschlich ist.208 Um vor diesem Hintergrund auch den behinderten Menschen als Partner und Mitmensch annehmen zu können, ist jeder Mensch gefordert, seine eigene Hilfsbedürftigkeit und seine persönliche defizitäre Existenz anzuerkennen.209 Es zeichnet sich dabei ein klarer Widerspruch gegen die obige Feststellung Ulrich Eibachs ab: Wenn sich also krankhaftes, defizitäres und behindertes Leben gegen Gottes Willen richtet, hat dies auch automatisch Auswirkung auf die Beziehung zu Gott und den Mitmenschen. „Anthropologisch (um nicht zu sagen: ontisch) bestünde ein Graben zwischen Nichtbehinderten und Behinderten.“210 Behinderten würde es daran, was Gott eigentlich will, offensichtlich fehlen, was wiederum fragen lässt, ob sich ein explizites Wertdefizit offenlegt. Ferner besäßen also Nichtbehinderte genau darin den Mehrwert, dass sie dem Schöpferwillen Gottes entsprechen.211 Bachs Widerspruch hierzu wird deutlich, indem er Behinderung als eine Realität innerhalb der Welt, die als gefallene Schöpfung vorfindlich ist, identifiziert. Da aber Gott der Schöpfer ist, ist jedes Leben gewollt und auf gleiche Weise als Ebenbild Gottes zu verstehen. Ein „Staunen über den rätselhaften Gott und über die unwahrscheinlich unterschiedlichen Lebensbedingungen, die er uns zur Verfügung stellt“212 , ist die von Bach definierte Haltung.213 Das Schöpfer-Sein Gottes bedeutet für ihn, dass Gott immer Schöpfer ist, also explizit auch für behinderte 207

Vgl. hierzu beispielsweise Bach, Boden unter den Füßen oder Bach, Ohne die Schwächsten. 208 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 23. 209 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 27; 29f. 210 Bach, Boden unter den Füßen, 38. 211 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 38. 212 Bach, Boden unter den Füßen, 41. 213 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 40ff.

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Menschen und folglich ein „behindertes Kind als Gabe Gottes“214 anzusehen ist.215 Das Ziel, welches Bach formuliert, ist ein offenes Miteinander, das nicht eindimensional ein Geben und Nehmen vom Gesunden zum Behinderten meint, sondern in der sich jeder seiner Bedürftigkeit bewusst wird sowie sich als Geber und Nehmer versteht. Die Wahrnehmung einer Freude aneinander und miteinander ist zentral. Ferner ist es Bachs Anliegen, die menschlichen Maßstäbe nicht automatisch auf Gott zu übertragen. Bewusst muss bleiben, dass jeder Mensch abhängig ist und sein Leben in erster Linie nicht sich selbst verdankt.216 Die Argumentation Bachs ist erneut im Hinblick auf die neutestamentlichen Wundergeschichten, speziell auf die Heilungswunder, wahrzunehmen. Denn Bach muss sich der Rückfrage stellen, ob nicht gerade hierin Zeugnis der obigen Aussagen Eibachs abgelegt wird, indem es Gottes Ziel zu sein scheint, gegen Krankheit, Leiden und auch Behinderung anzukämpfen. Diese Leseweise setzt eine bestimmte Wahrnehmung der Heilungswunder voraus: Jesus handelt am kranken Menschen, um sein Befinden zu verbessern und einen Ausblick auf das Reich Gottes zu geben. Ulrich Bach hingegen wählt eine andere Perspektive zum Verständnis der Wundertaten. Hierfür nimmt er nicht den zu heilenden Menschen mit seinen Defiziten in den Blick, sondern schaut auf die Mit- und Umwelt. Heilungswunder ereignen sich nach Bach nicht mit dem Ziel, das leibliche Wohl des Geheilten zu verbessern, sondern damit die Mitmenschen Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung erkennen, wie es beispielsweise in Mk 2,10f. beschrieben steht. Ziel dessen ist also, dass „die anderen ein besseres Verhältnis zu Jesus bekommen.“217 Im Gegensatz zur Stärkung der Symbolik der Heilung sollte eher anhand der Wundergeschichten aufgezeigt werden, dass sich Gott auch angesichts von Krankheit, Leiden und Tod um die Menschen kümmert.218 Hiermit konstatiert Bach, dass weniger der Blick auf Jesus als den Wundertäter gelenkt werden sollte, als vielmehr auf den Gekreuzigten. Auch die Niedrigkeit Gottes, die in Jesus Christus offenbar wird, darf beachtet werden.219 Zurückzukommen auf Ulrich Eibachs Argumentation: Der Mehrwert des christlichen Menschenbildes liegt nach Eibach darin, dass die Men214

Bach, Boden unter den Füßen, 145. Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 141. 216 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 9ff.; 56. 217 Bach, Boden unter den Füßen, 164. 218 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 164f. 219 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 168; 200. 215

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schenwürde universell und unverfügbar zugesprochen wird und es in der Nachfolge Christi die Aufgabe des Menschen ist, sich in Fürsorge auch und gerade kranken und schwachen Menschen zuzuwenden. Jedoch wird die Dimension der Krankheit und Schwäche in den Bereich der gefallenen Welt eingeordnet – ebenso auch die Behinderung, die der Erlösung und Vollendung, speziell der Überwindung jener Zustände bedarf. Letztlich wird also ihr Sinn eschatologisch definiert. Die Zuschreibung einer soteriologischen Hoffnungsdimension fungiert für Eibach dazu, auch dem Leben mit Behinderung einen irdischen Sinn zu geben: seine Überwindung.220 Diese Überlegungen münden erneut in den Anspruch an die Gesellschaft, sich an der Solidarität mit den schwächsten Gliedern auszurichten.221 Eine notwendige Diskussion jener Aussagen kann an dieser Stelle nicht in der erforderlichen Tiefe erfolgen, sondern nur durch einige Verweise angestoßen werden. Darlegungen solcher Art laufen – wie bereits mithilfe der obigen Argumente Bachs angedeutet – Gefahr, das irdische Leben (mit Behinderung) zu negieren sowie jene Zustände zu degradieren, obwohl zuvor auch theologisch um eine Grundlegung einer universellen Würde für jeden Menschen, die durch nichts verloren geht, gerungen wurde. Die christliche Hoffnung auf die Neuschöpfung ist wichtiges Element des Glaubens, die allen Menschen, ob mit oder ohne Krankheit und Behinderung, zugesprochen ist, und hier nicht infrage steht. Ein anderer Aspekt ist, welches Licht diese Verheißung auf gegenwärtige irdische Zustände, im Besonderen auf Krankheitssituationen und Leben mit Beeinträchtigungen, wirft. Bei den Aussagen Eibachs liegt der Eindruck nahe, dass schlussendlich dennoch eine Degradierung von Krankheit, Schwäche und speziell von Behinderung erfolgt, indem diese Zustände als defizitär und verbesserungswürdig dargestellt werden, da sie es ja sind, die endzeitlich überwunden werden müssen. Die Zuschreibung der Hoffnungsdimension sorgt gerade dafür, Leben mit Einschränkungen überhaupt Sinn geben zu können. Hier kann nur unterstrichen werden, dass der wahre Mensch ja auch gerade der ist, der in Christus am Kreuz hängt und der uns in seiner Schwachheit begegnet. Die Anfrage soll keineswegs die christliche Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, wie es z. B. im Buch der Offenbarung222 verkündet wird, abwerten. Fraglich sollte aber bleiben, ob bei dieser Neuschöpfung all jene Zustände, die teils in unserer Wirklichkeit als defizitär aufgefasst werden, in Kontinuität nach unse220

Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 56ff. Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 65f. 222 Vgl. Offb 21,1. 221

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ren heutigen Maßstäben verbessert werden. Wie ein neuer Himmel und eine neue Erde aussehen werden, liegt wohl nicht in unserer Hand und Vorstellungskraft. Diese Hoffnungsdimension ist jedem Leben zugesprochen. Einen „Boden unter den Füßen hat keiner“223 , wie es Ulrich Bach ausdrückt. Ferner wird von Eibach ein weiterer Aspekt starkgemacht, den beispielsweise Ulrich Bach mit Vehemenz zurückweist. Eibach stärkt den Gedanken der Fürsorge im plastischen Sinne, der in der eindimensionalen Zuwendung eines Gesunden zu einem bedürftigen Menschen aufzugehen scheint. Mit Bachs Worten ausgedrückt ist Eibach „im ‚für‘ steckengeblieben“224 . Bach stärkt den Gedanken, dass „neben das ‚Für‘ sehr deutlich das ‚Mit‘ treten“225 muss. Eine Einheit im gemeinsamen Handeln aneinander, so, wie es ein jeder nach seinem Vermögen realisieren kann, soll sich einstellen und auch wahrgenommen werden. Ein Verweis auf eine Wechselseitigkeit im Umgang miteinander ist gegeben.226 Der alleinige Aspekt einer Für-Sorge steht dabei in der Gefahr, Menschen (mit Behinderung) als Objekte der Versorgung zu deklassieren.227 Bach sieht eine Möglichkeit darin, weniger das Geben in den Vordergrund zu stellen. Ihm liegt daran, sich selbst als Partner zur Verfügung zu stellen und nötige Hilfe eher als Hilfe zur Selbsthilfe zu gestalten.228 Jeden Menschen als Geber und Nehmer wahrzunehmen und einander zu dienen, ist eine Haltung, die beispielsweise 1. Petr 4,10 deutlich hervortreten lässt.229 Der differente Standpunkt Bachs zeigt einerseits die notwendige Relativierung der teils weitreichenden Formulierungen Eibachs auf und verdeutlicht eine gewisse Vorsicht, die womöglich der Eibachschen Position hinsichtlich ihrer Pauschalisierungen entgegengebracht werden sollte. Auf ebensolche Weise tragen auch Bachs Aussagen keinen Allgemeingültigkeitscharakter, wenngleich sie mit besonderer Sorgfalt wahrzunehmen sind. Insbesondere vor dem Hintergrund der Impulse aus der Innenperspektive eines körperlich beeinträchtigten Menschen wird in besonderer Weise auf ein ausgewogenes Miteinander Wert gelegt.

223

Bach, Boden unter den Füßen. Bach, Boden unter den Füßen, 56. 225 Bach, Boden unter den Füßen, 92. 226 Vgl. hierzu im Folgenden das Kapitel V.3.3. 227 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 106. 228 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 135f. 229 Vgl. Bach, Boden unter den Füßen, 203. 224

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2.5.3 Die Interpretation der menschlichen Freiheit Ulrich Eibach gibt unter Rückbezug auf Gal 5,1 eine Definition der menschlichen Freiheit als Gegebensein und Abhängigsein von Gott. Wichtiges Implikat ist, sich der Fürsorge anvertrauen zu können.230 Das eigene Leben wird Eibach gemäß dann verfehlt, wenn sich dem Anruf Gottes verschlossen wird.231 In späteren Darstellungen unterstreicht Eibach stärker den Aspekt der geschenkten Freiheit. „Freiheit ist daher aus christlicher Sicht nicht Autonomie, die der Mensch in sich als Qualität hat, sie ist ermöglichte und geschenkte Freiheit, die sich darin als Freiheit bewährt, dass sie auf das ‚Herr-seiner-selbst-sein‘, auf die autonome Selbstverfügung auch verzichten und sich vertrauensvoll der Fügung Gottes und der Menschen anvertrauen kann, die gerade in der liebenden Fürsorge die Würde des anderen achtet.“232

Freiheit bedeutet also ein Abhängigsein, gar im Verzicht auf das Selbstsein.233 Zu einer solchen christlichen Freiheit ist der Mensch nach Eibach berufen. Sie ist insofern nicht, wie es gegenwärtige Tendenzen betonen, mit Autonomie oder dem Bestreben nach größtmöglicher Autonomie gleichzusetzen. Eibach bestärkt hier, wie im obigen Zitat deutlich wird, den Aspekt der Freiheit als selbst gewählte Abhängigkeit im Sinne einer ermöglichten und geschenkten Freiheit, sich der Fürsorge Gottes und der Menschen vertrauensvoll anvertrauen zu können.234 Die bereits mehrfach benannte Anfrage an Eibach kann erneut unterstrichen werden. Eine Gewichtung der Freiheit in Richtung der Fürsorge 230

Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 79. Vgl. Eibach, Sterbehilfe, 105. 232 Eibach, Autonomie, 21. Vgl. Eibach, Menschenwürde, 31. 233 Zeigen lässt sich, dass ein Verständnis von Freiheit als Bindung durchaus einem evangelisch-theologischen Verständnis zu entsprechen scheint. Zur näheren Erläuterung sei auf das noch folgende Kapitel IV.3.2.2.2.1 Exkurs: Das Verständnis von Freiheit verwiesen. Auf eine erneute Darlegung der Aspekte an dieser Stelle wird verzichtet. Ein derartiges Verständnis zeigt sich etwa bei Luther. Freiheit beschreibt auch hier die Bindungsabsicht, eine Abhängigkeit von Gott, die sich infolge der Prädestination durch Gott als Geschenk aus freier Gnade ereignet. Diese Gedankengänge Luthers werden beispielsweise in seinen Schriften De servo arbitrio oder De libertate christiana entfaltet. Bei Eibach zeigt sich im Vorgriff auf obiges ExkursKapitel sowie im Rückblick auf das Kapitel III.7 Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs eine starke Deutung des Freiheitsverständnisses als Abhängigkeit im Sinne von (komplettem) Verzicht auf Selbstverfügung und Selbstsein. Folglich ist abermals an dieser Stelle die Möglichkeit von einer vereinseitigenden Interpretation des Freiheits-Begriffs wahrzunehmen. 234 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 31. 231

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ist stark wahrzunehmen, wodurch sich die Frage stellt, ob das Thema der christlichen Freiheit in diesem Sinne eine Reduktion erfährt. Eibach nimmt dabei in unmittelbarer Parallelität der Gott-Mensch-Beziehung Passivität auch in Gänze für das Menschsein und den Umgang mit der geschenkten Freiheit wahr. Abhängigsein und Verzicht auf Selbstverfügung sind Resultate. In besonderer Weise zeigt sich im Verweis auf Barth, dass die von Gott geschenkte Freiheit auch eine (aktive) Reaktion des Menschen im Handeln – nicht nur im Verzicht – möglich macht. Aus der Zusage der geschenkten Freiheit aus Gnade resultiert Verantwortung, die die menschliche Aufgabe zum Handeln impliziert und wiederum den Menschen zum Subjekt macht.235 Eine weitere mögliche Schwäche der Eibachschen Sichtweise zeigt sich wie folgt: Den entscheidenden Schritt tätigt der Mensch für ihn darin, indem seine Wahl auf die Freiheit der Abhängigkeit fällt. Aufgabe ist es sodann, sich der Fürsorge Gottes und der Mitmenschen anzuvertrauen, folglich in der Passivität zu bleiben. Die Mitmenschen wiederum sind angehalten nach dem Wohl ihres Gegenübers zu fragen, was sich gemäß Eibach im Krankheitsfalle in erster Linie auf das Leben-Wollen konzentriert und darin aufzugehen scheint. Deutlich wird erneut die überwiegende Leitung der Gedankengänge vom Aspekt der Fürsorge ausgehend unter bereits zu spürender Vernachlässigung der Individualität jedes Menschen. Diese ist, wie schon angesprochen werden konnte, ebenfalls eine wichtige Dimension einer relationalen Autonomie, die das Subjekt-Sein in geschenkter Freiheit schätzt.236 Eibach proklamiert in starkem Maße das Vertrauen in die Fügung und die Fürsorge Gottes und in Parallelität dazu besonders des Mitmenschen. Seine positivistische Sichtweise auf die in Beziehung stehenden Mitmenschen vertraut stark darauf, dass sie genau wissen, was das Beste für den Patienten ist, nämlich – in Interpretation Eibachs – das Leben. 2.5.4 Beendigung von Leben Ansatzpunkt für weitere Anfragen an Ulrich Eibach sollte seine Position zum Beenden des Lebens sein. Hierzu stellt er fest: „Mein Recht auf Leben endet also da, wo Gott meinem Leben ein Ende setzt und wo ich mein Leben nur auf Kosten des Lebens anderer erhalten kann.“237 235

Vgl. hierzu einerseits den Exkurs: Das Verständnis von Freiheit (Kapitel IV.3.2.2.2.1) sowie andererseits das Kapitel V.2.2.3.1. 236 Vgl. hierzu erneut die bereits erwähnten Diskussionspunkte einer relationalen Autonomie mit den Darstellungen Eibachs. 237 Eibach, Recht auf Leben, 181f.

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Gott als Geber und Nehmer des Lebens wird hier grundsätzlich gedacht. Eine weitere Dimension ist die mitmenschliche Ebene, auf der bestimmt wird, dass fernerhin ein Lebensrecht endet, wenn das Wohlergehen Anderer angetastet wird. Es erscheint an diesem Punkt so, als könnte der Mensch die zweitgenannte Entscheidung selbstständig treffen, ohne hier auf Gottes Aktivität angewiesen zu sein. Dennoch bemerkt Eibach, dass es ausschließlich Gottes Sache ist, dem Leben ein Ende zu setzen und der Mensch soll hierbei nur nach klarem Befehl von Gott mitwirken.238 Diese Aussage verstärkt zugleich den Aspekt, dass Gott der alleinig Wirkende ist und der Mensch die Kompetenz zur Mitwirkung zugesprochen bekommt, sofern ein deutlicher Auftrag dazu von Gott zuteilwird. Äußerungen, die die soziale Dimension als Entscheidungskriterium über Leben und Tod ansetzen, stellen dies wiederum infrage: „Weiter kann es sinnvoll sein, Leben zu erhalten, wenn davon der Lebenssinn oder die materielle Existenz anderer abhängt.“239 Hierzu ist zu fragen, inwieweit nach Eibach der Mensch selbst über die Begrenzung des Lebensrechts oder den Lebenserhalt entscheiden kann und inwiefern Gott hierbei der Wirkende ist. Andere Aussagen scheinen eher die Kompetenz des Menschen, auch als Entscheidungsträger, zu stärken. „Das recht verstandene und theologisch begründete Solidaritätsprinzip erlaubt und gebietet es, daß die soziale Dimension des Menschseins sowohl mitbestimmend und ausschlaggebend sein kann für die Fortsetzung lebensverlängernder Maßnahmen als auch für den Abbruch, einschließlich der Mittel der sogenannten Intensivpflege“240 .

Insofern zeigt sich die Dimension des Mitwirkens durch den Menschen, wobei fernerhin der Mensch ebenso als ausschlaggebende Instanz gesehen wird. Die Beziehungsdimension von Mensch zu Mensch erlaubt und fordert es gar, dass der Mensch die Entscheidung über Verlängerung oder Beendigung eines Menschenlebens treffen kann. Erneut stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien diese Entscheidungsfindung getroffen werden kann und ob Eibachs formulierte und oben dargestellte Maßstäbe wie Wohlergehen, Kommunikation und Anteilnahme hierfür geeignet sind sowie vor paternalistischen Tendenzen schützen. Ferner ist nochmals eine Anfrage auf seine von der Sozialität ausgehende Argumentation zu lenken. Wenn das Recht auf Leben, wie oben 238

Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 221f.; KD III/4, 485. Eibach, Recht auf Leben, 299. 240 Eibach, Recht auf Leben, 324. 239

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

dargestellt, nach Eibach dort endet, wo es nur auf Kosten Anderer erhalten wird, so lässt sich doch nachdenken, ob nicht jede Pflegesituation diesem Kriterium entspricht. Letztendlich kann eine solche Grenze des Lebensrechts eine Forderung des eigenen Suizids oder gar des assistierten Suizids implizieren, sofern das eigene Leben auf Kosten anderer erhalten wird. Wer stellt fest, ob eine solche Situation vorliegt? Diese gedankliche Weiterführung ist bei Eibach nicht zu finden, da in seiner Argumentation stets der Mitmensch als Maßstab gedacht wird. Denn dieser trifft die Entscheidung, wann ein Leben auf Kosten Anderer gelebt wird. Die problematische Konsequenz ist daher denkbar, dass eine Klassifizierung von Zuständen erfolgt, in denen das Leben auf Kosten von Anderen gelebt wird, diese also per se kein Recht mehr auf Leben besitzen. So ist zu fragen, warum das Leben dann nicht auch selbst – vielleicht sogar vorsorglich – beendet werden kann. Im Sinne von Eibach kann darauf verwiesen werden, dass die Beziehungsebene das Entscheidende ist und er sich ferner gegen jegliche Unwerturteile zu wenden versucht. Fraglich bleibt dennoch, ob Eibach auch hinsichtlich der obigen Argumentationskette manche Folgen seiner Darstellungen verkennt. Als weiterführendes Problem seiner Aussagen kann eine Vereinnahmung Gottes in das menschliche Handeln beschrieben werden. Die Gefahr besteht, die menschliche Entscheidung mit einem Befehl Gottes, wie es Eibach oben ausdrückt, unmittelbar gleichzusetzen. Angefragt werden sollte stets, ob in die eigenen Wahrnehmungen einer Situation Gottes Wille unmittelbar interpretiert werden kann. Lässt sich also stets (und eindeutig) erkennen, was Gottes Wille ist? Die gleiche Frage kann in Verbindung der heutigen weit entwickelten medizinisch-technischen Möglichkeiten und Eibachs grundlegender Einstellung, dass es allein Gottes Sache ist, dem Leben ein Ende zu setzen,241 beleuchtet werden. Einerseits ist fraglich, ob es in der Praxis tatsächlich zweifelsfrei erkennbar ist, wann und wie lange eine Situation zu erleiden ist, um dann zu wissen, dass der Individualtod eintritt, Lebensverlängerung also keinen Sinn mehr macht und der Tod zuzulassen sowie sein Leben im Verzicht auf die Selbstbestimmung in Gottes Hand zu geben ist.242 Problematisch bleiben Grenzsituationen, die nicht zuletzt durch die medizinischen Interventionsmöglichkeiten hervorgerufen werden und in denen jene Entscheidungsprozesse unklar sind. Eibach lässt eine genauere Klärung offen, was es bedeutet, dass es allein Gottes Sache ist, einem Leben ein Ende zu setzen, und vor allem, 241 242

Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 221f. Vgl. Eibach, Menschenwürdig sterben, 7.

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welche Aufgabe dabei dem Menschen zukommt oder welche Grenzen gezogen werden können. 2.6 Die Ethik der Fürsorge in Anwendung auf das Thema Patientenverfügung Ulrich Eibach hat sich als Medizinethiker und Theologe mit Beiträgen an der Debatte zum Thema Patientenverfügung beteiligt und lässt sich in besonderem Maße mit seiner Ethik der Fürsorge auf die Thematik der vorliegenden Arbeit anwenden. Seine oben ausgeführten Grundsätze zur Gewichtung von Autonomie und Fürsorge, welche einen deutlichen Fokus auf die Fürsorge erkennen ließen, leiten auch seine Darstellungen zur Patientenverfügung. Zur genaueren Kennzeichnung von Auswirkungen auf das Themenfeld um die Patientenverfügung wird im Folgenden Eibachs Anbindung seiner Ethik der Fürsorge aufgezeigt. Bevor die Ethik der Fürsorge Anwendung findet, geht eine Situationswahrnehmung voraus. Die Beobachtung ist dabei leitend, dass die Autonomie zum moralischen und rechtlichen Leitbegriff erhoben wird. Ursächlich ist ein Wandel im Medizinrecht, fundierend auf allgemeinen Fortschritten in der Medizin, dem Wandel der Lebens- und Wertvorstellungen, der Individualisierung sowie der Säkularisierung. Die Autonomie „wird immer mehr als eine empirisch feststellbare Entscheidungsund Handlungsautonomie verstanden“243 mit dem Resultat einer inhaltlichen Gleichsetzung von Autonomie mit Menschenwürde. Sie fordert zugleich ein „Recht auf absolute Selbstverfügung über das eigene Leben“244 und macht eine Abkehr vom „bis dahin in den Heilberufen leitenden Ethos der Fürsorge“245 spürbar. Der Wille einer Person ist gegenwärtig, so Eibach, höherwertiger als der Lebensschutz.246 Er bewertet ein rationalistisches Verständnis des Menschen als defizitär, was sich auch in der zunehmenden Verunsicherung eines Patienten infolge des informed consent zeigt. Eine autonome Entscheidung des Patienten, aufbauend auf vermittelte Sachinformationen über seinen Zustand durch den Arzt, gelingt kaum.247 Eibach sieht ferner eine Erklärung für diese Entwicklung: Der Patient muss nun selbstbestimmt die anstehenden Entscheidungen treffen, weil sich Andere, z. B. die behandelnden Ärzte, dazu nicht mehr in der Lage sehen. Diese geforderte Selbst243

Eibach, Patientenautonomie, 1. Eibach, Patientenautonomie, 1. 245 Eibach, Patientenautonomie, 1. 246 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 1. 247 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 2. 244

260

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

bestimmung ist die Konsequenz einer Flucht aus der „ethischen Krise“248 . Der Bruch zur Realität ergibt sich nach Eibach darin, da fraglich bleibt, nach welchen Kriterien Patienten solche Entscheidungen treffen können sowie erfahrungsgemäß darin, ob kranke Menschen überhaupt noch ihre Selbstbestimmung für sich beanspruchen.249 So kommt Eibach zu der Frage: „Ist der ‚autonome Patient‘ nicht ein weitgehend realitätsfernes theoretisches Konstrukt?“250 Es lässt sich eine Differenz der Wahrnehmung im gesunden Zustand zu Krankheitssituationen aufzeigen. Gesunde Menschen hängen der „Fiktion vom selbstbestimmten Leben und Sterben“251 an, deren Fiktionalität sich dann aber in Krankheitszuständen offenlegt. Der Aspekt der Fürsorge und des Vertrauens in die Mitmenschen sowie die Unfähigkeit, selbst Entscheidungen in Gesundheitsfragen treffen zu können und zu wollen, tritt hervor.252 Kranke Menschen erfahren eine andere Wichtigkeit. „Für ihr Leben ist es vielmehr entscheidend, inwieweit sie in ihrem Angewiesensein auf andere diesen vertrauen können und von ihnen gemäß ihrer von allen aufweisbaren Fähigkeiten unterschiedenen und unverlierbaren Würde geachtet und behandelt werden.“253 Defizitär erweist sich also für Eibach die – gerade auch gesellschaftlich vorfindliche – Konzentration auf die Selbstbestimmung, die einen fiktiven Charakter vermittelt sowie die Menschenwürde in vielen Lebenszuständen und für eine große Personengruppe infrage stellt. „Wenn die Würde des Menschen primär in seiner autonomen Selbstbestimmung gründet, so ist eigentlich jeder Zustand, in dem der Mensch sich nicht selbst bestimmen kann, ein ‚menschenunwürdiger‘ Zustand.“254 Wobei Eibach besonders in seinen neueren Darstellungen versucht, den Menschen auch als Partner in seiner eigenen Selbstbestimmung ernst zu nehmen, um sich somit vor dem Vorwurf der Verobjektivierung zu schützen.255 Gewährleistet wird dies darin, dass die Ethik der Fürsorge 248

Eibach, Patientenautonomie, 2. Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 2. 250 Eibach, Patientenautonomie, 2. 251 Eibach, Patientenautonomie, 5. 252 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 4. 253 Eibach, Patientenautonomie, 5. 254 Eibach, Menschenwürde, 42. 255 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 32. Eine Diskussion dieser Argumentationen wurde ausführlich in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt. Als kurzer Rekurs dient nochmals der Hinweis darauf, dass Eibach in der jüngeren Literatur seine starke Konzentration des Menschseins auf den Aspekt der Fürsorge wahrgenommen und durch die Einfügung des Hinweises, dass auch die Selbstbestimmung einer Person Beachtung finden müsse, aufzuheben versucht hat. Insofern zeigt dies wahrschein249

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

261

die Persönlichkeit des Menschen nicht missachten soll, da die entscheidende Basis in einer Beziehung zum Mitmenschen, der Kommunikation miteinander sowie dem entgegengebrachten Einfühlungsvermögen besteht.256 „Die Ethik der Fürsorge bezieht sich auf das Leben und sein Wohlergehen.“257 Im Vordergrund steht also der Lebensschutz, der in einer Linie mit dem Wohlergehen einer Person zu denken ist. Wird das Leben geschützt (bzw. erhalten), so dient dies dem Wohlergehen. Die Ethik der Fürsorge „ist daher der Ethik der Autonomie vorzuordnen und letztere ist ihr so ein- und unterzuordnen, dass das ganze Leben in seiner Würde so geschützt wird, dass es auch dann voll an der Würde, Mensch und zugleich Person zu sein, Anteil und ein Recht hat, entsprechend behandelt zu werden, wenn es aller empirischen Freiheitsmöglichkeiten beraubt ist und für sich selbst keine Rechte mehr geltend machen kann.“258

Dies ernst nehmend, können dann auch stellvertretende Entscheidungen getroffen werden, „weil nicht über den Menschen, sondern aus einer wirklichen Beziehung zu ihm und in Anteilnahme an seinem Geschick für ihn und zu seinem Wohl entschieden wird“259 . Vorausgesetzt sein sollte dabei, den Menschen „als ganzen Menschen mit all seilich eine Reaktion auf gängige Kritik an Eibach, die ihm paternalistische Strukturen unterstellen kann. Jene Kritikpunkte wurden ebenso in der vorausgegangenen Darstellung bereits angeführt. Ansatzpunkt seiner Konzentration auf den Aspekt der Fürsorge stellt in seinen frühen Schriften die Argumentationskette der in Jesus Christus offenbarwerdenden Bestimmung des Menschen zum Sein für Gott und Sein für den Mitmenschen, was sich wiederum im konkreten Leben bewähren muss (vgl. Eibach, Recht auf Leben, 126ff.). Insofern bestimmt Gott den Menschen zum Mit-Sein, was des Menschen Verantwortung darstellt und den Menschen ausschließlich in Bezogenheit zum Mitmenschen denken lässt (vgl. Eibach, Recht auf Leben, 181ff.). Seine Abgrenzung zu einem Menschenbild, was sich vorrangig auf die autonomen Fähigkeiten beschränkt und auch gesellschaftlich vorherrscht, wurde mehrfach gezeigt (vgl. Eibach, Menschenwürde, 17). Vielmehr werden die Passivität in der Konstitution sowie das Abhängigsein des Menschen gekennzeichnet, die Autonomie hingegen in Krankheitssituationen als reines Konstrukt bewertet (vgl. Eibach, Autonomie, 11f.; 19ff.). Unklar bleibt, wie die Selbstbestimmung vor dem Hintergrund des vorherrschenden Menschenbildes zur tatsächlichen Inklusion und Realisierung in seinen Darstellungen führen kann. Betonung findet dabei nur, dass die Persönlichkeit eines Menschen nicht missachtet werden soll (vgl. Eibach, Autonomie, 21ff.). 256 Vgl. Eibach, Autonomie, 21ff. 257 Eibach, Autonomie, 22. 258 Eibach, Autonomie, 22f. 259 Eibach, Autonomie, 23.

262

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

nen Bedürfnissen“260 wahrzunehmen und indessen solange wie möglich auch seine Selbstständigkeit zu erhalten.261 Ferner spricht Eibach mit dem Ziel der Erhaltung des Wohlergehens davon, nicht immer den Patienten vollständig aufklären zu müssen und ihm durchaus auch Sachverhalte vorenthalten zu können. „Dabei wird freilich dem Wohlergehen des Kranken der Vorrang vor seinem Willen gegeben, allerdings im Vertrauen darauf, daß dies letztendlich doch seinem Willen entspricht.“262 Hier legt Eibach den Maßstab an, andere Menschen wüssten in Situationen besser über den eigentlichen Willen einer Person Bescheid, als sie es selbst vermag. Ob dies der Realität oder auch der Achtung einer Person entspricht, sei angefragt. Nicht ersichtlich ist, welches Kriterium er für eine solche Bewertung anbringt. Er baut hier, wie es scheint, auf seine eigenen Maßstäbe aus dem Krankenhausalltag und der Seelsorge und setzt dies generalisierend sowie unreflektiert als Norm für Andere, ohne ihre (relationale) Autonomie zu berücksichtigen. Leicht kann diese Bestimmung als Bevormundung und Paternalismus gewertet werden. Im Hinblick auf die heutige Ausgestaltung der Patientenverfügung bedeutet ein Handeln gemäß den Maßstäben Eibachs eine Missachtung der gesetzlichen Bestimmungen, dass jener, in einer Verfügung festgelegte Wille eines Menschen absolute Gültigkeit aufweist. Diese Gedankengänge Eibachs zeugen von Praxiserfahrung, die er zudem durch nichtrepräsentative Befragungen untermauert.263 Dennoch sollten an dieser Stelle erneut Anfragen benannt werden. Eibach verweist auf das Angewiesensein sowie auf die Notwendigkeit von Beziehungsstrukturen und resultierendem Vertrauen. Sicherlich ist dieser Aspekt besonders in Krankheitssituationen von unnachlässiger Bedeutung. Die Hilfsbedürftigkeit steht außer Frage. Eibach geht mit einer solchen Rigorosität vor, dass er die Selbstbestimmung hier generell ablehnt und als Fiktion kennzeichnet. Insofern setzt er automatisch fremde – oder anders ausgedrückt: paternalistische – Entscheidungsmaßstäbe über Patienten in Krankheitssituationen voraus. Die gesamte geschichtliche Entwicklung hin zur Stärkung des informed consent und der Forderung nach Selbstbestimmung auch und gerade in Krankheitssituationen setzt andere Normen voraus und ist mit seiner Anthropologie wenig vereinbar. Das Vertrauen in bestehende Beziehungsstrukturen ist ein unerlässlicher Aspekt des Menschseins, wohingegen Eibach 260

Eibach, Autonomie, 25. Vgl. Eibach, Autonomie, 35f. 262 Eibach, Menschenwürde, 52. 263 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 2ff. 261

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

263

zu einer von ihm kritisierten Eindimensionalität des anderen Extrems neigt. Ersichtlich wird, dass die in Beziehung stehenden Mitmenschen als Garant der Würde einer Person auftreten und Eibach ihnen ferner die Kompetenz zuspricht, das Beste für einen Menschen in der Krankheitssituation – in ihrer Außenperspektive – vernehmen zu können. Eibach vernachlässigt erneut die Individualität einer Person, mit ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen. Seine Wahrnehmung entspricht ebenfalls einer Eindimensionalität, die hier vom Gegenüber zum Patienten ausgeht. Die lineare Konzentration auf den Aspekt der Selbstbestimmung und auf solipsistisch verstandene Autonomie ist, wie es Eibach herausarbeitet, defizitär und nicht mit allen Dimensionen des Menschseins kompatibel, wie es gerade Krankheitssituationen verdeutlichen. Hingegen ausschließlich die Fürsorge zu gewichten scheint ebenso wenig dem Menschsein in toto zu entsprechen. Ulrich Eibach trifft durch seine dargestellte Motivation des Themengebiets die Debatte um Patientenverfügungen. Mitunter stößt seine Kritik auf vorfindliche Schwierigkeiten und beschreibt sie insofern trefflich. Im Kapitel III.5 wurde bereits auf bestehende Dissense zur Patientenverfügung eingegangen, an deren Formulierung sich auch Ulrich Eibach maßgeblich beteiligt hat. Eminent wichtig ist für ihn, dass eine Patientenverfügung gerade jenes Bild der „Fiktion vom selbstbestimmten Leben und Sterben“264 verstärkt, indem sie das Versprechen verkörpert, vor „Entmächtigung der Persönlichkeit“265 , auch durch ein Ausgeliefertsein durch fortschreitende medizinische Möglichkeiten, zu schützen. Vor diesem Hintergrund ist es Eibachs Anliegen, dass Verfügungen solcher Art keinen äußeren Druck hervorrufen, die eigene Behandlungssituation bis ins Detail regeln zu müssen. Bewusst sollte immer bleiben, dass auch die Patientenverfügung nur eine Antizipation von zukünftigen Zuständen ist.266 Ferner ist der Patientenverfügung entgegen Eibachs Ethik der Fürsorge für das Leben ein anderer Tenor zu entnehmen. Hierin werden nicht selten Zustände als lebensunwert

264

Eibach, Patientenautonomie, 7. Eibach, Patientenautonomie, 7. 266 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 7f. 265

264

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

beschrieben. Zudem können auch Ärzte in einen Konflikt ihres Standesethos267 mit dem festgehaltenen Patientenwillen gelangen.268 Die Vorteile der Patientenverfügung sieht Eibach in der Auseinandersetzung sowohl mit sich selbst als auch mit nahestehenden Personen über Zustände der Krankheit, des Sterbens und des Todes. Sie dient also als Anker und Ansatz für Gespräche.269 Giovanni Maio etwa richtet an diesen Aspekt die Nachfrage, ob es wohl ein gewisses „Defizit im Umgang miteinander“270 kennzeichnet, wenn es einer Patientenverfügung bedarf, um zu diesen Themen ins Gespräch zu kommen.271 Generell steht Eibach der Patientenverfügung eher kritisch gegenüber und kennzeichnet, wie wir gesehen haben, wichtige Anfragen an die Praktikabilität und Ausgestaltung der Verfügung. Grundlage dieser Orientierung ist der Widerspruch gegen seine Ethik der Fürsorge. Im Speziellen geht es bei Patientenverfügungen auch immer um – so der Anspruch – autonome Entscheidungen das Lebensende und das Sterben betreffend, welche ein Gespräch mit den Menschen, die in diese Verantwortung mit hineingezogen werden, nicht notwendig voraussetzt.272 Hier sieht Eibach einen wichtigen Einspruch gegen solch eine rein isoliert-autonome Abfassung von Patientenverfügungen, den er wie folgt begründet: „Entscheidungen ohne Beteiligung der nächsten Angehörigen [. . . ] sind aus seelsorglicher Sicht nicht zu vertreten, weil sie die im Sterben nötige Vertrauensbeziehung in vielerlei Hinsicht belasten oder gefährden können.“273 In dieser Aussage liegt verborgen, dass Entscheidungen nur im Kollektiv getroffen, damit sie auch von allen getragen werden können. Auf der Hand liegt unmittelbar die Frage, welchen Status solche Entscheidungen erlangen, die gar den Angehörigen missfallen oder nicht gemeinsam besprochen wurden. Eine Konse267

Die Entstehung dieses Konfliktes obliegt dem Sachverhalt, dass dem Standesethos gemäß für Ärzte die Heilung des Patienten anzustreben ist, nun aber in Entsprechung neuer gesetzlicher Regelungen eine Orientierung am Willen des Patienten erfolgen muss. Mitunter führt dies dazu, dass mögliche Heilungschancen ungenutzt bleiben und so ein behandelnder Arzt diesem Ethos nicht mehr nachkommen kann. Die Patientenverfügung provoziert jene Situationen, in der medizinische Interventionen ohne Beachtung tatsächlicher Heilungschancen verwehrt werden können und hier klar der (teils prospektive) Wille des Menschen Vorrang vor medizinischen Möglichkeiten aufweist. Eine moralisch-ethische Bewertung dessen kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. 268 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 8f. 269 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 10f. 270 Maio, Mittelpunkt Mensch, 353. 271 Vgl. Maio, Mittelpunkt Mensch, 353f. 272 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 10. 273 Eibach, Patientenautonomie, 10.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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quenz könnte sein, dass sie nicht zwingend Berücksichtigung und tatsächliche Umsetzung finden müssen, da ihnen der entscheidende Aspekt der Kommunikation fehlt. Auch hier ist die Tendenz aufzuspüren, individuelle Entscheidungen, die vielleicht sogar der Auffassung des Gegenübers widersprechen, wenig zu akzeptieren oder zu respektieren. Eibach fordert die „Rücksichtnahme auf die Überzeugungen der in Liebe verbundenen Angehörigen“274 . Diese Sichtweise vollzieht sich in der Konsequenz, dass das Wohlergehen letztlich immer dem Willen vorgeordnet wird, wobei das Wohl eines Patienten in aller Regel die Erhaltung seines Lebens ist, sofern eine medizinische Intervention den in Beziehung Stehenden nützt und die soziale Dimension vorhanden ist.275 Oder mit den Worten Eibachs ausgedrückt: „Die Frage nach dem Willen des Patienten zielt letztlich auf die gemeinsame Klärung dessen, was dem Wohlergehen des einzelnen Patienten wirklich dient.“276 Eine Interpretation dessen, was jene gemeinsame Klärung, was dem Wohlergehen dient, meint, ist hier nochmals gesondert durchzuführen. Was zum Wohle eines Menschen ist, legen – besonders in Krankheitssituationen – seine Nächsten fest, denn sie können, wie es Eibach vermerkt, solche Situationen letztlich besser überblicken und den Lebensschutz in den Vordergrund stellen.277 Insofern ist gezielt anzufragen, wie gleichberechtigt Eibach hier tatsächlich die gemeinsame Klärung sieht, zumal er davon ausgeht, dass die Autonomie in Krankheitssituationen nur ein „theoretisches Konstrukt“ 278 ist. Wenn hier also keine Autonomie mehr vorherrscht und solche Situationen nicht überblickt werden können, liegt die Konsequenz nahe, dass alleinig Angehörige anstehende Entscheidungen über die Person treffen können oder gar ein übermäßiges Vertrauen in die Ärzteschaft besteht. Wiederum sind die paternalistischen Strukturen der Ausführungen Eibachs belegt.279 Durch Eibachs Bestimmung von Wohl und Autonomie folgt eine mögliche Missachtung der (relationalen) Autonomie, der Individualität sowie der Persönlichkeit eines Menschen. Kritisch ist zu unterstreichen, dass der Gedanke der Fürsorge verabsolutiert und stark ausgeweitet wird. Zu klären bleibt also im Verlauf der Arbeit, wie ein ausgewogener Fürsorgebegriff konstituiert und theologisch begründet werden kann.280 274

Eibach, Patientenautonomie, 11. Vgl. Eibach, Recht auf Leben, 291; 299f. 276 Eibach, Patientenautonomie, 14. 277 Vgl. beispielsweise Eibach, Autonomie, 22; Eibach, Menschenwürde, 52. 278 Eibach, Patientenautonomie, 2. 279 Vgl. Eibach, Patientenautonomie, 10–14. 280 Vgl. als Hinführung dazu Kapitel V.2 sowie speziell Kapitel V.3.3. 275

266

2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

Als Resultat der Betrachtung von Ulrich Eibachs Ethik der Fürsorge mit seinen Voraussetzungen und Konklusionen kann postuliert werden, dass vor diesem Hintergrund eine Patientenverfügung als Instrument keinerlei Notwendigkeit erhält. Grundlage dessen ist die Betonung der Mitmenschlichkeit, die auch dazu führt, dass alle wichtigen medizinischen Entscheidungen von den in Beziehung stehenden Menschen getroffen werden, da sie zudem diese Situationen besser überblicken und bewerten können. Dass diese Sichtweise in der vorliegenden Intensität keine normative Stellung erhalten kann, wurde bereits durch die vielen Anfragen an Eibach bekräftigt. Inwiefern hingegen wichtige Linien dessen aufgenommen und weiterentwickelt werden können, bleibt im Verlauf der Arbeit zu eruieren. Als wichtiger Aspekt verdient abschließend Betonung, dass Ulrich Eibach viele kritische Seiten der Patientenverfügung mit ihren Auswirkungen durchdacht hat. Dass diese Aspekte speziell in der Praxis Relevanz zeigen, wurde bereits in den ersten Kapiteln des Abschnitts III dieser Arbeit dargestellt. 2.7 Konklusionen aus Ulrich Eibachs Ethik der Fürsorge Einem abschließend zusammenfassenden Votum der aufgearbeiteten Erkenntnisse zu Ulrich Eibachs Ethik der Fürsorge vorausgehend, wird eine knappe Rekapitulation seiner Vorgehensweise dargestellt. Die Grundlegung einer christologischen Anthropologie entspricht dem ursprünglichen genuin-theologischen Ansatzpunkt Eibachs, der die Bestimmung, Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein, offenlegt. Offenbar ist diese Bestimmung in Jesus Christus, dem wahren Menschen, durch den alle Menschen Ebenbilder Gottes werden und in dem Bestimmung, Sinn und Würde der Menschen zu erkennen sind. Die christologische Anthropologie setzt den Fokus auf die Ganzheit des Menschen. Die Bestimmung des Menschen konkretisiert sich im Auftrag und in der Bestimmung zum Leben. Der Mensch begegnet als ontisch nie gottloser Bundespartner, dessen Wesen und Wert außerhalb seiner selbst konstituiert und somit auch aufrechterhalten werden. Gleichzeitig zeigt dies, dass der Mensch nicht in seinen empirischen Qualitäten aufgeht. Fürsorge und Beistand kennzeichnen die christlich rechte Lebensweise. Dies ergibt sich aus der Bündnisfähigkeit in Entsprechung Jesu Christi sowie als Konsequenz der Ontologie und Bestimmung des Menschen, hier besonders zum Sein für den Mitmenschen. Das Zusammensein entspricht der Grundform der Humanität und ereignet sich in der geschenkten Freiheit gerne. Ferner erhält der

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Mensch seine Würde aus der Bestimmung zum Partner und Ebenbild Gottes. Im weiteren Verlauf justiert sich Eibachs Grundlegung zunehmend auf die Praxisperspektive sowie auf die Wahrnehmung einer problematischen Gleichsetzung von Autonomie und Menschenwürde. Verbunden damit zeigt sich, dass Würde offensichtlich keine Realität ist, sie insofern gesichert werden muss sowie das Leben selbst, welches von sich heraus Schutz fordert, diese Schutzwürdigkeit keineswegs immer erfährt. Autonomie bedroht also das Lebensrecht und wird ferner, insbesondere in Krankheitssituationen, von Eibach als Fiktion definiert. Wachsende Bedeutsamkeit erhält die Frage nach Handlungsmaßstäben für die Praxis, welche wiederum die Wichtigkeit der mitmenschlichen Beziehungen bescheinigt. Die Sicherung einer Würde des geschaffenen Lebens wird an eine eschatologische Hoffnungsperspektive angebunden. Die ontische Passivität des Menschen wird als Resultat seiner Geschöpflichkeit ersichtlich und zeigt sich in einem grundlegenden Angewiesensein. Seine Aufgabe ist es wiederum, dieser vorausgegangenen Fürsorge Gottes zu entsprechen. Die Angewiesenheit des Menschen prägt in entscheidendem Maße das Verhältnis zum Mitmenschen. Nachdrücklich liegt, speziell in der Krankheitssituation, die Entscheidungskompetenz beim Mitmenschen, der fernerhin nicht zwingend an Wahrheitsaussagen gebunden, aber für den Lebensschutz zuständig und somit als Fürsorger der Garant des Lebenssinns ist. Gleichwohl zeigt sich die Fürsorge als Konsequenz der Angewiesenheit und Passivität als Geschöpf in Abhängigkeit, welche zugleich als Freiheit definiert wird. Fürsorge als menschliche Tat entspricht dem Sein und der Natur des Menschen, zeigt sich mitunter aber eher als Vertretung. Würde erhält der Mensch aus seiner Erschaffung und Erwählung sowie aus der eschatologischen Hoffnung auf Vollendung der verheißenen Gottebenbildlichkeit. Ungeachtet der Vielzahl der hervorgebrachten Anfragen an Ulrich Eibachs medizinethische Positionen tragen diese einen beachtlichen Wert. Nachdrücklich helfen seine Aussagen das heutige Autonomieverständnis in kritischer Weise zu reflektieren sowie, unterstrichen mit Erkenntnissen aus der Praxis, es als defizitäre Entwicklung zu kennzeichnen, solipsistisch geprägte Autonomie – und insofern in besonderem Maße die kognitiv-geistigen Fähigkeiten einer Person – mit Menschenwürde gleichzusetzen. Darüber hinaus dient Eibachs Position als Exempel einer Betonung und Wertschätzung der Fürsorge und damit zugleich als Resultat der vorausgehenden Kapitel der Arbeit, die eine Berücksichtigung dieser fürsorglichen Komponente im Sein des Menschen als not-

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2. Die „Ethik der Fürsorge“ nach Ulrich Eibach

wendig hervorgebracht hat. Eine Betrachtung der Unausgewogenheit von (relationaler) Autonomie und Fürsorge wurde oben ebenfalls vorgenommen. Zu kennzeichnen war bei Eibach eher eine Überbetonung der Fürsorge. Gleichwohl verstärkt sich hierin der Mehrwert eines relationalen Verständnisses des Menschen als Beziehungswesen, dem unverlierbar eine Würde von außen, von Gott, zuteilwird. Eibach verweist anfänglich sehr eindrücklich auf den enthaltenen Mehrwert gerade dieses christlich-theologischen Menschenbildes, eine unverfügbare Würde für jeden Menschen zu beschreiben. Die Ethik der Fürsorge trägt entscheidende Hinweise in sich, den Menschen in toto wahr- und ernst zu nehmen, sowie in besonderem Maße die Fürsorge zu schätzen, um so nicht zuletzt den schwächsten Gliedern einer Gesellschaft wie Kranken, Alten oder Sterbenden zum Nächsten zu werden. Dennoch fehlt auch dieser Ethik der Fürsorge ein wichtiger Aspekt des Menschseins, sodass Vereinseitigungen merklich werden. Es ist zu kurz gedacht, die eigene Persönlichkeit und die Autonomie als rein theoretisches Konstrukt darzustellen. Auch Eibachs anfänglich in der theologischen Grundlegung wahrgenommene Betrachtung des Menschen als leib-seelische Einheit, durch die ein Rekurs auf die Körperlichkeit des Menschen erfolgen und seine Kognitivität nicht überbewertet werden sollte, ist ein beachtenswerter Ansatzpunkt, der leider in seiner folgenden Darlegung an Wichtigkeit verliert. Folglich schlägt hier sein Anspruch fehl, den Menschen in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Zudem ist eine wirkliche Beziehung der Liebe, wie Eibach sie nennt, notwendige Voraussetzung für die Konstitution einer mitmenschlichen Beziehungsebene, aber keineswegs hinreichend, um jegliches Treffen von Entscheidungen bei Behandlungssituationen hierauf aufzubauen und sogar zu legitimieren. Dennoch bleibt eine kommunikative, relationale Beziehung die wahrscheinlich wichtigste Grundlage zur Begegnung mit dem Mitmenschen. Es sollte ebenso vordergründig und beachtlich bleiben, in Anlehnung an Eibach dem Lebensschutz eine Aufwertung zuzusprechen. Jedoch scheint Eibach auch hier eine zu einseitige Betonung zu bewirken, deren Konsequenzen nicht zu Ende gedacht und Grenzziehungen versäumt werden, alsdann sogar die Tür zur Verobjektivierung des Gegenübers öffnen. Lebensschutz als solcher ist ein wichtiger Ansatzpunkt, wobei zu klären bleibt, ob Lebensschutz automatisch und unbedingt mit Würdeschutz zu identifizieren ist, bzw. ob es ein Gebot der Würde sowie der rechten Lebensweise ist, den Lebensschutz stets als oberstes Ziel anzustreben.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Kennzeichnend für die Darlegungen Eibachs ist ferner eine positivistische Sicht des Optimums, die voraussetzt, dass der Aufbau einer wirklichen Beziehung Fürsorge automatisch nicht mehr als Paternalismus erscheinen lässt. Gleichzeitig wird die Konzentration auf die Fürsorge durch die Identifikation dieser mit der für Christen rechten Lebensweise legitimiert, indem unmittelbar von der Beziehungsebene Gott – Mensch auf die Ebene der Menschen untereinander geschlossen wird.281 Noch zu klären ist, wie sich diese Linien in die lebensweltliche Realität einfügen lassen und ob diese Parallelisierung sachgemäß erscheint. Generell obliegt Eibachs Aussagen eine gewisse Brachialgewalt, mit der er, wie oben dargestellt, Generalisierungen formuliert, deren Tragweite, die sich auch in Konsequenz seiner Aussagen als Ganzes verschärft, weitgehend unreflektiert bleibt. Am Rande bleibt die Anfrage zu erwähnen, ob Eibach in seiner Dissertationsschrift Recht auf Leben – Recht auf Sterben einen reflexionsbedürftigen und durchaus auch im Titel der Arbeit angekündigten Aspekt vernachlässigt. Es ist eine Konzentration auf den Aspekt Recht auf Leben feststellbar, indem er konkrete Kriterien formuliert, wie lange das Lebensrecht besteht und seine Gedankengänge um diesen Aspekt kreisen lässt. Eher übergangen wird eine dezidierte Darlegung des Rechts auf Sterben, insbesondere im Hinblick auf die Fragestellung, inwieweit dieses für kranke Menschen besteht oder wo etwaige Grenzziehungen erfolgen könnten. Insgesamt ist ein vorschneller Ersatz einer (recht verstandenen) Ethik der Autonomie durch die Ethik der Fürsorge festzustellen, die insofern – ohne allerdings jene Absicht zu propagieren – in eine Negation des Subjekts übergeht und der durchaus auch mitunter (negativ konnotierter) Paternalismus unterstellt werden kann, obwohl genau dies durch die dialogische Begegnung zwischen Du und Ich,282 wie es Dominik A. Becker ausdrückt, umgangen werden soll. Zu fragen bleibt weiterhin, ob der Schluss darauf, in der Krankheit die Autonomie zu negieren, verfrüht ist, ebenso wie (relationale) Autonomie generell als Fiktion zu benennen. Leider fehlt eindeutig eine stringentere theologische Begründungsstruktur, die Eibachs Schlüssen durchgängiger vorausgeht. Die vorliegende Arbeit trägt den Anspruch, jene hilfreichen Linien Eibachs zu entnehmen, weiterzuentwickeln und mit belastbaren theologischen Argumentationsstrukturen zu festigen. Interessant erscheint dabei außerdem, dass bisher keine tiefgehende Sekundärliteratur zu Ulrich Eibach auf281 282

Vgl. Plasger, In Beziehung leben, 12. Vgl. Becker, Sein, 290f.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

zufinden ist, in denen seine Darstellungen bereits intensiv untersucht werden. Im Rekurs auf Eibach werden zumeist Einzelargumente herangezogen, um etwa – wie oben bereits beschrieben wurde – Kritik an die Patientenverfügung zu formulieren oder sich auf das Ethos der Fürsorge zu berufen.

3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß Die vorausgegangenen Kapitel der Analyse zu Ulrich Eibach haben an diversen Stellen den Hinweis gegeben, dass er in seinem Denken und seinen Argumentationen letztlich wichtige Komponenten des Menschseins vernachlässigt: das Selbst-Sein und die (relationale) Autonomie. Gleichwohl sind theologische Positionen auffindbar, für welche jene Aspekte eminent wichtig erscheinen. Hartmut Kreß etwa kann zur exemplarischen Beleuchtung einer Betonung des Subjekts herangezogen werden. Auf welche Weise er (theologisch) das Menschsein konstruiert und argumentierend konkretisiert, wird nun den Fokus justieren – auch als gewisse Gegenüberstellung zu Ulrich Eibach. 3.1 Hinführung zu Hartmut Kreß: Der Weg zur Subjektzentrierung Hartmut Kreß (*1954) ist im Bereich der Medizin- und Sozialethik anerkannter Experte. Als Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät Kiel und anschließend an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn richtet er seinen Forschungsschwerpunkt auf die Ethik aus. Im Fokus stehen im Speziellen die Grundlagen der Ethik in Form der neuzeitlichen Ethikgeschichte, Theorien der Verantwortungsethik oder hinsichtlich der Wertedebatte sowie (bio-)medizinische Ethik, Rechts- und Sozialethik.283 Etliche Mitgliedschaften und seine Mitarbeit in verschiedenen Kommissionen, Kammern oder Beiräten geben einen Hinweis darauf, dass Hartmut Kreß zu einem der führenden theologischen Ethiker in aktuellen Debatten gezählt werden kann. Beispielhaft genannt sei sein Sitz in der Akademie für Ethik in der Medizin, der Zentralen EthikKommission für Stammzellforschung am Robert Koch-Institut Berlin, der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, der Bundesärztekammer, der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin oder sein Vorsitz auf evangelischer Seite bei der Arbeitsgruppe 283

Vgl. http://www.sozialethik.uni-bonn.de/kress, Stand: 26.10.2013.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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der Evangelischen Kirche in Deutschland und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz zur Stammzellforschung im Jahre 2001.284 Es zeigt sich, dass die (theologische) Position von Hartmut Kreß eine entscheidende für den öffentlichen ethischen Diskurs ist und er als Theologe in den Gremien und Kommissionen auch eine theologische Meinung repräsentiert. Dieser Hintergrund legt bereits nahe, dass Hartmut Kreß prägend die Debatte zur Patientenverfügung mitbestimmt hat und sich dabei mit anthropologischen Fragen zu Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung beschäftigt. Offensichtlich ist somit der Nutzen durch die Thematisierung seiner Positionen – im Besonderen der theologischen Argumentationsweise – für diese Arbeit. Gefragt wird, welche (theologische) Konzeption nach Kreß Tragfläche für die Konkretionen zur (bio-)medizinischen Ethik bieten und welche Grundlegungen und Konsequenzen sich besonders für die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht abzeichnen, wobei sich, und dies sei schon vorweggenommen, die Ausführungen Kreß´ vorrangig auf die Patientenverfügung beschränken. Methodisch ist – analog zum vorausgehenden modus procedendi – auch Kreß´ Vorgehensweise anhand seiner in diesen Zusammenhang einzuordnenden Schriften deskribierend zu rezipieren, welche sodann im Anschluss eines Abschnitts kritisch zu diskutieren ist. Als notwendige Grundlage sind mitunter diverse spezifisch-thematische Exkurse einzubringen. 3.1.1 Grundlegung und Ansatzpunkt einer Verantwortungsethik im Kontext relational-dialogischer Konzepte im Frühwerk Kreß wählt in seiner Dissertationsschrift285 von 1985 eine Ausrichtung auf das dialogische Denken, wie es bereits der Titel Religiöse Ethik und dialogisches Denken nahelegt. Die Werke der (Religions-)Philosophen Martin Buber und Georg Simmel werden in Gegenüberstellung untersucht und dienen als Referenzrahmen. Neben dem Aspekt der dialogischen Begegnung286 tritt der Begriff der Relationalität zutage, der auch für Simmel Zentralität einnimmt sowie als Vorbereitung des dialogischen Gottesverständnisses bei Buber eingesetzt wird:287 „Mensch 284

Vgl. http://www.sozialethik.uni-bonn.de/kress, Stand: 26.10.2013. Vgl. Kreß, Religiöse Ethik. 286 Vgl. besonders Buber, Ich und Du, in dem etwa das dialogische Prinzip entwickelt wird. 287 Vgl. Kreß, Religiöse Ethik, 23; 37f.; 55; 81. 285

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

und Gott können nur als in Beziehung zueinander stehend gedacht werden“288 . Zugleich – und das besonders in der Darlegung der Philosophie Simmels – steht die Betrachtung des Menschen im Zentrum, welcher als „individuelles Gesetz“289 verstanden wird. Kreß nimmt den Grundgedanken Simmels auf, der das menschliche Leben in Relationen bzw. Wechselwirkungen mit anderen Menschen (und auch mit Gott) zwischen selbstständigen Personen wahrnimmt. Diese Relation beinhaltet Wechselwirkung und Eigenständigkeit.290 Die spätere Entwicklung fokussiert ferner die Subjekthaftigkeit des Menschen als handelndes Subjekt, „dem die Verantwortung für sein Leben und seine Lebensführung zukommt.“291 Obgleich ein dialogisches Verständnis des Menschen durch die Positionen Simmels und Bubers im Fokus liegt, wird besonders mit Simmel das „menschliche Leben als ein ‚individuelles Gesetz‘“292 verstanden. Von einer Vereinheitlichung des Menschseins oder einer Missachtung der Individualität wird sich gezielt abgegrenzt, was zugleich hervorgebrachter Kritik an Kant293 entspricht. Kreß beschreibt das Vorgehen Simmels in Anlehnung an Friedrich D. E. Schleiermacher als Kontrastierung zu Kant und der Prägung des 18. Jahrhunderts, in dem zwar der Gedanke der Freiheit des Individuums Betonung fand, gleichwohl Individualität und Eigenart eines jeden Menschen übersehen wurden. Kritisiert wird im Speziellen etwa die Überindividualität bei Kant mit seinem kategorischen Imperativ und seiner daraus folgenden apriorischen Gleichheit vor dem Gesetz, die zudem Kants Ethik beherrscht.294 „Dieser bereits bei Schleiermacher zutage tretende Gesichtspunkt eines ‚qualitativen Individualismus‘, die Frage nach dem indi288

Kreß, Religiöse Ethik, 23. Kreß, Religiöse Ethik, 87ff. 290 Vgl. Kreß, Religiöse Ethik, 37f. 291 Kreß, Religiöse Ethik, 262. 292 Kreß, Religiöse Ethik, 87. 293 Ein kurzer Hinweis sei bereits an dieser Stelle zu Kreß´ späterem Verhältnis zu den Positionen Kants gegeben. Wenngleich in seiner Dissertationsschrift die an Kant gerichtete Kritik der Vereinheitlichung des Menschseins angeführt wird, so gebraucht Kreß seine Kant-Rezeption im weiteren Verlauf vermehrt dazu, die Würde des Menschen als Vernunftwesen zu begründen und eine Stärkung des Subjekts und seiner Autonomie zu unterstreichen. Nahe liegt, dass die hier erwähnten Kritikpunkte an Kant in Nachfolge Simmels sowie das Kantische Verhältnis von Mensch und Mitmensch weniger im Fokus stehen, sondern primär die Subjektstärkung das Ziel der Kant-Rezeption darstellt. Anzufragen ist folglich, ob so bereits ein Hinweis darauf gegeben ist, dass diese Darstellung eine Verkürzung beinhaltet. 294 Vgl. Kreß, Religiöse Ethik, 83f.; 87f. 289

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viduellen menschlichen Leben als einer ethischen Aufgabe, gewinnt bei Simmel nicht nur in der Form einer historischen Rückschau auf Schleiermacher, sondern vor allem als Grundlage und Prinzip seiner eigenen Ethik Bedeutung.“295

An diesem Aspekt kann angedeutet werden, dass Kreß mit Simmel die besondere Betonung des qualitativen Individualismus296 , also der Subjekthaftigkeit – auch in einem dialogischen Konzept – hervorgehoben wissen will, da hier Argumente angeführt werden, die gleichwohl auf die Vernachlässigung jenes individuellen Aspekts des Menschseins hindeuten. Kreß scheint sich dem – wie im Folgenden weiter herausgearbeitet werden wird – anzuschließen und verbleibt bei der Stärkung des Subjekts. Er beschreibt in Anlehnung an Simmel: „Mit seiner Zuordnung von Individualität und Objektivität sucht Simmel einerseits einem bloßen Dezisionismus des Subjekts sowie andererseits der Heteronomie einer dem Individuum fremden, starren materialen Ethik zu wehren.“297

Es liegt folglich die Vermutung nahe, dass Kreß in seinen Studien darauf bedacht ist, die Subjekthaftigkeit des Menschen hochzuschätzen, um diese Kritik an bestehende (dialogisch-relationale) Konzepte zu umgehen. Gleichwohl erkennt der frühe Kreß einen Wert in dialogischen Konzeptionen. So kommt er beispielsweise entgegen der an Buber gerichteten Kritik, nur das Bezugsverhältnis von Personen werde zum Subjekt, wodurch das Individuum und ihr Subjektsein außer Acht gelassen würden, zu dem Ergebnis, dass in Bubers Konzeption Individualität sehr wohl gewahrt wird.298 Demnach beschreibt Kreß hier: „Auf diese Weise zeigt sich, daß ein relationaler Denkansatz – zugespitzt: die Reflexion der Ich-Du-Beziehung – keineswegs dazu führen muß, den Aspekt des Eigenwertes der einzelnen Person zu vernachlässigen.“299 Sogar noch an späterer Stelle tritt eine Hochschätzung der Relationalität mit Bubers Philosophie zutage, die nach Kreß ein ausgewogenes Personenverständnis hervorbringt: 295

Kreß, Religiöse Ethik, 88. „An die von ihm als ‚qualitativer Individualismus‘ bezeichnete Sicht Schleiermachers knüpft Simmel mit seiner eigenen Ethik der Individualität an, welche die produktive ethische Kraft des einzelnen [sic!] und das je individuelle Sollen anstelle von allgemeinen sittlichen Idealen und von außen an den Menschen herangetragenen Normen hervorhebt“ (Kreß, Religiöse Ethik, 242). 297 Kreß, Religiöse Ethik, 90. 298 Vgl. Kreß, Religiöse Ethik, 187f. 299 Kreß, Religiöse Ethik, 188f. 296

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

„Bubers Anthropologie sieht die menschliche Existenz grundsätzlich in zwei Relationen eingestellt: in die Ich-Du-Beziehung sowie in das Ich-Es-Verhältnis. Insgesamt herrschen im menschlichen Leben die Es-Bezüge vor, insofern die ‚Dinge‘ und die sachbedingten Strukturen der Alltagswelt das Menschsein prägen. Die ‚Eswelt‘ mit ihren sachlich-funktionalen Implikationen bestimmt das Alltagsverhalten des Menschen. Das Eingebundensein in diese Welt des ‚Es‘ nötigt das Ich zu einem instrumentellen Umgang mit den Sachzwängen und Begebenheiten des Lebens zu einem verobjektivierenden, vergegenständlichenden Umgang auch mit den Mitmenschen. Doch ihre Erfüllung findet die menschliche Existenz in der vertieften, herausgehobenen Begegnung mit dem Mitmenschen als einem ‚Du‘: ‚Der Mensch ist um so personhafter, je stärker in der menschlichen Zwiefalt seines Ich das des Grundworts Ich-Du ist‘“300 .

In der Reflexion von Kreß´ Vorgehen zeigt sich deutlich, dass der frühe Kreß einen Wert in relationalen Konzeptionen der Anthropologie erkennt, wohl aber die an diese Ansätze gerichtete Kritik der Missachtung des Subjekts wahrnimmt und dieser wiederum besonders mit Simmels Ethik der Individualität begegnet.301 Im Vorausgriff auf die folgenden Darlegungen zu Kreß wird deutlich werden, dass die Betonung des Subjekts im Fokus bleiben und starkgemacht wird. Der dialogischrelationale Grundansatz findet nahezu keinen weiteren fundierten Bezugspunkt in seiner Theologie, was eine Akzentverschiebung in Kreß´ Denken aufzeigt. Zu bedenken bleibt im Folgenden, ob Kreß hier seinen ursprünglichen Grundansatz auf die Subjektkonzentration vereinseitigt und somit wiederum in der Gefahr steht, eine ebenso wichtige und genuine Komponente des Menschseins zu vernachlässigen: seine Beziehungshaftigkeit. Die Ausrichtung auf den Menschen als Subjekt prägt also die weiteren Darstellungen Kreß´ und wird in seiner Dissertation unter besonderem Bezug zu philosophischen Konzeptionen bereits vorbereitet: „Die Handlungssituation und der Mitmensch als Gegenüber gewinnen Bedeutung für den Handelnden selbst, für die Reflexion seiner ethischen Einstellungen und seiner zukünftigen Entscheidungen.“302 Die Perspektive hat folglich ihren Ursprung im entscheidenden Subjekt, nimmt aber zudem den Mitmenschen in den Blick. Hartmut Kreß legt in seinen Frühwerken „auf ein dialogorientiertes, verantwortungsethisch-normatives Verständnis heutiger theologischer 300

Kreß, Theologische Ethik, 76. Vgl. Kreß, Religiöse Ethik, 242. 302 Kreß, Religiöse Ethik, 263. 301

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Ethik Gewicht“303 . Zu fragen ist einerseits im weiteren Verlauf nach der normativen Stellung des Menschen als dialogorientiertes und relationales Wesen, andererseits nach der Rolle, die eine theologische Argumentation in Kreß´ Darstellungen einnimmt. Zu Zweitgenanntem stellt er fest: „Die Leitlinien und die normativen Urteile evangelischer Ethik ruhen auf vorethischen, nämlich theologischen Grundgedanken auf. Diese sind in den Grundaussagen und -überzeugungen des Christentums gegeben, vor allem in der Rechtfertigungslehre, der Gotteslehre und der theologischen Anthropologie. Zugleich ist die evangelisch-theologische Ethik aber auch in ihren geistigen Beziehungen zur außerprotestantischen Ethik wahrzunehmen.“304

Deutlich wird, dass die Ethik einerseits theologisch fundiert ist und sich zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Dogmatik und Ethik305 stellt. Neben den von Kreß genannten theologischen Bezugspunkten können außertheologische Beziehungen, etwa auch gesellschaftliche Entwicklungen, ihre Wirkungsgeschichte sowie lebensweltliche Bezugnahmen als Einflussfaktoren auf die Ethik und ihre normativen Urteile gewichtet werden. Im Fokus steht dabei auch die Profilierung der evangelischen Ethik sowie ihre Kommunikations- und Dialogfähigkeit mit anderen pluralistischen Denkansätzen.306 Ziel scheint es so zu sein, eine möglichst allgemein nachvollziehbare und zugängliche Ethik zu formulieren. Es zeigt sich, dass Kreß vorherrschende Einflussfaktoren auf die theologische Ethik wahrnimmt. Darunter fällt nicht nur die ihr zugrunde liegende Dogmatik, sondern zugleich die ihr gegenüberstehenden pluralistischen Denkformen. Da Kreß hier einen Einfluss, gar eine Beziehung zur theologischen Ethik wahrnimmt, liegt ihm daran diese mit ins Gespräch zu bringen, um so jene pluralen Zugänge zu gewähren. Sein Vorgehen lässt die Frage aufwerfen, ob eine eigene Profilierung (evangelisch-)theologischer Ethik sogleich relativiert wird. Das Problem liegt nahe, dass genuin theologische Denkansätze gerade ihr Profil durch eine Integration außertheologischer Ansätze verlieren, ins303

Kreß, Theologische Ethik, 9. Kreß, Theologische Ethik, 10. 305 Wohl wissend, dass diese Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik zentral für das Verständnis notwendiger Argumentationsstrukturen ist, muss sich im Rahmen der Arbeit auf die Skizzierung einiger Grundlinien diesbezüglich beschränkt werden. Für eine intensivere Auseinandersetzung vgl. etwa Lienemann, Grundinformation, 68ff.; Fischer, Grundkurs Ethik, 318ff.; Kreck, Grundfragen, 15ff. 306 Vgl. Kreß, Theologische Ethik, 10f. 304

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besondere dann, wenn sie auf diese Weise gerechtfertigt und argumentativ gestützt werden. Für die theologische Ethik muss gefragt werden, worin sodann ihr Eigenwert bestehen kann und ob generell ihre Denkrichtung und ihre Systematik missachtet werden. Denn der genuin theologischen Perspektive obliegt, dass die Verantwortung gegenüber Gott eine notwendige Größe innerhalb von Reflexionen darstellt. Auf diese Weise ist es der Theologie möglich, ihre spezifische Sicht in Diskurse einzutragen. Diese Anfragen verweisen auf die Verhältnisbestimmung christlicher Ethik und Dogmatik, wodurch gerade der genuine Gehalt der Theologie Begründung findet, indem er sich auf die Lebenswelt konkretisiert und dort praktische Implikationen zieht. Der nachfolgende Einschub soll diese Größen genauer betrachten. 3.1.1.1 Einschub: Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik Wenngleich keine allgemein anerkannte Verhältnisbestimmung beider Disziplinen beschrieben ist, gründet ihre Komplementarität auf der Erkenntnis, „dass Glaubenserkenntnis und Glaubensgehorsam sich nicht trennen lassen.“307 Inwiefern eine reziproke Beziehung von Dogmatik und Ethik beschrieben werden kann, ohne wiederum eine gegenseitige Gleichsetzung anzustreben, ist im Rückgriff auf Karl Barth anzuführen. Er gibt den Hinweis, dass christliche Ethik mit einem Hören beginnt, dem Hören auf das Wort Gottes.308 So expliziert sich der genuine Standpunkt christlicher Ethik auf folgende Weise: „Wer christliche Ethik verstehen will, wird sich nicht weigern dürfen, sich wenigstens hypothetisch an den wunderlichen Ort zu begeben, von dem aus sie denkt und redet, an dem der Mensch immer zuerst zu hören, auf Gottes Wort zu hören, und dann erst zu denken und zu reden hat. Christliche Ethik bezieht sich auf eine zwischen Gott und dem Menschen geschehene und noch geschehende und in Zukunft geschehen werdende Geschichte, und zwar im besonderen [sic!] auf den aktiven Anteil des Menschen an dieser Geschichte.“309

Verdeutlicht wird der spezifische Blickwinkel und Bezugspunkt der christlichen Ethik, der in seinen eigenen Zusammenhang einzuordnen ist: „Das christliche Werk als die Frucht des christlichen Glaubens, das christliche Gesetz als die Gestalt des christlichen Evangeliums, 307

Lienemann, Grundinformation, 68. Vgl. Barth, Christliche Ethik, 6. 309 Barth, Christliche Ethik, 6f. 308

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die christliche Ethik als den Imperativ des Indikativs der christlichen Dogmatik.“310 Konkretisieren lässt sich dieses Verhältnis im Rückgriff auf Barths Kirchliche Dogmatik, in der er ebenfalls die Verbindung der Disziplinen Dogmatik und Ethik beschreibt. Es geht „nicht nur in diesem und jenem Teilgebiet der christlichen Lehre, sondern in der ganzen Dogmatik durchweg auch um Ethik, d. h. um das Sein und Handeln des Menschen“311 . Dieses enge Verhältnis beeinflusst die Argumentationsund Darstellungsweise ethischer Diskussion, die demnach auf die Dogmatik und die wissenschaftliche Prüfung der Rede von Gott zurückgreift: „Ist es einmal grundsätzlich eingesehen, daß die Dogmatik selbst Ethik sein muß und daß die Ethik nur Dogmatik sein kann, dann ist nicht recht einzusehen, warum nun nicht auch äußerlich dieser Einsicht entsprechend vorgegangen werden soll.“312

Wird nun das Hören auf das Wort Gottes zugrunde gelegt, so fordert ein weiterer Aspekt Betonung. In Jesus Christus, dem einen Wort Gottes, eröffnet sich ein gangbarer Weg christlicher Ethik, den hingegen Kreß in seiner obigen Aussage nicht pointiert. Die Frage stellt sich, ob eine Vernachlässigung des Evangeliums, die gar in eine Verkürzung der christlichen Botschaft übergehen kann, vorliegt. Karl Barth betont den christologischen Ansatz und begründet: „Die Ethik als Lehre von Gottes Gebot erklärt das Gesetz als die Gestalt des Evangeliums, d. h. als die dem Menschen durch den ihn erwählenden Gott widerfahrende Heiligung. Sie ist darum in der Erkenntnis Jesu Christi begründet, weil dieser der heilige Gott und der geheiligte Mensch in Einem ist. Sie gehört darum zur Lehre von Gott, weil der den Menschen für sich in Anspruch nehmende Gott eben damit in ursprünglicher Weise sich selbst für diesen verantwortlich macht. Ihre Funktion besteht in der grundlegenden Bezeugung der Gnade Gottes, sofern diese des Menschen heilsame Bindung und Verpflichtung ist.“313

Als Anfrage kann also im Anschluss an Kreß´ Erläuterung theologischer Leitlinien für evangelische Ethik formuliert werden, ob nicht gerade speziell die Christologie, auch im Zusammenhang der Gotteslehre, herausgestellt werden müsste. 310

Barth, Christliche Ethik, 15. KD I/2, 877. 312 KD I/2, 890. 313 KD II/2, 564 (Fettdruck im Original). 311

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„Denn wie Gott nicht erkannt wird und nicht erkennbar ist außer in Jesus Christus, so existiert er auch in seinem göttlichen Sein und in seinen göttlichen Vollkommenheiten nicht ohne Jesus Christus, in welchem er wie wahrer Gott so auch wahrer Mensch ist und also nicht ohne den in diesem Namen beschlossenen und vollzogenen Bund mit dem Menschen.“314

Für eine abschließende Bündelung der gegenseitigen Angewiesenheit von Dogmatik und Ethik sei auf Wolfgang Lienemann verwiesen, der auf folgende Weise zusammenfasst: „Eine allgemein anerkannte und verbindliche Zuordnung von Ethik und Dogmatik hat es in der Geschichte der Kirchen nie gegeben. Beide Disziplinen sind aufeinander angewiesen und ergänzen sich im Blick auf die Aufgaben der systematischen Rechenschaft über den christlichen Glauben und der entsprechenden Lebensführung. Dazu gehört die Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung der Lebenswirklichkeit angesichts umstrittener Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnisse, zu deren Aufklärung die Systematische Theologie den Wahrheitsgehalt des christlichen Glaubens expliziert. Die Komplementarität von Dogmatik und Ethik beruht darauf, dass Glaubenserkenntnis und Glaubensgehorsam sich nicht trennen lassen. Die Arbeitsteilung, fachliche Differenzierung und Integration beider Disziplinen ergeben sich aus unterschiedlichen internen und externen Anforderungen.“315

Eine Verbindung von Dogmatik und Ethik lässt sich also – wohl wissend, dass diese Aussage, insbesondere ihre christologische Ausrichtung, keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann – begründet darlegen. Ihre Komplementarität zeigt sich in besonderer Weise im Bereich theologischer Anthropologie, deren Grundzüge und Auswirkungen in beide Disziplinen einzuordnen sind.316 Nun wieder auf die Argumentation Kreß´ zurückkommend bleibt fraglich, ob die theologischen Grundgedanken für sich keiner tiefgehenden Auslegung bedürfen und ob hier womöglich eine Eindeutigkeit vermittelt oder gar vorausgesetzt wird, die durchaus bezweifelt werden kann. Als eine oben angesprochene außerprotestantische Bezugsgröße, die, wie im Folgenden weiter deutlich werden wird, im Begründungshorizont wichtige Grundlage einnimmt, bezieht sich Kreß an vielen Stellen 314

KD II/2, 564. Lienemann, Grundinformation, 68f. 316 Vgl. Lienemann, Grundinformation, 74f. 315

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auf die Philosophie Immanuel Kants317 . Kant erhob, so Kreß, „die Vernunft und Freiheit des Menschen zum Ausgangspunkt der Philosophie, also auch der Ethik“318 und wandte sich von der alten Metaphysik und den klassischen Gottesbeweisen ab. Die „Teilhabe des menschlichen Subjekts an der universalen Vernunft“319 kennzeichnet die philosophischen Grundzüge Kants. Konsequenz ist, die Ethik auf die Gesinnung des Menschen zu stützen sowie sich für die Stärkung des Autonomiegedankens einzusetzen und zugleich eine Gebots- oder Verbotsmoral abzuwehren.320 Ferner zeigt Kreß Nähe zum Autonomie-Begriff Kants, welcher in Analogie zu dem der Aufklärung steht, „der den Menschen auf seine eigene Vernunft behaftet“321 . Kant, so Kreß, hatte „mit dem Autonomiegedanken das Anliegen eines ethischen, humanen Vernunftverständnisses verbunden“322 . Dieses Autonomieverständnis sieht Kreß durch die theologische Grundsatzkritik am neuzeitlichen Vernunft- und Autonomie-Begriff missachtet. „Statt dessen interpretierten evangelische Theologen die ‚Autonomie‘ als Symbol des ‚modernen‘ Menschen, der sein eigenes Sündersein und die destruktiven Seiten des Menschseins hybrid verkenne: ‚Der moderne Mensch ist . . . in erster Linie der emanzipierte, der sich seiner Autonomie bewußte und auf sie stolze Mensch‘; er rücke den Glauben an die autonome Vernunft an die Stelle Gottes“323 .

Kreß nimmt hier wahr, dass – wie er recht pauschal formuliert – evangelische Theologen i. A. der Vorstellung eines autonomen Menschen gegenüber negativ eingestellt sind und Autonomie als Hybris des Menschen interpretieren. Er reagiert folglich auf die in seinen Augen dominierende Geringschätzung der Autonomie des Menschen – insbesondere im theologischen Umfeld. Um hingegen die Wertschätzung dieses Konzepts unterstreichen zu können, orientiert er sich besonders an philosophischen Exempeln und rezipiert beispielsweise Immanuel Kant, der Kreß gemäß für eine Hochschätzung der Autonomie eintritt. Im 317

Der Umfang dieser Arbeit erlaubt es nicht, die Erkenntnisse der Philosophien von Kant, wie auch oben von Buber und Simmel, in ausreichender Weise darzulegen. Es muss sich auf einige Grundlinien, die in der Argumentationsdarlegung benannt, beschränkt werden. 318 Kreß, Theologische Ethik, 32. 319 Kreß, Theologische Ethik, 32. 320 Vgl. Kreß, Theologische Ethik, 32f. 321 Kreß, Theologische Ethik, 53. 322 Kreß, Theologische Ethik, 53. 323 Kreß, Theologische Ethik, 53f.

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Folgenden wird zu klären sein, ob Kreß sein Vorhaben der Stärkung der Autonomie als oberstes Ziel bewertet, daraufhin auch beispielsweise die Philosophie Kants instrumentalisiert und sie insofern noch in ihrer vollen Tiefe beachtet. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt kann die Fragestellung, die im weiteren Verlauf an Wichtigkeit behalten wird, hervorgebracht werden, ob sich Kreß in großem Maße an philosophischen Anschauungen orientiert, um einem von ihm wahrgenommenem Defizit in theologischen Auffassungen zu begegnen und somit sein Ziel der Stärkung des Autonomiegedankens zu legitimieren. Problematisch erscheint daran, ob und wie er philosophische Gedankengänge in seine Theologie inkludiert. Demzufolge ist die Rolle der Theologie in den Darstellungen Kreß´ grundsätzlich anzufragen. Hierbei muss bedacht werden, welchen Wert sie besitzt, ob sie etwa eine genuine Argumentation hervorbringen kann und auf welche Weise Philosophie und Theologie korrespondieren. Einerseits besteht die Gefahr, dass die Rolle der Theologie infolge der argumentativen Konzentration auf die Philosophie abgewertet wird. Andererseits muss weiterhin im Zentrum der Reflexion stehen, ob der starke Fokus auf die Hervorhebung der Autonomie des Menschen bereits zu Vereinseitigungen in der Aufarbeitung führen kann. Wie nun schon betont wurde, erhält die Kantische Philosophie einen hohen Stellenwert bei Kreß. Unvermeidbar erscheint also ein tieferer Fokus auf das Verständnis seiner Philosophie, die in einigen für die Arbeit thematisch wichtigen Grundlinien beschränkt bleiben muss, um so schließlich Rückfragen an die Kreßsche Position begründet stellen zu können. 3.1.1.2 Exkurs: Immanuel Kant Es stellt sich unterdessen als klärungsbedürftig heraus, ob Kreß´ Rezeption die Aussagen Kants angemessen erfasst. Um diesbezüglich eine Einschätzung abgeben zu können, soll innerhalb dieses Exkurses eine knappe Darlegung wichtiger Instanzen der Philosophie Immanuel Kants erfolgen. Ausgangspunkt von Kants Denken ist, dass er die vorherrschenden Strömungen der (dogmatischen) Rationalisten, die eine rational-logische Verbindung aller Dinge in der Welt vertraten, und der Empiristen, die gesetzkritisch die Welt auf Erfahrungen und Gewohnheiten basierend erklärten, infrage stellt und sich selbst mit der menschlichen Vernunft auseinandersetzt. Hierbei setzt Kant stets eine Kritik der objektiven Wahrheit voraus und ordnet die mögliche Erkenntnis als rein subjek-

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tive Erkenntnis ein (kopernikanische Wende).324 Über die Frage, ob etwas tatsächlich existiert, kann Kant keine allgemeingültige Aussage treffen, da alle Aussagemöglichkeit nur auf der persönlichen Wahrnehmung basiert. Die Wahrheit ist also nicht universal vorauszusetzen, sondern beschreibt (nur) eine Aussage der eigenen Wahrnehmung. Insofern ist es ein wichtiges Standbein des Denkens Kants, eine Relativierung der eigenen Erkenntnisse vorzunehmen. Folglich ist es der menschlichen Vernunft nicht möglich, Aussagen über objektive Dinge zu treffen. Der Verstand ist klaren Begrenzungen unterlegen: den Grenzen der Wahrnehmung sowie des eigenen Erfahrungswissens.325 Möglichkeiten der Untersuchung von Gegenständen oder Zusammenhängen erfolgen mit der menschlichen Vernunft, immer verortet im Ich, im menschlichen Selbstbewusstsein, und an das Subjekt gebunden. Das Ich ist also zentral und wird hochgeschätzt, gleichwohl aber relativiert durch die Unmöglichkeit einer objektiven Erkenntnis. Das denkende Ich ist konstitutiv in der Welt und dazu fähig durch die eigene Logik Schlüsse zu ziehen und so zu subjektiver Erkenntnis zu gelangen. Da die Grenzen der eigenen Vernunft zuweilen außerhalb der persönlichen Vernunft und an den Grenzen der Wahrnehmungsmöglichkeit liegen, können darüber hinaus nur Postulate angestellt, nicht jedoch universale Gesetzmäßigkeiten oder eine Determiniertheit erkannt werden.326 An diesen Aspekt wiederum bindet Kant die Freiheit des Menschen. Sie gründet sich darauf, dass keine Aussage über die Determiniertheit der Welt und des Seins möglich ist und somit der Mensch zum eigenen Handeln frei ist.327 Die Begrenzung des Verstandes garantiert insofern die Freiheit. Kants Kritik der praktischen Vernunft beschreibt, dass die Willensbestimmung a priori nur erfolgen kann, wenn Freiheit wirklich ist, was sich gleichzeitig wieder der Erkenntnis der reinen Vernunft entzieht.328 Nicht minder tritt die Verbindung zum kategorischen Imperativ zutage, welcher das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft darstellt und das sittlich Gute beschreibt. Kant formuliert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“329 Die Verbindung des kategorischen Imperativs mit der Freiheit kann daher auf folgende Weise beschrie324

Vgl. Böckerstette, Aporien der Freiheit, 207ff.; Malter, Art. Kant, 572. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 38f.; Malter, Art. Kant, 573. 326 Vgl. Malter, Art. Kant, 574f.; Kant, Kritik der reinen Vernunft. 327 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 34f.; Malter, Art. Kant, 576. 328 Vgl. Malter, Art. Kant, 576; Kant, Kritik der praktischen Vernunft. 329 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 36. 325

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ben werden: „Die Faktizität dieses Grundgesetzes verbürgt die Wirklichkeit der Freiheit“330 . Eine freie Handlung des Menschen setzt also die Orientierung am kategorischen Imperativ voraus. Die Vernunft gibt sich selbst dieses Grundgesetz und ist eben darin praktisch. Zugleich werden die Autonomie der reinen praktischen Vernunft und somit die Freiheit beschrieben. Freiheit und Autonomie erweisen also ihre Wirklichkeit am Sittengesetz.331 Explizit besagt dies, dass nur derjenige autonom und frei handelt, der sich am sittlich Guten, am kategorischen Imperativ, orientiert und nur so sein Handeln vernunftgemäß ist. Eine autonome Handlung erscheint nachdrücklich nicht isoliert ichzentriert, sondern wird stets an eine allgemeine Gesetzgebung angebunden. Eine moralische Handlung zeigt sich wiederum darin, etwas als Pflicht zu erachten, und dem Moralgesetz hierin Folge zu leisten. Kant gemäß erfolgt eine Handlung in Freiheit, wenn wir dem moralischen Gesetz folgen. Diese Freiheit zu haben zeichnet den Menschen aus.332 Freiheit nach Kant beschreibt also ein positives Vermögen, etwas tun zu können. Von einer Handlungsfreiheit spricht er nachdrücklich keineswegs. Er tangiert somit die Frage nach der Freiheit des Menschen eo ipso nicht, sondern ausschließlich nach der Freiheit des Menschen zum Handeln. Dies wiederum kennzeichnet den programmatischen Ansatzpunkt der Aufklärung Kants: den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.333 Dies setzt zugleich eine Vernunftgemäßheit des Handelns voraus, also den Gebrauch der eigenen Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung. Der Mensch ist nun gerade das Wesen, welches Verstand, Vernunft sowie Selbstbewusstsein besitzt. Dies wiederum fordert zum Handeln gemäß dem sog. Sittengesetz auf, etwa auch wider eigene Triebe, Bedürfnisse oder Wünsche.334 Dieses Sittengesetz zu befolgen und Gehorsam ihm gegenüber zu erweisen ist unbedingte Pflicht. Zugleich liegt in diesem dem Sittengesetz entgegengebrachten Gehorsam die Würde des Menschen und garantiert wiederum seine Freiheit. Denn ohne jene Sittlichkeit und die Last ihrer inhärierenden Verantwortung wäre der Mensch unfrei und gleichzusetzen mit Tieren. Der Mensch zeigt folglich aus einer deontologischen Verpflichtung heraus Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz, was zugleich seine Würde begründet sowie die Freiheit garantiert. Eine Verbindung, Verpflichtung und Verantwortung dem Mitmenschen gegenüber ist nun 330

Malter, Art. Kant, 576. Vgl. Prauss, Kant, 10; Malter, Art. Kant, 576. 332 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 212ff.; Prauss, Kant, 12; Malter, Art. Kant, 576f. 333 Vgl. Kant, Beantwortung der Frage, 481. 334 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 84ff. 331

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ersichtlich, was im Kantischen kategorischen Imperativ Verdeutlichung findet. Kant verfolgt so das Ziel, die Selbstständigkeit der Persönlichkeit und Selbstverantwortung zu betonen, ohne wiederum den Blick auf die Mitmenschen zu verlieren. Folglich unterscheidet sich die Kantische Autonomie deutlich von subjektiver Willkür und Autarkie.335 Subjektivität und Personalität, aber auch der Gebrauch der eigenen Freiheit sind somit entscheidend. Für Kant aber bleibt dies stets in Bezug auf den kategorischen Imperativ. Frei zu handeln heißt demnach, nach vernünftigen Maßstäben zu handeln und das Richtige zu tun. Die Anbindung dessen an den Kantischen kategorischen Imperativ nimmt alsdann unweigerlich das menschliche Gegenüber mit in den Blick, weil eine Handlung nur frei und vernünftig sein kann, wenn die Handlungsfreiheit des Gegenübers nicht eingeschränkt wird. Der Gehorsam dem Sittengesetz gegenüber, sich sogar Pflichten aufzuerlegen sowie die allgemeine Verantwortung hochzuschätzen und wahrzunehmen, zeichnet den Menschen aus und ist Basis und Grund seiner Freiheit und Würde. Im Verweis auf Kreß kann vor diesem Hintergrund die Frage gestellt werden, ob die von Kreß vorgenommene Verortung der Stärkung der Autonomie in der Philosophie Kants die volle Aussageabsicht trifft. Womöglich verkennt Kreß den wichtigen Pfeiler des kategorischen Imperativs und daraufhin die Beziehungsebene zum Mitmenschen, welche, wie soeben deutlich werden konnte, Kant stets fokussiert. Kreß scheint in seinen Darstellungen eher auf die Unabhängigkeit von Pflichten und allgemeinen Gesetzlichkeiten ausgerichtet zu sein und fordert so eine ichzentrierte Handlungsfreiheit. Nun ist in Bezug auf Kant festzustellen, dass er diesen Akzent der Autonomie durch seine starke Anbindung an das Sittengesetz und die Verantwortlichkeit des Menschen verwehrt und ein solches Verständnis von Autonomie als subjektive Willkür nicht zielführend ist. Die Auferlegung eigener Pflichten336 ist fernerhin, wie bereits expliziert wurde, nach Kant hoch einzuschätzen. Vermutet werden kann allerdings, dass jene Ebenen bei Kreß weniger bedeutsam erscheinen. Auf diesen Gedanken der Pflicht soll nun genauer eingegangen werden. Herausgestellt wurde, dass dem Pflichtgedanken Kant gemäß eine hohe Würdigung zuteilwird. So inhäriert dem Sittengesetz eine derartige Erhabenheit, dass es gar dazu veranlasst, auch gegen die eigenen Neigungen zu handeln. Die moralische Nötigung überwiegt deutlich. Ne335

Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 212ff.; 261ff.; 321; Böckerstette, Aporien der Freiheit, 306; Malter, Art. Kant, 576. Vgl. darüber hinaus Kant, Grundlegung. 336 Vgl. etwa auch Kant, Grundlegung, 14ff.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

ben den Pflichten, die aufgrund dessen gegenüber anderen Menschen337 entstehen, existieren ebenso auch Pflichten gegen sich selbst, was sich etwa in der Pflicht zur Selbsterhaltung zeigt. Somit entspricht es dem Kantischen Verständnis, Selbsttötung338 als Verbrechen einzustufen, da die Pflicht zur Selbsterhaltung Unbedingtheit beansprucht.339 Kant beschreibt in jenem Kontext gar: „Pflicht ist Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“340 Bereits an dieser Stelle lässt sich ein signifikanter Unterschied zu Hartmut Kreß benennen, der die Selbsttötung im klaren Gegensatz zu Kant als nahezu rein persönliche Entscheidung bewerten würde, was seine offene Einstellung zur Sterbehilfe und dem assistierten Suizid bezeugt.341 Ein weiterer Akzent ist nun nochmals gezielt auf die Kantische Bestimmung von Autonomie zu legen. Vorausgesetzt ist hierbei das Ausüben jeder Handlung aus Pflicht, nicht aus selbstsüchtigen Motiven heraus,342 da, wie soeben herausgestellt, die Pflicht als „Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“343 bezeichnet werden kann. Der Mensch existiert nun als Zweck an sich,344 insofern besitzt er (in Abgrenzung zur Preis-Bestimmung) eine Würde, was wiederum eine Verbindung zur Moralität zieht.345 „Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“346

Die Befähigung, sich den eigenen Maximen, die als allgemeine Gesetzgebung gelten können, zu unterwerfen, zeichnet den Menschen als vernünftiges Wesen aus. Diese eigene Gesetzgebung, die Autonomie, „ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“347 Kant wendet sich somit gegen eine Heteronomie, die die 337

Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 303ff. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 268f. 339 Vgl. Kant, Grundlegung, 14ff.; Kant, Metaphysik der Sitten, 245; 261ff.; 267ff. 340 Kant, Grundlegung, 18. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 244ff. 341 Vgl. dazu Kreß´ Argumente in den Kapiteln IV.3.2.2.3, IV.3.2.2.3.1 und IV.3.3. 342 Vgl. Kant, Grundlegung, 15. 343 Kant, Grundlegung, 18. 344 Vgl. Kant, Grundlegung, 50. 345 Vgl. Kant, Grundlegung, 58. 346 Kant, Grundlegung, 58. 347 Kant, Grundlegung, 60. 338

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Unabhängigkeit des Willens gefährdet und somit nicht selbstgesetzgebend, im Sinne von sich dem eigenen Gesetz zu unterwerfen, agiert.348 „Autonomie bedeutet, daß der Mensch nicht nur nicht dem Zwang ihn manipulierender Interessen ausgeliefert ist, sondern seine Maximen so wählen und gestalten kann, daß sie mit dem Sittengesetz übereinstimmen [. . . ]. In dieser Unabhängigkeit und Freiheit, sich selbst zu bestimmen, ist die Würde des Menschen begründet“349 .

Hieraus ergibt sich, dass der Mensch aufgrund seiner Personalität und seiner Würde als Endzweck bezeichnet werden kann.350 Es zeigt sich also, dass Autonomie immer in der Verbindung zum kategorischen Imperativ zu denken ist, sie insofern dem sittlichen Gesetz unterliegt und keine reine Unabhängigkeit (von der Welt und den Mitmenschen) beschreibt. Autonomie bei Kant steht demnach in starker Verbindung zur Gesetzlichkeit: „Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.“351 Zudem ist darauf zu verweisen, dass in der Kantrezeption nicht selten hervorgehoben wird, dass Kant eine Gleichsetzung von Autonomie mit Würde hervorbringt, was in diesem Kontext kritisch reflektiert werden muss. Kant spricht, wie oben gezeigt, von der Autonomie als Grund der Würde, denn Freiheit (also dem moralischen Gesetz zu folgen), Verantwortung, Sittlichkeit und Menschenwürde sind stets miteinander verwoben zu denken. Würde beschreibt demnach eher eine Unabhängigkeit von fremder Willkür, nicht jedoch, was teils unterstellt wird, eine Autonomie im Sinne von Autarkie. Dies unterstreicht zugleich der kategorische Imperativ, wodurch weniger von einer Gleichsetzung von Autonomie und Würde zu sprechen ist, sondern eher eine Einordnung oder Relation den Begrifflichkeiten gerecht wird. Den Topos der Menschenwürde ordnet Kant also in einen starken Kontext des Bewusstseins des Sittlichen ein. Als Voraussetzung gilt stets die personale Freiheit: „Freiheit, Verantwortung, Sittlichkeit und Menschenwürde sind so ineinander verwoben, daß keiner der genannten Begriffe ohne Hinzunahme der anderen zureichend bestimmt werden kann.“352 Die Verantwortungsfähigkeit ist mit der Würde des Menschen untrennbar verknüpft.353 In 348

Vgl. Böckerstette, Aporien der Freiheit, 334. Böckerstette, Aporien der Freiheit, 334. 350 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 321; Böckerstette, Aporien der Freiheit, 340. 351 Kant, Grundlegung, 65. 352 Böckerstette, Aporien der Freiheit, 306f. 353 Vgl. Böckerstette, Aporien der Freiheit, 311. 349

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

diesem Sinne beschreibt Kant die Würde „als Unabhängigkeit sowohl von der nezessierenden Natur [. . . ] als auch von fremder Willkür“354 . „Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen ebenso zum Grunde liegt, als das Naturgesetz allen Erscheinungen.“355

Der kategorische Imperativ kann insofern sogar als Bereich der Freiheit beschrieben werden, denn der „imperativische Charakter der unbedingten Verpflichtetheit, wie sie im Modus der ‚sittlichen Einsicht‘ zutage tritt, kommt im kategorischen Imperativ als ‚Gesetz der Freiheit‘ zum Ausdruck.“356 Autonomie steht folglich in Verbindung mit der Freiheit des Willens in dem Sinne, sich selbst ein Gesetz zu sein und der Pflicht zu folgen. Ferner kann aus dem kategorischen Imperativ nach Kant das Menschenrecht der Freiheit abgeleitet werden, da Freiheit nicht erworben wird, sondern von Natur aus jedem Menschen zukommt, insofern als angeborenes Recht bezeichnet werden kann und ein Menschenrecht beschreibt.357 Kant schätzt, resümierend gesprochen, das denkende Ich als für die Welt konstitutives Subjekt hoch, nimmt zugleich eine Relativierung eigener Erkenntnis durch die Kritik an einer objektiven Wahrheit vor und verweist bewusst auf die Grenzen der Wahrnehmung. Die Begrenzung des Verstandes garantiert die menschliche Freiheit im Sinne einer Handlungsfreiheit. Das Grundgesetz, dem gemäß sich Autonomie und Freiheit realisieren, ist der kategorische Imperativ, der das sittlich Gute definiert. Indem der Mensch dem moralischen Gesetz folgt, sich seiner Verantwortung bewusst ist, sie übernimmt und sich eigene Pflichten – gar wider seinem eigenen Bestreben – auferlegt, zeichnet dies den Menschen aus und demonstriert seine Freiheit. Das Befolgen der deontologischen Verpflichtungen garantiert gar des Menschen Freiheit und Würde, was zugleich darauf verweist, die menschliche Autonomie nicht mit subjektiver Willkür zu verwechseln. Autonomie realisiert sich vielmehr darin, die eigenen Maximen mit dem Sittengesetz übereinstimmend zu wählen. Der starke Konnex zwischen Freiheit, Autonomie, Verantwortlichkeit und Würde ist stets in den Kontext des Bewusstseins des Sittlichen eingebunden. Eine solipsistische Autonomie lässt sich in 354

Böckerstette, Aporien der Freiheit, 323. Kant, Grundlegung, 79. 356 Böckerstette, Aporien der Freiheit, 330. 357 Vgl. Böckerstette, Aporien der Freiheit, 351. 355

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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der Rezeption Kants eher nicht auffinden, wohingegen eine gleichzeitige Hochschätzung von Individualität und Sozialität wahrnehmbar ist. Vor dem Hintergrund dieser Darlegungen zu Kant und in Verbindung mit den (getätigten und noch folgenden) Aussagen Kreß´ soll bereits an dieser Stelle ein knapper Seitenblick darauf gegeben werden, dass durch die Anbindung einer Argumentation an die Vernunft des Menschen schwerlich – sowohl im negativen, wie im positiven Sinne – theologische Aussagen implementiert werden können. Gott, so scheint es, entzieht sich der Position und ebenso der Negation durch die Vernunft. Zugleich muss dies keine Geringschätzung oder gar Missachtung der menschlichen Vernunft implizieren. Vielmehr soll herausgehoben werden, dass eine Argumentation mit der Vernunft von einer theologischen Beschreibung des Menschseins zu unterscheiden ist. In Bezug auf die Vernunft werden innerweltliche Eigenschaften des Menschen in den Blick genommen. Vor einer automatischen Übertragung auf die theologische Ebene oder einer Theologisierung der Vernunft ist somit zu warnen. Unter Zuhilfenahme Luthers lässt sich dies verdeutlichen: Dieser kann durchaus positive Aussagen über den Menschen als animal rationale hervorbringen. Zugleich ist aber deutlich zu machen: „Dies ist eine philosophische Definition des Menschen, mit der über jenes Besondere, wodurch er aus allen übrigen Kreaturen herausgehoben ist, so gut wie noch nichts gesagt ist. Dieses Besondere kann nur theologisch erfaßt werden.“358 Mit Kant gesprochen kann keine objektive Erkenntnis außerhalb des Ichs erworben werden. Gott zu erkennen (ebenso wie zu negieren) liegt außerhalb der Grenzen des eigenen Verstandes, der eigenen Wahrnehmung und des Erfahrungswissens. Theologisch ist hier wohl eher die Offenbarung Gottes selbst vorausgesetzt. Folglich setzen apriorische und theologische Argumentationen unterschiedliche Prämissen voraus. Vor einer vorschnellen Vermischung beider ist insofern zu warnen. Gleiches zeigt sich bei ethischen Implikationen, da auch sie teils außerhalb der eigenen Vernunft zu liegen scheinen. Auf dieses Fundament aufbauend wird im Folgenden mehrfach die Frage auftreten, wie Kreß die Grundlage Kants mit einer theologischen Verbindung (teils zu Martin Luther) versehen kann. Die jeweiligen Argumente werden daher an einigen Stellen angefragt. Nach diesem knappen Einschub zur Philosophie Immanuel Kants, der als wichtige Grundlegung und Einordnung zu zahlreichen Stellen der Rezeption Kants durch Kreß im Folgenden notwendig erscheint, soll nun im nächsten Kapitel wieder der Bogen zur Darlegung Kreß´ ge358

Joest, Martin Luther, 152f.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

spannt werden. Vor dem Hintergrund der bereits dargestellten Sachverhalte und Grundlagen einer durchaus relational-dialogisch zu benennenden Ausrichtung der Argumentationen Kreß´ wird sich im weiteren Verlauf eine zunehmende Abkehr hiervon mit dem Ziel einer Subjektkonzentration verdeutlichen. Als hinführende Randbemerkung soll zuvörderst ein knapper Verweis auf Kreß´ nächstes großes wissenschaftliches Werk in Form seiner Habilitation geworfen werden, um einige verortende Sachverhalte seiner (frühen) Theologie und Sozialethik geben zu können. In ausführlichem Maße untersucht seine Habilitationsschrift Ethische Werte und der Gottesgedanke den Wertbegriff und die Wertethik als theologisches Thema. Basierend auf der Wahrnehmung einer Relevanz des Wertbegriffs in ökonomischen, philosophischen und ethischen Kontexten sowie der bisherigen Zurückhaltung in der Wertedebatte aufseiten der (evangelischen) Theologie soll eine Wertethik auch als theologisches Thema entfaltet werden. Dabei liegt der Nutzen einer Wertdefinition in ihrem Charakter einer Richtschnur. Sie dient als normative Orientierung, sodass auf eine stabilisierende Funktion für die Lebensführung geschlossen werden kann.359 Etwa biblische Aussagen wie die Gottebenbildlichkeit oder der Wert der Schöpfung werden mit der Kategorie der Werte ausgelegt. So lässt sich nach Kreß „das Denkanliegen einer Wertethik im Horizont der evangelischen Theologie und des christlichen Gottesbegriffs selbst entfalten und die Wertethik auf den Gottesgedanken gründen.“360 Kreß resümiert, dass Sozialethik und ethische Probleme i. A. auf den Wertbegriff angewiesen sind.361 Ein zentraler Wertbegriff, der, wie sich noch zeigen wird, auch in Kreß´ späteren Werken seine Wichtigkeit beibehält, ist der der Freiheit. Diesen innerhalb der christlichen Ethik auch theologisch zu entfalten und dementsprechend den gesellschaftlichen Wertewandel zu beeinflussen, ist Ziel innerhalb des Gebrauchs dieses Begriffs. So wird ein Bezug zum Göttlichen als Maßstab der Werte, welche insbesondere gesellschaftlich weit anerkannt sind, gewährt.362 Der Wertbegriff, den Kreß nahezu ausschließlich in diesem Frühwerk theoretisch verortet, dient vorwiegend dazu, mithilfe jener anerkannten Begrifflichkeiten, wie z. B. der Freiheit, eine allgemeine und gesellschaftlich tragende Ethik zu formulieren. Eminent wichtig ist dabei, einen offenen Zugang und eine breite Identifikation zu gewähren. In Kreß´ späteren Schriften wird 359

Vgl. Kreß, Ethische Werte, 11ff. Kreß, Ethische Werte, 17. 361 Vgl. Kreß, Ethische Werte, 14ff. 362 Vgl. Kreß, Ethische Werte, 215ff.; 234. 360

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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der Wertbegriff hauptsächlich in Anlehnung an jüdisch-christliche Tradition gezeigt und Grundwerte einer pluralistischen Gesellschaft etwa am Beispiel von Toleranz und Menschenwürde entfaltet.363 In jüngster Literatur werden vorwiegend spezifische medizinethische Probleme als heutige Wertkonflikte wahrgenommen, beispielsweise im Hinblick auf Lebensbeginn und Lebensende.364 Der Wertbegriff als solcher und in seiner theoretischen Reflexion nimmt demnach keine bleibend hohe Relevanz in Kreß´ Darstellungen ein. Dass aber jene allgemein anerkannten Werte wie die Freiheit normative Kraft besitzen, wird im Folgenden deutlich werden. 3.1.2 Akzentverschiebungen: Steigerung der Person- und Subjektkonzentration im Horizont der Verantwortungsethik Eine Subjektkonzentration bei Kreß wird im Band Verantwortungsethik heute365 , der an sein vorausgegangenes Werk Theologische Ethik366 anknüpft und das Verständnis einer Verantwortungsethik als Ethik der Person fortentwickelt, weiter profiliert. Im Vergleich (und hier im Vorgriff) zu späteren Veröffentlichungen Kreß´ wird dieser Aspekt des Menschseins noch nicht isoliert dargestellt und stets in ein gewisses Verhältnis zu einer relational-dialogischen Komponente gesetzt, die in seinen Frühwerken leitend war. Folglich zeigt sich im vorliegenden Kapitel eine Zwischenhaltung zwischen seinem anfänglich relationaldialogischem Ansatz und der – wie wir noch sehen werden – sich weiter ausbildenden, zum Solipsismus neigenden Subjektkonzentration unter Betonung einer Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung. Zugrunde liegt dafür der Personenbegriff, der auf den beiden Fundamenten, dem relational-dialogischen Verständnis des Menschen und dem als Freiheits- und Vernunftwesen, fußt. Der Personenbegriff als solcher nimmt somit die Schlüsselrolle innerhalb der Verantwortungsethik ein. „Dies geschieht in einem doppelten Sinne, daß die menschliche ‚Person‘ einerseits als das Subjekt verantwortlichen Handelns namhaft gemacht wird. Andererseits wird das menschliche Personsein, die Personwürde und der Schutz der menschlichen Person als fundamentales normatives Kriterium der Ethik zur Sprache gebracht, dessen Beachtung angesichts heutiger gesell363

Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 60–78. Vgl. Kreß, Medizinische Ethik, 89ff.; Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz. 365 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute. 366 Vgl. Kreß, Theologische Ethik. 364

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

schaftlicher Entwicklungen oder heutiger Technikanwendungen unerläßlich ist.“367

Das Sein einer Person wird folglich in einem doppelten Sinne wahrgenommen: Einerseits begegnet die menschliche Person als zum verantwortlichen Handeln fähiges Subjekt, andererseits sind Schutz und Würde der Person normativ zu werten. Diese Aussagen nimmt Kreß vorweg, um in seine Verantwortungsethik einzuleiten. Für die weitere Entfaltung der Begrifflichkeiten wird „auf christlich-theologische Grundüberzeugungen, aber auch auf neuzeitliche Denktraditionen und auf den modernen Kontext der Ethik zurückgegriffen“368 . Es deutet sich bereits an, dass Kreß´ Begründungsstruktur an ein Nebeneinander diverser Konzepte gebunden ist. Auf welche Weise seine Darstellung entfaltet wird, steht im Fokus der folgenden Untersuchung. Den normativen Stellenwert personaler Verantwortung erarbeitet Kreß in Stufen. Er stellt zum einen knapp die Entstehungsgeschichte des Verantwortungsbegriffs dar, welcher im 19. und 20. Jahrhundert als Krisenbegriff in Form einer Verteidigung vor Gericht oder als Antwort auf eine Anklage auftrat, sich sodann im 20. Jahrhundert als Schlüsselbegriff der Ethik sowie zur Norm entwickelte.369 Im Anschluss an diese Feststellung wird das Verhältnis von Werten und Normen bestimmt. Werte, so Kreß, besitzen hohe Allgemeinheit, Verbindlichkeit und Geltung sowie einen besonderen Eigenwert. Normen hingegen erschließen sich als Sollensmaßstäbe, die auf der Grundlage der Werte fußen. Kreß folgert von dieser Benennung ausgehend, dass ethische Entscheidungen der normativen Prüfung bedürfen.370 „Verantwortliche ethische Urteile stützen sich also auf grundlegende Wertvorgaben, d.h. auf Werte wie z.B. Freiheit oder Gerechtigkeit.“371 An dieser Stelle sei nochmals die Frage gestellt, wie Kreß seine Argumentation aufbaut. Folgt man seiner Linie, so zeigt sich, dass die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung eines Begriffs, welcher sich bis zur Gegenwart als geltende Norm entfaltet hat, eine hinreichende Grundlage dafür darzustellen scheint, ob etwas als Norm zu werten ist. Kreß begründet seine entfaltete Norm auf die vorgestellte Weise mit sich selbst, fügt aber keine außerhalb einer Norm liegende Begründung an, warum sie also einen normativen Charakter erhalten soll. Im obigen Beispiel des Verantwortungsbegriffs bedeutet dies, dass Kreß die 367

Kreß, Verantwortungsethik heute, 115. Kreß, Verantwortungsethik heute, 115. 369 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 117. 370 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 121ff. 371 Kreß, Verantwortungsethik heute, 121. 368

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Entwicklung dieses Begriffes wahrnimmt, ihn gegenwärtig als geltende Norm definiert und schließlich in Rückbindung nach allgemein geltenden und verbindlichen Werten fragt. Hierfür benennt er beispielhaft Freiheit oder Gerechtigkeit, ohne eine tiefere Begriffsbestimmung jener vorzunehmen. Folglich zeigt sich, dass für Kreß eine geschichtliche Rekonstruktion, welche zur gegenwärtigen Bedeutung eines Begriffes führt, als ausreichende Begründung dafür gilt, etwas als normatives Kriterium einzusetzen. Hier muss die Frage gestellt werden, ob jene Begründungen und Setzungen, die er vornimmt, tatsächlich als allgemein verständlich gelten. Offen bleibt, ob andere Interpretationsmöglichkeiten denkbar sind. Gerade am Beispiel des Freiheitsbegriffs ist in besonderer Weise historisch nachzuzeichnen, dass sich das Verständnis sowie die zugrunde liegenden Konnotationen grundlegend verändert haben, wodurch das Vorgehen Kreß´ fraglich erscheinen kann.372 Vor dem Hintergrund, dass Kreß sich als Theologe am ethischen Diskurs beteiligt, ist ferner die Frage nach seiner binnen-theologischen Argumentation unerlässlich. Ein Hinweis darauf kann im Anschluss an die obige Setzung des Verantwortungsbegriffs als Norm gezeigt werden. Additiv zu den bisherigen Grundaussagen, welche eher allgemeiner oder historischer Art sind, wird der Blick in diesem zweiten Schritt auf die Theologie gelenkt und im Kontext evangelischer Theologie beleuchtet. Aussageresultat ist, dass die evangelische Ethik eine gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung hat, diese allerdings eher in konstruktiver Zuordnung theologischer und allgemein rationaler, philosophischer Gesichtspunkte zur ethischen Verantwortung innerhalb der heutigen pluralen Gesellschaft.373 Weitere binnentheologische Grundlegungen oder Argumente werden nicht genannt. Kreß legitimiert hier seine Entscheidung, weniger eine binnen-theologische Grundlegung aufzubauen, als hauptsächlich darauf bedacht zu sein, scheinbar anerkann-

372

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff kann an dieser Stelle nicht eingehend gewährleistet werden, wird aber in einem späteren Exkurs: Das Verständnis von Freiheit (Kapitel IV.3.2.2.2.1) ausgeführt. In knapper Weise sei nur exemplarisch darauf verwiesen, dass schon in der griechischen Philosophie unterschiedlichste Verständnisse von Freiheit entwickelt wurden oder auch die Begriffsverwendung im Alten und Neuen Testament sehr different ist. Die jeweiligen Verständnisse sind ferner nicht unmittelbar auf das heute vorherrschende Verständnis von Freiheit als Individualfreiheit und Unabhängigkeit zu transferieren (vgl. Nestle, Art. Freiheit; Brieskorn, Art. Freiheit / Freiheitsfähigkeit). Eine solche Setzung und Bestimmung, wie sie Kreß oben vornimmt, erscheint bereits aufgrund auffindbarer unterschiedlichster Verständnisse fraglich. 373 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 123ff.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

te rationale Standards mit theologischen Aussagen zu vermitteln.374 Somit trifft er die Entscheidung, Dogmatik und Ethik voneinander zu separieren und sich vom eigenen Profil theologischer Ethik zugunsten einer (analogischen) Vermittlung mit pluralen Anschauungen abzugrenzen. Die Frage nach der Rolle der Theologie für Kreß sowie nach dem Wert von theologischer Argumentation lässt sich stellen. In Wahrnehmung des obigen Exempels kann die Vermutung geäußert werden, dass die Theologie zur Stützung oder Verstärkung seiner schon getätigten Aussagen herangezogen wird, ohne als breites Begründungsfundament zu gelten oder ihre eigene Perspektive zu verdeutlichen. Bereits hier ist hervorzuheben, wie Kreß teils in seinen Argumentationen vorgeht: Seine Aussageabsicht wird insbesondere geschichtlich legitimiert und schließlich auch theologisch benannt und motiviert, ohne hingegen ein theologisches Konzept zugrunde zu legen, welches er sogleich damit eingebüßt hat, dass er der Theologie keine fundamentale und konstitutive Rolle zugesteht. Letztlich dient dies zur Motivation einer Ethik, die sich in den gesellschaftlich vorhandenen Tenor einfügen lässt. Insofern wird die theologische Perspektive in den bereits bestehenden Rahmen seines Konzepts ein- und untergeordnet. Analogien in der Theologie aufzuzeigen, scheint das Ziel zu sein.375 Eine Ursache hierfür kann nur vermutet werden: Vor dem Hintergrund, dass Kreß insbesondere in Verbänden und Gremien beratend tätig ist, liegt es nahe, dass seine Position normative Handlungsmaßstäbe hervorbringen soll, nach denen sich – auch innerhalb dieser Gruppierungen – ausgerichtet werden kann. Es scheint als würde weniger ein Grundlagenkonzept im Fokus des Vorhabens Kreß´ stehen. Vielmehr sind normativ-ethische Maßstäbe zur allgemeinen Handlungsorientierung fokussiert. Infolgedessen ergibt sich insbesondere für die Theologie eine spezielle Rolle. Sie dient gerade nicht dafür, eine fundierte Denkrichtung grundlegend in einem ersten Schritt auszubilden und somit ein Grundlagenkonzept aufzubauen, was wiederum die genuine theologische Perspektive einführen sowie aufwerten würde. Vielmehr scheint der Sinn von seinen theologischen und teils recht isolierten Argumenten in einer weiteren Motivation für die Betonung seiner Perspektive und Ethik zu liegen. Diese eher formale Wahrnehmung der Konzeption nach Kreß lässt demnach notwendigerweise fragen, ob einerseits überhaupt ein großer Eigenwert dieser 374 375

Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 123ff. Die Wahrnehmung, dass Kreß zur Stützung seiner Argumentationen zu prägnanten Begriffen oder Normen auf Analogien in der Theologie verweist, erinnert an das von Huber und Tödt beschriebene Analogische Verfahren. Vgl. hierzu besonders Huber, Menschenrechte, 158ff.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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meist zur Untermauerung eingesetzten theologischen Argumente besteht. Andererseits kann so kaum eine innovativ neue Perspektive ausgebildet werden, die schließlich in den Diskurs mit anderen Disziplinen eintreten kann. Kritisch formulieren ließe sich zusammenfassend, dass folglich der Theologie kein wirklicher Nutzen zugesprochen wird, sondern sie eher als zustimmendes Intermezzo in bereits bestehende Strukturen analogisch hinzutritt, was wiederum eine Schmälerung ihres Wertes zeigen kann. Angeführte theologische Einzelargumente stehen somit in der Gefahr, in kein standhaftes umfassendes theologisches Konzept eingebunden zu sein, was unweigerlich kritische Fragen hervorbringen lässt. Im weiteren Verlauf wird diese Wahrnehmung durch an Kreß zu richtende Anfragen, beispielsweise zu seinem Verständnis von Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, genauer expliziert sowie an einigen Stellen sein Verständnis von Theologie weiter diskutiert. Legt man die Prämisse zugrunde, dass die Theologie nach Gott und daraufhin auch nach Sein und Handeln des Menschen fragt, so stellt sich daher die Frage, wie eine Rede von Gott überhaupt möglich ist. In diesem Kontext erscheint ein christologischer Zugang als wertvoll. Nicht zuletzt Karl Barth hat deutlich gemacht, dass in Jesus Christus Gott den Menschen offenbar ist und in Jesus Christus, dem wahren Menschen und dem wahren Gott, auch eine Rede vom Menschen möglich wird. Kreß hingegen liegt ein christologischer Zugang – wie wir sehen werden – fern. Zur Untermauerung dieses soeben entwickelten Eindrucks lässt sich mit Kreß selbst die Rolle, die er der Theologie zuordnet, ausführen: Er beschreibt: „In der Gegenwart ist die theologische Ethik jedenfalls dazu genötigt, der nachreligiösen, säkularisierten Gesellschaft Rechnung zu tragen, deren Diskurs auf rationale Begründung hin angelegt ist. Daher kann die Theologie ihrerseits auf allgemein nachvollziehbare, rational plausible Gesichtspunkte nicht verzichten. Die Gegenwartsgesellschaft läßt sich als säkularisiert und nachreligiös, aber auch als neu- und multireligiös charakterisieren. Die Theologie sollte die christliche Überlieferung und die ethische Vernunft argumentativ miteinander vermitteln; denn die pluralistische Gesellschaft ist auf eine rationale Verständigung über ethische Standards angewiesen. Zugleich bildet die jüdisch-christliche Überlieferung aber nach wie vor den kulturellen und geschichtlichen Hintergrund für die moralischen und rechtlichen Normen, auf denen der Staat und die Gesellschaft beruhen.“376 376

Kreß, Verantwortungsethik heute, 125.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Hieran wird nochmals deutlich, dass Kreß nicht das eigene Profil einer evangelisch-theologischen Ethik in den Vordergrund zu stellen versucht, sondern eher darauf bedacht ist, diese in eine säkularisierte Gesellschaft ein – oder gar unter – zu ordnen. Ziel scheint es zu sein, allgemein nachvollziehbare Benennungen hervorzubringen. Die Gefahr besteht darin, dass Begrifflichkeiten so nur einen theologischen Schein erhalten, nicht jedoch im genuin theologischen Verständnis grundgelegt werden. Die Problematik einer Beliebigkeit steht vor Augen, welche dann der Theologie – wie oben beschrieben – keinen Eigenwert, sondern höchstens eine zustimmende Funktion, zuordnet. Hartmut Kreß entwickelt hier eine personale „Verantwortungsethik, für die (a) die einzelne menschliche Person das Subjekt ethischer Verantwortung ist und die (b) die Personwürde als ethisch-normatives Kriterium in den Mittelpunkt rückt“377 . Die tiefere inhaltliche Erläuterung zu Kreß´ Gebrauch der zentralen Begriffe Person und Würde wird sogleich folgen. Zuvor sei allerdings der Begriff der Kreßschen Verantwortungsethik in das Zentrum der Betrachtung gestellt. Zum einen kann im Vorgriff auf die weitere Analyse formal festgestellt werden, dass die derartige Betitelung ausschließlich im Frühwerk Kreß´ Relevanz erfährt. Der Fokus einer Verantwortungsethik wird sich im Folgenden konkreter auf eine Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung kanalisieren, welche wiederum den aktuellen Akzent der Kreßschen Position erfasst.378 Des Weiteren ist ein knapper kritischer Blick auf die Verwendung sowie das Verständnis von Verantwortungsethik nach Kreß zu werfen. Zu diskutieren ist dabei etwa, ob Kreß hier dem im Allgemeinen vorherrschenden Verständnis von Verantwortungsethik gerecht wird und somit in Gegenüberstellung zur Gesinnungsethik eine Folgenabschätzung tatsächlich bedenkt.379 Schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Reflexion lässt sich erkennen, dass Kreß vorwiegend eine subjektbezogene Perspektive einnimmt und mithin eine Folgenabschätzung und -reflexion im Blick auf die Mit- und Umwelt sowie auf das eigene Tun sekun377

Kreß, Verantwortungsethik heute, 222. Am Rande sei darauf hingewiesen, dass sich unter Berücksichtigung des Aspekts einer reduzierten Relevanz von Kreß´ Verantwortungsethik hin zur stärkeren Profilierung seiner Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung dafür bewusst entschieden wurde, die Gesamt-Konzeption Kreß´ mit zweitgenanntem Aspekt zu betiteln. Ungenau für eine Analyse zu Kreß wäre es jedoch, auf den Begriff der Verantwortungsethik generell zu verzichten. Somit wird er für die Beschreibung seiner Frühwerke notwendigerweise herangeführt, da dieser hier durchaus eine gewisse inhaltliche Relevanz und Präsenz erfährt. 379 Vgl. zur Vertiefung etwa Stock, Art. Gesinnungsethik; Herms, Art. Verantwortungsethik. 378

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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där erscheint. Ein zugrunde liegendes umfassendes Verständnis einer Verantwortungsethik kann somit infrage gestellt werden und erhält zudem im weiteren Verlauf von Kreß selbst weniger Bedeutsamkeit. 3.1.2.1 Einschub: Der veränderte Gebrauch des Verantwortungsbegriffs In diesen frühen Schriften Kreß´ ist der Verantwortungsbegriff mehrfach evident. Zugleich reduziert sich aber dessen Bedeutung im weiteren Verlauf. Zuweilen wird der Verantwortungsbegriff in einen relationalen Kontext eingebettet. Kreß benennt Verantwortung als „zentralen Leitbegriff der Ethik des 20. Jh.s“380 und bindet sie ferner theologisch an, wobei die Etymologie dieses Begriffs eher in der römischen Rechtssprache im Sinne einer Verantwortung vor Gericht zu verorten ist: „Dennoch vermag sich die evangelische Ethik das Postulat moralischer ‚Verantwortung‘ zu eigen zu machen. Geistesgeschichtlich läßt sich das Leitbild ethischer Verantwortung sogar auf christliche Wurzeln zurückführen, nämlich auf die eschatologische Verantwortung vor Gott als dem Richter (2. Kor 5,10).“381

Ferner bezieht Kreß anfänglich das dialogische Programm Bubers ein und macht Äußerungen zum Konzept personal-dialogischer Verantwortung. „Ethische Verantwortung ist ihm [Martin Buber; d. Vf.] zufolge als ‚Antwort‘ des Menschen auf das ihm begegnende ‚Du‘ des Mitmenschen zu interpretieren.“382 Folglich ist an dieser Stelle vormals der Verantwortungsbegriff in einen relationalen Kontext eingebunden. Im Vorgriff auf die folgende Analyse zu Kreß´ Darstellungen wird später eine Veränderung der Konnotation des Verantwortungsbegriffs ersichtlich: in Abkehr von relational-dialogischen Konzepten, hin zu einer eher isolierten Subjektkonzentration. So ergibt sich, dass sich Verantwortung im Sinne Kreß´ in Form einer Präventiv- oder Präventionsverantwortung konkretisiert. Diese ist beispielsweise am Lebensanfang ersichtlich, wenn Eltern die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik oder explizit die der Präimplantationsdiagnostik nutzen, um zum Wohle des Kindes Krankheit zu vermeiden. Für das Lebensende kann die Präventiv- oder Präventionsverantwortung wahrgenommen werden, indem auf die zunehmende Überfremdung des Sterbens angemessen reagiert und die Möglichkeit der Patientenverfügung genutzt wird. Kreß legt diesen Umstand folgendermaßen dar: 380

Kreß, Theologische Ethik, 72. Kreß, Theologische Ethik, 72. 382 Kreß, Theologische Ethik, 76. 381

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

„Vor allem der Sachverhalt, dass das Sterben lange andauert und medizintechnisch überfremdet zu werden droht, führt zu existentiellen Verunsicherungen. Für zahlreiche Menschen entsteht die Frage, ob ihr eigenes künftiges Sterben sich überhaupt noch in Würde vollziehen wird. Die Konsequenz aus einem solchen Zweifel sollte eine Steigerung persönlicher ethischer Verantwortung [. . . ] in Form zusätzlicher Präventiv- oder Präventionsverantwortung sein, so dass man aus eigener Freiheit und Selbstverantwortung heraus im Vorhinein Bestimmungen über die Bedingungen und Umstände des eigenen künftigen Sterbevorgangs trifft. Auf diese Weise werden Patientenverfügungen zu einer ganz wesentlichen Ausdrucksform heutiger Freiheitsund Selbstbestimmungsrechte.“383

Kreß beschreibt hier also eine persönliche Verantwortung, die aus heutigen medizinisch-technischen Möglichkeiten resultiert. An dieser Darstellung erscheint insbesondere fraglich, warum die Verantwortung nicht auch an die Medizin selbst, an ihre Entwicklungen und ihr tätiges Personal gerichtet wird. So ist nach Kreß zur beschriebenen problembehafteten Situation der Überfremdung des Sterbens weniger an die Medizin i. A. zu appellieren, als vielmehr an persönliches Handeln und Verhalten eines jeden. Ersichtlich wird im gesamten Kontext der Kreßschen Argumentationen eine Neu-Justierung des Verständnisses von Verantwortung. Wurde vormals eine Relationalität mitgedacht, so beschränkt sich die Definition in jüngeren Beschreibungen auf eine subjektzentrierte Handlungsverantwortung im Sinne eines Abwehrrechts von allgemeingültig vorausgesetzten ungewollten Zuständen, die die Selbstbestimmung einschränken. Um nun den Bogen zur Analyse von Kreß´ Argumentation zurückzuschlagen, ist ein genauerer Fokus auf den Personenbegriff zu richten, der im Verlauf bereits mehrfach angesprochen wurde. Kreß nimmt den Personenbegriff als ethisches Kriterium wahr, der zur Wahrung gesellschaftlicher normativer Verantwortung beiträgt. Für das Personenverständnis identifiziert Kreß zwei Zugangswege: ein relational-dialogisches Verständnis sowie die Wahrnehmung des Menschen als Freiheitsund Vernunftwesen.384 Formal bildet sich in dieser Zweiteilung des Personenbegriffs die Akzentverschiebung von seinem früheren relational-dialogischen Ansatz hin zu einer gesteigerten Person- und Subjektkonzentration ab, die gerade Thema des vorliegenden Kapitels ist. 383 384

Kreß, Medizinische Ethik, 170f. Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 151f.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Folglich kann anhand der Aufarbeitung und Unterteilung des Kreßschen Personenbegriffs jene Zwischenposition vor dem Übergang zur subjektzentrierten Ethik exemplifiziert werden. 3.1.2.2 Das relational-dialogische Personenverständnis Für die relational-dialogische Konzeption bei Kreß erfolgt eine Anbindung an Luther und Buber. Martin Luther entwickelt ein relationales Personenverständnis, indem er den Menschen „in seiner Konstituierung durch das Gegenüber Gottes“385 auslegt. Er nimmt eine Deutung vom Gottesbezug her vor und verortet auf diese Weise die menschliche Person in einem Beziehungsgeflecht von Gott, Welt und menschlicher Existenz.386 Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Luther und speziell der Konstituierung des Beziehungsgeflechts von Gott und Mensch wird in diesem Kontext nicht vorgenommen. Außerhalb der Theologie steht Martin Buber für die relationale Dimension ein, die Kreß nun betont. Bei Buber wird die Person zum dialogisch-relationalen Leitbegriff der Anthropologie, „‚indem sie zu anderen Personen in Beziehung tritt.‘“387 Die zwischenmenschliche Begegnung beschreibt das Sein des Menschen; die Ich-Du-Beziehung ist konstitutiv für das Personsein.388 Eine fundierte Erläuterung des Personenbegriffs hinsichtlich seiner relational-dialogischen Seinsweise erfolgt ebenso nicht. Dennoch wird der ethische Gehalt des relationalen Personenbegriffs herausgestellt. Kreß konstatiert die Wichtigkeit interpersonaler Begegnung und wechselseitiger Verantwortung, um so Würde zutage treten zu lassen. Die Folge ist, dass der Personenbegriff zu einem normativen Kriterium der Ethik wird. Ferner ist eine Instrumentalisierung der Person zu vermeiden, d. h. sie soll als Du, und nicht als Es, in leibseelischer Einheit beachtet werden. Hinzu tritt eine Anbindung der Begründung der Personenwürde an die Gott-Mensch-Relation, wodurch ein Schutz des Personseins vor innerweltlichen Relativierungen angestrebt ist.389 Diese entwickelten Implikationen bedürfen erneut der Kommentierung im Hinblick auf ihre Argumentationsstruktur. Nicht ersichtlich ist beispielsweise, wie genau der Zusammenhang vom Personenverständnis Luthers und Bubers untereinander, sowie mit dem dargelegten ethischen Gehalt des relationalen Verständnisses besteht. Zu fragen ist da385

Kreß, Verantwortungsethik heute, 152. Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 152f. 387 Kreß, Verantwortungsethik heute, 152. 388 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 152ff. 389 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 156. 386

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

bei explizit, ob die beiden Verständnisse nach Luther und Buber rein isoliert nebeneinanderstehen oder welche Funktion speziell ihre Benennung hat. Ein weiterer Aspekt ist, warum Kreß Luther und Buber als Exempel eines theologischen und eines nicht-theologischen Aspektes anführt und insbesondere mit Buber und somit nicht-theologisch die Ebene der Mitmenschlichkeit beschreibt. Es erscheint fraglich, warum Kreß alleinig die Gott-Mensch-Beziehung an die Theologie anbindet, nicht jedoch eine mitmenschliche Beziehungsebene. Wird der Blick auf Jesus Christus gerichtet, so erscheint es doch nahezu unumgänglich auch eine binnentheologische Beschreibung des Menschseins im Verhältnis zum Mitmenschen auf die Christologie aufbauend zu beschreiben. Zur Verdeutlichung sei ein Verweis zum Doppelgebot der Liebe oder auf verschiedene Gleichniserzählungen wie etwa vom barmherzigen Samariter gegeben. Des Weiteren findet keine theologische Erläuterung bezüglich der Gott-Mensch-Relation oder des Verständnisses des Menschen als leibseelische Einheit statt. Auch das dahinterstehende theologische Konzept findet keine Beschreibung. So bleibt die Frage, ob der theologische Gehalt dieser Folgerungen fundiert und nachvollziehbar ist. Inhaltlich nicht ausgeführt bleiben an dieser Stelle Begrifflichkeiten wie die Würde einer Person – ein Würde-Konzept wird (noch) nicht entwickelt – sowie eine Begründung dafür, warum interpersonale Begegnung bzw. wechselseitige Verantwortung Würde zutage treten lässt. Noch grundsätzlicher ist zu überlegen, wie bzw. warum Würde und Verantwortung Resultate des dialogischen Personenbegriffs sind. Es scheint, als setze Kreß ein allgemeingültiges Verständnis voraus und als genüge es zur Legitimierung, Exempel von theologischen und nicht-theologischen Konzepten zu benennen. Das Themenfeld zum Personenverständnis an sich weist schon vor dem Hintergrund der im Kontext auftretenden Namen wie Kant, Buber und Luther kein einheitliches Konzept auf. Ebenso ist im gesamten Bereich der theologischen Anthropologie keine einheitliche Meinung vertreten. Zu fragen ist also, ob nahezu vereinheitlichend und unkritisch ein allgemein akzeptiertes Konzept vorausgesetzt wird. Eine Begründung hierfür gibt Kreß nicht. Werden die Argumente genauer betrachtet, so entsteht der Eindruck, dass Kreß bei Luther die Konstituierung durch Gott betont, insofern einen schöpfungstheologischen Akzent starkmacht. Nicht expliziert wird daraufhin, wie sich eine Beziehung zur Welt und zum Mitmenschen ergibt. Kreß bindet keinen Gedanken an die Christologie, die bei der Betrachtung Lutherischer Theologie wichtiges Standbein ist und die Befreiung des Menschen in Christus beschreibt.390 Der Eindruck entsteht, 390

Vgl. Kapitel IV.3.2.2.2.1 Exkurs: Das Verständnis von Freiheit.

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dass Kreß eine stringente und folgerichtige Argumentation dadurch gefährdet, dass er die Christologie unbetont lässt und somit die Chance auf ein verbindendes Element zwischen der Gott-Mensch-Beziehung und der Mensch-Mensch-Beziehung nicht nutzt. In Anlehnung an ein christologisches Konzept eröffnet sich die Möglichkeit eine Annäherung an die Frage „Wer ist der Mensch?“ sowie nach der Frage der Würde des Menschen zu entwickeln. In jüngeren Werken nimmt Kreß teils erneut Bezug auf das dialogische Personenverständnis Martin Bubers und benennt dieses als gedankliche Grundlage: „Buber deutete das Personsein des Menschen auf der Grundlage dessen, dass die menschliche Existenz sich in der Beziehung zwischen Ich und Du verwirklicht. Auf diese Weise gelangt nicht nur – wie in der Aufklärungsphilosophie und im philosophischen und theologischen Idealismus – die Geistexistenz, sondern zugleich die kommunikative Dimension des Menschseins in den Blick. Die Individuation, die geistige und psychische Entwicklung des einzelnen Menschen einerseits und die zwischenmenschliche Begegnung andererseits bedingen einander wechselseitig“391 .

In recht knapper Weise wird auf die dialogische Ebene verwiesen, wobei sich nach wie vor die Frage stellt, wie genau jenes Prinzip in Kreß´ Darstellungen zum Tragen kommt. Hierzu erfolgt eine Konkretisierung bezüglich der Begleitung von Patienten: „Die Begleitung von Patienten im Gespräch dient daher zugleich dazu, einen individuell angemessenen Umgang mit der medizinischen ‚Wahrheit‘ zu finden. Aus gutem Grund gebietet die heutige Rechtslage, den Patienten wahrheitsgemäß aufzuklären und ihn objektiv zu informieren. Ohne das Einverständnis des Patienten sind ärztliche Behandlungen oder Heileingriffe nicht statthaft. In Ausnahmefällen mag jedoch die verlangsamte Mitteilung, in Grenzfällen sogar ein vorläufiges, partielles oder gar weitgehendes Verschweigen der objektiven Wahrheit moralisch legitim sein.“392

Ersichtlich wird an diesem Beispiel, dass hier von keiner tiefen dialogischen Begegnung gesprochen wird, sondern eher die Konkretisierung hin zu Information und Aufklärung eines Patienten erfolgt; und das mit dem Ziel, sein Selbstbestimmungsrecht beispielsweise in Form einer 391 392

Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 25f. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 30.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Einwilligung ausüben zu können. Ob hierin eine dialogische Begegnung bereits aufgeht, sei angefragt. Wird diese spätere Darstellung des dialogischen Personenverständnisses betrachtet, so fällt auf, dass vorrangig eine Orientierung an Martin Buber Bestand hat und dabei die innermenschliche Begegnung, beispielsweise in Form von Begleitung von Patienten, zentral ist. In Inkonsistenz zu den früheren Beschreibungen des Personenverständnisses, in denen im Bezug auf Martin Luther die relationale Dimension von Gott und Mensch benannt wurde, wird diese Ebene hier nicht mehr aufgeführt. Gefragt werden kann infolgedessen, ob die Gott-MenschRelation, die ja in besonderer Weise Gegenstand der Theologie ist, einerseits aus dem Blick gerät und andererseits dadurch ein spezielles theologisch-ethisches Verständnis des Personenbegriffs nicht mehr hinreichend legitimiert ist. 3.1.2.3 Das Verständnis des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen Das zweitgenannte Verständnis des Personenbegriffs erfolgt in Anbindung an die Philosophie Immanuel Kants. Der Mensch wird demnach zum geistig-moralischen Sein bestimmt. Hieraus folgert Kreß, dass Autonomie, Freiheit und Subjektivität Bezugspunkte des Personenbegriffs sind.393 Diese Bestimmung ergibt weitere Implikationen, die Kreß wie folgt benennt. Eine Person soll zum einen aufgrund ihres Seins als Gesinnungs-, Gewissens- und Vernunftwesen Verantwortung für ihr Handeln tragen. Zum Anderen ist eine Schutzwürdigkeit jedes Menschen gesetzt.394 Die vorausgehende Diskussion und kritische Würdigung der Rezeption Kants durch Kreß soll hier nicht wiederholt werden. Es bleibt ein Verweis auf Kapitel IV.3.1.1.2 Exkurs: Immanuel Kant. Erinnert sei daran, dass die Schutzwürdigkeit des Menschen ein Resultat des Kantischen kategorischen Imperativs ist und insofern der Menschenwürde voraus geht.395 In Rezeption Kants soll an dieser Stelle nochmals darauf verwiesen werden, dass sowohl die Vernunftbegabung des Menschen als auch die Schutzwürdigkeit auf Grundlage des kategorischen Imperativs den Charakter eines (notwendigen) Postulates tragen, da sie als universale Prinzipien keine mit dem eigenen Verstand erkennbaren 393

Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 157ff. Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 160ff. 395 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 212ff.; Böckerstette, Aporien der Freiheit, 306; Malter, Art. Kant, 576. 394

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Gesetzmäßigkeiten darstellen.396 Es besteht aber die Freiheit, nach jenen vernünftigen Maßstäben zu handeln.397 Kritisch angemerkt werden kann in diesem Bezug bei Kreß erneut, dass die sich hieraus ergebenen Konkretionen nicht in aller Tiefe reflektiert werden und somit recht unkonkret bleiben. Da das Fundament der postulierten Schutzwürdigkeit der kategorische Imperativ und insofern das Verhältnis von Menschen untereinander ist, würde es sich an dieser Stelle anbieten, diese Dimension des Menschseins tiefergehend, speziell im Hinblick auf die Sozialität, zu beleuchten. Kreß hingegen behandelt die Aspekte recht subjektzentriert. Es deutet sich insofern bereits an, dass hier primär das handlungsfähige Subjekt mit seiner individuellen Autonomie im Sinne von Unabhängigkeit vom Mitmenschen gemeint ist. Bei dem späteren Kreß wird die Zentralität der persönlichen Selbstbestimmung zunehmend bedeutsam – was im weiteren Verlauf deutlich werden wird. Die Schutzwürdigkeit des Menschen fungiert somit eher als Schutz- und Abgrenzungsrecht, nicht so sehr jedoch als Gestaltungsfreiheit. Auch eine in diesem Aspekt naheliegende Verbindung zur zuvor beschriebenen relational-dialogischen Komponente des Menschseins wird nicht aufgezeigt. Kreß erkennt in diesen Implikationen der Verantwortung und Schutzwürdigkeit eine Entsprechung, die bereits im biblischen Begriff der Gottebenbildlichkeit angelegt ist, beispielsweise in der Grundforderung des dominium terrae398 und in der Schutzfunktion, die durch die Aufforderung, kein menschliches Blut zu vergießen, zugesprochen wurde. So stellt auch Kreß fest: „‚Freiheit und Macht des Menschen in seiner Herrschaft über die Erde finden am Menschen selbst ihre Grenze.‘“399 In einem nächsten Schritt ist es für Hartmut Kreß zentral, dass die bedingungslose Würde des Menschen schon in der alttestamentlichen Rede von der Gottebenbildlichkeit angelegt ist und nicht durch Sünde verloren gehen kann. Hieraus formuliert er einen Einspruch gegen eugenische Tendenzen, d. h. das Bestreben, den Anteil von positiv zu bewertenden Erbanlagen in der Gesellschaft zu vergrößern.400 Nach der Erläuterung dieses Gedankenabschnitts nach Kreß sollen erneut Rückfragen an die zugrunde liegende Argumentation und ihre Er396

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 38f.; Kant, Grundlegung, XIIIf.; Malter, Art. Freiheit, 573. 397 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft; Malter, Art. Kant, 576. 398 Vgl. Gen 1,28. 399 Kreß, Verantwortungsethik heute, 160. Vgl. darüber hinaus Schmidt, Werner H., Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 1996, 268. 400 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 161f.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

gebnisse gestellt werden. Wiederholend zur Befragung des vorausgehenden Aspekts lässt sich auch hinter diese Darstellung ein analoges Fragezeichen setzen, ob wohl verwendete Begrifflichkeiten genügend – insbesondere theologisch – ausgelegt werden. Hier tritt im Speziellen der Begriff der Gottebenbildlichkeit auf, zu dem in aller Kürze bereits Grundsatzfragen aufzuwerfen sind. Zugleich kann vorausschauend auf Kapitel IV.3.2.1 verwiesen werden, in dem genauer das Verständnis von imago Dei in Verbindung mit Kreß Inhalt ist. Thematisiert wird dort beispielsweise auch die gesamtbiblische Verwendung des Ebenbildlichkeitsbegriffs. Kreß scheint sich vorwiegend auf die alttestamentliche Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu beschränken, deren Befunde einerseits recht spärlich sind. Andererseits steht die Gottebenbildlichkeit im Neuen Testament in einem anderen Kontext, dass nämlich Jesus Christus als Ebenbild Gottes Benennung findet. Auch die von Kreß vorgenommene Bestimmung, dass die Ebenbildlichkeit nicht durch Sünde verloren gehen kann, ist geschichtlich keineswegs unstrittig. Einer ausführlicheren Diskussion bedarf es ferner dazu, inwiefern die Würde des Menschen unmittelbar an die Gottebenbildlichkeit anzuknüpfen ist, worauf der geringe sowie in der Verwendung inkonsistente biblische Befund bereits hindeutet.401 Inhaltlich klärungsbedürftig ist außerdem der Begriff der Würde als solcher. Der ihm entgegengebrachte Vorwurf der Leerformel gibt darauf bereits einen Hinweis. Im Kontext dieser vielschichtigen an die imago Dei zu stellenden Fragen erscheint es bereits verfrüht, diesen Begriff ohne Interpretation, wie es Kreß an dieser Stelle tut, als allgemein klar und verständlich vorauszusetzen. Die theologischen Konzeptionen, etwa schöpfungstheologischer, christologischer oder bundestheologischer Art, können folglich sehr different sein. In gleicher Weise sollte die (unmittelbare) Verbindung dieses Begriffs mit der Grundforderung des dominium terrae sowie der Schutzwürdigkeit jedes Menschen reflektiert werden. Im Besonderen stellt sich die Frage nach Sein und Aufgabe des Menschen.402 Von Neuem erscheint zweifelhaft, ob Kreß hier klärungsbedürftige Begrifflichkeiten einerseits vorschnell ohne Inhaltszuschreibung verwendet, andererseits verfrühte Verbindungslinien als gegeben voraussetzt. Diese von Kreß herausgestellte zweite Komponente des Menschseins, nämlich das Verständnis des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen mit seiner Verantwortung und Schutzwürdigkeit soll anhand des in 401

Vgl. zu jenen kurz benannten Kritikpunkten den Exkurs zur Gottebenbildlichkeit in Kapitel IV.3.2.1, in dem die Aspekte in Einzelheiten tiefer besprochen und argumentativ dargelegt werden. 402 Vgl. Kapitel IV.3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit.

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diesem Kontext erstmals auftretenden Begriffs der Gottebenbildlichkeit theologisch legitimiert werden. Kreß beschreitet hingegen nicht den Weg, auf seine bereits angeführte (theologische) Argumentation zum relational-dialogischen Personenverständnis zurückzugreifen.403 Wichtige Begrifflichkeiten wie etwa die Würde oder die Verantwortung könnten durch eine ausführlichere theologische Klärung zu beiden Aspekten eine Verbindungslinie schaffen sowie diese so eher isoliert wirkenden theologischen Einzelargumente in ein fundiertes Gesamtkonzept einbinden. Beide Aspekte des Personenverständnisses bleiben recht verbindungslos nebeneinander stehen. Eine weitere Nachfrage entsteht in Bezug auf die Identifikation des Menschen als geistig-moralisches Sein, seiner Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit und der daraufhin implizierten Schutzwürdigkeit jedes Menschen. Das Verhältnis von Person und Mensch ist an dieser Stelle noch nicht vollends beschrieben. Empirisch zeigt sich, dass nicht jeder Mensch unmittelbar ein moralisch handelndes Vernunftwesen ist. Offensichtlich scheint dies beispielsweise beim Embryo im Mutterleib oder bei Kleinkindern, aber auch bei manch Älteren, besonders bei Menschen mit Demenz oder aber bei geistig behinderten Menschen zu sein. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand, das Sein als Vernunft-, Gesinnungs-, Gewissens- oder Geisteswesen als konstitutives Kriterium für das Sein als Mensch zu identifizieren. Eine Klassifizierungsmöglichkeit ergäbe sich so, welchem Wesen das Menschsein zugesprochen werden könnte. Wiederum stünde die von Kreß oben getroffene Implikation der bedingungslosen Würde sowie der Abwehr eugenischer Tendenzen404 selbst in Gefahr, da infolgedessen ein Kriterium zur Formulierung von Wertigkeiten innerhalb einer Gesellschaft denkbar ist. Ferner ist die theologische Motivierung der Person als Vernunft- und Freiheitswesen undifferenziert, da hier vordergründig an die Philosophie Kants angeknüpft wird und erst im Anschluss daran theologische Begrifflichkeiten hinzutreten. 3.1.2.4 Der normative Stellenwert des Personenbegriffs in seiner Auswirkung auf die Medizinethik Der Systematik Kreß´ folgend zieht er in einem nächsten Schritt Konsequenzen der Ethik der Person zur Medizinethik. Nahe liegt dies, da medizinische Fortschritte den Menschen selbst (beispielsweise durch Gen403

Vgl. das vorausgehende Kapitel IV.3.1.2.2 Das relational-dialogische Personenverständnis. 404 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 161f.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

diagnostik oder Neurochirurgie) in seiner leiblichen Existenz betreffen. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise fragwürdig geworden, wie weitgehend die Medizin einen Menschen über seine Krankheitsdispositionen oder über seinen Genzustand informieren soll. Ein Eingriff in die Freiheitsrechte ist so sichtbar.405 „Angesichts solcher Fragen ist es die Aufgabe der Ethik, den normativen Gehalt des Personbegriffs und der Personwürde – die Ganzheit und die geistig-leibliche Einheit, die Integrität, die Freiheit und Selbstbestimmung der einzelnen Person – kritisch zur Geltung zu bringen. Die Person- sowie die Freiheitsrechte des Individuums sind von der Ethik nachdrücklich als individuelle Schutz- und Abwehrrechte ins Licht zu rücken.“406 Kreß konkretisiert weiter, dass der medizinische Fortschritt nicht die universale Personenwürde sowie den Personenschutz relativieren sollte oder durch gewisse Vorgänge Annahme, Akzeptanz und Integration auch von behinderten Menschen in die Gesellschaft gefährdet. „Die Personwürde und der Personschutz für einen jeden Menschen würden damit relativiert. Dies wäre ein unvertretbarer kultur- und ethikgeschichtlicher Rückfall.“407 Andeutung findet diese Befürchtung nach Kreß bereits in dem Verfahren der Pränataldiagnostik, wenn (automatisch) Embryonen mit diagnostizierten Defekten abgetrieben werden.408 Dies, so stellt Kreß fest, darf nicht „zu einer gesellschaftlich geradezu üblichen Handlungsweise werden“409 . Auch zu diesen Gedanken Kreß´ lassen sich einige Punkte hervorheben. Eine analoge Frage wie oben ergibt sich abermals, indem der Personenbegriff sowie die Personenwürde mit Ganzheit, geistig-leiblicher Einheit, Integrität, Freiheit und Selbstbestimmung inhaltlich gefüllt wird. Zum einen ist erneut das Grundlagenkonzept anzufragen, mit dem er zu dieser Begriffsfüllung gelangt. Die von Kreß gezeichnete Basis erfolgt in den zwei Strängen eines relational-dialogischen Personenverständnisses sowie des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen. Die Argumentationsgänge dieser beiden Zugangswege wurden je für sich bereits oben diskutiert. In Bezug auf die Äußerungen hier ist anzufragen, auf welche Weise die unterschiedlichsten Konzeptionen verbunden werden. Sie erscheinen, als würden sie gar verbindungslos nebeneinanderstehen, obwohl, wie bereits als Hinweis angeführt wurde, die 405

Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 166ff. Kreß, Verantwortungsethik heute, 168. 407 Kreß, Verantwortungsethik heute, 169. 408 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 168f. 409 Kreß, Verantwortungsethik heute, 169. 406

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theologische Konzeption einen verbindenden Weg bereithält. Zu beobachten ist, dass die Inhaltsfüllung des Personen- und Würdebegriffs mit den obigen Attributen scheinbar einen von Kreß grundlegend benannten Strang, nämlich das dialogisch-relationale Bild, vernachlässigt. Es zeigt sich hier, dass er bei der Bündelung seines Konzepts in Form der Beschreibung des normativen Stellenwerts seines Personenbegriffs hauptsächlich auf den zweiten Aspekt, der den Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen herausstellt, Bezug nimmt. Hat er doch zuvor als eine Ebene des Menschseins ein relational-dialogisches Verständnis nach Luther und Buber motiviert und dabei Begegnung, Verantwortung, Personalität und Würde als ethischen Gehalt zutage treten lassen,410 so konzentriert er sich hier doch vornehmlich auf Integrität, Freiheit und Selbstbestimmung sowie auf die individuellen Schutzund Abwehrrechte als normativen Gehalt des Personenbegriffs.411 In der noch folgenden Aufarbeitung wird zudem deutlich werden, dass der spätere Kreß seine Konzentration auf die Individualität und Autonomie des Menschen in Abgrenzung zum Gegenüber intensivieren wird. Es lässt sich der Hinweis geben, dass Kreß dabei eine Ebene des Menschseins, welche er vormals selbst grundgelegt hat, vernachlässigt. Als weiterer Aspekt tritt die ebenfalls angesprochene Frage erneut auf, ob diese benannten Implikationen wie Freiheit und Selbstbestimmung einen exklusiven Charakter besitzen. Denkbar wäre dabei als Gefahr, dass es Menschen gibt, die diesen Grundsätzen nicht entsprechen können und ihr Menschsein folglich infrage gerät. Festgestellt werden muss ferner, dass Kreß hier deutlich betont, jedem Menschen Personenwürde wie -schutz zuzusprechen, was er selbst durch manche medizinischen Entwicklungen in Gefahr sieht. Wie wir noch sehen werden, wird sich dieser Fokus Kreß´ in seinen jüngeren Stellungnahmen zunehmend verändern. Hartmut Kreß äußert sich im Zusammenhang mit der Bestimmung des Personenbegriffs und seines normativen Stellenwerts zu Fragen des Lebensendes, die im Besonderen für diese Arbeit von Interesse sind. Hierzu zählt auch der Dissens um das Hirntod-Kriterium412 . Nach Kreß 410

Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 152ff. Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 166ff. 412 Um die Definition des Hirntodes als Tod des Menschen persistieren grundlegende Dissense. Auch durch das am 01.12.1997 in Kraft getretene Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben (Transplantationsgesetz – TPG) war eine Auflösung der Diskussionen nicht möglich. In diesem Gesetz wird der Bundesärztekammer die Aufgabe zugeteilt, nach § 16 TPG Regeln zur Feststellung des (Hirn-)Todes und zur ärztlichen Beurteilung dessen aufzustellen. Über die Ausgestaltung, was der Hirntod ist, entscheidet auf Grundlage dieses Gesetzes 411

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

wird „das Kriterium des Ganzhirntods der normativen Ethik der Personwürde gerecht“413 , da das Personsein als geistig-leibliche Einheit sowie die genuinen Merkmale des Menschseins mit dem Hirntod erlöschen.414 In dem Bewusstsein, dass durchaus kritische Einschätzungen zum Hirntodkriterium415 existieren, benennt er Rahmenbedingungen, die, sofern sie eingehalten werden, das Kriterium nicht mehr fragwürdig erscheinen lassen soll. Hierzu zählen etwa keine Aufweichung des Ganzhirntodkriteriums anzustreben, die Achtung vor dem Willen des Verstorbenen, keine Rechtspflicht zur Organspende zu fordern sowie die Gerechtigkeit bei der Organverteilung zu gewährleisten.416 Ersichtlich wurde in den vorausgegangenen Kapiteln, dass sich Kreß dem Fokus auf eine Subjektzentrierung innerhalb seiner Argumentationen annähert. Gleichwohl denkt er hier das relational-dialogische Personenverständnis in Nachbarschaft zum Verständnis des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen und beschreibt so verschiedene Komponenten des Menschseins. Wie jener erstgenannte Aspekt zunehmend in den Hintergrund gerät und zweitgenannter Propagierung findet, ist Thema der nachfolgenden Kapitel. Zugleich konnte besonders hinsichtlich der von Kreß gezogenen Konsequenzen für die Medizinethik aufgezeigt werden, dass hier bereits der Fokus des Personenbegriffs auf dem Verständnis des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen liegt.

letztlich die Bundesärztekammer. Die Debatte um den Hirntod entzündet sich besonders an der Frage nach dem Wesen des Menschen bzw. seines Todes und daran, ob es sachgemäß ist, einen Menschen aufgrund des irreversiblen Ausfalls wesentlicher Hirnfunktionen als tot zu bezeichnen. Damit einher geht in den Augen von Kritikern eine Überbewertung der kognitiv-geistigen Komponente des Menschseins bei einer Abwertung seiner Leiblichkeit, die ebenso konstitutiv bedeutsam für das Sein des Menschen als Ganzheit erscheint. Vgl. dazu etwa Rosenau, Die HirntodDebatte, 338ff.; Maio, Mittelpunkt Mensch, 281ff.; Quante, Hirntod; Wolbert, Zur neueren Diskussion. Vgl. darüber hinaus Hoff, Johannes, Schmitten, Jürgen in der (Hgg.), Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntod-Kriterium, Reinbek 1995. Die im Jahre 2012 öffentlich thematisierten Skandale um die Organspende in etlichen Transplantationszentren durch Richtlinienverstöße etwa in Form von Manipulationen der Organspendelisten werfen zudem einen Schatten auf den sicheren Umgang und die Praktikabilität des Hirntodkriteriums sowie auf das gesamte Themenfeld Organspende. 413 Kreß, Verantwortungsethik heute, 173. 414 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 173; Kreß, Transplantationsmedizin, 4. 415 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 174–183. 416 Vgl. Kreß, Verantwortungsethik heute, 183–187.

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3.2 Rechtsgrundsätze als normative Grundlage für eine Subjektzentrierung mit Fokus auf Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung Wie sich anhand mehrerer Verweise zeigen wird, wählt Hartmut Kreß nun einen prägnanten Zugang, der ihm in vielen besonders neueren Darstellungen als Argumentationsgrundlage und -ansatz dient und sich von der bisherigen Argumentationsstruktur inhaltlich und formal unterscheidet. Wurde in älteren Schriften eher der Verweis zu einem dialogisch-relationalen Verständnis des Personenbegriffs beispielsweise in Anbindung an die Philosophie Martin Bubers (und teils in Verbindung mit dem Begriff der Verantwortungsethik) gezogen, so fungiert dies nun nicht mehr als Hintergrund und wird nahezu ersetzt durch eine rechtsethische Zugangsweise. Zentralität erfahren dabei die Begrifflichkeiten Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung, die miteinander in Beziehung gebracht und als Schlüsselbegriffe für die weiteren Argumente Kreß´ eingesetzt werden, schließlich sogar das Primat des Menschen betiteln. Dass sich Kreß einem Rechtspositivismus417 anschließt, wird in seinen Darlegungen nicht weiter konzeptuell begründet. Gleichwohl kann diesbezüglich eine Beeinflussung durch ein Verständnis Lutherischer Zwei-Reiche-Lehre – zusätzlich auch in Konnex zu Kant – antizipiert werden. Jene Tradition sieht die positive Bewertung des Rechts in ihrem weltlichen Regiment, wobei der Gebrauch der Vernunft sowie sachliche Lösungen, welche auch Kreß nahe zu liegen scheinen, angestrebt werden. Eine Eigengesetzlichkeit weltlicher Ordnung kann Resultat sein, wodurch letztlich Glaube und Vernunft in einen Widerspruch treten können und eine Trennung von Gesetz und Evangelium erfolgt.418 Zugleich begegnet Recht als Instrument des Willens Gottes, denn „das weltliche Regiment ist Gottes eigene, in seinem Schöpferwillen begründete Regierweise, die sich des menschlichen R[echts; d. Vf.] bedient, um im Reich der Welt die äußeren Bedingungen dafür zu schaffen, dass den sozialen Folgen des Bösen gewehrt wird.“419 So erscheint Recht besonders mit dem Maßstab der Vernunft als „lebensdienliche 417

Eine genauere Aufarbeitung zu Rechtsethik und Rechtspositivismus sowie eine intensivere Einordnung der Kreßschen Theologie in diesen Zusammenhang kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur in knappen Auszügen gewährleistet werden. Für eine intensivere Auseinandersetzung vgl. etwa Loos, Art. Recht; Huber, Gerechtigkeit; Honecker, Grundriß; Lienemann, Grundinformation; Fischer, Grundkurs Ethik. 418 Vgl. Honecker, Grundriß, 29. 419 Reuter, Art. Recht, 1891. Vgl. Huber, Gerechtigkeit, 128.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Ordnung“420 und kann sich zudem an christlich-moralischen Grundsätzen orientieren.421 Die positive Funktion des Rechts, welches mithin als Ausdruck und Erscheinungsform von Kultur verstanden wird, wird besonders in seiner Ordnungsfunktion der Gesellschaft wahrgenommen sowie darin, Pflichten für gesellschaftliches Zusammenleben zu statuieren.422 Dieser Zuschreibung folgend, zeigen sich Konsequenzen für den Zusammenhang zur Ethik. Ihr kommt sodann die Aufgabe zu, „das ethische Fundament des Rechts zu bedenken und die Zuordnung von Recht und Ethos zu klären.“423 Zugleich trägt die Rechtsordnung dem „neuzeitlichen Weltanschauungs- und Gesinnungspluralismus Rechnung“424 und zeigt die Erforderlichkeit, Einschränkungen der Freiheit (des Einzelnen) begründen zu müssen. Wie bereits deutlich wurde und auch weiterhin beschrieben wird, liegen derartige Bestrebungen dem Sozialethiker Kreß, der aktives Mitglied innerhalb von Verbänden und Organisationen ist und eine breit aufgestellte, allgemein zugängliche und auf der individuellen Freiheit basierende Ethik zu konstruieren versucht, nahe.425 In Anschluss dieser Gedankengänge kann es als Kreß´ Bestreben interpretiert werden, auch seine evangelische Ethik in Anbindung an Rechtssätze zu formieren, um einerseits hierdurch eine Nachvollziehbarkeit innerhalb der pluralen Denkansätze der hiesigen Gesellschaft zu erzielen, andererseits seinen Darstellungen auf diesem Wege eine normativ-ordnende Funktion für die gesamte Gesellschaft und im Speziellen für entsprechende Verbände und Gremien zu verleihen. Des Weiteren kann von hier aus nochmals unterstrichen werden, dass ausgehend von diesem Denkansatz auch die bereits oben beschriebene Trennung von Dogmatik und Ethik in seiner Argumentation begünstigt wird.426 Gedankliche Grundlage für die Neu-Justierung der Argumentationsbasis nach Kreß bieten Rechtstexte, die Menschenwürde oder Menschenrechte rechtlich fixieren, wie sich beispielsweise im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zeigt. Sie deuten auf eine allgemeine und nahezu weltweite Anerkennung jener Zusagen hin.427 Kreß bescheinigt diesbezüglich einen theo420

Reuter, Art. Recht, 1891f. Vgl. Reuter, Art. Recht, 1891ff. 422 Vgl. Huber, Gerechtigkeit, 74; 91; Siekmann, Art. Recht, 1882f. 423 Honecker, Grundriß, 567. 424 Honecker, Grundriß, 569. 425 Vgl. dazu auch Fischer, Grundkurs Ethik, 67. 426 Vgl. hierzu Kapitel IV.3.1.1.1 Einschub: Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik. 427 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 11. 421

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retischen Konsens, wobei ihm zugleich eine inhaltliche Füllung des Würde-Begriffs notwendig erscheint, welche durch die abendländische Tradition gegeben ist.428 Dieser Aspekt soll im Folgenden eingehend beleuchtet werden. 3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit Während Kreß die Menschenrechte in verschiedenster Ausprägung wahrnimmt, wie beispielsweise als Schutz- und Freiheitsrecht, das jedem Menschen von Natur aus inhäriert, als Anspruchs- und Zukunftsrecht, als politisches Befreiungsrecht oder Entwicklungsrecht, führt er den Gedanken der Gottebenbildlichkeit mit seinen verschiedenen Deutungsmodellen als gedanklichen Verstehens- und Begründungshorizont für die Menschenwürde an.429 So legt Kreß auch jüdisch-christliche Sichtweisen der Gottebenbildlichkeit, die an die Schöpfungserzählungen anknüpfen, dar. Der leitende Aspekt ist, dass „das Menschsein in einer prinzipiellen Vergleichbarkeit mit Gottes Sein“430 verstanden werden kann. Inwiefern diese Statuierung geeignet zu sein scheint, um den biblischen Begriff der Gottebenbildlichkeit näher zu verorten, wird im Folgenden deutlich werden. Kreß konstatiert, dass der Gottebenbildlichkeitsbegriff gedanklich bereits den Begriff der Menschenwürde vorwegnimmt. Hier liegt eine gewisse Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit mit Gott vor, die sich beispielsweise „in der menschlichen Vernunft oder in der aufrechten Gestalt oder in der Ausübung von Herrschaft durch den Menschen“431 zeigt, ohne darin vollkommen aufzugehen.432 Kritisch hingegen kommentiert Kreß die inhaltliche Füllung des Gottebenbildlichkeitsbegriffs auf die Weise, dass der Menschen „in seinen Beziehungen als Bild Gottes“433 wahrgenommen wird. Diese Position ist besonders von Karl Barth entwickelt worden und betont den Menschen in Relationsanalogie als Beziehungswesen. Die Kritik, die nun Kreß an dieses Gedankenmodell hervorbringt, hat darin seinen Ursprung, dass er es als Defizit wertet und als Gefahr wahrnimmt, in der Relationalität des Menschen seine Individualität zu vernachlässigen. So formuliert Kreß: 428

Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 11. Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 12; 14ff. 430 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 14f. 431 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 15. 432 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 15–28. Hier werden verschiedene weitere Deutungsakzente des Gottebenbildlichkeitsaspekts dargelegt. 433 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 23 (Kursivdruck im Original). 429

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

„Barth legte also nicht darauf den Akzent, den einzelnen Menschen, das Individuum als Gottes Ebenbild zu bezeichnen. Vielmehr betrachtete er Mann und Frau in ihrem Verhältnis zueinander als Ebenbild Gottes. Der spekulative Charakter dieser Überlegungen – zumal was die historisch-exegetische Basis anbelangt – liegt auf der Hand. Zudem überspielte diese Position den wegweisenden Sinn, der in der jüdisch-christlichen Geistesgeschichte mit dem Begriff Gottebenbildlichkeit immer wieder verknüpft wurde: daß nämlich jede einzelne Person es sei, die durch das Würdeprädikat der Gottebenbildlichkeit ausgezeichnet werde. Vor diesem Hintergrund haben das Judentum und Christentum die geistigen Grundlagen für die Hochschätzung der menschlichen Individualität, für das Leitbild des ‚unendlichen Wertes der Menschenseele‘ (Adolf Harnack) und die Ethik der individuellen Menschenwürde gelegt [. . . ]. Solche Gesichtspunkte traten bei Barth in den Hintergrund.“434

An dieses Zitat Kreß´ seien nun einige Anfragen gewährt, um damit zugleich das Verständnis der imago Dei zu konkretisieren. Als allgemeine Frage soll kurz vorangestellt werden, inwiefern der Gottebenbildlichkeitsbegriff im isolierten Rückgriff auf die Schöpfungserzählungen geeignet ist, um als fundierte Begründung einer unverlierbaren Würde aller Menschen zu dienen. Unmittelbar kann hieran kritisiert werden, dass jeglicher christologische sowie soteriologische Bezug für ein evangelisches Verständnis fehlt. Fraglich bleibt ferner, ob und inwiefern der schöpfungstheologische, alttestamentliche Textbezug auf die neutestamentliche Verwendung des Begriffes Gottebenbildlichkeit bezogen wird. Um diese Fragestellungen argumentativer zu verorten, soll nun gezielt die Auslegungsgeschichte in Auszügen vorgestellt werden.435 Betrachtet man den alttestamentlichen Befund, so sollte einerseits bedacht werden, dass die Quantität der Belegstellen für die Verwendung des Gottebenbildlichkeitsaspekts recht gering ausfällt. Von der Gottebenbildlichkeit des Menschen wird neben den Schöpfungserzählungen (Gen 1,26f., Gen 5,1 und Gen 9,6) nur noch in Ps 8,6 als Parallelstelle zu Gen 1,27 berichtet. Anfänglich sei der etymologische Befund im 434 435

Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 23f. Angemerkt sei, dass eine umfassende exegetische Auslegung des imago Dei anhand von Textstellen im Alten und Neuen Testament, der Traditionsgeschichte sowie innerhalb theologischer und ethischer Konzepte nicht dargestellt werden kann. Es muss sich aufgrund dieses dissensgeprägten Aspekts auf Auszüge beschränkt werden. Vgl. für eine weitere Auseinandersetzung beispielsweise Groß, Art. Gottebenbildlichkeit, 871–878; Groß, Die Gottebenbildlichkeit, 35–48; Mathys, Ebenbild Gottes; Härle, Rechtfertigung, 78–100; Dalferth, Person, 60–97.

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Hinblick auf die Begrifflichkeit des Bildes Gottes befragt. Der Wortlaut im hebräischen Alten Testament entspricht dem der Statue Gottes. Jene Gottesstatuenmetaphern entstammen der altorientalischen Königtumstheologie. Der König wird als „machtvoller und tätiger Repräsentant der Gottheit“436 beschrieben, was zugleich im Sinne der Herrschaft auf Erden, also in Verbindung mit dem dominium terrae437 (Gen 1,28), gesehen wird.438 Die Verwendung und Einsetzung der Statuen-Metapher wird in diesem Kontext verdeutlicht, dass der Mensch in einem bestimmten Rahmen Gott auf Erden (in Form seiner Herrschaft auf Erden) vertritt, folglich göttliche Qualitäten erhält. Eine Ähnlichkeit von Gott und Mensch dem Aussehen oder empirischer Eigenschaften nach ist hier mithin nicht gemeint.439 Unter Betrachtung des griechischen Alten Testaments wird ersichtlich, dass „die griechische Urbild-Abbild-Spekulation einströmen“440 kann. „Hier ist tatsächlich von Gottebenbildlichkeit die Rede. Der Mensch ist nicht Bild Gottes, sondern nach dem Bild Gottes erschaffen.“441 Es verändert sich nun der Blickwinkel: „Die Gottebenbildlichkeit wird nicht, wie in der Hebräischen Bibel, funktional, sondern als seinshafte Ausstattung des Menschen verstanden.“442 Folglich wird der Inhalt der Gottebenbildlichkeit sodann mit der Ewigkeit Gottes gefüllt, an der der Mensch hier Anteil erhält.

„Wie die Gottesstatuenhaftigkeit nur besagt, daß der Mensch Gott unter einer bestimmten Rücksicht, nämlich der Herrschaft, repräsentiert, so besagt die Gottebenbildlichkeit, daß der Mensch nur in einer bestimmten Hinsicht, nämlich der Ewigkeit, Gott abbildet.“443 436

Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 12. Mit dem Begriff des dominium terrae in Gen 1 wird inhaltlich der dem Menschen zugesprochene Auftrag zur Herrschaft über die Erde beschrieben. Insbesondere in alttestamentlicher Wissenschaft erfolgt hierzu eine kontroverse Diskussion, die sich auch von der Sorge tragen lässt, der Mensch könne der Erde mit seiner Beherrschung schaden und sie zerstören. Es erscheint eminent beachtlich, dominium terrae auf das Stichwort Bewahrung der Schöpfung zu beziehen. Für eine genauere Diskussion vgl. besonders Weippert, Tier und Mensch. 438 Vgl. Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 11ff.; Welker, Person, 258. 439 Vgl. Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 18f.; Link, Schöpfung, 393f. 440 Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 35. 441 Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 35. 442 Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 37. 443 Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 37. 437

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Es ist also im griechischen Kontext mit der Begrifflichkeit stärker eine seinsmäßige Abbildhaftigkeit gegenüber Gott als dem Urbild gemeint.444 Christian Link konstatiert hierzu: „Das Prädikat der Gottebenbildlichkeit beschreibt also keinen empirisch aufweisbaren Habitus des Menschen; es ist wie der ganze Bericht von Gen 1 weder historisch noch empirisch zu verifizieren und geht darum notwendig über jede Selbsterfahrung des Menschen hinaus. Es blickt nicht auf das, was der Mensch immer schon ist, redet nicht von dem, als was er sich immer schon weiß und kennt, sondern zielt auf das, was zu werden er kraft göttlicher Bestimmung berufen ist: was er also nicht ‚hat‘ wie Vernunft und aufrechten Gang, sondern was er eigens realisieren muß.“445

Eine eschatologische Komponente, die auch Bestimmung und Telos des Menschen unterstreicht, erhält folglich Einzug. In diesem Kontext drängt sich eine weitere Blickrichtung auf, die wohl wissend keine Objektivität beanspruchen kann. Da allerdings durch den neutestamentlichen Befund eine weitere Perspektive einströmt, stellt sich die Frage nach der Verbindung von Altem und Neuem Testament im Hinblick auf das Verständnis der Gottebenbildlichkeit und eines übergreifenden Verständnisses dieses Begriffs. Infolgedessen wird der Zugang zu den neutestamentlichen Befunden nun aufgegriffen. Werden speziell die neutestamentlichen Aussagen zur Gottebenbildlichkeit betrachtet, so begegnet vorrangig Jesus Christus als das Ebenbild Gottes, wie es beispielsweise in 2. Kor 4,4, Kol 1,15 oder Hebr 1,3 zu lesen ist. Hierbei eröffnet sich ferner die eschatologische Komponente der verheißenen Gottebenbildlichkeit.446 In Jesus Christus als dem einen Ebenbild Gottes fließen also die christologischen wie soteriologischen Linien zusammen: „Jesus Christus ist als Schöpfungsmittler auch als Mensch Gottes Ebenbild und in ihm allein ist Erlösung zu finden.“447 In Jesus Christus, dem Schöpfungsmittler, vergegenwärtigt sich der Zusammenhang von Schöpfung und Bund. Trinitätstheologisch lässt sich somit auch begründen, dass das Schöpfungsverständnis nicht von Jesus Christus loszulösen ist. „Unchristologisch kann deshalb kein theologisch angemessenes Verständnis der Schöpfung gewonnen wer444

Vgl. Groß, Gen 1,26.27; 9,6, 37. Link, Schöpfung, 394. 446 Vgl. beispielsweise 1. Kor 15,49; 2. Kor 3,18 oder auch Röm 8,29. 447 Plasger, Zum Ebenbild Gottes geschaffen, 31f. 445

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den“448 . Die Schöpfungsmittlerschaft verbindet also Schöpfung und Erlösung.449 Denn „Schöpfung und Versöhnung stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Indem Gott in Jesus Christus die Trennung überwindet, die durch die Sünde in die Welt kam, dh. [sic!] vor allem in die Beziehung des Menschen zu Gott, widerruft er nicht seine Schöpfung, sondern er hält ihr vielmehr die Treue. In Christus erfüllt Gott die Bestimmung des Menschen, die er bereits mit seiner Erschaffung im Auge hatte, nämlich – wie wir abgekürzt sagen können – die Gotteskindschaft und damit zugleich die rechte Bruderschaft untereinander, das was im Alten Testament als Schalom, im Neuen als soteria bezeichnet werden kann. Das geschieht gewiß insofern in Überbietung der Schöpfung, als es in Vergebung und Überwindung der Sünde besteht, was die Schöpfung noch nicht impliziert, aber damit ist doch zugleich die geschöpfliche Bestimmung des Menschen nicht eliminiert, sondern gerade bewahrt und – überschwenglich [sic!] – ‚aufgehoben‘.“450

Folglich stellt – folgt man hier der Barthschen Theologie, die in besonderer Weise die Christologie betont – Jesus Christus auch den Erkenntnisgrund der Schöpfung dar. Von der Erfüllung ausgehend kann wiederum von der Bestimmung des Menschen gesprochen werden.451 Diese Denkrichtung gründet darin, dass sich Gott in Christus seinem Geschöpf zu erkennen gibt. Zudem ist den Menschen bereits eine Teilhabe in Jesus Christus – dem wahren Menschen – an der Ebenbildlichkeit zugesprochen. „Der versöhnte Mensch ist der neue Mensch – der, 448

Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 401. Vgl. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 401–405. 450 Kreck, Grundfragen, 114. 451 Vgl. Kreck, Grundfragen, 114ff. An dieser Stelle sei bereits der kurze Hinweis gegeben, dass die Erkenntnisse zur Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi auch im Hinblick auf Barths Schrifthermeneutik und somit ebenso in Bezug auf Kreß Vorwurf der exegetischen Unschärfe Wichtigkeit aufzeigen. Für Barth ist es der einzig gangbare Weg der Erkenntnis von Jesus Christus als dem wahren Menschen und dem wahren Gott ausgehend zu Gott und den Menschen zurückzufragen und somit auch der Gesamtheit der Schrift Beachtung zu schenken (vgl. Barth, Nein). Dies ist gerade, wie es beispielsweise Trowitzsch bezeichnet, „die evangelische Kenntlichkeit der Theologie“ (Trowitzsch, Karl Barth heute, 88). Insofern ist Barths Argumentation nicht mit historisch-kritischer Exegese vergleichbar, was allerdings nicht zwingend eine Unmöglichkeit seiner Vorgehensweise aussagen muss. Die Wertigkeit einer christologisch orientierten Theologie wird in diesem Kontext ersichtlich (vgl. weiter zu Barths Schrifthermeneutik Trowitzsch, Karl Barth heute, 86–176; Becker, Karl Barth und Martin Buber; Goud, Emmanuel Levinas und Karl Barth). 449

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dem in eschatologischer Hinsicht das Neue Testament die Anteilhabe am Bild Christi zuspricht.“452 Eine präsentische wie futurische Teilhabe an der Ebenbildlichkeit zeigt sich hier. Im biblischen Kontext wird ersichtlich, dass die Gottebenbildlichkeit Jesu Christi „ein Ineinander von Sein und Handeln“453 beschreibt. Plasger stellt hierzu fest: „Beide Aspekte benennen jeweils einen Aspekt des Ganzen. Als neue Menschen sind die Versöhnten schon hier Gottes Ebenbild und als neue Menschen handeln die Versöhnten in der Welt. Beide Dimensionen lassen sich nicht trennen. Damit ist die theologische Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen neu möglich – jedoch nicht in der gängigen schöpfungstheologisch verkürzten Weise.“454

Folglich ist das Reden von der Gottebenbildlichkeit unter Beachtung des Sünderseins des Menschen und im christologischen Horizont auch in ethischen Kontexten möglich. Als neue Menschen sind wir in Jesus Christus Gottes Ebenbilder. Dieses Sein hat Auswirkung und steht in Verbindung mit Handeln: Als neue Menschen und hierin als Gottes Ebenbilder handeln wir als Ebenbilder Gottes, indem dem Auftrag des Menschen entsprochen wird, die Schöpfung zu bewahren. Beachtet werden sollten dabei die neu- und alttestamentlichen Bezüge in ihrem Zusammenhang.455 Nicht selten – und so auch bei Hartmut Kreß – tritt eine inhaltliche Verknüpfung des Ebenbildlichkeitsbegriffs mit der Menschenwürde auf. Dass der Mensch zum Ebenbild Gottes geschafften ist, zieht in manchen Argumentationen unmittelbare ethische Konsequenzen. So zeigt auch die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz eine Identifikation von Ebenbildlichkeit und Würde des Menschen, wenn sie argumentiert: „Die Gottebenbildlichkeit wird darum in der geistigen Welt des Christentums zu einem Zentralbegriff in der Beschreibung der besonderen Würde des menschlichen Lebens.“456 Das argumentative Fundament der Gleichsetzung der Gottebenbildlichkeit mit der Würde des Menschen fordert besonders vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Interpretationsgeschichte nun eine genauere Betrachtung. Dazu sei vordergründig darauf 452

Plasger, Zum Ebenbild Gottes geschaffen, 34. Plasger, Zum Ebenbild Gottes geschaffen, 34. 454 Plasger, Zum Ebenbild Gottes geschaffen, 34. 455 Vgl. Plasger, Zum Ebenbild Gottes geschaffen, 34; Tanner, Vom Mysterium, 153. 456 Kirchenamt der EKD, Gott, 39. 453

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verwiesen, dass der Aspekt der Würde des Menschen kein genuin theologischer ist, sondern sich auf Grundlage der Stoa und schließlich durch die Aufklärung auch letztlich in die Theologie eingetragen hat (und dort mithin theologisch fundiert verortet werden kann).457 Dies lässt bereits vermuten, dass der unmittelbare Schulterschluss von Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, den Kreß hier vornimmt und christlichjüdisch verortet, verfrüht erscheint. Dennoch besitzt im Christentum „der Ausdruck ‚Menschenwürde‘ eine lange, die alt- und neutestamentliche Würdigung der Vorzüglichkeit des Menschengeschöpfes aufnehmende Tradition“458 , die vorrangig als Bestandteil des Naturrechts galt. Auf diese Weise wurde die dignitas hominis mit der imago Dei verknüpft.459 Diesen Gedanken sind allerdings die obigen Beschreibungen des Ebenbildlichkeitsbegriffs im Rückgriff auf die vorgestellten biblischen Befunde sowie christologische und soteriologische Einträge kritisch entgegenzuhalten. Weder im hebräischen noch im griechischen Kontext wird die Gottebenbildlichkeit ursprünglich als empirischer Habitus verstanden, der den Menschen bzw. das Menschengeschlecht von Natur aus aufwertet. Die funktionale oder seinshafte Ausstattung des Menschen kann vielmehr eine Linie zur Berufung des Menschen ziehen und stellt keinen Bruch zur neutestamentlichen Einsetzung des Begriffs dar und interpretiert ferner die Gottebenbildlichkeit als Auftrag. In Form der aufgezeigten Linien kann Altem und Neuem Testament entsprochen werden. Eine christologische wie soteriologische Interpretation, der zugleich eine Allianz von Sein und Handeln inhäriert, ermöglicht dann wiederum ethische Implikationen. Kritisch zu sehen ist also eine rein auf alttestamentlichen Bezügen beruhende Gleichsetzung von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde, besonders als Bezeichnung der geistig-leiblichen Vorrangstellung des Menschen. Es öffnet sich vielmehr die Möglichkeit, in Anbindung an die christologische Deutung der Gottebenbildlichkeit ebenso ein christologisches Konzept der Menschenwürde zu entwickeln, woran dann schließlich in Jesus Christus jeder Mensch Anteil erhält.460 Dieses Konzept liegt letztlich auch der Theologie Karl Barths zugrunde. In der vorgestellten Lesart deutet sich folglich eine inhaltliche Fundierung auf Grundlage der Wahrnehmung der Schrift als Einheit. An Hartmut Kreß ist demnach die Frage zu stellen, ob diese Vorgehensweise einen tatsächlich rein spekulativen 457

Vgl. Sparn, „Aufrechter Gang“, 223f. Sparn, „Aufrechter Gang“, 225. 459 Vgl. Sparn, „Aufrechter Gang“, 225. 460 Vgl. Welker, Person. 458

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Charakter aufweist oder nicht vielmehr in der vorgestellten Argumentationskette durchaus inhaltliche Berechtigung besitzt.461 Fernerhin ist zu klären, ob Kreß´ gewählte Verbindung von rein spekulativ mit nicht historisch-exegetisch fundiert, angemessen ist.462 Ein weiterer Blick in die Auslegungsgeschichte des Ebenbildlichkeitsbegriffs zeigt ähnliche Tendenzen, wie sie bei Kreß aufzufinden sind: Da der alttestamentliche Terminus der imago Dei besonders im Kontext der ersten Schöpfungserzählung verortet ist, wurde in der reformatorischen Lehre die verlorene Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall unterstrichen, deren Wiedergewinnung in der Gnade Gottes in Jesus Christus liegt. Durch Jesus Christus ist es den Menschen verheißen, erneut Ebenbilder Gottes zu werden. Eine starke soteriologische Veror461

Nur in aller Kürze ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Barths Schrifthermeneutik durchaus Ansatz für Kritik bieten kann, gleichwohl bei anderen Rezipienten Akzeptanz und Verständnis hervorruft, insbesondere hinsichtlich seiner durchgängig christologisch konzipierten Anthropologie. Exemplarisch kann zur näheren inhaltlichen Erklärung auf Goud, Emmanuel Levinas und Karl Barth, Trowitzsch, Karl Barth heute, oder Becker, Karl Barth und Martin Buber verwiesen werden. Trowitzsch beschreibt etwa eine Grundlegung der Hermeneutik als Notwendigkeit einer evangelischen Blickrichtung, was durch ein Verständnis des Evangeliums zu erzielen ist. Da nichts außer Gottes Selbstkundgabe und Offenbarung in Jesus Christus zu wissen ist (1. Kor 2,2), muss hierin die theologische Hermeneutik an Deutlichkeit gewinnen (vgl. besonders Trowitzsch, Karl Barth heute, 86–106). Auch Becker beruft sich auf jenen Aspekt und unterstreicht in Anlehnung an Barth die christologisch begründete Anthropologie als einzig möglichen Weg einer theologischen Anthropologie, da „der Mensch nur aus der Offenbarung des Wortes Gottes zu verstehen ist“ (Becker, Karl Barth und Martin Buber, 17). Er unterstreicht ferner: „Das Sein Jesu Christi ist wie die ontologische, so auch die noetische Voraussetzung der Erkenntnis der Relationalität des Menschen“ (Becker, Karl Barth und Martin Buber, 121). So wird durch Jesus Christus erkennbar, was jeder Mensch im Allgemeinen ist (vgl. Becker, Karl Barth und Martin Buber, 120ff.). Von dort ausgehend erscheint Barths Vorgehensweise als logischer und gangbarer Weg, sich zuerst vom Menschen im Allgemeinen wegzubewegen und auf den einen Menschen Jesus Christus zu blicken, um dann wiederum von da aus zum Menschen im Allgemeinen zurückzublicken. So lassen sich formaliter und materialiter alle Aussagen über den Menschen aus christologischen Sätzen entwickeln (vgl. Becker, Karl Barth und Martin Buber, 135ff.). 462 An dieser Stelle sei (nochmals) notwendigerweise darauf verwiesen, dass durchaus insbesondere exegetische Kritik an Karl Barths Auslegung zur Gottebenbildlichkeit gerichtet wird. Vgl. beispielsweise Groß, Die Gottebenbildlichkeit, 36. Eine eigene Positionierung Karl Barths zur historisch-kritischen Exegese ist im Vorwort seiner Römerbriefauslegung zu finden. Vgl. etwa Barth, Der Römerbrief, 3; 11ff. Ferner kann auf folgende Werke zur Thematisierung Barths nachkritischer Schriftauslegung verwiesen werden: Vgl. beispielsweise Smend, Die Mitte des Alten Testaments, 41ff.; Bächli, Das Alte Testament, 3ff.; 17ff.; 103ff.; 134ff.; 270ff.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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tung ist ersichtlich. In den Hintergrund tritt dabei, dass Jesus Christus (auch als Mensch) das eine Ebenbild Gottes ist, wie oben bereits beschrieben wurde. Im 19. Jahrhundert wurde die Gottebenbildlichkeit des Menschen noch stark als Naturrecht vorausgesetzt und oftmals eine auch bei Kreß zugrunde liegende Identifikation mit der Menschenwürde vorgenommen.463 Ferner ist im Hinblick auf die oben dargestellten Sichtweisen Kreß´ zur Gottebenbildlichkeit und gezielt in Anbindung an die Auslegungen zur imago-Dei-Begrifflichkeit zu fragen, ob es eine sachgemäße Darstellung ist, Gottebenbildlichkeit als Vorwegnahme des Menschenwürde-Begriffs infolge der Ähnlichkeit mit Gott, die sich besonders durch die Vernunft, den aufrechten Gang sowie die Herrschaft des Menschen verdeutlicht, einzustufen. Im Konkreten ist zweifelhaft, ob gerade die Vernunft sowie körperlich-leibliche Kennzeichen die Gottebenbildlichkeit mit einem empirischen Habitus des Menschen identifiziert, statt auf seine funktionale sowie seinshafte Ausstattung und auf seine Bestimmung hin zu verweisen – und darüber hinaus eine christologische Anbindung zu schaffen. Der Aspekt der Vernunftkonzentration lässt es mitunter schwer erscheinen, eine theologische Fundierung zu integrieren. Bereits in der Auseinandersetzung mit Kant konnte oben der Hinweis gegeben werden, dass Gott sich der Erfassung durch den Verstand des Menschen entzieht, was wiederum Kant auch deutlich gemacht hat. In einem nächsten Schritt der Anfragen an das obige Zitat Kreß´ soll sein Verständnis der Darstellungen Barths zum Aspekt der Gottebenbildlichkeit untersucht werden. Kreß´ Kritik basiert besonders auf der Wahrnehmung, dass Barth die Individualität des Menschen vernachlässigt, indem er die Gottebenbildlichkeit relational verortet.464 Zur Reaktion auf diese Aussage Kreß´ sei in aller Kürze nochmals auf den Zwischenschritt zum Autonomie-Verständnis in Kapitel III.7 verwiesen, in dem dargelegt wurde, wie die Individualität des Menschen dem relationalen Konzept inhäriert und sich in diesem Entwurf einer relationalen Autonomie auch und in besonderer Weise theologisch begründen lässt.465 Mit Blick auf die bereits erfolgte Darlegung der frühen Argumentation Kreß´ ist ein weiterer Hinweis auf eine Veränderung in seinem Denken gegeben. Hatte Kreß ursprünglich selbst eine gewisse Betonung des relational-dialogischen Personenverständnisses ange463

Vgl. Sparn, „Aufrechter Gang“, 226f.; Plasger, Zum Ebenbild Gottes geschaffen, 27f.; 31. 464 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 23f. 465 Vgl. darüber hinaus auch das Kapitel V.2.2.3.2, in dem der Aspekt der Individualität bei Barth nochmals Betonung findet.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

strebt, wie es in den Kapiteln IV.3.1.1 und IV.3.1.2 ausführlich erläutert wurde, so zeigt sich nun eine Distanzierung von dieser Denkart, sodass er relationale Konzepte, denen der frühe Kreß selbst nahe stand, kritisiert. Rückblickend sei nochmals an die bereits hervorgebrachte Kritik erinnert, dass auch schon in seinen frühen Ausführungen das relational-dialogische Konzept argumentativ recht verbindungslos zur Vernunftkomponente des Menschen addiert wurde. Abermals bestätigt sich, dass insbesondere die theologischen Argumente unabhängig von der relationalen Komponente des Menschseins erscheinen, was besonders beim Ebenbildlichkeitsbegriff deutlich wird. Schon früher, wie das Kapitel IV.3.1.2.3 zeigte, ist bei Kreß die Gottebenbildlichkeit in den Begründungskontext der subjektzentrierten Autonomie und Entscheidungsfreiheit einzuordnen, was nun in der Kritik an Barth wieder zum Tragen kommt. Unter Betrachtung von Etymologie und Semantik des Autonomie-Begriffs konnte bereits eine Wertschätzung des Subjekts in einer relationalen Struktur erkennbar werden. Besonderen Stellenwert erhält in diesem Kontext allerdings die theologische Konstruktion des (relationalen) Autonomie-Begriffs. Hierfür wird wichtig (und dies vor allem in Anbindung an Barth), dass der Mensch nur in Relation zu Gott und den Menschen wirklich Selbst sein kann und dazu befreit ist, die Relation zu wählen und somit seiner Aufgabe und seiner Verantwortung zu entsprechen, nämlich Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein. Diese Gedanken stützen sich auf die Bestimmung des Menschen zu Gottes Bundesgenossen, welche eine ontologische Relationalität des Menschen begründet. Offenbar wird dies in Jesus Christus, in dem in seiner Wirklichkeit als wahrer Gott und wahrer Mensch das Sein als Geschöpf für uns Menschen verwirklicht und ermöglicht wird.466 Trotz der relationalen Struktur wird stets das Subjekt aufgewertet, welches die Verantwortung des eigenen Handelns trägt. Die Autonomie des Menschen – als relationale Autonomie verstanden – begründet sich in der ermöglichten Autonomie durch die Theonomie Gottes, die den Menschen Selbst und Subjekt sein lässt, und in die Antwort mündet, in Freiheit die Autonomie in der Relation zu wählen. Es ist also die Theonomie Gottes, die die relationale Autonomie des Menschen begründet, ermöglicht und erhält. Das Subjekt und somit die Individualität eines jeden Menschen ist folglich ein zentraler Aspekt innerhalb relationaler Strukturen, wobei dieser zugleich nicht verabsolutiert wird.467 466 467

Vgl. KD IV/2, 80; 587; Becker, Sein, 137. Vgl. hierzu in Einzelheiten den Zwischenschritt: Das Verständnis des AutonomieBegriffs im Kapitel III.7.

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Ferner kritisiert Kreß genauer, dass Barth nicht das Individuum als Ebenbild Gottes definiert, sondern vielmehr „Mann und Frau in ihrem Verhältnis zueinander“468 . Barth, so Kreß, überspiele die Auszeichnung einer jeden Person durch das Würdeprädikat der Gottebenbildlichkeit, welches Kreß wiederum als geistige Grundlage für eine Hochschätzung der Individualität gegeben sieht. Die Individualität gelte als Leitbild für den Wert eines Menschen sowie für eine Ethik der individuellen Menschenwürde. Da all diese Aspekte nach Kreß bei Barth in den Hintergrund zu treten scheinen, bewertet Kreß dieses Vorgehen als rein spekulativ und nicht auf historischer Exegese basierend.469 Zur angemessenen Reaktion auf Kreß´ Aussagen sollte, besonders mit Fokus auf das Individuum, überprüft werden, wie Barths Darstellungen in diesem Kontext zu interpretieren sind und wie er seine Konzeption zum Thema Ebenbild Gottes aufbaut. Grundlage der Darstellungen bei Barth ist, dass Gott sich (zuerst) selbst aus seiner eigenen Freiheit zu den Menschen in Beziehung setzt und hierdurch ein Nachbild seiner selbst schafft. Barth beschreibt: „Gott schafft, indem er in diese Beziehung tritt, ein Nachbild seiner selbst. Auch in seinem eigenen, innergöttlichen Sein ist nämlich Beziehung.“470 Durch diese Konstituierung der Beziehung zu dem Menschen offenbart Gott sein innerstes Sein, ein Sein in Beziehung. Ferner offenbart sich Gottes Sein für den Menschen in Jesus Christus, da er radikal der Mensch für den Mitmenschen ist und sich dies in seinem Leben zeigte.471 Gott schafft also den Menschen als Nachbild seiner selbst, als Nachbild seines Seins in Beziehung, und hierdurch zugleich eine gewisse Differenz, die sich von Gleichheit abzugrenzen weiß. Durch die Nach-Bildhaftigkeit zeigt sich überdies eine gewisse Ordnungsrelation, da sich hier keine reine Wiederholung ereignet.472 Die Beziehungshaftigkeit des Menschen ist ontisch bereits konstituiert. Gott ist „in dieser seiner Dreieinigkeit das Urbild und die Quelle alles Ich und Du: Ich, das ewig vom Du her und ewig zum Du hin und gerade so im eminentesten 468

Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 23f. Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 23f. 470 KD III/2, 260. 471 Vgl. KD III/2, 251; KD III/2, 259. 472 Vgl. KD III/2, 260f.; Thielicke, Theologische Ethik, 323. Die Nachbildhaftigkeit bei Barth erfährt trinitarische Vermittlung. Vgl. KD III/2, 260f. Beispielsweise Marquardt deutet den Aspekt der Ebenbildlichkeit stärker auf die Mitmenschlichkeit Jesu bezogen und schwächt so die Gottebenbildlichkeit Jesu (vgl. etwa Kol 1,14) ab. Vgl. Marquardt, Das christliche Bekenntnis, 365f.; Marquardt, Eia, wärn wir da, 440–572. 469

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Sinne Ich ist.“473 Gott schafft jeden Menschen, jedes Ich und jedes Du, als Nachbild des Seins in der Beziehung. Zugleich zeigt dies Analogien auf der Ebene Mensch – Mensch. So kann Barth feststellen: „Ich bin, indem Du bist, und Du bist, indem Ich bin.“474 Auch das Ich und das Du stehen wechselseitig in Beziehung, sind aber gerade dadurch jeweils individuell, folglich das eigene Ich. Die Individualität besteht, wenn man entgegen Kreß argumentieren möchte, trotz – oder besser ausgedrückt sogar in der Sozialität. Ersichtlich wird, dass Barth keineswegs, wie es Kreß auffasst, die Individualität vernachlässigt. Gleiches konnte ebenfalls durch den Verweis auf den Zwischenschritt zum Verständnis des Autonomie-Begriffs (Kapitel III.7) gezeigt werden. Er schätzt die Individualität, die, wie oben gesagt, im eminentesten Sinne gerade dieses Ich beschreibt, nimmt sie aber nicht isoliert, sondern im Kontext ihrer Konstituierung durch Gott als Nachbild seines Seins in Beziehung wahr. Die Individualität wird also, ohne sie abzuschwächen, in die Relationalität eingeordnet. Die Individualität realisiert sich trotz – oder in – der Sozialität.475 Dieser Hinweis lässt sich abermals stärken durch eine eigene Äußerung Barths, denn er reagiert bereits auf eine einseitige Angleichung von Ich und Du: „Wir haben diesen Satz zu sichern gegen zwei Mißverständnisse. Das eine wäre dies: Humanität in diesem höchsten Sinn des Begriffs kann nicht etwa darin bestehen, daß der Eine sich gewissermaßen an den Anderen verliert, sein eigenes Leben, seine eigene Aufgabe und Verantwortlichkeit preisgibt oder doch vergißt und versäumt, sich selbst zu einer bloßen Angleichung an den Anderen, zu seiner Nachahmung, und die Aufgabe und Verantwortlichkeit des Anderen zum Rahmen seines eigenen Lebens macht. Der Mensch gehört zum Mitmenschen; Er kann ihm aber nicht gehören, er kann ihm nicht hörig werden. Er kann es darum nicht, weil er ihn damit gerade in dem, was er ihm ist, nämlich als den Anderen, nicht sehen und anerkennen würde. Er würde ihm mit scheinbar so großer Ehre gerade zu wenig Ehre erweisen. Er würde sich ihm gerade mit einer scheinbar so völligen Hingabe in Wirklichkeit versagen. Er würde ihm damit zu 473

KD III/2, 261. Ersichtlich wird an dieser Stelle, dass Barth sich im Hinblick auf die Ebene der Mitmenschlichkeit dem Gedankengut Martin Bubers bedient. Zugleich weisen sie in ihren Gottesvorstellungen eher Differenz auf. Zur Konstituierung der Anthropologie hat Buber entscheidenden Einfluss auf Karl Barth. Ein wesentlicher Unterschied der beiden Anthropologien besteht hingegen in der christologischen Konstruktion, die Barth verkörpert. Für eine genauere Untersuchung der Nachbarschaft von Barth und Buber vgl. Becker, Karl Barth und Martin Buber. 474 KD III/2, 297. 475 Vgl. außerdem Becker, Karl Barth und Martin Buber, 101ff.

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nahe treten, daß er die Begegnung mit ihm nun doch zu einer Vereinigung mit ihm verfälschen wollte.“476

Eine Wahrung der Individualität findet folglich hohen Stellenwert. Diese soeben beschriebene Beziehungshaftigkeit des Menschen, das Sein in Beziehungen, findet Konkretion und Offenbarung in Jesus Christus, denn „es gibt eine göttlich-wesentliche Entsprechung und Ähnlichkeit zwischen dem Sein des Menschen Jesus für Gott und seinem Sein für den Mitmenschen. Diese göttlich-wesentliche Entsprechung und Ähnlichkeit besteht darin, daß der Mensch Jesus in seinem Sein für den Menschen das innere Sein, das Wesen Gottes selbst wiederholt und nachbildet und eben damit sein Sein für Gott wahr macht. Es ist klar, daß wir es hier mit dem letzten und entscheidenden Grund zu tun haben, auf den wir hinblickten, als wir von dem ontologischen Charakter, von der Realität und von der Radikalität des Seins Jesu für den Mitmenschen geredet haben. Das Alles hat seine Wahrheit und Kraft aus diesem letzten Zusammenhang. Die Humanität Jesu ist nicht nur die Wiederholung und Nachbildung seiner Divinität, nicht nur die des ihn regierenden Willens Gottes, sondern die Wiederholung und Nachbildung Gottes selber: nicht mehr und nicht weniger. Sie ist das Bild Gottes, die imago Dei.“477

Als Argumentationsgang Barths zeigt sich auf Grundlage dessen Folgendes: Im Sein für die Mitmenschen wiederholt Jesus Christus das Wesen Gottes, was sein Sein für Gott darstellt. Es zeigt sich ferner Jesu Sein für den Mitmenschen. Somit kann Barth sagen, dass die Humanität Jesu gerade die Nachbildung seiner Göttlichkeit ist, da ja Gottes Sein ein Sein in Beziehungen ist, die Humanität Jesu insofern sogar eine Nachbildung Gottes selber ist, was wiederum zu der Gleichsetzung als Bild Gottes führt. Die Humanität Jesu, Jesus als der königliche Mensch, ist nach Barth das Bild Gottes.478 In der Zuwendung zu den Menschen zeigt sich folglich Gottes eigenes Bild. Hinzuweisen ist bereits an dieser Stelle darauf, dass die Kritik von Kreß in seiner Kürze die Darstellungen Barths in einem wesentlichen Punkt vernachlässigt. Denn Barth kommt zuerst einmal zu obiger Feststellung, dass gerade die Menschlichkeit Jesu das Bild Gottes ist. „Indem die Menschlichkeit Jesu Gottes Bild ist, ist darüber entschieden, daß sie mit Gott nur indirekt, nicht direkt identisch ist. Sie gehört an sich zur Geschöpfwelt, zum 476

KD III/2, 324. KD III/2, 261 (teils Fettdruck im Original). 478 Vgl. KD III/1, 228. 477

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Kosmos.“479 Notwendig ist, zwischen Christologie und Anthropologie zu unterscheiden. Folglich ereignet sich die Entsprechung und Ähnlichkeit des Menschen mit Gott nicht in Form einer analogia entis, sondern in Form einer analogia relationis.480 Sie ist also keineswegs gleichzusetzen mit dem Sein Gottes. Die Ähnlichkeit und Entsprechung zu Gott zeigt sich hier in der Relation. Nun lässt sich in einem weiteren Schritt fragen, wie sich die obigen Gedanken auf den Menschen hin verdichten lassen, welche Auswirkung die Humanität Jesu als Bild Gottes auf den Menschen hin zeigt. Eine Konkretion erfährt dies in folgendem Maße in Anlehnung an Barth: Die Humanität Jesu, also das Bild Gottes, besteht gemäß Barth im Sein Jesu für den Mitmenschen.481 Die Transferierung dieser Aussagen zu Jesus Christus auf den Menschen kann nur in Form einer Entsprechung oder Ähnlichkeit erfolgen,482 da ja Jesus Christus als Schöpfungsmittler483 gerade das himmlische Exempel statuiert. Somit wird unterstrichen: Die „Humanität jedes Menschen besteht in der Bestimmtheit seines Seins als Zusammensein mit den anderen Menschen.“484 Die Humanität des Menschen bildet sich aus der Entsprechung zu Jesu Sein für den Mitmenschen ab und fußt auf der Bestimmung des Menschen zum Zusammensein mit anderen Menschen. Genau hierin erfolgt die Entsprechung des Bildes Gottes. Die Entsprechung zum Sein als Bundesgenosse Gottes liegt also in der Zweisamkeit, in den Beziehungen und Relationen des Menschen.485 Ist nun also die Humanität Jesu die Definition der Gottebenbildlichkeit, so gilt in Entsprechung dessen die Gottebenbildlichkeit des Menschen in seinem Sein in Beziehungen. Menschen haben in der Relation Anteil an der imago Dei. Die analogia relationis wird hier erneut sichtbar. Das vorläufige Zwischenfazit ist nun zu bündeln. In diesem ersten Schritt, den Barth beschreitet, ist von der gezielten Gleichsetzung des Verhältnisses von Mann und Frau als Ebenbild Gottes, was wiederum Kreß an den Darstellungen Barths betonen will, nichts zu lesen. Gezeigt wurde bislang, wie Barth die christologische Füllung des Ebenbildlichkeitsbegriffs unterstreicht, woraus sich die Teilhabe an der Gotteben-

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KD III/2, 261. Vgl. KD III/2, 262. 481 Vgl. KD III/2, 251; 290. 482 Vgl. KD III/2, 264ff. 483 Vgl. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 401–405. 484 KD III/2, 290. 485 Vgl. KD III/2, 290f.; Becker, Sein, 149f. 480

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bildlichkeit in der generellen Beziehungshaftigkeit des Menschen als Entsprechung zu Jesu Sein entwickeln lässt. Die von Kreß betonte Zuspitzung auf das Verhältnis von Mann und Frau nimmt Barth dennoch vor, nachdem er das Sein in Begegnung inhaltlich gefüllt hat.486 Folglich kann der Kreßschen Kritik Berechtigung zugesprochen werden, weshalb nun dieser Aspekt in Barths Argumentation im Fokus der folgenden Untersuchung steht. Ausgangspunkt der Argumentation ist die an die soeben getätigten Darlegungen anknüpfende Einstufung der Menschlichkeit: „Menschlichkeit ist in ihrer Grundform Mitmenschlichkeit.“487 Sie ist als Bestimmung des Menschen unangreifbares Kontinuum und die Grundform des Seins des Menschen. Ferner wird sie exemplifiziert an Mann und Frau und ihrer Beziehung zueinander. Der Mensch existiert in seiner Differenzierung und strukturellen Verschiedenheit sowie in Zweiheit.488 Diese Zuspitzung auf das konkret Menschliche tätigt Barth, um den Hinweis darauf zu geben, dass es nicht den Menschen an sich oder das abstrakt Menschliche als solches gibt, sondern nur im Konkreten Männliches oder Weibliches, Mann oder Frau, Mann und Frau.489 In der Begegnung von Mann und Frau zeigt sich nun in besonderem Maße die menschliche Existenz als

486

Vgl. KD III/2, 299ff. KD III/2, 344. 488 Vgl. KD III/2, 344f. 489 Vgl. KD III/2, 345. An dieser Stelle sei nochmals betont, dass an Barth zu diesen (getätigten und noch folgenden) Darlegungen zur Menschlichkeit in Form des Verhältnisses von Mann und Frau durchaus ernst zu nehmende Kritik zu richten ist und insofern der Horizont derartiger Aussagen wenigstens im Groben erläutert werden muss, um hierauf in geeigneter Weise reagieren zu können. Vornehmlich problematisch erscheint das Genderverhältnis, auch und besonders im Hinblick auf Homosexualität. Die Einstufung des Verhältnisses von Mann und Frau als Abbild des Verhältnisses von Gott zu seinem Volk Israel wirft desgleichen unweigerlich Fragen auf (vgl. KD III/2, 358). Als knapper Lösungsansatz kann eine Orientierung an Eberhard Busch erfolgen. Gemäß seinen Darstellungen sind diese Aussagen Barths darauf zu beziehen, dass Barth Herrschaft letztlich als Dienst versteht. Wird dies zur Voraussetzung jener Argumente gemacht, so ergibt sich die Problematik in einem anderen Licht. Dies zur Grundlage bestimmend, steht hier keine Genderzuordnung oder womöglich eine Diskriminierung Homosexueller im Fokus. Folgt man diesem Gedanken, ist die Problematik abzuwerten, da Barth das Verhältnis von Mann und Frau als Exempel für die irdische Gottebenbildlichkeit verwendet und somit das Bild des Verhältnisses von Mann und Frau auf alle Menschen bezieht (vgl. Busch, Die grosse Leidenschaft, 202–206). Ferner trägt das Verhältnis von Mann und Frau als (irdisches) Ebenbild Gottes eine entscheidende Differenz zur Humanität Jesu als das Ebenbild Gottes. Jesus Christus als Schöpfungsmittler ergibt sich wiederum als Urbild aller irdischen Ebenbildlichkeit. 487

324

3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Sein in der Begegnung.490 Sodann konstatiert Barth: „In der Tatsache der Zweiheit von Mann und Frau, die in keine höhere Einheit aufzulösen ist, haben wir dieses Kontinuum so vor Augen, daß wir es schlecht und recht zu leben haben.“491 Die Zweiheit von Mann und Frau begegnet hier als höchste (irdische) Einheit von Sein in der Begegnung. In einem nächsten Schritt bezieht sich Karl Barth auf Gen 1, anhand dessen er die Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes als die Erschaffung von Mann und Frau bezeichnet, welche wiederum in Gen 2 in diesem Modus als Höhepunkt des Schöpferwerkes dargestellt wird. Barth interpretiert, dass nur Mann und Frau in ihrem Miteinander überhaupt der Mensch sind.492 Vor diesem Hintergrund kann Barth Gen 2,18-25 sogar als Magna Charta der Humanität bezeichnen, bzw. die Erschaffung von Mann und Frau als Höhepunkte beider Schöpfungserzählungen.493 Ersichtlich wird hierbei allerdings, dass als gut geschaffener Mensch erst der Mensch mit einem seinsgleichen Partner, einem wirklichen Gegenüber bezeichnet wird. Denn „wie Gott den Mann und die Frau schafft, so schafft er auch ihr Verhältnis, so führt er sie auch zusammen.“494 Dieses Verhältnis von Mann und Frau ist also das „Urverhältnis, in dem alle anderen Verhältnisse inbegriffen sind.“495 Folglich erscheint das Verhältnis von Mann und Frau als das (höchste) Exempel für das irdische Sein in Beziehungen. Von hier aus haben wiederum alle anderen Verhältnisse des Seins in Begegnung von Menschen ihren Anteil. Barth erschließt nach diesem Gedankengang: „die Begegnung von Mann und Frau als solche ist das Sein in der Begegnung und also die Mitte der Humanität“496 . Auch in Anlehnung an das Hohelied der Liebe wird in den Darstellungen ersichtlich, „daß der Mensch zuerst, sicher und allgemein Mann und Frau, und dann erst alles Andere“497 ist. Das Bild des Verhältnisses von Mann und Frau dient insofern wiederum als Urbild für alle anderen Verhältnisse, also als „Urbild der Menschlichkeit“498 , wobei es selbst nach Barth ein Abbild des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk Israel darstellt.499 Menschlichkeit erscheint also in ihrer Grundgestalt zuerst einmal als Zusammensein von Mann 490

Vgl. KD III/2, 347. KD III/2, 349. 492 Vgl. KD III/2, 329–377; besonders KD III/2, 357f. 493 Vgl. KD III/2, 351. 494 KD III/2, 352. 495 KD III/2, 354. 496 KD III/2, 354. 497 KD III/2, 354. 498 KD III/2, 368. 499 Vgl. KD III/2, 358ff. 491

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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und Frau.500 In einem nächsten Gedankenschritt überträgt sich diese Erkenntnis über das Verhältnis von Mann und Frau aber stets auf den Menschen im Allgemeinen und wird gegen Ende dieser Abhandlung auch nochmals auf den Menschen im Allgemeinen hin konkretisiert. Letztlich konzentrieren sich die Gedankengänge wieder darin, auf die Bestimmung des Menschen für die Beschreibung des Gottebenbildlichkeitsstatus Bezug zu nehmen: „Ist des Menschen Sein in der Begegnung ein Sein in der Entsprechung zu seiner Bestimmung zu Gottes Bundesgenossen, dann ist der Satz unvermeidlich, daß es ein Sein in der Entsprechung zu Gott selber ist: zum Sein seines Schöpfers. [. . . ] Ist der Mensch dazu bestimmt, Gottes Partner in diesem Bund zu sein und ist seine Natur dieser Bestimmung gleichnishaft entsprechend, dann kann es nicht anders sein: sie ist eben darin auch der Natur Gottes selber entsprechend. Gott hat ihn sich selbst entsprechend, als Abbild seiner selbst, geschaffen. Der Mensch ist Gottes Ebenbild.“501

Folglich kann festgehalten werden, dass Barth trotz der (berechtigt kritisch zu sehenden) Beschreibung des Verhältnisses von Mann und Frau explizit keine direkte Identifikation – wie es Kreß beschreibt – von jenem Verhältnis als Ebenbild Gottes vornimmt. Vielmehr wird von diesem Urverhältnis ausgehend letztlich wiederum der Mensch als Ebenbild Gottes beschrieben, und das in Anlehnung an seine Bestimmung zu Gottes Bundespartner.502 Es kann also vermutet werden, dass die eingehende Beschreibung von Mann und Frau in ihrem Verhältnis zueinander vorrangig dafür eingesetzt wird, um ein Exempel einer innigen (und irdischen) Beziehungshaftigkeit zu statuieren. Deutlich wird hierin, dass sich tatsächlich das Sein in Begegnung zwischen Mensch und Mitmensch zeigt. Dennoch fungiert diese innermenschliche Beziehung nicht als Begründung zur Gottebenbildlichkeit des Menschen. Um diese Begründung vornehmen zu können (und dies auch wieder in Übereinstimmung zur sonstigen Barthschen Begründungsstruktur), wird erneut auf die Bestimmung des Menschen zu Gottes Bundesgenossen zurückgegriffen. Dieses sichtbar gewordene Sein in der Begegnung ist nämlich gerade die Entsprechung zur Bestimmung des Menschen, und somit eine Entsprechung zu Gott selber und seinem Sein als Schöpfer. Da des Menschen Sein ein Sein in Begegnung ist und er hierin als Abbild Gottes geschaffen ist, ist also der Mensch Gottes Ebenbild. 500

Vgl. KD III/2, 384. KD III/2, 390. 502 Vgl. zudem Becker, Karl Barth und Martin Buber, 102ff.; besonders 105f. 501

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Trotz der beschriebenen anthropozentrischen Abhandlung, die sich von Barths sonstiger christologischer Argumentationsstruktur zu entfernen scheint, gelangt er doch am Ende des Kapitels zurück auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen Jesus, des Menschen für den Mitmenschen, und bündelt die gewonnenen Erkenntnisse in der Art, um zu verdeutlichen, dass der Mensch hieran durch Christus Anteil erhält. Jene sichtbare Verdeutlichung erscheint am ehesten im Verhältnis von Mann und Frau als Urverhältnis und Mitte der Humanität. Demgemäß stellt Barth fest: „An der Gottebenbildlichkeit des Menschen Jesus, des Menschen für den Mitmenschen, hat in der Tat auch der Mensch überhaupt und im Allgemeinen, der Mensch mit dem Mitmenschen, Anteil. Indem der Mensch überhaupt und im Allgemeinen dem Menschen Jesus, seinem Sein für den Mitmenschen – indem aber der Mensch Jesus Gott selber nachgebildet ist, ist auch vom Menschen überhaupt und im Allgemeinen, von seinem Sein mit dem Mitmenschen, zu sagen: er ist geschaffen nach Gottes eigenem Bilde. Er ist es eben in seiner Menschlichkeit und also in seiner Mitmenschlichkeit. Gott schuf ihn darin nach seinem eigenen Bilde, daß er ihn nicht einsam, sondern in jener Beziehung und Gemeinschaft erschaffen hat.“503

In der Beziehungshaftigkeit und Mitmenschlichkeit ist also der Mensch in Entsprechung zu Jesus Christus Gottes Ebenbild. Zu der Wahrnehmung Kreß´, dass Barth durch die relationale Konstruktion die Würde eines jeden Menschen überspiele, ist erneut exemplarisch mithilfe Barths Kirchlicher Dogmatik zu reagieren. Barth konstituiert das Sein des Menschen infolge der Erwählung zum Bundespartner Gottes als ein Sein von Gott her und als ein von Gott abhängiges Sein.504 Jesus Christus wiederum – als wahrer Gott und wahrer Mensch – ist Subjekt und Objekt dieser Erwählung, also der erwählte Mensch. In Jesus Christus – der Mensch für den Menschen – sind alle Menschen erwählt. Somit konkretisiert sich die Würde eines jeden Menschen darin, dass er ein von Gott geschaffenes und erwähltes Geschöpf ist.505 Zugleich wird ersichtlich, dass die Wertigkeit dieser relationalen Verortung der Würde des Menschen gerade darin zu finden ist, dass das Würdeprädikat außerhalb des menschlichen Seins, unabhängig seiner empirischen Qualitäten, sondern unter Betonung seiner Geschöpflichkeit und seiner Bestimmung zu Gottes Bundesgenosse 503

KD III/2, 390. Vgl. KD III/2, 167. 505 Vgl. KD II/2, 101–157; KD III/2, 173; Becker, Sein, 136f. 504

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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und somit in besonderem Maße jedem Menschen unverlierbar zuteilwird. Würde und Wert des Menschen liegen darin, dass er von Gott zum Bundespartner erschaffen, erwählt, konstituiert und erhalten wird. Infrage gestellt sei also unter Zuhilfenahme der eigenen Argumente Barths, ob die Kritik Kreß´ an Barth in der Vehemenz tatsächlich aufrechterhalten werden kann. Vielmehr wurde durch die Darlegung ersichtlich, dass die Gottebenbildlichkeit als analogia relationis die Individualität eines Menschen sowie die zuteilgewordene Würde jedes Menschen zugleich im Blick hat, ohne dabei seine Beziehungshaftigkeit aus den Augen zu verlieren. Auch der spekulative Charakter der Barthschen Theologie ist, wie oben dargelegt, bei gesamt-biblischer Betrachtung des Gottebenbildlichkeits-Begriffs vor dem Hintergrund der geführten Diskussion nicht aufrechtzuerhalten. Barths Argumentation erfolgt keineswegs nur in Anbindung an die alttestamentlichen Schöpfungserzählungen und gleicht insofern nicht einer historisch-kritischen Exegese. Es liegt also ein Missverständnis der Barthschen Darstellungen vor, wenn sie als rein alttestamentliche Argumentation verstanden werden. Unterstellt werden kann somit vor dem Hintergrund der obigen Darlegungen, dass die von Kreß vorgenommene Bewertung der Position Barths eher zu knapp ausfällt. Im Rückblick auf die problembehaftete Darstellung des Verhältnisses von Mann und Frau als Ebenbild Gottes hat Kreß einen Hinweis auf berechtigte Kritik an Barth gegeben. Dennoch konnte gezeigt werden, dass sich bereits mithilfe der eigenen Ausführungen Barths aufzeigten lässt, dass dieser Aspekt eher nicht überbewertet werden oder gar ein spezifisches Genderverhältnis manifestieren sollte. Letztlich lässt sich auch zurückfragen, ob dieser Aspekt tatsächlich als Schlüsselstelle der Barthschen Aussageabsicht zu verstehen ist. Naheliegender erscheint vor dem Hintergrund obiger Analyse, dass hier ein irdisches Exempel aufgezeigt wird und insofern vor Überbewertung zu warnen ist. Zudem kann bereits jetzt (auch im Vorgriff auf die noch folgenden Erkenntnisse zu der Analyse von Hartmut Kreß) festgestellt werden, dass sich Hartmut Kreß und Karl Barth argumentativ auf völlig differenten Ebenen bewegen. Die formulierte Kreßsche Kritik an Barth tangiert jene Argumente kaum, da unterschiedlichste anthropologische und generell argumentative Voraussetzungen angenommen werden. Im Gegensatz zu Karl Barth, der die Mitmenschlichkeit als Urform der Menschlichkeit entwickelt, stellt für Hartmut Kreß der Solipsismus die Urform der Menschlichkeit dar, gepaart mit der Sorge um die Vernachlässigung der Individualität und der Vereinnahmung des Subjekts. Jenes zu be-

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

gründen, wird Aufgabe der weiteren Darstellung der (theologischen) Konzeption Hartmut Kreß´ sein. 3.2.2 Menschenwürde als rechtlicher und normativer Ausgangspunkt und ihre Konsequenzen Aufgrund der bereits vorgenommenen Analyse zu Hartmut Kreß konnte sein Verständnis der Menschenwürde ersichtlich werden. In Anlehnung an allgemeingültige Rechtsvorschriften und mithilfe einer christlichjüdischen inhaltlichen Füllung sowie auf Grundlage philosophischer Ethik sieht er eine allgemeine Menschenwürde als theoretischen Konsens an. Unterdessen erfährt der Menschenwürde-Begriff mithilfe der Interpretation durch die Grundartikel des Grundgesetzes eine inhaltliche Füllung und bleibt keine Leerformel, wie ihm teils vorgeworfen wird.506 Er stellt somit fest, dass „jeder einzelne Mensch gleicherweise unter dem Schutz der Menschenwürde steht und jedes menschliche Individuum als ein Selbstzweck zu achten ist. Jedem Menschen kommt – ungeachtet seines Alters, seines Geschlechts, seiner sozialen Rolle, seiner persönlichen Unvollkommenheiten oder seiner persönlichen Eigenschaften – ‚Würde‘ zu.“507

Menschenwürde dient also in diesem Kontext als individuelles Schutzund Achtungsrecht, welches in Abgrenzung zu einem empirischen Habitus des Menschen fungieren soll. Dieses wiederum führt zu der Aussage: „Der Gedanke der Menschenwürde besagt, daß niemand verdinglicht und als bloße Sache behandelt werden darf.“508 Um für diesen Schutz der Menschenwürde Gewähr zu tragen, nimmt Kreß die Medizin in besonderem Maße in die Pflicht, da gerade von ihr eine gewisse Macht über das Menschsein ausgeht.509 Zudem zeigt sich, dass das Verständnis von Leben, Gesundheit und Krankheit kulturgeschichtlichen und epochalen Wandlungen unterliegt und die Medizin heute einen entscheidenden Einfluss auf das Menschenbild hat.510 So ist die Medizin „zu einem eigenständigen Machtfaktor geworden“511 und prägt anthropologische Theorien, die grundsätzlich die menschliche Existenz betreffen. Folglich ist die Reflexion der Frage der Menschenwürde und 506

Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 22. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 100. 508 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 100. 509 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 98. 510 Vgl. Kreß, Menschenwürde, 11. 511 Kreß, Menschenwürde, 11. 507

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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ihrem Verständnis eine Konsequenz dessen.512 Neben dem nicht zu schmälernden humanen Sinn der Medizin sollen dennoch ihre Grenzen sichtbar bleiben, welche sich daran orientieren Leiden zu lindern sowie Wohl zu fördern. Insbesondere sind die Grenzen der apparativen Lebensverlängerungen in den Blick zu nehmen, deren Übergänge zur Leidensverlängerung fließend sind.513 „Weil der medizinische Fortschritt eigengesetzlich zu werden und in eine Fortschrittsfalle hineinzuführen droht, muß sich die Gesellschaft auf ethische Rahmenbedingungen und normative Kriterien für den Umgang mit den heutigen medizinisch-technischen Handlungsmöglichkeiten verständigen. Dabei ist vor allem die Wahrung des menschlichen Personseins, der Personwürde bzw. der Menschenwürde von Belang.“514

Jene benannten ethischen und normativen Kriterien entwickelt Kreß im Hinblick auf Zustände am Lebensanfang und am Lebensende, welche je für sich gezielt in den Fokus zu stellen sind. 3.2.2.1 Menschenwürde im Hinblick auf die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik Ein Thema, welches starke Korrelation zur Menschenwürde aufweist und Kreß in vielen seinen Darstellungen, nicht zuletzt auch durch seine Mitgliedschaften in Gremien und Kommissionen, wie beispielsweise in der entsprechenden Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer, geprägt hat, ist die Präimplantationsdiagnostik515 (PID). Die Frage ist zu stellen, inwiefern sich bereits vor der Geburt eines Menschen eine spezifische Würde annehmen lässt.516 Ausgangsbasis der zugehörigen Gedankengänge ist ein geistes- und traditionsgeschichtlicher Rückblick, 512

Vgl. Kreß, Menschenwürde, 11f. Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 98. 514 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 100. 515 Kreß beschränkt sich meist, insbesondere in aktuelleren Darstellungen, auf die Thematik um die Präimplantationsdiagnostik, da hier die Dissense grundlegender erscheinen. Vorrangig in seinen älteren Werken wird auf die Pränataldiagnostik (PND) Bezug genommen. 516 Vgl. Kreß, Menschenwürde, 12. Vor dem Hintergrund, dass der Fokus dieser Arbeit nicht auf pränatalen Zuständen des menschlichen Lebens liegt, sondern eher auf das Lebensende hin ausgerichtet ist, wird die Thematik um die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik bewusst knapp gehalten. Nichtsdestotrotz würde es eine unsachgemäße Verkürzung darstellen, all jene Aspekte in den Positionen Kreß´ unbeachtet zu lassen. Denn auch sie ermöglichen ein genaueres Verständnis des zugrunde liegenden Menschenbildes. So erscheint es notwendig dieser Thematik einen gewissen Raum einzuräumen. Für eine weitere Vertiefung bei Kreß kann exemplarisch auf 513

330

3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

durch den Kreß zu der Einschätzung gelangt, dass es zum Embryonenschutz Hinweise auf einen – im Gegensatz zur heutigen engen Regelung – offeneren Umgang in der Vergangenheit gibt. Jene Aussage wird mit Beispielen untermauert, etwa durch die alttestamentliche Einstufung des Embryos als Gegenstand ohne Eigenwert oder der im späteren Judentum sich entwickelnden Ansicht, ein Embryo sei bis zur Geburt keine eigenständige Person.517 So gibt es auch Einschätzungen, die die Schutzwürdigkeit sowie die Personwerdung des werdenden Lebens erst nach der Geburt verorten.518 Unter Betrachtung der modernen Naturwissenschaft gilt aber, so Kreß, dass der Embryo von vornherein ein vollgültiges menschliches Wesen ist, beispielsweise aufgrund seiner kontinuierlichen Entwicklung. Kreß konstatiert folglich die Einsicht, dass durch die modernen Erkenntnisse alleinig die Einschätzung möglich ist, dass der werdende Mensch von Beginn seiner Entwicklung an, nämlich der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, ein neuer Mensch ist. 519 Daraufhin stellt er fest: „Aus heutiger Sicht muss die individuelle Menschenwürde jedoch bereits vor der Geburt, pränatal, zugestanden und anerkannt werden. Denn bei vorgeburtlichem Leben handelt es sich zusätzliche Literatur verwiesen werden. Vgl. beispielsweise Kreß, Reproduktionsmedizin im Licht von Verantwortungsethik und Grundrechten, in: Diedrich, Klaus u.a. (Hgg.), Reproduktionsmedizin, Heidelberg 2013, 651–670; Kreß, Künstliche Herstellung von Gameten und Embryonen aus pluripotenten Stammzellen. Ethische Bewertung, in: Gynäkologische Endokrinologie 10 (2012), 238–244; Kreß, Präimplantationsdiagnostik. Ungelöste Fragen angesichts des neuen Gesetzes, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 55 (2012), 427–430; Kreß, Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik aus protestantischer Sicht – Gewissensfreiheit, Gewissensverantwortung und das Selbstbestimmungsrecht als Leitgedanken, in: Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie 8 (2011), Sonderheft 2, 20–24; Kreß, Der Lebensbeginn – eine Glaubensfrage? Christliche Tradition und heutige Konkretionen im Umgang mit Embryonen, Dortmund 2002. 517 Ohne die angesprochene Thematik um Personsein von Embryonen zur alttestamentlichen Zeit in entsprechender Tiefe exegetisch darzulegen, sei an dieser Stelle nur ein knapper Hinweis gegeben, dass sowohl im Alten als auch im Neuen Testament durchaus Belegstellen auffindbar sind, bei denen ein Lebensbeginn bereits vor der Geburt, als Präexistenz bei Gott oder im Mutterleib, thematisiert wird. Zur Präexistenz ist etwa auf Ps 139,16f., Jer 1,4 oder Lk 2,21, zur Existenz als Embryo im Mutterleib auf Ri 13,4f., Hi 1,21 oder Lk 1,41.44 zu verweisen. Vgl. dazu Schroer, Art. Lebenszyklus, 344. Dennoch ist im gegenwärtigen Judentum ein offenerer Umgang insbesondere mit der PID zu verzeichnen. 518 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 101ff. 519 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 101ff.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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von der Befruchtung, von der Verschmelzung der Samen- und Eizelle an um eine individuelle menschliche Existenz.“520

Dennoch bleibt zu fragen, ab wann ein tatsächlicher und strikter Schutz dieses neuen Lebens zu behaupten ist. Auf Grundlage der entwickelten Gedankengänge, besonders der abendländischen Tradition, beschreibt Kreß eine unbedingte Schutzwürdigkeit des Embryos, auch des Früh- und Präembryos,521 vom Beginn seiner Entwicklung als Mensch, obwohl trotz der naturwissenschaftlich fundierten Erkenntnisse nach wie vor eine Debatte über die Schutzwürdigkeit besteht.522 Er steht aber in diesem Kontext erneut für eine rechtsethische Argumentation, die mit christlichen Begrifflichkeiten gefüllt ist, ein. So konstatiert er erneut, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die einhergehende prinzipielle, naturwissenschaftlich belegte Schutzwürdigkeit sowie entsprechende Rechtstexte, wie beispielsweise die Menschenrechtserklärung, allen Menschen gleichermaßen Würde zusprechen.523 Folglich muss nach Kreß die Würde- und Menschenrechtszuschreibung auch für Embryonen gelten: „Heute ist eine nochmalige, bewußte Ausweitung dieses Satzes [Art. 1 der UN-Erklärung der Menschenrechte: Alle Menschen 520

Kreß, Menschenwürde, 14. Vgl. Kreß, Menschenwürde, 23. 522 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 107. Bei der vorherrschenden Debatte um die Schutzwürdigkeit eines Embryos geht es vorrangig um die Zeitpunktbestimmung, ab wann überhaupt der Schutz zu gewähren ist, ab wann also der Embryo als würdevoller Mensch gelten kann und soll. Hierzu gibt es verschiedene Ansätze. Die rigideste Position konstatiert eine Schutzwürdigkeit von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an, da bereits ab diesem frühestmöglichen Zeitpunkt eine dynamische Fortentwicklung feststellbar sowie der Embryo als eigenständiges Lebewesen einzustufen ist. Andere wiederum fordern die Schutzwürdigkeit ab dem Zeitpunkt, wenn keine Zwillingsbildung mehr möglich ist mit der Begründung, dass zuvor der Embryo noch nicht als individuelle Person gelten könne. Eine dritte Position beansprucht den Schutz, wenn sich das Gehirn des werdenden Menschen ausgeprägt hat, in Verbindung mit dem dann einsetzenden Anspruch auf Solidarität und Achtung der Person. Ferner wird diese Begründungsstruktur untermauert mit dem geltenden Hirntodkriterium, bei dem auf ähnliche Weise – hier allerdings in Bezug auf das Ende des Menschenlebens – argumentiert wird. Ein zwar nicht von der breiten Masse vertretener, aber dennoch existenter Standpunkt terminiert die Schutzwürdigkeit eines Menschen auf den Zeitpunkt nach der Geburt oder sogar zeitlich noch später. Als notwendige Voraussetzung für jene Achtung wird die Ausprägung der Autonomie, der Rationalität oder des Selbstbewusstseins gesehen (vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 104f.). 523 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 107. 521

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren; d. Vf.] geboten, insofern er auch auf vorgeburtliches Leben zu beziehen ist. Denn die neuere Medizin und Embryologie haben belegt, daß sich der Embryo sogar schon vor der Hirnbildung, nämlich von der Befruchtung an aufgrund seiner genetischen Anlagen aktiv, kontinuierlich und eigendynamisch, ‚autopoietisch‘ fortentwickelt. Nach der Befruchtung, nach der Verschmelzung von Samen- und Eizelle erfolgen in der Individuation keine scharfen Einschnitte oder Zäsuren mehr.“524

Ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle werden dem Embryo alsdann die menschlichen (Schutz-)Rechte zugesprochen, da er „eine eigene, in ihm selbst verankerte Potentialität –, sich zum vollen Menschsein auszubilden“525 , besitzt. Diese formulierten Rechte sind nach Kreß eine Konsequenz naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, was zugleich belegt, dass Naturwissenschaften nicht nur – wie ihnen teils unterstellt wird – zur Auflösung moralischer Standards, sondern vielmehr zur Fundierung und Präzisierung normativ-ethischer Urteile führen.526 Im Anschluss an diese grundsätzliche Einstufung embryonaler Schutzansprüche verweist Kreß auf bestehende und ernst zu nehmende Einzelkonflikte hin und wertet die Präimplantationsdiagnostik nach dem 8-Zell-Stadium, bis zu dem Totipotenz der Zellen besteht, als rechtlich statthaft. Der Embryonenschutz erhält somit keine absolute Stellung, um Einzelkonflikten Rechnung zu tragen. Grundlage ist, dass sich die PID de facto gesellschaftlich statuiert hat. Als positiv lässt sich Kreß gemäß werten, dass eine moralisch problematische Spätabtreibung umgangen wird, welche wahrscheinlich durchgeführt würde, wenn vorgeburtliche Diagnostik Krankheitsdispositionen beim Embryo feststellt. Die Schwierigkeit besteht darin, Eigenwert und Selbstzweck des Embryos durch die praktizierte PID nicht zu missachten und den schmalen Grat zur Degradierung und Verobjektivierung des Embryos nicht zu überschreiten.527 Kreß kommt zu dem Ergebnis: „Durch die PID kann der Mutter und dem ungeborenen Kind also eine späte, belastende Abtreibung erspart werden.“528 Insofern führt diese Argumentation zu der Einschätzung, dass die PID spätere, stärkere Belastungen vermeidet. Die Begründbarkeit der PID liegt für Kreß in der Vermeidung schwerster Erbkrankheiten, da in diesen Fällen unweigerlich vorgeburtliche Diagnostik eingesetzt würde, die wiederum bei entsprechendem 524

Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 107. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 107. 526 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 107. 527 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 108ff. 528 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 109. 525

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Befund meist automatisch zur Abtreibung führt.529 Zu fragen bleibt in diesem Zusammenhang, ob Kreß letztendlich seine zuvor entwickelten Kriterien zum Embryonenschutz selbst als irrelevant einstuft, da sie in problembehafteten Situationen keinen Stellenwert zugeschrieben bekommen. In diesen Fällen wird sich argumentativ darauf beschränkt, dass die PID einer Spätabtreibung vorgreift und insofern das geringere Übel darstellt. Letztlich muss sogar gefragt werden, ob die Kausalkette der Rechtfertigung der PID daran gebunden ist, dass aktiv Krankheit verhindert wird. Einerseits ist fraglich, ob somit Gesundheit als Wertmaßstab eines Menschen zu gelten scheint und andererseits, ob gar Behinderung und Krankheit gleichgesetzt werden. Die eingenommene Blickrichtung geht (ausschließlich) von den Eltern bzw. vorrangig der Mutter aus, nicht jedoch, obwohl die entwickelten Kriterien dafür den Weg ebnen, von der Perspektive des Embryonenschutzes und der Rechte eines Embryos als Mensch. Ferner dient erneut eine Argumentation auf Grundlage von geschichtlichen Entwicklungen sowie der Rechtssituation als Begründungsstruktur. Eine fundierte theologische Argumentation bleibt aus. Zur Rechtfertigung des Ansatzes wird additiv hinzugefügt, dass auch innerhalb christlicher Tradition der Embryonenschutz nicht absolut gesetzt wurde. Als Fazit fasst Kreß die normativ-ethische Schutzwürdigkeit des Embryos, welche allerdings „nicht ohne oder gegen die Mutter“530 geschützt werden kann, auf Grundlage der Menschenwürde zusammen. Ein Dissens zur Abtreibung wird nicht gesehen, was folgerichtig, so Kreß, auch eine Duldung der PID fordert. Kriterium bleibt die persönliche Gewissensentscheidung: „Individualethisch ist und bleibt es letztlich die eigene Gewissensverantwortung von Eltern, ob sie eine PID durchführen lassen, ob sie davon absehen oder ob sie auf eigene Kinder bewußt ganz verzichten.“531 Diese Argumentation setzt folglich voraus, dass es das Angebot der PID gibt. Hierzu wird die Notwendigkeit eines Beratungsangebots gesehen sowie eine Beschränkung der Durchführung auf begründungspflichtige Ausnahmefälle, wie beispielsweise schwerwiegende Krankheitsbilder.532 Zusätzlich soll nun die Frage nach dem moralischen Status totipotenter Zellen gezielt in den Blick genommen werden. Zum Umgehen dieser Schwierigkeit benennt Kreß die Verwendung der embryonalen Zellen nach dem Ende des 8-Zell-Stadiums und der Totipotenz, wobei die Fra529

Vgl. Kreß, Menschenwürde, 28. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 111. 531 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 111. 532 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 111. 530

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

ge bestehen bleibt, ob der Status der Totipotenz überhaupt eine starke normative Gewichtung fordert. Kreß gelangt sodann zu dem Ergebnis, dass jener Status eher nicht mit seiner beschriebenen Schutzwürdigkeit des individuellen menschlichen Lebens gleichzusetzen ist. Als Begründung führt er an, dass auch (adulte) Körperzellen totipotent reprogrammierbar sind, wie beispielsweise das Klon-Schaf Dolly zeigte.533 Die „Totipotenz stellt daher kein eindeutiges biologisches Abgrenzungskriterium mehr dar.“534 Der moralische Status kann sich hier folglich nicht an die Totipotenz einzelner Zellen binden. Ausschlaggebend scheint in dieser Darlegung also explizit nicht zu sein, dass diese Zellen die Potenzialität aufweisen, sich als Mensch zu entwickeln. Kreß fehlt hier das Eindeutigkeitskriterium. Somit ist gedanklich weiterzuführen, dass der von Kreß beschriebene (embryonale) Schutz daran gebunden ist, dass sich diese Zellen auch zum Menschen entwickeln sollen. Der Status jener Zellen, also die grundsätzliche Potenzialität, ist ihm hierfür nicht hinreichend. Zugespitzt bedeutet dies, dass der sich entwickelnde Embryo als solcher zwar unter dem Schutzanspruch steht, wenn er auch ein Mensch werden soll. Werden allerdings ein Teil seiner (noch totipotenten) Zellen für diagnostische Zwecke verwendet, so sind diese nun nicht mehr zur Menschwerdung vorgesehen und können somit ethisch unbedenklich verbraucht werden. Insofern steht wieder unweigerlich das Kriterium des Embryonenschutzes von Beginn der Entwicklung an, mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, infrage. Denn dieses erhält keine generelle Anwendbarkeit, sondern wird an die äußeren Rahmenbedingungen angebunden: nämlich dass sich die entstandene Zellmasse auch zum Menschen entwickeln soll. Die latente Konsequenz dessen, dass dieses Kriterium der äußeren Potenzialität gleichwohl auf den Embryo im Mutterleib übertragbar ist, ist zu bedenken: Soll etwa der sich entwickelnde Embryo kein Mensch werden, beispielsweise aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft, so sind die äußeren Rahmenbedingungen für die Menschwerdung sowie die damit verbundene Schutzwürdigkeit nicht gegeben und Schwangerschaftsabbrüche als stringentes Resultat in diesem Kontext unbedenklich. In solchem Falle wäre eine Reflexion über den Embryonenschutz oder über die Schutzrechte des Embryos als Mensch bereits gar nicht notwendig. Das Kriterium des Embryonenschutzes ist mithin Kreß gemäß nur bedingt anzuwenden. In jüngeren Texten lässt sich dieser Gedankengang nochmals hervorheben, da Kreß beschreibt, dass das Blastozysten-Stadium vor der Nidation noch nicht die volle Schutzwürdigkeit eines Embryos 533 534

Vgl. Kreß, Menschenwürde,28. Kreß, Menschenwürde, 29.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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fordert.535 Ferner wird dieser Gedanke damit unterstrichen, sich auf rational einleuchtende Argumente zu beschränken. Kreß stellt demnach heraus: „Daher sollte der Rechtsstaat Partikularismen und weltanschauliche Einseitigkeiten vermeiden und sich auf Argumente berufen, die rational plausibilisierbar sowie generell nachvollziehbar sind.“536 Offen bleibt jedoch, ob es Argumente gibt, die universale Gültigkeit beanspruchen können. Methodisch beschreitet Kreß eine Güterabwägung als Grundlage der sittlichen Entscheidung, für die er in diesem Themenkontext plädiert.537 Hierfür bewegt er sich mit seiner Begründung über die Menschenwürde auf der Linie einer prinzipiellen Schutzwürdigkeit des Embryos, wobei der Wert des Lebens der Mutter mit dem des Embryos gegeneinander aufgerechnet werden kann. Kreß erscheint insofern die PID das geringere Übel im Gegensatz zu einer Spätabtreibung – für Mutter und Kind – zu sein. Ausschlaggebend für eine solche Wahl ist letztlich die Gewissensentscheidung der Beteiligten, aber auch eine gewisse Relativierung des moralischen Status der Totipotenz sowie eine Berücksichtigung der Potenzialität der Entwicklung zum Menschen, wie oben dargelegt wurde. Der Ansatz der Güterabwägung kennzeichnet eine in der protestantischen Ethik auf Resonanz stoßende Methode.538 UlrichEschemann beschreibt dazu: „Der Mainstream evangelischer Ethik fordert und fördert jedoch den Optionalismus. Wahlmöglichkeiten sollen in jedem Fall offengehalten werden [. . . ]. Damit verschreibt sich diese Ethik dem Trend einer Multioptionsgesellschaft (Peter Gross), in der die Möglichkeit zu wählen zum Programm erhoben wird.“539

So entsteht der Eindruck, dass dieses Verfahren anzuwenden ist, wann „immer Güter miteinander konkurrieren u. ggf. Übel in Kauf zu nehmen sind“540 . Gleichwohl hält diese zustimmende Resonanz zur Güterabwägung nicht davon ab, jenes Vorgehen am Beispiel der Argumentationsweise Kreß´ zu diskutieren. Voraussetzung scheint zu sein, dass a priori klar anzugebende Grenzen nicht benannt werden können.541 Wird nun noch einmal auf die Argumente und auf die Vorgehensweise Kreß´ zurückgeschaut, so beruft er sich einerseits auf die 535

Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 164. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 169. 537 Vgl. hierzu weiter Kreß, Präimplantationsdiagnostik, 230–235. 538 Vgl. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 371. 539 Ulrich-Eschemann, Geboren, 12. 540 Korff, Art. Güter- und Übelabwägung, 1118. 541 Vgl. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 371f. 536

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Menschenwürde, andererseits rekurrieren seine Argumente oftmals auf Kant. Zum erstgenannten Aspekt ist zu fragen, ob sich die Entfaltung einer sich menschlichen Maßstäben entziehenden, unverlierbaren Menschenwürde, wie auch Kreß sie definiert, in besonderem Maße einer Güterabwägung vorenthält. Denn hier wird schließlich ein Leben gegen ein anderes abgewogen und bewertet, wogegen sich etwa Wolfgang Huber oder Karin Ulrich-Eschemann wenden.542 „Hier wird das ‚Leben‘ des werdenden Menschen zu einem ‚Gut‘ degradiert. Nutzenerwägungen werden zum Entscheidungskriterium.“543 Zudem ist der Blick auf Kant gerichtet. Kant vollzieht in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine Abgrenzung von Preis und Würde. Er beschreibt: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“544

Neben der deontologischen Ausrichtung der Philosophie Kants (kategorischer Imperativ) wird mit dieser Preis-Würde-Bestimmung ersichtlich, „dass das, was Würde hat, einen absoluten Wert repräsentiert, der jedem Abwägungskalkül schlechthin entzogen ist“545 . So widersprechen die Rede von der Menschenwürde und somit auch der moralische Status des Lebens eines Embryos geradezu einer Güterabwägung. „Einem Wesen Würde zusprechen bedeutet, es jeglicher Abwägung gegen irgendwelche Güter anderer Art – oder auch gegen Interessen anderer Wesen seiner eigenen Art – zu entziehen.“546 Festgestellt werden kann also, „dass Güter keine Würde haben“547 . An dieser Stelle kann es schließlich nur um ein Verbot der Abwägung des Wertes von Menschenleben handeln nebst der Instrumentalisierung für die Interessenbefriedigung Anderer.548 So beschreibt beispielsweise Schweidler in Bezug auf Kants Preis-Würde-Verständnis: „Einem Wesen Würde zusprechen bedeutet, es jeglicher Abwägung gegen irgendwelche Güter anderer Art – oder auch gegen Interessen anderer Wesen seiner eigenen 542

Vgl. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 374; Ulrich-Eschemann, Geboren, 13. Ulrich-Eschemann, Geboren, 13. 544 Kant, Grundlegung, 58. 545 Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 374. Vgl. Schweidler, Zur Analogie, 17; UlrichEschemann, Geboren, 13. 546 Vgl. Schweidler, Zur Analogie, 17. 547 Ulrich-Eschemann, Geboren, 13. 548 Vgl. Schweidler, Zur Analogie, 17f.; Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 374ff. 543

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Art – zu entziehen.“549 Eine Konformität mit Kants Kritik der praktischen Vernunft zeigt sich insbesondere bei seiner Rede von der Heiligkeit jeder Person sowie der Bestimmung des Menschen als Selbstzweck.550 Die genannten Argumente fordern also eine klare Verbotshaltung gegen jeglichen Optionalismus. „Dies macht den – auch theologischen – Sinn der Rede von der Unantastbarkeit der Menschenwürde aus, dass sie dem moralischen Zugriff entzogen bleibt. Diese Würde ist menschlicher Verwaltung entzogen und sie kann nicht durch die Frage unterlaufen werden, wer überhaupt Mensch ist.“551

In besonderer Weise verweigert sich also das Reden von der Menschenwürde einer Güterabwägung. Wird dies dennoch vollzogen, wie etwa bei Hartmut Kreß, so lässt sich die Frage der Kontur an diese Argumentationsweise richten. Hierbei wird „eine Strategie, die auf einen allgemeinen Konsens ausgerichtet ist“552 , verfolgt, was nur durch möglichst flache und somit allgemein verständliche Argumente möglich wird.553 Ulrich-Eschemann kommt daraufhin zu dem Ergebnis: „Für evangelische Ethik kann es nicht genügen, sich auf die Grenzfragen des Erlaubten zu konzentrieren. Hält sie sich in ihrer Argumentation innerhalb der Logik der Nutzenabwägung auf, kann sie zu keinem theologischen Urteil kommen. Vielmehr muss sie den Blick dafür öffnen, was das menschliche Leben ausmacht, was das humanum ist. Es geht also keineswegs nur um den Embryonenschutz und die Würde des Embryos, sondern um den Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Lebensgestalt überhaupt.“554

Erst eine fundierte theologische Perspektive ermöglicht eine argumentative Reflexion der Sachverhalte. Schweidler leitet sogar noch den Blick auf die juristische Ebene, da bereits das Grundgesetz durch seine Einstufung der menschlichen Würde als unantastbar selbst über eine Würde- und Wertabstufung urteilt: „Wenn das staatliche Gesetz die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, dann legitimiert es auch noch sich selbst aus 549

Schweidler, Zur Analogie, 17. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 150f. 551 Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 424. 552 Ulrich-Eschemann, Geboren, 13. 553 Vgl. Ulrich-Eschemann, Geboren, 13. 554 Ulrich-Eschemann, Geboren, 14. 550

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

einem Verbot und einer Grenze, die es sich setzt. Es schließt die Fragen, welchem menschlichen Wesen Würde zukomme und welchem nicht oder welchem ein höherer Grad an Würde zukomme als einem anderen, aus dem Bereich legitimer Inhalte des juristischen Diskurses aus. Es gründet sich damit auf ein kategorisches Verbot der Abwägung des „Wertes“ von Menschenleben gegen andere Güter oder gegeneinander und auch der Instrumentalisierung eines menschlichen Wesens für die Interessen anderer.“555

Wird nun der Fokus zurück auf Kreß gelenkt, so zeigt sich, dass er durch sein Vorgehen das vorgeburtliche Leben als Gut identifiziert. Nutzenerwägungen werden dabei zum Entscheidungskriterium.556 Kreß setzt die Möglichkeit zur Güterabwägung unmittelbar voraus, umgeht somit aber die Frage, ob menschliches Leben überhaupt einer Abwägung unterliegen kann. Ein Gut allerdings, zu dem hier das menschliche Leben – wertend ausgedrückt – degradiert wird, kann nur einen Wert, nicht jedoch eine Würde für sich beanspruchen.557 Vor diesem Hintergrund kommt etwa Hofheinz zu der Einschätzung, dass es sich verbietet, „die gegenwärtige Embryonenforschungssituation als Situation des Wertekonflikts bzw. der Güterkollision zu identifizieren, welche die Abwägung verschiedener ‚Werte‘ nahe lege bzw. legitimiere.“558 Folglich stellt sich als besondere Aufgabe für die Theologie, den Blick auf das hin zu öffnen, was das Leben ausmacht, und sich nicht nur darauf zu konzentrieren, was die Grenzfragen des Erlaubten darstellen. Hierdurch wird sich einem theologischen (kategorischen) Urteil verweigert.559 Wird nun zum Abschluss dieses kurzen Einschubs zur Thematik der Güterabwägung nochmals zusammenfassend reflektiert, was besonders die Theologie vor obigem Hintergrund beitragen kann, so ist zuerst darauf zu verweisen, dass eine Güterabwägung voraussetzt, auf rechtsethischer Ebene jene Güter in den Blick nehmen und beurteilen zu können. Demzufolge geht sie automatisch von einer Ebene aus, von der Güter von einem neutralen Standpunkt reflektiert werden können. Mit den oben dargelegten Argumenten ist nun zurückzufragen, ob notwendige Perspektiven zu berücksichtigen sind, die darauf hinweisen, dass ein solch neutraler Standpunkt (außerhalb des Menschseins) nicht eingenommen werden kann. Vielmehr scheint es Menschen verwehrt 555

Schweidler, Zur Analogie, 17. Vgl. Ulrich-Eschemann, Geboren, 13. 557 Vgl. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 376. 558 Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 376. 559 Vgl. Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht, 377f. 556

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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zu sein, einen prinzipiellen Ort einzunehmen, an dem wiederum über Menschen und deren Leben geurteilt werden kann. Eine übergreifende Perspektive ist alleinig Gott vorbehalten. Dieses Nein zur Güterabwägung negiert jedoch nicht die Tatsache, dass im Leben Situationen entstehen, in denen abgewogen werden muss. Das formulierte Veto richtet sich primär gegen einen Automatismus, allgemeingültige Aussagen mithilfe einer Güterabwägung und somit scheinbar klare Urteile hervorzubringen oder gar hervorbringen zu müssen. Die Grenzen der Güterabwägung werden demnach mit der Verweigerung über einen postulierten neutralen Standpunkt unterstrichen. Insbesondere werden die durch die Güterabwägung unterstellten Eindeutigkeiten hinterfragt und angezweifelt, ob Pauschalaussagen zum Leben passen. Als Alternative bleiben nur situationsbezogene Aussagen, die keinen neutralen Standort voraussetzen und auch in der Praxis Praktikabilität zeigen.560 Eine verständliche Forderung nach vermeintlich klaren Regeln offenbart oft in der Praxis, dass sie nicht in die Realsituation passen. Nach diesem – wenn auch recht knappen – Einschub zur Thematik der Güterabwägung ist nun wieder zu Kreß´ Darlegungen zurückzukommen. Im Nachgang der erfolgten Betrachtung sollte darauf hingewiesen werden, dass Kreß das Bestehen eines argumentativen Dilemmas benennt und sich darauf beschränkt, speziell die PID als Ausnahme zu bewerten, da der Embryonenschutz zwar grundsätzlich, dennoch nicht absolut gelten soll.561 Der Angreifbarkeit seiner eigenen Aussagen scheint sich Kreß bereits bewusst zu sein, sodass er diese Praxis an begründete Ausnahmefälle binden möchte und schließlich an die Gewissensentscheidung der Eltern knüpft.562 Er stellt hierzu fest: „Unbestreitbar ist, daß durch die PID der Schutzanspruch menschlichen Lebens relativiert wird, so daß sie auf begründete Ausnahmefälle beschränkt bleiben sollte.“563 Offen bleibt jedoch, ob ein (alleiniger) Appell an die Gewissensentscheidung der Eltern hier die Verantwortung verschiebt. Der Hinweis sei ferner gegeben, dass Kreß in seinen jüngeren Darstellungen die PID vermehrt unterstützt und es als präventive Verantwortung der Eltern wertet, für die Gesundheit ihrer Nachkommen aufzu560

Ein Modell hierzu bieten etwa Hofheinz, Mathwig oder Zeindler als Vertreter einer narrativen Ethik, die darauf bedacht ist, situationsbezogen zu reagieren. Vgl. hierzu beispielsweise Hofheinz, Marco, Mathwig, Frank, Zeindler, Matthias (Hgg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009. 561 Vgl. Kreß, Menschenwürde, 28. 562 Vgl. Kreß, Menschenwürde, 29f. 563 Kreß, Menschenwürde, 29f.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

kommen.564 Offen bleibt, ob Kreß dafür eintritt, alle vorhandenen medizinischen und diagnostischen Maßnahmen anzuwenden, um Klarheit über den diagnostizierbaren Gesundheitszustand zu erhalten. Fraglich ist dabei besonders die Konsequenz, die sich hieraus ziehen lässt. Sollten beispielsweise die PID sowie die Möglichkeit zur Abtreibung genutzt werden, um Krankheitsdispositionen zu vermeiden bzw. zu verhindern? Diese Argumentation eröffnet bereits einen starken eugenischen Übergang. Sogleich wäre zu klären, ob beispielsweise ein Recht auf Nicht-Wissen verkannt wird. 3.2.2.2 Menschenwürde im Hinblick auf die Patientenverfügung Die Frage nach dem Lebensende steht heute ebenso wie die Frage nach dem Lebensanfang in Korrelation zur Menschenwürde. Mit dieser verbunden tritt die Patientenverfügung – besonders nach ihrer rechtlichen Verankerung von 2009 – in den Fokus. Auch mit dieser Thematik hat sich Hartmut Kreß auseinandergesetzt und die Debatte mit seinen Beiträgen begleitet. Darlegungen dieserart werden nun gezielter behandelt. Ausgangspunkt ist seine Wahrnehmung der Ist-Situation: „In der Gegenwart sind eine überdehnte Medikalisierung, eine medizinisch-technische, apparative Überfremdung des eigenen Sterbens für zahlreiche Menschen nicht mehr akzeptabel. [. . . ] Eine rein quantitative Lebensverlängerung durch die Abhängigkeit von Intensivmedizin wird inzwischen oftmals als Widerspruch gegen die Würde des Sterbens empfunden.“565

Um diesen Empfindungen entgegenzuwirken, befürwortet Kreß den Relevanzgewinn der Selbstbestimmung, des mutmaßlichen Patientenwillens sowie der Patientenverfügung.566 „Patientenverfügungen sind Ausdruck der Selbstbestimmung des Patienten. Sie formulieren seine Wünsche und seine Werte für eine medizinische Behandlung, zu der er sich nicht mehr äußern kann, und bieten dem Arzt Informationen für eine individuelle Behandlung.“567

In Bezug auf die Selbstbestimmung erhalten persönliche Anschauungen und Wünsche auch hinsichtlich des eigenen Sterbens Achtung, wel564

Vgl. Kreß, Selbstbestimmung, 4. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 127. 566 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 127ff. 567 May, Standards, 332. 565

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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che beispielsweise durch Willensbekundungen realisiert werden können und sollen.568 Der mutmaßliche Wille in seiner Bindungswirkung ist höherwertiger als der Lebensschutz einer Person, wenn der Patient nicht mehr entscheidungsfähig ist. Auch diverse Gerichtsentscheide bekräftigten dies.569 Der sogenannte mutmaßliche Patientenwille wird basierend auf rein individuellen Einstellungen, Wünschen oder Lebensauffassungen ermittelt. Maßstäbe wie allgemeine Vernünftigkeit oder Nachvollziehbarkeit sollen bewusst vernachlässigt werden. Auch Kreß sieht die Gefahr, dass eine sachgerechte und nachvollziehbare Ermittlung des tatsächlichen Willens höchst schwierig ist. Um diese Problematik einzudämmen, können, so Kreß, Patientenverfügungen eingesetzt werden: „Aus diesem Grunde gewinnen Patientenverfügungen heute einen hohen Stellenwert.“570 Im Gegensatz zur bereits dargelegten Position Ulrich Eibachs verkörpert Kreß eine positive Haltung der Patientenverfügung gegenüber. Dieser Aspekt, der aus seiner spezifischen Wahrnehmung des Menschen resultiert, zeigt große Relevanz für die Arbeit und wird nun gezielter analysiert. Kreß´ Beschreibung der Patientenverfügung lautet wie folgt: „Eine Patientenverfügung enthält die persönliche schriftliche Erklärung eines Menschen darüber, wie aus seiner eigenen Perspektive heraus im Falle des Sterbens mit ihm umzugehen ist.“571 An dieser Stelle erfolgt noch kein Hinweis auf die Prospektivität der Verfügung, welche, wie bereits im Verlauf der Arbeit deutlich wurde, Ausgangspunkt etlicher Dissense zu sein scheint. Die Vermutung liegt also nahe, dass Hartmut Kreß prospektive Willensfestschreibungen als solche nicht problematisch empfindet, womöglich den aktuellen gar mit einem zukünftigen Willen identifiziert. Diese Einschätzung wird wiederum mit seiner – schon mehrfach aufgezeigten – rechtlichen Argumentation gestützt: Kreß stellt fest, dass dem Bundesgerichtshof gemäß (und das entspricht ja auch der aktuell gültigen Rechtspraxis) die Patientenverfügung nicht nur als Indiz für den Patientenwillen zu werten ist, sondern Verbindlichkeit sowie Vorrang vor sonstigen Kriterien zugesprochen bekommt.572 „Auf diese Weise erhält in der Gegenwart das Freiheitsund Selbstbestimmungsrecht des Patienten juristisch und medizinisch-

568

Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 127f. Vgl. Kapitel II.9 Die Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht. 570 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 129. Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 128f. 571 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 129. 572 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 129. 569

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

ethisch eine überaus starke Aufwertung.“573 Hartmut Kreß identifiziert folglich eine normative Vorrangstellung von Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit, was er als Abgrenzung gegen ärztlichen Paternalismus schätzt.574 Es offenbart sich bereits an dieser Stelle Kreß´ Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung, das beide Begrifflichkeiten inhaltlich stark miteinander identifiziert. Selbstbestimmung zielt kontextgemäß auf eine Abwehr gegen einen ungewollt von außen unterdrückenden Paternalismus (z. B. von Ärzten). Mithin pointiert Kreß vorrangig die Stärkung des Subjekts und seines eigenen, individuellen und vielleicht auch solipsistischen Willens. Das Ich soll vor der Suppression durch Entscheidungen von Anderen geschützt werden – nachdrücklich also vor Verobjektivierung durch das Gegenüber. In diesem Zusammenhang liegt ein Freiheitsverständnis zugrunde, das Freiheit als persönliche Wahlfreiheit versteht: die Freiheit, das zu tun oder zu lassen, zu wollen oder abzuwehren, was dem Individuum entspricht und dazu gleichwohl das Recht zu haben. Dies beschreibt für Kreß selbstbestimmtes Handeln.575 Der ethische Sinn der Patientenverfügung liegt Kreß gemäß in dieser wahrgenommenen Selbstverantwortung und darin, dass die Verfügung das Recht auf Selbstbestimmung geradezu verkörpert, den normativen Leitbegriff individueller Freiheit, der – so Kreß – durch Theologie und Philosophie geschichtlich herausgearbeitet wurde, aktualisiert und konkretisiert sowie die Pflichten eines Menschen sich selbst gegenüber unterstreicht.576 Mit Blick auf spätere Darstellungen von Kreß bleibt die beschriebene Verbindung von Freiheit und Selbstbestimmung mit Menschenwürde erhalten. Neben den bereits eingehend beschriebenen Rechtsbezügen, die Kreß als Grundlage für ein Selbstbestimmungsrecht identifiziert, ist auch die Freiheit des Menschen Erklärungsgegenstand der Menschenwürde. „Auf der Fähigkeit, frei zu entscheiden, beruht die Würde des Menschseins, an der jeder einzelne Mensch teilhat.“577 Deutlich wird, dass die Entscheidungsfreiheit eines Menschen die weitere Grundlage 573

Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 129. Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 129. 575 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 129. 576 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 131f. Zur Beschreibung der Pflichten eines Menschen gegen sich selbst knüpft Hartmut Kreß an Albert Schweitzers Ethos der Wahrhaftigkeit als ethische Theorie des 19. Jahrhunderts an. Eine Aufarbeitung der Ethik Albert Schweitzers kann hier nicht gewährleistet werden. Es bleibt der Verweis auf einige Werke zur Vertiefung der Thematik, wie beispielsweise Schweitzers Grundwerk Ehrfurcht vor dem Leben oder Günzler, Claus, Albert Schweitzer: Einführung in sein Denken, München 1996. 577 Kreß, Patientenverfügungen, 24. 574

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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der Menschenwürde beschreibt. Hingegen bleibt unbeantwortet, inwiefern sich auf der Basis einer Entscheidungsfreiheit die Teilhabe an der Würde für alle Menschen gleichermaßen sichert. Vor diesem Hintergrund ergeben sich grundlegende Fragen zu Kreß´ Freiheitsverständnis, die nun in einem separaten Exkurs ausgeführt werden sollen.

3.2.2.2.1 Exkurs: Das Verständnis von Freiheit Angefragt werden kann nun in notwendiger Kürze Kreß´ Verständnis von Freiheit in Verbindung mit seiner Interpretation von Theologiegeschichte. Sicherlich entspricht die Wahlfreiheit dem heute verbreiteten Verständnis von Freiheit und ist zudem auch geschichtlich, beispielsweise bei Pelagius, verortet. Dennoch ist eine unmittelbare sowie ausschließliche Gleichsetzung dieses Verständnisses mit Freiheit womöglich zu knapp. Insbesondere mit Blick auf die Historie erscheint jener Schulterschluss verfrüht. Im Fokus steht deshalb, ob weitere, ggf. wichtige Bedeutungsaspekte des Freiheitsbegriffs existieren, die notwendige Nuancen in Abgrenzung der im Vordergrund stehenden Freiheit im Sinne von Wahlfreiheit beschreiben. Beispielsweise liegt im Alten Testament keineswegs der Gedanke der Wahlfreiheit, geschweige denn der individuellen Freiheit vor. Freiheit ist hier vorrangig als gesellschaftlich-sozialer Begriff verortet. Eine theologische Verwendung ist nicht auffindbar.578 „Von Freiheit ist nur als ‚Befreiung‘ als einem für die Zukunft offenen Prozeß die Rede [. . . ], so daß nie von Freiheit als von einem Zustand geredet wird.“579 Insofern treten in diesem Kontext vornehmlich Verben der Erlösung und Rettung auf, die diesen Prozess verdeutlichen sowie als eschatologische Verheißung den Taten Gottes zuordnen. Ferner ist eine Bedeutungsverbindung der Begrifflichkeit zum verheißenen Gelobten Land festzustellen. „Befreiung ist danach im gesellschaftlichen Leben Israels nur als verheißene gegenwärtig.“580 Wird das Augenmerk auf das Frühjudentum gerichtet, ist ein weiterer Bedeutungsaspekt zu benennen, der Frei-Sein und Sklave-Sein als Gegensatzpaar kontrastiert. Folglich ist der Terminus in den Kontext der Sklavenfreilassung einzuordnen. Zudem zeigt sich, dass Freiheit als auf das eigene Volk beschränkt verstanden wird.581 578

Vgl. Bartsch, Art. Freiheit, 497f.; Heiligenthal, Art. Freiheit, 498ff. Bartsch, Art. Freiheit, 497. 580 Bartsch, Art. Freiheit, 498. 581 Vgl. Bartsch, Art. Freiheit, 497f.; Heiligenthal, Art. Freiheit, 498. 579

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

„Ansätze einer theologischen Interpretation (Gott als Befreier) des Gegensatzpaares ‚frei‘ und ‚Sklave‘ finden sich in TestJos 1,5, wo Joseph sein Schicksal mit folgenden Worten zusammenfaßt: ‚Ich wurde als Sklave verkauft, aber der Herr über alles hat mich befreit.‘“582

Ein politisch-heilsgeschichtliches Motiv ist alsdann aufzufinden, sodass „in frühjüdischen Texten das soteriologische Handeln Gottes mit Hilfe des Freiheitsbegriffes interpretiert wird [. . . ]. Im direkten Umkreis des Neuen Testaments wird damit ein Thema bereits bearbeitet, das nachher für den christlichen Freiheitsbegriff besonders kritisch wurde: Das Verhältnis des individuellen zum politischen Freiheitsbegriff im Horizont der Erlösung“583 .

Nebstdem existieren die Verständnisse von Freiheit als eschatologische Befreiung von den Sünden oder des Todes als Befreiung aus Knechtschaft.584 Im traditionellen Judentum lässt sich herausstellen, dass die Freiheit des Volkes Betonung findet, hier aber sowohl für die Gemeinschaft als auch für das Individuum. Konstitutiv für das Judentum durch die Geschichte hindurch ist der Freiheitsgedanke des Exodus-Geschehens. „‚Freiheit‘ im qualifizierten Sinne ist somit, jedenfalls für die zweitausendjährige Geschichte des nachbiblischen Judentums, zunächst nur in der Erinnerung und in der Hoffnung gegeben; und dies scheint besonders für das theologische jüdische Selbstverständnis konstitutiv zu sein.“585

Individuelle Freiheit lässt sich in Rückbezug zur kollektiven Freiheit als Gottesvolk deuten. „Natürlich ist Sinn und Zweck der Freiheit für die Tora die (freiwillige) Unterwerfung unter die Tora oder – in anderer Wendung – die Freiheit durch die Tora“586 . Freiheit interpretiert als Meinungs- oder Denkfreiheit entspricht eher nicht der jüdischen Tradition.587 Auch im antiken Griechentum wird Freiheit in Polarität zum Sklaventum verwendet und dadurch konkretisiert, dass derjenige frei, der Vollbürger einer Gemeinschaft, hier der Polis, ist. Folglich ist gerade der 582

Heiligenthal, Art. Freiheit, 499. Heiligenthal, Art. Freiheit, 499. 584 Vgl. Heiligenthal, Art. Freiheit, 499f. 585 Greive, Art. Freiheit, 502. 586 Greive, Art. Freiheit, 502. 587 Vgl. Greive, Art. Freiheit, 502f. 583

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Gegensatz des heutigen und auch bei Kreß vorherrschenden Verständnisses historisch verortet, dass nämlich gerade der Vollzug einer Bindung, die Teilhabe an einer Gemeinschaft, und nicht eine Lösung von Beziehungen, Freiheit bedeutet. Das einzelne Subjekt liegt nicht im Blick.588 In der griechisch-hellenistischen Antike ist bereits (im Gegensatz zum frühen Judentum) eine theoretische Reflexion von Freiheit als „Seinsbegriff“589 vorzufinden. Da der Freiheitsbegriff durch die Erfahrungen in der Polis, der Gemeinschaft der Freien, geprägt ist, liegen differente Einwirkungen vor: „Freiheit heißt teilweise beherrscht werden und teilweise herrschen“590 . An den Freien als Träger der Polis im Gegensatz zu den Sklaven veranschaulicht sich dieses Bild. Dieses Ordnungssystem durch die Sklaverei wird auch in der Stoa aufrechterhalten. Der Freiheitsbegriff als solcher wird nun weiter philosophisch geprägt, etwa im Hinblick auf die Erlangung wahrhaftiger Freiheit durch die Überwindung der Todesfurcht.591 Auch Platon zeigt die Grundzüge des frühen griechisch-hellenistischen Denkens und fragt vorrangig nicht nach der Freiheit des Einzelnen. Das größte Ziel ist vielmehr die Freiheit der Polis. Als conditio sine qua non für Freiheit kann demnach das Bestehen der Polis vorausgesetzt werden. Erneut gilt: Die Freiheit der Individuen ist mit dem Begriff inhaltlich keineswegs verbunden.592 Insofern kennzeichnet sich ferner eine positive Bewertung von Abhängigkeitsverhältnissen, dem die Freiheit des Einzelnen untergeordnet ist. Aristoteles lockert das Verhältnis im Bezug zur Polis bereits auf. So „ist die Gemeinschaft der Freien nicht mehr notwendig mit der Polis identisch: diese wird vielmehr zum Inbegriff der äußeren Voraussetzungen für das Leben als Philosoph.“593 Allein den Weisen als Freien zu verstehen kennzeichnet weiterhin das stoische Denken, sodass schließlich die Freiheit des Einzelnen (auch als Folge der Eroberung Athens und der damit ausgelösten sozialen Krise) weiter in den Blick gerückt wird. Als Vertreter dieser Philosophie sind etwa Seneca, Epiktet oder Marc Aurel zu nennen. Freiheit bedeutet in diesem philosophischen Kontext eher über sich selbst verfügen zu können, ohne dabei von den eigenen Wünschen gefangen zu sein oder sich ihnen gar zu unterwerfen. Die Freiheit konkretisiert sich folglich in der Freiheit von allen Wünschen 588

Vgl. Nestle, Art. Freiheit, 269ff. Bartsch, Art. Freiheit, 505. 590 Bartsch, Art. Freiheit, 505. 591 Vgl. Bartsch, Art. Freiheit, 505f. 592 Vgl. Nestle, Art. Freiheit, 271. 593 Nestle, Art. Freiheit, 275. 589

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

und jeglichen Begierden. Sie ist hier im eigenen Subjekt verortet und begründet so einen Übergang zum Verständnis von Freiheit im Sinne einer persönlichen Autonomie.594 In den synoptischen Evangelien begegnet dem Leser der Freiheitsbegriff (ἐλευθερία) als solcher eher nicht. Angesprochen ist hier indes das Verhältnis von Sklave und Herr. Ebenso werden Verben der Befreiung gebraucht, besonders im Hinblick auf Jesus Christus.595 Jesu Wirken und Verkündigung beinhalten innerhalb der synoptischen Evangelien die Botschaft der Befreiung. „Die Proklamation der Herrschaft Gottes in Jesu Wirken und Predigt als Verheißung gegenwärtigen Gottesreiches bedeutete Befreiung sowohl von der römischen Fremdherrschaft wie auch von der Heteronomie des vom Judentum entwickelten Gesetzes.“596 Freiheit im Neuen Testament erscheint besonders prägnant im Paulinischen Schrifttum, in dem ein begriffliches Verständnis von Freiheit als Heilswort entwickelt wird.597 Freiheit wird dabei oftmals als relationales Element beschrieben, das nicht individuell, sondern innerhalb der Gemeinde zu verorten ist (z. B. 1. Kor 8–10). Ferner wird die Freiheit in der Gemeinschaft mit Jesus Christus verheißen (z. B. Joh 8,31–36). Freiheit als überindividueller Aspekt wird nunmehr herausgestellt. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit den galatischen Gemeinden wird Freiheit vom Gesetz und von der Sünde und somit als Sein der Glaubenden entfaltet. Jesus Christus als Befreier wird besonders in Gal 5,1 beschrieben, der uns zur Freiheit befreit hat.598 Für diesen Exkurs zum Freiheitsverständnis sind die Interpretationen und Verständnisse von Augustin und Pelagius zur Zeit des 4. bis 5. Jahrhunderts, dem Umbruch von Spätantike zum frühen Mittelalter, wegweisend und damit, wenn auch in notwendiger Kürze, unerlässlich. Ihre differenten Positionen zur Willensfreiheit führten zum sog. Pelagianischen Streit. Für Augustin ist kennzeichnend, dass seine Anthropologie entscheidend auf seine theologische Position einwirkt. Wichtiges Augenmerk liegt dabei auf der „Rechtfertigungslehre als einer Erbsünden-, Gnadenund Prädestinationslehre“599 . Gott gilt als höchster Wert und absolutes 594

Vgl. Nestle, Art. Freiheit, 275; Vollenweider, Freiheit; Forschner, Epiktets Theorie der Freiheit, 97ff. 595 Vgl. Bartsch, Art. Freiheit, 506. 596 Bartsch, Art. Freiheit, 506. 597 Vgl. Nestle, Art. Freiheit, 280. 598 Vgl. Bartsch, Art. Freiheit, 509; Nestle, Art. Freiheit, 280ff. 599 Hauschild, Lehrbuch, 224.

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Prinzip. Augustins Menschenbild ist eher negativ konnotiert und einem starken Erbsündenverständnis, durch welche die menschliche Natur von Grund auf verdorben ist, unterworfen. Durch die Ursünde Adams, der ursprünglich „von Gott ‚richtig‘ (rectus) erschaffen“600 wurde, überträgt sich der Widerstand gegen Gottes Wort und Willen (durch den Zeugungsakt) mit dem Resultat, dass Menschen faktisch unfähig sind, nicht zu sündigen.601 „Gott in seiner Güte aber will ihr Heil; deswegen ist Erlösung nötig und möglich. Die Inkarnation seines Sohnes bringt definitiv die heilsgeschichtliche Wende.“602 Das Erbsündenverständnis inhäriert entscheidend Augustins Deutung des liberum arbitrium; er bejaht grundlegend die Existenz der Erbsünde in Anlehnung an Röm 7 und als Ursache von Sünde und bösem Handeln. Im Sündenfall des Urmenschen Adams jedoch ist jene Willensfreiheit missbraucht worden, was wiederum den Einzug des Bösen in die Welt ermöglichte. Demzufolge besteht die Willensfreiheit für den Menschen faktisch nicht.603 „Befreiung davon und somit die Möglichkeit, das Gute zu wollen, gibt es nur durch Gottes Gnade.“604 Die Erbsünde wird durch die menschliche Begierde, insbesondere die sexuelle Begierde im Zeugungsakt auf jeden Menschen übertragen, gar vererbt. „Einzig Jesus ist durch die Jungfrauengeburt aus dem sündigen Konkupiszenz-Zusammenhang herausgenommen.“605 Aus Gnade und Barmherzigkeit Gottes befähigt er den Menschen in Jesus Christus zum guten Willen. „Dienten die äußerlichen Gebote vergeblich dem Ziel, den Menschen in die Gemeinschaft mit Gott zu bringen, so stellt jetzt umgekehrt zunächst Gott diese Gemeinschaft von sich aus her“606 . Konstatiert werden kann, dass Augustin gemäß eine nur scheinbare Möglichkeit des liberum arbitrium gegeben ist, der Mensch sich aber von sich heraus für das Böse entscheidet. Nur die Gnade Gottes vermag es den Menschen zu verändern, dass er die Freiheit, das Gute und demnach den Willen Gottes bejaht und befolgt. In diesen Kontext ist nunmehr Augustins Erwählungslehre einzubinden, deren Erklärung letztlich aber Gottes Geheimnis bleibt.607 In Auseinandersetzung mit der augustinischen Anthropologie steht Pelagius, dessen Lehren teils als Häresie bewertet wurden – insbesondere 600

Hauschild, Lehrbuch, 226. Vgl. Hauschild, Lehrbuch, 225ff. 602 Hauschild, Lehrbuch, 227. 603 Vgl. Hauschild, Lehrbuch, 226f. 604 Hauschild, Lehrbuch, 227. 605 Hauschild, Lehrbuch, 227. 606 Hauschild, Lehrbuch, 228. 607 Vgl. Hauschild, Lehrbuch, 229f. 601

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

die seines Schülers Cälestius, dessen Anklage als Häretiker Auslöser des Streits war.608 Die Kontroverse zwischen Augustin und Pelagius ist in der Geschichte als Pelagianischer Streit (411–418) verbucht, wobei die streitbare Thematik nach wie vor Aktualität besitzt und beispielsweise in der Kontroverse von Martin Luther mit Erasmus von Rotterdam erneut aufbricht (s. u.). Inhalt ist die Frage nach dem freien Willen des Menschen in Bezug auf Gott und den Glauben. Letztlich geht es um die Frage des Verhältnisses von Natur und Gnade. In Augustins und Pelagius´ Theologie und Anthropologie sind unterschiedliche Grundtypen feststellbar: Während, wie oben beschrieben, Augustin von einer Erbsünde in Adam ausgeht, die die Faktizität des Menschseins bestimmt, ist es alleinig ein unverdientes Geschenk Gottes, mithin seine Gnade, den Menschen zu erwählen und zu erretten. Ein negatives, gar leibfeindliches Menschenbild ist kennzeichnend, welches alles Positive vom Menschen bereits als Wirkung der göttlichen Gnade bewertet. Das eigentliche Sein des Menschen ist also das Sündersein. Nur derjenige, dem die Gnade zuteilwird, hat die Freiheit Gott zu bejahen und kann glauben. Eine eigene Leistung des Menschen wird nicht vorausgesetzt. Freiheit beschreibt folglich in dieser Konnotation eine Aktivität Gottes, der der Mensch rein passiv entgegensteht, die schließlich aber dazu befähigt in Übereinstimmung mit Gott zu leben. Pelagius hingegen drängt auf eine ernsthafte Praxis des Christseins, wobei er eher ein positives Menschenbild zugrunde legt. Ihm gemäß kann der Mensch den Willen Gottes erfüllen – sofern er es nur will. Er fordert die Verantwortungsübernahme des Menschen. Jenem wird die Wahlfreiheit zugesprochen, den Weg der Sünde oder den des Guten zu wählen. Argumentativ bezieht sich Pelagius auf Gen 1,26f., auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die für ihn impliziert, dass der geschaffene Mensch mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist.609 Diese „hilfreiche Gabe Gottes – die gute Natur gleichsam als Schöpfungsgnade verstanden – impliziert die Aufgabe, durch rechtes Handeln Gott ähnlich zu werden in Gerechtigkeit, Heiligkeit und Wahrhaftigkeit“610 . Adam ist das Leitbild für die Sündhaftigkeit des Menschen und die Schwachheit des Fleisches. Insofern ist Gottes Gesetz „als normative Orientierung (formula) und kritisches Korrektiv (correctorium)“611 eingesetzt. Da die Überzeugungskraft des Gesetzes recht gering ist, ist erst

608

Vgl. Hauschild, Lehrbuch, 230f.; 233. Vgl. Hauschild, Lehrbuch, 232. 610 Hauschild, Lehrbuch, 232 (Fettdruck im Original). 611 Hauschild, Lehrbuch, 232. 609

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in Jesus Christus und durch seine Vorbildhaftigkeit die Möglichkeit gegeben, die Schwachheit des Fleisches zu überwinden.612 Im Glauben erfährt der Mensch Errettung und Sündenvergebung im Erlösungswerk Jesu Christi. Als wichtige Differenz zu Augustin vertritt Pelagius die Auffassung, dass es ein Akt der Willensfreiheit des Menschen ist, den Weg des Glaubens oder den der Sünde zu wählen, was sein optimistisches Menschenbild charakterisiert.613 Augustin hingegen spricht von einer Freiheit, die „durch Christi Gnade inspiratorisch von Gott geschenkt werde.“614 Resümierend lässt sich beschreiben, dass der Mensch nach Pelagius – bildlich gesprochen – am Scheideweg steht und es seiner eigenen Verantwortung obliegt, den Weg des Guten oder den des Bösen zu wählen. Frei ist dann derjenige, der nicht von der Sünde beeinflusst ist. Jesus Christus ist ein Zeugnis oder Leitbild dafür, dass ein sündloses Leben reale Möglichkeit ist. In der Reformation – und somit auch bei Martin Luther – ist Freiheit ein wichtiges Thema, nicht zuletzt in dem Bestreben, sich vom Pelagianismus abzugrenzen. Insbesondere in der Lutherischen Theologie kann ein programmatischer Gebrauch des Begriffs erkannt werden. Gar der gesamten Reformation (bin zum Ende des Bauernkriegs) lässt sich das Prädikat der Freiheitsbewegung zuschreiben, deren Wurzeln auch in Luthers Theologie aufzuspüren sind.615 Notwendiger Ausgangs- und Bezugspunkt ist die mittelalterliche Theologie. „Freiheit dachte sie [die mittelalterliche Theologie; d. Vf.] als Bewahrung vor den Versuchungen des Teufels, der Welt und des eigenen Leibes, als Erlösung von sündhafter Verdorbenheit, Sündenschuld und Sündenstrafe und als Befreiung zur Gerechtigkeit eines neuen geistlichen Lebens und zur Herrlichkeit des ewigen Lebens.“616

Eine Ausrichtung auf das Jenseits, die besonders die Frömmigkeit prägte, ist leitend, sodass bei der Reflexion des Freiheitsverständnisses eine Konzentration „auf das gnadentheologisch-psychologische Problem der Willensfreiheit, auf das Verhältnis zwischen der göttlichen Gnadenwirkung und dem freien Entscheidungsvermögen (liberum arbitrium) 612

Vgl. Hauschild, Lehrbuch, 232. Vgl. Hauschild, Lehrbuch, 232. 614 Hauschild, Lehrbuch, 233. 615 Vgl. Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 50f.; 64. 616 Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 51. 613

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

des Menschen“617 spürbar ist. Insofern entwickeln sich insbesondere zur Zeit der Scholastik zwei differente Lager um das Verständnis der Freiheit: Auf der einen Seite, vertreten u. a. von Wilhelm von Ockham, die Willensfreiheit als Gegenüber zur Gnade, die auf die „alte griechische Idee der Wahlfreiheit des vernunftbegabten Wesens“618 gründet. Charakteristisch ist ein Verständnis des autonomen Menschen, der sich gar für oder gegen Gott entscheiden kann. Andererseits das von Paulus, Augustin und Thomas von Aquin herkommende Freiheitsverständnis. „Freiheit in theologischer Hinsicht ist für diese Theologen nicht Entscheidungsfreiheit gegenüber der Gnade, sondern eine erst durch die Gnade eröffnete, aus ihr hervorströmende Freiheit, ein Bestimmtsein des Willens durch die Gnade. Gemeint ist damit: Die im Menschen wirkende und die Zielrichtung seines Wollens umkehrende Gnade Gottes ermächtigt den Menschen, das Gute aus innerstem Antrieb freiwillig zu tun und so Gottes Gesetz in seiner wahren Intention zu erfüllen. Freiheit ist die damit in Kraft gesetzte Freiwilligkeit und Spontaneität der Liebe.“619

Eine Prädestination Gottes ist Ausgangspunkt ebendieses Denkens. Dennoch ist keine reine Passivität aufseiten des Menschen zuzuordnen. Vielmehr bejaht er die Gnadenwahl „aus innerer Freiwilligkeit und Freude“620 , wodurch wiederum gute Werke entstehen.621 Luther integriert nun ein neuartiges Denken, indem er herausstellt, dass der Mensch nie in sich selbst gut sein kann, dieses Wirken hingegen alleinig Gott obliegt. Folglich kann der Mensch nur zur Wahrheit gelangen, indem er sein Sündersein erkennt und damit gerecht gesprochen wird. Kennzeichnend für die Lutherische Theologie ist somit weniger die Betrachtung des Kontextes, in dem sich der Mensch als solcher befindet, sondern vielmehr seine Relation, in der er steht. Bereits die Selbstanklage des sündigen Menschen sieht Luther als Wirkung der barmherzigen, geschenkten und zuvorkommenden Gnade Gottes.622 Jene Gerechtigkeit, die keineswegs eine innere Qualität des Menschen abbildet, wird außerhalb seiner selbst verortet und kommt als schenkende Gnade in Jesus Christus dem Menschen zu. Die Gerechtigkeit Jesu Christi wird also zur Gerechtigkeit des Menschen als bedingungsloses Geschenk. Dies lässt sich wohl mit dem Begriff der Barmherzig617

Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 51f. (Formatierung d. Vf.). Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 52. Vgl. Joest, Martin Luther, 132ff. 619 Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 52. 620 Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 53. 621 Vgl. Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 52f. 622 Vgl. Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 55ff. 618

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keit beschreiben. Der Mensch ist also frei, und dies dadurch, dass Jesus Christus die Sünde des Menschen auf sich genommen hat.623 Im Sinne Martin Luthers kann Freiheit mit der „Entlastung von der Sünde“624 im Sündersein beschrieben werden, was sein bekannter Ausspruch simul iustus et peccator verdeutlicht.625 Hinsichtlich der Frage nach den Werken des Menschen ist herauszustellen, dass Luther grundsätzlich das Rechtfertigungsgeschehen nicht an die (guten) Werke des Menschen bindet, sondern es als bedingungslose Gnade allein Gott obliegt. Dennoch lassen sich zwei Seiten jener christlichen Freiheit benennen: Einerseits die Freiheit des Gewissens vom Gesetz, welches, da den Menschen die Gesetzeserfüllung Jesu Christi geschenkt ist, keine Heilsbedingung besitzt. „Freiheit bestimmt Luther zum anderen als die spontane Freiwilligkeit der Liebe, die sich dienend dem Nächsten zuwendet.“626 Vor diesem Hintergrund lässt sich als wichtiger Aspekt in der Theologie Luthers sowie für das Verständnis des Freiheitsbegriffs herausstellen, dass Luther hier Freiheit im Zusammenspiel und somit als Ganzheit zweier Grundzüge versteht: Freiheit im Sinne von Be-freiung von Gott in Jesus Christus verbunden mit einer vollzogenen Bindung des Menschen in dienender, freiwilliger Liebe.627 Hamm fasst Luthers Freiheitsverständnis eindrücklich zusammen: „Es ist die Entdeckung der Freiheit des Menschen von sich selbst. Die Freiheit ist zugleich Freiheit vom Gesetz und Freiheit für Gott und den Nächsten [. . . ]. Die Freiheit des Christen als die bedingungslose Annahme zum Heil vor allen Werken – das ist die zentrale Freiheitsidee Luthers.“628

Im Streit Luthers mit Erasmus von Rotterdam629 wird Kritik an Luthers Rechtfertigungslehre gerichtet. Hierbei geht es um die Frage nach der Freiheit des Menschen und nach seinem Vermögen, durch gute Werke 623

Vgl. Joest, Martin Luther, 134f.; Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 58f. Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 60. 625 Vgl. Joest, Martin Luther, 140; Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 60; Luther, Von der Freiheit, 162. 626 Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 61. 627 Vgl. Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 61f. 628 Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 67. 629 Luther zeigt mit seiner Schrift De servo arbitrio (lat.: Vom geknechteten Willen) zum Werk Erasmus´ mit dem Titel De libero arbitrio (lat.: Vom freien Willen) eine Gegenposition. Ihre Kontroverse hat die Auseinandersetzung über die Willensfreiheit mit Blick auf den Glauben zum Gegenstand. Luther vertritt dabei die These, dass der Mensch in Bezug auf Gott, auf seinen Glauben oder Nicht-Glauben oder gar zu seinem Heil keine Entscheidungsfreiheit besitzt, dem Erasmus wiederum entgegentritt. Vgl. Joest, Martin Luther, 150f.; 159. 624

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Heil zu erlangen. Wird hingegen das Heil ausschließlich Resultat der Gnade Gottes im Glauben, so wird zugleich der freie Wille des Menschen, der liberum arbitrium, fragwürdig.630 „Mußte aus der Behauptung der unumschränkten Gnade Gottes nicht notwendigerweise eine Infragestellung der Freiheit des Menschen folgen, der Manifestation seines Stolzes und seiner Selbstgefälligkeit? Das Problem der Freiheit zeichnet sich hinter dem Streit um die Werke ab.“631

Erasmus „beschuldigt Luther, durch die Negation des liberum arbitrium auch das zu negieren, was das Wesen des Menschen ausmache und ihn sowohl vom Tier als auch vom unbeseelten Lebewesen unterscheide, nämlich die Fähigkeit, frei abzuwägen und zu entscheiden.“632

Luther hingegen beruft sich auf die Gnade Gottes allein aus Glauben und auf die des Kreuzesgeschehens, welches wiederum durch die Betonung des freien Willens in Gefahr geraten würde. Auch das von Gott eingesetzte Gesetz ist Luther gemäß zur Überführung der Sündhaftigkeit des Menschen gegeben. Die menschliche Fähigkeit zum Wählen ordnet er demnach in den Bereich des irdischen ein, nicht jedoch in Bezug auf Gott, was er mit der Erbsünde sowie der Prädestination begründet.633 Zugleich negiert Luther, wie oben schon gezeigt werden konnte, nicht vorschnell die Freiheit des Menschen, sondern beschreibt sie vielmehr in dem Sinne, „daß die Freiheit kein natürliches Attribut des Menschen ist, sondern sich aus einer Befreiung ergibt, daß sie nur gleichzeitig mit dem Glauben existieren kann, da ohne den Glauben an Christus der Mensch in Knechtschaft lebt.“634 Folglich füllt Luther den Begriff der Freiheit inhaltlich auf folgende Weise: „Freiheit ist die Freiheit des Glaubens und kommt aus dem Glauben.“635 Die Be-freiung durch Christus wird erneut ersichtlich, besonders im Hinblick auf das Gesetz und demnach auch von einer Werkgerechtigkeit. Somit begegnet das Evangelium Jesu Christi in Abgrenzung von der mittelalterlichen Theologie in einem neuen Licht. Luther „hat es überhaupt erst wieder 630

Vgl. Mehl, Art. Freiheit, 512. Mehl, Art. Freiheit, 512. 632 Mehl, Art. Freiheit, 512. 633 Vgl. Mehl, Art. Freiheit, 512f. 634 Mehl, Art. Freiheit, 514. 635 Mehl, Art. Freiheit, 514. 631

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radikal als Evangelium verstanden – als die gute, befreiende Botschaft von dem Gott, der den Menschen bedingungslos annimmt.“636 Johannes Calvins Freiheitsdenken ist mit dem Luthers vergleichbar. So beschreibt er etwa: „‚Die christliche Freiheit liegt hauptsächlich darin, daß wir durch die Gnade Jesu Christi und das Geschenk des Heiligen Geistes vom Zwang des Gesetzes befreit sind [. . . ]‘“637 , wobei die Befolgung des Gesetzes positiv dazu beiträgt, „die Schwachen im Glauben und in der Liebe zu stärken.“638 Immanuel Kants Verständnis einer Handlungsfreiheit des Menschen im Sinne des kategorischen Imperativs zu handeln und demnach ebenso das Gegenüber im Fokus zu haben, wurde bereits oben im Exkurs: Immanuel Kant (Kapitel IV.3.1.1.2) dargelegt.639 Das uns heute naheliegende Verständnis, den Menschen als autonomes und nahezu solipsistisches Wesen unmittelbar mit der Philosophie Immanuel Kants zu begründen, erscheint vor obigen inhaltlichen Beschreibungen verkürzt. Nachdrücklich zeigt sich, dass unterschiedliche Prämissen beim Freiheitsverständnis vorausgesetzt werden. Während Kant nicht nach einer Freiheit des Menschen als solcher fragt, sondern sich auf die Handlungsfreiheit des Menschen beschränkt, geht beispielsweise Luther vorerst auf die Freiheit des Menschen im Blick auf Gott ein, in einem weiteren Schritt dann auf die Freiheit in der Welt. Es ergibt sich demnach der Hinweis darauf, dass Freiheit als Begriff diverse Konnotationen und Inhaltsfüllungen erhalten kann. Insofern kann anhand dieser knappen Beschreibung gezeigt werden, dass der Begriff Freiheit in seinem vielschichtigen Verständnis keineswegs erfasst wird, wird er ausschließlich als individuelle Wahlfreiheit verstanden. Der Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Topos gewährt den deutlichen Hinweis darauf, dass nicht selten eine Relation im Fokus steht, die auf eine Verbindung zu Gott und zum Mitmenschen hinweist. Zugleich ist hiermit der unmittelbare Schulterschluss zu einer (alleinigen) Stärkung der Selbstbestimmung im Rekurs auf die Freiheit infrage gestellt. Denn die Darlegungen verdeutlichen die theologie- und philosophiegeschichtlich überindividuellen und relationalen Konnotationen. Im weiteren Sinne ist ein gewisser Mehrwert eines theologischen Verständnisses der Freiheit aufzuzeigen, der darin zum Ausdruck kommt,

636

Joest, Martin Luther, 131. Mehl, Art. Freiheit, 516. 638 Mehl, Art. Freiheit, 516. 639 Vgl. zudem Forschner, Gesetz und Evangelium. 637

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Freiheit als Geschenk640 zu verstehen. Es kann so als Befreiung wahrgenommen werden, die Last der eigenen Verantwortung für die persönliche Freiheit in erster Linie nicht bei sich selbst zu verorten, sondern das Geschenk der Freiheit dankend in Jesus Christus anzunehmen. Diese geschenkte Befreiung zusammen zu denken mit der eigenen Haltung in freiwilliger und dienender Liebe legt den Bezug zur Relationalität des Menschen wiederum dar. Alle Dimensionen der Beziehung des Menschen, zu sich selbst, zum Mitmenschen und zu Gott, werden bedacht. Ein solches Freiheitsverständnis scheint in den strittigen Dissensen um Autonomie und Fürsorge auf eine neue Perspektive hinzuweisen, die, ohne zu vereinseitigen, den Menschen als Ganzen in seinen Relationen betrachtet. Werden diese Erkenntnisse nun auf die Abhandlungen Kreß´ projiziert, so lassen sich Nachfragen, besonders im Blick auf ein relationales Verständnis von Freiheit, stellen. Kreß beruft sich explizit auf ein individuelles Freiheitsverständnis und identifiziert dieses mit Autonomie sowie Selbstverantwortlichkeit als „Quelle der Humanität“641 . Mündigkeit ist daraufhin gefordert und vorausgesetzt, womit Kreß den Gedanken der Patientenverfügung ethisch begründet.642 Der Hinweis liegt nahe, dass Kreß seine Betonung auf die Individualität und das eigene Subjekt als Handlungsmaßstab zugrunde legt und so Autonomie als Humanität verstehen kann. Vor dem Hintergrund des Exkurses stellt sich somit inhaltlich die Frage nach einer Vereinseitigung des Freiheitsverständnisses bei Kreß, welches hauptsächlich zur Stärkung der Autonomie eingesetzt wird. Wird aber gerade aus theologischem Horizont heraus ein relationales Freiheitsverständnis zugrunde gelegt, so kann die der Kreßschen Darstellung inhärierende Vernachlässigung einer wesentlichen Komponente des Menschseins erkannt werden: die Beziehungshaftigkeit. So werden die Traditionslinien, die sowohl vom Judentum als auch vom antiken Griechentum einwirken, nicht zur Sprache gebracht. Hier wird besonders der Aspekt der Freiheit verdeutlicht, als Volk oder innerhalb einer Gemeinschaft (und darin schließlich auch als Individuum) frei zu sein, also in der Bindung diese Freiheit zu erfahren. Ebenso der Aspekt der Befreiung durch Jesus Christus, der im Neuen Testament begegnet und gleichwohl einen überindividuellen Aspekt hervorhebt, wird von Kreß nicht zur Sprache gebracht. Generell wird die Aktivi640

Eine nähere Erläuterung der Freiheit als Geschenk erfolgt in Anbindung an Karl Barths Theologie in Kapitel V.2.2.3.1. An dieser Stelle wird demnach nur auf die spätere ausführlichere Darstellung verwiesen. 641 Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 131. 642 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 131f.

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tät Gottes als mögliche Voraussetzung für die Freiheit des Menschen sowie die Relation zur Gnade in Kreß´ Darstellungen nicht reflektiert. Es lässt sich vielmehr ausschließlich eine innerweltliche Argumentation hinsichtlich der Freiheit auffinden, ohne jedoch theologische Prämissen zu diskutieren und die Verantwortlichkeit des Menschen in jenen Kontext einzubinden. Es wird somit keine Orientierung geboten, wie (spezifisch christlich) Sein und Aufgabe des Menschen verstanden werden können und sich gegenseitig bedingen. Problematisch erscheint dabei, dass, wenn keine Ausrichtung auf das Wort Gottes, welches in Jesus Christus offenbar wird, erfolgt, eine Beliebigkeit in Handlungsoptionen die Folge sein kann. Dem gegenüber steht eine christologische Anthropologie, die Sein und Handeln des Menschen im Blick auf Jesus Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, immer wieder neu befragen kann. Kreß hingegen verzichtet auf theologisch fundierte Prämissen, wodurch seine rechtsethische und auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen basierende Argumentation auf den ersten Blick stichhaltig erscheint, er jedoch bei näherem Hinsehen bereits die Argumente Kants oder Luthers verkürzt rezipiert. Letztlich dienen auch seine Abhandlungen und Begründungsstränge zur Freiheit des Menschen dem Ziel, Autonomie und Wahlfreiheit hervorzuheben und ausschließlich dem eigenen Verantwortungsbereich zuzuschreiben. Er reagiert hier auf eine gegenwärtige gesellschaftliche Tendenz, auch mit dem Ziel, eine breit aufgestellte Basis seiner Positionen anzubieten. Ein möglichst offener Zugang zu seinen Argumenten soll so gewährt werden, ohne sich genuin theologischen Prämissen zu unterstellen. Das Gesicht einer spezifisch christlichen Ethik, die aufbauend auf ein schlüssiges Argumentationsfundament zur (allgemeinen) Auseinandersetzung einlädt, kann sich nicht ausbilden. Deutlich wird außerdem nochmals seine Fokussierung auf die (solipsistische) Autonomie des Menschen ohne einen vertiefenden Blick in seine Relationalität, die geschenkte Freiheit in Jesus Christus oder die Freiwilligkeit der Liebe, die sich als theologische Zugänge anbieten können. Kreß´ Denken wiederum entspricht dies nicht, wenngleich der frühe Kreß zuweilen jene Aspekte zur Sprache brachte. Als weitere inhaltliche Rückfrage an Kreß´ Darstellungen kann genannt werden, ob spezielle theologiegeschichtliche Auszüge für eine theologische Fundierung ausreichend erscheinen. Eine (systematisch-)theologische Argumentation ist erneut nicht auffindbar, was wiederum die Vermutung der Trennung von Dogmatik und Ethik bestärkt. Ferner konnte bereits beispielsweise im Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs (Kapitel III.7) deutlich gemacht werden, dass Autonomie in ausschließlicher Betonung der Individualität auch und ge-

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rade im theologischen Horizont seine Bedeutungsbreite nicht vollends ausfüllt, was zugleich die gängige Praxis, besonders bezüglich Vorsorgedokumenten, verifiziert. Die Frage nach einem ausgewogenen Verständnis von Sein und Handeln des Menschen steht so auch hier noch aus. Im Verlauf der Arbeit wird somit im Fokus stehen müssen, wie und ob ein relationales Freiheitsverständnis auf jene Dissense reagieren kann und den ganzen Menschen unter Beachtung seiner Befreiung durch Gott in Jesus Christus und seiner in Freiheit und Freiwilligkeit vollzogenen Bindung in den Blick nimmt. 3.2.2.2.2 Die Patientenverfügung im Lichte der Selbstbestimmung Wie bereits an diversen Stellen der vorliegenden Arbeit ersichtlich wurde, existieren transdisziplinär Dissense und Problematiken zur Patientenverfügung. Hartmut Kreß reagiert darauf, indem er seine wahrgenommenen Schwierigkeiten der Verfügung thematisiert. Er stellt beispielsweise die Frage, ob die prospektiv verfasste Verfügung dem tatsächlichen Willen entspricht oder gar von einer rationalen sowie emotionalen Überforderung bei der Antizipation und Reflexion des eigenen Sterbeprozesses ausgegangen werden kann. Um sich der eigenen Endlichkeit und Sterblichkeit bewusst zu werden, ist nach Kreß ein Realitätsbewusstsein, eine Rationalität sowie eine gewisse Selbstdistanz gefordert. Insofern zeigt sich die Gefahr der persönlichen Überforderung in der Auseinandersetzung mit Patientenverfügungen.643 Bei Kreß´ angesprochener Kritik an die Verfügung lässt sich seine bereits herausgestellte Konzentration auf das eigene Subjekt erneut wahrnehmen. Er fokussiert sich eher auf bestehende, rein individuelle Problematiken und auf die Frage, ob (jeder) Mensch über ausreichende Selbstreflexion und -distanz für die Abfassung einer Patientenverfügung verfügt. Weniger stehen generelle Schwierigkeiten mit der Patientenverfügung als solcher vor Augen, wie beispielsweise die Frage nach Lebensunwertkriterien. Ebenso unbeachtet bleibt die Thematik der Umsetzung einer Patientenverfügung, wofür notwendigerweise Mitmenschen eintreten müssen. Diese generellen Fragen nehmen in der Reflexion Kreß´ keinen hohen Stellenwert ein, da die Patientenverfügung auf geltendes Recht aufbaut sowie normativ dem Recht auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu entsprechen scheint und ferner ausschließlich individuell wahrgenommen wird. Die Patientenverfügung wird folglich dem Bereich der persönlichen und individuel643

Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 129ff.

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len Freiheit und Verantwortung zugeordnet.644 Nicht im Blick steht die Notwendigkeit ihrer Umsetzung durch Dritte oder gar eine Reflexion über die Grenzen und Probleme der eigenen Freiheit und Verantwortung. Die Patientenverfügung betreffend wird nunmehr ein Tenor der Befürwortung hörbar. Grundlage dessen ist die nach Kreß positiv wahrnehmbare verfassungsrechtliche Bestätigung der Selbstbestimmung, die wiederum vorsorglichen Willensäußerungen in Form der Patientenverfügung ebenfalls rechtliche Verbindlichkeit zusprechen lässt.645 Ferner sieht Kreß die Willensbestimmungen in der Verfügung als ethisch nicht problematisch an, da es sich hierbei, so seine Einschätzung, eher um passive Sterbehilfe handelt und jener Wunsch dem Grundgesetz gemäß respektiert werden soll. Im Gegensatz dazu erscheint es ihm problematischer Lebensrecht in Lebenspflicht umschlagen zu lassen oder paternalistischen Strukturen – hier dem Neopaternalismus – Einzug zu gewähren, auch indem Fürsorge als reines Eintreten für einen Anderen verstanden wird.646 Zugleich bleibt bei Kreß eine gewisse Würdigung des Fürsorge-Gedankens nicht aus: „In anderer Hinsicht sind dem Leitbild der Fürsorge freilich wegweisende Impulse zu entnehmen. Denn der einzelne Mensch ist in mitmenschliche sowie soziale Beziehungen eingebunden und existiert nicht allein aus sich selbst heraus, autark oder solipsistisch, sondern lebt – und stirbt – im Gegenüber zu anderen Menschen.“647

Diese Würdigung zeigt sich nach Kreß besonders in der Hospizbewegung oder der Palliativmedizin, in denen exemplarisch die „Pflichten der Hilfeleistung und der Solidarität“648 realisiert werden. Vor dem Hintergrund, dass Hartmut Kreß vorwiegend den Aspekt der Fürsorge in einem (neo-)paternalistischen Kontext und als Einschränkung der persönlichen Autonomie wahrnimmt, erscheint es an dieser Stelle als beachtlich, dass hier nahezu beiläufig auf die Dimension zum Gegenüber als wichtige Komponente des Menschseins zurückgegriffen wird und in Bezug auf Hospize oder Palliativmedizin auch von Kreß die Einschätzung geteilt wird, dass das Menschsein nicht ausschließlich solipsistisch-subjektzentriert wahrgenommen werden kann. Die Abgren644

Vgl. Kreß, Sterbehilfe, 1. Vgl. auch Kreß, Sterbehilfe, 6f. 646 Vgl. Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 962. 647 Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 964. 648 Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 964. 645

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zung vom Gegenüber, die in seinen Darstellungen nachdrücklich bereits zunehmende Bedeutsamkeit erlangt hat sowie noch weiterhin ausgeführt werden wird, wird an dieser Stelle in Beziehung zur Fürsorge gesetzt. Nun ist zu fragen, welche Verwurzelung dieser Beziehung von Autonomie und Fürsorge im Denken Kreß´ vorliegt. Zur näheren Beschreibung ist auf den frühen Kreß zu verweisen. In den Darlegungen, die besonders in den Kapiteln IV.3.1.1 und IV.3.1.2 entfaltet sowie diskutiert wurden, zeigte sich ein Nebeneinander eines relationaldialogischen Personenverständnisses mit einem auf die Stärkung des eigenen Subjekts und die eigene Autonomie ausgerichteten Verständnis des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen. Zugleich wurde bei der Analyse ersichtlich, dass der Fokus bereits deutlich auf den zweitgenannten Aspekt gerichtet war und sich hierauf – wie wir im Folgenden weiter sehen werden – als Primat des Menschlichen konzentrieren wird. Eine wirkliche Funktion des Menschen als Beziehungswesen konnte nicht analysiert werden. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke zu postulieren, dass Hartmut Kreß den Aspekt der Fürsorge nicht grundsätzlich in seinem Denken verortet hat. Unterstreichen lässt sich dies damit, dass Kreß die sich vom Paternalismus unterscheidende Fürsorge in Beratung gewährleistet sieht. Jene (z. B. die ärztliche Fürsorge realisierende) Beratung ist allerdings im Hinblick auf ihre Dialoghaftigkeit kritisch anzufragen. So, wie Kreß die Beratungsleistung hier beschreibt, wird sie alleinig zur Folgen- und Risikoaufklärung benutzt, nicht jedoch zur gemeinschaftlichen Annäherung an eine Position. Es wird für möglich erachtet, dass die Entscheidung zur Abfassung einer therapiebegrenzenden Patientenverfügung bereits gefallen ist, und insofern die Beratung das Ziel der Folgenaufklärung erhält, nicht aber zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema als solchem: „Wenn Menschen eine vorsorgliche Patientenverfügung verfassen, sollte ein Arzt zur Beratung bereit sein. Dies gilt vor allem für solche Vorausverfügungen, die schwierige Gratwanderungen darstellen und z. B. den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen im Fall der schweren Demenz vorsehen. Eine ärztliche Beratung kann gewährleisten, dass der Verfasser einer Patientenverfügung medizinisch aufgeklärt wurde und sich der Folgen, auch der Risiken bewusst ist, die seine Verfügung für ihn selbst bewirken könnte.“649

Ein relationales Verständnis von Autonomie und Fürsorge kann nicht wahrgenommen werden. Die Fürsorge kann in diesem Kontext eher als Dienstleisterin für die eigene Autonomie wahrgenommen werden. 649

Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 964.

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Als weitere positive Konsequenz der Patientenverfügung bewertet Kreß ihre Auswirkung auf die Wertanamnese. Hervorzuheben ist dabei die Entlastung für Dritte bei stellvertretenden Entscheidungen. Die Verfügung bietet nach Kreß einen authentischen Orientierungsrahmen der Wertvorstellungen einer Person. Des Weiteren ist sie ein Zeichen der aktiven Inanspruchnahme des eigenen Selbstbestimmungsrechts, welches Kreß in seiner Existenz ja voraussetzt.650 Jedoch, so wurde im Verlauf der Arbeit bereits ersichtlich, ist eine hinreichende Verankerung und Verbreitung der Patientenverfügung im Alltag noch nicht gewährleistet. Sie stellt also große Anforderungen an die eigene Autonomie.651 Auch diese Argumentation sei näher untersucht. Zuerst muss gefragt werden, inwiefern sich die Entlastung für Dritte durch eine Patientenverfügung zeigt. In positiver Würdigung der Aussagen kann es durchaus eine realistische Hilfestellung darstellen, Werte und Wünsche einer Person für schwierige Entscheidungssituationen zu kennen. Hierzu kann durchaus auch eine Patientenverfügung beitragen. Trifft hingegen eine Patientenverfügung nicht genau auf eine Krankheitssituation zu, in der sich der Patient weder äußern noch entscheiden kann, so bedarf es – was Kreß allerdings nicht vordergründig wahrzunehmen scheint – der Interpretation durch Dritte. Demzufolge muss der Wille entsprechend in hermeneutischer Herausforderung antizipiert werden. Wird die Patientenverfügung, wie oben beschrieben, zur Wertanamnese benutzt, so können sich fundamentale Dissense ergeben, die Kreß ggf. nicht im Fokus hat, wenn er die Verfügung als den authentischen Orientierungsrahmen wahrnimmt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein früherer Wille, etwa zum Behandlungsverzicht, sehr klar und deutlich gemacht wurde, sich aber dann dennoch in der konkreten Lebenssituation Lebenswille zeigt. Hierzu sei exemplarisch an Walter Jens erinnert, der zu Zeiten seines wissenschaftlichen Wirkens die persönliche Selbstbestimmung stärkte, auch in Bezug auf das Sterben. Er vertrat eine Position, die auf die Aufwertung der Geltung von Patientenverfügungen und auf eine eigenverantwortliche Bestimmung von Art und Zeitpunkt des eigenen Todes ausgerichtet war.652 Sein Wille, auch für die Demenzerkrankung, schien klar zu sein. Inge Jens hingegen berichtet eindrücklich von der Gespaltenheit zwischen dem Wissen um den (früheren) Willen und dem Erleben der Lebensfreude ihres Mannes im Zustand der Demenz. Sie zeigt auf, wie gerade in der Frage um die Vollstreckung des verfüg650

Vgl. zur Diskussion um Selbstbestimmung und der Frage nach einer Existenz des Selbstbestimmungsrechts Kapitel II.9. 651 Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 254. 652 Vgl. Jens, Menschenwürdig sterben.

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ten Willens schwierige Entscheidungssituationen für Dritte auftreten können.653 Dieses Beispiel kann als Rückfrage an Kreß gestellt werden, da er einerseits womöglich verkennt, dass eine prospektive Patientenverfügung unmittelbar Dritte beteiligt und sie durchaus in Dilemmasituationen führen kann. Die Patientenverfügung ist nicht ausschließlich abgegrenzt im eigenen Verantwortungsbereich eines Menschen verortet, sondern eo ipso auf Umsetzung durch Dritte angewiesen. Andererseits lässt sich auf die Frage nach dem prospektiven Willen verweisen. Die Patientenverfügung berücksichtigt wenig, dass der Mensch ein sich veränderndes und entwickelndes Wesen ist sowie sich womöglich erst im Erleben einer Situation andere (Entscheidungs-)Maßstäbe ergeben. Auch Kreß setzt eher einen statischen Willen des Menschen voraus. Ferner ist zu fragen, ob die geringe Verankerung und Verbreitung der Patientenverfügung im Alltag einen Hinweis beispielsweise auf ihren großen und womöglich überfordernden Anspruch gibt, selbst prospektiv Situationen der Krankheit und des Sterbens durchdenken zu sollen. Kreß sieht einen narrativen Ansatz in Form von exemplarischen Patientengeschichten für die Verfassung einer Verfügung als Möglichkeit zum Umgehen einiger Problematiken an. Ein tiefergehendes Hineinversetzen und -denken erscheint so gewährleistet.654 Ferner ergibt sich hauptsächlich die Motivation für die Abfassung einer Patientenverfügung aus einer zunehmenden Medikalisierung von Krankheit und dem Lebensende sowie einer apparativen Überfremdung des Sterbeprozesses.655 Vorrangig ist es also ein Schutz vor ungewollten Zuständen, die nach Kreß zur Abfassung einer Patientenverfügung führt, nicht jedoch der durchaus auch ernst zu nehmende Aspekt, Lebenswille oder etwa den Wunsch zur Weiterbehandlung auszudrücken. All diese Darstellungen lassen deutlich werden, dass Hartmut Kreß das neue Patientenverfügungsgesetz positiv als „Durchbruch“656 bewertet und in Konsistenz zu einem – durchaus reflektierungsbedürftigen – Selbstbestimmungsrecht sieht. Das Gesetz vom 18. Juni 2009 „hat sich über die Interventionen der Kirchen hinweggesetzt. Es orientiert sich stattdessen an der Patientenautonomie bzw. am Grundrecht von Patienten auf Freiheit und Selbstbestimmung. Aus heutiger Sicht ist festzuhalten, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung war.“657 653

Vgl. Jens, Menschenwürdig sterben, 199ff. Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 265. 655 Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 258. 656 Kreß, Patientenverfügungen, 20. 657 Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 1. 654

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Hiermit, so Kreß, wurde ein vorherrschender Pluralismus beachtet und Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt, nach persönlichen Wertvorstellungen zu entscheiden.658 Das Parlament hat „derjenigen unter den Gesetzesvorlagen zugestimmt, die dem Selbstbestimmungsrecht am weitestgehenden Rechnung trug. Diese Entscheidung deute ich als ein Symbol. Sie weckt die Erwartung, dass künftige Beschlüsse von der gleichen normativen Logik geprägt sein werden.“659

Seine beschriebene normative Logik bindet Kreß auch bei dieser Argumentation methodisch an den Rückgriff auf Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Für ihn gelten die Menschenwürde (Art. 1 GG), das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung in Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG und der Schutz des menschlichen Lebens (Art. 2 Abs. 2 GG) als verfassungsrechtliche und ethische Normen und daher als Grundlagen seiner Darlegungen.660 Argumentativ verwendet er dies, um den Autonomiegedanken weiter auszubilden. 3.2.2.2.3 Die Fürsorge als Einschränkung der Selbstbestimmung Ein kurzer Blick soll nun gezielt auf Kreß´ Verständnis der Fürsorge gerichtet werden, da besonders das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge für diese Arbeit von Interesse ist. Einige Hinweise wurden im Verlauf der Arbeit bereits aufgegriffen. Die Wahrnehmung lässt sich äußern, dass Kreß in seinen jüngeren Darstellungen vermehrt Fürsorge als Einschränkung der Selbstbestimmung wahrnimmt, was nun im Fokus der Erläuterungen stehen soll. Hartmut Kreß beschreibt bezüglich der Debatte um die Patientenverfügung: „Sie [die Debatte; d. Vf.] läuft darauf hinaus, dass ein Arzt die Lebensfunktionen eines Patienten sogar gegen den Willen aufrechterhält, den dieser in einer Patientenverfügung dokumentiert hat. Das Argument, das zur Begründung herangezogen wird, lautet ‚Fürsorge‘.“661

Vorausgesetzt wird hierbei, dass der prospektive Wille mit dem gegenwärtigen Willen identifiziert wird, was durchaus – wie bereits die Darlegung der Situationsanalyse in den Kapiteln III.3 bis III.5 zeigt – zum 658

Vgl. Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 1. Kreß, Patientenverfügungen, 21. 660 Vgl. Kreß, Patientenverfügungen, 21. 661 Kreß, Selbstbestimmung, 5. 659

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

kritischen Fragen berechtigt, gleichwohl aber die gegenwärtig, auch rechtlich legitimierte Situation widerspiegelt. Der Kern der Anfragen bezieht sich insbesondere darauf, ob ein im Voraus und im gesunden Zustand verfasster Wille tatsächlich eine unbekannte Krankheitssituation antizipieren und insofern in einer eingetretenen Krankheitssituation von einer Konsistenz des früheren Willens per se ausgegangen werden kann. Der Vorwurf wird formuliert, dass somit die Veränderbarkeit des Menschen, insbesondere seiner Ansichten, Einstellungen und Meinungen, im tatsächlichen Erleben von Situationen missachtet wird. In Anlehnung an Kreß´ kann gefragt werden, ob womöglich eine verkürzende Darstellung hervorgebracht wurde, indem er den Kern der Debatte um die Patientenverfügung darauf reduziert, Lebensfunktionen gegen den (tatsächlichen) Willen aufrechtzuerhalten. Kreß reflektiert nicht darüber, ob und auf welche Weise ein prospektiver Wille Bestand hat, welche Motive zu einer Fixierung des Willens führen (können) oder was der Grund dafür ist, dass nur wenige Menschen trotz hohen Bekanntheitsgrades, Zuspruch sowie rechtlicher Verankerung eine Patientenverfügung verfasst haben. Er reagiert mitunter auch nicht auf geäußerte Bedenken von medizinischer Seite, besonders in Bezug auf die Passgenauigkeit und damit auf die Anwendbarkeit einer Patientenverfügung für die tatsächliche Lebenssituation. Letztlich betreffen die Diskussionen in der Debatte grundlegende anthropologische Fragestellungen nach dem Sein des Menschen, mit denen sich Kreß zuweilen nicht auseinandersetzt. Tangiert sind etwa Fragen zur Erkenntnis des Menschen als solchem, beispielsweise in Verbindung mit der Frage nach seiner Freiheit und Verantwortung, folglich nach der Deutung von Sein und Handeln des Menschen, einer Explikation der Menschenwürde und der Interpretation des Lebens. Zu klären sind auch das Verständnis, der Stellenwert sowie die Grenzen von Leben und Tod oder gar die Frage nach dem (freien) Willen des Menschen. Die vielschichtige Fragestellung „Wer ist der Mensch?“ ist demnach grundlegend betroffen. Indem Hartmut Kreß diese Ebene wenig reflektiert und kein fundamentales anthropologisches Konzept implementiert, um daherkommend seine Perspektive auszuprägen, lässt er diesbezüglich das Potenzial der Theologie, die eine genuine Sicht auf das Sein des Menschen eintragen kann, ungenutzt. Rückblickend wurde bereits vermerkt, dass Kreß für seine Argumentation kein theologisches Konzept aufbaut, sondern sich eher auf ein Vorhandensein von Einzelbegriffen wie Menschenwürde oder Gottebenbildlichkeit stützt und diese theologisch motiviert. Dass die theologischen Argumente jedoch je für sich kritisch befragt werden können, wurde gezeigt. Diese beispielhaft angespro-

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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chenen Fragestellungen sowie die Genese der Debatte um die rechtliche Verankerung der Patientenverfügung, die in Kapitel III.3 Thema war, geben einen Hinweis auf die Komplexität der zu reflektierenden Fragestellungen. Da erscheint es recht knapp, eine ärztliche Missachtung des Willens des Patienten pauschal als Zentrum des Problems zu benennen, wie es Kreß oben tut. Des Weiteren sei es an dieser Stelle erlaubt, die Ausrichtung der Argumentationsweise Kreß´ kritisch zu beleuchten. Gemäß seinen Darstellungen scheint es, als sei der bereits lange fortdauernde Diskurs um die Patientenverfügung nahezu banal und die eigentlich vorherrschende Klarheit würde durch widerwillige Lebensverlängerung im Lichte der Fürsorge torpediert. Diese Darstellung – zugespitzt ausgedrückt –, als sei Zwangsbehandlung der Grund der Debatten, erscheint, wie obige Fragen verdeutlichen, zu kurz. Denn vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit ausführlich getätigten Hinführung zu den grundlegenden Diastasen sowie im Blick auf die dargestellten Unklarheiten der Patientenverfügung als solcher zeigt sich, dass ein derart knapper Nenner nicht ausreichend sein kann. Kreß scheint sich darauf zu beschränken, dass die Lösung der komplexen Debatte um die Patientenverfügung in einer absoluten Stärkung der persönlichen Autonomie zu finden ist. Gegensätzlich dazu kann insbesondere beim frühen Kreß selbst, aber auch innerhalb einiger Äußerungen beispielsweise zur Betonung der Palliativmedizin oder der Hospizbewegung, aufgefunden werden, dass innerhalb seiner reduzierten Wahrnehmung das Menschsein in seinen Facetten nicht aufzugehen scheint. Sodann zeigt sich die Notwendigkeit, die Frage nach Autonomie und Fürsorge, die das Individuum und das Gegenüber zu betreffen scheint, zu stellen. Auch das Verhältnis und die Gewichtung beider Aspekte ist dabei erläuterungsbedürftig. Kreß´ Verständnis der Fürsorge als Einschränkung der Selbstbestimmung zeigt sich in der weiteren Abfolge erneut: „Die Idee der Fürsorge läuft darauf hinaus, die Selbstbestimmung über den Verlauf einer Krankheit und des Sterbens, dem eine Patientenverfügung Ausdruck verleiht, zu relativieren und einzuschränken.“662 Ein inkludierendes Element oder eine relational-dialogische Verbindung beider Topoi scheint hier eher nicht vorzuliegen. Ferner zeichnet Kreß die Folge einer Vorrangstellung der Fürsorge: „Das Selbstbestimmungsrecht von Menschen wäre in hohem Maße außer Kraft gesetzt – zugunsten einer neuen Form von Heteronomie und eines staatlichen, medizinischen oder klinischen Paternalismus.“663 Deutlich wird, dass bereits 662 663

Kreß, Selbstbestimmung, 6. Kreß, Selbstbestimmung, 6f.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

zu Beginn der Darlegung des Fürsorge-Verständnisses eine negative Konnotation des Begriffs vorgenommen wird. Kreß erörtert sodann die Grundlage dieser negativen Wahrnehmung, die auf Vereinseitigung des Fürsorge-Begriffs beruht. „Er [der Begriff Fürsorge; d. Vf.] geht von einer Außenperspektive aus: Die Sorge Dritter ‚für‘ einen Betroffenen wird betont. Und er enthält eine hierarchische, antiliberale Komponente: Dritte – nämlich der Arzt, die Angehörigen oder der Betreuer – sollen ‚über‘ den Betroffenen oder sogar ‚anstelle‘ des Betroffenen entscheiden.“664

Insofern erscheint die Frage berechtigt: „Geraten Freiheit und Selbstbestimmung rechtspolitisch in eine Krise?“665 Denn Kreß konstatiert infolgedessen: „Nicht der Gebrauch der Freiheit, sondern die Einschränkung der Freiheit ist begründungsbedürftig. Kulturgeschichtlich und ethisch wäre es ein Rückschritt, wenn sich die Tendenz verfestigen sollte, das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung einzuengen.“666

Betont werden soll nun, dass Kreß in dieser Darlegung auf einen tatsächlichen Missstand im Verständnis der Fürsorge, nämlich als reine Betonung des Für, hinweist. Diese Diskussion ist im Kapitel IV.2 zu Ulrich Eibach verstärkt aufgegriffen worden. Dennoch sollte relativierend eingewendet werden, dass es bereits bei Vertretern dieses Konzepts, und so auch bei Eibach, Wahrnehmungen einer Gefahr der Vereinseitigung gibt. Zu klären ist – und das wird eine Herausforderung dieser Arbeit sein –, wie Fürsorge und (relationale) Autonomie in einem je ausgewogenen Verhältnis miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Die Lösung nach Hartmut Kreß liegt in einer Stärkung der Selbstbestimmung sowie darin, „dem Recht auf freie, eigenverantwortliche Entscheidung der Patienten auch in Deutschland wieder größeres Gewicht zuzuerkennen.“667 An etlichen Stellen wurde bereits auf den vereinseitigenden Charakter einer isolierten Stärkung der Selbstbestimmung als solipsistische Autonomie ebenso wie einer isolierten Stärkung der Fürsorge hingewiesen. In beiden Fällen lässt sich eine Restriktion 664

Kreß, Selbstbestimmung, 7. Kreß, Selbstbestimmung, 7 (Fettdruck im Original). 666 Kreß, Selbstbestimmung, 7. 667 Kreß, Selbstbestimmung, 8. 665

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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wichtiger Dimensionen des Seins des Menschen aufzeigen – in erstgenanntem Falle die Dimension der Sozialität des Menschen, in zweitgenanntem die seiner Individualität. Zudem kann unterstrichen werden, dass auch ein Blick in die Praxis zum Umgang mit der Patientenverfügung offenlegt, dass an ihre Wirksamkeit und Validität reale Anfragen gestellt werden,668 die Kreß unterdessen unkommentiert lässt.669 Im Verlaufe dieser Kapitel, die Kreß´ Verbindung von Menschenwürde mit der Patientenverfügung zum Thema haben, wird ersichtlich, dass sich Kreß auf ein allgemeingültiges, normativ vorhandenes und rechtlich zugesichertes Verständnis der Würde des Menschen stützt, das Ausgangspunkt seiner Argumentation für eine uneingeschränkte Stärkung von Selbstbestimmung und persönlicher Freiheit als isolierte Autonomie ist. Auf diese Wahrnehmung reagiert die Patientenverfügung in besonderem Maße und erfährt folglich eine Hochschätzung durch Kreß. Mit den sich besonders im Umgang mit der Verfügung stellenden realen Fragen setzt Kreß sich wenig kritisch-reflektierend auseinander. Vielmehr erfährt sein Bestreben, eine Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung zu verkörpern, durch die dargestellte Argumentationsweise einen weiteren Fortgang. Problematisch erscheinen dabei Vereinseitigungen, die unterschiedliche Facetten des Seins des Menschen, besonders seine Relationalität, vernachlässigen. Wie Kreß nun Menschenwürde im Hinblick auf Sterben und Sterbehilfe argumentativ verwendet, wird Thema des nächsten Kapitels sein. 3.2.2.3 Menschenwürde im Hinblick auf Sterbehilfe und das Sterben „Den normativen Ausgangspunkt für die Reflexion von Problemen der Sterbehilfe bildet die Menschenwürde.“670 So beschreibt Hartmut Kreß die Verbindung von Menschenwürde und Sterbehilfe. Zugrunde liegen dieser Reflexion insofern die bereits getätigten Aussagen zum Verständnis der Menschenwürde. Zum Thema Sterbehilfe steht das der Patientenverfügung in besonderer Korrelation, wodurch sich an dieser Stelle Wiederholungen und Bezüge zum vorausgehenden Abschnitt teils nicht vermeiden lassen – auch mit dem Ziel, auf Zusammenhänge hinzudeuten. 668

Vgl. hierzu etwa die Erkenntnisse der Praxisstudien, die in Kapitel III.4 angeführt werden sowie die Kritiken an die Patientenverfügung, die bereits während der gesamten Debatte um ihre rechtliche Verankerung diskutiert wurden und auch heute noch Relevanz zeigen. Siehe dazu Kapitel III.5. 669 Vgl. die Darlegungen in Kapitel IV.3.2.2.2.2. 670 Kreß, Sterbehilfe, 2.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Rekurs erfolgt bei Kreß nun auf die auch oben schon erwähnten Sinngehalte des Begriffs Menschenwürde – hier allerdings ohne eine theologische Verortung. Zum einen wird der inhärierende Schutzaspekt des Menschenwürde-Begriffs herausgestellt, zum anderen der Selbstbestimmungs- und Freiheitsgedanke, auf den die Menschenwürde hinausläuft. Ferner werden als weitere Gesichtspunkte „der Gleichheitsgedanke, das Postulat der Nichtdiskriminierung oder das Verbot der Instrumentalisierung von Menschen“671 genannt. In Anlehnung an Kant, der die menschliche Fähigkeit zur Freiheit, Sittlichkeit und zum Vernunftgebrauch unterstreicht oder an Thomas von Aquin, der Vernunft und Entscheidungsfreiheit des Menschen als Teilhabe an Gottes Vernunft durch die Gottebenbildlichkeit verortet, wird der Selbstbestimmungsgedanke inhaltlich gefüllt.672 „Jeder Einzelne, der hierzu befähigt ist und dies wünscht, soll frei über sich selbst bestimmen dürfen.“673 Ferner fasst Kreß im Blick auf Thomas zusammen: „Pointierter als mit diesem Gedankengang Thomas´ lässt sich die anthropologisch-ethische Grundlagenüberzeugung schwerlich zur Geltung bringen, dass menschliche Würde darin ihren Niederschlag findet, dass der Einzelne von seiner praktischen Vernunft Gebrauch machen und seine Freiheitsrechte (Wahlfreiheit) ausüben darf.“674

An dieser Stelle soll nur knapp ein Verweis auf sich stellende Fragen gegeben werden. Einerseits ist die Rückfrage hervorzubringen, welche Konsequenz sich wohl ergibt, sofern ein Mensch das Selbstbestimmungsrecht nicht ausführen kann oder will. Andererseits erscheint es der Reflexion würdig, ob die gezogene Schlussfolgerung aus Kant und Thomas womöglich einen Aspekt vernachlässigt. Immerhin orientiert sich Kant beispielsweise an einer allgemeingültigen Maxime des Sittengesetzes, setzt eine Relativierung der Erkenntnisfähigkeit im Sinne einer rein subjektiven Erkenntnis voraus und hat stets das Gegenüber durch seinen kategorischen Imperativ im Blick.675 Und Thomas von Aquin geht von einem auf Gnade angewiesenen freien Willen aus.676 Insofern sei hier vermerkt, ob die Konsequenz, jeder solle und könne frei über sich selbst verfügen, eine Verkürzung Kants und Thomas´ 671

Kreß, Sterbehilfe, 3. Vgl. Kreß, Sterbehilfe, 3. 673 Kreß, Sterbehilfe, 3. 674 Kreß, Sterbehilfe, 3. 675 Vgl. Dazu rückblickend Kapitel IV.3.1.1.2 sowie Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Kant, Kritik der praktischen Vernunft. 676 Vgl. Pesch, Art. Thomas von Aquino, 445. 672

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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darstellt. Zudem führen die Argumente Thomas´ zu einer naturrechtsethischen Argumentation, die Naturrecht als Grundlegung normativer Ethik hervorbringt,677 bei Kreß aber als solche fernerhin unreflektiert bleibt. Im Gegenteil – sie wird hier explizit als weitere Bestärkung des Rechtes auf Selbstbestimmung aufgezeigt, da die leibliche Existenz des Menschen im Sinne der Naturrechtslehre den Hinweis darauf gibt.678 Die Darstellung zeigt nachdrücklich, dass der Aspekt der Selbstbestimmung wieder starke Betonung findet. Da nun Selbstbestimmung als (zentraler) Sinngehalt für Menschenwürde gilt, kann nahezu von einer Gleichsetzung der Würde mit Selbstbestimmung gesprochen werden.679 Dieser gezielte Fokus wird später eingehender entfaltet. Zunächst kann ein weiterer Punkt hervorgehoben werden: Die Gleichsetzung von Würde und Selbstbestimmung ist bei Kreß letztlich eine naturrechtliche Bestimmung. Dies zeigt sich besonders im Rückblick auf seine Bestimmung der Menschenwürde680 , wie sie in den vorausgegangenen Kapiteln als vorhandene Norm dargelegt wurde. Die Würde kann als naturrechtliche Auszeichnung und Bestimmung des Menschen verstanden werden und impliziert so geradezu die Selbstbestimmung des Menschen. Als gewisse Inkonsistenz in der Argumentation Kreß´ kann folglich wahrgenommen werden, dass er sich einerseits von klassisch naturrechtlicher Argumentation abgrenzt, indem er die katholische (und damit naturrechtliche) Haltung kritisiert, andererseits aber selbst eine solche führt bzw. die Vorteile der Einträge in ein neuzeitliches Naturrechtsverständnis, was er im „Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung aufgrund der Menschenwürde“681 gewährleistet sieht, schätzt. Die Frage liegt auf der Hand, ob Kreß Naturrecht generell als eine unzureichende Argumentationsbasis wahrnimmt, dennoch sich auf sie bezieht und seine Darlegung folglich selbst infrage setzt. Zu prüfen wäre demnach, welches Argumentationsfundament und welche -strategie eine Konsistenz herstellen könnte. Wie bereits an einigen Stellen ausgeführt, scheint insbesondere in einer christologischen Herangehensweise ein großer Nutzen zu liegen. Aufgabe der Arbeit wird es weiter sein, diese Wahrnehmung zu explizieren. Hartmut Kreß verweist demnach auf eine geistesgeschichtliche Verbindung evangelischer Theologie mit Naturrechtsdenken, die beispielsweise bereits bei Luthers Zwei-Reiche-Lehre gezogen wurde, aber auch 677

Vgl. Kluxen, Art. Naturrecht, 684f. Vgl. Kreß, Sterbehilfe, 4. 679 Vgl. Kreß, Sterbehilfe, 2f. 680 Vgl. beispielsweise Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 100. 681 Kreß, Freiheit und Selbstbestimmung (Fettdruck im Original). 678

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

in der neuzeitlichen Ethik Beeinflussung findet. Zugleich grenzt sich dies von „Fehlformen“682 des Naturrechts ab, wie etwa Essentialismus, Normativismus oder Naturalismus. Kreß sieht eine Stärke im (neuzeitlichen) Naturrechtsdenken, da es bei der Entfaltung von ethischen „Grundwerten, Menschenrechten u[nd; d. Vf.] Freiheitsrechten Entscheidendes beigetragen hat. Die N[aturrechts; d. Vf.]-Tradition unterstreicht den rationalen Gehalt der Ethik.“683 Kreß deutet das Naturrecht, besonders mit Blick auf Thomas von Aquin, derart, dass „Gott selbst dem Menschen die gleichsam ‚natürliche‘ Gabe verliehen [hat; d. Vf.], aus freier Wahl und Verantwortung heraus auch über sich selbst entscheiden zu können.“684 Das Naturrecht wird somit dafür eingesetzt, eine autonome Entscheidungsfreiheit über sich selbst (und sein eigenes Leben) begründen zu können. Kreß gebraucht folglich seine Interpretation des Naturrechts wiederum dafür, seine Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung weiter zu untermauern. Demnach kann Kreß das – ursprünglich im mittelalterlichen Denkhorizont verortete und auch noch heute im Katholizismus beheimatete – Naturrechtsdenken sogleich bezüglich Fragen des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende als kritische Rückfrage gegen die katholische Auffassung selbst einsetzen und ihre ablehnende Haltung zu lebensverkürzenden Maßnahmen infrage stellen.685 Eine Kompatibilität mit dem klassischen Naturrecht ist bei Kreß somit nicht gegeben, da das katholische Naturrecht eine Güterabwägung a priori negiert. Kreß hingegen sieht insbesondere im Kontext bioethischer Debatten und Güterabwägungen eine argumentativ hilfreiche Analogie im Naturrecht. „Die Voraussetzung für Abwägungen in der Bioethik bietet die Idee der Menschenwürde, die im neuzeitlichen profanen Naturrecht des 17./18. Jahrhunderts entfaltet wurde und sich zugleich im Horizont des christlichen Naturrechts auslegen lässt.“686

Dass auch in protestantischer Tradition eine gewisse Affinität zum Naturrecht aufzuzeigen ist, zugleich eine kritische Haltung vorherrscht, lässt sich etwa mit Klaus Tanner zeigen.687 Zurückkommend auf die Bewertung der Diskurse um Sterbehilfe: Hartmut Kreß gelangt zu der Einschätzung, dieser Debatte offen zu begegnen, besonderen Wert auf das Selbstbestimmungsrecht zu legen sowie 682

Kreß, Art. Naturrecht, 691. Vgl. Kreß, Ethischer Immobilismus, 114ff. Kreß, Art. Naturrecht, 691. 684 Kreß, Freiheit und Selbstbestimmung. 685 Vgl. Kreß, Freiheit und Selbstbestimmung. 686 Kreß, Ethischer Immobilismus, 128. 687 Vgl. Tanner, Der lange Schatten, 13–16. 683

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Ausnahmeregelungen zu berücksichtigen.688 Und in Bezug zur Patientenverfügung verweist er erneut auf das Selbstbestimmungsrecht: „Weil das Freiheits- und Selbstbestimmungsrecht normativ so grundlegend ist, [. . . ] liegt die Schlussfolgerung nahe: Patientenverfügungen, die die passive Sterbehilfe, das Sterbenlassen betreffen, sollen dann, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, rechtswirksam sein, so dass Dritte, vor allem Ärzte oder Angehörige sowie ggf. Betreuer oder Richter, tatsächlich an sie gebunden sind.“689

Kreß beruft sich ferner auf die zugrunde liegende Dimension bei Sterbehilfe und Sterbebegleitung: „Grundsätzlich besteht das Motiv der Sterbebegleitung und Sterbehilfe darin, Patienten ein Sterben in Würde zu ermöglichen.“690 Überträgt man diese Bestimmung nun auf seine Argumentation, dass es gerade vorrangig die Selbstbestimmung ist, in der die Würde aufgeht, so ergibt sich daraus, dass dem Motiv der Sterbebegleitung und Sterbehilfe förmlich inhäriert, ein Sterben in Selbstbestimmung zu ermöglichen. Was aber bedeutet dies genau, welche Konsequenzen ergeben sich und wo liegen mögliche Grenzen? Wird diese Argumentation so durchgesetzt, ließe sich doch fragen, warum eigentlich die Selbstbestimmung zur aktiven Sterbehilfe nicht realisiert werden sollte. Unmittelbar tritt erneut die Frage nach Wertmaßstäben des Lebens in den Blick, da die Betonung jener Selbstbestimmung dazu neigen könnte, Situationen oder Lebenszustände, die nicht von Selbstbestimmung geprägt sind, abzuwerten. Dies träfe insbesondere Demenzkranke oder Komapatienten, aber in gleichem Maße auch körperlich eingeschränkte Menschen. Sie verfügen, exemplarisch gesprochen, über nur bedingte Möglichkeiten zur Selbstbestimmung, wie sie von Kreß her zu verstehen ist. Problematisch erscheint somit die Klassifizierung von scheinbar lebenswerten und -unwerten Lebenszuständen, da sie von vom Menschen wahrnehmbaren empirischen Eigenschaften zur Bestimmung des Lebenswertes einer Person ausgehen und insofern spezifische Zustände oder die Lebenswirklichkeit ganzer Personengruppen als unwertes Leben einstufen können. Hierin offenbart sich eine merkliche Verbindung zu eugenischen Tendenzen. Ebenso ist zu fragen, in welchem Verhältnis die persönliche Selbstbestimmung zu der Selbstbestimmung der Mitmenschen steht. Gerade wenn es um Zustände der Sterbehilfe geht, sind eo ipso weitere Personen beteiligt bzw. ein so688

Vgl. Kreß, Sterbehilfe, 8–17. Kreß, Sterbehilfe, 26. 690 Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960. 689

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

ziales Umfeld direkt betroffen. Es erscheint egozentriert, den Tod eines Menschen ohne seine Wirkung auf das Umfeld zu betrachten und eine Rechtfertigung dafür in der Selbstbestimmung zu finden. Zudem gibt es keinen Hinweis darauf, vor welchen Aufgaben beispielsweise die Medizin steht. Nicht im Fokus ist etwa, inwiefern die Medizin auf das gesellschaftlich verfestigte Schreckensbild der Apparatemedizin reagieren und für ihre Verantwortung auf Grundlage ihres Fachwissens einstehen kann. Fraglich ist also, ob es ausreichend erscheint, vorrangig das Selbstbestimmungsrecht zu stärken, um sich beispielsweise vor Zuständen der Übertherapie zu schützen. Dies läge doch womöglich eher im Zuständigkeitsbereich einer fachkundigen Medizin, die sich ebenso auf ihre Grenzen berufen sollte. Eine Reflexion des Todes im Kontext der gesteigerten medizinisch-technischen Fortschritte ist eine Herausforderung, die alle Beteiligten betrifft. Nach Kreß allerdings ist die Stärkung der Patientenverfügung voranzutreiben, da sie als Instrument eingesetzt wird, mit dem ein natürlicher Sterbeprozess heute wieder möglich wird. Die Funktion der Verfügung beschreibt er daraufhin beispielsweise wie folgt: „Das Schicksal bzw. der ‚natürliche‘, schicksalhaft vorgegebene Sterbeprozess soll seinen Lauf nehmen (passive Sterbehilfe).“691 Somit scheint gerade die Patientenverfügung den natürlichen Sterbeprozess zu ermöglichen, also das, was im Gebrauch der eigenen Selbstbestimmung prospektiv festgelegt wurde. Gewissermaßen erfolgt eine Identifizierung von Selbstbestimmung und Natürlichkeit. Im Kontext dieser Arbeit gibt dies erneut einen Hinweis auf die Vereinseitigung des Menschseins auf den Aspekt der Selbstbestimmung im Sinne einer isolierten Autonomie. Dass so keineswegs der Diversität eines Menschenlebens entsprochen wird, liegt bereits unter Betrachtung der verschiedenen Lebensphasen nahe, in denen mal weniger, mal mehr selbstbestimmt gelebt wird, der Mensch aber keineswegs nur für sich im Sinne des Solipsismus existieren kann. Zugleich wird in dieser dargestellten Begründung Kreß´ ein Zirkelschluss in seiner Argumentation ersichtlich. Letztlich setzt er bereits die Selbstbestimmung als Voraussetzung dafür ein, Selbstbestimmung zu begründen. Kenntlich wird dieser circulus etwa daran, dass Kreß oben die Plausibilität der Selbstbestimmung damit beschreibt, dass die Selbstbestimmung dem Menschen entspricht, folglich ihre Begründung mit sich selbst belegt. In gleicher Weise geht Kreß vor, wenn er die Entwicklung der Betonung der Selbstbestimmung mit ihrer (heutigen) Stärkung identifiziert. Ein übergreifendes Argument, welches die Selbstbestimmung des Menschen zuerst hervorbringt, wird 691

Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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nicht eingesetzt. Ausschließlich wird ihre Stärkung mit ihrer geschichtlich gewachsenen Wichtigkeit begründet. Nicht vernachlässigt werden sollte in der Analyse zu Hartmut Kreß sein Bezug auf das Hirntodkriterium, welches er als plausibel wertet. Grundlage dessen ist erneut eine historische Begründung, da die Grundidee des Hirntodkriteriums dem abendländischen Menschenbild durch den Fokus auf die geistige Existenz entspricht. Die Gültigkeit des Hirntodkriteriums wird gleichwohl, so Kreß, damit unterstrichen, dass Bewusstsein, Empfinden oder im Speziellen Schmerzempfinden dann erloschen sind. Mit der Akzeptanz des Hirntodkriteriums wird demzufolge der Menschenwürde und dem Lebensschutz Genüge getan.692 Zu dieser Äußerung ist notwendigerweise einerseits kritisch anzuzweifeln, ob die Gesamtheit der menschlichen Existenz bereits durch eine Fokussierung auf das Kognitiv-Geistige ausreichend beschrieben ist. Andererseits kann, um den Rahmen an dieser Stelle nicht zu sprengen, abermals nur auf die kritische Diskussion um das Thema Hirntod verwiesen werden, in der Kritiker begründete Zweifel hervorbringen, ob ein hirntoter Mensch tatsächlich als tot bezeichnet werden kann.693 Ferner ist unter Betrachtung des Aspektes der Menschenwürde vorgreifend zu fragen, ob sie nicht gerade das Sein als Ganzes betrifft – und damit nicht begrenzt ist auf die Geistigkeit des Menschen. Kreß selbst fragt an, ob heute – beispielsweise aufgrund der medizinisch-technischen Fortschritte – ein Sterben in Würde noch möglich scheint. „Die Konsequenz sollte eine Steigerung persönlicher ethischer Vorsorge-Verantwortung sein [. . . ]. Hierzu eröffnen inzwischen Patientenverfügungen die Chance.“694 Sogleich wird die Verbindung zur Vorausverfügung offengelegt, die Kreß als Realisierung der „Präventivoder Präventionsverantwortung“695 benennt. Da nun die Patientenver692

Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 227; Kreß, Transplantationsmedizin, 4. 693 Vgl. Maio, Mittelpunkt Mensch, 281–289; Rosenau, Die Hirntod-Debatte, 337– 345; Quante, Hirntod, 243–262. Vgl. weiter beispielsweise die Diskussionen im Deutschen Ethikrat, die besonders durch hirntod-kritische Beiträge des US-amerikanischen Neurologen Alan Shewmon vom Medical Center der University of California in Los Angeles angeregt wurden. Siehe dazu etwa die Pressemitteilung des Deutschen Ethikrats 02/2012 vom 22.03.2012 (abzurufen unter http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/pm-02-2012-hirntod.pdf, Stand: 20.05.2014) sowie ein entsprechender Beitrag dazu im Ärzteblatt (abzurufen unter http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/49598/Deutscher-Ethikrat-Diskussionueber-den-Hirntod, Stand: 20.05.2014). 694 Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 253. 695 Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 253.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

fügung ethisch wie rechtlich „auf dem Grundrecht jedes Einzelnen auf Freiheit und Selbstbestimmung“696 beruht, sorgt sie also für ein menschenwürdiges und menschengemäßes Sterben und kann als eigene Absicherung eingestuft werden.697 Zugleich tritt die bereits diskutierte unmittelbare Verbindung von Freiheit und Selbstbestimmung mit Menschenwürde erneut in den Blick. 3.2.2.3.1 Einschub: Das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Sterben Hartmut Kreß kommt in seinen Abhandlungen auf die Begrifflichkeiten Gesundheit und Krankheit sowie Sterben zu sprechen. Diese sollen in einem kurzen Einschub mit ihren Anwendungsgebieten nochmals separat betrachtet werden, da die Begriffe als solche sowie ihr Gebrauch für die gesamte Arbeit von Bedeutung sind. Hartmut Kreß definiert: „Gesundheit ist die Bedingung dafür, dass der einzelne Mensch persönliche Wertvorstellungen verwirklichen, Lebensziele erreichen und zugunsten anderer tätig werden kann.“698 Folglich beschreibt er Gesundheit als ein fundamentales Gut, welches zu den „Bedingungen gelingender menschlicher Existenz“699 zu zählen ist. Ferner beschreibt Kreß die Interpretationsoffenheit der Begrifflichkeiten Gesundheit und Krankheit sowie ihre Abhängigkeit von kulturellen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Hintergründen.700 Im Verantwortungsbereich der Medizin liegt sodann, ihren Fortschritt in möglichst hohem Maße den Menschen zugutekommen zu lassen, wobei stets die Selbstbestimmungsrechte geschützt und unterstützt werden sollen.701 Ob wohl ein zu knappes Verständnis von Gesundheit zugrunde liegt und eine große Verbindung zwischen Gesundheit und gelingendem Leben gesehen wird, kann hier kritisch reflektiert werden. Was ist also die Konsequenz davon, wenn die Bedingung für gelingendes Leben, nämlich die Gesundheit, eingeschränkt ist? Folgt hieraus, dass sich keine Möglichkeiten zur gelingenden Existenz bieten? Sodann ließe sich tatsächlich nach einem Wert eines solchen Lebens fragen. Unreflektiert bleibt außerdem, ob eine eindeutige und enge Definition von Ge696

Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 253. Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 253f. 698 Kreß, Gesundheitsschutz, 810. 699 Kreß, Gesundheitsschutz, 810. 700 Vgl. Kreß, Gesundheitsschutz, 810f. 701 Vgl. Kreß, Gesundheitsschutz, 811. 697

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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sundheit überhaupt der realistischen Bandbreite von Gesundheits- und Krankheitszuständen gerecht wird. Wird Kreß´ Argumentation betrachtet, so fällt auf, dass auch zum Thema Gesundheit und Krankheit auf eine rechtsethische Argumentationsgrundlage zurückgegriffen wird. Als Anhaltspunkt fungiert abermals das nach Kreß im Grundgesetz mit hohem Rang belegte Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung, welches er im Kontext gesundheitsbezogener Themen mit nochmaliger Höherwertigkeit auszeichnet. Infolge der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung zum hohen Stellenwert von Gesundheit – welche zwar nicht explizit im Grundgesetz Erwähnung findet – ergibt sich, so Kreß, für den Staat eine strukturelle Schutzpflicht der Gesundheit.702 Die benannte Aufwertung des Gutes Gesundheit in der Moderne ist ihm gemäß in der Säkularisierung begründet, wodurch zuweilen irdisches Leben und Wohl eine Wertsteigerung erfährt sowie Jenseitsvorstellungen verblassen. Ferner sind Gesundheit und Krankheit zum Gegenstand methodischer Forschung geworden, welche wiederum dazu beiträgt Interventionsmöglichkeiten, Reichweite und Eingriffstiefe der modernen Medizin immens zu steigern.703 Dies deutet auf eine Veränderung der Begriffsverständnisse hin: „[G]egenwärtig wird der kurative von einem prädikativen und futurischen Krankheitsbegriff überlagert. Dies stellt für das Verständnis von Krankheit und Gesundheit geradezu einen Paradigmenwechsel dar.“704 Denn im Blick stehen nicht nur reale Krankheitszustände, die einem kurativen Ziel unterliegen, sondern beispielsweise infolge der Gendiagnostik bereits Krankheitsdispositionen, die (möglicherweise) futurisch zum Tragen kommen können. Ferner ist nach Kreß eine Angst vor medizinischer Macht wahrnehmbar, die den Menschen überfordert.705 Folglich ist eine gesteigerte Wertigkeit von Gesundheit zu vernehmen, sodass „Gesundheit ein transzendentales oder fundamentales Gut“706 darstellt. Kreß fasst seine Gedanken zusammen: „Das Maß an Gesundheit, das der einzelne Mensch erreichen kann, bildet für ihn individuell die Voraussetzung dafür, Werte oder Ziele verwirklichen und gemeinschaftsbezogen handeln zu können. Gesundheit ist ein individuelles oder privates Gut mit elementarer Bedeutung für die Einzelperson. Sekundär ist Gesundheit dann auch ein öffentliches und soziales Gut; denn 702

Vgl. Kreß, Gesundheit und Krankheit, 1. Vgl. Kreß, Gesundheit und Krankheit, 1ff. 704 Kreß, Gesundheit und Krankheit, 4. 705 Vgl. Kreß, Gesundheit und Krankheit, 3f. 706 Kreß, Gesundheit und Krankheit, 4. 703

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

die Gesundheit der Bevölkerung bietet eine wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche Wohlfahrt und für die kulturelle oder wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Gemeinwesens.“707

Fraglich bleibt an dieser Bestimmung die unmittelbare Verbindung zur gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit. Diese Implikation überträgt unmittelbar auf die Menschen, die über keine Gesundheit verfügen, eine Verantwortlichkeit für die demnach eingeschränkte Leistungsfähigkeit oder Wohlfahrt der Gesellschaft. Das Gemeinwohl würde doch gestärkt, sofern Krankheit möglichst verhindert wird. Es zeigt sich also eine Nähe zur Identifikation von Krankheitszuständen und unwertem oder unwürdigem Leben sowie eine gewisse Nähe zur Eugenik. Fraglich ist zugleich, ob es nicht eine Verantwortung der Gesellschaft darstellt, auch ihre schwächsten Glieder zu integrieren und wiederum daran zu wachsen. Kreß zeichnet eine Schlussfolgerung, die eine gesteigerte öffentliche Gesundheitsverantwortung fordert: „Wenn Gesundheit ein so gewichtiges individuelles sowie öffentliches Gut bildet, dann ist es geboten, die Verantwortung für sie zu steigern“708 . Gegen eine gesteigerte Gesundheitsverantwortung ist im Grundsatz wenig einzuwenden. Die Frage ist eher, ob eine isolierte Stärkung der Gesundheit einer heterogenen Gesellschaft gerecht wird und ob nicht gar eine kritische Reflexion über den wahrnehmbaren Paradigmenwechsel des Gesundheitsbegriffs anzustreben ist, zumal Kreß´ Fazit Selbstbestimmung und Gesundheitsschutz als Leitbilder definiert.709 „Einschlägig ist das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Gesundheit und Krankheit betreffen den Kernbereich der menschlichen Selbstdeutung und Lebensführung. Daher gilt für gesundheitsbezogene Fragen das Selbstbestimmungsrecht.“710

Zugleich sieht Kreß neben Rechten ebenso Pflichten gegeben, sich auch „gesundheitsgerecht zu verhalten, um freiwillige Präventionsangebote in Anspruch zu nehmen, die das Gesundheitswesen vorhält“711 , wobei der Staat Menschen zum eigenverantwortlichen Umgang mit Gesundheit befähigen soll.712 Ferner vertritt Kreß die Ansicht, dass das Grundrecht auf Gesundheitsschutz im Grundgesetz Ergänzung finden sollte. 707

Kreß, Gesundheit und Krankheit, 4. Kreß, Gesundheit und Krankheit, 4. 709 Vgl. Kreß, Gesundheit und Krankheit, 10. 710 Kreß, Gesundheit und Krankheit, 10. 711 Kreß, Gesundheit und Krankheit, 10. 712 Vgl. Kreß, Gesundheit und Krankheit, 9. 708

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

375

„Der Sache nach ist es an der Zeit, dies durch eine Verfassungsergänzung zu korrigieren. Denn für heutige Güterabwägungen und im heutigen Bewusstseinshorizont kommt der ‚Gesundheit‘ als Schutzgut sowie der gesundheitlichen Versorgung als Schutzzweck, auf den Staat und Gesellschaft verpflichtet sind, ein noch höherer Stellenwert zu als in der Vergangenheit.“713

Hier bleibt die Frage, wie ein Recht auf Gesundheitsschutz einzufordern wäre und welche Konsequenzen sich weitergedacht ergäben. Nur in aller Kürze wird ferner Kreß´ Verständnis des Sterbens gebündelt. Grundlage ist hierbei, dass der medizinisch-technische Fortschritt – neben seinen positiven Seiten – mitverantwortlich ist für eine Überfremdung des Sterbens, wodurch nun vermehrt eine Würde des Sterbens als „integraler Bestandteil der Menschenwürde“714 in den Betrachtungshorizont rücken muss.715 Die Intensivmedizin „ermöglicht es und verleitet u.U. dazu, das Leben von Menschen zu verlängern, obgleich sie der Natur oder dem Schicksal gemäß eigentlich sterben würden. Aus Sicht der Betroffenen und in ihrem wohlverstandenen Interesse besitzt eine solche Verlängerung des Lebens human keinen Sinn mehr.“716

Anzufragen ist, wo und wie Kreß hier natur- oder schicksalsgemäße Grenzen zu Behandlungsmöglichkeiten setzt. Eine solch recht pauschale Beschreibung ist schwerlich in die Realität zu transferieren. Es würde ja beispielsweise bereits eine Verlängerung über das natur- oder schicksalsgemäße Sterben darstellen, sobald Antibiotika bei Entzündungserkrankungen oder blutverdünnende Mittel bei koronarer Herzkrankheit gegeben werden. Das Sterben würde – ohne Therapie – aller Wahrscheinlichkeit nach früher eintreten, als es durch die Intervention, die nicht selten gute Genesungschancen oder Prognosen aufweist, der Fall ist. Fraglich ist, ob Betroffene diese Lebensverlängerung über derartige naturgemäße Grenzen hinaus tatsächlich generell als human sinnentleert empfinden, wie Kreß es recht undifferenziert beschreibt. Letztlich versieht er hier eine Grundlage der Medizin, nämlich durch ihre Interventionen das Leben zu verlängern, in toto mit einem Fragezeichen. Insofern ist seine Darstellung womöglich etwas pauschal beschrieben. 713

Kreß, Gesundheit und Krankheit, 11. Kreß, Menschenwürde und das Grundrecht auf Selbstbestimmung, 2. 715 Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 127; Kreß, Menschenwürde und das Grundrecht auf Selbstbestimmung, 2. 716 Kreß, Menschenwürde und das Grundrecht auf Selbstbestimmung, 2. 714

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Seine Wahrnehmung könnte vielleicht eher auf eine Verantwortung aufseiten der Medizin, aber auch aufseiten aller Beteiligter bezogen werden, die Begrenztheit eines Lebens zu akzeptieren und Sterbende angemessen zu begleiten. Des Weiteren bindet Kreß die Beschreibung jener Übertherapie an eine empfundene Sinnentleerung des menschlichen Lebens, ohne diese allerdings genauer zu beschreiben. Hier eine Pauschalisierung zugrunde zu legen, erscheint schwierig, da Wünsche Schwerstkranker und Sterbender sehr individuell geprägt sind. Kreß hingegen setzt implizit den Wunsch nach Minimaltherapie am Lebensende einheitlich voraus. Ob dies generalisierbar ist, wirkt fraglich. Wie in den vorausgehenden Kapiteln immer wieder gezeigt wurde, kann Kreß die Patientenverfügung als Instrument dafür einsetzen, die persönlichen Werte und Wünsche das Sterben betreffend über den Zeitpunkt der Äußerungsunfähigkeit hinweg zu verdeutlichen und so das individuelle, selbstbestimmte Sterben zu ermöglichen sowie Lebensbegrenzungen frühzeitig festzulegen. Abschließend sowie die bisherigen Aussagen bündelnd soll nochmals knapp betrachtet werden, welche Verbindung von Menschenwürde und Sterben Kreß hier sieht und wie er sie konstruiert. Die auf das deutsche Grundgesetz aufbauende Idee der Menschenwürde beschreibt Kreß wie folgt: „Jeder einzelne Mensch ist in seiner Persönlichkeit und in seiner leiblich-geistigen Ganzheit zu achten und zu schützen. Jede und jeder Einzelne besitzt einen eigenen Wert und ist Selbstzweck. Daher darf niemand zum bloßen Objekt des Zugriffs Dritter herabgewürdigt werden.“717

Der individuelle Wert eines Menschen auf dieser Basis beschreibt somit den Schutz vor Verobjektivierung durch Dritte, wobei Kreß ferner die Idee der Menschenwürde als Entwicklung der Aufklärung und besonders von Kant her wertet. Hier liegt die Betonung der Selbstbestimmung vor.718 Seit etwa den 60er Jahren nimmt Kreß einen weiteren integralen Bestandteil der Menschenwürde wahr: Infolge der intensivmedizinischen Fortschritte steht nun auch die Würde des Sterbens mit im Fokus. Kreß wertet es als Kehrseite der Intensivmedizin, „wenn sie das Leben Schwerstkranker und Sterbender rein quantitativ verlängert, obgleich dies menschlich sinnentleert ist.“719 Demgemäß führt diese Problema717

Kreß, Patientenverfügungen, 22. Vgl. Kreß, Patientenverfügungen, 22. 719 Kreß, Patientenverfügungen, 23. 718

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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tik dazu, dass die Würde des Sterbens ein Teilaspekt der Menschenwürde geworden ist.720 Da nun Kreß im Grundsatz die Würde als Selbstbestimmung versteht,721 kann hier bereits analog geschlossen werden, dass auch die Würde des Sterbens von der Selbstbestimmung her gezeichnet wird. „Das Sterben sollte sich der Menschenwürde gemäß ereignen können. Bezogen auf das Ende des Lebens ist die Menschenwürde daher 1. zu einem Schutzrecht geworden, das den Sterbenden zugute zu kommen hat, sowie 2. zur Schutzpflicht: Ärzte und andere Beteiligte sind aufgefordert, ihr Handeln an der Würde der Sterbenden zu bemessen.“722

Gewährleisten lässt sich dies folglich durch das individuelle Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung, was sich besonders in Bezug auf den zweitgenannten Aspekt verdeutlicht. Es zeigt sich, dass das Schutzrecht für den Sterbenden sowie die Pflicht für alle beteiligten Personen hervorgehoben wird. Das Handeln von Dritten hat sich somit an der Selbstbestimmung des Patienten zu orientieren, um ein Sterben in Würde nicht zu gefährden. Fraglich bleibt in diesem Kontext, wo die Grenzen des eigenen Selbstbestimmungsrechts zu liegen scheinen. Ferner bleibt die Rolle der beteiligten Personen tiefergehend unreflektiert. Werden Kreß´ Darstellungen konsequent weitergedacht, so sind sie letztlich nur Erfüllungsgehilfen der Selbstbestimmung des Patienten. Mit Kreß´ eigenen Argumenten ließe sich also fragen, ob wiederum das Selbstbestimmungsrecht der Mitmenschen in Abrede steht und sie in Gefahr der Verobjektivierung stehen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass Kreß eher nicht dialogisch oder in Relationen denkt, sondern rein linear vom selbstbestimmten Patienten ausgehend. Fraglich erscheint weiter, ob wohl jeder Patient als selbstbestimmter Patient bezeichnet werden kann. 3.2.2.4 Zwischenfazit Die Bündelung der Erkenntnisse bis zu dieser Stelle soll dazu beitragen, nochmals die wichtigsten Aspekte der vorausgegangenen Darlegung vor Augen zu behalten. Eine bedeutende Bewertung von Hartmut Kreß zeigt: 720

Vgl. Kreß, Patientenverfügungen, 23. Vgl. beispielsweise Kreß, Sterbehilfe, 3. 722 Kreß, Patientenverfügungen, 23. 721

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

„Der Leitbegriff der Menschenwürde rückt die Unverfügbarkeit und die Schutzwürdigkeit des individuellen menschlichen Lebens ins Licht, und zwar ungeachtet der Lebensphase, der Eigenschaften oder des Gesundheits- oder Krankheitszustandes eines Individuums.“723

Gezeigt werden konnte mit den vorausgehenden Erörterungen, dass Kreß mit der Menschenwürde und der hiermit verbundenen Schutzwürdigkeit eines Menschen in exponierter Weise die Selbstbestimmung verbindet und insofern die Autonomie im Sinne von Solipsismus und als Ausdruck individueller Freiheit gestärkt wissen will. Jenes Verständnis der nach Kreß mit Selbstbestimmung verbundenen Menschenwürde überträgt sich auch auf die Zustände des Sterbens, der Sterbebegleitung und besonders der Sterbehilfe. Ausdruck findet dies wiederum stets darin, dass jeder Mensch frei für sich selbst entscheiden sowie festlegen soll und kann, wie Zustände von Krankheit oder der Lebensendphase sich ereignen sollen. Die Patientenverfügung kann hierfür als geeignetes Instrument eingesetzt werden. Nochmals verdeutlichen lassen sich die getätigten Aussagen mithilfe weiterer Belegstellen. Dem Vorwurf, den Würdebegriff als Leerformel ohne wirkliche Begründungsstruktur zu gebrauchen, widerspricht Hartmut Kreß mithilfe der oben dargelegten Anbindung an Deutungen der Gottebenbildlichkeit in der abendländischen Tradition und mit Unterstützung der Philosophie. Die Begründungslinien konzentrieren sich meist auf die Betonung von Fähigkeiten und Eigenschaften, wie beispielsweise Thomas von Aquin den Menschen als Vernunftwesen, Träger von Geist und Gewissen und als sittliches Wesen beschreibt. Insofern kann Kreß feststellen: „Der Begriff ‚Würde‘ enthält eine präzise Abgrenzung vom ökonomischen Wert (Preis, Geldwert). Als in der Aufklärungsepoche Immanuel Kant die Würde des Menschen zum Grundprinzip der Ethik erhob, hielt er fest: ‚Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann . . . etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde‘“724 .

Eine solche beschriebene Würde ist die, die einer Person nach Kreß zukommt. Betonung soll alsdann erfahren, wem diese Würde zuteilwird: „Zugleich gilt, daß der Begriff Menschenwürde jeden einzelnen Menschen erfaßt.“725 Es zeigt sich das Bestreben, mithilfe der Konstruktion 723

Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 136. Kreß, Menschenwürde, 13. 725 Kreß, Menschenwürde, 13. 724

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des Würde-Begriffs die individuelle Würde, den persönlichen Wert und die Autonomie eines Menschen zu stärken. „Auf der Idee der Menschenwürde fußt eine Ethik der Individualität und individueller Schutzrechte, weil jede menschliche Person eigenständig und unverwechselbar ist. Aufgrund seiner individuellen Identität und Unverwechselbarkeit ist jeder Einzelne ein Selbstzweck, so daß er weder verdinglicht noch vernutzt oder als Mittel für andere Zwecke oder fremde Interessen gebraucht werden darf.“726

An dieser Stelle wird Kreß´ Bestreben offenkundig. Seine Hervorhebung der Würde durch die Gottebenbildlichkeit sowie in Anlehnung an philosophische Traditionen – deren Argumentationsstruktur, wie oben gezeigt wurde, teils Fragen aufwerfen kann – dient dem Ziel, ein Menschenbild zu entwickeln, dessen Mitte die Individualität des Menschen ist. In Rückbezug auf die Diskussion von Kreß´ Verständnis der Barthschen Bestimmung der Gottebenbildlichkeit wird erneut die differente Ausgangsbasis ersichtlich. Kreß zeigt das grundlegende Bestreben, den Menschen in seiner Individualität, idealiter in Abgrenzung zum Gegenüber, zu sehen. Er zieht diese klare Grenze aus Schutz vor Verobjektivierung oder Verzweckung für fremde Interessen, welche er wiederum als direkte und problematische Auswirkungen einer relationalen Anthropologie bewertet und mit dem Fürsorgebegriff im Sinne von Heteronomie in Verbindung bringt. Seine Blickrichtung erfolgt somit eher innermenschlich: Er fragt, wie er seine Wahrnehmung vom autonomen Menschen stützen kann und unterbaut dies mit dem Würde- und Gottebenbildlichkeitsbegriff. Im Vergleich hierzu ist Karl Barths Vorgehen ein völlig anderes: Grundlage seiner Darstellungen ist die Wahrnehmung, dass der Mensch von sich selbst keine höhere Erkenntnis erlangen, sondern die Selbsterkenntnis nur ein Reflex der Gotteserkenntnis sein kann. Denn die Wahrheit des Menschen liegt – wie die Bibel lehrt – außerhalb seiner selbst und ist in Jesus Christus, dem wahren Menschen und dem wahren Gott, offenbar. Somit ist Barths Vorgehen, eine Anthropologie via Christologie zu entwickeln, entsprechend motiviert.727 Seine Theologie für die diskutierten Dissense nutzbar zu machen, wird weiteres Ziel der Arbeit sein. Erneut lässt sich die Wahrnehmung stärken (in der Diskussion um die imago Dei von Kreß und Barth wurde darauf bereits verwiesen), dass Kreß und Barth differente Zugangsweisen wählen. So ist es für Barth 726 727

Kreß, Menschenwürde, 13. Vgl. Barth, Nein und darüber hinaus Kapitel V.2 und folgende.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

der einzig gangbare Weg, über die Christologie kommend schließlich auch Aussagen vom Menschen tätigen zu können. Denn Jesus Christus ist uns offenbar als wahrer Gott und wahrer Mensch. Barth ist folglich darauf bedacht nach dem Wort Gottes zu fragen. Die Zugangsweise, die sich mit der Zeit expliziter bei Kreß herausgebildet hat, ist eher mit einer dezisionistischen vergleichbar. Er betrachtet (teils geschichtlich begründete) Missstände in Form der Unterdrückung der Individualität, Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen und stellt die aktuelle Stärkung eines Selbstbestimmungsrechts als tatsächliches Recht heraus. Walter Kreck etwa kritisiert einen Gesetzesbezug mit den Worten: „Denn Ethik fragt im Unterschied zu einer empirischen Wissenschaft nicht nur nach dem, was ist, bzw. nach ‚Gesetzen‘, die zweckrationales Handeln ermöglichen, sondern nach dem, was sein soll, und zwar im Sinne des sittlich Gebotenen.“728 Nur additiv und analogisch fügt Kreß theologische Begrifflichkeiten, die teils in ihrer argumentativen Standhaftigkeit angefragt werden können, zur Bestärkung hinzu. Deutlich kann demnach die Funktion von Kreß´ Theologie als Motivation für die Ethik bezeichnet werden. Das Resultat dessen ist, dass keine neuen Perspektiven entstehen, die durch ein genuin theologisches Konzept entwickelt und eingebracht werden können. Die Rolle der Theologie ist folglich ein zentral strittiger Punkt. Hier wiederum drängt sich der Wert der Barthschen Theologie auf, die eine genuine Perspektive auf das Menschsein via Christologie einnimmt. Ein christologischer Bezug hingegen scheint in Kreß´ Darstellungen nicht auffindbar zu sein. Hinzu kommt als Folge der beschriebenen differenten Grundausrichtung der Argumentationen, dass die Kritiken, die jeweils von der Gegenposition angeführt werden, einerseits nicht notwendigerweise überzeugen müssen, andererseits nicht zu treffen scheinen und folglich aneinander vorbei zielen. Gezeigt wurde ja bereits exemplarisch, dass Kreß´ Kritik an Barth, er vernachlässige das Individuum, nicht auf die Barthsche Argumentation zutrifft. Dennoch wird Kreß hierin kein Fortkommen sehen, da die Ausgangsbasis, den Menschen als relationales Wesen zu beschreiben, mit seinem Ziel, der Abgrenzung des Menschen vom Gegenüber, nicht kompatibel erscheint. Unweigerlich stellt sich die Frage an Kreß, ob seine Argumentation den Menschen in seinen Beziehungen missachtet. Fraglich wird dies besonders mit Blick auf die Argumentationsstruktur, die – wie nun schon mehrfach angesprochen – besonders theologische Fragen aufwirft. Nach wie vor zeigt sie sich nicht als Grundlage, sondern eher als Additiv, welches zur Festigung bereits getätigter Aussagen herangezogen wird. Zweifelhaft zeigt sich 728

Kreck, Grundfragen, 9.

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der zugesprochene Eigenwert der theologischen Aussagen. Ferner liegt Kreß´ wahrgenommener Fokus auf der Individualität, die sicherlich eine entscheidende und zu stärkende Komponente im Menschsein darstellt. Dennoch ist eine Reduktion hierauf fragwürdig, etwa in besonderer Weise für Menschen, die primär ihre Individualität nicht ausleben können. Wenn Kreß die Menschenwürde in solch starker Verbindung zur Individualität wahrnimmt, ergibt sich sogleich die Gefahr, sie als Ausschlusskriterium einzusetzen. 3.2.2.5 Analogisches729 Verfahren im Hinblick auf (theologische) Grundlagen für die Menschenwürde Auch in etwas jüngeren Schriften Hartmut Kreß´ ist eine zum vorausgehenden Kapitel ähnliche Ausgangsbasis zur Beschreibung der Menschenwürde aufzufinden. Grundlage ist erneut ihr rechtlich bestätigter Schutz. „Die Menschenwürde ist zum Schlüsselbegriff der modernen Ethik und Verfassungsordnung geworden. Im Grundgesetz heißt es (Art. 1): ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘“730 Sodann dienen kurze Exempel zur Verdeutlichung des Interpretationsspektrums des Würde-Begriffs. Hierzu nimmt Kreß Bezug auf Peter Singer, dem er dann die christlich-jüdische Tradition sowie Immanuel Kant mit ihren je differenten Konzeptionen der Menschenwürde gegenüberstellt. Sie beschreiben im Gegensatz zu Singer eine universale, einschränkungslose Menschenwürde, so die Bewertung Kreß´. Die theologische Einschätzung von Menschenwürde pointiert er nachfolgend: 729

Der Begriff der Analogie wird hier, wie schon an früherer Stelle bemerkt, in Anlehnung an das von Huber und Tödt beschriebe Verfahren gewählt, da Kreß´ Vorgehen formal ähnlich erscheint. Huber und Tödt stellen einen christlich-theologischen Zugang zu geschichtlich bedeutsam gewordenen Begriffen (hier der Begriff der Menschenrechte) vor, um so im christlichen Bereich eine Weiterentwicklung des Begriffsverständnisses zu ermöglichen (vgl. Huber, Menschenrechte). Sie beschreiben dazu: „Der von uns einzuschlagende Weg unterscheidet sich also gründlich von einem Verfahren theologischer Deduktion und Legitimation. Keinesfalls aber können wir uns mit der Auskunft begnügen, die Menschenrechte seien als Bestandteil eines allgemeinen humanen Ethos in dem Sinne selbstverständlich, daß sie einer theologischen Prüfung und Interpretation gar nicht bedürfen. [. . . ] Wenn es um Prinzipien geht, die in einem allgemeinen humanen Ethos gelten sollen, dann muß die Theologie klären, wie diese sich zu der Bestimmung des Menschen verhalten, von der christliche Verkündigung spricht“ (Huber, Menschenrechte, 158f.). Dieses Verfahren zeigt somit Analogien lebensweltlicher Phänomene zu einem theologischen Sinngehalt auf. 730 Kreß, Medizinische Ethik, 18.

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„Theologisch lässt sich dieses Verständnis von Menschenwürde damit begründen, dass das Menschsein letztlich in der Transzendenz, im Schöpferhandeln Gottes gründet. Ihm kommt eine von außen her verliehene Würde zu, die – weil sie in der Transzendenz verankert ist – innerweltlich unverfügbar und unantastbar ist.“731

Die Wertschätzung eines jeden Menschen wird folglich explizit. Kreß nimmt Rückbezug auf das Verständnis des Menschen als Geschöpf Gottes und argumentiert hier schöpfungstheologisch. Durch das GeschöpfSein erhält der Mensch die unverlierbare Würde. Fraglich ist in diesem Zusammenhang der Terminus der Transzendenz, da dieser in seiner theologischen Bedeutung unklar ist. Die Vermutung liegt nahe, dass Kreß hier das Schöpferhandeln als Transzendenz versteht. Kreß wählt den alttestamentlichen Bezug, um wiederum die Menschenwürde von der Gottebenbildlichkeit her inhaltlich zu füllen und die Gottebenbildlichkeit als Vorläufer zur Menschenwürde zu benennen.732 Hierzu stuft er beispielsweise das Verhältnis beider Begrifflichkeiten wie folgt ein: „‚Gottebenbildlichkeit‘ stellt geistesgeschichtlich einen Vorläuferbegriff und einen wesentlichen gedanklichen Hintergrund für das moderne Verständnis von Menschenwürde dar.“733 Zudem kann erneut auf die bereits geführte Diskussion verwiesen werden, ob etwa eine rein alttestamentliche, auf die Schöpfungserzählungen beschränkte Begründung der Gottebenbildlichkeit und damit der Würde ausreicht. Ein christologischer Verweis kommt nicht zum Tragen. Beobachtet werden kann, dass die theologische Fundierung auf diese knappe Abhandlung begrenzt bleibt und schließlich eine Anknüpfung an die Philosophie Immanuel Kants erfolgt, worin Kreß eine genauere Konkretion der Würde sieht. „Aufgrund ihrer Vernunftanlage unterscheiden sich Menschen grundsätzlich von allen anderen Lebewesen; hierdurch erlangen sie eine besondere Würde.“734 Die Gattung Mensch als solche erhält also eine besondere Auszeichnung. Inhaltlich zeigen sich zwei Konkretionen. Einerseits die Schutzwürdigkeit der Menschen: „Jeder Mensch verdient Achtung und Schutz.“735 Andererseits ergibt sich 731

Kreß, Medizinische Ethik, 19. Vgl. Kreß, Medizinische Ethik, 19. 733 Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 24. Vgl. Kreß, Medizinische Ethik, 19. 734 Kreß, Medizinische Ethik, 19f. 735 Kreß, Medizinische Ethik, 20. 732

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„das Recht jedes Einzelnen auf Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung. Es gehört zur Menschenwürde hinzu, dass jeder, der dazu in der Lage ist – also jeder urteilsfähige und erwachsene Mensch –, über sein Handeln und über sein Schicksal selbst bestimmen darf. Das Recht auf Freiheit und auf persönliche Selbstbestimmung ist Ausdruck der Menschenwürde, die ein jeder Mensch besitzt.“736

Kreß rezipiert hier und im Folgenden Kant, um Freiheit und Selbstbestimmung normativ zu gewichten und dabei jedem einzelnen Menschen, dem Individuum als solchem, die Menschenwürde zuzusprechen.737 Wie oben deutlich wird, unterstreicht Kreß mit Kant eine Individualfreiheit, die jegliches selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln eines Menschen für sich persönlich rechtfertigen soll. Vor dem Hintergrund des in Kapitel IV.3.1.1.2 entwickelten Exkurses zu Immanuel Kant kann angemerkt werden, dass in diesem Kontext etwa die Verwobenheit von Autonomie, Freiheit und Menschenwürde mit der Befolgung des Sittengesetzes und der Orientierung am kategorischen Imperativ unterschätzt wird. Gezeigt werden konnte im Exkurs, dass sich Kant gemäß Freiheit, Autonomie und vernunftgemäßes Handeln gerade darin ausdrücken, sich selbst Gesetze und Pflichten in Orientierung am sittlich Guten aufzuerlegen und diese zu befolgen. Hieraus resultieren bei Kant beispielsweise auch die Pflichten gegenüber sich selbst, die sich etwa im Lebensschutz und -erhalt verdeutlichen.738 In Anlehnung daran lässt sich darauf verweisen, dass in der Darlegung Kreß´ inhaltlich ungeklärt bleibt, welche Verbindung er zwischen der Schutzwürdigkeit des Menschen und seinem Recht auf Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung sieht sowie auf welche Weise ein solches Recht einzufordern ist. Wäre hier nun wieder Bezug auf Kant zu nehmen, so könnte etwa der kategorische Imperativ als verbindendes Element herangeführt werden. Die Orientierung am sittlich Guten impliziert sowohl eine Schutzwürdigkeit sich selbst und anderen Menschen gegenüber als auch Freiheit und Autonomie. Bei Kreß hingegen erscheinen die verwendeten Topoi in einem anders konnotierten Licht, dass nämlich die Schutzwürdigkeit von außen zu gewähren ist, Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie hingegen eher rein persönliche, isoliert das eigene Handeln betreffende Rechte zu sein scheinen. Insofern stehen in Kreß´ Darstellungen die Konkretionen aus der (philosophischen) Begründung der Menschenwürde, einerseits die Schutzwürdigkeit, ande736

Kreß, Medizinische Ethik, 20. Vgl. Kreß, Medizinische Ethik, 19f. 738 Vgl. Kapitel IV.3.1.1.2 Exkurs: Immanuel Kant. 737

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rerseits das Recht auf Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung im Sinne von zwei verbindungslosen Pfeilern nebeneinander. Nicht selten sind jedoch Situationen denkbar, in denen ein Konflikt zwischen beiden genannten Kriterien auftreten kann. Welches Verhältnis liegt hier also vor? Die beschriebene Schutzwürdigkeit kennzeichnet ja eher einen äußeren Rahmen, also etwas, das durch Andere gewährleistet wird bzw. werden muss. Welche Gewichtung ist vorzunehmen und was ist zu schützen? Sind etwa Freiheit und Autonomie die zu schützenden Gegenstände oder womöglich das menschliche Leben als solches? Besonders Zweitgenanntes könnte beispielsweise in Konflikt zur Autonomie geraten, wenn sich gegen den Erhalt des Lebens in Behandlungssituationen entschieden wird. Angedeutet werden konnte bereits, dass sich durch jene beiden Konkretionen etliche Anfragen – besonders im Hinblick auf entscheidungsunfähige Menschen – ergeben können. Ferner ist nicht tiefgehend dargelegt, welches Verständnis von Freiheit an dieser obigen Stelle vorausgesetzt wird. In Rückbezug auf die Diskussion zu Kreß´ Freiheitsverständnis kann die Vermutung geäußert werden, dass ein Verständnis von Wahlfreiheit zugrunde liegt. In aller Kürze wurde bereits gefragt, ob diese Identifikation als zu vorschnell und wichtige Bedeutungsaspekte vernachlässigend erscheint. Ebenso diskutiert wurde bereits Kreß´ Verständnis der Kantischen Philosophie. Alsdann muss der Fokus gezielt auf einen weiteren Aspekt im obigen Zitat Kreß´ gelenkt werden. Kreß identifiziert es als Ausdruck der Würde, über sein Schicksal selbst zu bestimmen und so Selbstbestimmung zu praktizieren. Gefragt werden muss, ob dies direkte WürdeEinschränkungen mit sich bringen kann, wenn die Selbstbestimmung, wie Kreß sie beschreibt, (beispielsweise aufgrund von Alter oder Krankheit) nicht ausgeübt werden kann. Was zeigt dies für Konsequenzen? Die Gefahr besteht, dass Kreß, obwohl er sich gegen Würdebeschreibungen anhand eines empirischen Habitus des Menschen wendet, analog formuliert und hier Selbstbestimmung und Autonomie implizit als Voraussetzung des vollwertigen Menschseins erhebt. Des Weiteren sind Lebenssituationen denkbar, die aufgrund einer eingeschränkten persönlichen Selbstbestimmungsfähigkeit als würdelos empfunden werden können, obwohl Kreß soeben auch darauf bedacht war, die Menschenwürde außerhalb des Menschseins, als Transzendenz, zu verorten. Fraglich ist gleichwohl, ob Kreß tatsächlich diese unverlierbare Würdezuschreibung von außen wahrnimmt. Tendiert er nicht eher dazu, das innermenschliche Kriterium der eigenen Vernunft sowie der Selbstbestimmung des Menschen für die Begründung der Würde einzusetzen?

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Ersichtlich wird mit Blick auf die Grundsätze Kreß´, dass er der Selbstbestimmung als direkter Folge der Menschenwürde große Bedeutung zuspricht. In den vorausgehenden Kapiteln war dieser Aspekt bereits Thema. Er wird nochmals im Kontext des nächsten Kapitels mit thematischer Wichtigkeit hervorgehoben. In einem nächsten Gedankenschritt betont Kreß erneut – offensichtlich in Anlehnung an seine frühen Ausführungen –, dass zur Beschreibung des Personenbegriffs neben Schutzwürdigkeit, Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung fernerhin ein dialogisches Prinzip hinzutreten muss.739 Hierzu orientiert er sich, wie in vergangenen Darstellungen, an Martin Buber, der beschreibt, „dass die menschliche Existenz sich in der Beziehung zwischen Ich und Du verwirklicht.“740 Insofern werden die geistig-leibliche Existenz und die kommunikative Dimension des Menschseins in den Blick genommen. Kreß fügt die Linien Kants und Bubers darüber hinaus in Kombination zusammen.741 „Im Grundsatz sollte hervorgehoben werden: Der Personbegriff und das Menschenbild, die für die heutige Medizinethik maßgebend sein sollten, sollten erstens die Aspekte beinhalten, die bei Kant deutlich wurden, nämlich die Schutzwürdigkeit sowie die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte jedes Menschen. Darüber hinaus ist – zweitens – die zuletzt erörterte dialogisch-relationale Komponente des Personbegriffs zu beachten. Dieser zufolge umschließt das menschliche Personsein eine Einheit von Leib, Geist und Seele und ist es auf die Interpersonalität, die zwischenmenschliche Begegnung hin angelegt. Hiermit werden ein ‚qualitativer Individualismus‘ – ein Begriff, den der Philosoph Georg Simmel (1858-1918) geprägt hat – und eine patientenoder personzentrierte Medizin zu Leitbildern der Medizinethik.“742

Hartmut Kreß hat in seinen frühen Ausführungen – wie der Anfang des vorliegenden Abschnitts zeigt – das relational-dialogische Prinzip des Menschen hervorgehoben und als Aspekt des Personenbegriffs beschrieben. Bei Kreß´ späteren Darlegungen verschwindet dieser relationale Aspekt nahezu vollständig. Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass er in seinem 2003 veröffentlichtem Band Medizinische Ethik nochmals auf diesen Aspekt verweist. Deutlich wird also, dass Kreß seinen schon früher herausgestellten Aspekt des Personseins unter 739

Vgl. Kreß, Medizinische Ethik, 20. Kreß, Medizinische Ethik, 20. 741 Vgl. Kreß, Medizinische Ethik, 20f. 742 Kreß, Medizinische Ethik, 24. 740

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Berücksichtigung des relational-dialogischen Verhältnisses (siehe Kapitel IV.3.1.1 und besonders IV.3.1.2.2) nochmals benennt und als zusätzlichen Aspekt zu Freiheit und Autonomie heranführt. Erneut muss also festgestellt werden, dass auch hier jene Aspekte nicht theologisch motiviert sind oder in eine ausführliche Anthropologie zusammenfließen. Nicht betrachtet wird somit die Relation von Gott und Mensch. Auch die Auswirkungen dieser Erkenntnisse auf den Personenbegriff bleiben fraglich, wie sich im nächsten Kapitel weiter verdeutlichen wird. Im hiesigen Kontext dieser Argumentation steht hauptsächlich das ArztPatient-Verhältnis, weniger eine grundlegende Anthropologie, im Fokus. An anderer Stelle tritt als weiteres theologisches Argument die Rechtfertigungslehre für die Stärkung der Selbstbestimmung, besonders in Anbindung an Martin Luther, auf.743 Kreß nimmt Bezug auf Luthers Beschreibung: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“744 . Herausgestellt wird die geschenkte innere Freiheit des Menschen, die die Zusage bekräftigt, dass der Mensch freigemacht ist. Dies wiederum ermöglicht, so Kreß, ein religiöses Vertrauen oder eine innere Gelassenheit. Aus dieser „heraus mag es Menschen leichter fallen, sogar über das eigene Sterben nachzudenken und verantwortliche Entscheidungen über Therapiebegrenzung, Verzicht auf Reanimation oder anderes zu treffen.“745 Diese innere Haltung wiederum „korrespondiert dem Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung, das in der Neuzeit in ethisch normativer sowie in verfassungs- und menschenrechtlicher Hinsicht unhintergehbar geworden ist.“746 Auch diesem Aspekt sei sich intensiver zugewendet. Formal fällt bereits auf, dass Kreß nur den ersten Teil des Luther-Zitats verwendet. Sachgemäßer wäre die Darstellung von Luthers Paradoxon: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“747 Die Frage nach der Relation von Freiheit und Dienstbarkeit mit Blick auf Geistlichkeit und Leiblichkeit des Menschen muss gestellt werden. Der neueren Lutherforschung gemäß liegt ein Relationsverständnis zugrunde, welches bereits im Exkurs IV.3.2.2.2.1 zur Freiheit angesprochen wurde: Der ganze Mensch ist in Relation zu Gott

743

Vgl. Kreß, Sterbehilfe, 6. Luther, Von der Freiheit, 162. 745 Kreß, Sterbehilfe, 6. 746 Kreß, Sterbehilfe, 6. 747 Luther, Von der Freiheit, 162. 744

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frei, in Relation zur Welt ein Knecht, wie es heißt.748 Der Gedanke liegt nahe, dass Kreß hier die Ebene der Freiheit in Bezug auf Gott mit der Wahlfreiheit eines Menschen bei innerweltlichen Sachverhalten unmittelbar gleichsetzt. Nach Luther jedoch wäre zu unterstreichen, dass der Christenmensch gerade nicht frei ist, sich infolge einer Wahlfreiheit für oder gegen Gott zu entscheiden, sondern in Christus befreit wurde. Da Kreß diesen Aspekt eher unbeachtet lässt, kann er sogleich einen Bezug von Freiheit und Möglichkeit zur Reflexion des Sterbeprozesses in Bezug auf Therapiebegrenzung oder allgemein auf passive Sterbehilfe ziehen. Unklar bleibt hier auch, weshalb ausschließlich lebensverneinende Möglichkeiten benannt werden.749 Eher in Übereinstimmung mit Luther scheint hingegen zu sein, in Relation zur Welt den Aspekt des Knechtseins zu beleuchten. Die geschenkte Freiheit (allein) durch die Gnade Gottes kann sich in die Relation zur Welt eintragen, und dies in Nachfolge Christi: So, wie Christus den Menschen gedient hat, ist der freie Mensch dazu befreit, dem Mitmenschen dienen und sich für Andere einsetzen zu können. Der Gedanke des Knechtseins konkretisiert sich bei Luther also darin, sich selbst in Beziehung setzen zu wollen. Da Kreß allerdings genau diesen Aspekt mit dem Ziel einer Konzentration auf die Autonomie abschwächen möchte, stellt sich sodann die Frage, ob diesbezüglich ein zu verkürztes Lutherverständnis vorliegt.750 Hervorzuheben sind nun gezielt Kreß´ theologische Zugänge zum Autonomiegedanken.751 Einleitend rechtfertigt er seine Herangehensweise mit einem numerischen Argument dadurch, dass nach wie vor ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland christlich geprägt ist. „Daher ist hervorzuheben, dass die Hochschätzung von Freiheit und Selbstbestimmung auch im Christentum Wurzeln besitzt.“752 Exemplarisch führt Kreß die katholische Tradition an, die Vernunft und Freiheit des Menschen als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit wertet, nebst der evangelischen Theologie, die in Nachfolge Luthers steht. Im Mittelpunkt steht, „dass Gott dem Menschen [. . . ] ein ‚gerechtfertigtes‘ und ‚befreites‘ Gewissen verleihen kann und der Mensch dann zu einer Lebenseinstellung zu gelangen vermag, die ihn von äußeren Zwängen und weltlichen Bedingungen unabhängig werden lässt.“753 Diese Befreiung kann, so 748

Vgl. Hamm, Martin Luthers Entdeckung, 55f.; 59f.; Joest, Martin Luther, 152ff.; Jüngel, Zur Freiheit, 69ff. 749 Vgl. Kreß, Sterbehilfe, 6. 750 Vgl. außerdem Kapitel IV.3.2.2.2.1 Exkurs: Das Verständnis von Freiheit. 751 Vgl. Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 961ff. 752 Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 961f. 753 Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 962.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Kreß, dazu befähigen, mögliche Therapiebegrenzungen in Betracht zu ziehen und das Sterben im Allgemeinen zu reflektieren.754 Diese Identifikation der Theologie Luthers mit dem Entschluss zu Therapiebegrenzungen wurde bereits angefragt. Wiederholt sei aber, dass Luther durchaus das sich in Beziehung Setzen und in Liebe Begegnen in Nachfolge Christi und als Konsequenz der geschenkten Freiheit hochschätzt. Im Hinblick auf andere Religionen kann zudem gemäß Kreß die Wichtigkeit des Rechts auf Freiheit und Selbstbestimmung unterstrichen werden. „Dem Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung kommt in der modernen Ethik und Verfassungsordnung sowie sogar interkulturell und interreligiös ein überragender Stellenwert zu. Insofern überrascht es, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland in den zurückliegenden Jahren eine Debatte entzündet hat, die darauf hinauslief, die Selbstbestimmungsrechte und die Patientenautonomie im Umgang mit dem Sterben ganz stark einzuschränken.“755

Auch an diese Darstellung sollen nun einige Anfragen getätigt werden. Zuerst einmal ist es begrüßenswert auch die interreligiöse Bedeutung von Freiheit und Selbstbestimmung zu stärken. Dennoch bleibt die Frage bestehen, warum Kreß als evangelischer Theologe nicht eine genuin (evangelisch-)theologische Argumentation hervorhebt. Ferner kann hier exemplarisch darauf aufmerksam gemacht werden, dass Kreß nach knapper Interpretation der Argumente der Gegenseite zu der Einschätzung gelangt, diese konträren Ansichten alleinig mit dem Prädikat des Unverständnisses zu belegen. Resümierend betrachtet, bestätigt sich innerhalb des vorliegenden Abschnitts, dass Kreß´ genuin theologische Argumente spärlich vorzufinden sind und mithin vorwiegend als stützender Appendix zu bereits getätigten Aussagen analogisch hinzutreten. Eine spezifische Funktion der Theologie bleibt somit nahezu unberührt. Zuweilen bestärkt dies den Eindruck, dass Kreß um eine allgemein breit zugängliche Sozialethik bemüht ist, die sich in diverse Verbände und Gremien implementieren lässt. Dabei vernachlässigt Kreß, evangelischer Ethik ein eigenes, fundiert-argumentatives Profil zu verleihen und daraufhin diskursfähig und nutzbar zu machen. Zusätzlich, so zeigte sich, inhäriert seinen Darstellungen stets das Ziel, eine Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen anzustreben, die bereits mit einer isolierten AutonomieForderung vergleichbar ist. Dass Kreß dies gar als Primat des Menschen 754 755

Vgl. Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 962. Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 962.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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aufgewertet wissen will, wird die inhaltliche Analyse im folgenden Kapitel zu Kreß abschließen. 3.2.3 Freiheit und Selbstbestimmung als Primat des Menschlichen In den vorausgegangenen Erläuterungen präzisierte sich, dass Kreß neben dem Aspekt der Menschenwürde zugleich die Begriffe Freiheit und Selbstbestimmung aufzeigt, sie somit entsprechend in Beziehung setzt und teils gar als gegenseitige Argumentationsgrundlagen verwendet. Dass er insbesondere in seinen aktuelleren Schriften Freiheit und Selbstbestimmung betont und die Topoi schließlich als normatives Primat des Menschlichen definiert, fand bereits im gesamten Verlauf der vorausgehenden Kapitel Andeutung. Zu konstatieren ist nun abschließend, wie Kreß diese Bestimmung vornimmt und analog der obigen Ausführungen zur Menschenwürde vorwiegend auf rechtsethische Ansätze gründet. Zur Erarbeitung des Kreßschen Verständnisses der Selbstbestimmung kann zunächst exemplarisch auf seine Kommentierung der Ergebnisse der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz zum Thema Sterbehilfe und Sterbebegleitung zurückgegriffen werden.756 Die Argumentationsgrundlage bietet auch hier eine rechtliche Verortung: „Den normativen Kern des von der interdisziplinären, interministeriellen Kommission erarbeiteten Votums bilden der im Grundgesetz verankerte Schutz der Menschenwürde, zu der das Sterben in Würde hinzugehört, sowie das Recht des Einzelnen auf Freiheit und Selbstbestimmung.“757

Das Kreß gemäß vorhandene Individualrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung wird folglich normativ zugrunde gelegt und in Bezug auf die Menschenwürde vorausgesetzt. Fernerhin erfährt das Selbstbestimmungsrecht eine rechtliche Festigung: „Das individuelle Selbstbestimmungsrecht ergibt sich aus der in Artikel 1 des Grundgesetzes garantierten Menschenwürde und wird darüber hinaus u. a. durch Artikel 2 Absatz 1 gesichert.“758 Gezeigt wird erneut, dass die Grundlage der folgenden Argumentation auf geltende Rechtsvorschriften aufbaut. Insofern ergibt es sich als rechtsstaatliche Aufgabe, diese Rechte zu schützen. Der Rechtsstaat ist folglich dazu angehalten, seinen Schutzpflichten nachzukommen 756

Vgl. Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende. Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende, 291. 758 Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende, 291f. 757

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

„und für die Garantie der individuellen Freiheitsrechte einzustehen, damit der Prozess des Sterbens mit den eigenen Entscheidungen und den persönlichen Wert- und Würdevorstellungen der betroffenen Menschen vereinbar bleibt.“759

Folglich führt der Schutz der individuellen Rechte zu einer Garantie von Freiheit und Selbstbestimmung. Gleichzusetzen ist dies damit, dass der äußere Rahmen dafür geschaffen werden soll, dass jeder Mensch gemäß seinen eigenen Maßstäben (solange er keine rechtlichen Regelungen bricht) entscheiden und handeln kann. Bezogen auf das Thema der Kommission bedeutet dies, dass jeder Mensch aus seiner individuellen Perspektive heraus entscheiden kann, was ein Sterben in Würde bedeutet.760 Ein kurzer Seitenblick soll auf die Frage geworfen werden, ob nicht gerade auch die Theologie einen Beitrag dazu leisten kann, eine überindividuelle Position zur Orientierungshilfe zu entwickeln und sie zu vertreten. Fraglich ist, ob das Ziel, in Sorge um Heteronomie möglichst wenig Profil zu zeigen und sich schließlich darauf zu berufen, dass jeder seine eigene Position entwickeln und daraus Entscheidungen treffen soll, alternativlos ist. Der Grundsatz, dass jeder Mensch auch eine individuelle Verantwortung trägt und letztlich seine Entscheidungen fällen muss, ohne dass sie ihm indoktriniert werden, soll nicht infrage stehen. Dennoch ist zu reflektieren, auf welche Weise zu verantwortungsvollen Entscheidungen zu kommen ist. Theologie und Kirche haben dabei sicher eine ernst zu nehmende Verantwortung und wichtige gesellschaftliche Funktion. Ihre besondere Aufgabe ist, in ihrer speziellen Perspektive Sachlagen zu erörtern und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Andernfalls wird es auch für eine individuelle Entscheidung schwer erscheinen, eine umfangreich abgewogene Position überhaupt im Diskurs entwickeln und schließlich beziehen zu können. Folglich wird die These vertreten, dass Theologie und Kirche ihre gesellschaftliche Funktion auch darin wahrnehmen, öffentlich Position zu beziehen und ihrem Denken Profil zu verleihen. Sicherlich ergibt sich damit eine Perspektive unter vielen, was ihre Berechtigung gleichwohl nicht schmälert. Kreß thematisiert weiter das Selbstbestimmungsrecht: „Auf der Basis dieser Argumentation hat die Bioethik-Kommission herausgearbeitet, dass der Staat das Grundrecht des Einzelnen auf Selbstbestimmung, einschließlich der Selbstbestim759 760

Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende, 292. Vgl. Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende, 291f.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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mung bei Fragen von Gesundheit, Krankheit und Sterben, nicht einschränken soll, sondern es durchweg zu schützen hat.“761

Kreß sieht also den Schutz des Selbstbestimmungsrechts gerade darin gewährleistet, dass es nicht eingeschränkt wird. Gleiches ergibt sich in Konkretion auf die Gültigkeit von Patientenverfügungen: „Da die Bioethik-Kommission das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung als ethisch grundlegend ansieht, bildet die Verbindlichkeit und Gültigkeit von Patientenverfügungen einen, ja geradezu den Schwerpunkt ihres Votums.“762

Unbeantwortet und ebenso unreflektiert bleibt die Frage, welche Funktion einer Rechtsprechung zukommt, wenn sie letztlich als oberstes Ziel dafür sorgen muss, die individuellen Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte – die ja durchaus sehr unterschiedlich konnotiert werden können – nicht einzuschränken. Ferner ist fraglich, anhand welcher Grundlage die rechtlichen Regelungen getroffen werden. Die Kommission sieht allerdings eine Einschränkung als wichtig an: Eine Patientenverfügung soll ihrer Ansicht gemäß auf vorheriger Aufklärung und Information beruhen, um so die Problematik von unbedachten und voreiligen Verfügungen zu umgehen. „Sofern fundierte Beratung und Information zur Basis von Patientenverfügungen werden, vermag der häufig erhobene Einwand nicht mehr zu greifen, das Postulat der Selbstbestimmung laufe ins Leere oder führe zu verschleierter Fremdbestimmung, die daraus resultiere, dass auf Patienten äußerer Druck ausgeübt werde.“763

Zugleich werden durch diese Argumentation die eigene Freiheit und die Selbstbestimmung auf andere Weise infrage gesetzt, da sie offenbar erst durch Aufklärung oder Beratung realisiert werden können. Sodann lässt sich als Resultat dessen fragen, ob hier nicht der eigene Grundsatz, nämlich die Individualität zu stärken, wieder in Abrede gestellt wird. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Kreß´ Auffassung zur Beratung bei der Abfassung von Patientenverfügungen. Er beschreibt: „Unerlässlich ist es, Patienten darin zu unterstützen, dass sie ihr Selbstbestimmungsrecht wohldurchdacht in Anspruch nehmen. 761

Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende, 292. Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende, 295. 763 Kreß, Selbstbestimmung am Lebensende, 296. 762

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Diese Aufgabe kommt vor allem auf Ärzte zu. [. . . ] Angesichts der Wertkonflikte, die sich heutzutage angesichts des Lebensendes stellen, ist die verantwortungsvolle Beratung und Begleitung durch Ärzte mehr gefragt denn je.“764

Kreß sieht es also auch als notwendig an, Menschen zu ihrem Selbstbestimmungsrecht zu befähigen. Indessen wird – in gewissem Bruch zu Kreß´ sonstiger Argumentation – die Selbstbestimmungsfähigkeit als keine rein isolierte Möglichkeit angesehen. Vielmehr ist sie offenbar auf den Dialog und das Miteinander angewiesen. In besonderem Maße wirkt sich dies auf die Abfassung von Patientenverfügungen aus, da hierbei nicht selten medizinische Laien über ihnen fremde Sachverhalte verfügen. Eine (medizinische) Beratung dient somit einer gesteigerten Reflexionsfähigkeit und demnach etwa auch einer erhöhten Validität der Verfügung. Wie sich bereits in den vorausgegangenen Kapiteln zeigte, sind die in Kreß´ Darstellungen beschriebenen Aspekte von Selbstbestimmung und Freiheit, Menschenwürde, Menschenrechten, Patientenverfügung oder Sterbehilfe miteinander stark verwoben und bedingen sich mithin gegenseitig. Kreß wertet das Selbstbestimmungsrecht als normative Grundlage, das alle Diskurse über Patientenverfügung, Sterbehilfe, Sterben und Tod leiten soll: „Am Thema der Patientenverfügung zeigen sich zugleich die Gesichtspunkte, die in ethischer Hinsicht für den heutigen Umgang mit dem Sterben generell tragend sind. Als normativer Kern ist das individuelle Selbstbestimmungsrecht hervorzuheben.“765

Dieses normative und individuelle Selbstbestimmungsrecht zieht nach Kreß eine unmittelbare Verbindung zur Menschenwürde und findet darin sowohl seine Berechtigung als auch seine Begründung: „Grundsätzlich stellt das Selbstbestimmungsrecht ein besonders hochrangiges Grund- und Menschenrecht dar, das unmittelbar in der Menschenwürde verankert ist.“766 Auf Grundlage einer Interpretation Kants und somit in Anlehnung an die Aufklärungsphilosophie wird jener Zusammenhang von Menschenwürde und Selbstbestimmung gerechtfertigt: „Ihrem Vordenker Immanuel Kant zufolge erläutern, begründen und stützen Menschenwürde und Selbstbestimmung einander wechselseitig.“767 Ferner erfolgt die inhaltliche Füllung der Menschenwürde in 764

Kreß, Patientenverfügungen, 46. Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960. 766 Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960. 767 Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960. 765

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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ähnlicher Weise: „Die Würde von Menschen beruht darauf, dass sie – anders als nichtmenschliches Leben – prinzipiell in der Lage sind, von ihrer Vernunft Gebrauch zu machen und Sittlichkeit sowie Freiheit zu verwirklichen.“768 Konsequenz dieser solipsistisch geprägten Perspektive ist sodann folgerichtig, dass jeder, der sein Selbstbestimmungsrecht ausüben möchte, dies auch in Anspruch nehmen kann, solange er „nicht die Grundrechte oder die fundamentalen Interessen anderer Menschen verletzt.“769 Diese Darstellung scheint als Wiedergabe der gängigen Argumentationsstruktur Kreß´ geeignet zu sein. Festzustellen ist (auch nochmals im Rückblick auf die bereits erfolgte Auseinandersetzung), dass eine genuin theologische Perspektive für sie nicht relevant erscheint. Konzentriert wird sich eher auf die philosophische Tradition, die an einigen Stellen mit theologischen Begrifflichkeiten unterlegt wird. Dies lässt sich nochmals im Rückgriff auf Kapitel IV.3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit explizieren. Um den Menschen auch theologisch als würdebegabtes und vorzügliches Wesen zu beschreiben, vollzieht Kreß einen Rückbezug auf Gen 1 und verwendet die Bezeichnung der Gottebenbildlichkeit. Seine Anlehnung an Auslegungsstränge, die sich vorrangig auf die Auszeichnung des Menschen als höchstes Geschöpf beziehen und so wiederum in Korrelation zur Beschreibung des Menschen als vernunftbegabtes Wesen stehen, wurde oben bereits eingehend diskutiert. Insbesondere ist erneut ein Hinweis darauf zu geben, dass die neutestamentlichen Bezüge zu Jesus Christus als Ebenbild Gottes und generell ein christologischer Bezug ausbleiben. Wieder liegt die Einschätzung nahe, dass jene theologisch verwendeten Argumente keine wirkliche Bedeutung für die Argumentation aufweisen, sondern eher zur Unterstützung angeführt werden. Insofern ergibt sich abermals unmittelbar die Frage, welche Funktion der Theologie überhaupt zugestanden wird. Auch die Würde-Konzeption erfolgt nicht theologisch, sondern rechtsethisch. Eine Entwicklung einer (theologisch fundierten) Anthropologie ist gleichwohl nicht auffindbar. Es könnte vermutet werden, dass hierauf verzichtet wird, um eine solipsistisch-autonome Sichtweise auf den Menschen nicht zu gefährden. Denn insbesondere jedes christologische Argument versieht diese Basis mit einem Fragezeichen. Zur Verdeutlichung sei auf die Frage 1 des Heidelberger Katechismus verwiesen, die beschreibt, dass ich „nicht mir, sondern meinem ge768 769

Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960. Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

treuen Heiland Jesus Christus gehöre.“770 Vermutet werden kann nur, dass Hartmut Kreß in Abhängigkeits- oder Beziehungsverhältnissen eine Negation des Subjekts und eine Unterdrückung der Selbstbestimmung vermutet. Eine Befreiung in und zu der Beziehung wird – auch hier – eher nicht wahrgenommen. Gezielt muss erneut die Nachfrage hervorgebracht werden, welche Funktionalität das von Kreß früher entwickelte dialogische Bild vom Menschen als ergänzender Aspekt zur Selbstbestimmung erhält. In seinen jüngeren Darstellungen (wie exemplarisch die soeben dargelegte Argumentationsstruktur zeigt) kommt dieser Aspekt des dialogischen Seins als eine Ebene des menschlichen Seins nicht mehr zur Geltung. Erinnert sei, dass ihm ursprünglich auch eher eine additive Funktion neben dem Aspekt der Selbstbestimmung zugesprochen wird. Ein grundlegend verbindendes Element dieser beiden Stränge war bislang, wie oben dargelegt, nicht ersichtlich. Als Begründung dieses Vorgehens kann letztlich nur eine Vermutung dienen, dass Kreß im Grunde das Proprium der relational-dialogischen Komponente im Menschsein als notwendig erachtet, er es aber aufgrund von Wahrnehmungen von heteronomen Strukturen zurückhalten und zugleich die Autonomie exponieren möchte. Bei genauerer Betrachtung führt dies aber – wie die Aufarbeitung seiner Positionen zeigt – zu einer Negierung der Relationalität mit Überbetonung der in Autarkie übergehenden Subjektzentrierung. Problematisch hieran ist, dass, wie Kreß teils selbst herausstellt, eine wesentliche Komponente des Menschseins aus dem Blick gerät. Die Konzentration auf empirische Maßstäbe zur Betonung eines zur Selbstbestimmung fähigen, kognitivgeistigen Menschen ist merklich. Wertkriterien zu formulieren, kann jedoch eine Gefahr darstellen. Gerade in theologischer Perspektive ist zu fragen, wie eine Anthropologie entwickelt und verantwortet werden kann, die keinen Menschen ausschließt. Stehen diese beiden Komponenten unverbunden nebeneinander, so fehlt eine gangbare, übergreifende Konzeption, die die Ganzheit des Menschen betont und folglich beide Komponenten legitimiert. Gegebenenfalls eröffnet sich diese Möglichkeit gerade mithilfe einer christologischen Anthropologie, was bereits knapp in den Abhandlungen zu relationaler Autonomie und zur Gottebenbildlichkeit versucht wurde.771 Auf einen weiteren Aspekt der entfalteten Argumentation nach Kreß ist Bezug zu nehmen. Er spricht davon, dass jeder, der sein Selbstbestimmungsrecht ausüben möchte, dies auch in Anspruch nehmen kann, so770 771

Evangelisch-reformierte Kirche, Heidelberger Katechismus, 7. Vgl. hierzu besonders die Kapitel III.7 Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs sowie Kapitel IV.3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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lange er „nicht die Grundrechte oder die fundamentalen Interessen anderer Menschen verletzt.“772 Der erstgenannte Aspekt, die Grundrechte einer anderen Person nicht zu verletzen, erscheint als verständlich und insofern eher nicht diskussionsbedürftig. Angefragt werden sollte vielmehr der Zweitgenannte. Was soll es bedeuten, die fundamentalen Interessen anderer Menschen durch die eigene Selbstbestimmung nicht zu verletzen? Folgende kontrastierenden, nahezu subtilen Fragen sind exemplarisch denkbar: Verletzt eine junge Mutter mit ihrer selbstbestimmten Entscheidung auf Behandlungsverzicht ihres Brustkrebses im therapierbaren Stadium die Interessen ihrer Familie? Verletzen Eltern, die den Zeugen Jehovas angehören, die Interessen ihres Kindes, dem sie eine lebensrettende Blutspende verweigern? Solche und ähnliche Beispiele lassen sich konstruieren, um die Fragwürdigkeit der Aussage zu verdeutlichen. In vielen Fällen sind Interessen anderer Menschen von selbstbestimmten Entscheidungen unweigerlich tangiert. Das in Beziehung Sein und Stehen führt zu direkten Schnittmengen der Selbstbestimmung eines jeden mit seinem Gegenüber. Folglich sind die Grenzen der Kreßschen Aussagen nicht klar. Die Zentralität einer solipsistischen Perspektive auf den Menschen, die Kreß wählt, wird erneut deutlich. Hervorgehoben wird dies gleichwohl dadurch, da es alleinig der Mensch selbst ist, der die Maßstäbe seines Handelns vor sich selbst rechtfertigt. Wenn Kreß auch in ethischer Sichtweise feststellt, „dass die eigene, persönliche Perspektive jedes Menschen selbst den Ausschlag dafür gibt, was für ihn – auch für sein Sterben – als würdegemäß zu gelten hat“773 , so ist diese Blickrichtung einerseits subjektbezogen und andererseits nicht theologisch bestimmt. Zu erstem Aspekt wurden Problematiken und notwendige Diskussionen bereits mehrfach entfaltet und es kann festgestellt werden, dass die sich in besonderem Maße in der Lebenswirklichkeit zeigende relationale Dimension des Menschseins vernachlässigt wird. Zu zweitem ist eine theologische Bestimmung dessen erneut nicht auffindbar, bei der die Frage zu stellen ist, anhand welcher Voraussetzungen das in Beziehung Sein zu begründen ist und welche Konsequenzen sich auch hinsichtlich einer persönlichen Verantwortung (für sich und ebenso für Andere) sowie für mögliche Handlungsmaßstäbe ergeben. Die theologische Ebene sollte zudem im Besonderen nach der Beziehung von Gott und Mensch fragen, und danach, welche Konsequenzen von dort ausgehend auf die Ebene Mensch – Mensch resultieren. 772 773

Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 960. Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 961.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Hartmut Kreß fügt in obigen Zusammenhang abermals die Linie der Patientenverfügung ein. Sie wird wieder als Möglichkeit zur Sicherung der Selbstbestimmung und somit des Solipsismus erachtet: „Vor diesem Hintergrund ist es legitim, ja empfehlenswert, dass Menschen in einer Patientenverfügung über den Verlauf ihres künftigen Sterbeprozesses vorsorglich Entscheidungen treffen und dabei z. B. lebenserhaltende Eingriffe Dritter oder eine fremdbestimmte Erhaltung und künstliche Verlängerung ihres Lebens vorab ausschließen.“774

Deutlich wird, dass die Patientenverfügung hauptsächlich als Abwehrinstrument wahrgenommen wird, um sich vor den Gefahren zu schützen, die durch Entscheidungen von Dritten über einen Menschen getroffen werden. Somit beruft sich Kreß darauf, dass das Selbstbestimmungsrecht, die Patientenautonomie und darauf aufbauend der informed consent die Voraussetzung für ärztliches Handeln und Behandeln darstellt. Tendenzen, die diese Rechte des Menschen beschneiden, gilt es mithin zu verhindern.775 Eingehend konnte bereits wahrgenommen werden, dass Kreß ein Verständnis von Freiheit im Sinne einer Entscheidungsfreiheit und somit in inhaltlicher Nähe zur Selbstbestimmung beschreibt und diese als Grundlage der Menschenwürde bewertet. Darüber hinaus kennzeichnet Kreß die Freiheit als dem Leben übergeordnet, da das Leben für ihn nicht das höchste Gut darstellt. Vielmehr gilt es als ein fundamentales Gut, da das Leben die Voraussetzung für die Verwirklichung persönlicher Werte, der Kommunikation oder des Existenzvollzugs bereithält. Insofern ist das Recht auf Leben eines Menschen unbedingt zu achten. „Das elementare Gut des Lebens erhält seinen Sinn von anderen, so genannten höheren, geistigen oder ethischen Werten, zu denen die Freiheit gehört. So betrachtet ist ‚Freiheit‘ dem ‚Leben‘ übergeordnet.“776 Kreß´ Konsequenz, das Leben aus eigener freier Entscheidung zur Disposition zu stellen, steht in Analogie seiner Argumentation. Zugleich beschreibt er es als legitim, in einer Patientenverfügung Zustände zu benennen, in denen das Leben als sinnentleert empfunden wird. Werden diese Hinweise missachtet, so würde nach Kreß das Lebensrecht in Lebenspflicht umschlagen.777 Zudem stellt er eine Differenz zwischen Menschenwürde und Lebensschutz heraus, setzt also keine unmittel774

Kreß, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 961. Vgl. Kreß, Gesundheitsschutz, 815. 776 Kreß, Patientenverfügungen, 27. 777 Vgl. Kreß, Patientenverfügungen, 28. 775

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bare Implikation des Lebensschutzes infolge der Menschenwürde voraus.778 Die theologische Ebene dieser Darstellung kann abermals angefragt werden. Die Begründung des Lebens als fundamentales Gut wird vorrangig nicht mit einem Gottesbezug vorgenommen. Eine Andeutung könnte in den beschriebenen höheren geistigen Werten liegen, was dennoch nicht konkretisiert wird, sondern sich sodann ausschließlich auf die Freiheit des Menschen stützt. Die Frage sei gestellt, woher der Mensch in dieser Argumentation sein Lebensrecht erhält und wodurch so die Schutzwürdigkeit begründet werden kann. Deutlich wird ferner, dass Kreß das individuelle Selbstbestimmungsrecht klar vor einem korporativen wertet.779 Dies ergibt sich als gedankliche Konsequenz seines individualistischen Denkens. Insofern scheint es eher eine Abwehr einer ungewollten Bevormundung zu sein, sich auf Grundlage des persönlichen Selbstbestimmungsrechts von korporativer Selbstbestimmung, wie dies beispielsweise die katholische Kirche lehramtlich formuliert, zu lösen. „Das heißt, die Verknüpfung von Menschenwürde und Freiheit und der Gedanke, dass der Mensch von seiner Vernunft eigenverantwortlich Gebrauch machen kann und soll, sind in unserer Kultur tief verwurzelt – theologisch, philosophisch und seit dem 20. Jahrhundert auch verfassungsrechtlich.“780

Demnach fordert Kreß, dass von der eigenen Selbstbestimmung auch Gebrauch gemacht werden soll. „Wie für kaum eine andere Epoche gilt für die Gegenwart, dass die Menschen zur aktiven Ausübung von Freiheit geradezu genötigt sind. Wir können der Herausforderung gar nicht ausweichen, von unserem Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung tatsächlich Gebrauch zu machen.“781

Ferner unternimmt Kreß im Verständnis der Freiheit eine notwendige Einschränkung, die Freiheit und Selbstbestimmung nicht als ethisches Leitbild entkräften soll, aber darauf verweist, dass Freiheit keineswegs „mit Solipsismus verwechselt werden“782 darf. Folglich ergibt sich Kreß Resultat: „Rechtspolitisch und gesundheitspolitisch sollte alles getan werden, um den verantwortlichen persönlichen Gebrauch von 778

Vgl. Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, 173. Vgl. Kreß, Patientenverfügungen, 31f. 780 Kreß, Selbstbestimmung, 3. 781 Kreß, Selbstbestimmung, 3. 782 Kreß, Selbstbestimmung, 8. 779

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Freiheit zu achten und ihn zusätzlich strukturell, institutionell abzustützen.“783 Dies soll beispielsweise durch eine „Autonomiefördernde Beratung“784 gewährleistet werden, die allerdings „ergebnisoffen, personzentriert und autonomiefördernd angelegt sein sollte[n].“785 Auch zu diesen Aussagen ergeben sich nochmals Rückfragen. Beachtenswert erscheint im Kontext, dass der Gebrauch der Freiheit strukturell sowie institutionell abgestützt werden soll, was beispielsweise Beratungsangebote zu gewährleisten haben. Werden die Aussagen Kreß´ hier ernst genommen, so sollen Institutionen dafür zuständig sein, für Autonomieförderung einzutreten, in dem Sinne, dass sie Strukturen schaffen, in denen oder durch die von persönlicher Freiheit überhaupt erst Gebrauch gemacht werden kann. Hier wäre zu fragen, anhand welcher Grundsätze jene institutionelle Abstützung entwickelt wird, sodass eine Ergebnisoffenheit und Autonomieförderung tatsächlich gewährleistet bleibt. Eine Nähe zum Übergang zu einem institutionellen Paternalismus scheint nicht fern zu liegen. Zudem lässt sich weitergedacht fragen, ob eine solche Strukturierung bereits wieder an Vorgaben grenzt und insofern ebenso dem Paternalismus nahe steht. Diese Gedankengänge widersprechen gewissermaßen früheren Argumenten Kreß´, wodurch sich an dieser Stelle eine Disharmonie andeutet. Gleichwohl konnte aber ersichtlich werden, dass Kreß´ Argumente letztlich zur Stärkung von persönlicher Freiheit und solipsistischer Autonomie beitragen sollen. 3.3 Konklusionen aus Hartmut Kreß´ subjektzentrierter Ethik Zum Abschluss dieses Kapitels, welches sich mit der Argumentation und Theologie Hartmut Kreß´ auseinandersetzt, sollen die wichtigsten Linien und Thesen nochmals zusammengefasst werden. Seine Konzentration auf Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung ist dabei ein entscheidendes Fundament, das vorrangig die Themen zu Patientenverfügung, vorgeburtlicher Diagnostik, Leben, Sterben und Tod beeinflusst. Kreß summiert beispielsweise wie folgt: „Die ethische Logik von Rechts- und Gesundheitspolitik sollte darin bestehen, individuelle Freiheit und Selbstbestimmung zu unterstützen und zu fördern, statt sie einzuschränken. Ein struktureller Ansatz ist es, ärztliche und psychosoziale Beratungsan783

Kreß, Selbstbestimmung, 8. Kreß, Selbstbestimmung, 9 (Fettdruck im Original). 785 Kreß, Selbstbestimmung, 10. 784

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gebote auszubauen, die so angelegt sind, dass sie die Autonomie fördern.“786

Wie einschlägig gezeigt wurde, erhält das Selbstbestimmungsrecht bei Kreß grundsätzlich seine Legitimation durch das Grundgesetz der BRD – bzw. durch seine spezifische Interpretation. „Demzufolge besitzt der einzelne Bürger die Freiheit, über sich selbst zu entscheiden, ohne dass er dies anderen gegenüber begründen und rechtfertigen muss.“787 Kennzeichnend ist, dass unmittelbar ein Selbstbestimmungsrecht mit Freiheit – genauer individueller Freiheit im Sinne von Wahlfreiheit – identifiziert wird. Sogleich zieht Kreß eine normativ-ethische Konsequenz: „Auch ethisch kommt dem Selbstbestimmungsrecht ein besonders hoher Rang zu. Denn es ist unmittelbar aus der Menschenwürde abzuleiten.“788 Insofern zeichnet Kreß das Selbstbestimmungsrecht als eine wichtige Linie mit Legitimation durch die Menschenwürde. Gedankliche Grundlage bietet oftmals – neben der expliziten rechtlichen Verortung – Immanuel Kant, der, so Kreß, die Idee der Menschenwürde mit Autonomie und Selbstbestimmung verbindet.789 Die Geltung der Selbstbestimmung beschreibt Kreß als vollkommene Freiheit über sich selbst. Die Grenzen liegen dort, wo gegen Rechte Anderer verstoßen wird. Darüber hinaus soll sie geschützt und gestärkt, nicht jedoch eingeschränkt werden. Folglich gelten Freiheit und Selbstbestimmung auch bis hin zum eigenen Tod, sogar in Bezug auf (ärztlich) assistierten Suizid oder Verfügungen zum und über das Lebensende. Jenes, auch bereits oben eingehend diskutierte Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung setzt Kreß – mit der Voraussetzung der Allgemeinverständlichkeit, die womöglich verfrüht getroffen wird – als Norm und als Standard voraus. Somit kann er an die Adresse von Theologie und Kirche einen besonderen Appell richten: „Für die christliche Theologie bildet es zweifellos eine hohe Hürde und erhebliche Herausforderung, an heutige Standards des Freiheits- und Selbstbestimmungsrechts gedanklich den Anschluss zu finden.“790 Etwas rigide formuliert, kann der Eindruck entstehen, dass Kreß seine Ansichten als allgemeinverständlich und somit keinen Widerspruch duldend darstellt.791 Zur Untermauerung seiner Fundierung trägt Kreß geschichtliche Bezüge ein. „Das Christentum enthält auch Traditionslinien, die die individuelle 786

Kreß, Selbstbestimmung, 11. Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 24. 788 Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 24. 789 Vgl. Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 24. 790 Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 25. 791 Vgl. Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 25. 787

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Freiheit und Selbstbestimmung hochschätzen.“792 Freiheit und Selbstbestimmung werden ferner in ihrer Bedeutung gestärkt, indem sie die Komponente für gelingendes Leben darstellen. Das Leben „stellt für den einzelnen Menschen die Bedingung dafür dar, persönliche Ziele verwirklichen, mit anderen kommunizieren und Existenzvollzüge realisieren zu können. Da das Leben ein fundamentales Gut ist, gelten ethisch und auch rechtlich die Hilfeleistungspflichten sowie das Gebot der Lebenserhaltung und -rettung. Allerdings bildet das biologische Leben in der Rangordnung der Güter und Werte nicht das ‚höchste‘ Gut.“793

Das Leben erhält vielmehr eine Sinngebung durch geistig oder ethische Werte. „Zu ihnen gehört die Freiheit.“794 Folglich ordnet Kreß Freiheit bzw. Selbstbestimmung und Leben in eine bestimmte Rangfolge ein und zieht daraus eine notwendige Konsequenz. „Weil die Freiheit so betrachtet dem Leben übergeordnet ist, kann es dem einzelnen Menschen nicht verwehrt sein, aus eigener Entscheidung sein Leben unter Umständen zur Disposition zu stellen.“795 Die innere Freiheit von der Welt stützt Kreß zudem auf die womöglich verkürzt verstandene Theologie Luthers. Diese gedanklichen Grundlagen aktualisiert Kreß auf die Medizinethik hin.796 Es zeigt sich, dass er die Fürsorge vor dem Hintergrund seines Verständnisses eher als Korrektiv der Selbstbestimmung und derzeit im Sinne eines Neopaternalismus wahrnimmt.797 Hierbei wird vorrangig ein asymmetrisches für oder über jemanden Entscheiden angenommen. Dass ein Defizit darin bestehen kann, wenn das Subjekt einer Person vernachlässigt wird, wurde bereits in den Darstellungen zu Ulrich Eibach entwickelt.798 Fraglich für den Verlauf der Arbeit bleibt also, wie sich eine ausgewogene Perspektive einnehmen lässt, die weder das Subjekt noch die Beziehungshaftigkeit einer Person verabsolutiert und insofern die Relationalität unter Beachtung der Individualität betont. Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Selbstbestimmung ist in diesem abschließenden Votum nochmals gezielt auf die Konzeption der Menschenwürde nach Hartmut Kreß Bezug zu nehmen. 792

Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 25. Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 26. 794 Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 26. 795 Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 26. 796 Vgl. Kreß, Ärztlich assistierter Suizid, 27. 797 Vgl. Kreß, Patientenverfügungen: Selbstbestimmung, 3; Kreß, Selbstbestimmungsrecht, 6ff. 798 Siehe Kapitel IV.2. 793

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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Resultat der Vorrangstellung des Selbstbestimmungsrechts ist geradezu die Identifikation von Menschenwürde und Selbstbestimmung. Als Begründung für die Menschenwürde nebst der Schutzwürdigkeit des Menschen dient, neben den philosophischen Konstruktionen, in theologischer Hinsicht die imago Dei. Sie wird als unmittelbarer Vorläufer zur Menschenwürde erachtet. Zugleich wird – und dies eher in Interpretation der philosophischen Tradition, besonders Kants – die Menschenwürde in der Vernunftanlage des Menschen verortet, die zugleich die Differenz zu anderen Lebewesen statuiert. Die Darlegungen oben zeigen dazu, dass die Konzentration auf alttestamentliche Bezüge den Gottebenbildlichkeitsbegriff eher nicht in seinem vollen Bedeutungsspektrum erfasst, die starke Anbindung an die Menschenwürde verfrüht erscheint und der dialogisch-relationale Aspekt des Menschseins, der zwar teils benannt wird, dennoch zu kurz kommt. Ferner erfolgt die Perspektive der Darstellungen sehr subjektzentriert, gerade mit Blick auf die Stärkung der eigenen Selbstbestimmung, sodass der Übergang zur Achtung des Gegenübers und seiner Selbstbestimmung mitunter gefährdet erscheint. Bei dem Personenverständnis steht vorrangig der Solipsismus im Zentrum, wobei bereits eine weitere Ebene, die relationaldialogische Komponente, eher additiv hinzutritt und wenig Funktionalität für das Konzept nach Kreß zugesprochen bekommt. Begünstigt wird dies durch das Verständnis von Freiheit als Unabhängigkeit von Anderen. Gleiches gilt für das Verständnis von Autonomie, die ebenfalls solipsistisch sowie als Ausdruck der individuellen Freiheit gewertet wird. Zudem muss nochmals Betonung finden, dass eine argumentative Konzentration auf die Vernunft des Menschen, die ja auch als Begründung für die Menschenwürde angeführt wird, schwerlich theologische Bezugspunkte integriert. Mit den Mitteln der Vernunft lässt sich Gott weder belegen noch negieren. Folglich sollte überdacht werden, wie ein theologisches Konzept zum Tragen kommen kann. An mehreren Stellen fällt auf, dass Begriffsklärungen zu kurz und durchaus vereinseitigend dargestellt werden, wie dies beispielsweise bei den Termini Gottebenbildlichkeit, Freiheit oder Autonomie der Fall war, diese allerdings Zentralität für die Konzeptionen Kreß´ besitzen. Methodisch unterstehen sie dem Ziel, die Selbstbestimmung einer Person zu stärken und vor der Verobjektivierung durch Mitmenschen, beispielsweise in Form einer (eher problematisch verstandenen) Fürsorge, zu schützen. Kreß erweckt durch seine Darstellungen den Eindruck, als wolle er eine Person davor bewahren, der Beeinflussung durch Mitmenschen zu unterliegen, und wendet sich somit auch gegen korporative Selbstbestimmung.

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3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Demgegenüber erscheint seine institutionelle Abstützung799 von Freiheit und Selbstbestimmung eher widersprüchlich. Im Allgemeinen sei nochmals anhand des folgenden Exempels die Rolle der Theologie angefragt, die Kreß ihr zuschreibt. In entscheidender Weise betont er die individuelle und autonome Selbstbestimmung. Jeder soll für sich selbst entscheiden, was richtig und gut, wert und unwert ist. So beispielsweise auch in Bezug auf Behandlungsbegrenzungen: „Was unter ‚erträglich‘ und unter ‚Lebensqualität‘ im Einzelfall jeweils zu verstehen ist, dass und in welchem Ausmaß Schmerztherapie anzuwenden ist und wann Maßnahmen der Lebensverlängerung nicht mehr fortgesetzt werden sollen (passive Sterbehilfe) – dies ist letztlich eine Frage des persönlichen Willens, der Überzeugung, der Religion und Lebens- bzw. der Werteinstellung der betroffenen Patienten selbst.“800

Keineswegs in Abrede gestellt werden soll hier ein subjektives Empfinden, was auch Zustände des Lebensendes in besonderem Maße betrifft und wahrscheinlich keine generalisierende Aussage fordern kann. Dass Menschen an die Grenzen des Ertragbaren gelangen können, entspricht wohl der Realität. Dennoch muss gefragt werden, welcher Herausforderung sich Theologie und Kirche dabei stellen können und müssen. Sollten sie nicht auch gerade Orientierungshilfen zur Meinungsbildung darstellen sowie idealiter eine genuine Sichtweise auf den Menschen eintragen, die womöglich für die Grenzsituationen des Lebens einen entscheidenden Fortgang erwarten lassen können? Kreß hingegen vertritt weniger eine korporative Stärkung, sondern betont die Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung. Dazu, diese auch über die Grenzen der eigenen Äußerungsfähigkeit zu wahren, dient ihm die Patientenverfügung als nutzbares Instrument. „Daher ist es sinnvoll, wenn möglichst viele Menschen frühzeitig Patientenverfügungen verfassen. Hierdurch können sie für den Fall, dass sie sich während eines Krankheits- und Sterbeprozesses nicht mehr äußern können, vorab, präventiv ihren Willen und ihre Wünsche dokumentieren.“801

Folglich verkörpert die Patientenverfügung in den Augen Kreß´ geradezu das Eintreten für die persönliche Verantwortung. Die Verfügung ist Ausdruck wie Garant der individuellen Freiheit und Selbst799

Vgl. Kreß, Selbstbestimmung, 8. Kreß, Medizinische Ethik, 171. 801 Kreß, Medizinische Ethik, 171. 800

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

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bestimmung. Im Konkreten stellen Patientenverfügungen „eine Steigerung menschlicher Verantwortung, nämlich der Verantwortung im Umgang mit sich selbst dar.“802 Ferner tritt in dieser Denkart die Patientenverfügung als Versicherung der eigenen Selbstbestimmung und somit des eigenen Willens ein. Im Gegensatz dazu wird die Ermittlung eines mutmaßlichen Willens durch Andere als unsicher dargestellt.803 Zur Vorsorgevollmacht im Speziellen, die im besonderen Fokus dieser gesamten Arbeit steht, sagt Kreß wenig. Er beschränkt sich darauf, ihre Wichtigkeit zu bekunden, führt allerdings keine tiefere Reflexion durch. So beschreibt er: „Über die Patientenverfügung hinaus ist es ratsam, zusätzlich eine Betreuungsverfügung und Vorsorgevollmacht zu verfassen. Hiermit kann man einen Beauftragten oder Bevollmächtigten benennen, der gegenüber den behandelnden Ärzten Erläuterungen abgeben und stellvertretende Entscheidungen treffen darf. Dem potentiellen Bevollmächtigten wird dadurch ein hoher Vertrauensvorschuss gewährt und eine erhebliche Entscheidungslast auferlegt. Keinesfalls sollten aber Entscheidungen, denen man selbst ausweichen und die man selbst nicht treffen möchte, auf den Bevollmächtigten abgewälzt werden. Daher sollte eine Bevollmächtigung Richtlinien über den eigenen Willen beinhalten, damit der Beauftragte Anhaltspunkte besitzt. Ohnehin sollte vorab eine eingehende Aussprache mit ihm stattgefunden haben.“804

Letztlich kann noch gefragt werden, wie Hartmut Kreß hier seine ursprünglich angestrebte Verantwortungsethik realisiert und ob er tatsächlich stets die Folgen des Handelns im Blick hat. Exemplarisch sei für die Erörterung angeführt, dass er im Horizont der Präimplantationsdiagnostik oder auch der Sterbehilfe Einzelkonflikte wahrnimmt, die ihn zu einer Forderung nach rechtlicher Öffnung bewegen. Fraglich ist aber, ob hier Folgen nahezu unreflektiert bleiben, da eine rechtliche Regelung dazu beitragen kann, einen Grenzfall eher zum Normalfall zu statuieren. Die Frage ist zu stellen, ob Legalität eine gewisse Gewöhnlichkeit impliziert. Es scheint auch unter Betrachtung des grundlegenden Verständnisses der Verantwortungsethik nach Kreß so, als gelte sie nur für das eigene Subjekt, als müsse also Verantwortung für das eigene Handeln übernommen werden – aber eher (nur) für sich selbst. Gleiches zeigt sich bei seiner Wahrnehmung der Patientenverfügung. 802

Kreß, Medizinische Ethik, 171. Vgl. Kreß, Medizinische Ethik, 171. 804 Kreß, Medizinische Ethik, 177. 803

404

3. Die Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung nach Hartmut Kreß

Das Verhältnis beispielsweise zum Gegenüber bleibt auch hier unbeachtet. Demnach erscheint es begründet, Hartmut Kreß´ Ethik wohl als subjektzentrierte Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung zu bezeichnen. Auf dieses Ziel hin ist seine gesamte Darlegung zunehmend ausgerichtet und eine gewisse Instrumentalisierung seiner Argumente wird ersichtlich. Darüber hinaus erschwert es Kreß´ starke Argumentationsweise anhand des Rechtsprinzips argumentativ in den Diskurs einzutreten sowie theologische Argumente tragfähig zu inkludieren. Abschließend sei noch hinzugefügt, dass sich in der Rezension Kreß´ einerseits zeigt, dass spärlich Sekundärliteratur zu seinen Werken auffindbar, andererseits in den wenigen bestehenden Rezensionen überwiegend ein unterstützender Tenor wahrzunehmen ist. Beschrieben werden hierin beispielsweise seine vorurteilsfreien und nicht verabsolutierenden Standpunkte sowie seine Abwägung der Güter nebst Würdigung vorhandener Vorteile.805 Geschätzt wird zuweilen seine Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen, seine Akzentuierung der Rechtsgrundsätze sowie die Betonung der Aufklärung und des Selbstbestimmungsrechts.806 Herausgestellt werden darüber hinaus seine „stets luziden und ausgewogenen Urteile.“807 Hingegen konnte in der Rezeption Kreß´ keine kritische Würdigung der Argumentationsgänge mit besonderem Fokus auf die theologischen Grundsätze aufgefunden werden, welche nun durch die obige Beschreibung seines Vorgehens angestrebt wurde. Die Position von Hartmut Kreß birgt, auch wenn kritische Rückfragen an die Darstellungen gerichtet werden konnten, eine große Hilfe für die vorliegende Arbeit. Diese ist darin zu verorten, dass Kreß – auf seine Weise – wichtige Aspekte des Menschseins zur Sprache bringt, sie betont und nachhaltig unterstreicht. Unmissverständlich wird seine Achtung des Subjektseins und der Individualität des Menschen. Kreß´ Verweise auf insbesondere geschichtlich vorfindlichen Paternalismus sind ernst zu nehmen, was nunmehr seiner Intention Berechtigung verleiht. Jedoch zeigt sich auch, und dies besonders hinsichtlich der Standhaftigkeit seiner Argumentationen, dass seine starke Fokussierung in Vereinseitigung überzugehen droht. Nachdrücklich verfestigt sich dies in der Negation des Menschen als relationales Wesen. Insofern will diese Arbeit im Folgenden versuchen, die wichtigen Linien, die in der Analyse zu Hartmut Kreß ebenso wie zu Ulrich Eibach eruiert werden konnten, aufzunehmen und in die Anfänge eines ausgewogenen Konzeptes, wel805

Vgl. Engelhardt, Rezension zu Hartmut Kreß, Medizinische Ethik. Vgl. Scheliha, Rezension zu Hartmut Kreß. 807 Scheliha, Rezension zu Hartmut Kreß, 300. 806

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

405

ches sowohl die Individualität als auch die Sozialität des Menschen vor Augen hat, zu transferieren.

4. Vergleichende Linien von Ulrich Eibach und Hartmut Kreß Zum Abschluss der vorausgegangenen systematischen Aufarbeitung der Theologien und Ethiken von Ulrich Eibach und Hartmut Kreß sollen nun die sich hier gegenüberstehenden Grunddissense aufgeführt und gebündelt werden. Ziel ist es sodann, auf Basis dessen in den abschließenden Abschnitt dieser Arbeit überzuleiten, in dem schließlich Grundlinien einer Anthropologie gezeichnet werden, die zur Überwindung der vorliegenden, den gesamten Diskurs begleitenden Diastasen beitragen können sowie Essenzen für die Praxis zeigen. Jene theologischen Möglichkeiten einer Anthropologie sollen im Großkapitel V unter Rückbezug auf Eibach und Kreß skizziert werden. Hierfür ist es entscheidend, vorab auf die wesentlichen Aporien zwischen Eibach und Kreß zu rekurrieren. Als zentraler Grunddissens zwischen beiden Theologen, an dem sich jede weitere Argumentation anbindet, kann die Gewichtung von Fürsorge und Autonomie benannt werden. In den jeweiligen Darlegungen ist ersichtlich, wie Eibach die Komponente der Mitmenschlichkeit durch Sorge für einen Menschen stark macht, Kreß hingegen die Stärkung der eigenen Autonomie in Abgrenzung vom Gegenüber herausstellt. Dieses Resultat ergibt sich einerseits durch ihre grundlegend different aufgebaute Argumentation, die andererseits zugleich ihre unterschiedliche Sichtweise auf den Menschen verdeutlicht. Während sich Kreß auf die geltende Rechtsnorm beruft, rekurriert Eibach auf das (passive) Geschöpf- und Angewiesensein des Menschen. Sichtbar ist demnach eine grundlegende Differenz in den Intentionen der Anthropologien, die mithin eine inhomogene Vorstellung des Menschen verursacht: Einerseits geprägt von einer stark schöpfungstheologisch orientierten Beschreibung eines passiven und auf Fürsorge angewiesenen vorfindbaren Menschen, andererseits der primär philosophisch und dezisionistisch geprägte Anspruch, den Menschen als entscheidungsfreies, selbstbestimmtes Vernunftwesen abzusichern. Folglich wird verständlich, dass Eibach ein Durchleiden von Situationen für angemessen halten kann, in denen die Passivität des Menschen etwa durch Krankheit offensichtlich wird, Kreß hingegen Schutz- und Abwehrmechanismen statuieren will, um sein Primat der Selbstbestimmung durch nichts einzuschränken. Die ungleichen Blickrichtungen offenbaren sich darin, dass eine nahezu isoliert vom Subjekt ausgehende Denkrichtung einer den Für-

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4. Vergleichende Linien von Ulrich Eibach und Hartmut Kreß

sorger zentrierenden, welcher auch Maßstab anstehender Entscheidungen ist, entgegengestellt wird. Ebenso different erscheinen die Ziele: Sozialität in Form von Fürsorge als Garant des Lebensschutzes ist mit Abwehr- und Schutzinstrumenten zum Erhalt der (postulierten) Autonomie aus Angst vor Paternalismus zu kontrastieren. Zugleich ist ein Grunddissens über das Verständnis von Leben notwendiges Resultat der vorausgehenden Analysen, sodass Kreß Lebensschutz als sekundär bewerten kann, Eibach hingegen im Lebensschutz den Würdeschutz verortet sieht. Ein ebensolches ungleiches Verständnis ist mit Blick auf Freiheit zu verzeichnen. Hier steht ein Verständnis von Freiheit als Abhängigkeit im Verzicht auf Autonomie dem von Freiheit als nahezu ausschließlich das eigene Subjekt betreffende Wahl-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gegenüber. Die unterschiedlich gezeichneten Formen der Menschenwürde divergieren, wobei sie mitunter auf beiden Seiten theologisch mithilfe der Gottebenbildlichkeit begründet werden. Eibach zeichnet die Menschenwürde als Resultat und Zusage durch das Geschöpfsein des Menschen, sodass Autonomie keinerlei Voraussetzung für Menschenwürde darstellt, sogar eine Gleichsetzung von Autonomie und Würde aktiv verneint wird. Eine wichtige Komponente in seiner Konzeption ist die eschatologische Hoffnungsperspektive, die Würde und Gottebenbildlichkeit im ewigen Leben vollendet sieht, sodass von dort ausgehend durch eine retrospektive Sinnzuschreibung auch das irdische Leben sich von Würde geprägt verstehen kann. Wichtiger Aspekt ist dabei, dass die Würde eines Menschen von außen (durch den Fürsorger) gesichert werden muss, was sich etwa im (generellen) Lebensschutz konkretisiert. Im Gegensatz dazu beschreibt Kreß die Menschenwürde als durch das Rechtsprinzip anzusehenden theoretischen Konsens, der zudem analogisch mithilfe der Gottebenbildlichkeit in einen Verstehens- und Begründungszusammenhang transferiert wird. Maßgeblich werden die Begriffe Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung zur gegenseitigen Erklärung eingesetzt, sodass Kreß etwa beschreiben kann, dass die Würde des Menschen auf der Fähigkeit zur freien Entscheidung beruht. Es kann sogar eine Gleichsetzung von Würde und Selbstbestimmung im Sinne von Kreß´ neuzeitlichem Naturrechtsverständnis aufgefunden werden. Funktion des Leitbegriffes Menschenwürde ist, die Unverfügbarkeit des individuellen Lebens zu sichern, sprich den äußeren Rahmen für (solipsistisch) autonome Entscheidungen für und über das eigene Leben zu gewähren. Freiheit und Selbstbestimmung gründen als Individualrechte und als normatives Primat des Menschlichen in der Menschenwürde. Ein Schutz der Menschenwürde erfolgt demnach dar-

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

407

in, dass die (Möglichkeit zur) Selbstbestimmung nicht eingeschränkt und Autonomie gefordert und gefördert wird. Vor diesen Hintergründen ergeben sich evidente Bewertungen speziell für die Patientenverfügung. Eibach sieht sie aufgrund ihrer verkörperten Fiktion der Autonomie und Selbstbestimmung, auf welcher sie durch ihre Negation der Angewiesenheit auf Beziehungen fußt, notwendigerweise kritisch. Letztlich würde die Ausschaltung des Instruments der Patientenverfügung seiner Position entsprechen; Eibach kann es gar als Freiheit formulieren, auf die Patientenverfügung zu verzichten. Seine Erfahrung in der Praxis zeigt auf, dass die Verfügung nicht praktikabel ist, wodurch ein Verweis auf diverse kritische Aspekte erfolgt. Für Hartmut Kreß jedoch scheint die Patientenverfügung geradezu der individuelle Ausdruck der eigenen Selbstbestimmung zu sein und ist somit uneingeschränkt positiv zu bewerten. Sie gilt als Instrument zur Nutzung der individuellen Schutz- und Abwehrrechte sowie als Schutz vor Paternalismus. Ferner ist ein Rechtsprinzip auffindbar, wodurch die Patientenverfügung von Kreß Befürwortung erhält, da sie bereits eine rechtliche Bekräftigung erfahren hat. Unter der Voraussetzung, dass der prospektive Wille mit dem zukünftigen gleichzusetzen ist, können mithilfe der Patientenverfügung ungewollte Lebenszustände abgewehrt und ein Sterben in Würde realisiert werden. Die Verfügung ist das Resultat der persönlichen Vorsorgeverantwortung und ihre Gültigkeit ist unbedingt zu schützen, auch, indem die Selbstbestimmung bezüglich der Art der Festlegungen innerhalb der Patientenverfügung nicht eingeschränkt wird. Autonomie und Freiheit, und damit auch die Menschenwürde, werden nach Kreß durch die Patientenverfügung gesichert. Damit ist vorausgesetzt, dass der Mensch isolierte und prospektive Festlegungen zu Grenzbereichen des Lebens treffen und überblicken kann. Dieses einseitig positive Bild der Möglichkeiten der Patientenverfügung vernachlässigt, wie im entsprechenden Kapitel tiefergehend erläutert, existierende Kritik und zeigt Tendenzen einer Überbewertung der Patientenverfügung. Obwohl Eibach und Kreß sich höchstens am Rande mit dem Instrument der Vorsorgevollmacht auseinandergesetzt haben und somit keine Gesamtkonzeption zur Vorsorgevollmacht anbieten, können auf Grundlage ihrer Vorsorgeethiken Linien und Spuren auf die Vorsorgevollmacht hin neu gezogen werden. So lässt sich etwa konstruieren, dass die Vollmacht von Ulrich Eibach wahrscheinlich positiv bewertet werden müsste, da sie es gerade zu sein scheint, die die Aufgabe zur Entscheidungsübernahme für Andere und damit die rechte Lebensweise in Mitmenschlichkeit wahrnimmt. Mithilfe der Vorsorgevollmacht kann eine

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4. Vergleichende Linien von Ulrich Eibach und Hartmut Kreß

Fürsorgeethik evident realisiert werden. Gleichwohl offenbart sich hierin erneut die bereits viel diskutierte Kritik an die Konzeption Eibachs, das Gegenüber zu objektivieren und ein reines Für zu gestalten. Dass hierin eine Vereinseitigung liegt, die offenkundig nicht die Vorsorgevollmacht überschatten sollte, deutet sich bereits an. Obwohl nun Kreß keinen aktiven Einwand formuliert (außer, dass er die Mitteilung von Richtlinien zum persönlichen Willen als wichtig empfindet808 ), kann einerseits der Eindruck entstehen, dass die Vorsorgevollmacht nicht in seine Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung passt. Das Wesen der Vollmacht zeichnet ja gerade aus, dass sie auf Sozialität aufbaut und eine Vertrauensperson bevollmächtigt, Entscheidungen zu treffen. Da Kreß aber vielmehr darauf ausgerichtet ist, sich durch den Gebrauch individueller Abwehrrechte dem Verfügungsbereich des Gegenübers zu entziehen, zeigt sich aus dieser Perspektive erneut, dass er grundsätzlich nicht relational denkt und somit die Vorsorgevollmacht eher negieren müsste. Andererseits spricht er sich jedoch selbst am Rande eher positiv für die Vorsorgevollmacht aus, wodurch eine weitere Perspektive auf die Vollmacht aufgeworfen wird: So erscheint es gerade als Ausdruck von Individualität und Selbstbestimmung, eigenverantwortlich eine Vertretungsperson zu bestimmen. Ersichtlich wird somit, dass gerade die Vorsorgevollmacht das Instrument zu sein scheint, welches die Ebenen der Individualität und der Sozialität miteinander verbindet. Darüber tiefergehend zu reflektieren wird Aufgabe im nächsten Großkapitel sein. Abschließend sollen nochmals die Gesamtkonzeptionen Eibachs und Kreß´ sowie darin die jeweilige Rolle der Theologie vor Augen geführt werden. Hingewiesen sei darauf, dass die Ursprungskonzeption jeweils im zeitlichen Verlauf verlassen wird, was sich besonders stark bei Kreß´ zu zeigen scheint. Waren beim frühen Kreß relational-dialogische Elemente vorhanden, so kann seine spätere Ethik als (solipsistische) Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung beschrieben werden. Eibach verändert seine Perspektive eher darin, sich stärker in von paternalistischen Strukturen bedrohte Positionen zu begeben sowie seine bundestheologisch-christologische Grundlegung in eine schöpfungstheologisch-eschatologische Ausrichtung übergehen zu lassen. Rein quantitativ betrachtet scheint einer theologischen Konzeption bei Eibach ein höherer Wert zuzukommen, wobei auch hier gezeigt werden konnte, dass an sein Konzept Anfragen der Stringenz zu stellen sind sowie theologische Argumente beim späten Eibach nahezu verschwinden. Hingegen verwendet Kreß theologische Argumente eher analogisch, was die genuine 808

Vgl. Kreß, Menschenwürde im modernen Pluralismus, 132.

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

409

Notwendigkeit der theologischen Aussagen anzweifeln lässt. Dabei obliegt ihm das Ziel, eine (allgemein-)gesellschaftlich tragende Ethik zu formulieren, während andererseits eine christliche Sonderethik vorgestellt wurde. An beiden Konzeptionen ist kritisiert worden, dass sie dem Gegenstand der Theologie nicht umfassend gerecht werden. Die Zieldimension der weiteren Arbeit insistiert darauf, eine theologische Ethik anzubieten, welche auf breitem Fundament steht und zudem Sondersituationen berücksichtigt und zulässt. Zu zeigen wird sein, dass eine Anlehnung an Karl Barth dem Vorhaben naheliegt. Damit ist der Intention Rechnung zu tragen, dass eine derartige, explizit theologische Ethik innerhalb einer pluralen Gesellschaft ihren Platz findet. Gesehen werden konnte also, dass die Konzeptionen von Ulrich Eibach und von Hartmut Kreß je für sich auf entscheidende, beachtenswerte und notwendige Elemente einer Anthropologie verweisen. Reduktionistisch erscheint bei beiden, dass sie einerseits kaum genuin theologische Beschreibungen hervorbringen, wodurch Rückfragen an die Argumentationsstringenz gestellt werden mussten, andererseits infolge ihrer reduzierten Perspektive auf den Menschen seine Ganzheit aus den Augen verlieren und in Vereinseitigungen münden. Jene dissensgeprägten Strukturen und kritischen Analysen sollen im weiteren Verlauf der Arbeit dazu beitragen, Grundlinien eines Konzeptes zu bahnen, welches die Ganzheit des Menschen betont und auf die Vorsorgevollmacht hin konkretisiert werden kann. Zuvor soll ein inhaltlicher Gesamtrückblick über die Erkenntnisse der Abschnitte III und IV einen Ausblick auf die Intention der folgenden Erarbeitung gewähren.

5. Rückblick und Ausblick Die Großkapitel III und IV haben bislang entscheidende Einsichten zur Situationsanalyse rund um das Thema Vorsorge und daherkommend einen Eindruck von der Vorsorgevollmacht sowie der mit ihr unweigerlich im Zusammenhang stehenden Patientenverfügung gewinnen können. Die zentrale Frage nach Autonomie und Fürsorge und einer entsprechenden Notwendigkeit eines belastbaren anthropologischen Konzepts ist eminent wichtig geworden. Einerseits wurde die Genese der Situation dahingehend verdeutlicht, dass sie – herkommend von der Abkehr vom vormaligen Vormundschaftsrecht – eine Stärkung der Selbstbestimmung, speziell in Form der Patientenautonomie, sowie einen Schutz vor einem Ausgeliefertsein der hoch technisierten medizinischen Möglichkeiten erreichen will. Deutlich wurde in allen eingenommenen Blickrichtungen, dass die Fra-

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5. Rückblick und Ausblick

ge nach einer Gewichtung von Autonomie und Fürsorge Zentralität erhält und sich hierzu äußerst differente Einstellungen aufzeigen lassen. Etwa die rechtspolitische Debatte mit ihren entsprechenden Gremienempfehlungen konnte dies exemplifizieren. Taupitz beschreibt dazu: „Der unausweichlich gegebene Spagat zwischen (Recht zur) Selbstbestimmung (mit der Gefahr der Selbstschädigung) einerseits und Schutz und Fürsorge für den Betroffenen (mit der Gefahr der Fremdbestimmung) andererseits stellt das Kernproblem der Diskussion um die Patientenautonomie am Lebensende dar.“809

Dass gerade bereits debattierte Problematiken und Diastasen der Patientenverfügung auch heute noch Bestand haben sowie mitunter in der Praxis Bestätigung finden, ist eine weitere Erkenntnis der vorausgegangenen Aufarbeitung. Deutlich herausgestellt wurde an mehreren Stellen, dass eine wohlverstandene Autonomie eine ebenso wohlverstandene Fürsorge zur Voraussetzung hat und beide miteinander in einem Wechselverhältnis stehen. Wird hingegen jedes Konzept für sich verabsolutiert, können problematische Reduktionen – besonders das Menschsein betreffend – diskutiert werden. Ein Exempel dieser Kontrastpositionen statuieren Ulrich Eibach und Hartmut Kreß. Nicht selten wurde dabei der Hinweis auf ein zu knappes Verständnis maßgeblicher Begrifflichkeiten, an die sich die Argumentationen anbinden und welche folglich als conditio sine qua non grundgelegt werden sollten, gegeben. Erinnert sei etwa an die Topoi Gottebenbildlichkeit, Menschenwürde, Freiheit oder Autonomie, die innerhalb der differenten Positionen durchaus aporetisch verstanden werden. Mitunter konnte binnen der Diskurse auf ein für diese Arbeit entscheidendes Verständnis jener Begriffe hingedeutet werden, was zudem in der nun folgenden Darstellung nochmals dezidierter in Form einer Weiterführung aufgegriffen werden soll. Exemplarisch verdeutlichte dies bereits der Begriff der Autonomie, der einerseits im Sinne von Autarkie verstanden zu eindimensional und nicht praktikabel zu sein scheint, andererseits durch die hervorgebrachte Begriffsanalytik sui generis ein relationales Element aufweist. Die theologische Reflexion der Autonomie konnte sie bereits als relationale Autonomie kennzeichnen. Hierbei erschienen sowohl das Selbst-Sein als auch das Mit-Sein als Grundpfeiler, wodurch wiederum eine Allianz von Autonomie und Fürsorge sichtbar wurde. Auffällig ist, dass auch die Theologie ein Spiegel der Dissense in der Gesellschaft und interdisziplinär zu sein scheint. Wie die Darstellung 809

Taupitz, Die Debatte, 123 (teils Fettdruck im Original).

IV. Bestehende theologische Konzeptionen

411

der Theologien und Ethiken von Hartmut Kreß und Ulrich Eibach aufweisen konnten, existieren hier ebenfalls jene konträren Positionen, an denen sich die Diskurse entzünden. Auf der einen Seite findet sich das (im Hinblick auf die vergangene Geschichte berechtigte) Bestreben wieder, die Autonomie sowie die Selbstbestimmungsfähigkeit und möglichkeit zu stärken, um gegen paternalistische Strukturen und letztlich Unterdrückung anzugehen. Auf der anderen Seite wird diese Absolutheit stark infrage gestellt sowie bezweifelt, ob sich dieser Anspruch in die Realität des Menschen einfinden kann. Exponiert wird hier hingegen die Fürsorge, die als das Wichtigste, auch durch Krankheit und Schwäche hindurch, begegnet. Beide Ansätze treffen auf Kritik, indem sie je für sich eine wichtige Komponente des Menschseins außer Acht lassen. Einige Tendenzen sind vorzufinden, die die Möglichkeit zu einem verbindenden Glied sehen. Die Frage und Aufgabe besteht nun darin, einen dritten, gangbaren Weg zu entwickeln, der jene Komponenten verbindend inkludiert und zugleich beide je für sich akzeptiert: „Tertium datur?“810 Es kann nochmals die These formuliert werden, dass in besonderer Weise die Theologie hierfür heranzuziehen ist. Warum gerade die Anthropologie Karl Barths, die in den vorausgegangenen Darstellungen bereits angeklungen ist, die geeignete zu sein scheint, um die gezeigten Schwierigkeiten Eibachs und Kreß´ zu überwinden, wird sodann zu zeigen sein. Erwartet wird, dass mithilfe von Barth die aporetischen Reduktionen der bereits vorgestellten Konzeptionen bewältigt werden und eine von Barth herkommende Perspektive auf den Menschen einen Mehrwert sowie Praxistauglichkeit als Resultat hervorbringt. Zu betonen ist dabei gezielt, dass Barths Theologie entgegen der Ansätze Eibachs und Kreß´ sich nicht exklusiv auf die medizinische Ethik bezieht. Resultat ist, dass aus seiner binnentheologischen Anthropologie heraus eine konkrete Linie für die medizinische Ethik, im Speziellen für das Themengebiet um die Vorsorgevollmacht, fruchtbar gemacht wird. Folglich ergibt sich unweigerlich eine andere Ebene, auf der die Darstellungen im Folgenden fußen. Barths Theologie und Anthropologie stellt so eine Hilfe dar einen neuen, integrierenden und überwindenden Weg zu gehen. In den Diskussionen konnte an vielen Stellen kenntlich gemacht werden, dass ein relationales Verständnis des Menschen auf hervorgebrachte Dissense einträglich reagiert und jenes insbesondere theologisch durch eine christologische Anthropologie grundgelegt werden kann. „‚Unsere Selbsterkenntnis kann daher nur ein Akt der Nachfolge 810

Plasger, Einladende Ethik, 133 (Formatierung d. Vf.).

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5. Rückblick und Ausblick

sein‘“811 , beschreibt etwa Busch in Anlehnung an Barth. Denn wird der Mensch in seinen Relationen betrachtet, so sind Autonomie und Fürsorge eminent wichtig. Aufgabe des folgenden Abschnitts V ist es nun, die bereits entfalteten Erkenntnisse zum einen in Ansätzen weiter theologisch auszubauen, die diskutierten Schwierigkeiten bei Eibach und Kreß überschreitend aufzunehmen sowie ein Konzept zu skizzieren, welches über die Aporien Eibachs und Kreß´ hinausführt. Zum anderen ist eine Verbindung zur Vorsorgevollmacht zu kennzeichnen, welche insbesondere in den Kapiteln V.3 und V.4 der Arbeit vertieft wird. Die Theologie kann in den bestehenden Diastasen weiterhelfen, weil sie einerseits eine Auszeichnung des Menschen begründen kann und andererseits hiermit zugleich ein Anspruch inkludiert. Kennzeichen dessen ist die bundespartnerschaftliche Auszeichnung des Menschen durch Gott, die in Jesus Christus offenbar ist. Insofern scheint die christologische Anthropologie dazu geeignet zu sein, ein anthropologisches Konzept der Achtung und des Auftrages des Menschen zu entwickeln, zu begründen und schließlich auch umzusetzen. Hervorzuheben sein wird folglich, auf welche sich zu Eibach und Kreß stellende Fragen eine relationale Anthropologie angemessen reagiert.

811

Busch, Die grosse Leidenschaft, 202.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

1. Einleitung Das vorliegende, die Arbeit abschließende Großkapitel V hat eine doppelte Funktion. Einerseits dient es dazu, die im Abschnitt IV geführten Diskussionen zu Eibach und Kreß integrierend aufzugreifen und weiterzuführen. Deutlich wurde dort etwa, dass die rezipierten Theologen je für sich auf entscheidende Ebenen des Menschseins rekurrieren – auf das in Beziehung Sein des Menschen zum Mitmenschen sowie auf seine Subjekthaftigkeit. Zugleich konnten bei beiden, neben Anfragen an ihre theologische Fundierung und Argumentationsweise, auch reduktionistische Strukturen aufgefunden werden. Dass Karl Barths Anthropologie für eine integrierende und weiterführende Position eine Hilfe darstellt und auch schon in der vorausgegangenen Aufarbeitung mit ins Gespräch gebracht wurde, ist bereits in Kapitel IV.1 eingeleitet und ferner im bisherigen Verlauf deutlich geworden. Erste Funktion des vorliegenden Abschnitts ist es folglich zu beschreiben, dass mit Barth – und wie sich noch zeigen wird insbesondere in der Interpretation Dominik A. Beckers – die unverzichtbaren Elemente Eibachs und Kreß´ ausgewogen aufgenommen sowie Vereinseitigungen umgangen werden können. Zur genaueren Begründung dieses Fortgangs mit Barth ist zuerst Barths eigene theologische Anthropologie skizzenhaft darzustellen. Hierbei kann es nicht Ziel sein, sein Modell als dritten, verbindungslosen Weg zu analysieren. Vielmehr wird der Erkenntnis Rechnung getragen, dass Einsichten, die besonders seine relationale Anthropologie charakterisieren, im Verlauf der gesamten Arbeit immer schon angesprochen wurden. Da nun Barths Theologie nicht als drittes, eigenständiges Modell herangeführt wird, kann auf eine vollständige Analyse verzichtet und ein skizzenhafter Überblick angeboten werden. Ziel ist es dabei kenntlich zu machen, wie mithilfe Barths je Eibachs und Kreß´ Anliegen integrierend weitergeführt werden können. Das Kapitel V.2 hat folglich die Aufgabe zuerst in Barths Perspektive skizzenhaft einzuführen. Zugleich dient dieses Kapitel im Rückblick auf den Abschnitt IV dazu, die bereits geführten Diskussionen in Anlehnung an Barth zu untermauern. Angestrebt wird nun, aufzeigen zu können, wie

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1. Einleitung

die in Kapitel IV bereits eingebrachte Barthsche Argumentationsweise zu verorten ist. Weiteres Ziel, welches die zweite Funktion des vorliegenden Abschnitts verdeutlicht, ist es dann, ausgehend von der justierten Perspektive einen Zugang zur Vorsorgevollmacht sowie den ethischen Konkretionen und Implikationen zu ziehen. Die gewonnenen Grundlinien der Barthschen Konzeption einer relationalen Anthropologie und Ethik sind auf den (medizin-)ethischen Kontext hin für die Praxis weiterzuführen und so tiefergehend und praxisorientiert zu konkretisieren. In besonderer Weise soll hierbei die Vorsorgevollmacht bzw. der Umgang mit der Vorsorgevollmacht in den Fokus der Betrachtung rücken. Nachdrücklich sind Implikationen auf Grundlage der theologischen Anthropologie zu entwickeln, die in diesem Kapitel auf die vorhandenen Konzeptionen Eibachs und Kreß´ reagieren und sie mithilfe Barths relationaler Anthropologie weiterführen. Apodiktische Urteile sind dabei ausdrücklich nicht das Ziel, weil sie – wie noch zu zeigen sein wird – dem zugrunde liegenden anthropologischen Konzept widersprechen. Bedeutsam bleiben dennoch Ausblicke auf überblicksartige Orientierungslinien zu prägnanten Problemfeldern in der Praxis, die als Antwort auf sich stellende Herausforderungen zu formulieren sind. Folglich kann der Schlussteil der Arbeit keine kasuistische Klärung jeglicher sich stellender Fragen hervorbringen. Methodisch sind folglich einige Linien als Skizze des Barthschen relational-anthropologischen Konzeptes, unter Zuhilfenahme der Interpretation Dominik A. Beckers, nachzuzeichnen (Kapitel V.2). Sodann sind solche Elemente aufzugreifen, die in besonderer Weise den Zusammenhang zur Ethik verdeutlichen und nachdrücklich im Rückblick, Vergleich und in Abgrenzung zu Eibach und Kreß den veränderten Fokus auf den Menschen für die Praxis hin gewinnbringend nutzen (Kapitel V.3 und V.4). Der Zusammenhang von Sein und Aufgabe des Menschen wird stets vor Augen stehen. Pointiert soll darauf hingewiesen werden, wo und wie sich relationale Anthropologie und Ethik kompositorisch und konstitutiv im spezifischen Blick auf die Vorsorgevollmacht vergegenwärtigen kann und warum gerade die Vollmacht dieses Konzept aufzunehmen und zu realisieren scheint. Darüber hinaus werden signifikante Probleme aus der Praxis anzusprechen sein. Es geht hier nunmehr um den Ertrag der relationalen Anthropologie und Ethik für die Vorsorgevollmacht, zu dem sich die aufzuzeigenden Linien formieren.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth Die im vorausgegangenen Abschnitt IV beschriebenen Schwierigkeiten um die Konzeptionen Eibachs und Kreß´ werfen die Frage auf, wie die vorhandenen Aporien überschritten und argumentativ mit Barth eingebunden werden können. Insbesondere mit Blick auf Eibachs Fürsorgeverständnis im Gegenüber zu Kreß´ Autonomieverständnis ist konstitutiv zu klären, wie hierauf geantwortet werden kann, um die Problematik der Vereinseitigung des Menschseins zu umgehen. Inhaltlich stehen nun verschiedene Felder im Fokus: Ausgehend von den vorherig analysierten theologischen Konzeptionen Eibachs und Kreß´ sollen die sich stellenden und persistierenden (theologischen) Fragestellungen zu Sein und Aufgabe des Menschen aufgegriffen und mithilfe der Skizzierung einer relationalen Anthropologie und Ethik zusammengeführt sowie dadurch zugleich in ihren diskutierten Ungereimtheiten überboten werden. „Dabei gehen die anzustellenden Überlegungen von der konstitutiven Zusammengehörigkeit von Sein und Aufgabe, von Anthropologie und Ethik in ihrem ‚Verhältnis reziproker Implikationen‘ aus, und kommen nur mit Blick auf die anthropologischen Erkenntnisse und deren Zentrum, der ontologischen Relationalität, zu ethischen (Gestaltungs-)Aussagen.“1

Ziel ist es hier aufzuzeigen, was unter einer relationalen Ethik nach Barth grundsätzlich zu verstehen ist, um schließlich begründet darzulegen, warum gerade die Vorsorgevollmacht in dieses Konzept zu passen scheint. In den Blick genommen werden in diesem Zusammenhang zudem Konkretionen einzelner wichtiger Begrifflichkeiten, die das Themenfeld bestimmen und beeinflussen, wie dies etwa bei dem Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs (Kapitel III.7) bereits erfolgt ist. Herausgestellt werden soll also, wo der integrierende Fortgang und demnach auch der Mehrwert dieses relationalen Konzepts in Abgrenzung zu den bisherigen Linien zu verorten ist und (dies wird dann in den folgenden Kapiteln der Arbeit besondere Wichtigkeit erfahren) welche Konkretionen für die Praxis von dieser Perspektive ausgehend zu ziehen sind. 2.1 (Theologische) Einsichten der vorausgegangenen Kapitel Mit dieser einleitenden Standortbestimmung soll vorrangig nochmals retrospektiv auf Ulrich Eibach und Hartmut Kreß geschaut werden, um 1

Becker, Sein, 277.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

darauf zu rekurrieren, an welchen Ansatzpunkten bereits in der Darstellung der Hinweis auf eine relational-bundespartnerschaftliche Argumentation als verbindende und weiterführende Größe ersichtlich wurde. Würdigung und Kritik beider Konzeptionen werden demnach in Grundzügen erneut aufgegriffen, ohne sie allerdings en détail zu wiederholen. Fokussiert wird, welche Fragen sich auf Grundlage der jeweiligen Leitlinien Eibachs und Kreß´ ergeben, auf die eine relationale Anthropologie nach Barth, die diesbezüglich einen Mehrwert beansprucht, antworten muss. Die bereits geführten Analysen und Diskussionen aus dem Abschnitt IV werden hierbei vorausgesetzt, sodass im Folgenden knappe Verweise auf die Problematiken als ausreichend angesehen werden, um Redundanzen zu umgehen. Übergreifend erscheint es nennenswert, dass beide Theologen in ihren Frühwerken bereits eine dialogisch-partnerschaftliche Anthropologie zugrunde legen, aber deren Argumentationsstringenz insbesondere theologisch anzufragen ist. Bei Eibach war vornehmlich in den Kapiteln IV.2.2 und IV.2.3 die Frage nach einer Verbindung bzw. nach der Vermischung von Bundes- und Schöpfungstheologie mit Eschatologie, der Lehre von den letzten Dingen in der Hoffnung auf Vollendung, zu stellen. So geraten Argumente, die ihre Mitte in der Schöpfung haben und eine natürliche Zuordnung für Aussagen zum Menschsein voraussetzen, in ein ungeklärtes Verhältnis zu jenen mit ihrer Mitte in Jesus Christus. Bei Kreß konnte kein argumentativ verbindendes Element in der Darstellung seines Personseins als einerseits relational-dialogisches Wesen mit andererseits dem Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen aufgefunden werden, wodurch eine Konzentration auf zweitgenannten Aspekt nachzuzeichnen war. Hier deutet sich bereits an, dass mithilfe einer christologisch-bundespartnerschaftlichen Anthropologie eine Integration dieser Linien des Menschseins aufgegriffen werden kann sowie mithin eine fundiert-theologische Argumentationsbasis zu schaffen ist, auf die aufbauend schließlich Aussagen für die Praxis zu treffen sind. Explizit ist sodann die Frage zu stellen, warum die (christologische) Relationalität geeignet ist, um ein ausgewogenes Menschenbild zu zeichnen, und auch bereits in den Analysen der vorausgegangenen Kapitel einige Linien dessen aufzufinden sind. Hierzu ist anzumerken, dass die Perspektive auf den Menschen entscheidend ist: „As a creation of God, the human being can be considered only in the context of his or her relation to God, and subsequently to other persons.“2 Der Mensch steht grundsätzlich in Relation zu Gott und daraufhin auch in Relation zum Mitmenschen. Infolge der Verbindung zur Gottesdi2

Price, Karl Barth´s Anthropology, 99.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

417

mension erfolgt kein defizitärer Blick auf den Menschen. Die nähere Bestimmung dessen wird Inhalt der folgenden Kapitel sein. Es eröffnet sich die Möglichkeit einer durchgängigen theologischen Begründung, welche in beiden Konzeptionen bemängelt wurde. Des Weiteren wird sich zeigen, dass dieses Konzept Eibachs Ruf nach einer nicht-exklusiven Anthropologie, der Stärkung des Lebensschutzes und der ontischen Angewiesenheit des Menschen sowie Kreß´ Rekurs auf die Subjektstärkung beachtet und beide Aspekte – ohne sie zu verabsolutieren – integriert. Zugleich findet die teils von beiden Theologen formulierte unverlierbare, von außen konstituierte Würde des Menschen Begründung und ein Verständnis der Gottebenbildlichkeit kann, wie bereits im Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit (Kapitel IV.3.2.1) vorgestellt wurde, christologisch-bundespartnerschaftlich eingebunden werden. Zugleich wird hierbei der von Eibach stark gemachte Aspekt berücksichtigt, dass der Mitmensch mitunter für die Würde seines Gegenübers eintreten und sie realisieren muss. Gleichwertig wird die Kreßsche Betonung, die Individualität nicht zu vernachlässigen, ebenso inkludiert. Folglich eröffnet sich die Möglichkeit, die Kontrastierung einer zu stark betonten Fürsorge, die in Paternalismus überzugehen droht, mit einer Autonomie, die in der Gefahr des Solipsismus steht, in positiver Weise aufzugreifen und christologisch-bundespartnerschaftlich ausgewogen darzustellen. Gewürdigt werden kann dabei nochmals, dass einerseits wichtige Erfahrungen aus der Praxis zur Sprache kommen, andererseits auf entscheidende geschichtliche Fehlentwicklungen im Hinblick auf geschehene Heteronomie Bezug genommen wird. Beide analysierten Positionen als solche sind also ernst zu nehmen. Weiterhin bleibt jedoch kritisch zu fragen, ob das volle Menschsein ge- und beachtet wird. Die Chance ist aufgezeigt, mithilfe des genuin theologischen Blicks auf den Menschen, welchen Karl Barth anbietet, die Ganzheit des Menschen grundzulegen sowie darin den Wert der Theologie, in diesem Sinne insbesondere für die Ethik und damit auch für den Umgang mit der Vorsorgevollmacht, darstellen zu können. Das Entscheidende dieses Kapitels ist somit die Perspektive auf das Menschsein. Andeutung findet also, dass eine gewisse Integration der Konzepte von Eibach und Kreß durch die Beziehungsebene, der Relationalität auf verschiedensten Ebenen, möglich ist. Naheliegend erscheint dies einerseits im Hinblick auf die in den gesamten Kapiteln III und IV entfalteten Erkenntnisse, in denen bereits mehrfach Andeutung fand, dass die Relationalität dem ganzen Menschsein gerecht wird. Jene Relationalität

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

ergibt sich ferner naheliegend von der biblischen Botschaft her, was im nächsten Kapitel tiefergehend entfaltet wird. 2.2 Skizze eines relationalen Konzepts in Anlehnung an Karl Barth und Dominik A. Becker 2.2.1 Hinführung Relationalität ist ein derzeit viel verwendeter Begriff und ist so auch als bestehendes Moment in der Theologie anzutreffen.3 Folglich liegt es nahe, auf dieses aufzubauen. Für die vorliegende Arbeit ist insbesondere, wie schon in den vorausgegangenen Kapiteln verdeutlicht werden konnte, Karl Barth von Relevanz, da er stets – und das besonders im Rahmen seiner Kirchlichen Dogmatik – den Menschen als Beziehungswesen wahrnimmt. Der Mensch kann als Geschöpf nur vom Schöpfer her und daher als Wesen in Beziehung zum Schöpfer angemessen verstanden werden. Die Grundbestimmung des Menschen ist es, Bundespartner Gottes zu sein. Dies umfasst das Sein in Beziehung zu den Mitmenschen, das Verhältnis von Leib und Seele sowie das Verhältnis des Menschen zur Zeit. In Jesus Christus wird dieser Bund zwischen Gott und Mensch gehalten. Er ist der wahre Mensch. Anthropologische Aussagen sind daher nach Barth nur auf Basis der Christologie zu gewinnen und zeichnen so ein ausgewogenes Menschenbild.4 „Damit ist angedeutet, daß hier Theologie keine menschenferne Theorie ist.“5 Mithilfe der Relationalität wird nun der Aspekt umrissen, welcher die vorliegenden Vereinseitigungen Eibachs und Kreß´ dadurch bereinigt, dass der Mensch weder isoliert noch rein als Massenwesen begegnet, zugleich aber beide Anliegen würdigt. Dies via der Theologie Karl Barths zu kennzeichnen, definiert nun das vordergründige Ziel. Als methodischer Seitenblick sei angemerkt, dass innerhalb des vorliegenden Kapitels vorrangig Barths Verständnis des Menschen in seinen Relationen nachgezeichnet werden soll und sich somit eng an Primärliteratur gehalten wird. Hintergrund dessen ist, eine skizzenhafte Argumentati3

4

5

Vgl. für einen Forschungsüberblick etwa Mühling-Schlapkohl, Art. Relationalität; Rehfeld, Relationale Ontologie, 15–38; Künkler, Lernen in Beziehung, 407–524. Ungeachtet dessen, dass in der Arbeit eine Konzentration auf Karl Barth erfolgt, sei daran erinnert, dass relationale Konzepte von verschiedener Seite vertreten werden, theologisch etwa auch von Wilfried Herms oder Eberhard Jüngel. Ebenso gibt es relationale Konzepte von philosophischer Seite, wie beispielsweise bei Martin Buber ersichtlich wird. An dieser Stelle muss darauf verzichtet werden, jene vielfältigen Herangehensweisen exemplarisch darzustellen. Fangmeier, Der Theologe, 7.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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onsgrundlage zu schaffen, auf die aufbauend schließlich die nachfolgenden Kapitel der Arbeit genauere Konkretionen zum Themenbereich der Vorsorgevollmacht ziehen können. An Einzelstellen wird somit innerhalb dieses Umrisses bereits das Verhältnis zum Thema sowie der Konnex zu Eibach und Kreß mitsamt seiner Weiterführung aufgezeigt. Die Frage nach einer Relevanz für das vorliegende Thema und damit für den Bereich der Medizinethik ist folglich zentral. Diesbezüglich kann auf die Arbeit von Dominik A. Becker zurückgegriffen werden, der den Weg der relationalen Anthropologie nach Karl Barth mit Blick auf (Alzheimer-)Demenz erarbeitet hat. So wird seine Aufarbeitung als wichtige Referenz herangezogen. Vorangestellt werden muss nochmals der deutliche Hinweis, dass es explizit nicht das Ziel dieser Arbeit sein kann, eine Rekonstruktion der Barthschen Theologie und Anthropologie in toto herzustellen. Im Wissen darum, dass dies gleichermaßen eine unzureichende Verkürzung seiner Erkenntnisse impliziert, wird dem Bestreben Rechnung getragen, die Arbeit nicht durch intensive Analyse diverser Theorien zu überfrachten. Es können demnach an dieser Stelle nur fragmentarische Ergebnisse in Anlehnung an Barth und mithilfe der Interpretation Beckers mit besonderer Relevanz für das vorliegende Thema herangezogen werden.6 2.2.2 Die Wahrnehmung des ganzen Menschen Zuvörderst soll bedacht werden, warum es sich anbietet, gerade anhand von Karl Barth die Relationalität zu begründen und warum sein Werk als Exempel angesehen werden kann, über die Aporien Eibachs und Kreß´ hinauszuführen. Karl Barth entwickelt eine Binnentheologie, die gerade nicht beim vorfindlichen Menschen oder gar bei seinen empirischen Eigenschaften beginnt, sondern das Menschsein über seinen grundsätzlichen Gottesbezug beschreibt: Der Mensch ist Geschöpf Gottes. Damit geht die Relation des Schöpfers zu seinem Geschöpf dem Sein des Menschen bereits voraus. So kann der Mensch nur aus dieser grundlegenden Beziehung heraus angemessen wahrgenommen werden. Die Frage nach der Wahrnehmung des Menschen stellt sich also. Während Ulrich Eibach den Menschen empirisch als defizitär und 6

Für einen ausführlicheren Einblick in die Theologie, Anthropologie und Ethik Karl Barths sei auf etliche, spezifischere Barthstudien verwiesen, welche eo ipso der Darstellung jener Theorien größeren Raum zuweisen können. Allen voran sei nochmals die Arbeit Dominik A. Beckers vor Augen geführt, welcher die Barthsche Theologie im medizinethischen Kontext für (Alzheimer-)Demenz fruchtbar gemacht hat. Vgl. Becker, Sein.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

ontisch angewiesen wahrnimmt, was er auch von der Passivität und Angewiesenheit als Geschöpf begründet, rekurriert Kreß auf den Anspruch des Menschen, als fähiges Subjekt seine vorhandenen Rechte zu nutzen. Dass diese beiden Wahrnehmungen das volle Menschsein nicht beschreiben, wurde oben gezeigt. Die Perspektive Barths auf den Menschen ist damit eine grundsätzlich andere. Denn er stellt fest, dass die theologische Wahrnehmung des Menschen keinen anderen Weg beschreiten kann, als Schöpfung und Mensch in einen inneren Zusammenhang zu bringen. Barth legt dar, dass Schöpfung als Begriff das Tun des Schöpfers und dessen Ergebnis, nämlich das Geschöpf, umfasst. Ein Zusammenhang von Schöpfer und Geschöpf und ihr besonderes Verhältnis zueinander ergeben sich folglich automatisch. So kann eine genuin theologische Anthropologie den Menschen nur in einem Gottesbezug beschreiben. Bei der folgenden Betrachtung müssen desgleichen Schöpfer und Geschöpf im Fokus stehen, da ihre Zusammengehörigkeit vorausgesetzt ist.7 Der Mensch steht also grundsätzlich in Relationen8 , wobei – so wird sich zeigen – Autonomie und Fürsorge nötig sind. In einem weiteren Schritt ist die Frage der Erkenntnis dieses wahren Menschseins zu stellen. Kreß etwa bezieht die Frage nach der Erkenntnis des Menschseins auf die geltende Rechtsnorm und kann so Menschenwürde und Subjektzentrierung als rechtliche und damit normative Ausgangspunkte beschreiben. Die Erfahrung der Schwachheit und Krankheit und der daraus aposteriorisch feststellbaren Passivität des Menschen hingegen überwiegt bei Eibach. Beide argumentieren bei der Beschreibung und der Konstruktion des Menschseins daher von innerweltlichen und innermenschlichen Eindrücken und Gegebenheiten ausgehend. Wird hingegen die Zusammengehörigkeit von Schöpfer und Geschöpf, die Barth voraussetzt, ernst genommen, so ist auch die Frage nach der Erkenntnis anders zu beantworten. In Gottes Wort ist dieses Verhältnis vom Menschen als Geschöpf Gottes und Gott als Schöpfer offenbar. Das Wort Gottes handelt von der Geschichte Gottes mit den Menschen, von Gott und Mensch, und enthält so auch die Ontologie vom Menschen. Es schließt also eine bestimmte Anschauung vom Menschen in sich, und es ist Aufgabe der Dogmatik, die ja gerade das geoffenbarte, geschriebene und verkündigte Wort Gottes zum Gegenstand hat, diese zu beschreiben.9 Barth betreibt folglich biblische Theologie und statuiert die Annahme, dass Gott Gott ist. Seine Theologie des 7 8

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Vgl. KD III/2, 1. Das Konzept von KD III ist hier besonders hilfreich, da es den Menschen immer schon in seinen Relationen beschreibt. Vgl. KD III/2, 5; 13.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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Wortes Gottes gründet darauf, dass in Jesus Christus Person und Wort Gottes eins sind.10 So begegnet Jesus Christus als das eine Wort Gottes (worauf etwa Joh 1,14 hindeutet) und zugleich als wahrer Mensch, der völlig in Übereinstimmung mit Gott lebt.11 Um allgemeine Aussagen zum Menschsein treffen zu können, muss über den vorfindlichen Menschen hinaus auf den wirklichen Menschen geblickt werden;12 sie sind somit ausschließlich christologisch zu entwickeln. Denn Vorfindlichkeit und Empirie zeigen nur eine defizitäre Realität des Menschen. Deshalb ist Jesus Christus Ausgangspunkt und Quelle der Anthropologie und somit auch der Frage und der Antwort nach dem wirklichen Menschsein. Indem Jesus Christus als Bezugspunkt der Anthropologie statuiert wird und so die Wirklichkeit – und eben nicht zuerst die Vorfindlichkeit – des Menschseins im Fokus steht, wird die Schwierigkeit umgangen, die Eibach und Kreß beiden vor Augen steht, dass eine exklusive Anthropologie formuliert werden könnte, die sich gar an empirischen Eigenschaften des Menschseins anbindet und insofern die Gefahr in sich trägt, offensichtlich auch das Menschsein absprechen zu können. Indem also die Universalität preisgegeben wird, obliegen das Prädikat des Menschseins und daraufhin auch die Disposition über die Würde eines Menschenlebens dem menschlichen Verfügungsbereich. Mithilfe von Barth lässt sich folglich anschaulich begründen, dass gerade dem Menschen jegliches Urteil über die Wertigkeit seines Mitmenschen entzogen ist. In einem dritten Schritt sei nochmals hervorgehoben, dass christologische Anthropologie eine Erkenntnis biblischer Theologie ist. Sie schaut auf Gott, auf sein Wort und seine Offenbarung, die in Form der Heiligen Schrift übermittelt ist. Insofern ist Barths Theologie in besonderer Weise, wie bereits angedeutet, als biblische Theologie zu kennzeichnen. Von hier kommt Barth zu der Einsicht, dass die Erkenntnis des menschlichen Wesens durch das geoffenbarte Wort Gottes möglich ist, weil sich zuvörderst Gott zu den Menschen in Beziehung gesetzt hat, ihn als sein Geschöpf erwählt, konstituiert und erhält. Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott dient als Erkenntnisquelle dieses wahren Menschseins.13 „Weil der Mensch – unter dem Himmel, auf der Erde – das Geschöpf ist, dessen Verhältnis zu Gott uns in Gottes Wort offenbar ist, darum ist er der Gegenstand der theologischen Lehre vom 10 11 12 13

Vgl. Fangmeier, Der Theologe, 24; 50ff. Vgl. KD III/2, 73ff. Vgl. KD III/2, 27ff. Vgl. KD III/2.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

Geschöpf überhaupt. Indem der Mensch Jesus das offenbarende Wort Gottes ist, ist er die Quelle unserer Erkenntnis des von Gott geschaffenen menschlichen Wesens.“14

So zeigt sich bei Barth eine veränderte Perspektive auf den Menschen, die methodisch die Notwendigkeit einer genuin theologischen Anthropologie nochmals unterstreicht und zudem nicht in der Gefahr einer exklusiven Anthropologie steht. Er beschreibt das Menschsein aus der Gottesrelation, was somit seine Differenz zu Eibach und Kreß statuiert. Diese Grundbestimmung des Seins mit Gott umfasst das Sein in Beziehung zum Mitmenschen, das Verhältnis von Leib und Seele sowie die Relation des Menschen zur Zeit. Wie genau das Menschsein so zu buchstabieren ist, ist Inhalt der folgenden Kapitel V.2.2.3. Ausgangspunkt der Anthropologie ist also die Geschöpflichkeit des Menschen und sein offenbar gewordenes in Beziehung Sein mit Gott. Das Zeugnis der Heiligen Schrift nötigt dazu, von Jesus Christus zu sprechen. Gerade hierauf hat die Rede vom Menschen Bezug zu nehmen. Das Wort Gottes ist das Evangelium von Jesus Christus, in dem das Verhalten Gottes zu diesem Menschen offenbar wird.15 In Jesus Christus wird das wahre Menschsein sichtbar und im Christusgeschehen selbst setzt Gott sich zum Menschen – und den Menschen zu sich – in Beziehung. Gott muss es nicht tun, es gibt keine äußere Bedingung oder Zwang dazu, aber er bestimmt sich selbst aus seiner Freiheit16 dazu, sich in die Beziehung zum Menschen zu begeben, dort zu bleiben und seine Liebe zu schenken. Als solcher ist er der wählende Gott, der sich selbst für den Menschen wählt und damit wiederum den Menschen für sich bestimmt.17 Demzufolge gilt, dass der Mensch nie ohne Gott sein kann, da Gott sich selbst zur Gemeinschaft mit dem Menschen bestimmt hat und so den Menschen zum Bundespartner Gottes erschaffen hat. Jesus Christus ist das eine Wort Gottes und damit der Ermöglichungsgrund aller menschlichen Rede von Gott – und so auch und dann erst vom Menschen. Als wahrer Mensch ist er die Quelle der Erkenntnis des von Gott geschaffenen menschlichen Wesens sowie der eine Mensch, in dem Gott als der Retter den Menschen gegenübertritt.18 Barths Erkenntnisweg bewegt sich insofern von der Christologie zur Anthropologie. Er orientiert sich demnach nicht, wie dies Eibach und Kreß letztlich beide tun, am vorfindlichen Menschen, sondern ver14 15 16 17 18

KD III/2, 1 (Fettdruck im Original). Vgl. KD III/2, 47. Für eine genauere Begriffsbestimmung nach Barth vgl. Kapitel V.2.2.3.1. Vgl. KD III/2, 86; Becker, Sein, 117. Vgl. KD III/2, 36; 47; 50; Becker, Sein, 120; 136.

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steht das Menschsein von seiner Bestimmung her, die Gott in Christus offenbart hat. Die Wirklichkeit des Menschen fällt damit nicht mit Empirie zusammen. Bereits jetzt zeigt sich – wertend ausgedrückt – der Mehrwert von Barths christologischer Anthropologie: Seine Blickrichtung erfolgt gerade nicht innermenschlich, sondern durch Jesus Christus von Gott her, folglich jenseits von Empirie. Somit kann er nach dem eigentlichen Sein des Menschen fragen, welches von außen von Gott konstituiert wird und demnach keinen Teil des Menschen und keine Gruppe von Menschen höher stellt. Er zeichnet ein Menschenbild, bei dem alle Menschen gleichwertig auf einer Stufe stehen, ihr Sein von außen durch Gott empfangen und zudem die Beziehungshaftigkeit hochgeschätzt wird. Folglich ist seine Anthropologie grundlegend relational zu verorten. Eine Auszeichnung19 des Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass ihm dieses Verhältnis zu Gott offenbar ist. Ausgehend von Jesus Christus kann demnach das Sein des Menschen bestimmt werden. „Die grundlegende, ontologische Relationalität des Menschen erschließt sich in Jesus Christus, dem wahren Menschen – und zwar als Bestimmung des Menschen für Gott und für den Mitmenschen. Der Mensch, auch der wahre Mensch Jesus, wird und kann – aus theologischer Perspektive – nie unter Absehung seiner Relation zu Gott und (dann) zu den Mitmenschen erkannt bzw. beschrieben werden.“20

Die Vorgehensweise ist ein erkenntnistheoretisches Resultat: Hierzu beschreibt Barth die menschliche Unmöglichkeit, aus sich heraus sich selbst zu erkennen und somit die Unmöglichkeit, einen außerhalb seiner 19

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In Bezug auf die Auszeichnung und die Bestimmung des Menschen zeigen die Konzeptionen von Eibach und Kreß im Rückblick ein im Vergleich zu Barth differentes Verständnis. Dieser begründet die Auszeichnung darin, dass Gott sich selbst in Beziehung zum Menschen setzt, sich zum Gott des Menschen bestimmt und Schöpfer seines Geschöpfes ist. Der Mensch ist zu dieser gemeinsamen Geschichte als Bundespartner fähig. Dieses durch Gott konstituierte Verhältnis von Gott und Mensch ist dem Menschen in Gottes Wort offenbar und kommt ihm so von außen durch Gott zu. Im Gegensatz dazu spricht Eibach nicht primär von einer Auszeichnung des Menschen, da hier womöglich seine Wahrnehmung des defizitären, passiven, angewiesenen Menschen überwiegt und er eine Auszeichnung eher aus eschatologischer Perspektive erklärt oder aber im mitmenschlichen Füreinandersein wahrnimmt. Die Gegenwärtigkeit sowie das Subjektsein des Menschen wird vernachlässigt. In Rückbezug zu Kreß ist hervorzuheben, dass er eine Auszeichnung des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen und aus dem Subjektsein heraus begründet, was die Gefahr von Anbindungen an empirische Eigenschaften wieder unterstreicht. Becker, Sein, 128. Vgl. KD III/2, 1ff.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

selbst zu verortenden Standpunkt, eine „Außenperspektive [. . . ] auf den Menschen“21 , einnehmen zu können.22 Die Erkenntnis des Menschen kann also nur ausgehend vom wahren Menschen, von Jesus Christus, und damit nicht vom sündigen Menschen her erfolgen.23 Eine „Perspektive, die Aussagen über den Menschen erlaubt, ist also [. . . ] immer eine durch das Wort Gottes vermittelte Perspektive.“24 Diese These Barths ist demnach zentral für alle folgenden Betrachtungen: „Indem der Mensch Jesus das offenbarende Wort Gottes ist, ist er die Quelle unserer Erkenntnis des von Gott geschaffenen menschlichen Wesens.“25 Folglich wird es in der Darstellung darum gehen, aufzuzeigen, dass das menschliche Leben „einerseits (vertikal gesehen) von Gott und für Gott und andererseits (horizontal gesehen) in der Beziehung zum Mitmenschen geschaffen ist.“26 Jesus Christus ist die Dimension, von der jenseits aller Empirie Aussagen für jeden Menschen sowie für das Miteinander von Mensch und Mitmensch getroffen werden.27 Vorauszusetzen ist dabei der Rahmen von Bundes- und Schöpfungstheologie. Gott be21 22 23

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26 27

Becker, Sein, 121. Vgl. KD III/2, 86ff. Der notwendige Zusammenhang zur Sündenlehre kann aufgrund des Umfangs der Arbeit nicht argumentativ dargestellt werden. Insofern sei abermals auf das Werk Dominik A. Beckers verwiesen, der diesbezüglich eine tiefere Einordnung vornimmt. Vgl. Becker, Sein, 120–124. Kurz beschreiben lässt sich, dass das Wort Gottes den Menschen zuerst einmal als sündigen Menschen kennzeichnet, gleichwohl Gott nicht aufhört des Menschen Gott zu sein und somit auch der Mensch nicht aufhören kann, vor Gott zu sein. Die Treue Gottes persistiert auch über die Untreue des Menschen. Trotz der Gnade Gottes wiederum ist der Mensch noch Sünder, aber durch Gottes Freispruch auch nicht nur Sünder (vgl. KD III/2, 29–35). Der sündige Mensch ist folglich nicht der wirkliche Mensch. „Der wirkliche Mensch ist der Sünder, der Gottes Gnade teilhaftig ist“ (KD III/2, 36). Obwohl der Mensch den Bund Gottes gebrochen hat, löst und hebt er ihn nicht auf, da der Mensch es gerade nicht ist, der diesen Bund begründet (vgl. KD III/2, 36–43). Es zeigt die Freiheit Gottes, „der zu sein, zu bleiben und immer neu zu sein, der den Menschen erschaffen hat, der gnädige Gott, d. h. der, der frei ist, auch den Menschen unverwandelt das sein zu lassen, als was er ihn geschaffen hat, das Geschöpf, dem er gnädig ist“ (KD III/2, 43). Becker, Sein, 119. KD III/2, 47. Für die genauere Konstitution und Einordnung des hier vorrangig benutzten Abschnitts aus der Kirchlichen Dogmatik (KD III/2, Kapitel 10: Das Geschöpf) sollen an dieser Stelle nur Verweise auf Werke gegeben werden, die diese Erläuterung vornehmen. Vgl. etwa Becker, Sein, 117ff.; Frey, Arbeitsbuch, 50– 67; Friedmann, Christologie, 39–190; Huh, Die Wirklichkeit, 70–107; Busch, Karl Barths Lebenslauf. KD III/2, 473. Auch Becker hat sich in seiner Arbeit besonders auf diese beiden Linien bezogen.

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stimmt sich aus seiner eigenen Freiheit heraus als Gott des Menschen und wählt und erschafft somit den Menschen als Bundespartner. Bereits die Schöpfung des Menschen zielt auf den in Jesus Christus geschlossenen Bund mit jedem Menschen als Bundespartner. Der Mensch ist dazu fähig, wiederum Bundespartner zu sein und kann dieses Verhältnis auch vollziehen.28 Die Bestimmung des Menschen zeigt sich, wie oben bereits beschrieben, grundlegend in Jesus Christus. Folglich gründet die Anthropologie auf die Christologie, ohne beides gleichzusetzen.29 Da nun die Selbsterkenntnis des Menschen ein Reflex der Gotteserkenntnis ist und folglich die Wahrheit des Menschen außerhalb seiner selbst, genauer in Jesus Christus, dem wahren Menschen, liegt, ist für die Nachzeichnung der Relationalität des Menschen auch zuerst auf Jesus Christus zu schauen.30 Bereits mithilfe jener Kontur in Anlehnung an Karl Barth wird deutlich, dass relationale Anthropologie ein Exempel statuiert, den Menschen ausgewogen als Ganzheit darzustellen, die Ebene Gott – Mensch mit der Ebene Mensch – Mensch in Beziehung zu setzen und infolgedessen gleichermaßen auf Eibachs einseitiges Fürsorgeverständnis sowie auf Kreß´ reduziertes Autonomieverständnis reagieren zu können. Im weiteren Verlauf wird deutlich werden, dass Barth Autonomie schätzt, ohne zugleich Sozialität aufgeben zu müssen, während er desgleichen die Beziehungshaftigkeit und Veränderbarkeit des Menschen bestätigt, 28

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Vgl. KD III/1, 44; Krötke, Gott und Mensch, 165ff. In der Verhältnisbestimmung von Bund und Schöpfung ist Barth konkret: „Um diesen Bund zu verwirklichen, setzt Gott die Schöpfung als Lebensraum seines Bundespartners. Somit ist die Schöpfung der äußere Grund des Bundes und der Bund ist der innere Grund der Schöpfung. Damit hat die Schöpfung ein Ziel, nämlich die Geschichte Gottes mit den Menschen, genauer die Geschichte Gottes, der sich den Menschen zu seinem Bundespartner erwählt hat“ (Becker, Sein, 129). Hiermit bestimmt Barth zugleich ein Verhältnis von Bundes- und Schöpfungstheologie, welches, wie wir gesehen haben, von Eibach eher nicht definiert war. Vgl. KD III/2, 50ff.; Becker, Sein, 123; Barth, Nein. Deutlich hinzuweisen ist in aller Kürze darauf, dass keine Gleichsetzung von Christologie und Anthropologie gemeint sein kann. Vielmehr ist von Barth eine Ordnungsrelation beschrieben, die es erst vom Menschen Jesu blickend ermöglicht, Aussagen über den vorfindlichen Menschen zu statuieren (vgl. KD III/2, 54). Ferner gebraucht Barth zur näheren Beschreibung die Symbolik von Urbild und Abbild: „Unsere menschliche Natur beruht auf seiner Gnade: [. . . ] Sie ist urbildlich in ihm, sie ist nur abbildlich auch in uns verwirklicht. Jesus ist der Mensch, wie Gott ihn wollte und schuf. Was das wirkliche menschliche Wesen in uns ist, das ist es unter Voraussetzung dessen, was es in ihm ist“ (KD III/2, 57f.). Vgl. Becker, Sein, 123; 128ff.; KD III/2, 673; Barth, Nein.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

ohne auf Individualität zu verzichten. Denn wird der Mensch in seinen Relationen wahrgenommen, so ist sowohl Autonomie als auch Fürsorge grundlegend und nötig. Hierin überbietet Barth Eibach und Kreß, wenngleich beide Anliegen ausgewogen hervorgebracht werden können. Zur Erläuterung dessen ist die Systematik der Barthschen relationalen Anthropologie, den Menschen immer schon in Relationen zu beschreiben, nun genauer – wenn auch in knappen Auszügen – nachzuvollziehen.

2.2.3 Menschsein in Relationen In den Analysen zu Eibach und Kreß konnte stets angedeutet werden, dass Relationalität einen Weg öffnet, die diskutierten Vereinseitigungen in ihren Argumentationen sowie ihren gegenseitigen Dissens zu überwinden. Warum Karl Barths christologisch-relationale Anthropologie als weiterführende Position angeführt wird, ist bereits dargelegt worden und wird auch weiterhin zu zeigen sein. Zur Skizzierung der Relationalität, die den ganzen Menschen umfasst, sind verschiedene Ebenen zu berücksichtigen. Grundlegend ist dabei die Relation von Gott und Mensch. Insbesondere im Rückblick auf Kreß sei daran erinnert, dass er die Ebene Gott – Mensch theologisch höchstens in seinen Frühwerken angesprochen, aber wenig argumentativ dargelegt hat. Und auch Eibach räumt der Gott-Mensch-Beziehung einen zunehmend geringer werdenden Raum ein, bzw. sie wird womöglich durch die Hervorhebung der Mensch-Mensch-Beziehung unterdrückt. Die Skizzierung der Ganzheit des Menschen in seinen Relationen wird nun offenlegen, dass stets ein Ineinander von Aktivität und Passivität aufzuspüren ist und so das Subjektsein des Menschen sowie seine Sozialität umfasst sind. Die im Abschnitt IV dargestellten reduktionistischen Tendenzen auf einen dieser Aspekte werden so integrierend überschritten. Mithilfe von Barth ist dafür das Sein in Beziehung von Gott und Mensch und daraufhin von Mensch und Mitmensch in den Fokus zu rücken, ferner das Verhältnis von Leib und Seele sowie des Menschen zur Zeit. So ist der ganze Mensch in seinen Relationen beschrieben und ein Wechselverhältnis von Passivität und Aktivität, von Sein und Handeln, wird sichtbar werden.

2.2.3.1 Das Ineinander von Sein und Aufgabe Theologisch kann der Mensch, wie schon vorausgehend erläutert wurde, nicht ohne die Dimension der Gottesrelation gedacht werden. „Der

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Mensch ist nur mit Gott und nicht anders.“31 Er kann daraufhin nach Barth in seinem Menschsein nicht anders beschrieben werden, als in der Relation zu Gott. Das wirkliche Wesen des Menschen wird erst in der Gottesbeziehung offenbar.32 Das Verständnis des Seins des Menschen als Geschöpf Gottes ist von Anfang an christologisch von Jesus Christus, dem wahren Gott und dem wahren Menschen, her zu entwickeln. Dieser ist der Mensch für Gott, indem er in Übereinstimmung mit Gott lebt und so wahrer Mensch ist. Denn Jesus vollbringt Gottes Werk und ist im Tun dieses Werkes mit Gott eins.33 Hierin zeigt sich die Wirklichkeit des Menschen Jesus.34 Dieses ontologische Gottesverhältnis ist bei Kreß zu vermissen, da er das in Beziehung Sein von Gott und Mensch ausschließlich in seinen frühen Schriften benennt und mit dem Menschen als individuelles Gesetz als zwei separate Säulen seiner Anthropologie konstruiert. Für Eibach – insbesondere für den frühen Eibach – zeigt sich die Bestimmung des Menschen in den Verhältnissen des Lebens sowie die unverlierbare Würde des Menschen aus seiner Geschöpflichkeit und seinem Sein als Partner Gottes. Gleichwohl wird diese Ebene von Eibach für eine Betonung der Beziehungsebene zwischen Mensch und Mitmensch analogisiert, was letztlich zur Überbewertung der sozialen Dimension beiträgt. Barths Ansatz und Fundament ist es, die einzige Möglichkeit darzustellen, überhaupt vom Menschen reden zu können, indem zuerst und grundlegend auf Gott und seine (Selbst-)Offenbarung in Jesus Christus geschaut wird, um so schließlich die Wirklichkeit des Menschen beschreiben zu können. Das Wesen des Menschen ist somit von Gott her und zu Gott hin zu verstehen und vollzieht sich in einer Geschichte, die in Beziehung zur Geschichte Jesu Christi steht – der Mensch ist Mitmensch Jesu Christi. Der Mensch gehört nach Barth grundsätzlich zu Gott, weil Gott sich zuerst für den Menschen bestimmt hat und so sein wirkliches Wesen nur in der Gottesbeziehung offenbar wird.35 Für das Selbstverständnis des Menschen bedeutet dies sodann, dass es „aus einem autonomen in ein theonomes Selbstverständnis gewandelt werden“36 muss, weil es gerade Gott ist, der dieses Verhältnis konstituiert und sich selbst als 31 32 33 34 35 36

KD III/2, 146. Vgl. KD III/2, 148; Becker, Sein, 131ff. Vgl. KD III/2. 73ff.; Becker, Sein, 131f. Vgl. KD III/2, 74. Vgl. KD III/2, 84f.; 158; Becker, Sein, 132f. KD III/2, 148. Vgl. zudem Kapitel III.7 Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

Partner (zuerst) bestimmt und insofern die „‚Urgeschichte‘ von Schöpfer und Geschöpf“37 begründet. Diesem Sein des Menschen entspricht die Aufgabe, sich ebenfalls zu Gott in Beziehung zu setzen und mit Gott zusammen zu sein. Ein Ineinander von Sein und Aufgabe ist leitend.38 Ontologisch ist es ein Sein von Gott her und ein von Gott abhängiges Sein, als dessen Grundlage die Erwählung Gottes gelten kann.39 Jesus Christus als Subjekt und Objekt der Erwählung ist somit der erwählte Mensch, in dem wiederum alle Menschen zu Gottes Partner erwählt sind. Das ontologische Menschsein und seine Würde bestehen also darin, dass er das von Gott erwählte Geschöpf ist und daraufhin selbst tätig sein kann.40 Passivität im Erwähltwerden und Aktivität im Erwähltsein werden sichtbar. Indem der Mensch aus der Gnade Gottes heraus in Jesus Christus Gott und somit sich selbst erkennt, wird der Mensch selbst zum Subjekt, zum aktiven Dasein.41 „Die Freiheit des Menschen, die zwischen den Zeilen hier schon immer anklingt [. . . ], ist also eine Freiheit, die erst und überhaupt in der Relation zu Gott realisiert wird.“42 Die Freiheit des Menschen ereignet sich in der Entsprechung zur Freiheit Gottes, welche zuerst beschreibt, dass Gott frei dazu ist, sich selbst als Partner des Menschen zu bestimmen und sich zu ihm in Beziehung zu setzen.43 „Die menschliche Freiheit entspricht also der göttlichen Freiheit und ist damit Freiheit zur Gemeinschaft und Freiheit in Gemeinschaft – mit Gott und mit den Mitmenschen.“44 Freiheit ereignet

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Becker, Sein, 135. Im Kontext von Sein und Aufgabe, von Passivität und Aktivität, von Empfangen und Gestalten ist als Nebenbemerkung abermals eine Linie zu Eibach und Kreß zu ziehen. Im Rückblick können ihre jeweiligen Vereinseitigungen dahingehend hervorgehoben werden, dass Eibach vorrangig die Passivität des Menschen, Kreß hingegen seine Aktivität unterstreicht. Insofern wird sich in diesem Ineinander von Sein und Aufgabe und somit von Aktivität und Passivität nach Barth ein Weiterkommen zeigen. Vgl. KD III/2, 161–167; Becker, Sein, 136. Vgl. ferner zur näheren Beschreibung des Erwählungsgedankens bei Barth KD II/2 sowie Kreck, Grundentscheidungen, 188–283. Vgl. KD II/2, 125; KD III/2, 173; Becker, Sein, 137. Vgl. KD III/2, 217; Becker, Sein, 138f. Der Zusammenhang zur Versöhnungslehre muss hier übergangen werden. Vgl. dazu KD IV/2; besonders KD IV/2, 52; 80; 587; Becker, Sein, 137. Becker, Sein, 139. Vgl. Becker, Sein, 139. Vgl. ferner Kapitel IV.3.2.2.2.1 Exkurs: Das Verständnis von Freiheit sowie Kapitel V.2.2.3.1. Becker, Sein, 143.

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sich demnach in der Antwort auf die Relation zu Gott als dem Schöpfer und Erretter.45 In der Beschreibung Barths christologischer Anthropologie kann auf den Topos der Freiheit nicht verzichtet werden. Im Kontext der Arbeit erscheint dies besonders zentral, zumal in der Aufarbeitung von Eibach und Kreß schon deutlich wurde, dass beide recht differente Freiheitsverständnisse voraussetzen. Dass Kreß´ Freiheitsverständnis angefragt werden kann, wurde bereits im Exkurs: Das Verständnis von Freiheit (Kapitel IV.3.2.2.2.1) ersichtlich. Er versteht Freiheit als individuelle Wahlfreiheit mit dem Ziel zur Stärkung der Autonomie. Gott als Garant der oder als Voraussetzung für Freiheit ebenso wie eine Verbindung zu Sein und Aufgabe des Menschen, wird nicht gesehen. Kreß versteht Freiheit rein innerweltlich, in erster Linie als Freiheit einer Person über sich selbst. In Eibachs Aufarbeitungen lässt sich der Aspekt des Geschenks der Freiheit bereits erkennen. Er reduziert die Freiheit schließlich auf die Betonung des Abhängigseins von Gott, auf reine Passivität, indem er gar mit einer solchen Freiheit Autonomie negiert. Es stellt sich also mit Blick auf Barth die Frage, wie er Freiheit konstruiert und damit auf die oben dargelegten Dissense reagiert. Im Exkurs: Das Verständnis von Freiheit wurde schon angedeutet, dass der Freiheitsbegriff – auch in seiner geschichtlichen Entwicklung – relationale Strukturen aufweist und ein Mehrwert in einem theologischen Verständnis der Freiheit als Geschenk zu sehen ist. Wie dies auch in Bezug zu den Aspekten Liebe und Verantwortlichkeit zu entwickeln ist, soll in Nachzeichnung Barths dargestellt werden. Wie es Barths Denken entspricht, beginnt die Beschreibung von Freiheit ebenfalls bei der Freiheit Gottes. Barth charakterisiert die Freiheit Gottes als Freiheit für die Schöpfung, für den Menschen und für eine Existenz außerhalb seiner selbst. Sie zeigt sich somit gerade nicht als Unabhängigkeit vom Gegenüber, vom Menschen. Gottes Freiheit ist tätige Freiheit. Menschliche Freiheit ergibt sich in Analogie oder Entsprechung zu dieser göttlichen Freiheit. Sie wird als solche erst in der Relation zu Gott realisiert und existiert somit nicht als isoliert menschliche Freiheit.46 Freiheit bei Barth wird also in der Gotteslehre verankert, in der eine Zusammengehörigkeit von Liebe und Freiheit beschrieben wird. Hier tritt wieder Barths Perspektive hervor, von Gott und seiner Offenbarung ausgehend auch den Aspekt der Freiheit beschreiben zu wollen, denn Gott ist es, der frei ist. Zuerst ist dazu festzustellen, dass Gott keinen äußeren Zwängen oder Bedingungen unterliegt, demnach 45 46

Vgl. Becker, Sein, 144; KD III/2, 235. Vgl. Fangmeier, Der Theologe, 58; Becker, Sein, 139.

430

2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

aus und durch sich selber lebt. „Gott ist.“47 Und er ist in absoluter Aseität.48 Da Gottes Sein das „durch sich selbst bewegte Sein“49 ist, ist er frei zu lieben, sich selbst dazu zu bestimmen in Beziehungen zu sein und sich in Jesus Christus in die Welt zu begeben. Gott ist darin frei, sich selbst als Gott des Menschen zu bestimmen.50 Er tut dies aus Liebe, sodass sich Freiheit als Gottes Liebe zeigt. Folglich ist Gott der Liebende in der Freiheit.51 Freiheit ist so die Freiheit zur Liebe.52 Die relationale Struktur, da Liebe auf ein Gegenüber angewiesen ist, wird erneut deutlich. Demnach bestimmt sich zuerst die Freiheit Gottes als Freiheit für und grenzt sich folglich von einer Freiheit von – etwa wie Kreß sie als Abgrenzungsfreiheit versteht – ab. In Entsprechung zur Freiheit Gottes, die immer zuerst voraus geht, ist sodann die Freiheit des Menschen zu beschreiben: In Jesus Christus wird unsere menschliche Befreiung vollzogen und wir sind in ihm zur Freiheit befreit.53 „Hier ist nun das Zentrum des Barthschen Freiheitsverständnisses: Angesichts der Versöhnung in Jesus Christus kann der Mensch sich gar nicht anders als für Gott entscheiden, er wird zu dieser seiner Bestimmung gemäßen Freiheit gleichsam befreit“54 .

Unsere Freiheit ist somit ein Resultat der Befreiung in Jesus Christus. Da sie von Gott her auch für den Menschen zu denken ist, verdeutlicht sich der Aspekt der geschenkten Freiheit.55 Kennzeichen ist, dass Freiheit dem Menschen nicht immanent ist, sondern von Gott her, von außen, als Geschenk zukommt und wiederum eine Reaktion des Menschen impliziert. „Die menschliche Freiheit entspricht also der göttlichen Freiheit und ist damit Freiheit zur Gemeinschaft und Freiheit in Gemeinschaft – mit Gott und mit den Mitmenschen.“56 Da das Tun Gottes Liebe ist, so darf der Mensch in Entsprechung dazu sich auch für die Liebe hingeben und ebenso lieben. „Er soll nicht – er darf und 47 48 49 50

51 52 53 54 55 56

KD II/1, 288. Vgl. KD II/1, 288–305. KD II/1, 301. Vgl. KD I/1, 361; 456; KD III/2, 43; Busch, Die grosse Leidenschaft, 122; Becker, Sein, 139. Vgl. KD II/1, 288–361. Vgl. Becker, Sein, 140. Vgl. Hedinger, Der Freiheitsbegriff, 76; Becker, Sein, 142; Gal 5,1. Becker, Sein, 142. Vgl. Barth, Das Geschenk, 2f. Becker, Sein, 143. Vgl. Barth, Das Geschenk, 4ff.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

431

wird lieben.“57 Damit ist die Freiheit des Menschen keine isolierte Freiheit, sondern auf ein Gegenüber ausgerichtet. Dem Menschen wird also von Gott aus Gnade gegeben, frei zu sein. Als Ereignis der Freiheit resultiert aufseiten des empfangenden Menschen Dankbarkeit58 und Verantwortung für dieses Geschenk.59 Die Freiheit des Geschöpfs, von der Freiheit Gottes her verstanden, wird demzufolge in ihrem Wesen als Aufgabe, als Tätigsein, deutlich, die aus der Verantwortung heraus ein entsprechendes Handeln fordert. „Freiheit heißt für Barth also, in einer solchen Relation zu Gott zu sein, die dadurch bestimmt ist, dass Gott der Schöpfer und Retter des Menschen ist, also auf das Wort Gottes, das dem Menschen eben dies offenbart, zu antworten. Darin ist der Mensch Subjekt.“60

Hier zeigt sich der Unterschied zur Wahlfreiheit, die Barth genau nicht meint. Der Mensch ist vielmehr frei dazu, das Richtige zu wählen. Der relationale Aspekt verdeutlicht sich darin, dass sie keine isolierte Freiheit ausdrückt. Einerseits ist die actio Gottes vorausgesetzt, andererseits durch Liebe und Verantwortung auch wieder innermenschlich verortet. Barth beschreibt dies wie folgt: „Ich kann nur in der Begegnung und in der Gemeinschaft mit ihm Empfänger dieses Geschenkes sein.“61 Ein Christ ist somit ein Mensch, der von dieser Freiheit Gebrauch macht.62 Ihr Empfangen umfasst so ein entsprechendes Tätigsein. Es kann wohl als Grundaussage der Barthschen Anthropologie bezeichnet werden, dass der Mensch, indem er mit Jesus und darum auch mit Gott zusammen ist, Mensch ist und um dieses Menschsein weiß. Insofern ergibt sich die Gottlosigkeit als ontologische Unmöglichkeit des Menschen. Dabei inhäriert dem Sein des Menschen seine Aufgabe und Tätigkeit.63 In Passivität ist das Sein des Menschen durch seine Erwählung zum Bundespartner Gottes konstituiert und im Geschenk der 57

58 59 60 61 62

63

KD IV/2, 882. Kennzeichnend ist, dass Barth nicht von einem Verständnis von Freiheit im Sinne von Wahlfreiheit ausgeht. Vielmehr sieht er einen notwendigen Zusammenhang von Freiheit und Bestimmung: In der Erfüllung seiner Bestimmung in der Relation zu sein, ist der Mensch frei. Vgl. Becker, Sein, 141f.; KD III/4, 747; Hedinger, Der Freiheitsbegriff, 79. Für eine Beschreibung von Dank vgl. Becker, Sein, 138. Vgl. Barth, Das Geschenk, 9. Becker, Sein, 144. Barth, Das Geschenk, 10. Vgl. Barth, Das Geschenk, 16. Ferner ist auf den Zusammenhang von Freiheit und Freudigkeit zu verweisen. Vgl. Barth, Das Geschenk, 11f. Vgl. KD III/2, 161f.

432

2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

Freiheit ist er ebenfalls Empfangender. Einher geht aber unmittelbar die Aktivität des Menschen in Form der Aufgabe, Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein. Beide Ebenen können nicht getrennt voneinander wahrgenommen werden und sind grundlegend für sein Sein in Relationen. In der Freiheit zur Gemeinschaft Subjekt und aktiv zu sein, wird vom in Beziehung Sein mit Gott umfasst. Diesem Sein mit Gott wiederum entspricht nach Barth das Sein mit dem Mitmenschen. Jenes ist als Begegnung von Subjekten zu verstehen und nachfolgend expliziter zu beschreiben. 2.2.3.2 Das Ineinander von Begegnung und Subjektsein In den konträr-theologischen Positionen des Großkapitels IV wurde eine exzessive Betonung der Beziehungsebene Mensch – Mensch einer Missachtung der innermenschlichen Relation entgegengestellt. Dabei wird einerseits Fürsorge eindimensional als reines Für verstanden. In Eibachs Frühwerken zeichnet er Fürsorge als Entsprechung zu Gottes Handeln, später hingegen wird Fürsorge als Konsequenz des geschaffenen, angewiesenen und passiven Lebens verstanden und begünstigt die Grenzüberschreitung zum negativ konnotierten Paternalismus. Andererseits gerät das in Beziehung Sein des Menschen als dialogisches Wesen zunehmend aus dem Blick und Kreß propagiert eine isolierte Subjektkonzentration. Isolierte Freiheit und Selbstbestimmung werden als Primat des Menschlichen verstanden, während Fürsorge, welche generalisierend als Paternalismus aufgefasst wird, im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten Kreß gemäß abzuwehren ist. Ferner wurde deutlich, dass insbesondere Kreß keine theologische Diskussion führt. Demzufolge ist Karl Barth zu befragen, wie er theologisch die Relation von Mensch und Mitmensch konstruiert. Mit Barth sind die vorherrschenden Vereinseitigungen bei Eibach und Kreß überwunden, indem sowohl die Beziehungsebene als auch die Individualität des Menschen hervorgebracht werden. Subjekt zu sein in der Beziehung zum Mitmenschen kennzeichnet Barths Mehrwert. Ausgangspunkt seines Denkens ist dabei erneut die Voraussetzung, dass der Mensch ausschließlich im Gottesbezug und damit in seiner Bestimmung als Bundesgenosse von Jesus Christus her wahrgenommen werden kann, was nunmehr Entsprechung (analogia relationis64 ) zum innerweltlichen Sein hervorbringt. 64

Vgl. zur näheren Beschreibung des Analogiebegriffs bei Barth – der auch in Abgrenzung zur römisch-katholischen Lehre der analogia entis erfolgt – Pöhlmann, Analogia; Jüngel, Gott als Geheimnis, 383–408; Härle, Sein und Gnade, 172–226; Becker, Sein, 145ff. Vgl. ferner das Kapitel IV.3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gott-

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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So ist das geschöpfliche Sein ein Sein in der Begegnung: „zwischen Ich und Du, zwischen Mann und Frau. In dieser Begegnung ist es menschlich, und in dieser seiner Menschlichkeit ist es das Gleichnis des Seins seines Schöpfers und ein Sein in der Hoffnung auf ihn.“65 Wie bereits als typisches methodisches Element mehrfach ersichtlich wurde, kann dieser Aspekt nur christologisch – ausgehend von Jesus Christus, dem wahren Menschen und dem wahren Gott – ausbuchstabiert werden. In Entsprechung zu Jesus Christus lässt sich auf das Sein des Menschen im Allgemeinen schließen.66 In Analogie dazu, dass Jesus der Mensch für Gott ist, kann ebenso bestimmt werden, dass er „der Mensch für den Menschen“67 ist. Gerade in Entsprechung zu Jesu Divinität zeigt sich seine Humanität – und diese in seinem ganzen Sein.68 Insofern zeigt sich Menschlichkeit als Mitmenschlichkeit.69 Die „Humanität jedes Menschen besteht in der Bestimmtheit seines Seins als Zusammensein mit dem anderen Menschen.“70 Jesu Sein und Auftrag wiederum lässt jeden Menschen an dieser seiner Menschlichkeit Anteil haben, was ein Akt der Gnade ist. Menschlichkeit zeigt sich innerweltlich folglich konkret in Humanität, im Zusammensein mit dem anderen Menschen und in der Begegnung mit ihm. „So ist Humanität die Bestimmtheit unseres Seins als ein Sein in der Begegnung mit dem anderen Menschen.“71 Das Sein in Begegnung entspricht also dem in Beziehung Sein Gottes. Des Menschen Sein

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67 68 69

70 71

ebenbildlichkeit, in dem der Begriff der analogia relationis bereits in Anlehnung an Barth gebraucht wurde. „Barth arbeitet also mit der analogia relationis, um das Sein zwischen Mensch und Mitmensch als Entsprechung zum Sein Gottes mit den Menschen zu verstehen, indem er davon ausgeht, ‚[d]aß der Bund zwischen Gott und Mensch das Urbild des Bundes zwischen Mensch und Mensch ist‘“ (Becker, Sein, 147). Vgl. KD III/2, 242ff. KD III/2, 242 (Fettdruck im Original). Vgl. KD III/2, 296; 334; KD III/4, 127; Becker, Sein, 150. Betont sei erneut, dass Christologie und Anthropologie nicht unmittelbar miteinander gleichzusetzen sind. Die Aussagen, die Barth über Jesus konstituiert, sind mithilfe des Bildes der Entsprechung oder Ähnlichkeit zu anthropologischen Aussagen zu überführen. Vgl. KD III/2, 264ff. Dabei kann es nur Jesus Christus obliegen, völlig für den Mitmenschen zu sein. Vgl. Becker, Sein, 149; KD III/2, 267f. KD III/2, 248. Vgl. KD III/2, 248ff. Vgl. KD III/2, 252. Auf die Darstellung des Zusammenhangs der Humanität Jesu und der imago Dei wird an dieser Stelle verzichtet. In Kapitel IV.3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit wurde dieser Aspekt unter Zuhilfenahme von Barth bereits erläutert und diskutiert. Auch hier kommt wieder die analogia relationis zum Tragen. Vgl. KD III/2, 259ff.; Becker, Sein, 147f. KD III/2, 290. KD III/2, 296.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

ist folglich dann menschlich, wenn der Mensch nicht für sich alleine, eben nicht isoliert, ist und sich Begegnung zwischen Ich und Du, der Grundform der Humanität, ereignet.72 Begegnung und Sein mit dem Mitmenschen sind also grundlegend für das Verständnis des ganzen Menschen. Dieser Gedanke wird besonders bei der ethischen Betrachtung in Bezug auf die Vorsorgevollmacht Relevanz entfalten müssen. Im Rückblick auf die bereits gewonnenen Einsichten wird dabei darauf zu achten sein, dass es im Zusammensein von Menschen nicht um eine vollständige Vertretung gehen kann. Hier sei angemerkt, dass diese alleinig Jesus Christus vorbehalten ist und sich so eine notwendige Differenz zwischen der Stellvertretung Christi für uns Menschen und der Vertretung von Mensch und Mitmensch ergibt. „Jesus Christus ist als wahrer Gott und wahrer Mensch das wahre Ich (und das wahre Du), indem er – allein! – die Fähigkeit zur unmittelbaren Begegnung mit dem Du, die bis zur Stellvertretung reicht, innehat.“73 Die menschliche Entsprechung des Seins in Beziehung meint im Kontext keine innermenschliche Stellvertretung im Sinne eines Ersatzes des Gegenübers, sondern konkretisiert sich vielmehr in Form des Beistands.74 Ich und Du sind je individuell, wenngleich sie in Beziehung stehen und so Subjekt werden.75 Die Humanität des menschlichen Seins ist demnach das Sein in Begegnung, welches berücksichtigt, dass Menschen füreinander nur beschränkt da sein und Beistand leisten können – folglich keine Vertretung stattfindet.76 „Denn der Mitmensch gehört in der Weise zum Menschen, dass er dem Menschen nicht gehört, aber als sein Gegenüber zugehörig ist. Wenn der Andere mir aber gehört, ist er mir nicht zugehörig und damit kein Gegenüber.“77 Im Begegnungsgeschehen ist 72 73 74 75 76

77

Vgl. Becker, Sein, 155f. Becker, Sein, 154. Vgl. Becker, Sein, 154f.; KD III/2, 314f.; KD IV/1, 171–394. Vgl. Kapitel IV.3.2.1; KD III/2, 291 – 299; Becker, Sein, 156ff. Vgl. KD III/2, 299ff.; Becker, Sein, 158ff. Eine genauere Beschreibung des Seins in der Begegnung nach Barth ist bereits in Kapitel III.7.4 geleistet worden, sodass an dieser Stelle ein Verweis als ausreichend angesehen wird. Vgl. zudem KD III/2, 299ff. Becker, Sein, 163. Andeutungsweise kann von dieser Perspektive aus bereits einmal auf die Vorsorgevollmacht geschaut werden. Wird die äußere Form der Vollmacht betrachtet, so scheint sie sich in besonderer Weise zur Relationalität zu verhalten. Sie ist gerade der Ausdruck gelebter Relationalität von Mensch und Mitmensch und entspricht so dem Sein in der Begegnung auf Grundlage der ontologischen Relationalität von Gott und Mensch und daraufhin von Mensch und Mitmensch. Die Vorsorgevollmacht ist also ein Instrument, welches die Aufgabe, Mensch für den Mitmensch zu sein, wahrnimmt, diese Verantwortung eingeht und insofern menschlich

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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die Individualität jedes Partners also Voraussetzung und behält Bestand. Herausgefordert ist nun mit Barth den Aspekt der Individualität eines jeden Menschen nochmals genauer zu fokussieren und dabei zu klären, ob und wie dieser bei Barth verhaftet ist. Wenn Barth vom Menschen spricht, meint er einerseits die Menschheit generell, andererseits jeden einzelnen Menschen. Dass die Individuation eine entscheidende Größe im Menschsein darstellt, scheint so deutlich werden zu können und ist besonders in den vorausgegangenen Analysen bereits angeklungen. Gerade wenn Kreß stark auf die Individualität eines Menschen rekurriert und Eibach hingegen das Subjektsein durch seine Betonung der Passivität und der sozialen Dimension vernachlässigt, so ist nun mit Barth zu fragen, wie er die Individualität des Menschen explizit auch und gerade im Sein in der Begegnung voraussetzt. Wenngleich dieser Duktus bereits im Zwischenschritt: Das Verständnis des Autonomie-Begriffs sowie in der vorausgehend erfolgten Darstellung der Grundlinien Barths kenntlich wurde, soll er nochmals speziell hervorgehoben werden.78 Dass Gott jedem Menschen im Heiligen Geist individuell und auf anderer Weise begegnet, lässt sich mit Barth anführen. Er bedenkt die Begegnung von Gott und Mensch also pneumatologisch. Insofern individualisiert der Heilige Geist die Gottesbeziehung, denn in Jesus Christus spricht Gott den Menschen je anders an. Exemplarisch kann dies mit dem Paragraphen 6.3 aus KD I/1 erläutert werden, in dem die Erkennbarkeit des Wortes Gottes Thematisierung findet. Vorausgesetzt ist, dass es Menschen möglich sein kann, das Wort Gottes zu erkennen. Auf welche Weise erfolgt demnach diese Erkenntnis des Wortes Gottes? Mit Barth ist die Möglichkeit der Erkennbarkeit des Wortes Gottes darin gegeben, von diesem Erfahrung haben zu können.79 Dabei geht die zuvor beschriebene Bestimmung des Menschen, nämlich als Bundespartner Gottes geschaffen zu sein, immer voraus. Eine Beziehung von Gott und Mensch ist so grundlegend und beschreibt das Sein des Menschen. Die Gottesbeziehung lebt in und mit diesen Erfahrungen. Durch die Erfahrung des Wortes Gottes – mit Joh 1: Jesu Christi – findet folglich die Selbsterkenntnis des Menschen (als Reflex der Gotteserkenntnis) statt. Denn das Menschsein kann nur von dieser grundlegenden Gottesdimension her verstan-

78

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ist. Den Anderen als Gegenüber stehen zu lassen und darin zu achten, konkludiert eine notwendige Anforderung an den Umgang mit der Vorsorgevollmacht. Vgl. darüber hinaus nochmals das Kapitel IV.3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit, in dem die Frage nach der Individualität bei Barth ebenfalls angesprochen wurde. Vgl. KD I/1, 194f.; 206f.; 224.

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den werden, wodurch wiederum ein Ineinander von Sein und Aufgabe umfasst ist: Dem von Gott begründeten Verhältnis entspricht es, sich zu Gott und zum Mitmenschen in Beziehung zu setzen. Der Mensch bleibt so nicht in der Passivität verhaftet, wie das vorausgegangene Kapitel V.2.2.3.1 kennzeichnet. Seine Bestimmung, das Hören, die Erfahrung und das Vernehmen fordern ein Tätigsein, ein sich selbst Bestimmen. Die Bestimmung durch Gott geht der Selbstbestimmung voraus und zugleich bedarf die Selbstbestimmung der Bestimmung durch Gott.80 Indem sich Gott also individuell zum Menschen in Beziehung setzt und ihm so Kenntnis von sich selbst vermittelt, wird der Mensch dazu aufgefordert, sich zu dieser Bestimmung zu verhalten. So ruft das Wort Gottes in die Tat, in die Aktivität und zur Selbstbestimmung auf.81 Meint dies also ein generalisierbares Geschehen? Nein, denn entscheidender Aspekt ist die Individuation, die durch den Heiligen Geist in der je spezifischen Erfahrung des Wortes Gottes geschieht. Die Erfahrung des Wortes Gottes erfolgt auf nicht zu verallgemeinernde, sondern auf je individuelle Weise. Insofern ist sie auch von dogmatischer Orientierung abzugrenzen, da das Kriterium der Eindeutigkeit, das eine Lehre fordert, nicht gewährleistet ist.82 Zur Gotteserkenntnis, für die Jesus Christus die objektive Größe darstellt, tragen sie somit nicht bei. Hingegen kann jeder Einzelne Erfahrungen machen, die für die persönliche Perspektive entscheidend sind. Menschliche Existenz bedeutet also menschliche Selbstbestimmung und menschliches Selbstbewusstsein.83 Mit Barth ist folglich auszudrücken, dass der Mensch keineswegs – gerade in seiner Bestimmung – in der Passivität und in der Masse verhaftet bleibt, sondern vielmehr individuell angesprochen ist, so wiederum sein Selbstsein erkennen und ein Selbstverständnis entwickeln kann.84 Der Mensch ist also von seiner Bestimmung als Individuum zum Sein mit Gott und mit dem Mitmenschen befreit und demnach individuell. Im relationalen Verständnis des Menschen sind Individualität und Beziehungshaftigkeit zugleich bedeutsam und verhaftet. Letztlich kann abermals der Erkenntnisweg, den Barth von der Christologie zur Anthropologie beschreitet, vor Augen geführt werden: Aus80 81 82 83

84

Vgl. KD I/1, 208. Vgl. KD I/1, 209f. Vgl. KD I/1, 210; 215; 225. Vgl. KD I/1, 213. Verdeutlicht wird im Folgenden, dass von hier aus das Verständnis relationaler Autonomie und relationaler Fürsorge zu füllen ist und so ein belastbares Konzept von Autonomie und Fürsorge zu gewinnen ist. Vgl. KD I/1, 229.

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sagen vom Menschsein sind nur christologisch zu treffen und erfolgen demnach in Entsprechung Jesu Christi. Denn Jesus Christus ist wahrer Mensch und Wort Gottes, dabei selbst und individuell, und so auch der Ermöglichungsgrund der menschlichen Individualität.85 Diese Perspektive eröffnet den Übergang, eine christologische Individualität in Universalität zu überführen: In Jesus Christus ist die Individualität für den Menschen Wirklichkeit. Zugleich wird wieder wichtig, dass die Art und Weise der Verwirklichung und der Erkenntnis letztlich individuell erfolgt – das Wort Gottes kommt zu jedem Menschen anders. In Christus ist Individualität folglich universal verwirklicht. Für den Einzelnen wird dies entsprechend so erfahrbar, wie Christus ist, nämlich individuell. Demnach kann festgestellt werden: „Die christologische Universalisierung hat deshalb die Form der humanen Individualisierung.“86 Hier zeigt sich wieder Barths erkenntnistheoretische Systematik, die nicht den vorfindlichen Menschen im Blick hat, sondern vielmehr ausgehend vom wahren Menschen Aussagen zum Menschen im Allgemeinen transferieren kann. So ist analog das Individuum nicht schon als solches vorfindlich und kann folglich nicht, wie es bei Kreß letztlich geschieht, im Privatismus verhaftet bleiben. Vielmehr kommt das individuelle Selbstsein erst durch die Gottesdimension, in der Beziehung, zustande und kann schließlich in die Gemeinschaft und die Begegnung von Mensch und Mitmensch überführt werden.87 Die Individualität, die sich in der Beziehung von Gott und Mensch begründet, tritt jeweils spezifisch in Erscheinung. Pneumatologisch gesprochen erfolgt durch den Heiligen Geist die Individualisierung dieser Gottesbeziehung. Ausreichend erscheint es somit nicht, sich nur auf den Menschen als Massenwesen zu beziehen. Vielmehr erfolgt die Individuation, indem sich Gott in Jesus Christus zum individuellen Mensch, zum spezifischen Ich, in Beziehung setzt und diesen so zum Selbstsein, zum Tätigsein und zum Sein in der Beziehung wiederum zu Gott und zum Mitmenschen befreit. Wird folglich mit Barth vom Menschen gesprochen, so steht nicht nur der Mensch als solcher oder der Mensch als Massenwesen – wie in Ansätzen etwa bei Eibach – im Fokus, sondern das konkrete Ich und das konkrete Du ist angesprochen. Die Relationalität des Menschen konstituiert die Individuation. Auf diese Weise ist immer auch seine Individualität vorausgesetzt, was sich im Folgenden speziell für den Umgang mit der Vorsorgevollmacht konkretisieren wird. 85 86 87

Vgl. Korsch, Dialektische Theologie, 89. Korsch, Dialektische Theologie, 90. Vgl. Korsch, Dialektische Theologie, 90.

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Mithilfe der Barthschen relationalen Anthropologie wird neben der Individualität zugleich die innermenschliche Beziehungsstruktur hochgeschätzt, da aus der Bestimmung seines Seins als Zusammensein mit dem anderen Menschen Humanität resultiert und so wahrhaftige Zweisamkeit ermöglicht wird. Eine Begegnung von Ich und Du ist beschrieben, ohne die der Mensch nicht Mensch wäre, zugleich aber die Subjekthaftigkeit des Individuums voraussetzt. Eine solche Humanität zeichnet sich dadurch aus, dass sie Entsprechung, Gleichnis oder Ähnlichkeit zum in Beziehung Sein Gottes ist. Dies wiederum kann nur christologisch erschlossen werden, als Entsprechung von Jesu Humanität im Sein für den Menschen. Es legt sich folglich einerseits die Überwindung der jeweiligen Vereinseitigungen von Eibach und Kreß dar, andererseits wird mit Barths christologischer Argumentation ein Zusammenhang der Gott-Mensch-Relation auf die Ebene von Mensch und Mitmensch benannt, ohne hier vorschnell Analogien zu ziehen. Dem Sein mit Gott entspricht das Sein mit dem Mitmenschen und es ist Aufgabe des Menschen als Subjekt dieses Begegnungsgeschehen zu gestalten. So ist er Mensch gemäß seiner Bestimmung. Das Ineinander von Begegnung und Subjekt Sein und Bleiben manifestiert sich. Verhindert wird so außerdem, das Menschsein an innermenschliche Prädikate anzubinden. Die Ganzheit des Menschen ist nachfolgend nochmals gezielt zu exponieren.

2.2.3.3 Zusammengehörigkeit und Ganzheit des Menschen Die Betonung der Ganzheit des Menschen stand bereits mehrfach in der Diskussion. Auch beide vorausgegangenen theologischen Positionen prononcieren teils, keine exklusive Anthropologie zu beschreiben. Gleichwohl konnte dort aufgefunden werden, dass die Ganzheit des Menschen sowie seine Achtung in allen Seinszuständen durchaus infrage stehen kann.88 Karl Barth beantwortet die Frage der Ganzheit des Menschen, indem er die geistige und die leibliche Komponente in einen Zusammenhang bringt. Er umgeht so vorausgehende reduktionistische Tendenzen wie die Begrenzung des Menschseins auf spezifische innermenschliche Eigenschaften. Die mehrfach beschriebene Gefahr von 88

Dabei rekurriert speziell der frühe Eibach auf die Geistigkeit und Körperlichkeit des Menschen, unterstreicht dann aber alleinig die soziale Dimension als Kriterium des Menschseins. Die Vernunft als konstitutives Kriterium des Menschseins ist zunehmend von Kreß vertreten, ebenso die Stärkung des selbstbestimmten Menschen, woran zugleich seine Würde gebunden wird.

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Werturteilen besteht so nicht, indem diese dem menschlichen Verfügungsbereich entzogen sind. Dass Jesus Christus hermeneutisch-methodisch als ganzer Mensch abermals als Erkenntnisquelle jener Beschaffenheit des Menschseins im Allgemeinen dient, besitzt biblische Grundlagen und erfolgt im Rekurs auf die vorausgegangenen Erwägungen zu Barth. Neutestamentliche Aussagen unterstreichen Jesus Christus als einigen und ganzen Menschen, der in der Einheit von Seele und Leib lebt – als leibhafte Seele und beseelter Leib. Er ist also gerade darin einig und ganz, dass er nicht in der Vereinigung zweier Substanzen, sondern als leibhafte Seele und beseelter Leib existiert.89 Durch Gottes Geist ist er ganzer Mensch in Verschiedenheit, Einheit und Ordnung von Seele und Leib.90 Der Mensch wiederum bedarf Gottes, wie oben gezeigt, für seine Existenz, da er – als Bundespartner geschaffen – nicht ohne Gott ist und sein kann.91 Der Geist ist dabei die von Gott ausgehende Begegnung zwischen Schöpfer und Geschöpf; die Bewegung Gottes zum Menschen. „Der Mensch ist, indem er Geist hat.“92 Die Geistgabe durch Gott stellt also die conditio sine qua non des Menschseins dar und ist Ereignis der Lebensgabe.93 Der Geist ist dabei mit Gott identisch und kennzeichnet die Bewegung Gottes zu den Menschen, welche wiederum auf diese Initiative hin mit Gott in Beziehung treten bzw. zur Begegnung mit Gott befähigt und insofern Person und selbstständiges Subjekt wer-

89

90 91 92 93

Vgl. KD III/2, 394f.; 400; Becker, Sein, 168. Vgl. ferner Gal 1,4; 2,20; Eph 5,2. 25; 1. Joh 3,16; Mt 20,28; Joh 15,13; Lk 22,19; Hebr, 10,10; Röm 7,4; Kol 1,22; 1. Petr 2,24. In dieser Stellenauswahl wird verdeutlicht, dass Jesus Christus seine Seele und sein Leib ist und somit als einiger und ganzer Mensch begegnet, „am Kreuz gestorben ist und damit unsere Sünde unwirksam gemacht, unsere Versöhnung vollzogen hat“ (KD III/2, 394). Zu erwähnen ist außerdem notwendigerweise, dass sich Karl Barth in seinen Erläuterungen vom platonischen Leib-Seele-Dualismus abgrenzt und insbesondere davor zurücktritt, derartige Implikationen in eine anthropologische Reflexion einfließen zu lassen. Barth verwehrt Aussagen der Trennung von Leib und Seele – auch dadurch, da sie nicht biblisch begründet erscheinen – und rekurriert auf eine durch Gottes Geist gestiftete, unauflösliche Einheit und Zusammengehörigkeit von Seele und Leib. Vgl. Hasenfratz, Art. Seele; Hoheisel, Art. Seele; Wilke, Art. Leib und Seele; Becker, Sein, 167f. Vgl. KD III/2, 391. Vgl. KD III/2, 414; 426; Becker, Sein, 169. KD III/2, 425. Vgl. KD III/2, 428ff.; 435ff.; Becker, Sein, 170f. Vgl. zudem Joh 6,63; 2. Kor 3,6 und darüber hinaus Barths beschriebene Ordnungsrelation von Geist, Seele und Leib im Sinne einer Zusammengehörigkeit und Besonderheit. Vgl. KD III/2, 438–487; 502ff.; Becker, Sein, 169; 172ff.

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den.94 Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung ergeben sich hier. Der Mensch ist also so geschaffen, Gott wiederum vernehmen zu können, was durch die ontologische Relationalität des Menschen begründet ist, jedoch nicht als Kriterium des Menschseins identifiziert werden kann. Der Mensch kann in Entsprechung zu dem, was er von Gott vernimmt, selbst tätig werden.95 Weiter lässt sich nach der Beschaffenheit des Seins als ganzer Mensch und somit nach seiner Existenzweise fragen. Sie ist (in Entsprechung Jesu Christi) als seelisch und leiblich zu beschreiben: „Das menschliche Sein ist da: insofern ist es seelisch; und indem es da ist, ist es so da und insofern leiblich.“96 Er existiert als Seele und Leib – oder genauer als Seele seines Leibes. Der Leib des Menschen ist ein Körper, der darauf angewiesen ist, Leben zu haben.97 Folglich existiert der Mensch, indem sein Körper lebendig und somit beseelter Körper, also Leib ist. Die Seele wiederum ist dem Leibe das wesens- und existenznotwendige Leben.98 „Indem er von Gott Geist bekommt, lebt er, wird und ist er Seele, wird und ist sein Körper Leib, ist er Seele dieses seines Leibes.“99 Den Geist Gottes zu haben bedeutet also, „daß er als Seele seines Leibes von Gott begründet, konstituiert und erhalten wird.“100 Der Mensch ist somit zugleich Seele und Leib. Basierend auf dieser Ordnung wird der Mensch als Vernunftwesen101 verstanden und als Seele seines Leibes ist der Mensch Subjekt und er selbst.102 Der Mensch ist dazu befähigt und fähig, in seiner eigenen Tätigkeit „als geschöpfliche Person für die Person des Schöpfers da zu sein“103 . Folglich kann er als Gottes Geschöpf auch Gottes Partner – und daraufhin der des Men94

Vgl. KD III/2, 428; 474. Vgl. ferner Joh 4,24. Vgl. KD III/2, 476ff.; 487; Becker, Sein, 174. 96 KD III/2, 391. Vgl. Becker, Sein, 169. 97 Vgl. KD III/2, 420. 98 Vgl. KD III/2, 421. 99 KD III/2, 431. 100 KD III/2, 414; Becker, Sein, 169. 101 Barth beschreibt den Menschen innerhalb der Ordnungsrelation von Seele und Leib (bzw. in der Überordnung der Seele über den Leib) auf spezifische Weise als Vernunftwesen. Der Mensch existiert in jener Ordnung von Seele und Leib und wird in dieser von Gott angeredet. „Indem er als Seele seines Leibes von Gott begründet, konstituiert und erhalten wird und also indem er den Geist empfängt und hat, kommt es zu diesem Geschehen: zu diesem Regieren der Seele und zu diesem Dienen des Leibes. Und eben in diesem Geschehen ist der Mensch ein Vernunftwesen“ (KD III/2, 502f. (Formatierung d. Vf.); vgl. Becker, Sein, 174f.). 102 Vgl. KD III/2, 512. 103 KD III/2, 512. 95

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schen – sein. Das Ineinander von Passivität und Aktivität, von Sein und Handeln, tritt wieder hervor. Barth verdeutlicht somit eine unzerstörbare, geordnete Zusammengehörigkeit von Seele und Leib. Dies achtet den Menschen in seiner kognitiv-geistigen Struktur aber eben auch – und nicht zuletzt – als Leib. Konkret wird dies etwa bei kognitiven Degenerationsprozessen oder bei Menschen mit geistiger Behinderung: Auch sie sind Seele dieses ihres Leibes und werden durch Gottes Geist als Subjekt begründet, konstituiert und erhalten. In Abgrenzung zu Eibach und Kreß beschreibt Barth also eine Ganzheit des Menschen, die durch Gottes Geist in Jesus Christus gegeben und geschätzt wird. Bei ihm ist sie darin zugleich individuell. Das ontologische in Beziehung Sein von Gott und Mensch wird nunmehr wieder deutlich. In und durch die Geistgabe Gottes, die den Menschen als Seele seines Leibes begründet, konstituiert und erhält, ist der Mensch (vernehmendes und tätiges) Subjekt und Vernunftwesen. Einher geht so wieder seine Aufgabe, in Beziehungen zu sein. Das Ineinander von Individualität und Beziehung sowie die Achtung des Menschen als Ganzheit prägt das Menschsein. Dass dies auch in der Zeit und als endlicher Mensch gilt, ist nun herauszustellen. 2.2.3.4 Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen Zeitlichkeit ist ein vorfindliches Kennzeichen des menschlichen Lebens. Die Begrenztheit des Seins wird speziell im Kontext medizinethischer Sachverhalte, etwa hinsichtlich Angewiesensein, Kranksein oder Sterben, speziell bei Behandlungsentscheidungen, unweigerlich bedeutsam.104 Im Rückblick auf Eibach und Kreß hingegen kann der Eindruck entstehen, dass sie die vorfindliche Zeitlichkeit des Menschen nicht vollständig ernst nehmen. Kreß degradiert Zeitlichkeit zu einer gewissen Beliebigkeit, wenn in einer solipsistischen, Kreß würde sagen: selbstbestimmten Entscheidung jeder ein Sterben in Würde selbst definieren kann. Zeitlichkeit gerät im anderen Extrem infrage, wenn Eibach die soziale Dimension als entscheidende Instanz über Leben und Tod, Weiterbehandlung oder Sterbenlassen sowie letztlich über den Lebenssinn einsetzt. Auf diese Vereinseitigungen gilt es zu reagieren. Zeitlichkeit und Endlichkeit wahr- und ernst zu nehmen sowie als zum 104

Verwiesen sei auf Dominik A. Beckers ausführlichere Aufarbeitung zur Zeitlichkeit als Signatur des menschlichen Daseins in Anlehnung an Barths Paragraphen 47 der Kirchlichen Dogmatik. Auch die Zuordnung der Ausführungen zur Christologie und Soteriologie werden dort in sachgemäßer Knappheit vorgestellt. Vgl. Becker, Sein, 177ff.

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

Menschsein gehörend darzustellen, damit wiederum den Tod zu akzeptieren, ist mit Barth nun auszuführen. All jene Aspekte resultieren darin, dass keine Minderung des Menschseins etwa in Leidens-, Schwachheits- oder Krankheitssituationen angenommen werden kann. Innermenschliche Würdeurteile werden – auch entgegen Kreß und Eibach – unmöglich. Mit Barth kann die Zeit als von Gott gewollte und geschaffene Existenzform wahrgenommen werden. Die Ewigkeit Gottes ist dabei der Ursprung der Zeit.105 Menschlichkeit begegnet als Zeitlichkeit, da der Mensch existiert, indem er in einer bestimmten Zeit existiert. Die Zeit, die Gott seinem Geschöpf zur Verfügung stellt, um gemäß seiner Bestimmung in Relationen zu leben, ist eine begrenzte Zeit.106 Um aber „sein Dasein und Sosein als Seele seines Leibes zu vollstrecken, kann er die Zeit nicht entbehren, muß er Zeit bekommen und haben.“107 Der Mensch kann in keiner Weise über diese Zeit verfügen. Sie ist ihm von Gott gegeben und somit außerhalb des menschlichen Machtbereichs verortet. In den vorfindlichen Zeitmodi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist je Gott Garant des Seins.108 Der Mensch ist also in allen Zeitmodi mit Gott, existiert in der von Gott geschaffenen Zeit und ist in den Händen Gottes geborgen.109 Zeitlichkeit in ihrer gegebenen Befristung erscheint so als conditio sine qua non des Lebens und Endlichkeit gar als anthropologische Notwendigkeit, da hier die in Jesus Christus vollzogene Erlösung in unserem Leben in Kraft tritt. Die Endlichkeit des Menschen und seine endliche Zeit sind umfangen von Gottes Ewigkeit.110 Indem der Mensch durch seine Zeit schreitet, ist er in Veränderung und doch identisch mit sich. Zeitlichkeit impliziert geradezu Veränderung und macht zugleich Identität aus.111 Veränderung und Identität stehen folglich in keinem Widerspruch, sondern sind zusammengehörig. Zu beachten ist dies besonders bei alterungs- oder krankheitsbedingten Veränderungsprozessen. So, wie die Patientenverfügung derzeit gestaltet ist, scheint sie gerade der Offenheit für Veränderung nicht gerecht zu werden. Wie die Vorsorgevollmacht dem in 105

Vgl. KD III/2, 628; Becker, Sein, 179. Vgl. KD III/2, 524ff.; Becker, Sein, 177ff. 107 KD III/2, 525. Vgl. darüber hinaus KD III/2, 530; 546; 616; 625; Becker, Sein, 177ff. 108 Vgl. KD III/2, 628f.; 634; Becker, Sein, 179. Für die Einordnung der Zeitmodi vgl. KD III/2, 636–652; Becker, Sein, 179f. 109 Vgl. KD III/2, 659; 665; Becker, Sein, 180f. 110 Vgl. KD III/2, 525; 683ff.; 766ff.; Becker, Sein, 180ff. 111 Vgl. KD III/2, 524f. Zur Thematisierung des Topos Identität siehe Kapitel V.3.1.1. 106

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stärkerer Aufgeschlossenheit entgegensteht, wird besonders in Kapitel V.3.1.1 aufzuarbeiten sein. Nach Psalm 139 umgibt Gott uns von allen Seiten. Diese Zusage gilt auch hinsichtlich der Zeitlichkeit – gleichermaßen für den Anfang und das Ende eines Lebens. Wie die wohlbegrenzte Zeit des Menschen und der Tod in ein Verhältnis gesetzt werden können, bzw. welches Verständnis des Todes zu entfalten ist, gilt es zu klären. Vordergründig erscheint die Radikalität des Todes durch seine vollständige Negation des Lebens und somit des menschlichen Seins als Ganzem. Im Tod ist der Mensch bzw. sein Leben vor Gott gestellt, welches sich als schuldhaftes Leben zeigt. Zu vernehmen ist aber, dass Gott im Tode des einen Menschen Jesus den Tod nur zum Zeichen unseres Gerichts gemacht hat.112 „Gott aber [. . . ] hat sich selbst den Tod zu eigen gemacht, in dem er selbst das Todesgericht erlitten hat, und damit hat er uns frei gesprochen und sich als der gnädige Gott erwiesen.“113 Es zeigt sich, dass gerade Gott im Tode „unser Helfer und Retter und als solcher unsere Hoffnung ist.“114 Vor diesem Hintergrund ist auch die Furcht vor dem Tode ins Verhältnis zu setzen. Die Endlichkeit steht im Schatten der Schuldhaftigkeit, in welcher eine Furcht vor dem Tode naheliegend ist.115 Die Zeichenhaftigkeit des Todes jedoch bestätigt, dass dieser nicht das letzte Wort sein wird.116 Da wir im Tode mit unserer Nichtigkeit vor Gott stehen, ist die Furcht vor dem Tod eigentlich die Furcht vor Gott und davor, endgültig in seiner Hand zu sein.117 „Wir werden aber in seine und nicht in andere, nicht in fremde Hände fallen.“118 Deutlich wird: Der Mensch ist auch im Tode in Gottes Hand geborgen und somit kann der Tod nicht Herr, sondern nur dienender Sklave sein. „Weil Gott der Herr des Todes ist, können wir eigentlich doch nur ihn fürchten, und wie sollten wir gerade ihn, den gnädigen Gott, fürchten, ohne uns seiner zu trösten“119 . Es zeigt sich also, dass mitten im Tod Gott Helfer und Erretter ist. Denn in Jesus Christus hat Gott für alle den Tod erlitten und überwunden und in Jesus Christus ist der Tod zum bloßen Zeichen des Gerichts gemacht.120 Gleichwohl gehört der Tod vor obigem Hin112

Vgl. KD III/2, 725; 747; Becker, Sein, 182ff. Becker, Sein, 184; KD III/2, 741. 114 KD III/2, 744. 115 Vgl. KD III/2, 739. 116 Vgl. KD III/2, 739. 117 Vgl. KD III/2, 739ff. 118 KD III/2, 740f. 119 KD III/2, 742. 120 Vgl. KD III/2, 747. 113

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2. Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth

tergrund als gute und rechte Begrenzung des menschlichen Lebens zu Gottes Schöpfung.121 Nachdrücklich ist diese endliche Zeit – und das darf Hoffnung sein – von der Ewigkeit Gottes umfangen.122 2.3 Fazit und Ausblick Die relationale Anthropologie nach Karl Barth greift, wie innerhalb der gezeichneten Umrisse deutlich wurde, zentrale Dissense und Reduktionen Ulrich Eibachs und Hartmut Kreß´ auf, bindet sie in eine durchgängig christologisch-bundespartnerschaftliche Argumentationslinie ein und schafft so eine neue Perspektive auf den Menschen, die seine Ganzheit sowie seine Auszeichnung nicht exklusiv von Gott her begründet. Dabei beachtet sie ein Ineinander von Passivität und Aktivität, von Begegnung und Individualität sowie Zeitlichkeit und Endlichkeit ausgewogen. Der Mensch als von Gott begründetes, konstituiertes und erhaltenes Wesen ist Empfangender dieses seines Seins von Gott und dadurch zugleich in die Verantwortung gerufen, sein Sein aktiv zu gestalten, sich selbst in die Begegnung zu Gott und zu dem Mitmenschen zu setzen und das Leben als relationales Wesen wahrzunehmen. Gott ist immer zuerst Garant des Seins und des Lebens – und auch Sterben und Tod können in der Hoffnung verstanden werden, von Gott umfangen zu sein. Entscheidend ist bei Barth ein Ineinander von Sein und Aufgabe, von Aktivität und Passivität, von Empfangen und Handeln. Dass dies gerade lebensweltlich an recht verstandener Autonomie und recht verstandener Fürsorge deutlich wird, ist im Folgenden kenntlich zu machen. Er integriert nachdrücklich das Anliegen Ulrich Eibachs, den Menschen als auf den Mitmenschen angewiesenes Wesen zu zeichnen, mit dem Kreß´, die eigene Subjekthaftigkeit hochzuschätzen, ohne das Menschsein auf eine dieser Ebenen zu reduzieren. Menschlichkeit gestaltet sich somit nicht ausschließlich als Mitmenschlichkeit oder als Solipsismus, sondern als Sein in der Begegnung als Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen, in dem ein Wechselverhältnis von Individualität und Sozialität konstitutiv ist. Das Leben ist durch Gottes Geist als Seele seines Leibes in seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit begründet, konstituiert und erhalten und avanciert die Verantwortung, es in der Begegnung zu gestalten. Dass dieser spezifischen Wahrnehmung des Menschen einen besonderer Nutzen im medizinethischen Kontext inhäriert, werden die sich anschließenden Kapitel exemplarisch verdeutlichen. Zugleich ist genauer 121 122

Vgl. KD III/2, 769f. Vgl. Becker, Sein, 186.

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aufzuzeigen, dass gerade die Vorsorgevollmacht auf diese relationalanthropologische Konzeption geeignet reagiert und einen Nutzen für die Praxis statuieren kann.

3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik Innerhalb des vorliegenden Kapitels wird sich die ethische Relevanz und der Gewinn der skizzierten Barthschen Grundlagen verdeutlichen. Implikationen solcher Art sind mit Barth konkret möglich, da Dogmatik und Ethik, wie bereits erläutert, kohärieren.123 Eine Erkenntnis des Menschen kann nur eine durch das Wort Gottes vermittelte Erkenntnis sein. Dabei wird Zentralität entfalten und immer wieder aufweisen, recht verstandene Autonomie und recht verstandene Fürsorge in ein Verhältnis zu setzen. Sowohl der Anschluss an als auch die Weiterführung von den Positionen Ulrich Eibachs und Hartmut Kreß´ hat diese Notwendigkeit bereits aufgezeigt. Dass sich nun gerade die dargelegte Barthsche relationale Anthropologie auf diese Topoi hin übersetzen lässt und so ihr Gehalt deutlich wird, wird sich im weiteren Verlauf zuerst speziell für den Fokus auf Identität, Ehre, Würde und Begegnung konkretisieren. Dabei ist die vorherig erfolgte Grundlegung vorauszusetzen. Dass dieses oben erläuterte Ineinander von Sein und Aufgabe, Begegnung und Subjektsein, Passivität und Aktivität gerade das Verhältnis von recht verstandener Autonomie und recht verstandener Fürsorge bedingt und inhaltlich füllt, ist im Rückblick auf Kapitel V.2 pointiert zu überführen. Die Frage nach recht verstandener Autonomie und recht verstandener Fürsorge von Barth her zu stellen heißt also, nach des Menschen Sein, Bestimmung und Auftrag zu fragen. Zugleich kann diese Perspektive nur eine durch das Wort Gottes vermittelte Perspektive sein, da es dem Menschen unmöglich ist sich selbst aus sich selbst heraus innerhalb seiner vorfindlichen defizitären Realität zu erkennen. Der Mensch findet sich selbst also erst im Wort Gottes und ist infolge der sich individuell ereignenden Beziehung Gottes zum Menschen Subjekt. Sein Selbstsein, seine Individualität und seine Identität sind so in der Gottesbeziehung gehalten und gesichert. Dieser Erkenntnis des eigenen Selbst entspricht es, auf die Beziehung und ihre Ermöglichung zu antworten und als verantwortlich tätiges Subjekt die Aufgabe wahrzunehmen, sich wiederum zu Gott und zu den Mitmenschen in Beziehung zu setzen. 123

Vgl. dazu nochmals Kapitel IV.3.1.1.1.

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

Autonomie, nämlich ein eigenverantwortliches Selbst zu sein, und Fürsorge, nämlich den seiner Bestimmung gemäßen Auftrag zum Sein mit den Mitmenschen aus der Gottesbeziehung heraus in die Tat umzusetzen, sind immer und zugleich Grundstruktur des menschlichen Seins als Ganzem. So ist jeder Mensch autonom von Gott her, in Bezug auf sich selbst und auf den Mitmenschen. Dass sich dies in unterschiedlicher Intensität ausdrücken kann, ist eine erfahrbare Realität. Gleichwohl geht die Autonomie des Menschen nicht verloren, da sie die Wirklichkeit des Menschen beschreibt und darin (relational) zu achten ist. Menschen sind aufgefordert für diese Autonomie einzutreten. Autonomie und Fürsorge implizieren ein Wahrnehmen und ein tätiges Gestalten: Einerseits dahingehend, dass der Mensch immer schon in Beziehungen verhaftet ist und diese andererseits aktiv formen kann. Wechselwirkung zeigt dabei die Wahrnehmung des eigenen Selbst und der eigenen Individualität mit der Wahrnehmung des Selbst des Gegenübers und seiner Identität.124 Beide sind in Christus spezifisch angesprochen, konstituiert und erhalten, wobei sich konkret ihre je eigene Identität in der Begegnung miteinander formiert. So wird eine Perspektive vermittelt, die jeden Menschen als individuelles Selbst in der Beziehung zu Gott stehend, in seiner eigenen Verfassung und mit seinen spezifischen Möglichkeiten wahrnimmt. Sie ist folglich nicht-exklusiv zu verstehen. Den besonderen Gehalt für Lebenssituationen, in denen die Aktivität des Menschen an ihre Grenzen gerät, werden die folgenden Kapitel weiter offenlegen. Den Menschen als ganzen, vollständigen und schutzwürdigen Menschen, unabhängig von seinen empirischen Eigenschaften oder Leistungen wahrzunehmen, wird dabei ein Ziel sein. Gegenseitige Achtung und Inanspruchnahme sind zudem Resultat. Zugleich kann eine solche Autonomie nicht mit Solipsismus oder Privatismus bzw. Fürsorge nicht als paternalistischer Ersatz oder vollständige Vertretung einer Person verstanden werden. Das Bild von recht verstandener Autonomie und recht verstandener Fürsorge konkretisiert sich also darin, die Individualität der Person vorauszusetzen und den Menschen zugleich in seinen Beziehungen verhaftet wahrzunehmen, was wiederum die Individualität prägt. Ein Wechselverhältnis, das sich speziell im Beistand Gewähren und Beistand Bedürfen konkretisiert, deutet sich an. So gehören Autonomie und Fürsorge untrennbar zusammen, sind christologisch vermittelte Kriterien und formieren sich im Respekt voreinander und miteinander. Der Mensch bleibt ferner immer und grundlegend in der Gottesbeziehung verhaf124

Diese Aspekte werden gezielt in Kapitel V.3.3 tiefergehend entfaltet.

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tet, trägt aber als selbsttätiges Ich Verantwortung für Lebensverhältnisse und kann das Zusammenleben gestalten. Deutlich geworden ist also, dass die Grundlinien der Barthschen relationalen Anthropologie das (rechte) Verständnis von Autonomie und Fürsorge präzisieren. Gezeigt ist folglich, dass die menschliche Realität weder in der Vermassung noch im Solipsismus aufgeht, sondern vielmehr zwei grundlegende Dimensionen hat: Die Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen. Diese doppelte Relation zugrunde legend ist automatisch der Einzelne stark im Blick. Zugleich aber findet Berücksichtigung, dass das Sein in der Gemeinschaft geschieht. So lassen sich auch die nun zuerst im Fokus stehenden Begriffe Identität, Ehre und Würde einerseits als zukommend, andererseits als Gestaltungsaussage auffassen und von hier aus weiter füllen. 3.1 Identität, Ehre und Würde des Menschen Zentral erscheint zu Beginn die Klärung der Begrifflichkeiten um Identität und Menschenwürde, da sie es sind, an denen sich ethische Diskurse entzünden und differente Wahrnehmungen des Menschen offenbaren. Deutlich werden konnte dies bereits bei den Untersuchungen zu Ulrich Eibach und Hartmut Kreß. Erinnert sei daran, dass Eibach zwar die Menschenwürde von außen durch die Gottebenbildlichkeit und somit nicht als internen Habitus, sondern als unverlierbar statuiert, sie gleichwohl aber durch die zunehmende Autonomieforderung in Gefahr sieht und sie letztlich nur eschatologisch und damit retrospektiv zu sichern weiß. Eibach verbindet auch hier die Würde mit der reinen Passivität des Empfangens und sieht Würdeschutz (ausschließlich) da gewährleistet, wo das Leben geschützt wird. Würde hingegen als Rechtsgrundsatz zu verstehen, begegnet bei Hartmut Kreß. Er gewichtet sie folglich normativ für jede ethische Diskussion, wobei zugrunde liegt, dass er sie (vereinseitigend) mit (solipsistischer) Freiheit und (autarker) Selbstbestimmung identifiziert. Der Fokus auf die das Kapitel überschreibenden Begriffe lässt sich neben der theologischen Verortung jener auch mit ihrem tieferen Verständnis für den alltäglichen Gebrauch erklären. Insbesondere hinsichtlich medizinisch umfassend therapierter Zustände, etwa des Lebensendes oder diverser Krankheitszustände, ist mitunter wahrnehmbar, dass teils von würdelosen Lebenssituationen gesprochen wird, die wiederum beispielsweise eine vermehrte Forderung nach aktiver Sterbehilfe hervorbringen. Da nun die Vorsorgevollmacht insbesondere in Krankheitssituationen (am Lebensende) Einsatz findet und dort Relevanz erfährt,

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ist sie konkret von der Thematik Würde und Identität betroffen. So ist ein genaueres Verständnis dieser Begrifflichkeiten grundlegend. Die Frage nach der Identität stellt sich dabei insbesondere bei schwerst pflegebedürftigen Menschen sowie bei Menschen mit (geistig-kognitiven) Degenerationserscheinungen, wie beispielsweise der (Alzheimer-)Demenz. Zu klären wäre, wie und ob die Identität eines Menschen durch Krankheit und körperlich-geistige Veränderungen beeinträchtigt wird und vor welchen Herausforderungen Vorsorgebevollmächtigte konkret stehen. Identität und Würde des Menschen lassen sich dahingehend gemeinsam betrachten, dass sie weder interner Habitus noch Eigenschaft des Menschen sind, sondern dem Menschen von außen, nämlich von Gott, zukommen. „Damit sind sie dem Menschen wohl zugehörig, aber darin auch entzogen. Sie sind insofern Akte der Begegnung Gottes mit den Menschen. Gott stiftet (in der Begegnung mit den Menschen) Identität und Würde.“125 Hinzu kommt, dass sich dieser Aspekt von der Begegnung Gottes mit den Menschen in Jesus Christus ableitet. Von der Wirklichkeit Jesu Christi erschließt sich die Möglichkeit der Entfaltung des Menschseins. Des Weiteren ist den Begriffen Identität und Würde gemein, dass ihnen ein Gestaltungsauftrag inhäriert, hier folglich wieder die Zusammengehörigkeit von Sein und Aufgabe konkret wird. Sie sind also Zuspruch und Anspruch.126 Dominik A. Becker beschreibt diese doppelte Spezifikation mit folgenden Worten: „Aus dem Zuspruch der Würde folgt der Anspruch, für Verhältnisse zu sorgen, in denen jeder Mensch ‚würdevoll‘ leben kann. Aus der in und bei Gott gehaltenen Identität des Menschen als Identität, der eine Vielzahl von Entfaltungsmöglichkeiten der ontologischen Relationalität inhärieren, folgt der Anspruch, dem Mitmenschen so zu begegnen, dass dieser seine Identität in der Begegnung entfalten kann.“127

Die Begrifflichkeiten stehen folglich in unmittelbarer Analogie der vorausgehend entwickelten Erkenntnis in Anlehnung an Barth, dass das Sein des Menschen in Relationen ein Ineinander von Passivität und Aktivität, von Sein und Handeln und damit von Zuspruch und Anspruch umfasst.128 125

Becker, Sein, 198. Vgl. Becker, Sein, 198f. 127 Becker, Sein, 198. 128 Vgl. Kapitel V.2. 126

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3.1.1 Relationale Identität Der Topos Identität ist zu thematisieren, da in Anlehnung an Eibach und Kreß diesbezüglich Reduktionen aufzufinden waren. Fraglich ist etwa bei Eibach, ob die Identität eines Menschen alleinig durch den Mitmenschen zugeschrieben werden kann. Bei Kreß hingegen erscheint klärungsbedürftig, ob Identität in der Abgrenzung vom Gegenüber erfasst sein kann und Veränderungen des Menschen, die sich möglicherweise krankheitsbedingt ergeben, die Identität infrage stellen. In den vorausgegangenen Kapiteln wurde mithilfe von Barth das Sein des Menschen als von Gott konstituierte, geschaffene und erhaltene Seele seines Leibes entfaltet. Insofern ist die Identität des Menschen, die sich im Beziehungsgeschehen des Menschen für Gott und für den Mitmenschen realisiert, eine zuerst von Gott konstituierte Identität.129 Wie bereits mehrfach hermeneutisch begründet, dient auch hier Jesus Christus als Quelle und Ziel der anthropologischen Aussagen zur Identität, die Gott einerseits konstituiert und andererseits erhält. „Gott offenbart sich in dieser Begegnung als einer, der Gott für die Menschen ist und der Mensch als einer, der als erwählter Bundesgenosse für Gott und für die Menschen bestimmt ist. In dieser Begegnung erweisen sich Gott und Mensch als relational konstituiert, als Verhältniswesen, wobei der erwählende Gott als der den Menschen überhaupt erst Konstituierende, als der Schöpfer des Menschen, zu verstehen ist. Gott ist so das ursprüngliche Subjekt, der unser Subjektsein ermöglicht und so auch diejenige Identität, die unsere Identität ermöglicht.“130

Gezeigt wurde oben einerseits, dass die Identität auch des einzelnen Menschen als Seele seines Leibes von Gott konstituiert und geschaffen ist, andererseits, dass der Mensch zum Bundespartner Gottes als Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen bestimmt ist. Folglich ereignet sich seine Identität eingebunden in Relationen: „Sie kommt aus der Begegnung Gottes mit dem Menschen und ist auf Begegnung angelegt“131 . Dass der Mensch als Seele seines Leibes durch die Geistgabe Gottes existiert, ist ein weiteres Resultat vorausgegangener Darstellung. „Der Geist Gottes nämlich erschließt dem Menschen – wie es in Jesus Christus offenbar und wirklich ist – eine Fülle von Möglichkeiten zur Verwirklichung seiner Bestimmung zum Bundespartner Gottes“132 . Durch den Geist Gottes ist der Mensch somit befähigt, die 129

Vgl. Becker, Sein, 199. Becker, Sein, 200. 131 Becker, Sein, 201. 132 Becker, Sein, 201. Vgl. KD III/2, 425ff. 130

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Möglichkeiten zur Verwirklichung seines Menschseins als Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen wahrzunehmen. Infolgedessen ermöglicht der Geist Gottes zuerst die Identität des Menschen darin, Person und selbstständiges sowie (selbst-)verantwortliches Subjekt zu sein.133 Nach Barth ergibt sich somit für das menschliche Sein immer ein Vernehmen sowie ein Tätigsein. Der Mensch ist „vernehmende und tätige Seele seines sein Vernehmen und Tun ins Werk setzenden Leibes.“134 Identität konkretisiert sich aufgrund dieses Vernehmens und Tätigseins in Form der Begegnung mit Gott und dem Mitmenschen. „Im Vollzug von Vernehmen und Tätigsein kristallisiert sich die Identität des Menschen heraus, hier wird der Mensch sich selbst und seinem Gegenüber – sei es Gott oder einem Menschen – offenbar. Im Vernehmen und Tätigsein realisiert bzw. aktualisiert er also seine ontologische Relationalität.“135

„Das nämlich, was die Identität des Menschen aus theologischer Sicht ausmacht, ist seine Bestimmung zum Bundespartner Gottes“136 . Und insofern betrifft die Identität den ganzen Menschen, weil der Mensch auch als ganzer Mensch von Gott als Seele seines Leibes als relationales Wesen geschaffen ist. Die Identität eines Menschen ist damit ontologisch unverlierbar, weil sie durch Gottes Geist konstituiert wird als Seele seines Leibes und er so die Möglichkeiten zur Verwirklichung der Identität schafft. „Weil in Jesus Christus offenbar geworden ist, was die Identität des Menschen ist, dass sie eine in der Begegnung zur Gestalt kommende Identität ist, weiß die theologische Anthropologie also um eine von Gott konstituierte und gehaltene Identität.“137 Auf Grundlage des bisher Gesagten verdeutlicht sich bereits eine Konkretion zur Vorsorgevollmacht. Die Linien, die sich ausgehend von einer relationalen Identität zur Vorsorgevollmacht hin ziehen lassen, sind vielschichtig. Anfänglich ist darauf zu rekurrieren, dass die Identität eines Menschen (wir werden später sehen: ebenso die Würde des Menschen) kein interner Habitus ist, sondern von Gott gestiftet und erhalten wird. Insofern kann es keine Aufgabe des Menschen darstellen, die eigene Identität (oder die von Mitmenschen) zu schaffen; sie ist vielmehr in Anspruch zu nehmen, innerweltlich zu realisieren und zu gestalten. Die volle Identität, auch des Einzelnen, die sich sicher nur fragmentarisch in der Welt ausdrücken kann, liegt bei Gott und ist somit letztlich 133

Vgl. Becker, Sein, 201f. KD III/2, 500. 135 Becker, Sein, 202. 136 Becker, Sein, 203. 137 Becker, Sein, 217. 134

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eschatologisch zu verstehen. Dieses vernehmend ist es wiederum die Aufgabe des Menschen, als selbstständiges und (selbst-)verantwortliches Subjekt in Form der Begegnung Identität zu konkretisieren. Hierin wird besonders der relationale Charakter ersichtlich. Die Ausbildung der Identität erfolgt also in der Begegnung. Dabei scheint die Vorsorgevollmacht eine Möglichkeit zu schaffen, dieses Begegnungsgeschehen (in allen Bereichen des persönlichen Lebens) auch durch Situationen hindurch, in denen die Selbst-Tätigkeit an ihre Grenzen gerät, zu initiieren, aufrechtzuerhalten und (als juristisches Instrument) nach außen zu sichern. Denn hier begegnet unmittelbar der Mensch dem Mitmenschen. Beide sind je Individuen, die auch schon ihre Individualität im Miteinander ausgebaut haben, indem sie in Beziehung sind. In spezifischen Lebenssituationen kann es dazu kommen, dass die Möglichkeiten zur Selbsttätigkeit an ihre Grenzen gelangen. Hier sind besonders die Mitmenschen angesprochen, die Individualität ihres Gegenübers zur Geltung zu bringen und in Beziehungen zu gestalten. Für den konkreten Umgang mit der Vorsorgevollmacht kann dies etwa bedeuten, dass reziprok für personale Begegnung mit Mitmenschen eingestanden wird. Speziell für das Verhältnis von Vollmachtgeber und -nehmer ist auf die Akzeptanz der Identität und ihrer Gestaltung Bezug zu nehmen. Dabei ist z. B. daran zu denken, dass persönliche Eigenarten, Verhaltensweisen und auch Wünsche gegenseitig im Rahmen der eigenen Möglichkeiten anerkannt werden und sich das Miteinander an ihnen auszurichten versucht. Auch dem Erhalt weiterer, für die jeweilige Identität konstitutiven Beziehungen kann dabei ein Raum gewährt werden. Im Hinblick auf den Vollmachtnehmer scheinen diese Dinge auf der Hand zu liegen: Er kann in dem Falle, dass der Vollmachtgeber diesen Aspekten nicht mehr vollständig nachkommen kann, für sie eintreten und sie realisieren. Zu denken wäre beispielsweise an spezielle Tagesrituale, Essensgewohnheiten oder daran, Freundschaften zu pflegen. Aber auch der Vollmachtgeber steht ebenfalls vor der Aufgabe, die Identität seines Gegenübers zur Realisierung zu bringen, ihn zu respektieren, zu akzeptieren und sich auf die Begegnung mit ihm einzulassen. Dies kann etwa darin geschehen, dem Tun des Vollmachtnehmers eine gewisse Offenheit entgegenzubringen, sich ggf. auf Veränderungen einzulassen oder auch persönliche Grenzen oder Ruhepausen des Gegenübers möglichst anzuerkennen. Wenngleich kein symmetrisches Verhältnis hier zugrunde liegt, so ist jeder Partner in der Beziehung dazu aufgerufen, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu handeln. Ferner wird sich im Umgang mit der Vorsorgevollmacht für ihr korrektes und damit belastbares sowie praxistaugliches Verständnis zum

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

Maßstab setzen müssen, die verschiedenen Ebenen einer relationalen Identität zu akzeptieren, ohne sie nivellieren zu wollen. Dies bedeutet, dass Individualität als von Gott gestiftet und erhalten wahrgenommen wird. Sie kommt in der Welt nur fragmentarisch zum Ausdruck. Zugleich aber ist ein Tätigsein darin gefordert, Individualität in Form der Begegnung zu konkretisieren, für sie einzutreten und sie aufrechtzuerhalten. Diese beiden Größen sind entsprechend wahrzunehmen. Konkret wird dies etwa in Zuständen der Entscheidungs- und Äußerungsunfähigkeit. Hier ist insbesondere vom Vollmachtnehmer zu berücksichtigen, dass die Identität des Vollmachtgebers einerseits eine von Gott gestiftete und erhaltene Identität ist, die sich bereits im Begegnungsgeschehen – sicher auch mit dem Vollmachtnehmer – konkretisiert hat und für die nun der Vollmachtnehmer auftritt, um sie dann zukünftig weiter (innerweltlich) aufrechtzuerhalten. Somit ist die (Be-)Achtung der ganzen Person ein wichtiger Aspekt. Ein Missverständnis läge wohl vor, wenn eine Egalisierung der Personen angestrebt wird. Sodann tritt der Vorwurf der (paternalistischen) Vertretung im Sinne eines vollständigen Ersatzes der Subjekte auf. Der Gestaltungsauftrag, der der relationalen Identität inhäriert, ist zu unterstreichen – im Umgang mit der Vorsorgevollmacht wird genau dies ermöglicht. Wie schon in Grundzügen beim Verständnis der Zeit entwickelt wurde, kann auch die Identität als durch und über die Zeit hinweg von Gott erhalten bestimmt werden. Die diachrone Identität zeigt Relevanz für medizinethische Grenzsituationen, in denen etwa über einen Behandlungsabbruch in Verbindung mit der Frage nach den Grenzen des Menschseins zu entscheiden ist.138 Auch in diesem Kontext ist vorrangig und grundsätzlich zuerst darauf zu verweisen, dass die Zeit des Menschen von Gott umfangen ist. „Personale Identität ist also nicht etwas, was wir selbst herstellen müssen, sondern etwas, das uns von Gott her zukommt.“139 Sie bleibt in Gott erhalten: „Und auch vom Vergessen wird dann – wenn man bedenkt, daß das Gewesene in Gottes Händen und so wirklich ist – noch Anderes zu sagen sein als vorhin. Zuerst dies: daß man auch vergessen darf. Bei Gott gibt es kein Vergessen, wie er auch keiner Erinnerung bedarf.“140 138

Vgl. Becker, Sein, 207ff. Die Thematisierung der diachronen Identität kann im Bewusstsein der Verkürzung nicht näher erläutert werden. Hinsichtlich dessen wird auf Dominik A. Becker verwiesen, welcher die Thematik tiefergehend darlegt. Vgl. hierzu Becker, Sein, 207ff. 139 Becker, Sein, 209. 140 KD III/2, 652.

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In Hinsicht auf die Frage zum Bestand der menschlichen Identität ist nachdrücklich zu antworten, dass es letztlich unerheblich ist, in welchen Zuständen sich der Mensch befindet, da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Gott geborgen sind. Als Randbemerkung ist deutlich anzufügen, dass unterdessen keineswegs ausgedrückt wird, menschliches Leid sei unwichtig oder nebensächlich. Insofern soll hiermit keine Verkennung von Leidsituationen wahrgenommen werden. Vielmehr darf die Hoffnung darauf gesetzt werden, dass der gnädige Gott in Jesus Christus die Welt erlöst und so auch uns beisteht und trägt. Identität ist immer auch im relationalen Kontext der Bestimmung des Menschen zum Bundespartner Gottes zu verstehen und darin eingebettet. Sie ereignet sich somit in der Begegnung mit Gott und mit dem Mitmenschen. „In dieser Begegnung erschließt sich seine [des Menschen; d. Vf.] Identität als Mensch für Gott und als Mensch für den Mitmenschen. Gemäß dieser Bestimmung ist der Mensch mit den Fähigkeiten des Vernehmens und Tätigseins zur Verwirklichung seiner ontologischen Relationalität ausgestattet.“141

Hierin zeigt sich wiederum, dass mit der Konstitution bzw. der Stiftung der Identität von Gott keine reine Passivität des Menschen beschrieben ist. Einher geht stets ein Miteinander von (material geschöpflichem) Empfangen bzw. Vernehmen und Eigenaktivität bzw. Tätigsein. Und so ist auch die Identität näher ausbuchstabiert, indem sie sich im Miteinander, im relationalen Geschehen, weiter konstruiert. Die Identität des Menschen wird also in den Beziehungen, in denen er sich befindet, weiter expliziert und zeigt somit einen deutlichen Gestaltungsauftrag. Auf diese Weise vollzieht der Mensch seine Bestimmung zum Bundespartner. „Er ist Mensch, indem er seiner Bestimmung gemäß in der Begegnung ist.“142 Identität – und so auch das gesamte Menschsein – ist also nicht losgelöst von Gott und vom Mitmenschen zu verstehen.143 Da Identität nun immer auch etwas mit Tätigsein zu tun hat, kann es als Aufgabe des Menschen verstanden werden, ebenso auch dafür tätig zu werden, dass jeder Mensch seine Identität entfalten kann.144 Der Gestaltungsauftrag realisiert sich etwa darin, wie wir beispielsweise am bi141

Becker, Sein, 213. Becker, Sein, 213. 143 Vgl. Becker, Sein, 213. 144 Vgl. Becker, Sein, 214. Becker thematisiert intensiver die Identität als relationales Geschehen im Kontext der ontologischen Relationalität im Sinne einer Beziehungslosigkeit als „unmögliche Möglichkeit“ (Barth). Vgl. Becker, Sein, 213ff. Ferner kann der relationale Kontext auch biblisch weiter unterstrichen werden. Vgl. etwa Ps 8,5; 139; Lk 15,1f.; Mt 9,12; Lk 19,10; 1. Kor 13,12. 142

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blischen Exempel Jesu Christi erkennen können, einen Menschen nicht auf seine von außen zugeschriebene, womöglich stigmatisierende Identität zu beschränken, sondern Gestaltungsspielraum und -möglichkeiten zu schaffen, in dem dieser in der Begegnung seine Identität realisieren kann. Ziel ist, ihm in der Achtung seines vollen Menschseins zu begegnen – insofern relationale Identität zu leben und zu verwirklichen.145 Deutlich wird nochmals, dass eine weitere Dimension der Identität – vielleicht sogar besonders in den Situationen, in denen diese zweifelhaft erscheinen kann – zu berücksichtigen ist. Identität ist, wie wir gesehenen haben, eine von Gott konstituierte, er- und gehaltene Identität. Insofern ist Identität nicht endgültig erfasst, wird sie auf die Grenzen dieser Welt oder die verwirklichte Identität innerhalb der Welt beschränkt. Die Wirklichkeit der Identität liegt bei Gott.146 Letztlich ist nochmals zu unterstreichen, dass wir dazu befreit sind, von Jesus Christus her unsere Identität zu bekommen und wahrzunehmen. In ihm haben wir eine geschenkte Identität; gleichwohl ohne sie zu besitzen oder vollkommen zu leben.147 Demzufolge widerspricht es geradezu dem Wesen der Identität, sie isoliert konstruieren oder absichern zu wollen, da sie immer eine in ein relationales Geschehen eingebundene Identität ist. Wird in diesem Sinne nach jener (missverstandenen) Identität gestrebt, wird die eigene Identität wohl eher verloren. Das Bild der relationalen Identität zeigt sich ferner narrativ, wodurch auch die Identität von Mitmenschen aufrechterhalten und erinnert werden kann. Eine Geschichte etwa ist Identität, wenn die Geschichte weitererzählt wird. Hervorzuheben ist alsdann besonders mit Blick auf die Praxisperspektive, dass mit einer relationalen Identität keine Vernachlässigung des Subjekts und seiner Individualität beschrieben ist.148 Vielmehr wird der 145

Vgl. Becker, Sein, 214ff. Vgl. Becker, Sein, 216f. 147 Vgl. hierzu tiefergehend KD IV/2, 173–293. In diesem Paragraphen 64.3 steht die Entfaltung der Erkenntnis des Menschen Jesus von Nazareth, der als Sohn Gottes auch der Menschensohn und insofern königlicher Mensch ist und in dem die Heiligung aller Menschen geschehen und wirklich ist, im Zentrum. Der Sohn Gottes wird als Subjekt des Lebens Christi identifiziert. Eine Anhypostasie ist also kennzeichnend dadurch, dass die menschliche Natur Jesu Christi keinen eigenen Personenstatus besitzt. Jedoch ist Jesus gerade darin der wahre Mensch, wodurch wir Menschen wiederum befreit sind, von dort her unsere Identität zu bekommen. 148 Diese Diskussion um die Beachtung des Subjekts und seiner Individualität in relationalen Konzepten ist im Verlauf der Arbeit bereits an mehreren Stellen geführt worden (und wird im Folgenden Wichtigkeit behalten). Folglich kann sie hier in gewisser Weise als bekannt vorausgesetzt werden. Vgl. dazu etwa Kapitel IV.3.2.1 Exkurs: Der Aspekt der Gottebenbildlichkeit sowie Kapitel V.2.2.3.2. 146

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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relationale Charakter verdeutlicht, der sich nur in der Begegnung mit Gott und mit den Mitmenschen konkretisiert und so aber die individuelle und personale Identität konstruiert. Die Relevanz dessen zeigt sich beispielsweise in den auch bereits diskutierten Feldern der Medizin, in denen etwa besonders bei Grenzsituationen oder bei schwerwiegenden medizinischen Entscheidungen real festgestellt wird, dass Individualität nur zu ihrem Recht kommt, wenn die Beziehungen eines Menschen berücksichtigt werden.149 Die Vorsorgevollmacht ist in diesem Sinne in ihrer Anwendung ein geeigneter Garant der Beziehungsebene, welche bereits maßgebliche Voraussetzung für dieses Instrument ist. Die Person, die für die Identität des Vollmachtgebers auftreten will und das in Beziehung Sein mit ihm gestaltet, wird mit juristischer Vollmacht ausgerüstet. Gleichwohl muss betont werden, dass die Vorsorgevollmacht als Instrument nicht in der Lage ist, die Identität des Menschen zu sichern. Die Relativität der Vorsorgevollmacht ist folglich zu unterstreichen, wenngleich dadurch ihre relative Bedeutung keineswegs hinfällig ist. Identität wird konkretisiert, indem Menschen sich begegnen. Die Begegnung als solche ist somit die grundlegende Ebene, auf die die Vorsorgevollmacht aufbaut. Abschließend ist deutlich zu machen, dass Identität mithilfe einer doppelten Spezifikation beschrieben werden kann: Sie ist zukommende Identität, die Möglichkeiten der Entfaltung beansprucht. „Identität hat sich als ein relational-dynamisches Geschehen zwischen Ich und Du erwiesen, die als persönliche und soziale Identität in der jeweiligen Begegnung aktualisiert wird.“150 Ich und Du haben je eine Geschichte bzw. sind je eine Geschichte. Im Akt ihrer Begegnung werden ihre zwei Geschichten zu einer gemeinsamen. Identität ist dabei unverlierbar, da Gott Garant der Identität ist. In Form des Gestaltungsauftrags hat jeder Mensch eine Verantwortung für die Identität der Mitmenschen. Dies kann sich besonders in der Begegnung mit Menschen, denen es zunehmend an Möglichkeiten zur Konstruktion ihrer Identität fehlt, realisieren, um so weiterhin für sie Identität zu konstruieren, zu explizieren und zu entwickeln. Identität kann in der Begegnung entfaltet und aktualisiert werden. Es bleibt zu berücksichtigen, dass die empirische Verwirklichung der Identität nur ein innerweltliches Fragment ist und bleibt.151

149

Vgl. etwa Maio, Mittelpunkt Mensch, 168. Becker, Sein, 273. 151 Vgl. Becker, Sein, 273f. 150

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

3.1.2 Relationale Ehre und Würde Das vorausgegangene Kapitel zur relationalen Identität wird einige Parallelen zum Begriff der Würde zeigen, da bei beiden die ontologische Relationalität Betonung findet. Notwendig erscheint diese kurze Standortbestimmung, da des Öfteren bereits die Frage nach einem theologisch wohlbegründeten Verständnis der Menschenwürde, die dann wiederum Einfluss auf Aussagen für die Ethik trägt, im Raum stand. Insofern bietet dieses Kapitel auf diese bereits gestellten Fragen eine Antwort in Grundzügen an. Für die relationsontologische Struktur der Menschenwürde ist es grundlegend, dass der Mensch Würde hat, jedoch in dem Sinne, dass sie keinen menschlichen Besitz oder gar eine empirische Eigenschaft darstellt. Vielmehr kommt sie dem Menschen von Gott her zu und ist damit seiner Verfügungsmacht entzogen. Zugleich inhäriert ihr – analog zum Verständnis der Identität – ein aktiver Gestaltungsauftrag. Die Würde kommt dem Menschen also aufgrund der Beziehung Gottes zum Menschen zu, wodurch sie bereits als relationale Würde charakterisiert ist. Missverstanden ist sie nach Barth jedoch, sofern sie rein passiv auf den Modus des Zukommens beschränkt wird. Vielmehr ist wieder ein Ineinander von Sein und Handeln zu beschreiben. Karl Barth bietet ein Konzept einer relationalen Würde im systematischtheologischen Kontext an, da die Menschenwürde kein der Bibel inhärenter Begriff ist und demnach in einem größeren Kontext grundgelegt und interpretiert werden muss. Dem anthropologischen Würdeverständnis kann sich Barth abermals nur christologisch nähern, um in Entsprechung der Erkenntnisse zum wahren Menschen Jesus Christus auch Aussagen zum Menschsein im Allgemeinen treffen zu können.152 Für eine hinreichende Erläuterung des Begriffs der Würde gemäß Barth muss zuvor auf die Ehre des Menschen, die vorwiegend im Band III/4 seiner Kirchlichen Dogmatik entwickelt wird, Bezug genommen werden. Das Verhältnis von Sein und Aufgabe kann dabei tiefergehend verdeutlicht werden. Die Ehre begegnet dem Menschen in einem doppelten Sinne: einerseits hinsichtlich seines Geschaffenseins von Gott, andererseits infolge seiner Berufung in den Dienst Gottes. Für beide Dimensionen gilt notwendig, „daß Gott sie ihm zuspricht und verleiht.“153 In gleicher und expliziter Weise ist es somit auch für das Verständnis der Ehre des Menschen grundlegend, dass sie keine dem Menschen inhärente, empirische Eigenschaft seiner selbst darstellt. Denn „Ehre ist 152 153

Vgl. Becker, Sein, 217f. KD III/4, 751. Vgl. Becker, Sein, 218f.

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Auszeichnung.“154 „Beide Dimensionen gehören zusammen und beide Dimensionen sind nur in der Weise zu verstehen, dass die Ehre Gottes Ehre ist und dem Menschen von Gott zukommt.“155 Folglich ergibt sich nach Barth die Ehre als „Reflex der Ehre Gottes“156 , an der der Mensch durch Gott aus Gnade und als „freies Geschenk“157 teilhat. Diese Ehre, die das Geschöpf Gottes beleuchtet, ist nun der Grund seiner Menschenwürde.158 Gott zeichnet also den Menschen mit Ehre aus, indem er ihn in die Nachfolge ruft und den Menschen nachdrücklich als dafür würdig erklärt hat. „Und was von ihm gefordert ist, ist wirklich schlicht die Annahme der Einladung, in dieser ihm zugesprochenen Geltung, in dieser ihm angetanen Ehre zu existieren, der mit dieser Auszeichnung auf ihn gesetzten Erwartung gerecht zu werden.“159

Barth bestimmt auch den Begriff Ehre durch eine christologische Annäherung. In Jesus Christus zeigt sich bereits an, wie hoch die Ehre und damit die Auszeichnung des Menschen als Geschöpf ist, da Gott in Jesus Christus nun gerade Mensch wird und sich selbst in die Beschränkungen des Menschseins begibt. Barth konstatiert so nochmals die damit einhergehende und von hier aus zu verstehende Menschenwürde, die auf dieser Begegnung Gottes mit den Menschen gründet, somit von Gott zugesprochen und bewahrt wird.160 Er beschreibt: Wie „könnte die ‚Menschenwürde‘ von hier aus auch dem erbärmlichsten Menschen abgesprochen werden? Wo die Ehre Gottes selbst die Ehre dieses in höchster Erbärmlichkeit ans Kreuz genagelten Menschen gewesen ist!“161 Hier deutet es sich an, dass es eine Befreiung ist, die 154

KD III/4, 753. Becker, Sein, 218. Barth richtet sich mit der Inhaltsfüllung dieses Begriffs der Ehre gegen das theologie- und kirchengeschichtlich teils vorkommende substanzontologische Denken, welches, entgegen seinen Darstellungen, Ehre als dem Menschen inhärierendes Attribut deutet. Barths Darstellungen hingegen können biblischtheologisch mithilfe der Begriffe kabod (hebr.: Schwere, Ehre, Herrlichkeit) bzw. gloria (lat.: (Licht-)Glanz, Herrlichkeit, etc.) untermauert werden, die die Ehre als alleiniges Attribut Gottes beschreiben. Daraufhin kommt die Ehre dem Menschen als Lichtstrahl Gottes zu, der in die Schöpfung strahlt und den Menschen beleuchtet als Gottes Geschöpf und erleuchtet als berufener Bundesgenosse. Vgl. KD III/4, 751f.; Becker, Sein, 218f.; Westermann, Art. kbd; Weinfeld, Art. kabod. 156 KD III/4, 748. 157 KD III/4, 762. 158 Vgl. KD III/2, 752. 159 KD III/4, 747. 160 Vgl. KD III/4, 752f. 161 KD III/4, 752. Vgl. für eine tiefergehende inhaltliche Fundierung und als Voraussetzung zu obigen Aussagen die Erwählungslehre Karl Barths, die er vorrangig im 155

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

Ehre und die Würde eines Menschenlebens nicht in der eigenen Hand zu haben, sondern sie von Gott gehalten zu wissen. Es kann also nicht menschliche Aufgabe sein entscheiden zu müssen, ob ein Zustand eines Menschen ehren- und würdevoll ist bzw. darüber urteilen zu können, ob es einem Menschen an Würde fehlt und somit kein Lebensrecht (mehr) besteht. Würde zu verleihen oder gar zu entziehen ist alleinig Gott vorbehalten. Hingegen kann es durchaus als Aufgabe des Menschen beschrieben werden, für Situationen zu sorgen, in denen Menschen würdevoll leben können, was zugleich seinen Gestaltungsauftrag in der Welt und so das Ineinander von Sein und Aufgabe verdeutlicht. Konkretisieren kann sich dies etwa in der Beziehung zum Mitmenschen. Die zweite Linie der Ehre aufgrund der Berufung zum Bundesgenossen verdeutlicht sich christologisch darin, „dass Gott selbst in Jesus Christus diese Berufung erfüllt und für uns verwirklicht hat, so dass wir entsprechend handeln können.“162 In Jesus Christus fallen also die beiden Linien der Ehre, hinsichtlich des Geschaffenseins und der Berufung, zusammen und realisieren sich dort. Demzufolge zeigt sich die Verschiedenheit dieser Dimensionen, gleichwohl aber auch ihre Zusammengehörigkeit. „Darin also, dass Gott Mensch wird, erweist sich für Barth die Ehre, die dem Menschen als Geschöpf zukommt. Auf diese Ehre greift Gott nun, wenn er den Menschen als seinen Bundespartner in die Verantwortung ruft – und ihm so seine eigentliche Ehre erweist –, zurück.“163

Die Beständigkeit der Ehre ist darin begründet, dass es die Ehre Gottes ist, die dem Menschen verliehen wird.164 In Jesus Christus sind auch wir erwählte und berufene Menschen, die als Mensch für Gott und für den Mitmenschen zum Handeln aufgerufen sind. Es ist also die „Ehre Band KD II/2 entwickelt und die bereits im Kapitel V.2 Relationale Anthropologie und Ethik nach Karl Barth Erwähnung fand. Entscheidend ist hier der Gedankengang, dass sich Gott selbst als Partner des Menschen und für die Gemeinschaft mit dem Menschen gewählt hat. Gott bestimmt sich selbst dazu, der Gott des Menschen zu sein und erwählt so den Menschen zu seinem Bundespartner. Vgl. etwa KD II/2, 177; Becker, Sein, 220f. Gott hält sogar den Bund mit den Menschen aufrecht, obwohl dieser ihn bricht. Hier zeigt sich der Zusammenhang zu Barths Versöhnungslehre, in der beschrieben ist, dass Gott in Jesus Christus um des Menschen willen selbst Mensch wurde und sich hier die besondere Ehre und Würde des Menschen ausmacht. In Jesu Kreuz und Auferstehung wird die Welt mit Gott versöhnt. Vgl. hierzu besonders KD IV/1, etwa KD IV/1, 171; 196; Becker, Sein, 220f. 162 Becker, Sein, 220. Vgl. KD III/4, 753. 163 Becker, Sein, 222. 164 Vgl. KD III/4, 750.

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des Dienstes“165 , mit der Gott den Menschen neben der Ehre der Berufung zum Bundespartner behaftet.166 Diese besteht darin, „daß er [. . . ] in seiner beschränkten Zeit und an seinem beschränkten Ort sein Zeuge sei.“167 Hierin – und zwar nicht aus sich selbst heraus, sondern von Gott her – zeigt sich die Bestimmung des Menschen für Gott, was zugleich eine besondere Auszeichnung des Menschen verdeutlicht. Veranschaulicht wird nochmals, dass die Ehre kein mensch-immanenter Habitus ist, sondern als Reflex der Ehre Gottes zugesprochen und somit gotteigen – und gleichwohl gesichert und gewährleistet – ist. Die Ehre liegt nicht im Verfügungsbereich des Menschen.168 „Eine Beurteilung der Qualität und der Quantität, ja des ob oder des ob nicht der Ehre ist dem Menschen also entzogen. [. . . ] Der Mensch hat also keinen Anspruch auf die Ehre, aber als Abglanz der Ehre Gottes, als geschenkte, zukommende Ehre ist sie unanfechtbar.“169

Zugleich kann abermals unterstrichen werden, dass in Barths Ausführungen einerseits eine Passivität im Empfangen dieser Ehre als Geschöpf Gottes zum Ausdruck kommt, das Menschsein darauf allerdings nicht beschränkt sein kann. Hinzu tritt die Aktivität im Handeln als Bundesgenosse, die dem Menschen gegeben und zu der er befähigt ist, und die sich im Kontext der Ehre als Zeugendienst, nämlich Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein, konkretisiert. Hier hat etwa auch der Mensch aktiv zu bezeugen, dass die Entscheidung über Ehre und Würde nicht im Verfügungsbereich des Menschen liegt. Es zeigt sich der character indelebilis von Ehre und Würde – ebenso wie oben von der Identität.170 Als Ausblick auf ethische Konkretionen hin verdeutlicht sich besonders die Unverlierbarkeit von Ehre und Würde sowie der Entzug dieser des menschlichen Verfügungsbereichs. Impliziert wird, dass es Aufgabe des Menschen ist, Ehre und Würde eines jeden reziprok anzuerkennen.171 Sich dies in Grenzbereichen des Menschseins vor Augen zu führen, kann eine Entlastung darstellen. Hilfreich erscheint besonders, dass die Ehre zuerst von Gott gehalten ist. Zugleich ist der Mensch 165

Becker, Sein, 222. Vgl. KD III/4, 756. 167 KD III/4, 756. 168 Vgl. KD III/4, 762; Becker, Sein, 223f. 169 Becker, Sein, 225. 170 Vgl. KD III/4, 773; Becker, Sein, 226f. 171 Vgl. KD III/4, 788; Becker, Sein, 225. 166

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

aufgrund seiner Befähigung als Bundespartner Gottes in die Pflicht gerufen. Die Ehre (und daraufhin auch die Würde eines Menschen) zeigt sich als aktiver Gestaltungsauftrag. Dieser kann im Modus des Seins für Gott und für den Mitmenschen etwa darin entfaltet werden, in die Beziehung einzutreten und für Verhältnisse Sorge zu tragen, in denen Menschen ehren- und würdevoll leben können.172 Richten wir nun den Fokus auf den in gegenwärtigen Diskursen zumeist verwendeten Begriff der Menschenwürde, so lässt sich dazu erwähnen, dass Karl Barth in seiner Konzeption der theologischen Anthropologie keine gezielte Auseinandersetzung zu diesem Begriff anbietet, ihn jedoch, wie wir bereits gesehen haben, an einigen Stellen in Verbindung mit seinem Ehre-Verständnis aufführt. Barths Gedanken zur Ehre können als Grundlage zur Entfaltung eines Verständnisses einer relationalen Würde zugrunde gelegt werden. Basierend auf Barths Ehre-Konzeption und seiner theologischen Perspektive auf den Menschen zeigt sich die Menschenwürde als von Gott kommend aufgrund der Bestimmung des Menschen zum Bundespartner Gottes und damit – in Jesus Christus – jedem Menschen verliehen. Folglich ist es der Charakter der Menschenwürde, sich der empirischen Nachweisbarkeit zu entziehen und damit auch eine gewisse Begründungsoffenheit zu verkörpern, gleichwohl keineswegs inhaltlich unbestimmt zu sein.173 Mit Becker kann daraufhin konstatiert werden: „Da, wo andere – seien es philosophische, politische oder theologische – Traditionen die Würde und den Wert nicht aufweisen, sehen oder plausibilisieren können (oder diesen gar in Abrede stellen), hat die theologische Perspektive ihren besonderen Platz. Sie wird also niemals deckungsgleich mit den anderen Perspektiven sein, weil eine relational im Beziehungsgeschehen von Gott und Mensch verortete Würde niemals in den Bedingungen dieser Welt aufgeht; sie hat mit diesen wohl durchaus ihre Übereinstimmung, aber vor allem auch kritische Funktion, die sich durch den Anspruch und die Aufgabe, für Verhältnisse zu sorgen, in denen Menschen menschenwürdig leben können, ergibt.“174

Zweck und Funktion der Menschenwürde liegen letztlich im Schutz der Würde eines jeden Menschen. Nachdrücklich sind demnach auch Theologie und Kirche herausgefordert, dort, wo die Würde des Menschen in 172

Vgl. Becker, Sein, 230. Vgl. Becker, Sein, 226ff. 174 Becker, Sein, 228. 173

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Gefahr steht, für diese einzutreten und sich davor zu verwehren, Menschen ihr Menschsein absprechen zu können und so den Status des würdevollen Menschen allen Situationen zum Trotz hochzuhalten.175 Link beschreibt dazu: „Als Gottes Ebenbild wird dem Menschen ein bestimmter, de jure unverlierbarer, wenn auch de facto gefährdeter und oft genug schlicht geleugneter Status verliehen.“176 Auch dieser Status realisiert sich als Ineinander von Sein und Aufgabe. Und auch – bzw. besonders – die Kirche als Subjekt ethischer Aussagen ist dazu herausgefordert, die Einsichten aus ihrer außerordentlichen Perspektive auf den Menschen, die aus dieser theologischen Anthropologie resultieren, gesellschaftlich starkzumachen und letztlich auch weiter an ihrer praktischen Umsetzung zu arbeiten.177 Es begegnet also als menschliche Aufgabe, in Wort und Tat dafür Sorge zu tragen, dass Menschen würdevoll leben können. Hier realisiert sich die Zusammengehörigkeit von Sein und Aufgabe in der Bestimmung zum Bundespartner Gottes. Dieser Aufgabe entspricht die Vorsorgevollmacht in besonderer Weise. In Form der Auseinandersetzung, die mit dem Instrument einhergeht, sowie bei ihrer Umsetzung und Anwendung sorgen reziprok die Beteiligten füreinander. Der Vollmachtnehmer etwa ist ja gerade die Vertrauensperson, die sich im Bedarfsfalle dafür einsetzt – und sogar die rechtliche Autoritätsmacht dazu erhält –, dass der zu Betreuende würdevoll leben kann. Desgleichen ermöglicht der Vollmachtgeber durch seine Vorsorge etwa auch eine vereinfachte Handlungsfähigkeit des Vollmachtnehmers. Ist darüber hinaus nun spezifischer auf mögliche Grenzsituationen zwischen Leben und Sterben einzugehen, so zeigt es sich hier als besonderer Gestaltungsauftrag an den Vorsorgebevollmächtigten, für die Würde des Gegenübers einzutreten. Zu denken ist beispielsweise an eine Optimierung der Lebensverhältnisse, etwa was den Aufenthaltsort oder auch den Kontakt zu Personen betrifft. Darüber hinaus ist wohl auch das Eintreten für eine umfassende medizinische und pflegerische Versorgung exemplarisch zu nennen, die in der Lebensendphase eine palliative Begleitung meinen kann, um belastende Symptome zu reduzieren. Zudem kann aber ein Eintreten und ein Realisieren der Würde des Gegenübers besonders vom Vorsorgebevollmächtigten (und den Personen seines Umfeldes) abverlangen, wahrzunehmen, wann ein Leben an sein Ende geraten ist und schließlich ein Zulassen des Sterbens im Respekt vor der Endlichkeit fordert. Dieses Wahrnehmen basiert auf einer vertrauensvollen Beziehung von Voll175

Vgl. Becker, Sein, 228. Link, Gottesbild, 168 (Formatierung d. Vf.). Vgl. Gen 1,26. 177 Vgl. Plasger, Einladende Ethik, 140ff.; Becker, Sein, 229f. 176

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machtgeber und -nehmer. Das Eintreten für die Würde konkretisiert sich dann letztlich in der Begleitung. Die christologischen Darlegungen hier haben gezeigt, dass die Menschenwürde nicht an Fähigkeiten oder Eigenschaften eines Menschen gebunden ist, sondern als von Gott zukommend und damit relationsontologisch zu verstehen ist. Ferner ist sie damit dem Verfügungsbereich des Menschen entzogen, wodurch kein Mensch einem anderen seine Menschenwürde oder das Menschsein als solches aberkennen kann. Dies bedeutet wiederum, dass auch der fragwürdigsten Existenzweise die Würde nicht abgesprochen werden darf. Letztlich ist der Zuspruch der Würde alleinig Gott vorbehalten; er sichert und garantiert die Würde des Menschen. Dieser Letztgrund entspricht darüber hinaus der biblisch-christlichen Tradition, für den Schutz Schwacher, Armer und Ausgegrenzter einzutreten.178 „Denn eine biblisch-christliche Würde-Konzeption sieht die Würde des Menschen, die ihm von außen zukommt, nicht nur als dieses Zukommende, sondern auch als mit diesem Zukommenden verbundenen Gestaltungsauftrag: Der in Relationen seiende und durch Relationen konstituierte Mensch wird seinem diesen Verhältnissen entsprechenden Auftrag dann gerecht und realisiert seine Würde gerade darin, wenn er für Verhältnisse sorgt, in denen jeder Mensch würde- und ehrenvoll leben kann.“179

Dieses Sorgen für Verhältnisse, in denen jeder Mensch würde- und ehrenvoll leben kann, konstituiert einen wichtigen Grundsatz für die Praxis. Auf welche Weise dies realisiert werden kann, ist im Einzelfall letztlich situativ zu entscheiden. Im Allgemeinen kann aber festgehalten werden, dass es bereits durch das in Beziehung Treten und Sein Umsetzung findet. Bei einer derartigen Begegnung von Menschen, insbesondere mit jenen, die gewissen Einschränkungen unterliegen, kann es nicht darum gehen, Defizite herauszustellen.180 Vielmehr ist die Aufgabe zu formulieren, von außen für entsprechende Verhältnisse Sorge zu tragen, dass Menschen würdevoll leben und in der Begegnung sein können. Hierbei ist wieder etwa an kranke und beeinträchtigte Menschen nebst ihren Angehörigen oder womöglich Bevollmächtigten zu denken. Im Hinblick dessen kann nochmals benannt werden, dass gerade die Initiierung und Umsetzung einer Vorsorgevollmacht eine Beziehungsstruktur von Vertrauenspersonen voraussetzt und (juristisch) 178

Vgl. Becker, Sein, 231f. Becker, Sein, 232. 180 Vgl. Becker, Sein, 232. 179

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absichert. Die menschliche Aufgabe im Sein für Gott und für den Mitmenschen wird konkret wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund ist eine Stärkung des Instruments der Vorsorgevollmacht zu befürworten. 3.1.3 Zwischenfazit Festgestellt werden kann nun im Rückblick auf Barth und Becker, dass dem Menschen Identität, Ehre und Würde von Gott her und damit von außen grundlegend zukommen. Desgleichen werden sie von Gott begründet, konstituiert und erhalten und sind in einer christologisch verorteten relationalen Grundstruktur zu entwickeln. Das Sein des Menschen begegnet als Konnex von Sein und Handeln und so inhäriert der relationalen Identität sowie der relationalen Würde ein Gestaltungsauftrag, „so dass die Konstitution von Identität in der Begegnung als Vollzug der Würde des Menschen zu verstehen ist.“181 Es ist Aufgabe des Menschen, die in Jesus Christus verwirklichten Möglichkeiten des Menschseins zu bezeugen und sich in Entsprechung dessen für Verhältnisse einzusetzen, in denen sich ein ehren- und würdevolles Leben sowie Identität für alle Menschen, insbesondere für die, die sie selbst nicht (mehr) realisieren können, relational entfalten kann.182 3.2 Das Sein in der Begegnung Dominik A. Becker entwickelt in seiner Aufarbeitung der relationalen Anthropologie in Anlehnung an Barth Konkretionen für eine relationale Ethik mit spezifischem Blick auf den Umgang mit Menschen mit (Alzheimer-)Demenz. Dieses grundlegende Konzept fußt auf Barths Verständnis des Seins in der Begegnung, welches er vorwiegend in KD III/2 entfaltet.183 Jene bereits in den vorausgegangenen Kapiteln entwickelten Kerngedanken kennzeichnen das Sein in der Begegnung. Basierend auf den schon benannten theologischen Grundlagen Barths (Kapitel V.2) sowie den vorgestellten Konkretionen zu Identität, Ehre und Würde (Kapitel V.3.1), soll dieses Sein in der Begegnung nun pointiert werden. Die Begegnung zwischen Ich und Du ist, wie bereits entfaltet wurde, die Grundform der Menschlichkeit. Zugleich setzt eine Begegnung zwischen einem Ich und einem Du nicht notwendig eine Gleichrangigkeit 181

Becker, Sein, 275. Vgl. Becker, Sein, 275. 183 Vgl. KD III/2, 299–344. 182

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in ihrer Begegnung voraus. Vielmehr ist die Asymmetrie184 , so, wie sie auch der lebensweltlichen Erfahrung entspricht, in einer reziproken Beziehung kennzeichnend. Der Mensch ist ontologisch als Beziehungswesen geschaffen und zum Zusammensein mit anderen Menschen bestimmt, sodass in diesen Begegnungen auch Identität und Würde des Menschen ihre innerweltliche Realisierung finden. „Ausgehend von der Humanität Jesu, die ‚in seinem Sein für den Menschen‘ besteht, ist die Humanität jedes Menschen als ‚Bestimmtheit seines Seins als Zusammensein mit dem anderen Menschen‘ zu verstehen. Dass der Mensch nicht solipsistisch, sondern zum Sein mit dem Mitmenschen geschaffen ist, ist im Sein Gottes selbst, der in sich auch Gegenüber und somit ‚kein Einsamer‘ ist, sondern der vielmehr –‚zuerst und ursprünglich – in Beziehung und Gemeinschaft ist‘, begründet.“185

Der Mensch ist zum Zusammensein mit Gott und mit anderen Menschen bestimmt und dieser Bestimmung entsprechend geschaffen, wodurch der Mensch ontologisch als Mitmensch bezeichnet werden kann. Dieses Sein in der Begegnung zwischen einem Ich und einem Du in ontologischer Mitmenschlichkeit entfaltet Barth, wie besonders im Kapitel IV.3.2.1 bereits angesprochen wurde, in Anlehnung an Martin Buber.186 Somit kann auch Barth den Satz hervorheben: „Ich bin, indem Du bist“187 . Kennzeichen der Humanität ist mithin die Bestimmtheit des Seins als Sein in der Begegnung mit anderen Menschen. „Begegnung ist also das grundlegende Geschehen zwischen Ich und Du, verstanden als Begegnung ‚zweier aus sich herausgehender, zweier existierender – und nun eben zweier in ihrem Existieren aufeinander treffender, sich begegnender Seinskomplexe‘; und diese Begegnung zweier Geschichten, der Geschichte des ‚Ich bin‘ und der des ‚Du bist‘, macht die Humanität des Menschen aus.“188

In dieser Begegnung konstituiert sich die Identität, die aber schon dadurch Wirklichkeit ist und geschaffen wird, dass Gott den Menschen als Individuum anspricht.189 184

Zum Aspekt der Asymmetrie vgl. auch das Kapitel V.3.3 Relationale Autonomie und relationale Fürsorgeim Modus der Wechselseitigkeit. 185 Becker, Sein, 235. Vgl. KD III/2, 290. 186 Vgl. Buber, Ich und Du; Becker, Sein, 235f. 187 KD III/2, 297. 188 Becker, Sein, 235f. Vgl. KD III/2, 297. 189 Vgl. Becker, Sein, 236. Vgl. zudem die Kapitel V.2.2.3.2 und V.3.1.

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Als wichtiges Kennzeichen im Sein in der Begegnung, speziell im Kontext medizinethischer Sachverhalte, ist gezielt hervorzuheben, dass es nur um ein beschränktes Füreinander190 gehen kann und die grundsätzliche Gegenseitigkeit191 nicht zu vernachlässigen ist. Zu denken ist wieder in besonderer Weise an das Verhältnis von Vollmachtgeber und -nehmer, aber auch darüber hinaus an die Beziehung zu weiteren Mitmenschen sowie im Speziellen an die Arzt-Patient-Beziehung. Ein Füreinander kann hier nur beschränkt sein, weil es keinen vollständigen Ersatz des Gegenübers oder eine absolute Entsprechung im füreinander Handeln meinen kann. Darüber hinaus findet es nicht einseitig statt: „Reciprocity is essential to human speech and listening.”192 In dieser Reziprozität ist ein Wechselverhältnis von Beistand bedürfen und Beistand gewähren beständig – für alle Partner der Beziehung.193 Der Grundmodus, dem dabei das Sein in der Begegnung untersteht, erweist sich als Gerne. Folglich lässt sich die conditio sine qua non der Humanität mit dem Modus des Gerne bezeichnen.194 In der (reziprok notwendigen) Begegnung von Mensch und Mitmensch erschließt sich die Identität und es vollzieht sich die von Gott gestiftete Ehre und Würde des Menschen darin, dass er im Modus des Gerne das Sein in der Begegnung lebt. Realisiert wird das Sein in der Begegnung als Sein und Aufgabe des Menschen.195 „In sum: to be is to act, and to act rightly is to act in correspondence with the act of God toward us in the humanity of Jesus.”196 Das Sein in der Begegnung ist nicht nur aufgrund oder mithilfe bestimmter kognitiver Fähigkeiten und der verbalen Sprache möglich. Kommunikation im Allgemeinen ist nicht auf Verbalisiertes zu beschränken. Es geht um ganzheitliche Begegnung. Dieser Aspekt wird vornehmlich in Krankheitssituationen herausgefordert und erscheint hier ausgesprochen präsent, zumal besonders die aktive Kommunikation stark eingeschränkt sein kann. Begegnung kann dann als „Begegnung des ganzen Menschen als Seele seines Leibes verstanden“197 werden. Für die Anwendung der Vorsorgevollmacht ist – wie bereits mehrfach angesprochen – gezeigt, dass sie in besonderer Weise diesem Sein in der Begegnung entspricht und die sich stellenden Aufgaben des Mensch190

Vgl. KD III/2, 312. Vgl. KD III/2, 313f.; Becker, Sein, 236f. 192 Price, Karl Barth´s Anthropology, 149. 193 Vgl. KD III/2, 312ff. 194 Vgl. KD III/2, 318; 321ff. 195 Vgl. Becker, Sein, 237. 196 Price, Karl Barth´s Anthropology, 144. 197 Becker, Sein, 243. 191

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seins im Sein für Gott und – dies im praktischen Vollzug noch deutlicher – im Sein für den Mitmenschen wahrnimmt. Bedacht werden sollte dabei aber auch der oben benannte Aspekt des Gerne: Sofern die Vorsorgevollmacht nicht reziprok im Verhältnis des Gerne verfasst wird, kann sie wenig hilfreich sein oder sogar missbraucht werden. Zu denken ist dabei exemplarisch an Relationen, denen kein Vertrauensverhältnis zugrunde liegt. Problematisch zeigt sich dies darin, wenn personale Begegnung nicht geleistet werden will oder im Extremfalle gar entgegen dem Wohl des Gegenübers gehandelt wird. Folglich ist nochmals zu betonen, dass es notwendigerweise dem Modus des Seins in der Begegnung im Hinblick auf den Umgang mit der Vorsorgevollmacht entspricht, dass sich hier Vertrauenspersonen als Ich und Du gerne begegnen und reziprok füreinander eintreten. Sodann ist ermöglicht, dass Menschen sich gegenseitig als Ganzes achten. Dabei darf zu hoffen sein, dass auch über die Grenzen des Verbalen hinaus Möglichkeiten der gemeinsamen Kommunikation zu finden sind. 3.3 Relationale Autonomie und relationale Fürsorge im Modus der Wechselseitigkeit Die Frage nach dem Verhältnis (sowie dem Verständnis) von Autonomie und Fürsorge ist Dreh- und Angelpunkt medizinethischer Debatten und der Dissense um Vorsorgedokumente. Eine ausführliche Kritik zum derzeit gebräuchlichen und geläufigen Autonomie-Verständnis, welches sich in die Richtung einer isolierten Unabhängigkeit im Sinne von Solipsismus entwickelt, ist in Kapitel III.7 aufgearbeitet und wurde ferner bei der Analyse zu Hartmut Kreß diskutiert. In diesem Kontext konnte bereits das Konzept der relationalen Autonomie skizzenhaft eingebracht werden, welches eine Grundlage für diese Arbeit darstellt. Desgleichen ist an vielen Stellen, etwa besonders bei der Auseinandersetzung mit Ulrich Eibach, der Hinweis hervorgebracht worden, dass Fürsorge in ebensolcher Weise vereinseitigend verstanden wird, wird sie als vollständiger Ersatz einer Person im negativen Sinne von Paternalismus aufgefasst. Auch Fürsorge198 ist auf Wechselseitigkeit und 198

Fürsorge wird von vielen Quellen im Kontext (medizin-)ethischer Entscheidungsfindungsprozesse und Urteilsbildung als ein wichtiges Prinzip angeführt. Die „amerikanischen Begründer der modernen Medizinethik“ (Maio, Mittelpunkt Mensch, 119) Tom L. Beauchamp und Jamesf. Childress benennen in ihrem Lehrbuch Principles of Biomedical Ethics neben den medizinethischen Prinzipien der Autonomie (respect for autonomy), des Nicht-Schadens (nonmaleficence) und der Gerechtigkeit (justice) auch das der Fürsorge (beneficence) (vgl. Beauchamp, Principles of Biomedical Ethics, 99ff.). Grundlage ihrer Prinzipienethik ist, dass die Elemente

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Relationalität im Sinne des Seins in der Begegnung angewiesen. Kennzeichnend kann hierbei abermals benannt werden, dass Fürsorge ontologisch, reziprok sowie im Modus von Sein und Handeln analog zu den oben entwickelten Grundeinsichten relationaler Anthropologie zu verstehen ist. So ist es etwa ein fürsorgender Akt Gottes, den Menschen als seinen Partner zu schaffen, zu konstituieren und zu erhalten und sich zu ihm in Beziehung zu setzen – indem er für seine Rechtfertigung und Erlösung Sorge trägt. Gott ist in Jesus Christus der Fürsorgende, der voll und ganz für uns ist, und uns dazu befreit, Subjekt zu sein und daraufhin tätig zu werden. In Anlehnung an Barth ist der Mensch hinsichtlich der Fürsorge Gottes rein passiv. Sie kommt ihm als Zuspruch Gottes zu. Im Gegensatz zu Eibach, der diese Passivität des Empfangens analog auf die Mensch-Mensch-Ebene überträgt, ist mit Barth von keiner unmittelbaren Entsprechung zu reden, wie bereits in der Barth-Skizze im Kapitel V.2 gezeigt wurde. Vielmehr impliziert dieser Zuspruch Gottes einen Anspruch für den Menschen, selbst tätig zu sein und sich in die Beziehung zu begeben. Im Wissen darum, dass Menschen nicht vollständig füreinander da sein können, wie es Gott obliegt, zeigt sich die Fragmentarität, die menschlich ist. Auf menschlicher Ebene wird dann ersichtlich, dass der Mensch im Laufe seines Lebens unterschiedlich stark auf Fürsorge und Begleitung seiner Mitmenschen angewiesen ist, um so wiederum seine von Gott konstituierte Identität und Würde zu entfalten und ebenso im Sinne des Seins in der Begegnung verantwortlich als Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen tätig zu sein. Auch beim Aspekt der Fürsorge liegt also eine Wechselseitigkeit zwischen sich begegnenden Personen zugrunde, die konstitutiv für jeden Partner in der Beziehung zur Bereicherung wird. Hierbei besteht allerdings die Gefahr, einerseits stets eine symmetrische Gegenseitigkeit vorauszusetzen, in dem Sinne, dass jeder Partner gleich viel für die Beziehung zu leisten hat. Dieser Anspruch würde besonders in Pflegesituationen – und damit auch bei dem Einsatz der Vorsorgevollmacht – fehlschlagen. Offensichtlich erscheint hier, dass sich wechselseitig beeinflussen und je für sich Geltung beanspruchen. Auch in der theologischen Ethik werden mitunter Prinzipien rezipiert und entwickelt. Als Exempel kann etwa Frank Mathwig angeführt werden, der die Prinzipien Lebensschutz, Autonomie und Fürsorge besonders als sich gegenseitig bedingend hervorhebt. Er beschreibt dabei eine Warnung vor Verabsolutierung einzelner, isolierter Prinzipien: „Die Eigenart, Bedeutung und das Gewicht der drei Prinzipien besteht gerade in ihrer wechselseitigen Bezogenheit (Relationalität). Jede Absolutsetzung eines Prinzips auf Kosten der anderen oder jede Eliminierung eines Prinzips zugunsten der anderen würden Gehalt, Sinn und Funktion aller drei Prinzipien verändern und auflösen“ (Mathwig, Das Sterben leben, 15).

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

ein Partner stärker angewiesen ist als der andere. Andererseits ist eine einseitige Überbetonung der Fürsorge (wie wir etwa bei Ulrich Eibach gesehen haben) ebenso problematisch und kann in eine Entmündigung übergehen. Gleichwertigkeit setzt also keine Gleichrangigkeit voraus. So ist jedes Tun des Partners innerhalb und gemäß seiner Möglichkeiten zu beachten. Folglich ist Gleichwertigkeit als conditio sine qua non für Fürsorge zentral, die auch und insbesondere in der Asymmetrie gilt. Wie es scheint ist die Vernachlässigung der Asymmetrie mit dem Bestreben, asymmetrische Strukturen innerhalb von Beziehungen zu beseitigen, eine Grundproblematik für ein rechtes Verständnis von relationaler Fürsorge. Nachdrücklich bietet es sich für eine genauere Erkenntnis an, sich mithilfe von Paul Ricœur, der die Frage nach asymmetrischen Beziehungen gezielt beleuchtet, mit diesem Aspekt auseinanderzusetzen. Ziel soll es nun sein, ein verändertes Verständnis von Fürsorge im Sinne relationaler Fürsorge zu entwickeln, welches den Gefahren der Entmündigung bis hin zu paternalistischen Strukturen nicht unterliegt und damit Relationalität ernst nimmt. Paul Ricœur beschäftigt sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit im Kontext asymmetrischer Beziehungen. „Parallel zum Weg der Identität verläuft der der Alterität. [. . . ] Auf ihrem Höhepunkt ist die Alterität in der Wechselseitigkeit“199 . Er erkennt das Prinzip der Wechselseitigkeit als Prinzip der Gemeinschaft, wobei er phänomenologisch zwei Ausgangspunkte der originär vorausgesetzten Asymmetrie im Verhältnis des Ichs zum Anderen ableitet: einerseits der Ausgangspunkt des Ichs, andererseits der des Anderen. Hier kommt er zu dem Schluss, dass die Gegenseitigkeit als niemals vollendete Überwindung der Asymmetrie erscheint und die Asymmetrie aus der ursprünglichen Selbstgenügsamkeit des Ego resultiert.200 Als Verhältnisbestimmung zwischen dem Ich und dem Anderen beschreibt Ricœur: „Die Alterität des anderen konstruiert sich, wie jede andere Alterität, in und aus mir; gerade als anderer jedoch ist der Fremde für sich selbst als Ego konstituiert, das heißt als Subjekt von Erfahrung ebenso wie ich, ein Subjekt, das seinerseits imstande ist, mich als Teil seiner Erfahrungswelt wahrzunehmen.“201

Die Frage steht somit im Raum, wie der Gegenseitigkeit zwischen ungleichen Partnern Rechnung getragen werden kann. Als defizitär er199

Ricœur, Wege der Anerkennung, 311. Vgl. Ricœur, Wege der Anerkennung, 197f. 201 Ricœur, Wege der Anerkennung, 198. 200

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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weist sich dabei, Ungleiches vergleichen und damit egalisieren zu wollen.202 Ricœur versucht daher die Wechselseitigkeit der Begegnung von Mensch und Mitmensch in der Asymmetrie wahrzunehmen, die in Betreuungs- und Krankheitssituationen zumeist erfahrbare Realität zu sein scheint. Seine „These ist, daß es für die wechselseitige Gestalt der Anerkennung im Gegenteil ein Segen ist, wenn das Vergessen der originären Asymmetrie aufgedeckt wird.“203 Ricœur rekurriert darauf, dass ein Eingeständnis der Asymmetrie in der Beziehung notwendig ist und zum (genuinen) Wesen einer Begegnung gehört. Infolgedessen erhält er zwei Schlussfolgerungen, die sich auch in den gesamten Tenor der Arbeit einfügen: Die Erinnerung an die Asymmetrie stellt einerseits die Unersetzlichkeit jedes Partners heraus, andererseits die jeweilige Individualität infolge der Abwehr einer, wie er es nennt, Verschmelzungseinheit. So formuliert Ricœur: „Zum einen erinnert das Eingeständnis, daß die Asymmetrie in Vergessenheit zu geraten droht, an die Unersetzlichkeit jedes einzelnen Tauschpartners: Der eine ist nicht der andere; man tauscht Gaben, aber nicht den Platz. Die zweite segenreiche Folge dieses Eingeständnisses ist: Es schützt die Wechselseitigkeit vor den Fallen der Verschmelzungseinheit, ob in der Liebe, in der Freundschaft oder in der Brüderlichkeit in kommunitaristischem oder kosmopolitischem Maßstab; so bleibt in der Wechselseitigkeit der richtige Abstand gewahrt, der neben der Nähe auch Achtung zulässt.“204

In dieser Darstellung scheint Ricœur wichtige Dinge zu sehen, über die im Verlaufe der Arbeit stets diskutiert wurde. Dazu kann etwa bemerkt werden, dass alleinig mit dem Gebrauch der Vokabel der Fürsorge im öffentlichen bio- und medizinethischen Diskurs zumeist unweigerlich der Vorwurf des Paternalismus unterstellt wird und dies zugleich in einem gewissen Grade Berechtigung besitzt, wie nunmehr die Analysen insbesondere zu Ulrich Eibach, aber auch zu Hartmut Kreß, gezeigt haben. Gleichwohl sollte mit den bisherigen Diskussionen und Argumentationen bereits hervorgehoben werden, dass der Fürsorge-Begriff in dieser Beschränkung in abstracto nicht vollends erfasst ist. Nachdrücklich wurde darauf rekurriert, dass auch hier Aspekte des Subjektseins maßgeblich sind und kein reines Für gemeint sein kann. Mit Ricœur lässt sich dies nochmals bekräftigen: In Beziehungen ist notwendigerweise von einer Asymmetrie in der Wechselseitigkeit auszugehen, de202

Vgl. Ricœur, Wege der Anerkennung, 204ff. Ricœur, Wege der Anerkennung, 324. 204 Ricœur, Wege der Anerkennung, 324. 203

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

ren Berechtigung und Vorhandensein allerdings in den Hintergrund zu geraten drohen. Er hebt die Unersetzlichkeit der einzelnen Partner sowie ihre je individuelle Begabung heraus. Eine Beziehung ist dabei beschrieben, die eben nicht durch Symmetrie reziprok ist. Und so soll, darf und kann idealiter jeder Partner auch das eigene Subjekt in seiner Individualität sein, ohne mit dem Gegenüber verschmelzen zu müssen. Auch den Darstellungen Barths entspricht dies, da die persönliche Individualität und Identität zuerst von Gott gestiftet, konstituiert und erhalten wird. Der Begriff der Wechselseitigkeit ist in Ricœurs Darstellungen der geeignete Begriff zur Beschreibung der asymmetrischen und dennoch reziproken Beziehungsstruktur. Hierin finden die im Kontext der Arbeit gebrauchten Begriffe der relationalen Autonomie und der relationalen Fürsorge ihren Platz. Der von Ricœur gewählte Begriff verdeutlicht die Aussageabsicht der bisherigen Kapitel, dass Autonomie und Fürsorge keine unabhängigen Topoi darstellen und sich im relationalen Geschehen verbinden. Es könnte gar gefragt werden, ob der Begriff der (relationalen) Wechselseitigkeit den von Autonomie und Fürsorge ersetzen könnte, um die entstandenen, mitunter starken begrifflichen Vereinseitigungen zu umgehen. Auch das Sein in der Begegnung, wie es von Barth entfaltet und auf die Begegnung mit Menschen mit (Alzheimer-)Demenz hin von Dominik A. Becker weiterentwickelt wurde, beschreibt dieses asymmetrische Verhältnis im einander begrenzten Beistand Leisten.205 Die Konstitution und Explikation der relationalen Identität erfolgt im Modus der Wechselseitigkeit im Sein in der Begegnung. Es zeigt sich hier nochmals dezidiert, dass eine jede Begegnung im Allgemeinen – und eine solche in Betreuungs- und Krankheitssituationen im Speziellen – asymmetrisch und zugleich wechselseitig ist. Sie ist eine Begegnung, ein Wechselverhältnis, zwischen diesem Ich und diesem Du. Ziel kann es also sein, eine solche Wechselseitigkeit nicht als defizitär, sondern als Bereicherung wahrzunehmen. „In der Reflexion des ‚Zwischen‘ zwischen Ich und Du bleibt die ‚doppelte Alterität‘

205

Vgl. KD III/2, 312ff.; Becker, Sein, 161f.; 241. Wobei hier noch einschränkend erwähnt sein sollte, dass es scheint, als würde Dominik Becker – obwohl er sich auch auf Ricœur bezieht – im Gebrauch des Begriffs der Fürsorge in besonderer Weise Ulrich Eibach folgen. Insofern sei angefragt, ob auch in seinen Darstellungen ein eher vereinseitigendes Verständnis von Fürsorge besteht bzw. in dieses überzugehen droht.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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(Ricœur) von Ich und Du gewahrt und ermöglicht so ein tieferes Verständnis des ‚Seins in der Begegnung‘.“206 Konkret erlebbar wird Wechselseitigkeit in der Anwendung der Vorsorgevollmacht. Kennzeichnend ist hier eo ipso die Situation, dass ein Partner seine persönlichen Belange nicht mehr in vollem Umfang ausführen kann und auf die Umsetzung dieser durch den Vollmachtnehmer angewiesen ist. Im Kontext dessen ist die obige Reflexion um Wechselseitigkeit für ein Verständnis der Vorsorgevollmacht besonders gewinnbringend, weil die Gleichwertigkeit der einzelnen Partner in der Asymmetrie betont wird und insofern die Unersetzlichkeit jeder Person – welche in den vorausgegangenen Ausführungen zur relationalen Anthropologie theologisch begründet wurde – zum Vorschein tritt. Desgleichen begründet das vorliegende Kapitel nochmals, dass korrekt verstandene Fürsorge keine Verschmelzungseinheit oder Paternalismus meinen kann, sondern relational zu verstehen ist. Die beschriebene Wechselseitigkeit sorgt ja gerade für einen (notwendigen) Abstand zwischen Ich und Du, der einerseits Nähe, andererseits aber auch Achtung etwa der Subjektivität und Individualität konstruiert und bestehen lässt. Dies erscheint als geeigneter Maßstab für den Umgang mit der Vorsorgevollmacht: In der Begegnung Nähe und Achtung des Gegenübers ins Verhältnis zu setzen. Zugleich ist das entwickelte Verständnis von relationaler Autonomie und relationaler Fürsorge für den Vollmachtnehmer zu kennzeichnen, dessen übernommene und übertragene Aufgaben in Form der Vorsorgevollmacht nicht zu unterschätzen sind. Einerseits wurde deutlich, dass auch er mit seinen Bedürfnissen als Subjekt in diesem Beziehungsgeschehen wahrgenommen werden muss und etwa für die Annahme der übergebenen Aufgaben notwendig auf Interaktion und Gespräche – mit Vollmachtgeber sowie durchaus auch weiteren Personen – angewiesen ist. Andererseits ist das Gefühl der Überforderung hinsichtlich der zu leistenden Verantwortung, welches wohl die größte Schwierigkeit für den Vollmachtnehmer darstellt, ernst zu nehmen. Diesbezüglich sei an die Fragmentarität zurückerinnert, welche beschreibt, dass Menschen nicht in dem Maße füreinander da sein können, wie Gott es kann. Da hier also zumeist das Gefühl des Defizitären vorherrscht, ist auch Angst aufseiten des Vollmachtnehmers nachvollziehbar und sogar natürlich. Sie kann sich besonders in schwerwiegenden medizinischen Entscheidungssituationen zeigen, etwa infolge einer Ungewissheit, ob die eigenen Taten und Beschlüsse wohl die Richtigen sind. Darüber hinaus kann sie sich aber auch im direkten Konfrontiertsein mit einer Krank206

Becker, Sein, 241. Vgl. Ricœur, Wege der Anerkennung, 324.

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

heitssituation des Vollmachtgebers aus dem Gefühl der Überforderung heraus ergeben. Situationen mit ungewissem Verlauf sind angstbehaftet. Mit Barth kann dazu das Eingeständnis der Fragmentarität großgeschrieben werden: Der Mensch ist zum Handeln befreit, in dem Wissen, dass es ein fragmentarisches, mitunter defizitäres Handeln ist. Vielmehr darf er sich auch in solch schwerwiegenden Situationen der Ungewissheit und der Angst vertrauensvoll in Gottes Hand gehalten wissen. Zugleich stellen diese Gedanken wohl einen Aspekt dar, über die sich Vollmachtgeber und -nehmer in Form eines Gesprächs (im Vorhinein) austauschen können. Auch ein Ernstnehmen und Reagieren auf Sorgen und Ängste entspricht dem Sein in der Begegnung. Es achtet den fragmentarischen und defizitären Menschen. Zudem sei darauf verwiesen, dass der von Ricœur beschriebene Begriff der asymmetrischen Wechselseitigkeit ein ebenso christlicher und biblischer Gedanke ist, etwa hinsichtlich christlicher Nächstenliebe (exemplarisch verwiesen sei auf das Gleichnis des barmherzigen Samariters in Lk 10,25-37), die keineswegs ein ausgewogenes Geben und Nehmen voraussetzt. 3.4 Der Aspekt des Sorgens Bereits die gebräuchlichen Begriffe des Vor-Sorgens, der Vor-SorgeVollmacht oder des Für-Sorgens nötigen zur knappen Reflexion des Verständnisses und der Dimensionen von Sorge heraus. Eine Sorge oder das Sorgen Machen hat im lebensweltlichen Gebrauch oft etwas mit einem bedrückenden oder gar beängstigenden Gefühl zu tun. Bei der Verwendung dieses Wortes steht zumeist das (eigene oder fremde) Wohlergehen infrage. Ein weiterer Aspekt ist, dass zuweilen in die Zukunft wirkende Momente mit diesem Prädikat des sich Sorgens belegt werden, etwa wie die Sorge um den Arbeitsplatz, um die Gesundheit oder um das Wohlergehen Anderer. Sich zu sorgen „gehört zum Wesen des Menschen, der für seine Zukunft Vorkehrungen treffen muss.“207 Wird der biblische Befund betrachtet, so begegnen Spannungen im Gebrauch der Begrifflichkeit, die einerseits ein Verbot der Sorge, wie etwa in Mt 6,25-34, vermitteln, andererseits ein Gebot der Sorge „für das Reich Gottes und das Wohl des Nächsten“208 ausdrücken. Ferner ist zwischen differenten Arten und Subjekten des sich Sorgens zu unterscheiden. Auf der einen Seite stehen die Sorgen der Menschen. Hier 207 208

Vollmer, Art. Sorge, 1254. Vollmer, Art. Sorge, 1254.

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sei etwa auf die Josef-Erzählung in Ägypten verwiesen. Josef sorgt in den sieben guten Jahren durch geschickte Handlungen vor und lagert Getreide für die schlechten Jahre ein, wie in Gen 41,47-57 zu lesen ist. Die Sorge für Andere, die gar von der Vorsorge Josefs profitieren, kommt zum Ausdruck. Auch für berufliche Tätigkeiten und für alles, was dabei im Verantwortungsbereich eines Menschen liegt, ist Sorge zu tragen, ebenso wie für die Sorge um Kinder.209 Sich Sorgen zu machen oder Sorge zu tragen steht also im Zusammenhang mit dem persönlichen Verantwortlichkeitsbereich. In prophetischen Büchern, wie etwa bei Am 6,1, tritt der Aspekt hinzu, sich auch um Gottes Recht zu kümmern. Zudem ist in Ps 13,3 das Motiv zu finden, die eigenen Sorgen vor Gott zu bringen. Als wichtiges Moment ist in alt- und neutestamentlichen Quellen auf der anderen Seite der Aspekt der Fürsorge Gottes beschrieben.210 Hier wird vermittelt, wie insbesondere in Mt 6,25-34 erkenntlich, dass es das Vertrauen auf Gottes Werke ausmacht, sich nicht in die eigenen Sorgen zu verstricken, sondern sie in der Gewissheit vertrauensvoll in Gottes Hand zu legen, dass er weiß, was zu tun ist. Diese Beispiele zeigen auf, dass manche Arten des Sorgens biblischtheologisch positiv bewertet werden, vor anderen hingegen gewarnt wird. So sind es besonders die Sorgen, in die man sich persönlich verstrickt, diejenigen, die abzulegen sind. An Sorgen um Nahrung, Kleidung und Reichtum ist dabei zu denken, wie etwa bei den Evangelisten Matthäus und Lukas angesprochen wird (Lk 6,24; 10,41; 12,13-21; 21,34). Es sollte also nicht darum gehen, für die (ferne) Zukunft Schätze zu sammeln oder sein Leben sichern zu wollen, da auch hier wieder deutlich wird, dass Gott der Herr der Zeit ist. „Für seine Lebenszeit über das Heute hinaus kann der Mensch nicht s[orgen; d. Vf.], weil Gott allein über seine Zeit verfügt. S[orgen; d. Vf.] in dem Wahn, für sein Leben aufkommen zu können, ist fehlendes Gottvertrauen und Unglaube. Vertrauen auf Gott befreit von S[orge; d. Vf.].“211

Die Sorge für das Reich Gottes scheint geboten und auch Paulus sorgt sich um rechtes Verhalten seiner Gemeinden.212 Zugleich wird das Sorgen füreinander (1. Kor 12,25) oder, wie bereits obige Betrachtung der 209

Vgl. etwa Spr 27,23; Sir 38,32; Num 1,50; 3,7f.; 1. Sam 9,5; Spr 10,1; 17,21. Vgl. Vollmer, Art. Sorge, 1254. 210 Vgl. etwa Ex 3,16f.; Neh 9,21; Ps 23; 31; 37,5; Mt 6,25-34; 1. Petr 5,7. Vgl. außerdem das vorangegangene Kapitel V.3.3. 211 Vollmer, Art. Sorge, 1255. 212 Vgl. etwa Mt 6,33; 1. Kor 7,32f.; Phil 2,12-18.

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

alttestamentlichen Stellen verdeutlichte, für den eigenen Verantwortlichkeitsbereich und die Menschen, die hier inbegriffen sind, positiv bewertet. Im Allgemeinen wird also deutlich, dass das sich Sorgen in Grenzbereichen verläuft. Sich zu sorgen oder Vorsorge zu betreiben ist zuerst einmal positiv zu beschreiben für die innerweltlichen Dinge, um die man sich kümmern kann, für die man verantwortlich ist, oder aber für gegenseitige Mitsorge und Beistand für die Umwelt. Problematisch scheint die Sorge dann zu werden, wenn sie von einem Menschen Besitz ergreift, das alleinige Kreisen um diese Sorge überwiegt oder diese Sorge Übermacht gewinnt und vor allen ungewissen Eventualitäten schützen soll. Diffizil ist dies darum, weil Gott als Fürsorger und als Herr der Zeit und des Lebens hiermit verachtet wird und in der Folge der Mensch in problematische Abhängigkeiten von sich selbst gerät. Solche Sorge hat demnach problematische Auswirkungen auf die eigene Person. Bezüglich dessen ist nochmals auf die Befreiung zu verweisen, ebensolche Sorgen, für die der Mensch nicht sorgen kann, vertrauensvoll in Gottes Hand zu legen. Darüber hinaus wird auch in diesem Kontext ersichtlich, dass menschliches Handeln ein fragmentarisches Handeln ist und sein darf. Für den Bereich der (Gesundheits-)Vorsorge lassen sich mithilfe dieser Betrachtung des Aspekts der Sorge einige Konkretionen zeichnen. Zuerst sei dazu an die Diskussion um und die herangeführten Problematiken zur Patientenverfügung erinnert.213 Vor obigem Hintergrund erscheint die Patientenverfügung doch eher in den Bereich der persönlichen Absicherung vor ungewissen Eventualitäten einzuordnen zu sein. Kennzeichen ist zumeist ja keine Offenheit für das, was kommen mag, sondern eher ein Bestreben, die Gegenwart in die Zukunft hinein zu transferieren. Insofern lässt sich anfragen, ob diese Art des Sorgens in der Gefahr steht die menschlichen Möglichkeiten zu überschätzen. Hiervon zu differenzieren sind Gespräche, etwa über je persönliche Wünsche, Vorstellungen und Ängste, die im Kontext des reziproken Für-Sorgens stattfinden. Individuelle Perspektiven werden so offenkundig und die Last des Entscheidens, z. B. in Bezug auf medizinisches Vorgehen, kann abgemildert werden. Das Thema Vorsorgevollmacht ist differenziert zu betrachten. Die Möglichkeit, dass auch dieses Instrument im analogen Sinne wie oben bei der Patientenverfügung beschrieben benutzt wird, ist durchaus vorhanden. Gleichwohl entspricht dieses Verständnis nicht dem inneren Wesen der Vorsorgevollmacht; sie wird insofern eher missverstanden. Wird 213

Vgl. Kapitel III.5.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

475

hingegen vorausgesetzt, dass die Vorsorgevollmacht als das verstanden und eingesetzt wird, für das sie steht, nämlich die Übergabe der rechtlichen Entscheidungsmacht und Handlungslegitimation an eine Vertrauensperson für Situationen, in denen die persönliche Handlungsmacht an ein Ende gerät, so sorgt sie rein formal zuerst einmal dafür, dass eine vorgesehene Person im Bedarfsfalle zeitlich schnell und bürokratisch einfach zugegen ist und juristische Befugnis erhält.214 Auf dieser Ebene sind es innerweltliche Dinge, um und für die sie sorgt. Insofern stellt die Vollmacht eine Erleichterung für alle Beteiligten dar. Sie nimmt jedoch keine Regelungen vorweg, die nicht in des Menschen Hand zu liegen scheinen. Offenbar verwirklicht sie instrumentarisch gerade den Aspekt der christlichen Nächstenliebe und des (innerweltlichen) gegenseitigen füreinander Sorgens. Sie reagiert also genau auf die dargestellte Grenzsituation der Dimensionen der Sorge, wie sie im biblischen Zeugnis vorzufinden sind. Sie erinnert daran, nicht verantwortungslos in den Tag zu leben und sich mit (notwendigen) Entscheidungen und Fragen auseinanderzusetzen sowie gerade die Verantwortung für Mitmenschen wahrzunehmen und für sie auch mögliche Erleichterungen zu schaffen. Sie ermöglicht dies sowohl mit Blick auf den Vollmachtgeber als auch mit Blick auf den Vollmachtnehmer. Ersterer kann beispielsweise durch eine Bereitschaft zur Vorsorgevollmacht dafür Sorge tragen, dass Vertraute im Bedarfsfalle bürokratisch einfach tätig werden können sowie Gespräche über wichtige Handlungsgrundlagen für medizinische Entscheidungssituationen initiieren. Der Vollmachtnehmer etwa realisiert diese Aufgabe, indem er sich für sein Gegenüber gerne einsetzt, ein Miteinander gestaltet und sich bestmöglich an dessen Wohl orientiert. Die Vorsorgevollmacht realisiert es, das zu tun, was man (auch für Andere) tun kann; aber eben auch nicht mehr. Sie ermöglicht es demnach, nicht in den negativ bewerteten Bereich des Sorgens überzugehen und hilft, die nötige Distanz zu den Sorgen über das Leben zu wahren.

3.4.1 Care-Ethik und die Ethik der Achtsamkeit Ein weiterer Seitenblick sei auf die sog. Care-Ethik (bzw. ethics of care) geworfen, da sie bereits in ihrer Namensgebung den Aspekt des Sorgens bedenkt sowie Elemente der relationalen Anthropologie in praxisorientierten Ansätzen verarbeitet. Die Care-Ethik ist in den Pflegewissenschaften beheimatet bzw. dort entsprungen und rege in den 80er und 214

Vgl. Kapitel II.3.

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

90er Jahren in den USA diskutiert worden. Hier ist auf die Namen Carol Gilligan und Nel Noddings zu verweisen.215 Erstere „betrachtet Care als eine umfassende Perspektive der Verbundenheit. Individuen sind nicht autonom, sondern in ihrem jeweiligen Netzwerk von Beziehungen zu betrachten [. . . ]. Sie betont das In-Beziehung-Stehen als Kennzeichen menschlicher Existenz“216 ,

aber auch als typisch weiblich geprägte Ethik. Ein Fokus auf die Relationalität liegt somit auch den Ansätzen der Care-Ethik zugrunde, wobei ebenso in der entgegengebrachten Kritik die Frage nach der Grenze des Sorgens für Andere gestellt wurde und wird.217 Übergreifend ist festzustellen, dass die Care-Ethik den Dissensen zwischen Autonomie und Fürsorge sowie der Frage nach einem Verständnis der Fürsorge ausgesetzt ist. Care wird oft im negativen Sinne als „Überwachung, Pflicht, Mühe und Last“218 verstanden. „Der Begriff wird häufig mit Abhängigkeit in Verbindung gebracht, hingegen Autonomie mit Freiheit.“219 Positiv konnotiert begegnet er als „Pflege, Obhut, Fürsorge, Betreuung, Achtsamkeit, Zuwendung, akzentuiert Vorsicht und Taktgefühl.“220 In Deutschland hat sich besonders Elisabeth Conradi mit der Care-Ethik auseinandergesetzt. Ihr Ansatz soll hier exemplarisch im Zentrum stehen. Die Philosophin versteht Care als gesellschaftliche Praxis und entwickelt eine Ethik der Achtsamkeit.221 „Allgemein definieren ließe sich Care im Sinne Conradis als eine interaktive menschliche Praxis, deren besondere Merkmale Bezogenheit und Achtsamkeit sind.“222 Der Ansatz Conradis ist in diesem Kapitel ferner bedeutsam, da sie die Asymmetrie innerhalb (in diesem Falle speziell) der pflegerischen Situation wahrnimmt. Anders als die Rezeption von Ricœur hervorhebt ist Conra215

Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Care-Ethik seien hier folgende Literaturverweise angeboten: Gilligan, Carol, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1988; Conradi, Elisabeth, Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt am Main 2001; Larrabee, Mary Jeanne (Hg.), An Ethic of Care. Feminist and Interdisciplinary Perspectives, New York / London 1993; Brucker, Carola M., Moralstrukturen. Grundlagen der Care-Ethik, Weinheim 1990. 216 Kohlen, Care-(Ethik), 4 (teils Fettdruck im Original). 217 Vgl. Kohlen, Care-(Ethik). 218 Kohlen, Care-(Ethik), 3. 219 Kohlen, Care-(Ethik), 3. 220 Kohlen, Care-(Ethik), 3. 221 Vgl. Conradi, Take Care. 222 Kohlen, Care-(Ethik), 18.

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di bestrebt, jene Machtdifferenzen wahrzunehmen und zu begrenzen.223 Ferner betont sie die Zuwendung und Kommunikation, die auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommen kann und keineswegs auf Verbales beschränkt bleiben muss. Relationalität ereignet sich etwa auch in körperlicher Zuwendung und kann so in der spezifischen Pflegesituation real werden.224 Sie betrachtet auch in asymmetrischen Beziehungen beide Subjekte als bestimmend und gestaltend sowie als beiderseits bedürftig und versorgend. Conradi betont somit das „Zusammenspiel von Zuwenden und Annehmen der Zuwendung. Alle Beteiligten sind, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in diesem Prozeß aktiv. Denn auch das Annehmen von Zuwendung bedeutet eine Beteiligung am Geschehen“225 .

Folglich sind Care-Interaktionen häufig von Asymmetrien geprägt. Conradi setzt sich ferner dafür ein, sich mit ihrem Begriff der Achtsamkeit von einem reduzierten Verständnis individueller Autonomie abzugrenzen.226 Ihre Ethik der Achtsamkeit entfaltet zwölf Elemente und trägt Care als Schlüsselbegriff bzw. Ethos. „Es geht um Verantwortungsübernahme, Präsenz und Ermutigung, aber auch um Gabe-Handeln und Wertschätzung.“227 Sie bestimmt Care als „eine Praxis der Achtsamkeit und Bezogenheit, die Selbstsorge und kleine Gesten der Aufmerksamkeit ebenso umfaßt wie pflegende und versorgende menschliche Interaktionen sowie kollektive Aktivitäten.“228 Vorausgesetzt wird die Zuwendung von Individuen, die unmittelbar im Prozess der Zuwendung aufeinander bezogen sind und hierdurch „die gemeinsame Praxis Care“229 entsteht. Als zwölf Elemente bestimmt sie: 1. „Im Prozess der achtsamen Zuwendung werden Kontakte neu geknüpft und es entstehen Beziehungen, diese werden gepflegt und intensiviert [. . . ]. 2. Durch achtsame Zuwendung und insbesondere durch tätige Hilfe werden Bedürfnisse erfüllt [. . . ]. 223

Vgl. Kohlen, Care-(Ethik), 20. Vgl. Kohlen, Care-(Ethik), 18ff.; Conradi, Take Care, 58f. 225 Conradi, Take Care, 52. 226 Vgl. Conradi, Take Care, 55f.; 61ff. 227 Conradi, Ethik, 1. Vgl. Conradi, Ethik, 7. 228 Conradi, Take Care, 13. 229 Conradi, Take Care, 14. 224

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3. Konkretionen der relationalen Anthropologie und Ethik

3. Idealerweise gibt es eine Balance der Selbstsorge und der Sorge für andere [sic!]. 4. Durch die achtsame Aktivität der Zuwendung werden die Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns erweitert. Selbstbestimmtes Handeln ist nicht Voraussetzung, sondern ein Ergebnis der Zuwendung, Unterstützung und Hilfe [. . . ]. 5. Achtsame Zuwendung bedeutet, sich auf die Situation einzulassen und die eigene Aufmerksamkeit mindestens einem (anderen) Menschen zu widmen. 6. Achtsame Zuwendung ist oft ein fortdauernder Prozess [. . . ], für den auch Verlässlichkeit [. . . ] nötig ist. 7. Tätige Hilfe setzt Kompetenz voraus und die Übernahme von Verantwortung [. . . ]. Achtsame Zuwendung kann ein aktives Eingreifen und Sich-Einmischen bedeuten [. . . ]. 8. Es ist auch Teil der achtsamen Zuwendung, Möglichkeiten der Ermutigung (empowerment) aller beteiligten Menschen zu erkennen und zu befördern. 9. Achtsame Zuwendung kann auch bedeuten, für die Rechte, die Würde, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen einzustehen, denen die Zuwendung gilt [. . . ]. 10. Die Achtsamkeit ist eine Vorgabe oder ein Geschenk, sie ist nicht an eine Verpflichtung zur Gegengabe gebunden [. . . ]. 11. Achtsame Zuwendung bedeutet auch, die Antwort auf die Hilfe und Unterstützung zu hören und daraus Konsequenzen zu ziehen [. . . ]. 12. Die Sorgetätigkeiten und Menschen, die sie ausüben, sowie Menschen, die ihrer bedürfen, werden wertgeschätzt [. . . ]. Das geht gegen den Mainstream, da achtsame Zuwendung nonverbal sein kann, meist körperliche Berührungen einschließt und Fühlen, Denken und Handeln verbindet [. . . ].“230 Conradi ist darauf bedacht, ihre Ethik der Achtsamkeit von Selbstaufopferung abzugrenzen und nicht auf ein reines Für zu beschränken. So beschreibt sie etwa: 230

Conradi, Ethik, 8ff. (Die einzelnen Punkte der zwölf Elemente wurden aus einem längeren Fließtext entsprechend herausgenommen. Formatierung d. Vf.).

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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„Deshalb steht auch keinesfalls Mit-leiden und Aufopferung, sondern Zuwendung, Ermutigung und Unterstützung im Mittelpunkt. Ein wichtiger Grundgedanke der philosophischen Ethik der Achtsamkeit liegt darin, die Sorge für andere [sic!] und die Selbstsorge zu verbinden, im besten Fall sind Selbstsorge und die Sorge für andere [sic!] ausgewogen.“231

Ersichtlich wird folglich, dass auch in praxisorientierten Ansätzen Elemente der relationalen Anthropologie existent sind, die sich etwa mit der Ausgewogenheit von Autonomie und Fürsorge beschäftigen sowie Asymmetrie in den Blick nehmen. Eine Anwendbarkeit dieser Ansätze ist demnach in der Praxis bereits aufzufinden. Sie stehen damit in Kohärenz zu den oben skizzierten Erkenntnissen der an Barth und Becker angelehnten relationalen Anthropologie.

4. Implikationen der relationalen Anthropologie und Ethik für die Vorsorgevollmacht 4.1 Relationale Anthropologie und Ethik in Anwendung auf die Vorsorgevollmacht Die obige Darstellung der relationalen Anthropologie und Ethik nach Karl Barth im Sinne eines Seins in der Begegnung hat bereits einige Verweise auf ethische Implikationen, zuweilen speziell auf die Vorsorgevollmacht, hervorgebracht. Diese Linien sollen abschließend nochmals spezifiziert werden, um den Ertrag der vorausgegangenen Kapitel zu bündeln. Dabei ist thematisch zu behandeln, auf welche Weise in Grundzügen die relationale Anthropologie auf die Ethik hin konkret werden kann und warum hierauf die Vorsorgevollmacht entscheidend reagiert und mithin den Anspruch tragen kann, dem Menschen als Ganzem gerecht zu werden. Anschließend wird im Rückgriff auf die erfolgte Analyse der Konzeptionen Eibachs und Kreß´ in Bezug zu Karl Barth konkludierend festzuhalten sein, inwiefern eine Weiterführung und Überbietung beider Darstellungen durch die vorgestellte Relationalität gerechtfertigt erscheint. Zum Abschluss dieser Skizze wird notwendigerweise auf spezifische Problematiken in der Praxis, speziell zum Umgang mit der Vorsorgevollmacht, einzugehen sein. Dabei persistiert die Verbindung mit der Frage, wie eine relationale Anthropologie und Ethik eine Antwort formulieren könnte. Erinnert sei nochmals daran, dass Anthropologie und Ethik schwerlich voneinander zu trennen sind, wie es bereits in Barths dogmatisch231

Conradi, Ethik, 16.

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4. Implikationen für die Vorsorgevollmacht

ethischem Ansatz verständlich wurde. „Wenn Gott der Herr über Leben und Tod ist, weil und indem es Gottes Geist ist, der den Menschen als Seele seines Leibes konstituiert und erhält, dann hat das Auswirkungen auf die Ethik.“232 Dieser Grundgedanke soll die folgenden Darstellungen in einem positiven Sinne beeinflussen. Insofern sind die ethischen Implikationen als Bestandteil der Skizze dieser relationalen Konzeption zu werten – Konstitution und Implikation sind, genauer beschrieben, gar zusammengehörig. Ursächlich ist dies im bereits erläuterten Miteinander von Sein und Aufgabe zu verorten und entspricht so wiederum Barths Systematik. Im Rückblick auf die formulierten Kapitel zur relationalen Anthropologie und Ethik, die Jesus Christus „als Quelltext und Kriterium“233 verstehen, seien nun nochmals die spezifisch ethischen Linien vor Augen geführt. Auf Grundlage von Barths Paragraphen 55 aus KD III/4 ergibt sich eine Freiheit zum Leben. Hieraus resultiert einerseits die Ehrfurcht vor dem Leben auf Grundlage der „in der Menschwerdung Gottes in Jesus offenbarte Erwählung des Menschen zum Bundespartner Gottes“234 sowie andererseits die Schutzwürdigkeit des Lebens. Die Ehrfurcht vor dem Leben begegnet in Abgrenzung zu Albert Schweitzer, der dem Leben als solchem eine von sich heraus inhärierende Heiligkeit zusprach. Bei Barth ist eine Ehrfurcht auf Grundlage der Zuwendung und Auszeichnung Gottes gemeint. Zu diesem Bundespartner hat Gott den ganzen Menschen erwählt. Es sind also nicht nur spezielle Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen ausgezeichnet, sondern in jeder Gestalt ist der Mensch etwas Einmaliges und Einzigartiges.235 Barth betont also, „dass es die Erwählung zum Bundespartner Gottes ist, die des Menschen Würde und Wert konstituiert. Zu diesem Bundespartner hat Gott aber den ‚ganzen Menschen‘ erwählt und nicht nur einzelne Fähigkeiten oder Leistungen“236 . Die Erwählung des Menschen zu Gottes Bundespartner, die ein Akt und eine Tat Gottes aus seiner eigenen Freiheit und Liebe heraus ist, konstituiert des Menschen Würde und Wert, womit eine Ehrfurcht vor dem Leben vermittelt ist. Konsequenz zeigt dies für die Schutzwürdigkeit des Menschenlebens. Auch der Wert eines alten, kranken, schwachen oder bedürftigen Lebens, welcher mitunter zur Disposition gestellt wird, bleibt letztlich Gottes Ge232

Becker, Sein, 187. Becker, Sein, 278. 234 Becker, Sein, 187. 235 Vgl. Becker, Sein, 187f. Vgl. außerdem Kapitel V.2.2.3.2, in dem die Individualität des Menschen mit Barth unterstrichen wird. 236 Becker, Sein, 188. Vgl. Price, Anthropology, 100. 233

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

481

heimnis. Jedes Leben steht unter der Erwählung Gottes.237 Sodann ist es auf besonderen Schutz und Beistand durch Mitmenschen angewiesen.238 Diese Dimensionen negieren allerdings in keiner Weise Lebenszustände, deren Schutz in der Preisgabe des Lebens bestehen kann.239 Dies entspricht vielmehr einem Respekt auch vor dem sterbenden Leben sowie der Achtung der Beschränkung und Endlichkeit des Menschen.240 An dieser Stelle ist wohl an eine Selbstverständlichkeit zu erinnern, dass es einerseits eine persönliche Verantwortung, andererseits eine besondere Verantwortung der Mitmenschen beschreibt, wahrzunehmen und zu respektieren, wann ein Leben zu Ende geht, das Sterben zuzulassen und gerade dann in der Begegnung Beistand zu leisten. Des Weiteren ist diesbezüglich an verantwortliches Handeln der Mediziner zu appellieren: aufgrund ihrer Profession ist es besonders ihre Verantwortung zu erkennen, wenn medizinische Maßnahmen keine Indikation mehr aufweisen. Sterbebegleitung als aktives Tun am Ende eines Menschenlebens sollte interdisziplinär ins Bewusstsein rücken. Dabei gilt es auch die vorhandenen palliativmedizinischen Möglichkeiten zu fördern und auszubauen. „Dass der Mensch Leben hat, dient ihm zur Verwirklichung seines Seins für Gott und seines Seins für den Mitmenschen. Dieses Sein wurde oben als Sein in der Verantwortung beschrieben.“241 Es entspricht also der Aufgabe und der Bestimmung des Menschen, Beistand gerne zu leisten. Sein in der Verantwortung konkretisiert sich demnach in der Begegnung, im Beistand und im besonderen Schutz Bedürftiger.242 Der Mensch hat die Freiheit dazu, sich in die Beziehung zu begeben, hierin seiner Bestimmung zu entsprechen und sich vertrauensvoll an Gott zu halten in dem Bewusstsein, dass das ganze Leben und Sterben, durch alle Zeiten als Seele und Leib von Gott gehalten ist. Er ist es, der die Identität des Menschen letztlich begründet, konstituiert und erhält und auch als Hüter und Bewahrer der unverlierbaren, durch das in Beziehung Sein mit Gott gestifteten Würde eintritt. Diese Auszeichnung im Sein des Menschen entbindet jedoch nicht davon, aktiv das Sein, das Leben und die Beziehungen zu gestalten und sich gerne in diese Verantwortung zu setzen. Hierin ermöglicht sich die Ausgestaltung der eigenen Identität und die geschenkte Freiheit in Jesus Christus kommt zum 237

Vgl. Becker, Sein, 188. Vgl. KD III/4, 484. 239 Vgl. KD III/4, 454. Vgl. auch KD III/4, 483. 240 Vgl. KD III/4, 488. 241 Becker, Sein, 193. 242 Vgl. Becker, Sein, 193. 238

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4. Implikationen für die Vorsorgevollmacht

Tragen. Mithin wird es als menschliche Aufgabe zu verstehen sein, für die eigenen Belange im geeigneten Maße zu sorgen. Dies wiederum steht eo ipso in Bezug zum Mitmenschen. Im Verhältnis von Ich und Du, in diesem Sein in der Begegnung, besteht stets – und das in allen Lebenszuständen – ein gewisser Grad der Asymmetrie und Wechselseitigkeit. Es kann wohl als Aufgabe beschrieben werden, die Gleichwertigkeit der Partner in einer Beziehung trotz – oder sogar in – der Asymmetrie zu beachten und ebenso sich darauf zu besinnen, dass sich in der Zeit sowie in unterschiedlichen Bereichen des Lebens ein Wechsel vollzieht, wer die Beziehung aktuell vielleicht in stärkerem Maße trägt. Beziehungen sind und bleiben nicht statisch. Zugleich zeigt sich die Verbindungslinie zur relationalen Autonomie, für die der Mensch auch als Wahrer einzutreten hat. Angefangen in der Eltern-Kind-Beziehung treten im Kindesalter vorwiegend die Eltern als Wahrer der Autonomie ihrer Kinder auf, was sich im Verlauf des Erwachsenenalters zunehmend verändert. Alte oder kranke Menschen sind sodann wiederum auf Wahrer ihrer Autonomie angewiesen. Und auch in Liebespartnerschaften ist dieses Wechselverhältnis nicht nur in der Zeit prägend, sondern auch in verschiedenen Situationen des täglichen Lebens. Hier geht es um ein Bewusst Sein und Bleiben der Wechselseitigkeit, von Nähe und Achtung. 4.1.1 Die Vorsorgevollmacht in Entsprechung der Relationalität Viele Linien wurden während der Darlegung der relationalen Anthropologie und Ethik bereits zur Vorsorgevollmacht hin gezogen, um auf ihre Verbindungen hinzuweisen sowie Anwendungsbereiche kenntlich zu machen. Diese Zusammenhänge sollen nun im Fokus stehen und weiter systematisch betrachtet werden. In deutlichem Maße ist ersichtlich, dass die Vorsorgevollmacht als solche Beziehung und Begegnung voraussetzt und insofern ein sichtbarer Konnex zum Sein in der Begegnung und diesem Begegnungsgeschehen besteht. Theologisch ist ihr darin ein besonderer Wert zuzusprechen, da sie aus dem Sein des Menschen als Mensch für Gott – und also als Bundesgenosse Gottes – die Aufgabe wahrnimmt, besonders Mensch für den Mitmenschen zu sein. Sie entspricht der Relationalität dahingehend, dass sie speziell die Relationalität auf menschlicher Ebene voraussetzt und ermöglicht sowie diese auf juristischer Ebene absichert. In mehrfacher Hinsicht ist dies zu illustrieren. Zum einen sollte ihr zugrunde liegen, dass sich Vertrauenspersonen begegnen und insofern von einem wirklichen und barthgemäßen Sein in der Begegnung aus-

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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gegangen werden kann.243 Konkretion findet dies etwa darin, dass sich Vollmachtgeber und -nehmer in reziproker Offenheit zu diesem Thema, auch mit allen Sorgen, Ängsten und Bedenken, miteinander auseinandersetzen. Etwa indem sich Zeit genommen wird für einen Austausch, für Gespräche und ggf. auch für Beratung von außen. So können nicht nur bestehende Ängste besprochen sowie mitunter abgemildert werden, es vertieft sich zudem das gegenseitige Vertrauensverhältnis, wird sich mit Ehrlichkeit begegnet. Die vorherrschenden Beziehungsebenen wären allerdings verkürzt wahrgenommen, würden sie ausschließlich auf Vollmachtgeber und -nehmer projiziert. Zumeist stehen etwa innerhalb familiärer Strukturen weitere Menschen in der Beziehung, denen überdies die Gestaltung des Seins in der Begegnung obliegt, etwa auch während des Diskussionsund Abfassungsprozesses, aber besonders ebenso dann, wenn die Vollmacht zur Umsetzung gelangt. Gerade in diesem Fall sind alle Beteiligte auf weitere Begegnungen und Hilfen von außen angewiesen. Eminente Grundlage sind gemeinsame Gespräche und ein aufeinander Hören – hier ebenso in besonderer Weise zwischen Vollmachtgeber und -nehmer, aber auch zwischen beteiligten Mitmenschen. Zudem kann die Vorsorgevollmacht als ein Instrument des sich gegenseitig Beistand Leistens angesehen werden, wobei auch dies abermals nicht eindimensional zu verstehen ist. Unweigerlich überwiegt das Beistand Leisten des Vollmachtnehmers für den Vollmachtgeber im Falle der Umsetzung der Vorsorgevollmacht, da dies automatisch impliziert, dass der Vollmachtgeber sodann die eigenen Belange nicht mehr (vollständig) erledigen kann. Nur diese Dimension wahrzunehmen, auch wenn sie eo ipso einen großen Raum einnimmt, wäre unzureichend. Beistand zu leisten realisiert sich auch auf der Ebene vom Vollmachtgeber zum Vollmachtnehmer hin. Angefangen dabei, dass dies u. U. als Vertrauensbeweis und somit auch als Auszeichnung des Gegenübers verstanden werden kann, ergibt sich zumeist dieses Vertrauen als Resultat vorausgegangener Begegnungen. Die Reziprozität des Beistand Leistens verdeutlicht sich ferner in gemeinsamen Gesprächen, bei denen gegenseitige Vorstellungen, Erwartungen, Grenzen oder Ängste dargelegt werden. Ferner kann es wohl als Voraussetzung einer funktionierenden Vorsorgevollmacht angesehen werden, dass sie reziprok im Modus des Gerne verfasst und angenommen wird und dabei die Individualität beachtet, was hier einen weiteren Bezug zum relationalen Sein in der Begegnung verdeutlicht. Diese Skizze zeigt bereits an, dass in, durch und mit der Vorsorgevollmacht die Grundlinien des Seins in der 243

Vgl. KD III/2, 299ff.

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4. Implikationen für die Vorsorgevollmacht

Begegnung wahrgenommen werden können und ihr bereits vorausgehen. Das Sein des Menschen für den Menschen gelangt im Umgang mit der Vorsorgevollmacht zur Tat. Folglich stellt sie eine Möglichkeit dar, in wahrhaftiger Zweisamkeit und Begegnung der Bestimmung des Seins des Menschen als Zusammensein mit dem Mitmenschen zu entsprechen. In Anbindung an die Thematik vorausgegangener Kapitel ist festzustellen, dass das Instrument der Vorsorgevollmacht bereits voraussetzt, dass der Mensch – entgegen aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen – nicht solipsistisch lebt und insbesondere in gesundheitlicher Beeinträchtigung auf das Miteinander angewiesen ist. Darüber hinaus nimmt die Vollmacht ernst, dass der Mensch kein statisches Wesen ist, sondern vielmehr der Veränderbarkeit unterliegt. Sie setzt, wohl verstanden, je relationale Autonomie sowie relationale Fürsorge, und dies im Modus der Wechselseitigkeit, voraus, ohne hier eo ipso zu verabsolutieren. Sie realisiert etwa in besonderer Weise die relationale Autonomie in dem Sinne, dass sie die individuellen Möglichkeiten einer (Gesundheits-) Vorsorge hervorbringt oder aktuelle Vorstellungen und Bedürfnisse in Gesprächen mit dem Gegenüber verdeutlicht. Das Verfassen einer Vorsorgevollmacht – verstanden als Prozess – ist also bereits Ausdruck relationaler Autonomie. Wiederum verdeutlicht sich das Zusammenspiel mit einer relationalen Fürsorge, die grundsätzlich bereits davon ausgeht, nicht alleinig isoliert oder solipsistisch als Mensch seine Belange regeln zu können, sondern ein ontologisch relationales Wesen zu sein. Auch im Miteinander die Vollmacht zu erstellen ist, wie bereits beschrieben, Ausdruck relationaler Fürsorge, auf die hier speziell der Vollmachtnehmer angewiesen ist. Und schließlich lässt sich der Fürsorge-Aspekt besonders betonen, wenn die Notwendigkeit zur Einsetzung der Vollmacht besteht, der Vollmachtnehmer für die Belange seines Gegenübers eintritt und dazu juristische Befugnis erhält. Zugleich bleibt es Aufgabe des Vollmachtgebers im Rahmen seiner Möglichkeiten dann auch für den Vollmachtnehmer einzustehen und ihn zu unterstützen, etwa in Form der Liebe, Zuneigung oder Dankbarkeit. Zusammenfassend ist und bleibt es die stetige Aufgabe aller Beteiligten, im Miteinander je relationale Autonomie sowie relationale Fürsorge zu achten, zu schützen und zu gewähren sowie die diesbezüglichen Möglichkeiten auch wahrzunehmen. Beachtet werden kann und sollte dabei, dass eine solche Begegnung keine vollständige Vertretung einer Person meinen kann und demnach auch auf das einander (nur) begrenzt Beistand leisten können in Fragmentarität rekurriert. Für relationale Autonomie und für relationale Fürsorge im Modus der Wechsel-

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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seitigkeit Sorge zu tragen, realisiert sich aufseiten von Vollmachtgeber und -nehmer im Sein in der Begegnung. Auf die Ganzheit des Menschen als Seele seines Leibes nimmt die Vorsorgevollmacht ebenfalls konkret Bezug. Liegt die Prämisse vorrangig auf dem Menschen als geistig-kognitivem Wesen, so inhärieren hier bereits mögliche Ausschlusskriterien für das Menschsein. Der ganze Mensch bzw. die Achtung des ganzen Menschen kann dann besonders in Krankheitssituationen in Gefahr geraten, in denen die Dimension des geistig-kognitiven Seins vorrangig nicht mehr wahrnehmbar ist. Zu denken sei etwa an Menschen mit (Alzheimer-)Demenz, an komatöse Zustände oder auch an Menschen mit geistiger Behinderung. In Erinnerung gerufen werden sollte, dass der Mensch von Gott durch die Gabe seines Geistes als Seele seines Leibes begründet und die Zusammengehörigkeit von Seele und Leib auch darin deutlich wird, dass sein Körper lebendig und somit beseelter Leib ist. Auch der Leib ist existenznotwendig und Ausdruck der Person. Der Leib ist der Körper, mit dem als Subjekt vor Gott (und den Mitmenschen) gelebt werden kann. Er ist der Ausdruck des Geschöpfseins.244 Durch die heute vermehrt aufzufindende Vorstellung des Menschen als (ausschließlich) geistig-kognitives Wesen droht teils die Leiblichkeit des Menschen aus dem Blick zu geraten. Ist dies der Fall, so sind Mitmenschen, Vertrauenspersonen und demnach auch Vorsorgebevollmächtigte in besonderer Weise dafür verantwortlich, die relationale Identität eines Menschen, die auch im Hinblick auf Leiblichkeit geschenkt wird und gestaltet werden kann, zu wahren. Den Menschen in allen Lebenszuständen als relationales Subjekt durch die Geistgabe Gottes begründet, konstituiert und erhalten zu betrachten, hilft dabei, zugleich seine Würde, Identität und relationale Autonomie zu achten sowie außerdem die Begrenztheit des Menschen in der Zeit wahr- und ernst zu nehmen. Hier hilft wahrscheinlich auch die Beachtung der und das Achten auf die Leiblichkeit, um Endlichkeit zu akzeptieren und Sein in der Begegnung etwa auch als Sterbebegleitung zu realisieren. Hierbei ist zugleich der Bezug zur Zeitlichkeit des Menschen offensichtlich, auf die es sich gerade für die hoch technisierte Medizin wieder zu besinnen gilt. Nicht allein das medizinisch Machbare sollte Menschen, ihrem Umfeld, aber auch der Ärzteschaft und dem medizinischen Personal vor Augen stehen, sondern auch die Schärfung der Wahrnehmung sowie der damit einhergehenden Verantwortung für ein sterbendes Leben. Hier wird es die besondere Aufgabe von Vorsorgebevollmächtigten und nahestehenden Personen sein, durch das in 244

Vgl. KD III/2, 421; 476; Becker, Sein, 172ff.

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4. Implikationen für die Vorsorgevollmacht

Beziehung Sein die Handlungsoptionen abzuwägen und dann auch für das Zulassen der Endlichkeit Verantwortung zu tragen. Letztlich hilft die Vorsorgevollmacht dabei, relational für die Identität und die Würde des Menschen einzutreten und sie zu gestalten. Dabei hat der Vollmachtgeber für seine Vertrauensperson besondere Sorge zu tragen. Zu denken ist auch an Gespräche, die vom Vollmachtgeber initiiert werden, um die Verantwortungsbereiche und die einhergehenden Belastungen besprechen zu können. Zudem sorgt der Vollmachtgeber, indem er seine Vorstellungen und Wünsche thematisiert, für den Vollmachtnehmer, mit dem Ziel, die spätere Last des Entscheidens mitzutragen. Etwa in der realen Krankheitssituation verstärkt sich die Aufgabe des Vorsorgebevollmächtigten, die Identität, Würde und Autonomie des zu Betreuenden zu wahren. Dabei ermöglicht die Vorsorgevollmacht als Dokument in besonderer Weise auch in rechtlicher und praktischer Hinsicht ein Sein in der Begegnung zu leben und zu gestalten. Nachdrücklich wertvoll im Rückblick auf die geführten Diskussionen und dargelegten Dissense, die derzeit in der Praxis bestehen, erweist sich ihr Wert einerseits darin, dass sie weder den Menschen als autarkes oder solipsistisches Wesen imaginiert, noch ihn als eigenes Selbst und Subjekt missachtet. Im Wissen darum, dass es nur um ein beschränktes Füreinander gehen kann, ist es die selbstständige Wahl des Vollmachtgebers, in der Erkenntnis der Angewiesenheit auf Beziehungsstrukturen die Entscheidungskompetenz für entsprechende Zuständigkeitsbereiche an seine Vertrauensperson zu übertragen. Vor gleichem Hintergrund ist und bleibt auch der Vollmachtnehmer Subjekt darin, dass er sein Gegenüber nicht ersetzen kann, vielmehr aber seine Aufgabe im Sein für den Mitmenschen zur Realisierung bringt. Wahrgenommen wird also, dass der Mensch ein relationales Wesen ist und das in Beziehung Sein dem Menschen besonders am Lebensende sowie bei schwierigen medizinischen Entscheidungssituationen entspricht. Indem der Vorsorgevollmacht die Relationalität zugrunde liegt, vorausgeht und inhäriert, realisieren sich im Umgang mit der Vollmacht alle Dimensionen des Menschseins in einem ausgewogenen Verhältnis. Sie reagiert dabei entsprechend auf die Veränderbarkeit und Zeitlichkeit des Menschen. Dies zeigt auch ein Privileg der Vorsorgevollmacht in Abgrenzung zur derzeit praktizierten und rechtlich gestärkten Patientenverfügung. Denn die Vollmacht ermöglicht es in Auseinandersetzung mit einem Gegenüber über Wünsche, Vorstellungen und Ängste im Leben ins Gespräch zu kommen und diese ggf. zu schärfen. Dabei trägt die Vollmacht in Eigenverantwortung und persönlicher Autonomie für die eigene Zukunft sowie für die Mitmenschen Sorge und reagiert geeignet darauf,

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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dass es auch zum Menschsein gehört, auf Andere angewiesen zu sein und außerdem das Leben nicht vollständig als planbares Element in der Hand zu haben. Nachdrücklich steht die Vorsorgevollmacht dafür – und das als Mehrwert in Abgrenzung zur an die Patientenverfügung herangetragenen Problematik der Prospektivität – situativ und kontextualisiert und ferner interaktiv mit allen beteiligten Parteien anstehende Entscheidungssituationen, etwa auch im medizinischen Kontext, in der Begegnung zu vollziehen. 4.1.2 Spezifische Schwierigkeiten aus der Praxisperspektive Vorausgehend wurde bereits betont, dass das Instrument der Vorsorgevollmacht auf ein korrektes, ihr zugrunde liegendes Verständnis angewiesen ist, sodass bei der Ein- und Umsetzung kein Missbrauch entsteht. Folglich muss sich die Betrachtung auch wahrnehmbaren Schwierigkeiten in der Praxis stellen. Zu fragen ist demnach, wie die skizzierte relationale Anthropologie auf die folgenden exemplarischen Problemlagen reagieren kann. Die dargelegten Punkte stellen vorwiegend Erfahrungswerte von beispielsweise in der Beratung tätigen Personen dar oder ergeben sich aus Beobachtungen aus vorfindlichen Einstellungen zur Vorsorgevollmacht. Auf fundierte Fachliteratur kann nicht zurückgegriffen werden, da, wie bereits eingangs mehrfach beschrieben, bis dato keine inhaltliche Reflexion zur Thematik auffindbar ist. Resultierend daraus, dass der Vorsorgevollmacht große Verantwortung inhäriert und hier Menschen miteinander umgehen, liegt es auf der Hand, dass spezifische Problematiken auftreten können. Zu fragen ist, wie diesen argumentativ im Sein in der Begegnung entgegenzutreten ist. Von Beratungsstellen, die zumeist einen Anlaufpunkt für Senioren darstellen, wird beispielsweise die Erfahrung mitgeteilt, dass teilweise eine Nötigung oder ein Druck von Angehörigen ausgeübt wird, das Gegenüber zur Verfassung einer Vollmacht zu drängen. Gründe hierfür können sein, dass zum einen auch eine (mediale) Vorstellung vermittelt wird, Vorsorge treffen zu müssen. Dabei findet der Irrglaube Ausdruck, dass sonst per se völlig Fremde einfach frei über den Menschen bestimmen und verfügen könnten. Diese Annahme wird dann dafür eingesetzt, jenen Druck zur äußeren Notwendigkeit der Vollmachterteilung aufzubauen. Zum anderen kann der Grund leitend sein, dass Angehörige nicht in erster Linie Vorsorge zum Nutzen des Vollmachtgebers präferieren, sondern vielmehr sich selbst durch die Vorsorgevollmacht absichern wollen. Dies kann geschehen, um sich etwa vor Unannehmlichkeiten zu schützen, wie beispielsweise der Kommunikation mit der Be-

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4. Implikationen für die Vorsorgevollmacht

treuungsbehörde bei einer notwendig gewordenen Betreuerbestellung. Ausgelöst werden kann dies zudem von der Erfahrung, dass insbesondere bei älteren Senioren kein Verständnis dafür vorliegt und sie das Nachdenken über eine Vollmacht trotz Informationen nicht als sinnvoll erachten. Kennzeichen solcher Situationen scheint zu sein, dass zwischen den Beteiligten eine wirkliche Beziehung im obigen Sinne nicht vorliegt oder diese nicht von gegenseitigem Vertrauen geprägt ist. Hier sind wohl Pflichten einer fundierten Beratungskultur, von Beratungsstellen oder anderer Beteiligter zu statuieren, die in einem solchen Falle auch von der Verfassung einer Vollmacht abraten oder Alternativen aufzeigen können. Aber auch die Mit- und Umwelt ist sicher dazu aufgerufen, bei offensichtlichen Missbrauchsfällen tätig zu werden und sich ggf. an die Betreuungsbehörden und -gerichte zu wenden. Im Allgemeinen wird es eine Aufgabe darstellen, den gesamten Bereich der persönlichen Vorsorge, ihrer Möglichkeiten und Schwierigkeiten gesellschaftlich zu implementieren und ein entsprechendes Bewusstsein zu schaffen. Analog zur Problematik des unter Druck Setzens von außen lässt sich teils eine innere Angst gegenüber der Vollmacht auffinden, dass der Bevollmächtigte völlig frei über eine Person verfügen könne. Es wird einerseits wichtig sein, bereits bei der Information zur Vollmacht deutlich zu machen, wann sie zum Einsatz gelangt und dass etwa medizinische Entscheidungen nur bei Indikationsstellung des Arztes sowie bei Einigkeit mit dem Arzt getroffen werden können. Zudem ist von der entwickelten Position der relationalen Anthropologie darauf zu verweisen, dass ebenso in einem derartigen Fall kein wirkliches Sein in der Begegnung vorzuliegen scheint. Zu einer ähnlichen Kategorie zählt, dass (potenzielle) Vollmachtgeber eine mögliche Information und Aufklärung über die Vorsorgevollmacht kognitiv nicht mehr aufnehmen und umfassend verstehen können und schließlich in die Vollmacht einwilligen, um von der Thematik (und ihren Befürwortern) nicht mehr bedrängt zu werden. Dass auch hier von einem Fehlen eines wirklichen Seins in Beziehungen, besonders von Vollmachtnehmer-Seite ausgegangen werden kann, zeigt sich. Ein weiterer Aspekt des Missbrauchs kann bei bereits verfassten und zur Anwendung kommenden Verfügungen in dem Sinne auftreten, dass das Verfügen über eine Person ausgenutzt und sich um keine wirkliche Begegnung bemüht wird. Sehr exemplarisch begegnet dies, wenn eine Konto-Vollmacht zur eigenen Bereicherung genutzt wird oder Behandlungsentscheidungen zuungunsten des Betroffenen getroffen werden. Eine Reflexion hierüber muss fragen, wie es zu einem solchen Miss-

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brauch kommen kann. Als Ansatzpunkt ergibt sich, dass Vollmachtgeber und -nehmer keine wirklichen Vertrauenspersonen darstellen oder die Vollmacht etwa aufgrund von oben beschriebenem äußeren Druck und Zwang verfasst wurde. In diesem Sinne widerspricht die Situation eo ipso dem Grundverständnis der Vorsorgevollmacht, ist aber nichtsdestotrotz ernst zu nehmen. Hierdurch wird nochmals die Notwendigkeit unterstrichen, dass sich Vollmachtgeber und -nehmer reziprok der inhärierenden Verantwortung bewusst sein sollten und es wird deutlich, dass Gespräche essenziell für die Feststellung erscheinen, ob das Vertrauen gegeben und übernommen werden kann – aber auch, ob das Vertrauen reziprok getragen werden kann. Ferner stehen Vollmachtgeber und -nehmer in keinem abgeschotteten Verhältnis zueinander, sodass trotz oder gerade mit der Vorsorgevollmacht und ihrer Anwendung auch peripher Beteiligte in der Verantwortung stehen, auf Verdachtsfälle des Missbrauchs zu reagieren. Besonders Ärzte und medizinisches oder pflegerisches Personal haben Einblickmöglichkeiten darein, wie die Beziehung zwischen den Beteiligten stattfindet, und können bei schwerwiegenden medizinischen Entscheidungen auch Konsile oder Behörden anrufen. Dass Uninformiertheit und unzureichende Aufklärung in der Gesellschaft zur Thematik Vorsorge dominiert, wurde bereits zu Beginn der Arbeit angesprochen. Es bestehen beispielsweise die fälschlichen Ansichten, dass mit Vollmachtübergabe eine generelle und vollständige Verfügungsfreiheit des Bevollmächtigten über den Vollmachtgeber besteht. Als ebenso unzureichend erscheint die Einstellung, dass eine Information nicht notwendig ist, da in Vergangenheit offenbar eine Vollmacht nicht nötig zu sein schien. Beide Positionen missachten je für sich die geltende Rechtslage. Ob und inwiefern die vorfindliche Ansicht theologisch haltbar ist, dass solche Regelungen nicht vorgenommen werden dürfen, da all dies in Gottes Hand liegt, wurde u. a. im Kapitel V.3.4 diskutiert. In der Skizze zur relationalen Anthropologie wurde explizit deutlich, dass der Mensch zur Aktivität aufgerufen ist, da ein Ineinander von Sein und Handeln besteht. Besonders im Fokus auf den Aspekt Sorgen wurde beschrieben, dass es notwendig ist, sich um weltliche Dinge zu kümmern und vorzusorgen, auch, um sich selbst und Anderen Erleichterungen zu schaffen. Eine weitere Problematik ist bezüglich der Abfassungssituation einer Vorsorgevollmacht zu beachten. Ein gewisses Gerechtigkeitsbestreben kann etwa bei der Vergabe der Vollmacht bzw. ihrer Geltungsbereiche insbesondere für ältere Vollmachtgeber ihren erwachsenen Kindern gegenüber leitend sein. Teils unabhängig von einer Reflexion über Wohn-

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4. Implikationen für die Vorsorgevollmacht

ortnähe, Erreichbarkeit, zeitlichen Optionen oder der jeweiligen familiären Situation soll eine Vorsorgevollmacht unter den Kindern gerecht aufgeteilt werden. Von Elternseite aus soll so womöglich vermittelt werden, keines ihrer Kinder zu bevorzugen oder bevorteilen zu wollen. Von besonderer Tragweite ist dieser Aspekt dann, wenn das Gerechtigkeitsempfinden sogar über fehlendes oder unzureichendes Vertrauen überwiegt. Diese Thematik wird eine Informationskultur berücksichtigen müssen, indem sie hierauf gezielt hinweist. Sie kann auch vermitteln, dass nicht generell eigene Kinder bevollmächtigt werden müssen. Gleichwohl soll mit Darstellung dieser möglichen Problemsituation keinesfalls missachtet werden, dass es sich mitunter anbieten kann, eine Vorsorgevollmacht aufzuteilen. In diesem Falle ist anzuraten, so die Tendenz vieler Beratungsinstanzen, eher separate Vollmachten für einzelne Verfügungsbereiche zu verfassen, anstatt in einer Vollmacht Mehrfachnennungen durchzuführen. In letztgenanntem Falle wird teils vernachlässigt, dass Handlungsfähigkeit nur bei Einigkeit und gemeinschaftlichem Handeln aller Bevollmächtigten besteht. Allgemein ist noch darauf hinzuweisen, dass in der Praxis die Problematik der Zugänglichkeit einer Vorsorgevollmacht auftreten kann, etwa dann, wenn Vollmachten beim Notar oder im Bankschließfach hinterlegt werden und so beispielsweise außerhalb der Öffnungszeiten oder am Wochenende im akuten Bedarfsfalle nicht zugänglich sind. Folglich wird insbesondere von Beraterseite der Hinweis gegeben, die Vollmacht am verabredeten Ort (kurzfristig) zugänglich aufzubewahren. Eine wohl schwerwiegende, im Themengebiet vorfindliche Frage ist die nach einer (geeigneten) Vertrauensperson. Wie eine solche bestimmt werden kann, ist in kasuistischen Algorithmen kaum zu fassen. Letztlich geht es hier um Beziehung und Vertrauen, welches im Sein wahrgenommen wird. Im Beziehungsgeschehen kann bereits die Erkenntnis darüber resultieren, ob sich Vertrauenspersonen begegnen, die eine solche Vollmacht teilen wollen und können. Zudem ist die Frage zu reflektieren, ob enge Vertraute auch die Last des Entscheidens tragen können. Besonders im geriatrischen Bereich besteht die Herausforderung, dass einstige Vertrauenspersonen womöglich bereits verstorben sind. Erinnert sei daran, dass die Vollmacht nicht verpflichtend abzufassen ist oder auch sehr bewusst auf sie verzichtet werden kann. Womöglich können Gerichte dann mithilfe einer Betreuungsverfügung eine Entscheidungsgrundlage für die Bestellung eines Betreuers generieren. Ein spezifischer Blick sei nochmals auf den Vollmachtnehmer gelenkt. An einigen Stellen wurde bereits der Aspekt seiner Überforderung und vorhandener Ängste angesprochen. Gezeigt wurde dabei bereits, dass

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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diese Gefühle im Sein in der Begegnung im Wissen um Fragmentarität ihren Platz haben dürfen. Gleichwohl stellt es eine Gefahr im Umgang mit der Vorsorgevollmacht und allgemein von Pflegesituationen dar, dass Beteiligte in solchem Maße selbst leiden, dass sie vor Überforderung ihren Aufgaben nicht gerecht werden können. Einerseits ist der Hinweis auf Kapitel V.3.4 Der Aspekt des Sorgens aufzuzeigen. Dabei ist in kritischer Weise eine Reflexion darüber vorausgesetzt, sich nicht in einnehmender Weise in die eigenen Sorgen zu verstricken, sondern auch hier vertrauensvoll auf Gottes Führung und Kraft zu vertrauen. Andererseits kann ggf. ein Eingeständnis gefordert sein, dass jene Aufgaben tatsächlich die persönlichen Möglichkeiten übersteigen und Hilfe von außen indiziert ist. Auch in dieser Form kann sich das begrenzt einander Beistand Leisten äußern. Gefordert ist sodann die Mithilfe und Unterstützung des größeren Umfelds. Das Sein in der Begegnung ist nicht alleinig auf Dualität zu begrenzen, sondern vollzieht sich schließlich auch in größeren Kreisen. Festgehalten werden kann, dass ein Vollmachtnehmer im Wissen um die weitreichende Verantwortlichkeit Angst haben darf. Auch er ist auf ein Sein in Begegnung angewiesen und darf sich als Bundespartner Gottes von ihm erhalten und gehalten wissen. Zuletzt ist auf eine Thematik hinzuweisen, die das Gespräch und die Auseinandersetzung im Prozess der Abfassung, aber auch bei bestehenden Verfügungen betrifft. Die generelle Notwendigkeit eines gemeinsamen Austauschs muss für eine wirksame Vorsorgevollmacht vorausgesetzt sein, bildet letztlich gar das Fundament des funktionierenden Instruments. Dazu zählt auch eine Auseinandersetzung zu gegenseitigen Erwartungen, Vorstellungen, Wünschen, Grenzen und Ängsten. Zugleich kann dabei die Intention der Abfassung einer Vorsorgevollmacht nicht in engen Handlungsvorgaben und -demarkationen liegen. Unterdessen wäre die dargelegte Relationalität im Menschsein, insbesondere auch mit Blick auf Veränderbarkeit, missachtet. Derartige Vorgaben entsprechen wohl eher der Patientenverfügung und rufen somit wiederum die bereits in Kapitel III.5 diskutierten Problematiken hervor. Ein korrekt verstandener Umgang mit der Vorsorgevollmacht setzt die obige relationale Wahrnehmung des Menschen sowie die implizierte Offenheit aller Beteiligten voraus, nicht alles in der eigenen Hand zu haben und en détail prospektiv planen zu können. Eminent wichtig ist, in der Veränderbarkeit zu sein und situativ sowie kontextgebunden mit den sich stellenden Herausforderungen umzugehen. Dazu gehört ebenso, dem Entscheidungsprozess für oder gegen eine Vorsorgevollmacht seine jeweilige Zeit einzuräumen.

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4. Implikationen für die Vorsorgevollmacht

4.2 Fortschritt und Herausforderung In den Darlegungen des Abschnitts IV wurde gezeigt, dass die Konzeptionen Eibachs und Kreß´ dem gegenwärtigen Horizont vorhandener konträrer Positionen entsprechen und bereits gesellschaftlich Gefahren spürbar sind, die Wahrnehmung des Menschen zu vereinseitigen. Projiziert auf medizinethische Belange kann dies zur weiteren Ausbildung problematischer Vereinseitigungen führen, wie etwa die (gesellschaftliche) Negation des Wertes verschiedener Lebenszustände, die Missachtung des Menschen als relationales Wesen oder die Propagierung von Enhancement. Infolgedessen werden beispielsweise auch Forderungen nach aktiver Sterbehilfe laut, denen sich, ohne in diesem Rahmen auf die Thematik in notwendiger Tiefe eingehen zu können, andere Optionen in Richtung Palliation und Sterbebegleitung entgegenstellen. Erfahrungen aus der Praxis verweisen bereits auf Gefahren eines reduktionistischen Menschenbildes und befürworten das in Beziehung Sein, nachdrücklich als essenzielle Begegnung im Kranksein: „Dies hängt damit zusammen, dass es in der Begegnung mit dem kranken Menschen nicht allein um die Frage nach abstrakten Prinzipien, Maximen oder Handlungsregeln gehen kann, sondern vielmehr darum, der jeweils einzigartigen Begegnungssituation gerecht zu werden.“245

Die Konzeption der relationalen Autonomie und der relationalen Fürsorge im Anschluss an Barth und der Aufarbeitung von Becker schätzt wirkliche Begegnung hoch und als dem Menschen inhärent, gar als Verwirklichung der Bestimmung des Seins des Menschen, Mensch für Gott und Mensch für den Mitmenschen zu sein. Sie umgeht die betrachteten Vereinseitigungen im Sinne von Paternalismus und Solipsismus, indem der Mensch in der Begegnung immer auch dieses Ich ist, das in die Beziehung zu einem Du tritt. Resultat ist eine an den realen Bedürfnissen und Lebenssituationen sowie -möglichkeiten angelehnte Ethik, in der es nicht um kasuistisch zementierte Urteile geht, sondern Relationalität und Situativität die Rahmenbedingungen darstellen. Sein und Aufgabe, Empfangen und Gestalten, Passivität und Aktivität stehen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis. Folglich überbietet die relationale Anthropologie Eibach und Kreß darin, dass sie je ihre Anliegen wahrund ernst nimmt und zugleich in ein Gesamtkonzept integriert, in dem keine Verabsolutierung notwendig ist. Der ganze Mensch ist im Fokus. Gesellschaft, Praxis, Kirche und Theologie stehen also vor der Herausforderung, auf diese Wahrnehmungen entsprechend zu reagieren und 245

Maio, Mittelpunkt Mensch, 47.

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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eine Entwicklung von Rahmenbedingungen, in denen das Sein in der Begegnung realisiert werden kann, voranzutreiben. Ziel ist es dabei auch, die unverlierbare Würde des Menschenlebens im Bewusstsein seiner Endlichkeit und Begrenztheit zu stärken.

5. Abschließendes Votum als einladende Ethik Mithilfe der Analytik der Arbeit konnte aufgezeigt werden, dass die Frage nach einem Verhältnis von Autonomie und Fürsorge den sich interdisziplinär sowie innergesellschaftlich ereignenden Diskurs im weiten Themenfeld Vorsorge in toto umtreibt und sich ebenso im Bereich der Theologie, vertreten durch die Positionen Ulrich Eibachs und Hartmut Kreß´, wiederfindet. Ersichtlich wurde sodann in der Aufarbeitung der Argumentationen, dass eine ethische Gewichtung und Beurteilung nur auf Grundlage eines entsprechend reflektierten Menschenbildes erfolgen kann. Insbesondere die Frage nach dem Tun im medizinethischen Bereich kommt „nicht ohne eine grundlegende Reflexion über den Menschen aus. Denn die Frage nach dem guten Handeln in der Medizin lässt sich nur beantworten, wenn man zuvor das Wesen des Menschen reflektiert und damit die Zielvorstellung formuliert hat, nach der das Handeln auszurichten ist.“246

Auf Grundlage dessen ergibt sich aus der Erkenntnis, dass der Mensch nicht ohne Gott zu verstehen ist, die Freiheit dazu, den Menschen zuerst von Gott begründet, konstituiert und erhalten wahrzunehmen. Dies entlastet daraufhin von Urteilen über das Menschsein, welche nicht in des Menschen Hand liegen. Zugleich ist der Mensch als Partner Gottes erschaffen und so grundsätzlich relational verortet, dem überdies die Beziehungshaftigkeit von Mensch und Mitmensch entspricht. Das Wesen des Menschen zeichnet sich aus als Ineinander von Sein und Aufgabe, Passivität und Aktivität, Empfangen und Gestalten. All diese Elemente finden sich in unterschiedlicher Realisierung und Intensität im Verlauf eines Lebens vor, was unmittelbare Auswirkung auch auf das Verhältnis von Mensch und Mitmensch mit sich bringt. Hier ist eine Wechselseitigkeit wahrnehmbar, die die Relationalität auf allen Ebenen beachtet und keine Gleichrangigkeit bei bleibender Gleichwertigkeit voraussetzt. Unter Beachtung des Seins in der Begegnung, das den Menschen als Subjekt und Individuum wahrnimmt, das sich nur in 246

Maio, Mittelpunkt Mensch, 375.

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5. Abschließendes Votum als einladende Ethik

der Beziehung konstituieren kann und so notwendig auf die Begegnung von Ich und Du angewiesen ist, wirken relationale Autonomie und relationale Fürsorge zusammen – in der Entsprechung Jesu Christi. Die Anthropologie in Anlehnung an Karl Barth und besonders in der Interpretation Dominik A. Beckers bietet eine Möglichkeit der Beschreibung und Begründung dessen. Denn hier „wird manifest, wie Barths Denken um Gottes Wort und des Menschen Antwort kreist, wie für ihn dem freien Gott die Antwort des freien Menschen entspricht.“247 Kennzeichen ist die geschenkte Freiheit, die aus der Freiheit Gottes als „Freiheit zu grenzenloser Liebe“248 die Freiheit des Menschen „unter Gott und für Gott“249 in Jesus Christus inhäriert. Der Mensch ist dazu befreit, gerne in der Beziehung zu sein, zu bleiben und sie zu gestalten. Kasuistisch einfache Lösungen in der Ethik erfassen schwerlich die lebenswirkliche Realität in ihren verschiedenen Dimensionen. Gewinnbringend erscheint hingegen, transdisziplinäre Zusammenarbeit zu stärken, um so die gezeichneten Wege weiter zu gehen und auszubauen, insbesondere in Bezug auf die Umsetzung und Transferierung in der Praxis, aber auch innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Becker macht dabei deutlich: „Proprium der theologischen Anthropologie innerhalb dieses Bemühens ist es, ihr Wissen um relationale Konstitution des Menschen als Mensch für Gott und Mensch für den Menschen in den Diskurs – den wissenschaftlichen wie den gesellschaftlichen – einzubringen und zu einer wirklichen Begegnung [. . . ] einzuladen.“250

Eben diese Wahrnehmung des dem Menschen als Bundespartner Gottes zugesprochenen Gestaltungsauftrags, für Verhältnisse einzutreten, in denen jeder Mensch ehren- und würdevoll leben kann, entspricht dem Vollzug der Würde des Menschen. Dass dies besonders im Umgang mit der Vorsorgevollmacht zur Realisierung kommt, ist gesellschaftlich und interdisziplinär zu stärken. Die wirkliche Begegnung von Menschen als Seelen ihrer Leiber, die Wechselseitigkeit vernimmt, nicht jedoch Gleichrangigkeit voraussetzt, ermöglicht Lebensgestaltung. Herausforderungen bestehen also für Gesellschaft, Kirche, Praxis und Wissenschaft. Auch wenn der theologische Argumentationsgang disziplinübergreifend womöglich nicht in allen Einzelheiten mitgegangen 247

Fangmeier, Der Theologe, 57. Fangmeier, Der Theologe, 58. 249 Fangmeier, Der Theologe, 58. 250 Becker, Sein, 331. 248

V. Relationalität als Spezifikum der Vorsorgevollmacht

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werden kann, so stellt er für den inter- und transdisziplinären Diskurs sowie für die Öffentlichkeit dennoch eine Basis mit einem belastbaren, vertretbaren, praxistauglichen und umsetzbaren Ergebnis dar. Es kann nur als Einladung verstanden werden, diese, auf dem Wege der theologischen Reflexion hervorgebrachte, veränderte Wahrnehmung des Menschen als Ganzheit im Sein in der Begegnung nutzbar zu machen. Diese Arbeit kann im Sinne einer einladenden Ethik251 , wie es Georg Plasger ausdrückt, die Kommunikation ermöglichen und fördern. „Es ist Aufgabe der Kirche, diese Einladung, die nicht von ihr selber stammt, weiterzugeben.“252 Für das Verständnis der Vorsorgevollmacht und ihrer Anwendung ist fundierte Beratung und öffentliche Darstellung als ein wichtiger Auslöser für den tieferen Dialog anzusehen. Hier wird es möglich sein, das Bild der Vollmacht als handlungsfähiges, dem Menschsein entsprechendes Instrument zu konkretisieren, ihre inhärierende Bedeutung und Verantwortung zu kennzeichnen, Vorurteile abzubauen sowie ihre Intimität im Sein in der Begegnung herauszustellen. Im öffentlichen Bewusstsein sind die Umrisse der Wahrnehmung des ganzen Menschen als Sein in der Begegnung und in relationaler Autonomie sowie in relationaler Fürsorge zu schärfen, dem die Vorsorgevollmacht als weltliches Instrument zur Ermöglichung und Wahrung dessen, das Ich eines Dus zu sein, entspricht. Dieses vorherrschende Entsprechungsverhältnis lässt abschließend vor einer Verklärung der instrumentellen Möglichkeiten der Vorsorgevollmacht warnen. Notwendigerweise ist nochmals auf differente Reflexionsebenen hinzuweisen. Ersichtlich wurde auf vielfältige Weise innerhalb der Aufarbeitung, dass das in Beziehung Sein und das Gespräch die fundamentalen Elemente einer Achtung des ganzen Menschseins in relationaler Autonomie und relationaler Fürsorge darstellen. Ein solches Begegnungsverhältnis hat der Vorsorgevollmacht notwendigerweise zugrunde zu liegen. Die Vorsorgevollmacht als solche – der reine Text – bewegt sich auf juristischer Ebene und stellt damit eine Absicherung des sie umgreifenden Verhältnisses von Ich und Du nach außen dar. So reagiert sie in entscheidender Weise auf vorherrschende rechtliche Strukturen des Betreuungsrechts und beschreibt daraufhin auch eine Erleichterung des Verfahrens. Die Vorsorgevollmacht ist demnach (nur) ein wichtiges weltliches Instrument, weil sie nicht die dargelegte Sache als solche verkörpert – gleichwohl aber auf das hier explizierte Menschenbild als Sein für Gott und für den Mitmenschen reagiert. Die Wahrnehmung und die Achtung des Menschseins können 251 252

Vgl. Plasger, Einladende Ethik, 126–156. Plasger, Einladende Ethik, 144.

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5. Abschließendes Votum als einladende Ethik

nur gelebt werden. Insofern ist hier die Vorsorgevollmacht nicht ohne das sie umfassende, reziproke Begegnungsgeschehen in der Wechselseitigkeit wahrzunehmen. In der Achtung des durch Gottes Geist gegebenen Lebens – besonders in seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit – kann der Umgang mit der Vorsorgevollmacht in vielschichtigen Dimensionen dazu beitragen, dass Menschen gut leben können und reziprok als Subjekte anerkannt werden. Die Vorsorgevollmacht entspricht dem Menschsein, da sie das Sein als dynamisches Geschehen in der Veränderbarkeit und in der Beziehung versteht – in relationaler Autonomie und in relationaler Fürsorge. Sie nimmt den Gestaltungsauftrag im Sein als Gottes Bundesgenosse wahr und trägt in der Wechselseitigkeit Verantwortung, die Identität und die Würde des Menschen zu wahren. Der Mensch ist zum Handeln aufgerufen und darf sich dieser Auszeichnung sowie der Ehre des Dienstes im Tragen von Verantwortung bewusst sein.

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Hinweis zum Gebrauch von Abkürzungen Die in dieser Arbeit gebrauchten Abkürzungen werden in Anlehnung an das von Siegfried Schwertner zusammengestellte Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), Berlin / New York 1994, verwendet. Eine in der Arbeit häufig verwendete Abkürzung ist KD für Karl Barths Kirchliche Dogmatik. Mitunter kann es ferner in zitierter Literatur dazu kommen, dass etwa die Patientenverfügung mit PV oder die Vorsorgevollmacht mit VV abgekürzt wird.

Hinweis zum Zitationsverfahren Die in den Fußnoten verwendeten Titel werden dort jeweils nicht als vollständige Literaturangabe aufgeführt, sondern nur in Kurzform angegeben. Diese Kurztitel können im nachstehenden Literaturverzeichnis eindeutig mithilfe des Kursivdrucks identifiziert werden. Sie setzen sich dabei zumeist aus dem Nachnamen des (erstgenannten) Verfassers bzw. Herausgebers sowie dem Beginn der Titelangabe (hier kursiv aufgeführt) zusammen. In Einzelfällen werden prägnante, kursiv gedruckte Titelelemente oder Daten für die Zusammensetzung des Kurztitels verwendet. Zentrales Werk für die Arbeit ist u. a. Karl Barths Kirchliche Dogmatik. Bei der Zitation dieses Werkes wird dem üblichen bibliographischen Gebrauch Folge geleistet. Dieser setzt sich ausschließlich aus der Abkürzung KD (für Kirchliche Dogmatik) und der Angabe des entsprechenden Bandes zusammen.

Hinweis zum Literaturverzeichnis Da in der Arbeit disziplinübergreifende Literatur, etwa aus dem rechtlichen, medizinischen, pflegerischen und theologischen Bereich, verwendet wird, werden zur Erleichterung eines interdisziplinären Zugangs

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