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German Pages 349 Year 2010
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 138
Bernhard Walcher
Vormärz im Rheinland Nation und Geschichte in Gottfried Kinkels literarischem Werk
De Gruyter
Gefördert durch die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
ISBN 978-3-11-023128-1 e-ISBN 978-3-11-023129-8 ISSN 0083-4564
Dissertation, Heidelberg 2009 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen fGedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
I
Der Vormärz-Schriftsteller Gottfried Kinkel: Literaturhistorische und werkbiographische Annäherungen . . . . . . . . . . .
1
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Forschungsstand und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Paradigmen und Aspekte der Vormärzforschung . . . . . . . . . . . 13 1.3 Nachromantiker und Tendenzpoet: Gottfried Kinkel in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts . . . . 20 2 Vom Liberalen zum Demokraten: Das intellektuelle Profil eines Dichters, Publizisten, Politikers und Hochschullehrers . . . . . . . 2.1 »Und so war ich denn nach allen Seiten zum geistigen Darben verurtheilt«. Zum sozialen und regionalen Umfeld des jungen Kinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Von der Theologie zur Kunst und Literatur: Lehrjahre in der preußischen Rheinprovinz . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kinkel als Revolutionär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Bonn, Baden und Neustadt an der Weinstraße . . . . . . . . . . . . 2.3.2 »Ich fordere Gerechtigkeit keine Gnade«. Kinkels Verteidigungsreden vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 »…und immer nur Märtyrer«. Wanderjahre im Exil und Lebensabend in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II
30
30 43 56 56 65 75
Regionale Topographie und Zeitgeschichte in der Prosa . . . . . . . . . . . . . . 86 1 Rheinische Volkskultur und nationale Identität in Kinkels Reiseführer Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben (1846/49) . . . . . . . . . 86 1.1 Die Stellung von Kinkels Die Ahr zwischen Italiensehnsucht und Vaterlandsliebe: Funktionen und Formen der Reiseliteratur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. . . 86 1.2 Historische Darstellung und politische Zeitkritik. Kinkels Reiseführer als Beitrag zur nationalen Einigung und geschichtlich-literarischen Erschließung der Rheinlande. . 96 2 Erzählerische Perspektivierung von Nation und Demokratie . . . . . . . 104 V
2.1 2.2 2.2.1
2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
2.3.6
Aufbau des Bandes Erzählungen und Überblick. . . . . . . . . . . . Romantische Anfänge? Kinkels historische Erzählung Ein Traum im Spessart (1845) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nur eines »Dichters Traumbild«. Funktionen des Traummotivs im Kontext der Erzählstrategie und Erzählerrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gegenwart der Vergangenheit: Mittelalterbild und Zeitbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Ueber die Noth im Volke«. Kinkels soziale Erzählung Die Heimatlosen. Geschichte aus einer armen Hütte (1849) . . . . Entstehungsgeschichte und Vorüberlegungen. . . . . . . . . . . . . . Handlungsverlauf und Figurenkonstellation . . . . . . . . . . . . . . Werkgeschichtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratswunsch und Bürgerrecht. Die Dorfgeschichte als soziale Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »…dass er von Natur Anspruch hat auf ein menschenwürdiges Dasein«. Valentins Entwicklung vom Bauernsohn zum Revolutionär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Auf ’s Wohl des vierten Standes«. Utopische Versöhnungsvision der Stände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104 110
110 118 130 130 134 137 142
151 158
III Politisches Engagement und poetische Formenvielfalt in der Lyrik . . . . . 162 1 »…dass jede Dichtung nach geweiheter Form verlangt«. Überblick zu Kinkels Gedichtausgaben und -sammlungen . . . . . . . . . 162 2 Deutsche Nation und preußisches Königtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2.1 Deutschland im Gesang. Frühe nationale Gedichte (Zum Eingang – Bürgerlied – Mit Bürger’s Gedichten) . . . . . . . 167 2.2 Zwischen hoffnungsvoller Erwartung und Kritik: Preußen und der preußische König in Kinkels frühen Gedichten (Mythos – Am Huldigungstage – Bote, sage dem Kaiser – 14. Sept. 1842). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3 Soziale Gedichte (Die sieben Berge – Die Auswanderer des Ahrtals) . . . 198 4 Gottesfurcht und Pantheismus (Ein geistig Abendlied – Abendmahl der Schöpfung – Menschlichkeit). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5 Geschichte als Arsenal für die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5.1 Kinkels Versepos Otto der Schütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5.2 »Bilder aus Welt und Vorzeit«: Lyrik im Horizont des ›ästhetischem Historismus‹ (Roma’s Erwachen – Der Triumphbogen des Marius in der Provence – Dietrich von Berne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 VI
6 Im Konflikt mit Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 6.1 Politische Lyrik vor und während der Revolution von 1848/49 (Männerlied – Ein März am Rhein – Die Todesstrafe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 6.2 Selbstaussprache im Angesicht des Todes: Gedichte aus dem Kerker (Vor den achtzehn Gewehrmäulern – Mein Vermächtnis – Der letzte deutsche Glaubensartikel) . . . . . 269 7 Künstlertum und Vaterland: Klassiker-Auseinandersetzung (Die Klassiker – Elegien im Norden. An Johanna) . . . . . . . . . . . . . . . . 278 IV. Ausblick und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1 Werke Gottfried Kinkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1.1 Briefe und Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1.2 Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 2 Quellen und Textsammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 3 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
VII
Die gewöhnlichen Engländer wissen nicht viel von Deutschland aber bis in die niedrigsten Schichten herab kennen sie Hamburg, Luther und Kinkel. Heinrich Beta (1862)
I
Der Vormärz-Schriftsteller Gottfried Kinkel: Literaturhistorische und werkbiographische Annäherungen
1
Einleitung
1.1
Forschungsstand und Ziele
In unmittelbarer Laufnähe der gut erhaltenen Renaissance-Festung »Zitadelle« im heutigen Berliner Stadtteil Spandau befindet sich etwa auf der Höhe, wo die Untere Spree in die Havel mündet, die Carl-Schurz-Straße, die an den rheinischen Revolutionär von 1848 und späteren Diplomaten in amerikanischen Diensten erinnern soll, der es in den Vereinigten Staaten bis zum Senator von Missouri gebracht hat. Der Bonner Student befreite in der Nacht zum 7. November 1850 seinen früheren Lehrer Gottfried Kinkel aus dem Spandauer Zuchthaus, wohin der ehemalige Professor für Theologie, dann Kunstgeschichte und Literatur wegen seiner Teilnahme an mehreren revolutionären Aufständen gebracht worden war. Ein paar Meter weiter westlich von der nach Carl Schurz benannten Straße verlief – sinnfälliger Weise – die Gottfried-Kinkel-Straße, die aber am 1. November 2002 wieder ihren historischen Namen erhielt und seitdem Judenstraße (oder Jüdenstraße) heißt. Vorausgegangen war dieser Rückbenennung eine streckenweise hitzige, mit großer Leidenschaft geführte (partei-)politische Debatte in der Spandauer Bezirksverordnetenversammlung, wie man sie sonst nur kennt, wenn es um Haushaltsneuverschuldungen oder Abbau von Sozialleistungen geht. Die Anfänge der Auseinandersetzung reichen bis in das Jahr 1988 zurück, in dem sich am 17. September die von den Nazis initiierte Umbenennung der Judenstraße zum fünfzigsten Mal jährte und zum ersten Mal die Rückbenennung der Kinkelstraße erwogen wurde.1 Im September 1994 wurde das Verfahren zur Umbenennung der Kinkelstraße eingeleitet, aufgrund von Protesten aus der Bevölkerung aber im August 1996 wieder eingestellt. Erst im April 2002 fiel die endgültige Entscheidung zugunsten des historischen Straßennamens, dessen Wiedereinführung die politischen Verantwortungsträger als Solidaritätsbekundung gegenüber den jüdischen Mitbürgern und Wiedergutmachung historischen Unrechts verstanden wissen wollten. Wie schon in
1
Zur Vorgeschichte der Auseinandersetzung vgl. Günter Bahr: Querelen um Kinkel, in: Die Weltbühne 86 (1991), S. 888–890; ferner Joachim Jauch: Was uns Straßenschilder erzählen und was sie verschweigen: warum ehrte Spandau Carl Schurz und Gottfried Kinkel, in: Berlinische Monatsschrift Luisenstadt 2 (1993), S. 52–55.
1
den Jahren zuvor, kam es auch nach diesem Beschluss zu Protesten vor allem der Anwohner, die besonders auf die praktischen Folgen der Umbenennung hinwiesen. Dazwischen mischten sich schon im Vorfeld, vor allem aber dann während der von dem FDP-Abgeordneten Karl-Heinz Bannasch organisierten und von einem Vortrag des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Alexander Brenner, begleiteten Einweihung der Straße am 1. November 2002 antisemitische Töne, die von anwesenden NPD-Anhängern lautstark in die Menge gerufen wurden, so dass der Festakt abgebrochen werden musste. Die Ereignisse führten nicht nur in der lokalen Berliner Presse, sondern auch in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften zu zahlreichen Kommentaren und Artikeln.2 Dem alten Namensgeber der Straße wurde indessen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was wohl auch damit zusammenhängen dürfte, dass die Umbenennung von Judenstraße in Kinkelstraße im Dritten Reich beschlossen wurde. Es wäre sicherlich überzogen, diese Vorgänge in Spandau als Indiz für Gottfried Kinkels heutige Stellung im öffentlichen und historischen Bewusstsein zu werten und darin eine Geringschätzung seines Lebens und Werkes zu sehen. Zumal die Rückbenennung der Straße dezidiert politischen Motiven geschuldet war und nicht als eine auf Kinkel gerichtete damnatio memoriae verstanden werden sollte. Auch soll hier nicht nachträglich eine Kritik an der Umbenennung formuliert werden. Doch verdeutlichen die Umstände der Rückbenennung und die Argumente der Befürworter einmal mehr ein grundsätzliches Dilemma im Umgang mit Vergangenheit(en), das sich sowohl im literaturwissenschaftlichen Bereich in der völligen Unkenntnis einst bedeutender und renommierter Autoren als auch in kunsthistorischen und denkmalpflegerischen Diskussionen um den ›authentischen‹ vergangenen Zustand eines Bau- oder Kunstwerkes manifestiert. Was die heute populäre Forschung zum kulturellen Gedächtnis und der kollektiven Erinnerung meist nur theoretisch formuliert, kann am Beispiel des Spandauer Straßenschildes exemplarisch nachvollzogen werden: Die Entscheidung zugunsten der Rückbesinnung auf einen (anderen) historischen Straßennamen impliziert gleichzeitig ein stillschweigendes, in diesem Falle der politischen Korrektheit verpflichtetes Übereinkommen, dass es verschiedene Wertigkeiten innerhalb dessen gibt, woran sich eine Gesellschaft – und sei es nur durch Straßenschilder – erinnert oder erinnert werden soll. Doch schon lange bevor das Straßenschild in Spandau verschwand, war die Erinnerung an Gottfried Kinkel und seine Lebensumstände verblasst, sein literarisches Werk fast völlig in Vergessenheit geraten. Dieses Schicksal teilt Kinkel mit vielen Autoren des 19. Jahrhunderts, die heute und schon längst nicht mehr zum 2
Vgl. etwa den Beitrag von Tom Schimmeck: Volkszorn in der Jüdenstraße [sic]. Antisemitische Pöbeleien bei einer Straßenumbenennung in Berlin-Spandau führen zu einem Eklat. Die Geschichte einer Eskalation, in: Die Zeit Nr. 47 (2002), S. 59; in den Berliner Tageszeitungen war das Thema meist sogar auf den Titelseiten, vgl. exemplarisch Marcel Gäding: Antisemitische Parolen in Spandau, in: Berliner Zeitung vom 2.11.2002, S. 1, 4 und 19.
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germanistischen Kanon gehören. Dieser Einordnung von Autoren und Werken in die sogenannte zweite oder dritte Reihe literaturwissenschaftlicher Wahrnehmung steht, wie im Falle Kinkel, nicht selten eine ausgesprochen breite und um so lebhaftere zeitgenössische Wahrnehmung und Rezeption gegenüber, die sich noch im Lektürekanon später Ausprägungen des klassischen Bildungsbürgertums bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bemerkbar macht. Nicht zufällig finden sich Pläne für die Umbenennung der Judenstraße in Kinkelstraße schon in der Weimarer Republik.3 Und nicht zufällig taucht Kinkel im Vorfeld der patriotischen Aufbruchstimmung vor dem Ersten Weltkrieg neben Martin Luther, Lukas Cranach, Goethe, Theodor Fontane, Otto von Bismarck, Alfred Krupp und anderen in einer biographischen Sammlung auf, in der dreihundert berühmte Deutsche versammelt wurden.4 Im Spandauer Straßenschild sollte Ende der 1930er Jahre vor allem jene national-patriotisch motivierte Erinnerung an den Revolutionär Kinkel zum Ausdruck gebracht werden. Damit verbunden war freilich auch die Erinnerung an einen Mann, dem sowohl euphorische Bewunderung und fast schon kultische Verehrung als auch maßlose Schmähungen und abgrundtiefe Verachtung zuteil wurden – dessen Schicksal, politische Positionen und Handlungen aber von kaum einem Zeitgenossen unkommentiert blieben. So verwundert es nicht, dass in Berlin und auch anderswo die Befreiung Kinkels aus dem Spandauer Zuchthaus in der Nacht zum 7. November 1850 euphorisch gefeiert wurde, wie es Carl August Varnhagen von Ense in seinem Tagebucheintrag vom 8. November 1850 festgehalten hat: »Abends waren in der inneren Stadt hin und wieder einige Fenster festlich beleuchtet, und Leute auf der Straße riefen: ›Kinkel lebe hoch!‹«.5 Die Befreiung aus dem Zuchthaus markiert nicht nur den Höhepunkt von Kinkels Popularität im 19. Jahrhundert und teilweise darüber hinaus, sondern bildet auch den Anlass und Mittelpunkt der meisten, in jüngerer Vergangenheit entstandenen Publikationen zu Kinkel.6 Die anläßlich der sich im Jahr 2000 zum
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5 6
Vgl. Jauch, Was uns Straßenschilder erzählen, 1993, S. 52–53. Die teilweise ausführlichen Lebensbeschreibungen werden durch jeweils ganzseitige Holzschnitte ergänzt und bilden damit auch ein visuelles Kompendium deutscher Geschichte, die entlang von herausragenden Persönlichkeiten von den Herausgebern für eine breite Öffentlichkeit nachgezeichnet wird, vgl. Dreihundert berühmte Deutsche. Bildnisse von M[oritz] Klinkicht. Lebensbeschreibungen von K[arl] Siebert. Stuttgart 1912. Karl August Varnhagen von Ense: Tagebücher, Bd. 7. Zürich 1865, S. 404. Als Separatdruck und Auszug aus den Erinnerungen von Carl Schurz (Lebenserinnerungen. 3 Bde., Berlin 1906–1912) ist 1992 ein Band mit der Flucht-Beschreibung erschienen, vgl. Carl Schurz: Die Befreiung Gottfried Kinkels aus dem Zuchthaus in Spandau. Hg. von Friedhelm Kemp. München 1992; auch der sehr detaillierte Bericht über die Befreiung Kinkels von Moritz Wiggers wurde im Jubiläumsjahr neu abgedruckt. Der in Rostock geborene Wiggers war 1848 Präsident der mecklenburgischen konstituierenden Versammlung und wurde später als Fluchthelfer mitangeklagt, aus Mangel an Beweisen aber freigesprochen, vgl. Peter Starsy: Durch Mecklenburg in die Freiheit. Gottfried Kinkels Befreiung von Moritz Wiggers, in: Neubrandenburger Mosaik. Heimatgeschichtliches Jahrbuch
3
hundertfünfzigsten Mal jährenden Flucht publizierten Beiträge sind lediglich mit lokalgeschichtlichem Kolorit gefärbte anekdotische Reminiszenzen, denen aber immerhin das Verdienst zukommt, einer regionalen Öffentlichkeit den Namen Gottfried Kinkel wieder ins Gedächtnis gerufen zu haben.7 Allerdings sind in diesem Kontext auch die Briefe des mecklenburgischen Kaufmanns Theodor Schwarz, der Kinkels Überfahrt nach England maßgeblich unterstützt hat, publiziert worden.8 Anhand der Äußerungen eines involvierten Zeitzeugen gewähren diese Briefe einen intimen Einblick in die Motivationen für die nicht ungefährliche Unterstützung eines politisch Verfolgten und können exemplarisch auch als Gradmesser der allgemeinen Kinkel-Begeisterung interpretiert werden. Kinkels politisches Engagement zunächst als Parteigänger der konstitutionellen Liberalen, später als radikaler Demokrat und sein akademischer Werdegang vom Theologen zum Kunst- und Literaturhistoriker waren besonders vor der Revolution von 1848/49 von regelmäßigen literarischen Publikationen begleitet. Die bisherige Kinkelforschung lässt sich schwerpunktmäßig in historisch, kunstgeschichtlich und literarhistorisch ausgerichtete Beiträge unterteilen und spiegelt damit das intellektuelle Profil und die vielfältigen Ambitionen Kinkels wider. Die zahlreichen biographischen, aus der unmittelbaren oder mittelbaren Zeitgenossenschaft mit Kinkel publizierten Beiträge des 19. Jahrhunderts sind mithin ganz offensichtlich auch als politische Stellungnahmen zu lesen und weisen daher oftmals einen apologetischen Charakter auf. Freilich sind sie nach wie vor als Quelle für einzelne Abschnitte in Kinkels Leben und Werk sowie für die zeitgenössische Rezeption von unschätzbarem Wert. Da Wolfgang Beyrodt in seiner Dissertation die Kinkelrezeption im 19. Jahrhundert mustergültig dargestellt hat, kann hier auf eine ausführliche Zusammenfassung dieser Publikationen verzichtet werden,
7
8
des Regionalmuseums Neubrandenburg 24 (2000), S. 85–159; zum Erstdruck vgl. Moritz Wiggers: Gottfried Kinkel’s Befreiung, in: Die Gartenlaube 1863, S. 104–155. Vgl. die beiden Beiträge in mecklenburgischen Wochenblättern von Peter Starsy: Spektakuläre Flucht über Mecklenburgs Straßen. Vor hundertfünfzig Jahren sorgte die KinkelFlucht für Schlagzeilen, in: Anzeigenkurier. Demmin, Malchin, Teterow 10 (2000), S. 12; Ders.: Flucht durch Mecklenburg. Im Jahre 1850 ermöglichten Mecklenburger Demokraten eine spektakuläre Befreiungsaktion, in: Mecklenburg-Magazin. Regionalbeilage der Schweriner Volkszeitung 46 (2000), S. 23; ferner Anja Alert: Rostocker Auswanderer. Rostock 2003 (Kleine Schriften des Schifffahrtsmuseums der Hansestadt Rostock, Bd. 3). Zunächst veröffentliche der Lokalhistoriker Matthias Manke einen Brief von Schwarz, vgl. Matthias Manke: »Wir haben Sie lange auf Nachrichten von hier warten lassen«. Ein Brief des Rostocker Kaufmanns Theodor Schwarz an Gottfried Kinkel (15. Januar 1851), in: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 4 (2000), S. 49–53; die Edition der bisher bekannten Korrespondenz dann mit Anmerkungen zwei Jahre später: Matthias Manke (Hg.): »…dass ich Sie unter allen Umständen Freund würde nennen dürfen«. Die Briefe von Theodor Schwarz an Gottfried Kinkel (1851–1862), in: Mecklenburgische Jahrbücher 117 (2002), S. 311–375.
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die allerdings an geeigneter Stelle in Kapitel 2 des vorliegenden Teils dieser Arbeit dennoch zur Sprache kommen sollen.9 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand Kinkel hauptsächlich in der Geschichtswissenschaft große Beachtung, die sich in Einzelstudien seiner gebrochenen akademischen Laufbahn und den frühen Konfrontationen mit den Ordnungsmächten Staat und Kirche,10 den rechtsgeschichtlichen Aspekten der Gerichtsverfahren im Kontext seiner revolutionären Aktivitäten11 sowie der Entwicklung seiner politischen und sozialen Überzeugungen widmete.12 Wenn auch in diesen Arbeiten Kinkels Dichtungen und Erzählungen, seine poetologischen und publizistischen Schriften teilweise ausführlich zitiert werden, so dienen sie doch mehr als Illustrationsmaterial für die Darstellung seiner Lebens- und Weltanschauungsgeschichte und werden in ihrer Eigenart als literarhistorische Dokumente nicht behandelt. Eine literarhistorische Einordnung leisten wenigstens ansatzweise die frühen Studien der rheinischen Literaturhistoriker Josef Joesten13 und Carl Enders14. Ist Joestens Arbeit und die darin publizierte Auswahl Kinkelscher Gedichte weitgehend jener schon erwähnten Indienstnahme von Kinkels »charaktervolle[n] Dichternatur« als Kronzeuge einer national-patriotischen Weltanschauung im Vorfeld des Ersten Weltkrieges und die Bewertungen seiner Lyrik als »gedankenreich und kernig«15 daher auch vor diesem Horizont zu verstehen, so ist Enders’ Darstellung hauptsächlich in editorischer Hinsicht bedeutend. Enders publizierte erstmals die in einem handschriftlichen Exemplar der Universitätsbibliothek Bonn vorliegende, aus der Zeit zwischen 1832 und 1839 stammende Lyrik eines Gedichtbandes, den Kinkel seinem Bonner Studienfreund Otto Mengelberg widmete. Sie kann als erste »autorative«
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Vgl. Wolfgang Beyrodt: Gottfried Kinkel als Kunsthistoriker. Darstellung und Briefwechsel. Bonn 1979 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 23), S. 12–45. Vgl. Martin Bollert: Gottfried Kinkels Kämpfe um Beruf und Weltanschauung bis zur Revolution. Bonn 1913 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 10). Vgl. Martin Bollert: Kinkel vor dem Kriegsgericht, in: Preußische Jahrbücher 155 (1914), S. 488–512. Vgl. Peter Heinen: Gottfried Kinkels politische Stellung vor und während der Revolution von 1848/49. Bonn 1921 (von der Arbeit ist nur das dritte Kapitel erhalten); Alfred De Jonge: Gottfried Kinkel as political and social thinker. New York 1966 (Columbia University Germanic Studies, 30) [Reprint der Ausgabe von 1926]; die Kinkelforschung zusammenfassend bis zum Zweiten Weltkrieg vgl. auch Beyrodt, Gottfried Kinkel als Kunsthistoriker, 1979, S. 37–90. Schon im heute etwas reißerisch klingenden Titel zeigt sich Joestens national-patriotisches Anliegen, dessen Ziel nicht zuletzt die von ihm geforderte Errichtung eines Kinkel-Denkmals war (S. 114), vgl. Josef Joesten: Gottfried Kinkel: Sein Leben, Streben und Dichten für das deutsche Volk. Mit einer Auswahl Kinkelscher Dichtungen. Köln 1904. Vgl. Carl Enders: Gottfried Kinkel im Kreise seiner Kölner Jugendfreunde. Nach einer beigegebenen unbekannten Gedichtsammlung. Bonn 1913 (Studien zur rheinischen Geschichte, Bd. 9). Joesten, Gottfried Kinkel, 1904, S. 9 und 10.
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Sammlung Kinkelscher Dichtungen gelten, bevor 1843 bei Cotta die erste öffentliche Ausgabe seiner Gedichte erschien.16 Bedenkt man, welche Popularität Kinkel nicht nur als Person, sondern auch mit seinem literarischen Werk im 19. Jahrhundert erlangte, ist es doch verwunderlich, dass neben diesen beiden Beiträgen von Joesten und Enders im Grunde nur zwei weitere literaturwissenschaftliche Einzelstudien zu verzeichnen sind, die – von einigen unvermeidlichen Exkursen ins Biographisch-Anekdotische einmal abgesehen – zumindest Teile von Kinkels literarischem Oeuvre zum Gegenstand haben. Dabei ist die nur handschriftlich vorliegende Dissertation von Friedrich Troegler17 aus dem Jahre 1919 im besten Falle für Kurzcharakterisierungen einzelner Gedichte brauchbar, die schwerlich als Interpretationen im Sinne einer literarhistorischen Einordnung und Kontextualisierung der Gedichte bezeichnet werden können. Wenigstens stoffgeschichtlich ergiebig ist der Abschnitt über Kinkels Erfolgsepos Otto der Schütz in Gustav Nolls18 Studie über die mittelalterliche Figur des einzigen Sohnes Landgraf Heinrichs II. von Hessen in der Literatur. Doch kommt auch Noll über das rein Deskriptive nicht hinaus. Dagegen fand der Roman Hans Ibeles19 von Johanna Kinkel gerade in letzter Zeit als (satirischer) Schlüsseltext und Panorama der Londoner Exilzeit neben seiner Würdigung als historisches Dokument auch unter literarhistorischen Fragestellungen Beachtung. Insgesamt ist auch die Zahl der in den letzten zehn Jahren zu Johanna Kinkel u.a. im Kontext der Frauenliteraturforschung publizierten Beiträge deutlich höher als jene zu Gottfried Kinkel.20 Eine wegweisende und grundlegende
16 17 18 19
20
Vgl. Enders, Gottfried Kinkel, 1913, S. 1–2 und 12–13. Vgl. Friedrich Troegler: Gottfried Kinkel als politischer und sozialer Lyriker. Diss. [handschriftlich] Münster 1919. Vgl. Gustav Noll: Otto der Schütz in der Literatur. Tübingen 1906. Johannas Roman erschien zuerst 1860 unter dem Titel: Hans Ibeles in London. Ein Familienbild aus dem Flüchtlingsleben. 2 Bde. Stuttgart 1860; vgl. ferner die Neuauflage: Johanna Kinkel: Hans Ibeles in London. Ein Roman aus dem Flüchtlingsleben. Neuauflage der Ausgabe von 1860. Hg. von Ulrike Helmer. Frankfurt a. M. 1991 (Edition Klassikerinnen); vgl. hierzu auch Helen Chambers: Johanna Kinkel’s »Hans Ibeles in London«. A German View of England, in: Exilanten und andere Deutsche in Fontanes London. Hg. von Peter Alter und Rolf Muhs. Stuttgart 1996 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 331), S. 159–173; ferner Clara G. Ervedosa: Johanna Kinkel (1810– 1858). Dorothea oder das Lob der Bürgerlichkeit. Die Frauenfrage im Roman Hans Ibeles in London, in: Vom Salon zur Barrikade. Frauen der Heine-Zeit. Hg. von Irina Hundt. Stuttgart, Weimar 2002, S. 323–335. Eine etwas ältere, knappe Darstellung zu Johanna Kinkel liegt von Hermann Rösch-Sondermann vor: Johanna Kinkel. Emanzipation und Revolution einer Bonnerin, in: Bonn. 54 Kapitel Stadtgeschichte. Hg. von Joseph Matzerath. Bonn 1989, S. 179–188; Cornelia Wenzel: »Welch eine bedeutende Frau«. Johanna Kinkel, in: Jahrbuch der Malwida-vonMeysenburg-Gesellschaft 4 (1994), S. 19–30; auch und gerade in der angelsächsischen Forschung nimmt Johanna Kinkel neben anderen, im 19. Jahrhundert politisch aktiven Frauen einen prominenten Platz ein: Ruth Whittle: Modes of Exile. Revisiting Johanna Kinkel, in: Colloquia Germanica 34 (2001), S. 97–117; Debbie Pinfold: »Wer die Frauen hat, der hat die Zukunft«. Women’s Voices on the Revolutions of 1848–1849. Fanny
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Biographie Johannas mit Blick auf ihr Künstlerdasein als Dichterin, Sängerin und Komponistin hat jüngst – neben einer voluminösen Briefedition – Monica Klaus vorgelegt. In ihrer Arbeit konnte sie durch die Berücksichtigung der über 600 Briefe umfassenden Korrespondenz zwischen Johanna und Gottfried Kinkel auch zahlreiche ungenaue, falsche oder spekulative Angaben der älteren Forschung – vor allem zu ihrem Tod – korrigieren.21 Ihr ist auch der Fund von Johannas Grabstein auf dem Friedhof in Woking zu verdanken.22 Wenn überhaupt von einer Forschung zu Kinkels literarischem Werk die Rede sein kann, so befindet sich diese allenfalls in ihren Anfängen. Wie die älteren Darstellungen zu Kinkels Oeuvre – neben völlig ablehnenden Beispielen – in der Mehrzahl deutlich affirmative Züge trugen, so wird in neueren Aufsätzen wie dem von Hermann Rösch23 gerade das Gegenteil formuliert. Was um so mehr erstaunt, als Röschs Beitrag zur Freundschaft zwischen Gottfried Kinkel und Ferdinand Freiligrath eine fundierte Aufarbeitung sowohl der biographischen und werkgenetischen als auch rezeptionsgeschichtlichen Parallelen zweier Erfolgsautoren darstellt. Die mit groben Pauschalurteilen über das Kinkelsche Werk verhängten Wertungen tragen indessen nicht gerade zu einem angemessenen historischen Verständnis der Texte bei. Es mag wohl stimmen, dass uns der Zugang etwa zu jener in Kinkels Erfolgsepos Otto der Schütz im spätromantischen Verständnis des 19. Jahrhunderts süßlich und gefällig entworfener Mittelalterwelt nicht leicht fällt. Die Feststellungen aber, dass das Epos »zu recht vergessen« sei und Kinkels Lyrik durch ihr »zeittypisches Pathos und klischeehafte Sentimentalität« heute nur noch »affektiert« wirke, gehört allerdings eher in eine Feuilleton-Rezension als in eine wissenschaftliche Unter-
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Lewald, Malwida von Meysenburg und Johanna Kinkel, in: Challenging separate spheres. Female Bildung in Eigthteenth- and Nineteenth-Century Germany. Ed. by Marjanne E. Goozé. Oxford [u.a.] 2007 (North American Studies in 19th-Century German Literature, Vol. 40), S. 191–209; Debbie Pinfold, Ruth Whittle: Voices of Rebellion. Political writing by Malwida von Meysenburg, Fanny Lewald, Johanna Kinkel and Louise Aston. Oxford [u.a.] 2005; neben ihrer eng mit Kinkel verbundenen literarischen Tätigkeit war Johanna damals auch eine bekannte Pianistin und Komponistin, wozu in den letzten Jahren eine Fülle von Beiträgen entstanden ist, auswahlhaft seien hingewiesen auf Ute Büchter-Römer: »Ein rheinisches Musikfest muß man erlebt haben«. Johanna Kinkel, Clara Schumann, Fanny Hensel und die Rheinromantik, in: Romantik, Reisen, Realitäten. Frauenleben am Rhein. Katalog anläßlich der gleichnamigen Ausstellung vom 1.9. bis 31.12.2002 im FrauenMuseum Bonn. Hg. von Bettina Bab und Marianne Pitzen. Bonn 2002, S. 52–57; Ann Willison Lemke (Hg.): Von Goethe inspiriert. Lieder von Komponistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Kassel 1999 (Furore-Edition, 630). Vgl. Monica Klaus: Johanna Kinkel. Romantik und Revolution. Köln, Weimar, Wien 2008 (Europäische Komponistinnen, Bd. 7). Eine Photographie des Grabsteins bei Klaus, Johanna Kinkel, 2008, Abb. 17. Hermann Rösch: Kunst und Revolution. Gottfried Kinkel und Ferdinand Freiligrath – Stationen einer schwierigen Freundschaft, in: »Ich aber wanderte und wanderte – Es blieb die Sonne hinter mir zurück«. Hg. von Friedrich Bratvogel (Grabbe-Jahrbuch 19 / 20; 2000 / 2001). Detmold 2001, S. 260–283.
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suchung.24 Diese Einschätzungen wollen auch nicht so recht zu der an anderer Stelle formulierten Einschätzung passen, wonach »jenseits aller Kritik« das literarische Gesamtwerk Kinkels »unter literarhistorischen, historischen und rezeptionsgeschichtlichen Aspekten von großer Bedeutung« sei – immerhin.25 Eine Pionierarbeit von bleibendem wissenschaftlichem Wert stellt der von Ulrike Brandt, Astrid Kramer, Norbert Oellers und Hermann Rösch-Sondermann besorgte erstmalige und vollständige Abdruck aller Jahrgänge der von Kinkel und seiner Frau im Juni 1840 gegründeten Zeitschrift Der Maikäfer. Zeitschrift für Nichtphilister26 dar, deren einzelne Hefte zwischen den Mitgliedern zirkulierten. Diese nur als Handschriften vorliegenden Bände galten lange Zeit als verschollen.27 Wenn auch bislang nur ein ausführlicher Stellenkommentar zu den ersten beiden Jahrgängen von 1840 und 1841 die umfangreiche Einleitung des Editionsprojektes ergänzt,28 so bieten schon allein die sechs vollständig edierten Bände einen aufschlussreichen Blick in die rheinische Literatur-Vereinsgeschichte, die literarästhetischen Positionen der einzelnen Mitglieder und freilich in den Publikationskontext zahlreicher Gedichte und Schriften von Kinkel. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich vor allem die Bonner Historikerin Edith Ennen in ihren zahlreichen Veröffentlichungen zur rheinischen Geschichte immer wieder auch mit Kinkel beschäftigt, von dessen Gedichten sie nur rund ein Dutzend für erwähnenswert hielt, von den Erzählungen aber immerhin Margret und Der Hauskrieg »zum bleibenden Bestand der Epik des 19. Jahrhunderts« rechnete.29 Als Quintessenz stellte sie allerdings fest, dass Kinkels Persönlichkeit »faszinierender«
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Rösch, Kunst und Revolution, 2001, S. 261; etwas weiter heißt es: »Die platte und sentenzartige Formulierung gedanklicher, politischer Inhalte in lyrischer Form verweisen Tendenzlyrik und nicht-politische Lyrik oft auf das Niveau versifizierter Kommentare oder bloßer Lehrdichtung. Der Verzicht auf die fruchtbare Spannung zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur eines Textes, die Reduktion auf eine Sinndimension, die im Klartext vermittelt wird, bietet dem Rezipienten kaum Anlass zur Analyse, zur Deutung, da die Sinndimension an der Oberfläche liegt. Das Erkenntnispotential, das wirklich künstlerischen Werken innewohnt, wird damit kaum ausgeschöpft.« (S. 262). Ebd., S. 262. Der Maikäfer. Zeitschrift für Nichtphilister. Hg. von Ulrike Brandt, Astrid Kramer, Norbert Oellers und Hermann Rösch-Sondermann. 4 Bde. Bonn 1982–1985 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bde. 30–33); im Folgenden zitiert als Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«; generell zum Maikäfer-Verein noch hier Teil I, Kapitel 2.2). Vgl. hierzu Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 77–78. Der umfangreiche und ausführliche Kommentarband wurde von der Mitherausgeberin der vierbändigen Maikäfer-Edition an der Bonner Universität als Dissertation eingereicht, vgl. Ulrike Brandt-Schwarze: »Der Maikäfer. Zeitschrift für Nichtphilister«. Jahrgang I (1840) und Jahrgang II (1841). Kommentar. Bonn 1991 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 51); ein Kommentar zu den übrigen Jahrgängen war zwar geplant, kam aber nicht mehr zustande. Edith Ennen: Gottfried Kinkel (1815–1882), in: Edith Ennen: Gesammelte Abhandlungen zum europäischen Städtewesen und zur rheinischen Geschichte. Hg. von Georg Droege, Klaus Fehn, Dietrich Höroldt, Franz Irsigler und Walter Janssen. Bonn 1977, S. 512–529, Zitat S. 522 [zuerst 1961].
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sei als sein Werk30 – eine Einschätzung, die schon Kinkel selbst in einem von Ferdinand Hey’l überlieferten Gespräch kurz vor seinem Tod zum Ausdruck brachte: »Denken Sie an meinen Otto der Schütz’ – als ich ihn veröffentlichte, wie jubelte da noch die Schaffensfreudigkeit in mir, wie freundlich nahm ihn das Volk auf, wie daseinsfroh stimmte mich selbst der Sang und sein Erfolg. Und nun? Ich habe wohl Besseres nach dem gedacht und geschrieben, aber – ich habe gleichen Erfolg nicht mehr erreicht. Mein politisches Schicksal, die Märtyrerrolle, das eigenthümliche Relief, welches mir das Geschick verlieh, das alles hat meine späteren Leistungen litterarisch in den Schatten gestellt! Durch den früheren Ruhm ist das Alter weniger bedeutungsvoll geworden, als ich erstrebt und verdient hatte. Ja, man hat den ›Alten‹ vielfach geliebt, und gar mancher hat ihn hochgestellt […] aber man hat ihn viel zu früh zum Alten gemacht, und das Schicksal hat dazu redlich geholfen.«31
Die wichtigste Kinkelforschung nach dem Zweiten Weltkrieg hat dessen späte, resignierte und enttäuschte Bewertung der vom eigenen Schicksal und den Zeitläuften überdeckten öffentlichen Wirkung seiner Werke insofern aufgegriffen, als sie – jedenfalls zum Teil – dem oben zitierten Verdikt Ennens nicht gefolgt ist und auch Kinkels spätere Schriften gewürdigt hat. Es ist das Verdienst von Wolfgang Beyrodt, mit seiner Dissertation zum einen den Blick auf Kinkels akademische Lebensstationen und deren institutionelle Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit seinen kunstkritischen und kunsthistorischen Schriften gelenkt und damit auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte der sich etablierenden Kunstwissenschaft geschrieben zu haben. Andererseits liegt mit seiner im Anhang der Arbeit publizierten Edition von rund achtzig Briefen aus allen Lebensphasen Kinkels ein nicht nur für kunsthistorische Fragestellungen wichtiges Corpus bis dahin unpublizierter Briefe Kinkels vor.32 Sie stellen zusammen mit der von Edith Ennen herausgegebenen Edition der Jugendbriefe,33 den bei Hermann-Rösch-Sondermann publizierten sechs weiteren Briefen,34 der von Emil Bebler kommentierten Darstellung des Briefwechsels vor allem der 1870er Jahre zwischen Kinkel und Conrad Ferdinand Meyer35 und schließlich der zuletzt von Monica Klaus36 vorgelegten dreibändigen Edition von
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Ebd., S. 528. Ferdinand Hey’l: Eine Erinnerung an Gottfried Kinkel, in: Die Gartenlaube 1892, S. 240–243, Zitat S. 242. Vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, Briefedition S. 242–455. Vgl. Edith Ennen (Hg.): Unveröffentlichte Jugendbriefe Gottfried Kinkels 1835–1838. Nebst einem Anhang späterer Briefe von G. und J. Kinkel und eines Briefes von E.M. Arndt über Kinkel, in: Bonner Geschichtsblätter IX (1955), S. 37–121. Vgl. Hermann Rösch-Sondermann: Gottfried Kinkel als Ästhetiker, Politiker und Dichter. Bonn 1982 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 29), Briefe S. 483–506. Vgl. Emil Bebler (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Kinkel. Ihre persönlichen Beziehungen auf Grund ihres Briefwechsels. Zürich 1949. Vgl. Klaus, Monica (Berarb.): Liebe treue Johanna! Liebster Gottit! Der Briefwechsel zwischen Gottfried und Johanna Kinkel 1840–1858. 3 Bde. Bonn 2008 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bde. 67–69).
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über 600 Briefen von Johanna und Gottfried eine wichtige Quelle dar, die auch für die Interpretation des literarischen Werkes fruchtbar gemacht werden kann. Die von Beyrodt angestoßene kunsthistorische Forschung zu Kinkel fand vor allem in der Literatur zu Jakob Burckhardt Beachtung und wurde in den Beiträgen von Innocenzo Cervelli37 und Philipp Müller38 aufgegriffen. Anders als Cervelli, der besonders die Unterschiede im politischen Engagement von Kinkel und Burckhardt herausarbeitet und diese auch an den kunsthistorischen Schriften der beiden festmacht,39 arbeitet Müller die Gemeinsamkeiten der beiden und vor allem die Bedeutung von Kinkels und Franz Kuglers ästhetischen Positionen heraus, die für Müller den Kontext bilden, »in dem sich Burckhardts frühes Wissenschaftsverständnis entwickelte« und sein Konzept der »kulturhistorischen Geschichtswissenschaft« heranreifte.40 Mit den ästhetischen und poetologischen Schriften Kinkels hat sich bereits Hermann Rösch-Sondermann in seiner 1982, im hundertsten Todesjahr Kinkels, vorgelegten Dissertation beschäftigt. Wenn es der Titel der Arbeit auch nahelegen mag: Die Gedichte, Erzählungen und Dramen hat der Verfasser lediglich zusammengefasst, jedoch nicht hinlänglich analysiert. Vielmehr bleiben die Aussagen zu den Texten verschwommen. Wenn etwa das Fehlen des »eigentlich Poetischen«41 selbst in den noch als akzeptabel hingestellten Gedichten moniert wird – ohne auf spezifische Gattungstraditionen und auf die Wirkung zielende Redespezifika etwa der politischen Lyrik einzugehen –, unterliegt der Verfasser einem negativen und kaum versteckten, mit einer gerade für die Lyrik ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts völlig ahistorischen Originalitätsforderung verbundenen Epigonenbegriff, der sich glücklicherweise in den Überlegungen zu den ästhetischen Schriften nicht bemerkbar macht.
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Der umfangreiche Beitrag von Cervelli liegt nur auf Italienisch vor, vgl. Innocenzo Cervelli: »Vita activa« e »Vita contemplativa« nel XIX secolo. A proposito di Gottfried Kinkel e Jacob Burckhardt, in: Jakob Burckhardt. Storia della cultura, storia dell’arte. A cura di Maurizio Ghelardi e Max Seidel. Venezia 2002 (Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz. Max-Planck-Insitut, 6), S. 213–257; schon 1985 erschien eine von Angelika Berg vorgelegte schmale Dissertation mit kunsthistorischem Schwerpunkt, die aber über jene schon bei Beyrodt zu findenden Überlegungen und Erkenntnisse hinaus keine neuen Akzente setzen konnte. Schon der Anfang der Arbeit mit dem auf eine Seite (!) reduzierten Abschnitt »Zur Person« ist mit seiner phrasenhaften und wenig in die Tiefe gehenden Darstellungsweise charakteristisch für die gesamte Studie: »Kinkel war ein Idealist, ein Ästhet und vor allem eine Dichternatur und keine eigentliche Gelehrtennatur.« Angelika Berg: Gottfried Kinkel: Kunstgeschichte und soziales Engagement. Bonn 1985 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 36), S. 6. Vgl. Philipp Müller: Der junge Jakob Burckhardt: Geschichtswissenschaft als Gegenwartskunst, in: Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Hg. von Ulrich Muhlack. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 5), S. 113–133, zu Kinkel bes. S. 122–126. Vgl. Cervelli, »Vita activa«, 2002, bes. S. 239–241. Müller, Der junge Jakob Burckhardt, 2003, S. 114. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 464.
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Neben diesen beiden Arbeiten von Beyrodt und Rösch-Sondermann, in deren Mittelpunkt jeweils für die Fragestellung relevante kunsthistorische bzw. ästhetische und poetologische Schriften von Kinkel stehen, wurden in den letzten Jahren durchaus auch noch biographisch ausgerichtete Beiträge publiziert, die aufgrund ihres eher erzählerischen Gestus’ mehr populärwissenschaftlichen Ansprüchen genügen und sich daher auch an ein breiteres Publikum richten.42 Anders verhält es sich mit der ausgesprochen detaillierten Studie von Hanns Klein, der bis dahin die etwas unscharf dargestellte Zeit aufarbeitete, in der Kinkel nach seiner Flucht aus Bonn (Mai 1849) und vor seiner Teilnahme an der Badischen Revolution (Juni 1849) im pfälzischen – damals rheinbayerischen – Neustadt an der Weinstraße verschiedene Ämter der provisorischen Regierung bekleidete. In diesem Zusammenhang publizierte Klein auch bisher unbekannte Dokumente zu Kinkels Funktionen und Ämtern in der pfälzischen provisorischen Regierung.43 Auf die Zeit der Exiljahre in London konzentrierten sich die Beiträge zu Kinkel in der angelsächsischen Forschung, die neben Kinkels Lehr- und Herausgebertätigkeit auch ausführlich vor allem das Verhältnis zu anderen Exilanten – namentlich zu Karl Marx und Arnold Ruge – seit Kinkels Ankunft in England im November 1850 bis zu seinem Weggang nach Zürich im Herbst 1866 thematisierte.44 Schließlich liegt mit der von Ulrike Brandt-Schwarze 2001 zusammen mit Mitarbeitern der Handschriften- und Rara-Abteilung der Landes- und Universitäts42
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Der Aufsatz von Klaus Schmidt fällt mit seinem wissenschaftlichen Apparat zwar nicht unbedingt unter diese Kategorie, doch stellen seine Ausführungen eigentlich nur eine Zusammenfassung von bereits Bekanntem dar, ohne neue Akzente zu setzen, vgl. Klaus Schmidt: »Was wir friedlich gewünscht hätten, wird in Sturm und Wellen erscheinen«. Gottfried Kinkel und die rheinischen Demokraten, in: Das war’ne heiße Märzenzeit. Revolution im Rheinland 1848/49. Hg. von Fritz Bilz und Klaus Schmidt. Köln 1998 (Neue Kleine Bibliothek, Bd. 56), S. 91–108; völlig ohne Anmerkungen, nur mit einem Literaturverzeichnis kommt Schmidt indessen in seiner vom Untertitel etwas zu hohe Erwartungen weckenden Doppelbiographie aus, die aber keine groben Fehler aufweist und insofern durchaus lesenswert ist: Klaus Schmidt: Gerechtigkeit – das Brot des Volkes. Johann und Gottfried Kinkel. Eine Biographie. Stuttgart 1996. Der Aufsatz und die publizierten Dokumente fanden, so weit ich sehe, bisher keine Beachtung in der Kinkelliteratur, obgleich mit ihnen zum ersten Mal diese kurze Phase Kinkels in der Pfalz erhellt wird, vgl. Hanns Klein: Gottfried Kinkel als Emissär der provisorischen Regierung der Pfalz im Frühjahr 1849 im Westrich. Bemerkungen zu neuentdeckten Kinkel-Briefen, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte 8 (1982), S. 107–135; Ders.: Wiederentdecktes Schriftgut der Pfälzer Revolutionsregierung von 1849, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 12 (1986), S. 107–151; Kinkels Zeit in Neustadt an der Weinstraße und dessen näherer Umgebung wird auch in Jonathan Sperbers Überblick zu den rheinischen Demokraten knapp behandelt, vgl. Jonathan Sperber: Rhineland Radicals. The Democratic Movement and the Revolution of 1848–1849. Princeton 1991, bes. S. 435–442. Grundlegend hierzu sind die Forschungen von Rosemary Ashton: Little Germany. Exile and Asylum in Victorian England. Oxford, New York 1986; Dies.: Gottfried Kinkel and the University College London, in: Exilanten und andere Deutsche in Fontanes London. Hg. von Peter Alter und Rolf Muhs. Stuttgart 1996 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 331), S. 23–40.
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bibliothek in Bonn herausgegebenen Aufstellung der dort befindlichen verschiedenen Kinkel-Nachlässe eine umfassende Erschließung der insgesamt vierzigtausend Blätter vor, die mit Kommentaren und Verweisen die teils verwirrenden und nicht zuletzt auf die Erwerbungsgeschichte zurückgehenden früheren Ordnungsversuche des Materials einer logischeren Systematik unterwirft.45 Vor allem das umfangreiche Namenregister trägt erheblich zu einer schnelleren Orientierung bei. Trotz dieser geleisteten Vorarbeiten und mehrfach wiederholter Ankündigungen von Hans Zeeck und Camille Pitollet liegt bis heute weder eine grundlegende wissenschaftliche Biographie, noch eine moderne Ausgabe der Werke Kinkels vor.46 Auch das hier in Kapitel 2 dieses ersten Teils skizzierte intellektuelle Profil Kinkels erhebt nicht den Anspruch, diese fehlende Biographie zu ersetzen. Vielmehr soll mit der vorliegenden Arbeit nach den bisher auf die kunsthistorischen und ästhetischen Schriften Kinkels konzentrierten Studien von Beyrodt und Rösch-Sondermann das literarische Werk Kinkels im Horizont seiner soziokulturellen Rahmenbedingungen, literarischen Traditionslinien, Ausprägungen und Funktionszusammenhänge erschlossen werden. In Teil I dieser Arbeit sollen nach einem Überblick zum Stand der Vormärzforschung (Kapitel 1.2) im Allgemeinen und der Stellung Kinkels in der älteren Literaturgeschichtsschreibung im Speziellen (Kapitel 1.3) die bisher vorliegenden älteren und neueren biographischen Aufarbeitungen Kinkels mit ihren eben aufgezeigten, teils divergierenden Forschungsansätzen, -ergebnissen und -meinungen zu einer Synthese zusammengeführt werden (Kapitel 2), die als Grundlage
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Zur Geschichte des Nachlasses vgl. jetzt Ulrike Brandt-Schwarze: Nachlaß Gottfried und Johanna Kinkel. Findbuch. Bonn 2001, bes. S. VII–XXVII; das heute vorliegende, in zwei Teilnachlässe unterschiedene Nachlassmaterial wurde 1928/29 und 1959 erworben und zunächst von Hans Zeeck geordnet, der allerdings auch einen Teil der Dokumente, wie etwa die Korrespondenz Johanna Kinkels mit Bettina von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff, wieder verkaufte. Die heterogene Masse aus – teilweise handschriftlichen – Aufzeichnungen, Werkauszügen, Notizen, Tage- und Reisebüchern, wissenschaftlichen Schriften, Vorlesungs-Mitschriften, sowie Briefkorrespondenzen setzt sich aus den Nachlässen der beiden Ehefrauen Kinkels zusammen, von denen der Nachlaß der zweiten Frau, Minna Kinkel geb. Werner, mit Abstand den größten Teil der Dokumente bildet. Insgesamt sind unter den 40 000 Blättern auch 5069 Briefe hauptsächlich an Kinkel, aber auch seine Frau. 1642 liegen als Abschrift und Original, der größte Teil, 2282, nur als Abschrift und schließlich 1145 nur im Original vor. Vgl. hierzu Brandt-Schwarze, Nachlaß Gottfried und Johanna Kinkel, 2001, S. XVII. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit dienen als Überblick zu Kinkels selbständig und unselbständig publizierten Schriften nach wie vor die – wenn auch in ihren Angaben manchmal fehlerhaften – Verzeichnisse von Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979 (S. 469–481) und Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982 (S. 507–516), die, was vor allem die nur handschriftlich vorliegenden Texte und Dokumente betrifft, von Brandt-Schwarze, Nachlaß Gottfried und Johanna Kinkel, 2001 ergänzt werden. Eine schöne Auswahl Kinkelscher Dichtungen, Prosa und anderer Schriften hat 2006 Hermann Rösch zusammengestellt, die sich als Publikation im Vorfeld der 150-Jahrfeier des Hambacher Festes an ein breiteres Lesepublikum richtet, vgl. Hermann Rösch (Hg.): Gottfried Kinkel. Dichter und Demokrat. Mit einem Geleitwort von Klaus Kinkel. Königswinter 2006.
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und Voraussetzung für die folgenden exemplarischen Werkanalysen (Teile II und III) dient. Dabei geht es nicht um die Fortführung der bisher in der Forschung zu Kinkels literarischem Werk vorherrschenden Geschmacksurteile und Bewertungen nach dem Grad ihrer Originalität bzw. Epigonalität. Gerade diese etablierten Bewertungsmaßstäbe sollen hinterfragt werden. Unter Berücksichtigung der durch biographische und historische Konfigurationen vorgegebenen Entstehungsgeschichte der Werke sowie dem Blick auf literarhistorische Entwicklungen sollen neue Verständnishorizonte für die Texte eröffnet werden. Für die exemplarischen Analysen wurden solche Texte von Kinkel ausgewählt, die einerseits für die Entwicklung seines Werkes maßgeblich gewesen sind, andererseits sich auch literarhistorisch einordnen lassen in die Geschichte von Profilbildungen einzelner Gattungen und Institutionen (Reiseliteratur, Dorfgeschichte, Lied, Gesang) sowie in epochenrelevante politische Tendenzen und Entwicklungen. 1.2
Paradigmen und Aspekte der Vormärzforschung47
Leben und Werk Gottfried Kinkels sind in einer Weise miteinander verbunden und als Einheit wahrgenommen worden, die noch mehr in der wissenschaftlichen Rezeption als in der zeitgenössischen Bewertung zu beobachten ist, was vielfach undifferenzierte, zumindest aber einseitige Betrachtungen seines literarischen Werkes befördert hat. Es wurde sowohl von der politischen Identifikations- und revolutionären Kämpferfigur generalisierend auf seine Lyrik geschlossen und umgekehrt, wie auch versucht wurde, die Bedeutung seiner politischen Lyrik zu relativieren und stärker die spätromantischen Einflüsse seiner (frühen) Gedichte zu betonen. Beide Positionen werden für sich genommen dem tatsächlichen Charakter von Kinkels Werken nicht gerecht. Neben der zweiten Gedichtsammlung (1868), in die der größte Teil von Kinkels hauptsächlich während und im engeren zeitlichen Umfeld der Revolution von 1848/49 entstandenen agitatorischen Lyrik aufgenommen wurde, enthält bereits sein erster, 1843 publizierter Lyrikband mit Zum Eingang, Im Vaterlande oder Am Huldigungstage48 einige Gedichte, die durchaus politische Akzente setzen, indem etwa die deutschen territorialen, politischen und sozialen Zustände, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft oder die Opposition von staatlicher Ordnung und bürgerlicher Selbstbehauptung thematisiert werden.
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Im folgenden Kapitel kann es nicht um einen ausführlichen oder gar vollständigen Forschungsbericht zur literatur- und geschichtswissenschaftlichen Vormärzforschung gehen. Der Abschnitt versteht sich vielmehr als Problemaufriss der jüngeren und gegenwärtigen Tendenzen in der Vormärzforschung, deren Erkenntnisse für die in der vorliegenden Arbeit behandelten Fragestellungen und methodischen Zugriffe auf die Texte vielfältige Orientierungshilfen boten. Kinkel, Gedichte, 1843, S. XIII–XIV, 71–74, 57–58.
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Selbst jene Gedichte, die unter der Überschrift Bilder aus Welt und Vorzeit49 zusammengefasst sind, bedienen sich zwar »traditionelle[r] Stoffe aus Natur und Geschichte und Mythologie«,50 doch weisen sie ebenfalls politische Sinnbezüge auf. Freilich können diese Gedichte nicht wie Kinkels spätere Lyrik im Kontext seiner republikanisch-demokratischen Überzeugung als politisch-agitatorische Texte verstanden werden. In erster Linie gewinnt dies für die Darstellung der werkgeschichtlichen Entwicklung und Einordnung der einzelnen Texte besondere Relevanz. Darüber hinaus veranschaulicht dieser Befund, dass eine Auseinandersetzung mit Kinkels Werk vor diesem Problemhorizont auch unmittelbar eine Anknüpfung an das derzeit in der literaturwissenschaftlichen Vormärzforschung entworfene Epochenbild darstellt und von diesem wichtige Anregungen erhält. Die Diskussion um die zeitliche Erstreckung der Vormärzliteratur und der damit verbundenen Epochenbezeichnungen (Biedermeier- und Restaurationszeit, Junges Deutschland, Vormärz) finden zwar heute durch die weitgehend51 akzeptierte Periodisierung von 1815–1848/49 keine Fortsetzung mehr.52 Doch bleiben die aus dieser Diskussion hervorgetretenen Probleme und Fragen vor allem im Zusammenhang mit der Integration der sogenannten ›konservativen‹ Biedermeierautoren oder der temporalen Koexistenz romantischer Literatur nach wie vor für Einzeluntersuchungen virulent.
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Ebd., S. 2–46. Norbert Oellers: Geschichte der Literatur in den Rheinlanden seit 1815, in: Rheinische Geschichte in drei Bänden, hier Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Franz Petri und Georg Droege. Düsseldorf 1979, S. 553–696, Zitat S. 595. Freilich werden bisweilen immer noch ausführliche, teils überzeugend argumentierende Vorschläge gemacht, die jene in weiten Teilen der Forschung zuvor gängige Periodisierung nicht in Frage stellen, aber zumindest auf die Relevanz alternativer historischer Bezugspunkte und ›Zäsuren‹ wie die Französische Revolution von 1789 oder die Karlsbader Beschlüsse von 1819 hinweisen wollen, vgl. hierzu exemplarisch mit weiteren Literaturhinweisen Peter Stein: »Kunstperiode« und »Vormärz«. Zum veränderten Verhältnis von Ästhetizität und Operativität am Beispiel Heinrich Heines, in: Vormärz und Klassik. Hg. von Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke und Michael Vogt. Bielefeld 1999 (Forum Vormärz–Forschung. Vormärz-Studien, Bd. 1), S. 49–62. Von den älteren Beiträgen, die trotz vorliegender Zusammenfassungen von der Argumentationsstruktur der vorgeschlagenen Periodisierung her immer noch lesenswert sind, seien hier nur die wichtigsten genannt, vgl. Wilhelm Bietak: Das Lebensgefühl des ›Biedermeier‹ in der österreichischen Dichtung. Wien, Leipzig 1931; Wolfgang W. Behrens [u.a.]: Der literarische Vormärz 1830–1847. München 1973, neben der Textauswahl bes. S. 159–278; Peter Stein: Epochenproblem ›Vormärz‹ (1815–1848). Stuttgart 1974 (Sammlung Metzler, Bd. 132); Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980; Jost Hermand: Allgemeine Epochenprobleme, in: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815–1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Hg. von Jost Hermand und Manfred Windfuhr. Stuttgart 1970, S. 3–61; zuletzt und zusammenfassend Helmut Bock: Deutscher Vormärz. Immer noch Fragen nach Definition und Zäsuren einer Epoche, in: Vormärz und Klassik. Hg. von Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke und Michael Vogt. Bielefeld 1999 (Forum Vormärz–Forschung. Vormärz-Studien, Bd. 1), S. 9–32;
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Weniger die Binnenstruktur dieser Epoche, als vielmehr die Wechselwirkungen, Rezeptionsformen und -muster früherer oder gleichzeitiger literarischer Strömungen bestimmen die maßgeblichen neueren Forschungsansätze zum epochalen Verständnis der Vormärzliteratur, namentlich der Blick auf die Romantik. Am gesellschaftlich funktionalen Stellenwert, den die jeweiligen Autoren der Literatur einräumen, lässt sich nach wie vor der strukturelle Unterschied zwischen Romantik und Vormärz ablesen. Trotz aller Gemeinsamkeiten traten mit der Vormärzliteratur, in der Formulierung Peter Steins, der »politische Geschichtsprozeß und die Literatur in ein neues Verhältnis«.53 Ausgehend von der These aber, dass romantische Leitbegriffe, literarische Verfahrensweisen und Darstellungsmuster von Vormärzautoren aufgegriffen und weitertradiert wurden, wenden sich Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen in ihrem grundlegenden Beitrag aber auch gegen ein – nicht nur auf Romantik und Vormärz begrenztes – Epochenverständnis, das sich in der Zuweisung einzelner Werke zu einer bestimmten literarischen Richtung erschöpft und die Vormärzliteratur nicht selten auf ihren politischen Charakter reduziert.54 Gerade in der Interpretation von Kinkels frühen, national-patriotischen Gedichten erweist es sich überdies auch als bedeutsam, die Dimension politischen Dichtens nicht etwa nur auf die radikal-demokratischen Inhalte zu verengen und damit die vielfältigen Ausprägungen eines breiten Spektrums politischer Dichtung im Vormärz auszublenden. Die von Georg Herwegh in einem Brief an Karl Follen vom 29.11.1841 beiläufig formulierte Zeit- und Literaturdiagnose, wonach die »Politik und Geschichte […] unser Tummelplatz überhaupt, aber insbesondere der Tummelplatz der modernen Poesie«55 sei, hat im Hinblick auf die spätere literarhistorische Bewertung der 1840er Jahre als Blütezeit der politischen Dichtung epochalen Aussagewert. Die literarische Umsetzung jener aus Herweghs Formulierung ableitbaren literaturästhetischen Positionen, also die sogenannte Tendenzlyrik, stieß freilich auch auf heftige Kritik, als deren führender Stichwortgeber Friedrich Theodor Vischer in Erscheinung getreten ist. In seiner Besprechung der nur zwei Jahre vor Kinkels erstem Gedichtband erschienenen Besprechung von Georg Herweghs erstem Band seiner Sammlung Lieder eines Lebendigen (1841) finden sich die Zentralbegriffe und -vorwürfe gegen die politische Poesie überhaupt, die Vischer als »abstrakt, rhetorisch,
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Stein, Kunstperiode, 1999, S. 49. Vgl. Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen: ›Romantik‹ und ›Vormärz‹ als rivalisierende Diskursformationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen. Bielefeld 2003 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, X), S. 9–46. Georg Herwegh: Briefe 1832–1848. Bearb. von Ingrid Pepperle unter Mitarb. von Heinz Pepperle, Norbert Rothe und Hendrik Stein, in: Georg Herwegh: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hg. von Ingrid Pepperle [u.a.]. 6 Bde., hier Bd. 5. Bielefeld 2005, S. 13.
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tautologisch, refrain- und gedankenspitzenjägerisch [und] bildlos« verdammt.56 Solche Begriffe und deren Derivate gehörten mithin noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – in manchen Kreisen bis heute – zum Standardvokabular der Bewertung politischer Lyrik. Ein grundlegender Wandel in der Beschäftigung mit der Vormärzliteratur vollzog sich seit Mitte der 1960er Jahre. Wurden in der Germanistik der DDR bis dahin kaum behandelte politische Autoren des 19. Jahrhunderts wie Georg Herwegh, Karl Gutzkow, Heinrich Laube oder auch Heinrich Heine als Vordenker der eigenen sozialistisch-marxistischen Staatsideologie wieder mit Werkausgaben und Studien gewürdigt, so waren in der bundesrepublikanischen Germanistik andere Motive maßgeblich. Die von dem in München 1966 abgehaltenen Germanistentag ausgehende kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit des eigenen Faches, führte in der Folge und im Kontext der Politisierung der Universitäten auch zu einer programmatischen Rückbesinnung und Aufwertung der gerade in der NS-Zeit aus ideologischen Gründen vernachlässigten liberalen Autoren.57 Die Publikationsdaten der heute noch einschlägigen Textsammlungen und Anthologien dokumentieren diesen Paradigmenwechsel auf anschauliche Weise.58 Mehr noch allerdings als aus dieser Tatsache hat die Vormärzforschung aber auch wichtige Impulse aus der sozialgeschichtlichen Wende der Literaturwissenschaft seit Anfang der 1970er und der 1980er Jahre empfangen.59 Die Ergebnisse der anhaltenden Methoden- und Theoriediskussion um Sinn, Ende oder Weiterentwick-
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Friedrich Theodor Vischer: Georg Herwegh ›Gedichte eines Lebendigen‹, in: Kritische Gänge, 2. Band. Hg. von Robert Vischer, 2., vermehrte Auflage. Berlin 1914, S. 92–134, Zitat S. 116. Vgl. hierzu Michael Vogt: Die Achtundvierziger und die Achtundsechziger. Zur Konjunktur germanistischer Vormärz-Forschung in den Bahnen der Studentenbewegung, in: Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien. Hg. von Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen und Petra Boden. Berlin 2000, S. 227–236; zusammenfassend und überblickshaft auch mit gutem Literaturverzeichnis Hinrich C. Seeba: Vormärz: Zwischen Revolution und Restauration, in: Geschichte der deutschen Literatur. 3 Bde., hier Bd. 2: Von der Aufklärung bis zum Vormärz. Hg. von Erhard Bahr. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Tübingen, Basel 1999 (Uni-Taschenbücher , Bd. 1464), S. 431–527, hier S. 435–445. Genannt seien die bekannten, bis heute in zahlreichen Auflagen erschienenen Ausgaben von Jost Hermand (Hg.): Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart 1966 (RUB, 8703/07); Ders.: Der deutsche Vormärz. Texte und Dokumente. Stuttgart 1967 (RUB, 8794/98); Wolf Wülfing: Das Junge Deutschland. Texte – Kontexte. München, Wien 1978; Walter Grab, Uwe Fiesel: Noch ist Deutschland nicht verloren. Unterdrückte Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. Texte und Analysen. Berlin 1980. Vgl. zusammenfassend das Programm der Münchener Forschergruppe (MFG): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Hg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe ,Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900‹ von Renate von Heydebrand, Dieter Pfau und Jörg Schönert. Tübingen 1988.
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lung der »Sozialgeschichte«60 in der Germanistik sind nicht selten nominalistische Proklamationen scheinbar neuer Theorien. Unter dem Verdikt, die Ableitung kultureller Phänomene aus Gesellschaftsstrukturen sei zu einseitig,61 wird versucht, die Umgestaltung der Literaturwissenschaften in eine »polykontextuell« (Plumpe) orientierte Kulturwissenschaft voranzubringen.62 Eine solche wurde allerdings schon immer dort praktiziert, wo kulturelle Phänomene – also auch literarische Texte – in
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Vgl. hierzu die thematisch breit gefächerten Beiträge des Sammelbandes zum Thema Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000; es handelt sich bei vielen Beiträgen tatsächlich um bisweilen konstruktive Versuche, die Sozialgeschichte nicht zu verabschieden, sondern sie zu erweitern. Oftmals, so scheint es, führt dies aber lediglich zu Umbenennungen ohnehin schon gängiger Praxis. Einen überzeugenden Ansatz, der die Bourdieusche Feldtheorie mit systhemtheoretischen Ansätzen Gerhard Plumpes (s. Anm. 32) verbindet, bietet Jörg Schönert: Mentalitäten, Wissensformationen, und Medien als dritte Ebene einer Sozialgeschichte der Literatur. Zur Vermittlung zwischen Handlungen und symbolischen Formen, in: Nach der Sozialgeschichte, 2000 (wie oben), S. 95–103, hier S. 97: »[...] dass Texte der schönen Literatur das Ergebnis von Bearbeitungen von allgemein relevanten Erfahrungen und Wissenskomplexen unter bestimmten Vorgaben der Wahrnehmung und Bewertung, der Ordnung und Prägung durch Diskurse und Medien sind, dass sie Erfahrungen des Sozialen nicht widerspiegeln, sondern unter den jeweils relevanten Vorgaben für literarische Bearbeitungen gestalten. Dabei sind Texte [...] das Ergebnis von Handlungen und zugleich veranlassen solche Texte Handlungen [...].«; die vieldiskutierte Krise des sozialgeschichtlichen Paradigmas wurde durch einen Band der Hanser Literaturgeschichte ausgelöst vgl. Edward McInnes, Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. München, Wien 1996 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd.6); die Kritik dazu bei Oliver Buck [u.a.]: Eine Sozialgeschichte der Literatur, die keine mehr sein will, in: IASL 24, H. 1 (1999), S. 132–157, hier v.a. S. 132; vgl. auch die Rezension von Jutta Schlich, in: Arbitrium 16 (1998), S. 327–333; vertiefend zu diesem Komplex: Claus-Michael Ort: ,Sozialgeschichte‹ als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projekts, in: Nach der Sozialgeschichte, 2000 (wie oben), S. 113–128. Vgl. Martin Huber, Gerhard Lauer: Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft – zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft, in: Nach der Sozialgeschichte, 2000 (wie Anm. 60), S. 2–11, hier S. 2. Derzeit erscheinen unzählige Arbeiten, die »Kulturwissenschaft« im Titel führen, und kaum mehr zu überschauen sind. Über Programm, Selbstverständnis und Zielsetzungen der »Kulturwissenschaften« informieren folgende Bände: Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hamburg 2002; Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Hamburg 2002; Johannes Ullmaier: Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne. Hermeneutische und kategoriale Probleme. Tübingen 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 84); Jörg Schönert: Möglichkeiten und Probleme einer Integration von Literaturgeschichte in Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Einleitung, in: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Positionen und Perspektiven nach der »Theoriedebatte«. Stuttgart 1992, S. 337–348; Gerhard Plumpe, Niels Werber: Umwelten der Literatur, in: Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995, S. 9–33.
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ihrem jeweiligen kontextuellen Entstehungs- Verbreitungs- und Rezeptionsrahmen gesehen und interpretiert wurden. Von der gegenwärtigen Vormärzforschung kann man indessen nicht behaupten, dass sie eine intensive Theorie- und Methodendiskussion führt. Dennoch lassen sich einzelne, mit ihrem grundlegenden Anspruch aber auch richtungsweisende methodologische Positionen etwa in dem schon erwähnten Beitrag von Bunzel, Stein und Vaßen festmachen, die mit guten Gründen Kritik an der Systemtheorie »in ihrer orthodoxen Form« üben und den systemtheoretischen Textzugriff »als neues Paradigma für die Vormärzforschung« ablehnen.63 Eine grundsätzlich sozialhistorisch orientierte Fragestellung gerade für das Verständnis und die Interpretation von Texten der Vormärzliteratur sehen die Autoren nach wie vor als »heuristisches Standardmodell der Vormärzforschung«.64 Der Bedeutung dieses vieldiskutierten »sozialgeschichtlichen« Zugriffs auf Texte soll auch mit der vorliegenden Arbeit und der Interpretation von Kinkels literarischem Werk Nachdruck verliehen werden. Zu den wichtigsten und renommiertesten Publikationsorganen für Beiträge zur Erforschung der Vormärzliteratur, die sich in die eben aufgezeigte wissenschaftliche Tradition stellen, gehören die seit 1996 erscheinenden Jahrbücher des Forum Vormärz-Forschung. Die Themenschwerpunkte der Jahrbücher bieten nicht zuletzt auch durch die interdisziplinäre Ausrichtung der einzelnen Beiträge grundlegende und erhellende Einsichten sowohl in epochenrelevante politische Entwicklungen und Tendenzen65 und Profilbildungen einzelner Gattungen und Institutionen66 als auch in Schreibhaltungen und Motive.67 Ergänzend dazu erscheinen in unregelmäßigen Abständen Bände der ebenfalls zum »FVF« gehörigen Reihe Vormärz-Studien, in denen bisher vor allem einzelne Repräsentanten des Vormärz‹ wie Georg Weerth, Willibald Alexis, Karl Gutzkow und Ludwig Börne68 aber auch Unterschiede und
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Bunzel, Stein, Vaßen, Romantik und Vormärz, 2003, S. 17; kritisch auch zur Methodenfrage Hugh Ridley: Vormärz – Systemtheorie und Literaturgeschichtsschreibung, in: Das schwierige 19. Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hg. von Jürgen Barkoff, Gilbert Carr und Roger Paulin. Mit einem Vorwort von Wolfgang Frühwald. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 77), S. 53–63. Ebd., S. 9. 1848 und der deutsche Vormärz. Hg. von Peter Stein, Florian Vaßen und Detlev Kopp. Bielefeld 1998 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 3, 1997); Vormärz und Exil. Vormärz im Exil. Hg. von Norbert Otto Eke und Fritz Wahrenburg. Bielefeld 2005 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 10, 2004). Vgl. Journalliteratur im Vormärz. Redaktion Rainer Rosenberg und Detlev Kopp. Bielefeld 1996 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 1, 1995); Theaterverhältnisse im Vormärz. Hg. von Maria Porrmann und Florian Vaßen. Bielefeld 2002 (Forum VormärzForschung; Jahrbuch 7, 2001). Vgl. Literaturkonzepte im Vormärz. Red. Michael Vogt und Detlev Kopp. Bielefeld 2001 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 6, 2000). Vgl. Georg Weerth und das Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung. Kolloquium zum 175. Geburtstag am 14./15. Februar 1997 in Detmold. Hg. von Michael Vogt. Bielefeld 1999 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, II); Willibald Alexis (1798–1871).
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Gemeinsamkeiten mit Klassik, Romantik und ›Nachmärz‹ behandelt wurden.69 Damit sind die wissenschaftsgeschichtlichen und gegenwärtigen Entwicklungen und Paradigmen der literaturwissenschaftlichen Vormärzforschung umrissen, auf die bei der Beschäftigung mit Kinkels Werk zurückgegriffen werden konnte und in die sich die vorliegende Arbeit auch einzureihen sucht. Ähnlich wie in der Literaturwissenschaft hat auch die Geschichtswissenschaft den Vormärz als politische Epoche erst in den späten 1970er und 1980er Jahren für sich entdeckt, wenngleich auch schon zuvor wichtige Beiträge zu verzeichnen sind. War es für die Literaturwissenschaft der Germanistentag 1966, so gingen für die Geschichtswissenschaft vom Historikertag 1974 die maßgeblichen Anregungen für die folgende, heute ausgesprochen differenzierte Vormärzforschung aus.70 In der Person Kinkels, in der Entwicklung und Veränderung seiner weltanschaulichen und politischen Überzeugungen dokumentiert sich exemplarisch – wie auch bei zahlreichen anderen Autoren und Persönlichkeiten des Vormärz – jene letztlich aus der verhältnismäßig einheitlichen liberalen (und nationalen) Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgegangene Vielfalt politischer und sozialer Bewegungen, deren verschiedene Gesellschaftsmodelle sich mit den Schlagworten Liberalismus, Konstitutionalismus, Republikanismus, Sozialismus und Kommunismus umschreiben lassen.71 Die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahren nicht nur ereignisgeschichtlich orientiert die Forschung zur Revolution von 1848/49 vorangetrieben,72 sondern auch die spezifischen Traditionsbindungen, ideengeschicht-
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Ein Autor des Vor- und Nachmärz. Hg. von Wolfgang Beutin. Bielefeld 2000 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, IV); Karl Gutzkow. Liberalismus – Europäertum – Modernität. Hg. von Roger Jones [u.a.]. Bielefeld 2000 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, VI); Gutzkow lesen! Beiträge zur Internationalen Konferenz des Forum Vormärz-Forschung vom 18. bis 20. September 2000 in Berlin. Hg. von Gustav Frank und Detlev Kopp. Bielefeld 2001 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien,VIII); Inge Rippmann: Freiheit ist das Schönste und Höchste in Leben und Kunst. Ludwig Börne zwischen Literatur und Politik. Bielefeld 2004 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, XI). Vgl. Vormärz und Klassik. Hg. von Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke und Michael Vogt. Bielefeld 1999 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, I); Vormärz – Nachmärz. Bruch oder Kontinuität? Vorträge des Symposions des Forum Vormärz-Forschung e.V. vom 19.–21. November 1998 an der Universität Paderborn. Unter Mitarbeit von Tanja Coppola hg. von Norbert Otto Eke und Renate Werner. Bielefeld 2000 (Forum VormärzForschung. Vormärz-Studien, V). Grundlegend der Beitrag von Lothar Gall: Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324–356. Zuletzt und erschöpfend, hier auch ältere Forschung, die Habilitationsschrift von Uwe Backes: Liberalismus und Demokratie – Antinomie und Synthese. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz. Düsseldorf 2000 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 120). Die Forschungsgeschichte bis 1980 ist zusammengefasst bei Dieter Langewiesche: Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981), S. 458–498; der
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lichen Formationen und Oppositionen des (frühen) Liberalismus herausgearbeitet und mit Beschreibung von Lebens-, Werk- und Wirkungsgeschichten heute wenig bekannter Persönlichkeiten Bausteine für ein geschlosseneres Epochenbild zusammengetragen, die bei der Darstellung von Kinkels intellektuellem Profil (Kapitel 2) und den exemplarischen Werkanalysen von eminent wichtiger Bedeutung waren. 73 1.3
Nachromantiker und Tendenzpoet: Gottfried Kinkel in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts
In seiner Darstellung der Rezeptionsgeschichte Kinkels im 19. Jahrhundert konzentriert sich Wolfgang Beyrodt weitgehend auf schriftliche Zeugnisse wie Memoiren, Briefe, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, deren Verfasser je nach ihrem Verhältnis zu Kinkel seiner dichterischen Leistung und seiner politischen Bedeutung ablehnend oder positiv gegenüberstanden.74 Hingegen wurde Kinkels Aufnahme in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bisher noch nicht beachtet. Freilich wird die Frage, in welchen Literaturgeschichten Kinkel mit welchen Werken und Kommentaren Erwähnung findet, keine überraschenden Antworten im Sinne unerwarteter oder völlig neuer Beurteilungen bieten. Vielmehr wirft der folgende knappe Überblick zu Kinkels Stellung in exemplarischen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts ein Licht auf die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufblühende Gattung literaturgeschichtlicher Überblicksdarstellungen. Anders etwa als im Falle der politisch progressiven Literaturkritiken vor allem seit der Julirevolution, die sich mit der (jungdeutschen) Gegenwartsliteratur befassten und deren ästhetische Argumente auf eine Integration der Literatur in das (Alltags-)Leben zielten, ohne dabei vollständig mit Hegelschen oder älteren Theorien des ›Schönen‹ zu brechen,75 haben die Schlußkapitel der Literaturgeschichten
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im Jubiläumsjahr der Revolution erschienene, über tausend Seiten starke Band von Dieter Dowe u.a. versammelt Beiträge, die das Thema aus europäischer Perspektive umfassend erschließen, dort auch die wichtigste ältere Literatur seit 1980, vgl. Dieter Dowe, HeinzGerhard Haupt, Dieter Langewiesche (Hg.): Europa 1848. Reform und Revolution. Bonn 1998 (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, 48); zur Nachwirkung der Revolution und auch Bewertung der bisherigen Forschung s. den Band von Dieter Langewiesche (Hg.): Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen. Beiträge des Symposions in der Paulskirche vom 21. bis 23. Juni 1998. München 2000 (Historische Zeitschrift. Beiheft N.F., Bd. 29). Vgl. exemplarisch den hervorragenden Sammelband von Wolfgang Schieder (Hg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz. Göttingen 1983 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 9); vgl. auch den umfangreichen Überblicksband von Helmut Bleiber, Walter Schmidt, Susanne Schötz (Hg.): Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49. Berlin 2003 – ein zweiter Band ist angekündigt. Vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 12–31 und 54–60. Vgl. Wolfgang Albrecht: Wegweiser zu neuer Poesie? Ästhetische Kriterien politisierter deutscher Literaturkritik um 1850 (Wienbarg, Vischer, J. Schmidt), in: Literaturkonzepte im Vormärz. Red. Michael Vogt und Detlev Kopp. Bielefeld 2001 (Forum VormärzForschung; Jahrbuch 6, 2000), S. 23–47, hier S. 24–25.
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in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und teilweise weit darüber hinaus fast ausschließlich die Romantik oder den alten Goethe zum Gegenstand.76 Die 1974 noch »ungeschriebene Geschichte deutscher Literaturgeschichten von 1870 bis heute«77 ist, seit Günter Hess auf das Desiderat aufmerksam gemacht hat, erfreulicherweise in mehreren und gründlichen Studien aufgearbeitet worden, wenn auch meist der Schwerpunkt nicht auf dem von Hess beschriebenen Zeitraum lag, sondern Herkunft, Situation und Genese der Literaturgeschichtsschreibung im Blick auf das gesamte 19. Jahrhundert78 oder auch im weiter gefassten neuzeitlichen Kontext dargestellt wurden.79 Die Ausläufer der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts weit verbreiteten, mit ihrem sammelnden und katalogisierenden Textorganisation noch stark der frühneuzeitlichen historia litteraria verpflichteten Litterärgeschichte sind noch bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein zu beobachten.80 Daneben entwickelte sich die Literaturgeschichte zur selben Zeit und unter den nationalen Vorzeichen und Nachwirkungen der Befreiungskriege als »Mittel zur Bildung von Nationalbewußtsein«,81 wie es in Ludwig Wachlers Vorlesungen über die Geschichte der teutschen Nationalliteratur (1818–1819) zum Ausdruck kommt. Nicht mehr vollständige Erfassung möglichst vieler schriftlicher Zeugnisse aus der Literaturgeschichte waren
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Der grundlegende Aufsatz von Günter Hess befasst sich vor allem mit dem Zeitraum von 1870 bis 1920 und wurde freilich in vielem ergänzt von der neueren Forschung. Völlig zurecht betont Hess aber die Verbindung der von ihm behandelten Texte mit jenen Literaturgeschichten vor der Jahrhundertmitte, deren Phasen- und Epochenmodelle noch – mit einigen Ausnahmen – in der Zeit seit der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wirksam waren, vgl. Günter Hess: Die Vergangenheit der Gegenwartsliteratur. Anmerkungen zum letzten Kapitel deutscher Literaturgeschichten um 1900, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hg. von Walter Müller-Seidel. München 1974, S. 181–204. Hess, Die Vergangenheit, 1974, S. 190. Der wichtigste Sammelband zum Thema ist nach wie vor von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994, im Anhang auch eine an Klaus Weimar (s. folgende Fußnote) anknüpfende umfassende Bibliographie zum Thema, S. 742–767; zeitlich auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkt und etwas älter, für die hier behandelten Aspekte aber immer noch relevant ist der Sammelband von Jörg Jochen Müller (Hg.): Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Stuttgart 1974 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, Bd. 2). Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989; ferner Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. Zur Bezeichnungsgeschichte mit zahlreichen Beispielen vgl. zusammenfassend Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 1989, S. 107–147. Karl-Heinz Götze: Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft als Literaturgeschichte. Vorgeschichte, Ziel und soziale Funktion der Literaturgeschichtsschreibung im deutschen Vormärz, in: Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Hg. von Jörg Jochen Müller. Stuttgart 1974 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, Bd. 2) S. 207–210, Zitat S. 207.
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für diese neue Gattung der Überblicksdarstellung erkenntnisleitend, sondern die programmatisch formulierte Subjektivierung der Auswahl, die narrative Darstellung und Ausrichtung auf Zentralbegriffe wie Nation und Volk. Wie groß offenbar der Bedarf an einer mittels Literaturgeschichte angeregten und beförderten nationalen Selbstfindung und -vergewisserung war, zeigt sich vor allem am Publikationserfolg dieser Gattung, in deren Blütezeit von 1830 bis in die 1850er Jahre über vierzig Titel erschienen sind.82 Diese Literaturgeschichten etwa von den heute noch bekannteren Verfassern wie Georg Gottfried Gervinus, Heinrich Kurz oder August Friedrich Christian Vilmar entstanden zwar im akademischen Rahmen der Universität – Gervinus war bis zu seiner Entlassung 1837 Professor für Geschichte in Berlin und Vilmar Professor für Theologie in Marburg –, in der aber bis zur Jahrhundertmitte die Beschäftigung mit der Literatur(-geschichte) kein eigenständiges Fach darstellte, wie wir es heute als Germanistik oder Literaturwissenschaft kennen. Vielmehr fristete sie als Nebenprodukt etwa der Philosophie zumindest in institutioneller Hinsicht ein Schattendasein.83 Noch in der Einladung zum ersten Germanistentag 1846 in Frankfurt wird die Literatur nicht eigens erwähnt. Hingegen wird deutlich, dass sich der heute geläufige Begriff »Germanist« in seiner Bedeutung erheblich und im Sinne einer Bedeutungsverengung verschoben hat. Mitte des 19. Jahrhunderts jedenfalls waren – auch in der Einladung zum Germanistentag – Wissenschaftler gemeint, die sich mit deutschen Recht, deutscher Geschichte und Sprache beschäftigten, was freilich eine Thematisierung der Literatur nicht ausschließen sollte, wie sie dann von Gervinus oder Jacob Grimm auch betrieben wurde.84 82
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Vgl. hierzu Waltraud Fritsch-Rößler: Literaturgeschichtsschreibung um 1848/49. Zur Historisierung, Subjektivierung und Politisierung der Literaturgeschichte, in: Revolution 1848/49. Ereignis – Rekonstruktion – Diskurs. Hg. von Gudrun Loster-Schneider. St. Ingbert 1999 (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 21), S. 167–195, hier S. 172–184 und 192; zur »Narrativität« als Paradigma auch der Literaturgeschichtsschreibung vgl. Cornelia Blasberg: Der literarische Eigensinn narrativer Geschichtskonstruktion: Das Beispiel der Literaturgeschichtsschreibung, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp. Berlin, New York 2002, S. 103–121, hier S. 106, zur Zahl der erschienenen Literaturgeschichten S. 107–108. Vgl. Götze, Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft, 1974, S. 167–168; Fohrmann verwendet bei seinen Überlegungen die Begriffe »gelehrte Gemeinschaft« und »disziplinäre Gemeinschaften« (S. 578), um die Entwicklung der Literaturgeschichte zum eigenständigen Universitätsfach zu beschreiben, vgl. Jürgen Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichte zwischen Aufklärung und Kaiserreich, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Forhmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 576–604. Zum Bedeutungswandel des Begriffes vgl. Jörg Jochen Müller: Germanistik – Eine Form bürgerlicher Opposition, in: Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Hg. von Jörg Jochen Müller. Stuttgart 1974 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, Bd. 2) S. 5–112, hier S. 5–6., bes. auch S. 10: »Ursprünglich polemisch-programmatischer Name einer juristischen Fachrichtung ging er [der Begriff ›Germanist‹, B.W.] auf deutsche Historiker und deutsche Philologen,
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Sowohl aus der selbstgewählten (›Berufs-‹)Bezeichnung und deren Bedeutungsgeschichte als auch der programmatischen Ausrichtung auf die Nation als Gegenstand und das Volk als Rezipienten lässt sich ein politisch-nationales Selbstverständnis dieser Literaturgeschichten ableiten. Vor diesem Hintergrund mag es zunächst verwundern, dass gerade die damaligen, politisierenden Gegenwartsautoren – und zwar ebenso programmatisch – keine Berücksichtigung fanden. Exemplarisches und prominentes, gleichzeitig wirkungsmächtiges Beispiel auch für folgende Überblicksdarstellungen ist die Literaturgeschichte des schon erwähnten Georg Gottfried Gervinus, die bis zur Mitte der 1850er Jahre vier Auflagen erlebte. In seiner Vorrede zur ersten Auflage fasst Gervinus sein Anliegen zusammen: Mir scheint es aber, als ob die Geschichte der deutschen Nationalliteratur noch von Niemand aus einem Gesichtspunkte behandelt worden sei, welcher der Sache selbst würdig, und der Gegenwart und jetzigen Lage der Nation angemessen wäre.85
Gervinus betont, dass er nicht für »gelehrte Kenner«, sondern »wenn es mir gelingen möchte für die Nation« schreibe und versuche, »von diesem Gesichtspunkte aus die deutsche Dichtung in ihrer Geschichte zu entwickeln« und sein Band daher »nichts als Geschichte« sei.86 Die hier von Gervinus vorgenommene Selbstverortung seiner Literaturgeschichte verweist auf die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Konkurrenz verschiedener Entwürfe im Umgang mit der historischen Darstellung von Literatur, die sich in zahlreichen Selbstreflexionen über die eigene ›Disziplin‹ und Herangehensweisen ablesen lässt.87 Jene sich an ein breites Publikum wendende Überblicksgeschichte nach dem Muster von Gervinus konnte sich zwar zunächst durchsetzen, wurde aber am Ende des 19. Jahrhunderts zusehends von einerseits mono- oder biographisch ausgerichteten Werken, andererseits von als Kommentar oder Sammlung wissenschaftlicher Meinungen zu einem Epochen- oder einem Gattungskomplex abgefassten Literaturgeschichten abgelöst.88
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die vornehmlich Sprachhistoriker und Mediävisten waren, über, bis er heute umgangssprachlich fast nur noch für Lehrer und Studenten des Faches Deutsch verwendet wird […].«; in demselben Band vom selben Autor den Beitrag »Die ersten Germanistentage«, S. 297–318, bes. S. 298–312. Es handelt sich – auch im Weiteren – um das unveränderte Vorwort zur ersten Auflage (5 Bde., 1835–1842), hier zitiert nach der 3. Auflage: Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. 5 Theile. Dritte umgearbeitete Ausgabe. Leipzig 1846–1852, hier Theil 1. (1846), S. 4. Gervinus, Geschichte, 1846, S. 15, 11 und 12. Ohne auf einzelne Äußerungen einzugehen sei hier auf die umfangreiche Bibliographie verwiesen bei Holger Dainat und Cornelia Fiedeldey-Martyn: Literaturwissenschaftliche Selbstreflexion. Eine Bibliographie 1792–1914, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 538–549; zur frühen Gleichsetzung von »Literaturgeschichte« und »Literaturwissenschaft bei Karl Rosenkranz 1843 (Die deutsche Literaturwissenschaft von 1836– 1842) Götze, Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft, 1974, S. 169–171. Als Beispiel für Literaturgeschichten mit Fußnoten als wissenschaftlichem Apparat, auf die Gervinus ja bewusst verzichtet, sei hier exemplarisch genannt Wilhelm Wackernagel:
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Entscheidend ist jedoch die von Gervinus vorgenommene Einschätzung der neuesten Literatur, die er als »ein steriles Feld, auf dem nichts zu erbeuten« sei, beschreibt.89 Dementsprechend finden sich in den im einzelnen doch unterschiedlich akzentuierten Überblicksdarstellungen zur »deutschen Nationalliteratur« von August Friedrich Christian Vilmar,90 Heinrich Kurz,91 Julian Schmidt92 – um nur die prominentesten zu nennen, die durch etliche andere noch zu ergänzen wären – und freilich Gervinus keine Hinweise auf die neueste Dichtung und daher auch nicht auf Gottfried Kinkel. Dabei sollte der bisweilen nicht mehr nur latente, sondern recht offensichtlich gepflegte resignative Ton im Umgang mit der Gegenwartsliteratur bzw. deren Nichtbeachtung keineswegs als Indiz für eine konservativ-reaktionäre Weltanschauung und Haltung dieser Autoren betrachtet werden. Gerade bei Gervinus, der aus politischen Gründen seines Professoren-Amtes enthoben wurde, trifft dies am allerwenigsten zu, wenn auch eingeräumt werden muss, dass Gervinus bei der Niederschrift und Publikation der ersten Auflage seiner Literaturgeschichte noch zum konstitutionellen und nicht zum demokratischen politischen Lager gerechnet werden muss.93 Entscheidender für die Nichtbeachtung der Gegenwartsliteratur ist das im Historismus verwurzelte Konzept einer Literaturgeschichte und die seit Gervinus von fast allen Autoren bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts wiederholte »Relevanz des Vergangenheitscharakters« ihres Materials, womit gleichzeitig die »Gegenwart aus der Literaturgeschichte eliminiert« wurde.94
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Geschichte der deutschen Litteratur. Ein Handbuch. Basel 1848 – die Fortführung des Werkes am Ende des 19. Jahrhunderts wird weiter unten noch behandelt; vgl. insgesamt zu dem Komplex Fohrmann, Geschichte der deutschen Literaturgeschichte, 1994, S. 576 und 595–598. Gervinus, Geschichte, 1846, S. 6. August Friedrich Christian Vilmar: Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Literatur. Marburg 1845; zahlreiche weitere Auflagen folgten. Heinrich Kurz: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller. Mit vielen nach den besten Originalen und Zeichnungen ausgeführten Illustrationen in Holzschnitt. 3 Bde. Leipzig 1851–1859; auch hier in der Folgezeit weitere Auflagen. Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. 2 Bde. Leipzig 1853; schon 1855 erschien das Werk um einen Band vermehrt, 1856 dann in 3., 1858 in 4. Auflage: Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. 3 Bde. 2., durchaus umgearb. und um einen Band vermehrte Auflage. Leipzig 1855. Der jeweils dritte Band behandelt zwar die Gegenwartsliteratur, stellt diese aber in der Tradition von Gervinus in den »Schatten der Klassik«; vgl. hierzu auch Hess, Die Vergangenheit, 1974, S. 185–186. Vgl. Götze, Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft, 1974, S. 220. Hess, Die Vergangenheit, 1974, S. 183; hierzu auch Götz, Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft, 1974, S. 217; grundlegend zu Gervinus und seinem historischen Denken auch außerhalb der Literaturgeschichte Gangolf Hübinger: Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und politische Kritik. Göttingen 1984 (Schriftenreihe der Historischen Komission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 23).
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Lediglich Wolfgang Menzel widmet Kinkel, neben einer langen Reihe anderer politischer Vormärzdichter, einen kurzen Abschnitt in seinem immerhin über hundert Seiten starken Kapitel über »Die jüngste Dichtung«:95 Die Gedichte Gottfried Kinkels paßten für einen Demokraten und Freischaarenführer nicht. Sein »Otto der Schütz«, ein 1846 erschienenes kleines Epos, worin er die von uns Theil II. S. 64 mitgetheilte Volkssage behandelt, ist ganz royalistisch. Seine vielen lyrischen Gedichte handeln von Liebe, vom eiteln Ich, von einer italienischen Reise, Klagen um Immermanns Tod, greifen empfindsam in Sappho’s Lyra, wiegen sich in muhamedanischen Gaselen, und machen dann nebenbei in deutschem Patriotismus und Revolution. Ein abgeschmacktes Lied richtet er gegen die »Todesstrafe« und wollte doch selber Mann des Schwertes seyn. Seine Jambentragödie »Nimrod« von 1857 lässt den Tyrannen durch ein Weib umkommen, welche sich nachher selbst umbringt, die schwachen Männer verhöhnend, die nicht so viel Muth haben, wie ein Weib.96
Menzel setzte sich zunächst als Liberaler vor allem mit seiner vor der Julirevolution noch erschienenen Literaturgeschichte97 für die neue Dichtung ein und war auch ein entschiedener Goethe-Gegner, dessen Werke er als aristokratisch kritisierte. Doch wendete der ehemalige Mentor Karl Gutzkows sich später gegen die moderne politische Literatur und trug mit seiner kritischen Rezension von Gutzkows Wally wesentlich zu den Bundestagsbeschlüssen gegen jungdeutsche Autoren bei. Interessant ist, dass sich Menzel vorwiegend und offensichtlich auf Kinkels Gedichte aus der ersten Sammlung von 1843 bezieht, obwohl Kinkels zweite Auflage – in der im Gegensatz zur ersten auch revolutionär-agitatorische Gedichte aufgenommen wurden – 1857 schon publiziert war. Dies verwundert um so mehr, als Menzel an anderen Stellen mit vernichtender Kritik nicht zurückhält und etwa Karl Heinzen als den »ärgsten Schreier der Revolution« verunglimpft, Franz Dingelstedt als »Nachäffer Hoffmanns von Fallersleben [und] Freiligraths« und als »charakterlos« bewertet oder Georg Herweghs Gedichte eines Lebendigen eine »knabenhafte Renommisterei« unterstellt, die beabsichtige, »die ganze Welt umzudrehen« und sich ohnehin »unter den Revolutionspoeten […] keiner unnützer [machte] als Herwegh«.98 Gleichwohl spricht aus Menzels Bewertung von Kinkels »abgeschmacktem Lied« gegen die Todesstrafe dieselbe reaktionäre Haltung, wie sie auch die Bewertungen Herweghs, Börne oder Heinzens kennzeichnen. Aus der noch bei Gervinus, Vilmar oder Schmidt letztlich aus ihrem historischen Konzept zu verstehenden Nichtbeach-
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Vgl. Wolfgang Menzel: Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit. In drei Bänden. Stuttgart 1858–59, hier Bd. 3 (1859), S. 403–540 (Die jüngste Dichtung). Ebd., S. 456f. Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. 2 Bde. Stuttgart 1828; vgl. hierzu auch das Nachwort in der Neuausgabe Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. Zwei Bde. in einem Band. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1828. Mit einem Nachwort von Eva Becker. Hildesheim 1981 (Texte zum literarischen Leben um 1800, Bd. 11), Nachwort S. 1*–45*. Ebd., S. 456 und 458.
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tung der Gegenwartsliteratur ist bei Menzel eine Geringschätzung geworden, die nicht zuletzt auch als politische Positionsbestimmung zu verstehen ist. Kinkel selbst hat den oben beschriebenen Stand und die Entwicklung der Literaturgeschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso scharfsichtig wie kritisch in seiner bereits im Zuchthaus von Naugard im Winter 1849/1850 niedergeschriebenen, aber erst 1872 in der Gartenlaube publizierten Autobiographie seiner Kindheits- und Schuljahre festgehalten. Im Blick auch auf das Entstehungsjahr an der Wende zur neuen Jahrhunderthälfte deckt sich Kinkels Zusammenfassung der bis dahin erschienenen Literaturgeschichten mit der später von der Forschung herausgearbeiteten Symptomatik ihrer Ausrichtungen und Anlagen. Dass gar der Schüler in die lebende Literatur eingeführt, dass sein Sinn auf das Gediegene und Haltbare derselben gerichtet würde, davon ist vollends keine Rede und auch hier gehen die Universitäten mit erbärmlichem Beispiel voraus. Unser ganzer Schulunterricht hinkt hinter dem Leben her. Wer wagt denn noch mit ernsthafter Miene Ramler’s oder Gleim’s politische Gedichte mit Herwegh, Freiligrath oder auch nur mit Geibel zu vergleichen? Wer leugnet, dass ein Kapitel in Heine’s Wintermärchen sämmtliche Bände von Rabener’s Satiren in die Höhe schnellt? Oder wird nicht Alles, was Geßner gelaicht hat, von dem einen Bodensee-Idyll Mörike’s in farbloses Gallert umgesetzt? Und doch stehen Ramler, Rabener und Geßner unwandelbar in den gebräunten Collegienheften unserer Universitätsprofessoren, deren letzte Pagina die Namen der Gebrüder Schlegel trägt.99
Wenn auch die »gebräunten Collegienhefte« der Universitätsprofessoren und die Literaturgeschichten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht immer auf ihrer letzten »Pagina« den Namen Schlegel trugen, sondern nicht selten auch den des alten Goethe, so umschreibt Kinkels Diagnose dennoch recht zutreffend und bildlich die Situation der Literaturgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der mit seiner Kritik am fehlenden Interesse an (politischen) Gegenwartsautoren verbundene Befund der Schulbildung während seines letzten Gymnasialjahres 1830 hat bis heute – wenn man die Diskussionen unserer Tage um Gymnasial- und Universitätsreformen, die Stellung der Mediävistik sowie das Bildungsniveau von Studenten verfolgt, bei denen meist auch mit Verweise auf die Schule versucht wird, das Problem ›bei den Wurzeln zu packen‹ – nichts an Gültigkeit verloren: Von deutscher Literatur haben wir vollends keine Ahnung bekommen. Das Nibelungenlied war damals schon seit fünfzig Jahren wieder auf der Welt; wir lasen auf der Schule den ganzen Homer und den halben Virgil durch, aber von dem ebenbürtigen Epos, das unseres Volkes Stolz ist, haben wir dort auch nicht ein einzige Mal nur den Namen aussprechen hören. […] das Uebel sitzt zu tief in der Universitätsbildung unserer Philologen. Die deutsche Sprache und Literatur ist das Stiefkind unserer examinirenden Professoren, und da sie selber nichts davon verstehen, fordern sie von künftigen Jugendlehrern in diesem Fache keine Gründlichkeit. Der Student aber, wenigstens der vom gewöhnlichen Schlage, hört und lernt nur die Fächer, in denen er geprüft wird, und kommt so als ein
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Gottfried Kinkel: Meine Schuljahre, in: Die Gartenlaube 1873, S. 44–47, 97–100, 178– 181, 209–211, Zitat S. 98.
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Gelehrter in den alten Sprachen, als ein Barbar in seiner Muttersprache an die Jugend heran, die er bilden soll.100
Worauf Kinkel mit seiner Kritik der Schulbildung und Lehrerausbildung anspielt, ist – neben der letztlich an das Nationalsprachenkonzept der Aufklärung anknüpfende Forderung nach einem gründlichen Unterricht auch in der deutschen Muttersprache und Literatur – gewissermaßen eine Nebenlinie der Gattung Literaturgeschichte. So wie bei den oben exemplarisch vorgestellten »Geschichten der deutschen Nationalliteratur« der bewusste Verzicht auf die Darstellung der Gegenwartsliteratur zu verzeichnen ist, behandeln auch die Literaturgeschichten für den (gymnasialen) Schulunterricht nur die Epochen bis zur Romantik bzw. bis zum alten Goethe. Von den etwa einhundert, vor allem seit den 1820er Jahren publizierten Schulliteraturgeschichten – wobei sich die Zahl nur auf die Erstauflagen bezieht – stellen die von Karl Herzog,101 Ferdinand Friedlieb Heydenreich102 und vor allem Friedrich August Pischon103 die erfolgreichsten und, was das Modell der rigorosen Verkürzung anbelangt, für die gesamten Schulbuchliteraturgeschichten ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch folgenreichsten dar.104 Hier zeigt sich, dass nun auch schon wieder aus der Diskussion gekommene moderne Publikationen wie KarlHeinz Schlaffers Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (2002) durchaus schon ihre Vorläufer hatten. Während in den Schulbuchliteraturgeschichten noch weit über die Jahrhundertmitte hinaus die Tendenz einer Vernachlässigung der Gegenwartsliteratur zu beobachten ist, wird das hauptsächlich von Gervinus und Schmidt propagierte und umgesetzte Modell einer ›Vergangenheits-Literaturgeschichte‹ bereits seit der Jahrhundertmitte in Frage gestellt. Prominentester Vertreter dieser Kritik ist Rudolf Gottschall, der in seiner Literaturgeschichte105 die Relevanz der Gegenwartsliteratur 100 101
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Ebd., S. 98. Vgl. Karl Herzog: Geschichte der deutschen National-Litteratur mit Proben der deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit. Jena 1831; bereits 1837 erschien eine verbesserte Auflage unter dem Titel: Geschichte der deutschen National-Litteratur mit Proben der deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen und zum Selbstunterricht dargestellt. 2., verbesserte Auflage. Jena 1837. Vgl. F[erdinand] F[riedlieb] Heydenreich: Geschichte der deutschen Dichtkunst für die obern Klassen der Gymnasien. Königsberg 1831. F[riedrich] A[ugust] Pischon: Leitfaden zur Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1830. Zur Stellung der Literatur und Sprachen im Schulunterricht des 19. Jahrhunderts vgl. Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 1989, S. 241–259, speziell S. 249f.; ferner, mit Rückblick auf das 18. Jahrhundert Detlev Kopp: (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 669–741, hier bes. S. 695–713. Die erste Auflage erschien 1855 und enthält im Vorwort schon eine deutliche Kritik an der dominierenden Literaturgeschichtsschreibung eines Gervinus und Schmidt; nach der um zwei Bände erweiterten 3. Auflage (1872) erschienen bis 1901 noch 3 weitere Auflagen, vgl. Rudolf Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur in der ersten Hälfte
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auch für die Vergangenheit gegenüber den älteren, gleichwohl durch Neuauflagen immer noch präsenten Konzepten betont. Entsprechend werden die politischen Dichter und insgesamt die Literatur des Vormärz auch nicht als epigonaler Wurmfortsatz ›romantischer Verirrungen‹ betrachtet. Zudem bietet die Beschränkung von Gottschalls Literaturgeschichte auf das 19. Jahrhundert – in den ersten beiden Auflagen ja sogar auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Möglichkeit, den einzelnen Dichterpersönlichkeiten und Werken mehr Raum zuzugestehen. Wurde Gottfried Kinkel – wie viele andere Vormärz-Dichter – noch nicht einmal mit einer halben Seite bedacht, so umfasst der Abschnitt zu Kinkel bei Gottschall bereits etwas mehr als vier Seiten.106 Wie schon Julian Schmidt in seiner knappen Skizze, so betont auch Gottschall den – zumindest im Blick auf Kinkels spätere Beteiligung an der Revolution – durchaus (allerdings nur auf den ersten Blick) unpolitischen Charakter der Gedichte in der ersten Sammlung (1843): »Kinkel ist ein Revolutionär, aber kein revolutionärer Dichter.«107 Doch spricht Gottschall auch Kinkels zweite Sammlung (1868) an – die Schmidt freilich noch nicht kennen konnte –, deren Gedichte »oft mit Herweghs Schwung ausgeführte Anklänge an seine wildbewegte Lebensepoche finden«.108 Gottschalls insgesamt positives Urteil zu Kinkels Werk wird durch Überlegungen und Kommentare ergänzt, die für die Interpretationen in der vorliegenden Arbeit schon erste Ansätze enthalten, wenn Gottschall etwa zu Kinkels Drama über Tyrannentum und Völkerautonomie am Beispiel des gleichnamigen alttestamentarischen Herrschers und großen Jägers, Nimrod (1857), festhält: »[…] ja es ist gährender Most vom Jahre 1848, der in die Schläuche urweltlicher Kultur gefüllt wird«.109 Entscheidend aber für die Aufnahme der Gegenwartsliteratur in die Literaturgeschichten ist freilich immer der ›Grad‹ ihrer Vergangenheit, weshalb sich meist ähnlich lautende Darstellungen der Zeit von »Goethes Tod bis auf die Gegenwart« auch vornehmlich dann ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bemerkbar machten, denen allerdings in den meisten Fällen nicht eine programmatische Motivation wie bei Gottschall zugrunde liegt.110 Das mag vor allem damit zusammenhängen, dass es sich bei diesen Überblicken in den bekanntesten Fällen um Fortsetzungen schon existierender und immer wieder neu und parallel dazu aufgelegter Literaturgeschichten handelt. Genannt seien hier nur exemplarisch jene, die
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des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt. 2 Bde. Breslau 1855; Rudolf Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt. 3., verm. und verbesserte Auflage. 4 Bde. Breslau 1872. Im Folgenden die Zitate aus der 5. Auflage, Rudolf Gottschall: Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch und kritisch dargestellt. 5., verm. und verbesserte Auflage. 4 Bde. Breslau 1881, zu Kinkel: Band 3, S. 239–243. Gottschall, Die deutsche Nationallitteratur, 1881, S. 241. Ebd., S. 242. Ebd., S. 243. Vgl. Hess, Die Vergangenheit, 1974, S. 185.
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als Ergänzung zu den schon oben angesprochenen älteren Überblicksdarstellungen von Vilmar und Kurz publiziert wurden. In der als vierter Band der dritten Auflage seiner Literaturgeschichte erschienenen Ergänzung thematisiert Heinrich Kurz im Vorwort die Problematik der zeitgenössischen Schriftsteller, die nicht ausführlich genug besprochen worden seien.111 Auch Kurz stellt in seinem knappen Überblick zu Kinkel die Verbindung zwischen öffentlicher Popularität und literarischem Werk her und sieht Kinkels Gedichte als »Ausfluß seines innern Lebens, dass sie uns ein Bild seiner geistigen und künstlerischen Entwicklung geben«.112 Neben biographischen und werkgeschichtlichen Stichworten, ist für Kurz’ Ergänzungsband der Abdruck einzelner Werke der vorgestellten Dichter charakteristisch. Von Kinkel sind die Gedichte Abendstille, Abendmahl der Schöpfung, Gruß an mein Weib, Menschlichkeit113 und eine längere Passage aus Kinkels Versepos Otto der Schütz114 aufgenommen. An die Fülle der in Kurz’ knapp tausend Seiten starker Literaturgeschichte seit 1830 behandelten Autoren – neben bekannten wie Gustav Pfarrius, Franz Dingelstedt, Ferdinand Freiligrath und Georg Herwegh, werden auch heute weitgehend vergessene Autoren wie Karl Ludwig Pfau, Gustav Pfitzer, Hermann Lingg oder Robert Hamerling vorgestellt – reicht die von Adolf Stern besorgte Forstsetzung für die 1886 erschienene 22. Auflage von Vilmars Literaturgeschichte nicht heran.115 Auch Kinkel erhält hier nur eine halbe Seite. Inhaltlich knüpft Stern im Grunde an die schon bei Gottschall und Kurz angesprochene Diskrepanz zwischen Leben und Werk besonders im Horizont der ersten Gedichtsammlung an. Als einziger aber geht Stern, wenn auch nur sehr kurz, auf die Prosa Kinkels ein, von der er Kinkels soziale Erzählung Margret (1847) als hervorragend herausgreift und als »entscheidende[n] Beweis für das novellistische Talent dieses Poeten« anführt.116 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die zeitgenössische, öffentliche Wahrnehmung von Kinkel und seinen Werken in zwei grundlegend voneinander verschiedene Bereiche einteilen lässt: den einen Rezeptionsrahmen bilden öffentlichkeitswirksame Medien wie Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbücher, dem, wie hier gezeigt, die im frühen 19. Jahrhundert publikations- und gattungsgeschichtlich faßbare Literaturgeschichte gegenübersteht, die sich zu dieser Zeit auch gerade institutionell als akademische Disziplin zu etablieren begann.
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Vgl. Heinrich Kurz: Geschichte der neuesten deutschen Literatur von 1830 bis auf die Gegenwart. Mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller. Bd. 4. Leipzig 1872, S. 1–6. Ebd. Ebd. S. 213–214. Ebd., S. 420–422. Vgl. August Friedrich Christian Vilmar: Geschichte der deutschen National-Litteratur. Mit einem Anhang »Die deutsche National-Litteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart« von Adolf Stern. Zweiundzwanzigste Auflage. Marburg 1886. Ebd., S. 573; siehe zu dieser Erzählung in dieser Arbeit Teil II, Kapitel 2.3.3.
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Vom Liberalen zum Demokraten: Das intellektuelle Profil eines Dichters, Publizisten, Politikers und Hochschullehrers
2.1
»Und so war ich denn nach allen Seiten zum geistigen Darben verurtheilt«. Zum sozialen und regionalen Umfeld des jungen Kinkel
Als Gottfried Kinkel am 11. August 1815 im rechtsrheinischen, nicht weit von Bonn entfernten Oberkassel als drittes Kind117 des calvinistischen Pfarrers Gottfried Kinkel und seiner Frau Sibylla Marie geboren wurde, lag die für die territoriale Neuordnung des Reichsgebietes entscheidende Unterzeichnung der Schlussakte des Wiener Kongresses gut zwei Monate zurück. Für Kinkel, der während seines ganzen Lebens immer wieder und mit verschiedenen Publikationen und Herausgeberschaften seine Heimatverbundenheit und rheinische Herkunft thematisierte, war diese Befreiung von der französischen Herrschaft ein historisch und persönlich bedeutsamer Moment, den er rückblickend in seiner Autobiographie besonders hervorhebt: Ich habe es stets, und so noch heute, mit frohem Selbstgefühl anerkannt, dass ich nicht mehr unter französischer Herrschaft, sondern gleich als freier Deutscher das Licht der Welt erblickte.118
Nach der Revolution von 1848/49 sollte Kinkel ausgerechnet von jener preußischen Staatsmacht, durch deren militärische Stärke nicht zuletzt Napoleon besiegt werden konnte, gefangenen genommen und zum Hochverräter erklärt werden. Zahlreiche Lebensbeschreibungen, die vor allem jene zuletzt genannte Zeit besonders ausführlich darstellen, wurden schon in unmittelbarer Zeitgenossenschaft bzw. noch zu Kinkels Lebzeiten publiziert und dokumentieren das enorme Interesse an Kinkels Schicksal.119 Wenn auch manche dieser Darstellungen nicht nur von ihrer Schreib-
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Über einen schon früh (1809) verstorbenen, älteren Bruder ist nichts weiter bekannt und auch zu Kinkels sechs Jahre älterer Schwester – nicht zu verwechseln mit seiner späteren Frau – Elisabeth Johanna Kinkel fehlen am Ende des 19. Jahrhunderts Lebenszeugnisse. Gottfried Kinkel: Meine Kindheit, in: Die Gartenlaube 1873, S. 455–458, 470–473, 500–502, 520–522. Zu nennen ist hier an erster Stelle die zweibändige Biographie, die der mit Kinkel befreundete Adolph Strodtmann bereits 1850/51 vorgelegt hat. Vgl. Adolph Strodtmann: Gottfried Kinkel. Wahrheit ohne Dichtung. Biographisches Skizzenbuch. 2 Bde. Hamburg 1850–51; fast wie eine Prosa-Erzählung aufgebaut ist die Lebensbeschreibung von Adolph Streckfuß. Seine im Sinne einer Volksbildung didaktische Absicht betont der Verfasser gleich zu Beginn (S. 5), vgl. Adolph Streckfuß: Gottfried Kinkel. Sein Leben, sein Wirken. Dem Volke erzählt, in: Das Volks-Archiv. Eine Sammlung geschichtlicher Erzählungen aus der neuesten Zeit. Biographien berühmter Freiheitskämpfer, Bd. 1. Berlin 1851, S. 4–370; in ebensolcher Absicht verfasst ist der Beitrag von J.L. Hoffmann, den der Verfasser zunächst als Rede am 1.11.1850 – also noch vor Kinkels Befreiung aus dem Zuchthaus – im literarischen Verein in Nürnberg gehalten hat und diese für den Druck nicht mehr veränderte, vgl. J.L. Hoffmann: Gottfried Kinkel, in: Album des literarischen Vereins in Nürnberg für 1851, S. 82–136; auf den genannten Beiträgen aufbauend und
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motivation und -absicht her kritisch zu behandeln sind, sondern zudem auch noch oftmals fehlerhafte Angaben zu bestimmten Ereignissen und Daten verzeichnen, so sind sie doch mitunter wichtige Quellen, wenn es etwa um die Entstehungszeit einzelner Werke geht und werden daher auch in Teil II und III dieser Arbeit eine Rolle spielen. Wenn überhaupt etwas auf die spätere Hinwendung Kinkels zur aktiven Teilnahme am revolutionären Aufstand deutet oder zumindest als eine schlüssige Voraussetzung dafür betrachtet werden kann, so handelt es sich um sein Elternhaus. Wie fast alle Protagonisten der 1848-Revolution kam Kinkel aus einer bürgerlichen Familie, auch wenn er selbst betont, dem vierten Stand anzugehören, da erst sein Vater, Johann Gottfried Kinkel Sen., eine höhere Schule und schließlich die Universität besuchen konnte und nach verschiedenen anderen Stellen – unter anderem in Elberfeld – schließlich seit 1801 als Pfarrer mit der Gemeinde in Oberkassel betraut war.120 Mit dem evangelischen Pfarrhaus als Elternhaus verbindet sich nicht nur eine lange Liste bekannter deutschsprachiger Dichter seit Gryphius, sondern auch und daraus resultierend dessen Einschätzung als »seelisch-geistiger Mittelpunkt« für die Literatur- und Kulturgeschichte vor allem auch des 19. Jahrhunderts.121 Als »Chiffre für Bildung und Bürgerlichkeit, Familie und Nation«122 ist das Pfarrhaus in dieser Bedeutung etwa in Leopold von Rankes historischen Schriften über die Lutherzeit oder Wilhelm Heinrich Riehls kulturhistorischen Abhandlungen und Erzählungen greifbar und beileibe kein Konstrukt der Forschung.
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nach Kinkels Tod geschrieben: Otto Henne am Rhyn: Gottfried Kinkel. Ein Lebensbild. Zürich 1883; kritisch dazu, vor allem was die Darstellung der Kindheitsjahre anbelangt (dazu weiter unten ausführlich): Werner Hesse: Gottfried und Johanna Kinkel in Bonn, in: Bonner Archiv. Monatsschrift für die Geschichte Bonns und Umgegend 5 (1893), S. 9–13, 17–21, 25–29, 37–40, 52–56, 73–76, 81–84; etwas aus dem Rahmen fällt eine Publikation, die von einem gewissen R. Fidus stammt und sehr genau die Lebensumstände von Kinkel nachzeichnet, vom Untertitel her aber als »historische Novelle« verstanden sein will. Dass es sich bei dem Verfassernamen um ein Pseudonym handelt, ist zwar anzunehmen, konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Ebenso wenig wie – auch nach intensiven Nachforschungen – etwas über den Verfasser selbst in Erfahrung zu bringen ist, der nur noch eine historische Novelle aus dem sechzehnten Jahrhundert (Die Wendin. Historische Novelle. Cottbus 1865) hinterlassen hat, vgl. R. Fidus: Gottfried Kinkel. Historische Novelle. 2 Bde. Cottbus. 1863–1864. Vgl. die Übersicht in der grundlegenden Arbeit von Albert Rosenkranz: Das evangelische Rheinland. Ein rheinisches Gemeinde- und Pfarrerbuch. 2 Bde., hier Bd. 2: Die Pfarrer. Düsseldorf 1958, S. 256. Vgl. zum Thema mit weiterer Literatur den Aufsatz von Oliver Janz: Das evangelische Pfarrhaus, in: Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. Hg. von Etienne François und Hagen Schulze, hier Bd. III. 2., durchgesehene Aufl. München 2002, S. 221–238, bes. S. 221– 222; mit Konzentration auf Preußen, Ders.: Kirche, Staat und Bürgertum in Preussen. Pfarrhaus und Pfarrerschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Evangelische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Luise Schorn-Schütte und Walter Sparn. Stuttgart [u.a.] 1997 (Konfession und Gesellschaft, Bd. 12), S. 128–147, bes. S. 128–134. Ebd., S. 222.
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Im Gegensatz zu anderen rechtsrheinischen Gemeinden wie Honnef, Mondorf, Siegburg, Blankenburg, Troisdorf oder Lülsdorf, die Anfang des 17. Jahrhunderts zur Mülheimer Klasse der Bergischen Provinzial-Synode und politisch-territorial zum kurfürstlichen, pfälzisch-bayerischen Staat gehörten, konnten sich die Protestanten in Oberkassel auch über den Dreißigjährigen Krieg hinaus behaupten. Nur von 1607–1611 und noch einmal 1627–1644 war die Kirche in Oberkassel in katholischem Besitz. Durch diese herausragende Stellung auf der rechten Rheinseite und dem ehemaligen Gebiet des Herzogtums Berg wurde Oberkassel im 19. Jahrhundert zum Sammelplatz für viele rheinische Protestanten. Auch die (Neu-)Gründungen der protestantischen Gemeinden von Honnef und Beuel nahmen von Oberkassel aus ihren Ausgang.123 Die allergrößten Teile der Rheinlande waren indessen katholisch und der Protestantismus damit eine Minderheitenkonfession. Für das Jahr 1821 etwa verzeichnet die offizielle preußische Statistik für die Stadt Bonn und die umliegenden Dörfer bei einer Einwohnerzahl von insgesamt 37 909 gerade einmal 627 Protestanten.124 Die immer wieder thematisierte »Eigenart« des rheinischen Protestantismus resultiert allerdings weniger aus dieser Dominanz des Katholizismus im Rheinland noch lässt er sich reduzieren auf rein religiöse Konflikte innerhalb der verschiedenen Konfessionen des Protestantismus. Entscheidend für die Entwicklung der traditionell stark durch Selbstverwaltung geprägten protestantischen Gemeinden der Provinz Jülich-Kleve-Berg waren die Einmischungen des preußischen Staates, was sich nicht zuletzt in den langen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche(n) bis zur endgültigen Verabschiedung einer neuen Kirchenordnung für eine aus reformierten, lutherischen und unierten Gemeinden bestehenden preußischen Provinzialkirche widerspiegelt.125 Dieser Union ist Kinkels Heimatdorf allerdings erst am 30.6.1830 beigetreten,126 woran Kinkels Vater einen entscheidenden Anteil hatte: Mein Vater war im Festhalten an begründeten sowohl, als an vorgefaßten Meinungen sehr beharrlich. So hat er sich lange Jahre der Einführung der Union und Agende in Oberkassel widersetzt, welche von dem vorigen Könige so eifrig betrieben wurde.127
123Hierzu
Albert Rosenkranz: Das evangelische Rheinland. Ein rheinisches Gemeinde- und Pfarrerbuch. 2 Bde., hier Bd. 1: Die Gemeinden. Düsseldorf 1956, S. 130–131. 124Die Statistik, mit weiteren Zahlen zu den anderen Regierungsbezirken bei Johann Friedrich Goeters: Die Entstehung des rheinischen Protestantismus und seine Eigenart, in: Rheinische Vierteljahresblätter 58 (1994), S. 149–210, hier S. 154. 125Vgl. hierzu Goeters, Die Entstehung des rheinischen Protestantismus und seine Eigenart, 1994, S. 150–152; ferner den immer noch hervorragenden Beitrag von Klaus Goebel: Evangelische Kirchengeschichte seit 1815, in: Rheinische Geschichte in drei Bänden, hier Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Franz Petri und Georg Droege. Düsseldorf 1979, S. 413–464, bes. S. 417–423. 126 Vgl. Rosenkranz, Das evangelische Rheinland, Bd. 1, 1956 S. 130. 127 Kinkel, Meine Kindheit, 1873, S. 521.
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Für das dörfliche Milieu, in dem Kinkel aufgewachsen ist, spielte das konfessionelle Minderheitenbewusstsein keine große Rolle, da in Oberkassel wie etwa auch in Waldbröl, Gimborn oder – im Regierungsbezirk Düsseldorf – Elberfeld und Lennep die Protestanten in der Mehrzahl waren.128 Entscheidender war für ihn die religiöse Prägung hauptsächlich durch die Mutter. Die zweite Frau von Kinkels calvinistischem Vater, die dieser 1805 heiratete, war eine geborene Beekmann (Beckmann) und stammte aus der damals bedeutenden Industriestadt Barmen, die später mit dem nahegelegenen Elberfeld und anderen Städten zusammengeschlossen wurde. Die Region galt schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts als Zentrum der sogenannten (neu-)pietistischen Erweckungsbewegung im Rheinland. Die Rückbesinnung auf das Evangelium, auf praktische Aspekte christlicher Lebensweise und die Forderung nach geistiger Erneuerung auf der Grundlage eines von der Reformation her verstandenen Christentums war in Städten wie Elberfeld, wo »der ältere Pietismus ohne Unterbrechung lebendig geblieben war« und herausragende Prediger wie Gottfried Daniel Krummacher (1774–1837) wirkten, besonders stark ausgeprägt.129 Mit der Konzentration auf die Botschaft des Evangeliums nach pietistischer Lesart als richtungsweisende Vorgabe auch und gerade für die Alltagswelt ging eine bis zur Verteufelung reichende Ablehnung jeglicher Art von Kunst einher, die auch die Kindheits- und Jugendjahre Gottfried Kinkels kennzeichnete, worauf dieser in seiner Autobiographie eingeht. Kinkels Biograph Strodtmann charakterisiert den jungen Kinkel als ernst und in sich gekehrt. Kinkel habe aufgrund seiner Erziehung das äußere Leben als »Lockungen der Sünde« begriffen.130 In der Forschung hat sich durch Kinkels eigene Beschreibungen und Strodtmanns Darstellungen das Bild »der durch strenggläubigen Pietismus geprägten Atmosphäre des Elternhauses«131 gefestigt, wenn dies auch bisweilen noch in älteren Darstellungen relativiert wurde.132 In seiner Herausarbeitung der Entwicklung von Kinkels
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Vgl. die Statistik bei Goeters, Die Entstehung des rheinischen Protestantismus und seine Eigenart, 1994, S. 153–155. Vgl. zum Pietismus im 19. Jahrhundert vgl. den mit umfangreichem Quellenmaterial und Forschungshinweisen ausgestatteten Beitrag von Gustav Adolf Benrath: Die Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen 1815–1888. Ein Überblick, in: Geschichte des Pietismus. 4 Bde., hier Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Hg. von Ulrich Gäbler. Göttingen 2000, S. 150–271, zum Rheinland bes. S. 184– 194, Zitat, S. 186; ferner Goebel, Evangelische Kirchengeschichte, 1979, S. 423; Kinkel selbst erwähnt Krummacher in seiner Autobiographie im Zusammenhang mit dessen ebenfalls in Elberfeld wirkenden Onkel, vgl. Kinkel, Meine Kindheit, 1873, S. 501. Strodtmann, Gottfried Kinkel I, 1851, S. 27. Brandt-Schwarze, Nachlaß Gottfried und Johanna Kinkel, 2001, S. 25; Brandt-Schwarze bezieht sich hier vor allem auf die Zusammenfassung bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 30–32. Verwiesen sei hier auf den Beitrag von Werner Hesse, der aus dessen Nachlaß 1893 und 1894 publiziert wurde. Hesse war offenbar ein Bekannter der Familie Kinkel und wollte vor allem das bei Strodtmann in den Mittelpunkt gerückte Negativbild der Mutter korrigieren und stellt etwa auch Maria Kinkels Verdienste für die Gemeinde in Oberkassel
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ästhetischen Überzeugungen und seines Kunstbegriffes räumt Rösch-Sondermann hingegen gerade Kinkels Entfremdung vom pietistischen und orthodoxen Glauben der Eltern einen hohen Stellenwert ein und weist dies vor allem mit – immer noch ungedruckten – Tagebucheintragungen Kinkels aus seiner Schul- und Studentenzeit nach.133 Tatsächlich lässt sich der Konflikt zwischen dieser orthodoxen Erziehung und Kinkels schon früh erkennbarer Begeisterung etwa für das Theater oder die Schönen Künste auch an einigen Gedichten festmachen. Kinkels in diesem Zusammenhang aufschlussreiche autobiographische Texte Meine Kindheit und Meine Schuljahre sind in zweierlei Hinsicht interessant.134 Zum einen liefern sie wichtige Hinweise über die geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Zustände in seinem Elternhaus und in der Schule sowie zu seiner persönlichen Entwicklung. Zum anderen – und das wurde in der Forschung bisher nicht thematisiert – lassen sie sich von der Textgattung her im Kontext auch anderer, im Vor- und Nachmärz entstandener Autobiographien interpretieren und insofern auch wiederum Rückschlüsse auf die (literarische) Konstruktion von Kindheit und Jugend im Vormärz zu, was gerade in der jüngeren Forschung Beachtung gefunden hat.135 Auch wenn Kinkel hier seine Kindheits- und Jugenderinnerung mit dem Gestus der authentischen und objektiven Lebensbeschreibung präsentiert, so sind sie in ihrer retrospektiven Vergegenwärtigung im Medium der Künstlerautobiographie auch epochenspezifischen literar-ästhetischen oder poetologischen Vorstellungen unterworfen. Darüber hinaus sind gerade die jungen Jahre als Lebensphase ohnehin »das Resultat einer sozialen Definition«136 und »damit in historisch variable Kontexte eingebettet«,137 was sich in hohem Maße auch in den verschiedenen Auffassungen und literarischen Darstellungen von Jugend bemerkbar macht. Das ändert freilich nichts an ihrem potentiellen Informationswert für die Nachwelt. Im Gegenteil. Zwar bleibt die Problematik des fiktionalen Status des Erzählten in der Autobiographie als rückblickend angelegte Lebensgeschichte, die einen kohärenten
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dar. Allerdings stellt er ihre ›Kunstfeindlichkeit‹ auch nicht in Frage, vgl. Hesse, Gottfried und Johanna Kinkel, 1893/94, bes. S. 10–12 u. 18. Vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 29–35, bes. S. 34; dort auch die entsprechenden Zitate aus den Tagebüchern. Zitiert wird wie schon oben aus dem Abdruck in der Gartenlaube; beide Texte (Meine Kindheit und Meine Schuljahre) liegen auch in einer Neuausgabe vor vgl. Gottfried Kinkel: Meine Kindheit. Meine Schuljahre. Bonn-Oberkassel 1982 (Schriftenreihe des Heimatvereins Bonn-Oberkassel e.V., Bd. 4). Dazu der Sammelband, dessen Beiträge Kindheit und Jugend im Vormärz aus den Blickwinkeln verschiedener Disziplinen und unterschiedlicher Fragestellungen thematisieren, vgl. Rainer Kolk (Hg.): Jugend im Vormärz. Bielefeld 2007 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 12, 2004); auf einzelne Aufsätze wird noch im Folgenden verwiesen. Stefan Ruppert: Jugend im Vormärz: Zur Formierung einer Lebensphase aus rechtshistorischer Sicht, in: Jugend im Vormärz. Hg. von Rainer Kolk. Bielefeld 2007 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 12, 2004), S. 49–64, hier S. 49. Rainer Kolk: Die Jugend der Moderne, in: Jugend im Vormärz. Hg. von Rainer Kolk. Bielefeld 2007 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 12, 2004), S. 11–24, hier S. 11.
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Handlungsverlauf unterstellt, auch für die beiden Texte Kinkels virulent. Doch ist besonders diese – wenn auch möglicherweise konstruierte – Kohärenz zumindest für seine späteren Handlungsmotivationen und Überzeugungen besonders erhellend.138 Entstanden sind die beiden Texte im Winter 1849/1850 im Zuchthaus zu Naugard, wo Kinkel vom Direktor der Anstalt angehalten wurde, seine Erinnerungen an seine frühen Jahre niederzuschreiben. Die späte Publikation in der Gartenlaube (1873) erklärt Kinkel in einem Schreiben an die Redaktion mit der Rücksichtnahme auf involvierte Personen, namentlich auch des ihn ausgesprochen zuvorkommend behandelnden Zuchthausdirektors.139 Bezeichnenderweise markiert kein Glockenschlag den Anfang des Textes noch wird Kinkels familiäres Umfeld beschrieben, wie es für die auf das Individuum in stärkerem Maße konzentrierten Autobiographien der Goethezeit und Romantik symptomatisch ist. Vielmehr geht es Kinkel um eine präzise Erschließung und Beschreibung seines Geburtsortes in regionaler, territorialer, konfessioneller, sozialer und auch geographisch-geologischer Hinsicht: Mein Geburtsort, das Dorf Oberkassel, welches hart am Rheinufer im Siegkreise der preußischen Rheinprovinz liegt, ist gewiß, und nicht bloß in meiner Erinnerung, einer der lieblichsten Erdflecke, die es giebt. Malerisch zwischen Obstbäumen seine Häusergiebel erhebend, ruht es an einer von schroffen Basaltfelsen überstiegenen Berglehne, die einen nördlichen Ausläufer des unvergleichlichen Siebengebirges bildet. In einer Stunde erreicht man von hier Königswinter, in zweien ersteigt man den Gipfel des sagenberühmten Drachenfelsens. Noch näher winkt vom jenseitigen Rheinufer der runde Thurm des Godesberges, und ein leichter Marsch eines Sommernachmittags führt von dort nach Nonnenwerth und dem Rolandseck, dessen eingestürzten Bogen jüngst ein deutscher Dichter neu gewölbt hat. Mehr stromabwärts, wiederum in einer Stunde erreichbar, liegt auf dem jenseitigen Ufer das freundliche Bonn, und nach dieser Seite weitet sich nun das bis dahin von Felsen verengte Rheinthal in die große norddeutsche Ebene aus. […] Ueber meiner Heimath, zwischen Wald, Weinberg und Getreidefeldern, zieht sich durch das nahe Dörfchen Berghausen ein Fahrweg hin, der im weiteren Fortlauf zum höhern Bergland emporsteigt. Dort möchte’ ich zumal den nordischen Wanderer unerwartet hinstellen, um ihm mit Einem Blicke die Herrlichkeit und ganz unerschöpfliche Segensfülle meines Rheinlandes überschauen zu lassen! Ein tüchtiges Menschengeschlecht bewohnt diesen Theil des rechten Rheinufers. Eine Meile unterhalb Oberkassel strömt die Sieg ihre blauen, oft wilden Bergwasser in weitem Kiesbette dem Rheine zu. Die Anwohner der Sieg sind wie ihr herrlicher Bergfluß, kühl und klar in ruhiger Zeit, aber auch wie er schäumend und tiefwühlend, wenn ein Gewitter die Strudel schwellt. Sie haben den stolzesten Stammbaum unter allen Deutschen: es sind ja die Nachkommen der trotzigen Sigambern, die der römischen Eroberung am Rheine beständig eine Grenze gesetzt haben. […]140
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Vgl. zu diesem Komplex – allerdings ohne Bezugnahme auf Kinkel – den Aufsatz von Wolfgang Beutin, im Anhang mit einer kommentierten Auswahl wichtiger SchriftstellerAutobiographien der Vormärzzeit. Wolfgang Beutin: Jugend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand von Künstlerautobiographien, in: Jugend im Vormärz. Hg. von Rainer Kolk. Bielefeld 2007 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 12, 2004), S. 89–136. Vgl. Kinkel, Meine Kindheit, 1873, S. 455. Kinkel, Meine Kindheit, 1873, S. 455.
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Als paradigmatisches, die Textgattung prägendes Beispiel für diese Akzentverschiebung vom Ich auf den Lebenskreis vor allem in den 1840er Jahren können die Memorabilien (1840/1843) von Karl Immermann betrachtet werden, wenngleich der intertextuelle Anspielungshorizont von Goethes Dichtung und Wahrheit an vielen Stellen deutlich zutage tritt.141 Erst nach diesem langen Abschnitt spricht Kinkel seine Familienverhältnisse an und betont die »proletarische« Abstammung des Vaters, was in seiner pointierten Formulierung freilich nicht jenes kämpferischen Tones entbehrt, der teilweise seinen Reden vor, während und unmittelbar nach der Revolution von 1848/49 eigen war. Und so bin ich denn von Vater und Mutter her ehrenhafter und arbeitsamer Leute Kind. Kein Tropfen vom Blute der Aristokratie fließt in meinen Adern, und mein günstiger Stern hat die fleißige Armuth als Wärterin an meine Wiege gestellt. Nicht durch Wahl und künstlichen Entschluß, sondern durch Stamm und Blut gehöre ich dem Stande an, dem die Weltherrschaft gebührt und zufallen wird: dem vierten Stande, und als diesem Stande unbestechlich angehörend empfinde ich mich mit Stolz.142
Das hier zum Ausdruck gebrachte Klassenbewusstsein mag man mitunter als pathetische Selbststilisierung eines Autors betrachten. Auf die Ernsthaftigkeit aber, mit der Kinkel zu dieser Zeit (noch) an die Verbesserung der Lebensumstände des vierten Standes glaubte und dafür zuvor auch aktiv eingetreten war, weist das Ende seiner nur wenige Monate vorher im Zuchthaus zu Rastatt entstandenen Erzählung Die Heimatlosen (1849) hin, die in Teil II (Kapitel 2.3) dieser Arbeit ausführlich behandelt wird. Abgesehen von dieser im Nachhinein hervorgehobenen Klassenzugehörigkeit war Kinkels Kindheit und Jugend von elterlicher Seite schon früh auf sein späteres Studium der Theologie in der Nachfolge des Vaters ausgerichtet. Bereits mit sechs Jahren erhielt er vom Vater regelmäßigen Unterricht im Lateinischen und anderen Sprachen der »hohen Vorwelt«, die der Vater selbst allerdings nicht erlernt habe, »um in ihnen den Schlüssel zur Erkenntniß eines durch Freiheit und Bildung erhabenen Menschengeschlechts zu gewinnen«.143 Auch hebt Kinkel besonders die weiter oben schon beschriebene regionale Prägung des Vaters hervor. So habe der Vater »stets in solchen Landschaften gelebt, die vom Rationalismus des vorigen Jahr-
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Günter Niggl spricht sogar im Zusammenhang mit Immermanns Memorabilien von einem »neuen Typus« (S. 20) der Autobiographie, der sich in den 1840er Jahren etabliert habe und verbindet seine These auch mit dem epochalen Spannungsfeld der Frage um Abgrenzungen von verschiedenen Prosagattungen. Mit Verweis auf Friedrich Theodor Vischer und Friedrich Spielhagen skizziert Niggl deren Ablehnung von Dichtung bzw. Erdichtetem in der Autobiographie, die sich vornehmlich gegen Goethe richtete. Vgl. Günter Niggl: Die deutsche Autobiographie in der Restaurationszeit. Ein Überblick, in: Immermann-Jahrbuch 4 (2003), S. 13–22; ferner Jürgen Lehmann: Polyphone Historiographie. Zur Entwicklung der Autobiographie im 19. Jahrhundert am Beispiel von Immermanns »Memorabilien«, in: Immermann-Jahrbuch 5 (2004), S. 27–37. Kinkel, Meine Kindheit, 1873, S. 456. Vgl. hierzu Kinkel, Meine Kindheit, 1873, S. 473, Zitate S. 500.
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hunderts unberührt geblieben waren« und sei »so vollständig orthodox [gewesen], als ob Lessing und Semler nie in der Welt gewesen wären«:144 Die richtige Nahrung und Ableitung meiner blühenden Phantasie wäre die Dichtung gewesen, wenn man sie als Märchen oder Erzählung meinem dürstenden Geiste geboten hätte. Allein vor aller weltlichen Poesie hatte man in unserm Hause den tiefsten Abscheu, und kein Literaturwerk verlief sich unter die pergamentenen Holländer des Vaters oder die Andachtsbücher der Mutter. Romane lesen galt für den Ausbund sittlicher Verdorbenheit, das Theater und somit auch jedes dramatische Werk für eine teuflische Erfindung, womit sich der Christ nicht beflecken dürfe.145
Einzig die Bibel-Lektüre war dem jungen Kinkel erlaubt. Wie bei vielen anderen Vormärz-Autoren nimmt diese gründliche, schon früh von den Eltern geförderte theologische Bildung für das Verständnis seiner späteren Werke einen zentralen Stellenwert ein. Die bei Kinkel immer stärker an Kontur gewinnende Kritik am Christentum ist daher nicht alleine und einseitig als Abwendung vom noch von den Eltern praktizierten Glauben zu verstehen. Gerade die intertextuellen, oftmals biblischen Bezüge, die Anspielungen und Um- bzw. Neudeutungen von wichtigen christlichen Wertvorstellungen und Zentralbegriffen in Gedichten und Prosatexten der Vormärz-Zeit machen die schöpferische Relevanz jener christlichen Erziehung sichtbar: Die Bibel war uns überhaupt zum Lesen unbeschränkt überlassen: den sittlichen Roman hielt man für gefährlich, aber das alte Testament schien für Kinder unbedenklich. Da meine Lesewuth also überall eingedämmt war, strömte sie unaufhaltsam auf die Geschichtsbücher der Bibel hin, und ich erwarb mir darin eine Belesenheit und Stellenkenntniß, die mich später in meinen theologischen Studien sehr gefördert hat. Hier half es nichts, dass man mir den Soldatenstand gehässig gemacht hatte, sondern mit wahrer Begeisterung las ich die Kriegsthaten des auserwählten Volkes. Die Gründung der ersten Bundesrepublik unter den Richtern entzückte mich; aber Flammen warf in meine Seele der heldenmüthige, nach schmerzlichen Opfern zuletzt siegreiche Guerillakrieg der Makkabäerbrüder, um den väterlichen Freistaat aus der vom Auslande her aufgedrungenen Monarchie wieder herzustellen. Aus dem alten Testamente erwachten mir überhaupt die ersten geschichtlichen Begriffe von dem, was ein Volk, ein Staat und eine Staatsveränderung sei, und die großen Umwälzungen der vorderasiatischen Reiche dämmerten mit einiger Klarheit in meiner Seele auf. 146
Freilich können die Bemerkungen zum alttestamentarischen, »zuletzt siegreichen Guerillakrieg« als historisches exemplum vor dem zeitgenössischen Anspielungshorizont der noch nicht verloren gegebenen Revolution verstanden werden, was zu der durchaus berechtigten Frage führt, ob das biblische Bildungserlebnis nun in der Retrospektive überzeichnet oder tatsächlich vom jungen Kinkel so erlebt und empfunden wurde. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, dass Kinkel an dieser
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Ebd., S. 501. Ebd., S. 473. Ebd., S. 501.
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Stelle und nicht ohne ironischen Seitenhieb auf die Bedenkenlosigkeit der Eltern die politische und soziale Sprengkraft ihm schon als Kind bekannter biblischer und christlicher Stoffe veranschaulicht, was er in einigen Gedichten und vor allem in seinem Drama Nimrod (1857) literarisch fruchtbar gemacht hat. Mit dieser im Elternhaus schon erworbenen Vorbildung wurde Kinkel nach Ostern 1825 in das Bonner Gymnasium eingeschult und legte dort im Sommer 1831 das Abitur ab. Während der ganzen Jahre bewohnte Kinkel bis zum Wechsel an die Universität ein Zimmer im Haus der Familie des Gerichtsvollziehers Bücheler und war zum ersten Mal nicht mehr unmittelbar dem Einfluß der Eltern ausgesetzt.147 Das änderte sich indessen, als er mit dem Beginn seines Studiums der evangelischen Theologie wieder zu den Eltern zog, die mittlerweile – der Vater hatte die Pfarramtsstelle in Oberkassel niedergelegt – nach Bonn übergesiedelt waren.148 Nach der schon 1815 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. in Aussicht gestellten Gründung und rasch vorangetriebenen Realisierung einer rheinischen, von Anfang an auf konfessionelle Parität ausgerichteten Universität – auch als ›Ersatz‹ für die 1798 von den Franzosen geschlossene traditionsreiche Kölner Hochschule – gründete sich der gute Ruf der Bonner Universität in den ersten beiden Jahrzehnten hauptsächlich auf den Fächern romanische Philologie, Physiologie, Botanik und nicht zuletzt der evangelischen Theologie, deren Vertreter oftmals Rufe an andere renommierte Hochschulen erhielten. Schon früh verbanden sich mit der Bonner Universität auch prominente Namen ›politischer Professoren‹ wie Ernst Moritz Arndt oder die Brüder Carl Theodor und Friedrich Gottlieb Welcker, die wegen ihrer politisch liberalen Einstellungen mit den preußischen Ordnungswächtern in Konflikt gerieten und wie Arndt von ihrem Amt suspendiert wurden. Bevor es soweit kam, wechselte Carl Theodor Welcker an die Freiburger Universität. Als Kinkel sein Studium im Wintersemester 1831/1832 begann, war die endgültige Universitätssatzung gerade einmal vier Jahre alt. Auf die Fakultätsstatuten konnte man sich sogar erst 1834 bei Kinkels Weggang nach Berlin einigen.149 Kinkels Studienbeginn fiel gerade in die Zeit sinkender Studentenzahlen und nachlassender Attraktivität der seit 1828 offiziell den Namen Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität tragenden Bonner Hochschule, was zwar hauptsächlich auf die Auseinandersetzungen an der katholischen Fakultät um die Lehren ihres ehemaligen, bereits am 26. Mai 1831 verstorbenen Lehrstuhlinhabers Georg Hermes zurückzuführen ist, doch mithin auch Auswirkungen auf die Studierendenzahlen an der evangelischen Fakultät hatte.150
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Vgl. Kinkel, Meine Schuljahre, 1873, S. 44. Brandt-Scwharze, »Der Maikäfer« (Kommentar), 1991, S. 25. Einen knappen Überblick mit weiterer Literatur bietet Kurt Düwell: Das Schul- und Hochschulwesen der Rheinlande, in: Rheinische Geschichte in drei Bänden, hier Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Franz Petri und Georg Droege. Düsseldorf 1979, S. 465–552, bes. S. 499–504. Vgl. hierzu Düwell, Das Schul- und Hochschulwesen, 1979, S. 501.
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Neben seinen theologischen Studien besuchte Kinkel mit zunehmendem Interesse Vorlesungen und Kollegien in der Archäologie und der Philosophie. Schon hier deutet sich jener Wandel in Kinkels akademischem Weg an, der ihn vom Theologen zum Literatur- und Kunsthistoriker führen und mit dem späteren Fakultätswechsel besiegelt werden sollte. Doch betrieb Kinkel seine theologischen Studien durchaus mit ernsthaftem Interesse, was Hermann Rösch-Sondermann anhand von Kinkels immer noch unpublizierten Tagebüchern dieser Zeit hinlänglich nachweisen konnte. Charakteristisch für sein Verhältnis zur Theologie und zum Christentum blieb die an vielen Stellen auch explizit thematisierte Auseinandersetzung mit seiner pietistisch geprägten Erziehung.151 Welch starken Einfluß der fromme, gleichzeitig aber auch strenge und gegen alles Künstlerische und Sinnliche negativ eingestellte Glaube der Mutter noch auf den jungen Studenten hatte, dokumentieren die Tagebucheinträge mit bedrückender Anschaulichkeit, wenn etwa Kinkel am 11. Dezember 1833 »stolz, sinnlichkeit und heftigkeit«152 als die drei Feinde seines Gemütslebens bezeichnet. Bezeichnenderweise wurde dieser für Kinkels spätere ästhetische und kunstkritische Schriften aber auch für sein literarisches Schaffen überhaupt wichtige Wandel in seiner Auffassung des Christentums begleitet von einer zunehmenden Begeisterung für die Bildende Kunst, namentlich für die Düsseldorfer Malerschule, auf die Kinkel bereits im Frühjahr 1834 aufmerksam geworden war, was Rösch-Sondermann ebenfalls anhand der Tagebücher nachweisen konnte153 und auch durch die von Edith Ennen edierten Jugendbriefe noch untermauert wird.154 Die stilistische Ausrichtung der nach dem Niedergang unter französischer Herrschaft 1819 neu gegründeten Düsseldorfer Akademie war zunächst vom nazarenischen Kunstideal der beiden ersten Direktoren, Peter von Cornelius (1819–1826) und Wilhelm von Schadow (1826–1859) geprägt.155 Die schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirkungsmächtige Malerschule und Künstlervereinigung der auch als Deutschrömer bezeichneten Nazarener weist neben ihrer Rückbesinnung auf patriotische Sujets
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Vgl. zur Bonner Studienzeit Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 34–44, dort auch zahlreiche und symptomatische Zitate aus den Tagebüchern. Der Eintrag ist abgedruckt bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 36. Ebd., S. 60. Vgl. den Brief an Ferdinand Weiß in Berlin vom Herbst 1835, abgedruckt bei Ennen, Unveröffentlichte Jugendbriefe, 1955, S. 49–51. Zu den Nazarenern als Überblick vgl. Hubert Locher: Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2005, bes. 16–27, zur Düsseldorfer Malerschule, bes. S. 68–81; ferner den hervorragenden Düsseldorfer Katalog von 1979, hier besonders der Beitrag von Ekkehard Mai: Die Düsseldorfer Malerschule und die Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Die Düsseldorfer Malerschule. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Düsseldorf vom 13. Mai–8. Juli 1979 und Mathildenhöhe Darmstadt vom 22. Juli–9. September 1979. Hg. von Wend von Kalnein. Mainz 1979, S. 19–40.
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auch im Hinblick auf kunsttheoretische Überlegungen und Positionen deutliche Parallelen zur romantischen Dichtung auf.156 Nach der Julirevolution von 1830 wurden die mit ihr verbundenen politischen Forderungen und kritisierten sozialen Verhältnisse auch für die Frage nach der Funktion und dem Verständnis nicht nur der Literatur, sondern eben auch der Bildenden Kunst diskutiert. Neue Akzente und Maßstäbe an der Düsseldorfer Akademie setzte der 1808 in Breslau geborene und von Kinkel besonders geschätzte Carl Friedrich Lessing. Dessen realistischere Auffassung von Natur und Landschaft, die Vermischung etablierter Gattungen und vor allem seine Vorstellung einer als Spiegelung der zeitgenössischen Realität interpretierbaren Geschichte erntete von Schadow heftige Kritik, die gleichwohl seinen Aufstieg zu einem der prominentesten Maler der Düsseldorfer Schule vor allem in den 1840er Jahren nicht verhindern konnte.157 Die programmatische Hinwendung auch zur Darstellung zeitgenössischer sozialer Realität, wie sie bei Lessing, Johann Peter Hasenclever, Andreas Achenbach, Adolph Schroedter und schon in den späten 1830er Jahren in den sogenannten »Tendenzbildern« Wilhelm Joseph Heines zu beobachten ist, steht letztlich in der Tradition des Realismus in der zeitgenössischen belgischen Malerei, die Kinkel in den 1840er Jahren auch in vielen Beiträgen der Augsburger Allgemeinen Zeitung besprechen sollte. Daneben beförderte eine solche realistische Malereiauffassung auch die Möglichkeiten zur politischen Kritik, wie sie etwa in Heines Erfolgsbild Gottesdienst in der Zuchthauskirche (1837) zum Ausdruck kommt, in dem indirekt die Frage der politischen Gefangenen thematisiert wird.158 Kinkel schätzte zwar mit Wilhelm von Schadow auch die Anfänge und Herkunft der Düsseldorfer Akademie aus dem Geiste der Nazarener. Doch verteidigt er in einem Tagebucheintrag vom März 1836 das von Schadow kritisierte monumentale Gemälde Die Hussitenpredigt (1836) von Carl Friedrich Lessing aus dessen Zyklus
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Zur Verbindung dichtungs- und kunsttheoretischer Positionen Jochen Hörisch: Ut Poesis Pictura – Korrespondenzen zwischen der Düsseldorfer Malerschule und der romantischen Dichtung, in: Die Düsseldorfer Malerschule. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Düsseldorf vom 13. Mai–8. Juli 1979 und Mathildenhöhe Darmstadt vom 22. Juli–9. September 1979. Hg. von Wend von Kalnein. Mainz 1979, S. 41–47. Zu Lessing vgl. Mai, Die Düsseldorfer Malerschule, 1979, S. 27; zu den Vertretern der Düsseldorfer Malerschule liegt ein vorzügliches, mit hervorragenden Abbildungen ausgestattetes biographisches Lexikon vor. Hier auch der Artikel zu Lessing von Wilhelm Schlink, in: Lexikon der Düsseldorfer Malerschule 1819–1918. In drei Bänden. Hg. vom Kunstmuseum im Ehrenhof und von der Galerie Paffrath in Düsseldorf, hier Bd. 2. München 1998, S. 326–332; zu Kinkels Verhältnis zur Düsseldorfer Malerschule auch Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 55–78. Zur Entwicklung der Düsseldorfer Malerei ab den 1840er Jahren und der belgischen Tradition des Realismus vgl. Hanna Gagel: Die Düsseldorfer Malerschule in der politischen Situation des Vormärz und 1848, in: Die Düsseldorfer Malerschule. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Düsseldorf vom 13. Mai–8. Juli 1979 und Mathildenhöhe Darmstadt vom 22. Juli–9. September 1979. Hg. von Wend von Kalnein. Mainz 1979, S. 68–85; zu Heines Erfolgsbild auch Locher, Deutsche Malerei, 2005, S. 79.
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über Johann Hus mit dem Hinweis, dass eine neue Zeit auch eine neue Kunst fordere: […]Schadow soll Lessings Hussitenpredigt: »allzu protestantisch« genannt haben. Aber es ist doch ein keim des glaubens gelegt. Ein neuer, großer geist muß komen, der eine ganz neue richtung des religiösen lebens gründet, wie sich eine solche nun allgemach in der poesie anbildet – oder die akademie wird zerfallen, wie dieß manche maler selbst freimüthig als ihre eigenen meinung bekannten. Denn ich selber gestehe […], dass in dieser einseitigkeit die schule nicht lange mehr blühen wird. Romantik ist alles: tausend komposizionen aus Uhland. Alles mittelaltrig aufgefaßt – treu und wahr, man kann’s nicht leugnen, aber die zeit fordert etwas andres, oder sie wird etwas andres bald fordern; für mich fehlt zu sehr der gedanke. Doch mir selbst ist es unklar, was ich will, und ich wüsste keinen andern weg zu bestimmen, den die kunst gehen soll. Nur das ist mir klar geworden, dass auch andre deutsche schulen ein recht zu existiren haben.159
Es sollte nicht übersehen werden, dass Kinkels Äußerungen sich hier zwar vornehmlich auf die künstlerische Ausrichtung der Düsseldorfer Akademie beziehen, doch im Kern auch eine implizite, religionsgeschichtlich zu verstehende Forderung nach einer ›neuen Reformation‹ für die Gegenwart enthalten. Neben der später von ihm mehrfach vorgetragenen Romantik-Kritik weist dieser Tagebucheintrag auch schon auf Kinkels grundsätzliche kulturgeschichtliche Sicht auf das (protestantische) Christentum als »kulturtragender Kraft«160 mit durchaus sozial-revolutionärem Potential hin, zu der er in seinen Bonner Studienjahren gefunden hatte. In dieser Tatsache zeigt sich einmal mehr, dass mit Kinkels Abwendung vom pietistischen Glauben der Mutter – zumindest noch in diesen Jahren – nicht zwangsläufig eine generelle Absage an das Christentum verbunden war. Auch der von Rösch-Sondermann als entscheidend für die weitere Entwicklung Kinkels herausgestellte Wechsel an die theologische Fakultät in Berlin vom Oktober 1834 bis zum August 1835 unterstützt diese Einschätzung, da sich Kinkel dort weiterhin intensiv mit Religions- und Glaubensfragen auseinandersetzte. Das geistige Klima der Berliner Theologie war nach dem Tode Friedrich Schleiermachers im Februar 1834 noch in beträchtlichem Maße von dessen Lehre beeinflusst. Schleiermachers Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl war August Detlef Christian Twesten. Er verfolgte die von Schleiermacher vorgegebene Richtung weiter und war mit seiner sogenannten Vermittlungstheologie um die Versöhnung von christlicher Tradition und moderner Wissenschaft bzw. Philosophie bemüht. In Kinkels Tagebucheinträgen finden sich indessen noch Reflexe theologischer Streitpunkte, die bis ins zweite Drittel des 19. Jahrhunderts wirksam blieben, wenn er etwa an einer Stelle davon
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Abgedruckt der Eintrag vom 28. März 1836 bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 488. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 80.
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spricht, dass es sein »höchster Wunsch« sei, »razionalist zu sein«, er aber zugleich auch »supranaturalist u. mystiker, auch nöthigenfalls pietist« sei.161 Die von älteren Darstellungen unterstellte Annahme, Kinkel habe sich in Berlin nur flüchtig mit Schleiermachers Theologie beschäftigt, konnte Rösch-Sondermann wiederum durch die Auswertung der Tagebücher und Briefe korrigieren.162 Schleiermachers Verbindung von Philosophie und Theologie, sein Ansatz, das Individuum in seinem Verhältnis nicht nur zur Religion und zu Gott, sondern auch im Hinblick auf seine irdisch-sinnlichen Bedürfnisse und natürlichen Anlagen ernst zu nehmen, beeindruckten und prägten Kinkel nachhaltig. In der Konsequenz führte dies zum endgültigen Bruch mit seiner pietistischen Erziehung, wie der bei RöschSondermann abgedruckte Brief an die Mutter wohl aus den ersten Monaten der Berliner Zeit in exemplarischer Weise verdeutlicht. Nachdem er die prinzipiell unterschiedlichen Zugangsweisen und die Bedeutung des Christentums für sich und seine Mutter – auf der einen Seite die »thätige christin« auf der anderen Seit der »wissenschaftliche theologe« – thematisiert kommt er auf den für ihn offenbar schon den Rang einer Identifikationsfigur einnehmenden »großen meister deutscher theologie«,163 Schleiermacher, zu sprechen: Er hat es bewährt, wie christenthum und freisinnigkeit sich nicht ausschließen, und sehr viel ansichten, die sich mir ohne die mindeste kenntniß seines systems gebildet hatte, habe ich wunderlicher weise bei ihm wiedergefunden.164
Die bei Schleiermacher wiedergefundene »Freisinnigkeit« besaß für Kinkel neben der theologischen und philosophischen Dimension freilich auch eine ganz praktische: Er gab sich nun auch freimütig seiner Leidenschaft für die Bildende Kunst hin und besuchte zahlreiche, vom Elternhaus grundsätzlich verworfene Theateraufführungen. An dieser Einstellung änderte sich auch nichts mehr, nachdem Kinkel im Herbst 1835 aufgrund einer schweren Erkrankung der Mutter nach Bonn zurückkehrte, die bald danach, am 12. November 1835, starb. In die Zeit seines zweiten Bonner Studienaufenthaltes fällt auch der Tod des Vaters am 27. Februar 1837. Knapp zwei Monate später, im April 1837 beendete Kinkel sein Studium mit dem Lizenziatenexamen und der Promotion zum Doktor der Theologie.
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Abgedruckt bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 39; ein wenig später finden sich allerdings deutliche Absagen an die von Ernst Wilhelm Hengstenberg – bei dem Kinkel Seminare besuchte – vertretenen supranaturalistischen Positionen (hierzu ebd., S. 50). Vgl. dazu Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 41–47, bes. S. 41. Zitate aus eben diesem Brief, den Rösch-Sondermann zurecht in die Berliner Zeit datiert, Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 484; zur Datierung S. 40. Ebd., S. 484–485.
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2.2
Von der Theologie zur Kunst und Literatur: Lehrjahre in der preußischen Rheinprovinz
Seinen »Seelenzustand« nach der Rückkehr aus Italien im April 1838 beschreibt Kinkel zwar als »furchtbar« und erinnert sich angesichts der kalten Witterung gerne an die »Mandel- und Pfirsichblüten in Rom und Neapel«,165 doch scheint dies weniger einer längst zur Phrase gewordenen Italiensehnsucht als vielmehr den Zweifeln an seiner akademischen Bestimmung und seinen Befürchtungen, welche Resonanz seine neuen Lehrveranstaltungen finden würden, geschuldet. Die in jeder Hinsicht ernüchternden Erfahrungen mit seiner ersten Vorlesung als Privatdozent noch vor der Italienreise im Sommersemester 1837 sollten sich wiederholen.166 In seiner Selbstbiographie äußerst sich Kinkel enttäuscht darüber, dass man ihm mangels Publikum nur eine »zweistündige unbedeutende« Vorlesung überantwortet habe. Auch kritisiert er »die geistlose Gleichgültigkeit der Bonner Studenten«.167 Nachdem er im Herbst eine ihm von dem Botaniker Theodor Vogel überlassene Dienstwohnung im Poppelsdorfer Schloß im gleichnamigen Bonner Stadtteil bezogen hatte, hielt Kinkel bereits zwei Lehrveranstaltungen168 ab, die bei den Studenten und einem interessierten Laienpublikum zumindest größeren Anklang fanden als seine erste Vorlesung. Dies wurde auch vom Ministerium wahrgenommen, das Kinkels Gehalt daraufhin auf 150 Taler heraufsetzte. Das von der Forschung und den zeitgenössischen Darstellungen immer wieder herausgehobene Redetalent Kinkels und sein Bedürfnis, im öffentlichen Raum der Universität – oder später im Rahmen revolutionärer Kundgebungen und den Verteidigungsreden vor Gericht – wirken und Aufmerksamkeit erzielen zu können, deutet sich bereits hier an. Kinkel nahm seine Lehrtätigkeit und Forschungen an der Theologischen Fakultät zum Sommersemester 1838 wieder auf und arbeitete nebenbei noch aus finanziellen Gründen als Religionslehrer am Bonner Gymnasium und am Thormannschen Mädcheninstitut. Im Spätherbst gab er die Verlobung mit Sophie Boegehold bekannt. Sie war die der Schwester seines langjährigen Studienkollegen und Schwagers Wilhelm Boegehold, in dessen ebenfalls pietistisch geprägtem Elternhaus Kinkel fortan oft verkehrte. Dennoch blieben die Italienreise und die dort gewonnenen Eindrücke der antiken aber auch christlichen Kunstwelt nicht ohne Bedeutung für Kinkels weiteren Lebensweg und sein Verhältnis zum Christentum.169
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Gottfried Kinkel: Selbstbiographie 1838–1848. Hg. von Richard Sander. Bonn 1931 (Veröffentlichungen aus der Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Bonn), S. 1. Eine Übersicht zu Kinkels Lehrveranstaltungen auf der Grundlage der erhaltenen Bonner »Lektionskataloge« bietet Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 460–464, hier S. 460. Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 2. Kinkel las im Sommersemester 1838 über Die drei Briefe des Johannis und Das Leben Jesu, vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 460. Wilhelm Boegehold hatte Kinkels Schwester Johanna bereits wenige Monate zuvor geheiratet. Vgl. hierzu Hesse, Gottfried und Johanna Kinkel, 1893, S. 28; Zu Kinkels Tä-
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Symptomatisch für ›Italienerlebnisse‹ im Vormärz und bezeichnend auch für Kinkels spätere Publikationen, die sich der Reiseliteratur zuordnen lassen, ist ganz allgemein zunächst die programmatische (Rück-)Besinnung auf das eigene Vaterland. Dies hat in erster Linie nichts mit einer Geringschätzung Italiens zu tun. Wie etwa auch im Falle von Gustav Nicolais berühmter Darstellung Italien wie es wirklich ist (1834), die oftmals auch zu einseitig aus diesem Blickwinkel betrachtet wird, kann dies vor allem bei Autoren und deren Werken beobachtet werden, die, wenn nicht schon früher, in den 1840er Jahren und dann auch in der Revolution politisch in Erscheinung getreten sind. Im Falle von Kinkel lässt sich dieser Bedeutungswandel der Italienreise auch daran festmachen, dass er für sein italienisches Reisetagebuch eben keine Buch- oder Zeitschriftenpublikation vorgesehen hat und seine späteren Veröffentlichungen Vom Rhein (1846) und Die Ahr (1846) diese Hinwendung zur eigenen Heimat und damit auch zum Vaterland in Vergangenheit und Gegenwart noch unterstreichen.170 In Kinkels ästhetischen, kultur- und kunsthistorischen Schriften sowie seinen kunstkritischen Beiträgen zur Augsburger Allgemeinen Zeitung der 1840er Jahre zeigt sich im Verweis auf gegenwärtige religiöse, politische, künstlerische und literarische Zustände und Fragen eine ähnliche Tendenz. Überlegungen zu einer Erneuerung der christlichen Religion, die Kinkel später von offizieller Seite den Vorwurf einbringen sollte, nicht dogmatisch genug Theologie zu betreiben und zu lehren und einem »ästhetischen Christentum«171 anzuhängen, werden zum ersten Mal in seinen Tagebuchnotizen aus dem Spätjahr 1840 zur Weltstellung des Christenthums deutlich, die zwar allgemein das Verhältnis des Christentums zu den »drei Grundideen der Güte, Wahrheit, Schönheit«172 thematisieren, doch mitunter auch noch einmal den schwierigen Weg seiner Emanzipation vom Pietismus der Eltern in Erinnerung rufen. Vor allem aber blieb die hier in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellte Kunst in ihrem Verhältnis zum Christentum und Stellenwert für die Gegenwart auch für alle weiteren Schriften ein zentrales Thema: Für die drei Grundideen der Güte, Wahrheit, Schönheit kämpft das Christenthum ebenso wohl, als jede andre geistige macht dieses thut. In der zeit seines kampfes mit der heidenwelt verfolgt dasselbe die erste dieser ideen, es will die welt bessern und von grunde säubern. Dann vermittelt es sich mit der übrigen wahrheit, die in der welt ist. Der erste kampf war mit der filosophie, es hat da gesiegt, alle filosofie hat die tendenz christlich zu sein, und wo sie das christenthum angreift geschieht es nur unter dem vorwande, es
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tigkeiten nach der Rückkehr aus Italien und Kinkels bereits zweiter Verlobung vgl. zuletzt Brandt-Schwarze, »Der Maikäfer« (Kommentar), 1991, S. 27–28; vgl. auch Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 7–9. Zur Reiseliteratur und Kinkels Beiträgen vgl. ausführlich und mit der einschlägigen Forschung in dieser Arbeit Teil II, Kapitel 1. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 111. Der Text aus Kinkels Tagebuch »Zeit der Erwartung« ist abgedruckt bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 496–498, Zitat, S. 496.
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zu ursprünglicher reinheit zurückführen zu wollen. Jetzt hat das christenthum mit den naturwissenschaften zu thun, und wir sehen dieses kampfes kein ende. Sähen wir es, so wäre es auch da. […] Aber nun bleibt das dritte übrig, der kampf des christenthums für die idee des schönen, die erzeugung der ächten christlichen kunst. Die theologen sagen, dieß sei das gleichgültige, der ächte mensch aber weiß das christenthum erst dann ehineimisch auf erden, wenn der geist materie geworden ist und als gebild sich verkörpert hat. Diese richtung aufs schöne bringt erst die eintracht der kirche, sie wird als ein großartiges gefühl des menschgeschlechts das kleinlich wegthun: die streite über unbedeutende glaubenswahrheiten. Das wird die wahre emanzipation vom christlichen Judenthum werden, von der gesetzlichkeit und engherzigkeit des genusses, von farisaismus der formulirung, vom Sadduzaismus der kalten überzeugung. Das schöne erwärmt, u. lehrt die that aus der empfindung, nicht aus verstand u. abstraktem wollen hervorgehen. Dagegen wird ein ächtes heidenthum in die kirche hineinkommen […].173
Die in diesem frühen Text angesprochene Opposition zwischen Verstand und Gefühl, zwischen religiöser Orthodoxie und sozialer wie individueller Realität und deren Versöhnung durch die der Kategorie »Schönheit« zugeordnete Kunst gemahnt freilich nicht nur an die schon von Schiller geforderte »ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts«, sondern bildet auch den Ausgangspunkt einer neuen Kunstrichtung, für die der Gegenwartsbezug ebenso entscheidend ist wie ihre nationalgeschichtliche Ausrichtung. Gerade das »Fehlen nazionalgeschichtlicher Stoffe«174 in der christlichen Kunstgeschichte kritisiert Kinkel später in seiner 1847 publizierten kunstphilosophischen Schrift Über den verschiedenen Charakter der antiken und der modernen Kunst. Neben der Darstellung der unterschiedlichen religionsgeschichtlichen Bedingungen der heidnisch-antiken und christlichen Kunstwelt, greift Kinkel hier zentrale Aspekte aus seinen Notizen Zur Weltstellung des Christentums wieder auf, die seine Entfremdung vom Christentum deutlich erkennen lassen und gewissermaßen den Endpunkt einer Entwicklung markieren, die mit seinem Weggang vom Elternhaus nach Berlin ihren Anfang genommen hatte. Am Schluß gipfelt der Text in der bildhaft ausgeschmückten Vision der sich mit dem einst verstoßenen heidnisch-antiken Eros wiedervereinigenden christlichen Psyche: Die Vollendung der Kunst wird die Wahrheit der schönen Fabel sein, die gerade damals auftauchte als Heidenthum und Christenthum feindlich sich schieden. Die junge, innige, christliche Psyche hielt in einem verblendeten Augenblick den schönen sinnlichen Eros der antiken Kunst für ein Ungethüm. Zornig stiess er sie dafür von sich: lange dunkle Jahrhunderte hindurch ging sie einsam und vergeblich die Salbe der höchsten Schönheit suche: am Ziel der Irrfahrt fand sie den Jugendgeliebten wieder, und alle Götter warten der Unsterblichen um ihre Vermählung zu feiern.175
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Ebd., S. 496–497. Gottfried Kinkel: Über den verschiedenen Charakter der antiken und modernen Kunst, in: Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande X (1847), S. 109–141, hier S. 128. Ebd., S. 141–142; ähnlich auch später in seinen Erinnerungen, Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 39.
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Kinkels Konzept einer von ihm favorisierten realistischen Kunst ist gleichwohl nicht im Sinne der Abbildung einer »rohe[n] und unschöne[n]« Wirklichkeit zu verstehen, sondern durch ein letztlich auf den alten idea-Begriff rekurrierendes Kunstideal geprägt, was Kinkel auch mehrfach in seinen Besprechungen zu Kunstausstellungen der 1840er Jahre betont:176 Bei den ältesten Völkern treten Göttergebilde auf die mit vollem Bewusstsein von der Natur abweichen. Der indische Ganesa trägt den Elephantenkopf um seine Weisheit, der Ischora die Vielzahl der Arme um seine Macht zu bezeichnen, und die uralte Naturgöttin Vorderasiens, die Artemis Efesos, drückt durch eine der weiblichen Form und dem ästheti[schen] Gefühl gleich der sehr widersprechenden Häufung der Brüste die unermessliche Kraftfülle der gebärenden und ernährenden Natur aus. Diess Vorwalten des symbolischen Elements eben in den ältesten Kunstwerken liefert den klarsten Beweis für die Grundlage aller Kunst in Gedanken, und vernichtet jene scheinbar naive, in der That höchst prosaische Vermuthung dass der Kunsttrieb im Menschen eigentlich der Affentrieb sei.177
Dieses – Theodor Fontanes »Verklärungs-Postulat« bereits vorwegnehmendes – Realismus-Konzept und die Forderung nach Formenbeherrschung findet sich auch in Kinkels literaturästhetischen Schriften, die Anfang der 1840er Jahre entstanden sind. In dem 1841 geschriebenen, aber erst zehn Jahre später gedruckten »Zeitbild« Weltschmerz und Rococo178 bezieht Kinkel sowohl gegen das romantische und weltfremde Kunstideal als auch gegen die »Tendenzdichter« Position. Dabei kritisiert er weniger deren Instrumentalisierung der Literatur für revolutionäre und agitatorische
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Exemplarisch sei hier auf Kinkels am 22. und 23. September 1843 gedruckten Besprechung der Düsseldorfer Ausstellung hingewiesen, in der er auch auf Schadow, Lessing, und Hübner zu sprechen kommt, vgl. Gottfried Kinkel: Kunstausstellung in Düsseldorf, in: Augsburger Allgemeine Zeitung 22./23.9.1843, S. 2070–2072, 2078–2080, hier S. 2071: »Eine kräftige Richtung auf Darstellung der Realität, das ist das Wesen der jetzigen Schule, man mag Landschaft, Genrebild oder Historienstück ins Auge fassen, und wenn ich nicht irre, so hat Lessing vor allen andern diesen Geist zum Sieg geführt. Dabei aber wird nie, wie in Frankreich und Belgien, eine rohe und unschöne oder eine tief-prosaische Wirklichkeit zum Vorwurf genommen; vielmehr wohnt diesen Düsseldorfern ein inniger Sinn für das Poetische im Busen, durch den sie bei allem Realismus vor dem Gemeinen bewahrt bleiben.« Kinkel, Über den verschiedenen Charakter, 1847, S. 110; mit dem Begriff und Konzept der idea war in der Geschichte der Kunsttheorie vor allem der Renaissance und dann auch bei den französischen Theoretikern des 17. Jahrhunderts bei aller Unterschiedlichkeit in den Einzelheiten stets die Forderung nach der intellektuellen, theoretischen Vorleistung des Künstlers verbunden, die einer bloßen Nachahmungsästhetik gegenüberstand, die auch Kinkel sowohl für die Bildende Kunst als auch für die Literatur verwirft. Vgl. zum Idea-Begriff die immer noch grundlegende Studie von Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, 2. verb. Auflage. Berlin 1960 (Studien der Bibliothek Warburg). Der Text entstand 1841 und wurde zum ersten Mal im zweiten Jahrgang des Maikäfer abgedruckt, dazu der Abdruck in der Edition von Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 395–397, 404–407, 413–416, 434–437, 454–456, 473–476, 489–491, 524– 526, 533–538.
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Zwecke, als vielmehr den angeblichen Verlust an Formenstrenge, die er für alle Gebiete der Kunst und des Lebens diagnostiziert: Erstickte die vorige Zeit an Enge der Form, so zersprengt die unsere an Mangel derselben die Brust. […] So zeigt sich auf allen Gebieten des Lebens noch der Fortschritt der Revolution. Es ist alles zersprengt, das Individuum entfesselt, jede Richtung freigegeben worden. Keinem wird mehr gesagt, was er kann und soll, und bis wir das selbst finden, gehen uns viele gute Jahre hin. Mit Einem Worte, das Leben ist durch Entkettung der persönlichen Entwicklungsfreiheit formlos geworden, und bei dem Ringen dieser losgelassenen Geister noch zu unruhig, um neue Formen erwachsen zu lassen. Das fühlen wir alle als ein Unbequemes, wenigstens als ein Unbehagliches, und haben es zuerst gefühlt in gesellschaftlicher Sitte und Mode. Darum haben wir auf diesem Gebiete zuerst einen Gewaltcoup gemacht: da wir nichts Neues schaffen konnten, sprangen wir fünfzig Jahre zurück und suchten das Heil im Bau aus Trümmern.179
Charakteristisch für alle diese Publikationen – seien sie nun zur Kunst oder Literatur – ist die Verbindung von künstlerischen Fragen mit den politischen Zuständen und dem gesellschaftlichen Leben. Dabei sind diese Texte als Geschichtstheorie ebenso zu verstehen wie als Gegenwartsbestimmung aus der Analyse der sie bestimmenden Erscheinungen wie Kunst, Literatur, Mode, Glaube oder Bildung. Noch deutlicher wird Kinkels Überzeugung, in einer Zeit zu leben, auf deren politische und soziale Entwicklungen auch die Literatur reagieren müsse, in seiner literaturästhetischen Schrift Die moderne Dichtung (1843). Nach dem »Abblühen« der romantischen Dichterschule und dem Jungen Deutschland, das im »Volke keine Wurzeln [habe] schlagen können«, formuliert Kinkel eine ähnliche Neuausrichtung, wie er sie schon in seinen gleichzeitig erschienenen Ausstellungsbesprechungen und kunsthistorischen Schriften für die Bildende Kunst formuliert hatte: Poesie können wir also nicht missen, wenn wirs auch wollten: das Bedürfnis derselben bleibt sich, sobald ein Volk erst ein gebildetes geworden ist, zu allen Zeiten gleich. Nicht darin also kann jenes ungünstige Urtheil unserer Gegenwart gegründet seyn dass diese überhaupt für Poesie unzugänglich wäre, sondern nur darin dass die Dichter im Ganzen und Großen auf falschem Wege sind, und deshalb das Herz ihrer Zeit nicht zu ergreifen wissen. Wo liegt hier der Nerv, den der Dichter erschüttern muß um zu wirken? Offenbar müssen wir ihn in der Grundrichtung unserer Gegenwart suchen. Diese Grundrichtung ist der Realismus. Unserer Zeit hält sich an die Wirklichkeit – da ist mit einem Worte alles gesagt.180
Seit seiner Rückkehr aus Italien konnte Kinkel immer wieder die zunächst hauptsächlich mit der politisch-territorialen Situation des Rheinlandes zusammenhängen-
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Gottfried Kinkel: Weltschmerz und Rococo. Ein Zeitbild, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Kunst und Leben 1 (1850), S. 182–202, hier S. 193. Gottfried Kinkel: Die moderne Dichtung, in: Augsburger Allgemeine Zeitung (Beilage), Nr. 98 (8.4.1843), S. 741–742, Nr. 99 (9.4.1843), S. 749–750, Nr. 347 (13.12.1843), S. 2725–2728, Nr. 349 (15.12.1843), S. 2741–2743, Nr. 350 (16.12.1843), S. 2749– 2750, Zitat S. 741.
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den Spannungen zwischen Bevölkerung und Staatsmacht beobachten und bewertet im Rückblick sogar die Verhaftung des Kölner Erzbischofs von Droste-Vischering im Kontext des Streites um die Einsegnung der sogenannten Mischehen als Wendepunkt für das Verhältnis zwischen Preußen und seiner Rheinprovinz, mithin auch für die gesamte revolutionäre Bewegung: »Die Agitation, die sich aus jenem raschen Schritte der Regierung ergab, ist für Preußen der Beginn der Revolution geworden.«181 Die zunehmenden sozialen Konflikte, der Pauperismus der 1840er Jahre und die von Kinkel wie von vielen anderen auf die Vielstaaterei des Reiches zurückgeführten wirtschaftlichen Probleme mögen nicht zuletzt die Motivation für Kinkels programmatische Forderungen an Kunst und Literatur gewesen sein. Zumindest erscheinen seine ästhetischen Programmschriften und ersten politischen Artikel zeitgleich und thematisieren fast alle jenen Eindruck, in einer politischen wie künstlerischen Übergangszeit zu leben.182 Freilich zeigt sich Kinkel in seinen Vorschlägen, die hier besprochenen politischen Probleme zu beheben, noch liberalen, konstitutionellen Ideen verpflichtet, was sich auch an einzelnen Gedichten und Erzählungen aus diesen Jahren ablesen lässt. Diese Hinwendung zur Zeitgeschichte steht indessen nicht im Widerspruch zu Kinkels ausgedehnter Beschäftigung mit der Geschichte, allem voran mit der Kirchengeschichte.183 Etliche Gedichte sind kaum anders zu verstehen als vor dem
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Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 2. Vgl. etwa Kinkels Artikel zur Auswanderung aus einzelnen Regionen, Gottfried Kinkel: Die Auswanderungen aus dem Ahrthal, 1842, s. auch: Teil II, Kapitel 1; auch in scheinbar rein historischen Beiträgen kommt Kinkel oftmals auf das Phänomen zu sprechen, dass aus politisch bewegten Zeiten neue Kunstrichtungen hervorgehen, was freilich auch als aus historischen Beispielen abgeleiteter Wunsch für die Gegenwart gedeutet werden kann. Beispielhaft: »Es wirkt für die Kunst oft heilsam, wenn sie durch erregtes politisches Leben eine Zeitlang in den Hintergrund gedrängt, ja sogar durch Krieg und Zerstörung für einen Augenblick genöthigt wird, die Hände in den Schoß zu legen. Solche Pausen bewirken, dass die Kunst plötzlich aufhört in der frühern hergebrachten Weise zu fortzuarbeiten: nach großen politischen Erschütterungen haben sich immer die neuen Stile gebildet, die dann alsbald über den Trümmern, welche der Krieg zurückgelassen, Raum genug fanden, sich in jungen Schöpfungen auszubreiten.« Gottfried Kinkel: Die rheinische Kirchenbaukunst des dreizehnten Jahrhunderts, vorzüglich im Kölner Oberstift, in: Niederrheinisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 2 (1844), S. 313–340, hier S. 313; in seiner Selbstbiographie greift Kinkel diese Überlegungen noch einmal auf: »Der Jüngling hält sich gerne an die glänzenden Höhepunkte des geschichtlichen Lebens, die ihn zu begeisterter Bewunderung entflammen, und so ist es recht für ihn; denn die Miltiades und Camille rufen ihn zur eigenen frischen Heldentat auf. Aber der denkende Blick des Mannes verweilt lieber auf den Zeiten des Übergangs, wo eine alte Bildung sinkt, um einem jungen Geiste Platz zu machen, wo die erhabene Nemesis mit Bauschutt und abgewehtem Winterlaub den Boden für jungen stärkern Wuchs düngt: Denn solche Betrachtung des Vergangenen gibt uns den rechten geduldigen und unerschütterlichen Mannesmut, dessen wir im Zerfall der Gegenwart bedürfen, um nicht wie so viele am Alten und Neuen zugleich zu verzweifeln.« Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 26. Bis zu seinem Fakultätswechsel 1846 hielt Kinkels jedes Semester ausgesprochen gut besuchte Vorlesungen zur Kirchengeschichte und Geschichte des frühen Christentums, die Aufstellung bei Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 460–462.
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Horizont des (ästhetischen) Historismus als einer Denkform, die die Aneignung und Auslegung von Geschichte als Instrument zum Verständnis der Gegenwart betrachtet.184 Ein Großteil dieser Gedichte ist zum ersten Mal in Der Maikäfer. Zeitschrift für Nichtphilister erschienen, die Kinkel zusammen mit seiner späteren Frau Johanna von 1840 bis 1846 in insgesamt sieben Jahrgängen herausgab.185 Die erste Begegnung mit der damals noch verheirateten Katholikin Johanna Matthieux (geb. Mockel) am 4. Mai 1839 fand bei einem Essen statt, zu dem der evangelische Theologe Johann Christian Wilhelm Augusti eingeladen hatte.186 Die Bekanntschaft mit Johanna bezeichnete Martin Bollert als »entscheidenden Funken«187 für Kinkels religiöse Zweifel und seine immer kritischere Haltung gegenüber dem Christentum, wie sie eben anhand von Kinkels Publikationen der 1840er Jahre nachgezeichnet wurde. Vor allem aber markiert die spätere, eheliche Verbindung mit Johanna auch den Anfang der Loslösung Kinkels von der akademischen Theologie, die er aber offensichtlich billigend in Kauf genommen hat. Denn es dürfte ihm klar gewesen sein, dass die Eheschließung am 22. Mai 1843 – bei der Jakob Burckhardt und Emanuel Geibel Trauzeugen waren – nach Johannas Scheidung und trotz ihrer Konversion zum Protestantismus an Weihnachten 1842 für seine Position an der Theologischen Fakultät und seine anderen Anstellungen nicht folgenlos bleiben würde. Schon vor der Hochzeit übte die Fakultät Druck auf Kinkel aus, und er verlor in diesem Zusammenhang und sicherlich nicht ohne Zutun von universitärer Seite sowohl seine Stelle als Religionslehrer am Thormannschen Mädcheninstitut als auch die des Hilfspredigers der Kölner Kirchengemeinde.188 Ebenfalls noch vor der Hochzeit versuchte Kinkels Vorgesetzter Karl Immanuel Nitzsch – der als Hauptvertreter der Bonner Vermittlungstheologie in Erscheinung getreten ist – den Kollegen von seinem Vorhaben, eine geschiedene Katholikin zu heiraten, abzubringen. Bis zu seiner Anstellung als außerordentlicher Professor für Kunst- und Literaturgeschichte
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Sein früheres Desinteresse an der Politik thematisiert Kinkel auch in seiner Autobiographie: »Bis 1842 hatte ich bloß in der Vergangenheit, im klassischen Altertum und im Mittelalter, gelebt: die Politik der Gegenwart riß mich ins moderne Leben und in die neuere Geschichte hinein, und ich kann von da in der ganzen Richtung meiner Studien eine Epoche datieren.« Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 115. Vgl. Brandt [u.a.]: »Der Maikäfer«, 1982–1985. Vgl. hierzu Brandt-Schwarze, »Der Maikäfer« (Kommentar), 1991, S. 28; die erste Begegnung mit Johanna hat Kinkel selbst auch ausführlich beschrieben, Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 45ff. Bollert, Gottfried Kinkels Kämpfe, 1913, S. 62. Vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 120–121; vorausgegangen war der Annäherung zwischen Kinkel und Johanna eine in der Bonner Stadtgeschichte mittlerweile berühmt gewordene Bootsfahrt der beiden am 4. September 1840, bei der Kinkel Johanna aus dem gekenterten Kahn und ihr damit das Leben gerettet hat; zuletzt hierzu Klaus, Johann Kinkel, 2008, S. 76–86.
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Anfang 1846 sollten Konflikte mit der Fakultät und der Kirchenführung das junge Ehepaar immer wieder beschäftigen.189 Dies ist genau – und nicht zufällig – der Zeitraum, in dem die sieben Jahrgänge von Der Maikäfer und viele von Kinkels Gedichten erschienen sind. Denn in dem Maße, wie Kinkels Auseinandersetzungen mit der Fakultät zu- und seine akademischen Aufstiegsmöglichkeiten damit abnahmen, ja sogar beschnitten wurden, gewann die Arbeit für den Maikäfer aus zwei Gründen zentrale Bedeutung für Kinkel: Zum einen stellte die Zeitschrift – wenn auch die Hefte nur im privaten Kreise der Mitglieder kursierten – das zentrale Publikationsorgan hauptsächlich seiner Gedichte aber auch historischer und ästhetischer Texte dar. Zum anderen bot der Verein mit seinen wöchentlichen Treffen die Möglichkeit zum persönlichen Gespräch und Austausch, was Kinkel sicherlich als Kompensation seiner zumal nach der Hochzeit mit Johanna recht isolierten Stellung an der theologischen Fakultät empfunden haben dürfte. Zu den Gründungsmitgliedern des Maikäferbundes gehörten neben dem Ehepaar Kinkel auch noch der Bonner Architekt Andreas Simons und der Jurist Sebastian Longard.190 Als der Verein am 29. Mai 1840 ins Leben gerufen wurde gab es – wie auch in der Folgezeit – keine programmatischen Statuten zur Ausrichtung und Zielsetzung des Vereins, weshalb Werner Hesse bereits der Meinung widersprochen hat, »die Gründung des Maikäferbundes habe nur gesellschaftliche Ziele in’s Auge gefasst, denn sein nächster Zweck bestand nur in wechselseitiger Förderung im dichterischen Schaffen«.191 Gleichwohl steht der Maikäferbund als literarischgeselliger Verein in der Tradition der schon im 17. und 18. Jahrhundert durchaus mit politischen und gesellschaftlichen Anliegen gegründeter Literatur-, Lese-, Bildungs- und Sprachgesellschaften. Für das 19. Jahrhundert mit seiner Vielzahl an Bünden, Assoziationen und Vereinen stellt der Maikäferbund eine symptomatische Erscheinung dar.192
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Diese Zeit zusammengefasst und mit Nennung der wichtigsten Akten und Schreiben des Ministeriums bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 124–130; ferner auch Bollert, Gottfried Kinkels Kämpfe, 1913, S. 108–124, der die Akten des Kultusund Innenministeriums zu den Bonner Professoren auswertete; zu den Vorgängen auch Kinkels persönliche, von bitterer Enttäuschung geprägte Darstellung: Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 106–110. Eine Übersichtstabelle der Mitgliedschaften und -zeiten der ersten Jahre findet sich bei Brandt-Schwarze, »Der Maikäfer« (Kommentar), 1991, S. 24, Kurzbiographien der Gründungmitglieder S. 47–50; zeitweise gehörten dem Bund auch der aus einer reichen Bonner Familie stammende Alexander Kaufmann, Leo Hasse, Friedrich Carl Fresenius, Jacob Burckhardt, Willibald Beyschlag und als Ehrenmitglieder Nikolaus Becker, Wolfgang Müller von Königswinter und Carl Arnold Schloenbach an. Kurzbiographien zu den Genannten ebenfalls bei Brandt-Schwarze, »Der Maikäfer« (Kommentar), 1991, S. 50–68; hierzu auch Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 98–114. Hesse, Gottfried und Johanna Kinkel, 1893/94, S. 40. Allgemein zum historischen Phänomen »Verein« und der Begriffs- und Bedeutungsgeschichte einzelner Bezeichnungen vgl. den Artikel sub verbo von Wolfgang Hardtwig,
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Erheblich früher als die Germanistik hat sich die Geschichtswissenschaft mit dem Vereinswesen des 19. Jahrhunderts beschäftigt und in ihm sowohl einen Indikator als auch Faktor für die gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Forderungen des Bürgertums erkannt.193 Zwar wurde der Maikäferbund zu keiner Zeit weder von seinen Mitgliedern noch in der Außenwirkung als eine besonders politische Gruppierung wahrgenommen, wie es später und auch gleichzeitig etwa die Handwerkerbildungsvereine waren. Doch lassen sich nach den frühen Beiträgen mit rein geselligem, humoristischem, lyrischem oder belehrend-unterhaltsamem Charakter in den späteren Jahrgängen auch durchaus – im Sinne liberaler Vorstellungen – politisch motivierte Artikel finden. Die Ernennung des Rheinlied-Dichters Nikolaus Becker zum Ehrenmitglied im Juni 1841 sollte ebenfalls vor diesem Hintergrund gesehen werden.194 Nicht nur von lokalgeschichtlichem, sondern auch von sprachsoziologischem Interesse sind besonders solche Beiträge, Gedichte und Prosatexte, in denen der Bonner Dialekt vorkommt oder Erwähnung findet. Nach der in der neueren Sprachwissenschaft etablierten Vorstellung von Sprache und Sprachgeschichte als »besondere Form des symbolisch vermittelten sozialen Handelns« stellen Überlieferungen dialektaler Texte eine besonders ergiebige Quelle für die Erschließung und Deutung historischer Kommunikation von Sprachgemeinschaften und im Falle des Maikäferbundes auch einer einzelnen Gruppe dar.195 Die Bedeutung des rheinischen bzw. Bonner Dialekts für den Zirkel und dessen Zeitschrift kommt auch im vereinsinternen Namen des Bundes zum Ausdruck, der
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in: Geschichtliche Gundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bde., hier Bd. 6. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Stuttgart 1990, S. 789–829, zu den genannten historischen Bezeichnungen und Gruppierungen bes. S. 791–792 und 801–806. Grundlegend immer noch Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. Jahrhundert und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 174–205; Otto Dann (Hg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. München 1984; speziell zu literarischen Vereinen sind in der letzten Zeit an die historische Forschung anknüpfende Standardwerke entstanden: Karin Bruns, Rolf Parr, Wulf Wülfing (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Stuttgart, Weimar 1998 (vgl. hier bes. die Einführung der Herausgeber, S. IX–XVIII); Jost Hermand: Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club. Weimar, Wien, 1998, zum Maikäferbund hier S. 102– 105. Zusammenfassend der Artikel zum »Maikäferbund« sub verbo von Ulrike Brandt-Schwarze, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Hg. von Wulf Wülfing, Karin Bruns, Rolf Parr. Stuttgart, Weimar 1998, S. 320–324. Unter diesen Gesichtspunkten hat Klaus Mattheier einige Artikel aus dem Maikäfer untersucht, besonders zwei Geschichten von Johanna Kinkel (Dä Hond on dat Eechhohn. Ä Verzellscher für Blahge und Der Musikant), vgl. Klaus J. Mattheier: Die rheinische Sprachgeschichte und der »Maikäfer«, in: Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumübergreifende Perspektiven. Georg Droege zum Gedenken. Hg. von Marlene Nikolay-Panter, Wilhelm Jansen und Wolfgang Herborn. Köln, Weimar, Wien 1994, S. 534–561, Zitat S. 535.
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sich am rheinischen Wort für Maikäfer (»Mau«) orientierte, was bei der Gründung des Filialmau durch die von 1842 bis 1843 in Berlin studierenden Mitglieder Jacob Burckhardt, Willibald Beyschlag und Albrecht Wolters beibehalten wurde.196 Das Verhältnis des heute prominentesten Maikäfer-Mitgliedes, Jacob Burckhardt, zu Kinkel wurde von der jüngeren (kunst-)historischen Forschung gerade im Kontext einer sich seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Universität als eigenständiges Fach etablierenden Kunstgeschichte wieder näher beleuchtet, nachdem es vor allem in Publikationen des frühen 20. Jahrhunderts zu teilweise heftig geführten Diskussionen über die Bedeutung Kinkels für Burckhardts Geschichtsbild bzw. dessen Stellung zu seinem Bonner Freund gekommen ist.197 Schon äußerlich betrachtet fallen einige Parallelen im Werdegang der beiden ins Auge: Burckhardt studierte wie Kinkel auf Wunsch des Vaters zunächst Theologie in Basel und wechselte dann 1839 – in Berlin – zur Geschichtswissenschaft. Während seines Semesters in Bonn im Sommer 1842 nahm Burckhardt regelmäßig an den Treffen des Maikäferbundes teil, pflegte engen Kontakt mit Kinkel und den übrigen Mitgliedern und war schließlich auch Trauzeuge bei Kinkels Hochzeit am 22. Mai 1843. Auf die Prägung durch die Ranke-Schule, bei dessen Namensgeber der 1818 in Basel geborene Burckhardt während seiner Berliner Studienjahre Vorlesungen hörte, wurde in der älteren Forschung ebenso hingewiesen wie auf den Einfluß der unter den Vertretern der sogenannten Berliner Schule, Carl Friedrich von Rumohr,
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Vgl. Brandt-Schwarze, Maikäferbund, 1998, S. 321; ebenfalls in Berlin gründeten – wohl auf Anregung Johanna Kinkels – Maximiliane von Arnim und andere mit dem Berliner Kaffeter einen dem Bonner Maikäferbund vergleichbaren literarisch-kulturellen Verein, der allerdings ausschließlich aus weiblichen Mitgliedern bestand, vgl. hierzu den Artikel sub verbo von Brita Baume, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Hg. von Wulf Wülfing, Karin Bruns, Rolf Parr Stuttgart, Weimar 1998, S. 223–225. Die von Rudolf Meyer-Krämer abgedruckten und teilweise kommentierten Briefe Burckhardts an Johanna und Gottfried Kinkel hauptsächlich aus dem Jahr 1843 bezeugen Burckhardts Verbundenheit mit Kinkel in kunsthistorischen und ästhetischen Fragen. Kinkels veränderter Haltung zum Christentum zumindest stand Burckhardt aber kritisch gegenüber, was im Brief vom 20. August 1843 deutlich wird, vgl. Rudolf MeyerKrämer: Jakob Burckhardt und Gottfried und Johanna Kinkel. Ungedruckte Briefe, in: Deutsche Revue 24 (1899), S. 70–92; 286–302; dieses positive Urteil Burckhardts über Kinkel korrigierte Max Pahncke mit dem (Teil-)Abdruck von Burckhardts Briefen an den ehemaligen Bonner ›Maikäfer‹ und späteren Hallenser Theologie-Professor Willibald Beyschlag, der sich in Berlin Schelling anschloss und Kinkels pantheistischen Vorstellungen verständnislos gegenüberstand. In seinem Kommentar betont Pahncke, dass Burckhardt zwar zunächst weder eindeutig für Kinkel noch Beyschlag Stellung bezog, doch in einem Brief vom 14. und 30. Januar 1844 seinen Unmut über Kinkel geäußert habe, vgl. Max Pahncke: Aus Jakob Burckhardts Jugendzeit (1841–1845), in: Basler Jahrbuch 1910, S. 103–136, Brief vom 30.1.1844: S. 129–131; am deutlichsten jedoch äußert sich J[akob] Oeri: Maßgebliches und Unmaßgebliches, in: Die Grenzboten 58 (1899), S. 729–732, der Meyer-Krämer heftig attackiert und den Abdruck der Briefe, die nur Burckhardts »naive und jugendliche Begeisterung für einen Mann der Welt preisgegeben [habe], dem sie durch einen Irrtum gehört hatte« (S. 730).
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Gustav Friedrich Waagen, Karl Schnaase und vor allem Franz Kugler, vorangetriebenen historisch-kritischen und als »Universalgeschichte« verstandenen Kunstgeschichtsschreibung.198 An Kuglers Handbuch der Kunstgeschichte (seit 1842) hat Burckhardt in Berlin auch mitgearbeitet. Neben diesen ›großen‹ Namen der Kunstgeschichte wurde dabei die Bedeutung Kinkels und seiner oben zusammengefassten ästhetischen, kunstkritischen und -historischen Publikationen für das Wissenschaftsund Geschichtsbild des jungen Burckhardt nicht beachtet, obwohl freilich auch Kinkels reger Briefwechsel mit Franz Kugler und dessen Bemühungen um Kinkels Berufung auf eine Professur in Berlin (1846) bekannt waren. Das mag vor allem an der deutlichen, noch vor der Jahrhundertmitte zu beobachtenden Entfremdung der beiden liegen, die sowohl in Burckhardts Ablehnung aktiver politischer Parteinahme als auch seinem Unverständnis gegenüber Kinkels radikalem Bruch mit der Religion begründet ist. Philipp Müller konnte in seiner 2003 erschienenen Studie indessen überzeugend nachweisen, welch entscheidenden Anteil auch Kinkel an Burckhardts frühem Wissenschaftsverständnis hatte. Dies kommt besonders zum Ausdruck in der Bewertung der Kunstgeschichte im Allgemeinen und der Geschichtsmalerei im Besonderen als Impulsgeber für die »Weiterentwicklung der Kunst der Gegenwart«, wenn auch bei Burckhardt freilich national-vaterländische Aspekte eine nicht so prominente Rolle einnehmen wie bei Kinkel.199 Kinkels Begeisterung für die nationalen, dann revolutionären und radikalen Ideen setzte später seiner neuen Professur ein Ende. Nichtsdestoweniger fällt Kinkels Berufung bzw. Umhabilitierung zur Philosophischen Fakultät am 10. Februar 1846200 in die wissenschaftsgeschichtlich ausgesprochen interessante Formierungs-
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Einen sehr guten Überblick bietet Gabriele Bickendorf: Die ›Berliner Schule‹, in: Klassiker der Kunstgeschichte. 2 Bde., hier Bd. 1: Von Winckelmann bis Warburg. Hg. von Ulrich Pfisterer. München 2007, S. 46–62; zu Burckhardt vgl. in demselben Band (S. 110–123) den Artikel von Hubert Locher, der allerdings auch nur Schnaase und Kugler erwähnt und auf Kinkels Bedeutung für Burckhardt nicht eingeht. Philipp Müller: Der junge Jacob Burckhardt im Kontext: Geschichtswissenschaft als Gegenwartskunst, in: Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Hg. Ulrich Muhlack. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 5), S. 113–133, bes. S. 115–117 (Zitat S. 116); in den Passagen zu den frühen 1840er Jahren in Kinkels Selbstbiographie werden exemplarisch sowohl die Nähe zu Burckhardts Konzept einer »kulturhistorischen Geschichtswissenschaft« als auch die Unterschiede vor allem in dem von Kinkel herausgehobenen Vaterlands- und Volksbegriff deutlich, Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 173 u. 200: »Auch dämmerte mir als herrlichstes Ziel die Kulturgeschichte meines Volkes entgegen […]. Die wissenschaftliche Aufgabe meines Lebens, die deutsche Kulturgeschichte, die Verständigung meines Volkes mit seiner Vergangenheit, diese Aufgabe, die schon leuchtend war, […] sie wurde mir rettungslos vom Ersturz der Politik verschüttet«. Kinkel reichte sein Gesuch, an die Philosophische Fakultät wechseln zu dürfen, schon am 30. Mai 1845 bei dem preußischen Ober-Regierungsrat Moritz August von BethmannHollweg ein und erhielt vom preußischen Minister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn mit einem Schreiben vom 10. Februar 1846 die Bestätigung seiner Ernennung. Die
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phase zweier Fächer, die wir heute als Kunstgeschichte und Germanistik kennen. Im Gegensatz zu etlichen anderen, seit Beginn des 19. Jahrhunderts berufenen Professoren an Philosophischen Fakultäten war der Gegenstandsbereich von Kinkels außerordentlicher Professur mit neuerer Kunst-, Literatur- und Kulturgeschichte bezeichnet. Die noch Ende des Jahres 1846 von Franz Kugler unterstütze Berufung Kinkels nach Berlin scheiterte an der Reaktion des preußischen Ministers Eichhorn auf Kinkels Gedicht Männerlied, dessen Absage an erst jenseitige Glücks- und Lebenserfüllung nach religiöser Vorgabe sowie die »Eitelkeit und Unbesonnenheit dieses sonst so talentvollen Mannes« Eichhorn kritisierte.201 Kinkels bisherige Publikationen und Beschäftigung mit der Kunst und Kunstgeschichte sind in ihrer Mischung aus historischer Betrachtung und Kunstkritik typisch für die Vertreter des Faches in dieser frühen Phase der Kunstgeschichte, deren Wurzeln daneben auch noch im praktischen akademischen Kunstunterricht liegen. Nicht zufällig waren die ersten beiden Ordinarien für die zumindest nominell so bezeichnete Kunstgeschichte mit Männern aus der Praxis-Ausbildung besetzt. In Göttingen wurde bereits 1813 der »Universitäts-Zeichenlehrer« Johann Dominicus Fiorillo (1748–1821) Ordinarius für Kunstgeschichte, wobei es sich weniger um eine durch wissenschaftliche Qualifikation begründete Berufung als vielmehr um eine Ehrung handelte. Auch in Bonn, das in der Gründungsgeschichte der Kunstgeschichte eine herausragende Stellung einnimmt, wurde mit Eduard d’Alton (1772–1849) 1826 ein Künstler ohne Habilitation zunächst zum außerordentlichen Professor und dann als Ordinarius für Kunstgeschichte berufen. Wie Kinkel, der 1846 dem von ihm heftig kritisierten August Wilhelm Schlegel nachfolgte, war etwa auch Franz Kugler von 1833 bis 1843 in Berlin nicht nur als Privatdozent für die Kunstgeschichte zuständig, sondern hatte auch noch andere Ämter inne.202
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Dokumente sind abgedruckt bei Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 267–272 bzw. S. 277–279. Das Gedicht wird noch in Teil III dieser Arbeit (Kapitel 6.1) behandelt. Zu den Vorgängen vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 126–128; das Schreiben von Eichhorn an Bethmann-Hollweg vom 7.12.1846 und Kuglers vorwurfsvoller Brief an Kinkel vom 15.12.1846 sind abgedruckt bei Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 320 bzw. 321–325, Zitat S. 320. Hierzu grundlegend Wolfgang Beyrodt: Kunstgeschichte als Universitätsfach, in: Kunst und Kunsttheorie 1400–1900. Hg. von Peter Ganz, Martin Gosebruch, Nikolaus Meier und Martin Warnke. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 48), S. 313– 333, hier bes. S. 314–316; hervorragend auch und sehr anschaulich mit zahlreichen Quellenauszügen (Carl Schnaase, Franz Kugler, Johann Dominicus Fiorillo, u.a.) auch Wolfgang Beyrodt: Kunstwissenschaft. Entwicklungslinien der Kunstgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert bis zum Kunstwissenschaftlichen Kongreß von 1873, in: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Texte und Dokumente. 2 Bde., hier Bd.1: Kunsttheorie und Malerei. Kunstwissenschaft. Hg. von Werner Busch und Wolfgang Beyrodt. Stuttgart 1982 (Reclams Universalbibliothek, Nr. 7888 [5]), S. 278–364; zu den Publikationen von Rumohr, Waagen und Schnaase und deren Stellenwert in der Etablierung einer akademischen Kunstgeschichte vgl. Gabriele Bickendorf: Die Anfänge der historisch-kritischen Kunstgeschichtsschreibung, in: Kunst und Kunst-
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Im modernen Sinne waren diese Professuren also nicht als Lehrstühle für ein eigenständiges Fach Kunstgeschichte zu verstehen, weshalb auch von der Forschung gemeinhin der 1852 nach kurzer Vakanz als Nachfolger Kinkels berufene Anton Springer mit seinen Abgrenzungsversuchen zur Ästhetik und anderen Disziplinen hin als erster ›echter‹ akademischer Vertreter des Faches gilt.203 Vergleichbar mit dieser Entwicklung der Kunstgeschichte zum eigenständigen Universitätsfach ist der Institutionalisierungsprozess der Germanistik, für die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings fast ausschließlich die Bezeichnung »Deutsche Philologie« verwendet wurde.204 Bis 1849 hielt Kinkel in beiden ›neuen‹ Fächern jedes Semester (Überblicks-)Vorlesungen, die jeweils die Literatur- und Kunstgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart behandelten – im Sommersemester 1848 bot Kinkel bezeichnenderweise eine Vorlesung zur »Deutschen Nationallitteratur vom dreißigjährigen Krieg bis zur Gegenwart« an.205 Bei Kinkels Berufung 1846 zum außerordentlichen Professor für neuere Kunst-, Literatur- und Kulturgeschichte waren an anderen Universitäten wie Breslau, Greifswald, Marburg, Berlin oder Kiel sowohl die ordentlichen als auch außerderordentlichen Professuren nicht ausschließlich der Deutschen Philologie gewidmet, sondern meist mit Nachbardisziplinen wie Ästhetik, Redekunst oder Pädagogik verbunden.206 Wenn auch Kinkels Professur vor diesem Horizont nach der einschlägigen Forschung nicht im Sinne der »Verwirklichung einer wissenschaftspolitischen Konzeption«207 verstanden werden kann – zumal bei Kinkel der Übergang zur Philosophischen Fakultät auch noch private Gründe hatte –, so dokumentieren seine außerordentliche Pro-
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theorie 1400–1900. Hg. von Peter Ganz, Martin Gosebruch, Nikolaus Meier und Martin Warnke. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 48), S. 359–374. Vgl. Beyrodt, Kunstwissenschaft, 1982, S. 338 und Beyrodt, Kunstgeschichte als Universitätsfach, 1991, S. 313 u. 318. Grundlegend Uwe Meves: Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 115–202, hier S. 116; Meves berücksichtigt in seiner materialreichen und umfangreichen Studie die Errichtung von Lehrstühlen, ordentlichen und außerordentlichen Professuren sowie Privatdozenten für das Fach Deutsche Philologie an den Universitäten Berlin, Breslau, Erlangen, Freiburg, Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle-Wittenberg, Heidelberg, Jena, Kiel, Königsberg, Leipzig, Marburg, München, Rostock, Tübingen und Würzburg. Im Anhang eine Übersichtstabelle der Fachvertreter seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit jeweiliger und genauer Fachbezeichnung (S. 197–203). Die Übersicht zu den Vorlesungen bei Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 462. Speziell zur Situation 1846 vgl. Uwe Meves: Das Fach deutsche Sprache und Literatur an den deutschen Universitäten im Jahr 1846, in: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistikversammlung in Frankfurt a. M. (1846–1996). Hg. von Frank Fürbeth, Pierre Krügel, Ernst E. Metzner und Olaf Müller. Tübingen 1999, S. 85–103, tabellarische Übersicht S. 101–102. Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 1989, S. 224.
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fessur zusammen mit denen zahlreicher anderer Kollegen doch die in den 1840er Jahren gestiegene Bedeutung des neuen Faches Deutsche Philologie.208 2.3
Kinkel als Revolutionär
2.3.1 Bonn, Baden und Neustadt an der Weinstraße Nach seiner Berufung zum außerordentlichen Professor wurde Kinkel Ende 1846 auch eine Stelle als leitender Redakteur und Nachfolger des Droste-Freundes und -Herausgebers Levin Schücking bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung angeboten, die Kinkel aber nach Rücksprache und (nur) versprochenen Zugeständnissen des Ministeriums zugunsten seiner Professur ablehnte.209 Diese gab Kinkel auch nicht auf, als er sich mit der Übernahme der Redaktion der Bonner Zeitung am 5. August 1848 fast vollständig dem politisch-publizistischen Tagesgeschehen und -geschäft widmete und in den dort gedruckten mehr als zweihundert Artikeln deutlich seine demokratisch-republikanischen Positionen zum Ausdruck brachte.210 In seiner Leseransprache der ersten von ihm betreuten Ausgabe macht Kinkel die Leitlinien und Anliegen des Blattes deutlich, die für seine politische Haltung bis zum Ende der Revolution im Sommer 1849 maßgeblich bleiben sollten: Die Fahne dieses Blattes ist die Verwirklichung der Demokratie. Herrschaft ist geknüpft an geistiges Uebergewicht, Volksmacht an Bildung. Diese Bildung zu wecken, über die Nothwendigkeit, die als unüberwindliche Göttin unsere Zeit beherrscht und unsere Zukunft zu einem leicht vorauszusehenden Ziele lenkt, Klarheit bis in die untersten Schichten der Gesellschaft zu verbreiten, das ist unser Gedanke. Das Blatt wird neben den Landtagskammern auch in die Werkstube des Handwerkers blicken, über dem Getöse des Krieges und der Parteien auch das stille Thun der Schule und das milde Reisen des Volksgeistes in Kunst und Wissenschaft nicht übersehen.211
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Hierzu Meves, Zum Institutionalisierungsprozeß, 1994, S. 145 u. 148; zusammenfassend hält Meves fest, dass bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur acht der zwanzig von ihm berücksichtigten Universitäten Ordinariate für das neue Fache eingerichtet waren, von denen allerdings nur vier nominell ausschließlich der Deutschen Philologie gewidmet waren. Vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 128–129. Kinkels Wandel vom Konstitutionellen zum Demokraten und schließlich zum sozialistisch gefärbten radikalen Republikaner ist schon in der älteren Forschung vielfach behandelt worden. In diesem Zusammenhang wurden auch Kinkels Artikel für die Bonner Zeitung (später Neue Bonner Zeitung) ausgewertet. Vgl. Alfred De Jonge: Gottfried Kinkel as political and social thinker. New York 1966. (Columbia Germanic Studies, 30) [Reprint der Erstausgabe von 1926], bes. S. 15–17; eine Auflistung von Kinkels Artikeln für die Bonner Zeitung enthält im Anhang die für diesen Zusammenhang maßgebliche Studie von Max Braubach: Bonner Professoren und Studenten in den Revolutionsjahren 1848/49. Köln, Opladen 1967 (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen), S. 136–141; allgemein zum Wandel von Kinkels politischen Positionen vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 249–251. Nach dem Abdruck bei Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 84–85.
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Unmittelbar nach der Februarrevolution 1848 in Frankreich und deren Auswirkungen auch und vor allem im Rheinland stand Kinkel jedoch zunächst noch auf der Seite der Konstitutionellen um den bekannten Bonner Historiker Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860), der zusammen mit Ludolf von Camphausen (1803–1890) und Gustav von Mevissen (1815–1899) zu den zentralen Figuren des rheinischen Frühliberalismus zählt, die einen gewaltsamen Umsturz der politischen Verhältnisse in einer von den unteren Schichten getragenen Revolution befürchteten und ablehnten.212 Die Ereignisse in Frankreich waren Anlass einer am 8. März 1848 abgehaltenen Versammlung der ordentlichen Bonner Professoren, an der allerdings auch Kinkel als außerordentlicher Professor teilnahm. In der aus dem Treffen hervorgegangenen und an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. gerichteten Adresse wiesen die Unterzeichner auf die Gefahr eines Krieges mit Frankreich und vor diesem Horizont auf die Bedeutung eines »einigen, innerlich beruhigten Volkes« hin. Gleichzeitig kritisierten sie den »politischen Riß«, der seit den Befreiungskriegen und der Nichteinlösung liberaler, nationalstaatlicher Forderungen durch das nicht existierende »Deutschland« gehe.213 Dessen politische und verfassungsmäßige Einheit thematisierte Kinkel auch bei seiner ersten Rede, die am 20. März 1848 eine große Menschenmenge vor dem Bonner Rathaus verfolgte und an die noch Theodor Heuss an selber Stelle nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 12. September 1949 erinnerte.214 Die großen Jubel und Begeisterung auslösende Rede sollte der Beginn von Kinkels aktiver Beteiligung an den Ereignissen der folgenden Monate bis zum Juni 1849 und mithin auch die Grundlage seiner Popularität und Bedeutung als revolutionärer Integrations- und Kultfigur werden. Am Ende seiner Rede und mit der schwarz-rot-goldenen Fahne in der Hand beschwor Kinkel das Versprechen des Königs:
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Den breitesten Überblick zum rheinischen Liberalismus und den anderen politischen Lagern bietet immer noch die in drei Teilbänden publizierte, grundlegende Quellensammlung von Joseph Hansen (Hg.): Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850, 2 Bde. (3 Teile). Köln, Bonn 1919–1976 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichte, Bd. 36). Die Adresse ist abgedruckt bei Joseph Hansen (Hg.): Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850. Bd. 2.1 (Januar 1846–April 1848). Bonn 1942 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichte, Bd. 36), S. 541–544, zur Teilnahme Kinkels S. 544; die Unterzeichnung verweigerten nur der Geograph Benjamin Georg Mendelssohn und der Jurist Clemens Perthes; auf einen möglichen Krieg mit Frankreich wiesen nach der Februarrevolution etliche Liberale – darunter auch Friedrich Daniel Bassermann – mit ähnlichen, daraus resultierenden Forderungen hin, vgl. hierzu die Einleitung zu der hervorragenden Quellensammlung zur Revolution von Hans Fenske (Hg.): Quellen zur deutschen Revolution 1848–1849. Darmstadt 1996 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 24), S. 1–36, hier S. 1–2. Vgl. Theodor Heuss: Rede vom 12. September 1949, Bonn, in: Ders.: Die großen Reden. München 1967, S. 105–118, zu Kinkel S. 110–111.
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Es werde wahr, was der König gesprochen hat: es werde aus dem Staatenbund ein Bundesstaat! Ich hebe die Fahne, und rufe: Es lebe das große, unvergängliche, durch unsere Eintracht heilig Deutsche Reich.215
Diese nicht zuletzt an die Gefühle der Zuhörer appellierenden Schlußworte mit ihrer Vision eines einigen Deutschlands können indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Kinkel schon im März 1848 nicht in erster Linie um Verfassungsfragen ging, sondern diese letztlich nur als Instrument für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse vor allem der unteren Schichten von ihm verstanden wurden. Denn einige Zeilen zuvor spricht er die deutsche Fahne als symbolisches »Zeichen der Liebe« an, »das alle Gedrückten, die noch unter uns sind, durch Recht und Bildung den Weg führt, dass Jeder Theil gewinne an dem Bürgerglück, das heut über uns aufglänzt«.216 Auch noch in seinem bei den Kollegen auf Ablehnung stoßenden Wahlprogramm für die Volkspartei vom April 1848 hielt Kinkel prinzipiell an der für die Liberalen maßgeblichen und verbindlichen Zielvorstellung einer konstitutionellen Monarchie fest (Artikel 1), betont aber gleichzeitig in seinem Vorwort217 die herausragende Bedeutung demokratischer, freier Wahlen und des Volkes, das sich klar bewusst sein müsse, »dass es, vermöge der ihm innewohnenden Machtvollkommenheit, allein im Stande ist, das Vaterland zu retten«.218 Nicht eine Verfassung für den letztlich doch nur eine politische Idee verkörpernden Bundesstaat hatte Kinkel im Blick, sondern eine Verfassung für die Anliegen und Nöte des Volkes. Gerade die unterschiedlichen Gewichtungen der Verfassungsfrage und der ›sozialen Frage‹ markieren in der politischen Ideengeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die signifikante Trennlinie der verschiedenen Lager innerhalb der Opposition.219 Diese Spaltung in verschiedene Gruppen kann indessen nicht nur in der politischen Publizistik beobachtet werden, sondern manifestiert sich auch konkret in Vereinsbildungen. Die auf Kinkels Initiative zurückgehenden Gründungen eines Bonner Demokratischen Bürgervereins und kurz darauf eines Handwerkerbildungsvereins Ende Mai 1848 markieren seine endgültige Trennung von (früh-)liberalen
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Die Rede ist abgedruckt bei Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 65–67, Zitat S. 67. Ebd., S. 66; vgl. hierzu auch Kersken, Stadt und Universität Bonn, 1931, S. 51–52. Kinkels Wahlprogramm. Ansichten einiger hiesigen Volksfreund über die volksthümliche Umgestaltung der staatlichen Verhältnisse in Deutschland und in Preußen ist abgedruckt bei Kersken, Stadt und Universität Bonn 1931, S. 49–51; die wichtige Vorrede Kinkels fehlt hier allerdings, diese ist abgedruckt bei Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 71–77; zur Reaktion der liberalen Professoren vgl. Braubach, Bonner Professoren und Studenten, 1967, S. 20. Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 72. Einen Einblick in die politische Konstellation vermittelt die auch nach politischen Lagern sortierte Quellensammlung von Hans Fenske (Hg.): Vormärz und Revolution 1840– 1848. Darmstadt 1976 (Quellen zum politischen Denken der deutschen Neuzeit im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 4).
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Ideen. Während der 1840er Jahre nahm die kritische und ablehnende Haltung der staatlichen Organe gegenüber den zeitgenössisch auch oftmals als »Associationen« bezeichneten (politischen) Zusammenschlüssen Gleichgesinnter noch schärfere Formen an. Schon in den Jahrzehnten zuvor zeigte sich, wie Rotteck und Welcker in ihrem Staatslexikon von 1834 festhalten, »kaum wie bei irgendeinem anderen Gegenstand […] so sehr der Kampf der Grundsätze der Repräsentativverfassung und des Absolutismus. Selbst aber auch da, wo man glaubte oder behauptete, auf dem konstitutionellen Standpunkte zu stehen, entbrannte doch ein lebhafter, verworrener Streit über diesen Gegenstand«.220 Die nicht nur von konservativer und monarchistischer, sondern auch teilweise von konstitutioneller Seite immer wieder den Vereinen unterstellte »Rechtswidrigkeit und rechtliche Strafbarkeit«221 erklärt sich nicht zuletzt aus der Angst vor der politischen Breitenwirkung dieser Demokraten- und Handwerkervereine, deren ohnehin schon große Anzahl von Neugründungen vor allem nach den Märzereignissen von 1848 Unbehagen auslöste, was durch die zahlreichen Zusammenschlüsse von Vereinen freilich noch gesteigert und von den Regierungen aufmerksam verfolgt wurde. So auch der Mitte August 1848 abgehaltene Rheinische Demokratenkongress, als dessen stellvertretender Präsident Kinkel gewählt wurde und bei dem er auch an der Erarbeitung von Vorschlägen beteiligt war, die eine bessere Zusammenarbeit der Vereine untereinander ermöglichen sollten.222 In einem Bericht der Kölner Regierung vom Oktober 1848 wurden die Demokraten- und Arbeitervereine allgemein und besonders der von Kinkel in Bonn geführte als staatsgefährdend eingestuft, da sie »sozialistisch-demokratische Tendenzen und als Endziel die rote Republik« verfolgten.223 Auch der von Kinkel in Bonn gegründete Handwerkerbildungsverein verständigte sich mit gleichartigen Gruppierungen anderer rheinischer Städte. Ihre Anliegen brachten sie in einer gemeinsamen Petition vom 30. Juni 1848 vor die National-
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Carl Welcker: Association, Verein, Gesellschaft, Volksversammlung, in: Staats-Lexikon. Encyclopädie der sämtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. In Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands herausgegeben von Carl von Rotteck und Carl Welcker. Neue durchaus verbesserte und vermehrte Auflage. [Mit einer Einleitung zum Neudruck von Hartwig Brandt und einem Verzeichnis der Mitarbeiter von Helga Albrecht. 12 Bde., hier Bd. 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 723–746, Zitat S. 723. Ebd., S. 730. Der Bericht über den Kongreß in Joseph Hansen (Hg.): Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850, hier Bd. 2.2 (April – Dezember 1848). Unter Benutzung der Vorarbeit von Joseph Hansen bearbeitet von Heinz Boberach. Köln, Bonn 1976 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 36), S. 356–365; zur Gründung der beiden Vereine vgl. auch Braubach, Bonner Professoren und Studenten, 1967, S. 29–30. Ebd. S. 490–491, Zitat S. 490; schon allein die Mitgliederzahl des demokratischen Vereins von durchschnittlich 600 Bürgern – gegenüber dem Konstitutionellen Bürgerverein mit nur 285 Mitgliedern – dürfte bei der Regierung Besorgnis erregt haben.
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versammlung. Das Schreiben trägt unter anderen die Unterschrift Kinkels, der zum Vorsitzenden der Vereinigung gewählt worden war: Deutschland hat den Druck, unter welchem es durch die Gewalt seiner Fürsten und ihrer Günstlinge schmachtete, von sich abgeworfen. Durch die eigene, in ihm wohnende physische und moralische Kraft hat das deutsche Volk sich die Freiheit erkämpft. Um diese erkämpfte und errungene Freiheit zu ordnen und sich für die Zukunft zu sichern, hat das Volk seine Vertreter gewählt und dieselben zu dem deutschen Parlamente in Frankfurt gesendet. Wir hegen die zuversichtliche Hoffnung, dass die Vertreter Deutschlands die Souveränität des Volkes wahren werden und eine Verfassung feststellen, welche als aus dem Willen des Volkes hervorgegangen zu betrachten ist. Ebenso wichtig wie die politische ist aber wohl die Arbeiterfrage. Das Kapital hat die Arbeit unterdrückt. Fleiß, Geschicklichkeit und Talent können den gebührenden Lohn und Anerkennung nicht mehr erreichen. Sollen unsere Verhältnisse für die Dauer zum allgemeinen Nutzen geordnet und festgestellt werden, so ist es nötig, dass die Mittel aufgesucht werden, wodurch die Arbeit sich der verderblichen Gewalt des Kapitals entziehen kann. Mit voller Überzeugung erkennen wir aber, dass diese Mittel nur von praktischen Männern, also von solchen, welche selbst Arbeiter sind, aufgesucht und angegeben werden können. Wir verlangen deshalb: das Parlament in Frankfurt möge bestimmen, dass alle Handwerker- und Arbeitervereine Deutschlands eine von einem Kongreß dieser Vereine zu bestimmende Zahl von Deputierten aus praktischen Männern bestehend, nach Frankfurt schicken, um mit der vom Parlamente ernannten Kommission für die Arbeitsfrage und Handwerkerangelegenheiten gemeinsam zu beraten und das Resultat dieser gemeinsamen Beratungen dem Parlamente zur Annahme vorzulegen.224
Die Handwerkerfrage war mit ihren Problemen der Verhältnisse von Arbeit und Maschinen-Fortschritt, Kapital, Lohn und Abgaben eine der brisanten sozialen Themen im Vormärz. Die in der Petition mitunter an spätere (früh-)sozialistische Formulierungen gemahnende Wortwahl von der Unterdrückung der Arbeit und Arbeiter durch das Kapital ist unterdessen und zunächst einmal auch als Erbe des älteren Liberalismus zu betrachten, wenngleich freilich die Frage der Überführung faktisch noch bestehender älterer Zunftbeschränkungen in neue, die einzelnen Gewerbe ordnende aber nicht beschränkende Modelle heftig diskutiert wurde.225 Schon Friedrich List wies in seinen Artikeln Arbeit, Arbeiter und Arbeitslohn für das Rottecksche und Welckersche Staatslexikon (1834) auf die »Entwürdigung der arbeitenden Classen« durch Maschinen und ungerechte Steuerbelastung hin.
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Abgedruckt in Hansen, Rheinische Briefe und Akten, 1976, S. 293–294. Hierzu und zum Verhältnis von Handwerk und Liberalismus insgesamt vgl. Hans-Ulrich Thamer: Emanzipation und Tradition. Zur Ideen- und Sozialgeschichte von Liberalismus und Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz. Hg. von Wolfgang Schieder. Göttingen 1983 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 9), S. 54–73, bes. S. 55 u. 60–61; Thamer wertet in seiner quellenreichen Studie vor allem die Wanderungen und Lebensansichten des Buchbindermeisters Adam Henß (1845) aus und fragt nach der »Resonanz und Rezeption des Liberalismus im Handwerk und nach der sozialen Repräsentanz liberaler Programmatik (S. 55). Er relativiert dabei die These, als Träger des Liberalismus seien nur das Besitz- und Bildungsbürgertum in Erscheinung getreten.
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Die erdrückende Last der Abgaben für Arbeiter, die demselben bei »übermäßigen Anstrengungen keine geistigen Genüsse und nur so viel leibliche übrig lassen, als absolut nöthig ist, um nicht zu verhungern«, sei nicht nur das individuelle Problem der Betroffenen, sondern »verkrüppel[e] auch nach und nach die Nation körperlich«.226 Wenn Kinkel und die anderen Verfasser der Petition vom »gebührenden Lohn und Anerkennung« der Arbeit sprechen, dann treffen sie genau ins Zentrum der zeitgenössischen Diskussion, in der immer wieder versucht wurde, die Würde der Arbeit mit der fortschreitenden Industrialisierung und Modernisierung der Arbeitswelt – mit freilich unterschiedlichen Ansätzen – zu versöhnen.227 Als Summe seiner Bemühungen um Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Handwerker und unteren gesellschaftlichen Schichten kann Kinkels 1848 erschiene Schrift Handwerk errette Dich! betrachtet werden.228 Schon in den frühen 1840er Jahren beschäftigte Kinkel das Thema Handwerkertum im Rahmen seiner kunstgeschichtlichen Publikationen und auch in seinem Versepos Der Grobschmied von Antwerpen (1843). Man mag Kinkel, wie das gelegentlich geschehen ist, gerade im Blick auf diese in die (Kunst-)Geschichte verlegten Thematisierungen des Handwerks einen romantisierenden Blick auf diesen Berufsstand vorwerfen. Doch ist seine schon mit dem programmatischen Imperativ versehene Schrift Handwerk errette Dich! alles andere als eine an der Lebenswirklichkeit der unteren Stände und namentlich der Handwerker vorbei geschriebene Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Situation. Vielmehr geht Kinkel auf alle mit der Handwerkerfrage verbundenen drängenden Probleme ein. Das Verhältnis von Handarbeit, Maschine und Handel229 sowie die Folgen der Überbevölkerung und die Auswanderung230 kommen ebenso zur Sprache wie Verbesserungsvorschläge für das Ausbildungswesen231 und Mittel zur Verbesserung der »äußeren Zustände« wie Innung, Krankenkasse und Handwerkerschiedsgericht.232
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Friedrich List: Arbeit, in: Staats-Lexikon. Encyclopädie der sämtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. In Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands herausgegeben von Carl von Rotteck und Carl Welcker. Neue durchaus verbesserte und vermehrte Auflage. [Mit einer Einleitung zum Neudruck von Hartwig Brandt und einem Verzeichnis der Mitarbeiter von Helga Albrecht. 12 Bde., hier Bd. 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 604–609, Zitat S. 605. Einen sowohl regional als auch zeitlich breit angelegten, immer noch grundlegenden Sammelband zum Thema bietet Ulrich Engelhardt (Hg.): Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Stuttgart 1984 (Industrielle Welt, Bd. 37). Gottfried Kinkel: Handwerk errette Dich! Oder Was soll der deutsche Handwerker fordern und thun, um seinen Stand zu bessern? Bonn 1848. Ebd., S. 59–60. Ebd., S. 110–118. Ebd., S. 94–96. Ebd., S. 139–146.
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Da Kinkel in der »unbedingten Gewerbefreiheit« nichts als »den vollständigen Sieg des Kapitals über die Arbeit«233 erkennt, plädiert er für eine (neue) Gewerbeordnung und den Schutz der Arbeit, die er als Grundlagen auf dem Weg zur Republik erachtet. Entscheidender Faktor für die Bewältigung der angesprochenen Missstände und Umsetzung der vorgetragenen Verbesserungsvorschläge ist für Kinkel die Anhebung der geistigen Bildung, worauf auch schon Friedrich List in seinem Artikel Arbeit für das Staats-Lexikon hingewiesen hatte.234 Wie konsequent Kinkel tatsächlich diese Forderung umgesetzt sehen wollte, zeigt sich nicht nur an den schon besprochenen Vereinsgründungen, sondern auch publikationsgeschichtlich in der ebenfalls von Kinkel initiierten Herausgabe des Extrablattes der Bonner Zeitung. Zeitung zur Belehrung des Handwerkerstandes und zur Besprechung seiner Interessen, das zum 1. Januar 1849 in Spartacus. Wochenzeitung für soziale Fragen umbenannt wurde.235 Während sein Bonner Kollege Dahlmann wie viele andere Professoren (und Dichter) über die Reichsverfassung im Frankfurter Vorparlament seit dem Frühling 1848 berieten,236 übernahm Kinkel erstmals ein politisches Amt in der zweiten Preußischen Abgeordnetenkammer in Berlin, in die er für den Wahlkreis SiegburgBonn im Februar 1849 als Vertreter der Republikaner gewählt wurde. Doch waren in der preußischen Hauptstadt die Bedingungen für die Demokraten seit der vom König im Dezember 1848 oktroyierten Verfassung und dem im Zusammenhang mit den Wahlkampagnen im November 1848 verhängten Belagerungszustand – der bis zum April 1849 nicht aufgehoben wurde – alles andere als vorteilhaft.237 Knapp zwei Monate nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. war das Ende von Kinkels Berliner Zeit als Abgeordneter mit der vom König autoritär angeordneten Auflösung der 2. Kammer am 27. April 1849 besiegelt und er kehrte nach Bonn zurück.238
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Ebd., S. 14. List, Arbeit, 1990, S. 604–609. Vgl. hierzu ausführlich Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 283–284. Neben den bekannten Professoren des großen Flügels der liberalen Mitte Jakob Grimm, Johann Gustav Droysen und Georg Gottfried Gervinus, saßen auch zahlreiche Dichter wie die Großdeutschen Friedrich Theodor Vischer, Ludwig Uhland, Jakob Philipp Fallmerayer oder die Preußenverehrer Ernst Moritz Arndt und Wilhelm Jordan in der Versammlung, vgl. hierzu jüngst Norbert Oellers: Dichter in der Paulskirche, in: 1848 und das Versprechen der Moderne. Hg. von Jürgen Fohrmann. Würzburg 2003, S. 49–63. Mit dem Hinweis auf die »Lähmung« des Gewerbes und des Handels durch die Belagerung richteten Kinkels und seine Kollegen – darunter auch Johann Jacoby – am 15. März 1849 eine Adresse an den König, in der sie forderten, »die unveräußerlichen Recht des Volkes aufrechtzuerhalten« und an die Stelle der Herrschaft von »Gewalt und Willkür« wieder jene der Gesetze treten zu lassen, Abdruck der Adresse in: Johann Jacoby. Briefwechsel 1816–1849. Hg. und erläutert von Edmund Silberner. Hannover 1974 (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig), S. 563–566. Zu den Vorgängen Braubach, Bonner Professoren und Studenten, 1967, S. 99–103.
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Die von Berlin ausgehende Konterrevolution machte sich freilich auch im Rheinland bemerkbar und die Regierung versuchte dort, die alte Ordnung mit militärischen Mitteln wiederherzustellen. Im Siegburger Zeughaus sollte am 11. Mai 1849 die Landwehr mit Waffen versehen werden, um die Aufstände in Köln, Elberfeld und Düsseldorf zu unterbinden. Um diese zu unterstützen, stürmten am frühen Morgen des 11. Mai 1849 Bonner Studenten und Demokraten das Zeughaus und entwendeten einige Waffen.239 Kinkels Teilnahme an der politisch folgenlosen Aktion und seine anschließende ›Wanderung‹ mit der Muskete nach Elberfeld sind zwar unstrittig, doch konnte die Frage nach seiner genauen Rolle bei der Aktion nicht ganz geklärt werden. In jedem Fall aber markiert seine erste aktive Beteiligung an einer revolutionären Handlung nicht nur das Ende seiner Professorenlaufbahn in Deutschland, sondern ist gleichzeitig auch der Beginn seiner Verfolgung durch die Organe der Staatsgewalt und letztlich seines lebenslangen Exils. Als Kinkels Amtsenthebung am 31. Mai 1849 von der Bonner Universitätsleitung offiziell beschlossen wurde, befand er sich schon längst im Zentrum der pfälzischen und später badischen Revolution. Die Bedeutung, die ihm als Integrationsfigur der revolutionären Erhebungen über die jeweils regionalen Grenzen hinaus zukommt, lässt sich nur mit der von Friedrich Hecker vergleichen, dessen gescheiterter sogenannter »Heckerzug« vom April 1848 sowohl bei seinen Gegnern als auch Gesinnungsgenossen vielleicht gerade wegen seines unglücklichen Ausganges große Aufmerksamkeit fand.240 Auch die enorme Popularität, die Kinkels Beteiligungen an Kämpfen in der Pfalz und Baden fanden, hängen sicherlich nicht wenig mit seinem späteren Schicksal der Gefangenschaft und Flucht zusammen. Nach seiner Flucht aus Bonn, gelangte er über Elberfeld nach Mainz und von dort am 15. Mai 1849 über Kirchheimbolanden ins pfälzische Kaiserslautern, wo er an der Reichsverfassungskampagne teilnahm und seit Pfingsten zunächst als Agitator und Propagandist, dann als Emissär der provisorischen pfälzischen Regierung eingesetzt war, die sich am 17. Mai 1849 in Kaiserlautern konstituiert hatte.241 Kinkel gehörte damit zu den vielen Aktiven der
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Hierzu zuletzt Norbert Schloßmacher: Der Siegburger Zeughaussturm vom 10./11. Mai 1849, in: Petitionen und Barrikaden – Rheinische Revolution 1848/49. Hg. von Ottfried Dascher. Münster 1998 (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe D, Bd. 99), S. 365–367; vgl. auch Braubach, Bonner Professoren und Studenten, 1967, S. 109–111. Zur Rezeption Heckers Rudolf Muhs: Heckermythos und Revolutionsforschung, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 134 (1986), S. 422–441; Peter Assion: Der Heckerkult. Ein Volksheld von 1848 im Wandel seiner geschichtlichen Präsenz, in: Zeitschrift für Volkskunde 87 (1991), S. 53–76. Die wenigen Monate von Kinkels Flucht aus Bonn bis zu seiner Gefangennahme in Baden sind bislang in den älteren Arbeiten von Rösch-Sondermann (1982) und Beyrodt (1979) nur lückenhaft zur Sprache gekommen, da die einschlägigen Dokumente und Briefe aus der Zeit bis dahin nicht bekannt waren. Erst Hanns Klein konnte in seiner Studie aufgrund von neu entdeckten Briefen minutiös den Weg von Kinkel über die Pfalz nach Baden nachzeichnen, vgl. Hanns Klein: Gottfried Kinkel als Emissär der provisorischen
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pfälzischen Revolution, die von außerhalb kamen, um sich an den Erhebungen zu beteiligen.242 Dass sein Weg schließlich mit dem Überquerung des Rheins bei der Knielinger Brücke Mitte Juni 1849243 auch noch in das zweite südwestdeutsche Revolutionszentrum, nach Baden, führte, wo sich Kinkel wie zahlreiche andere Rheinländer als Feldjäger der Revolutionskorps August Willichs anschloss, veranschaulicht die enorme Entschlossenheit, mit der Kinkel nun auf gewaltsamen Wege versuchte, die noch 1848 zum Greifen nah erschienene Einheit der Nation und Freiheit der Bürger zu verwirklichen.244 Als Kinkel am 29. Juni 1849 nach Kämpfen mit preußischen Regierungstruppen an der Murg verwundet und gefangengenommen wurde, war er nicht nur schon zu einer zentralen Gestalt der Revolution geworden – was sich durch die Prozesse und Urteile noch steigern sollte –, sondern hatte indessen auch sein Privatleben dem kämpferischen Eintreten für die politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen untergeordnet. Gerade in der Beschreibung des Verhältnisses von Privatleben und öffentlichem Auftreten zeigt sich in Kinkels Vita die Typik von Vormärz-Biographien, was Ludwig Marcuse schon im Zusammenhang mit Ludwig Börne thematisiert hat und was mithin auch geradezu charakteristisch für Kinkels Lebensweg seit seiner Flucht aus Bonn erscheint: Immer antwortete er auf die Ereignisse des Tages aus Leidenschaft des Ziels, nicht aus den Leidenschaften eines Subjekts. Und vielleicht ist nichts bezeichnender für seine Art als diese Verschmelzung von Kampf und Privatperson. Der Kampf-Gegenstand löschte
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pfälzischen Regierung der Pfalz im Frühjahr 1849 im Westrich. Bemerkungen zu neuentdeckten Kinkel-Briefen, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 8 (1982), S. 107–135; zunächst wurde Klein nur auf zwei im September 1849 in der Saarzeitung mit einem Vorspann gedruckten Briefe Kinkels an den Chef des pfälzischen Generalstabs Gustav Techow vom Juni 1849 aufmerksam, die noch ergänzt werden konnten von zwei weiteren Briefen, die zeitlich unmittelbar an die ersten beiden anknüpfen und im September 1850 in der reaktionären Rheinisch-Westphälischen Zeitung abgedruckt wurden. Zusammen stellen diese Briefe (im Anhang S. 117–135) eine nicht nur wichtige Quelle für Kinkels pfälzische Wochen dar, sondern vermitteln in ihrer Unmittelbarkeit bei der Lektüre auch einen Eindruck vom ›Tagesgeschäft‹ der Revolutionäre. Gleichwohl steht, wie schon Klein anmahnte, eine ausführliche und weitergehende Auswertung der pfälzischen Quellen und Archivalien noch aus. Alleine von den 333 in den Akten des Appellationsgerichtes von Zweibrücken verzeichneten und nach dem Aufstand Angeklagten waren 124 Nicht-Pfälzer, vgl. Kurt Baumann: Volkserhebung und Konspiration in der pfälzischen Bewegung von 1848/49, in: Mitteilungen des historischen Vereins der Pfalz 68 (1970), S. 292–317. Vgl. Klein, Gottfried Kinkel als Emissär, 1982, S. 115. Zu dem ehemaligen preußischen Offizier und Gründer der sogenannten Kompanie Besançon, der sich auch Kinkel anschloß, vgl. zuletzt den umfangreichen Artikel mit hervorragendem Material von Rolf Dlubek: August Willich, in: Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49. Hg. von Helmut Bleiber, Walter Schmidt und Susanne Schötz. Berlin 2003, S. 923–1003, zur Rolle von Willichs Korps in Baden bes. S. 945–961; zur Anzahl von Rheinländern in Willichs Korps vgl. Baumann, Volkserhebung, 1970, S. 296–297.
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den Privatmenschen aus: er führte den Kampf, der nicht um Inhalte seines Privatlebens ging, wie seine private Angelegenheit. Deshalb wurde sein Leben zugleich das Privateste und Öffentlichste: es gibt hier keine Zweiteilung.245
Für die zeitgenössische und spätere Wahrnehmung Kinkels als ›Märtyrer‹ der Revolution ist diese »Auslöschung der Privatperson« ebenso bestimmend wie in seinen Gerichtsreden deutlich wird, dass er noch mit einem möglichen Todesurteil vor Augen die Verteidigung seiner Person verbindet mit dem politischen Ziel. 2.3.2 »Ich fordere Gerechtigkeit keine Gnade«. Kinkels Verteidigungsreden vor Gericht Unmittelbar nach seiner Gefangennahme waren Mutmaßungen über Kinkels weiteres Schicksal und Forderungen für seine Bestrafung in den Zeitungen und in der öffentlichen Diskussion an der Tagesordnung. Dies bezeugt zusammen mit den zahlreichen, noch vor Prozessbeginn an den preußischen König gerichteten Gnadengesuchen das schon von Martin Bollert betonte »mehr als gewöhnliche allgemeine Interesse an seinem Schicksal [und] die verbreitete Erwartung eines Todesurteils«.246 Bereits einen Monat vor Prozessbeginn richtete Kinkels Gefährte aus Maikäfer-Tagen, Carl Arnold Schloenbach, ein Bittschreiben an das Badische Armeekommando, um die Vollstreckung einer möglichen, aber noch gar nicht ausgesprochenen Todesstrafe zu verzögern. Die Bonner Bevölkerung setzte sich mit einem über eintausend Unterschriften versehenen, an den Prinzen von Preußen adressierten Gnadengesuch mit Ernst Moritz Arndt an der Spitze für Kinkel ein.247 Auch Karl Varnhagen von Ense hielt die täglichen Berichte und (Falsch-)Meldungen zu Kinkel in seinem Tagebuch fest. Der kurze Eintrag vom 6. August 1849, zwei Tage nach dem Prozess aber noch vor dem erst am 3. September 1849 verkündeten Urteil, mag die durch die Pressemeldungen hervorgerufene Atmosphäre und auch die Stimmung im Lager der Kinkel-Sympathisanten widerspiegeln: »Die ›Deutsche Zeitung‹ meldet, Kinkel sei erschossen. Vielleicht noch nicht; aber ich halte ihn für verloren.« 248 Mit der Bekanntgabe des Prozesstermins für den 4. August 1849 durch das General-Kommando der Badischen Armee am 26. Juli 1849 wurden die von Varnhagen geäußerten Befürchtungen bestätigt: Gegen Kinkel wird unter Berücksichtigung des § 18 Thl. II Strafgesetzbuch für das preußische Heer und des § 8 Einl. Ibid. Wegen Betheiligung an dem Kampfe der Auf-
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Ludwig Marcuse: Börne. Aus der Frühzeit der deutschen Demokratie. Rothenburg o. d. Tauber 1968, S. 64–65. Martin Bollert: Kinkel vor dem Kriegsgericht, in: Preußische Jahrbücher 150 (1914), S. 488–512, hier S. 489. Bollert, Kinkel vor dem Kriegsgericht, 1914, S. 498–499. Karl August Varnhagen von Ense: Tagebücher, Bd. 6. Leipzig 1862, S. 304.
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rührer gegen Köngl. Preuß. Truppen mit Bezug auf § 106 seq. Thl. II tit. 20 des Allg. Landr. hiermit die kriegsrechtl. Untersuchung eröffnet.249
Die hier genannten Paragraphen und Gesetzestexte, die von der Anklage für den Prozess für relevant befunden wurden, bilden auch für Kinkels Verteidigungsrede vor dem Kriegsgericht in Rastatt zunächst die wichtigsten Ausgangs- und Anknüpfungspunkte. Denn mit der Entscheidung der Anklage, Kinkel als Soldaten zu behandeln, vor ein Kriegsgericht zu stellen und die in der Anklageschrift genannten Paragraphen aus dem Militärstrafgesetzbuch und dem Allgemeinen Preußischen Landrecht anzuwenden war sowohl für Kinkels Verteidiger als auch für ihn selbst klar, dass am Ende der Verhandlung nach dem Willen der Ankläger seine Verurteilung zum Tode stehen sollte. Gleich zu Beginn seiner Rede geht Kinkel daher auch auf Formfehler des Gerichtes ein und stellt dessen Rechtmäßigkeit in Frage: Jedes Vergehen wird gerichtet nach den Gesetzen des Landes, in dem es begangen ist, und ich habe in Baden die Waffen getragen. Die Verordnung des Großherzogs über das standrechtliche Verfahren findet in ihrer ausgesprochenen Allgemeinheit auch auf mich Anwendung; dass man mich, weil ich Preuße bin, einem strengern Verfahren unterwirft, als andre deutsche Stämme, ist unbillig. Und jedenfalls ist dieses Verfahren ein strengeres. Betrachten sie mein Verfahren vom Standpunkt des Badischen Gesetzes, so bin ich ein Rebell gegen Baden. […] Statt Dessen stellt man mich vor ein Preußisches Kriegsgericht, richtet mich nach Preußischen Gesetzen. Mein Vergehen wird dadurch ein ganz anderes, viel schwereres: dort war ich ein Badischer Rebell, hier erscheine ich als Kämpfer gegen mein Volk, und so trifft mich die weit gehässigere Beschuldigung, ein Landesverräther zu sein.250
Neben Paragraph 18 des Militärstrafgesetzbuches, in dem die ausnahmsweise Zuordnung auch von Zivilpersonen unter den »Militairgerichtsstand« geregelt wird, verweist die Anklage nur noch auf den Paragraphen 106 und folgenden des Allgemeinen Preußischen Landrechts, in denen der Landesverrat mit der Todesstrafe belegt ist.251 Kinkel hingegen verweist auf die dem Militärstrafgesetzbuch vorangestellte KönigsOrdre vom 3. April 1845, nach der bei standrechtlichen Verhandlungen mit diesem neuen Gesetz alle bisherigen außer Kraft gesetzt seien und daher auch nicht das Allgemeine Preußische Landrecht zu Anwendung kommen könne. Vielmehr sei einzig Paragraph 88 des Militärstrafgesetzbuches auf seine Tat zu beziehen, der zumindest mildernde Umstände für den Angeklagten kennt, wenn dessen Vergehen dem Staat
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Der Text ist – wie viele andere Prozessakten und Dokumente – abgedruckt bei Bollert (Kinkel vor dem Kriegsgericht, 1914, S. 492), der die Akten des Generalauditoriats und die des preußischen Innenministeriums gesichtet hat, die sich zum Zeitpunkt seiner Untersuchung im Geheimen Kriegsarchiv des Kriegsministeriums bzw. im Geheimen Staatarchiv befanden. Hier zit. nach dem Abdruck Gottfried Kinkel: Verteidigungsrede vor dem Rastatter Kriegsgericht am 4. August 1849. München 1912 (Vorkämpfer deutscher Freiheit, H. 36), S. 9–29, Zitat S. 9–10; im Folgenden zitiert als Kinkel, Verteidigungsrede (Rastatt) 1912. Vgl. hierzu ausführlich Bollert, Kinkel vor dem Kriegsgericht, 1914, S. 492–493.
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keinen entscheidenden Nachteil gebracht haben, was Kinkel freilich hervorhebt.252 Kinkels Rede ist von der Haltung des Redners und vom Anlass her in erster Linie freilich eine Verteidigungsrede, als deren wichtigste Zielsetzung die Entkräftung der von der Anklage erhobenen und auf ein Todesurteil zielenden Vorwürfe angesehen werden muss. Doch zeigen sich bei genauer Analyse der Redestrategie, Aussagestruktur und argumentativen Redeorganisation vielfältige Bezüge zu zeitgenössischen rechtsgeschichtlichen und -philosophischen Diskursen, die Kinkel bewusst immer wieder mit der Darstellung verschiedener Phasen der Revolutionsgeschichte, -vorgeschichte und -forderungen verbindet. Damit ist Kinkels Rede in Rastatt nicht nur eine gerichtliche Verteidigungsrede, sondern in hohem Maße auch eine politische Rede, was ebenso auf die wohl berühmtesten Verteidigungsreden der Vormärzzeit zutrifft, die von den Hambacher Festteilnehmern Jakob Philipp Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth vor dem Schwurgericht in Landau gehalten wurden.253 Zwar wurde in der Vergangenheit immer wieder auf das enorme rhetorische Geschick der beiden Redner, den Metaphernreichtum der staatstheoretischen Entwürfe in Siebenpfeiffers und den sozialanthropologischen Grundcharakter von Wirths Rede hingewiesen, doch liegen, soweit ich sehe, bislang noch keine literarhistorischen Würdigungen der beiden Reden vor, die auch die in ihnen vorgetragenen politischen Positionen behandeln.254 252
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In der Rede heißt es: »Der Gesetzgeber, unser König, will also, dass das neue Gesetz überall gelte, wo es etwas Anderes als die alten Gesetze bestimmt. Dies ist oft der Fall. Wo z.B. im Landrecht der Strang steht, hat das Militair-Gesetzbuch die Kugel. Aber nicht bloß die Strafart, sondern auch das Strafmaaß ist in unserm Falle verschieden bestimmt. Im § 88 des Militair-Strafgesetzbuches heißt es nämlich weiter: ›Wer (wie ich oben verlas) sich der Landesverrätherei schuldig macht, begeht Kriegsverrath, und hat Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes, Cassation (Beides geht mich nicht an, ich bin kein Soldat) und Festungsstrafe, nach Umständen bis zu lebenswieriger Dauer, oder wenn durch den Verrath ein erheblicher Nachtheil entstanden, die Todesstrafe verwirkt. […] Nur über die Thatsache haben Sie zu richten: dass mein Thun dem Staate keinen Nachtheil gebracht hat.‹« Kinkel, Verteidigungsrede (Rastatt), 1912, S. 19–20. Die beiden 1833 gehaltenen Reden wurden recht schnell publiziert und in Umlauf gebracht. Vgl. Jakob Philipp Siebenpfeiffer: Zwei gerichtliche Vertheidigungsreden. Bern 1834; Wirths knapp 200 Seiten starke und 1833 in Nancy erschienene Rede liegt erfreulicherweise als fotomechanischer Nachdruck in einer Neuausgabe vor, vgl. Johann Georg August Wirth: Die Rechte des deutschen Volkes. Eine Verteidigungsrede vor den Assisen zu Landau. Mit einer Einführung von Michael Krausnick. Potsdam 1998 (Bibliothek europäischer Freiheitsbewegungen, Bd. 1); Auszüge beider Reden sind auch abgedruckt in der Quellensammlung von Hartwig Brandt (Hg.): Restauration und Frühliberalismus 1814–1840. Darmstadt 1979 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. III), S. 423–428 (Siebenpfeiffer) bzw. S. 428–436 (Wirth). Freilich finden die Reden in der einschlägigen historischen Forschung Erwähnung. Aufbau und Anlage werden allerdings nicht behandelt. Wenigstens skizzenhaft liefert dies für Wirths Rede Michael Krausnick in seiner Einführung, in: Wirth, Die Rechte des deutschen Volkes, 1998, S. XI–LXIV; auch Elisabeth Hüls geht in ihrer monumentalen und hervorragenden Biographie Wirths nur knapp auf die Rede ein, vgl. Elisabeth Hüls: Johann Georg August Wirth (1798–1848). Ein politisches Leben im Vormärz. Düsseldorf
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Im Zusammenhang mit seinen Predigten, Vorlesungen und Reden im Umfeld der Revolution wurde von der Forschung auch Kinkels Redetalent immer wieder thematisiert, ohne aber tatsächlich auf die Reden einzugehen.255 Bereits die Zeitgenossen zeigten sich von seinen rhetorischen Fähigkeiten beeindruckt – ob nun politisch und persönlich für oder gegen Kinkel eingestellt. So spricht der Rektor der Bonner Universität in seinem Bericht an das Ministerium vom 9.12.1848 von Kinkels schädlichem, politischem Einfluss auf die Studenten, der hauptsächlich auf seiner »nicht gewöhnliche[n] Redegabe«256 beruhe, Varnhagen von Ense notiert, dass Kinkel bei seiner Verteidigungsrede »alle Herzen erschüttert«257 habe und noch Conrad Ferdinand Meyer erinnert sich in einem Beitrag von 1883 an »das pathetische Reden«, das mit seinem Freund und Briefpartner »verwachsen«258 gewesen sei. Dass es kaum Spezialuntersuchungen, geschweige denn Überblicksdarstellungen zur politischen oder öffentlichen Rede des 19. Jahrhunderts in Deutschland gibt, mag vor allem mit der von Walter Jens 1965 in Tübingen gehaltenen Rede und deren Rezeption zusammenhängen, in der Jens »ein düsteres Bild« der Redekultur in Deutschland entwickelte.259 Jens stützte sich bei seiner Diagnose auf namhafte Zeitgenossen wie Christian Daniel Schubart und Adam Müller, die in der Tat den desolaten Zustand und sogar die fehlende »politische Beredsamkeit« der Deutschen überhaupt kritisierten, die sie auf Deutschlands politische Verfassung zurückführten. An diese prägnante Formel, dass, wie es Herder zusammenfasst, die Staatsverfassung
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2004, bes. S. 326–342; in Manfred Tremls Beitrag wird – anders als der Titel vermuten lässt – nur sehr kurz ein Blick auf Wirths Rede auf dem Hambacher Fest geworfen und seine Verteidigungsrede gar nicht erwähnt, vgl. Manfred Treml: Bilderwelten um Johann Georg August Wirth. Ein Beitrag zur Bildlichkeit und Metaphorik der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung, in: Johann Georg August Wirth (1798–1848). Ein Revolutionär aus Hof. Seine Person – seine Zeit – seine Wirkungen. Hg. von Axel Herrmann und Arnd Kluge. Hof 1999, S. 19–42, hier S. 39–40.; zu den in Landau erhobenen Anklagen (auch gegen Siebenpfeiffer) liegt eine gründliche historische Darstellung vor, in der aber durch die Themenstellung die Rede Siebenpfeiffers nicht hinreichend gewürdigt werden konnte, vgl. Theophil Gallo: Die Verhandlungen des außerordentlichen Assisengerichts zu Landau in der Pfalz im Jahre 1833. Verlauf, Grundlagen und Hintergründe. Sigmaringen 1996 (Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung, Bd. 3), bes. S. 96–98. Vgl. exemplarisch Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 250 und Sperber, Rhineland Radicals, 1991, S. 435; Sperber bezieht seine Äußerungen allerdings auf Kinkels Rede am 29. Juni 1850 vor dem Appellationsgericht in Zweibrücken. Dieser Prozess war der älteren Kinkelforschung nicht bekannt, zumindest kommt er sowohl bei Beyrodt als auch bei Rösch-Sondermann nicht vor. Erst Hanns Klein hat darauf hingewiesen, die Rede selbst existiert aber offenbar nicht mehr, vgl. Klein, Kinkel als Emissär, 1982, S. 109. Der Bericht ist abgedruckt bei Braubach, Bonner Professoren und Studenten, 1967, S. 131–134, Zitat S. 133. Varnahgen von Ense, Tagebücher, Bd. 7, 1865, S. 163. Conrad Ferdinand Meyer: Gottfried Kinkel in der Schweiz, in: Briefe Conrad Ferdinand Meyers. Nebst seinen Rezensionen und Aufsätzen. Mit vier Bildern und acht Handschriftenproben. Bd. 2. Hg. von Adolf Frey. Leipzig 1908, S. 500–507, Zitat S. 503. Die Rede ist vielfach aufgelegt und in zahlreichen Sammlungen publiziert worden, vgl. hier Walter Jens: Von deutscher Rede, in: Ders.: Von deutscher Rede. München, Zürich 1983, S. 24–53, Zitat S. 50.
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gar keine politischen Reden zulasse und daher die historische Rhetorik der Deutschen auch immer eine von Rebellen gewesen sei, knüpfte Jens in seiner Tübinger Rede an.260 Erst in jüngster Zeit ist die Gattung der politischen und öffentlichen Rede wieder in den Blickpunkt der Forschung geraten und versucht worden, mit einer differenzierten Betrachtung der nicht zuletzt im schulischen Lateinunterricht liegenden Ursachen für den Zustand der politischen Rhetorik im 19. Jahrhundert Jens’ Diktum zu relativieren.261 Kinkel wurde wegen seiner revolutionären Aktivitäten insgesamt drei Mal angeklagt und vor Gericht gestellt. Zu dem schon erwähnten Prozess vor dem Appellationsgericht in Zweibrücken262 kommt die Anklage vor dem Kriegsgericht in Rastatt am 4. August 1849 und vor den Kölner Assisen am 2. Mai 1850 hinzu. Nur zu den letzten beiden Prozessen liegen noch die von Kinkel vor Gericht gehaltenen Verteidigungsreden vor.263 Wie rege das Interesse an Kinkels weiterem Schicksal und wie groß die Wirkung seiner öffentlichen Auftritte gewesen war, lässt sich an seiner Kölner Verteidigungsrede ablesen, die schon kurz nach Prozessende in einem Separatdruck publiziert wurde und noch im selben Jahr in der vierten Auflage erschien.264 Da Kinkel bei dieser Verhandlung bereits verurteilt war und die 260
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Vgl. Jens, Von deutscher Rede, 1983, S. 30; widersprochen wurde Jens kaum. Auch Manfred Fuhrmann stellte die Identität von politischer Redekultur und Staatsverfassung nicht in Frage. Er betonte lediglich und im Unterschied zu Jens den Fortfall der Schulrhetorik und Verfall des Lateinunterrichts vor allem an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, vgl. Manfred Fuhrmann: Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Konstanz 1983 (Konstanzer Universitätsreden, Bd. 147). Hierzu grundlegend mit der älteren Forschung die Arbeit von Peter Philipp Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800. Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 142); eine neuere Arbeit zur Gattung der öffentlichen Rede allgemein stammt von Uwe Pörsken: Die politische Zunge. Eine kurze Kritik der öffentlichen Rede. Stuttgart 2002; mittlerweile liegen auch zahlreiche Untersuchungen zur Redekultur in der Bundesrepublik seit 1945 vor, exemplarisch sei auf folgenden Beitrag verwiesen, der auch den Anschluss an Jens’ Positionen sucht, Josef Kopperschmidt: Öffentliche Rede in Deutschland. Überlegungen zur politischen Rhetorik mit Blick auf zwei Gedenkreden im Deutschen Bundestag, in: Muttersprache 99 (1989), S. 213–230. Hierzu Klein, Kinkel als Emissär, 1982, S. 109. Die Rastatter Rede erschien bereits 1850 (Gottfried Kinkel: Verteidigungs-Rede vor dem Preußischen Kriegsgericht zu Rastatt am 4. August 1849. Berlin 1850) und wurde auch abgedruckt bei Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 275–301. Zitiert wird die Kölner Rede im Folgenden aus der zeitgenössischen, dritten Auflage, Gottfried Kinkel: Vertheidigungsrede vor den Kölner Assisen. Dritte Auflage. Berlin 1850; als Anhang ist die Rede auch abgedruckt bei Gerhard Schelcher: Deutschlands Weg zur Demokratie. Von Wien bis Olmütz. Hamburg 1948, S. 86–91; Varnhagen von Ense, Tagebücher, Bd. 7, 1865, S. 165, erwähnt den Abdruck der Rede in der Zeitung in seinem Eintrag vom 7. Mai 1850: »Kinkel’s Vertheidigungsrede steht vollständig in der heutigen ›Abendpost‹, die – wahrscheinlich deshalb – weggenommen worden; doch waren die Berliner Abdrücke schon ausgetheilt.«; noch Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Rede in der zweiten Auflage einer anonym erschienenen Darstellung des sogenannten Zeughaussturmes publiziert, vgl. Gottfried Kinkel: Verteidigungsrede vor den Cölner As-
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in Köln gehaltene Rede im Hinblick auf ihre Argumente und innere Organisation gewissermaßen als Kurzfassung der Rastatter Rede bezeichnet werden kann, soll im Folgenden die in Baden gehaltene Verteidigungsrede im Mittelpunkt stehen und nur an einzelnen Stellen vergleichend auch der Blick auf die spätere Rede gelenkt werden. Von entscheidender Bedeutung für den Aufbau der Rede sind die ersten Worte, mit denen Kinkel bereits die Grundlage für die spätere Darstellung der Revolutionsereignisse und die Begründung für die Motivation seiner Teilnahme an den Aufständen schafft, indem er von seiner Person zunächst ablenkt und schon zu Beginn seinen selbstlosen Einsatz für andere betont: Meine Herren! Ich bin in ihrer Hand, und was Sie über mich verfügen, seien Sie überzeugt, ich werde es als Mann zu tragen wissen. Aber ich habe eine Familie, die, wenn ich sterbe, in Armuth und Elend sinkt; ich habe auch ein Vaterland, das meine Dienste noch vielleicht in Anspruch nimmt. Um dieser Familie und dieses Vaterlandes willen rede ich zu meiner Vertheidigung.265
Kinkel präsentiert sich hier als Privatmensch, als pater familias und als Staatsbürger, der sich für die res publica noch als nützlich erweisen kann und – implizit hier formuliert – das in der Vergangenheit auch schon getan hat. Der Gebrauch gesellschaftlich elementarer und von der Wirkung auf das Publikum her gesehen auch suggestiver Begriffe, wie sie mit »Vaterland« und »Familie« gleich in den ersten Sätzen vorkommen, stellt ein Hauptmerkmal der gesamten Rede dar. Nicht selten werden auch ganze Begründungssysteme auf solchen elementaren Begriffen – im folgenden Zitat als Beispiel »Ehre« – aufgebaut: So bleibt nur eine Anschuldigung übrig; ich bin Freischärler unter Willich gewesen, und habe gegen Reichstruppen im Feuer gestanden. Ich fühle, meine Herren, dass ich hier eine Frage voraus beantworten muß, die mir schon im Verhör entgegengetreten ist, und die ich auch jetzt in Ihrem Innern zu lesen glaube. Man fragt mich: wie ich zu dem Entschlusse gekommen bin, als Gemeiner in eine Freischaar einzutreten. Meine Feder, meine Kenntnisse – gaben sie mir nicht die Möglichkeit, eine andere Stellung einzunehmen, die meinen Fähigkeiten angemessen war? Ich will mich darüber ganz offen aussprechen. In die Freischaar trat ich ein, nachdem die Pfalz verloren, nachdem unsere Sache überall im Sinken war. Was hätte ich denn damals noch für eine Stellung suchen sollen, die mit der Ehre vereinbar war? Sollte ich in den Lügenblättern schreiben, um große Siege der Revolutionsarmee in die Welt zu posaunen? Sollte ich erfundene Berichte über glänzende Waffenthaten der Ungarn schmieden oder noch als Redner in Volksversammlungen auftreten, um im Volke Hoffnungen aufrecht zu erhalten, an die ich selbst nicht mehr glaubte? Oder sollte ich mich hergeben, um als Beamter irgend einer Art Erpressungen vorzunehmen? Nein, meine Herren, für das alles war ich zu gut: meine Hand ist rein von
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sisen, in: Der Zug der Freischärler unter Kinkel, Schurz und Annecke behufs Plünderung des Zeughauses in Siegburg nebst Kinkel’s Vertheidigungsrede vor den Assisen in Cöln. 2. Auflage. Bonn 1886 (Aus der rheinischen Geschichte, Bd. 8), S. 28–32. Kinkel, Verteidigungsrede (Rastatt), 1912, S. 9.
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Raub, von Gewaltthat, von jeder Erpressung. […] Nein, für eine sinkende Sache kann ein Mann, der ihr treu ist, mit Ehren nur noch Eins thun: er kann mit seiner Person, mit Leib und Leben für sie einstehen. Dies habe ich gethan: ich trat als Gemeiner in die Compagnie Besancon. Sie können Das, meine Herren, einen Entschluß der Verzweiflung nennen: dass es aber ein Entschluß sei, der meine Ehre als Mann entwürdigt – nein, Das können Sie nicht sagen!266
Danach widmet sich Kinkel ausführlich den bereits dargestellten juristischen Fragen seines Prozesses.267 Abgesehen vom geschickten Einsatz einer ganzen Reihe rhetorischer Fragen, deren Antwort der Redner am Ende den Befragten selbst in den Mund gelegt (»nein, Das können Sie nicht sagen«), setzt sich in dieser Passage die von Kinkel schon bewusst im ersten Satz der Rede (»Meine Herren! Ich bin in Ihrer Hand«) vorgenommene Einteilung verschiedener politische Lager fort (»unsere Sache«). Noch deutlicher wird dieses Schema von Verlierern auf der einen und Siegern auf der anderen Seite, von Gerichteten hier und Richtenden dort, wo Kinkel auf die politische Dimension seiner Verhandlung zu sprechen kommt, was etwa die Hälfte der gesamten Rede beansprucht: Sie werden mir aber erlauben, auch noch die politische [Seite] zu berühren, die Sie bei Ihrem Urtheil ja nicht ausschließen dürfen. Niemand unter Ihnen wird sagen, dass ich ein gemeiner Verbrecher sei; meine That können Sie doch wahrlich nicht mit Mord und Diebstahl, mit dem Landesverrath des Spions, der sein Leben um Gold verkauft, oder mit der Schande etwa eines Commandanten vergleichen, der dem Feinde eine Festung überliefert, um hernach in dessen Lande seinen Sündenlohn zu verprassen! Was ich gethan habe, fällt unter den Gesichtspunkt eines politischen Verbrechens: – nicht in einem Völkerkrieg, sondern in einem Bürgerkrieg haben wir uns gegenübergestanden. Dies macht meine Stellung vor Ihnen so schwierig, dies macht aber auch Ihnen Ihr Amt schwer, wenn Sie es gewissenhaft erfüllen wollen. Sie nämlich, die über mich richten, sind selbst Partei, Sie richten über einen Mann, der Ihrer Gegenpartei angehört: Sie müssen daher auf Ihre Parteianschauung ganz verzichten, müssen rein die Sache ins Auge fassen, wie sie liegt.268
Noch wirkungsvoller setzt Kinkel die Frage nach der Bewertung des politischen Verbrechens bei seiner Kölner Rede gleich an den Anfang: »Meine Herren Geschworenen! Das Verbrechen, dessen ich beschuldigt werde, ist ein politisches und kann nur vom politischen Standpunkte richtig gewürdigt werden.«269 Sowohl in der Rastatter als auch in der Kölner Rede folgt dieser Feststellung ein langer Abschnitt, in dem Kinkel perspektivisch aus der Sicht der Unterlegenen den Verlauf der Revolution und ihre Vorgeschichte darstellt, in dem auffällig oft der Begriff des »Volkes« vorkommt. Damit evoziert Kinkel gleichzeitig, als Vertreter und Stimme des Volkes hier zu sprechen, das sich um die vor und während der Revolution von den Machthabern und dem König angetragenen Versprechen von nationaler Ein-
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Ebd., S. 14–15. Vgl. ebd., S. 17–20. Ebd., S. 20–21. Kinkel, Verteidigungsrede (Köln), 1850, S. 3.
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heit, Bürgerrechten und Volksvertretung betrogen sieht.270 Vor allem das Scheitern der Reichsverfassung, die Ablehnung der Krone durch den König und die nachfolgende, zunehmend restaurative Entwicklung der politischen Fragen zählt Kinkel in beiden Reden als Gründe für seinen Griff zur Waffe auf. Dabei stellt er zunächst auch die alle Lager vereinigenden Gemeinsamkeiten in den Vordergrund, mit denen die Kluft zwischen Kinkel und seinen Richtern überwunden, zumindest aber verringert werden soll. Den geschichtlichen Rückblick erhebt Kinkel damit auch zur möglichen Zukunftsperspektive, deren visionärer Charakter auf der lexikalischen Ebene durch den Einsatz zahlreicher auf die (Volks-)Gemeinschaft anspielender Worte noch verstärkt wird: Gestatten Sie mir also diese Freimüthigkeit! – Die Märzrevolution des vorigen Jahres hatte Ein Hauptziel: es war die Einheit Deutschlands. Diese Einheit haben Sie gewollt, wie ich sie wollte; das ganze Volk verlangte danach; denn wir Alle wissen, dass ohne sie wir aus unserer erbärmlichen Politik nach Außen nicht herauskommen, Industrie und Handel nicht heben, der einreißenden Armuth nicht halten – mit Einem Worte, dass ohne die Einheit wir kein großes und glückliches Volk werden können. Aus diesem Einheitsdrang ging das Frankfurter Parlament hervor, vom Volke gewählt, von den Fürsten anerkannt. Eine Reichsverfassung sollte geschaffen werden in Verständigung mit den Regierungen. […] Sie Alle, meine Herren, wissen, mit welcher Freude man in Berlin die Deputation aus Frankfurt erwartete: nicht Deutschland allein, sondern namentlich das ganze Preußische Volk verlangte die Annahme der Krone unter der Bedingung der Grundrechte. […] Wäre damals geschehen, Was in Deutschland alle wollten, wir hätten uns in diesem Kriege nicht als Brüder feindlich entgegen gestanden!271
Aus dieser historischen Darstellung, aus dem Gang der Geschichte, die unter den gegebenen Vorzeichen eigentlich anders hätte verlaufen müssen, leitet Kinkel die Legitimität seiner Handlungen ab, die er zum Zeitpunkt ihrer Ausübung als legal erachtet, was in seiner Kölner Rede allerdings noch deutlicher zum Ausdruck kommt: Darum griff ich damals zu den Waffen und fürwahr, hätten wir damals gesiegt, hätten wir die Preußen auf dem Schlachtfelde zur Anerkennung der Reichsverfassung gezwungen, dann würde ich heute vor Sie hintreten und statt des Fallbeils, dass das öffentliche Ministerium nach den Gesetzen des französischen Kaisers für unsere Nacken fordert, die Bürgerkrone von Ihnen verlangen. Wir haben nicht gesiegt, und weil wir nicht gesiegt haben, fällt auf unsere Namen die Schmach der verfehlten Unternehmung. […] Eine andere Frage aber ist, ob wir jetzt nach unserer Niederlage strafbar sind nach den Aritkeln des Gesetzes? Wir sind es nicht. Jene Gesetze, gegeben unter einer absolutistisch-militärischen Monarchie, passen nicht für den konstitutionellen Staat, in welchem dem Bürger die Waffen in die Hand gegeben sind, nicht zu sonntäglichen Paraden, sondern zum Schutze der verfassungsmäßigen Freiheit.272
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Vgl. Kinkel, Verteidigungsrede (Rastatt), 1912, S. 292–297; Kinkel, Verteidigungsrede (Köln), 1850, S. 3–4. Kinkel, Verteidigungsrede (Rastatt), 1912, S. 290–291. Kinkel, Verteidigungsrede (Köln), 1850, S. 5.
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Dies führt wieder zurück zu dem von Kinkel in beiden Reden mehrfach betonten Hinweis an die Richter, dass sein Verbrechen nur vom »politischen Standpunkte richtig gewürdigt« werden könne. Damit berührt Kinkel gleichzeitig und nicht zufällig die in der zeitgenössischen juristischen Praxis, in der Rechtslehre und -philosophie außerordentlich kontrovers diskutierte Frage, wie der politische Straftäter zu behandeln und sein Verbrechen einzuschätzen sei.273 Anders als bei den konservativen Rechtsgelehrten und Autoren wie Johann Friedrich Heinrich Abegg, Johann Heinrich Zirkler oder Theodor Marezoll,274 die an der überkommenen und harten Bestrafung politisch motivierter Straftaten nichts ändern wollten oder sogar noch, wie Zirkler, deren Verschärfung forderten, finden sich auf liberaler und radikaler Seite Vertreter, die vor allem den Tatbestand des Landes- und Hochverrates als politische Straftat von gemeinen Straftaten wie Mord unterschieden sehen wollten. Die Unterscheidung zwischen politischer und gemeiner Straftat bzw. die mildere, nicht zwangsläufig die Todesstrafe nach sich ziehende Behandlung politischer Straftäter wurde allerdings erst mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 gesetzlich und verbindlich geregelt.275 Wie auch Kinkel in seiner Rede fordern radikale Autoren wie Ludwig Frey oder Julius Fröbel276 die Berücksichtigung der politischen Motive für eine Straftat und sehen etwa – bedingt durch die politischen Umstände und ausgehend von der Identität von Staat und Demokratie – im Hochverräter eher einen »Kämpfer für Recht und Freiheit«.277 Aber auch mit liberalen und gemäßigten Stimmen wie Heinrich Marquardsen und Carl Joseph Anton Mittermaier lassen sich in Kinkels Rede Berührungspunkte – etwa in der Auffassung von der unzulässigen Übernahme strafrechtlicher Bestimmungen aus der Zeit des Absolutismus oder der Frage des Strafmaßes – ausmachen.278
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Zum Überblick empfiehlt sich Dirk Blasius: Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland (1800–1980). Eine Studie zu Justiz und Staatsverbrechen. Frankfurt a. M. 1983 (edition suhrkamp, N.F. 242), bes. S. 10–52. Vgl. Abegg: Lehrbuch der Strafrechts-Wissenschaft. Neustadt a.d. Orla 1836; Theodor Marezoll: Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebung. Leipzig 1841; Johann Heinrich Zirkler: Die gemeinrechtliche Lehre vom Majestätsverbrechen und Hochverrath mit beständiger Rücksicht auf die Verschiedenheiten der Doctrin, Praxis, neuer und alter Gesetzgebungen aus den Quellen ermittelt. Stuttgart 1836. Vgl. hierzu die schon etwas ältere aber wegen seiner quellennahen Darstellung immer noch grundlegende Studie von Christian Baltzer: Die geschichtlichen Grundlagen der privilegierten Behandlung politischer Straftäter im Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Bonn 1966 (Bonner rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 69). Die auf völlige Umwertung ausgerichteten Forderungen lassen sich schon an den Titeln ablesen, vgl. Ludwig Frey: Entwurf zu einem republikanischen Strafgesetzbuch. Bern 1835; Julius Fröbel: System der socialen Politik. 2. Theil. Mannheim 1847. Baltzer, Die geschichtlichen Grundlagen, 1966, S. 98; zu den radikalen Autoren vgl. ebd., S. 99–106. Vgl. hierzu Baltzer, Die geschichtlichen Grundlagen, 1966, S. 106–121; die wichtigsten Arbeiten der genannten Autoren stammen alle aus dem unmittelbaren zeitlichen Vor- oder
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Der letzte Satz in Kinkels Rastatter und Kölner Rede ist nicht nur als Forderung im Horizont dieser zeitgenössischen Diskussionen um die Stellung des politischen Verbrechens zu sehen, sondern gleichzeitig auch die Synthese einer Verteidigungsrede, deren Aufbau und Begründungsstrategie maßgeblich von politischen Argumenten geprägt ist und gerade deshalb unter die Gattung der politischen Rede gerechnet werden muss. Schließt Kinkel in der Kölner Rede sehr pointiert mit »ich fordere Gerechtigkeit keine Gnade«,279 so ergänzt er diese Forderung in der Rastatter Rede um die schon ganz am Anfang vorgetragene Einschätzung, dass sich bei dieser Verhandlung politische Gegner gegenüberstehen: Meine Herren, denken Sie auch ein Wenig an Weib und Kind daheim, wenn Sie den Spruch über einen Mann thun, der heute durch den Wechsel der menschlichen Geschicke so tiefunglücklich vor Ihnen steht! Und nun, im Namen der göttlichen Gerechtigkeit, die über Ihnen, meinen Siegern und Richtern, gerade ebenso mächtig schwebt, wie über mir, Ihrem jetzt niedergeworfenen und gefangenen Gegner – im Namen dieser Gerechtigkeit sprechen Sie jetzt Ihr Urtheil.280
Das am 3. September verkündete Urteil lautete allerdings nicht auf Todesstrafe, sondern Kinkel wurde »wegen Kriegsverraths mit Verlust der National Cocarde« zu »lebenslänglicher Zuchthausstrafe«281 verurteilt und Anfang Oktober 1849 in das Zuchthaus nach Naugard / Pommern überführt. Für seinen Prozess wegen des sogenannten Bonner-Zeughaussturms wurde Kinkel noch einmal Ende April ins Rheinland gebracht, wo er vor dem Kölner Assisen-Gericht seine Verteidigungsrede hielt. Auf dem Rücktransport mit der Kutsche nach Berlin unternahm er einen Fluchtversuch, nachdem die Flucht-Pläne und -vorbereitungen von Freunden gescheitert waren, die damit gerechnet hatten, dass Kinkel mit dem Zug nach Berlin überführt werden würde.282 Um weiteren Fluchtversuchen vorzubeugen, verlegte die ohnehin aufgrund von Kinkels Popularität und Präsenz in der Tagespresse beunruhigte zuständige Behörde ihren berühmten Gefangenen am 11. Mai 1850 in das Spandauer Zuchthaus.283
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Umfeld der Revolution, vgl. Heinrich Marquardsen: Über den Begriff des Hochverrathes, in: Archiv des Criminalrechts, N.F.1849, S. 246–265; Carl Joseph Anton Mittermaier: Über den gegenwärtigen Standpunkt der Strafgesetzgebung, in: Archiv des Criminalrechts, N.F.1851, S. 125–162 und 279–315. Kinkel, Verteidigungsrede (Köln), 1850, S. 7. Kinkel, Verteidigungsrede (Rastatt), 1912, S. 301. Das Urteil ist abgedruckt bei Bollert, Kinkel vor dem Kriegsgericht, 1914, S. 496. Der Brief eines (anonymen) Fluchthelfers an Anselm Ungar (?) mit einer Skizze der Bahnstation und geplanten Befreiung ist abgedruckt bei Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 994–995. Zusammenfassend Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 221–223.
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2.4
»…und immer nur Märtyrer«. Wanderjahre im Exil und Lebensabend in der Schweiz
Die über die Staatengrenzen des Deutschen Reiches hinausreichende öffentliche Anteilnahme und Berichterstattung hielt trotz oder gerade wegen der verschärften Haftbedingungen an. Auch die preußische Regierung bis hin zum König schenkten dem Fall Kinkel besondere Beachtung, was die von Martin Bollert aufgearbeiteten Berichte und Dokumente der Gefängnisleitung und Archivakten belegen, aus denen klar hervorgeht, dass man Kinkel von höchster, königlicher Stelle auch eine baldige Auswanderung nicht in Aussicht stellen wollte, sondern vielmehr den Gefangenen noch weiter zu demütigen beabsichtigte.284 Die langen Briefe der Korrespondenz zwischen Gottfried und Johanna während der Haft in Spandau stellen, wie beide sich immer wieder gegenseitig versichern, ihren einzigen Trost und Halt dar.285 Während Kinkels hauptsächliche Beschäftigung in diesen Monaten – neben einigen freien Stunden der Lektüre – das Spulen am Spinnrad war,286 bemühte sich Johanna in Bonn eifrig darum, Geld zu sammeln und Pläne zur Befreiung ihres Mannes vorzubereiten. Im Sommer 1850 hatte sie ausreichende Geldmittel zur Verfügung und auch zahlreiche Gesinnungsgenossen als Verbündete für das riskante Unternehmen gewinnen können. Sie selbst reiste allerdings nicht nach Berlin, sondern übergab die für Kinkels Überfahrt nach England und Bezahlung der Helfer vorgesehene Summe dem ehemaligen Studenten ihres Mannes, Carl Schurz. Er reiste am 11. August 1850 nach Berlin und koordinierte dort wichtige Informationen etwa des gleichgesinnten Spandauer Gastwirtes Krüger, in dessen Lokal einige der Zuchthauswärter und auch zwei nur mit Nachnamen bekannte junge Männer, Porritz und Leddhin, verkehrten, die später an der Befreiung Kinkels beteiligt waren.287 Die zentrale Figur der in der Nacht vom 6. auf den 7. November 1850 nach intensiven Vorbereitungen geglückten Befreiung Kinkels war jedoch Carl Schurz, der in seinen mehrfach aufgelegten Lebenserinnerungen einen anschaulichen Bericht dieser Zeit liefert.288 Er war es auch, der den Kontakt zu dem Rostocker Anwalt und früheren Präsidenten der mecklenburgischen Abgeordnetenkammer, Moritz Wiggers, herstellte, den er auf dem Demokratenkongress in Braunschweig kennengelernt hatte.289 Aufgrund seiner Freundschaft mit dem Rostocker Kaufmann und Reeder
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Vgl. Martin Bollert: Gottfried Kinkel im Zuchthause. Mitteilungen aus Archiven und Briefen, in: Preußische Jahrbücher 158 (1914), S. 405–430. Vgl. Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 997–1078. Nach seiner Einweisung in das Spandauer Zuchthaus beschreibt Kinkel in einem langen Brief an Johanna vom 20. Mai 1850 seine Haftbedingungen, vgl. Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 997–1002. Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 232–246. Vgl. Schurz, Lebenserinnerungen, Bd. 1, 1906, S. 294–352; ferner auch den separaten Neudruck Schurz, Die Befreiung Gottfried Kinkels aus dem Zuchthaus in Spandau, 1992. Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 238.
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Ernst Brockelmann konnte Wiggers für Kinkel eine Überfahrt mit dem Schiff nach Schottland organisieren, die Kinkel am 17. November vom Hafen in Rostock aus antrat. Wiggers’ zum ersten Mal 1863 in der Gartenlaube publizierte detaillierte Beschreibung der Vorgänge stellt die erste öffentliche Rekapitulation der Ereignisse im November 1850 dar.290 Schließlich war auch noch der im mecklenburgischen Penzlin geborene Kaufmann und spätere Schwiegersohn Ernst Brockelmanns Theodor Schwarz am reibungslosen Ablauf der Flucht von Spandau nach Rostock beteiligt. Schwarz blieb auch später mit Kinkel in Briefkontakt.291 Wie viele andere Fluchthelfer wurde auch er später von den preußischen Behörden aufgrund von Agentenberichten als einer der Organisatoren der Befreiung ausfindig gemacht, im Frühjahr 1853 angeklagt und zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt.292 Die Briefe von Schwarz bergen über den Austausch persönlicher Nachrichten mithin auch Diagnosen der sozialen und politischen Verhältnisse, die eine politische Verbundenheit und damit auch die Motive für die Unterstützung bei der Befreiung Kinkels veranschaulichen. So äußert Schwarz nicht nur, wie Kinkel die Hoffnung auf politische und soziale Veränderungen, sondern zeigt sich in einem Brief vom 2. April 1851 auch besorgt über die aufgrund der schlechten Lebenssituation vieler Arbeiter gestiegene Attraktivität kommunistischer Ideen: Es ist kein Zweifel, dass vollkommene Freiheit in politischer wie in jeder andern Hinsicht mit der Zeit alle Auswüchse und Verkrüppelungen unserer socialen Verhältnisse beseitigen kann und wird, aber es ist die Frage, ob diese Abnormitäten nicht schon überwiegend sind, als dass der hungrige Arbeiter nicht inzwischen darüber zum Kommunisten wurde.293
In England, das aufgrund der Gesetzeslage seit 1823 keinen (politischen) Flüchtling mehr ausgewiesen hatte,294 fanden die Flüchtlinge zwar eine vor Verfolgung sichere neue Heimat. Doch war die Gruppe der Deutschen im englischen Exil schon von Anfang an zerstritten und in zwei Lager geteilt: auf der einen Seite – verallgemeinernd zusammengefasst – die um Karl Marx versammelten Kommunisten und auf der anderen Seite die von Friedrich Engels als »Kleinbürgerschaft« und »Classe der
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Vgl. Wiggers, Gottfried Kinkel’s Befreiung, 1863; zu Moritz Wiggers vgl. auch das Vorwort zur Neuausgabe, Starsy, Durch Mecklenburg in die Freiheit, 2000, S. 85–88. Vgl. den Abdruck der 16 Briefe von Schwarz – Kinkels Antworten sind nicht erhalten – bei Manke, Dass ich Sie unter allen Umständen Freund würde nennen dürfen, 2002; zu Schwarz und Brockelmann auch die Vorbemerkung ebd., S. 316–327. Ebd., S. 317–320. Ebd., S. 345. Vgl. hierzu grundlegend Herbert Reiter: Politisches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen Flüchtlinge des Vormärz und der Revolution von 1848/49 in Europa und den USA. Berlin 1992 (Historische Forschungen, Bd. 47), bes. S. 56–59 und S. 258–274; zum Begriff des politischen Asylanten und seiner Rechtsstellung sowie der Asylgewährung im 19. Jahrhundert auch S. 64–80.
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kleinen Bourgeoisie«295 bezeichnete Gruppe von Exilanten im Umkreis von Gottfried und Johanna Kinkel, die am 22. Januar 1851 von Rotterdam aus den Kontinent verlassen hatte. Doch waren die Auseinandersetzungen unter den deutschen Exilanten nicht nur politischer Natur. Auch »Eifersucht und Parteileidenschaft«, wie der seit den 1850er Jahren am University College unterrichtende Friedrich Althaus rückblickend feststellt, »zerrissen die deutschen Flüchtlinge«.296 Freilich bot gerade Kinkels Lebenslauf und Schicksal, das auch in England bekannt war und Aufmerksamkeit erregte, gerade bei den Exilanten um Marx nach deren Meinung ausreichende Anhaltspunkte, um Kinkel als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und politischen Wandel nicht ernst nehmen zu müssen. Wenn es den Kinkels in ihren ersten Monaten im Londoner Stadtteil St. John’s Wood auch wirtschaftlich – anders als Marx es darstellte – nicht allzu gut ging, so bekamen sie doch immer wieder finanzielle Zuwendungen. Überwältigend war etwa die Resonanz eines Spendenaufrufs, den Charles Dickens in seiner Zeitschrift Household Words publizierte, worin sich die große Anteilnahme am Schicksal der Kinkels seitens der englischen Bevölkerung widerspiegelt.297 Freundschaftlichen Kontakt pflegten die Kinkels in London mit dem Ehepaar Gustav und Amalie Struve, die allerdings schon im Frühjahr 1851 die britische Metropole in Richtung Amerika verließen und während ihrer Londoner Exilzeit ebenfalls scharf von Marx angegriffen wurden.298 Auch frühere Freunde aus der alten rheinländischen Heimat standen Kinkel im Londoner Exil zunächst kritisch gegenüber. Ferdinand Freiligrath, der noch in Deutschland im Sommer 1848 dem Kommunistenbund beigetreten und zusammen mit Marx Redakteur bei der Neuen Rheinischen Zeitung gewesen war, näherte sich erst wieder Mitte der 1850er Jahre Kinkel freundschaftlich an, wobei gleichzeitig sein Verhältnis zu Marx merklich abkühlte, der ihn erst »Philister«, später auch »Scheißkerl« nannte.299 Andere wie-
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So Friedrich Engels in seiner im Januar 1850 in der Neuen Rheinischen Zeitung zuerst gedruckten Schrift gegen die Reichsverfassungskampagne, die als politische Grundsatzfrage besonders deutlich die unterschiedlichen Zielvorstellungen der bürgerlich-demokratisch und kommunistisch Gesinnten hervortreten lässt, hier die Zitate nach Friedrich Engels: Die deutsche Reichsverfassungs-Campagne, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Erste Abteilung: Werke – Artikel – Entwürfe, Bd. 10: Juli 1849 bis Juni 1851. Berlin 1977, S. 37–118, Zitat S. 37. Friedrich Althaus: Beiträge zur Geschichte der deutschen Colonie in England, in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart N.F. 9 (1873), S. 225–245, Zitat S. 237. Vgl. hierzu Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 248–250. Vgl. die grundlegende Arbeit von Ansgar Reiß: Radikalismus und Exil. Gustav Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika. Stuttgart 2004 (Transatlantische Historische Studien, Bd. 15), hier S. 165–183. Zum Verhältnis von Freiligrath und Marx vgl. Wolfgang Büttner: Freiligrath und Marx, 1848 und später – eine Freundschaft auf Zeit, in: Ich aber wanderte und wanderte – Es blieb die Sonne hinter mir zurück. Im Auftrag der Grabbe-Gesellschaft hg. von Friedrich Bratvogel. Detmold 2001 (Grabbe-Jahrbuch 19 / 20; 2000 / 2001), S. 302–314, die Zitatnachweise S. 313.
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derum, die Kinkel in Bonn kennengelernt und als »Freund« bezeichnet hatten,300 wie der bereits 1856 auf einer Reise gestorbene Georg Weerth, wandten sich unter dem Einfluß von Marx von Kinkel ab und ließen kaum eine Gelegenheit aus, um Kinkel und die Diskussionen um seine Bedeutung lächerlich zu machen.301 Zudem lieferte Weerth auch wichtiges Material für das gegen Kinkel und andere gerichtete Pamphlet, das Marx im Rahmen seiner Schrift Die großen Männer des Exils veröffentlichte.302 Während Marx und Engels sich aber weitgehend ihren wissenschaftlichen Studien widmeten, waren die bürgerlich-demokratischen Flüchtlinge wie Kinkel, Arnold Ruge, August Willich, Ernst Haug und Johannes Ronge von einer bald beginnenden neuen Revolution überzeugt. Zur Unterstützung der Demokratischen Partei in Deutschland und zur Verwirklichung der neuen Staatsform Republik sollte eine revolutionäre Nationalanleihe nach dem Vorbild jener von Giuseppe Mazzini bereits nach der Niederschlagung der letzten Aufstände in Italien im Sommer 1849 initiierten Sammelaktion die nötige finanzielle Grundlage schaffen. Es handelte sich hierbei um den »Verkauf von Anleihescheinen auf die noch nicht bestehende, durch eine Revolution zu begründende deutsche Republik«, für deren Rückzahlung berühmte Persönlichkeiten garantieren sollten.303 Doch gerade der von Arnold Ruge als deutscher Vertreter des europäischen Zentralkomitees der Flüchtlinge am 17. April 1851 in der Neuen Preußischen Zeitung publizierte Aufruf führte zu einer tiefgreifenden Spaltung des bürgerlich-demokratischen Lagers. Denn Ruge hatte den pathetisch formulierten Appell ohne Kinkels Wissen auch mit dessen Namen unterschrieben, was Kinkel wiederum dazu veranlasste, aus dem Zentralkomitee auszutreten und in der Absicht, die Emigranten zu vereinigen, zusammen mit August Willich einen Emigrationsclub zu gründen, dem fortan Ruges Agitationsclub institutionell gegenüberstand.304
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So Georg Weerth in einem Brief vom 9. Februar 1843 an seine Mutter, Georg Weerth: Sämtliche Werke. 5 Bde., hier Bd. 5: Briefe. Berlin 1957, S. 68. In einem Brief an Marx vom 3. März 1851 bezeichnet Weerth Kinkel als »Schaf« (Weerth, Sämtliche Werke, Bd. 5, 1957, S. 391). In einem ebenfalls an Marx gerichteten Brief vom 28. April 1851 wird die unversöhnliche Feindschaft zwischen Demokraten und Kommunisten besonders deutlich (ebd., S. 403): »Und so empfinde ich einen höchst aristokratischen Ekel, wenn ich die Feder jetzt abermals ansetzen soll. Ich soll Kinkel angreifen? Weshalb? Dieser unschuldige Mann mit der ganzen Londoner Clique wird niemandem über den Kopf wachsen; diese Leute werden sich allmählich in Gin und Porter auflösen und dann an der Langeweile verduften. Kinkel an und für sich ist ein zu unbedeutender Mensch, er verdankt seine Wichtigkeit nur den deutschen Demokraten.« Karl Marx, Friedrich Engels: Die großen Männer des Exils, in Dies.: Werke. 42 Bde., hier Bd. 8. Berlin 1960, S. 233–335, zu Kinkel Kapitel I bis IV; dazu auch zusammenfassend Rosemary Ashton: Little Germany. Exile and Asylum in Victorian England. Oxford, New York 1986, S. 77–88. Vgl. die detaillierte Darstellung bei Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert, 1992, S. 275–287; ferner Reiß, Radikalismus und Exil, 2004, S. 253–265. Vgl. Reiter, Politisches Asyl im 19. Jahrhundert, 1992, S. 275–276; Ashton, Little Germany, 1986, S. 141–145.
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An der Idee einer Nationalanleihe hielt Kinkel nichtsdestoweniger fest und wollte für eine solche auch in den Vereinigten Staaten werben.305 Dafür brach er am 2. September 1851 von Liverpool aus nach New York auf, wo er am 14. September eintraf. Kinkels Anliegen wurde zwar von amerikanischen Zeitungen wie der New York Tribune unterstützt, doch können die begeisterte Aufnahme in Amerika und sein Empfang bei Präsident Fillmore nicht über die fatale Ausgangssituation mit ihren Folgen für das Gelingen der Aktion hinwegtäuschen.306 Denn die tiefe Spaltung der Emigranten in London führte auch zu einer gleichzeitigen Agitationsreise des Kinkel-Gegners Armand Goegg, der im Januar 1852 in den Vereinigten Staaten eintraf. Als Kritiker von Kinkels Anleihe-Plänen trat er zusammen mit Joseph Fickler vom 29. Januar bis 1. Februar 1852 auf einem Kongreß in Philadelphia auf, an dem auch Kinkel teilnahm. Die dort gefassten Pläne standen konträr zu den Beschlüssen, die auf dem vom 3. bis 8. Februar in Cincinatti abgehaltenen Kongreß der Garanten der Nationalanleihe verabschiedet wurden. Wenngleich Kinkel trotz dieser widrigen Voraussetzungen Gelder sammeln konnte, kehrte er dennoch enttäuscht Anfang März 1852 nach London zurück.307 Bestärkt sah er sich allerdings in seiner Entscheidung, nicht nach Amerika auszuwandern. Seine Verbundenheit mit Europa, für das er sich weiterhin einsetzen wollte, manifestiert sich auch in einem der wenigen in Amerika entstandenen Gedichten, Amerika und Europa (G 2, S. 39–40):308 1
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Geschwollen aus dem Schnee der Bäche, Den Urwaldsnacht zusammenballt, Dehnt sich des Mississippi Fläche Durch helle Flur und dunkeln Wald. Auch ich stand träumend einst, zu lauschen In seiner weiten grünen Au, Und nichts vernahm ich als sein Rauschen, Nichts schaut’ ich als des Himmels Blau.
So wie der Strom, so rollt das Leben 10 Im jungen Land des Friedens hin; Gewidmet ist das volle Streben Nur dem Genusse, dem Gewinn; Vom Zukunftstraume sanft beflügelt Rinnt hin die leichte Gegenwart,
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Dafür publizierte Kinkel schon am 20. Juni 1851 im Volksblatt Cincinatti seinen Aufruf an die Deutschen der Vereinigten Staaten zur Betheiligung an der National-Anleihe für die Durchführung der europäischen Revolution, vgl. Reiß, Radikalismus und Exil, 2004, S. 253. Allerdings wurde Kinkel auch von der New York Herold als »Schwindler« bezeichnet, vgl. Reiter, Politische Asyl im 19. Jahrhundert, 1992, S. 295–314. Vgl. Reiß, Radikalismus und Exil, 2004, S. 254–258. Noch in der Spandauer Haft drückt sich Kinkels verzweifelte damalige Situation in seiner Bereitschaft aus, »Europa stehenden Fußes [zu] verlassen« (Brief an Johanna vom 20. Mai 1850), Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 1000.
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15 Und von der Sitte streng gezügelt Geht gleich und still des Lebens Fahrt. Wir aber stammen aus anderem Lande, Gesegnet, du mein wildfluthender Rhein! Aus dem umschlingenden Felsenbande 20 Brachst du in lachende Fluren herein. Flaches Gestade und graues Geschiebe Sprengte des Feuers zerschmelzende Macht, Und aus der Erde mit grimmigem Triebe Hub der Basalt sich in glühender Pracht. 25 Altes Europa, wie bist du uns theuer, Land des Kampfes, der Revolution! Fern von dir, nur wilder und treuer Liebt dich dein starker, verbannter Sohn! Nimmer zu rasten im westlichen Frieden, 30 Nimmer zu siedeln im träumenden Forst Sei mir, dem Schicksalvollen, beschieden, Bis erst deine Fessel zerborst! Ha, wie sie unsern Busen durchlodern, Haß und Liebe, Begeistrung und Zorn! 35 Wie sie hinaus in die Schlachten uns fordern, Ruft erst zum Kampfe das kriegrische Horn! Ruhe, sie winkt uns nimmer auf Erden, Denn wir schlagen Gefecht um Gefecht, Und nur spät magst friedlich du werden, 40 Unser beglückteres Enkelgeschlecht!
Dulderischen und hoffnungsvollen Bekenntnissen wie diesen stand indessen in London ein Alltagsleben gegenüber, unter dem vor allem Kinkels Frau Johanna zu leiden hatte. In den Versen »Ein Schlachtfeld auch ist das Exil, – / Auf dem Du bist gefallen«, die Ferdinand Freiligraths anläßlich des Todes von Johanna am 15. November 1858 dichtete,309 sind daher auch tatsächlich als bildliche Zusammenfassung der Auseinandersetzungen und Widrigkeiten des Exilantenlebens zu verstehen. Die zahlreichen Besuche und Hilfsanfragen von teilweise völlig fremden Personen, die Johanna vor allem auch während Kinkels Abwesenheit erhielt, stellen die Schattenseite der Popularität eines Ehepaares dar.310 Und Kinkel war nach dem Umzug von St. John’s Wood in den Stadtteil Paddington immer wieder und längere Zeit auf Vortragsreisen, um neben dem Geld,
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Das Gedicht trägt den Titel Nach Johanna Kinkels Begräbnis. 20. November 1858, hier nach der Ausgabe Ferdinand Freiligrath: Werke in sechs Teilen, hier: Dritter Teil: Neueres und Neuestes 1840–1870. Hg. von Julius Schwering. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1909], S. 9–11, Zitat S. 10 Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 259–260.
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was seine Frau mit Klavierstunden verdiente, das finanzielle Auskommen der Familie zu sichern. Darunter litt freilich auch Kinkels Produktion literarischer Werke, die, verglichen mit der Zeit vor und während der Revolution, nur wenige Texte umfasst, darunter etwa sein in zwei Fassungen erhaltenes Trauerspiel um den gleichnamigen alttestamentarischen, babylonischen Herrscher Nimrod (1857).311 Daher bemühte sich Kinkel auch im August 1852 um eine feste Anstellung als Nachfolger des vakant gewordenen Lehrstuhls für englische Sprache und Literatur am University College in London, was aber aufgrund seiner religiösen Positionen scheiterte.312 Gleichwohl konnte er nur wenige Monate später am 12. April 1853 vor einer überwältigenden Zahl von 700 Zuhörern recht gut bezahlte Vorlesungen zur Kunstgeschichte am University College halten, die gedruckt im EmigrantenJournal Deutsches Athenäum vorliegen.313 Auf ähnlich großes Interesse stießen auch seine Vorträge im September 1855, die Kinkel auf Einladung der wohlhabenden deutschen Gemeinde im Londoner Stadtteil Camberwell hielt, bei denen auch der offiziell für die Vossische Zeitung und Kreuzzeitung berichtende Theodor Fontane anwesend war, der sich beeindruckt zeigte von Kinkels Person und Vortragsstil.314 Je häufiger Kinkel auf Vortragsreisen unterwegs war, desto mehr entfremdeten sich die Ehepartner Gottfried und Johanna offenbar voneinander. Schließlich ging Kinkel während eines Aufenthaltes in Edinburgh im Dezember 1856 ein Verhältnis mit einer anderen Frau ein, was Monica Klaus durch die Edition der Briefe nun nachweisen konnte.315 Die Affäre Kinkels mag der entscheidende Auslöser für Jo-
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Der ersten Fassung des Dramas (Gottfried Kinkel: Nimrod. Ein Trauerspiel. Hannover 1857) ist Kinkels Gedicht An mein Vaterland. Auf dem Schloß zu Hastings am 4. September 1856 (s. auch G 2, S. 49–52) vorangestellt, das Aufschluß gibt über Kinkels Motivation den alttestamentarischen Stoff zu bearbeiten und in Teil IV dieser Arbeit (Ausblick und Schlußbetrachtung) kurz vorgestellt wird; eine zweite (Bühnen-)Fassung des Dramas ohne das Widmungsgedicht erschien, als Kinkel bereits in Zürich war, vgl. Gottfried Kinkel: Nimrod. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Für die Bühne umgearbeitet von dem Verfasser. Leipzig 1879. Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 283. Ausführlich hierzu Rosemary Ashton: Gottfried Kinkel and University College London, in: Exilanten und andere Deutsche in Fontanes London. Hg. von Peter Alter und Rolf Muhs. Stuttgart 1996 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 331), S. 23–40, hier S. 23. Vgl. ebd., S. 36–37. Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 316; eindrücklich auch der Brief von Kinkel an Johanna, der die angespannte Stimmung zwischen den beiden dokumentiert, Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 3, 2008, S. 1344–1346: »Ändre Etwas, nur Etwas in Dir und deinem Verfahren gegen mich, so halte es wenigstens für möglich, dass du auch einmal unrecht hast gegen mich. […] Ich habe gefehlt u. ich nahm vor Dir, als in diesem Stück meine Richterin, trotzig, aber ohne Lüge u. Schminke, die Schuld auf mich. Du hast mir diese Schuld verziehn. Ich nahm diese Verzeihung an, denn ich glaubte, bei einem großen Herzen, wie Deines, bei einem großen weltumfassenden Geist, wie du ihn hast, würdest du sie nun begraben hundert Klafter tief, und groß sein im Vergessen, wo du vergeben hast. Das, Johanna, hast du nicht gethan, und hier beginnt deine Schuld. […] Und hier hast du gewankt. Es sind jetzt vier Tage verflossen u. in den vier Tagen hast du
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hannas immer düsterer werdende Gemütsverfassung gewesen sein, die aus etlichen ihrer Briefe spricht.316 Dass es sich bei ihrem Fenstersturz am 15. November 1858 nicht um einen, wie Kinkel und die meisten Bekannten und Freunde es in der Öffentlichkeit darstellten, Unfall handelte, sondern dass Johanna Selbstmord beging, lässt sich nicht zweifelsfrei nachweisen. Doch hat Monica Klaus gute Gründe anführen können, wie etwa frühe, resignierte Äußerungen und Todeswünsche Johannas aus den 1840er Jahren, die zusammengenommen mit den einschlägigen Briefstellen aus der Exilzeit das Bild einer hochambitionierten, letztlich aber gebrochenen und doch fragilen Künstlerpersönlichkeit zeichnen und einen Selbstmord Johannas zumindest nahelegen.317 Nach dem Tod von Johanna wandte sich Kinkel wieder vermehrt in politischen Fragen der Öffentlichkeit zu. Die Abgrenzung gegenüber Marx und seinen Anhängern sowie deren kommunistischem und politischem Ideengut verstärkte sich indessen. Auch seine eigenen, radikalen politischen Forderungen aus der Zeit der Revolution hat Kinkel relativiert und stärker wieder die Einheit Deutschlands als wichtigstes Ziel in den Mittelpunkt gerückt, was seine zahlreichen Artikel in seiner 1859 gegründeten Zeitschrift Hermann. Deutsches Wochenblatt für London belegen, von dem bis Dezember 1869 insgesamt elf Jahrgänge erschienen sind. Auf die Bedeutung des Schillerjahres 1859 als »Schlüsseljahr« für Kinkels späte politische Positionen hat bereits Alfred de Jonge aufmerksam gemacht und die wichtigsten Artikel Kinkels ausgewertet.318 Die sowohl von Zeitgenossen als auch von großen Teilen der Forschung in politischen Dingen Kinkel immer wieder unterstellte idealistische Schwärmerei und Verkennung der tatsächlichen Zustände und möglichen Perspektiven kann beim Blick auf seine Zeitschrift Hermann nur verwundern.319 Im Gegenteil zeigt er sich hier als ein realpolitischer Denker und vor allem genauer Beobachter der Entwicklungen und damit verbundenen Möglichkeiten und Gefahren der preußischen Politik.320 Noch im selben Jahr der Hochzeit mit seiner zweiten Frau Minna Werner, die er am 31. März 1860 heiratete, bewarb sich Kinkel um eine Stelle am Polytechnikum
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dreimal mein Herz vergiftet. Als ich in innigem Liebesschmerz zu dir die Worte sagte: ›Ein Fräuchen‹ – da hast du mit furchtbarer Härte zugesetzt: ›und ein Fräuchen nebenher!‹ […] Ich küsse die Hand, die mich tödtet, ich liebe dich wie nie, aber diese Stunde ist zu ernst, um irgend Schminke aufzutragen. Du bist zu fest an mich gekettet, ich werde dich nachziehn ins Grab, unsre Kinder werden halb versinken, halb vielleicht sich retten in die neue Zukunft der Menschheit; aber wir, Du u. ich, wir werden untergehen an Briefen, wie dein gestriger war, und an Briefen, wie dieser mein heutiger ist.« Vgl. exemplarisch den Brief vom 19.12.1856, Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 3, 2008, S. 1356–1357. Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 313–326. Vgl. De Jonge, Gottfried Kinkel as political and social thinker, 1966, hier S. 33–48. Gegen diese Meinung schon De Jonge, Gottfried Kinkel as political and social thinker, 1966, S. 114, dort auch die älteren Positionen zusammengefasst. Vgl. ebd., S. 54–70.
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in Zürich. Aber erst im Jahr des Deutsch-Österreichischen Krieges von 1866 wurde er als Professor und Nachfolger Wilhelm Lübkes auf dessen Lehrstuhl für Kunstgeschichte in die Schweiz berufen, wohin er im Herbst 1866 mit seiner Familie übersiedelte.321 Den preußischen Sieg über Österreich im Jahr seiner Berufung nach Zürich begrüßte Kinkel und sah in der Vormachtstellung Preußens durchaus die Grundlage für die Einheit Deutschlands.322 Auch in seiner Rede auf Ferdinand Freiligrath, die ihn im Juli 1867 nach Deutschland führte, beschwört Kinkel den über alle Parteigrenzen hinausgehenden Wunsch einer vereinten Nation: Wie ganz verändert zum Bessern sind die Umstände, unter denen ich heute vor Sie trete. […] Die tiefe Scheidung der Parteien, welche das Jahr 1866 im ganzen Vaterlande einschnitt, wir haben sie in uns schon vier Jahre vor dem Anbruche des Geschichtstages von Sadowa erlebt. Schon damals sprach ich mit Offenheit aus, dass, wenn uns die deutsche Einheit beschert sei, auch durch eine Revolution von oben, statt von unten, ich ihrer mich freuen würde. Der Freund [gemeint ist Freiligrath, B.W.] sah darin Abfall von unserem Prinzip, und er, der gegen ganz anders Gesinnte stets Freundliche und Duldsame, konnte gerade dem, dessen letztes Ziel das seinige ist und bleibt, nicht verzeihen, dass das Mittel zum Ziel ihm [Kinkel meint sich selbst, B.W.] gleichgiltiger war.323
Wie hoch Kinkel die nationale Einheit einschätzte ohne darin einen Verrat seiner republikanischen Grundsätze zu sehen, zeigt sich in seiner Stellung zur Polenfrage, zu der er sich ebenfalls in einer Rede im Frühjahr 1868 äußerte.324 Die dreifache Teilung, vor allem aber in der »Russifizierung« Polens und damit der Auslöschung auch der polnischen Nation sah Kinkel eine größere Gefahr als in einem selbständigen Polen, deren »Eigenschaften« wie »leidenschaftlicher Patriotismus und ihre Opferfähigkeit«, so Kinkel, die »Garantie bieten für ihre staatliche Befähigung«: 325 Rußland macht den Versuch, mit dem Namen des Königreichs Polen auch die polnische Nationalität aus der Welt zu streichen und das Land durch Umwandlung in russische Gouvernements, durch künstliche Colonisation mit russischen Einwanderern und durch Erdrückung der Landeskirche mit sich zu assimiliren.326
Ohne freilich die weitere Entwicklung der preußischen Politik nach der deutschen Reichsgründung 1871 und deren Germanisierungsbestrebungen vor allem für Posen und Oberschlesien im Zuge auch des Kulturkampfes zu kennen, erklärt Kinkel in
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Zusammenfassend vgl. Walther Mickley: Gottfried Kinkel in Zürich (1866–1882). Unter Berücksichtigung bisher unveröffentlichter Briefe des Dichters, in: Euphorion 19 (1913), S. 303–325; ferner auch Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 223–237. Hierzu schon De Jonge, Gottfried Kinkel as political and social thinker, 1966, S. 61; Mickley, Gottfried Kinkel in Zürich, 1913, S. 305. Gottfried Kinkel: Festrede auf Ferdinand Freiligrath. Gehalten zu Leipzig am 6. Juli 1867. Leipzig 1867, S. 3 und 27–28. Gottfried Kinkel: Polens Auferstehung die Stärke Deutschlands. Wien 1868. Ebd., S. 17. Ebd., S. 5.
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seiner Rede, dass die Frage nach der Selbständigkeit einer polnischen – und zwar geeinten – Nation nicht von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei abhänge: Bald wird der kühlste Diplomat in Deutschland die Nothwendigkeit eines zweiten selbständigen Slawenstaates ebenso klar einsehen, als unser heißes Herz aus Humanitätsgründen ein freies Nachbarvolk verlangt.327
Die Gefahr polnischer Ansprüche auf preußische, ehedem aber polnische Gebiete achtet Kinkel indessen geringer als er die Errichtung eines selbständigen Polens für vorteilhafter hält im Hinblick auf die russischen Expansionsbestrebungen.328 »Denn sobald Rußland in Krakau und Lemberg stände«, so prophezeit Kinkel, »würde es die Erbschaft der polnischen Ansprüche antreten und nicht versäumen diese Ansprüche auf die deutschen Ostseeländer geltend zu machen«.329 Die in seiner Rede vorgetragenen Überlegungen sind freilich stark der 1866 in Paris erschienenen Darstellung La Russie et l’Europe des französischen Historikers und Mitglied der Nationalversammlung Henri Martin verpflichtet, die Kinkel mit einer Einleitung versehen ein Jahr nach seiner Polenrede ins Deutsche übertragen hat.330 Ein Exemplar dieses Bandes hat Kinkel im Juli 1869 an den damaligen Kanzler des Norddeutschen Bundes, Otto von Bismarck, geschickt, dessen Antwortschreiben erhalten ist.331 Interessant ist das Schreiben sicherlich nicht aufgrund der wenig überraschenden Position Bismarcks zu den Einschätzungen Martins, deren düsterer Prognose im Hinblick auf die russische Gefahr Bismarck entgegenhält, dass »Deutschland stark genug ist, um mit Gottes Hilfe seinen Unabhängigkeit gegen jede Vergewaltigung zu schützen«.332 Vielmehr dokumentiert sich in Bismarcks versöhnlicher Haltung gegenüber Kinkel am Vorabend der Reichsgründung exemplarisch jener Schulterschluß zwischen ehemaligen politischen Feinden, wie er etwa von Radikalen wie Georg Herwegh, auch nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 abgelehnt wurde. Geehrter Herr! Ich danke Ihnen verbindlichst für die Zusendung vom 13., nicht sowohl für das Buch, als dafür dass Sie überhaupt an mich als Mitarbeiter an dem gemeinsamen vaterländischen Bau gedacht haben, zu welchem wir beide seit länger als 20 Jahren Steine herbeitragen, die nach Beschaffenheit und Ursprung sehr verschieden waren, aber doch nach der Ansicht eines jeden von uns zu dem gleichen Zweck der Fundamentierung deutscher Zukunft, dienstlich waren.333
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Ebd., S. 12. Ebd., S. 19 und 26. Ebd., S. 26. Vgl. Henri Martin: Rußland und Europa. Übersetzt und eingeleitet von Gottfried Kinkel. Hannover 1869. Abgedruckt ist der Brief mit einer kurzen Einleitung von Hans Zeeck: Bismarck an Gottfried Kinkel, in: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung (Beilage Literatur, Kunst, Wissenschaft, Nr. 11) vom 7. März 1920. Ebd. Ebd.
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Nach der Reichsgründung finden sich indessen nur noch sehr wenige politisch motivierte Texte Kinkels. In Zürich hatte er regelmäßig Umgang mit Conrad Ferdinand Meyer. Vom freundschaftlichen Verhältnis der beiden Autoren und ihrer gegenseitigen Wertschätzung zeugt der von Bebler herausgegebene Briefwechsel.334 Im Rahmen seiner Professur konnte Kinkel an seine letzte Anstellung an der Bonner Universität anknüpfen und sich bis zu seinem Tod mit der Kunstgeschichte beschäftigen, aus der allerdings nur noch wenige Publikationen hervorgegangen sind.335 Anders als sein Lebensweg bis zur Revolution es hätte erwarten lassen, starb Kinkel in aller Stille am 12. November 1882, dem Todestag seiner Mutter und zwei Tage vor dem 24. Todestag seiner Frau, in Zürich.
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Vgl. die Briefe mit Kommentar bei Bebler, Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Kinkel, 1949. Als wichtigste sind die schon bei Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. behandelten Werke Gottfried Kinkel: Mosaik zur Kunstgeschichte. Berlin 1875; Ders.: Die Gypsabgüsse der Archäologischen Sammlung im Gebäude des Polytechnikums in Zürich. Zürich 1871; ferner die späte, erst posthum selbständig (1882 in Westermanns Illustrierte Monatshefte) publizierte Verserzählung, Ders.: Tanagra. Braunschweig 1883.
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II
Regionale Topographie und Zeitgeschichte in der Prosa
1
Rheinische Volkskultur und nationale Identität in Kinkels Reiseführer Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben (1846/49)
1.1
Die Stellung von Kinkels Die Ahr zwischen Italiensehnsucht und Vaterlandsliebe: Funktionen und Formen der Reiseliteratur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Kinkels 1846 im Bonner Habicht-Verlag publizierter Reiseführer Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende1 ist Teil des ausgesprochen vielgestaltigen Komplexes von Reiseliteratur, die neben der Dorfgeschichte und dem historischen Roman zu den populären und erfolgreichen Prosagattungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehört. Die Abgrenzung verschiedener Texttypen, die sich dem Oberbegriff »Reiseliteratur« zuordnen lassen, diskutiert Peter J. Brenner in seinem grundlegenden Forschungsbericht.2 Grundsätzlich sollten zwei wesentliche Textsorten unterschieden werden: pragmatische Reiseliteratur, zu der etwa Reiseführer und Reisehandbücher zu zählen sind, und im weitesten Sinne fiktionale Reiseliteratur, zu der neben der Reisebeschreibung, Reiseerzählung auch das Reisetagebuch und die Reiseerinnerung gehören.3 Texte,
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Zitiert wird aus eben dieser Ausgabe, Gottfried Kinkel: Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende. Bonn 1846; Ausgangspunkt des Buches ist eine Wanderung, die Kinkel im Februar 1842 nach der Trennung von Sophie Boegehold unternahm, um, wie er in seiner Selbstbiographie schreibt, »mit der großen wilden Eifelnatur ein paar Tage einsam zu leben und meine Seele zuvörderst wieder zu stillen«. Ein Jahr zuvor, 1841, hatte Kinkel das Ahrtal zusammen mit Sophie und ihrem Vater durchwandert, vgl. hierzu Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 67–72, Zitat S. 68; eine zweite, mit zwanzig Stahlstichen versehene Auflage erschien 1849: Gottfried Kinkel: Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende. Mit zwanzig Stahlstichen nach Originalzeichnungen. Bonn 1849. Vgl. Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 21), hier S. 19–25, dort auch die wichtigste ältere Literatur. Zur knappen Orientierung vgl. den Artikel zur »Reiseliteratur« von Hans-Wolf Jäger, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. III. Hg. von Jan Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 258–261; ferner Manfred Link: Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine. Köln 1963, S. 7–10.
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die sich wie Kinkels Ahrführer schon vom Untertitel her als Gebrauchsliteratur zu erkennen geben, wurden weitaus seltener zum Gegenstand philologischer Untersuchungen erhoben als die deskriptiv verfahrenden Reisebeschreibungen, Reisetagebücher und Reiseerzählungen, weil letztere, so Brenner, »noch nicht reine Fiktion [wie etwa die Reiseerzählungen in Romanen der Romantik, B.W.] und nicht mehr reine Information [sind]«.4 Freilich finden sich in diesen verschiedenen Texttypen diskursive Gemeinsamkeiten, die eine texttypologische Unterscheidung aber nicht überflüssig machen. Auf solche zu verzichten und das »Reisemotiv als literarisches Strukturprinzip« zu begreifen,5 das die Textsorten verbindet, bedeutet nicht nur, die Herkunft und Tradition bestimmter Texte zu vernachlässigen, sondern verwehrt auch den Blick darauf, »welche kulturellen, sozialen und historischen Einsichten sich aus der Entwicklung [von] Gestaltungsformen ergeben«.6 Erst durch die Berücksichtigung der Funktionsgeschichte und Typologie der Reiseliteratur sowie der Entwicklung des literarischen Marktes und der eng an wirtschaftliche und technische Entwicklungen gebundenen Geschichte des Reisens selbst lassen sich Relevanz und Signifikanz von Kinkels Ahrführer im Gefüge verschiedener Formen von Reiseliteratur in der Vormärzzeit bestimmen. Freilich sind bestimmte Aussageabsichten – seien sie wie im Falle Kinkels politischer Natur – nicht an bestimmte Textsorten gebunden. Erfreulicherweise hat die Reiseliteraturforschung in den letzten Jahren an Profil gewonnen und systematisch eine Vielzahl von bislang gar nicht oder kaum beachteten Texten gerade auch im Hinblick auf Entstehungsbedingungen, Aussageabsichten und Funktionszusammenhänge in ihre mentalen, geographischen, politischen und institutionellen Kontexte gestellt.7 Nicht zufällig liegt diesen Studien fast derselbe Untersuchungszeitraum zugrunde, der mit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts und der Mitte des 19. Jahrhunderts gleichzeitig Anfangs- und Endpol der für die Produktion von Reiseliteratur ergiebigsten Phase markiert. Aus der Masse der deutschsprachigen Reiseliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ragt
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Brenner, Reisebericht, 1990, S. 21. So der Ansatz von Hans-Joachim Possin: Reisen und Literatur: das Thema des Reisens in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1972 (Studien zur englischen Philologie, N.F., Bd. 15), S. 14. Brenner, Reisebericht, 1990, S. 22. Aus der Fülle der erschienen Beiträge sei hier exemplarisch auf drei Studien verwiesen, denen neuere Ansätze zugrundeliegen. Vor allem die Quellenbibliographie (17 Seiten!) des Aufsatzes von Tilman Fischer und Thorsten Fitzon bietet überdies einen Fundus für weitere Arbeiten, vgl. Tilman Fischer und Thorsten Fitzon: Von Bemerkungen und Nachrichten zu Skizzen und Cartons. Ein Titelvergleich deutschsprachiger Reiseberichte aus England und Italien 1770–1870, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003), S. 75–115; ferner: Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen, 1770–1850. Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 67); Christina Ujma: Fanny Lewalds urbanes Arkadien. Studien zu Stadt, Kunst und Politik in ihren italienischen Reiseberichten aus Vormärz, Nachmärz und Gründerzeit. Bielefeld 2007.
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das Reiseziel Italien, besonders seit Goethes Italienischer Reise, deutlich hervor. Die folgenden Überlegungen zu Wurzeln und Ausprägungen der Reiseliteratur jener Zeit orientieren sich daher aus zwei Gründen an Reisebeschreibungen und Reiseberichten über Italien: zum einen lassen sich entlang der deutschsprachigen Reiseliteratur zu Italien die Grundzüge einer Geschichte der Reiseliteratur seit dem späten 18. Jahrhundert überhaupt herausarbeiten. Zum anderen zeichnet sich gerade die Forschung zu diesen Texten teilweise durch differenzierte methodologische Überlegungen und Kategoriebildungen aus, auf die hier zurückgegriffen werden soll und von denen auch die Einordnung, Beschreibung und Analyse von Kinkels Ahrführer profitiert.8 Achim Aurnhammer hat jüngst mit seiner Studie zu Goethes Italienischer Reise eine ebenso detailscharfe wie weitsichtige Typologie der Reiseliteratur seit dem späten 18. Jahrhundert vorgelegt und in Anlehnung an verschiedene ältere Forschungen vorgeschlagen, »die Italienreisen nach dem Verhältnis von Beschreibungsobjekt und beschreibendem Subjekt« zu kategorisieren. »Auf diese Weise«, so Aurnhammer, »gelangt man zu einer Skala, deren Enden zwei konträre idealtypische Modelle bezeichnen: die objektzentrierte Beschreibung und die subjektzentrierte Schilderung«.9 Darüber hinaus können für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts prinzipiell zwei zwar konkurrierende, wie im Falle von Kinkels Ahrführer aber noch zu zeigen sein wird, mitunter auch voneinander profitierende und kombinierbare »Reisementalitäten« und »Reise-Arten« betrachtet werden: zum einen die politisch-soziale und zum andern die malerisch-romantische.10 Der politisch-sozial ausgerichteten Reiseliteratur vor allem ab 1830 korrespondiert zum einen eine weit verbreitete Produktion politischer Lyrik, die künstlerische Schöpfungen als Beiträge zu einer politischen
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Grundlegend zum Thema: Ludwig Schudt: Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Wien, München 1959 (Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Bd. 25); ferner: Stefan Oswald: Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770–1840. Heidelberg 1985 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 6); Gunter Grimm, Ursula Breymayer, Walter Erhart: »Ein Gefühl von freierem Leben«. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990. Achim Aurnhammer: Goethes »Italienische Reise« im Kontext der deutschen Italienreisen, in: Goethe-Jahrbuch 120 (2003), S. 72–86, hier S. 73; Aurnhammer mahnt bei der Geschichte von Italienreisen, »systematische und historische Kategorien« (S. 73) nicht zu vermischen und sieht seinen Ansatz daher als Alternative zum auf Wilhelm Waetzold und Joachim Wieders zurückgehenden, weit verbreiteten Modell (Pilgerreise, Kavalierstour, empfindsame Reise, gelehrte Reise, romantische Reise, Erholungs- und Sightseeingreise). Ich knüpfe hier an die Überlegungen von Gert Sautermeister an, der in seinem instruktiven Artikel über die Reiseliteratur zwischen Restauration und Revolution 1848 diese Unterteilung vornimmt. Bei der ihm durch die Form der Darstellung innerhalb einer Literaturgeschichte gebotenen Kürze, bespricht Sautermeister allerdings nur die bekannten Vertreter der jeweiligen Richtungen. vgl. Gert Sautermeister: Reiseliteratur als Ausdruck der Epoche, in: Zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München 1998 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 116–150, hier besonders S. 126–128.
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Reform verstanden wissen will.11 Andererseits kann die Anlehnung an die Blütezeit der politisch motivierten Reiseliteratur zur Zeit der Französischen Revolution, was Inhalt und programmatische Zielsetzung betrifft, gar nicht überschätzt werden. So verfasste Robert Prutz 1847 eine Programmschrift der politischen Reiseliteratur, die anhand von Beispielen wie Heinrich Heine und Ludwig Börne rückwirkend Geltung beansprucht, aber auch in die Zukunft hinein als Forderung an die Reiseliteratur verstanden werden kann: Nicht die Kunst, sondern die Politik, die Gesellschaft, das öffentliche Leben ist ihr Wahlspruch: Paris daher, der Herd der Juli-Revolution, das Herz der neuen Geschichte, die Weltstadt, wo Heine und Börne und nach ihnen die Hunderte deutscher Flüchtlinge eine Stätte fanden, das Ziel ihrer Fahrt [...] Und wer möchte leugnen, dass dieser politische, dieser soziale Gesichtspunkt bei weitem der wichtigste ist, den ein Reisender haben kann?12
So wie sich die Reisebilder eines Heine13 oder die Reisebriefe Börnes14 bewusst von Goethe und den malerisch-romantischen Reisebeschreibungen abheben, ist auch die vier Jahrzehnte zuvor zu beobachtende Politisierung der Reiseliteratur sowohl als eine Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen und Verhältnissen während der Französischen Revolution als auch als eine Absage an die Bildungsreise der Aufklärung zu verstehen. Dass Frankreich in diesem Zuge zum bevorzugten Reiseziel avancierte, ist vor dem Horizont des Erkenntnis- und Überzeugungsinteresses dieser Reisebeschreibungen zu sehen.15 Mit der über die politische Reise-
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Zur politischen Lyrik überblickshaft vgl. Walter Hinderer: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Stuttgart 1978, bes. die Abhandlung von Horst Denkler: Zwischen Julirevolution (1830) und Märzrevolution (1848/49), S. 179–209; zur Programmatik vgl. den Sammelband von Jost Hermand: Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart 1966 (Reclams Universal-Bibliothek, 8703/07). Robert Prutz: Über Reisen und Reiseliteratur der Deutschen, hier zitiert nach Sautermeister, Reiseliteratur, 1998, S. 127. Heinrich Heine: Reisebilder I–IV, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe in 16 Bänden. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, hier Bd. 6: Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder I / II. Bearb. von Jost Hermand. Hamburg 1973, hier S. 81–222 bzw. Bd. 7/1: Reisebilder III/ IV (Text), bearbeitet von Alfred Opitz. Hamburg 1986. Vgl. Ludwig Börne: Briefe aus Paris, in: Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. 5 Bde. Neu bearbeitet und hg. von Inge und Peter Rippmann, hier Bd. 3. Düsseldorf 1964, S. 1–867. Zur ersten Orientierung über die Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert empfiehlt sich der zwar jetzt schon etwas ältere aber immer noch lesenswerte, weil ungemein materialreiche Artikel von Wolfgang Griep: Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. 2 Teilbde. 2. Auflage. Hg. v. Rolf Grimminger. München 1984 (¹1980) (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), hier Teilbd. 2, S. 739–764; von den vielen, heute vergessenen Autoren, die als Verfasser politischer Reisebeschreibungen von Griep namhaft gemacht werden, seien hier nur diejenigen erwähnt, die am Anfang der Bemühungen stehen, »räumliche Bewegung direkt in soziale Anstöße umzusetzen« (Griep, S. 749): Wilhelm Ludwig Wekhrlin Reise durch Oberdeutschland (1778), Johann Kaspar Riesbeck Briefe eines reisenden Franzosen (1784).
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literatur vermittelten Berichterstattung verbindet sich aber auch eine Tendenz zur subjektiven Wertung, die in der Forschung heute als wesentlicher Indikator für den sogenannten »Paradigmenwechsel« in der Reiseliteratur des späten 18. Jahrhunderts gesehen wird.16 Diesen Wechsel darf man sich freilich nicht als schlagartige Veränderung eines Genres vorstellen. Rudimente älterer Darstellungsformen wurden nicht auf einmal ausgelöscht. Doch ist in der Tat im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein Transformationsprozess der Reiseliteratur zu beobachten, den Uwe Hentschel als Veränderung der ehedem gelehrten, enzyklopädisch-wissenschaftlichen Reiseberichte hin zu einer subjektiv-literarischen Reisebeschreibung bezeichnet.17 Den noch auf Vollständigkeit und systematische schriftliche Erfassung des Gesehenen bedachten Reisebüchern und Reiseberichten der Frühaufklärung vom Schlage etwa eines Johann Caspar Goethe18 oder dem breit rezipierten Johann Heinrich Volkmann19 stehen mit den Reisebeschreibungen etwa eines Georg Forster20 oder Karl Philipp
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Vgl. Brenner, Reisebericht, 1990, S. 275 spricht von einer Zäsur in der Reiseliteratur am Ende des 18. Jahrhunderts, die er auch auf die veränderten Reisebedingungen und vor allem auf die allmähliche Entdeckung der Reise durch das Bürgertum zurückführt; zum gesellschaftlichen Hintergrund und der Emanzipation des Bürgertums am Ende des 18. Jahrhunderts vgl. auch die Arbeit von Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt a. M. 1990 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 891). Uwe Hentschel: Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Autoren – Formen – Ziele. Frankfurt a. M. [...] 1999 (Studien zur Reiseliteratur- und Imagologieforschung, Bd. 4), hier S. 15, dort auch Quellen, die hier nicht eigens angeführt werden brauchen; Hentschel knüpft teilweise fast wörtlich an seine früheren Studien an: Uwe Hentschel: Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Vom gelehrten Bericht zur literarischen Beschreibung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 16, H. 2 (1991), S. 54–63; ähnliche Thesen belegt er in einem anderen Aufsatz anhand von politischen Reisebeschreibungen von Gerhard Anton von Halem, Johann Friedrich Reichardt und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, vgl. Uwe Hentschel: Revolutionserlebnis und Deutschlandbild in der Reiseliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 20 (1993), S. 321–344; vgl. ähnlich auch Brenner, Reisebericht, 1990, S.1: »Seine soziale Rolle definierte sich bis ins späte 18. Jahrhundert hinein in der Regel nicht durch seine literarische Qualität, sondern durch die Funktion der Vermittlung authentischer, durch Autopsie gewonnener Informationen.« Johann Caspar Goethe: Reise durch Italien im Jahre 1740 (Viaggio per l’Italia). Hg. von der deutsch-italienischen Vereinigung Frankfurt a. M., übersetzt und kommentiert v. Albert Meier [...]. München 1986. Vgl. Johann Jakob Volkmann: Historisch-kritische Nachrichten von Italien. 3 Bde. 2. Auflage. Leipzig 1777–1778; das für Goethe auf seiner italienischen Reise unentbehrliche »Handbuch« ist eine freie, nur mit wenigen sachlichen Änderungen versehene Übersetzung eines ursprünglichen Reiseberichtes von Joseph Jerôme Lalande: Voyage d’un François en Italie fait dans les années 1765 & 1766 [...], der 1769 zum ersten Mal erschien, vgl. hierzu Schudt, Italienreisen, 1959, S. 32. Vgl. Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein. Von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790, in: Georg Forster: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher und Briefe. 18 Bde. Hg. von d. dt. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, hier Bd. 9, bearb. von Gerhard Steiner. Berlin 1958; zu Forsters persönlicher Situation und den Hintergründen der Reise vgl. auch das Nachwort in dieser Ausgabe,
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Moritz Texte gegenüber, die »prononcierter als andere statt der fertigen Resultate die individuellen Erkenntnisprozesse [widerspiegeln]«.21 Hinter der Darstellung der für die jeweilige Reise prägenden Erlebnisformen und Erfahrungen verschwinden zwar nicht die sachlichen Inhalte, die noch einige Jahrzehnte zuvor die Reisebeschreibung dominierten, aber sie verlieren doch beträchtlich an Relevanz. Diese Tendenz zur Literarisierung, Subjektivierung, ja Poetisierung der Reiseliteratur setzt sich bis ins 19. Jahrhundert hinein fort und wird dort 1830 in einem Kommentar von Karl Immermann greifbar, der das Ergebnis dieser Entwicklung seit den 1780er Jahren folgendermaßen zusammenfasst: Noch tiefer greift das Reisen in den Zustand der jetzigen Menschen ein. Sonst, nämlich vor etwa dreissig bis vierzig Jahren, wurde zwar auch gereiset; indessen gehörte es für die Mittelklasse zu den Ausnahmen, und wo es da stattfand, wurde es durch Geschäft, bestimmte Zwecke oder durch eine besondere Eleganz des Geistes und der Verhältnisse herbeigeführt. Jetzt ist das anders. Dass jemand zu Hause bleibe, gehört zu den Ausnahmen; [...] Die Minderzahl unter diesen Reisenden sind Geschäfts- oder Zweckreisende, die große Mehrheit reist, um zu reisen.22
In knapper Form formuliert hier Immermann die Folgen eines Prozesses, die sich mit Verbürgerlichung und Subjektivierung sowohl des Reisens selbst als auch der Reiseliteratur umschreiben lassen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts machten die adligen Kavaliere23 und die Gelehrten24 einen Großteil der Reisenden aus. Überdies
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S. 337–373, bes. S. 350–351 und 355; von einer Reisebeschreibung, die mehr als IchErfahrung denn als Welt-Erfahrung fungiert, spricht Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt. Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1980, hier S. 124, dort auch hilfreiche Zusammenstellungen aus anderen Werken Forsters, die die oben formulierte These von der »Subjektivierung« der Reiseliteratur unterstützen; vgl. ferner Brenner, Reiserbericht, 1990, S. 150. Hans Erich Bödeker: Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geisteswissenschaft im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans Erich Bödeker, Georg G. Iggers, Jonathan B. Knudsen und Peter H. Reill. Göttingen 1986 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 81), S. 276–298, hier S. 293. Karl Immermann: Memorabilien, in: Karl Immermann: Werke in 5 Bänden. Hg. von Benno von Wiese, hier Bd. 4: Autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1973, S. 355– 547, Zitat S. 423f. Zu den Bedingungen der Institutionalisierung eines Reisetypus als Medium zur Vermittlung von höfischen und herrschaftlichen Tugenden und Gebaren vgl. Norbert Conrads: Politische und staatsrechtliche Probleme der Kavalierstour, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Hg. von Antoni Maczak und Hans Jürgen Teuteberg. Wolfenbüttel 1982 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 21), S. 45–64, hier bes. S. 45–46. Eine instruktive Gegenüberstellung der nicht immer ganz scharf zu trennenden Kavalierstour von der peregrinatio academica unternimmt Jörg Jochen Berns: Peregrinatio academica und Kavalierstour. Bildungsreisen junger Deutscher in der Frühen Neuzeit, in: Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion. Hg. von Conrad Wiedemann. Stuttgart 1988 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, VII), S. 154–181; Berns definiert die peregrinatio academica als eine Reise, die Universitäten, Akademien, also die Teilhabe am
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grenzt Immermann noch die verschiedenen Typen bürgerlichen Reisens voneinander ab, die schon vor dem 19. Jahrhundert von der »Mittelklasse« angetreten werden konnten und deren Vertreter für uns heute das Ringen um eine Legitimität des bürgerlichen Reisens in der Frühaufklärung dokumentieren: »[...] wo es da stattfand, wurde es durch Geschäft, bestimmte Zwecke oder durch eine besondere Eleganz des Geistes und der Verhältnisse herbeigeführt«. Aus der Begriffswahl Immermanns (»Geschäft«, »Zweck«) werden Ausprägungen dieser frühen bürgerlichen Reisen transparent, deren Paradigmen sich unter dem Nützlichkeitsverdikt zusammenfassen lassen, und deren prinzipielle Ablehnung der Kavalierstour als konstitutives Element angesehen werden kann.25 Interessant ist auch, welchen Grund Immermann für die »Reisewut« seiner Zeit nennt: Sie reisen um zu reisen. Sie wollen der Qual des Einerlei entfliehen, Neues sehen, gleichviel was? sich zerstreuen, obgleich sie eigentlich nicht gesammelt waren. Ist diese Wanderlust zu schelten? Sie ist natürlich und zum Teil wenigstens Nachwirkung der politischen Stürme.26
Aber nicht nur die Nachwirkungen »politischer Stürme«, wie hier Immermann den Einfluß der französischen Julirevolution (1830) umschreibt, führten zu einer Steigerung der Reiseaktivitäten und damit einhergehend zu einer ›Flut‹ von Reiseliteratur. Stärker noch machen sich die technischen und verkehrstechnischen Entwicklungen in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts auch im Bereich der Produktion, Distribution und Rezeption von Reiseliteratur bemerkbar. Die Interaktion von literarischem Markt, Autoren und Lesepublikum einerseits und technischen Entwicklungen und Veränderungen der Reisebedingungen andererseits lässt sich an dem wohl bedeutendsten, mehrere Bände umfassenden Projekt einer literarischen Topographie des malerisch-romantischen Deutschlands
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akademischen Leben zum Ziel hatte und im Grunde seit dem Beginn des Universitätswesens existierte. Dagegen bildete sich die Kavalierstour erst mit dem Seßhaftwerden der fürstlichen und königlichen Höfe heraus und führte vorwiegend zu fürstlichen Residenzen, um dort für den höfischen Verhaltenskodex maßgebliches Bildungsgut zu erwerben (S. 155–157). Vgl. hierzu exemplarisch die Studie von Wolfgang Martens: Zur Einschätzung des Reisens von Bürgersöhnen in der frühen Aufklärung (am Beispiel des Hamburger »Patrioten« 1724–1726), in: Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen. Hg. von Wolfgang Griep und Hans-Wolf Jäger. Heidelberg 1986 (Neue Bremer Beiträge, 3), S. 34–49, hier bes. S. 38; zur Ablehnung der Kavalierstour S. 34–35; ein weitaus berühmteres Beispiel für die auch in seinem Reisebericht zu findenden bürgerlichen Denkformen ist Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 8 Bde. Berlin und Stettin 1783–87; vgl. hierzu ebenfalls Wolfgang Martens: Ein Bürger auf Reisen, in: Friedrich Nicolai. 1733–1811. Essays zum 250. Geburtstag. Hg. von Bernhard Fabian. Berlin 1983, S. 99–123, hier bes. S. 106. Immermann, Memorabilien, 1973, S. 424.
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(1836–1842), exemplarisch demonstrieren.27 Bezeichnend für diese Art der Reiseliteratur ist die Kombination von Text und Bild, die es dem Rezipienten erlaubt, eine sowohl optisch als auch schriftlich angeleitete imaginäre oder tatsächliche Reise zu unternehmen. Was in jenen Bänden geschieht, nennt Günter Hess die »Literarisierung der Panorama-Perspektive«.28 Vor allem bei der Analyse von Texten die, wie die Reiseliteratur, mit der Beschreibung von Gesehenem oder auch nur Imaginiertem in Verbindung zu bringen sind, muß besonders für die Dezennien ab 1830 die technische Entwicklung der Photographie in Rechnung gestellt werden. Solche Bücher stehen schon allein von ihrem Gebrauchscharakter her nicht in einem kunstautonomen Raum, sondern gehören zu einer breiten literarischen Formation, deren Funktion in einer auf den technischen Fortschritt reagierenden Gesellschaft hier nur umrissen werden kann. Als Wegmarken und Stationen dieses Modernisierungsprozesses werden immer wieder die Gründungen der ersten Dampfschiffahrtsgesellschaften (Mainz: 1825/ Köln: 1826), die Verbesserung der Postkutschenreise29 und als epochaler Einschnitt zeitgleich mit der französischen Julirevolution 1830, die die Herrschaft der Bourbonen beendete, die ersten »modernen« Eisenbahnstrecken zwischen Paris-Rouen und Paris-Orléans30 angeführt. Zusammengenommen mit der Erfindung des Panoramas31 1825 und der damit sich allmählich verändernden
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Der Zyklus umfasst zehn Sektionen / Bände, denen meist 30, im Falle des neunten Bandes auch 60 Stahlstiche beigegeben sind. Als Verfasser der in Leipzig erschienenen Reihe konnten teils namhafte Autoren gewonnen und folgende Regionen behandelt werden: Sächsische Schweiz (August Tromlitz, 1836), Schwaben (Gustav Schwab, 1838), Franken (Gustav von Heeringen, 1846), Thüringen (Ludwig Beckstein, 1837), Harz (Wilhelm Blumenhagen, 1838), Riesengebirge und Grafschaft Glatz (Karl Herloßsohn, 1841), Steiermark und Tyrol (Nicolaus Lenau und Johann Gabriel Seidel, 1841), Donauländer (Eduard Duller, 1840), Rheinland (Karl Simrock, 1838 ) und Nord- und Ostsee (Theodor Kobbe und Wilhelm Cornelius, 1841). In seinem grundlegenden Aufsatz verbindet Hess die verschiedenen Ausformungen der Reiseliteratur (Baedeker, Rheinbücher etc.) mit der Entwicklung der optischen Wiedergabetechniken von Landschaftsansichten und Denkmalen durch Panorama, Diorama oder Photographie. Hess stellt in seiner ungeheuer materialreichen Studie vor, wie solche technischen Entwicklungen nicht nur auf die optische Wahrnehmung der Zeitgenossen wirkten, sondern auch die »konkurrierenden« Medien, etwa die Literatur, herausforderten. Diese Reaktion, die Hess in einen breiten erinnerungsgeschichtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts einbettet, bezeichnet er als »Literarisierung der Panoramaperspektive«, vgl. Günter Hess: Panorama und Denkmal. Erinnerung als Denkform zwischen Vormärz und Gründerzeit, in: Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. Hg. von Alberto Martino. Tübingen 1977 (Friedrich Sengle zur Emeritierung), S. 130–206, hier bes. S. 156–157. Vgl. hierzu Sautermeister, Reiseliteratur, 1998, S. 116–118, dort auch weiterführende Literatur. Vgl. hierzu die lesenswerte und grundlegende Monographie von Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München 1977. Zum Panorama immer noch sehr instruktiv: Stephan Ottermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt a. M. 1980.
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Wahrnehmungen,32 verstärken diese verkehrstechnischen Neuerungen den Bedarf an passenden »Werkzeugen [für die] immer größer werdende[n] Welterfahrung des Menschen«.33 Das heute noch bekannteste »Werkzeug«, das den neuen Bedürfnissen eines bürgerlichen Publikums entgegenkam, ist das von dem Koblenzer Buch- und Kunsthändler Karl Baedeker ›erfundene‹ Reisehandbuch »Baedeker«,34 der in seiner Frühphase ein Forum für die breit gefächerte Rhein-Literatur bot. Dabei kann man den »Baedeker« durchaus zusammen mit den Bänden Das malerische und romantische Deutschland als Reaktion auf die oben dargelegten Entwicklungen im verkehrs- und reproduktionstechnischen Bereich begreifen. In dem von Gustav Schwab begründeten, zunächst in zehn Sektionen eingeteilten Projekt manifestiert sich nicht nur, wie schon Friedrich Sengle feststellte, eine Aufwertung der deutschen Landschaften gegenüber der oben beschriebenen, weite Teile der Reiseliteratur dominierenden Südsehnsucht.35 Über dem ›harmlos‹ klingenden Titel der Buchreihe darf der übergeordnete – nicht nur in der Literatur zu beobachtende – Kontext nicht vergessen und unterschätzt werden. In der Darstellung verschiedener Regionen, der Aufarbeitungen von Geschichte einzelner (Kultur-)Landschaften vollzieht sich eine Hinwendung zum Vaterländischen, das auch Kinkel im Vorwort seines Ahrführers betont. Es sollte hier allerdings auch nicht verschwiegen werden, dass innerhalb der einzelnen Sektionen der Reihe starke Unterschiede nicht in der Ausführung, wohl aber in den von den verschiedenen Verfassern in ihren Vorworten vorweggeschickten Beurteilungen der politisch-geographischen Zustände des Deutschen Bundes zu beobachten sind. Karl Simrock als Verfasser des neunten Bandes (Das malerische und romantische Rheinland, 1838) etwa nimmt die Publikation des Buches zum Anlass, um mit deutlichen Worten auf die »Teilungen Deutschlands« hinzuweisen: Wie einst das politische Deutschland in zehn Kreise, so hat man das malerische und romantische in eben so viele Sektionen getheilt. Von allen Theilungen, welche Deutschland erlitten hat, lasse ich mir diese am liebsten gefallen, weil sie für mich den wesentlichen Vorzug vor frühern hat, dass ich bei ihr nicht todtgetheilt worden bin. […] Freigesinnt ist der Rheinländer durchaus, aber das eben dafür, dass er die Fremdherrschaft wie jede andere Knechtschaft verabscheue. Was er an seinen westlichen Nachbarn schätzt und ehrt, ist vor allem ihre Freiheitsliebe und Nationalität […].36
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Einen erhöhten Bedarf an Panoramen in den sich allmählich etablierenden Reiseführern weist Günter Hess am Beispiel verschiedener Auflagen des »Baedekers« nach, vgl. Hess, Panorama und Denkmal, 1977, S. 144. Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 239. Einen großen Überblick bietet: Alex W. Hinrichsen: Baedekers Reisehandbücher 1832– 1900. Bevern 1991; kürzer, und vor allem die Entwicklungen in der Frühphase des »Baedekers« behandelnd: Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 248–249. Vgl. Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 252. Karl Simrock: Das malerische und romantische Rheinland. Leipzig 1838 (Das malerische und romantische Deutschland, Bd. IX), S. 5 und 13.
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Trotz des Erfolges auch solcher, auf die Regionen und Landschaften innerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes ausgerichteter Werke der Reiseliteratur, bleibt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die italienische Reisebeschreibung die dominierende Gattung auf dem literarischen Markt, wenngleich sich in diesen Texten häufig auch ›anti-italienische‹ Tendenzen bemerken lassen. Nur wenige Jahre nach dem Erscheinen von Heines Reisebildern und zwei Jahre vor dem ersten Band der SchwabReihe veröffentlichte der Berliner Militär-Richter Gustav Nicolai im Jahre 1834 seine italienische Reise, die heute zwar dem Titel nach bekannt sein mag, aber im Detail doch wohl eher selten gelesen wird: Italien wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden als Warnungsstimmer für Alle, welche sich dahin sehnen. Zwei Theile.37 Nicolai fasst in seiner Vorrede ausgesprochen präzise die Entwicklung der deutschsprachigen Italienreisen seit der Aufklärung zusammen, wenngleich seine Kritik an Texten nach goetheschem Muster unverhohlen zum Ausdruck kommt. Nicolai geht es vor allem um die Darstellung sozialer Verhältnisse und die Revokation eines zur idealistisch-klassizistischen Chiffre verkommenen Italienbildes. Allerdings scheint gerade diese Revokation goethescher und ›romantischer‹ Idealisierungen Italiens bei Nicolai auch noch mit einem anderen Interesse verbunden zu sein, das ihn wiederum sowohl mit dem Anliegen der Bände Das malerische und romantische Deutschland als auch mit Kinkels Konzept seines Ahrführers verbindet: die wohlbekannten Idealisierungen der hesperischen Gefilde werden hier nicht nur zurückgenommen, sondern auch kontrafaktsich ersetzt mit einem Lob des deutschen Vaterlandes. So heißt es am Ende des Rom-Aufenthaltes: Welch ein trübseliges Land ist dies Italien! Bis jetzt haben wir fast nur reizlose, öde Felder, Wüsten, Kloaken, Ruinen und schmutzige Höhlen gesehen, und jetzt sollen wir nun deinen Landstrich durcheilen, in welchem der Pesthauch der Vernichtung weht und das Mordmesser des Räubers blinkt. Mein theures, zurückgesetztes deutsches Vaterland, wie bist du so schön, so reizend, so gesund! Du bist das Abbild einer holden, mütterlichen Frau, Germania! Zürne nicht über deine entarteten Kinder, die das freundliche, farbige Haus mit der grünen Flur, welches du ihnen öffnest, verlassen, um sich in der Schmutzhöhle der Buhlerin Italien zu entnerven!38
Was für die oben angesprochenen Bände Das malerische und romantische Deutschland schon geltend gemacht werden konnte, nämlich die topographische Erschließung ›Deutschlands‹ qua Reiseliteratur vor dem Horizont eines nicht zur Ruhe kommenden nationalen Bewusstseins, wird auch hier, freilich ex negativo, geleistet. Mit dieser knapp skizzierten Geschichte der Reiseliteratur seit dem späten 18. Jahrhundert sind die wichtigsten Gattungs- und Diskursmuster genannt, die
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Zitiert wird aus folgender Ausgabe: Italien wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den hesperischen Gefilden als Warnungsstimmer für Alle, welche sich dahin sehnen. Zwei Theile. Leipzig 1834. Nicolai, Italien, 1834, S. 237.
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auch für Kinkels Ahrführer Relevanz besitzen und im folgenden Kapitel aufgegriffen werden sollen.
1.2
Historische Darstellung und politische Zeitkritik. Kinkels Reiseführer als Beitrag zur nationalen Einigung und geschichtlich-literarischen Erschließung der Rheinlande
Auf den ersten Blick gehört Kinkels Ahrführer vom Untertitel her der Gattung Reiseführer an, wie sie gerade von Baedeker seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts massenhaft auf dem Markt vertrieben wurden. In seiner Gesamtanlage aber unterscheidet sich Kinkels Reisebuch schon allein durch Aufbau, Einteilung und Länge der einzelnen Abschnitte erheblich von jenen gängigen Reiseführern und ist sowohl was Schreibanlass als auch literarhistorisches und geschichtliches Konzept anbelangt eher im Umfeld des Zyklus’ Das malerische und romantische Deutschland zu situieren.39 Exemplarisch sei hier zunächst ein vergleichender der Blick auf jenen Band dieses Zyklus’ gerichtet, der das benachbarte Westfalen behandelt und zugleich zu den etwas bekannteren Bänden gezählt werden kann, was nicht zuletzt an den Herausgebern, Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking, liegen mag.40 Utz Haltern hat schon 1974 in einem kurzen aber prägnanten Beitrag zu Das malerische und romantische Westfalen (1842) auf die im Titel durch die beiden Adjektive »malerisch« und »romantisch« anklingende Konzeption des Bandes verwiesen.41 Mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstarkte nicht nur der Sinn für das Vaterländische, das in vielen Vereinsgründungen, wissenschaftlichen Publikationsprojekten und nicht zuletzt in der Etablierung einer akademischen Geschichtswissenschaft ihren Ausdruck fand und heute unter dem
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Am Rande sei hier erwähnt, dass der Zyklus mit den 1833–1837 publizierten Bänden der Voyages pittoresques et romantiques dans l’ancienne France von Charles Nodier ein französisches ›Pendant‹ besitzt und auch im europäischen Rahmen gesehen werden sollte, vgl. hierzu auch Utz Haltern: Landschaft und Geschichte, in: Das malerische und romantische Westfalen. Aspekte eines Buches. Ausstellung im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, 1.12.1974–19.1.1975. Hg. von Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster. Münster 1974, S. 199–210, S. 200. Der Band gehört ebenso wie die von Joseph Bader publizierten drei Bände über Baden (Das romantische und malerische Baden. 3 Bde. Karlsruhe 1843–1844) nicht in den ursprünglich zehnbändigen Zyklus, vgl. Levin Schücking und Ferdinand Freiligrath: Das malerische und romantische Westphalen. Mit 30 Stahlstichen. Leipzig 1842; eine schöne Neuausgabe der 2. Auflage des Bandes von 1872 ist 1962 erschienen, auf die hier verwiesen sei: Levin Schücking und Ferdinand Freiligrath: Das malerische und romantische Westphalen. Mit 30 Stahlstichen und 56 Holzschnitten im Text. Fotomechanischer Nachdruck der zweiten Auflage 1872. Münster 1962; zur Neuausgabe die Rezension von Karl Zuhorn, in: Westfälische Forschungen 14 (1961), S. 232–233. Vgl. Haltern, Landschaft, 1974.
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Schlagwort »Historismus« zusammengefasst wird. Gleichzeitig veränderte diese ›Wende‹ zum Historismus auch den Blick auf die eigene, also heimatliche Landschaft, die sich mit ihren Burgen, Denkmälern und Schlössern, aber auch geographisch bedeutsamen Eigenheiten zu einer ›Geschichtslandschaft‹ zusammensetzte.42 Die Präsentation einer solchen ›Geschichtslandschaft‹ in Wort und Bild wie im Falle des Westfalen-Buches sieht Utz Haltern unter den Vorzeichen des ›Malerischen‹ als »ästhetischem Darstellungsprinzip« umgesetzt, dessen Genese er exemplarisch anhand der kunst- und kulturgeschichtlichen Überlegungen von Wilhelm Heinrich Riehl skizziert.43 Dagegen bilde in Anlehnung an die Bedeutungsebenen »phantastisch« und »abenteuerlich« das ›Romantische‹ »den inhaltlichen Bezug, indem es zugleich in die Vergangenheit der dargestellten Landschaft einführt«.44 Gemeint sind hierbei nicht nur jene Passagen die die Ereignis-, Territorial und Herrschaftsgeschichte Westfalens rekapitulieren, sondern eben auch im besonderen volkstümliche Sagen, Legenden und Bräuche in Erinnerung rufen. Wie in Das malerische und romantische Westfalen der Versuch gesehen werden kann, »einen geographisch und politisch durchaus heterogen zusammengesetzten Raum durch eine bestimmte typisierende Sehweise als eine einheitliche, harmonische und schöne Landschaft erscheinen zu lassen«,45 so verweist Kinkels Vorrede in seinem Ahrführer in gesteigerter Form auf ein ähnliches, nicht anders als politisch zu verstehendes Publikationsanliegen eines zunächst durch die literarisch-historische Erschließung einzelner Regionen auf das Fernziel einer nationalen Einigung gerichteten Projektes: Unsere deutsche Geschichte muß aus der Geschichte einzelner Landschaften zusammenwachsen, und sie wird besonders durch Erforschung der bisher unverantwortlich vernachlässigten Schicksale des kölnischen Erzstiftes und seiner Vasallenfamilien gewinnen können.46
Auf fast vierhundert Seiten entfaltet Kinkel eine ›Geschichtslandschaft‹, die ebenso großen Wert auf die Darstellung von »Sage und Volksleben«47 legt, wie auf geschichtliche Landeskunde, Ortsgeschichte, die Geschichte einzelner Kunst- und Baudenkmäler bis hin zu einer Genealogie von Adelsgeschlechtern der Ahr, die
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Vgl. Haltern, Landschaft, 1975, S. 199–200; vertiefend im Hinblick auf Begriffsprägung und Begriffsproblematisierung ferner: Karl-Georg Faber: Was ist eine Geschichtslandschaft?, in: Festschrift Ludwig Petry. 2 Bde., hier Bd. 1. Wiesbaden 1968, S. 1–28 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 5). Vgl. Haltern, Landschaft, 1975, S. 200 Ebd.; zur Begriffs- und Bedeutungsgeschichte sei ferner verwiesen auf Richard Ullmann, Helene Gotthard: Geschichte des Begriffes »Romantisch« in Deutschland. Vom ersten Aufkommen des Wortes bis ins dritte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin 1927 (Germanistische Studien, Bd. 50). Haltern, Landschaft, 1975, S. 201. Kinkel, Ahr, 1846, Vorrede S. VII. Ebd.
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Kinkels umfangreiches Quellen-, Urkunden und Stammbaumstudium dokumentieren. Aufgebaut ist der Band in drei Abteilungen, von denen die erste Abteilung einem »Allgemeinen Überblick« mit zwei Unterabteilungen (»Geografische Übersicht«, »Zur Geschichte des Ahrthals«, »Gegenwärtiger Zustand«) gewidmet ist. Die beiden anderen Abteilungen sind stärker dem Aufbau eines Reiseführers vor Ort verpflichtet und folgen daher dem Lauf der Unterahr von der Ahrmündung über Ahrweiler bis Altenahr (»Zweite Abtheilung«) und der Oberahr von Altenahr über Schloß Ahremberg bis Blankenheim. Dass der fast die Hälfte des Bandes, nämlich knapp 200 Seiten, einnehmende erste Teil den ›Gebrauchswert‹ des Bandes erheblich mindert, veranlasste Kinkel dazu, auf der Grundlage seines 1846 publizierten Textes drei Jahre später (1849) ein Reisehandbuch zu veröffentlichen, das 1854 in der zweiten Auflage erschien.48 Hier finden sich in der Vorrede Einschätzungen Kinkels, die für das Verständnis seines älteren Buches von Bedeutung sind: Im Jahr 1846 gab ich, gleichfalls in demselben Verlage, ein Werk unter dem Titel heraus: »Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben«. Dasselbe war der Ertrag mehrjähriger Forschungen, namentlich über die früheren höchst anziehenden Schicksale dieses schönen Theils unserer Rheinlande […]. Ebenfalls war auf die Sagen Werth gelegt worden; viele Gedichte, welche auf dies oder die Landschaft der Ahr Bezug haben, fanden Aufnahme. Es galt mir dabei, nicht bloß ein Reisehandbuch, sondern zugleich eine Monographie von wissenschaftlicher Bedeutung hinzustellen. Allein für den Zweck des flüchtig Reisenden erschien Manchem jenes Werk zu umfangreich und wol auch zu wenig übersichtlich.49
Bei dem Ahrbuch von 1846 handelt es sich also um mehr als nur einen Reiseführer. Kinkels hauptsächliches Movens scheint darin bestanden zu haben, im populären Medium des Reiseführers eine soziale, literarische, geographische, kulturelle, künstlerische und volkstümliche Geschichte der Ahrlandschaft zu schreiben, der eine für das regionale – aber auch nationale – Heimatbewusstsein identitätsstiftende Funktion zukommen und gleichzeitig auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollte.50
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Vgl. Gottfried Kinkel: Der Führer durch das Ahrthal. Nebst Beschreibungen der Städte Linz, Remagen und Sinzig. Bonn 1849; bezeichnenderweise sind für die Zusammenstellung einer 1976 erschienenen Neuausgabe des Buches von 1846 die großen historischen Überblicke aber auch die Schilderungen der Gegenwart entfernt worden, so dass das Format zu einem ›richtigen‹ Reiseführer verändert wurde, dessen Untertitel gar nicht von Kinkel stammt, vgl. Gottfried Kinkel: Die Ahr. Eine romantische Wanderung vom Rheintal in die Hohe Eifel. Neue, bearbeitete Ausgabe nach der 1849 in Bonn erschienenen zweiten Auflage »Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende. Mit zwanzig Stahlstichen nach Originalzeichnungen«. Eingeleitet und herausgegeben von Hermann Kochs. Köln 1967; die zweite Auflage erschien 1999 ebd. Kinkel, Der Führer durch das Ahrthal, 1849, Vorwort (o.S.). Kinkel spricht selbst in seiner Vorrede von 1846 von seinen intensiven Vorstudien für dieses Buch und wiederholt diesen Anspruch bei der Publikation des kürzeren Ahrführers von 1849.
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Es scheint aber kein Zufall zu sein, dass sich Kinkel ausgerechnet mit diesem Teil des Rheinlandes beschäftigte, dem im Gegensatz zu den Gebieten am Rhein erst seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in Reise- und Wanderbüchern eine stärkere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Eine für Kinkel wichtige Quelle, die er auch in seinem Vorwort von 1846 nennt, ist das ebenfalls im Bonner Habicht-Verlag erschienene Reisebuch des Kölner Oberlehrers und Gründers des späteren Kölner Kunstvereins Ernst Weyden (1805–1869).51 Daneben liegen Ahrbeschreibungen des Koblenzer Botanikers Philipp Wirtgen (1806–1870) und des Veteranen der Befreiungskriege, Ernst Moritz Arndt, vor.52 Zwar präsentieren auch diese Texte Geschichte, Volks- und Landeskunde der Ahr, weisen aber viel öfter als bei Kinkel noch Stellen auf, an denen Rückblicke auf Erlebnisse der Wanderung, oder, wie bei Wirtgen, botanisch-biologische Besonderheiten im Vordergrund stehen. Politischer Zeitkritik wird indessen selten bis gar nicht Ausdruck verliehen. Im Publikationskontext von Kinkels Schriften der 1840er Jahre ist gerade ein Kapitel in seinem Ahrbuch von 1846 interessant und soll hier näher betrachtet werden. Gut zwanzig Seiten widmet Kinkel in der ersten Abteilung der Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes des Ahrtals, worauf er schon apologetisch in der Vorrede hinweist: Dass der Vergleich der Gegenwart mit der glücklicheren Vergangenheit sich mir aufdrängte, dass ich statt romantischer Schilderungen idyllischen Bauernglücks den wirklichen Nothstand des Thales und den Schmerz der Auswanderung ins Auge faßte, dass ich endlich da und dort nach bescheidenem Ermessen ein Mittel zur Abhülfe nannte, das verdenkt mir keiner, der das Ahrtahl kennt.53
Kinkels Ahrbeschreibung steht hier in der Kontinuität der oben umrissenen Tradition politisch-sozialer Reiseliteratur und stellt dem politischen Gesamtkonzept noch ein Thema innerhalb des Textes an die Seite, mit dem das für die Region zentrale soziale Problem der Auswanderung angesprochen wird, dessen Ursachen in der preußischen Gesetzgebung und der Vielstaaterei des Deutschen Bundes begründet liegen, worauf Kinkel schon 1842 in einem Beitrag für die Augsburger Allgemeine Zeitung hingewiesen hatte: Und hier ist es ehrlich auszusprechen, was am Rhein Jeder fühlt, der ein Herz für das Volk hat und auch mit Bauern herzlich zu leben weiß, wie es dem ehrlichen Rheinländer ziemt, dass nämlich die Steuern zu hoch sind, und vor allem die Weinmoststeuer abgethan werden sollte. Man bedenke folgendes. Der Winzer bebaut und versteuert dem Staate
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Vgl. Ernst Weyden: Das Arhthal. Ein Führer von der Mündung der Ahr bis zu ihren Quellen. Nebst einem Abstecher nach dem Laacher-See und dem Brohlthale. Historischtopographische Skizzen. Bonn 1835; die zweite Auflage erschien 1839 ebd. Vgl. Philipp Wirtgen: Das Ahrthal mit seinen sehenswerthesten Umgebungen. Ein Leitfaden für Reisende. Bonn 1839; Ernst Moritz Arndt: Wanderungen aus und um Godesberg. Bonn 1844; auf der Grundlage dieses Textes erschien 1846 zusätzlich folgender Band: Rhein- und Ahrwanderungen. Bonn 1846. Kinkel, Ahr, 1846, Vorwort S. IX.
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einen Boden, der dem gemeinen Wohl sonst rein nichts einbringen würde – den nackten kahlen Felsen. Auf diesen Erwerb ist er ausschließlich angewiesen; seine Väter haben ihm sein Dorf nur im Vertrauen auf dieß eine damals fast ganz unbesteuerte Product in eine sonst ganz unbewohnbare Gegend hineingebaut. Grund genug, dass seine Steuer so gering wie möglich seyn sollte. […] Und nun kommt die Lage im Zollverein hinzu. Nassau führt seine viel bequemer gewonnenen Weine uns zu, seit die Zollschranke gesprengt ist. Die Ahr dagegen führte zur französischen Zeit ihre Weine zollfrei nach Belgien. Jetzt also befindet sie sich in doppelter Klemme: ein concurrirendes Land ist aufgeschlossen, ein consumirendes gesperrt worden. 54
Auch in dem Kapitel »Gegenwärtiger Zustand« seines Ahrbuches von 1846 geht Kinkel auf die ungünstige politische und gesetzliche Lage, aber auch auf die geologischen Bedingungen und das Problem der Überbevölkerung ein: Aber die Bewohner des Thals werden arm und ärmer, die einst blühenden Dörfer brechen zusammen, die fröhliche Lebenslust, wie sie Weinländern eigen ist, schwindet von Jahr zu Jahr mehr, und zu erst von allen Preußen hat der Ahrländer die Auswanderung nach Amerika begonnen. […] Die Umstände, nicht die Menschen sind an dem Unglück schuld.55
Interessant ist, dass Kinkel die Thematik nicht auch von der Zielperspektive der Auswanderung und Auswanderer her, Amerika, diskutiert, wie er das äußerst differenziert in seinem Beitrag für die Augsburger Allgemeine Zeitung 1842 getan hatte. So sehr er die staatliche Steuergesetzgebung tadelt, so viel Lob bringt er hingegen für die Auswandererpolitik der Regierung auf, die der Auswanderung wenigstens nichts in den Weg lege, sondern im Gegenteil dafür sorge, »dass ihre fortziehenden Unterthanen nicht Sklaven der Fremden werden – dieß letztere, indem sie eine bestimmte Summe sich zeigen lässt, ehe sie ihm die Befugnis der Auswanderung ertheilt«.56 Kinkel scheint in diesem Kapitel weniger an der Ausdifferenzierung verschiedener Motivationen für die Auswanderungen im Spannungsfeld von ›Europamüdigkeit‹, Amerikabegeisterung und Armut, die aber mit Abstand sicherlich den wichtigsten Grund darstellt, interessiert, sondern vielmehr an einer Darstellung der ›tatsächlichen‹ Zustände zur Zeit der Publikation des Buches, in der zwar die Auswanderung immer noch weite Teile der Bevölkerung erfasste, deren Quote aber weit hinter der Blütezeit von 1842 zurückblieb.57 Gerade mit der Aufnahme eines
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Gottfried Kinkel: Die Auswanderungen aus dem Ahrthal und der Eifel, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 135 vom 15. Mai 1842, S. 1074–1076, hier S. 1075–1076; zu Kinkels sozialen und politischen Positionen dieser Zeit vgl. De Jonge, Gottfried Kinkel, 1966, S. 82–83 und Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 161 u. 469. Kinkel, Ahr, 1846, S. 146–147. Kinkel, Die Auswanderungen, 1842, S. 1075; vgl. demgegenüber Kinkel, Ahr, 1846, S. 146–164. Zur Auswanderung im späten 19. Jahrhundert mit weiten Rückblicken in die Geschichte der Auswanderungen des gesamten 19. Jahrhunderts bietet der quellenreiche Band von Eugen von Philippovich: Auswanderung und Auswanderungspolitik in Deutschland. Berichte über die Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand des Auswanderungswesens in den Einzelstaaten und im Reich. Im Auftrag des Vereins für Socialpolitik hg. von E. v.
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Kapitels über die gegenwärtigen Zustände des Ahrtals hat Kinkels Text Anteil an der umfangreichen literarischen und publizistischen Behandlung des Themas, das hier in der Tradition der politisch-sozialen Reiseliteratur im Medium eines ›Reiseführers‹ präsentiert wird. Im Horizont der verschiedenen Diskursmuster und Gattungen der Reiseliteratur stellt Kinkels Ahrbuch zwar keine Neuschöpfung dar, wohl aber eine Synthese aus ganz verschiedenen Untergattungen der Reiseliteratur, die geradezu exemplarisch die ›Beweglichkeit‹ und das Spektrum einer der wichtigsten Gattungen der Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veranschaulichen.58 Einerseits weist der umfangreiche geschichtliche Teil, der in den ebenso detailliert ausgeführten Städte- und Denkmälerbeschreibungen der zweiten und dritten Abteilung seine Fortführung findet, auf die auf Informationsvermittlung ausgerichteten Reisetexte der Aufklärung. Andererseits bedient sich Kinkel auch ›romantischer‹ Elemente, indem er in der Semantik des Begriffes als »phantastisch« und »abenteuerlich« ausführlich Sagen und poetische Evokationen – in Form von Lyrik – jener Region vorstellt. Achim Aurnhammers eingangs zitierter Vorschlag, im Sinne eines von ihm präferierten systematischen Zugriffs auf Texte der Reiseliteratur generell zunächst nach dem »Verhältnis von Beschreibungsobjekt und beschreibenden Subjekt«59 zu fragen, führt im Falle von Kinkels Publikationen zur Ahr zurück zum zweiten Teil der für dieses Kapitel der Arbeit gewählten Überschrift. Kinkels Beitrag zur geschichtlich-literarischen Erschließung der Rheinlande liegt jene tiefe Heimatverbundenheit und persönliche Sympathie für ihre Bewohner und Landstriche zugrunde, die er beim Publikum wecken wollte und die zwischen den historischen, geographischen, kunst- und literaturgeschichtlichen Darstellungen immer wieder ihren Ausdruck in persönlichen Kommentaren findet. Im Zeichen der Beförderung eines regionalen Heimat-, Geschichts- und Volksbewusstseins steht neben Kinkels Texten zur Ahr auch seine Herausgebertätigkeit für
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P. Berlin 1892; aus der neueren Forschung zum Komplex der Auswanderungen nach Amerika sei auf folgenden Überblicksband verwiesen: Wolfgang J. Helbich: »Alle Menschen sind dort gleich…«. Die deutsche Amerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1988 (Historisches Seminar, Bd. 10), hier vor allem auch der ausführliche Quellenteil S. 61–157; ausführlicher zur Auswanderung nach Amerika siehe auch in dieser Arbeit das Kapitel zu Kinkels Erzählung Die Heimatlosen (Teil II, Kapitel 2.3). Die wichtigsten Werke der verschiedenen Diskurs- und Gattungsmuster der Reiseliteratur wurden ja schon in Kapitel 1.1 vorgestellt. Ergänzend sei hier noch auf ein prominentes Beispiel verwiesen, in dem sich, ähnlich wie eben bei Kinkel demonstriert, historische Darstellung und politische Zeitkritik verbinden, vgl. das monumentale Werk von Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Mit Kupferstichen. 12 Bde. Berlin 1783–1796; zu Nicolai siehe den Aufsatz von Möller, dessen Ansatz ich in der Interpretation von Kinkels Ahrbuch aufgegriffen habe, Horst Möller: Landeskunde und Zeitkritik im 18. Jahrhundert. Die Bedeutung der Reisebeschreibung Friedrich Nicolais als regional- und sozialgeschichtliche Quelle, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 27 (1977), S. 107–134. Aurnhammer, Goethes »Italienische Reise«, 2003, S. 73.
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das Jahrbuch Vom Rhein. Leben, Kunst und Dichtung, dessen einziger Jahrgang 1847 im Verlag Gottschalk Diedrich Baedeker erschien.60 »Wir glauben aber«, so noch 1847 ein anonymer Rezensent in den Grenzboten, »dass, wenn das Unternehmen mit gleicher Sorgfalt und gleich tüchtigem Inhalt fortgesetzt wird, der Erfolg nicht ausbleiben kann«.61 Der Erfolg blieb aber aus, womit Kinkels Jahrbuch sich einreiht in die Liste rheinischer Periodika, deren Untertitel meist einen Dreiklang von Poesie, Leben und Kunst oder ähnlichen Begriffen aufweisen und zwar immer wieder aufs neue initiiert wurden, denen aber in den meisten Fällen nur ein, höchstens drei Jahrgänge beschieden waren. Die bekanntesten Beispiele sind sicherlich das von Ferdinand Freiligrath, Karl Simrock und Christian Matzerath herausgegebene Rheinische Jahrbuch für Kunst und Poesie (1840–1841), Levin Schückings nur im Jahr 1846 erschienenes Rheinisches Jahrbuch und das von Laurenz Lersch in Bonn publizierte Niederrheinische Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Poesie (1843–1844), in dem 1843 auch Kinkels Gedichtzyklus Otto und Adelheid und 1844 seine kunsthistorische Abhandlung zur rheinischen Kirchenbaukunst erschienen sind.62 Ferner zu nennen ist das Jahrbuch des »Nestors« der rheinischen Poesie, des Jugend- und Studienfreundes Heinrich Heines, Johann Baptist Rousseau, dessen Rheinische Flora. Blätter für Kunst, Leben, Wissen und Verkehr auch nur in zwei Jahrgängen erschienen.63 Auf die wirtschaftlichen Überlegungen und Kinkels unglückliche Verhandlungsstrategie mit dem Verlag als Gründe für den geringen Erfolg und schließlich die Einstellung seines Jahrbuchs Vom Rhein schon nach dem ersten Jahrgang hat Wolfgang Beyrodt in seiner Dissertation hingewiesen und auch hinreichend 60
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In diesem Band ist auch Kinkels Erzählung Margret (vgl. hierzu auch in dieser Arbeit Teil II, Kapitel 2.3.3) und sein Gedicht Männerlied (vgl. Teil III, Kapitel 6.1) zuerst publiziert worden (S. 143–190). Anonymus: Kinkel: »Vom Rhein«, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 6 (1847), S. 447–448, hier S. 447. Vgl. Gottfried Kinkel: Otto und Adelheid, in: Niederrheinisches Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Poesie 1 (1843). Hg. von Laurenz Lersch, S. 342–359; Gottfried Kinkel: Die rheinische Kirchenbaukunst des dreizehnten Jahrhunderts, vorzüglich im Kölner Oberstift, in: Niederrheinisches Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Poesie 2 (1844). Hg. von Laurenz Lersch, S. 313–340. Vgl. Johann Baptist Rousseau: Rheinische Flora. Blätter für Kunst, Leben, Wissen und Verkehr, 1.1825–3.1827; auf das Scheitern der oben genannten Publikationsprojekte und die Notwendigkeit eines solchen Jahrbuchs weist auch der Rezensent von Kinkels Vom Rhein der Blätter für literarische Unterhaltung hin: »Ein so eigenthümlich entwickelter und im Verein mit Allem was in unserer Zeit Bewegtes und Fortschreitendes liegt sich weiter entwickelnder Theil des deutschen Vaterlandes wie der Rhein bedarf auch in künstlerischer und literarischer Beziehung eines Organs.« Anonymus: Rheinische Poesie. »Vom Rhein«, Gottfried Kinkel, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 13, vom 13.1.1848, S. 50–52 und Nr. 14, vom 14.1.1848, S. 55–56 (Zitat S. 50); vgl. zum Komplex der rheinischen Periodika auch den leider unvollendet gebliebenen Überblick von Hansen, Die Rheinprovinz II, 1917, S. 385–409; zusammenfassend auch Oellers, Geschichte der Literatur in den Rheinlanden, 1979, S. 570–606, wenngleich mehrere Thesen Oellers etwas relativiert werden müssen.
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den Publikationskontext im Umkreise von Kinkels Bonner Maikäfer-Verein dargestellt.64 Entscheidender als die Frage nach den Gründen des Misserfolgs ist die Bedeutung solcher Jahrbücher als Quelle für das literarische Leben im Rheinland und die zeitgenössische Bewertung der rheinischen Literatur durch ihre Protagonisten.65 Ähnlich wie in Kinkels Ahrbuch gehen auch in seinem Jahrbuch Vom Rhein zwei Publikationsanliegen einher: neben der Funktion als Distributionsorgan für rheinische Dichter – sowohl für jüngere und etablierte, heute zumeist aber vergessene Autoren wie Willibald Beyschlag, Alexander Kaufmann, Ludwig Wihl, Wilhelm Smets oder Gustav Pfarrius – scheint auch der Gedanke im Hintergrund zu stehen, die literarische Rheinlandschaft abzustecken. Jener Kreis von rheinischen Dichtern und Gelehrten – und seien es auch nur Wahlrheinländer – hätten wohl ohne Abstriche die Grundüberzeugung des österreichischen Literaturwissenschaftlers Joseph Nadler geteilt und den in seinem umfangreichen Werk Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften umgesetzten Ansatz, dass zwischen der Landschaftszugehörigkeit und der Literaturproduktion ein enges Verhältnis bestehe, das für die Literaturgeschichtsschreibung und Forschung ein unschätzbares Arsenal von Anregungen zum historischen Verständnis berge, unterstützt.66 Denn für solch einen Zugriff auf Texte bieten gerade Jahrbücher wie Kinkels Vom Rhein oder auch Simrocks Einschätzungen der rheinischen Literatur in Das malerische und romantische Rheinland die beste Argumentationsgrundlage, da sie selbst nach diesem Verständnis angelegt sind.
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Vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 180–182; Beyrodt hat auch darauf hingewiesen, dass die in den 1840er Jahren erschienenen rheinischen Periodika noch nicht hinreichend erforscht seien, woran sich, so weit ich sehe, bis heute nichts geändert hat. Einen breiten und repräsentativen Einblick in verschiedene Texte rheinischer – und anderer – Autoren erhält man in den von 1810 bis 1858 publizierten Bänden Rheinisches Taschenbuch, das damit auch eines der wenigen rheinischen Jahrbücher darstellt, dem ein langjähriger Erfolg beschieden war. Herausgegeben wurde das Taschenbuch bis 1844 von Johann Valentin Adrian, fortgeführt dann unter der Leitung des auch als Dichter bekannten Karl Ferdinand Dräxler-Manfred. Zu Nadler und seiner in der ersten Auflage 1912–1928 publizierten Literaturgeschichte, durch deren vierte Auflage (1938–1941) er von der Germanistik als Nationalsozialist abgetan wurde, siehe den Artikel sub verbo von Jürgen Fohrmann, in: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. 12 Bde., hier Bd. 8. Gütersloh, München 1991, S. 327–328 und Sebastian Meisel: Zur Wiener Neugermanistik der 30er Jahre: Stamm, Volk, Rasse, Reich. Über Joseph Nadlers literaturwissenschaftliche Position, in: Österreichische Literatur der 30er Jahre. Ideologische Voraussetzungen, institutionelle Verhältnisse und Fallstudien. Hg. von Klaus Aman. Wien 1985, S. 130–146.
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Erzählerische Perspektivierung von Nation und Demokratie
2.1
Aufbau des Bandes Erzählungen und Überblick
Das Interesse am Landes- und Volkskundlichen, an Mentalitäten und historischpolitischen sowie geographischen Lebensbedingungen einzelner Regionen und Landstriche findet durch die Wahl verschiedener Schauplätze und die Darstellung unterschiedlicher Milieus auch in Kinkels fiktionalen Prosatexten seinen Niederschlag. Der erstmals 1849 erschienene und als Gemeinschaftswerk von Gottfried und Johanna Kinkel ausgewiesene Band mit Erzählungen versammelt jeweils fünf Texte von beiden, wobei in dieser ersten Auflage bis auf die Geschichte eines ehrlichen Jungen und Die Heimatlosen67 alle Erzählungen mit Verfassernamen versehen sind und auch durch die Erstpublikation im Maikäfer-Heft (Geschichte eines ehrlichen Jungen) bzw. der Briefkorrespondenz zwischen Johanna und Gottfried eindeutig Johanna bzw. Gottfried Kinkel zuzuordnen sind.68 Spekulationen über die Anteile von Johanna an der Konzeption und Ausarbeitung von Kinkels Erzählungen, wie sie teilweise in der älteren Forschung immer wieder formuliert wurden,69 sollen hier nicht fortgeführt werden, da zum einen die Texte im Mittelpunkt stehen und zum anderen schon in Teil I (Kapitel 2) dieser Arbeit die wichtige Rolle Johannas für die Entwicklung von Kinkels weltanschaulichen, ästhetischen und damit auch literarischen Positionen herausgearbeitet und auf die von beiden als überaus fruchtbar bezeichnete Beziehung eingegangen wurde.70 In jedem Fall kann die Sammlung als von Kinkel autorisiert gelten, wenn auch die Publikation ins Spätjahr 1849 fiel, als Kinkel schon nach seiner Verwundung
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Auch in der schon 1851 erschienenen zweiten Auflage (vgl. Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel. 2., unveränderte Auflage. Stuttgart 1851) sind diese Geschichten ohne Angabe des Autors abgedruckt. Goedeke (gibt beide als Verfasser an; in der erst nach Kinkels Tod erschienenen dritten Auflage (1883) wird hingegen nur Gottfried Kinkel als Verfasser der Geschichte eines ehrlichen Jungen angegeben, was aber durch die MaikäferPublikation widerlegt wird (s. folgende Fußnote); Die Heimatlosen erscheinen auch in der dritten Auflage ohne Verfassername, vgl. Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart 1883. Die Geschichte eines ehrlichen Jungen erschien zuerst im 4. und 5. Jahrgang (1843/1844) des Maikäfer-Heftes unter dem Namen Johanna Kinkel, vgl. Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 3, S. 39–43, 50–52, 273–276, 280–283, 295–301, 349–350, 364–369, 382– 384, 393–396, 399–403, hierzu auch Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 100–102; aus der Korrespondenz Johannas mit Kinkel während seiner Haft in Rastatt (Brief von Johanna vom 25. September 1849) geht deutlich Kinkels Autorschaft von Die Heimatlosen hervor, vgl. Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 607–611, bes. S. 608. Vgl. etwa Kurt Wüest: Gottfried und Johanna Kinkel, in: Wissen und Leben. Schweizerische Halbmonatsschrift, VI. Bd. (April–Sept. 1910), S. 503–507, hier S. 504. Exemplarisch für die intensive Zusammenarbeit der beiden beim Entwerfen, Ausarbeiten und Korrigieren sowie bei der Publikation ihrer literarischen Werke sei auf den in der Rastatter Gefangenschaft geschriebenen Brief Gottfrieds an Johanna vom 16. September 1849 hingewiesen, vgl. den Abdruck bei Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 599– 605.
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und Festnahme an der Murg am 29. Juni 1849 seit dem 8. Oktober 1849 im Zuchthaus in Naugard seine Strafe verbüßen musste. Jedenfalls sprechen die Daten der wichtigsten Rezensionen, die allesamt aus den ersten Monaten des Jahres 1850 stammen, und der Bericht Strodtmanns über die Entstehungsgeschichte von Die Heimatlosen eindeutig für das Erscheinen des Bandes erst im Herbst 1849.71 Exemplarisch sollen im Folgenden zwei Erzählungen von Gottfried Kinkel ausführlich aus dem engeren Blickwinkel gattungstypologischer, zeit- und sozialgeschichtlicher sowie literarästhetischer und erzähltechnischer Fragestellungen analysiert werden. Aus der weiteren Perspektive der Gesamtanlage des Bandes lässt sich in der Zusammenstellung der Texte indessen nicht nur ein bestimmtes Publikationsanliegen erkennen, sondern auch der Zusammenhang einerseits mit den in diesem Teil der vorliegenden Arbeit unter Kapitel 1 besprochenen Themen, andererseits mit den im Vormärz bekannten Prosagattungen herstellen. Bemerkenswert ist die räumlich-geographische Breite, die die Schauplätze der Erzählungen abstecken. Mit dem Niederrhein (Der Hauskrieg, G.K.), Ahr und Eifel (Margret, G.K.), dem Spessart mit Kreuzwertheim (Ein Traum im Spessart, G.K.), dem dörflich geprägten Rheinland (Der Musikant, J.K.) und dem städtischen Milieu in Bonn (Geschichte eines ehrlichen Jungen, J.K.) bietet die Sammlung ein ganz im Sinne von Kinkels Heimatinteresse ausgesprochen vielseitiges Panorama verschiedener Regionen, die in unmittelbarer bzw. naher Nachbarschaft der Rheinlande liegen, worauf auch die Rezensenten der wichtigsten Besprechungen einhellig hinweisen.72 In der Auswahl und Zusammenstellung dieser Erzählungen, deren Entstehungszeiten teilweise mit denen der Ahrbücher zusammenfallen, manifestiert sich dasselbe oben aufgezeigte Verfahren einer Erschließung von ›Kulturlandschaften‹, das auch den Ausgangspunkt der Bücher zur Ahr bildet. Daneben erweitert Kinkels in Baden und in der Pfalz angesiedelte Erzählung Die Heimatlosen den geographischen Radius weiter nach Südwesten und verlegt damit die Geschichte in zwei der wichtigsten Zentren der revolutionären Bewegungen in den 1840er Jahren, was weiter unten (Kapitel 2.3) noch ausführlich behandelt wird. Die Interpretation einzelner Erzählungen sollte jedoch nicht den Blick verstellen auf den Gesamteindruck dieser Sammlung. So wie für die Handlungsräume eine breite regionale Ausdifferenzierung festgestellt wurde, präsentiert der Band auch ein großes Spektrum von Textsorten und Schreibhaltungen, auf die durch die jeweiligen Untertitel zusätzlich aufmerksam gemacht wird. Die historisch-romantische und
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Vgl. Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 319–321; ferner und ausführlich zu Die Heimatlosen vgl. in dieser Arbeit Teil II, Kapitel 2.3. Vgl. Anonymus (Rez.): Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 2 (Beilage) vom 2. Januar 1850, S. 42–44 und Nr. 4 vom 4. Januar 1850, S. 57–58; Anonymus: Gottfried und Johanna Kinkel, in: Europa. Chronik der gebildeten Welt Nr. 1 vom 2. Januar 1850, S. 8; Anonymus: Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 54 vom 4. März 1850, S. 214–215.
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soziale Erzählung (Ein Traum im Spessart; Die Heimatlosen und Margret, alle von G.K.) ist ebenso vertreten wie die Novelle (Musikalische Orthodoxie, J.K.), Skizze (Aus dem Tagebuch eines Komponisten und Ein Reiseabenteuer, beide von J.K.) und die komisch-satirische Erzählung (Geschichte eines ehrlichen Jungen, J.K.). Wenn Franz Muncker 1883 in seiner Kritik der dritten Auflage des Bandes in der Augsburger Allgemeinen Zeitung besonders diese Ausgewogenheit lobt und hervorhebt, ist dies nicht zuletzt seinem Interesse an der literarhistorischen Relevanz der Erzählungen geschuldet. Zwar beklagt er, »dass man die deutsche Novellenpoesie in ihrer historischen Entwicklung zu verfolgen […] bisher kaum ernstlich unternommen [hat]«,73 doch wertet er gerade die Sammlung Kinkels als guten Ausgangspunkt, um diesen Missstand zu beheben. In der Tat gewinnt diese Zusammenstellung von Prosatexten, zumal durch das Erscheinungsdatum 1849 und der damit verbundenen, in der Vormärzforschung immer wieder diskutierten ›Epochenzäsur‹ unterstützt, fast den Charakter eines Kompendiums der wichtigsten Erzählformen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gemeinhin gilt diese Zeit als »Konstitutionsphase« verschiedenster Erzählgattungen und -modelle, was Theodor Mundt die »Emancipation der Prosa« nannte.74 Zwar sind die Unterschiede so entgegengesetzter Konzeptionen romantischer Texte etwa von Achim von Arnim, Ludwig Tieck oder E.T.A. Hoffmann auf der einen und Arnold Ruges Revolutionsnovellen oder Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten auf der anderen Seite offensichtlich. Doch wird gerade in der neueren Vormärzforschung vor einer »Verengung der Analyseperspektive durch die Vorannahmen der erkenntnisleitenden Theorieideologeme« gewarnt und Romantik und Vormärz schon allein von den Lebensdaten der Repräsentanten her als parallel existierende und bei allen Unterschieden durchaus Wechselwirkungen zeigende »Diskursformationen« begriffen, die gleichsam »in sich komplementäre Reaktionsformen auf die Weimarer Klassik und ihrem Programm gewordenen Prinzip der Kunstautonomie« darstellen.75 Kinkels 1841 entstandene und auf den ersten Blick historisch-romantische Erzählung Ein Traum im Spessart ist ein signifikantes Beispiel
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Franz Muncker: Zur neuesten deutschen Erzählungsliteratur, in: Augsburger Allgemeine Zeitung Nr. 151 (Beilage) vom 1. Juni 1883, S. 2201–2203, Zitat S. 2201. Als Überblick zu den verschiedenen Prosagattungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts empfiehlt sich der solide Beitrag von Wolfgang Lukas: Novellistik, in: Zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München 1998 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 251–286; in demselben Band ferner Holger Böning: Volksgeschichten und Dorferzählung, S. 281–312; weiterführende Spezialliteratur in diesem Teil der Arbeit in Kapitel II, 2.3.4. Vgl. hierzu den grundlegenden Aufsatz von Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen: ›Romantik‹ und ›Vormärz‹ als rivalisierende Diskursformationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen. Bielefeld 2003 (Forum Vormärz Forschung. Vormärz-Studien, X), S. 9–46, Zitate S. 19 u. 22; ferner den etwas älteren Sammelband von Burghard
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dafür, dass Literaturgeschichte eben nicht linear abläuft, sondern Autoren immer wieder auf ältere Darstellungs- und Gattungstraditionen zurückgreifen und sie mit neuen, ihren jeweiligen Aussageabsichten entsprechenden Inhalten ergänzen und transformieren.76 Ähnliches lässt sich auch für zwei der bedeutendsten Gedichtsammlungen der Vormärzzeit, Heinrich Heines Buch der Lieder und Georg Herweghs Gedichte eines Lebendigen festhalten, deren Themen- und Formenrepertoire ebenfalls auf romantische Traditionen, aber auch Interferenzen mit der Weimarer Klassik verweisen.77 Zuletzt sei noch auf die einzige aus der Ich-Perspektive geschriebene Erzählung Geschichte eines ehrlichen Jungen von Johanna hingewiesen, in der auf der Folie des Bildungsromans die Entwicklung des Helden vom aufmüpfigen Knaben und Tapezierergesellen in Bonn – der während seines Aufenthaltes in Paris mit kommunistischen Ideen in Kontakt gerät, die er aber gar nicht versteht – zum Inhaber eines eigenen Tapeziergeschäftes, also die Geschichte eines Handwerkers geschildert wird.78 Aus der naiven Perspektive des ehrlichen Jungen wird nicht nur eine Spießbürgerkritik formuliert,79 sondern auch von einem Jungenstreich berichtet, in dem sich das Johanna und Gottfried gemeinsame Interesse für die Volkskultur des Rheinlandes mit einem satirisch-kritischen Seitenhieb auf die preußische Provinzpolitik und deren Vertreter verbindet. Zunächst kommt der Ich-Erzähler mit dem religiösen Brauchtum vor allem der katholischen Bevölkerung Bonns im zweiten
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Dedner und Ulla Hofstaetter (Hg.): Romantik im Vormärz. Marburg 1992 (Marburger Studien zur Literatur, Bd. 4). Am Rande sei hier darauf hingewiesen, dass bezeichnenderweise in Band 11 der insgesamt sechzehnbändigen, 1908 bis 1923 erschienenen und von Otto Hellinghaus herausgegebenen Reihe »Bibliothek wertvoller Novellen und Erzählungen« Kinkels soziale Erzählung Margret (vgl. in diesem Teil der Arbeit Kapitel II, 2.3.3) ausgerechnet zusammen mit Ludwig Tiecks Das Zauberschloß, Joseph von Eichendorffs Die Glücksritter und Adalbert Stifters Abdias publiziert wurde. Vgl. Heinrich Heine: Buch der Lieder (Text), in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe in 16 Bänden. In Verbindung mit dem Heinrich-HeineInstitut hg. von Manfred Windfuhr, hier Bd. I/I, bearbeitet von Pierre Grappin. Hamburg 1975; Georg Herweghs ungeheuer erfolgreiche Gedichtsammlung liegt nun endlich in einer historisch-kritischen Ausgabe vor, vgl. Georg Herwegh: Gedichte eines Lebendigen Bd. 1 und 2, in: Gedichte 1835–1848. Bearbeitet von Volker Giel, in: Ders.: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hg. von Ingrid Pepperle in Verbindung mit Heinz Pepperle, Norbert Rothe und Hendrik Stein, Bd. 1. Bielefeld 2006, S. 5–162; vgl. hierzu auch meine Rezension in: Jugend im Vormärz. Hg. von Rainer Kolk. Bielefeld 2007 (Forum Vormärz Forschung; Jahrbuch12, 2006), S. 235–238. Zitiert werden die Erzählungen im Folgenden aus der dritten Auflage: Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel. 3., durchgesehene Auflage. Stuttgart 1883, hier S. 65–140; die Erzählungen werden nach folgendem Muster zitiert: Kinkel, Erzählungen (Geschichte eines ehrlichen Jungen), Seitenangabe. Kinkel, Erzählungen (Geschichte eines ehrlichen Jungen), 1883, S. 83–84; in diesem Zusammenhang sei auch auf Kinkels zusammen mit seiner Frau gegründeten und herausgegebenen Zeitschrift Der Maikäfer. Zeitschrift für Nichtphilister, die schon im Titel die Spießbürgerkritik programmatisch formuliert, vgl. in dieser Arbeit auch Teil I, Kapitel 2.2.
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Kapitel in Berührung, als er dem Küsterjungen in der Kirche hilft und dort eine merkwürdige Skulptur betrachtet: Nur in der Mitte der Kirche stand ein hölzernes Heiligenbild, das allein das bönnische Wort: ›freeßlich‹ würdig bezeichnen kann. Ich sah es zuerst im Halbdunkeln, als ich den Küsterjungen begleitete, um ihm beim Läuten der Abendglocke zu helfen. Fast wäre ich schreiend wieder aus der Kirche gelaufen, so stierte mich das Bildnis an. Ehemals mußte das Gesicht einen weißen Anstrich gehabt haben, aber von den inbrünstigen Küssen der andächtigen Bauernweiber war an vielen Stellen die Farbe weg, und das fahle bräunliche Holz schaute zwischen den weißen Flecken hervor. Ringsum war das Bild mit schmutzigen Wämschen, Nachtmützchen und Kinderstrümpfen behangen, auch an andern Kleidungsstücken fehlte es nicht. Der Küsterjunge erklärte mir, dass dieß ein wunderthätiges Bild sei, und dass Jeder von seiner Krankheit Linderung spüre, der das gehörige Kleidungsstück daran hänge.80
Historisch betrachtet ist es bisweilen schwer, die fließenden Übergänge zwischen religiösem Brauchtum und Volksglauben einerseits und kirchlich-dogmatisch verordnetem und festgelegtem Gottesglauben andererseits zu unterscheiden. Mit Sicherheit kann aber davon ausgegangen werden, dass der Aberglaube zwar ein für das 19. Jahrhundert von der Forschung lange Zeit vernachlässigtes und eher mit der Frühen Neuzeit assoziiertes Phänomen ist, aber in der Tat gerade in Krisenzeiten des 19. Jahrhunderts eine beachtliche gesellschaftliche Relevanz besaß und in Streitschriften auch auf eine umfangreiche Resonanz stieß, was jüngst Nils Freytag herausgearbeitet hat. In seiner sehr quellennahen Studie mit ergiebigen Verweisen auf Sachschriften, Zeitungsartikel, zeitgenössische Berichte und Akten geht er »den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Umgang mit Schrifttum und Handlungen, welche die Zeitgenossen als abergläubisch einstuften« nach. 81 Ob die Zeitgenossen Kinkels jene hier aus der Perspektive eines Jungen geschilderten Handlungen als abergläubisch eingestuft hätten, sei dahingestellt, wenngleich der Held indessen keinen Zweifel daran lässt, dass er dieses Brauchtum für Aberglauben hält. Das prominente Beispiel des aus Niederembt, wenige Kilometer westlich von Köln stammenden sogenannten Wunderheilers und Schäfers Heinrich Mohr, dessen »laientherapeutische Laufbahn in den Jahren 1842 und 1843« nicht nur in der regionalen zeitgenössischen Publizistik große Aufmerksamkeit erregte, ist nur einer von vielen Fällen, anhand dessen sich die Brisanz des in dieser Erzählung verarbeiteten Themas exemplarisch aufzeigen lässt.82
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Kinkel, Erzählungen (Geschichte eines ehrlichen Jungen), 1883, S. 71–72. Nils Freytag: Aberglauben im 19. Jahrhundert. Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815–1918). Berlin 2003 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 22), Zitat S. 17. Siehe hierzu das Kapitel bei Freytag (Die »Beschränktheit der Bewohner der Provinz am Rhein«: Heinrich Mohr 1842/43), der freilich auch ausführlich auf die wirtschaftlichen und sozialen Gründe für den ›florierenden‹ Wunderglauben eingeht, vgl. Freytag, Aberglauben im 19. Jahrhundert, 2003, S. 333–344.
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Entscheidend für den Kontext der Erzählung ist aber, dass der Wunder- und Aberglaube der preußischen Provinzbevölkerung noch einmal an einer anderen Stelle der Geschichte thematisiert wird, wo, als zentrales Thema im Mittelpunkt einer satirisch-pointierten Preußenkritik, die Dimensionen des Phänomens im Horizont zeitgenössischer Polemiken von ›rheinischer Beschränktheit‹ und ›preußischem Fortschritt‹ zum Ausdruck kommen. Der Vorschlag seines Freundes Neres, einen Preußen zu ärgern, am Tag zuvor mit seiner abschätzigen Bemerkung, Köln sei gegen Berlin bloß ein Landstädtchen, mitten in das empfindliche Zentrum des rheinischen Selbstbewusstseins getroffen hat, kommt dem ehrlichen Jungen gerade gelegen: Nun muß ich vorher aber meinen Lesern auseinandersetzen, dass seit Menschengedenken zwischen Kölnern und Preußen ein gespanntes Verhältnis besteht, welches ein langjähriges gemischtes Zusammenleben nie ausgleichen können [sic!]. Wenn einer sein Dienstjahr hält, so sagt man nicht: ›er mußte Soldat werden‹; sondern der allgemeine Sprachgebrauch heißt: ›hä mooht Preuß’ werde!‹ Damit ist wohl am deutlichsten ausgedrückt, dass ein Kölner einen Preußen für eine fremdartige Menschenrace ansieht.83
Die beiden Jungen führen den Preußen auf verschlungenen Wegen durch immer wieder dieselben Kölner Gassen, so dass der Gast aus Berlin den Eindruck gewinnt, die von ihm als provinziell herabgesetzte Stadt am Rhein sei doch gar nicht so klein. In der Kirche Sankt Gertrud findet dann diese satirische Episode ihren Höhepunkt, als Neres über die Geschichte der dort aufgestellten Figur der Heiligen berichtet und auf die Bedeutung der goldenen Maus in ihrer Hand hinweist. Diese sei in einem schlimmen Mäusejahr von den Bürgern und Bauern als Opfergabe zur Mäuseabwehr gestiftet worden. Die Konsequenzen des anschließenden Dialogs zwischen Neres und dem Preußen erfährt der Leser nicht, da der Ich-Erzähler nach Neres’ provokantem Satz das Weite sucht: Hier schlug der Preuß’ voll Verwunderung die Hände über dem Kopf zusammen, und sagte: »Ist es möglich, dass in unserem Jahrhundert noch ein solcher Unsinn besteht! Es ist gottvoll zu glauben, dass eine goldne Maus die Feldmäuse vertreibe! Hahaha! Man hat mir zwar immer gesagt, dass das Volk hier am Rhein noch sehr hinter uns zurück sei, aber diesen Grad von Dummheit hätte ich ihm doch nicht zugetraut!« »Ach Herr,« antwortete Neres, »Sie können doch wohl hören, dass das ein Fispelchen ist. Im Ernst glauben wir so was eigentlich nicht. Denn sehen Sie, wenn wir glaubten, dass das etwas hülfe, so hätten wir ja längst einen goldnen Preuß’ in der Kirche aufgehangen.84
Schon diese Art ironischer Preußendarstellung dürfte deutlich machen, dass Erzählungen wie diese, die auch von den zeitgenössischen Rezensenten teilweise nur als eine »Reihe glücklicher Naturschilderungen, theils humoristische, theils tief ergreifende Scenen aus Haus- und Volksleben am Rhein, Mosel und Ahr«85 eingeschätzt
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Kinkel, Erzählungen (Geschichte eines ehrlichen Jungen), 1883, S. 98. Ebd., S. 100. Anonymus (Rez.): Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 2 (Beilage) vom 2. Januar 1850, S. 42–44 und Nr. 4 vom 4. Januar
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und von der älteren Forschung fast durchweg als unpolitische Texte bezeichnet und vernachlässigt wurden, ein starkes Interesse an politischen Verhältnissen aufweisen. Im Falle von Gottfried Kinkels politischen Positionen hat die gesamte ältere Forschung diesen Aspekt stets nur im Hinblick auf seine Essays, Teile der Lyrik im Umfeld der Revolution, seine Tätigkeiten als Abgeordneter und sein letztlich für ihn persönlich fatales Engagement auf den Barrikaden der Revolutionen in Bonn, in Baden und in der Pfalz berücksichtigt.86 Lediglich Wolfgang Beyrodt hat in seiner Arbeit, deren Schwerpunkt allerdings auf Kinkel als Kunsthistoriker und der Edition wichtiger Briefe lag, darauf hingewiesen, den Aspekt des Politischen bei Kinkel von seinen Erzählungen aus zu untersuchen.87 In den folgenden Kapiteln sollen daher die bisher von der Forschung wenig oder gar nicht beachteten Erzählungen Ein Traum im Spessart und Die Heimatlosen unter anderem auch auf die in ihnen verarbeiteten politischen Diskurse und Zeitfragen hin untersucht werden, in denen sich Kinkels schon in Teil I (Kapitel 2) dargestellte Entwicklung vom Nationalliberalen und Konstitutionellen – »Ich selbst war damals [1840] entschiedener Monarchist«88 – zum radikalen Demokraten und Republikaner mit starker Nähe zu sozialistischen Vorstellungen widerspiegelt. 2.2
Romantische Anfänge? Kinkels historische Erzählung Ein Traum im Spessart (1845)
2.2.1 Nur eines »Dichters Traumbild«. Funktionen des Traummotivs im Kontext der Erzählstrategie und Erzählerrollen Die Handlung der Erzählung ist von Motiven wie der ritterlichen Bewährung und Wiederherstellung einer alten, zu Unrecht und gewaltsam zerstörten Ordnung gekennzeichnet, die entfernt an die Handlungsmuster des höfischen Heldenepos denken lassen: In der späten Karolingerzeit wird die in der Nähe von Kreuzwertheim im Spessart gelegene Burg eines beim Volk beliebten und hochangesehenen Grafen von den Horden des berüchtigten Räuberhauptmanns Robert angezündet und der Burgherr ermordet. Seine zwei Söhne, der Erstgeborene Konrad und sein jüngerer Bruder Adelhart, werden von einem Klausner und einem ergebenen Diener in Sicherheit gebracht und wachsen getrennt bei ihren Rettern auf. Als Konrad das Mannesalter erreicht, wird er vom Klausner in die Welt geschickt, um den Tod des Vaters zu rächen und seinen Bruder zu suchen. Auf dem Weg durch den sagenumwobenen Spessartwald begegnet Konrad in einer traumähnlichen Episode
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1850, S. 57–58, hier S. 42. Vgl. hierzu exemplarisch Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982; Oellers, Geschichte der Literatur in den Rheinlanden, 1979, S. 594–597. Vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 51–52. Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 111.
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der Elfe Eiche, in die er sich verliebt und mit deren Gefolge aus Waldgeistern und personifizierten Elementen die väterliche Burg zwar wiederum zerstört aber mit dem Tod des Räubers Robert auch die Ermordung seines Vaters gesühnt wird. Nach nur kurzem Intermezzo als Burgherr und Lehnsmann des Kaisers entsagt Konrad zu Gunsten seines Bruders Adelhart allem Weltlichen und kehrt wieder in den Wald zu seiner Elfe zurück, die seinen Leib in ihren »zerfallenden Schooß«, verkörpert durch den Eichbaum, aufnimmt: »Der Eichbaum that sich wie eine Pforte vor ihnen auf, tief in seine Wurzeln hinein klaffte ein Spalt, Brautbett und Grab zugleich, in das sie sich hineinlegten.«89 Die Erzählung hat auf den ersten Blick also mehr mit der literarischen Wiedererweckung des Mythischen und der Darstellung einer beseelten Natur, die hier als Reservat von Seligkeit und Ursprünglichkeit erscheint, zu tun als mit einer historischen Erzählung, zumal die allerdings ausgesprochen präzise beschriebene und daher auch eindeutig zuzuordnende Episode, in der der 911 gewählte Ostfrankenkönig Konrad I. auftritt, ohnehin nur geringen Raum einnimmt. Schon die zeitgenössischen Rezensenten und Kinkel-Biographen bewerten die Erzählung zwar positiv, charakterisieren sie aber hauptsächlich als »Märchen voll Innigkeit und Poesie«,90 als »bloßes Märchen«,91 loben Kinkels »schwärmerische Kraft«92 und weisen in den seltensten Fällen auf die anderen Sinnebenen des Textes hin. Auch Kinkels Biograph Adolph Strodtmann sieht in dem »Mährchen im Grunde nur ein lebendiges Fragezeichen, auf das uns das Christenthum die Antwort vorenthält«93 und Heinrich Beta ist der »herrliche, pantheistische ›Traum im Spessart‹« ein Dokument für jene Zeit in Kinkels Leben, in der sich »die theologische Gottesfurcht […] zu einer dichterischen Gottesliebe erweitert« habe.94 Dieser Lesart des Textes hat Kinkel auch selbst in seiner Selbstbiographie Nachdruck verliehen: »Es ist das erste Werk, in welchem bei mir der Pantheismus die persönliche Gottheit niederrang.«95 Am deutlichsten wird die literarische Wiederbelebung des Pantheismus in dem Gespräch zwischen Elfe und Konrad: »Wer hat Dein Auge geöffnet, Sterblicher, dass Du mich zu schauen vermagst? Geh’ Deinen Pfad ungefragt und laß mich meinen Brüdern Mond und Bach; es thut Dir und Deiner Sippe nicht gut, uns zu schauen.« […] »Du redest menschlich, und bist doch so kalt wie Wasser und Fels! Ich habe eine Frage an Dich; doch sage mir zuvor, wer Du bist,
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Zitiert wird im Folgenden wieder aus der dritten Auflage der Erzählungen: Kinkel, Erzählungen (Ein Traum im Spessart), 1883, S. 297–359, hier S. 357. Anonymus (Rez.): Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 54 vom 4. März 1850, S. 214–215, hier S. 215. Anonymus (Rez.): Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 2 (Beilage) vom 2. Januar 1850, S. 42–44 und Nr. 4 vom 4. Januar 1850, S. 57–58, hier S. 42. Hoffmann, Gottfried Kinkel, 1851, S. 98. Strodtmann, Gottfried Kinkel I, 1850, S. 286. Beta, Ein Nichtamnestierter, 1862, S. 22. Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 102.
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denn Du lebst, und ich lebe auch, wir zwei allein im tiefsten Forst, in grauser Nacht.« »Thor!«, rief sie stolz, »weil keiner von Adams Blut Dir hier begegnet, wähnst Du allein zu sein? Lebt nicht dieser Bach und umspinnt er nicht mit süßer Lust meine Schönheit? Lebt nicht der Baum, den Deine Axt frevelnd fällt? Schau jene Eiche, sie lebt wie Du, denn ich bin ihr lebendig Herz.« […] »So kennst Du den Einen, Ewigen, und nennst ihn auch Deinen Gott?« »Vor Zeiten hieß ich selber eine Göttin, und Roms Jungfrauen brachten mir Trankopfer, denn ich hatte ihrem Könige Weisheit und Gesetz gelehrt. Sie ahnten was wahr ist: ich bin ein Hauch aus Ihm, ein Laut im Donnerchor des Wortes, das er sprach: Es werde! Er liebt uns wie euch, er sendet seinen Thau und seinen Sturmwind, uns zu erquicken, und naht er im Gewitter, so rauschen wir ihm jauchzend entgegen aus allen Zweigen.«96
Vor diesem Hintergrund ist die oben zitierte Beschreibung der Vereinigung der beiden in der Eiche als »Grab und Brautbett« nicht nur innerhalb der Erzählung als Bild für die endgültige Absage Konrads an weltliche Besitztümer und Aufgaben, sondern auf einer anderen Ebene gewissermaßen auch für Kinkels »Lossagung vom Christentum« zu verstehen.97 Es mag daher nicht verwundern, dass auch in der Forschung die Erzählung – wenn sie überhaupt angesprochen wurde – hauptsächlich als Illustrationsmaterial verwendet wurde, um Kinkels ›religiöse Wende‹ des durch und durch im monotheistischen Glauben verwurzelten Lehrstuhlinhabers in Bonn hin zum pantheistischen Apologeten des Mythischen und Zauberhaften darzustellen.98 Wenn in der folgenden Interpretation vor allem das literarische Feld des historischen Romans und der gerade seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts zumindest in weiten Teilen national-liberal dominierten Geschichtsschreibung des deutschen Mittelalters als maßgebliche Bezugspunkte für die Erzählung herangezogen werden sollen, bedeutet dies nicht, jene Diskurse gegen die von der älteren Forschung – und ja auch von Kinkel selbst – in den Vordergrund gerückten Aspekte auszuspielen. Vielmehr bilden diese älteren Erkenntnisse die Grundlage für die Neubewertung des Textes. Die Entstehungsgeschichte und erste – allerdings unvollendete – Publikation der Erzählung im 2. Jahrgang (1841) der Maikäfer-Zeitschrift99 fallen in die Zeit
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Kinkel, Erzählungen (Ein Traum im Spessart), 1883, S. 310–312. Bollert, Gottfried Kinkels Kämpfe, 1913, S. 152; Bollert weist darauf hin, dass diese ›Wende‹ um so gravierender ist, als Kinkel noch einige Jahre zuvor nicht einmal Anteil an der durch Bruno Bauer und dessen Schüler David Friedrich Strauß eingeleiteten ›wissenschaftlichen‹ Kritik an den Urkunden des Christentums nahm – Nietzsche freilich bezeichnete Strauß’ Überlegungen im 1. Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen als »unwissenschaftlich« – , sondern sie durchweg als historisch betrachtete, vgl. hierzu die noch 1841 erschienene, gleichwohl etwas früher entstandene Schrift von Gottfried Kinkel: Historisch-kritische Untersuchung über Christi Himmelfahrt, in: Theologische Studien und Kritiken. Eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie 14 (1841), S. 597–634. Vgl. die Stellen bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 29, 99–104, 120–27, 433–435; bei Beyrodt wird die Erzählung gar nicht, wohl aber Kinkels »innere Abkehr vom Christentum« erwähnt, vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 90–117. Vgl. den Abdruck bei Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 649–659, 724– 729, 754–771; im letzten gedruckten Abschnitt wird eine Fortsetzung für Nr. 12 des
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von Kinkels Reise nach Nürnberg, wohin er zusammen mit Fresenius im Herbst 1841 aufbrach. 1845 wurde sie in dem schon in Kapitel I, 2 erwähnten, von Carl Dräxler-Manfred herausgegebenen Jahrbuch Rheinisches Taschenbuch publiziert.100 Dem schon im Titel der Erzählung angedeuteten Traummotiv kommt sowohl in der Erzählstrategie als auch in der Einordnung des Textes im Schnittfeld von Romantik und Vormärz eine entscheidende Funktion zu. Hermann Rösch-Sondermann hat in seiner Studie im Zusammenhang mit Kinkels Erzählung zurecht auf die Tradition der romantischen Traumnovelle hingewiesen, diese Gattungswahl indessen aber als »problematisch« bezeichnet, da Kinkel zur selben Zeit in seinen essayistischen Schriften die ästhetischen und weltanschaulichen Prinzipien der Romantiker nicht nur verwarf, sondern auch scharf angegriffen habe.101 Die Einschätzung Rösch-Sondermanns greift freilich zu kurz, wenn er indirekt unterstellt, dass zwischen poetologischen Schriften und fiktionalen Texten ein zwingendes Ableitungsverhältnis bestehe. In Anlehnung an die schon weiter oben angeführten Überlegungen der neueren Vormärzforschung sollte jedoch bedacht werden, dass sich gerade in poetologischen Schriften nicht selten gleichzeitig eine literarästhetische, vielmehr aber noch eine innerhalb des Literatursystems generationsspezifisch zu verstehende Standortbestimmung der Autoren im Horizont von »Positionsinhabern Anwärtern«102 manifestiert. Bisher blieb ein wesentliches Merkmal der Erzählstrategie unbeachtet, das allerdings in der Tat leicht zu übersehen ist: der Text gliedert sich in eine Rahmenund eine Binnenerzählung, die von zwei unterschiedlichen heterodiegetischen Erzählern präsentiert werden. Zu Beginn wird von den politischen, gesellschaftlichen und territorialen Folgen für das fränkische Reich nach dem Tode Karls des Großen berichtet: Das sind nun bald an die tausend Jahr, da stand das deutsche Reich gar übel. Denn der große Kaiser Karl, der mit männlicher Hand gegen die Heiden an den Marken stand und drinnen im Lande Frieden und Ruhe schirmte, war lange schon zu seinen Vätern versammelt, und der Tod hatte ihm einen ewigen Stuhl gebaut in der Kaisergruft zu Aa-
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3. Jahrgangs (1842) angekündigt, die aber nicht erschienen ist. Der für das Verständnis der Erzählung wichtige Schluss (Kinkel, Erzählungen [Ein Traum im Spessart], 1883, S. 348–359) fehlt daher in der Maikäfer-Zeitschrift. Vgl. Gottfried Kinkel: Ein Traum im Spessart, in: Rheinisches Taschenbuch auf das Jahr 1845. Hg. von C[arl] Dräxler-Manfred. Frankfurt a. M. 1845, S. 109–164. Vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 434; Rösch-Sondermann meint hier Kinkels Schriften Weltschmerz und Rococo (1841/50) und Die moderne Dichtung (1843), auf die weiter unten noch eingegangen wird. Bunzel [u.a.], Romantik und Vormärz, 2003, S. 22; wie schon weiter oben erwähnt, weisen die Verfasser aber auch auf die »Kontinuität und kulturelle Tiefen- und Breitenwirkung der Romantik« hin, was besonders am Beispiel des von Karl Gutzkow 1835 herausgegebenen Kerntextes romantischen Selbstverständnisses, Schleiermachers Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels ›Lucinde‹ (1800) ablesbar wird.
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chen.[…] Da haderten die Enkel und Enkelsöhne des gewaltigen Kaisers und zertrennten das mächtige Reich, das zwischen den Meeren lag.103
Nach dem Tode Karls des Großen im Jahre 814 regierte zunächst sein Sohn, Ludwig I. (der Fromme) das gesamte Frankenreich, bevor es dann nach dessen Tod (840) unter seinen drei Söhnen in ein West- und Ostfrankenreich und Lothringen aufgeteilt wurde. Aufgrund des späteren Auftretens Konrads I. und der Angabe, dass diese Ereignisse »nun bald an die tausend Jahr« vergangen seien, lässt sich der Erzähler dieser Rahmenerzählung als Zeitgenosse Kinkels zuordnen. Die politische Intention der Erzählung, wie später noch zu sehen sein wird, weist freilich deutliche Nähe zu den Positionen des empirischen Autors, Kinkel, auf. Die kurze Beschreibung des Waldes, »den die alten Lieder den Spechteshart heißen«,104 zeichnet sich vor allem durch ein auch in den Ahrbüchern zu findendes präzises Verfahren aus, landschaftlich-geographische Räume zu vermessen. Daneben werden noch der ehemalige Naturzustand des Waldes, wo noch das »leise Rauschen des Geistes der Natur durch’s grüne Laub« wehte, und die durch Abholzung seiner »Wildnis« und damit auch seiner »Geister« beraubte »jetzige« Erscheinung gegenüber gestellt.105 Die nachfolgende Binnenerzählung ist zwar durch einen deutlichen Absatz markiert, insgesamt aber nur durch wenige andere Hinweise als solche zu erkennen. Hier berichtet ein Erzähler über die Ereignisse auf der gräflichen Burg und deren Folgen wie Unterdrückung der Bevölkerung und Gewaltherrschaft, die er offensichtlich als Zeitgenosse miterlebt hat, wobei allerdings undeutlich bleibt, in welchem zeitlichen Abstand er genau zu den erzählten Vorgängen steht. In jedem Fall aber ist er vom Erzähler der Rahmenerzählung, der erst wieder auf den letzten beiden Seiten auftaucht, zu unterscheiden, was der einleitende Absatz der Binnenerzählung verdeutlichen mag: Damals stand, wo der Wald von Esselbach aus sich in einem engen Bachtahl zum Main hinabzieht und auf Kreuzwertheim, eine starke Ritterburg, einst ein Schirm der Gegend, wenn etwa Normannen von Mainz und Frankfurt aus in ihren flachen Böten den Fluß hinauffuhren und nach dem Gut der Klöster trachteten, oft auch ein gastliches Haus für den einsamen Wanderer auf der stillen Straße am Fluß hin, jetzt aber, in der Zeit der wilden Gährung, ein Raubschloß und eine Zwingburg für alles Land ringsumher.106
Es wäre zwar schlüssig, wenn der Erzähler der Rahmenerzählung von den 1840er Jahren als einer »Zeit der wilden Gährung« sprechen würde, doch scheint die Rede vom »Raubschloß« und der »Zwingburg« doch eher einem Erzähler eben jener Zeit zu entsprechen, als nach der Ermordung des Grafen die Burg in Räuberhand war – was auch durch die beiden Zeitangaben »damals« und »jetzt« unterstützt wird.
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Kinkel, Erzählungen (Ein Traum im Spessart), 1883, S. 297. Ebd., S. 298. Ebd., S. 298–299. Ebd., S. 299.
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Erst am Ende der Erzählung gewinnt der Leser Klarheit über das Verhältnis der beiden Erzählerinstanzen, mit dem überdies der bewusst in der Schwebe gehaltene ›Fiktionalitätsstatus‹ des Textes thematisiert wird: Auch ich zog durch den Spessart. Am einsamen Waldplätzchen, müde und verirrt, bin ich entschlummert unter einer Eiche, die aus dem uralten Rumpfe einer gebrochenen hervorgeschossen war. Keine Elfin hat sich mir enthüllt, denn die Geister halten ihr Wort, und auch mein Herz war an ein fernes süßes Lieb gefesselt, ehe ich den Zaubergrund des Forstes betrat. Aber in meinem Schlaf rauschte mir das Eichlaub die freudige Mär von der Minne, die gegen des Geschicks Beschluß einen sterblichen Mann mit einem unvergänglich lebendigen Geiste gepaart und in Beiden die Schrecken des Todes überwunden hatte durch selbstvergessenen Genuß. Getreu, wie Eiche durch ihr Laubflüstern sie der Sängerbrust zugeweht, hab’ ich die Mär des Waldes euch wiedergebracht. Wem die Geister noch leben, der glaubt es, dass sie dem Geweiheten durch Offenbarung kund ward; wem aber nie das schauende Auge geöffnet war für eine andere als die Welt der Menschen, der mag sagen: »Es war eines Dichters Traum im Spessart!«107
Anders als bisher in der Forschung formuliert, handelt es sich bei dieser Erzählung nicht um eine im ›klassischen‹ Sinne »romantische Traumnovelle«, wie wir sie von Novalis bis Eichendorff kennen. Zwar werden hier gängige Paradigmen und Vorstellungen des Traumdiskurses seit dem Ende des 18. Jahrhunderts literarisiert und in eine an romantische Traumtexte noch gemahnende Form gebracht. Auch wird durch das Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung mit ihren beiden Erzählerinstanzen jene »Korrelation von Traum, Einbildungskraft und Dichtung«108 thematisiert, die von den Verfassern maßgeblicher traumtheoretischer Schriften wie Gotthilf Heinrich Schubert109 und Carl Gustav Carus110 als Aufwertung des Unbewussten entschieden vertreten wurde und in deren Publikationen im Zusammenhang mit der »Vorstellungsproduktion« immer wieder das Bild vom »wachenden Poeten« auftaucht.111 Doch wird das Traummotiv im Gegensatz zu romantischen
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Ebd., S. 358–359. Walter Hinderer: Traumdiskurse und Traumtexte im Umfeld der Romantik, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Hg. von Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann. Würzburg 2004 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. XXVI), S. 213–241, hier S. 213. Schuberts Schrift erlebte bis 1862 vier Auflagen, was zeigt, wie stark das Interesse an dem Thema war, die erste Auflage erschien 1814, vgl. Gotthilf Heinrich Schubert: Die Symbolik des Traumes. Bamberg 1814. Der vor allem als Freund des romantischen Malers Caspar David Friedrich und Leibarzt des sächsischen Königs bekannte Carus verband in seinen Schriften seine medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen mit literarhistorischen Überlegungen, die ihm – er war promovierter Philologe – aber auch vertraut waren, vgl. in diesem Zusammenhang: Carl Gustav Carus: Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim 1846; zu Carus vgl. Hinderer, Traumdiskurse, 2004, bes. S. 222–227. Vgl. hierzu auch Hinderer, Traumdiskurse, 2004, S. 223–225; ferner: Monica Tempian: »Ein Traum, gar seltsam schauerlich…«. Romantikerbschaft und Experimentalpsychologie in der Traumdichtung Heinrich Heines. Göttingen 2005, bes. S. 30–38.; für den weiteren Zusammenhang von Traumtheorie mit zeitgenössischen Schlaftheorien und der Theorie
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Texten in Kinkels Erzählung nicht (nur) zu einem der Wirklichkeit gegenüberstehenden, hermetisch abgeschlossenen Weltentwurf ausgebaut, sondern fungiert gerade als Instrument, um jenen Fiktionalitätscharakter der Elfengeschichte in der Binnenerzählung zu markieren oder zumindest den Status des Textes in Frage zu stellen. Nicht zufällig finden sich in der Binnenerzählung zahlreiche Hinweise auf den Traum und das Träumen, wie etwa nach der ersten Begegnung Konrads mit der Elfe – die »herrlicher als alle seine Träume« als eine »lebendig gewordene Wahrheit«112 vor ihm steht –, als er zunächst an einem Wiedersehen zweifelt, dann aber vom Erzähler versichert wird, »dass kein Traum ihn geäfft« habe.113 Alle diese Hinweise sollen die Glaubwürdigkeit des Berichteten unterstreichen, tragen mit dem Kommentar des Rahmenerzählers vom Ende her gelesen aber gerade auch zu jener ironischen Brechung des Geschilderten bei, die den Text deutlich von romantischen Traumnovellen unterscheidet. Ähnlich wie in Heinrich Heines Traumtexten bleibt das Traummotiv zwar als wichtiges Element der »Romantikerbschaft« virulent, doch leistet Kinkels Erzählung in erster Linie die Verbindung einer Phantasmagorie mit der historischen Darstellung von Ereignissen und Zuständen aus der Zeit um die Wahl des Frankenherzogs Konrad I.114 Denn trotz aller ›pantheistischer‹ Anklänge in den Passagen, in denen die beseelte Natur als Geisterwelt beschworen wird, bleibt die Darstellung der Welt außerhalb des Waldes jener historischen Wahrheit verpflichtet, deren Fehlen Kinkel gerade in den Texten der Romantiker kritisierte. Unter Blickwinkel der Relevanz des Historischen für Kinkels Erzählung lohnt sich ein Blick auf seine 1841 und 1843 entstandenen, schon oben erwähnten poetologischen Schriften, Weltschmerz und Rococo und Die moderne Dichtung.115 Neben anderen Aspekten verurteilt Kinkel hier vor allem auch den fehlenden Bezug romantischer Erzählungen und Romane zur faktischen Geschichte und Gegenwart, was für die Frage, welche Rolle Geschichte in fiktionalen Texten übernehmen
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des tierischen Magnetismus vgl. Manfred Engel: Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur – am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 65–91, bes. S. 72–74. Kinkel, Erzählungen (Ein Traum im Spessart), 1883, S. 313. Ebd., S. 320. Zu Heines Traumtexten und seinem Verständnis des Traummotivs als Instrument der »Aneignung und Verarbeitung von Wirklichkeit« vgl. Tempian, Ein Traum, 2005, S. 30– 38. Beide Schriften sind vor ihrem Abdruck in Zeitschriften schon im Maikäfer-Heft erschienen. Weltschmerz und Rococo entstand 1841 und wurde zum ersten Mal im zweiten Jahrgang des Maikäfer (1841) abgedruckt; die Fassung weist kaum Unterschiede zur Zeitschriftenpublikation auf, dazu der Abdruck in der Edition von Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 395–397, 404–407, 413–416, 434–437, 454–456, 473–476, 489–491, 524–526, 533–538; Die moderne Dichtung dagegen erschien im 2. und 3. Jahrgang (1842/1843) des Maikäfer-Heftes in wesentlich kürzerer Form, hierzu der Abdruck Brandt [u.a.]: »Der Maikäfer«, Bd. 2, 1983, S. 324–327; 525–528; 535–537.
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kann, mithin auch für die Interpretation von Ein Traum im Spessart zu interessanten Ergebnissen führt: Und nun ist endlich in der Literatur der Punkt zu suchen, wo dieß neueste in zahllosen lyrischen Gedichten ausströmende Weh zusammenhängt mit frühen Entfaltungen. Hier aber nennen wir kühn den Romanticismus, der in wilder Ehe mit unserer realistischen Zeit diesen Bastard der Literatur erzeugt hat. Es ist dieß traurige Haften an einer nur dem Schein nach glänzenden Vergangenheit, das in dem katholisirenden Bearbeiten der Volksbücher, in der ritterlichen Burschenschaft, in den bairischen neuen Klöstern und nun in der böswilligen Verkennung der Gegenwart spuckt. […] Ja das eigentliche Mittelalter hat sie [die Romantik, Anm. d. V.] nicht einmal darstellen, geschweige ins Leben hineinbilden können, denn gewußt hat sie von dieser Jünglingszeit des germanischen Geistes wenig und Vieles hineingeträumt, Vieles ganz fallen lassen, vor allem die Thatkraft. Was wahrhaft historisch groß gewesen ist, Kreuzzüge, Innozenze und Friedriche, dieß hat sie liegen lassen, und statt dessen magere Heilige, Blechritter und naturphilosophirende Frauen geschaffen.116
Noch deutlicher in seiner Forderung eines historisch verbürgten Hintergrundes wird Kinkel in Die moderne Dichtung: Die Romantiker haben zuvörderst ihre eigene Zeit nicht wahrhaft dargestellt. Ihr sehnsüchtiges Hinausstreben aus dem vorhandenen Weltzustand in einen buntgeschmückten Himmel der Religion, ihre verschwimmende, meist klagende Gefühlsweichheit, ihre Überschätzung des mystischen Empfindens gegenüber dem klaren berechnenden Verstande sowohl als dem thatkräftigen Willen – das alles konnte auf die Dauer einer Zeit nicht genügen, welche noch die gewaltigen Impulse der amerikanisch-französischen Weltkämpfe und der deutschen Freiheitskriege wirken fühlte. Ebensowenig aber waren die Romantiker auf dem geschichtlichen Felde wirklich. Man betrachte einmal das größte und genialste Werk dieser Schule, den »Kaiser Octavianus« von Tieck. Das Ganze ist eine blumenreiche, lyrisch gedachte, mystisch empfundene Verherrlichung des christlichen Glaubens. Es stellt eine Begebenheit dar, die nie geschehen ist, die uns nicht einmal von einem Chronisten, sondern nur von einem spät geschriebenen, durchaus unhistorischen Volksbuch verbürgt wird; es malt geschichtliche Verhältnisse in denen, auch für die ordinäre Bildungsstufe völlig unwahrscheinlich, ein römischer Kaiser und ein Frankenkönig Dagobert zusammentreffen, es hat keine bestimmte Zeit, kein Jahrhundert, keinen historischen Hintergrund.117
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Hier nach dem Abdruck Gottfried Kinkel: Weltschmerz und Rococo. Ein Zeitbild, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben 1 (1850), S. 182– 202, hier S. 189–190; vgl. hierzu auch Bollert, Gottfried Kinkels Kämpfe, 1913, S. 72; Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 99; beide geben allerdings nur das Entstehungsdatum an, ohne auf die Entstehungsgeschichte zu verweisen, hierzu vgl. die präzisen Angaben mit Hinweis auch auf die Stellen in Kinkels ungedrucktem Tagebuch (UB Bonn S 2677/6, S. 30) bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, S. 100–101. Hier nach dem Abdruck Gottfried Kinkel: Die moderne Dichtung, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 98 (Beilage) vom 8. April 1843, S. 741–742, Nr. 99 vom 9. April 1843, S. 749–750, Nr. 347 vom 13. Dezember 1843, S. 2725–2728, Nr. 349 vom 15. Dezember 1843, S. 2741–2743 und Nr. 350 vom 16. Dezember 1843, S. 2749–2750, hier S. 749.
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Im folgenden Kapitel soll nun erläutert werden, welche Bedeutung für das Verständnis der Erzählung dem hier gewählten historischen Hintergrund zukommt, was sich hauptsächlich auch im Blick auf die benachbarte Geschichtsschreibung und im Kontext von Kinkels damaligen national-liberalen politischen Positionen erschließt. 2.2.2 Die Gegenwart der Vergangenheit: Mittelalterbild und Zeitbezug Die zunächst vor allem von Historikerseite vorangetriebene Förderung eines historischen Bewusstseins in Deutschland ist die Voraussetzung für die Dominanz der Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die heute unter dem vieldeutigen und in verschiedenen Zusammenhängen verwendeten Begriff des »Historismus« zusammengefasst wird, der sich selbst wiederum auf die prägnante Formel der Geschichte als »Denkform« bringen lässt und nicht nur bis zur Mitte des Jahrhunderts, sondern im Grunde für das gesamte 19. Jahrhundert bis zur »Frühen Moderne« Gültigkeit besitzt.118 Für die »Gründungsgeschichtswissenschaft« nimmt die Historiographie zum deutschen Mittelalter eine herausragende Position ein, weil sie gerade in ihrer Entstehungszeit die gesellschaftliche Relevanz des Vaterländischen im Kontext der Befreiungskriege im Sinne einer akademisch-institutionellen Etablierung ihres Selbstverständnisses einerseits für sich nutzbar machen, andererseits dieses Bewusstsein für die vaterländische Geschichte auch über diese Zeit hinaus wachhalten konnte, woran heute noch die Bände der bekannten, 1819 von Karl Freiherr vom Stein gegründeten Monumenta Germaniae Historica (MGH) gemahnen.119
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Zum ersten Überblick über Herkunft, Bedeutung und Umfang des Begriffs »Historismus« vgl. etwa den Artikel sub verbo von Michael Schhlott, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. II. Hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 58–62; ferner sehr instruktiv, weil pragmatisch und mit Verbindungen des Historismus zur Literatur: Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthard Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996; gemeinhin wird Wilhelm von Humboldts Schrift Über die Aufgaben des Geschichtsschreibers von 1822 als ›Programmschrift‹ des deutschen Historismus genannt und der ›Beginn‹ des Historismus mit der Geschichtswissenschaft als »führender Bildungsmacht«, die die Philosophie als geistige Leitdisziplin ablöste, meist 1830 angesetzt – wenngleich sich freilich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Beispiele finden, die man nicht nur als ›Wegbereiter‹ für jene Dominanz der Geschichtswissenschaft verstehen sollte, vgl. Baßler [u.a.], Historismus, 1996, S. 36; ferner Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a. M. 1983 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 401), bes. Kap. 2.1 (Historismus): S. 51–53. Die zwar schon etwas ältere und leider auch nur als Manuskript gedruckte Arbeit von Alexander Deisenroth stellt als Überblick aber immer noch eine der anschaulichsten und besten Studien zum Thema dar, die sehr quellennah und dennoch mit weitem Horizont argumentiert, vgl. Alexander Deisenroth: Deutsches Mittelalter und deutsche Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Irrationalität und politisches Interesse in der deutschen Mediävistik zwischen aufgeklärtem Absolutismus und erstem Weltkrieg [Als Manuskript gedruckt]. Rheinfelden 1983, bes. S. 42–45; zur Diskussion um Anfänge und Ausfor-
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Bekanntermaßen sind Mittelalterbegeisterung und -interesse schon in der Romantik zu finden, die hier freilich hauptsächlich in der Sammlung und Edition mittelalterlicher Texte und Sagen und einer regen Mittelalter-Philologie ihren Ausdruck fand, wobei auch der nationale Charakter – etwa von Wilhelm Grimm – dieser ›Kulturwissenschaft‹ betont wurde.120 Als Forschungsansporn indessen sowohl liberal-nationaler als auch konservativ-reaktionärer Historiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich nicht nur ein rein historiographisches Interesse am Mittelalter, sondern auch ein bewusst hergestellter Zusammenhang zwischen Geschichte und Gegenwart beobachten, der freilich für die jeweilige politische Orientierung als »Argumentationsreservoir« nutzbar gemacht wurde.121 Schon in den seit 1808 publizierten Bänden Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte122 des zusammen mit Carl von Savigny als Begründer der historischen Rechtswissenschaft geltenden Karl Friedrich Eichhorn wird die These propagiert, dass »die richtige Verfassung eines Volkes nur aus dessen eigener Geschichte abzuleiten sei«.123 Diese Vorstellung gilt insgesamt auch für das national-liberale Lager, wobei die »segenvolle Ausbildung der vaterländischen Verhältnisse« hier freilich eine gegen die Restauration gewandte Stoßrichtung besaß, was am deutlichsten an der von Friedrich Christoph Schlosser anläßlich der Gründung der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde (1819) verfassten Denkschrift ablesbar ist.124 Programma-
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mungen des Historismus in der Geschichtswissenschaft sei auf folgenden neueren Aufsatz verwiesen, der die Problematik – fernab der Literaturgeschichte – zusammenfasst: Gunnar Hindrichs: Das Problem des Historismus, in: Philosophisches Jahrbuch 109 (2002), S. 283–305. Die bedeutendsten, auch heute noch bekannten Protagonisten jener frühen ›Mediävistik‹ sind Karl Lachmann und Joseph von Laßberg, die mit ihren Editionen mittelalterlicher Texte wie dem Nibelungenlied oder den Versepen Hartmann von Aues samt Anmerkungen und Textkritik den Grundstein auch für moderne Ausgaben legten, vgl. hierzu den schon älteren, aber immer noch lesenwerten Beitrag von Rudolf Stadelmann: Grundformen der Mittelalterauffassung von Herder bis Ranke, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1931), S. 45–88; ferner Gerhard Kozielek: Ideologische Aspekte der Mittelalter-Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion. Hg. von Peter Wapnewski. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien Berichtsbände, VI), S. 119–132. Deisenroth, Deutsches Mittelalter, 1983, S. 63. In den Bänden sind Eichhorns Vorlesungen zusammengestellt, die in vier Abteilungen gegliedert sind und in den Jahren 1808, 1812, 1819 und 1823 publiziert wurden. Bereits 1844 erschien die fünfte Auflage, vgl. Carl Friedrich Eichhorn: Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 4 Bde. 5., verbesserte Auflage. Göttingen 1844. Deisenroth, Deutsches Mittelalter, 1983, S. 47; ähnliche Überlegungen finden sich schon 1791 (Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlasst) bei Wilhelm von Humboldt: »Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ists, als binde man Blüthen mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie« Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. Erster Band: 1785–1895. Hg. von Albert Leitzmann. Berlin 1903, S. 80. Vgl. Friedrich Christoph Schlosser: Denkschrift an die hohe deutsche Bundesversammlung mit der Ankündigung und den Statuten der Gesellschaft, übergeben in der Sitzung
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tisch nimmt sich auch die Beurteilung der deutschen Historie des in Jena lehrenden Professors für Geschichte und Teilnehmers am Wartburgfest, Heinrich Luden, aus: »Die Gegenwart eilt schnell vorüber; die Zukunft ist uns unbekannt; nur die Vergangenheit steht fest in der Geschichte und antwortet auf unsere Fragen.«125 Großangelegte Werke, wie Ludens Geschichte des teutschen Volkes, sind nicht nur Indikatoren für eine Überwindung der »Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte des deutschen Volkes«,126 sondern sollten auch in den politischen Debatten und Fragen der Zeit Beachtung finden, national-liberale Überzeugungen und schließlich eine Rückbindung von aktuellen Handlungen und Vorstellungen an die Historie fördern.127 Die gesellschaftliche Relevanz und Akzeptanz – konservativ-reaktionäre Kreise freilich ausgenommen – dieser vaterländischen Bewegung, von der die weiter oben angesprochenen regional-historischen Vereinsgründungen einen Teilbereich darstellten, belegt schon die schiere Anzahl der Gründungen von Gesellschaften für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde, von denen bereits 1844 vierundvierzig gezählt werden konnten.128 Bezeichnenderweise fällt auch die Blütezeit des historischen Romans etwa in diesen Zeitraum von 1820 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Anders als in der älteren Forschung dargestellt und teilweise noch bis heute weiter behauptet, fand die Erfolgsgeschichte dieser Gattung nicht in den 1830er Jahren ein Ende, was Kurt Habitzel und Günter Mühlberger mit einer eindruckvollen Studie nachweisen konnten, in der sie für den Zeitraum von 1815 bis 1848/49 fast tausend historische Romane ausfindig machten und deren Stellung im Literatursystem im Horizont seiner »Teilnehmer«, die wiederum in Autor, Leser, Bücher, Zeitschriften, Verlage und Leihbibliotheken ausdifferenziert wurden, untersuchten.129
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vom 12. August 1819, in: Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde zur Beförderung einer Gesammtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichten des Mittelalters 1 (1820), S. 73–79; vgl. hierzu auch Deisenroth, Deutsches Mittelalter, 1983, S. 56–61, bes. S. 60; zum Komplex »politische Historie« und Schlosser im Speziellen vgl. auch den neueren Aufsatz von Dagmar Stegmüller: Friedrich Christoph Schlosser und die Berliner Schule, in: Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Hg. von Ulrich Muhlack. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 5), S. 49–60. Heinrich Luden: Ueber das Studium der vaterländischen Geschichte. Vier Vorlesungen aus den Jahren 1808 [Neuer Abdruck]. Gotha 1828, S. 5. Heinrich Luden: Geschichte des teutschen Volkes, 6 Bde. Gotha 1825–1831, hier Bd. 1, S. V. Zum geschichtstheoretischen Hintergrund vgl. Jörn Rüsen: Historismus und Ästhetik – Geschichtstheoretisches Voraussetzungen der Kunstgeschichte, in: Ders.: Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft. Stuttgart 1976, S. 88–95, bes. S. 89. Vgl. Deisenroth, Deutsches Mittelalter, 1983, S. 115. Vgl. Kurt Habitzel und Günter Mühlberger: Gewinner und Verlierer. Der historische Roman und sein Beitrag zum Literatursystem der Restaurationszeit (1815–1848/49), in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21, H. 1 (1996), S. 91–123; die Studie zeichnet sich vor allem auch durch etliche Schaubilder und Statis-
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Nach den gängigen Definitionen des historischen Romans als »selbständig veröffentlichte[s], fiktionale[s] Prosawerk mit einer Mindestlänge von 150 Seiten […], der nicht nur auf nachprüfbare historische Ereignisse und Personen zurückgreift, sondern dessen Handlungszeitraum vor der Geburt des Autors anzusetzen ist«,130 können Erzählungen wie Kinkels Ein Traum im Spessart freilich nicht als historische Romane betrachtet werden, wenngleich historisch gesehen auch ›richtige‹ historische Romane sehr häufig die Bezeichnung »Erzählung« trugen.131 Doch stellen sie neben dem historischen Roman einen gewichtigen Teil jener literarhistorischen Formation historischen Erzählens vor allem seit dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts dar, für deren Verständnis und Ausprägung die oben im Horizont des Historismus skizzierten Entwicklungen in der ›Nachbardisziplin‹ Geschichtsschreibung von entscheidender Bedeutung sind.132 Insofern soll für unseren Zusammenhang die vielfach in der Forschung diskutierte Frage um Rolle und Position der historischen Romane und Poetologie Walter Scotts für die deutsche Literatur auch nur am Rande erwähnt werden. Dennoch kann die Rolle des schottischen Romanciers als wesentlicher Impulsgeber für die Gattung des historischen Romans, aber auch insgesamt für historisches Erzählen bis zur Mitte des Jahrhunderts, gar nicht überschätzt werden, wenn auch vielfach darauf hingewiesen wurde, dass für die Zeit von 1785 bis 1806 schon eine große Zahl von Texten vorliegt, die man dem historischen Roman zuordnen kann.133
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tiken aus, die ein ausgesprochen plastisches Bild der Erscheinungsform, Rezeption und Erfolgsgeschichte verschiedener Autoren gerade im Blick auf die Kataloge von Leihbibliotheken vermitteln. Dadurch wird auch die Einschätzung vom »Niedergang« der Gattung ab den 1830er Jahren unhaltbar, vgl. zu dieser These noch Hartmut Eggert: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850–1875. Frankfurt a. M. 1971 (Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 14), bes. S. 7. Habitzel und Mühlberger, Gewinner und Verlierer, 1996, S. 93; ähnlich auch der Definitionsversuch von Hermann J. Sottong: Transformation und Reaktion. Historisches Erzählen von der Goethezeit zum Realismus. München 1992 (Münchner Germanistische Beiträge, Bd. 39), S. 12–15 mit einer detaillierten Zusammenfassung der Problematik, Sottongs eigener Definitionsversuch bes. S. 14–15. Vgl. Habitzel und Mühlberger, Gewinner und Verlierer, 1996, S.114–117. So auch schon Baßler [u.a.], Historismus, 1996, S. 26: »Der Charakter der narrativen Texte im Historismus ist im Grunde nur aus der Nachbarschaft von Historiographie und Literatur zu verstehen.«; ein nicht nur auf Romane beschränktes, sondern auch andere Gattungen berücksichtigendes bibliographisches Kompendium zur deutschen Geschichte in der Literatur, freilich nicht nur im 19. Jahrhundert bietet Arthur Luther: Deutsche Geschichte in deutscher Erzählung. Ein literarisches Lexikon. Leipzig 1940. Vgl. Habitzel und Mühlberger, Gewinner und Verlierer, 1996, S. 91; nach den für Habitzel und Mühlberger erkenntnisleitenden Kriterien sind schon für den Zeitraum 1785–1806 mindestens 180 Romane auszumachen, denen »mit gutem Recht das Prädikat ›historischer Roman‹« zugesprochen werden kann – vor allem im Blick auf die konkurrierende, ebenfalls recht erfolgreiche Gattung des Ritter- und Räuberromans; einen Überblick zur Forschung, die zumindest die Rolle von Scotts Poetologie kritisch beleuchtet, bietet Norbert Otto Eke: Vergangene Zeiten. Anmerkungen zur Semantik des Umbruchs und den Bedeutungsstrukturen im historischen Erzählen der frühen Restaurationszeit (1815–1830), in: Geschichten aus (der) Geschichte. Zum Stand des historischen Er-
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Letztlich ist aber Scotts maßgebliches Kriterium der historischen Richtigkeit – dem noch das bekannte vom »mittleren Helden« hinzuzufügen wäre – auch für die modernen Definitionsvorschläge verbindlich geworden und kann wohl in der Tat als ein neuralgisches Element auch der zeitgenössischen Diskussion betrachtet werden. Auch in Kinkels oben ausführlich zitierter Schrift Die moderne Dichtung (1843) ist die Unwahrscheinlichkeit, in dem angesprochenen, konkreten Beispiel ja sogar Unmöglichkeit der dargestellten historischen Ereignisse der Hauptpunkt seiner Kritik an den romantischen Erzählungen, die »keine bestimmte Zeit, kein Jahrhundert, keinen historischen Hintergrund« haben.134 Ganz anders verhält es sich in seiner Erzählung, deren oben aufgezeigten ›phantastisch-romantischen‹ Aspekten äußerst präzise fassbare historische Ereignisse nicht gegenüberstehen, sondern auch erzähltechnisch – beides kommt ja in der Binnenerzählung vor – nicht voneinander zu trennen sind. Neben dem Aspekt der Genauigkeit in der Darstellung des historischen Hintergrundes ist auch Kinkels Einschätzung des historischen Romans – und in diesem Falle darf man die Äußerungen getrost auch auf die ›Kleinformen‹ historischen Erzählens übertragen – für die Interpretation seiner Erzählung besonders aufschlussreich. Im zweiten Teil seiner im Gefängnis von Naugard im Winter 1849/1850 geschriebenen, aber erst 1873 publizierten Autobiographie schreibt Kinkel: Erst der Juli 1830 hat den Gesang bei uns wieder erweckt. Nur eine schmackhafte Frucht trug der Baum der europäischen Literatur in der Restaurationsdürre: es war der historische Roman. In ihn als harmlose Schale rettete sich, was noch von politischem und gesellschaftlichem Leben in der geistigen Welt fortbestand.135
Aus dieser Einordnung des historischen Romans sollte gerade im Blick auf Kinkels spätere, kritische Äußerungen über die durch die Juli-Revolution beförderte, sogenannte »Tendenzliteratur« keine Apologie eben jener »Tendenzpoeten« abgeleitet werden. Doch die Bewertung der Gattung mithin als Refugium für politische Diskurse in historischem Gewand lässt sich sowohl mit den oben aufgezeigten Paradigmen vor allem der national-liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als auch mit den neueren Forschungen zum historischen Roman verbinden, in der ebenso wie in der Literatur zur Dorfgeschichte lange Zeit die Charakteristika der Unterhaltungsliteratur bzw. der Idylle stärkere Beachtung fanden als etwa politische und soziale Sinnebenen, die sich in der Tat unter einer oftmals »harmlosen Schale«
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zählens im Deutschland der frühen Restaurationszeit. Hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. München 1994 (Corvey-Studien, Bd. 4), S. 17–51; zur Bedeutung Scotts und den wichtigsten Vermittler seiner Werke, Willibald Alexis, vgl. in demselben Sammelband den Aufsatz von Hartmut Steinecke: »Die Geschichte ist die größte Dichtung. Willibald Alexis’ Scott-Rezeption der 1820er Jahre, in: s.o., S. 59–74. Kinkel, Die moderne Dichtung, 1843, S. 749. Kinkel, Meine Schuljahre, 1873, S. 179.
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verbergen.136 Paradigmatisches Beispiel für diese Situation ist die Forschungslage zum Werk von Wilhelm Hauff, der lange Zeit ›nur‹ als »Schwäbischer Romantiker« gesehen wurde, wie ja auch Kinkel – vor allem was seine Werke bis in die Mitte der 1840er Jahre anbelangt – zwar mit guten Gründen der sogenannten »Bonner Spätromantik« zugerechnet wurde, seine Gedichte und Erzählungen aber damit auch in ein leicht missverständliches Licht gerückt werden.137 Wilhelm Hauffs wohl auch heute noch bekannten historischen Roman Lichtenstein (1826) bezeichnet Kinkel in Meine Schuljahre als prägende Lektüreerfahrung und es mag dahingestellt sein, ob der Titel von Kinkels Erzählung als intertextuelle Referenz an Hauffs Novellenzyklus Das Wirtshaus im Spessart zu verstehen ist.138 Mit Sicherheit aber ist der für die Erzählung gewählte historische Hintergrund nur im Blick auf Kinkels politische, national-liberale Positionen jener Zeit zu verstehen, die hier unter einem komplexen Erzählgefüge und der »harmlosen Schale« der historisch-romantischen (Traum-) Erzählung zum Vorschein kommen. Als der Held der Erzählung, Konrad, von seinem einsiedlerischen Erzieher Abschied genommen hat und nach der Begegnung mit der Elfe den »Zauberwald« verlässt, schaut er von einer Anhöhe ins Tal und erblickt den Zug König Konrads I.: Und dass ich’s euch sage: der hohe Herr war Konrad, nach Gottes Rathschluß König aller Deutschen. Denn als das Geschlecht des großen Karl zart und schwächlich geworden
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Zur Dorfgeschichte mit Forschungsbericht vgl. in diesem Teil der Arbeit Kapitel II, 2.3.4; es kann freilich nicht verallgemeinernd behauptet werden, dass jeder historische Roman eine über seinen Unterhaltungswert genuin politische Aussageabsicht aufweist. Auch bei den Protagonisten des Jungen Deutschlands wie Ludolf Wienbarg, dessen Schriften seit Dezember 1835 verboten waren, wird der historische Roman nicht selten als »geistlose, verdummende Fluchtlektüre« gebrandmarkt, wenngleich er auch wegen des »Gegenwartbezugs« Bewunderung etwa für Gutzkows Müntzer-Roman äußert, vgl. hierzu Peter Hartmann: Geschichtsschreibung für die Gegenwart: Theodor Mundt und Ludolf Wienbarg, in: 1848 und der deutsche Vormärz. Hg. von Peter Stein, Florian Vaßen und Detlev Kopp. Bielefeld 1998 (Forum Vormärz Forschung; Jahrbuch 3, 1997), S. 43–54, bes. S. 53–54. Der Blick auf Hauff bietet sich nicht nur deshalb an, weil seine Werke bei Kinkel große Beachtung fanden, sondern weil gerade die jüngste Forschung es unternommen hat, sowohl die romantischen Traditionslinien als auch die Brüche mit jenem Erbe in seinem Werk auszuloten, zu Hauff vgl. jetzt folgenden Sammelband, in dem auch die wichtigste ältere Literatur zu Hauff aufgeführt ist: Wilhelm Hauff oder die Virtuosität der Einbildungskraft. In Verbindung mit der Deutschen Schillergesellschaft hg. von Ernst Osterkamp, Andrea Polaschegg und Erhard Schütz. Göttingen 2005, darin besonders den Aufsatz von Gerhard Plumpe: Anmerkungen zum literarhistorischen Ort Wilhelm Hauffs, in: s.o., S. 38–51; für den hier für Kinkels Erzählung ausführlich behandelten Aspekt des Erzählverfahrens auch ergiebig und einige Parallelen aufweisend Stefan Neuhaus: Das Spiel mit dem Leser. Wilhelm Hauff: Werk und Wirkung. Göttingen 2002, bes. S. 157–181; ebenfalls hauptsächlich zur Erzähltechnik und Hauffs Verfahren der »Staffelung von erzählerischen Ebenen«: Andreas Böhn: Ökonomisches Wissen in Wilhelm Hauffs zyklischer Rahmenerzählung »Das Wirtshaus im Spessart«, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 16 (2006), S. 504–512. Kinkel, Meine Schuljahre, 1873, S. 179.
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war, da mochten die trotzigen Fürsten in den deutschen Herzogthümern ihm nicht mehr dienstbar sein, und begannen jeder für sich zu stehen und den König zu verrathen. Darüber kam aber große Gefahr für das Reich und den Glauben. Denn einer der Könige, um sich Rache an einem abtrünnigen Markgrafen zu schaffen, rief die wilden Heiden, die man Hunnen oder Ungarn heißt, in’s Land und that ihnen die Pforten im hohen Gebirg auf, die sie vorher nie erstürmen konnten. Das stürzten die entsetzlichen Räuber auf blitzgeschwinden Rossen alljährlich über das arme Land her, und ehe noch ein Herzog seine Macht gesammelt hatte, waren sie lange wieder mit der Beute in ihre Diebshöhlen zurückgekehrt. Das Volk aber half sich nicht selber wider sie, denn ihre Rache war gräßlich, und ihre Weiber schnitten den eigenen Kindern, wenn sie noch an der Brust lagen, tiefe Wunden in’s Angesicht, damit sie sich frühe an Schmerz und Blut gewöhnen sollten. Da sahen am Ende die Herzöge ein, was sie mit ihrer Trennung vom Reiche angerichtet hatten; und darum kamen sie eines Tages alle zusammen und setzten sich vor, einen neuen König zu wählen und ihm unwandelbar treu zu sein, mehr denn vorher. Aber keinen vom Hause Karls, so sprachen sie alle einmüthig, sondern aus uns selber den stärksten und tüchtigsten Mann. Also wählten sie den Herzog Konrad von Franken, und hatten wohl gewählt. Denn Konrad schaffte alsbald Ordnung im Reich und that Raub und Fehden ab, die vorher alle Einigkeit gestört hatten.139
In die Handlung eingebunden wird die Person Konrads I., indem er gerade in dem Moment gezeigt wird, als er mit seinem Heer den Untaten jenes berüchtigten Räubers Robert, der auch die Burg von Konrads Vater eingenommen und diesen getötet hatte, ein Ende setzen will – allerdings findet Konrad I. die Burg schon im zerstörten Zustand vor, da die Waldgeister und Elemente ja schon Konrads Rache ausgeführt haben. Die hier geschilderten Vorgänge um die Erhebung Konrads zum »König aller Deutschen« im Jahre 911 werden in der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts allerdings differenzierter und kritischer beurteilt, wenngleich auch gerade das dort dominierende Bild eines »gescheiterten Königs«, der als Herrscher in der ›dunklen‹ Übergangszeit zwischen fränkischen Karolingern und sächsischen Ottonen im Gegensatz zu Darstellungen des 19. Jahrhunderts vergleichsweise wenig Beachtung fand, in jüngster Zeit zwar nicht revidiert, wohl aber relativiert wurde.140 Konrad I. (auch der Jüngere genannt) regierte von 911 bis zu seinem Tode im Jahr 918 und stammt aus dem Geschlecht der Konradiner – was als Familienbezeichnung nicht mehr als den Namen des Vaters verrät –, die als Grafengeschlecht aus dem höchsten Adel als Berater in unmittelbarer Nähe des Königs zu finden waren. Durch geschickte Politik und langwierige Kämpfe vor allem mit den Babenbergern (897–906) konnten sie ihren Herrschaftsbereich von ihrem Stammsitz im hessischen Lahngebiet um die Region Mainfranken vergrößern, so dass ihr Einfluss bis nach
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Kinkel, Erzählungen (Ein Traum im Spessart), 1883, S. 337–338. Vgl. hierzu folgenden Sammelband: Konrad I. – Auf dem Weg zum »Deutschen Reich«? Hg. von Hans-Werner Goetz. Bochum 2006; im Einzelnen wird auf die wichtigsten Beiträge des Bandes und die älteren Positionen in der Forschung weiter unten noch verwiesen.
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Thüringen im Osten, Lothringen im Westen und dem Niederrhein im Nordwesten reichte.141 In Kinkels Erzählung wird die »Wahl« Konrads als Vernunftakt der Herzöge beschrieben, nachdem diese eingesehen hatten, »was sie mit ihrer Trennung vom Reiche angerichtet hatten«. Auch wird betont, dass die Herzöge nicht einen Karolinger, sondern einen aus ihren Reihen »den stärksten und thüchtigsten«, wählten. Damit ist nicht nur die tatsächliche historische Situation nach dem Tode des letzten ostfränkischen Karolingers, Ludwigs IV. (das Kind), umrissen, sondern sind gleichzeitig auch die wichtigsten Problemhorizonte angesprochen, die auch in der neuesten Forschung zu Konrad I. angesprochen werden und freilich ein breites Bewertungsspektrum im Hinblick auf den Status und die Entwicklung des Reiches aufweisen. Dass Konrad I. nicht durch Erbe, sondern durch eine Wahl und zudem als erster Nichtkarolinger an die Spitze des Ostfrankenreiches trat und eine weitere Zersplitterung des Reiches damit verhindert wurde, wird vor allem von den Reichshistoriographen des 19. Jahrhunderts betont, worin sich einerseits deren nationalstaatliche Positionen widerspiegeln und andererseits genau jene Diskussion um die Anfänge des ersten »Deutschen Reiches« ihren Anstoß findet, die bis heute noch kontrovers geführt wird.142 Paradigmatisch nimmt sich in dieser Hinsicht die Einschätzung der Bedeutung Konrads I. des schon oben erwähnten national-liberalen Heidelberger Historikers Heinrich Luden aus:
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Vgl. den knappen Überblicksartikel sub verbo von Hans-Werner Goetz, in: Lexikon des Mittelalters. 9 Bde., hier Bd. 5, Sp. 1337–1338; etwas älter aber zum Einstieg in die Thematik gut geeignet: Martin Heidmann: König Konrad I. Diss. Masch. Jena 1922; zur Genealogie der Konradinger auch der neueste und fundierte Beitrag von Ingrid Heidrich: Das Adelsgeschlecht der Konradinger vor und während der Regierungszeit Konrads I., in: Konrad I. – Auf dem Weg zum »Deutschen Reich«? Hg. von Hans-Werner Goetz. Bochum 2006, S. 59–75; für ein breiteres Publikum gedacht, aber im Kern anschaulich und historisch korrekt: Gudrun Vögler: König Konrad I. (911–918). Der König, der aus Hessen kam. Fulda 2005 (Vonderau Museum Fulda, Kataloge, Bd. 14), bes. S. 13–16. Zur Entstehung des Deutschen Reiches aus dem Ostfrankenreich im Mittelalter sind gerade in den letzten Jahren zahlreiche Studien erschienen, die im Kern vor allem den prozesshaften Charakter der Formierung jener Herrschaft betonen, die wir gemeinhin mit der Politik Heinrichs I. oder der Ottonen mit einer stark ausgeprägten Zentralgewalt verbinden, vgl. exemplarisch Joachim Ehlers: Die Entstehung des Deutschen Reiches. München 1994 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 31); Bernd Schneidmüller: Reich – Volk – Nation: Die Entstehung des Deutschen Reiches und der deutschen Nation im Mittelalter, in: Mittelalterliche nationes – neuzeitliche Nationen. Probleme der Nationenbildung in Europa. Hg. von Almut Bues und Rex Rexheuser. Wiesbaden 1995 (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien, Bd. 2), S. 73–101; Carlrichard Brühl: Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker. Köln, Wien 1990; letztlich knüpfen diese Forschungen aber auch an ältere Darstellungen an, die ebenfalls die Entstehung des Deutschen Reiches als langsamen Prozess betrachten, von denen hier besonders zwei Studien genannt seien: Eduard Hlawitschka: Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten– und Völkergemeinschaft 840–1046. Ein Studienbuch zur Zeit der späten Karolinger, der Ottonen und der frühen Salier in der Geschichte Mitteleuropas. Darmstadt 1986; Ders.: Lotharingien und das Reich an der Schwelle zur deutschen Geschichte. Stuttgart 1968 (Schriften der Monumenta Germaniae historica, Bd. 21).
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Es war zu befürchten, dass das Reich sich in Staaten nach einzelnen Volksstämmen auflösen möchte, wenn es jetzt nicht durch den mächtigsten und edelsten Herzog Heinrich von Sachsen zu einem Reiche vereinigt würde. Das erkannte er, der König Konrad.143
Die von Luden hier im größeren Kontext einer insgesamt positiven Darstellung Konrads I. erwähnte Episode, nach der Konrad I. auf seinem Sterbebett Heinrich I. als König des Ostreiches empfohlen habe, gehört zu den wenigen, auch von der Forschung des 20. Jahrhunderts positiv gewerteten Aspekten seiner Vita.144 Anders als in der Forschung noch vor dem Zweiten Weltkrieg wird Konrad I. neuerdings wieder eine wichtige Funktion in diesem Prozess der Entstehung des Deutschen Reiches zugeschrieben. Wenngleich er auch keine neue Königsdynastie wie später die sächsischen Herrscher begründen konnte, so werden ihm doch zumindest teilweise Erfolge im Zurückdrängen der Ungarn und in der Auseinandersetzung mit den schon unter Ludwig dem Kind verstärkt ihre partikularen Interessen vorantreibenden Stammesherzögen – deren Schicht er ja selbst entstammt – bescheinigt, was das Reich immerhin vor weiteren Zersplitterungen bewahrte, worauf auch in der oben angeführten Stelle in Kinkels Erzählung hingewiesen wird.145 Der für die Erzählung gewählte historische Moment weist vor allem zwei Aspekte auf, die für den Zusammenhang mit Kinkels Gegenwart bedeutend und alles andere als zufällig sind: Die Erhebung Konrads I. kann als Beginn jener Entwicklung gesehen werden, die für die Herausbildung Deutschlands und Frankreichs – zumindest was die grobe territoriale Ausdehnung anbelangt – von Bedeutung gewesen ist, was sowohl von den Historiographen des 19. Jahrhunderts als auch
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Heinrich Luden: Geschichte der Teutschen. 2 Bde., Jena 1842, hier Bd. 2, S. 357; vgl. auch im 13. Buch das gesamte Kapitel 6 (S. 347–356). Vgl. Walter Schlesinger: Die Königserhebung Heinrichs I., der Beginn der deutschen Geschichte und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 221 (1975), S. 529–552; ferner Jörg Jarnut: König Konrad I. und die Entstehung des mittelalterlichen deutschen Reiches, in: Konrad I. – Auf dem Weg zum »Deutschen Reich«? Hg. von Hans-Werner Goetz. Bochum 2006, S. 265–273. Vor allem Gerd Tellenbach erklärt die Politik Konrads I. auf Reichsebene allerdings als völlig gescheitert und konzentriert sich im Zusammenhang der Entstehungsgeschichte des Deutschen Reiches auf die sächsischen Herrscher, vgl. hierzu Gerd Tellenbach: Wann ist das Deutsche Reich entstanden, in: Deutsche Archiv für Erforschung des Mittelalters 6 (1943), S. 1–41; auch in seiner größer angelegten Untersuchung vertritt Tellenbach schon diese These, Gerd Tellenbach: Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches. Weimar 1939 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. VII, Heft 4), bes. S. 79–100; als Überblick zu den Bewertungen Konrads I. in der modernen Geschichtswissenschaft, mit weiterer Literatur: Rudolf Schieffer: König Konrad I. in der modernen Geschichtswissenschaft, in: Konrad I. – Auf dem Weg zum »Deutschen Reich«? Hg. von Hans-Werner Goetz. Bochum 2006, S. 3–41; zu den neueren Bewertungen, die Tellenbachs Position relativieren, vgl. HansWerner Goetz: Einführung: Konrad I., in: Konrad I. – Auf dem Weg zum »Deutschen Reich«? Hg. von Hans-Werner Goetz. Bochum 2006, S. 13–29, hier S. 18; in demselben Sammelband auch ferner folgende Beiträge: Hans-Henning Kortüm: Konrad I. – Ein gescheiterter König?, in: s.o., S. 43–56, bes. S. 54; Jarnut, König Konrad I., 2006, S. 265–273.
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noch in der neueren Forschung vertreten wird. Wichtiger allerdings ist, dass Kinkel gerade jene Episode der ostfränkischen – also ›deutschen‹ – Geschichte auswählt, in der sich das Reich am Scheideweg zwischen Einheit und Zersplitterung befindet. Eine Situation also, die sich freilich nicht mit den politisch-territorialen Zuständen des Reiches im 19. Jahrhundert nach dem Wiener Kongreß vergleichen lässt, da die Vielstaaterei ja nichts Neues war. Doch dient das historische Beispiel ganz offensichtlich als Kritikinstrument an den gegenwärtigen Zuständen, was sich vor allem in den Kommentaren des Binnenerzählers zu den Ereignissen im 10. Jahrhundert, vor allem zum Verhalten der Stammesherzöge deutlich ablesen lässt: Da sahen am Ende die Herzöge ein, was sie mit ihrer Trennung vom Reiche angerichtet hatten; und darum kamen sie eines Tages alle zusammen und setzten sich vor, einen neuen König zu wählen und ihm unwandelbar treu zu sein, mehr denn vorher.146
Es mag auch an der Konzentration der Literatur- und Geschichtswissenschaft vor allem auf die Person Kaiser Heinrichs I. als nationalem Idol – nicht zuletzt auch wegen der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten – liegen, dass nationale ›Gründerfiguren‹ wie Konrad I., der zumindest im 19. Jahrhundert eine ebenso prominente Stellung einnahm wie die sächsischen Könige und Kaiser, weniger Beachtung fanden.147 Was die neuere Forschung zur Entstehung des Deutschen Reiches im Blick auf die sogenannten »Reichshistoriographen« des 19. Jahrhunderts wie Heinrich Luden oder Wilhelm von Giesebrecht herausstellt, ist für das Verständnis von Kinkels Erzählung entscheidend: »Die Rede vom deutschen Reich des Mittelalters ist ein Mythos. Dessen heute noch wirkende Form bildete sich endgültig im 19. Jahrhundert aus und erhielt mit der nationalen Bewegung, die in der Gründung des ›Zweiten Kaiserreiches‹ 1871 gipfelte, politische Dynamik: Erwartungen des modernen Nationalstaates wurden auf das mittelalterliche Reich übertragen, aus dem Vergleich mit der als Weltmachtanspruch mißverstandenen Autorität des älteren Imperiums legitimierte das Kaiserreich seine eigene Forderung nach zumindest europäischem Rang.«148 Zwar bezeichnen Ehlers und Jarnut149 – letzterer stärker auf Konrad I. bezogen – die von der national-liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts betriebene ›Reichsmythologie‹ nicht als bloßes Konstrukt, doch weisen sie völlig zurecht auf die deutlichen, den Gegenwartsbezug betonenden Schreibhaltungen
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Kinkel, Erzählungen (Ein Traum im Spessart), 1883, S. 337. Zu Heinrich I. vgl. Frank Helzel: Die nationalideologische Rezeption König Heinrichs I. im 19. und 20. Jahrhundert. Diss. Masch. Marburg a.d. Lahn 1999, bes. Kapitel 4, S. 38–54; ferner, mit einem etwas reißerischen Titel und insgesamt eher für ein breiteres Publikum geschrieben Frank Helzel: Ein König, ein Reichsführer und der wilde Osten. Heinrich I. (919–936) in der nationalen Selbstwahrnehmung der Deutschen. Bielefeld 2004. Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches, 1994, S. 3. Vgl. Jarnut, König Konrad I., 2006, bes. S. 266.
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einzelner Historiker hin, was letztlich auf allgemeiner Ebene die Grundlage in der zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker ausgetragenen Kontroverse, die unter dem Namen »Sybel-Ficker-Streit« bekannt ist, bildet.150 Mehr als alle anderen Epochen der Geschichte wurde von Historikerseite vielfach die Kaiserzeit des Mittelalters als historisches Vorbild für die eigenen nationalstaatlichen Überzeugungen gesehen.151 In der Vorrede von Wilhelm von Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit (1855), nimmt dieses Modell einer aus der mittelalterlichen Geschichte abgeleiteten Bildung einer deutschen Nation besonders breiten Raum ein und fasst, obgleich in der ersten Auflage erst nach der Jahrhundertmitte erschienen, die Hauptmerkmale nationalstaatlich-liberaler Bewertungsmuster der mittelalterlichen Kaiserzeit in nuce zusammen: So groß und allgemein anerkannt die Wichtigkeit dieser Zeit für die weltgeschichtliche Entwicklung ist, hat sie doch für unser Volk noch eine ganz besondere, klar hervorstehende Bedeutung. Denn nicht allein, dass jene Kaiser aus dem deutschen Volke hervorgingen und Deutschland der Hauptsitz ihrer Macht war, es verschmolzen auch erst innerhalb dieser Zeit die deutschen Stämme […]. Überdies ist die Kaiserzeit die Periode, in der unser Volk, durch Einheit stark, zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh, wo es nicht allein frei über sein Schicksal verfügte, sondern auch anderen Völkern gebot, wo der deutsche Mann am meisten in der Welt galt und der deutsche Name den vollsten Klang hatte. Zu vielfach hat unser Volk die traurigen Folgen seiner inneren Zersplitterung erfahren […], als dass es nicht mit der heißesten Sehnsucht nach jener Zeit eines einigen, großen, mächtigen Deutschlands zurückverlangen sollte. Diese Sehnsucht durchzieht unser ganzes Volk; sie durchdringt das gesamte deutsche Leben in unseren Tagen. […] Es sind die uneigennützigsten Bestrebungen, denen wir solche Aufschlüsse verdanken; sie suchen zunächst keine andere Befriedigung, als die unmittelbar in der Wissenschaft selbst gegeben ist, aber sie weisen doch zugleich über dieselbe hinaus. In der Liebe zum Vaterlande wurzelnd, auf das Leben des eigenen Volkes gerichtet, stehen diese Studien ja mitten inne in [sic!] den Strömungen der nationalen Entwicklung Ihrer Natur nach populär, haben sie die Theilnahme des Volkes in Anspruch zu nehmen.152
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Auch zu dieser grundsätzlichen Frage von politischer bzw. politisierender Historie und ›Objektivität‹ ist in der Vergangenheit ausgesprochen viel erschienen. Zusammenfassend sei auf folgenden neueren Beitrag verwiesen: Thomas Brechenmacher: Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862), in: Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Hg. von Ulrich Muhlack. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 5), S. 87–111. Einen breiten und quellenfundierten Überblick zum Thema – nicht nur in nationalliberaler Hinsicht – bietet die Darstellung von Friedrich Schneider: Die neueren Anschauungen der deutschen Historiker über die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters und die mit ihr verbundene Ostpolitik. 4., erneut vermehrte Auflage. Weimar 1940; stärker auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentriert ist Heinz Gollwitzer: Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert, in: Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965. Hg. von Rudolf Vierhaus und Manfred Botzenhart. Münster 1966 (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 9), S. 483–512. Unverändert ist die Vorrede auch abgedruckt in der fünften Auflage, nach der hier zitiert
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Erst vor diesem Hintergrund erschließen sich Funktion und Aussagewert der historischen Episode in Kinkels Erzählung. Was für die nationalstaatlich orientierten Historiker gilt, besitzt ebenso Gültigkeit für das in der Binnenerzählung von Ein Traum im Spessart vermittelte Geschichtsbild: Es ist wohl nicht mangelndem Kenntnisstand der Geschichte des frühen 10. Jahrhunderts oder fehlenden Quellen – auch die jüngste Forschung betont, dass ihre Relativierung des negativen KonradBildes nicht auf neuen Quellen beruhe153 – zuzuschreiben, dass Konrad I. in den wichtigen Darstellungen zur mittelalterlichen Kaiserpolitik und auch in Kinkels Erzählung zum ›Gründer‹, zumindest aber Wegbereiter des Deutschen Reiches erhoben wird.154 In beiden Fällen ist die Bewertung Konrads I. durchaus als ideologische Positionierung vor dem Hintergrund der nationalstaatlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts zu verstehen, was im Falle von Kinkel auch im Zusammenhang mit seinen Selbstaussagen unterstützt werden kann, wenn er rückblickend auf die frühen 1840er Jahre bei aller an der selben Stelle geäußerten Bewunderung auch für die Republik von sich behauptet: »Ich war ein entschiedener Monarchist«.155 Kehren wir am Ende nochmals zum Ausgangspunkt des vorigen Kapitels (2.1) und zu der Frage zurück, in welcher Weise Binnen- und Rahmenerzählung miteinander verbunden sind. Ausführlich wurden bereits vor allem aus erzähltechnischer Perspektive und im Hinblick auf den Textstatus die vielfältigen Bezüge zur Traumthematik einerseits in der Binnenerzählung, andererseits vom Kommentar des Rahmenerzählers aus, dass dies alles auch nur »eines Dichters Traumbild« gewesen sein könne, behandelt. Doch gewinnt die Einteilung des Textes in jene zwei Erzählstränge vor dem Horizont des eben dargelegten Mittelalterbildes noch eine weitere Lesart. Sowohl die Rahmenerzählung als auch die historische Episode in der Binnenerzählung setzten mit einer Beschreibung des schlechten Reichszustandes nach dem Tode Karls des Großen ein, dessen Tiefpunkt in der Zeit kurz vor der
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wird: Wilhelm von Giesebrecht: Geschichte der deutschen Kaiserzeit. 2 Bde., hier Bd.1: Gründung des Kaisertums. Braunschweig 1881, S. IV–VIII. Vgl. Goetz, Einführung, 2006, S. 13–15. Vgl. die entsprechenden Stellen in den schon genannten Werken: Giesebrecht, Geschichte, Bd. 1, 1881, S. 189–234; Luden, Geschichte des teutschen Volkes, Bd. 6, 1831, S. 282–313 und S. 314–338; Luden, Geschichte der Teutschen, Bd. 2, 1842, S. 347–356; ähnlich positiv im Sinne einer nationalen Bezugsfigur die Bewertung Konrads I. in folgenden Darstellungen, in denen sich überdies die Kontinuität einer – wenn auch im Detail etwas unterschiedlich akzentuierten – nationalen Ausrichtung bestimmter Vertreter der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dokumentiert: Friedrich Christoph Schlosser: Weltgeschichte für das deutsche Volk. Unter Mitwirkung des Verfassers bearbeitet von G.L. Kriegk. 6 Bde. (1844–1847), hier Bd. 6, S. 65–75; Ernst Dümmler: Geschichte des ostfränkischen Reiches. 3 Bde. (1862–1888), hier Bd. 3: Die letzten Karolinger. Konrad I., S. 521–600; Friedrich Stein: Geschichte König Konrad I. von Franken und seines Hauses. Nördlingen 1872. Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 111; vgl. hierzu auch in dieser Arbeit zu Kinkels Gedicht über Friedrich Wilhelm IV. (Am Huldigungstage), Teil III, Kapitel 2.2.
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Königswahl Konrads I. erreicht war.156 Die Binnenerzählung fährt dann fort mit der Darstellung des durch Konrad I. wiederhergestellten richtigen Verhältnisses zwischen Reichsgewalt und Partikularinteressen. Nimmt man nun den Vorschlag des Rahmenerzählers am Ende beim Wort und liest die Binnenerzählung tatsächlich als »eines Dichters Traumbild«, dann ist der Traum dieses Dichters – den man getrost mit dem Autor Kinkel, zumindest aber durch die Zeitangabe (»Das sind nun bald an die tausend Jahr, da stand das deutsche Reich gar übel«157) als einen Erzähler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts identifizieren darf – von der ›geträumten‹ historischen Episode her gesehen auch ein Traum einer zwar mittelalterlichen nationalen Einheit des deutschen Reiches, die aber freilich mit Kinkels eigenen Vorstellungen eines noch zu verwirklichenden, einheitlichen Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert eine Menge zu tun hat. 2.3
»Ueber die Noth im Volke«. Kinkels soziale Erzählung Die Heimatlosen. Geschichte aus einer armen Hütte (1849)
2.3.1 Entstehungsgeschichte und Vorüberlegungen Die Hauptfigur in Kinkels letzter Erzählung Die Heimatlosen, den aus Hessen gebürtigen Bauernsohn Valentin, führen zunächst hauptsächlich wirtschaftliche Gründe in den Odenwald und später ins heute rheinland-pfälzische, im 19. Jahrhundert aber zu Bayern gehörende Neustadt an der Weinstraße und nach Kaiserslautern. Diese Hauptschauplätze der Erzählung waren nicht nur wichtige Zentren des politischen Liberalismus und revolutionärer Bewegungen im 19. Jahrhundert, sondern markieren auch genau jene Stationen von Kinkels eigenem Lebensweg in der Zeit, als er durch seine Teilnahme am Sturm auf das Bonner Zeughaus am 11. Mai 1849 in ständiger Gefahr aus dem Rheinland fliehen musste und sich in verschiedenen revolutionären Gruppen engagierte. Damit soll nicht die Vermutung nahegelegt werden, dass es Kinkel in Die Heimatlosen auf die bloße Abbildung eigener Erlebnisse vor und während der Revolution von 1848 mittels einer literarischen Figur angelegt habe. Dazu sind sowohl die Aussagestruktur und Figurenkonstellation der Erzählung zu komplex und vielschichtig als auch der Autor Kinkel und die Kunstfigur Valentin zu unterschiedlich. Wohl aber finden sich in der Erzählung nicht nur Reflexe von Kinkels revolutionärem Engagement und seinen politischen und sozialen Weltanschauungen, die zurückführen zu der oben angesprochenen Beobachtung, dass sich Kinkels ›Wandlung‹ vom liberalen Konstitutionellen zum demokratisch-sozialistischen Republikaner auch in den Erzählungen dokumentiert und bemerkbar macht.
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Vgl. Kinkel, Erzählungen (Ein Traum im Spessart), 1883, S. 297–298 und 337–338. Ebd., S. 297.
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So bewegt Kinkels Leben seit der Flucht aus Bonn verlief, so ungewöhnlich, ja dramatisch nimmt sich die Entstehungsgeschichte von Die Heimatlosen aus, vor deren Hintergrund die dort verhandelten Themen, Zeitdiagnosen und die erzählte Zeitgeschichte in ihrer Klarheit und erzählerischen Stringenz um so erstaunlicher erscheinen. Denn entstanden ist die Erzählung innerhalb kurzer Zeit nach Kinkels Verwundung und Gefangennahme im Juni 1849 im Zuchthaus in Rastatt, bevor Kinkel mit der Urteilsverkündung am 3. September wissen konnte, wie sein weiteres Schicksal aussehen würde, ja sogar damit rechnen musste, zum Tode verurteilt zu werden. Seine Einlieferung ins Zuchthaus zu Naugard am 8. Oktober 1849 stellt einen terminus ante quem dar, der zudem durch den Buchmessetermin im Herbst und die erste Ausgabe der Erzählungen noch 1849 bei Cotta in Stuttgart untermauert wird.158 Auch spricht Strodtmann davon, dass die Erzählung für die Publikation aus dem »Kerker geschmuggelt« werden konnte, da die Wärter offensichtlich ständig betrunken waren.159 Dem ist bisher nicht widersprochen worden, so dass der Text einhellig als Werk aus der Zeit von Kinkels Haft in Rastatt bezeichnet wird.160 Da die Erzählung zudem schon von Beginn an auf die Auswanderung des Protagonisten Valentin nach Amerika ausgerichtet ist und in dieser Abschiedsszene am Ende ausgesprochen deutlich auf die Auswanderung Friedrich Heckers am 20. September 1848 nach Amerika angespielt wird, ist anzunehmen, dass es zumindest vor diesem Zeitpunkt auch keine Pläne zu einer solchen Erzählung wie Die Heimatlosen gegeben haben dürfte.161
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Für diese Entstehungszeit spricht auch die Korrespondenz zwischen Kinkel und seiner Frau Johanna während seiner Rastatter Haftzeit (September bis Oktober 1849), vgl. die Briefe bei Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 599–611. Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851 S. 319; deutlicher als Strodtmann wird in diesem Zusammenhang Heinrich von Poschinger in seinem Beitrag über Kinkels Haft in Naugard, wo es heißt: »Kinkel erzählte dem Direktor, dass die Gefangenen, und mit diesen auch er, in Rastatt sehr mangelhaft bewacht worden und die Posten oft betrunken gewesen seien; es würde gewiß nicht schwer gehalten haben, von dort aus zu entweichen. […] Er habe bei der dortigen unvollständigen Beaufsichtigung Gelegenheit gefunden, sich mit schriftstellerischen Arbeiten zu beschäftigen und ein Werk ›Die Heimatlosen‹ geschrieben, welches er auf Umwegen seiner Frau geschickt habe, die, wie sie ihm kürzlich geschrieben, daselbe nun werde drucken lassen und der Oeffentlichkeit übergeben. Bei der Möglichkeit, welche ihm vorgeschwebt, dass er doch zum Tode könne verurteilt werden, habe er diese Arbeit als sein Testament an die Demokratie angesehen […]. Die Frage, ob dieses Werk daselbe sei, von welchem Kinkels Frau schreibe, dass es ins Englische übersetzt werde, bejahte derselbe.« Poschinger, Gottfried Kinkels sechsmonatige Haft im Zuchthause zu Naugard, 1901, S. 27. Vgl. etwa Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 319; Henne am Rhyn, Gottfried Kinkel, 1883, S. 57; Ennen, Gottfried Kinkel, 1977, S. 522; Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 448. Die Abschiedsszene wird weiter unten noch (Kapitel 2.3.6) ausführlich behandelt. Erwähnt sei hier bereits, dass Valentin nicht nur genau wie Hecker von Le Havre aus Europa verlässt, sondern mit St. Louis auch dasselbe Ziel wie Hecker hat. Zu Hecker vgl. die äußerst detailreiche und nicht nur die einzelnen Stationen abhandelnde, vielmehr auch auf Heckers Schriften eingehende Biographie – in der Kinkel häufig Erwähnung
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Wie schon bei der Geschichte eines ehrlichen Jungen erschien auch Die Heimatlosen in der ersten Ausgabe von 1849 ohne Verfassernamen, was in der posthum erschienenen dritten Auflage von 1883 nicht verändert wurde und wohl die Herausgeber des neuen Goedeke dazu bewogen haben mag, für diese Erzählung Johanna und Gottfried Kinkel als Verfasser zu nennen, was hier aber nicht weiter zu interessieren braucht.162 Der Text erschien noch zu Kinkels Lebzeiten in einer französischen Übersetzung mit seinem Namen, was bisher in der Forschung allerdings nicht berücksichtigt wurde. Nur nebenbei sei hier erwähnt, dass diese Übersetzung von Kinkels Erzählung zusammen mit Der Hauskrieg. Eine Geschichte vom Niederrhein bezeichnenderweise Aufnahme in eine Sammlung von Prosatexten fand, die der seinerzeit vor allem als bedeutender Kenner der deutschen Sprache und Literatur und Übersetzter von Onkel Toms Hütte auch über Frankreich hinaus bekannte Joseph Alfred (Alexandre) Michiels 1857 publizierte.163 In der Tat ist die Erzählung »als dichterische Verarbeitung des Revolutionserlebnisses bemerkenswert«164 und zwar nicht zuletzt wegen der widrigen Umstände, unter denen sie entstand. Weiter unten wird noch darauf zurückzukommen sein, inwiefern nicht bestimmte Eigenheiten der Erzählung, die vor allem in der Figurenkonstellation und im Aussagegehalt zu suchen sind, doch und gerade auch mit Kinkels Schreib- und Lebenssituation im Kerker zusammenhängen, wo er Die Heimatlosen als »Testament an die Demokratie« abgefasst und »von jeder gesetzlichen Ahndung frei den Insurrektionskrieg in Baden ausführlich beschrieben« 165 habe – eine ähnliche Schreibmotivation liegt auch bei den ebenfalls in Rastatt und im
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findet – von Sabine Freitag: Friedrich Hecker. Biographie eines Republikaners. Stuttgart 1998 (Transatlantische historische Studien, Bd. 10), zu der angesprochenen Zeit bes. S. 147–167. Vgl. Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880. Bd. I–K. Bearbeitet von Herbert Jacob (Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Fortführung). Berlin 2005, zu Kinkel S. 324–336, bes. 326–327. Neben seinen Arbeiten zur Heraldik, Archäologie und einer Bismarck-Biographie weisen Michiels (1812–1892) kunsthistorische Schriften zur niederländischen und belgischen Kunst eine erstaunliche thematische Nähe zu Kinkels Interessengebieten auf. Unter dem Titel Une guerre domestique und – nur den Untertitel des Originals übernehmend – Histoire d’une pauvre cabane übersetzte und publizierte Michiels Kinkels Erzählungen Der Hauskrieg und Die Heimatlosen, vgl. J[oseph] A[lfred / Alexandre] Michiels: Contes des Montagnes. Paris 1857; die bei Poschinger erwähnte englische Übersetzung der Erzählung, die Johanna Kinkel erwähnt haben soll, konnte nicht ausfindig gemacht werden. Fraglich ist, ob sich die Formulierung (»dass es ins Englische übersetzt werde«) nicht einfach auf die Zukunft bezieht und dann gar keine Übersetzung zustande gekommen ist, vgl. Poschinger, Gottfried Kinkels sechsmonatige Haft im Zuchthause zu Naugard, 1901, S. 27. Ennen, Gottfried Kinkel, 1977, S. 522. Poschinger, Gottfried Kinkels sechsmonatige Haft im Zuchthause zu Naugard, 1901, S. 27; in Poschingers schon mehrfach erwähnter, überaus präziser und detailreicher Studie, wird die Entstehung von Die Heimatlosen unter dem Eintrag für den 29. November 1849 im Zusammenhang mit Kinkels im Vergleich zu Rastatt schwierigeren Haftbedingungen in Naugard besprochen.
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Angesicht eines möglichen Todesurteils entstandenen Gedichten Vor den achtzehn Gewehrmäulern und Mein Vermächtnis vor, die noch in Teil III (Kapitel 6.2) dieser Arbeit behandelt werden. Gleichwohl liegt eine gründliche Analyse und Interpretation des Textes bislang nicht vor, wenn auch die Erzählung, anders als Ein Traum im Spessart, sogar in großen Überblickswerken zur Literatur des 19. Jahrhunderts, namentlich in der Hanser Sozialgeschichte, im Kontext »prärealistischer« Erzählverfahren und der Dorfgeschichte Erwähnung fand.166 Damit ist auch jener literarhistorische und gattungsgeschichtliche Rahmen genannt, in den es Kinkels Erzählung mit Blick auf ihre Eigenarten und Besonderheiten einzuordnen gilt. Durch die Revolutionsdarstellung und -verarbeitung ist freilich ein Thema als Schwerpunkt vorgegeben, das die Einbeziehung unterer Gesellschaftsschichten und Realitätsbereiche in den Text zur Folge hat, was auch in zahlreichen anderen Werken aus der Zeit zu beobachten ist, von denen sicherlich Arnold Ruges Revolutionsnovellen (1850) zu den berühmtesten gehören. Neben Texten von wenigstens dem Namen nach noch bekannten Autoren wie Ernst Dronke, Alexander Weill, Ernst Willkomm, Louise Otto, Heinrich Zschokke oder dem auch als Mitglied in Kinkels Bonner Maikäfer-Bund faßbaren Carl Arnold Schloenbach finden sich gerade auch Prosawerke, in denen heute völlig unbekannte Autoren in unmittelbarer Zeitgenossenschaft zur Revolution die Ereignisse in den verschiedenen Zentren der Ereignisse literarisch verarbeiteten und damit gleichzeitig geschichtliche Dokumente von erheblichem Interesse hinterließen, die allerdings noch auf eine systematische, monographische Auswertung warten.167 Eine solche ›Literaturgeschichte der Revolutionsdarstellungen‹ kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Vielmehr soll Kinkels Erzählung als
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Vgl. die entsprechenden Artikel von Wolfgang Lukas: Novellistik und Holger Böning: Volksgeschichten und Dorferzählungen, in: Zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München 1998 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 251–280 bzw. 281–312. Anders als vielleicht vermutet sind Prosatexte, die entweder noch in der Revolution oder kurz danach entstanden sind, nicht so zahlreich, dass sich eine systematische Erschließung des Textbestandes aus der Perspektive ähnlicher oder differenter Darstellungsmuster und Aussageabsichten etc. von vornherein als unmöglich erweisen würde. Zu denken wäre etwa an eine synoptische Interpretation von Erzählungen, die unterschiedliche Schauplätze aufweisen. Folgende Werke könnten dafür ein geeignetes Textkorpus darstellen, weil sie genau diese Vorgabe erfüllen, auch wenn diese Auswahl zwar repräsentativ, insgesamt aber beliebig wäre – hier in chronologischer Reihenfolge: Franz Lubojatzky: 1848 oder Nacht und Licht. Historischer Roman. Grimma 1849; L. Schubar [d.i. Rudolf Lubarsch]: Fürst und Volk. Historischer Roman aus der Berliner März-Revolution. Berlin 1849; Franz Lubojatzky: 1849 oder des Königs Maienblüthe. Historischer Roman aus der Gegenwart. Grimma 1850; Blaze de Bury, Baronin Marie Pauline Rose: Falkenburg. Eine Erzählung vom Rheinlande. Bremen 1851; Friedrich Albert Karcher: Die Freischärlerin. Novelle aus dem Jahre 1849. Kaiserslautern 1851; Otto Müller: Georg Volker. Roman aus dem Jahre 1848. Bremen 1851; L. Schubar [d.i. Rudolf Lubarsch]: Fürst und Volk. Historischer Roman aus der Berliner März-Revolution. Berlin 1849.
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exemplarisches Dokument seiner Zeit betrachtet werden, das sowohl Aufschlüsse zu Kinkels eigenen politisch-sozialen Standpunkten gibt, als auch als Teil einer literarischen Formation mit beträchtlicher Breitenwirkung gesehen werden kann, in der sich die seit den 1840er Jahren – und teilweise schon zuvor – zu beobachtenden Darstellungsgegenstände, Aussageabsichten und Gattungsmuster im Prosabereich noch einmal verdichten und bündeln lassen. Die Kontinuität von Kinkels Interesse an den sozialen Fragen seiner Zeit dokumentiert sich schon vor der Mitte der 1840er Jahre hauptsächlich in seinen Artikeln und Beiträgen für die Augsburger Allgemeine Zeitung und später auch für die von ihm selbst redaktionell betreuten Blätter (Bonner Zeitung und Sparktakus), auf deren »eklatante« inhaltliche Nähe zu den Erzählungen schon Wolfgang Beyrodt verwiesen hat.168 Nach einer kurzen Zusammenfassung des Handlungsverlaufes und der Figurenkonstellation (Kapitel 2.3.2) soll im Blick auf Kinkels 1844 entstandene Erzählung Margret. Eine Geschichte vom Lande, seiner Schrift Handwerk errette Dich, die als Summe seiner in zahlreichen Artikeln geäußerten Forderungen für die unteren Stände betrachtet werden kann und seinem Wahlprogramm vom 19. April 1848 (Ansichten einiger hiesigen [sic!] Volksfreunde über die volkstümliche Umgestaltung der staatlichen Verhältnisse in Deutschland und Preußen) das werkgeschichtliche Umfeld von Die Heimatlosen skizziert werden, aus dem heraus die Erzählung ihre maßgeblichen Impulse empfängt (Kapitel 2.3.3), was für die folgende ausführliche Interpretation und Einordnung des Textes eine unverzichtbare Grundlage darstellt (Kapitel 2.3.4 bis 2.3.6). 2.3.2 Handlungsverlauf und Figurenkonstellation In einer mittelgroßen Ortschaft im Odenwald, nicht weit von Heidelberg entfernt, hat sich nach den »letzten Franzosenkriegen« die aus Vater und Mutter sowie drei Töchtern bestehende Familie Jelinecz niedergelassen, die ihrem sozialen Umfeld weniger als Heimatlose denn als Fremde gelten.169 Der aus Böhmen stammende pater familias, Joseph Jelinecz, hatte kurz vor der Schlacht bei Austerlitz als Hornist in einem österreichischen Regiment seine ebenfalls dort als Marketenderin dienende spätere Frau Wlaska kennengelernt und mit ihr zunächst »über der Grenze im Hessischen« gewohnt, wo die beiden schon Eltern dreier Töchter, Wlaska, Sabine und Ludmilla, wurden. Nach der Übersiedlung in den Odenwald verfällt der Vater mehr und mehr dem übermäßigen Weingenuß und stirbt schließlich »an einem Stickflusse schon mit fünfundvierzig Jahren und hinterließ den Seinigen weniger Eigenthum, als er beim Eintritt in den Ehestand besessen hatte«.170 Allerdings erfüllen sich die Befürchtungen der Gemeinde, dass mit dem Tode des Vaters der Rest 168 169 170
Vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 141. Zitiert wird nach der schon oben benutzten Ausgabe, Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 373– 467, hier S. 375. Ebd., S. 378.
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der Familie ihr zur Last fallen würde, nicht. Wirtschaftlich zwar mit dem Wenigsten auskommend, wird die Familie aber gerade dadurch noch mehr zum Außenseiter in einer protestantischen Gemeinde, in der sie als Katholiken ohnehin schon eine Ausnahme darstellen. Als die eigentliche Handlung der Erzählung einsetzt, trifft der junge Bauernsohn Valentin, ebenfalls von Norden aus Hessen kommend, auf dem Weg von der Anhöhe ins Tal auf Sabine und findet diese gerade in den eben beschriebenen sozialen und familiären Verhältnissen lebend. Schnell verlieben sich die beiden und wollen heiraten, was aber durch die Gesetzeslage der badischen Gemeindeordnung unmöglich ist, so dass die beiden eine ›wilde Ehe‹ eingehen und sogar Eltern eines Kindes werden. Valentin aber muss im Verlauf der Erzählung verschiedene Arbeiten etwa beim Bau der Eisenbahnstrecke zwischen Neustadt an der Weinstraße und Kaiserslautern annehmen, um die Familie zu ernähren. Im Strudel der revolutionären Bewegung in Rheinbayern, der heutigen Pfalz, nimmt Valentin an verschiedenen Auseinandersetzungen und Gefechten teil, verschont aber, als er die Möglichkeit dazu hätte, das Leben eines feindlichen Soldaten und Konterrevolutionärs, den er danach sogar pflegen lässt und muß am Ende der Erzählung aber doch mit seiner Familie wegen revolutionärer Umtriebe nach Amerika auswandern, womit die wichtigsten Anknüpfungspunkte für die ausführliche Textanalyse der folgenden Kapitel genannt sind. Dargeboten wird die streng chronologisch gehaltene Geschichte von einem anonymen Er-Erzähler. Eine gerade für den Aussagegehalt der Erzählung bedeutsame stärkere Ausdifferenzierung des Erzählkonzepts sowie des Erzählerstandpunkts und der Erzählerposition wird weiter unten (Kapitel 2.3.5 und 2.3.6) noch vorgenommen. Sowohl die Handlungszeit als auch die Handlungsorte lassen sich durch die Angaben im Text recht genau benennen. Die Begegnung von Sabine und Valentin findet im Sommer 1844 statt und die zeitliche Zuordnung der folgenden Ereignisse wird durch die Nennung etwa des Baus der Eisenbahnstrecke nach Kaiserslautern (1845) und den historisch genau rekonstruierbaren Eröffnungen einzelner Teilstrecken oder dem Gefecht bei Käferthal (Juni 1848) möglich, so dass sich die erzählte Zeit etwa von Sommer 1844 bis Sommer 1849 über knapp fünf Jahre erstreckt. Im Zusammenhang mit Kinkels im Kontext der Dorfgeschichte (s. Kapitel 2.3.4), seinen eigenen poetologischen Äußerungen und seinem Bekenntnis zu einem realistischen Schreibkonzept ist die Wahl dieses Zeitraums zumal im Sinne einer historischen Wahrscheinlichkeit der Geschehnisse nicht unerheblich. Die Erzählung stellt damit nicht nur eine »Verarbeitung der Revolutionsereignisse«171 dar. Sie rückt vielmehr die Entwicklung der Lebensumstände – nicht (nur) der Charaktere – in den Mittelpunkt, was einerseits innerhalb des erzählten Geschehens einen Spannungsbogen erzeugt, andererseits aber auch auf der Seite der Autorintention
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Ennen, Gottfried Kinkel, 1977, S. 522.
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eine Apologie der revolutionären Ereignisse darstellt. Denn es werden gerade jene Umstände gezeigt, die einen Mann wie Valentin zu revolutionären Taten führen konnten, was auch schon in der zeitgenössischen Kritik erkannt wurde: Eine eigentliche Entwicklung der Charaktere würde man hier wenigstens bei den Hauptpersonen vergebens suchen. Mehr kam es dem Verfasser darauf an, an den wechselvollen Schicksalen seiner Helden die sittliche und politische Berechtigung jener Ideen nachzuweisen, für die er selbst mit Gut und Blut einzutreten bereit gewesen ist.172
So wie sich in Ein Traum im Spessart an einer mittelalterlichen Episode zeitgenössische Verfassungsfragen im Sinne einer nationalstaatlichen Einigung der deutschen Einzelstaaten spiegelte – und damit auch Kinkels eigene politische Position zu jener Zeit –, so werden in Die Heimatlosen hauptsächlich soziale Zeitfragen im Rahmen eines fiktionalen Textes thematisiert, die ihrerseits wieder auf die in der älteren Forschung intensiv und detailliert diskutierte Wandlung Kinkels zum demokratischen (sozialistischen) Republikaner zurückweist.173 Mit der Übernahme der Redaktion der Bonner Zeitung am 5./6. August 1848 als Organ »für die Verwirklichung der Demokratie«174 und der Umbenennung des Extrablatt zur Belehrung des Handwerkerstandes und zur Besprechung und Förderung seiner Interessen in Wochenzeitung für soziale Fragen: Spartakus zum 1. Januar 1849 sind lediglich die Endpunkte von Kinkels Entwicklung zum demokratisch-sozialistischen Republikaner benannt, deren Vorboten sich schon in der 1847 publizierten Erzählung Margret175 andeuten. Mit einer knappen Einordnung dieser Geschichte vom Lande, wie es im Untertitel heißt, kann sowohl der Zusammenhang mit den zu Beginn dieses Teils der Arbeit vorgestellten Reisebüchern Kinkels als auch mit der Erzählung Die Heimatlosen hergestellt werden.
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Muncker, Zur neuesten deutschen Erzählungsliteratur, 1883, S. 2202. Diese Art von Diskussion braucht an dieser Stelle nicht fortgeführt zu werden. Auch muss keine Entscheidung getroffen werden, ob Kinkels ›Wende‹ nun schon, wie de Jonge gegen Strodtmann opponierend meint, im August 1848 abgeschlossen gewesen war, oder eben erst, wie Strodtmann betont, im September 1848, vgl. hierzu die Stellen bei De Jonge, Gottfried Kinkel, 1966, S. 17–18 und Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 85. Die Leseransprache Kinkels nach seiner Übernahme der Redaktion ist abgedruckt auch bei Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 84–86, Zitat S. 84; dort heißt es auch ein paar Zeilen weiter: »Nicht also die politische Frage allein, sondern auch die socialen und Kulturfragen, die von jener ohne grobe Verletzung der Menschlichkeit nie wieder zu trennen sind, gehören zur öffentlichen Verhandlung.«; an anderer Stelle spricht Kinkel kurz vor der Revolution auch davon, dass »die reinen Verfassungsfragen in unserer Zeit von den sozialistischen in den Hintergrund gedrängt werden«. Vgl. hierzu Kersken, Stadt und Universität Bonn, 1931, S. 37. Die Erzählung erschien zuerst in Kinkels eigenem Jahrbuch, vgl. Gottfried Kinkel: Margret. Eine Geschichte vom Lande, in: Vom Rhein 1 (1847), S. 143–188.
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2.3.3 Werkgeschichtlicher Kontext Als Entstehungszeit für die Erzählung Margret. Eine Geschichte vom Lande nennt Strodtmann Kinkels erste Ehejahre bzw. das Maikäfer-Stiftungsfest 1844. Weshalb Kinkel so lange mit der Publikation des Textes wartete oder ob sich die Ausarbeitung länger hinzog, gibt Strodtmann indessen nicht an.176 Aus der Perspektive des Handlungsortes ist diese Datierung erster Ansätze zu dem Text aber sehr wahrscheinlich, da die Erzählung weitgehend in der Ahr-Region angesiedelt ist, die Kinkel, wie oben gezeigt, schon in seinen Artikeln für die Augsburger Allgemeinen Zeitung von 1842 und seinen Arhbüchern von 1846/47 stark beschäftigte. Beide Erzählungen, Margret und Die Heimatlosen, setzen ein mit einer präzisen landes- und sozialkundlichen Beschreibung der jeweiligen geographischen Lage und klimatischen Verhältnisse, die gleichzeitig als Voraussetzungen für die Lebensbedingungen der an der Ahr bzw. im Odenwald lebenden Menschen bedeutsam sind. Die strukturellen Leitlinien von Kinkels Landschaftsdarstellungen im Sinne der Konstitution eines erzählten Raumes werden in der Gegenüberstellung der beiden Anfangspassagen besonders deutlich, die hier ausführlich wiedergegeben werden sollen: Am oberen Schlusse des schönen Ahrthales, wo das Flüßchen dem Fuße eines stark aufsteigenden Berges entspringt, liegt in die grüne Schlucht zurückgezogen das Städtchen Blankenheim in Schutz und Schirm der jetzt zertrümmerten Grafenburg, der es seinen Ursprung dankt. Mancher Wanderer wird sich mit Vergnügen des lieben Oertchens erinnern, wo er nach den rauhen Pfaden der obern Ahr oder nach beschwerlicher Eiffelfahrt zum erstenmal wieder städtisches Behagen in reizender ländlicher Umgebung fand. Zumeist wer etwa im ersten Frühling das Thal besuchte, gedenkt sicher mit Entzücken des weiten weißen Blüthenschleiers, mit dem die ganze Schlucht wie übersponnen liegt, ein blühend Idyll mitten unter den wilden Eiffelhöhen, deren theils kahle, theils bewaldete Rücken die Stadt rings umziehen. Im Schirm dieser Höhen ruht sie und genießt in Folge dieser Lage eines rheinischen Sommers, während eine Viertelstunde Weges die Berge hinauf genügt, uns in eine rauhe, nur der Fichte noch günstige Luft zu versetzen. Freilich sieht’s dann im Winter ganz anders aus. Sein über die endlosen Schneeflächen ringsum hersausender Hauch schont auch das Thal nicht. Die Wiese dorrt vor ihm, durch welche in der mildern Jahreszeit die junge Ahr so munter herabtanzt, tiefer Schnee sperrt die Stadt von dem gebildeten Leben entfernterer Gegenden und selbst von dem Verkehr mit den benachbarten Ortschaften ab. Da ziehen sich denn die Honoratioren Abends ins Casino zusammen, spielen Karten und trinken Wein; draußen aber vor den Mauern ist’s nimmer gut hausen.177
Ähnlich ist die Exposition der Geschichte in Die Heimatlosen angelegt, wenngleich hier der politisch-territoriale Aspekt stärker gewichtet wird: Auf dem südlichen Abhang des Odenwaldes, da wo dieser in’s Neckarthal abfällt, liegen mehrere ansehnliche Dörfer, die nicht wie das übrige Gebirge zu Hessen, sondern zur ehe-
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Vgl. Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 30–31. Kinkel, Erzählungen (Margret), 1883, S. 155–156.
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maligen ostrheinischen Pfalz gehörten und gegenwärtig dem badischen Lande einverleibt sind. Die Gegend ist gesund, fruchtbar und schön; von den Höhen dehnen sich weite Aussichten über die Rheinebene bis zu den scharfgezeichneten Bergformen des Haardtgebirges hin, und da alle Bodenerzeugnisse in den kleinern und größern Städten am Neckar und an der Bergstraße guten Absatz finden, so fehlt es den Bauern dort nicht an Wohlstand und sogar an Reichthum. Selbst der Arme gewinnt, wie in der ganzen auch in dieser Hinsicht gesegneten Pfalz, für redliche Arbeit meist noch sein ausreichendes Brod. In einer der größten unter diesen Ortschaften, wenig über eine Meile von Heidelberg entfernt, hatte sich nach den letzten Franzosenkriegen eine auswärtige Familie angesiedelt, welche ursprünglich aus Böhmen stammte.178
In beiden Fällen manifestiert sich ein Raumkonzept, das im Wesentlichen auch auf Raumerinnerungen zurückgeht, die letztlich stark von Kinkels eigener Biographie geprägt sind. Beide Regionen hat Kinkel in Wanderungen selbst erschlossen und erlebt. Gerade in der hier dargebotenen Phänomenalität bestimmter Landschaftsräume offenbart sich, dass jede Landschaftsbeschreibung per se nicht nur ein ›kulturelles‹ – also nicht ›natürliches‹ – Konstrukt, sondern eben darum auch von vornherein ein perspektivierter und emotionalisierter Raum ist. Im Falle der beiden Texte konstituiert sich mit diesem erzählten Raum von der Anlage und Funktion her gleichzeitig auch ein für den Handlungsverlauf eminent wichtiger Erzählraum, an den die hier verhandelten Themen und historischen Phänomene wie Pauperismus, Nahrungsknappheit, Gesetzgebung und Auswanderung sehr eng gebunden sind.179 Zwar steht hier wie da auf den ersten Blick eine Liebesgeschichte mit einer durch die Gesetzeslage verhinderten Ehe im Zentrum des Geschehens, doch zeichnet sich im Hintergrund dieses alten literarischen Motivs eben nicht mehr ein zwischen verfeindeten Familien über die Kinder ausgetragener Konflikt ab, sondern wird eine dem Individuum und seinem persönlichen Glück im Weg stehende Gesetzgebung
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Ebd. (Die Heimatlosen), S. 375; anders als bei Margret verzichtet Kinkel hier auf die Nennung einer bestimmten Ortschaft. Doch wäre dieser Ort mit dem ersten Satz (»Auf dem südlichen Hang des Odenwaldes«) und der Entfernungsangabe mit »wenig über eine Meile« nach Heidelberg wohl auf der Höhe etwa von Ziegelhausen zu lokalisieren, was ungefähr sechs bis sieben Kilometer vom Heidelberger Stadtkern entfernt liegt. Da es zumindest für die erste Hälfte des 19. Jahrhundert keine einheitlich festgelegten Maßangaben gibt, kann nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden, um welche Ortschaft es sich tatsächlich handeln soll. Insgesamt gabt es vor der Regelung durch den Norddeutschen Bund über 10 Meilenmaße, die zwischen 7363 und 9870 Metern für eine Meile schwankten, vgl. hierzu den Überblick von Hermann Kellenbenz: Zahlungsmittel, Maße und Gewichte seit 1800, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 2 Bde., hier Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Zorn. Stuttgart 1976, S. 934–958, hier S. 954–955. Zu den beiden Begriffen Erzählraum und erzählter Raum vgl. den hervorragenden Band von Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt 1975 (Wege der Forschung, Bd. 418), hier besonders die Beiträge von Robert Petsch: Raum in der Erzählung, S. 36–44 und Herman Meyer: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst, S. 208–231.
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thematisiert. Indem in beiden Fällen die Protagonisten – was weiter unten noch ausführlich behandelt wird (Kapitel 2.3.5) – als tüchtige, und das Gemeinwohl gerade nicht schädigende Figuren konzipiert sind, wird damit gleichzeitig auch eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen formuliert. In der Erzählung Margret sind es ›nur‹ fehlende Papiere, die die Ehe mit Nikola verzögern. In Die Heimatlosen dagegen macht die Entrichtung einer horrenden Summe Geldes für den Erwerb des Bürgerrechts die Ehe für einen nicht Ortsansässigen wie Valentin im Grunde unmöglich: Die Papiere! Dieß Wort ist schon manchem jungen Brautpaar ein Schrecken geworden. Die französische Gesetzgebung, welche am Rheine herrscht, hat mit großem Verstande den Eigensinn der Eltern bei Verheiratung ihrer Kinder beschränkt, indem sie dem Volljährigen nach gewissen Formalitäten das Recht gibt, auch ohne Einwilligung der Eltern die Ehe zu schließen. Aber auf Einen Punkt schleppt jene Gesetzgebung eine leidliche und lächerliche Freiheitsbeschränkung nach: sie rückt, wenn die Eltern todt sind, in deren Rechte die Großeltern ein, und fordert, ehe die Trauung gestattet wird, deren Einwilligung oder ihren Todtenschein. In diesem Falle befand sich Margret.180
Als Nikola für diese Papiere eigens nach Berlin reist, droht die Beziehung der beiden nicht nur deshalb zu scheitern, weil sich der Provinzler Nikola kurzzeitig vom Leben in der Stadt und anderen Frauen hinreißen lässt, sondern auch, weil Margret zu Hause im Ahrtal durch ihr uneheliches Kind sich ständig im »Kampf mit der Außenwelt«181 befindet – allerdings geht die Geschichte mit der Rückkehr Nikolas am Ende gut aus. Da hier keine ausführliche Analyse von Margret vorgenommen werden soll, sondern es nur um den werkgeschichtlichen Kontext für Die Heimatlosen geht, braucht an dieser Stelle auch nicht einer der wenigen, in den zeitgenössischen Rezensionen an der Erzählung geäußerten Kritikpunkte, nämlich dass der im Grunde tragische Stoff nach einem tragischen Ende verlange, aufgegriffen zu werden.182 Ein Blick in die zeitgenössischen Besprechungen zeigt aber gerade auch, dass wir es bei Kinkels Erzählung Margret nicht nur »zugleich mit der ganzen Frische, Fülle und Naturwahrheit der Dorfgeschichte ohne alle dialektale Färbung«183 zu tun haben, sondern mit einer durchweg sozialen Erzählung, die als kleinere Prosaform des sozialen Romans in Kapitel 2.3.4 noch behandelt wird. Im zweiten Teil seiner Kinkel-Biographie schreibt Adolph Strodtmann zu Margret: Wenn das Großartige der in neuerer Zeit so beliebt gewordenen »Dorfgeschichte« darin liegt, dass sie einen socialen Kern umschließt, so ist dies in edelster Weise bei der letzten Erzählung der Fall. Wir dürfen die »Margret« über viele der Auerbach’schen Dorfgeschichten stellen, weil sie bei aller Einfachheit und Natürlichkeit einen bedeutenderen Gehalt in sich trägt. Man hat wiederholt gesagt und es als einen Tadel betrachtet, dass Gottfried
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Kinkel, Erzählungen (Margret), 1883, S. 180–181. Ebd., S. 184. Vgl. hierzu die Rezension von Muncker, Zur neuesten deutschen Erzählungsliteratur, 1883, S. 2201–2203. Anonymus: Gottfried und Johanna Kinkel, in: Europa. Chronik der gebildeten Welt Nr. 1 vom 2. Januar 1850, S. 8.
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Kinkel nur der Dichter des Anmuthigen und Lieblichen sei, dass ihm aber ein großartig erhabener Gedankengehalt fern liege. »Margret« widerlegt diesen Irrthum, indem sie Beides gleich vollendet darbietet. Zwei Vorzüge sind es, die Kinkel über die Mehrzahl der übrigen Dichter der Gegenwart erheben. Wir meinen die Gegenständlichkeit und den Hauch einer frischen Sinnlichkeit.184
Den »socialen Kern« der beiden Erzählungen bildet weniger das Motiv der verhinderten Ehe selbst, als vielmehr die Tatsache, dass die Problematik hier eine juristische Dimension gewinnt und in der Folge auch Auswirkungen sowohl auf die soziale Stellung und Lage der Protagonisten hat, als auch auf deren Beziehungen untereinander. Um diesen Kern herum sind – um im Bild zu bleiben – eine Vielzahl anderer Schichten sozialer Probleme angeordnet, von denen die Pauperismusthematik gerade wegen ihres epochalen Gewichts sicherlich das wichtigste darstellt und deren erzählerische Integration in der Gegenüberstellung der beiden Erzählungen von besonderem Interesse ist. Denn in Margret wird die durch Mißernten der 1840er Jahre aber auch durch die im Kontext der Frühindustrialisierung entstandene Lohnarbeit hervorgerufene Massenverarmung vor allem der Landbevölkerung im Grunde nur in einer ihrer vielen Ursachen greifbar, nämlich der »Vielkinderei« und der daraus resultierenden Überbevölkerung und Nahrungsknappheit, wohingegen in Die Heimatlosen die Protagonisten Sabine und Valentin vor allem auch die Folgen von Verarmung und Nahrungsknappheit zu spüren bekommen und zudem selbst zum ›Landproletariat‹ gehören.185 Margret ist nur das jüngste von insgesamt neun – lebenden! – Kindern. Bemerkenswert ist, dass mit ihr eine Tochter »begüterter Eltern«186 den Ausgangspunkt für die kurze Erwähnung des Themas bildet, was zeigt, dass das Phänomen
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Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 30–31. Der »Pauperismus« ist freilich ein viel komplexeres Phänomen als in diesem Zusammenhang skizziert. Zum Überblick mit weiterführender Literatur empfehlen sich immer noch folgende Beiträge: Wolfgang Köllmann: Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 2 Bde., hier Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Zorn. Stuttgart 1976, S. 9–50; Karl Heinrich Kaufhold: Handwerk und Industrie 1800–1850, in: ebd., S. 321–368; Werner Conze: Sozialgeschichte 1800–1850, in: ebd., S. 426–494; eine repräsentative Quellenauswahl, in der alle Positionen und Teilaspekte wie Armenwesen, Verehelichungsrecht, Gewerbeordnungen und Niederlassungsbestimmungen behandelt werden bietet folgender Band: Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur. Hg. von Carl Jantke und Dietrich Hilger. München 1965 (Orbis academicus. Geschichte der politischen Ideen in Dokumenten und Darstellungen); im engeren Sinne des Pauperismus in der Literatur mit umfangreicher Bibliographie: Lieselotte Dilcher: Der Pauperismus und seine Literatur. Diss. Masch. Frankfurt a. M. 1957; sehr anregend zum Weiterlesen ist auch die Bibliographie der gedruckten Quellen und Statistiken bei Klaus-Jürgen Matz: Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1980 (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 31), hier S. 274–288. Kinkel, Erzählungen (Margret), 1883, S. 159.
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der Überbevölkerung hier nicht nur als Verschulden oder Problem der unteren, schon verarmten Schichten gesehen wird, sondern, im Gegenteil, in seiner Breitenwirkung freilich auch andere Schichten – wenn auch hauptsächlich auf dem Lande – betrifft, worauf Kinkel schon in seinem Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung hingewiesen hatte.187 Am deutlichsten wird diese Lesart in der Reaktion des Vaters. Die vorgebrachten Beobachtungen zu Kinderreichtum und sozialen Aussichten lassen sich mit Kinkels Überlegungen im Ahrbuch und den Artikeln zur Auswanderung in Verbindung bringen,188 die ihrerseits wieder im Horizont der unzähligen Publikationen zu diesem Thema zu sehen sind. Die dort formulierten und kontrovers diskutierten Ursachenforschungen und Verbesserungsvorschläge werfen ein Licht auf das historische Phänomen des Pauperismus und seiner Entstehung, der ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Voraussetzungen zugrunde liegt. So heißt es in der Erzählung: Dann aber, mit klugem Blicke die zu große Zahl der Bevölkerung in einem rauhen, wenig ergiebigen Lande wägend, schloß er sich, einer der Ersten, mit Rath und That an die große Auswanderung nach Amerika an, welche noch jetzt von jenen Gegenden abströmt.189
Mit seiner aus der Vernunft geborenen Entscheidung, nach Amerika auszuwandern, wird mit der Figur des Vaters ein publizistischer Diskurs über die unabdingbare Handlungsnotwendigkeit angesichts der »Nothschreie der Armuth«, die »herzerschütternd und gefahrdrohend fast aus allen Theilen Deutschlands, Frankreichs und Englands«190 ertönen, in die Erzählung integriert, in dessen Mittelpunkt von vielen Autoren die Auswanderung als staatlich zu fördernde Perspektive zur Linderung der Notstände gestellt wird.191 In diesem »socialen Kern« der Erzählung Margret sind damit schon Tendenzen erkennbar, die zwar auch noch Kinkels Interesse für Verfassungsfragen erkennen lassen, aber gleichzeitig nicht isoliert von ihren
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Vgl. Kinkel, Die Auswanderungen, 1842, S. 1075. Ebd.; vgl. auch Kinkel, Ahr, 1846, S. 146–164. Kinkel, Erzählungen (Margret), 1883, S. 161–162. Theodor Hilgard De Velt: Zwölf Paragraphen über Pauperismus und die Mittel, ihm [sic] zu steuern. Heidelberg 1847, S. 1. Vgl. De Velt, Zwölf Paragraphen über Pauperismus, 1847, S. 7; repräsentativ in diesem Kontext sind zudem die Schriften von Franz Baltisch [d.i. Franz Hermann Hegewisch: Eigenthum und Vielkinderei. Hauptquellen des Glücks und Unglücks der Völker. Kiel 1846 und D.[?] Rosch: Ueber die Noth im Volke, die Unzufriedenheit und die Auswanderung. Allen Regierungen, Staatsmännern, Volksvertretern, Landvätern so wie allen guten Bürgern gewidmet. Nürnberg 1838; eine Gegenposition mit einer vehementen Absage an die Zulassung von Auswanderungen, sondern vielmehr appellierend, die Gründe »wegzuräumen, welche den Entschluß des Fortziehens hervorrufen« stellt die Schrift dar von Georg Grünewald: Die deutschen Auswanderungen. Eine politisch-nationalökonomische Abhandlung. Frankfurt a. M. 1847, S. 17, hier zitiert nach dem Abdruck in Vormärz und Revolution. 1840–1849. Hg. von Hans Fenske. Darmstadt 1991 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. IV), S. 215–221.
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sozialen Aspekten beschrieben werden und insofern schon auf jene Dominanz des Sozialen als Generalthema bei Kinkel vorausdeuten, das uns in Die Heimatlosen als einer komplexen Literarisierung der »sozialen Frage« in ausgesprochen vielfältigen Dimensionen begegnet. 2.3.4 Heiratswunsch und Bürgerrecht. Die Dorfgeschichte als soziale Erzählung192 In einer modernen Textfassung liegt Kinkels Erzählung Die Heimatlosen in der von Hartmut Kircher herausgegebenen zweibändigen Sammlung mit Dorfgeschichten aus dem Vormärz vor.193 Für diese Zuordnung des Textes unter die seit dem Erscheinen von Auerbachs ersten Schwarzwälder Dorfgeschichten194 (1843ff.) ungeheuer erfolgreiche und auf eine überwältigende Resonanz beim Lesepublikum stoßende Gattung der Dorfgeschichte lassen sich freilich auch Gegenargumente finden. Doch bietet es sich schon allein aufgrund des »epochalen Gewichts der Dorfgeschichte«195 an, zu überlegen, inwiefern einzelne Aspekte wie Figurenrepertoire, Schreibweise oder bestimmte Handlungselemente in Kinkels Erzählung im Zusammenhang mit den ›gattungskonstituierenden‹ Merkmalen der Dorfgeschichte zu sehen sind oder auch gerade deren ›Muster‹ sprengen. Problematisch ist hierbei freilich, dass eine zusammenfassende und historisch-systematische Darstellung der Dorfgeschichte bisher ebenso wenig vorliegt, wie auch die Definitionsversuche im Spannungsfeld der Herleitung aus älteren Gattungstraditionen wie der Idylle und pädagogischer Prosa einerseits und einem mit romantischen Schreibhaltungen brechenden sozialrealistischen Schreibkonzept andererseits bislang nicht zu einem allgemeinen Kon-
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Der Begriff »soziale Erzählung« wird in Anlehnung an und als kleinere Form des sozialen Romans gebraucht, zum Überblick vgl. den Sammelband von Hans Adler (Hg.): Der deutsche Sozialroman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1990 (Wege der Forschung, Bd. 630). Vgl. Gottfried Kinkel: Die Heimatlosen. Geschichte aus einer armen Hütte, in: Dorfgeschichten aus dem Vormärz. 2 Bde., hier Bd. 2. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Hartmut Kircher. Frankfurt a. M. 1982, S. 270–329; auch in dem schon erwähnten Beitrag von Holger Böning in der Hanser Sozialgeschichte wird Kinkels Erzählung der Dorfgeschichte zugeordnet mit dem recht allgemeinen Hinweis, dass »die Erzählweise schon weit über 1849« hinausweise. Eine Detailanalyse konnte Böning im Rahmen seines kurzen Beitrages freilich auch nicht leisten, vgl. Böning, Volksgeschichten und Dorferzählungen, 1998, Zitat S. 312. Hier nach der bei Cotta erschienenen Ausgabe Berthold Auerbach: Schwarzwälder Dorfgeschichten. 6 Bde. Stuttgart 1861; zuletzt und mit neuen Aspekten zu Auerbachs Dorfgeschichten Ralf Georg Bogner: Demaskierte Idylle. Berthold Auerbachs Dorfgeschichte Der Lehnhold, in: Von der Spätaufklärung zur badischen Revolution. Literarisches Leben in Baden 1800–1850. Hg. von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann Freiburg/Br., Berlin, Wien 2010 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 174), S. 597–606. Max Bucher [u.a., Hg.]: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880. Mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie. 2 Bde., hier Bd. 1. Stuttgart 1976, S. 48
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sens über die Verwendung des Begriffes und seiner literarhistorisch materiellen Seite geführt haben.196 Die unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Definitionsansätze resultieren bei allen grundsätzlichen Ähnlichkeiten indessen nicht zuletzt aus eben jener Vielfalt der Gattung, mit der die Dorfgeschichten auf uns gekommen sind. Die Leitlinien und Problemhorizonte aus der Forschung zur ›Dorfgeschichte‹ mögen aber genügen, um die Relevanz der Gattung für Kinkels Erzählung und umgekehrt deren Bedeutung für eine Literaturgeschichte der Dorfgeschichte zu erläutern. Friedrich Theodor Vischers vielzitierte Formulierung, die Mutter der Dorfgeschichte sei die Idylle und insofern die Dorfgeschichte eine »Idylle in Novellenform«197 trifft zwar im Kern insofern zu, als die Darstellungen bäuerlichen Lebens und eines ländlichen, eng abgegrenzten Raumes in den Dorfgeschichten durchaus Parallelen zu den Idyllen etwa eines Voß, Maler Müller, Gessner oder Meyer aufweisen. In der neueren Forschung werden diese Ähnlichkeiten aber völlig zurecht nur als typologische Vergleichsmomente und der dörflich-bäuerliche Erzählraum lediglich als – wenn auch bedeutsames – »Kompositionselement« gesehen.198 Neben den inhaltlichen Bestimmungsversuchen der Dorfgeschichte mit ihrer Bindung an »lokale, soziale, ökonomische und kulturelle Wirklichkeiten« gepaart mit einer ›realistischen‹ Erzählweise, die die Dorfgeschichte als »stoffliche Kategorie«199 festlegen wollen, sind die texttypologischen, formalen Zuordnungen als Kleinform des »Bauernromans« und der »Bauernepik« als Ergebnisse einer Betrachtung der Dorf-
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Einen knappen Einblick in die Gattung samt Forschungsproblematik bietet der Artikel von Uwe Baur: Dorfgeschichte, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. I. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 2000, S. 390–392; in manchen Einschätzungen kritisch zu betrachten (s. unten) ist die Einführung von Jürgen Hein, in der aber die ältere Forschung zum Thema zusammengefasst ist, vgl. Jürgen Hein: Dorfgeschichte. Stuttgart 1976 (Sammlung Metzler, Abt. E, Poetik, Bd. 145); sehr instruktiv ist auch die kurze Abhandlung von Hartmut Kircher: Nachwort, in: Dorfgeschichten aus dem Vormärz. 2 Bde., hier Bd. 2. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Hartmut Kircher. Frankfurt a. M. 1982, S. 335–367. Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schoenen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, 1857, hier zitiert nach Bucher [u.a.], Realismus und Gründerzeit, Bd. 2, 1976, S. 188. Zur Traditionslinie der Idylle vgl. Hein, Dorfgeschichte, 1976, S. 30–33 und Baur, Dorfgeschichte, 1997, S. 391; zur Idylle mit einem äußerst differenzierten Seitenblick auch auf die Dorfgeschichte vgl. Renate Böschenstein: Idylle. 2., durchgesehene Auflage. Stuttgart 1977 (Sammlung Metzler, Abt. E, Poetik, Bd. 63); mit dem Schwerpunkt zwar auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Rezeption der Dorfgeschichte formuliert Luc Hermann beispielhaft jene Position, die die Bedeutung der Idyllentradition für die Dorfgeschichte einer kritischen Betrachtung unterzieht, was heute weitgehend Konsens geworden ist, vgl. Luc Hermann: Die Nachwirkung der Idyllentradition bei der Rezeption der Dorfgeschichte im programmatischen Realismus, in: Études germaniques 42 (1987), S. 16–28, bes. S. 16–20. Hein, Dorfgeschichte, 1976, S. 1 und 20–25; vgl. auch Kircher, Nachwort, 1989, S. 338.
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geschichte aus der Perspektive der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sehen.200 Vischers Diktum hat wohl auch maßgeblich dazu beigetragen, dass lange Zeit – durch die angebliche »Trivialisierung« der Dorfgeschichte seit den 1850er Jahren zumal – die Dorfgeschichte mithin als epigonale Prosagattung beschaulich-idyllischen Inhalts verkannt wurde. Ein Blick kurzer Blick in die auch heute noch bekannteren Texte, die man der Dorfgeschichte zurechnen kann, wie Berthold Auerbachs Dorfgeschichte Lehnhold (1853)201 macht deutlich, dass auffällig oft in diesen Texten nicht nur justiziable Konflikte gezeigt werden, sondern auch die scheinbar idyllisch-ländliche Gesamtanlagen solcher Erzählungen damit auch revoziert werden. Als Anknüpfungspunkt zu Kinkels Erzählung Die Heimatlosen führt die juristische Thematik in die Mitte des Textes. Doch schon zu Beginn der Erzählung lassen sich Parallelen zu den eben beschriebenen Darstellungsprinzipien der Dorfgeschichte beschreiben. Denn nach dem schon erläuterten landeskundlichen ersten Abschnitten folgt mit Valentins Wirtshausbesuch eine soziologisch und ethnographisch geprägte Szene, in der das Dorfmilieu als Exposition zu den später dargestellten sozialen und politischen Aspekten verstanden werden kann. Bezeichnenderweise werden neben den Bauern auch Vertreter des Landproletariats erwähnt, zu dem Valentin im weiteren Verlauf der Handlung auch gerechnet werden muß, womit eine Zentralfigur der Erzählung gerade jenem Stand angehört, der etwa bei Auerbach keine oder meist nur eine untergeordnete Rolle spielt.202 In der exkursartigen Darbietungsform dieser Wirtshausszene kommt ein Erzählerstandpunkt und gesamtdeutscher Leserbezug zum Vorschein, durch den diese Passage nicht nur einen essayistischen Charakter annimmt, sondern auch deutlich die Stimme des Autors Kinkel zu erkennen gibt: Wenn nun meine norddeutschen Brüder von einem Wirthshauszimmer des Südens hören und dabei die langweiligen Restaurationen, Lesekabinette und Kaffeestuben ihrer Städte sich vormalen, oder gar an die fliegensummenden Branntweinschenken auf dem Lande denken, so muß ich ihrer Einbildungskraft etwas nachhelfen. Ueberall, wo Wein wächst, und am Orte des Wachsthums also zu wohlfeilen Preisen getrunken wird, lebt eine höhere Wirthshausgeselligkeit. Die süddeutsche Gaststube ist einer der wichtigsten Plätze für das öffentliche Leben. Nicht wie im Norden sondern sich die höhern Stände in Casinos und Klubs ab: der Schoppen dient vielmehr als Bindemittel zwischen allen Berufsarten und
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Vgl. Hermann, Die Nachwirkung der Idyllentradition, 1987, S. 23–24; ausführlich auch die ältere Studie von Peter Mettenleiter: Destruktion der Heimatdichtung. Typologische Untersuchungen zu Gotthelf, Auerbach, Ganghofer. Tübingen 1974 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 34). Berthold Auerbach: Der Lehnhold, in: Schwarzwälder Dorfgeschichten. 6 Bde., hier Bd. 6. Stuttgart 1861, S. 1–232; hierzu auch Bogner, Demaskierte ländliche Idylle, 2010. Vgl. die Zusammenfassung bei Bucher [u.a.], Realismus und Gründerzeit, Bd. 1, 1976, S. 48–76, einen Einblick in zeitgenössische Bewertungen und Diskussionen bietet die zugehörige Quellenauswahl, vgl. Max Bucher [u.a.]: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880. Mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie. 2 Bde., hier Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 148–157.
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selbst allen Bildungsstufen, die indessen in Baden nicht so gar weit auseinander liegen. Während der Berliner zur Theestunde sich mit seiner Familie und vielleicht einem Buche zusammenthut, geht hier der Bürger allabendlich in’s Wirthshaus, denn hier ist die Hochschule des Volkes für die Politik. Der Lehrer, der im deutschen Süden fast durchweg die Fortschrittspartei vertritt, liest die Zeitung vor, welche jeder Wirth als das hauptsächliche Anlockungsmittel zu halten verbunden ist, die kraftvollsten Kammerreden kommen zum Vortrag und werden ausführlich besprochen; auch bildet sich hier das Urtheil darüber, ob der gewählte Abgeordnete des Kreises im Sinne der Wähler seine Schuldigkeit thue oder nicht. Alle Stände gleichen sich in den Interessen des Staatslebens aus; selbst Pfarrer und Bürgermeister verschmähen es nicht hier öfter einzusprechen, und hierauf zum großen Theile beruht es, dass der Klassenkampf zwischen Reich und Arm hier noch nicht stark durchgreift, vielmehr die Begüterten gerade den Kern der Oppositionspartei bilden. […] Manche Wirthsstube der Pfalz ist wichtiger, als zwölf Gemeindehäuser zusammengenommen.203
Die vor allem auch in Auerbachs theoretischen Schriften angeführte Kategorie der »alltäglichen Wirklichkeit« und eines Volksbegriffes, unter dem Auerbach im weitesten Sinne Dorfbewohner bzw. das Landvolk versteht, kommt in dieser Szene ebenso zur Geltung, wie schon zuvor im ersten Absatz der Erzählung die genaue Lokalisierung und zeitliche Einordnung des Geschehens vorgenommen wurde.204 Zudem können auch in dem hier zu beobachtenden Realismus »die stoffliche Echtheit und die Detailtreue« als grundlegendes Moment des Darstellungsprinzips gesehen werden.205 Allerdings ist für Kinkels Erzählung eine ganz andere Erzählstrategie charakteristisch, die jenem von Auerbach geforderten »völligen Zurücktreten des Autors«206 entgegensteht. Denn in Kinkels Erzählung wird an mehreren Stellen207 die Erzählerposition etwas verschoben und in exkursartigen Abschnitten ist deutlich die Stimme Kinkels als Autor zu erkennen, womit sich die Frage nach den ›Adressaten‹ sowie des Verhältnisses zwischen Erzähler und Autor zum Publikum verbindet. In diesem Zusammenhang hat die Forschung schon früh darauf hingewiesen, die Dorfgeschichte von besonderem Interesse auch für eine »Geschichte des Lesens und Interpretierens« sei und mitnichten eine reine Abschilderung der Realität dar-
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Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 399–401. Den Ausgangspunkt für die Diskussion um Auerbachs »Konzept der Volksliteratur« bilden seine theoretischen Werke Schrift und Volk (1846) und Der gebildete Bürger. Buch für den denkenden Mittelstand (1843), wobei in der Forschung ein bisweilen zu unkritisches Verhältnis zwischen Auerbachs theoretischen Schriften und den Dorfgeschichten konstruiert wird, was hier allerdings aber nicht weiter thematisiert werden soll. Vgl. zur Problematik den Abschnitt zur »Dorfliteratur« bei Hartmut Steinecke: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus. 2 Bde., hier Bd. 1. Stuttgart 1975, S. 190–203. Steinecke, Romantheorie, Bd. 1, 1975, S. 191. So Berthold Auerbach in seiner Darstellung Schrift und Volk (1846), zitiert nach Steinecke, Romantheorie, Bd. 1, 1975, S. 191. Vgl. Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 435ff. und S. 453–455; die Stellen werden weiter unten noch behandelt.
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stelle, sondern »als Auseinandersetzung der zeitgenössischen Bildungsschicht mit der Realität, d.h. als historisch-ästhetische Dokumente«208 begriffen werden sollten, so dass freilich auch für Die Heimatlosen nicht die Bauern, sondern eben das liberale Bürgertum als Publikum anzunehmen sind. Doch wird in der Charakterisierung des Wirtshauses als »Hochschule des Volkes für die Politik« und der Beschreibung regionaler Eigenschaften im Kontrast auch zum Norden der Handlungsraum Baden vor allem in seiner Bedeutung für die spätere Entwicklung Valentins vermessen. Denn in jener buntgemischten Wirtshausgesellschaft steht Valentin einer Gruppe von Personen gegenüber, in deren Ansichten und Selbstverständnis sich die politische und verfassungsgeschichtliche Situation Badens im Jahre 1844 exemplarisch abbildet. Mit einem scheinbar so nebensächlichen Detail, dass im Wirtshaus auch »die kraftvollsten Kammerreden zum Vortrag [kommen]« und geurteilt wird, »ob der gewählte Abgeordnete des Kreises im Sinne der Wähler seine Schuldigkeit thue oder nicht«209 wird auf jene repräsentativ-parlamentarische Verfassung Badens angespielt, die seit deren Unterzeichnung am 2. August 1818 den südwestdeutschen Partikularstaat zu einem Vorreiter in der Umsetzung liberaler Ideen machten. Zwar kann man mit gutem Recht diese Verfassung – und den in der Folge mit ihr verbundenen Begriff des sogenannten »badischen Kammerliberalismus« – in ihrer ›Modernität‹ relativieren und sie letztlich in ihrer Anlage als Herrschaftsinstrument bezeichnen. Doch werden gerade auch einzelne Punkte der als Werk des bürgerlich-liberalen Karl Friedrich Nebenius geltenden Verfassung wie die Frage der Rechtsgleichheit, der Neuregelung von Verwaltungsabläufen oder letztlich die nur im nationalen Kontext lösbare Frage der Handelsfreiheit vielfach als Ausgangspunkt für die Entwicklungen bis hin zur Revolution gesehen.210 Valentin kommt im Sommer 1844 nun gerade zu einem Zeitpunkt in den Odenwald, der nicht zufällig gewählt sein dürfte. Wenn sich mit dem Jahr 1844 auch schon erhebliche soziale und wirtschaftliche Nöte verbinden, so sind diese bei weitem nicht so einschneidend, wie jene in der Folge der Kartoffelfäule von 1845 und des darauf folgenden kalten Winters entstandenen sozialen Spannungen, die noch weithin nachwirkten.211 Die nach der französischen Juli-Revolution 1830 nach Osten übergreifenden freiheitlichen Veränderungen wie etwa eine Neuregelung des Versammlungs- und Presserechts unter dem badischen Ministerialdirektor Karl
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Bucher [u.a.], Realismus und Gründerzeit, Bd. 1, 1976, S. 50.; vgl. auch ferner Steinecke, Romantheorie, Bd. 1, 1975, S. 198–200. Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 402. Vgl. Gall, Gründung und Entwicklung des Großherzogtums, 1979, S. 26–30; Wolfram Fischer: Staat und Gesellschaft Badens im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848. 7 Beiträge. Hg. von Werner Conze. Stuttgart 1962 (Industrielle Welt, 1), S. 156–158. Vgl. Fischer, Staat und Gesellschaft, 1962, S. 167; Nolte, Gemeindebürgertum, 1994, S. 291.
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Friedrich Nebenius und dem Innenminister Ludwig Winter waren allerdings spätestens seit der Übernahme des Außenministeriums 1835 durch den konservativen, noch ganz auf Metternichscher Linie agierenden Freiherrn von Blittersdorff auch weitgehend wieder außer Kraft gesetzt. Mit dem sogenannten »Urlaubsstreit« 1841 – es wurden unliebsame, liberale Mitglieder des badischen Landtages einfach ›beurlaubt‹ – provozierte die Regierung allerdings tumultartige Proteste, die zu Neuwahlen und schließlich zum Sieg liberaler Kräfte führten, deren erste Köpfe, Abraham von Itzstein und Friedrich Hecker, nun tonangebend waren. 212 Bezeichnenderweise hebt am Ende der Episode die versammelte Wirtshausmannschaft das Glas und trinkt auf das Wohl jener Vaterfigur des badischen Liberalismus, Abraham von Itzstein, was stark an die 1845 publizierte Beschreibung des Mannheimer »Itzsteinfestes« vom 22. September 1844 erinnert, die Kinkel gekannt haben könnte:213 Ehe eine Viertelstunde verging, war er bereits mit einem begüterten Bauern in Unterhandlung, der für die bevorstehende Ernte Hülfe brauchte, und in dessen Lohn Valentin gleich morgenden Tages eintreten konnte. Nachdem dies im Reinen war, gab man sich sorglos den politischen Debatten hin, die von Minute zu Minute lebhafter wurden, und Valentin, der gegen das Allgemeine nie gleichgültig gewesen war, klang begeistert mit an, als sich zur Zeit der Bürgerglocke die Gesellschaft mit einem fröhlichen Anstoßen der Gläser auf Vater Itzstein trennte.214
In der Tatsache, dass Valentin »gegen das Allgemeine nie gleichgültig gewesen war«, liegt seine spätere, dadurch auch wahrscheinlich und plausibel erscheinende Entwicklung zum politisch-revolutionären Aktivisten begründet, an deren Anfang hier im Wirtshaus die Beschreibung einer Sozialpsychologie und individueller Verfasstheit zur Deckung kommen. Es ist aber ein individuell erfahrenes Unrecht und ›Unglück‹, das bei Valentin das im Wirtshaus zum ersten Mal angedeutete Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände schärft. Wie schon in Margret stehen auch in Die Heimatlosen der Ehe zwischen Valentin und Sabine gesetzliche Bestimmungen im Wege, von denen Valentin völlig überrascht beim Pfarrer, wo er das Aufgebot bestellten will, erfährt: Schon auf der Treppe, da rief ihn die Stimme des Seelenhirten noch einmal hinauf. »Wie ist es denn«, fragte dieser, »mit den hundertfünfzig Gulden?« »Hundertfünfzig Gulden?«
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Vgl. Gall; Gründung und politische Entwicklung des Großherzogtums, 1979, S. 32–33; Fischer, Staat und Gesellschaft, 1962, S. 166. Eine sehr lebendige Beschreibung des Festes erschien anonym unter dem Titel: Das Itzsteinfest zu Mannheim, am 22. September 1844. Mit dem Brustbilde Abraham von Itzsteins, in: Deutsches Taschenbuch 1 (1845), S. 57–102. Gegen Ende wird beschrieben, wie die Versammelten die letzte Strophe des »Itzsteinliedes« angestimmt hatten, das auf die Melodie von »Noch ist Polen nicht verloren« mit einem Text von Fallersleben gesungen wurde: »Vaterland, freue dich! / Deine Nacht wird immer heller! / Itzstein, unser Stern, / Leuchtet nah und fern.« (S. 81). Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 402.
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sagte Valentin mit einem leisen Schauder. »Was für hundertfünfzig Gulden?« »Nun, Sie kennen doch unsere badische Gemeindeordnung? Wer sich in einer Gemeinde verheiraten will, muß zuvor Bürger sein und zu diesem Zweck ein Grundstück oder eine Geldsumme aufweisen. Ein liegendes Eigenthum haben Sie meines Wissens nicht, die Braut hat es auch nicht; Die Geldsumme aber beträgt für Landstädtchen und Dörfer hundertfünfzig Gulden.« »Herr Pfarrer«, sagte der arme Junge, »das kommt mir wie ein Blitz vom Himmel herunter. Ich kann ja doch von meinem Arbeiten leben und gut leben, selbst wenn ein paar Kinder dazu kämen; soll ich denn, weil ich arm bin, keine Frau nehmen dürfen?« Der Pfarrer that ein Paar starke Züge aus der Pfeife, zuckte mit den Achseln und erwiderte: »Jede Gemeinde sucht sich zu hüten, dass nicht arme Leute in sie hineinheiraten, Kinder zeugen und so in das Vermögen der Gemeinde sich breit hineinsetzen. Darum haben die Kammern Anno 1831, als die neue Gemeindeordnung und die vielen liberalen Gesetze gemacht worden sind, diesen Punkt ausdrücklich aufgenommen.« 215
Diese badische Gemeindeordnung von 1831 wurde als liberales Pionierwerk zunächst gelobt, doch bisweilen auch schon früh auf die Gefahr hingewiesen, dass diese »kleinste Dörfer zu selbständigen Gemeinden mit kostspieliger Verwaltung« machen würde.216 Durch das in der Wirtshausszene ausgesprochen positiv gezeichnete Bild des frühen badischen Liberalismus und seiner Errungenschaften erscheint die gerade aufgrund der Gemeindeordnung verhinderte Ehe nicht als bloße Anklage der gesetzlichen Bestimmungen, sondern lässt vielmehr die Komplexität historischer sozialer Wirklichkeit anhand eines ins Allgemeine gehobenen Einzelschicksals erkennen. Dass hierbei sehr genau die Rechtslage angesprochen wird, fügt sich wiederum in die oben beschriebenen Darstellungsprinzipien der Dorfgeschichte ein. Neben der Absteckung eines kommunalen Handlungsrahmens samt Verwaltung, der Regelung des Bürgerstatus, des Gewerbes und Niederlassungsbestimmungen enthält die seinerzeit als freiheitlichste unter den zahlreichen Gemeindeordnungen der Einzelstaaten des Deutschen Bundes geltende ›Gemeindeverfassung‹ auch Bestimmungen über die Ehe, in denen als Voraussetzung für die Eheschließung der Besitz des Bürgerrechts der jeweiligen Gemeinde, in der man heiraten möchte, genannt wird.217 Dieses Bürgerrecht wird für die Erzählung zum Wendepunkt, weil Valentin als Hesse sich dieses Recht erst erwerben muss und zudem auch noch eine ebenfalls nicht Ortsansässige heiraten will.218 In Teil II des Gesetzes (»Von der Erwerbung des
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Ebd., S. 415. Vgl. Nolte, Gemeindebürgertum, 1994, S. 291 und 305–306. Einen Überblick zu den einzelnen Gemeindeordnungen im Vergleich (Nassau, Hessen, Württemberg, Baden und Pfalz) bietet Helmut Croon, legt aber den Schwerpunkt vor allem auf Verfassungsaspekte, Wahlrecht und die Zusammensetzung der Gemeinderäte, vgl. Helmut Croon: Gemeindeordnungen in Südwestdeutschland, in: Städteordnungen des 19. Jahrhunderts. Beiträge zur Kommunalgeschichte Mittel-und Westeuropas. Hg. von Helmut Naunin. Köln, Wien 1984, S. 233–271, zu Baden besonders S. 249–258; ferner auch Nolte, Gemeindebürgertum, 1994, S. 11–14. Der Gesetzestext vom 31. Dezember 1831 ist gut greifbar. Vgl. Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts, in: Großherzögliches Staats- und
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Bürgerrechts«) wird unterschieden zwischen der Erwerbung des Bürgerrechts durch »Geburt« und durch »Aufnahme«. Für Valentin freilich käme nur die Erwerbung des Bürgerrechts durch Aufnahme in Frage, worauf ihn ja auch der Pfarrer hinweist. Im Gesetzestext heißt es in Paragraph 30: Zu den gesetzlichen Bedingungen gehört die baare Entrichtung eines Einkaufsgeldes vor der Aufnahme. – Der Betrag des Einkaufsgeldes wird festgesetzt: a) in den Städten Karlsruhe, Mannheim, Freiburg und Heidelberg auf Einhundert und zwanzig Gulden; b) in allen übrigen Städten über 3,000 Seelen auf zehn Procent von der Summe, welche sich ergiebt, wenn das Gesammtsteuerkapital des Orts durch dessen Seelenzahl, ohne Einrechnung der staatsbürgerlichen Einwohner, getheilt wird; c) in den Städten unter 3,000 Seelenauf acht Procent, in den Landgemeinden auf fünf Procent von der Summe, welche durch die vorgedachte Theilung des Gesammtsteuerkapitals auf den Kopf fällt.219
Ob Kinkel die genaue Höhe des Einkaufsgeldes nicht wusste, ob in jener »größeren Ortschaft« nahe Heidelberg die Summe tatsächlich 150 Gulden und nicht wie im Gesetzestext angegeben 120 Gulden betrug oder gar für diesen konkreten Fall das letztgenannte Verfahren zu Errechnung des Einkaufsgeldes für die übrigen Städte mit mehr als »3000 Seelen« maßgeblich gewesen ist, kann und muss hier nicht rekonstruiert werden. Entscheidend für das Verständnis der Erzählung und der Funktion, die der juristische Fall für den Text besitzt, ist die Tatsache, dass ein alltagsweltlicher, zu jener Zeit gegenwärtiger Konflikt detailliert und ›korrekt‹ seine Verarbeitung in einer fiktionalen Prosaerzählung findet, die aber über die reine Abbildung hinausgeht und für die Darstellung der Individualpsychologie des Protagonisten und die Struktur der Erzählung eine entscheidende Rolle einnimmt. Nur wenig früher als Die Heimatlosen entstand im Sommer 1848 Kinkels Schrift Handwerk errette Dich!, in der viele der eben auch im Zusammenhang der Gemeindeordnungen beschriebenen Themen behandelt werden. Unter anderem heißt es dort: In Bezug auf die frühe Ehe, die bei der arbeitenden Klasse ein so allgemein verbreitetes Uebel, eine Hauptquelle der Ueberbevölkerung und der Noth ist, machen sich zwei ganz verschiedene Ansichten geltend. Die eine dieser Ansichten hört man besonders oft aus dem Munde der Armen. Die Ehe, so sagen sie uns, ist ein Recht, dessen Ausübung man keinem Bürger schmälern darf. Sie ist das Einzige, was wir mit den Reichen gemein haben. Wir können uns daher an dem Rechte, uns zu verheiraten und folglich auch das Menschengeschlecht zu vermehren, nichts abziehen lassen. Die andere Ansicht faßt mehr das Allgemeine ins Auge und hält sich daran, dass die Gesetzgebung, um der öffentlichen Wohlfahrt willen, allerdings gegen Leute einschreiten dürfe, welche eine Ehe schließen wollen, ohne im Mindesten auch nur die Mittel und die Fähigkeit nach-
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Regierungsblatt 30 (1832), S. 117–132; außerdem ist der Text abgedruckt in der Sammlung von Julius Weiske (Hg.): Sammlung der neueren teutschen Gemeindegesetze. Nebst einer Einleitung: Die Gemeinde als Corporation. Leipzig 1848, S. 235–250; wichtig ist für diesen Zusammenhang in den »Allgemeinen Bestimmungen« gleich Paragraph 1, wo es über die Rechte des Gemeindebürgers unter Abschnitt 7 heißt: »das Recht, in der Gemeinde, deren Bürger Jemand ist, durch Heurath eine Familie zu gründen«. Ebd., S. 121–122.
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zuweisen, wodurch sie sich und ihre Familien zu ernähren gedenken. Der Staat soll also die Ehe der Proletarier verbieten. Aber ein solcher Zwang wäre sowol sehr hart und verbitternd, als auch unnüz und sogar schädlich. Könnten die ganz Armen keine gesetzlichen Ehen schließen, so würden sie zu wilder Ehe sich zusammenthun. Die Kinder, die so erzeugt würden, hätten dann noch weniger Aussicht auf eine brave Erziehung von Seiten der Eltern, und es würde folglich durch ein solches Gesetz die Last nur noch vermehrt werden, welche die Armuth der Gemeinde und dem Staate auferlegt. Wenn der Staat die zu frühe Ehe der mittellosen Leute einschränken will, so kann er das nur durch das Mittel thun, durch welches auch in den höhern Ständen die zu frühe verhindert wird. Man nimmt es in diesen Ständen als eine Ehrensache, dass ein Mann nicht eher eine Frau nehme, bis er eine bürgerliche Stellung und ein, wenn auch nothdürftiges, so doch sicheres Einkommen besitzt.220
Die in Handwerk errette Dich! den Armen in den Mund gelegte Meinung, dass die Ehe gerade jene Institution und jenes Recht darstelle, in dem die sonst deutlich spürbaren Unterschiede zwischen den Schichten verschwinden, ist fast identisch mit der Reaktion Valentins auf die vom Pfarrer erläuterte Forderung von 150 Gulden aufgrund der badischen Gemeindeordnung.221 Auch die Gegenargumente, die den Sinn jener Gesetze zu erörtern suchen, kommen sowohl in der Erzählung – vom Pfarrer – als auch in Handwerk errette Dich! zur Sprache, wobei wiederum aus im Hinblick auf die Erzählerposition zu den Figuren nicht von einer bedingungslosen Verteidigung von Valentins Heiratswunsch gesprochen werden sollte, wenngleich freilich dadurch, dass Valentin und Sabine der Gemeinde gerade nicht zur Last fallen, sondern in der Tat für ein zwar nicht üppiges, zum Leben aber doch
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Gottfried Kinkel: Handwerk errette Dich! Oder Was soll der deutsche Handwerker fordern und thun, um seinen Stand zu bessern? Bonn 1848, S. 20–21; zum Recht der freien Niederlassung und gegen den Heimatzwang (für Handwerker) s. S. 25; Kinkels Schrift stellt eine ausgesprochen differenzierte Behandlung der auch in anderen zeitgenössischen Publikationen (etwa im Staatslexikon von Rotteck und Welcker) vielfach formulierten Fragen und Forderungen für den Handwerkerstand dar. Er geht – stets unter dem Hinweis, dass die hier vorgebrachten Forderungen sozial-politische Teilstrecken auf dem Weg zur Republik seien – neben den durch eine Gewerbeordnung, den »Schutz der Arbeit«, das »Assoziazionswesen« und die Eindämmung einer »unbedingten Gewerbefreiheit«, die »nichts als der vollständige Sieg des Kapitals über die Arbeit« (S. 14) sei, zu erwartenden Verbesserungen für die Handwerker auch sehr detailliert auf konkrete Probleme ein wie das Verhältnis von Maschine und Handarbeit (S. 75–89), auf Fragen der Prüfungsordnungen (S. 41–43), Rechnungsabschlüssen und Fristen (S. 139–140). Beim Thema Krankenversicherung orientiert sich Kinkel vor allem an dem auch namentlich genannten, »ebenso entschlossenen Volksfreund« und westfälischen Unternehmer Friedrich Harkort (1793–1880) und dessen »kostbarem Buche über die Civilisation der untern Clasen« (S. 148), Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Classen (Elberfeld 1844); einen hervorragenden und im Hinblick auf Kinkels Schrift sehr anregenden Überblick zur »Handwerkerfrage als drängende soziale Frage des Vormärz« vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Thamer: Emanzipation und Tradition. Zur Ideen- und Sozialgeschichte von Liberalismus und Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz. Hg. von Wolfgang Schieder. Göttingen 1983 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 9), S. 54–73. Vgl. Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 415.
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hinereichendes Auskommen durch Valentins Arbeit gesorgt ist, die Sinnhaftigkeit dieses Gesetzes zumindest in Frage gestellt wird. In diesem Zusammenhang ist wiederum nicht unerheblich, dass Kinkel mit dem Odenwald einen Handlungsort gewählt hat, an dem nicht nur die badische Gemeindeordnung galt, sondern auch eine Region den Handlungsraum des Geschehens markiert, die durch ihre Randlage, mit agrarisch und gewerblicher Rückständigkeit sowie einer enormen Bevölkerungsvermehrung vor allem seit der Krise von 1846/47 zu kämpfen hatte.222 Dies führt zurück zur Pauperismusthematik, die letztlich für die hier angerissenen juristischen und sozialen Phänomene den Hintergrund bildet.223 Wie intensiv und teilweise auch ratlos man den Problemen von rasanter Bevölkerungsvermehrung, Nahrungsknappheit und Armut gegenüberstand und immer wieder auf der Suche nach Lösungsansätzen war, mag der Vorschlag des Arztes Weinhold aus Halle illustrieren, der in seiner ernstzunehmenden Schrift die in ihrer Drastik heute eher irritierend wirkende Forderung nach einer »Zwangsinfibulation« formulierte, »eine Art unauflöslicher Infibulation mit Verlöthung und metallischer Versiegelung«.224 Überblickt man schon allein die bisher behandelten, in der Erzählung verarbeiteten Zeitfragen, lässt sich die in Kinkels ebenfalls im Kerker zu Rastatt entstandener Schrift Das erste Auftreten des Socialismus in der Malerei formulierte Vorstellung vom Kunstwerk als Mittel zur Parteinahme an politischen und sozialen Prozessen leicht auf diese Erzählung übertragen. Inwiefern andere Themen wie Eigentums-, Arbeits- und Arbeiterfrage Kinkels Wendung zum »Sozialisten« dokumentieren oder vielmehr dieses Bild differenzieren können und damit letztlich die Gattungsfolie der Dorfgeschichte erheblich erweitern, soll im nächsten Kapitel erörtert werden.225 2.3.5 »…dass er von Natur Anspruch hat auf ein menschenwürdiges Dasein«. Valentins Entwicklung vom Bauernsohn zum Revolutionär Die Darstellung der Entwicklung Valentins vom Bauernsohn zum Revolutionär und die damit verbundenen Schilderungen revolutionärer Ereignisse in der Pfalz und Baden beanspruchen in der Erzählung etwa denselben Raum wie die Vorgeschichte bis zu der durch das badische Gemeindegesetz von 1831 verhinderten Hochzeit. Nicht zuletzt das Ausmaß der beiden Teile mag nochmals verdeutlichen,
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Vgl. hierzu mit ausführlicher Literatur und Quellen Nolte, Gemeindebürgertum, 1994, S. 291–293. Vgl. die grundlegende Studie, die das Problem im größeren Kontext von Beginn der Arbeiterbewegung, Frühindustrialismus, Massenarmut Gesetzgebungen der Landtage behandelt, von Matz, Pauperismus und Bevölkerung, 1980, S. 13–33, 149–190, zu Baden bes. S. 148–150. Die Quelle ist zitiert bei Matz, Pauperismus und Bevölkerung, 1980, S. 79. Vgl. Gottfried Kinkel: Das erste Auftreten des Socialismus in der Malerei, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben 1 (1850), S. 51–68, bes. S. 53– 54.
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welch entscheidende Funktion der Wahl des Zeitpunktes zukommt, an dem die Erzählung einsetzt: Hier geht es nicht lediglich um die Darstellung einer zugespitzten (revolutionären) Konfliktsituation – im Sinne eines »fruchtbaren Augenblicks« oder einer »unerhörten Begebenheit« –, sondern vor allem auch um die Umstände und Begebenheiten, die dazu führten. Indem Valentins Weg zum Revolutionär und schließlich politisch Verfolgten vor dem Hintergrund einer im Text immer wieder markierten historischen Chronologie verläuft, spiegeln sich in diesem Lebenslauf exemplarisch auch soziale, ökonomische, politische und ideengeschichtliche Entwicklungen wider. Mit Valentin hat Kinkel eine Figur geschaffen, die es verdient, glücklich zu sein. Die verhinderte Ehe lässt in Valentin ein Bewusstsein reifen, ungerecht behandelt zu werden, was den Ausgangspunkt für seine weitere Entwicklung bildet: Ein stiller Ingrimm gegen die Welt, die ihr Glück an unmögliche Bedingungen knüpfte, zerwühlte ihre Herzen, und schon waren beide dem Entschlusse nahe, dafür nach dem Urtheile dieser Welt auch nichts mehr zu fragen. »Wir können so lange nicht warten«, sagte Valentin. »Dieses Leben ist ein Hundeleben, und nur wenn wir beisammen wären, könnte etwas verdient werden. Die Gemeinde hat Dir, Sabine, Dein schönes Angesicht und mir meine Kräfte nicht geschenkt, und wenn ich grabe und Du spinnst, so machen wir doch andere Leute reich mit unserem Arbeiten. Mein Arm ist gerade so gut wie eines andern Bauern Grundstück, denn das Grundstück trägt nichts ohne die Arbeit des Armes. Darf nun der heiraten, der das Grundstück hat, so darf ich’s auch.«226
Valentin spielt hier auf die im badischen Gemeindegesetz festgelegte Klausel an, nach der die »Erwerbung des Bürgerrechts einer Gemeinde durch Geburt« zwar auch an den Nachweis eines Vermögens gebunden ist, aber ersatzweise durch den »Besitz eines Nahrungszweiges«, also auch eines Ackers oder Grundstückes, erworben werden kann.227 In diesem Konflikt wird das Grundprinzip der Erzählung besonders anschaulich: Hier das individuelle Glück und die Bedürfnisse ihrer Protagonisten auf der einen und dort die Vorstellungen und Forderungen der Gemeinde, die ihre Rechtfertigung aus den geltenden Gesetzen bezieht, auf der anderen Seite. Die Folgen der danach heimlich geschlossenen, in der Gemeinde aber nicht lange geheimzuhaltenden »Privatehe«228 des jungen Liebespaares, sind indessen für Va-
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Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 422. Vgl. Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts, in: Großherzögliches Staats- und Regierungsblatt 30 (1832), S. 117–132; in Teil II (Von der Erwerbung des Bürgerrechtes) heißt es unter Paragraph 10 (S. 119): »Zu dem Antritte des angeborenen Bürgerrechtes wird erfordert: 1) die Volljährigkeit; 2) der Besitz eines den Unterhalt einer Familie sichernden Vermögens oder Nahrungszweiges […].« Vgl. die entsprechende Stelle bei Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 424– 25: »Schweigend setzten sie sich zusammen, schweigend saßen sie eine lange, lange Zeit Herz an Herz, bis die Sonne ganz herunter und die Flur verstummt war. Dann sprach Valentin: ›So frage ich Dich denn nun, ob Du von heut an und immerdar, bis der Tod uns scheidet, meine treue Frau sein willst vor Gott im Himmel, recht so, als ob wir vor dem Altar getrau wären?‹ Und Sabine antwortete: ›Ja.‹ Da kniete er vor ihr nieder und
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lentins Arbeits- und Eigentumsbegriff die maßgebliche Grundlage, was sich schon in dem auf die eigene Situation umgemünzten, aus dem späten 14. Jahrhundert überlieferten Spruch und Volkslied aus der Zeit der Bauernaufstände (Als Adam grub und Eva spann, / Wo war denn da der Edelmann) andeutet. Den Heiratsmotiven von Sabine und Valentin stehen der vorurteilsverhaftete Argwohn und die teilweise intriganten Handlungen der Gemeindemitglieder gegenüber, die mit einem beachtlichen, psychologischen Scharfblick für die soziale Dynamik eines gesellschaftlichen Mikrokosmos’, wie es das Dorf darstellt, beschrieben werden: Ein reines Herz freut sich auf seinen Hochzeitstag, wie ein Kind auf den Christbaum, und dieses Brautpaar hatte ein reines Herz. Nicht ein wilder Rausch der Sinne, sondern die innige stille Vorfreude in dem Gedanken, endlich einander ganz anzugehören, wohnte diesen Sonntag in ihren Seelen, und mit süßer Scheu sahen sie den Abend herannahen, der heiß und prächtig über der schönen Sommerflur aufging. […] Verhältnisse, wie dieses, werden auf dem Dorfe sehr schnell bekannt. Was bei Sabine ein ganz freier, ja ein schwerer und starker Entschluß gewesen war, wurde ihr als Schwäche und Leichtsinn angerechnet; man sah darin nichts als eine wohlverdiente Demüthigung ihres Stolzes, und Alles war überzeugt, dass Valentin ihr nicht einmal treu bleiben werde. Um sie recht zu ängstigen, gaben sich jetzt sogar mehrere Mädchen absichtlich und augenfällig Mühe um den jungen Mann, der sie freilich über ablaufen ließ. Es entstand unter den Frauen eine Art stiller Verschwörung, welche sich nicht bloß auf das Paar, sondern auch auf die ganze Familie bezog und dem Marktgeschäft derselben bald erheblichen Schaden that. […] So vereinigte sich Alles zu einem freilich nie ausgesprochenen Plan, den jungen Leuten nirgendwo Vorschub zu thun, um sie möglich zum Wegziehen nach einem anderen Orte zu veranlassen. Valentin und Sabine waren Geächtete – und ein Geächteter kommt auf keinen grünen Zweig.229
Obwohl »seine Arbeitskraft und Sabines Fleiß« jeder kannte und auch »kürzlich mehrere Haushaltungen nach St. Louis ausgewandert waren«230 und daher an Wohnungen kein Mangel herrscht, findet Valentin für sich und seine schwangere ›Ehefrau‹ keine Bleibe, so dass die beiden sich für einige Zeit trennen müssen und Sabine im Hause ihrer Mutter lebt und dort ihr (uneheliches) Kind zur Welt bringt, als dessen Taufpate sich nur der Totengräber gewinnen lässt. Diese lockere motivische Anlehnung an die Herbergssuche aus der Weihnachtsgeschichte steht indessen nicht isoliert in der Erzählung. Schon in der ersten Begegnung zwischen Sabine und Valentin fungieren – allerdings alttestamentarische – biblische Motive
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sprach: ›So will auch ich Dein Mann sein in Noth und Tod, und meine Seele soll verloren gehen, wenn ich Dich jemals verlasse!‹ […] Dann fiel sie neben ihm auf die Knie nieder und gab ihm den Kuß der ewigen Treue, und sie falteten ihre vier Hände in Einen Bund, und aus beider Herzen stieg ein stummes Gebet zu Dem auf, der alle Ehen in der ersten gesegnet hat, die er im Schweigen des Paradieses oder im Rauschen des Urwalds ohne die Formeln eines Priesters schloß.« Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 423, 427 und 428. Ebd., S. 428.
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und Anspielungen als Bildspender für jene Alltagsszene, die dadurch eine fast schon heilsgeschichtliche Dimension gewinnt. Nicht zauberischer in dunkler Schönheit war die Tochter des Medianiters, als sie des großen Moses Herz gewann beim Brunnen in der Wüste, nicht feuriger und herzverlockender Rebekka, als sie auf dem abendlichen Gefild vom Sattel des Kameels herabglitt, um ihren jugendlichen Bräutigam zu begrüßen.231
Als Valentin auch seine Arbeit als Knecht verliert und im Sommer in die Pfalz gehen muss, um beim Eisenbahnbau Geld zu verdienen, gerät er dort in Kontakt mit sozialistischen Ideen. Die Arbeiter in der Pfalz »waren aus aller Welt zusammengeströmt, und viele trugen in ihrem Kopfe über die deutsche Grenze die neue Lehre, welche bestimmt ist, in der nächsten Zukunft die Gestalt unseres alternden Welttheils noch einmal zu verjüngen«.232 Stärker noch als in den zuvor genannten Beispielen bildet hier die Geschichte des Christentums und ihres zentralen, neutestamentarischen Begriffs der »Frohen Botschaft« die historische Folie für ein neues, stark sozialistisch geprägtes Gesellschaftsmodell und einen Eigentums- und Arbeitsbegriff, der zwar aus zahlreichen Quellen schöpft, aber doch im Wesentlichen von einem gerade im Südwesten verbreiteten liberalen, naturrechtsphilosophisch begründeten Recht des Individuums auf Eigentum und dem auch bei Rotteck und Welcker zu findenden Gedanken einer Emanzipation der Arbeit vom Kapital geprägt ist.233 Wie einst in den Katakomben Roms das Christenthum, wie in den tiefen Schachten des Erzgebirges und des Salzkammergutes die neue Lehre Luthers, so verbreiteten in unsern Tagen im Dunkel der werdenden Tunnels unter den Arbeitern sich neue Lehrsätze des jüngsten Weltevangeliums, die klar sind wie das Licht der Sonne, einfach und unumstößlich wie das Zeugnis der Menschenseele vor Gott, und die das schärfste Siegel der Wahrheit darin an sich tragen, dass ihre Anhänger von den ungläubigen und harten Herzen mit demselben dunkeln Haß verfolgt und gekreuzigt werden, wie die Apostel und die Boten der Reformation zu ihrer Zeit. Hier im stillen einsamen Denken und in der leisen
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Ebd., S. 394. Ebd., S. 432. Vgl. zu diesem recht komplexen Thema und den für diesen Zusammenhang maßgeblichen Begriffen Arbeit und Eigentum, Lohnarbeit und Kapital die sehr quellenreiche und präzise Arbeit von Helmut Sedatis: Liberalismus und Handwerk in Südwestdeutschland. Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeptionen des Liberalismus und die Krise des Handwerks im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1979 (Geschichte und Theorie der Politik, Bd. 4), bes. die Einleitung und Kapitel I (Grundelemente sozioökonomischer Theorien des südwestdeutschen Liberalismus im Vormärz), S. 9–61; Sedatis unterscheidet auch historische das ebenfalls naturrechtsphilosophisch abgeleitete Recht des Individuums auf Eigentum bei Hobbes und Locke von der etwa von den Verfassern des Staatslexikons vertretenen Positionen: »Zusammenfassend lässt sich sagen: Im Gegensatz zum ökonomischen Liberalismus klassischer Schule dient dem südwestdeutschen Liberalismus um Rotteck und Welcker der naturrechtsphilosophische Ausgangspunkt nicht zur Legitimation einer sich durchsetzenden kapitalistischen Erwerbsgesellschaft, sondern führt geradewegs zur Konfrontation mit einer sozioökonomischen Realität, die sowohl von feudalen als auch kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen geprägt ist.« (S. 47–48).
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Belehrung seiner Kameraden ging auch Valentin endlich die Klarheit auf. Er begriff, dass aller Reichthum des Volkes allein auf der Arbeit ruht, und dass das Kapital selbst nur das Kind der Arbeit ist, das undankbare Kind, welches seine Mutter in den Hungerthurm sperrt. Er sah ein, dass wer arbeitet, nicht bittweise das Recht zu leben erlangt, sondern dass er von Natur Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein hat – nicht Anspruch auf Federbetten, Champagner und Trüffeln, denn die sind zum Genuß des Lebens nicht nöthig, wohl aber den Anspruch, ein Weib rechtmäßig zu besitzen, satt an einem eigenen Herd auszuruhen und Kinder ohne Schamgefühl und Seelenqual an sein Herz zu drücken. Er sah es an seinem Beispiel, dass eine Weltordnung, wie die gegenwärtige, eben weil sie auf das Eigenthum einen falschen Werth legt, das Recht des Eigenthums der großen Mehrheit der Lebendigen grausam entreißt; dass also ein neuer Begriff des Eigenthums in den Geistern der Menschen lebendig werden müsse.234
Für diese Art der ›Sakralisierung‹ jener neuer Ideen durch eine Rhetorik, die auf eine politischen Instrumentalisierung und Umdeutung christlicher Geschichte zielt, lassen sich in der Vormärzzeit zahlreiche Vergleichsbeispiele finden. In Valentins Anschauungen verdichtet sich indessen auch der vor allem von den liberalen Zeitgenossen erkannte Konflikt zwischen dem »gesellschaftspolitischen Postulat einer freien und gleichen Bürgergesellschaft« und der »Notwendigkeit einer kapitalistischen Industrie«,235 womit sich Kinkel neben seiner Erzählung auch in seiner Schrift Handwerk errette Dich! auseinandersetzt. Denn trotz seines neu gewonnenen Eigentums- und Arbeitsbegriffes arbeitet Valentin nicht nur weiter für den Bau der Eisenbahn, die als einer der wichtigsten Faktoren für die Entwicklung der sogenannten industriellen Revolution und der damit einhergehenden Arbeitsverhältnisse gesehen werden kann, sondern ist von ihr sogar derart begeistert, dass sich ihrem Anblick »seine Brust hebt« und er sich »gezwungen« sieht, »groß von dem gegenwärtigen Geschlecht zu denken«.236 Der Bau der Eisenbahnstrecke seit 1845 in mehreren Teilstücken zwischen Homburg und Ludwigshafen, das im 19. Jahrhundert noch Rheinschanze hieß, war nicht nur das wichtigste Transportmittel, um saarländische Kohle an den Rhein zu bringen, sondern auch Hauptmotor für große Investitionsschübe. Der durch diese Investitionsschübe ausgelöste industrielle Aufschwung und Fortschritt war für die Zeit vor der Revolution ebenso prägend wie die für die Lebenssituation der unteren Schichten verheerenden Kartoffelfäulen Mitte der 1840er Jahre, die darauffolgenden, durch den harten Winter 1846/47 noch verschlimmerten Hungersnöte und die allgemeine Teuerung. Zusammengenommen stellen sie jene ausgesprochen heterogene Gemengelage von Motiven für die sozialen Proteste vor allem im Südwesten und letztlich auch für die Revolution selbst dar.237
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Ebd., S. 432–33. Zusammenfassend vgl. Sedatis, Liberalismus und Handwerk, 1979, Zitate S. 50. Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 431. In der historischen Forschung wird die Diskussion um Voraussetzungen, Motive, Auslöser und Gründe für den Verlauf und das Scheitern der Revolution von 1848/49 – auch im europäischen Horizont – äußerst differenziert geführt. Den breitesten Überblick der
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Bei Valentins Rückkehr nach Baden im Spätherbst 1847 »sah er sich ärmer als je, denn das schreckliche Notjahr hatte die Familie ganz heruntergebracht« und er gerät dadurch immer stärker in den Umkreis der gerade im Odenwald und Baden auch von unteren Schichten getragenen Protestbewegungen, für deren zeitgenössische Darstellungen und Kommentare oftmals ein bewusst an die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts gemahnendes Vokabular gewählt wurde, auf die Kinkel ja indirekt im Zusammenhang mit dem neuen »Weltevangelium« auch anspielt.238 Die Parallelisierung von zeitgeschichtlichen Ereignissen und der persönlichen Lebens- und Arbeitssituation von Valentin und Sabine verweist einerseits auf die Intention, die Zustände in einer »armen Hütte« während der 1840er Jahre zu zeigen. Andererseits aber lässt sich an solchen Stellen, wie der Geburt des zweiten Kindes kurz vor der Februarrevolution in Paris 1848, die Erzählstruktur des Textes exemplarisch nachvollziehen, die wiederum zurückweist auf Kinkels eigene demokratisch-republikanische Positionen mit sozialistischer Färbung in der Zeit vor und während der Revolution. Im Februar [1848, B.W.] stand Valentin am Wochenbett seiner Frau, die ihm sein zweites Kind, diesmal ein lustig in die Welt hineinschauendes Töchterchen, auf den Arm reichte. In diesem Augenblick schlug im Westen der prächtige Blitz der Pariser Revolution auf, und Valentin vergoß heftige Freudenthränen über die Stirn seines Kindes, das nun schon Bürgerin einer neuen Weltordnung werden sollte.« Das war der erste Schlag,« sagte er zu seiner Schwiegermutter, »die andern folgen!«239
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Geschehnisse mit der älteren Forschung bietet der über tausend Seiten starke Sammelband von Dieter Dowe (Hg.): Europa 1848. Revolution und Reform. Bonn 1998 (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 48); zu den (ökonomisch bedingten) sozialen Protesten und deren Bedingungen vgl. zusammenfassend Hans Fenske: Politischer und sozialer Protest in Süddeutschland nach 1830, in: Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815–1848/49. Hg. von Helmut Reinalter. Frankfurt a. M. 1986 (surhkamp taschenbuch wissenschaft, 629), S. 143–201; speziell für Baden vgl. Rainer Wirtz: »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale«. Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden 1815–1848. Frankfurt a. M. 1981 (Ullstein-Buch, 35119; Ullstein-Materialien). Vgl. schon zitierte Stelle bei Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 432; in der historischen Forschung wurde der Anteil der unteren Schichten an diesen Protesten gerade in ländlich geprägten Gebieten wie dem Odenwald lange Zeit gering eingeschätzt, was die neuere Forschung korrigiert hat, vgl. hierzu Manfred Gailus: Zur Politisierung der Landbevölkerung in der Märzbewegung von 1848, in: Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozeß. Hg. von Peter Steinbach. Stuttgart 1982 (Geschichte und Theorie der Politik. Abhandlungen aus dem Institut für Grundlagen der Politik des Fachbereichs Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin, Unterreihe A: Geschichte, Bd. 5), S. 88–113; speziell zur Lage im Odenwald vgl. Rainer Wirtz: Die Begriffsverwirrung der Bauern im Odenwald 1848. Odenwälder »Excesse« und die Sinsheimer »republikanische Schilderhebung«, in: Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Detlev Puls. Frankfurt a. M. 1979 (edition suhrkamp 948), S. 81–104. Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 434–35.
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Bezeichnend für die Erzählstruktur ist der Wechsel von Figurenzeichnung / Figurenrede und Erzählerkommentaren, als deren Auslöser freilich immer solche Ereignisse in der fiktionalen Geschichte fungieren und die in ihrer Darstellungsweise einen gewissen essayistischen Charakter aufweisen. Unmittelbar im Anschluss an den eben zitierten Absatz heißt es: Und sie folgten, rascher als der kühnste Seher zeit fand, sie zu weissagen. In Mailand, Wien, Ungarn zündeten die Schläge, am spätesten, aber am unwiderstehlichen Berlin. Das politische Spatzengezänke über eine Verfassung war schleunig beseitigt, und mit dem furchtbaren, kalt lächelnden Räthselgesicht einer Sphinx trat hinter allen constituierenden Versammlungen die Frage der Arbeit und des Brotes hervor. Die Einheit Deutschlands! das war das Zauberwort, welches den Bundestag niederwarf und das Frankfurter Parlament schuf. Nicht der schwärmende Burschenschäftler allein, nicht der Preußischgesinnte, der auf eine Kaiserkrone spekulierte, oder der Bürger kleiner Staaten, der endlich einmal im Strome eines großen Volksthums mitschwimmen wollte – nicht sie allein schwuren, das Frankfurter Einheitswerk mit Gut und Blut zu schirmen, sondern auch die vier Fünftel der Bevölkerung thaten es, die von der Arbeit ihrer Faust leben müssen. Denn die Arbeiter sahen, dass, wenn Deutschland mächtig werde, wie England; einig, wie Frankreich, es seine Waaren selbst auf dem Weltmarkt schützen und also doppelt verwerthen könne. Für uns war die Einheitsfrage der Anfang zur Lösung der Arbeitsfrage.240
In dieser äußerst klarsichtigen Analyse der mit dem Revolutionsverlauf verbundenen Fragen lassen sich deutliche Bezüge zu den von Kinkel auch in seinem kurz zuvor für den im Mai 1848 gegründeten Demokratischen Verein publizierten Wahlprogramm, seinen Beiträgen für die Zeitschrift Spartacus und Handwerk errette Dich! formulierten Überzeugungen und programmatischen Äußerungen erkennen, in denen Kinkel ebenso auf seine früheren konstitutionellen Ansichten, vor allem aber auf die drängendere »soziale Frage« eingeht.241 Der aus den Erzählerkommentaren ableitbare und mit der Figur Valentin verbundene Arbeits-, Eigentums- und Klassenbegriff darf allerdings nicht mit den von Marx propagierten Gesellschaftsmodell verwechselt werden, wenngleich Kinkel freilich die Schriften von Marx kannte. In der Erzählung dominiert ja nicht ein klassenkämpferischer Elends-Rigorismus, sondern vielmehr die Darstellung von Beweggründen für bestimmte Handlungen und die Frage, wie die Lebensbedingungen vor allem der unteren Schichten verbessert werden können. Die Versöhnung der Stände, nicht die Aufhebung von Gesellschaftsklassen bildet den Kern des letzten Abschnittes der Erzählung.242
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Ebd., S. 435. Kinkels Wahlprogramm ist abgedruckt bei Kersken, Universität und Stadt Bonn, 1931, S. 49–51; leider fehlt hier das an die Wahlberechtigten des Kreises und der Stadt Bonn gerichtete Vorwort, das zusammen mit dem Programm abgedruckt ist bei Strodtmann, Gottfried Kinkel II, 1851, S. 71–77; zu Kinkels Beiträgen im Spartacus vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 283. Vgl. hierzu Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 283f; Kersken, Stadt und Universität Bonn, 1931, S. 97–99.
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Wenn Valentin am Ende der Erzählung aus politischen Gründen das Land verlassen muss und nach Amerika auswandert ist das im Hinblick auf die Aussageabsicht des Textes besonders interessant. Denn da Valentin als ein fähiger Mann dargestellt wird, der die Ernährung seiner Familie durchaus sicherstellen kann, ja sogar durch seine Arbeit am Bau der Eisenbahn auch nicht wenig zum Gemeinwohl beiträgt und anfangs lediglich wegen einer verhinderten Ehe im Konflikt mit dem Gesetz steht, wird die von Kinkel implizit formulierte Kritik an den zeitgenössischen staatlichen, sozialen und gesetzlichen Zuständen um so deutlicher und die Zwangsauswanderung Valentins erscheint völlig unangemessen. Mit dem zum Revolutionär aus verhinderter Ehe gewordenen Valentin bleibt die gesamte Erzählung hindurch die Frage verbunden, wie man gerade in Krisenzeiten moralisch handeln kann, was freilich in der existentiellen Szene der Begegnung mit dem feindlichen Mecklenburger nach dem Gefecht bei Käferthal am 15. Juni 1848 noch einmal eine Steigerung erfährt. 2.3.6 »Auf ’s Wohl des vierten Standes«. Utopische Versöhnungsvision der Stände Valentins Teilnahme an verschiedenen Gefechten revolutionärer Korps mit Truppen der preußischen, hessischen oder mecklenburgischen Verbände ist stark autobiographisch gefärbt. Zwar war Kinkel nicht an dem Gefecht bei Käferthal am 15. Juni 1848 unter der Führung des ehemaligen polnischen Offiziers Mieroslawski beteiligt, sondern trat erst am 18. Juni 1849 als Feldjäger in die badischen Kompanie August von Willichs ein. Doch nimmt auch Valentin an einem der letzten Kampfhandlungen in Baden an der Murg, in der Nähe von Rastatt, teil, allerdings ohne, wie Kinkel, verwundet und gefangen genommen zu werden.243 Vor dem Horizont von Kinkels bei der Abfassung der Erzählung im Zuchthaus nicht lange zurückliegenden, eigenen Erlebnissen während der Revolution, scheint die Konfrontation Valentins mit einem feindlichen Soldaten, der ihm hilflos ausgeliefert ist, als Ausgangspunkt für eine utopische Versöhnungsvision der Stände zunächst recht ungewöhnlich. Doch gerade durch sein humanes, auf einer gesicherten moralischen Grundlage ruhendes Verhalten gegenüber dem Mecklenburger wird noch einmal unterstrichen, dass Valentin eine Figur ist, die es nicht nur verdient hat, glücklich zu sein, sondern die selbst noch in äußerster Not ihren ethischen Grundsätzen der Mitmenschlichkeit treu bleibt. Noch kurz zuvor wird Valentins Wandlung im Zusammenhang mit seinen neu gewonnen politischen Ideen und
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Vgl. die Stelle bei Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 454: »Und als nun auch Willichs Corps, das letzte, den Rückzug über Bretten machen mußte, da nahm Valentin von den Seinigen einen verzweifelten Abschied, zog sich mit den letzten Flüchtlingen an der württembergischen Grenze hin und nahm noch an dem Schießen bei Durlach Theil. Dann, von dem Gefühl geleitet, dass ein Mann auch eine sinkende Sache nicht verlassen dürfe, trat er in die Linie wieder ein und stand eben jetzt an der Murg, wo die badischen Truppen, auf Rastatt gestützt, die letzte feste Stellung nahmen.«
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Aktivitäten konstatiert: »Er selbst war ein Anderer geworden, man hätte ihn kaum wieder gekannt.«244 Demgegenüber besitzt jedoch die Szene der Begegnung mit dem bewusstlos, am Boden liegenden Mecklenburger, der die Taschen voller Geld hat, mitnichten einen agitatorischen oder gar klassenkämpferischen Charakter. Im Gegenteil. Zwar zögert Valentin einen Moment, ob er sich des Eigentums jenes zunächst tot geglaubten Soldaten bemächtigen und ihm den Todesschuss geben soll. Doch überwältigt ihn sein Mitleid, das im ursprünglichen, letztlich als Erbe aufklärerischer Moralvorstellungen als »Mit-leiden« zu verstehen ist, indem er sich und seine Familie gedanklich in dieselbe Situation versetzt: In diesem Augenblick schoß am Westhimmel ein Stern, und Valentin, unwillkürlich aufblickend, zitterte in sich zusammen, denn es war ihm, als erblicke er drei Schritte vor sich m Rande des Kornfeldes Sabinen auf den Knieen liegend, die Hände zum Gebet erhoben. Es war wohl ein Spiel seiner durch die Nachtwanderung geweckten Einbildung; aber jetzt erst zuckte der Gedanke durchs eine Seele, wie sein Weib in dieser Nacht bangen müsse um ihn, da sein Dorf von dieser Stelle nicht fern lag, und die Nachricht von dem Gefecht schon am Abend dort sein mußte. Wie der Blitz schoß hinter diesem Gedanken der zweite auf: »Wenn Du so dalägest, was würde Sabine darum geben, noch vor den tödtenden Kugeln des Feindes zu Dir zu kommen und Deine letzten Odemzüge zu erhaschen!« Und auf breiten Schwingen stürmte sein Geist nach der Ostsee, in die Heimat seines Opfers – ein Vater, eine Mutter – eine Braut – ein Weib vielleicht und ein verwaistes Kind! – Und dann kehrte er zu sich zurück, und wie ein Dolchstich fuhr der Vorwurf durch seine Brust: »Wolltest Du vielleicht auch den Mann bloß darum tödten, um seines Erbes und Deines Lebensglückes ganz sicher zu sein?« So schnell wie der fallende Stern seinen Lauf vollendete, ebenso schnellt lief Valentins Geist alle diese Gedanken durch. Vielleicht hätte in ihm der dunkle Geist des Eigennutzes den Kampf gegen den lichten Engel des Rechtes noch einmal gewagt – aber die Eine Sekunde des Zögerns hatte schon über Leben und Tod des Feindes das Loos geworfen: der Sterbende öffnete die Augen, verdrehte sie qualvoll und stiel aus den blassen Lippen mühsam und kaum verständlich die Worte: »Wasser, Wasser!« hervor. Dem Auflebenden gegenüber war Valentin augenblicklich wieder ganz Mensch.245
Valentin tritt hier als moralisch handelnder Mensch auf und steht auch stellvertretend für den Idealtypus seiner Klasse, so wie auch der Mecklenburger und seine an das Krankenlager eilende Mutter jene Adelsschicht verkörpern, die noch immer von den Privilegien eines grundherrschaftlichen Feudalismus profitieren. Denn nicht zufällig hat Kinkel hier für die Personenkonstellation in diesem Teil der Erzählung Vertreter völlig gegensätzlicher Gesellschaftsschichten gewählt. Hier der letztlich dem Landproletariat angehörende, in wilder Ehe lebende und als Revolutionär engagierte Valentin, dort nicht nur der feindliche Soldat in den Diensten der Restauration, sondern ausgerechnet auch noch einer aus Mecklenburg, das neben dem noch bis über die Jahrhundertmitte vom Neoabsolutismus geprägten Österreich
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Ebd., S. 436. Ebd., S. 443–444.
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als einer der wenigen Staaten mit seiner altständischen Verfassung noch bis 1918 spätfeudale Strukturen aufwies.246 Im Hinblick auf die Aussagestruktur des Textes ist es besonders interessant, dass Valentins Verhalten und die Bewertung seiner familiären Situation nicht nur durch den Erzählerkommentar, sondern vor allem durch die Figurenrede der beiden Mecklenburger kommentiert und gewürdigt wird, was ganz im Sinne einer utopischen Versöhnung der Stände – da ja auch Valentin zuvor den eigentlichen Feind verschont hat – zu verstehen ist. Als die Mutter des Mecklenburgers nach der Summe fragt, die zu einer Hochzeit von Gesetzes wegen nötig gewesen wäre, nennt Sabine ihr den Betrag von »Hundertfünfzig Gulden«. In der Reaktion der Mutter auf diese Zahl wird die grundsätzliche Verschiedenheit der hier in einer armen Hütte versammelten Personen eklatant: Eine Ahnung von der Selbstverleugnung, die ihrem Sohne das Leben gerettet hatte, ging erst jetzt in den Gedanken der Mutter auf. »Mein Sohn,« sagte sie, »hatte doppelt so viel bei sich, als Valentin ihn fand – und Valentin brachte ihn hierher zur Pflege!« »Was meinen Sie damit?« fragte die junge Frau erstaunt. »Sie denken wohl gar, er hätte Ihren Sohn liegen lassen können, um seines Geldes gewiß zu sein? O Gott, welch ein Unglück ist doch die Armut, dass man ihr sogar zutrauen darf, sie könne schlecht sein und unchristlich handeln!« […] »Hast Du gehört, Arthur?« sagte sie. »Das Lebensglück dieser Menschen hing daran, dass Du starbst, und sie retteten Dein Leben! Hundertfünfzig Gulden – es ist gerade so viel, als wir jährlich bei der großen Jagd auf unserem Gute an dem Madeira verbrauchen, der bloß zum Frühstück genommen wird! Um dieser Summe willen sind zwei Menschen fünf Jahre lang gepeinigt und sittlich erniedrigt worden!«247
In der Antwort des Sohnes auf die Worte seiner Mutter drückt sich nicht nur die Dankbarkeit für die Verschonung seines Lebens aus, sondern wird auf der Ebene der Figurenrede jene zuvor schon vielfach durch die Erzählung vermittelte Anklage gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse nochmals erhoben und einem NichtProletarier in den Mund gelegt, wenn Arthur sagt, »der Druck, der diese zwei
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Seit dem sogenannten Hamburger Vergleich von 1701 bildeten die beiden Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz eine »Landesunion« mit gemeinsamer altständischer Verfassung. Auch die Märzbewegung von 1848 brachte nur für kurze Zeit und lediglich Ansätze einer von den bürgerlichen Grundbesitzern geforderten konstitutionellen Verfassung. Diese wurden aber nach dem Freienwalder Schiedspruch 1850 für nichtig erklärt und die altständische Verfassung wurde wiederhergestellt. Auch die von dem Nationalliberalen Friedrich Büsing in den preußischen Reichstag 1871 eingebrachte Verfassungsfrage änderte an diesem Zustand nichts. Vgl. zur Situation in Mecklenburg zusammenfassend und grundlegend Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. 8 Bde., hier Bd. II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830–1850. Stuttgart 1960, S. 541–544 und Bd. IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. Stuttgart [u.a.] 1969, S. 422–428; ferner Jörg-Detlef Kühne: Revolution und Rechtskultur. Die Bedeutung der Revolutionen von 1848 für die Rechtsentwicklung in Europa, in: Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen. Beiträge des Symposions in der Paulskirche vom 21. bis 23. Juni 1998. München 2000 (Historische Zeitschrift, Beiheft, N.F., Bd. 29), S. 57–72, bes. 65–66. Kinkel, Erzählungen (Die Heimatlosen), 1883, S. 458–59.
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Herzen zerpreßt, lastet in tausendfach verschiedener Gestalt auf ganzen Millionen unseres Volks«.248 Am Ende der Erzählung steht zwar nicht die ungebrochene Emphase eines Schillerschen »Seid umschlungen, Millionen«, sondern die mit Hilfe der Mecklenburger bewältigte Auswanderung der jungen Familie nach Amerika und der dortige Neuanfang. Doch ist die Abschiedsszene zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Gruppen im August 1849 in Le Havre für den Leser ein weniger harmonisierender, als vielmehr versöhnlicher und für die Zukunft Zuversicht gebietender Ausblick, der im Toast der Mecklenburgerin auf Valentin auch den Endpunkt jener utopischen Versöhnungsvision der Stände markiert, auf die dieser letzte Teil der Erzählung ausgerichtet ist: »Valentin, ich grüße in Ihnen den Vertreter der neuen Zeit! Auf ’s Wohl des vierten Standes!«249
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Ebd., S. 459. Ebd., S. 466.
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III
Politisches Engagement und poetische Formenvielfalt in der Lyrik
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»…dass jede Dichtung nach geweiheter Form verlangt«. Überblick zu Kinkels Gedichtausgaben und -sammlungen
Die erste Buchausgabe von Kinkels Gedichten erschien 1843 bei Cotta in Stuttgart und Tübingen.1 Sie umfasst neben seinem später auch separat gedruckten, mit über 80 Auflagen bis 1915 immens erfolgreichen Versepos Otto der Schütz rund 70 Gedichte.2 Die meisten davon stehen in engem Zusammenhang mit dem MaikäferVerein, den Kinkel im Juni 1840 mit seiner späteren Frau Johanna gründete und in dessen Zeitschrift viele der in der Buchausgabe publizierten Gedichte zuerst abgedruckt wurden. Der bereits in Teil I dieser Arbeit vorgestellte Verein stellt in den meisten Fällen den ursprünglichen Produktions- und Rezeptionsrahmen dar. Hingegen sind der aus neun Gedichten bestehende Zyklus Die Weine und die Ballade über die frühchristliche Märtyrerin Dorothea im Rahmen von Kinkels Mitgliedschaft im Bonner Privatdozentenverein entstanden, nach ihrem spezifischen Entstehungskontext aber zunächst einmal auch als »Vereinslyrik« zu verstehen.3 Nur wenige Gedichte der Ausgabe von 1843 stammen noch aus der Zeit vor der Maikäfer-Gründung. Bei ihnen handelt es sich ausnahmslos um solche, die während oder unmittelbar nach Kinkels Italienreise (1837/38) entstanden sind wie 1 2
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Vgl. Gottfried Kinkel: Gedichte. Stuttgart, Tübingen 1843; hierfür im Folgenden die Abkürzung »G I« mit Seitenzahl hinter dem Titel der Gedichte. Die erste Auflage des Versepos erschien zuerst 1846 bei Cotta in Stuttgart und Tübingen; unter demselben Titel auch bei Reclam 1890, 1913 und 1920 erschienen, vgl.: Gottfried Kinkel: Otto der Schütz. Eine rheinische Geschichte in 12 Abenteuern. Hg. mit einer Einleitung v. Max Mendheim. Leipzig o.J. [1920] (Reclams Universal-Bibliothek, 5494). Die bis heute in Teilen der Forschung zu beobachtende Abwertung von Lyrik, die auf bestimmte gesellschaftliche Funktionen zugeschnitten ist und damit sowohl der Autonomieästhetik der Klassiker als auch dem Universalpoesie-Konzept der Romantiker gegenübersteht, hat zuletzt und zurecht Gerhard Lauer in Frage gestellt. Lauer liest auch den Moderne-Begriff gegen den Strich und weist überzeugend nach, dass die auf den geselligen und gemeinsamen ›Vollzug‹ ausgerichtete Lyrik etwa in Literaturvereinen nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer »eigenen Typisierung der gattungsgesteuerten Kommunikation« (S. 188) insofern ›modern‹ ist, als sie eine zentrale Rolle für die sich herausbildende, moderne bürgerliche Gesellschaft und Öffentlichkeit einnimmt, vgl. hierzu Gerhard Lauer: Lyrik im Verein. Zur Mediengeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts als Massenkunst, in: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus, Stefan Scherer, Claudia Stockinger. Bern [u.a.] 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N.F., Bd. 11), S. 183–203.
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Im Vaterlande (G I, S. 71–74), Aus dem Süden (G I, S. 95–108: sieben Gedichte), Gebet (G I, S. 141–142), Roma’s Erwachen (G I, S. 143–149), Triumphbogen des Marius (G I, S. 40–41), Margaretha (G I, S. 14–15) und Petrus (G I, S. 20–24). Sieben Gedichte aus der Sammlung von 1843 tauchen bereits in einer dem Jugendfreund Kinkels, Otto Mengelberg, gewidmeten, handschriftlichen Ausgabe früher Gedichte von 1839 auf. Die Abschrift und Publikation – sofern sie nicht in den späteren öffentlichen Ausgaben aufgenommen wurden – der insgesamt 51 Gedichte hat Carl Enders besorgt.4 Diese Gedichte zeugen nicht nur und anders als bisweilen behauptet von den frühen Zweifeln des jungen Kinkel an der Bedeutung der Religion (Schmerzlicher Trost),5 sondern verweisen auch auf die bereits in Teil I (Kapitel 2.2) dieser Arbeit beschriebene gleichzeitige Hinwendung zur Kunst (Im Kreise der Düsseldorfer Maler, gesprochen bei Josef Fays Ehrentag 1836)6 und Kinkels Verbindung zur modernen Düsseldorfer Malerschule. Die Einteilung der Gedichte in die Rubriken Lyrisches, Geistliche Gedichte, Sprüche und Distichen, Romanzen und Legenden lässt einerseits eine bewusste Anlehnung Kinkels an die – im Detail freilich recht unterschiedlichen – Kategorisierungen der Lyriktheorien um die Mitte des 19. Jahrhunderts erkennen.7 Andererseits präsentiert diese handschriftliche Sammlung auch eine Fülle unterschiedlicher Strophenformen und lyrischer Gattungen, die jene bei Kinkel schon früh erkennbare und intensive Auseinandersetzung mit
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Der Empfänger des Exemplars, Otto Mengelberg (1817–1890), stammte aus einer angesehenen Kölner Familie, die als eifrige Kunstsammler bekannt war. Über ihn lernte Kinkel auch den Maler Josef Fay (1813–1875) kennen, der ein Studiengenosse von Mengelberg war, Vgl. hierzu Enders, Gottfried Kinkel, 1913, S. 12–13 und 21–23, die Gedichte nach der Abschrift des handschriftlichen Exemplars S. 37–90; folgende Gedichte wurden auch in die Ausgabe von 1843 aufgenommen, in Klammern jeweils die Nummer bei Enders und ggf. der dort verzeichnete Originaltitel: Im Vaterland (Nr. 9, Auf dem Wolsberg bei Siegburg), Gruß aus dem Süden (Nr. 14, Gruß dem Süden bei Avignon im Herbst 1837), Nacht in Rom (Nr. 16, Römische Nächte), Romas Erwachen (Nr. 18), Gebet (Nr. 26), Sonntagsstille (Nr. 27, Sabbathstille), Dorothea (Nr. 50). Abgedruckt bei Enders, Gottfried Kinkel, 1913, S. 39–40, hier bes. die fünfte Strophe: »O Herz, du hast genossen / Des Glaubens Seligkeit: / Nun sei auch unverdrossen, / Wenn dir ein Zweifel dräut!« Ebd., S. 44–45, bes. Strophe 1 und 5: »Ich nenn’ ein Nichts das arme Leben, / Das an die Erde bindet einen Geist, / Wär’ ihm nicht von der ewigen Huld gegeben / Ein Schwesternpaar, das ihn nach oben weist, / Das ohne Ablaß stets zu neuem Streben / Die wegemüde Seele mit sich reißt, / Das Kräfte bietet zu dem schweren Ringen, / In dem sich kämpfend Mensch und Welt umschlingen.« Und in der fünften Strophe: »Und wie nun beide Schwestern sich umfangen, / Die Kunst und Wissenschaft in treuem Bund: / So, deucht mir, müßten das auch die erlangen, / Die beider Jünger sind, mit Herz und Mund / Geliebt und liebend aneinander hangen, / Und täten so der kalten Welt es kund: / Dass sie auch, wie sie sind Geschwistersöhne, / Ein Band umschlingt der Farben, Lieder, Töne.« Zu den verschiedenen »Unterabteilungen« der Lyrik in den Lyriktheorien etwa von Philipp Mayer (Theorie der deutschen Dichtungsarten, 1824), Rudolf Gottschall (Poetik, 3. Al. 1873), Maximilian Wilhelm Götzinger (Einleitung zur Anthologie Deutsche Dichter, 1831/32) oder Wilhelm Hebenstreit (Wissenschaftlich-literarische Enzyklopädie der Aesthetik, 1843) vgl. zusammenfassend Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 477–480.
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lyrischen Formen widerspiegelt, worauf auch zahlreiche Stellen in den zeitgleichen Jugendbriefen hindeuten. Der »neuen Poesie« – womit Kinkel zweifellos die Jungdeutschen meint – macht er zum Vorwurf, »dass sie maß- und haltlos ist, nicht von einem Sinne ausgeht«.8 Und in einem weiteren Brief vom 1. Juli 1836 an den Berliner Jugendfreund und Maler Ferdinand Weiß berichtet er im Zusammenhang mit einer neuen Liebesgeschichte von dem Bedürfnis, seinen Gedanken und Gefühlen in Form von Gedichten Ausdruck zu verleihen und schickt dem Freund ein an die Geliebte gerichtetes Sonett mit: »Ich muß dichten und fühl’ es lebendig in diesem augenblick, dass jede Dichtung nach geweiheter Form verlangt.«9 Bei der Buchausgabe der Gedichte von 1843 sind nach einem langen Widmungsgedicht An Johanna und dem für die gesamte Sammlung programmatischen Auftakt Zum Eingang die Gedichte in drei Rubriken zusammengefasst, die mit Oden und Verwandtes (13 Gedichte), Bilder aus Welt und Vorzeit (14) sowie Des Dichters Leben und Betrachtung in deutschen Weisen (30) überschrieben sind. Formal verweisen die Gedichte zusammengenommen auf das breite Spektrum lyrischer Gattungen, die in der Vormärzzeit den Autoren zur Verfügung stand und auf die bewusst auch in zahlreichen anderen (autorisierten) Sammlungen der Restaurationsepoche zurückgegriffen wurde.10 Ebenso vielfältig sind die in der Sammlung vertretenen Themen und Genres: Neben Gedichten, die im Horizont biedermeierlicher oder spätromantischer Naturund Liebeslyrik (Das Rosenpaar, Die geweihete Stelle, Trost der Nacht) einzuordnen sind, finden sich auch Beispiele für selbst-reflexive Gedankenlyrik (Werth der Stunde, Triumph des Dichters), gesellige Lyrik (Die Weine), geistliche Dichtung (Abendmahl der Schöpfung, Menschlichkeit, Sonntagsstille), politische und vaterländische Lyrik (Zum Eingang, Mit Bürgers Gedichten), Zeitgedichte (Mythos, Am Huldigungstage) und besonders auch historische Gedichte (Dietrich von Berne, Romas Erwachen),11 aus denen sich mithin auch Kinkels Anlehnung an und Bewunderung für seine Vorbilder Ludwig Uhland, Friedrich Rückert, Justinus Kerner, Emanuel Geibel oder Adalbert von Chamisso ableiten lassen.12 Die zweite Auflage der Gedichte erschien im Herbst 1850 ebenfalls bei Cotta in Stuttgart und Tübingen und wurde während Kinkels Gefangenschaft von Johanna
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Ennen, Unveröffentlichte Jugendbriefe, 1955, S. 78 (Brief vom 23. Mai 1836). Ebd., S. 83. Zum Reichtum der lyrischen Formenwelt gerade in der Restaurationsepoche vgl. Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 467–477 und 549–552. Zur Orientierung über und als Grundlegung zu den verschiedenen Untergattungen von Lyrik ist die schon etwas ältere Einführung brauchbar von Bernhard Asmuth: Aspekte der Lyrik. Mit einer Einführung in die Verslehre. 7., ergänzte Auflage. Opladen 1984 (Grundstudium Literaturwissenschaft. Hochdidaktische Arbeiten, Bd. 6). Neben den schon in Teil I zitierten Stellen aus der Selbstbiographie s. hierzu auch die entsprechenden Äußerungen in den Jugendbriefen, vgl. Ennen, Unveröffentlichte Jugendbrief, 1955, S. 44 und die Briefstellen S. 64–65 (Brief vom Februar / März 1836) u. S. 90–92 (Brief vom 19.11.1836)
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zusammengestellt und herausgegeben.13 Sie weist erhebliche Veränderungen und eine quantitative Erweiterung der abgedruckten Gedichte um mehr als das doppelte gegenüber der ersten Ausgabe auf. So wurde zum einen das zu dieser Zeit bereits als Separatdruck in der vierten Auflage erschienene und dadurch wohl lukrativere Versepos Otto der Schütz aus der Sammlung genommen und statt dessen die zwei kleineren, gleichwohl noch aus den späten 1840er Jahren stammenden Verserzählungen Ein Schicksal (G II, S. 455–466) und – als »Bruchstücke« – Der Grobschmied von Antwerpen (G II, S. 467–517) aufgenommen. Die knapp 200 Kleinigkeiten (Inschriften, Sinnviolen, Sprüche) stammen zum größten Teil aus dem schon oben erwähnten ersten handschriftlichen Gedichtbuch Kinkels von 1839.14 Als neue Rubriken erschienen auch die nach der Italienreise bzw. Anfang der 1840er Jahre entstandenen Zyklen aus zehn Elegien im Norden (G II, S. 135–171) und Zehn Sonette an Johanna (G II, S. 210–219) sowie die ebenfalls mit zehn Gedichten versehene Kategorie Im Vaterland, die politische (Ein März am Rhein, Die sieben Berge) und soziale (Die Auswanderer des Ahrthals) Gedichte der 1840er Jahre vereint. Die übrigen, aus der Ausgabe von 1843 schon bekannten Einheiten erfuhren ebenfalls eine Bereicherung, mit 51 neuen Gedichten am stärksten Des Dichters Leben und Betrachtung in deutschen Weisen. Hier finden sich auch die jüngsten und von Kinkels politisch radikaler und kämpferischer Natur kurz vor und während der Revolution zeugenden Gedichte (Männerlied, Die Todesstrafe, Deutschlands Weh, Vor den achtzehn Gewehrmäulern). Der interessante Kommentar zu dieser Auswahl und Gestalt der Ausgabe im Vorwort von Johanna Kinkel stellt weniger eine Erklärung für die Aufnahme etwa der Jugendgedichte oder aktueller Lyrik ihres Mannes dar als vielmehr den Versuch, mit dieser Publikation auch die Erinnerung an das Schicksal Kinkels aufrechtzuerhalten, dessen Verdienste um das Vaterland in seinem lyrischen Werk zum Ausdruck kommen: Das Schicksal Gottfried Kinkels ist in seiner ganzen Härte nur einigen Wenigen im deutschen Vaterlande bekannt, und diesen Wenigen legt eine wohl begreifliche Rücksicht Stillschweigen auf. Nur das Eine muß hier erwähnt werden, dass dem Gefangenen selbst die Erlaubniß versagt blieb, auch nur die Druckbogen dieser zweiten Ausgabe seiner »Gedichte« einer Durchsicht zu unterziehen. Dieser Umstand wird hinreichen, um jede Verantwortlichkeit sowohl in Bezug auf Auswahl und Anordnung, wie hinsichtlich der von ihm selbst bei dieser neuen Ausgabe beabsichtigten Veränderungen im Einzelnen, von dem schwer belasteten Manne abzuwenden. Dass in dieser Ausgabe auch Fragmente aufgenommen sind, erklärt und entschuldigt sich aus demselben Umstande. Jedes dieser Fragmente hebt, einem unmündigen Kinde gleich, ein paar bittende Hände zu der öffent-
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Vgl. Gottfried Kinkel: Gedichte. 2., vermehrte Auflage. Stuttgart, Tübingen 1850; für diese Ausgabe im Folgenden hinter den Gedichttiteln im laufenden Text in Klammer die Abkürzung »G II« mit Seitenzahl. Eine genaue Auflistung bietet Max Pahncke: Neuere Literatur über Gottfried Kinkel, in: Euphorion 24 (1922), S. 720–727, hier S. 721.
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lichen Stimme empor, und ruft: »Hilf mir, dass mein Vater und Erzieher frei werde!« Das deutsche Volk, dessen edelste Güter Gottfried Kinkel erringen zu helfen glaubte, möge des lebendig Begrabenen nicht vergessen. Denn dies Gedenken ist der einzige Lohn, den es einem seiner opfermuthigsten Söhne zu zollen vermag!15
Jene von Kinkels Haft zeugenden, zunächst Fragment gebliebenen Gedichte (Aus dem Kerker, Deutschlands Weh) wurden in dieser Form auch für die weiteren, nur geringe Änderungen zeigenden Auflagen von 1851 (3. Auflage; G III), 1852 (4. Auflage; G IV) und 1857 (5. und 6. Auflage; G V und G VI) übernommen.16 Erst im Jahr 1868, als Kinkel bereits zwei Jahre Professor in Zürich war, publizierte er eine Sammlung bis dahin weitgehend ungedruckter Gedichte, deren erster Teil, Revolution und Exil, neben älteren Gedichten (Des Unterthanen Glaubensbekenntnis, 1844) auch politische Gedichte noch aus der Zeit kurz nach der Revolution enthält, die Kinkels bedingungslosen Glauben an die Ziele der Bewegung (Der letzte deutsch Glaubensartikel) und seine Verbundenheit mit dem Vaterland auch im Exil (Abschied von Deutschland, An mein Vaterland) dokumentieren.17 Zudem findet sich hier eine vollendete Fassung des Gedichtes Die Klassiker (G 2, S. 26–28) und der Verserzählung Der Grobschmied von Antwerpen (G 2, S. 283–376). Ansonsten umfasst die Sammlung noch Fünfzig Sprüche aus den Jahren 1840–1868 und Ein Strauß aus dem Jugendgarten mit Lyrik teils aus dem handschriftlichen Exemplar von 1839, teils mit bis dahin ungedruckten Gedichten (Mit Bürger’s Gedichten). In den folgenden exemplarischen Interpretationen zentraler Gedichte aus diesen verschiedenen Auflagen werden für die Datierungen – je nach Situation – die Nennungen bei Strodtmann18 und de Jonge,19 die Angaben in den jeweiligen Sammlungen sowie in der Maikäfer-Zeitschrift20 und nicht zuletzt die Briefe21 maßgeblich sein. Die Analysen der Gedichte orientieren sich methodisch an neueren Bewertungen der Lyrik des 19. Jahrhunderts,22 die vor allem die Entstehungs- und Funktionskontexte, historische Bedingtheit und formale Anspielungshorizonte be-
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Kinkel, Gedichte, 1850 (Vorwort von Johanna Kinkel), S. IV–V. Alle erschienen bei Cotta in Stuttgart und Tübingen, die 5. und 6. Auflage Cotta, Stuttgart und Augsburg. Vgl. Gottfried Kinkel: Gedichte. Zweite Sammlung. Stuttgart 1868; im folgenden diese Ausgabe nach dem Gedichttitel in Klammer abgekürzt mit »G 2« und Seitenzahl; die 7., bei Cotta in Stuttgart 1872 erschienene Auflage nach der 6. Auflage (Stuttgart, Augsburg 1857) erhielt aufgrund der zweiten Sammlung 1868 zur besseren Differenzierung dann den Zusatz »1. Band«. Vgl. Strodtmann, Gottfried Kinkel I und II, 1850/51. Vgl. De Jonge, Gottfried Kinkel, 1966. Vgl. Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, 4 Bde., 1982–1985. Vgl. Klaus, Liebe treue Johanna, 3 Bde., 2008. Programmatisch die Einleitung zum Sammelband von Steffen Martus, Stefan Schneider, Claudia Stockinger: Einleitung, in: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von denselben. Bern [u.a.] 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N.F., Bd. 11), S. 9–30; auf weitere Beiträge des Bandes wird im Folgenden noch verwiesen.
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rücksichtigen und die Gattung als »literarisches Kommunikationsmedium«23 bei der Konstitution von »Gefühlen, Geselligkeit, Gesellschaft, Geschichte, Natur, Zeit und Werk«24 verstehen. Es wird auch zu sehen sein, dass scheinbar überkommene, ja nicht selten von der bisherigen Forschung als epigonal und inhaltslos abgewertete Gedichtformen und -themen, wie sie sich in Kinkels Werk darbieten, alles andere als ›unmodern‹ sind, weil sie gar nicht ›modern‹ sein, sondern die verwendeten Gattungen auch im Sinne von Wilhelm Voßkamps Definition als »literarisch-soziale Institutionen« verstanden sein wollen.25
2
Deutsche Nation und preußisches Königtum
2.1
Deutschland im Gesang. Frühe nationale Gedichte (Zum Eingang – Bürgerlied – Mit Bürger’s Gedichten)
Als repräsentativ für den bisherigen Umgang der Forschung mit Kinkels Gedichten kann eine Äußerung in Rösch-Sondermanns sonst verdienstvoller Studie gelten: Da das Verhältnis zwischen Form und Inhalt für das Verständnis [der Gedichte, B.W.] meist keine Rolle spielt und statt der fruchtbaren Spannung zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur lediglich eine Sinndimension existiert, fehlt jeder Anlaß zur Analyse und Deutung.26
Dass dem nicht so ist, zeigt das in der Sammlung von 1843 an prominenter Stelle stehende Gedicht Zum Eingang (G I, S. XIII–XIV). Nach der Widmung An Johanna handelt es sich hierbei um die eigentliche Eröffnung des Bandes. Das in sieben Strophen zu je sechs Versen aufgeteilte Gedicht lässt deutliche Anklänge an ältere vaterländisch-patriotische (Lied-)Dichtungen erkennen und verweist von seiner Thematik her auf zeitgenössisches nationales Ideengut.27 Gleichzeitig besitzt
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Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, in: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. von Walter Hinck. Heidelberg 1977 (medium literatur, 4), S. 27–44, hier S. 30. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 465; vermutlich sieht Rösch-Sondermann auch deshalb keinen Zusammenhang zwischen Inhalt und Form, da er bereits den Versfuß falsch angibt und die Verse des Gedichts Zum Eingang als »vierhebig und jambisch« (S. 460) bezeichnet – in Wirklichkeit setzen die Verse mit einem Trochäus ein und zeigen nach der zweiten Hebung jeweils im ersten und zweiten bzw. vierten und fünften Vers sogar doppelte Senkungen, s. hierzu auch noch weiter unten. Die Forschung zum Nationalismus und zur Einheitsbewegung ist umfangreich. Zum Überblick und relevant für das Folgende vgl. immer noch erhellend und präzise im Hinblick auf die Begriffsgeschichte: Theodor Schieder: Partikularismus und Nationalbewußtsein im Denken des deutschen Vormärz, in: Partikularismus und nationales Bewußtsein im Denken des Vormärz, in: Staat und Gesellschaft in Preußen 1815–1848, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848. 7 Beiträge. Hg. von Werner
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es nicht nur in politisch-weltanschaulicher, sondern auch in ästhetischer Hinsicht programmatischen Charakter, auf den schon Rösch-Sondermann verwiesen hat, allerdings ohne darauf einzugehen, worin genau das Programmatische besteht.28 1
5
Auf, ihr trefflichen Liedgenossen! Einen trotzigen Bund geschlossen Gegen Ungunst, gegen Gunst! Höhnt die Welt uns des Liedes Flammen, Frisch und stehen wir fest zusammen, Ringend nach der höchsten Kunst!
Schwörts, ihr kräftigen Kampfgenossen! Stark und donnernd, aus Erz gegossen Wandle des Gesanges Macht! 10 Nicht in säuselnden grauen Nebeln Laßt die Bilder der Ahnen schwebeln, Ruft sie auf in blanker Pracht! Auf, ihr ringenden Kunstgenossen, Werfet hinter euch kühn entschlossen 15 Falschen Vers und halben Reim. Will abirren der lose Finger, Denkt der leuchtenden Minnesinger, Schickt den Quark dem Franken heim! Denkt, ihr sinnenden Herzgenossen, 20 Nur was tiefem Gemüth entsprossen, Ewig ists und trotzt dem Tod. Nicht das Schwächliche bleibt, das Halbe, Nicht das Bläuliche, nicht das Falbe, Nur was frisch und lebensroth. 25 Weg, ihr fröhlichen Sanggenossen, Mit den Klängen verzagt, verdrossen, Allem was euch kleinlich drückt! Nur wenn unter der goldnen Sonne Reifte flammenden Kusses Wonne, 30 Singe Lebenslust entzückt! Fühlt euch Brüder und Landsgenossen, Deutschlands ächte getreue Schoffen, Deutschland leb auch im Gesang. Blickt, mit Fremden euch zu befiedern,
28
Conze. Stuttgart 1962 (Industrielle Welt, 1), S. 9–38; in weiterer historischer Perspektive Wolfgang Hardtwig: Vom Elitebewußtsein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500–1840, in: Ders.: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914. Göttingen 1994 (Sammlung Vandenhoeck), S. 34–54. Vgl. ebd., S. 460.
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35 Nicht nach des Südens und Ostens Liedern: Nordisch bleib und keusch der Klang! Dann, wann immer als Schwertgenossen Krieg uns ruft zu den raschen Rossen, Reiten wir voran dem Heer. 40 Auch Walkyrien sind die Musen: Mitten grad in des Feindes Busen Trifft das Lied und trifft der Sper!
Der Sprecher präsentiert hier in Gedichtform poetologische Vorstellungen von Lyrik, als deren Ideal die Lieddichtung gepriesen wird. Dass es sich hier um ein politisches und ästhetisches Programmgedicht handelt, wird besonders auch im ursprünglichen Titel, Glaubensbekenntnis, deutlich, mit dem das Gedicht bei seiner Erstpublikation im zweiten Jahrgang des Maikäfer (Nr. 4, 26. Januar 1841) versehen war.29 Kinkel bedient sich hier einer der ältesten Formen der sechszeiligen deutschen Schweifreimstrophe, mit dem Reimschema aabccb und männlichen Kadenzen jeweils im dritten und sechsten Vers neben ansonsten weiblichen Versausgängen. Die bei der ›klassischen‹ Schweifreimstrophe aus alternierenden Vierhebern zusammengesetzte Versform wird indessen variiert und zeigt hier jeweils im ersten und zweiten bzw. im vierten und fünften Vers jeder Strophe nach der ersten Hebungs- und Senkungssilbe einen – manchmal etwas ungelenk in den Vers eingefügten – Daktylus. Auf das im Gedicht selbst angesprochene Thema des Gesanges und der gesungen Dichtung verweist also bereits die formale Gestaltung von Zum Eingang. Die Ursprünge der deutschen Schweifreimstrophe liegen im lateinischen Kirchenlied. Doch wurde bereits im 18. Jahrhundert die Strophenform – etwa in dem bekannten Volkslied Prinz Eugen der edle Ritter (1717) – häufig in der weltlichen, dann vor allem patriotischen Lied-Lyrik benutzt, an deren Tradition gerade auch politische Dichter wie Robert Blum (An Germania), Georg Herwegh (Aufruf) oder Ferdinand Freiligrath (Prinz Eugen, der edle Ritter) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anknüpften30 und auf die auch Kinkel zurückgreift, um seiner damals noch konstitutionellen, mit ausgeprägter Vaterlandsliebe und glühendem Patriotismus verbundenen politischen Haltung Ausdruck zu verleihen. Symptomatisch für das ganze Gedicht ist seine appellative Struktur, die sich besonders in der gleichen Gestaltung jeder ersten Strophenzeile manifestiert. Auf das stets – mit Ausnahme der letzten Strophe – im Imperativ gehaltene erste Wort folgt immer die Apostrophe eines Kollektivs (»ihr«, »euch«), dem sich das Sprecher-Ich gleichwohl auch zurechnet, was an zwei Stellen deutlich wird (V. 4: »Höhnt die 29 30
Vgl. den Abdruck in der Edition der Bände bei Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 302–303. Vgl. hierzu Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2., durchgesehene Auflage. Tübingen 1993 (Uni-Taschenbücher Wissenschaft, Bd. 1732), S. 476–479.
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Welt uns des Liedes Flammen; V. 38–39: »Dann, wann immer als Schwertgenossen / Krieg uns ruft zu den Rossen«). Die Variation der mit dem Wort »Genossen« kombinierten Nomina ist nicht nur dem in der jeweiligen Strophe folgenden Inhalt und Bildkomplex geschuldet, sondern zunächst und generell auch im Sinne der Konstitution von Gemeinschaft zu verstehen, die hier im Gedicht und mittels des Gedichts erzeugt werden soll. Angesprochen werden die Dichter als Produzenten von Lyrik, die sich wiederum als nationale und vaterländische Lieddichtung sowohl gegen romantische Ideale (V. 10–12), Formlosigkeit (V. 14–17), WeltschmerzPoesie (V. 19–27) und nicht-deutsche Gedichtformen (V. 34–36) zu richten hat, worin gleichzeitig die poetologische Dimension des Gedichts genannt ist. Als programmatisches politisches Anliegen hinter diesen ästhetischen Positionen steht die Vorstellung, durch patriotische Lieder eine nationale Identität stiften und die Einheitsbestrebungen befördern zu können. Nicht zufällig werden in der sechsten Strophe die »Brüder und Landsgenossen« (V. 31) aufgefordert, sich als »Deutschlands ächte getreue Schoffen« (V. 32) zu fühlen und Deutschland im Gesang aufleben zu lassen. Auf der hier eröffneten juristischen Bildebene werden die »Brüder und Landsgenossen« nicht nur ihrer Fähigkeit und Eignung, über und in Deutschland nach der allgemeinen Bedeutung des Wortes »Schoffen« als gerichtlicher (Laien-)Beisitzer richten zu können, versichert. Die Stelle spielt offensichtlich auf konkrete zeitgenössische Rechtszustände an. Die Geschworenengerichte oder auch Schwurgerichte nach englischem und französischem Jury-Vorbild stellten im 19. Jahrhundert eine zentrale Forderung liberal gesinnter Kreise dar.31 Die Diskussionen um jenes Rechtsinstitut wurden von fachjuristischer, politischer und philosophischer Seite geführt, genährt und im Besonderen auch von Hegel und seinen Schülern nach dem Prinzip der öffentlichen Rechtspflege als »Institution der bürgerlichen Gesellschaft« befürwortet.32 Aufgrund seiner personellen Zusammensetzung aus »allen fähigen Classen der Staatsbürger«33 wurden die Ge-
31
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Vgl. den grundlegenden und präzisen Beitrag von Peter Landau: Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: The trial Jury in England, France, Germany 1700–1900. Ed. by Antonio Padoa Schioppa. Berlin 1987 (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 4), S. 241–304; prinzipiell sollte, wie bei Landau, zwischen Geschworenengericht / Schwurgericht und der zwar auch schon vor 1848, dann aber besonders ab 1850 diskutierten Mischform des Schöffengerichtes – das sich aus Berufs- und Laienrichtern zusammensetzt – unterschieden werden. Doch verwendet Kinkel in V. 32 das Wort »Schoffen« nicht im speziellen Sinne des späteren Schöffengerichtes, sondern spielt damit allgemein auf die Laienjury des Geschworenengerichts an; zum Schöffen- und Geschworenengericht vgl. auch die auf einen prominenten liberalen Befürworter konzentrierte Studie von Dieter Müller: Friedrich Gottlieb Leue (1801–1872). Ein liberaler Justizreformer der Paulskirchenzeit. Baden-Baden 2000 (Hannoversches Forum der Rechtswissenschaften, Bd. 15), bes. S. 190–195 (zu Leues Schrift Das Deutsche Schöffen=Gericht, 1847). Ebd., S. 252. Zitiert nach Landau, Schwurgerichte, 1987, S. 242.
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schworenengerichte mithin auch von liberaler und nationaler Seite und besonders in den 1840er Jahren auch von früheren Gegnern des Schwurgerichts wie Carl Josef Anton Mittermaier als Ersatz für eine fehlende Repräsentativverfassung gesehen.34 Zwar waren gerade im Rheinland, wo auch nach 1814 noch der napoleonische Code d’instruction criminelle galt – anders als in den meisten deutschen Einzelstaaten – Geschworenengericht ein gängiges Rechtsinstitut. Doch war die dem preußischen Regierungspräsidenten obliegende Auswahl der Geschworenen an einen bestimmten Steuersatz (Census) und Bildungsvoraussetzungen (Capacitäten) gebunden und demnach, »die Fähigkeit zum Amt des Geschworenen nur einer kleinen Bevölkerungsschicht zuerkannt«.35 Zudem wurde den Schwurgerichten aufgrund restaurativer Maßnahmen bereits 1821 die Zuständigkeit für politische Straftaten entzogen. Mit dem Zusatz »ächte getreue Schoffen« (V. 32) konterkariert Kinkel in seinem Gedicht die gängige Auswahl-Praxis im Bereich der rheinischen Geschworenengerichte und stellt ihr ein Ideal gegenüber, indem er die Fähigkeit und Zuständigkeit für Rechtsangelegenheiten allgemein den »Brüdern und Landsgenossen« (V. 31) zuspricht, die als Staatsbürgergemeinschaft verstanden bereits spätere demokratische Argumente im Zusammenhang mit der allgemeinen Einführung von Geschworenengerichten nach der Revolution von 1848 erkennen lässt. Nach der Revolution von 1848 und dem Beschluss, Geschworenengericht flächendeckend einzuführen, stellte sich die Frage, ob diese sich an dem rheinischen Modell orientieren sollen, was schließlich – allerdings mit erheblichen Unterschieden in einzelnen Gebieten – auch geschah. Doch wurden auch Vorschläge gemacht, die bei der Auswahl der Jury stärker ein demokratisches Prinzip gelten lassen wollten, wie es in der Preußischen Nationalversammlung etwa der Abgeordnete und Staatsanwalt Julius von Kirchmann forderte.36 Literarhistorisch freilich zehrte die oben angesprochene Verbindung von Lied und Nation einerseits von der ersten großen Publikationswelle national-patriotischer Lieddichtung im Umkreis der Befreiungskriege, die durch das in der Rheinkrise 1840 gesteigerte Nationalbewusstsein wieder stärker in Erinnerung gerufen wurde.37
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Ebd., S. 263–265. Ebd., S. 266; Landau nennt ein Beispiel aus dem Kreis Düsseldorf, in dem 1832 von 72 724 Einwohnern nur 723 aufgrund dieser Bestimmungen Geschworene werden konnten. Vgl. hierzu Landau, Schwurgerichte, 1987, S. 268–289, bes. 270. Zur Lyrik der Befreiungskriege im allgemeinen und grundlegend Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur. Stuttgart 1991 (Germanistische Abhandlungen, Bd. 64); vgl. auch den vorzüglichen Sammelband von Ulrich Hermann (Hg.): Volk – Nation – Vaterland. Hamburg 1996 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 18); hierin exemplarisch und mit Schwerpunkt auf der Lieddichtung Herbert Schneider: Revolutionäre Lieder und vaterländische Gesänge. Zur Publikation französischer Revolutionslieder in Deutschland und zum politischen Lied in R.Z. Beckers »Mildheimischem Liederbuch« (S. 291–324); in demselben Band auch den Beitrag von Jürgen Wilke: Der nationale Aufbruch der Befreiungskriege als Kommunikationsereignis (S. 353–368); zur Rezeption und Fortleben der Dichtungen vgl. Ruth Stuttmann-Bowert: Zum nationalen Pathos von Heldentum und Opfermut. Sprachliche Kontinuitäten zwischen en Befreiungskriegen und dem de-
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Andererseits sind in die hier vorgebrachte Symbiose von Lied und nationaler Einheit auch Vorstellungen eines letztlich auf Johann Gottfried Herder zurückgehenden Deutschlandbildes aufgegangen, das sich im Wesentlichen an einem ganzheitlichen Volks- und Nationenbegriff orientiert.38 Denn der teils aggressiven Abgrenzung zu anderen Nationen (V. 34–36) wie dem explizit genannten Frankreich (V. 18) auf kultureller Ebene, korrespondiert nicht nur die Herausstellung der Forderung nach genuin deutschen Liedern (V. 36), sondern es lässt sich davon auch die Hoffnung einer Transformation der deutschen Kulturnation in eine Staatsnation im Sinne der liberalen Einheitsbestrebungen ableiten: »Deutschland leb auch im Gesang« (V. 33).39 Die häufige, beinahe in jeder Strophe vorkommende Nennung von Wörtern aus dem Bereich »Gesang« oder »Lied«40 verweist auf die enorme und kaum zu überschätzende kulturgeschichtliche Bedeutung des Gesanges und der Lieddichtung für das Ziel der nationalen Einheit und später auch bei der Umsetzung revolutionärer Forderungen.41 In institutioneller Hinsicht wurde der Bedeutungszuwachs des – tatsächlich gesungenen oder zumindest potentiell singbaren – politischen Liedes von Gründungen zahlreicher Männergesangsvereine begleitet, deren gesellschaftliche Relevanz für die liberal-nationale Bewegung von großer Bedeutung ist. Das Selbstverständnis und schon die Vereinsnamen dieser Gesangsvereine wie »Concordia« oder »Harmonia« verweisen oft genug auf einen nationalen Vereinigungswillen.42
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mokratischen Aufbruch 1848, in: Malwida von Meysenburg zu, 100. Todestag 2003. Hg. von Vera Leuschner. Kassel 2003 (Jahrbuch der Malwida-von-Meysenburg-Gesellschaft, 8), S. 103–110. Vgl. Bernd Springer: Sprache, Geschichte, Nation und Deutschlandbilder bei Herder, in: Poetisierung – Politisierung. Deutschlandbilder in der Literatur bis 1848. Hg. von Wilhelm Gössmann und Klaus-Hinrich Roth. Paderborn [u.a.] 1994, S. 33–62. Zu den Begriffen »Kulturnation« und »Staatsnation« im Kontext des Nationalismus im 19. Jahrhundert vgl. die immer noch anregende, wenn auch bisweilen tendenziöse Darstellung von Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Hg. und eingel. von Hans Herzfeld. Stuttgart 1962 (Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 5); zum Deutschlandbild in der Lyrik des Vormärz überblickshaft und mit Konzentration auf Fallersleben, Herwegh und Freiligrath vgl. Joachim J. Scholz: Deutschland in der Lyrik des Vormärz, in: Poetisierung – Politisierung. Deutschlandbilder in der Literatur bis 1848. Hg. von Wilhelm Gössmann und Klaus-Hinrich Roth. Paderborn [u.a.] 1994, S. 161–197. Bis auf Strophe vier finden sich solche Wörter in jeder Strophe: V. 1 (Liedgenossen), V. 4 (Lied), V. 9 (Gesang), V. 17 (Minnesinger), V. 26 (Klänge), V. 33 (Gesang), V. 42 (Lied). Zur Bedeutung des politischen Liedes am Beispiel der Badischen Revolution, mit einer kurzen Gattungsdefinition vgl. jetzt zusammenfassend Wilhelm Kühlmann: »Mit Herz und Kopf« (F. Hecker) – Lied und Liedpublizistik im Umkreis der Badischen Revolution, in: Von der Spätaufklärung zur badischen Revolution. Literarisches Leben in Baden 1800–1850. Hg. von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann und Hansgeorg SchmidtBergmann Freiburg/Br., Berlin, Wien 2010 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 174), S. 785–805. Grundlegend zum Thema: Dietmar Klenke: Der singende »deutsche Mann«. Gesangsvereine und deutsches Nationalbewußtsein von Napoleon bis Hitler. Münster, New
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Das »funktionale Spezifikum und die sozialpsychologische Poetologie der politischen Lieddichtung«43 wie sie später Friedrich Hecker in seinem Vorwort zu einer im Revolutionsjahr 1848 erschienenen Liedsammlung von Karl Heinrich Schnauffer44 zusammenfasste, sind in Kinkels Gedicht schon vorgeprägt. So schreibt Hecker 1848: Das politische Lied ist die Harmonie von Kopf und Herz in Bezug auf die höchsten Ideen der Menschheit. Freiheit, Recht, Vaterland, Menschenwürde, alles Große und Erhabene birgt zauberisch sein Schoos. Das politische Lied ist und muß sein die Quelle der Großthaten, die Quelle der Geschichte der Menschheit oder besser gesagt des Menschenthums.45
Die Identität von den in Kinkels Gedicht angesprochenen (Lied-)Dichtern und Tatmenschen, mithin von der Lieddichtung als Vorbereitung politischer oder gewalttätiger Handlungen kommt besonders in der letzten Strophe zur Geltung: 37
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Dann, wann immer als Schwertgenossen Krieg uns ruft zu den raschen Rossen, Reiten wir voran dem Heer. Auch Walkyrien sind die Musen: Mitten grad in des Feindes Busen Trifft das Lied und trifft der Sper!
Die zuvor genannten Lied-, Kampf-, Kunst-, Herz-, Sang- und Landsgenossen werden in einer auf die Zukunft projizierten Situation (»Dann«) nun zu »Schwertgenossen«. Diese Gleichsetzung legt indessen auch noch eine andere Parallelisierung nahe. Denn die hier vorgenommene Positionierung der »Schwertgenossen« im Kampfgeschehen als – militärisch gesprochen – Avantgarde (V. 39) lässt sich auch auf die in den anderen Strophen propagierte Lyrikauffassung übertragen und weist insofern wieder auf den programmatischen Charakter des Gedichtes hin. Besonders anschaulich wird die hier dem politischen Lied zugeschriebene Wirkmöglichkeit bei tatsächlich gesungenen, mit einer Melodie verbundenen Gedichten. Solche, auf den individuellen oder aber auch gemeinschaftlichen Gesang ausgerichteten Lieder wirken, nach den von Kühlmann vorgeschlagenen Genremerkmalen, »oft erst durch ihre akustische, ja geradezu leibliche Performanz und durch die Aktivität ihrer Akteure eher im öffentlichen als privaten Raum«, »sie setzen voraus und aktivieren gemeinsame politische Haltungen und einen gemeinsamen zeithis-
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York, Berlin 1998; ferner Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1800–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München 1984 (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 13). Kühlmann, »Mit Herz und Kopf«, 2010, S. 787. Vgl. Karl Heinrich Schnauffer: Neue Lieder für das Teutsche Volk. Mit einem Vorwort von Hecker. Rheinfelden 1848. Ebd., o.S. (Vorwort von Friedrich Hecker: »Das politische Lied«).
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torischen, literarischen und musikalischen Erinnerungsfundus«.46 Tatsächlich finden sich in der zweiten Auflage von Kinkels Gedichten Lieder, denen eine Melodieangabe vorangestellt ist (Bürgerlied, 1843, Bruderlied, 1848). Nach dem Titel des fast zeitgleich mit Zum Eingang entstandenen Bürgerlied (G II, S. 184–186) wird zudem noch auf den Anlass und konkreten Vortrag des Liedes verwiesen: »Gesungen im Bonner Faschings-Comité, 1843«.47 Die von Kühlmann für die Praxis der gesungenen politischen Lieder festgestellte häufige aktualisierende Umwidmung des »ästhetisch-emotionalen Potential[s]«48 einer Lied- oder Melodietradition, lässt sich an diesem Gedicht exemplarisch festmachen. Die für das Gedicht angegebene Melodie wurde gesungen auf das aus dem Breslauer Burschenschaftsliederbuch von 1821 stammende Trinklied Brüder zu den festlichen Gelagen,49 und stellt sich schon damit in die Tradition national motivierter Gesänge und politischer Haltungen.50 Unter Beibehaltung der siebenzeiligen Strophenform mit dem Reimschema ababccb und bis auf den ersten und dritten Vers jeweils männlichen Kadenzen hat Kinkel indessen die zum Trinken und Prosten Anlass gebenden Themen gegenüber der Vorlage verändert und auf den konkreten Anlass der Karnevals-Sitzung zugeschnitten. Das Trinklied als Genre bleibt zwar noch erkennbar, doch sind die in Brüder zu den festlichen Gelagen dominierenden Inhalte wie Freundschaft, Jugendkraft und Liebe dem Lob auf den (Staats-)Bürger gewichen, der allein sechs Mal namentlich genannt wird: 1
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Bürger auf, und laßt die Gläser klingen, Da sich uns das Bürgerfest erneut; Laßt der Eintracht frisch ein Hoch uns bringen, Die uns bei Gesang und Wein erfreut. Ruft’s mit frischer Lust, Ruft’s aus voller Brust: Blühen soll die Eintracht stets wie heut.
Kühlmann, »Mit Herz und Kopf«, 2010, S. 787. Das genaue Datum (5.2.1843) findet sich im 3. Jahrgang des Maikäfer (1842, Nr. 38), wo das Gedicht zuerst publiziert wurde, vgl. den Abdruck in der Neuedition bei Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 2, 1983, S. 323–324. Kühlmann, »Mit Herz und Kopf«, 2010, S. 785. Der Titel lautet auch Jugendlust; auf diese Melodie wurde auch Sind wir nicht zur Herrlichkeit geboren gesungen, beide Gedichte auch abgedruckt mit Melodie in: Allgemeines Deutsches Kommersbuch. Ursprünglich herausgegeben unter musikalischer Redaktion von Friedrich Silcher und Friedrich Erk. [hier] 127.–135. Auflage. Lahr / Baden 1925, S. 443–444 (Nr. 484: Sind wir nicht zur Herrlichkeit geboren) bzw. S. 150 (Nr. 165, Jugendlust). Die umfangreiche Forschung zur Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der Burschenschaften und deren Liedgut ist hervorragend zusammengefasst bei Harald Lönnecker: »Unzufriedenheit mit den bestehenden Regierungen unter dem Volke zu verbreiten«. Politische Lieder der Burschenschaften aus der Zeit zwischen 1820 und 1850, in: Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs 48 (2003), S. 85–131.
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Das Gedicht verarbeitet die besonders im rheinischen Karneval betriebene Egalisierung – und letztlich auch Umwälzung – der Gesellschaftsschichten und Verherrlichung eines mündigen, auch politisches Mitspracherecht fordernden Bürgertums. Gerade im französischen besetzten Rheinland sah man bis zum Sieg über Napoleon – und darüber hinaus – im Karneval die Möglichkeit und Notwendigkeit eines nationalen Festes:51 15 Mögen draußen Amt und Würden gelten, Hier bei uns ist Rang und Stolz verbannt. Mögen uns die hohen Herren schelten, Hier umschlingt uns all’ ein friedlich Band. Ruft’s mit lautem Schall: 20 Bürger sind wir all’! Blühen soll die Eintracht stets wie heut. Bürgerrang, das ist der rechte Adel, Der die allerhöchsten Ehren hat. Wer als Bürger schaffet ohne Tadel, 25 Finde bei uns seine offne Statt. Nichts gilt arm und reich! Alle sind wir gleich, Alle sind wir Kinder einer Stadt. Kommt herein, ihr Künstler und Studenten, 30 Kommt herein, wer Band und Orden trägt! Gleich gilt hier, wer zecht von seinen Renten, Und wer tücht’gen Arms das Handwerk pflegt. Jeder ist uns recht, Wer es meinet ächt, 35 Wem das Herz am rechten Flecke schlägt.
Andererseits wird deutlich – wie schon in Zum Eingang – die Vielstaaterei kritisiert: 8
Nord und Süd, sie haben uns zersplittert, Doch die Freude schließt den neuen Bund. 10 Jeder Groll, der uns so oft verbittert, Bleibe fern vom frohen Zecherbund. Böser Haß und Neid, Die uns oft entzweit, Senkt sie in des Bechers tiefsten Grund.
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Zu den Wurzeln und Motivationen speziell des 1823 in Köln ›gegründeten‹ rheinischen Karnevals und dessen von bürgerlichen und politischen Motiven geprägten Voraussetzungen, auch in Abgrenzung zum älteren (religiösen) Fasching vgl. Michael Müller: Karneval und Politik. Zum Verhältnis zwischen Narren und Obrigkeit am Rhein im 19. Jahrhundert. Koblenz 1983; zusammenfassend auch und knapper, mit Ausblick bis ins 20. Jahrhundert vgl. den Artikel von Herbert Schwedt: Karneval, in: Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde., hier Bd. III. Hg. von Etienne François und Hagen Schulze. 2., durchgesehene Auflage. München 2002, S. 436–450.
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Die Spannung zwischen anlassbezogener Dichtung und jenen im Medium des Gedichts formulierten Forderungen und Anliegen, die über das Situative des speziellen Anlasses hinausgehen, wird in der letzten Strophe deutlich und nimmt bereits Kinkels später in seiner Selbstbiographie vorgebrachte Einschätzung des Karnevals als Instrument »zur Entwicklung der rheinischen Demokratie«52 vorweg: 36 Nicht zur Lust allein sind wir verbunden, Nicht für eine kurze Faschingszeit. Laßt uns einig sein zu allen Stunden, Jeder für den Andern stets bereit. 40 Stoßet an und klingt Allzumal und bringt Dieses Glas der Bürgereinigkeit.
Zentral für das Verständnis von Kinkels literarästhetischen Positionen und seine liberal-konstitutionelle Haltung der frühen 1840er Jahre ist auch das bereits aus dem Jahr 1836 stammende, allerdings erst in die zweite Sammlung von 1868 aufgenommene Gedicht Mit Bürger’s Gedichten (G 2, S. 191–194). Sowohl die äußere Form als auch die Überschrift stehen in engem Zusammenhang mit dem Inhalt. Das in neun Strophen eingeteilte Gedicht folgt dem Muster der deutschen Stanzenform. Im Gegensatz zur echten Otkave nach italienischem Vorbild, die ausschließlich weibliche Versausgänge kennt, sind bei der deutschen Variante die männlichen Kadenzen in der zweiten, vierten und sechsten Zeile kennzeichnend, wobei die Struktur der kanonischen italienischen Stanzenstrophe aus acht jeweils fünfhebigen Jamben und dem Reimschema abababcc beibehalten wird.53 Eröffnet wird das Gedicht mit der einem romantischen Vokabular (V. 3–4) verpflichteten Beschreibung einer nächtlichen Naturszenerie. Gleich im ersten Vers wird ein »du« angesprochen, das allerdings nicht unbedingt als ein Gegenüber des Sprechers verstanden werden muss. Die Wendung kann indessen auch als Selbstansprache gedeutet werden. 1
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Wenn du in nächtlich stiller Feierstunde Gelöst die Seele von des Tages Mühn, Lustwandelst in des Thales dunkelm Grunde, Ringsum geschirmt vom heil’gen Waldesgrün; Da hörst Du rings aus unsrer Sänger Munde Viel reiche Lieder wonnevoll erblühn. Es einet sich im Bund der deutschen Töne Von jedem Land und Volk das höchste Schöne.
Anders als in Zum Eingang wird hier aber offensichtlich kein Dichter angesprochen – ob nun das »du« als Ansprache eines anderen oder Selbstansprache verstanden wird –, sondern ein nicht näher bestimmbarer Sprecher präsentiert in den folgenden 52 53
Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 118. Vgl. Frank, Handbuch, 1993, S. 671–679.
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Strophen (Str. 2–4) seine – folgt man dem Bild aus Strophe eins – ›akustischen‹ Wahrnehmungen unterschiedlicher Lieder und Gesänge aus der »Sänger Munde« (V. 5): In festem Schritte wandeln Griechenklänge, 10 Sie sendet Platen aus dem Römerland; Des hohen Nordlands alte Sittenstrenge Führt Fouqué her, das Schlachtschwert in der Hand; Des mittlern Alters holde Minnesänge Hat Uhland in die Saiten festgebannt. 15 Italiens glühn’den, Spaniens stolzen Maßen Hat Schlegel zu uns angebahnt die Straßen. Des tapfern Frankreichs junge Kraftgedanken In fränk’schem Kleide führt Chamisso vor; Caschmirs Ghaselen, die sich üppig ranken, 20 Arabischer Sprüche vielgereimten Chor, Der Blumen Duft, die am Hoangho schwanken, Sammt Indiens dichtumlaubtem Blüthenflor In buntem Kranze, voll und nie gestückert, Beut überreich der Völkerdolmetsch Rückert. 25 Auch ist die Bardenharfe nicht entsaitet, Doch ach, sie klingt nicht minniglich und traut! Gleichwie den Kämpen, der zum Schlachtgraun schreitet, Umklirrt das Eisen schaurig wild und laut, So, zürnend mit der Zeit Bedrängniß, gleitet 30 Das deutsche Lied, dass schier vor ihm uns graut. Es gilt den Kampf für Recht und Licht und Freiheit, Und eisern klingt das Lied für diese Dreiheit.
Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine Bestandsaufnahme zeitgenössischer Poesieformen und -erscheinungen, eine Lyrikgeschichte der Gegenwart in Gedichtform, die auf August von Platens Oden-Dichtungen (V. 9–10), August Wilhelm Schlegels Chalderon-Übersetzungen (V. 15–16), Chamissos frühe französische Lyrik und Béranger-Übertragungen (V. 17–18) und Friedrich Rückerts Rezeption orientalischer und asiatisch-exotischer Dichtungen (V. 19–24) anspielt. Wie schon im Eröffnungsgedicht der Sammlung (Zum Eingang) wird die Tendenzpoesie der Jungdeutschen von Kinkel zu dieser Zeit noch kritisch beurteilt und in der Formulierung »Es gilt den Kampf für Recht und Licht und Freiheit / Und eisern klingt das Lied für diese Dreiheit« (V. 31– 32) wähnt man schon die spätere Bezeichnung Heinrich Heines vorweggenommen, der von Georg Herwegh als der eisernen Lerche der Revolution sprach. Die vorgestellte Vielfalt der Lyrik wird durchaus zunächst begrüßt.54 Auch lassen sich darin bereits politische Implikationen erkennen, indem der transnationale
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Kinkels Darstellung und Betonung einer reichen der lyrischen Formenwelt deckt sich mit
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Austausch von Lyrik im Sinne eines kulturellen Völkerfrühlings (»Land«, »Volk«, »Brüder«) beschrieben wird, freilich ohne dass hier die Verbundenheit mit einem bestimmten Volk und Land hervorgehoben würde. 55 Nie ist ein Land und Volk so reich erklungen, Als heut des deutschen Liedes Ernst und Scherz; 35 Der deutsche Geist hat jedes Volk bezwungen, Er nahm die Brüder an das große Herz; Sie flüsterten ihm zu in ihren Zungen, Erzählten ihm des Lebens Lust und Schmerz; Drum schwelgen wir in des Gedankens Fülle 40 Der uns entzückt mit seiner bunten Hülle.
Allerdings wird gerade die zuvor unterstellte Dominanz nicht-deutscher Kunstformen in der Lyrik (Str. 4–6) zum Anlass genommen, nach den Gründen für jenes Flüstern in fremden Zungen zu fragen: Doch andre Zeiten nahn, wenn wir geschieden; Ich höre ihren segenvollen Schritt. Dann ruht Germania, mit sich selbst in Frieden, Errungen ist, um was sie feindlich stritt; 45 Dem Sohn ist zum Genuß die Frucht beschieden, Um derentwillen schwer der Vater litt. Er wohnet still im Schatten jener Rechte, Die Kampfpreis sind dem lebenden Geschlechte.
In der Vision einer von fremden Klängen befreiten, aus der eigenen, deutschen Tradition schöpfenden und das Vaterländische besingenden Poesie wird auch das
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den Einschätzungen der Forschung, vgl. exemplarisch Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 552. Zum Völkerfrühling als zentralem Begriff der frühen Nationalbewegung(en) vgl. Rudolf Jaworski: Völkerfrühling 1848, in: Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen. Hg. von Dieter Langewiesche. Karlsruhe 1998, S. 36–51; beispielhaft für die Bedeutung des Begriffes in der deutsch-polnischen Literaturbeziehung vgl. Gerhard Kosellek: Krakauer Aufstand und Völkerfrühling in der zeitgenössischen deutschen Prosa, in: Reformen, Revolutionen und Reisen. Deutsche Polenliteratur im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Gerard Kozielek. Wroclaw [u.a.] 1990, S. 284–321; bislang liegt eine zusammenfassende Untersuchung zur Entwicklung und Relevanz des Begriffes für die Lyrik der Restaurationsepoche, soweit ich sehe, noch nicht vor. Die Konzentration vieler Beiträge der Forschung auf die Zeit unmittelbar vor oder während der Revolution ist bedauerlich, da der Begriff und die damit verbundenen Ideen bereits seit den 1830er Jahren in der zeitgenössischen Diskussion zu beobachten sind; kritisch aus historischer Sicht zur Entwicklung und Stellung der einzelnen Nationalismen vgl. die Studie von Dieter Langewiesche: Wirkungen des ›Scheiterns‹. Überlegungen zu einer Wirkungsgeschichte der europäischen Revolutionen von 1848, in: Ders. (Hg.): Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen. Beiträge des Symposions in der Paulskirche vom 21. bis 23. Juni 1998. München 2000, S. 5–21, bes. S. 11–15.
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Thema eines (literarischen) Generationenkonfliktes berührt. Auf einen solchen – freilich der literarhistorischen Vergangenheit angehörenden – spielt bereits der Titel des Gedichtes an, der gleichzeitig Ansatzpunkte für das Verständnis auch von Kinkels Gedicht birgt. Die poetologischen und kulturgeschichtlichen Problemkreise, die sich mit der Schillerschen Kritik an Gottfried August Bürgers Gedichten im Rahmen einer Rezension zu Bürgers 1789 erschienenen zweiten Auflage seiner Gedichte verbindet,56 lassen sich mit den Fragen um die Volkstümlichkeit und Popularität von Lyrik und den Stichworten Individualität und Idealisierung zusammenfassen.57 Zwar ist Kinkels Gedicht nicht als später Reflex oder Stellungnahme zu der im späten 18. Jahrhundert zwischen Schiller und Bürger ausgetragenen Kontroverse um verschiedene Kunstprogramme zu verstehen. Doch bedient sich Kinkel sowohl dieser Kontroverse im Hinblick auf die Darstellung generationenspezifischer Literaturauffassungen (Str. 6–7) als auch ihres Protagonisten, Gottfried August Bürger, als Garanten und Vorbild für eine auf das Volk und die Nation gerichteten Poesie-Auffassung.58 Wenn auch Aspekte von Bürgers Konzept der Volkspoesie oder der Poesie für alle »Classen« in Kinkels Gedicht kaum zur Sprache kommen – wie auch der Name Bürger ja an keiner Stelle fällt –, so sind die historischen Bewertungen Bürgers mithin auch als Stichwortgeber demokratischer Lyrikauffassungen bzw. Lyrik mit »demokratischem Impetus«59 für die hier evozierte Vision einer zukünftigen Poesie im Hintergrund zu erkennen. In diesem Zusammenhang markiert das »Wir« (V. 41) eine Generationenzugehörigkeit des Sprechers, der jene künftige, hoffnungsvoll erwartete jüngere Generation (von Dichtern) gegenübersteht, die gleichzeitig verbunden wird mit veränderten politischen Zuständen und dem an sie geknüpften Ziel der deutschen Einheit:
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Vgl. Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte, in: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hier Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 78), S. 972–995, vgl. auch den Kommentar ebd. S. 1511–1527. Vgl. zu der Auseinandersetzung und Schillers Positionen, die von der Forschung gemeinhin als Aufbruch zur Weimarer Klassik und Abwendung von Sturm-und-Drang-Idealen bewertet werden, den bereits 1976 erschienenen Aufsatz, jetzt neu abgedruckt von Klaus F. Gille: Schillers Rezension »Über Bürgers Gedichte« im Lichte der zeitgenössischen Bürger-Kritik, in: Ders.: Konstellationen. Gesammelte Aufsätze zur Literatur der Goethezeit. Berlin 2002, S. 41–61; bes. S. 41–43; hervorgehoben wird neben der Behandlung der Kontroverse als Auseinandersetzung zweier Kunstprogramme auch das Verhältnis von Literatur und Kritik bei Walter Hinderer: Schiller und Bürger: Die ästhetische Kontroverse als Paradigma, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochtstifts 1986, S. 130–154, bes. S. 133–135. Zur Rezeption Bürgers und den Aspekten Volkstümlichkeit und dem Konzept der an Herder angelehnten populären (Volks-)Poesie vgl. Günter Häntzschel: Demokratisch, patriotisch, kosmopolitisch. Aspekte der Popularität bei Gottfried August Bürger, in: G.A. Bürger und J.W.L. Gleim. Hg. von Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 1996, S. 184– 194. Ebd., S. 186.
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Nun sage mir: wenn Deutschland ganz sich fühlet, 50 Und sich erkennt in seinem eignen Werth, Ob’s dann wohl noch nach fremden Schätzen wühlet, Da reichre Dichtung blüht am eignen Herd? Wenn erst der heiße Freiheitstrieb gekühlet, Wer singt ein Lied noch, das ein schneidig Schwert? 55 Wenn wir uns anschaun in dem eignen Volke, Deckt fremden Nachklang des Vergessens Wolke.
Die in dieser Strophe angedeutete Zukunftsvision einer noch zu verwirklichenden Lyrik wird in der 8. Strophe wieder aufgegriffen und fortgesetzt: Dann kehrt der Enkel zu den Männern wieder, Die deutsch zu sein alleinig sich bestrebt, Die nur in deutschen Weisen traut und bieder 60 Gesungen, wie sie deutsch auch nur gelebt. Die felsenstarken, liebemilden Lieder, Bei denen manches Herz schon süß erbebt, Sie werden noch von Rosenlippen klingen, Noch Manchem glühend zu dem Herzen dringen!
Nur an dieser Stelle wird eine Anspielung auf Bürger und die Rezeption seiner Dichtungen als vaterländische und auf das Volk bezogener Lyrik greifbar (V. 57– 60). Und so schließt das Gedicht auch mit einem prophetischen Wunsch an den »deutschen Jüngling«, sich dieses Erbes wieder bewusst zu werden: 65 So bieten wir denn im prophetischen Sinne Dem deutschen Jüngling hier den deutschen Mann, Dass er aus ihm die Zuversicht gewinne: Einst brechen wir der fremden Völker Bann; Ein deutscher Haß und eine deutsche Minne 70 Sind unsre höchsten Ehrenzeichen dann; Und frei von fremden Flitterputzes Glanze Verschlingt sich Geist und Weis’ in Einem Kranze!
2.2
Zwischen hoffnungsvoller Erwartung und Kritik: Preußen und der preußische König in Kinkels frühen Gedichten (Mythos – Am Huldigungstage – Bote, sage dem Kaiser – 14. Sept. 1842)
In einer Reihe von Kinkels Gedichten noch vor der Revolution werden verschiedene Bereiche der preußischen Politik und ihre Auswirkungen im Besonderen für die Rheinprovinz thematisiert. Meistens – wie auch bei den im Folgenden behandelten vier Beispielen – stehen im Zentrum die Person und das Amt des preußischen Königs, dessen herrscherliches Selbstverständnis als ausschlaggebend für die angesprochenen politischen Ereignisse (Mythos), liberalen Hoffnungen (Am Huldigungstage) und Kritik (Bote, sage dem Kaiser; 14.9.1842) bewertet wird. Seit dem Tode Friedrich Wilhelms III. (geb. 1770) am 7. Juni 1840 hatte sein Sohn und 180
Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. (geb. 1795) die Regierungsgeschäfte inne und ist – nach einem allerdings erst 1847 von David Friedrich Strauss geprägten Begriff – als »Romantiker auf dem Thron« in die Geschichte eingegangen.60 Die erste Hälfte seiner Regierungszeit umfasst die durch Hungersnöte und Missernten von sozialen Spannungen geprägten 1840er Jahre, auf deren politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen er nach Meinung zahlreicher Zeitgenossen und Historiker nicht angemessen zu reagieren vermochte, was vielfach seinen romantischen, oftmals auch als ›weltfremd‹ bezeichneten Vorstellungen zugeschrieben wurde und wird. Das Bild des Herrschers ist indessen nicht so eindimensional, wie das Epitheton »Romantiker auf dem Thron« es nahelegen möchte. Als die drei wichtigsten Elemente in der Herrschaftsauffassung Friedrich Wilhelms IV., auf die auch Kinkel in seinen Gedichten immer wieder anspielt, hat zuletzt Frank-Lothar Kroll die »Absolutismus-Kritik, Konstitutionalismusfeindschaft und mythisch-sakrale Auffassung vom Herrscheramt« hervorgehoben.61 Zwar sind damit die wesentlichen Aspekte für das Verständnis der Person und Staatsauffassung des Hohenzollern genannt. Doch erscheinen manche politische Handlungen und Charaktereigenschaften des Königs – wie schon für die Zeitgenossen – rätselhaft und haben in der Folge zu unterschiedlichen Deutungsansätzen in der Forschung geführt. In den Mittelpunkt wurden die Bedeutung der Romantik und romantischer Schriftsteller,62 der enorme Einfluss konservativer Staatsdenker wie etwa Edmund Burke oder Friedrich von Gentz,63 aber auch die Rolle der Kunst und Architektur zur Wiederbelebung des mittelalterlichen Königtums von Gottes Gnaden64 oder psychopathologische Erklärungsmuster gerückt.65
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Für einen schnellen Überblick mit der wichtigsten Forschungsdiskussion bietet sich an das Porträt von Winfried Baumgart: Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861), in: Preußische Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II. Hg. von Frank-Lothar Kroll. München 2000, S. 219–241; im selben Band auch der Beitrag von Thomas StammKuhlmann (S. 197–218) zu Friedrich Wilhelm III. Frank-Lothar Kroll: Monarchie und Gottesgnadentum in Preußen 1840–1861, in: Der verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Hg. von Peter Krüger und Julius H. Schoeps. Potsdam 1997 (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 1), S. 45–70, hier S. 50. Vgl. Frank-Lothar Kroll: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik. Berlin 1990 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 72). Vgl. Jürgen Angelow: Friedrich Wilhelm IV. Romantiker auf dem Thron?, in: Machtoder Kulturstaat? Preußen ohne Legende. Hg. von Bernd Heidenreich und Frank-Lothar Kroll. Berlin 2002, S. 67–74. Vgl. David E. Barclay: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Berlin 1995. Vgl. Dirk Blasius: Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861). Psychopathologie und Geschichte. Göttingen 1992; auf den genannten Einzeldarstellungen aufbauend, anknüpfend bzw. kritisch dazu vgl. auch folgenden Sammelband von Peter Krüger, Julius Schoeps (Hg.):
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Sowohl aufgrund der anfänglichen Begeisterung für den neuen Herrscher und der hohen Erwartungen bei seinem Regierungsantritt als auch wegen der folgenden Ernüchterung fand Friedrich Wilhelm IV. in der zeitgenössischen Publizistik und Literatur große Beachtung, wobei die Gedichte von Georg Herwegh (An den König von Preußen; Auch diess gehört dem König) und Ferdinand Freiligrath (Von unten auf ) an den Hohenzollernkönig nur die bekannte Spitze eines umfangreichen Schrifttums zur Politik und Person Friedrich Wilhelms IV. darstellen.66 Die starke Resonanz Friedrich Wilhelms IV. auch in der literar- und kunsthistorischen Forschung indessen rührt vor allem daher, dass der Preußen-Herrscher selbst als Schriftsteller und Zeichner, zumal auch als bedeutender Kunstförderer und leidenschaftlicher Briefeschreiber hervorgetreten ist.67 Obgleich in einer nicht minder spannungsreichen Zeit regierend, die die Jahre der Napoleonischen Herrschaft in Europa und deren Ende mit den Befreiungskriegen sowie die französische Julirevolution, den Beginn der Industrialisierung und damit einhergehende, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen umfasste, fand Friedrich Wilhelm III. in der Literatur und Publizistik, ebenso wie in der Forschung, kein vergleichbares Echo. Kinkels Gedicht Mythos (G I, S. 25–27), das zuerst im ersten Jahrgang des Maikäfer (1840, Nr. 4) erschien, berührt mit dem sogenannten Kölner Kirchen- oder auch Mischehenstreit die für die späten Regierungsjahre Friedrich Wilhelms III. und seine Politik in den Rheinlanden zentrale politische Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche und den rheinischen Katholiken, die mithin auch maßgeblich sein Bild in der Öffentlichkeit und Nachwelt geprägt hat. In der Fassung für den Maikäfer weist bereits der Titel, Katholischprotestantischer Mythos,68 auf diesen Konflikt hin:
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Der verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Potsdam 1997 (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 1). Die genannten Autoren bilden auch den Schwerpunkt in dem zusammenfassenden Beitrag von Wolfgang Büttner, der wichtige Grundlinien der Bewertung des Königs von liberaler (und demokratischer) Seite aufzeigt, gleichwohl geht er auch auf andere Autoren wie Hofmann von Fallersleben, Johann Jacoby, Adolf Stahr und natürlich Heinrich Heine ein, vgl. Wolfgang Büttner: Friedrich Wilhelm IV. im Blickpunkt zeitkritischer Vormärzliteratur, in: Vormärz und Exil. Vormärz im Exil. Hg. von Norbert Otto Eke und Fritz Wahrenburg. Bielefeld 2005 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 10, 2004), S. 185–207. Die kunsthistorische Forschung zu Friedrich Wilhelms IV. Förderung und Vereinnahmung der Kunst und Architektur ist umfangreich, vgl. mit der älteren Literatur auch zuletzt Rolf H. Johannsen: Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Von Borneo nach Rom. Sanssouci und die Residenzprojekte 1814 bis 1848. Kiel 2007; Catharina Hasenclever: Gotisches Mittelalter und Gottesgnadentum in den Zeichnungen Friedrich Wilhelm IV. Herrschaftslegitimierung zwischen Restauration und Revolution. Berlin 2005 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 30); zur Edition der Briefe an Carl Josias von Bunsen, Bettine von Arnim und anderen bedeutenden Zeitgenossen vgl. den Überblick bei Baumgart, Friedrich Wilhelm IV. , 2000, S. 333–334. Vgl. den Abdruck in der Neuedition von Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 33–35.
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Sankt Peter aus dem Himmelsthor Trat einmal Mitternachts hervor; Unten sah er zu Köln am Rhein Bajonete blitzen im Fackelschein: Die Preußen, kürzlich resolvirt, Hatten den Bischof arretiert. Da ward’s dem Petrus schlimm zu Muth, Aufkocht in ihm das päpstlich Blut; Er wandte sich zum Thron der Gnaden Und klagte seiner Kirche Schaden. Gott Vater sprach: ich bin bereit, Zu schlichten dir den bösen Streit; Ich will den Thäter zu mir rufen Vor meines Richterstuhles Stufen. Sankt Peter sprach: es hat’s gethan Der Nicolovius, der muß dran! Der Todesengel flog herab, Sie legten bald den Leib ins Grab, Derweil der Geist sich aufwärts wandt’, Im Silberhaar am Throne stand. Er sprach: vor dir hab’ ich gewandelt, O Herr! doch hier als Knecht gehandelt: Ein Größrer that’s – ihn richte du, Mich laß eingehn zu deiner Ruh! Gott Vater drauf: mein Himmelsgast, Dir werde, wie du geglaubet hast. Du, Sammael, magst neu dich rühren, Den Altenstein denn vor uns führen. Herr Altenstein in stillem Lauf Strebt’ altersmüd zum Himmel auf. Sankt Peter wußte nicht Rath den Sachen, Wollt’ erst das Thor nicht offen machen. Da sprach die Excellenz: ich habe Gewollt das Gute bis zum Grabe; Stets konnt’ ich mein Gewissen stillen: Ich that’s nach meines Königs Willen. Doch Petrus war noch nicht versöhnt, Er schrie: ist gleich sein Haupt gekrönt, Der Preußen König mußt du laden: Der soll die Zeche mir ausbaden. Gesagt, gethan. Der Engel flog, Ihm nach ein Wolkenschleier zog, Gewoben aus der Preußen Thränen, Die, ach umsonst! noch Rettung wähnen. Der König starb. Mit klarem Blick, Als wär’ der Tod ein froh Geschick, Im alten Mantel, der vor Jahren Im Freiheitskampf mit ihm gefahren, Den alten Säbel in der Hand, Der Friede gab dem deutschen Land,
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Mit gleichem, kriegrisch festem Tritt Daher der alte König schritt. Wie er die Thür verschlossen fund: Aufmachen! sprach er kurz und rund. 55 Da sprangen weit des Himmels Pforten, Da jauchzten Engel aller Orten, Und Petrus selbst freiwillig gern Neigte sich vor dem edeln Herrn; Denn vor dem treuen Angesichte 60 Ward all sein Pfaffensinn zu nichte. So ging da frei im hellen Schein Der greise Fürst zum Himmel ein.
Bei den anderen Gedichten Bote sage dem Kaiser, Am Huldigungstage und 14.9.1842 ist vom Titel her erkennbar, dass sie sich an den König richten und im Falle der letzten beiden Beispiele zudem, dass sie auf einen konkreten Anlass verweisen, der bei dem Gedicht Mythos allerdings nicht auf den ersten Blick erkennbar, sondern nur vom ursprünglichen Publikationskontext zu erschließen ist. Mit seinem Erscheinungsdatum 14. Juli 1840 dürfte es unmittelbar nach dem Tod Friedrich Wilhelms III. (7. Juni 1840) entstanden sein. Das Ende des Gedichtes mit dem Tod des »greisen Fürsten« markiert also nicht nur den Höhepunkt einer balladesken und durch zahlreiche Verse mit direkter Rede gekennzeichnete Darstellung der ›himmlischen Folgen‹ des Kölner Kirchenstreits, sondern stellt auch eine unmittelbare Reaktion auf den Tod Friedrich Wilhelms III. dar. Insofern handelt es sich hierbei um ein anlassbezogenes Gelegenheitsgedicht, das sich gleichzeitig auch in die Gruppe anderer Totengedichte Kinkels auf seine Mutter (Beim Tode meiner Mutter Maria; G I, S. 88–94) und Immermann (Karl Immermanns Tod; G I, S. 111–112) einordnen lässt. Doch bleibt bei diesen noch das Muster älterer Gattungen wie dem Epicedium69 mit seiner Dreiteiligkeit aus laudatio, lamentatio und consolatio und insgesamt ein klagender Duktus erkennbar. Diese bei einem Totengedicht zu erwartenden Charakteristika weichen im Falle von Kinkel Mythos gänzlich einer scherzhaft-satirischen Darstellungsweise. Formal ist das Gedicht wenig anspruchsvoll mit seinen 62 nicht weiter in Strophen eingeteilten Versen, die sich jeweils zu einem Paarreim zusammenschließen lassen, meist männliche Kadenzen zeigen, ihren Rhythmus aus vierhebigen Jamben aber nicht immer durchhalten und gerade an solchen Stellen nicht selten auch etwas ungelenk wirken (V. 3–4, 16, 29 e.a.). Doch bezieht das Gedicht seine Spannung
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Zur Orientierung über die Memorial-Lyrik vgl. den Artikel von Herrmann Wiegand: Epicedium, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. I. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 2000, S. 455–45; ferner auch Christian Kiening: Totenklage, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. III. Hg. von Jan Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 655–657.
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vor allem aus der märchenhaften Darbietung (»einmal«, V. 2) und der offensichtlich vorausgesetzten Kenntnis der Ereignisse um den Kölner Kirchenstreit, der als solcher gar nicht mehr zur Sprache kommt. Das Gedicht konzentriert sich lediglich noch auf die Nennung der Namen »Nicolovius« (V. 16) und »Altenstein« (V. 28). Das in der zweiten Zeile mit »einmal« zeitlich unbestimmte Hervortreten Petrus’ vor die Himmelstür lässt sich durch die folgende Schilderung (V. 6) der Verhaftung des Kölner (Erz-)Bischofs Klemens August von Droste Vischering (1773–1845) historisch auf den 20. November 1837 datieren.70 Von der Bevölkerung zunächst nur mäßig beachtet, wurde das Ereignis Anfang 1838 dann aber durch die religionspolitische Kampfschrift Athanasius71 von Joseph Görres von den meisten Rheinländern als nicht hinnehmbarer Gewaltakt verurteilt. Vorausgegangen war der Verhaftung die Weigerung Droste-Vischerings, sich wie sein Vorgänger im Amt des Kölner Erzbischofs, Franz Wilhelm Freiherr von Spiegel, an eine »Geheime Konvention« zwischen der preußischen Regierung und dem Heiligen Stuhl vom 19. Juni 1834 zu halten. Nach dieser sollten die katholischen Geistlichen auch Mischehen einsegnen, wenn kein Versprechen über die katholische Erziehung der Kinder gegeben wurde, was gegen die von Pius VIII. in seinem Breve vom 25. März 1830 formulierten Richtlinien bei der Frage konfessioneller Mischehen stand.72 Nacheinander werden im Gedicht die preußischen Beamten Georg Heinrich Nicolovius (1767–1839), seit 1817 Minister für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten und Nachfolger Wilhelm von Humboldts, Karl Freiherr vom Stein zu Altenstein (1770–1840), seit 1817 Kultusminister, und schließlich Friedrich Wilhelm III. als Verantwortliche für der »Kirche Schaden« (V. 10) von ihrem irdischen Leben abberufen und müssen sich vor Gott verantworten. Es entspricht aber auch der tatsächlichen Reihenfolge der Todesdaten: Nicolovius starb am 2. November 1839, Altenstein am 14. Mai 1840 und Friedrich Wilhelm III. am 7. Juni 1840. Nicht zuletzt aus dieser merkwürdigen Koinzidenz bezieht das Gedicht auch seine satirische Schärfe. Es unterstellt auf der Ebene der
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Biographisches zu Droste-Vischering in dem vorzüglichen Artikel sub verbo von Eduard Hegel, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785 / 1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Erwin Gatz. Berlin 1983, S. 145–148. Der Text erschien im Januar 1838 im Regensburger Manz-Verlag und erlebte noch im selben Jahr die vierte Auflage. Vgl. hierzu Eduard Hegel: Die katholische Kirche in den Rheinlanden 1815–1945, in: Rheinische Geschichte in drei Bänden, hier Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Franz Petri und Georg Droege. Düsseldorf 1979, S. 329–412, hier bes. Kapitel 2: Vormärz (S. 346–355), speziell zur Frage der Auslegung des Breve Pius’ VIII. S. 349–350; ferner aus gesamtdeutscher Perspektive Frank Eyck: Liberalismus und Katholizismus in der Zeit des deutschen Vormärz, in: Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz. Hg. von Wolfgang Schieder. Göttingen 1983 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 9), S. 9–21, bes. S. 140–143; zum weiteren Verlauf seit der Regierung Friedrich Wilhelms IV. immer noch grundlegend Rudolf Lill: Die Beilegung der Kölner Wirren 1840–1842. Vorwiegend nach Akten des Vatikanischen Geheimarchivs. Düsseldorf 1962 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 6).
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himmlischen Fiktion, dass diese Todesfälle nicht zufällig so nah beieinander liegen, sondern auf eine Abberufung von höchster Stelle zurückgehen, womit gleichzeitig und unterschwellig auch Kritik an der preußischen (Kirchen-)Politik geübt wird. Zumindest rekapituliert und veranschaulicht das Gedicht die preußische Ministerialbürokratie für kirchliche Angelegenheiten, indem es die Namen der maßgeblichen Minister Nicolovius und Altenstein integriert, gleichwohl aber die Hauptverantwortung dem König zuschreibt (V. 39–47).73 Die Folgen der Kölner Wirren waren nicht nur auf die Beziehungen zwischen Preußen und dem Heiligen Stuhl beschränkt. Das Ereignis wirft auch ein bezeichnendes Licht auf den Umgang der preußischen Regierung mit der katholischen Bevölkerung der Rheinprovinz. Die Vorgänge, auf die in dieser scherzhaft-satirischen Literarisierung von Regionalgeschichte angespielt wird – und die am Ende sogar fast versöhnlich auszugehen scheinen (V. 55–62) –, bergen indessen einen nicht nur realgeschichtlich wahren Kern, sondern auch ein konfliktreiches Potential, dessen Bedeutung im Zusammenwirken mit anderen Bewegungen wie dem Deutschkatholizismus, was Kinkel in seiner Selbstbiographie noch einmal kritisch herausstellte: »Die Agitation, die sich aus jenem raschen Schritte der Regierung ergab, ist für Preußen der Beginn der Revolution geworden.«74 Allerdings konnte der Kölner Kirchenstreit mit dem Amtsantritt Friedrich Wilhelms IV. und durch dessen Zugeständnisse in Fragen der staatlichen Kirchenhoheit beigelegt werden. Gleichwohl wehrte sich Droste-Vischering aufgrund der Behandlung seiner Person selbst noch lange gegen eine Versöhnung zwischen dem Heiligen Stuhl und der preußischen Führung, deren symbolisches Zeichen das vom König initiierte und unterstützte Kölner Dombaufest 1842 sein sollte. Völlig zurückgezogen starb Droste-Vischering schließlich am 19. Oktober 1845 in Münster.75 Von den Rheinländern wurden diese Entwicklungen freilich besonders aufmerksam verfolgt. Auch über die preußische Provinz hinaus wurde der Amtsantritt Friedrich Wilhelms IV. als hoffnungsvoller Neuanfang auf dem Weg zur Verwirklichung nationaler Einheit und politischer Partizipation der Bürger gefeiert. Selbst spätere radikale Demokraten wie Arnold Ruge und eben Gottfried Kinkel ließen sich von der Aufbruchsstimmung mitreißen und setzten große Hoffnungen in die Politik des neuen Regenten, der nicht nur die Zensurvorschriften lockerte und die Ministerialkommission zur Überwachung »demagogischer Umtriebe« vorübergehend zurücknahm, sondern auch Ernst Moritz Arndt seinen Lehrstuhl wieder zurückgab,
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Mit Schwerpunkt auf der Person Altensteins und auch besonders zur protestantischen Kirchengeschichte vgl. Christian Renger: Die Kirchenpolitik des Ministeriums Altenstein in der Rheinprovinz: Forschungsstand und Quellenlage, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 39 (1990), S. 235–245, zu Nicolovius bes. S. 240. Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 2. Zum Ausgang des Konflikts vgl. Hegel, Droste zu Vischering, 1983, S. 148; Hegel, Die katholische Kirche, 1979, S. 352–355.
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der ihm im Zuge der Karlsbader Beschlüsse 1819 entzogenen worden war.76 Auch aufgrund der scheinbar positiven Einstellung des Königs gegenüber modernen und fortschrittlichen Verkehrsmitteln und technischen Errungenschaften meinten die liberalen Zeitgenossen auf die Liberalisierung der politischen Verhältnisse hoffen zu dürfen, was sich aber, wie Treitschke es später formulierte, als »Mißverständnis zwischen Liberalen und Krone« herausstellen sollte.77 Kinkels Gedicht Am Huldigungstage (G I, S. 57–58) ist Teil einer umfangreichen panegyrischen Publizistik und Dichtung, in der diesen Hoffnungen Ausdruck verliehen wurde. Das Gedicht bedient sich dabei der antiken Odenform, die besonders auch als Gattung für repräsentative Themen und festliche Anlässe galt und dann im 18. Jahrhundert in der empfindsamen Dichtung und der präzisen Analyse vor allem der von Horaz überlieferten Vorbilder etwa von Klopstock wieder eine Blütezeit erlebte. In den poetologischen Schriften der 1830er und 1840er Jahre wurde der Odenstrophe ein exklusiver Charakter attestiert.78 Die hier gewählte strenge und feierliche Form der Ode steht also in engem Zusammenhang mit dem Anlass, Inhalt und der – zumindest indirekten – Widmung des Gedichtes an den preußischen König. Es handelt sich um die kleine asklepiadeische Odenstrophe mit drei sechshebigen, trochäisch-daktylischen und katalektischen Zwölfsilbern, denen sich ein vierhebiger, ebenfalls trochäisch-daktylischer und katalektischer Achtsilber reimlos anschließt.79 Die sonst bei der asklepiadeischen Odenstrophe aufgrund der Form aus zwei gleichförmigen Zwölfsilbern und einem anschließenden Sieben- und Achtsilber häufig zu beobachtende Zäsur nach dem zweiten Vers, die nicht selten auch inhaltliche Gegensätze auf diese Weise zu präsentieren vermochte, fällt im vorliegenden
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Zu Ruge vgl. Büttner, Friedrich Wilhelm IV., 2005, S. 185; die Zurücknahme zahlreicher Repressionsmaßnahmen ist zusammengefasst bei Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., 2000, S. 225–226. Zitiert nach David E. Barclay: Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen: Gottesgnadentum in einem revolutionären Zeitalter, in: Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. Hg. von Sabine Freitag. München 1998, S. 290–302, hier S. 295. Zur Bewertung der Ode in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert vgl. Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 571–578, bes. 572; Sengle stellt überdies für das frühe 19. Jahrhundert »auf dem Gebiet der Ode eine Art Volksklassizismus« (S. 573) fest, den er in der Erweiterung des Themenspektrums der Gattung um Vaterländisches und Nationales sieht und diesen festmacht etwa in den lyrischen Verarbeitungen der Befreiungskriege in Odenform des seinerzeit bekannten Friedrich August von Stägemann; ferner als Überblick den Artikel von Dieter Burdorf: Ode, Odenstrophe, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. II. Hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 735–739. Vgl. auch den kurzen Kommentar von Brandt-Schwarze, »Der Maikäfer« (Kommentar), 1991, S. 202; zur (großen) asklepiadeischen Strophe vgl. Frank, Handbuch, 1993, S. 338–341; zum antiken Vorbild bei Horaz vgl. Sandro Boldrini: Prosodie und Metrik der Römer. Aus dem Italienischen übertragen von Bruno W. Häuptli. Stuttgart, Leipzig 1999, bes. S. 155–156.
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Gedicht weg. Vielmehr lässt sich eine thematische Zweiteilung des gesamten Gedichtes beobachten. Die ersten fünf Strophen entwerfen ein auf den ersten Blick apologetisches, allgemeines Fürstenbild auf der Grundlage der in diesem Zusammenhang traditionellen Opposition von Bürger und König, Reden und Schweigen, Zwang und Freiheit. Das Gedicht gibt sich von der Überschrift her anlassbezogen, ohne ein konkretes Huldigungsfest zu nennen. Doch dürften Kinkel die opulenten Huldigungsfeste zu Ehren des Königs vor der ostpreußischen Ritterschaft in Königsberg und der Ständeversammlung in Berlin vom Oktober 1840 sicherlich bekannt gewesen sein, zumal das Gedicht fast gleichzeitig entstanden ist:80 1
O du, welchen die Nacht schlichtesten Bürgerthums Aufzog, trautem Erguß, herzlicher Rede hold: Wenn so leicht dir das Wort strömt auf die Lippen hin, Schilt den schweigenden König nicht!
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Anders fühlet der Mann, dem mit des Purpurs Glut Schon der Tag der Geburt sengte des Auges Stern, Dem mit fürstlicher Pracht bange den Wiegenschlaf Preßte marmorner Hallen Wucht.
Ihn umschleichet den Traum frühe der Späher Gier; 10 Gleißend ringelt um ihn Lüge der Sklaven sich; Schnöde Meister verketten des Knaben Wort. Ach, ein König – er ist nicht frei! Zürn ihm, Niedriger, nicht, wenn er, ein reifer Mann, Düster schauet und kalt unter der Krone Glut, 15 Wenn die Fessel aus Gold Lippen und Herz ihm zwängt, Dass nicht flute der Rede Born! Oft wohl wallt ihm die Brust, wenn am Palastesthor Jauchzend tobet das Volk; wenn er auf hohem Roß Siegsfroh führt an den Feind schimmernder Krieger Schwarm 20 Ach, sie wallet umsonst: er schweigt!
Die Bilder von der frühen Vorbereitung auf die Last von Aufgabe und Amt des Königtums (V. 5–8), seiner Verantwortung und Alleinstellung (V. 9–12) folgen zwar in den ersten drei Strophen etablierten Vorstellungen von Fürsten- und Königtum, doch zeigen sich in den Strophen vier und fünf auch deutliche Anspielungen auf den Charakter und Herrscherstil des zum Entstehungszeitpunkt des Gedichtes schon verstorbenen Friedrich Wilhelms III. (bes. V. 13: »ein reifer Mann«). Dessen verschlossene und unnahbare Haltung wurde bereits von den Zeitgenossen immer wieder kritisiert, was sich hier im Bild des zwar innerlich bewegten aber dennoch
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Zu den – offenbar schon damals teils als »anachronistisch« empfundenen – Huldigungszeremonien vgl. Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., 2000, S. 225.
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schweigenden Königs (V. 16 und V. 17–20) widerspiegelt.81 Die bereits in der ersten Strophe beim Bürger festegestellte Identität von »Wort« und »Lippen« (V. 3), wird hier – freilich in ihrer negativen Umkehrung – wieder aufgegriffen (V. 15), wobei in der Maikäfer-Fassung vom 15. Oktober 1840 auch tatsächlich dieselben Worte verwendet werden (»Lippen und Herz«).82 Die ersten fünf Strophen der feierlichen Ode zum Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. schließen sich also zu einem Auftakt zusammen, der überhaupt nichts mit dem Gefeierten selbst zu tun hat, sondern vielmehr dazu dient, die in den folgenden Strophen sechs bis zehn präsentierten positiven Eigenschaften des neuen Königs stärker hervorzuheben. Bemerkenswert sind zudem die ersten vier Verse. Das Gedicht hebt an mit einer Apostrophe, mit der allerdings nicht – wie vielleicht zu erwarten – der gefeierte König oder überhaupt eine hochgestellte Person, sondern der einfache Bürger (V. 1) angesprochen wird, in dem sich freilich auch Kinkel als Autor erkennen lässt. In der zweiten Hälfte des Gedichts hingegen richten sich die Worte des Sprechers an ein Kollektiv, das sich aus den einzelnen Gruppen (V. 26–27) zusammensetzt und als Gemeinschaft des vom König regierten preußischen Volkes, personifiziert in der »Borussia« (V. 29), zu verstehen ist: Aber herrlich und hehr stehet ein König da, Der mit flammendem Geist nieder die Schranken warf, Der im Strom des Gefühls freudigen Muthes schwimmt, Nicht erdrückend des Herzens Puls. 25 Dem das lodernde Wort wecket der Augenblick, Weckt des brausenden Volks freudegetragener Ruf, Wenn sie dankend ihm nahn, sey es im Bürgerkleid, Sey’s im blitzenden Waffenschmuck. Hoch auf hebe das Haupt, stolze Borussia, 30 Das am baltischen Meer mauergekrönt dir ruht; Und, den stark du gefaßt, rheinischen Rebenkranz, Schüttl’ ihn freudig in hoher Hand! Solch ein König ist dein! Huldigend neige dich, Weit auf schließe das Herz, horche dem kräft’gen Spruch, 35 Der, wenn stark im Gefühl fürstlicher Macht er glüht, Ihm begeisternd vom Munde blitzt!
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Vgl. zur Wahrnehmung und Wirkung Friedrich Wilhelms III. Kuhlmann, Friedrich Wilhelm III., 2000, S. 214–217. Vgl. die geringfügige Änderungen zeigende Ur-Fassung (Jg. I, Nr. 16; dort der Titel: Ode am Huldigungsfeste) im Abdruck bei Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 159–160.
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Was ein Schreiber gebrieft, modert zum Staube bald; Doch ein königlich Wort frei aus der Brust heraus Machtvoll schlägt es ins Herz sehnender Völker ein, 40 Ahnung künftiger Riesenthat!
Das bereits in den ersten fünf Strophen eingesetzte Stilmittel der Alliteration (V. 2: »herzlicher Rede hold«; V. 14: »und kalt unter der Krone Glut«) wird im zweiten Teil des Gedichtes noch häufiger eingesetzt. Damit verstärken sich Eindringlichkeit und Einprägsamkeit der hier vollzogenen Huldigung und deren Nachvollzug, was nicht zuletzt auch auf die mit der Gattungskonvention zusammenhängende potentielle Singbarkeit der Odenstrophe verweist. Besonders auffällig sind die vielen h-Alliterationen, die nicht nur den Zusammenhang mit der ersten Strophe herstellen (V. 2: »herzlicher Rede hold«), sondern auch durchweg mit positiven Begriffen gebildet werden: »Aber herrlich und hehr stehet ein König da« (V. 21); »Hoch hebe das Haupt, stolze Borussia« (V. 29); »Weit auf schließe das Herz, horche dem kräft’gen Spruch« (V. 34). Gleichwohl erschöpft sich das Gedicht nicht ausschließlich in bedingungsloser Huldigung. Die hervorgehobenen positiven Eigenschaften des gefeierten Herrschers wie Offenherzigkeit und ein unverstelltes Wesen (V. 23–24), Volkszugewandtheit (V. 25–28) und Regierungskompetenz (V. 34–36) können gleichzeitig auch als Forderungen, zumindest aber als hoffnungsvoll sich bald erfüllende Versprechen interpretiert werden, was besonders der letzte Vers auch nahelegt: »Ahnung künftiger Riesenthat!« (V. 40). Die zahlreichen Reden Friedrich Wilhelms IV., auf die hier angespielt wird und die letztlich zu seiner vorübergehenden Popularität bei den Liberalen beigetragen haben, standen zum einen im Gegensatz zur »schweigsamen« Person seines Vaters, was der Volksmund in den Vater und Sohn zugeordneten Epithetha »Hochseliger« und »Redseliger« pointiert zusammenfasste.83 Der anfänglichen Euphorie wich schnell die Einsicht, dass den Reden und Versprechen des Königs keine Taten folgten, schon gar keine »Riesenthaten« im Hinblick auf die geforderte nationalstaatliche Einheit, was schon Georg Herwegh in seinem bereits zwischen Oktober 1840 und Frühjahr 1841 entstandenen Gedicht An den König von Preußen bemerkte und in der siebten Strophe (V. 7) die Diskrepanz zwischen Reden und Taten unterstreicht: »Wir sind der vielen Worte müd«.84 Neue Konflikte zwischen den fortschrittlichen Kräften und der preußischen Regierung entzündeten sich zunächst an Fragen der Pressefreiheit, Zensur und des 83
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Hans-Joachim Schoeps: Der Erweckungschrist auf dem Thron. Friedrich Wilhelm IV., in: Der verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Hg. von Peter Krüger und Julius H. Schoeps. Potsdam 1997 (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 1), S. 71–90, hier S. 74. Georg Herwegh: Gedichte 1835–1848. Bearbeitet von Volker Giel, in: Georg Herwegh: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hg. von Ingird Pepperle in Verbindung mit Heinz Pepperle, Norbert Rothe und Hendrik Stein. 6 Bde., hier: Bd. 1. Bielefeld 2006, S. 52–54, Zitat S. 54; vgl. auch den Kommentar S. 366–371.
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Parlamentarismus, die Johann Jacoby – der mit Kinkel 1849 in der Preußischen Abgeordnetenkammer in Berlin als Vertreter der Republikaner saß – in seiner bekannten Schrift Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen (1841) in den Mittelpunkt stellte und auch gleich im Sinne des politischen Mitspracherechts des Volkes beantwortete.85 Die Reaktion Friedrich Wilhelms IV. ließ überdeutlich erkennen, dass er diese Forderungen ablehnte und besonders im Falle der Zensur in Zukunft wenig freiheitlichen Spielraum zulassen werde.86 Die Folgen von Georg Herweghs berühmter Audienz beim König im November 1842 verschärften die Zensur der »öffentlichen Meinungsbildung« noch einmal erheblich.87 Diese Enttäuschung spiegelt sich auch in Kinkels Gedicht 14. Sept. 1842 wider, das, so weit ich sehe, nicht in eine der Buchausgaben aufgenommenen wurde. Es wurde zuerst im dritten Jahrgang des Maikäfer am 11. Oktober 1842 publiziert und kann als Gegenstück zu seiner Ode Am Huldigungstage verstanden werden.88 Der Titel bezieht sich auf den Einzug Friedrich Wilhelms IV. in die unter anderem nach Karl Friedrich Schinkels Plänen zur Sommerresidenz ausgebaute Burg Stolzenfels am Rhein bei Koblenz eben am 14. September 1842.89 1
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Laut jubeln hör’ ich alle Leute, die Glocken hallen weit durchs Land. Der König, wißt, besucht uns heute, drum freuen Alle sich der Beute, die ihnen heut ward zugewandt.
O eilt und strömt ihm rasch entgegen! Sie sagen ja, er sei so gut. Von seiner Ferse träufelt Segen, von seiner Hand ein goldner Regen, 10 auch Orden gar und Federhut. Ihm jauchzt mit Recht der Feuerwerker, ihm brachte ja sein Pulver Geld; der Gärtner schmückte Thor und Erker. und selbst der Färber pustet stärker, 15 manch buntes Fähnchen ward bestellt.
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Vgl. hierzu Büttner, Friedrich Wilhelm IV., 2000, S. 186–188. Zur ›Wende‹ in Friedrich Wilhelms IV. politischer Haltung aus historischer Perspektive und Bewertung vgl. Angelow, Friedrich Wilhelm IV., 2002, S. 70; Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., 2000, S. 227–229; Barclay, Friedrich Wilhelm IV., 1998, S. 295–296. Vgl. Büttner, Friedrich Wilhelm IV., 2000, S. 188. Der folgende Abdruck nach der Neuedition von Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 2, 1983, S. 347–348. Zur preußischen Burg Stolzenfels vgl. die Passage bei Horst Johannes Tümmers: Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte. München 1995, S. 270–271; ausführlich zur Baugeschichte und Nutzung vgl. Ursula Ratzhke: Preußische Burgenromantik am Rhein. Studien zum Wiederaufbau von Rheinstein, Stolzenfels und Sooneck (1823– 1860). München 1979 (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, Bd. 42), hier S. 46–115.
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Die junge Dame mag sich freuen, der geizige Onkel wird splendid: er ließ ihr Kleid und Band erneuen, er ließ es heut sich nicht gereuen, 20 dass sie geputzt zum Fürsten tritt. Ich weiß, einst schlug an solchen Tagen auch mir das Herz begeistert warm. Warum nicht mehr? Wollt ihr mich fragen, Ich kann’s mit kurzen Worten sagen, 25 Ich war noch nie so bitter arm. Ja wärens noch die alten Zeiten, da man den Sänger hochgeschätzt – stolz wollt’ ich mit zu Hofe reiten, und rauschen sollten meine Saiten, 30 die heut der Unmut mir zersetzt. Doch nicht undankbar will ich scheinen: Man pflasterte den kothigen Weg vor meiner Thür mit neuen Steinen – ich will dem Jubel mich vereinen: 35 Dir, König, dank’ ich saubern Steg.
Im Unterschied zu der gut ein Jahr zuvor entstandenen Huldigungsode an den König dominieren hier keine feierlichen, sondern satirische, ja, am Ende sogar spöttische Töne, wenn in der letzten Strophe (V. 31–35) als einzige – aber eben auch nur vorübergehende – soziale Verbesserung durch den neuen König die Entkotung und Säuberung der Straßen angeführt werden kann. Wie später in Ferdinand Freiligraths Gedicht Von unten auf! (1846)90 bildet der Anlass einer Rheinfahrt des Königs bzw. seines Einzugs in die Burg Stolzenfels nur den Hintergrund für die Beschreibung verschiedener sozialer Gruppen und Zustände, bei Freiligrath sogar für die – zumindest verbale – Erhebung des Proletariats. Die ersten vier Strophen fügen sich lediglich zur Beschreibung eines Festtages zusammen. Zwar gibt das Sprecher-Ich seine Eindrücke der festlichen Stimmung wieder (V. 1–5), doch werden keine Aufforderungen mehr zur emphatischen Begeisterung für das Ereignis formuliert. Auch der scheinbar Anteilnahme ausdrückende Imperativ »O eilt und strömt ihm rasch entgegen« (V. 6) weist nicht auf eine emotionale Beteiligung des Sprechers am Geschehen hin – wie noch in Am Huldigungstage –, sondern im nachfolgenden Vers wird durch die unpersönliche Formulierung (»Sie sagen ja, er sei so gut«, V. 7) eine ausgesprochen distanzierte Bewertung des Königs deutlich.
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Ferdinand Freiligrath: Gedichte. Auswahl und Nachwort von Dietrich Bode. Stuttgart 1964 (RUB, 4911), S. 109–120.
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Gleichwohl werden in den Strophen zwei bis vier kurzfristige, mit dem Besuch des Königs zusammenhängende ökonomische Verbesserungen einzelner Berufsgruppen genannt, von denen sich der Sprecher als »bitter armer« (V. 25) Dichter allerdings ausgeschlossen fühlt. Gleichzeitig besinnt sich das dichtende Ich hier auf frühere Stimmungslagen bei ähnlichen Anlässen und Einstellungen gegenüber dem König (V. 21–25), womit zweifelsohne eine intertextuelle Beziehung zwischen diesem Gedicht und Kinkels ein Jahr älterer Huldigungsode hergestellt werden soll. Mit der in Strophe sechs (V. 26–30) eingenommenen Rolle eines überflüssig gewordenen höfischen Sängers, der sich nach zurückliegenden Zeiten größerer Bedeutung seiner Kunst sehnt, wird überdies der Komplex einer mittelalterlichen Welt und Gesellschaftsform aufgetan, die sich gleichzeitig in Verbindung bringen lassen mit Friedrich Wilhelms IV. seit seinem Amtsantritt immer stärker an Kontur gewinnender Bewunderung mittelalterlich-sakraler Königsauffassung.91 Die vielfach von den Zeitgenossen kritisierte Wunschvorstellung des Königs einer »Umgestaltung der Monarchie auf ständisch-korporativer Grundlage«, in der die »ständischen Einrichtungen des Landes zwar in ihren Rechten erhalten bleiben, deren Mitbestimmung aber als ein Geschenk des Königs von Gottes Gnaden zu verstehen« zu sein sollte,92 hat Kinkel in dem nur wenige Monate zuvor entstandenen Gedicht Bote, sage dem Kaiser seines armen Lehnsmanns Rath (G VI, S. 233–234) aufgegriffen, das ebenfalls zuerst im dritten Jahrgang des Maikäfer am 28. Juni 1842 (Nr. 26) erschienen war.93 Auch hier werden aktuelle politische Zustände und Entscheidungen Friedrich Wilhelms IV. in lyrischer Form kommentiert und kritisiert: 1
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Herr König, willst was Rechts vollbringen Und in dem Lorbeerkranz dich sehn, So lerne eins vor allen Dingen: Des Volkes Willen recht verstehn! Strebst du zum Ziel, das Alle wollen, So hast du bald den Lauf vollbracht – Denn das zu thun, was Alle wollen, Ist das Geheimniß jeder Macht.
Vgl. Barclay, Friedrich Wilhelm IV., 1998, S. 290. Günther Grünthal: Verfassungsdenken und Regierungsstil. Politische Ordnung, Revolution und politische Praxis im Umkreis Friedrich Wilhelms IV., in: Der verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Hg. von Peter Krüger und Julius H. Schoeps. Potsdam 1997 (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 1), S. 123–143, hier S. 130; beeinflusst wurde der König von dem schon oben erwähnten konservativen Staatstheoretiker Leopold von Gerlach, dessen Tagebucheintrag vom Beginn des Jahres 1845 diese Tendenzen zusammenfasst, hier zit. nach Grünthal, Verfassungsdenken, 1997, S. 130: »Ich will die Brücke zum Liberalismus für mich und meine Nachfolger abwerfen, und aus der Krankheit herauskommen, die wir uns à coup des lois durch die Gesetze von 1815, 1820 und 1823 zugezogen haben […]. Ich will keine Reichsstände, sondern statt derselben die 8 Landtage, die Deputirten von Ritterschaft, Städten und Bauern mit einer Geschäftsordnung in einer Stimme nach Curien.« Vgl. den Abdruck bei Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 2, 1983, S. 223–224.
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Will einer die zersprengten Juden 10 Zum Volk gestalten rein und ganz, Die längst beim Glanz der Wechselbuden Vergaßen Palästina’s Glanz – Dann werden ihm die Christen grollen, Und selbst der Jude flucht ihm sacht – 15 Nur das zu thun, was Alle wollen, Ist das Geheimniß jeder Macht. Will einer neue Junker schaffen, Da längst der Bürger führt das Schwert, Und wollen gar die jungen Laffen 20 Sich setzen auf das hohe Pferd – So wahr’ die Stern am Himmel rollen, Wir ziehn den Stahl zur Bürgerschlacht – Nur das zu thun, was Alle wollen, Ist das Geheimniß jeder Macht. 25 Will einer uns, die Jünglingsseelen, Die fromm und frei vor allen sind, Mit einem greisen Weib vermählen, Das fort an toter Satzung spinnt – Wir spielen nicht die Pfaffenrollen 30 In Englands eitler Priestertracht – Nur das zu thun, was Alle wollen, Ist das Geheimniß jeder Macht. Herr König, laß das Halbe, Schlechte, Da du ja selbst das Aechte weißt; 35 Gib los das Wort, gib uns die Rechte, Die deines Vaters Eid verheißt. Das ist es, was wir alle wollen, Dann führ’ uns, wie du willst, zur Schlacht – Hast du gethan, was Alle wollen, 40 So bricht kein Teufel deine Macht!
Die Form des aus Versen mit gleichmäßigem, vierhebigem Jambus bestehenden Achtzeilers mit abwechselnd weiblich und männlich schließenden Versausgängen sowie einem doppelten Kreuzreimschema wurde in der Lieddichtung des frühen 19. Jahrhunderts durch die patriotische Lyrik von Ludwig Uhland populär, besonders in Gedichten wie Am 18. Oktober 1815 und Den Landständen (1815).94 Kinkels Gedicht folgt nicht nur dieser Strophenform, sondern zeigt auch unver-
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Vgl. Frank, Handbuch, 1993, S. 649–653, bes. S. 652; Vgl. auch die Gedichte in der Ausgabe Ludwig Uhland: Gedichte. Vollständige kritische Ausgabe auf Grund des handschriftlichen Nachlasses. Besorgt von Erich Schmidt und Julius Hartmann, Bd. 1. Stuttgart 1898, S. 67–69 bzw. 79–80.
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kennbare Parallelen in der Thematik und Begriffswahl besonders mit Uhlands Nachruf (1815).95 Recht ungewöhnlich ist die Sprechsituation von Kinkels Gedicht, die sich aus der Überschrift ableiten lässt: hier wendet sich – anders als in den bisher betrachteten Beispielen – kein Sprecher direkt an den König, sondern das Vorgetragene richtet sich an einen Boten, der den Rat des »Armen Lehnsmann« an den König weitergeben soll. Dabei handelt es sich mitnichten um einen funktionslosen literarischen Kunstgriff. Vielmehr rekurriert die Sprechsituation auf das von Friedrich Wilhelm IV. favorisierte mittelalterliche, mythisch-sakrale Modell von König- und Herrschertum, aus dessen Bedeutungsbereich ja auch die Begriffe »Kaiser / König« und »Lehnsmann« stammen und auf das sich der Sprecher des Gedichts hier zur Übermittlung seiner Botschaft einlässt. Die Gleichförmigkeit der ersten und letzten Strophe, deren jeweils erste Verse mit derselben Apostrophe des Adressaten (»Herr König«, V. 1 und 33) beginnen, macht das Gedicht besonders einprägsam und wirkungsvoll im Hinblick auf seine kritische Aussageabsicht. Dazu tragen andererseits auch die sich refrainartig wiederholenden letzten beiden Verse der drei inneren Strophen (2–4) bei, die zudem auch die Kernaussage des Gedichts vermitteln und dem König als Handlungsmaxime die Umsetzung des Volkswillen – im politisch-verfassungsmäßigen Sinne auch die Einsetzung einer die Volksvertretung – raten (V. 15–16, 23–24, 31–32). Der Bezug zu den nationalen Forderungen eines Uhland nach den Befreiungskriegen wird vor allem in der Erinnerung an das Versprechen Friedrich Wilhelms III. deutlich: »Gib los das Wort, gib uns die Rechte, / Die deines Vaters Eid verheißt« (V. 35–36). In Uhlands Nachruf kommt ebenfalls der Begriff des Rechts als Gemeingut, das nicht von fürstlicher Gnade abhängig ist und damit auch das Recht auf politische Partizipation meint, wie es Friedrich Wilhelm III. im März 1815 in Form eines Verfassungsversprechens in Aussicht gestellt hatte, beinahe in jeder Strophe vor:96 1
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Noch ist kein Fürst so hochgefürstet, So auserwählt kein ird’scher Mann, Dass, wenn die Welt nach Freiheit dürstet, Er sie mit Freiheit tränken kann, Dass er allein in seinen Händen Den Reichthum alles Rechts hält, Um an die Völker auszuspenden So viel, so wenig ihm gefällt.
Uhland, Gedichte, 1898, S. 80–82. Zum Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III., zu dem ihn am 22. März 1815 Hardenberg erst überreden musste vgl. Karl Ottmar Von Aretin: Vom deutschen Reich zum deutschen Bund. Göttingen 1980 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1455), hier S. 165.
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Die Gnade fließet aus vom Throne, 10 Das Recht ist ein gemeines Gut, Es liegt in jedem Erdensohne, Es quillt in uns wie Herzensblut; Und wann sich Männer frei erheben Und treulich schlagen Hand in Hand, 15 Dann tritt das innre Recht in’s Leben Und der Vertrag giebt ihm Bestand. Vertrag! es gieng auch hier zu Lande Von ihm der Rechte Satzung aus, Es knüpfen seine heil’gen Bande 20 Den Volksstamm an das Fürstenhaus. Ob einer im Palast geboren, In Fürstenwiege sei gewiegt, Als Herrscher wird ihm erst geschworen, Wenn der Vertrag besiegelt liegt.97
Die drei inneren Strophen von Kinkels Gedicht Bote, sage dem Kaiser behandeln indessen ganz aktuelle Aspekte preußischer Politik wie die Situation der Juden in der preußischen Gesellschaft (Strophe 2), die Frage der Gutsuntertänigkeit und der Wiederbelebung des Junkertums (Strophe 3) und schließlich die Anglomanie des Königs (Strophe 4). Die Dringlichkeit der im 19. Jahrhundert wieder verstärkt diskutierten Judenfrage im preußischen Reich dokumentieren die schon unter Friedrich Wilhelm III. verordneten Erlasse zur Judenfrage,98 mehr aber noch dann seit dem Amtsantritt Friedrich Wilhelms IV. die fast bis zum Revolutionsjahr sich hinziehenden Gesetzesentwürfe, deren Ende erst mit einem 1847 in den preußischen Landtag eingebrachten Vorschlag zur gesetzlichen Rechtsstellung der jüdischen Gemeinden in Preußen zu einem vorläufigen Ergebnis kam.99 Einen zentralen Aspekt in der Diskussion stellte die grundsätzliche Frage nach dem Status der Juden dar. Von den Konservativen wurden die Juden in Anlehnung an das ältere jüdische Selbstverständnis als eigenes »Volk« bezeichnet, von den
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Uhland, Gedichte, 1898, S. 80–81. Hierzu Kurt Nowak: Judenpolitik in Preußen. Eine Verfügung Friedrich Wilhelms III. aus dem Jahr 1821. Stuttgart, Leipzig 1998 (Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig; philologisch-historische Klasse, Bd. 136, Heft 3). Die jüdische Geschichte in Preußen im 19. Jahrhundert ist hervorragend dokumentiert in der vierbändigen, nach Regionen und Provinzen eingeteilten Quellen-Darstellung von Manfred Jehle (Hg.): Die Juden und die jüdischen Gemeinden in amtlichen Enquêten des Vormärz. Enquête des Ministeriums des Innern und der Polizei über die Rechtsverhältnisse der Juden in den preußischen Provinzen 1842–1843 […] Mit einem Beitrag von Herbert A. Strauss. 4 Teile. München 1998; hier bes. den einleitenden Beitrag in Teil 1 von Herbert A. Strauss: Bilder von Juden und vom Judentum in der Entwicklung der Gesetzgebung Preußens im Vormärz (S. XXIX–LVIII), hier S. XXXIII; die zugrunde liegenden Quellen Teil 2 (Rheinprovinz), S. 445–554.
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Liberalen – die indessen auch von katholischen Kräften in ihrer Forderung nach vollständiger Emanzipation der Juden unterstützt wurden – hingegen wurden sie als preußische Staatsbürger verstanden, die damit auch integrierter Teil der Nation waren. Symptomatisch für diese Haltung auch unter den Juden selbst ist eine Festrede des Rabbiner Israel Deutsch (1800–1853) zur Regierungsübernahme Friedrich Wilhelms IV., in der sich zudem die Hoffnung manifestiert, die Selbstwahrnehmung vieler Juden als preußische Staatsbürger auch in naher Zukunft rechtlich zu regeln.100 Wenn in der zweiten Strophe von Kinkels Gedicht also von dem Vorhaben die Rede ist, die Juden »Zum Volks [zu] gestalten rein und ganz« (V. 10) sind damit weniger »protozionistische« Überlegungen etwa eines Zvi Hirsch Kalischer (1795–1874) gemeint,101 sondern die von Friedrich Wilhelm IV. angestrebte faktische Isolation der Juden, was Herbert A. Strauss so zusammenfasst: Bezeichnenderweise waren seine [Friedrich Wilhelms IV., B.W.] Gesetzentwürfe für die Etablierung separierter jüdischer politischer Korporationen einer der wenigen Schritte, mit denen er allen Ernstes versuchte, seine Ideen in die politische Realität umzusetzen. Wäre es erfolgreich gewesen, so wären die Juden auf Dauer in einen separaten Minderheitenstatus eingefroren worden und hätten politische, soziale und ökonomische Benachteiligungen für den Vorteil, als Gruppe eine Sonderexistenz behaupten, zu erleiden gehabt.102
Enorm wichtig für die an romantisch-ständischen Vorstellungen mit einer starken Krone orientierte Staatsauffassung Friedrich Wilhelms IV. war auch das Vorbild England, das er Anfang des Jahrs 1842 besuchte, um der Taufe des Prinzen von Wales beizuwohnen.103 Seine Begeisterung für Großbritannien als politisches Idealland fand auch ihren Niederschlag in der Kirchenpolitik. Institutionelles Ergebnis dieser Koalition war die letztlich von Carl Josias Bunsen vorangetriebene Verbindung mit der anglikanischen Kirche als ›protestantischer Schwester‹ in Form der Gründung eines gemeinsamen protestantischen Bistums in Jerusalem, das 1841 mit der Einsetzung des ersten Bischofs aus der Taufe gehoben wurde und bis 1886 bestand.104
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Die Rede wird behandelt von Hans-Michael Haußig: Ein Fest der Freude und des Dankes. Zur Huldigungs-Rede von Rabbiner Israel Deutsch anläßlich der Inthronisation des Geburtstages des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV., in: Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Hg. von Arno Herzig, Hans Otto Horch und Robert Jütte. Göttingen 2002, S. 178–193; eine Auswahl von Schriften (Jakob Weil, Berthold Auerbach, Eduard Reiss u.a.), die das Thema Judentum und Literatur im Vormärz behandeln, findet sich in der Sammlung von Alfred Estermann (Hg.): Politische Avantgarde 1830–1840. Eine Dokumentation zum »Jungen Deutschland«. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1972, hier Bd. 1, S. 295–346. Ebd., S. 181 Strauss, Bilder von Juden, 1998, S. XLVIII. Vgl. zum Englandbild Kroll, Friedrich Wilhelm IV., 1990, S. 167–171. Zu den Hintergründen der Bistumsgründung vgl. Chana Christiane Schütz: Friedrich Wilhelm IV. und das Bistum Jerusalem, in: Der verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Hg. von Peter Krüger und Julius H. Schoeps. Potsdam 1997 (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 1), S. 249–266, bes. S. 255–258; in weiterer Per-
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Diese vom König unterstützte Annäherung zwischen der englischen Kirche und Preußen wurde indessen auch von der preußischen Kirche beargwöhnt, die sich in der Gefahr sah, »britische[m] Hochmut« und »anglikanische[r] Hochnäsigkeit«105 bei einer enger werdenden Beziehung ausgesetzt zu sein. In Kinkels Gedicht steht den fortschrittlichen »Jünglingsseelen« (V. 25) das »greise Weib« (V. 27) gegenüber, mit dem die englische Kirche gemeint ist. Obgleich sich die Verbindung der beiden Kirchen zur Entstehungszeit des Gedichts noch in den Anfängen befand, wird vor ihr als Gefährdung der königlichen Autorität gewarnt und – wie schon in allen anderen Strophen – auf die fehlende Unterstützung dieser Vorhaben beim Volk verwiesen. Am Ende der Strophe steht wieder die Forderung nach politischen Entscheidungen, die aufgrund von Mehrheitsvoten und im Einvernehmen mit dem Volkswillen getroffen werden sollen: »Nur das zu thun, was Alle wollen, / Ist das Geheimniß jeder Macht. (V. 31–32).
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Soziale Gedichte (Die sieben Berge – Die Auswanderer des Ahrtals)
Anlass und Hintergrund für die Thematisierung sozialer Fragen wie Auswanderung, Hunger und Armut waren für Kinkel oftmals die auf Reisen und Wanderungen gewonnenen Eindrücke und Anschauungen. Besonders in den 1840er Jahren bis zur Revolution unternahm Kinkel mit verschiedenen Mitgliedern des Maikäferbundes ausgedehnte und kürzere Wanderungen im Rheinland sowie im Mosel- und Ahrgebiet, aus deren Zusammenhang das im folgenden auch behandelte Gedicht Die Auswanderer des Ahrthals (1842) entstanden ist.106 Das Siebengebirge freilich, das als Bildspender der im Gedicht Die sieben Berge (1842) entworfenen Gesellschaftsordnung fungiert, konnte Kinkel von seinem Bonner Wohnort auf der gegenüberliegenden, rechten Rheinseite sehen. Wenn auch in Die Auswanderer des Ahrthals weniger auf die politischen Ursachen der Emigration ganzer Familien eingegangen wird, so ist Rösch-Sondermanns Feststellung doch zu widersprechen, Kinkels Denken der frühen 1840er Jahre sei gekennzeichnet durch eine »strikte Trennung von Sozialem und Politischem, von Gesellschaft und Staat«.107 Das Gegenteil belegen exemplarisch die bereits vorgestellten Schriften und Reisebücher zur Ahr sowie das im vorigen Kapitel behan-
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spektive bis ins späte 19. Jahrhundert vgl. Martin Lückhoff: Anglikaner und Protestanten im Heiligen Land. Das gemeinsame Bistum Jerusalem (1841–1886). Wiesbaden 1998. Hans Joachim Schoeps: Der Widerstand der Berliner Geistlichkeit gegen die Gründung des Bistums zu Jerusalem, in: Glaube, Geist, Geschichte. Festschrift für Ernst Benz. Hg. von Gerhard Müller und Winfried Zeller. Leiden 1967, S. 231–243, hier S. 233. Zu den Reisen vgl. Oskar Schultheiss: Gottfried Kinkels Jugendentwicklung und der Maikäferbund, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere der Erzdiozöse Köln 113 (1928), S. 97–128, hier S. 105–107. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 245.
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delte Gedicht 14. Sept. 1842, in dem sehr wohl schlechtes oder falsches politisches Handeln als Grund für Armut und soziale Missstände aufgeführt wird (Strophe 5). ›Soziale Lyrik‹ wird im Folgenden nicht als Gegenstück zur politischen Lyrik verstanden – von der sie sich gar nicht trennen lässt –, sondern als literaturwissenschaftliche Kategorie, in die sich Gedichte einordnen lassen, in denen schwerpunktmäßig soziale Themen und Gesellschaftsbilder im Vordergrund stehen. Das in 23 Vierzeiler eingeteilte Gedicht Die sieben Berge (G II, S. 177–181) wurde zuerst im 3. Jahrgang (Nr. 39) des Maikäfer-Heftes publiziert und ist dort auf den 5. September 1842 datiert:108 1
Da sitz ich so auf meiner Kneip, Und seh’ nach den sieben Bergen; Die will der herbstliche Nebel mir Verkappen und verbergen.
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Ei nein, da guckt ihr schon hervor, Ihr lieben alten Gesellen, Ihr zieht des Nebels Schlafmütz ab, Und sonnt das Haupt im Hellen.
Wenn man so still in den Morgen schaut, 10 Die Wipfel rauschen und schwanken, So kommen einem, man weiß nicht wie, Gar seltsame Gedanken. Nun ist mir längst vorbei die Zeit, Romantisch zu fantasieren, 15 Und wo ich hinaus in die Welt nur seh’, Muß ich politisieren. Du da, mein wackrer Drachenfels, Mit der brüchigen Mauerkrone, Du bist des Königs riesiges Bild 20 Auf stolzem Felsenthrone. Du ruhst in stiller Majestät Am Strom die mächtigen Glieder, Dein nebelblaues Wälderkleid Rauscht wie ein Mantel nieder. 25 Und hinter dir am Rhein hinauf, Da ziehen in starken Reihen
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Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 2, 1983, S. 333–336; das Gedicht wird auch bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 246–247 kurz als »in vielerlei Hinsicht bemerkenswert« erwähnt. Eine motiv- und themengeschichtliche Einordnung wir indessen nicht vorgenommen.
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Viel Berge, unbedeutend flach, Als ob es Schranzen seien. Und gegenüber schmuck und schön 30 Die Burg zum Godesberge, Umzirkt von leichten Vorlandshöhn, Als wären’s Damen und Zwerge. Das ist deine holde Königin, Doch zwischen eure Verbindung 35 Zieht sich als Etikette hin Des Thalgrunds breite Windung. Zunächst beim Thron, was such’ ich nun? Ei nun, den alten Adel. Die Wolkenburg trug einst ein Schloß, 40 Hoch, prachtvoll, ohne Tadel. Nun hat der Steinbruch bürgerlich Das stolze Haupt zerfressen, Das Schloß lebt in der Sage noch, Sonst hätten wir’s längst vergessen. 45 Nun kommst du, massiger Petersberg, Traun, du willst keinem weichen, Auch trägst du die heil’ge Kapell’ empor Als deines Amtes Zeichen. Du bist der fette Klerikus, 50 Recht breit hervor sich drängend, So wie’s die Kirch’ jetzt wieder thut, Uns arme Laien zwängend. Doch hinter dir die Löwenburg Will höher noch in die Bläue! 55 Den Adel hat vom Platz gedrängt Das Kaufmannsvolk, das neue. Mit ernstem Haupt in strengem Zug Schaut nun der Aulberg nieder, Ich kenne den ernsten Feldmarschall 60 Am Kamm des Helmes wieder. Das sind die Allerhöchsten, wißt – Schacher und Bajonete, Was machte wohl ein deutscher Staat, Wenn er die beiden nicht hätte? 65 Und zwischen die beiden hineinversteckt Ein breiter flacher Rücken,
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Das Bürgerthum, der Bauernstand, Den Krieger und Bankherr drücken. Zuletzt der bange Stenzelberg, 70 Ach Gott, wie miserabel, Auch er war hoch, allein es ward Längst seine Größe zur Fabel. Man baut mit seinen Blöcken stolz Festungen und Museen, 75 Er leiht die Kreuze dem Petersberg, Die an der Wallfahrt stehen. Doch haben sie ihn allzumal In’s Eck zurückgewiesen, Da duckt er sich nun ganz devot 80 Vor seinen Bruderriesen. Das sind die armen gelehrten Leut’ Die Universitäten, Die künstlichen Meister in Stein und Erz, Die Maler und Poeten. 85 Und wenn ich einmal einen Jungen krieg’, Dem will ich die Berge deuten, Und will ihn warnen mein Leben lang Vor den gelehrten Leuten. Ich weiß, nicht kann er der König sein, 90 Und adlich soll er nicht werden, Auch kein Gelehrter, sonst was er will Auf Gottes weiter Erden.
Die einzelnen Erhebungen des im Titel bereits genannten rechtsrheinischen Siebengebirges werden als Bilder (V. 19: »Du bist des Königs riesiges Bild«) verschiedener Gesellschaftsschichten präsentiert. Lediglich der Godesberg als Königin ist linksrheinisch und gehört eigentlich nicht zum Siebengebirge (V. 29–36). Die Standortbestimmungen der Berge zueinander sowie die Größenverhältnisse folgen der tatsächlichen Geographie und werden auch in der Hierarchie der hier allegorisch präsentierten Gesellschaftsordnung aufgenommen.109 Zwar ist der Drachenfels als Königsabbild (V. 17–28) mit 320 Metern Höhe bei Weitem nicht die höchste Erhebung des Siebengebirges, mit Sicherheit aber die prominenteste und durch Sage und Erscheinung auch der majestätischste Berg.110 109
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Zur geographischen Orientierung vgl. Theo Dahlhoff: Streifzüge durch das Siebengebirge. Köln 1968; Hermann Josef Roth: Das Siebengebirge. Köln 1977 (Rheinische Landschaften, Heft 13). An Literatur zum Drachenfels und Siebengebirge fehlt es nicht, zum Drachenfels mit
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Die Gebirgslandschaft, die das Gedicht evoziert, fand auch weite Verbreitung als Motiv in der zeitgenössischen Landschaftsmalerei etwa bei Karl Bodmer (Blick auf die Godesburg und das Siebengebirge, 1836), Johannes Jakob Diezler (Blick auf die Godesburg und das Rheintal mit dem Siebengebirge im Licht der untergehenden Sonne, 1840) oder Johann Ludwig Bleuler (Blick auf die Godesburg mit Königswinter und Siebengebirge, 1840).111 Aus literarhistorischer Perspektive lassen sich zahlreiche Verwendungen ganz unterschiedlicher Bergmotive seit dem Humanismus beobachten.112 Auch die »rheinischen Alpen« waren als Motiv von Gedichten und Gemälden, als Gegenstand von Reise- und Wissenschaftsliteratur nicht erst seit dem 18. Jahrhundert prominent, erreichten aber gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext der ausufernden Rheinliteratur und -dichtung eine zuvor nicht gekannte Popularität und weite Verbreitung.113 War das Siebengebirge noch im späten 18. Jahrhundert auch Gegenstand und Anlass geologischer Auseinandersetzungen um Feuer oder Wasser als grundlegendes Element bei der Entstehung der Erdoberfläche (Carl Wilhelm Nose), so standen bei den Dichtern und Publizisten der Romantik und des Vormärz die lyrische bzw. landeskundliche Erschließung des Gebirgszuges und die ›nationale‹ Bedeutung im Vordergrund (Friedrich Schlegel, Karl Simrock, Aloys Schreiber).114 Allerdings wird der rein lyrisch-romantischen Auffassung und Bedeutung dieser Landschaft gleich zu Beginn von Kinkels Gedicht eine Absage erteilt (V. 13–16). Es erfüllt die Anforderungen einer präzisen geographischen und geologischen Beschreibung und Bestandsaufnahme des Siebengebirges samt seiner damaligen Denkmälerbestände und bezieht seine Spannung auf der allegorischen Ebene aus der durchaus un-
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Blick auch auf die Sagen vgl. Hans-Heinrich Welchert: Wanderungen zu den Burgen und Domen am Rhein. Tübingen 1970, S. 19–22; ebenfalls aus historischer Perspektive aber mit dem Schwerpunkt auf den Denkmalbestand Alexander Thon, Ansgar Sebastian Klein: Burgruine Drachenfels. Regensburg 2007 (Schnell, Kunstführer, Bd. 2651). Hervorragendes Bildmaterial bietet der Band von Karsten Keune (Hg.): Sehnsucht am Rhein. Rheinlandschaften in der Malerei. Gemälde aus der Sammlung Siebengebirge. 2., erweiterte Auflage. Bonn 2007, hier die Seiten 28–33 mit den genannten Gemälden. Zeitlich und geographisch breit gefächert ist der Band zum Thema von Edward Bialek, Jan Pacholski (Hg.): »Über allen Gipfeln…«. Bergmotive in der deutschsprachigen Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts. Dresden 2008. Einen hervorragenden Einblick über die Literatur zum Siebengebirge mit jeweils kurzen Einleitungen und Einordnungen bietet die Textsammlung von Josef Ruland (Hg.): Echo tönt von sieben Bergen. Das Siebengebirge – ein Intermezzo europäischer Geistesgeschichte in Dichtung und Prosa. Zusammengestellt und interpretiert von J.R. Boppard am Rhein 1970, hier besonders auch die Einleitung von Ruland mit wertvollen Literatur- und Quellenhinweisen: »Die rheinischen Alpen« (S. 15–21); auch einige von Kinkels Gedichten (Die sieben Berge; Auf der Wolkenburg; Abendstille) werden vorgestellt (S. 153–156); zur Rheinliteratur insgesamt vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1879, S. 176–181; der Komplex »Rheindichtung« wird weiter unten noch, Kapitel 6.1, ausführlicher behandelt. Vgl. Ruland, Echo tönt von sieben Bergen, 1970, S. 16–20, sehr hilfreich auch zur schnellen Orientierung die Zeittafel ebd., S. 225–231.
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gewöhnlichen Idee, in einer Bergformation das Abbild einer Gesellschaft gespiegelt zu sehen. Freilich waren gerade in der Vormärzzeit aus der Natur abgeleitete oder auf sie übertragene Staats- und Gesellschaftsmodelle nicht unüblich, da sie nicht zuletzt die Kriterien der Einprägsamkeit und Verstehbarkeit erfüllten und insofern ein »hilfreiches Bildarsenal« darstellten115 – man denke im Bereich der politischen Rede etwa an Jakob Philipp Siebenpfeiffers Bild des Baumes zur Beschreibung des Staates.116 Gleichzeitig wird in Die sieben Berge eine Gesellschaftsordnung vorgestellt, die mitunter kritisch bewertet wird, was in Andeutungen wie der »brüchigen Mauerkrone« (V. 18) beim Drachenfelsen, dem Abbild des Königs, zum Ausdruck kommt. Zwar bezieht sich die Formulierung auf den tatsächlichen Zustand der Umfassungsmauer, auf der allegorischen Ebene jedoch lässt sie sich jedoch und gerade aufgrund des zweiten Bestandteils des Wortes »Mauerkrone« auch auf den königlichen Bereich übertragen. Zumindest wird deutlich, dass eine feudale Ordnung, wie sie durch Friedrich Wilhelm IV. angestrebt wurde, nicht mehr als zeitgemäß erachtet werden kann. Daher wird als Repräsentant des Adels auch die unmittelbar nordöstlich des Drachenfelsen gelegene Wolkenburg gewählt (V. 37–44), die mit 324 Metern Höhe von der Löwenburg (455 Meter) überragt wird, die auf der Bildebene die Verkörperung des »Kaufmannsvolkes« (V. 53–56) darstellt. Bei der Schreibweise des nördlich gelegenen Aulbergs als Abbild des Militärs (V. 57–60) greift Kinkel auf eine verbreitete Annahme zurück, demnach die sonst und heute auch als Ölberg / Oelberg bezeichnete Erhebung im Mittelalter den Namen Auelberg / Aulberg nach der Landschaftsbezeichnung Auelgau getragen habe, was Ernst Moritz Arndt in populärer Form gut ein Jahr nach Kinkels Gedicht im Niederrheinischen Jahrbuch von Heinrich Lersch nachweisen wollte.117 Zwischen Aulberg – als Repräsentant des Militärs – und Löwenburg werden mit dem nicht namentlich erwähnten Lohrberg das »Bürgerthum, der Bauernstand«, der »Krieger und Bankherr« verortet (V. 65–68). Der Lohrberg wird zutreffend nicht
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Hartmut Kircher: Naturlyrik als politische Lyrik – politische Lyrik als Naturlyrik. Anmerkungen zu Gedichten der Spätromantik und 48er Revolution, in: Naturlyrik und Gesellschaft. Hg. von Norbert Mecklenburg. Stuttgart 1977 (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft, Bd. 31), S. 102–125, hier S. 111. So Siebenpfeiffer in einer seiner Verteidigungsreden (1834), hier zitiert nach der Auswahl bei Brandt, Hartwig (Hg.): Restauration und Frühliberalismus 1814–1840. Darmstadt 1979 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert; Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. III), S. 423–428, hier S. 423: »Dem Republikaner erscheint die europäische Monarchie als eine ganz abgenutzte Staatsform, als ein Baum, der aus dem Lehnswesen hervorkeimte, zu prachtvollem Gipfel hervorwuchs, üppig beschattend alle. Die, so ihm nahe stehen, für die er allein auch goldene Früchte bringt, längst im Stamme hohl […].« Vgl. Ernst Moritz Arndt: Der Aulberg, wie muß er heißen?, in: Niederrheinisches Jahrbuch 1 (1843), S. 19–21.
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nur als »hineinversteckt« (V. 65) zwischen die großen Erhebungen beschrieben, sondern auch als »breiter flacher Rücken« (V. 66), womit freilich auch die von ihm vertretenen Gesellschaftsschichten als Basis der sozialen Gemeinschaft erscheinen. Wie in dem schon vorgestellten, gut einen Monat nach Die sieben Berge entstandenen Gedicht 14. September 1842 greift Kinkel auch hier das Thema der sozialen Stellung und Funktion des Künstlers im Allgemeinen und des Gelehrten auf, die sich im Bild des nicht nur von den anderen Bergen überragten, sondern auch für deren Verschönerung (V. 73–76) geplünderten und benutzten Stenzelberg (V. 69–72) spiegele. Trotz der durchaus ernsthaften Warnung der letzten Verse, angesichts der hier im Bild des Siebengebirges geschilderten Gesellschaftsordnung nicht den Beruf des Künstlers oder Gelehrten zu wählen, zeichnet sich das Gedicht durch einen humoristischen Grundton aus, der schon in der gewählten Strophenform anklingt. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts besonders populäre einfache, vierzeilige Liedstrophe mit wechselnden, in der Regel jambischen Vier- und Dreihebern sowie männlichen und weiblichen Kadenzen im Wechsel gebrauchte etwa auch Heinrich Heine in einigen Gedichten im Buch der Lieder (1827).118 Wie dieser macht auch Kinkel von der Füllungsfreiheit der Verse bei dieser Strophenform Gebrauch und streut in jeder Strophe mehrfach doppelte Senkungen ein, was indessen – wie etwa in Strophe vier (V. 13–16) – mitunter auch zu metrisch verunglückten Versen führt. Nicht nur die Einfachheit der Strophenform, sondern auch die vorgeblich naive Grundhaltung des Sprechers (»Ei nein«, V. 5; »Ei nun«, V. 38) lässt sich ebenfalls mit Heines Gedichten aus dem Buch der Lieder vergleichen. Die angestellten Überlegungen zur gesellschaftlichen Hierarchie stellt das sprechende Ich als durch die morgendliche Atmosphäre und Betrachtung des Siebengebirges ausgelöste, zufällige (»man weiß nicht wie«) Gedanken dar (V. 9–12). Freilich wird dieser Kunstgriff vom Ende her gelesen entlarvt und die Ankündigung gemacht, die Berge für die nächste Generation auch in Zukunft so zu deuten, wie im Gedicht geschehen. Ganz anders in Tonfall und Form präsentiert sich dagegen Kinkels Gedicht Die Auswanderer des Ahrthals (G II, S. 195–197), das zuerst am 24. Juli 1842 in der Rheinischen Zeitung gedruckt wurde: 1
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So wollt ihr fort? O seht im Abendbrande Die ernsten Felsenstirnen mild erglühn! Schaut diesen weiten Blick in lichte Lande Vom Fels herab aus dunklem Rebengrün Lockt euch nicht mehr des Herbstes würz’ger Segen, Der purpurn in die Tonnen niederrinnt? Nicht mehr das Lied, das rings auf schroffen Stegen Um Burgentrümmer seinen Eppich spinnt?
Vgl. Frank, Handbuch, 1993, S. 148–154, bes. S. 151.
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10 Hält euch nicht fest des Dorfes duft’ge Linde, Die schon der Väter Lust und Liebe sah, Wo euch beim Flußgeräusch im Abendwinde Von eurem Schatz der erste Gruß geschah? Ihr wollt nicht mehr vom Wald den Maibaum bringen 15 Und mit den Dirnen, die nach altem Brauch Am Maifest ihr erkauft, im Tanz euch schwingen? – Ach, Bräuche sterben mit der Heimath auch! Und doch, was schelt’ ich? Die Natur nur fehlte, Als sie einst dichtend formte diese Höh’n 20 Und nicht die Fülle mit dem Reiz vermählte; Denn ach dieß Land, sie schuf es allzuschön! Sie gab den Geist auch in des Weines Gabe, Doch Korn und Weizen maß sie euch zu klein – Nun darbet ihr in eurer eignen Habe 25 Und nicht für euch mehr zieht ihr euern Wein! So geht in Frieden denn, und nehmt den Segen Des Dichters, den das Vaterland noch hält! Nicht zagt mein Herz um euch! ihr tragt entgegen Gesparte Kraft dem Werk der neuen Welt. 30 Zieh hin, o Greis! wenn schon dein Haupt sich lichtet, Die Faust ist fest noch und von Arbeit stark; Bis du den Kindern hast ein Haus errichtet, Vertrocknet dir noch nicht im Arm das Mark. Du Rothkopf, der auf schneebedeckten Fluren 35 So scharf die Fährte sieht beim Otterfang, Leicht witterst du im feuchten Gras die Spuren, Die dir verrathen einer Rothhaut Gang. Den Fuchs zu fangen kennst du jede Finte, Und wohl zu messen weißt du Kraut und Loth; 40 Nicht beben wird in deiner Hand die Flinte, Wenn dort das Horn des Bisons dich bedroht. Das weiße Tuch ums braune Haar geschlagen, Mit Wangen roth, mit Augen deutsch und blau, Du muntres Mädchen willst den Zug auch wagen? 45 Die weiße Haut nur hüte dir genau! Arm fährst du aus des Vaterlandes Hafen, Dort gibt dein Blut dir Adel schon und Stand; Vielleicht gebeutst du selbst noch über Sklaven An eines farb’gen Pflanzers derber Hand. 50 Auch manche Thräne wird die Täuschung kosten! Der Hauch der Freiheit ist wie Märzluft scharf; Schwer pflanzen sich der neuen Hütte Pfosten, Und jeder wird euch nehmen was er darf. Doch euch wird auch die neue Freiheit stärken,
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55 Ihr werdet rasch ergreifen euer Recht; An euern Kindern werdet bald ihr merken, Wie klug und stark erwächst ein frei Geschlecht! O haftet an der mütterlichen Erde, Die dort aus unerschöpftem Schooß euch speist! 60 Seid treu dem Pflug und der geliebten Heerde, Seid treu der Heimath traulich stillem Geist! Bleibt fern von Bostons lautem Weltmarkttosen Und von des Yankee kalter Gierigkeit! Bleibt rein vom nicht’gen Hochmuth des Franzosen, 65 Von des Creolen träger Lüsternheit! So zieht denn hin mit eurem kargen Gute, Ein Einzelkorn in jener Völkersaat Und wenn in Zukunft aus gemischtem Blute Ein einig Volk wird, eins in Sinn und That, 70 Dann gebt hinzu die keusche deutsche Ehre, Dann haltet fest den redlich deutschen Muth, Mit frommem Sinne pflegt des Geists Altäre Und weckt im kalten Volk der Künste Glut!
Die aus jeweils acht Versen bestehenden neun Strophen zeichnen sich durch die regelmäßigen jambischen Fünfheber mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen sowie zwei aufeinander folgenden Kreuzreimen aus, deren Gleichmäßigkeit und Getragenheit die an das Mitgefühl und Mitleid des Lesers mit den Auswanderern appellierende Wirkabsicht des Gedichtes befördert. Auf die wichtigsten Vergleichsgedichte hat bereits Hermann Rösch-Sondermann in knapper Form hingewiesen.119 Trotz der ähnlichen Thematik unterscheidet sich Kinkels Gedicht indessen erheblich sowohl von Ferdinand Freiligraths bereits 1832 entstandenem und in seine Sammlung Gedichte (1838) aufgenommenem Gedicht Die Auswanderer120 als auch von Wolfgang Müller von Königswinters zuerst in der Rheinischen Zeitung vom 24. Juli 1842 abgedrucktem Gedicht Die Auswanderer.121 Ferdinand Freiligraths Gedicht behandelt allgemein die hauptsächlich politisch motivierte Auswanderungswelle nach dem Hambacher Fest (1832) und dem Frankfurter Wachensturm (1833) ohne diese auf eine bestimmte Region einzugrenzen (Strophe 8):122
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Vgl. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 468–469. Hier nach folgender Ausgabe: Ferdinand Freiligrath: Werke in sechs Teilen, hier: Erster Teil: Gedichte 1838 – Zwischen den Garben. Hg. und mit einem Lebensbild versehen von Julius Schwering. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1909], S. 12–13. Vgl. hierzu Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 469. Zu den verschiedenen Auswanderungswellen und dem Sozialprofil der jeweils betroffenen Gruppen vgl. den fundierten Beitrag von Eike Wolgast: Demokratische Gegeneliten in der amerikanischen Emigration: Politisch motivierte Auswanderung aus Deutschland nach 1819, 1832/33, 1849 und 1878, in: Deutschland und die USA in der Internationalen
206
29 O sprecht! warum zogt ihr von dannen? Das Neckarthal hat Wein und Korn; Der Schwarzwald steht voll finstrer Tannen, Im Spessart klingt des Älplers Horn.123
Allerdings lassen sich auffällige Gemeinsamkeiten in der rhetorischen Strategie der beiden Gedichte festmachen. Sowohl in Kinkels als auch in Freiligraths Gedicht steht ein Sprecher den Auswanderern gegenüber und wendet sich direkt an sie, bei Freiligrath heißt es in den ersten drei Strophen: 1
Ich kann den Blick nicht von euch wenden; Ich muß euch anschaun immerdar: Wie reicht ihr mit geschäft’gen Händen Dem Schiffer eure Habe dar!
5
Ihr Männer, die ihr von dem Nacken Die Körbe langt, mit Brot beschwert, Das ihr aus deutschem Korn gebacken, Geröstet habt auf deutschem Herd;
Und ihr, im Schmuck der langen Zöpfe, 10 Ihr Schwarzwaldmädchen, braun und schlank, Wie sorgsam stellt ihr Krüg’ und Töpfe Auf der Schaluppe grüne Bank!124
Bei Kinkel wird diese (einseitige) Kommunikationssituation zwischen Sprecher und Auswanderern in jeder Strophe – manchmal auch mehrmals – durch Apostrophen oder Imperative ebenfalls verwendet (V. 1: »So wollt ihr fort«; V. 9: »Hält euch nicht«; V. 25: » So geht in Frieden«; V. 29: »Zieh hin, o Greis«; V. 33: »Du Rothkopf«; V. 42: »Du muntres Mädchen« usw.). Stärker als bei Freiligrath werden in Kinkels Gedicht emotional besetzte Themen wie volkstümliche Traditionen, Heimat- und Generationenverbundenheit (V. 9–16) aufgegriffen. In Form von rhetorischen Fragen (V. 5–15) werden die Konsequenzen der Auswanderung thematisiert. Doch folgt auf diese Fragen dann zu Beginn der dritten Strophe eine correctio des Sprechers (»Und doch, was schelt’ ich?«, V. 17), an die sich ein Erklärungsversuch der Ursache für die Auswanderung anschließt. Diese sei in den naturgegebenen Bedingungen der zwar für Wein günstigen, für »Korn und Weizen« (V. 22) aber zu rauhen Landschaft des Ahrtals zu sehen. Kinkel verzichtet also im Gedicht auf eine differenzierte Diskussion der Gründe für die
123 124
Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker. Hg. von Manfred Berg und Philipp Gassert. Stuttgart 2004 (Transatlantische Historische Studien. Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Washington, DC, Bd. 18), S.195–217, zu den Auswanderungen nach 1832 bes. S. 200–204. Freiligrath, Werke, Erster Teil, 1909, S. 13. Ebd., S. 12.
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Auswanderung aus dem Ahrtal. Deutlich hervorgehoben wird aber in den folgenden Strophen (5 und 6), dass es sich bei dieser Emigrationswelle um ein Phänomen handelt, das nicht nur generationenübergreifend ganze Familien betrifft und insofern auch als gesamtgesellschaftliche Erscheinung zu begreifen ist (V. 33: »Rothkopf«; V. 29: »Greis«; V. 42: »muntres Mädchen). Die im Gedicht verschwiegenen (wirtschafts-)politischen Gründe mit ihren Folgen für die Landbevölkerung der Ahrregion hingegen bringt Müller von Königswinter im Refrain seines Gedichtes (»Wir suchen über’m großen Meer / Ein neues freies Vaterland«) zur Sprache. Dass Kinkel darauf nicht eingeht – wie er es in seinem Beitrag zu Augsburger Allgemeinen Zeitung im selben Jahr getan hat125 – und sogar lediglich naturbedingte Auswanderungsgründe anführt, scheint der spezifischen Kommunikationssituation des Gedichtes geschuldet zu sein. Denn der Sprecher richtet sich ja direkt an die Auswanderer, für die dieses Erklärungsmodell nicht nur eine Rechtfertigung ihres Verhaltens darzustellen vermag, sondern auch eine gewisse Trost-Funktion übernimmt. Betrachtet man die breit gefächerten publizistischen Beiträge zur Auswanderungsfrage, dann erscheint dieser Aspekt nicht allzu fernliegend. Wurde doch das Thema sowohl von staatlicher Seite als auch von Seiten der Betroffenen Bevölkerung alles andere als leicht genommen.126 Den letzten Teil des Gedichtes bilden drei Strophen (7–9), in denen ein Bild der zukünftigen Heimat der Auswanderer gezeichnet (V. 49–56) und die Mahnung 125
126
Auf Kinkels Ahr-Bücher und Beiträge wurde schon in Teil II (Kapitel 1) dieser Arbeit eingegangen; vgl. hierzu noch einmal Kinkels Stellungnahme zur Mostweinsteuer in der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom Mai 1842, Kinkel, Die Auswanderungen aus dem Ahrtal und der Eifel, 1842, S. 1075–1076: »Man bedenke folgendes. Der Winzer bebaut und versteuert dem Staate einen Boden, der dem gemeinen Wohl sonst rein nichts einbringen würde – den nackten kahlen Felsen. Auf diesen Erwerb ist er ausschließlich angewiesen; seine Väter haben ihm sein Dorf nur im Vertrauen auf dieß eine damals fast ganz unbesteuerte Product in eine sonst ganz unbewohnbare Gegend hineingebaut. Grund genug, dass seine Steuer so gering wie möglich seyn sollte. […] Und nun kommt die Lage im Zollverein hinzu. Nassau führt seine viel bequemer gewonnenen Weine uns zu, seit die Zollschranke gesprengt ist. Die Ahr dagegen führte zur französischen Zeit ihre Weine zollfrei nach Belgien. Jetzt also befindet sie sich in doppelter Klemme: ein concurrirendes Land ist aufgeschlossen, ein consumirendes gesperrt worden.« Die kontroverse Diskussion um die Auswanderungsfrage und -politik ist dokumentiert bei D. Rosch: Ueber die Noth im Volke, die Unzufriedenheit und die Auswanderung. Allen Regierungen, Staatsmännern, Volksvertretern, Landvätern so wie allen guten Bürgern gewidmet. Nürnberg 1838; Georg Grünewald: Die deutschen Auswanderungen. Eine politisch-nationalökonomische Abhandlung. Frankfurt a. M. 1847, S. 17, hier zitiert nach dem Abdruck in Vormärz und Revolution. 1840–1849. Hg. von Hans Fesnke. Darmstadt 1991 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. IV), S. 215–221; Eugen von Philippovich: Auswanderung und Auswanderungspolitik in Deutschland. Berichte über die Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand des Auswanderungswesens in den Einzelstaaten und im Reich. Im Auftrag des Vereins für Socialpolitik hg. von E. v. P. Berlin 1892; Wolfgang J. Helbich: »Alle Menschen sind dort gleich…«. Die deutsche Amerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1988 (Historisches Seminar, Bd. 10), hier vor allem auch der ausführliche Quellenteil S. 61–157.
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formuliert wird, die Heimat in der Fremde nicht zu vergessen (V. 57–64). Auch werden die Gefahren »der neuen Welt« beschrieben, die in einer anderen Staats-, Gesellschafts- und vor allem Wirtschaftsordnung begründet liegen (V. 49–52). Die Möglichkeiten jedoch der Entfaltung in den Vereinigten Staaten werden positiv hervorgehoben und mit den Begriffen »Freiheit« und »Recht« (V. 53 und V. 54) verbunden, die nun – anders als in der dritten Strophe mit ihrer allein auf die Naturbedingungen zurückgeführten Ursachenbeschreibung der Auswanderung – deutlich auch auf die deutschen Zustände anspielen. Im Heimatland der Auswanderer, so legt die Stelle nahe, sind die beiden Güter Recht und Freiheit offensichtlich (noch) nicht garantiert.
4
Gottesfurcht und Pantheismus (Ein geistig Abendlied – Abendmahl der Schöpfung – Menschlichkeit)
Durch Elternhaus und soziales Umfeld, Studium und schließlich seine Stelle als Professor an der Theologischen Fakultät in Bonn war Kinkel eng vertraut mit christlichen Traditionen und den religiösen Themen seiner Zeit. In seiner Lyrik finden sich sowohl Gedichte, die von einer noch ungebrochenen Gläubigkeit zeugen (Gebet, Ein geistlich Abendlied) als auch solche, in denen seine Abwendung von der protestantischen Schultheologie im Laufe der frühen 1840er Jahre einen deutlichen Niederschlag findet (Menschlichkeit, Abendmahl der Schöpfung). In dem bereits in die Sammlung für Otto Mengelberg aufgenommenen Gebet,127 das auch in der Ausgabe von 1843 abgedruckt wurde (G I, S. 141–142), bittet das sprechende Ich um die Weisung eines rechten, gottgefälligen Weges und die Kraft, den Anfechtungen und Verlockungen der Welt, nicht nachzugeben: 11 Maßloß in der Welten Reiche Strebt des Geistes kühne Schwinge Hoch ob allen Klüften hin. Doch zu mächtig sind die Dinge; 15 Nimmer zwing’ ich sie in’s Gleiche, Ewig schwankt und fehlt mein Sinn. Ach ich weiß nicht, ob zur Rechten, Ob zur Linken Pfade sind – Rette du aus Zweifelsnächten, 20 Vater, dein geliebtes Kind!
Die übrigen drei Strophen enden alle mit ähnlichen, zweizeiligen Schlußformeln: »Rette du aus Sündennächten / Vater, dein geliebtes Kind« (V. 29–30), »Rette du aus Todesnächten / Vater, dein geliebtes Kind« (V. 39–40). In der handschriftlichen
127
Vgl. Enders, Gottfried Kinkel, 1913, S. 53.
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Ausgabe für Mengelberg steht der Text in einer Gruppe von insgesamt zehn Geistlichen Gedichten, denen als Motto ein Satz vorangestellt ist, deren programmatische Aussage für den jungen Dichter und seine Arbeit offenbar maßgeblich gewesen ist: »Die Erde ist voll des Lobes des Herrn«.128 Dass die christliche Religion für Kinkel – trotz wachsender Kritik – auch während seiner Bonner Professorenzeit von Bedeutung blieb, zeigt sich daran, dass vier der ins Mengelberg-Exemplar aufgenommenen Geistlichen Sonette im dritten Jahrgang (Nr. 2) der Maikäfer-Zeitschrift abgedruckt wurden (Morgengebet, Gebet des Dichters, Dem Kreuze Dank, Hinauf die Herzen!129).130 In der Buchausgabe von 1843 findet sich allerdings neben dem Gebet mit Ein geistlich Abendlied (G I, S. 106–107) nur noch ein Gedicht, dem ein christliches Gottesbild zugrunde liegt. Das im 19. Jahrhundert nicht zuletzt durch die Vertonung Robert Schumanns (op. 20 Nr. 1)131 recht bekannte Gedicht wurde auch von der bisherigen Forschung zusammen mit Abendmahl der Schöpfung, Abendstille, Das Rosenpaar und Menschlichkeit immer wieder erwähnt und zu den »schönsten« Gedichten Kinkels gerechnet, die »nicht vergessen werden dürften«.132 Strodtmann erwähnt den Text im Zusammenhang mit den noch vor dem ersten MaikäferJahrgang 1840 entstandenen Gedichten.133 Merkwürdigerweise aber taucht es in keinem der Maikäfer-Bände auf. Durch den Brief von Johanna an Kinkel vom 9. November 1840, in dem die Schlussverse des Gedichts erwähnt werden, lässt sich die Entstehung des Textes auf die Zeit nach Kinkels Italienreise datieren.134 Dafür spricht auch zum einen die Behandlung der religiösen Thematik, die sich mit Kinkels in Italien entstandenem Gedicht Gebet vergleichen und noch nichts von seiner ›pantheistischen Wende‹ erkennen lässt, die jene später, im Umkreis seiner Spessart-Erzählung entstandenen Gedichte kennzeichnen (Abendmahl der Schöpfung).135 Zum anderen ist Ein geistlich Abendlied in der Buchausgabe eingereiht in den sieben Gedichte umfassenden Zyklus Auf der Wanderschaft (G I, S. 101–108), der im Kontext von Kinkels Italienreise zu verorten ist.
128 129 130 131
132 133 134 135
Ebd., S. 49. Dieses letzte Sonett erschien in der Mengelberg-Ausgabe unter dem Titel Zuflucht in Gott, vgl. Enders, Gottfried Kinkel, 1913, S. 52. Vgl. Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 2, 1983, S. 16–18. Das Gedicht wurde auch von Kinkels späterer Frau Johanna Matthieux (op. 18) unter dem Titel »Es ist so still geworden« vertont, vgl. hierzu den Kommentar bei Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 1, 2008, S. 81. Ennen, Gottfried Kinkel, 1977, S. 521; vgl. auch die Erwähnungen bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkels, 1982, S. 461–462. Vgl. Strodtmann, Gottfried Kinkel I, 1850, S. 213. Vgl. den Brief bei Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 1, 2008, S. 81. Vgl. auch Strodtmann, Gottfried Kinkel I, 1850, S. 153 datiert hier plausibel auf die Zeit des Rom-Aufenthaltes.
210
Mit einer doppelten Kreuzreimstrophe, deren Verse aus jambischen Dreihebern mit wechselnd weiblich / männlichen Kadenzen bestehen, bedient sich Kinkel hier einer der am häufigsten verwendeten Kirchenliedstrophen:136 1
Es ist so still geworden, Verrauscht des Abends Wehn, Nun hört man allerorten Der Engel Füße gehen.
5
Rings in die Thale senket sich Finsterniß mit Macht – Wirf ab, Herz, was dich kränket Und was dir bange macht!
10
15
20
Es ruht die Welt im Schweigen, Ihr Tosen ist vorbei, Stumm ihrer Freude Reigen Und Stumm ihr Schmerzensschrei. Hat Rosen sie geschenket, Hat Dornen sie gebracht – Wirf ab, Herz, was dich kränket Und was dir bange macht! Und hast du heut gefehlet, O schaue nicht zurück; Empfinde dich befreiet Von freier Gnade Glück. Auch des Verirrten denket Der Hirt auf hoher Wacht – Wirf ab, Herz, was dich kränket Und was dir bange macht!
25
30
Nun stehn im Himmelkreise Die Stern’ in Majestät; In gleichem festem Gleise Der goldne Wagen geht. Und gleich den Sternen lenket Er deinen Weg durch Nacht – Wirf ab, Herz, was dich kränket Und was dir bange macht!
Thematik und Motivik des Gedichtes verweisen sowohl auf den auch im 19. Jahrhundert umfangreichen Komplex des geistlichen Liedes als auch auf die Tradition
136
Zur Form vgl. Frank, Handbuch, 1993, S. 573–579.
211
des »Abendliedes«, das sich als »selbständige poetische Gattung, als volkssprachliches Gegenstück zum ›Te lucis ante [terminum]‹ der Kirche, als Abendgebet des Dichters« im Zeitalter der Reformation etablierte und bis in die Neuzeit weitertradiert wurde.137 Insofern die meisten »Abendlieder« auch im 19. Jahrhundert sich noch bewusst in diese Tradition »antik-mythischer (Nachtfeier) und christlicher (Abendhymnus) Präformationen«138 stellen, sind sie auch dem Bereich der religiösen Dichtung zuzuordnen. Einen bei Weitem nicht erschöpfenden, aber dennoch repräsentativen Überblick zu geistlichen Abendliedern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit Gedichten von Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Felix Dahn, Emanuel Geibel, Friedrich Rückert, Adolf Strodtmann, Robert Waldmüller, Julius Sturm und anderen bietet die 1861 zum ersten Mal erschienene Sammlung von Elise Volko.139 Auch Kinkels Trost der Nacht und Abendstille140 wurden in Volkos Auswahl aufgenommen, Ein geistlich Abendlied allerdings in die Rubrik »Erbauliches« eingeordnet.141 Kinkels bewusste Anknüpfung an die Tradition des geistlichen Liedes mit der Wahl einer populären Kirchenliedstrophe wird durch die refrainartigen letzten Verse einer jeden Strophe noch unterstrichen, die eine Sangbarkeit des Gedichtes nahelegen, was freilich auch die Vertonung durch Robert Schumann und Johanna Matthieux begünstigte. Zudem lässt sich an diesen letzten beiden Versen der Achtzeiler auch ein entscheidender funktionaler Aspekt des Gedichtes festmachen. Das hier jeweils angesprochene Herz ist zwar primär dem sprechenden Ich zuzuordnen, doch richten sich sowohl die Schlusszeilen jeder Strophe als auch das Gedicht als Ganzes mit seiner Botschaft der göttlichen Gnade (V. 20 und 29–30) an den jeweiligen Rezipienten, der als Leser oder Sänger den hier präsentierten Akt der (dichterischen) Selbstaussprache nachvollziehen kann und soll. Die von der Forschung betonte Nähe der geistlichen Dichtung und der Abendlieder zur Naturlyrik erklärt sich daraus, dass Naturmotive häufig nicht nur das Bildarsenal zur Darstellung religiöser Themen bildeten, sondern die Natur auch als Gottes Schöpfung verstanden wurde und sich daraus Heilsversprechen ableiten ließen.142 Auch die ersten beiden Strophen von Kinkels Gedicht zeichnen das Bild
137
138
139 140 141 142
Vgl. Werner Roß: Abendlieder. Wandlungen lyrischer Technik und lyrischen Ausdruckwillens, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 5 (1955), S. 297–310, Zitat S. 307; bis auf den Einleitungsteil, in dem Roß sich an heute etwas fragwürdige Bewertungsmuster von Literatur nach Emil Staiger anlehnt ist der Beitrag grundlegend und schlägt einen Bogen von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert. Reiner Marx: Unberührte Natur, christliche Hoffnung und menschliche Angst – Die Lehre des Hausvaters in Claudius’ Abendlied, in: Gedichte und Interpretationen. 7 Bde., hier Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Hg. von Karl Richter. Stuttgart 2003 (Reclams Universal–Bibliothek, Nr. 7891), S. 339–355, Zitat S. 342. Hier nach folgender Auflage: Elise Volko (Hg.): Dichtergrüße. Neuere deutsche Lyrik. 13. Auflage. Leipzig 1886, S. 143–168. Ebd., S. 154–155 bzw. 130–131. Ebd., S. 550–551. Roß, Abendlieder, 1955, S. 307.
212
einer zur Ruhe gekommen Natur und Welt und evozieren eine friedliche Abendstimmung, die auf der lexikalischen Ebene durch die häufige Verwendung von Wörtern im Umkreis des Wortfeldes »Ruhe« (V. 1: »still«; V. 9: »ruht«, »Schweigen«; V. 12: »stumm«) hervorgerufen wird. Dabei stehen sich mit der ersten und zweiten Strophe auch die aus diesem Ruhezustand abgeleiteten metaphysischen Assoziationen (V. 3–4: »Nun hört man allerorten / Der Engel Füße gehen«) und weltlichen Beobachtungen (V. 11–12: »Stumm ihrer Freude Reigen / Und stumm ihr Schmerzensschrei«) gegenüber. In der letzten Strophe wird mit den Sternen im »Himmelskreise« (V. 25) wiederum ein mit Ruhe, Stabilität und Friedseligkeit verbundenes Naturbild verwendet, das zusammen mit den ersten beiden Strophen die für den Adressaten des Gedichtes, den sündhaften Menschen, zentrale Strophe einrahmt. Nicht mehr die ausführliche poetische aemulatio einer Bibelstelle ist hier von Bedeutung. In den Versen »Auch des Verwirrten denket / Der Hirt auf hoher Wacht« (V. 21–22) wird das Hirtenbild aus dem Johannes-Evangelium (10,16)143 als Symbol des gütigen Gottes und Christi isoliert und als Grundlage eines Heilsversprechen auch an den sündigen Menschen (V. 17: »Und hast du heut gefehlet«) hervorgehoben.144 Dagegen erscheint die christliche Religion mit ihrem Gottesbild in Kinkels später entstandenem Gedicht Menschlichkeit (G I, S. 135–136) nicht als absolute, sondern als gesellschaftlich funktionale Größe. Im zweiten Jahrgang des MaikäferHeftes (Nr. 26) ist das Gedicht auf den 24. Mai 1841 datiert.145 Titel und Thematik verweisen auf das philosophie- und religionsgeschichtliche Feld zeitgenössischer Diskussionen verschiedener Humanitätskonzepte, in denen sowohl der Begriff des Individuums als auch das Verhältnis von Individuen zueinander und zur Welt unterschiedliche Bewertungen erfuhren.146 Nach einer allgemeinen, durch den Blick in die Geschichte formulierten Relativierung religiöser Absolutheitsansprüche in der ersten Strophe, wird in der zweiten Strophe auch speziell die Bedeutung des christlichen Kultes als dominierender Gegenwartsreligion thematisiert:
143
144
145 146
»Ich bin der gute Hirt und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne. Und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Und ich habe noch andre Schafe, die nicht aus diesem Stalle sind; auch sie muß ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören, und es wird eine Herde, ein Hirt werden.« Zum Bild des Hirten in den (Kirchen-)Liedern des 19. Jahrhunderts vgl. exemplarisch Hans-Bernhard Schönborn: Geistliche Lieder des 19. Jahrhunderts und ihre Bilder, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 25 (1981), S. 112–119, hier S. 113–114. Vgl. Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 527–528. Als Überblick zu den unterschiedlichen Humanitätskonzepten seit der Renaissance und zum Zusammenhang mit den verschiedenen Ausformungen des (Neu-) Humanismus vgl. den Artikel von C. Menze: Humanismus, Humanität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Bd. 3. Darmstadt 1974, Sp. 1218–1219.
213
1
Wohl haben auf ergrauter Erde Die Völker zahllos schon gewohnt, Und auf verschied’nem Opferherde Die Götter mannigfach gethront.
5
Auch nach uns werden andre Frommen Dem Herrn noch schönern Altar weihn; Es werden junge Leiden kommen, Und neue Freuden werden seyn.
Worum es dem Sprecher des Gedichtes offensichtlich geht, ist die Darstellung einer Lebens- und Welteinstellung auf der Grundlage eines Konzeptes von Menschlichkeit, das ohne die Rückbindung an religiöse – in diesem Falle auch an christlich-theologische – Vorgaben auskommen kann, da diese ohnehin nur eine vorübergehende historische Bedeutung haben (V. 1–8). Daher werden auch nicht mehr Glaubensdinge zum Ausgangspunkt einer gelungenen, auf dem Prinzip der Menschlichkeit basierenden Lebensführung erhoben. Vielmehr gewinnt der Sprecher des Gedichtes seine positive Einstellung und Zuversicht in die Entwicklung der Menschheitsgeschichte (V. 9–12) aus dem Blick auf die sichtbare Welt und die menschlichen Geschicke, die als Gewissheiten dem Glauben gegenüberstehen, was in den Versanfängen »Ich weiß« von Strophe drei bis sechs deutlich zum Ausdruck gebracht wird: Mich irrt es nicht! Mit Liebesblicke 10 Schau’ ich der Zeiten Ringen an: Es wechseln Völker und Geschicke, Die Menschheit geht die gleiche Bahn. Ich weiß, dass nie ein Tag erglommen, Der nicht eine Brust gemacht; 15 Dass nie nach Frost ein Lenz gekommen, Der nicht Ein Liede der Welt gebracht Ich weiß, dass aus des Bechers Gusse Ein Schöpferstreben aufwärts schießt; Dass sich in süßem Frauenkusse 20 Ein milder Born von Kraft erschließt. Ich weiß, dass überall der Himmel Mit Wolken droht, mit Lächeln blaut, Und Nachts zum ernsten Sterngewimmel Allwärts ein Auge gläubig schaut.
Aus der Betrachtung und Bewertung einzelner Phänomene wie den Jahreszeiten und Wetterbedingungen (V. 15–16 und V. 21–22) sowie dem menschlichen Gefühlshaushalt (V. 13–14 und V. 19–20) leitet der Sprecher ein allgemeines geschichtsphilosophisches und anthropologisches Modell ab, in dessen Zentrum der Gedanke von der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ (V. 24–28) steht: 214
25 So schau’ ich ewig nur das Gleiche, Das jede Menschenbrust durchzieht, Und Brüder nur, wohin im Reiche Des Weltenrunds mein Auge sieht. Ein Ring bin ich in großer Kette 30 Der Zukunft, der Vergangenheit; Und durch des Kampfes Brandung rette Das Kleinod ich der Menschlichkeit.
Die ohne auf eine christliche Endzeiterwartung auskommende Vorstellung der geschichtlichen Wiederholung nimmt zum einen Nietzsches Schopenhauer-Rezeption im Zarathustra (1883–1885) vorweg. Zum anderen lässt das an die homerische catena aurea gemahnende Bild des Individuums als »Ring in großer Kette« (V. 29–30), des Menschen, der sich in seiner physischen Existenz als Teil der sinnlichen Welt erfährt, auch Einflüsse der Feuerbachschen Religions- und Philosophiekritik erkennen.147 Noch weiter vom traditionellen christlich-theistischen Gottesverständnis entfernt sich Kinkel in seinem nur wenige Wochen nach Menschlichkeit entstandenen fünfstrophigen Gedicht Abendmahl der Schöpfung (G I, S. 137), das im zweiten Jahrgang (Nr. 26) des Maikäfer auf den 13. Juni 1841 datiert ist:148 1
Wie liegt verklärt das Berggelände Im purpurklaren Abendstrahl! Wie bieten freundlich sich die Hände Der rauhe Fels, das sanfte Thal!
5
Zur Linken steigt der Reben Fülle Hinauf zu Steingeröll und Dorn; Zur Rechten rauscht in falber Hülle Schon mählich reifend goldnes Korn.
O selig, mitten inner schweifen 10 Auf engem Pfad durch laue Luft, Vom Korn die letzten Blüthen streifen Und saugen Rebenblüthenduft! Bald wird vom Strahl der Sommersonnen Die Korn zum Brod bereitet seyn; 15 Sich selber opfernd in die Tonnen Gießt bald die Traub’ ihr Blut als Wein.
147
148
Vgl. exemplarisch Ludwig Feuerbach: Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, in: Ders.: Sämtlich Werke. Neu hg. von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl. 10 Bde., hier Bd. 2: Philosophische Kritiken und Grundsätze. Stuttgart 1904, S. 326–357. Brandt [u.a.], »Der Maikäfer«, Bd. 1, 1982, S. 526–527.
215
In Ahnung bin ich schon begnadet, Mein Gottestempel wird die Flur: Zu ihrem Abendmahle ladet 20 Mit Brod und Wein mich die Natur.
In seiner Selbstbiographie bezeichnet Kinkel die Zeit während der Entstehung seiner Erzählung Ein Traum im Spessart und der hier behandelten Gedichte als den Wendepunkt, wo »der Pantheismus die persönliche Gottheit niederrang«.149 Genauer als die Selbstaussagen in seiner Autobiographie gibt indessen das vorliegende Gedicht Auskunft über Kinkels Pantheismus-Begriff. Der aus religionsgeschichtlicher Sicht oftmals als Alternative zur biblischen Gottesvorstellung und philosophisch als Gleichsetzung von Gott und Welt oder auch als Oberbegriff für unterschiedliche All-Einheitsvorstellungen verstandene Begriff spielt aufgrund seiner Unschärfe in der Religionswissenschaft nur eine untergeordnete Rolle.150 Auch wenn noch von Hegel und Schelling in ähnlicher Weise das weite Bedeutungsspektrum des Pantheismus moniert wurde, spielen Vorstellungen einer der Natur innewohnenden ›göttlichen Kraft‹ – nach dem Konzept der »göttlichen Substanz« von Spinoza – in der Philosophiegeschichte besonders im 17. und im späten 18. Jahrhundert eine entscheidende Rolle.151 Der von Friedrich Heinrich Jacobi mit seiner Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785) ausgelöste sogenannte »Pantheismus-Streit« mit seinen zahlreichen Entgegnungen von Mendelssohn selbst aber auch von Lessing und Herder stellt den Höhepunkt der philosophischen Auseinandersetzung um die All-Einheitsvorstellungen dar.152 Auch in der Lyrik und Prosa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurde das Thema – nicht selten auch noch im Kontext noch des Deismus – aufgegriffen.153 Als prominentestes Beispiel steht hierfür Goethes aus mehreren Sprüchen bestehendes Gedicht Gott, Gemüt und Welt (um 1812/1813):
149 150
151 152
153
Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 102. Den schnellsten und zuverlässigsten Überblick zum Thema aus verschiedenen Perspektiven bietet der Artikel sub verbo von Bernhard Maier, Christoph Jamme, Erwin H.U. Quapp, in: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller, Bd. XXV. Berlin, New York 1995, S. 627–641, hier bes. S. 627–628 und 630–631. Vgl. ebd., S. 630–631. Vgl. ebd., S. 630–634; zur Rezeption des Themas aus literarhistorischer Sicht und mit einer Skizze der Hauptakteure der Auseinandersetzung und deren Verlauf vgl. HansGeorg Geyer, Dieter Stoodt: Herder im Pantheismusstreit, in: Sein ist im Werden. Essays zur Wirklichkeitskultur bei Johann Gottfried Herder anläßlich seines 250. Geburtstages. Hg. von Wilhelm-Ludwig Federlin. Frankfurt a. M. [u.a.] 1995 (Theion. Jahrbuch für Religionskultur, Bd. 6), S. 83–102. Die Bedeutung und Stellung des Pantheismus in der Literatur des 19. Jahrhundert ist nur vereinzelt aufgearbeitet, nicht selten auch im Horizont des Saint-Simonismus, dessen Nähe zu pantheistischen Vorstellungen besonders in der Heine-Forschung immer wieder formuliert wurde, vgl. exemplarisch Michel Espagne: Federstriche. Die Konstruktion des Pantheismus in Heines Arbeitshandschriften. Düsseldorf 1991 (Heine-Studien).
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Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemts, die Welt im innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, So dass was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.154
Kinkels Gedicht bedient sich in der Überschrift mit »Abendmahl« und »Schöpfung« zweier biblischer Begriffe aus dem Neuen und Alten Testament, die in der von Kinkel gewählten Genitiv-Konstruktion freilich schon die pantheistische Ausrichtung des Gedichtes vorwegnehmen. Der Gebrauch von Begriffen aus dem religiösen Sprachfeld (V. 9: »selig«; V. 15: »opfernd«; V. 20: »Brod und Wein«) und deren thematische Neukontextualisierung bilden die grundlegende Schreibstrategie des Gedichts. Schon die ersten Verse werden von einer religiösen Sprechweise und Wortwahl dominiert. Die als »verklärt (V. 1) und von einem »purpurklaren Abendstrahl« rot gefärbt beschriebene Gebirgslandschaft kommt fast einer christologischen Deutung des Gebirges und der Natur gleich. Und auch die in der zweiten und dritten Strophe fortgesetzte Naturbeschreibung von Weinreben und Kornfeldern dienen nicht der Evokation einer abendlichen Landschaft, sondern sind für den Sprecher, der sich erst in der letzten Strophe zu erkennen gibt, Anlass und Ausgangspunkt für die in Strophe vier und fünf formulierten pantheistischen Gottesvorstellungen. Für das Reifen von Korn und Trauben als Rohstoffe für Brot und Wein wird als Voraussetzung alleine der »Strahl der Sommersonnen« (V. 13) angeführt und die Natur erscheint daher als natura naturans, die – in Anlehnung an Spinoza – das Göttliche selbst verkörpert. Brot und Wein werden nicht mehr als Erinnerung an das Opfer Christi und als Offenbarung des Göttlichen bei der christlichen Abendmahlsfeier verstanden, sondern als Produkte der Natur. Ihre Offenbarung im »Abendmahl der Schöpfung« ist an die Stelle eines traditionellen theistischen Gottesverständnisses getreten, der Ort der Handlung vom christlichen Kultraum der Kirche in den »Gottestempel« (V. 18) der Flur verlegt worden, in dem sich der Sprecher des Gedichtes wiederfindet.
154
Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte 1800–1832, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, hier I. Abteilung, Bd. 2. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M.1988 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 34), S. 379–383, Zitat S. 379.
217
5
Geschichte als Arsenal für die Gegenwart
5.1
Kinkels Versepos Otto der Schütz
Von Kinkels Versepos Otto der Schütz155 ist heute nur noch die letzte Zeile bekannt, die als Redewendung Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch gefunden hat: »Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann« (V. 2433). Der Rest des Textes ist völlig in Vergessenheit geraten und wurde auch von der Kinkelforschung entweder gar nicht oder nur im Zusammenhang mit seinem enormen Erfolg als Grundlage für Kinkels Popularität im 19. Jahrhundert erwähnt. Eine literarhistorische Würdigung und Interpretation hat das 1841 fertiggestellte Versepos bisher nicht erfahren, sondern wurde als »anspruchs- und voraussetzungslose triviale Idylle«156 charakterisiert, die »zurecht vergessen«157 sei. Den Lobeshymnen der Zeitgenossen, die Otto der Schütz als »formschönes und gefühlsfrisches«158 Epos oder als »liebliche duftige Dichtung« feierten, »in der aller Zauber der Rheinlandschaft mit der Kraft eines frischen Charakters und der Zartheit einer ersten Liebe zu einem allerliebsten Ganzen verbunden ist«,159 konnte sich die moderne Forschung ebenso wenig anschließen wie dem Urteil, dass ausgerechnet dieses Versepos dem »genialen, plastisch malenden Sänger«160 Kinkel die »Anwartschaft auf einen der obersten Plätze unter den vaterländischen Epikern«161 gebe.162 Gerade diese Zuordnung Kinkels als vaterländischer Epiker wird noch genauer zu bedenken sein. Obwohl Otto der Schütz als Wettbewerbsbeitrag zum ersten Stiftungsfest des Maikäfer-Vereins im Juni 1841 gedichtet wurde, erschien der Text nicht in der Maikäfer-Zeitschrift. Das Epos mit seinen insgesamt 2433 in unregelmäßigem Wechsel paar- und kreuzweise gereimten jambischen Vierhebern erschien zum ersten Mal in der gedruckten Gedichtausgabe von 1843 (G I, S. 169–266). Durch Vermittlung Johann Christian von Zedlitz’ kam im Jahr 1846 bei Cotta in Stuttgart ein Separatdruck des Werkes heraus, der bis ins frühe 20. Jahrhundert über 80 Auflagen erlebte, von denen viele auch reich illustriert waren mit (druck-)graphischen Arbeiten von Friedrich von Keller oder Karel Swoboda.163
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Zitiert wird aus dem Abdruck in Kinkels erster Gedichtausgabe (1843), im laufenden Text mit Angabe des Verses. Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 406. Rösch-Sondermann, Kunst und Revolution, 2001, S. 261. Ernst Ziel: Gottfried Kinkel, in: Die Gartenlaube 1883, S. 80–83, hier S. 80. L.[aurenz] Lersch (Rez.): Gedichte von Gottfried Kinkel, Cotta 1843, in: Niederrheinisches Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Poesie 1 (1843), S. 372–373, hier S. 372. Anonymus (Rez.): Otto der Schütz, Cotta 1846, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 313, vom 9.11.1847, S. 1249. Anonymus (Rez.): Übersicht der neuesten poetischen Erzeugnisse, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 364, vom 29.12.1844, S. 1453–1455, Zitat S. 1455. Exemplarisch für die Behandlung des Versepos die Stellen bei Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 398–409; ferner auch Ennen, Gottfried Kinkel, 1977, S. 518. Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 110.
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Kinkels Epos eröffnet eine Reihe enorm erfolgreicher erzählender Verserzählungen, zu denen Otto Roquettes Waldmeisters Brautfahrt (1851; 77. Al. 1905), Oskar von Redwitz’ Amaranth (1849; 44. Al. 1904) und Joseph Victor von Scheffels Trompeter von Säckingen (1853; 252. Al. 1900) und Ekkehard (1855; 211. Al. 1905) gezählt werden, die um die Jahrhundertmitte publiziert wurden und ähnlich hohe Auflagenzahlen erreichten wie Kinkels Otto der Schütz.164 Trotz oder auch wegen dieser Popularität, vor allem aber aufgrund der diagnostizierten spätromantischen und biedermeierlichen Beschaulichkeit und ›Harmlosigkeit‹ ordneten Vertreter der literarischen Avantgarde Ende des 19. Jahrhunderts diese Texte dem Bereich der wertlosen Trivialliteratur zu, die auch für das Volksempfinden keinerlei Bedeutung besitze und als »Frauen- und Backfischpoesie« bekämpft wurde,165 wobei sich freilich Verteidiger des Versepos wie Carl Spitteler auch noch an der Wende zum 20. Jahrhundert finden.166 Die ältere Forschung ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen167 – diesem Verdikt der Avantgarde gefolgt, das freilich mehr Schlagwortcharakter als historische Schärfe oder analytische Stringenz besitzt. Im umfangreichen Bestand von Versepen sowohl im Vor- als auch im Nachmärz dokumentiert sich indessen nicht nur die literarhistorische Bedeutung der Gattung, sondern in zahlreichen Beispielen manifestiert sich zudem die Beweglichkeit dieser alten Form, die die Autoren – durchaus experimentell – zu gebrauchen und in neue Sinnzusammenhänge zu stellen wussten.168 Von der neueren Forschung sind daher auch wieder die Versepen von Ladislaus Pyrker, Nikolaus Lenau, Ludwig August Frankl, Julius Mosen, Johann Karl von Braunthal und Ernst Ortlepp zum
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Als Überblick zum Versepos mit Kurzcharakteristiken etlicher Beispiele immer noch grundlegend Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 626–742; ferner zum Fortleben des Versepos nach der Jahrhundertmitte Nicole Ahlers: Das deutsche Versepos zwischen 1848 und 1914. Frankfurt a. M., Berlin, Bern [u.a.] 1998 (Hamburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 26), bes. S. 214–223; insgesamt lenkt Ahlers den Blick allerdings stärker auf theoretische und poetologische Fragestellungen und geht nur am Rande auf die Faktur der zentralen Texte ein. So Julius Hart in seiner Kampfschrift gegen den Erfolgsdichter Julius Wolff, Julius Hart: Julius Wolff und die »moderne« Minnepoesie. Berlin 1888 (Litterarische Volkshefte, 3), S. 46; vgl. auch Ahlers, das deutsche Versepos zwischen 1848 und 1914, 1998, S. 220–223. Vgl. zur Konkurrenzfrage zwischen Roman und Epos, Friedrich Spielhagen und Carl Spitteler Nicole Ahlers: Spitteler und der Diskurs des totgesagten Versepos, in: Quarto 4/5 (1995), S. 50–61. Hervorzuheben wiederum Sengle, Biedermeierzeit II, 1972. Eine Bibliographie zum Versepos im 19. Jahrhundert, wie sie mustergültig zum 18. Jahrhundert vorliegt (vgl. Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin, New York 1993 [Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N.F., Bd. 10]) existiert nicht. Die bei Sengle erwähnten rund 120 Epen bilden nur einen Auszug aus dem Bestand. Zu den Zahlen und weiterer Literatur vgl. auch den Überblicksartikel von Hans-Wolf Jäger: Versepik, in: Zwischen Revolution und Restauration. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München 1998 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 5), S. 434–458.
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Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtungen geworden.169 Den von den Vertretern der literarischen Avantgarde formulierten und auch noch von der älteren Forschung aufgegriffenenen Herabsetzungen der Gattung Versepos als Oberbegriff für ebenso gefällige und spätromantische wie unpolitische und kunstlose Texte wurden gerade die in den neuerdings behandelten Epen zu beobachtenden spannungsvollen zeitkritischen Dimensionen und Anspielungen entgegengehalten. Auch in Kinkels Otto der Schütz lässt sich etwa am Beispiel der Rheinthematik die Verbindung von tatsächlich romantisch inspirierten Landschaftsbeschreibungen und Anspielungen auf die (zeit-)geschichtliche Gegenwart nachvollziehen. Gleich das erste Abenteuer der rheinischen Geschichte hebt mit einer Rheinfahrt an, in der zumnächst stimmungsvoll eine zauberische, »stille« und »heimliche« Umgebung in der Stunde des Übergangs vom Abend zur frühen Nacht evoziert wird, die dann aber zum Bild des Rheins überleitet (V. 1–32): 1
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In klarer Frühlingsabendnacht, Wenn schon der Sterne Heer erwacht, Wenn kühl der Mond im Ost sich hebt, Die Flur mit blauem Duft umweht, Indeß im West des Abends Strahlen Den Himmel heiß mit Purpur malen; Wenn Nachtigallenschlag erschallt, Und drin im Nachthauch rauscht der Wald; Wenn aus des Wassers dumpfer Schwüle Der Fisch mit lust’gem Sprung sich schnellt, Und in der weichen Schlummerkühle So still und heimlich liegt die Welt; Wenn in der Uferweiden Dunkel Der Elfen Chor den Reigen schlingt Und aus dem Strom ein leis Gemunkel Der Nixen auf zum Lichte klingt: Das ist die zauberhafte Stunde, Wo Tag und Nacht in gleichem Bunde Dich kränzen mit dem schönsten Schein Du Fürst der Ströme, trauter Rhein; Auf deinem Grund geschmolzen rollt Der Nibelungen rothes Gold; Das spielt wie Scharlachfeuerglut Herauf an’s Licht aus deiner Flut. Dein Stromgott tief zum Schlaf sich neigt, Sein Odem leis nach oben steigt, Das quillt wie weißen Silbers Schaum Und stickt des Goldgewandes Saum,
Vgl. den Sammelband von Bernd Füllner und Karin Füllner (Hg.): Von Sommerträumen und Wintermärchen. Versepen im Vormärz. Bielefeld 2007(Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, XII); hier besonders den Aufsatz von Olaf Briese: Weltuntergang mit anschließender Diskussion. Endzeit im Vormärzepos (S. 49–71).
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Indeß vom Ufer Bergesschatten 30 Das lichte Blau dem Purpur gatten. Drum gibt sich Roth und Weiß und Blau Als Rheinlands Farbe stolz zur Schau.
Wie schon in Kinkels Erzählung Ein Traum im Spessart gezeigt, ist auch hier die Überblendung romantischer Landschaftsevokationen mit ihrer Geschichte und Gegenwart charakteristisch. Das aus den scheinbar ›natürlichen‹ Eindrücken bei der Betrachtung des Zusammenspiels von Abendrot, Fluß und Bergen gewonnene Farbtrio aus »Roth und Weiß und Blau« (V. 31) weist gleichzeitig – wenn auch in der Reihenfolge von rechts nach links genannt – nicht nur auf die Nationalfarben des französischen Nachbars hin, sondern auch auf das im Rheinland noch nach den Napoleonischen Kriegen gültige französische Recht. Entscheidend ist, dass Kinkel auch hier mit diesen Anspielungen deutlich den zeitlichen Bezugspunkt des Erzählers markiert. Berichtet wird zwar eine Geschichte aus dem 14. Jahrhundert, ihr Erzähler aber gibt sich als Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Besonders deutlich wird diese Textstrategie zu Beginn des dritten Abenteuers (Der Meisterschuß). Was der Erzähler hier am Beispiel des Schützenfestes als Beschreibung der rheinischen Kultur im 14. Jahrhundert ausgibt, passt zwar in den erzählten Handlungszusammenhang, doch werden übergangslos deutliche Anspielungen auf die zur Zeit der Fertigstellung des Textes noch präsente Rheinkrise von 1841 eingebaut (V. 385–390), die freilich im Hinblick auf die vorgeblich beschriebene Gegenwart des 14. Jahrhunderts anachronistisch erscheinen: 371 O fröhlich Leben an dem Rhein, Gespeist von Kraft, getränkt von Wein, Wie grüßest du in Sommerlust Unsterblich jung des Dichters Brust! 375 So lang noch sttehn die Felsenhallen, Wird rheinischer Gesang erschallen; So lang der Strom mit stillem Gang Die Wimpel führt das Thal entlang, Wird Liebe jubelnd ihn befahren 380 Und ew’gen Jugendmuth bewahren. So lang noch rauschen diese Wälder Und grün noch stehn die satten Felder, So lang sich Trauben röthlich färben, Wird nicht ein froh Geschlecht ersterben. 385 Dir gab, o Rheinland, Gottes Huld Des Nachbarn wilde Ungeduld. Der Franke neidet deine Schöne Und seiner Gier bist du ein Ziel; Drum üben deine schmucken Söhne 390 Die Kraft im ernsten Waffenspiel; Drum rufen deine Schützenfeste Von nah und fern heran die Gäste,
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Und steten Sieges klar bewußt Vereint dem Ernst sich stolze Lust!
In der Verbindung von Rückbesinnung auf die Vergangenheit und deren Integration in die Zeitgeschichte wird zudem nahegelegt, dass das Versepos durchaus keine überlebte Gattung ist, sondern für die Gegenwart aktualisiert werden kann. Die theoretisch geführte Diskussion um die Möglichkeit des Epos in der Moderne, die Hegel dogmatisch in seinen – posthum veröffentlichten – Vorlesungen über die Ästhetik mit der Begründung der »Prosa der Verhältnisse« verneinte und das Verfassen von Epen nicht vom Vermögen des Dichters, sondern vom »Kulturzustand« abhängig machte, hatte offensichtlich kaum Einfluß auf die Popularität der Gattung.170 Äußerst aufschlußreich für sein eigenes Epos sind Kinkels Überlegungen zu dieser Debatte, die er zwei Jahre nach Fertigstellung von Otto der Schütz in seiner Schrift Die Moderne Dichtung formulierte. Im bei Weitem den größten Teil einnehmenden Abschnitt II. Die erzählende Poesie (S. 2725–2728, 2741–2743, 2749–2750) stellt er die Vorteile der gebundenen Erzählweise gegenüber dem Roman heraus:171 Es ist ein durch Tradition schon geheiligtes Modeurtheil dass in unserer Zeit kein Epos mehr könne geschrieben werden, indem das Epos der modernen Zeit der Roman sey. Auf solche Aussprüche ist aber wenig zu geben […] Nur ein schlechter Trost wird für jenes Verneinen dem Freunde der Poesie ertheilt, indem der Roman das Epos ersetzen soll. Denn Romane sind fast niemals epische Schöpfungen und noch seltener ewige. Ihnen steht das eigentlich Erhaltende, dem Gedächtnis und durch dieß dem Gemüth sch Einprägende: die wohlthuende Macht der Versform. Denke man nur an Ariost: sein Werk ist nur ein Ritterroman, durch spannende Vertheilung des Stoffs, durch Unterbrechung und künstliche Verflechtung der einzelnen Abenteuer gewürzt; es sind Geschichten, noch dazu meist bekannte, aus allen Gebieten der Sage zusammengestoppelt, ein rechter Charakter tritt gar nicht darin auf. Und doch, während so ziemlich alle in Prosa verfaßten Ritterromane mit ihrem Jahrhundert vergessen wurden, bezaubert uns Ariost noch durch die Melodie seines Versbaues, durch den Witz und Klang seines Reims.172
Gegen die hegelianische, geschichtsphilosophisch argumentierende Ablehnung des Epos führt Kinkel prominente historische Beispiele an, die verdeutlichen sollen, dass gerade in Umbruchs- und Krisenzeiten eine von der Dichtung geleistete Evokation eines ›poetischen Weltzustandes‹ notwendig ist:173
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Zur Bedeutung von Hegels Überlegungen zum Epos vgl. Ahlers, Das deutsche Versepos zwischen 1848 und 1914, 1998, S. 7–20 und S. 35–49; differenziert auch für diesen Aspekt das Kapitel bei Heiko Christians: Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750–2000). Freiburg 2004 (Rombach Wissenschaften. Reihe: Litterae, Bd. 118), S. 89–103. Zur Konkurrenz zwischen Roman und Epos und der Bedeutung in der zeitgenössischen Diskussion vgl. Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 634–636. Kinkel, Die moderne Dichtung, 1843, S. 2725. Zusammenfassend zu Hegels Positionen und die seiner Nachfolger vgl. Christians, Der Traum vom Epos, 2004, S. 89–102; Ahlers, Das deutsche Versepos zwischen 1848 und
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Und hier sagt die Kritik: ja, auch das; denn uns fehlt erstlich der Sinn, nicht minder aber auch der Stoff dafür. Damit wäre uns freilich jene edle Dichtungsart nach Form und Inhalt getödtet. Glücklicherweis ist beides unwahr. Fürs erste heißt es, unsere Zeit sey so sehr von Reflexionen und Tendenzen angefüllt, sey so nüchtern und verstandeskalt, dass sie nicht mehr Naivetät [sic] und Unbefangenheit genug zum Erzeugen und Aufnehmen eines rein erzählenden Gedichts habe. Das lehrt nun die große Trösterin Geschichte ganz anders. Denn seltsamerweise sind gerade einige der bedeutendsten Epen in ganz ähnlicher Zeit geschaffen worden und durchgedrungen. Wann und wo lebte Virgil? In einer Zeit als alles Poetische aus dem Römerthum mit der alten Freiheit schon im Grabe lag – eine Zeit so kalt und gemüthsdürr, so verfressen von Spott und Frivolität, so materialistisch und blasirt, dass unser deutsches Leben Gold dagegen ist. Wolfram vollende den Parzifal, der Straßburger beginnt den Tristan unter dem zweiten Friedrich, als der Todeskampf des Mittelalters, gleich gewaltig wie die Geisterschlacht der gegenwärtigen Zeit, längst begonnen hatte – wer möchte denken dass in solchem Schlachtenwetter ein Ohr auf Wolframs religiöse Mysterien oder auf Gottfrieds süße Minne- und Lenzlaute gelauscht hätte – und doch wußte jenes Jahrhundert was es an beiden Nebenbuhlern des Gesanges besaß! Nicht im Schooß der Zeit also liegt des Epikers Loos geworfen, am wenigsten ist unser allen Erregungen offenstehendes Geschlecht der Dichtung verschlossen. Vielmehr im Leben lieben wir gerade die naiven Naturen ganz besonders, eben weil wir unsrer Zerfahrenheit, Absichtlichkeit erkennen wie schwer es uns fällt zu seyn wie sie und zu werden wie die Kinder. Träte das Einfache, unbefangen Große in seiner stillen Kraft vor die rastlose Menge, sie würde schon sich zum Beschauen sammeln.174
Kinkel konzentriert sich allerdings nicht auf die Beschreibung und nüchterne Bestandsaufnahme einer ›prosaischen Zeit‹ – die er durchaus anerkennt –, sondern leitet vielmehr aus diesen Beobachtungen Forderungen an das Epos und den Dichter ab: Im Dichter mehr als in seiner Zeit liegt die Schwierigkeit epischer Schöpfung. Das Epos fordert feste, plastisch abgeschlossene Charaktere, eine klare und freudige Anschauung und Erkenntniß des Menschlichen in seinen einfachen Grundbestrebungen und Empfindungen, endlich ein starkes Naturgefühl. Bildkraft und Formensinn verstehen sich freilich von selbst, dies aber machen ja das Wesen aller poetischen Kunst aus, sind also keine unterscheidenden Merkmale des Epikers. Hier ist nun eins allerdings wahr: unläugbar geht unserer Zeit in ihren gewöhnlichen Erscheinungen nicht darauf aus dem Epiker gute Modelle zu seinen Studien zu liefern. Die schlichten Charaktere, die nur Einen Zweck ihr ganzes Leben lang hindurch verfolgen, werden selten, die Menschennatur, die das Epos in ihrer reinen Nacktheit braucht, verhüllt sich bei uns immer mehr in die Convention und gesellschaftliche Mode. 175
Konsequent zu seiner Beurteilung der Gegenwart, legt er dem Dichter für seine Stoffwahl nicht die Themen der Zeitgeschichte nahe, wie sie noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Versepen dominierten,176 sondern verweist im Zu-
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1914, 1998, S. 37–49; zur weiteren Diskussion des Themas bei Spitteler vgl. Ahlers, Spitteler und der Diskurs des totgesagten Versepos, 1995, S. 52. Kinkel, Die moderne Dichtung, 1843, S. 2726. Ebd., S. 2726. Vgl. Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, 1993, S. 13.
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sammenhang mit seiner kurzen Charakterisierung von Immermanns Tristan und Isolde (1841) auf die Vergangenheit als Arsenal epischer Stoffe:177 Hier ist der Stoff nicht neu erfunden, sondern aus einer Schatzkammer epischer Stoffe entlehnt, welche geradezu unerschöpflich ist: ich meine die mittelaltrige Sagenpoesie.178
Entsprechend wählte Kinkel für sein erstes Versepos einen Stoff aus dem 14. Jahrhundert. Welche Quellen Kinkel genau benutzte, kann nicht mit Gewissheit bestimmt werden.179 Der historische Otto der Schütz war der Sohn des Landgrafen Heinrichs II. (der Eiserne) von Hessen und wurde um 1322 geboren. Als einziger Sohn des Landgrafen wurde er bereits 1340 von seinem Vater zum Mitregenten ernannt und heiratete zwei Jahre zuvor (1338) die Tochter des Grafen Dietrich von Kleve, Elisabeth von Kleve.180 Bis auf die Ehe mit Elisabeth weicht der zum ersten Mal in einer hessischen Chronik des 15. Jahrhunderts überlieferte Sagenstoff von den historischen Tatsachen ab.181 In der weiteren literarischen Verarbeitung der Sage in den Dramen von Ernst Gottlieb Schneider (Otto der Schütz, 1779), Friedrich Gustav Hagemann (Otto der Schütz. Ein vaterländisches Schauspiel, 1791) und Achim von Arnim (Der Auerhahn, 1813) den episch-lyrischen Bearbeitungen von Gustav Schwab (Otto der Schütz, 1837) und Karl Egon Ebert (Otto der Schütze, 1843) oder der Erzählung Gottlieb Heinrich Heinse (Otto der Schütz. Junker von Hessen, Urenkel der heiligen Elisabeth. Eine Geschichte aus dem vierzehnten Jahrhundert, 1792) folgen die Autoren weitgehend den Vorgaben aus der spätmittelalterlichen Überlieferung.182 In dieser hat Otto einen älteren Bruder, der zur alleinigen Herrschaft vom Vater vorgesehen ist. Otto selbst war für das Kloster bestimmt, widersetzt sich aber durch Flucht dem Wunsch des Vaters. Ob Kinkel eine dieser Bearbeitungen gekannt haben mag, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Wahrscheinlich ist aber, dass er zumindest die bei den Brüdern Grimm in ihren Deutschen Sagen (1816)183 überlieferte kurze Zusammenfassung des
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Von einer Verbannung der modernen Zeit aus dem Epos spricht auch August von Platen, vgl. hierzu Sengle, Biedermeierzeit II, 1972, S. 641. Kinkel, Die moderne Dichtung, 1843, S. 2727. Auch in der Briefausgabe von Klaus, Liebe treue Johanna, 2008 finden sich keine Anhaltspunkte. Vgl. Eckhardt G. Franz: Das Haus Hessen. Eine europäische Familie. Stuttgart 2005 (Urban-Taschenbücher, 606), hier S. 23–25. Grundlegend und materialreich, allerdings unter rein stoffgeschichtlichen Fragestellungen Gustav Noll: Otto der Schütz in der Literatur. Straßburg 1906, zur Überlieferung im Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit S. 2–28. Eine differenzierte Betrachtung der Parallelen und Unterschiede zwischen den Werken, die hier unberücksichtigt bleiben müssen, vgl. Noll, Otto der Schütz in der Literatur, 1906. Vgl. die Darstellung der Sage bei Jacob und Wilhelm Grimm, hier nach der Ausgabe Deutsche Sagen. Hg. von den Brüdern Grimm. Zwei Bände in einem Band. Darmstadt 1959, S. 569–570.
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Stoffes benutzt hat, zumal er deren Werke aufmerksam verfolgte und Jacob Grimm 1847 schließlich auch Mitglied des Maikäfer-Vereins wurde.184 Einen stoffgeschichtlichen Vergleich von Kinkels Epos mit den anderen Bearbeitungen hat bereits Gustav Noll vorgelegt, ohne dabei freilich die Faktur, Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Kinkels Werk genauer zu berücksichtigen.185 Unerwähnt lässt Noll auch einen entscheidenden Unterschied zwischen Kinkels Darstellung der Sage und den anderen genannten Werken, der für die folgenden Überlegungen von besonderer Bedeutung ist: Bei Kinkel verschließt sich die wahre Identität der Hauptfigur sowohl für die ihn umgebenden Personen als auch für den Rezipienten der Geschichte, der erst im neunten Abenteuer erfährt, wer der zuvor als »hübscher Bursche« (V. 33–46) beschriebene namenlose Jüngling wirklich ist. Nach der Ankunft des jungen Mannes in der rheinischen Grafschaft Kleve im ersten Abenteuers (Die Rheinfahrt), wird dessen Integration in den klevischen Hof beschrieben, nachdem er sich im dritten Abenteuer (Der Meisterschuß) durch seinen Sieg beim Schützenfest beim Grafen Dietrich empfohlen hat und sogleich bei ihm Dienstmann wird. Bei der Begegnung mit dem Grafen im vierten Abenteuer (Die Werbung) fällt zum ersten Mal der Name Otto, freilich ohne Hinweis auf seine adlige Abkunft (V. 699–710): Der fremde Jüngling schweigt, doch bald 700 Stählt ihn des Augenblicks Gewalt: Ich heiße Otto, bin ein Schütz – Zu was ist mehr zu sagen nütz? Ich hab’ euch einen Schuß gethan, Es sey genug, steht er euch an. 705 Zu was wollt ihr mich besser kennen? Wohl möchte’ ich guten Namen nennen. Doch machte das nicht fest mein Mark Noch meines Bogens Bügel stark. Ihr mögt den Stamm doch wohl vergessen, 710 Den Apfel nach dem Safte messen.
Otto verliebt sich in die Tochter des Grafen, Elsbeth, der er sich aber aufgrund des vorgegebenen Standesunterschiedes – und natürlich um seine Herkunft nicht entdecken zu müssen – nicht anzunähern wagt. Dennoch keimt zwischen den beiden eine Liebesbeziehung, die allerdings nur aus der Distanz über gesungene und gehörte Liebeslieder zunächst im fünften Abenteuer (Liebesnacht) ausgelebt wird. Nach der Rettung Elsbeths, die bei einer Jagd im siebten Kapitel (Die Jagd) ins Wasser gestürzt ist offenbart sich der Titelheld nach einer Begegnung mit dem im
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Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 114. Zu Kinkel speziell Noll, Otto der Schütz in der deutschen Literatur, 1906, S. 105–115.
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Dienste seines Vaters stehenden Homberg im zehnten Abenteuer, heiratet Elsbeth und kehrt mit ihr als Landesfürst ins Hessische zurück. Schon früh wurde freilich auf die Parallelen in der Beziehung zwischen Otto und Elsbeth einerseits und Gottfried Kinkel und seiner späteren Frau Johanna andererseits hingewiesen, deren Beziehung zunächst – wenn auch nicht von Standesgrenzen – durch äußere Umstände unmöglich und später auch noch immer wieder gefährdet war.186 Besonders die von Kinkel ja frei hinzugefügte Szene im achten Abenteuer (Die Reiherbeize), in der Otto die auf dem Wasser schon nicht mehr zu sehende Elsbeth vor dem sicheren Tod durch Ertrinken rettet (V. 573–590), zeigt deutliche autobiographische Züge und verweist auf die Rettung Johannas durch Kinkel im September 1840, nachdem deren Kahn von einem Dampfboot auf dem Rhein gerammt worden und daraufhin gekentert war.187 Im Beschluß des Dichters rekapituliert Kinkel selbst noch einmal diese biographische Lesart seines Versepos (V. 2420–2433): 2420
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Es sang ein Mann des Rheins dies Lied, Dem Minne Lust und Leid beschied. Ihm war das Lied ein Leidvertreib, Er minnet selbst ein hohes Weib: Des eignen Herzens süße Sorgen Hat er im schmucken Reim verborgen. Die Hehre, die dies Lied nicht nennt, Er weiß, dass sie den Klang erkennt, Den voll und klar aus Mannesbrust Herausrief ihrer Küsse Lust. So spiegle denn in Otto’s Glück Die eigne Zukunft sich zurück, Und lehr’ uns diese Mähr fortan: Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann!
Kinkels hohe Bewertung des Versepos als Gattung und des Mittelalters als »Schatzkammer« für Stoffe wäre aber kaum nachvollziehbar, wenn sein eigenes Epos nur und ausschließlich die sich in einem mittelalterlichen Stoff spiegelnde Wiedergabe seines eigenen Schicksals darstellte. Interpretiert werden muss das Epos vor dem Horizont der Frage, in welcher Weise hier über das rein Stoffliche hinaus sowohl motivisch als auch erzählstrategisch Bezug auf mittelalterliche Epen genommen wird. Zunächst verweist schon der Untertitel Eine rheinische Geschichte in zwölf Abenteuern auf die aventiure als strukturelles Element der mittelhochdeutschen Heldendichtung. Auch der Beziehung zwischen Otto und Elsbeth liegt die Anlehnung an ein Minne-Konzept zugrunde, dessen Hauptmerkmal die Ungleichheit von Werbendem und Umworbener bildet,
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Zuletzt Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 109–111. Zu dieser Episode vgl. ausführlich Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 76–86.
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das wir aus zahlreichen mittelhochdeutschen Liedern und (Helden-)Epen kennen. Der Begriff der »Minne« wird in Kinkels Epos mehrfach verwendet (V. 101, 973) und auch auf das Motiv des Minnelohns nach überstandenen Prüfungen wird am Ende angespielt, wobei sogar eine wörtliche Übersetzung der mittelhochdeutschen Anrede-Formel viel elde frouwe verwendet wird – was eigentlich mit »Herrin« übersetzt werden müßte (V. 2402–2405):
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Ich steh’ im Glanz der Fürstenehren; Herr Graf und Ihr, vieledle Fraue, Ich darf die holde nun begehren, Nach der ich lang in Liebe schaue.
Doch nicht nur auf der motivischen und lexikalischen Ebene bedient sich Kinkel in seinem Epos mittelalterlicher Vorbilder und ahmt diese nach. Bisher unbeachtet blieb auch die genaue Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Otto der Schütz. Unabhängig von seiner späteren Erfolgsgeschichte als Separatdruck ist der Text zunächst einmal in seinem ursprünglichen Rezeptionskontext zu betrachten. Es handelt sich hierbei nicht um ein ›Lese-Epos‹. Otto der Schütz wurde geschrieben für das Stiftungsfest des Maikäfer-Vereins und kam dort unter großem abschließendem Beifall durch Kinkel selbst am 29. Juni 1841 zum Vortrag.188 Zuvor hatte schon Johanna ein gleichnamiges Liederspiel vorgetragen, das nach dem Fest von ihr vertont und 1843 aufgeführt, allerdings nie gedruckt wurde.189 Dass Kinkels Versepos bisher in der Forschung nicht beachtet wurde, mag zu einem großen Teil auch daran liegen, dass gerade bei der Betrachtung von Lyrik im oder für einen Verein zu wenig das Verhältnis zwischen Gattung und Medialität berücksichtigt wurde.190 Die sogenannte ›Leserevolution‹ am Ende des 18. Jahrhunderts und der enorme Erfolg und Anwuchs der Buchproduktion im 19. Jahrhundert kann allerdings nicht den Blick auf die noch weit ins 19. Jahrhundert hinein gängige Praxis des häuslichen lauten Vortrages von Literatur verstellen – man denke nur an Ludwig Tiecks berühmte »Vorlsungen« in Dresden.191 Allerdings beurteilt schon Johann Gottfried Herder 1778 in seiner Schrift Über die Wirkung der Dichtkunst das Des-
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Die Reaktion der Vereinsmitglieder hat zuerst beschrieben Strodtmann, Gottfried Kinkel I, 1850, S. 258–263; ferner auch zuletzt Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 109–110. Vgl. Klaus, Johanna Kinkel, 2008, S. 110. Hierzu die grundlegenden Ausführungen bei Lauer, Lyrik im Verein, 2005, S. 187. Zur Lesekultur vgl. Reinhart Wittmann: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?, in: Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Hg. von Roger Chartier und Guglielmo Cavallo. Frankfurt a.M., New York 1990, S. 419–454; zur Kultur, Praxis und Geschichte privater Vorlesungen Günter Häntzschel: Die häusliche Deklamationspraxis. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende. Einzelstudien. Hg. von Günter Häntzschel, John Ormrod und Karl N. Renner. Tübingen 1985 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 13), S. 203–233.
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interesse gegenüber der jahrhundertealten Tradition der Sprechkultur und der oralen literarischen Rezeption und Überlieferung kritisch: Die Buchdruckerei hat viel Gutes gestiftet; der Dichtkunst hat sie viel von ihrer lebendigen Wirkung geraubet. Einst tönten die Gedichte im lebendigen Kreise, zur Harfe, von Stimme, Mut und Herz des Sängers oder Dichters belebet; jetzt standen sie schwarz auf weiß, schön gedruckt auf Blättern von Lumpen […]. Jetzt schrieb der Dichter, voraus sang er; er schrieb langsam, um gelesen zu werden, voraus sammelte er Akzente, lebendig ins Herz zu tönen.192
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörten indessen Sprecherziehung und Deklamationsübungen auch und gerade an den Schulen zu den wichtigen Unterrichtseinheiten.193 In Kinkels Maikäfer-Verein wurde die »lebendige Wirkung« der Dichtkunst regelmäßig gepflegt und Kinkels Vortrag ist nur einer von vielen, in denen an die orale Tradition der Literaturvermittlung und -rezeption angeknüpft wurde. Kinkels Otto der Schütz rechnet also zunächst und auch mit einem Zuhörer. Gerade für die Gattung des Versepos mit seinen Wurzeln in der mündlichen Überlieferung scheint in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert die Rezeption durch Zuhörer noch selbstverständlich gewesen zu sein, wie ein Brief von Heinrich Heine an Karl Immermann zu dessen komischem Versepos Tulifäntchen belegt: »Ich würde bei einem Epos auch auf zuhörer rechnen, nicht bloß auf Leser.«194 Nicht nur mit der Stoffwahl und Motivik knüpft Kinkel an die mittelhochdeutsche Ependichtung an, sondern auch im Hinblick auf die spezifisch mittelalterliche mündliche Darbietungsform – die Fragen der modernen mediävistischen Forschung nach einer konzeptionellen oder fingierten Mündlichkeit in manchen Texten, kannte Kinkel und das 19. Jahrhundert freilich noch nicht.195 Doch sind die die einzelnen, regelmäßig eingestreuten Passagen, in denen sich der Erzähler einbringt (V. 1384: »Den stillen Fluten bin ich hold«), das Publikum
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Johann Gottfried Herder: Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, in: Ders.: Werke in 10 Bänden, hier Bd. 4: Schriften zur Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 105), S. 149–214, hier S. 200. Vgl. Rudolf Hildebrand: Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt […]. 2., verm. Al. Leipzig 1879. Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke. Briefwechsel. Lebenszeugnisse. Hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique Paris, hier Bd. 20: Briefe 1815– 1831. Bearb. von Fritz H. Eisner. Berlin, Paris 1970, S. 405. Exemplarisch zur Diskussion in der Mediävistik Harald Haferland: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter. Göttingen 2004, hier bes. die Einführung, S. 9–24; Jan-Dirk Müller: »Improvisierende, »memorierende« und »fingierte« Mündlichkeit, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Joachim Bumke. Berlin 2005 (Zeitschrift für deutsche Philologie, Sonderheft 124), S. 159–181.
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anspricht (V. 327–328: »Nun wollt’ ich hättet ihr gesehn / Des Försters Blick bei solcher Rede«; V. 549: »Euch ist der Jüngling wohlbekannt«) oder sich auch an seine Figuren wendet nicht nur als ein Spiel mit verschiedenen Sprecherpositionen bzw. Sprecherrollen zu verstehen, sondern auch als erzählerische Mittel, die eine besondere Wirkung gerade in der spezifischen Kommunikationssituation während des mündlichen Vortrags beim Stiftungsfest entfalten und immer wieder den Kontakt zum Publikum herstellen konnten. Vor diesem Hintergrund gewinnt der schon erwähnte Aspekt, dass, anders als bei den anderen Bearbeitungen des Stoffes, die Zuhörer den Namen und die Identität des Jünglings erst spät erfahren, besondere Bedeutung als Spannungselement. Für unterschiedliche Deklamationen im mündlichen Vortrag boten sicherlich gerade solche Stellen Gelegenheiten, in denen sich der Erzähler einerseits nach einer einleitenden exclamatio direkt an eine Figur des Epos wendet. Andererseits aber auch bestimmte Passagen wie die Aufforderung zum Schweigen (V. 649), was in manchen Abschnitten durchaus auch doppeldeutig und zwar als Hinwendung ans Publikum zu verstehen ist, wenngleich aus dem späteren Kontext dann deutlich wird, dass auch hier die Figuren des Epos direkt angesprochen werden: 639 O Schütz, wie ist dein Stolz entflohen, Da du in’s Auge der geblickt, Wie schwandvom Antlitz Trotz und Drohen, Seit sie dir holden Gruß genickt, Wie bogst du willig da das Knie, Das doch sich beugen lernte nie; Wie sahn sich staunend Beide an, 645 Die schönste Maid den schönsten Mann! Sie wollten beide Worte sprechen Und konnten nicht den Zauber brechen. O schweiget, schweigt! Die große Stunde Versiegelt euch das Wort im Munde, 650 Euch ahnt die Seele, daß Verlangen Auf ewig nun euch hält gefangen;
Nur abschließend soll noch erwähnt werden, dass Kinkels Versepos nicht zuletzt auch als Werk verstanden werden kann, das sich eines mittelalterlichen Stoffes bedient, aber durchaus, wie das schon in Kinkels Erzählung Ein Traum im Spessart gezeigt werden konnte, im Horizont liberal-nationaler Einheitsforderungen eingeordnet werden kann. Denn die Hochzeit Ottos und Elsbeths wird auch als territoriale Vereinigung in den Schlussversen gefeiert (V. 2416–2419): Dann winde sich im höchsten Glanz Um Elsbeth’s Stirn der Myrtenkranz, Der von dem Elbstrom bis zum Rheine Die deutschen Land vereine!
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In der Rezeption von Kinkels Versepos nach der Reichsgründung von 1871 zeigt sich dieses politische Potential von Kinkels Bearbeitung des Otto-Stoffes besonders im Bereich der bildenden Kunst. Im August 1895 erhielt der Maler und Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie Peter Janssen von der preußischen Regierung des Auftrag, die Alte Aula der Philipps-Universität in Marburg mit Szenen aus der Universitätsgeschichte auszumalen.196 Trotz zahlreicher Widersprüche auch von Seiten der Regierung, die eigentlich keine Themen aus der Zeit vor der Gründung der Universität im Jahre 1527 zunächst bewilligen wollte, konnte sich der Rheinländer Janssen mit seiner Idee, auch Szenen aus Kinkels Epos zu illustrieren, durchsetzen.197 Janssen, der sich recht genau an Kinkels Vorlage hielt, konnte wohl seine Auftraggeber nicht zuletzt mit dem Hinweis auf den nationalen Wert der Geschichte überzeugen, der sich in der oben zitierten Vereinigungsszene dokumentiert, die Janssen vermutlich als »mittelalterliche Vorform preußischer Wirklichkeit von 1895« deutete.198 5.2
»Bilder aus Welt und Vorzeit«: Lyrik im Horizont des ›ästhetischem Historismus‹ (Roma’s Erwachen – Der Triumphbogen des Marius in der Provence – Dietrich von Berne)
Von den während oder kurz nach Kinkels Italienreise vom Oktober 1837 bis Anfang April 1838 entstandenen Gedichten sind zehn in der ersten Gedichtausgabe erschienen, allerdings nicht zusammengefasst unter einer Überschrift, die auf den Schreibanlass hinweisen würde. Auf der Reise selbst, die Kinkel über das südfranzösische Avignon, dann Lucca, Pisa, Pistoia, Florenz, Siena, Spoleto und schließlich nach Rom führte, sind wohl schon die Gedichte Margaretha (G I, S. 14–15) und Petrus (G I, S. 20–24) entstanden,199 die zusammen mit zwei weiteren, Dorothea (G I, S. 16–19) und Triumphbogen des Marius in der Provence (G I, S. 40–41), in die Rubrik Bilder aus Welt und Vorzeit der ersten Gedichtausgabe aufgenommen wurden. Den Ablauf der Reise vom Aufenthalt im Süden, Abschied und Rückkehr
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Vgl. zur Auftragsvergabe und Themenfindung Dietrich Heber: Peter Janssen als Historienmaler. Zur Düsseldorfer Malerei des säten 19. Jahrhunderts. 2 Teile, hier Teil 1. Bonn 1979, S. 282–435, speziell zum Otto-Zyklus S. 331–347. Ebd.; ferner Margret Lemberg: Otto der Schütz. Literatur, Kunst und Politik. Ein Bilderzyklus in der Alten Aula der Philipps-Universität Marburg. Marburg 1997 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 82), S. 37–39. Ebd., S. 39; in gleicher Weise auch den Aufsatz von Claudia Stockhausen: Auf der Suche nach nationaler Identität in der Folge der Reichsgründung 1871. Die Sage von »Otto dem Schütz« in der Marburger Alten Aula, in: Preußen in Marburg. Peter Janssens historische Gemäldezyklen in der Universitätsaula. Hg. von Holger Thomas Gräf. Darmstadt, Marburg 2004 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 140), S. 59–63; im selben Sammelband auch den Aufsatz von Holger Thomas Gräf: Historienmalerei zwischen neoromantischer Mittelalterbegeisterung und preußisch-protestantischer Identitätsstiftung im Wilhelminismus (S. 23–30). Hierzu die Angaben bei Strodtmann, Gottfried Kinkel I, 1850, S. 147–148.
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rekonstruieren in lyrischer Form die drei unter der Überschrift Aus dem Süden zusammengefassten Gedichte Gruß dem Süden (G I, S. 95–96), Nacht in Rom (G I, S. 97) und Abschied von Italien (G I, S. 97–100) in der Rubrik Des Dichters Leben und Betrachtung sowie die ebenfalls unmittelbar nach der Rückkehr entstandenen, in der Abteilung Oden und Verwandtes erscheinenden Gedichten Im Vaterlande (G I, S. 71–74) und Gebet (G I, S. 141–142). Ohne eine Zuordnung in die einzelnen Kategorien wurde die umfangreiche Elegie Roma’s Erwachen (G I, S. 144–149) in die Ausgabe aufgenommen.200 Erst in der zweiten Auflage erschienen sind die gleichwohl auch im näheren Umfeld der Romreise einzuordnenden, 1840–1841 entstandenen Elegien im Norden (G II, S. 135–171) und das auf den Juli 1843 datierende Gedicht In den römischen Katakomben (G II, S. 75–78). Ihrem Schreibanlass und Thematik nach reihen sich diese Gedichte in den Komplex der Italien- und Romdichtung ein, die eine enorme Bedeutung in der Lyrikproduktion der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und teilweise darüber hinaus einnahm.201 Gleichzeitig sind die meisten dieser Gedichte auch als »historische Lyrik« oder »Geschichtslyrik« anzusprechen,202 worauf schon die Themenüberschrift Bilder aus Welt und Vorzeit hindeutet.
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Sechs der genannten Gedichte sind bereits in der ersten handschriftlichen Gedichtsammlung Kinkels für Otto Mengelberg zu finden, weshalb eine Datierung auf die Zeit unmittelbar nach der Reise – wenn nicht teilweise sogar noch während derselben – sicher ist. Vgl. hierzu die Angaben bei Enders, Gottfried Kinkel, 1913, in Klammern jeweils die Nummer bei Enders und ggf. der dort verzeichnete Originaltitel: Im Vaterland, S. 42, (Nr. 9, Auf dem Wolsberg bei Siegburg), Gruß aus dem Süden, S. 47 (Nr. 14, Gruß dem Süden bei Avignon im Herbst 1837), Nacht in Rom, S. 48 (Nr. 16, Römische Nächte), Romas Erwachen, S. 48 (Nr. 18), Gebet, S. 53 (Nr. 26), Dorothea, S. 78 (Nr. 50); das RückkehrGedicht Im Vaterlande publizierte Kinkel zudem noch vor der ersten Buchausgabe in dem von Freiligrath, Simrock und Matzerath herausgegebenen Organ: Rheinisches Jahrbuch 2 (1841), S. 418–420; im ersten Jahrgang wurden überdies auch die Gedichte Dorothea (unter dem Titel Legende der heiligen Dorothea) und Petrus (unter dem Titel Domine quo vadis? Venio iterum crucifigi) publiziert, in: Rheinisches Jahrbuch 1 (1840), S. 449–453 bzw. 454–458. Einen repräsentativen Überblick zur Italien- und Romdichtung bietet ein von dem DrosteFreund Levin Schücking herausgegebener Band, der 1857 in zweiter Auflage erschien und knapp vierhundert Gedichte vereint, die mit wenigen Ausnahmen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen, vgl. Levin Schücking (Hg.): Italia. Natur, Geschichte und Sage. Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen. Gewählt und herausgegeben v. L. S. Frankfurt a. M. 1851; zu dem Band vgl. auch meinen Beitrag, in dem die texttypologischen als auch entstehungsgeschichtlichen soziokulturellen Rahmenbedingungen dieser lyrischen Reiseanthologie untersucht werden: »Deutsche Dichter als Führer jenseits der Alpen«. Die Rom-Gedichte in Levin Schückings lyrischer Reiseanthologie »Italia« (1851), in: Zwischen Goehthe und Gregorovius. Friedrich Rückert und die Romdichtung des 19. Jarhhunderts. Hg. von Ralf Georg Czapla. Würzburg 2009 (Rückert-Studien, Bd. XVIII), S. 221–261; hier auch die wichtigste Forschungsliteratur zur Italien- und Romdichtung sowie zur Reiseliteratur. Zuletzt und nun grundlegend die Überlegungen zur Gattung Dirk Niefanger: Lyrik und Geschichtsdiskurs im 19. Jahrhundert, in: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus, Stefan Scherer, Claudia Sto-
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Wie in den hier exemplarisch ausgewählten Beispielen Roma’s Erwachen und Der Triumphbogen des Marius in der Provence besitzen die lyrische Vergegenwärtigung historischer Entwicklungen und Ereignisse und die damit verbundenen geschichtsphilosophischen Überlegungen nicht nur einen dezidierten Gegenwartsbezug, sondern die Betrachtungen nehmen oftmals ihren Ausgangspunkt zudem von einem konkreten Bauwerk oder einer Landschaft. Als beispielhaft und repräsentativ für diese Einschätzung können wiederum die Gedichte in der von Levin Schücking herausgegebenen Sammlung Italia gelten.203 Im Jahrhundert des Historismus204 nimmt die Erinnerung an einstige Größe, an Geschichte Gewordenes überhaupt, das durch Kunstwerke, Monumente und Literatur vermittelt werden kann, eine herausragende Stellung ein. Dieses historische Bewusstsein, das sich an den Monumenten und Kunstwerken, die Kinkel auf der Reise oder in Italien und Rom selbst gesehen hat, abarbeiten kann, »verwandelt sich im Bereich der künstlerischen Diskurse in den ästhetischen Historismus«.205 Die Gedichte Roma’s Erwachen und Der Triumphbogen des Marius in der Provence leisten also nicht nur eine Vergegenwärtigung von Geschichte, sondern stellen auch eine Erinnerungsanleitung dar. Im Zusammenhang mit ihrem Rückgriff auf Historisches wird der Begriff »ästhetischer Historismus« im folgenden als Verfahrensweise206 im Umgang mit Geschichte und deren ›ästhetischer Auswertung‹ bzw. als Aneignungsstrategie von Vergangenheit verstanden, die gleichzeitig auch auf einen spezifischen Bewertungsdiskurs der dar-
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ckinger. Bern [u.a.] 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N.F., Bd. 11), S. 165–181. Vgl. Schücking, Italia, 1851. Zum ersten Überblick über Herkunft, Bedeutung und Umfang des vieldeutigen und in verschiedenen Zusammenhängen verwendeten Begriffs »Historismus« vgl. etwa den Artikel sub verbo von Michael Schlott, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. II. Hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 58–62; ferner sehr instruktiv, weil pragmatisch und mit Verbindungen des Historismus zur Literatur: Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthard Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996; auf die Diskussion um Anfänge und Ausformungen des Historismus, wie sie in der Geschichtswissenschaft geführt wird, kann hier nicht weiter eingegangen werden, dafür sei auf einen neueren Aufsatz verwiesen, der die Problematik – fernab der Literaturgeschichte – zusammenfasst, vgl. Gunnar Hindrichs: Das Problem des Historismus, in: Philosophisches Jahrbuch 109 (2002), S. 283–305; gemeinhin wird Wilhelm von Humboldts Schrift Über die Aufgaben des Geschichtsschreibers von 1822 als ›Programmschrift‹ des deutschen Historismus genannt, der ›Beginn‹ des Historismus mit der Geschichtswissenschaft als »führender Bildungsmacht« also um 1830 angesetzt, vgl. Baßler [u.a.], Historismus (wie oben), S. 36; ferner Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a. M. 1983 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 401), bes. Kap. 2.1 (Historismus): S. 51–53. Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München 1999 (Zugl.: Osnabrück, Univ., Habil.-Schrift, 1997), S. 24; grundlegend zum ästhetischen Historismus: Hannelore und Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1975 (edition suhrkamp, 756). Baßler [u.a.], Historismus 1996, S. 24–26.
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gestellten Geschichte verweist.207 Diese Lyrik vermittelt ästhetisierte Bilder von Geschichte, in denen Vergangenheit zum Erfahrungsraum und gemeinsamen Bezugshorizont erhoben wird,208 wie das schon am Beispiel von Kinkels Erzählung Ein Traum im Spessart gezeigt werden konnte. Dass es sich bei Geschichtsdichtung nicht nur um Lyrik handelt, die ein historisches Thema zum Gegenstand hat, wurde von der Forschung vielfach betont und auch hervorgehoben, dass sich in solchen Texten aus der Vergangenheit stets auch Verbindungen zu Gegenwart und Zukunft markiert und thematisiert werden.209 So beschreibt der Sprecher in einem ersten Abschnitt von Kinkels Elegie Roma’s Erwachen (G I, S. 144–149)210 präzise auch seine räumliche Umgebung und römische Gegenwart (V. 1–22): 1
Ueber den appischen Weg, entlang der verfallenden Gräber, Zog ich mit forschendem Blick fern von der ewigen Stadt. Ernst umgab mich und still die Weite der öden Campagna, Ueber das Leichengefild deckten die Wolken das Tuch. 5 Bald auch tief in der Brust ward weit und stille das Herz mir; Wie sie ein Friedhof schafft, zogen Gedanken herauf. Nun vom riesigen Mal, wo Crassus seiner Metella Asche mit Marmor band, dass sie nicht folge dem Geist, Kämpft’ ich mich mühsam durch zu Maxentius mächtigem Circus: 10 Rechtshin öffnete sich weit der Egeria Thal. Ach nicht ebnen den Boden hinfort die Hufe der Rosse, Ranken und wuchernd Genist hemmten den strebenden Fuß. Aber die Weite der Bahn, die mancher Renner im Schweiße Müderen Laufs durchmaß, lockerte mir auch die Kraft, 15 Also dass ich zur Straße mich wandt’ und niedrer Taverne, Wo beim römischen Wein ruhig Behagen sich bot. Doch auch hier nicht schlief des gewaltigen Alters Erinn’rung: Stets durch’s offene Thor gähnten die Gräber herein. Selber der Bank unzierliches Brett, auf dem ich gestreckt lag,
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Vgl. Schlaffer, Historismus, 1975, S. 30; Niefanger, Lyrik und Geschichtsdiskurs, 2005, S. 166; ferner, besonders zur »Memorialfunktion« auch historischer Lyrik vgl. Markus Fauser: Intertextualität und Historismus in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verständnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp. Berlin, New York 2002, S. 391–410. hier S. 406–408. Vgl. hierzu Aleida und Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien des sozialen Gedächtnisses. Weinheim 1991 (Studienbegleitbrief 11 des Funkkollegs »Medien und Kommunikation«), hier bes. S. 8–10; etwas neuer Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis, in: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. von Martin Huber und Gerhard Lauer. Tübingen 2000, S. 15–28, hier bes. S. 15. Zur Verbindung der Zeitebenen vgl. exemplarisch mit weiteren Angaben Niefanger, Lyrik und Geschichtsdiskurs, 2005, S. 169. Das Gedicht publizierte Kinkel im selben Jahr der Buchausgabe seiner Gedichte auch in: Jahrbuch für Kunst und Poesie 1843 [Hg. von Ludwig Wihl], S. 316–320.
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20 Stützte den einen Fuß auf ein antikes Kapitäl. Drum wie den Wein ich trank auf Heldengräbern gezeitigt Wachenden Leibes versank leis mir die Seele zum Traum.
Diese ersten Verse geben die Wanderung des sprechenden Ichs wieder, das außerhalb der Stadtmauer Roms die Via Appia Antica entlang schreitet, vorbei am Grabmal der Metella und den zu dieser Zeit gerade als solche identifizierten Ruinen des Maxentius-Circus, die noch Goethe in seinem Eintrag vom 11. November 1786 seiner Italienischen Reise als »Rennbahn des Caracalla« bezeichnete, worauf Kinkel möglicherweise auch Bezug nimmt.211 Die hier präsentierte wissenschaftliche Genauigkeit – und gleichzeitige Korrektur der Goetheschen Äußerung – klingt bereits im zweiten Vers der Elegie an (»Zog ich mit forschendem Blick«) und kann ganz im Sinne des oben beschriebenen Historismus als grundlegende Haltung des Sprechers verstanden werden. Denn auch die Nennung der abgeschrittenen Denkmäler entspricht der realen Topographie an der Via Appia. Sie dient freilich der Evokation einer Ruinenlandschaft, deren prominente Bauwerke dem Leser bildlich die räumliche Gegenwart des Sprechers vor Augen führen soll und schließlich auch den Anlass für die folgende Traumsequenz darstellt, in der das kühne Bild einer schlafenden Roma als Riesin entworfen wird (V. 23–32): Weit und wacker wurde das Aug’: ein weibliches Bildnis Sah ich im Todesschlaf über das Forum gereckt. 25 Eng umhüllte den Fuß das Kissen des Colosseums, Du warst steinerner Pfühl, Schutt auf dem heiligen Weg. Aber es ruhte das Haupt an dem kapitolinischen Hügel, Drüber sein Steinwall lag düster wie Bretter des Sarges. Wenige Säulen noch standen vom vollen Monde gelichtet, 30 Einzelne Kerzen am Sarg – leider die Flamme verlosch! Roma war es, die alte, die heidnische, kronengeschmückte, Die von dem Siebengebirg knirschenden Völkern gebot;
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Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise. 2 Teile, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, hier I. Abteilung, Bd. 15/1 und 2. Hg. von Friedmar Apel u.a. Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 88), Zitat Bd. 15/1, S. 145; der Beginn von Kinkels Gedicht erinnert von den genannten Bauwerken und der Umgebung stark an die genannte Stelle. Auch Goethe geht am Rande auf die Zerstörung der Antike ein, ohne aber – wie Kinkel – eine Kritik am Christentum zu formulieren: »Heut hab’ ich die Nymphe Egeria besucht, dann die Rennbahn des Caracalla, die zerstörten Grabstätten längs der Via Appia und das Grab der Metella, das einem erst einen Begriff von solidem Mauerwerk gibt. Diese Menschen arbeiteten für die Ewigkeit, es war auf alles kalkuliert, nur auf den Unsinn der Verwüster nicht, dem alles weichen mußte.« Vgl. auch die Anmerkungen in der angegebenen Ausgabe Bd. 15/2, S. 1259–1260; zur Rezeption von Goethes zuerst 1816/17 publizierten Italienischen Reise vgl. den Artikel sub verbo von Reiner Wild, in: Goethe-Handbuch in vier Bänden, hier Bd. 3: Prosaschriften. Hg. von Bernd Witte [u.a.]. Stuttgart, Weimar 1997, S. 331–369, hier S. 367–369.
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Das Bild von der personifizierten, schlafenden Roma bzw. der toten, heidnischen Roma, die durch dichterische Imagination zu neuem Leben erwacht, lässt sich – soweit ich sehe – von Goethe über Heine bis in die moderne Dichtung verfolgen. In Heinrich Heines Reise von München nach Genua aus den Reisebildern (1826–1831) wird ebenfalls auf die »entsetzlichen« Folgen – für das christliche Rom – einer Auferstehung der alten Roma verwiesen: Die alte Roma ist jetzt tot [...], und du hast die Freude, ihre schöne Leiche ganz ohne Gefahr zu betrachten. Aber dann stieg wieder das Falstaffsche Bedenken in mir auf: wenn sie aber doch nicht ganz tot wäre, und sich nur verstellt hätte, und sie stände plötzlich wieder auf – es wäre entsetzlich.212
Die schlafende und später erwachende Roma fungiert in Kinkels Elegie sowohl als Ausgangspunkt der Traumphantasie, die gleichzeitig als ›Totenbeschwörung‹ der Vergangenheit nicht nur den zeitlichen und kulturellen Abstand zur Antike thematisiert, wie er schon prominent immer wieder bei Goethe zur Sprache kommt.213 Der folgende Abschnitt (V. 33–50) rekonstruiert und thematisiert die Übergangszeit der späten Antike zum frühen Christentum anhand der prominenten Bauwerke Neu Sankt Peter, Colosseum und Palatin, die immer noch des »gewaltigen Alters Erinn’rung« (V. 17) in sich tragen, womit wiederum auf das für die Elegie grundlegende Verhältnis von Wahrnehmung und Erinnerung angespielt wird. Als geschichtsphilosophische Betrachtung wird gleichzeitig eine Kritik am Christentum
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Heinrich Heine: Reise von München nach Genua, in: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe in 16 Bänden. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, hier Bd. 7/1: Reisebilder III/IV (Text), bearbeitet von Alfred Opitz. Hamburg 1986, S. 13–80, hier S. 58; Auch Marie Luise Kaschnitz greift in ihrem Gedicht Piazza Vittoria diesen Bildkomplex wieder auf: »Die Riesin Roma schläft / Zurückgewendet das Haupt / In die wilde Campagna.« S. Marie Luise Kaschnitz: Neue Gedichte. Hamburg 1957, S. 65. Die Vorstellung eines zerstörten Roms, das dennoch das Erbe der Vergangenheit bewahre und gerade mit seinen Ruinen die Phantasie der Künstler und Schriftsteller anrege, durchzieht die gesamte Rom-Literatur schon seit dem späten Mittelalter, paradigmatisch die Stellen bei Goethe: »Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß das Altertum uns erscheinen. Es geht damit wie wenigstens mir und einem Freunde mit den Ruinen: wir haben immer einen Ärger, wenn man eine halb versunkene ausgräbt; es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein.« Johann Wolfgang von Goethe: Winckelmann, in: Ders.: Werke (Hamburger Ausgabe). 14 Bde., hier Bd. XII: Schriften zur Kunst, Literatur. Maximen und Reflexionen. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz und Hans Joachim Schrimpf […]. 9., neubearb. Al. München 1981, S. 96–129, Zitat S. 109; ferner Goethe an Knebel am 17.11.1786: »Ich lese den Vitruv, dass der Geist der Zeit mich anwehe wo das alles erst aus der Erde stieg, ich habe den Palladio, der zu seiner Zeit vieles noch ganzer sah, maß und mit seinem großen Verstand Zeichnungen herstellte, und so steigt der alte Phönix Rom wie ein Geist aus seinem Grabe, doch ists Anstrengung statt Genusses und Trauer statt Freude.« Johann Wolfgang von Goethe: Briefe (Hamburger Ausgabe). 4 Bde., hier Bd. II.: Briefe der Jahre 1786–1805. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Kurt Mandelkow. Hamburg 1964, S. 22.
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und seiner den Glanz der heidnischen Antike verdrängenden Stellung geübt, die in der Relativierung der Vandalen- und Galliereinfälle der frühen Völkerwanderungszeit (V. 45–46) und der Vision einer erwachenden heidnischen Roma, die die christlichen Kultstätten zerstört, gipfelt (V. 69–106). Die hier formulierte Kritik am Christentum auf der Grundlage einer ästhetischen und religionsgeschichtlichen Gegenüberstellung von Heiden- und Christentum erinnert im allgemeinen freilich an Grillparzers berühmtes, 1819 entstandenes und in Joseph Schreyvogels Taschenbuch Aglaja gedrucktes Gedicht Campo Vaccino. Herausgehoben durch eine Apostrophe in beiden Gedichten ist auch die Figur und Rolle Kaiser Constantins (V. 34).214
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Eingesargt nun mit Feuer und Schwert vom jüngeren Glauben: Constantin, du zerbrachst ihren verhärteten Thron. Mit ihr sanken die Tempel, es sanken die Marmorpaläste, Aeffisch formte sich Rom neu in ein christlich Byzanz. Was den einigen Gott nun ehrt, Altar und Geräthe, Schmückte zu anderem Dienst einst der Olympier Haus. Dort des Pantheons Wölbung, die du vieledler Agrippa, Freundlich dem Volke geschenkt, wölbt sich den Märtyrern nun. Ausruhn wolltest du dort, ermüdet von schwankender Meerflut, Aber barbarische Hand raubte der Asche den Sarg: Denn der helle Porphyr, gedeckt mit marmorner Platte, Bot sich dem plärrenden Schwarm als ein erwünschter Altar. Nicht der Gallier hat, der Vandale Rom nicht geschändet: Späte, gebildete Zeit raubte des Althertums Schmuck. Dennoch bleibst du schön, o du bleiche Königin, immer Wenn in dem stillen Azur Luna als Ampel dir brennt, Wenn in dem blaulichen Licht die bunte Farbe der Neuzeit Glanz vor der massigen Form deiner Gebäude verlischt! Also träumt’ ich still, und barg mein Haupt in den Händen – Da durchschmetterte mich plötzlich der Tuba Getön. Donnernd krachte die Welt, als börsten die Siegel der Gräber, Und der umnebelte Mond düsterte blutigen Scheins. Bebend floh ich hinauf zu dem kapitolinischen Berge, Denn ein prophetisches Wort nennt unerschütterlich ihn. Keine Zeit mehr war: verstummt längst schwiegen in Neu-Rom Glock und Gesang, kein Ton drang aus der Schlafenden her. Aber die Todte drüben, die alte, wurde lebendig, Langsam richtete sich auf der gespenstige Leib.
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. 4 Bde., hier Bd. 1: Gedichte, Epigramme, Dramen I. 2., durchgesehene Auflage. Hg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher. München 1960, S. 114–118; in der elften Strophe heißt es (S. 116): »Hoch vor allen sein verkläret, / Constantin, dein Siegesdom! / Mancher hat manch Reich zerstöret, / Aber du das größte – Rom. / Über Romas Heldentrümmern / Hobst du deiner Kirche Thron, / In der Kirche magst du schimmern, / Die Geschichte spricht dir Hohn.«; zu Grillparzers Gedicht vgl. als Überblick Gunter Grimm, Ursula Breymayer, Walter Erhart: »Ein Gefühl von freierem Leben«. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990, hier S. 127–135.
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Auf das Schwert nun gestützt, mit mauergekröneter Stirne, Funkelnd im stählernen Kleid, vorne die Wölfin von Erz, Sprang sie auf beide Füße, da bog sich zitternd das Forum, Und der erschreckliche Blick spähte nach West und nach Ost. Staunen schüttelt’ ihr Haupt, gleichwie dem Mann, der bewußtlos Fiel in des Abgrunds Nacht hoch von dem schwindelnden Steg: Unten erwacht er vom Sturz, und schaut rings felsige Oede, Doch er besinnt sich umsonst, was an den Ort ihn gebracht. Aber als sie erkannte der Kirchen leuchtende Kreuze Und das gebrochne Gestein, wo sie die Tempel geschaut, Schoß von dem Aug’ ihr Glut, wie der afrikanischen Löwin, Wenn ihr im Schlafe der Mohr listig ihr Junges entführt. Hoch dann raffet die Mutter sich auf: mit unfehlbarem Sprunge Packt sie den Räuber in’s Fleisch, blutigen Rachegelüsts. Also hub sich Roma, die schreckliche: rüttelnd die Lanze, Rüttelnd des Helms Roßschweif stampfte sie wild auf den Grund. Laut nun dröhnte die Nacht: das Forum wurde lebendig, Tausendjähriger Schutt formte sich rasch zur Gestalt. Soviel Völkerblut den bestrittenen Boden bedeckt hat, Alles erregte sich nun, geisterhaft flattert’ es hin, Bis tief unten erschien das Lavapflaster des Steinwegs, Welchen als heiligen einst grüßte der Zug des Triumphs. Dann mit stählernem Arm strich über gereinigten Grund sie: Knatternd stürzten dahin Kirchen und Häuser und Kreuz. Wie durch schwellendes Korn leicht streift sie die schneidige Sichel Unwiderstehlichen Zugs, also ihr mähender Arm. Wild nun packte die Faust Sankt Peters Dom, und sie faßte Allen gestohlenen Schmuck, Säulen, Bekleidung und Erz. Donnernd stöhnte die Kuppel im Fall, doch unter den Trümmern Blühte neronische Pracht zierlicher Gärten herauf. Aber den Raub der Kirchen verstreute sie leicht in die Lüfte; Jegliches suchte den Platz, den es vor Zeiten geziert. Auch hinüber griff sie zum venedischen Pallast, Hub ihn mit einem Schwung über den Hügel hinweg. Freudig umarmte sich Stein mit Stein, die so lange getrennten: Colosseum, du standst, wie Titus dich schuf. Aus dem Forum wuchsen die Marmorsäulen der Venus Neben Fortuna’s Haus, Liebe verheißend und Glück. Aber in göttlicher Pracht, wie ein Zauberschloß, in dem Mondlicht, Hob sich der Kaiserpalast froh aus dem Schutt Palatin’s. Porphyr flammt’ um jegliche Säul’, und mit goldenem Giebel Lud Apollo’s Haus Musen und Sänger heran. Wer doch zählte die Tempel und wer die zierlichen Häuser, Wer der Theater Pracht oder der Thermen Gedrang? Was der Deutsche nur schaute gefangen im Römertriumphzug Oder im römischen Gold, durft’ als ein Freier ich schau’n. Aber schneidend und kalt durchzog das Grausen die Brust mir, Denn kein menschliches Herz schlug in der Bauten Gebirg. Häuser bauten sich wieder, doch nimmer kehrt der Bewohner, Und den olympischen Gott hält, wie den Cäsar, sein Styx.
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Ach, das schien unendlicher Schmerz vom Auge der Riesin, Dass ihr, die Alles erneut, dennoch das Leben entwich. Schrecklich! Denn wie das Bild der grausig schönen Medusa Drückte das pochende Herz schwer die erstarrende Pracht. 115 Selber erhebt’ ich zum Steine verbannt mich plötzlich zu sehen, Und mit entsetzlicher Angst griff mir der Tod in die Brust. Mühsam rang ich mich auf, zu entfliehn der grausen Verwandlung, Da – ein donnernder Schlag frischte die Seele mir an, Und ein Gewitter im West stieg auf mit kühlendem Hauche, 120 Aufwärts schlug ich den Blick – Schauder! wo blieb, was ich sah? Still in der Schenke saß ich am Weg beim römischen Weine, Stets durch’s offene Thor gähnten die Graeber herein. Ernst umgab mich und still die Weite der öden Campagna, Ueber das Leichengefild deckte der Regen das Tuch. 125 Nüchtern faßte mich an der Hauch gegenwärtigen Daseyns, Aber ich zweifelte noch, ob ich ein Wachender sey. Zitternd blickt’ ich hinab zu dem Säulenstumpf, drauf ich gelehnt war: Ach das lag er ja noch – ach und ich hatte geträumt.
Innerhalb der Traumsequenz (ab V. 23), bei deren Beginn der Sprecher in einer Taverne an der Via Appia auf einem Kapitell vom Wein berauscht einschläft, beginnt mit Vers 51 eine zweite Traumeinheit, die nicht nur markiert wird durch das »Also träumt’ ich still« (V. 51), sondern auch gekennzeichnet ist durch das Aufwachen des Träumenden innerhalb des eigentlichen Traumes, der indessen erst in Vers 118 mit dem Erwachen des Sprechers durch ein aufziehendes Gewitter endet (V. 118–119). Diesem Erwachen geht ein zentraler Abschnitt voran (V. 107–114), dem für die Bewertung des Verhältnisses zwischen jener nur in der künstlerischen Phantasie evozierten Restauration der antiken Stadt und der den Sprecher umgebenden modernen römischen Welt besondere Bedeutung zukommt. Die nach dem Wiederaufbau der alten Stadt erschöpfte Roma sinkt in ihren Todesschlaf zurück, weil in den wiedererstandenen Bauwerken »kein menschliches Herz schlug« (V. 108). Die alte Roma muss erkennen, dass bei ihrem Aufwachen nicht nur die Bauwerke hingesunken sind und anderen Funktionen zugeführt wurden, sondern die christliche Zeit auch einen anderen Menschen hervorgebracht hat, der nichts mehr mit der einstigen Größe Roms gemein zu haben scheint. Das in der Vormärz-Literatur häufig gebrauchte Motiv des Schlafens und der Langeweile als Symbole für politischen Stillstand und Untätigkeit spielt in Kinkels Elegie nur bedingt eine Rolle, sondern gewinnt hier eine neue Bedeutung.215 Die implizit zum Ausdruck gebrachte Zeitkritik (V. 107–114) lässt sich als Teil eines weit verbreiteten kulturellen Epigonenbewusstseins begreifen, das am Beispiel
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Vgl. zu diesem Komplex mit weiterer Literatur den Beitrag von Bernd Füllner: »Nur Unruhe! Unruhe! sonst bin ich verloren.« Georg Weerth und die ›Göttin der Langeweile‹, in: Vormärz und Klassik. Hg. von Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke und Michael Vogt. Bielefeld 1999 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, I), S. 181–197.
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des Colosseums auch Grillparzers schon erwähntes Gedicht Campo Vaccino kennzeichnet:216
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Kolosseum, Riesenschatten Von der Vorwelt Machtkoloß, Liegst du da in Todesmatten, Selber noch im Sterben groß? Und damit, verhöhnt, zerschlagen, Du den Martertod erwarbst, Mußtest du das Kreuz noch tragen, An dem, Herrlicher, du starbst! Nehmt es weg, dies heil’ge Zeichen! Alle Welt gehört ja dir; Überall, nur bei diesen Leichen, Überall stehe, nur nicht hier! Wenn ein Stamm sich losgerissen Und den Vater mir erschlug, Soll ich wohl das Werkzeug küssen, Wenns auch Gottes Zeichen trug? Kolosseum, die dich bauten, Die sich freuten um dich her, Sprachen in bekannten Lauten, Dich verstanden, sind nicht mehr. Deine Größe ist zerfallen Und die Großen sinds mit ihr, Eingestürzt sind deine Hallen, Eingebrochen deine Zier; O, stürze ganz zusammen Und ihr andern stürzet nach, Deckte, Erde, Fluten, Flammen, Ihre Größe, ihre Schmach. Hauch ihn aus, den letzten Oden, Riesige Vergangenheit! Flach dahin auf flachem Boden Geht die neue, flache Zeit!217
Der Epigonenbegriff wird hier im Sinne nicht der älteren Forschung verstanden, die die Bezeichnung meist pejorativ für eine bestimmte Schriftstellergeneration gebrauchte, sondern in Anlehnung an die Studien von Fauser, Intertextualität, 1997 (hier auch zusammengefasst die älteren Beiträge, die ebenfalls um eine literarhistorische Präzision des Epigonenbegriffes bemüht waren); eine neue (zeitliche) Perspektive auf das Phänomen eines »kulturellen und literarischen Epigonenbewußtseins« (S. 72) bietet der Beitrag von Barbara Beßlich: Napoleon, Byron und Grillparzer: Der 5. Mai 1821 als Ende der Geschichte und Beginn des Epigonentums, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 56 (2006), S. 71–87. Grillparzer, Sämtliche Werke Bd. 1, 1960, S. 117–118.
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Nicht der Vergleich zwischen einer als insuffizient empfundenen Gegenwart mit vergangener römischer Größe, sondern die Vergegenwärtigung germanischer Kampfesbereitschaft steht im Mittelpunkt von Kinkels in neun Strophen zu je vier Versen gegliedertem Gedicht Triumphbogen des Marius in der Provence (G I, S. 40–41). Wie schon in Roma’s Erwachen spielt die Betrachtung in diesem Falle eines römischen Triumphbogens für die Erinnerung an vergangene Zeiten eine entscheidende Rolle, worauf bereits die Überschrift hinweist. Erst seit archäologischen Befunden des 20. Jahrhunderts wird der römische Triumphbogen vor den Stadtmauern der provençalischen Stadt Orange, dem antiken Arausio, als Ehrenbogen des Tiberius angesprochen, der wohl zwischen 21 und 26 n. Chr. anläßlich der Stadtneugründung durch Kaiser Tiberius errichtet wurde. Im 19. Jahrhundert galt er allerdings als Triumphbogen des römischen Feldherrn und mehrfachen Konsuls Gaius Marius (156 v. Ch. bis 86 v. Chr.), wie ihn auch Kinkel in seinem Gedicht bezeichnet. Diese allgemeine Annahme im 19. Jahrhundert ist insofern verwunderlich, als Marius zwar im Jahre 102 v. Chr. die Teutoni und Ambronen in der Nähe des antiken Aquae Sextiae, des heutigen Aix-en-Provence, vernichtend schlagen konnte, die im Gedicht (V. 20) erwähnten Kimbern allerdings drei Jahre zuvor (105 v. Chr.) einen Sieg über die Römer gerade in Orange erringen konnten.218 Da die Weiheinschrift schon im 19. Jahrhundert nur fragmentarisch überliefert war, nahm man offenbar an, dass trotz oder gerade auch wegen der römischen Niederlage im Jahre 105 v. Chr. dem Marius aufgrund seines späteren Sieges nicht weit von Orange entfernt dieser Ehrenbogen gewidmet wurde, was noch bis ins späte 19. Jahrhundert communis opinio war.219
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Wo man nach Welschland pilgert, wo Alpen starren empor, Da winkt mit ernstem Gruße ein altes Römerthor. O deutscher, deutscher Wandrer, betracht’ es mit Fleiß: Siehst du das Bildwerk droben, und wird das Blut dir heiß?
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Nie ist hindurchgezogen des Kornes goldne Flut Durch diesen stolzen Bogen, nie milden Weines Glut! Nie schritt der Bürger durch ihn ins lust’ge Feld – Er ward von grimmem Würger als Siegmal aufgestellt.
Zu Marius vgl. den gleichnamigen Artikel in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, hier Bd. 7. Stuttgart, Weimar 1999, Sp. 902–905, bes. Sp. 903; zur Bewertung in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung ferner: Volker Werner: Quantum bello optimus, tantum pace pessimus. Studien zum Mariusbild in der antiken Geschichtsschreibung. Bonn 1995 (Habelts Dissertationsdrucke, Reihe Alte Geschichte, H. 39). Noch das Große Meyers Konversationslexikon bezeichnet das dreitorige Bauwerk in Orange als Triumphbogen des Marius, vgl. den Eintrag »Triumphbogen«, in: Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neu bearbeitete und vermehrte Auflage. 19 Bde., hier Bd. 15. Leipzig, Wien 1908, S. 854.
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Schau die Gefangenen stehen von schweren Fesseln müd, Vier spähen nach dem Norden, vier schaun hinab gen Süd. Kennst du die langen Locken, kennst du die knappe Tracht? Die Väter sind’s: sie boten dem Römer hier die Schlacht. Wie dicht auf seine Bahnen noch immer Welschland reißt, So einst mit tiefem Ahnen weckt’ es der Väter Geist. Vom rauhen Baltenmeere, wo Luft und Leben stockt, Zum Süden ziehn die Heere, wo warme Sonne lockt. Dort unten, wo die Quelle dem Boden wild entzischt, Hat sich die heiße Welle mit heißerm Blut gemischt, Mit Blute meiner Ahnen, die dort der Römer traf: Dort schläft der Stamm der Kimbren den ew’gen Todesschlaf. Da, stolzer Römer, bautest du dieses Siegesmal, Und trotzig nieder schautest du, blut’ger Aar, zu Thal. Stumpf war dein Blick, o Adler! Es birst dein Felsenwall, Es stürzt durchs Thor der Alpen brausender Heeresschwall!
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Das sind die Römerschaaren, in jugendfrischer Kraft! Wie bald vor ihrem Schlachtruf ist deine Schwing’ erschlafft! O schont dieß Thor, ihr Wilden! Zur Schande ward’s erbaut, Nun kündet’s eure Ehre, nun ruft’s von Rache laut! Denn heut, viel hundert Jahre, da du, o Roma, sankst, Du aber jung in Blüthen, mein holdes Deutschland, prangst: Da jauchzt in mir die Seele, wie sie erblickt dieß Mal, Das euch, ihr Väter, höhnet in eurer Ketten Qual. Ja, eure Blicke leuchten, vom Abendroth erhellt, Ihr schaut, so will mir’s däuchten, in diese junge Welt: Ihr grüße mild den Enkel, den Erben eures Bluts, Und weihet ihn zum Erben des bluterkämpften Guts!
Das Gedicht ist geprägt von einem appellativen Grundton, der sich in den Imperativen »betracht’ es« (V. 3) und »schau« (V. 9) manifestiert, die den Leser dazu auffordern, sich die zuvor beschriebenen Szenen aus den Reliefdarstellungen des Triumphbogens mit Gefangenen und Schlachtszenen vor Augen zu führen. Der Sprecher des Gedichts fungiert also als Vermittler zwischen dem, was er selbst sieht bzw. gesehen hat und dem Rezipienten, der sich im dritten Vers als »deutscher, deutscher Wandrer« identifizieren lässt. Die Bedeutung seiner Herkunft wird durch die geminatio des Adjektivs »deutsch« besonders hervorgehoben. Der rhythmisch getragenen, »schwer klingenden« Form dieses Vierzeilers,220 dessen einzelne Verse
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Zur Verbreitung und Charakterisierung dieser vierzeiligen Strophenform, die nach der Renaissance und der Barockzeit bis ins 19. Jahrhundert weithin vergessen zu sein schien,
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meist regelmäßig abwechselnd Hebungen mit einfachen und doppelten Senkungen sowie durchweg männliche Versausgänge zeigen, entspricht inhaltlich die angesprochene Brutalität der Kampfereignisse (V. 17–20). Zusätzlich wird den in Erinnerung gerufenen Kampfhandlungen und -folgen auf lexikalischer Ebene durch die häufige Verwendung des Wortes »Blut« und seiner Derivate Ausdruck verliehen (V. 4, 18, 19, 22, 36). Den Grundgedanken jener Überlegungen, mit denen sich der Sprecher an den »deutschen Wandrer« richtet, bilden neben der Erinnerung an die Kämpfe der im Triumphbogen als Unterlegene und Gefangene dargestellten Kimbern mit den Römern (V. 20) auch die genealogischen und stammesgeschichtlichen Verbindungen dieses Volkes mit den ›modernen‹ Deutschen. Freilich konnte Kinkel nicht wissen, dass es sich bei den dargestellten Gefangenen in Wirklichkeit um besiegte Gallier handelt, die nach ihrem Aufstand im Jahre 21 n. Chr. in den Reliefszenen des Bogens als Unterlegene vorgeführt wurden. Entscheidend ist aber, dass in der dritten Strophe (V. 9–12) das auf dem Triumphbogen zu Sehende in Form einer lyrischen Kunstbeschreibung dem Leser vor Augen gestellt wird und mit der Nennung der »langen Locken« und »knappe[n] Tracht« (V. 11) offenbar auf ein abrufbares kultur- und stammesgeschichtliches Wissen angespielt wird. Die Frage nach der tatsächlichen historischen Identität der Dargestellten mit den Kimbern scheint dabei zweitrangig zu sein. Geschichte wird hier als im Monument noch erfahrbares Ereignis proklamiert, freilich mit der Absicht, in die zeitgenössische Gegenwart hineinzuwirken. Gleichzeitig als Anspielung auf die deutsche Italiensehnsucht – die schon im ersten Vers mit der Umschreibung »Wo man nach Welschland pilgert« anklingt – wird in der vierten Strophe (V. 13–16) eine Parallele zwischen den modernen Motiven der Italienreise und den historischen Gründen für die Wanderbewegung der nach neueren Forschungen wohl aus dem nordischen Jütland kommenden Cimbri gezogen. Auf ihrem Weg nach Süden schlossen diese sich wohl mit den Teutoni und anderen germanischen Stämmen zusammen.221 Überliefert ist deren vermutlich durch klimatische Bedingungen ausgelöste Südbewegung ab dem Jahr 113 v. Chr. bereits bei Plutarch, worauf auch im Gedicht angespielt wird (V. 16).222 In der Tradition romantisch-nationaler und volkstümlich geprägter Vorstellungen eines Germanenverbandes, der auf der Suche nach Siedlungsmöglichkeiten mit den Römern in Konflikt gerät, wird die bereits im 19. Jahrhundert teilweise in Historikerkreisen diskutierte Komplexität der kimbrischen Bewegung, ihre Motivatio-
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vgl. Frank, Handbuch, 1993, S. 343–344. Als knappe Einführung mit den wichtigsten Quellen vgl. den Artikel »Cimbri« und »Teutoni« in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, hier Bd. 2. Stuttgart, Weimar 1997, Sp. 1203–1205 bzw. Bd. 12/1 (2002) Sp. 209–211. Vgl. Plutarch: Römische Heldenleben. Fabius Maximus. Cato der Ältere. Die Gracchen. Marius. Sulla. Pompeius. Cäsar. Übertragen und herausgegeben von Wilhelm Ax. 2. Al. Stuttgart 1938 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 67), S. 106–161, hier bes. S. 116–117.
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nen und ihr Verlauf, im Gedicht zugunsten einer Heroisierung des Ahnen-Stammes ausgeblendet. Nach der neueren historischen Forschung wird die »Raubexistenz« als Lebensweise – auch aufgrund der schon für die zeitgenössischen Geschichtsschreiber schwer nachvollziehbaren Wanderroute und Vorgehensweise der Kimbern – stärker betont als die noch im 19. Jahrhundert übliche positiv konnotierte Landsuche der verschiedenen Stämme.223 Gleichwohl greift Kinkel mit der beispielhaften Nennung der Kimbern aus den übrigen germanischen Stämmen jene schon von Tacitus in seiner Germania und bei anderen römisch-antiken Geschichtsschreibern betonte Sonderstellung der Kimbern innerhalb der weitreichenden germanisch-römischen Konfrontationen auf, die auch von der modernen Geschichtsforschung bestätigt wird.224 Lässt sich das Herausstellen der Kimbern bei den römisch-antiken Geschichtsschreibern Kimbern noch als »Nährboden rhetorisch-ideologischer Klischees« interpretieren,225 die sich im Begriff des furor Teutonicus verdichten und zur Demonstration kultureller römischer Überlegenheit gegenüber den Barbaren tradiert wurden, so werden im vorliegenden Gedicht gerade der Kampfeswille und die Heldenhaftigkeit der Kimbern glorifiziert. Die herausgehobene Abstammung der Deutschen von den im Gedicht angesprochenen Kimbern (V. 20) wird noch einmal besonders in der fünften Strophe (V. 17–20) durch den Hinweis auf das »Blute meiner Ahnen« (V. 19) durch den Sprecher betont. Allerdings nimmt sich Kinkel an dieser Stelle auch künstlerischpoetische Freiheiten und verlegt historische Ereignisse an Orte, wo diese gar nicht stattgefunden haben. Unverkennbar wird in Vers 17–18 auf das für seine heißen Quellen schon in der Antike berühmte Aquae Sextiae (Aix-en-Provence) angespielt, in dem indessen die Teutoni und Ambronen – nicht die Cimbri, die bereits nach Spanien weitergezogen waren – von den Römern geschlagen wurden.226 Offenbar geht es Kinkel nicht ausschließlich um historische und topographische Genauigkeit – selbst wenn diese zum großen Teil gegeben ist –, sondern um die Steigerung der poetischen Wirkungskraft, was in dem durch geminatio (»Blut«) und Polyptoton (»heiße«; »heißerm«) rhetorisch kunstvoll gestalteten Bild der Mischung von Blut und heißem Wasser anschaulich wird:
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Hierzu den grundlegenden Beitrag von Dieter Timpe, der allerdings nur ausblickhaft auf die nicht-antike Rezeption der Kimbern eingeht, aber die wichtigsten Quellen vorstellt und die Forschung zusammenfasst, vgl. Dieter Timpe: Kimberntradition und Kimbernmythos, in: Germani in Italia. A cura di Barbara e Piergiuseppe Scardigli. Roma 1994 (Monografie Scientifiche. Serie Scienze umane e sociali), S. 23–60. Ebd., S. 29. Ebd., S. 28. Zur antiken Gestalt und Bedeutung von Aquae Setxtiae vgl. zum Überblick den Artikel in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, hier Bd. 1. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 930.
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Dort unten, wo die Quelle dem Boden wild entzischt, Hat sich die heiße Welle mit heißerm Blut gemischt, Mit Blute meiner Ahnen, die dort der Römer traf: Dort schläft der Stamm der Kimbren den ew’gen Todesschlaf.
Im Anblick der im Monument künstlerisch konservierten Niederlage der Ahnen gegen die Römer sieht der Sprecher nicht nur ein über die Jahrhunderte hinweg die Generationen durch »Blut« verbindendes Erbe (V. 35). Die Vergegenwärtigung einstiger Schmach soll den Blick auch auf die eigene deutsche Gegenwart lenken, deren nationale Aufbruchstimmung und kulturgeschichtlicher Fortschritt sich in ihrer Bezeichnung als »junge Welt« (V. 35) verdichtet. Bis ins Jahr 1836 reicht die Auseinandersetzung Kinkels mit einem Stoff zurück, der – ähnlich wie der Kimbern-Stoff im Marius-Gedicht – besonders im frühen 19. Jahrhundert ein hohes national-liberales und patriotisches Identifikationspotential barg. Gemeint ist die Geschichte und die Geschichten um den sagenhaften, historisch an den Ostgotenkönig Theoderich den Großen (471–526) angelehnten Dietrich von Bern. Kinkel hat aber mit seiner Ballade Dietrich von Berne (G I, S. 8–10) keine historische Ballade im engeren Sinne geschrieben, wie wir sie etwa als Gattung mit den fast zeitgleich nur wenige Jahre zuvor erschienenen, streng an der tatsächlichen Vita des Helden angelehnten historischen Balladen über Napoleon (Kaiser-Lieder, Leipzig 1835) von Franz Freiherr von Gaudy kennen – etliche andere wären zu nennen.227 Daher findet sich in Kinkels Gedicht auch kein über die deutsche Lautgestalt des gotischen Königsnamens und die Anspielung auf die Residenz Theoderichs in Ravenna (V. 22–23) hinausgehender Hinweis auf das historische Vorbild. Zeitgleich entstandene Bearbeitungen des (gesamten) Dietrich-Stoffes in Karl Simrocks Amelungenlied (1843–1849)228 oder später in Friedrich Hebbels Nibelungen-Trilogie (1862)229 verherrlichen Dietrich / Theoderich als christlichen Herrscher, der – im Falle von Simrock – auch als politische Vorbildfigur auf dem
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Zur Ballade allgemein vgl. den Artikel sub verbo von Christian Wagenknecht: Ballade, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. I. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 2000, S. 192–196; speziell zum Verhältnis von Geschichte und Dichtung im 19. Jahrhundert und der historischen Ballade den hervorragenden Sammelband von Winfried Woesler (Hg.): Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion, Heft 38), hierin bes. die Beiträge von Winfried Woesler: Die historische Ballade, S. 7–13 und Markus Fauser: Ballade und Historismus, S. 14–34. Das in drei Teilen erschienene Epos hat Simrock im Rahmen seines Heldenbuches publiziert, vgl. zur Dietrichs-Figur die Ausgabe: Karl Simrock: Das Amelungenlied. 3 Theile, hier: Dritter Theil: Die beiden Dietriche. Die Rabenschlacht. Die Heimkehr. Stuttgart, Tübingen 1849. Friedrich Hebbel: Die Nibelungen. Ein deutsches Trauerspiel in drei Abteilungen, in: Ders.: Werke. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. München 1964, S. 105–319; Dietrich tritt hier allerdings nur im letzten Teil (Kriemhilds Rache) auf.
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Weg zu einem deutschen Nationalstaat fungieren sollte, worauf Simrock ausdrücklich hinweist. Mithin sollte mit Dietrich auch ein deutscher Nationalheld geschaffen werden. 230 Wie schon bei den bisher in diesem Kapitel behandelten Gedichten gezeigt, bilden die aus der Geschichte ausgewählten Themen, Figuren und Ereignisse für national-liberale – aber auch konservative – Autoren sehr häufig nur die Folie für zeitgenössische politische, kulturelle oder soziale Fragen und Probleme, auf die im Medium der Literatur aufmerksam gemacht werden sollte. Im Falle der Geschichtsballade spricht Gottfried Weißert sogar davon, dass sich mit ihr »der Gedanke des Nationalstaates am besten […] befördern ließ«.231 Kinkel indessen hat das Legendenhaft-Mythologische und Heldenhafte, das sich mit der Dietrich-Figur verbindet, seinem Gedicht Dietrich von Berne zugrundegelegt, das daher auch als Heldenballade angesprochen werden kann.232 Zahlreiche Motive und Figuren (Feuerspucken, Nachtelfe) lassen zudem deutliche Bezüge zu romantischen Schauerballaden erkennen, die im größeren Zusammenhang mit den teils »ahistorischen Ritterballaden« de la Motte Fouqués und Stolbergs zu sehen sind:233 1
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Nun höre mich, Vater, nun höre mein Wort! Nun hole mich heim zu dir. Bin satt des Lebens und will nun fort; Was soll der Alternde hier? Mein dunkler Vater, nun höre geschwind, Dich ruft dein gewaltiges Heldenkind Der alte Dietrich von Berne.
Seit ächzend die Mutter ans Licht mich gebracht, Hab’ ich nimmer dein Antlitz geschaut. 10 Nun komm, du dunkler Elfe der Nacht, Vor dem den Sterblichen graut! Das Feuer, das du mir gegossen ins Blut, Es lohet zu scharf, es verzehrt die Glut Den alten Dietrich von Berne. 15 Bin werth, o Vater, ich bin dein werth! Genug nun hab’ ich geschafft;
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Vgl. hierzu die stoffgeschichtliche Untersuchung von Bruno Altaner: Dietrich von Bern in der neueren Literatur. Breslau 1912. Gottfried Weißert: Zugänge zur Geschichtsballade im 19. Jahrhundert, in: Literatur für Leser 6 (1983), S. 113–133, hier S. 117. Zur literarhistorischen Differenzierung im europäischen Horizont vgl. den Beitrag von Helmut Rosenfeld: Heldenballade, in: Handbuch des Volksliedes. 2 Bde., hier Bd. I: Die Gattungen des Volksliedes. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich und Wolfgang Suppan. München 1973, S. 57–87. Vgl. Fauser, Ballade und Historismus, 2000, S. 25.
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Es hat zum Tode mein Heunenschwert Genug der Helden gerafft. Mich scheuet der Tod, seit ich Hagnen schlug. 20 Du hole mich nun, das ist Ehre genug Dem alten Dietrich von Berne. Nicht blieb zu bekämpfen ein Feind zurück, Zu Bern steht fest mein Palast; Die Ruhe, des weichen Alters Glück, 25 Ist meinem Marke verhaßt. Wohl jag’ ich den Ur in dem finstern Wald, Doch ist’s zu gering mir, drum mich bald, Den alten Dietrich von Berne. 30 So rief der König, er stand im Forst: Das hörte der Vater bald: Auf lauschte der Held, das Gezweige borst, Ein Hirsch brach her aus dem Wald. Wohl griff Herr Dietrich zum Waidgeschoß, 35 Doch hatt’ er zur Stelle kein schnelles Roß, Der alte Dietrich von Berne. Und wie er sich umsah unmuthsvoll, Da stand ein mächtiges Roß, Deß ungeduldiger Hufschlag scholl 40 Und Schaum vom Gebiß ihm floß, War schwarz und glänzend: da schwang er sich auf, Und spornt es zum Jagen im schnellsten Lauf, Der alte Dietrich von Berne. Da schnaubet das Roß, dass Feuer und Rauch 45 Den offenen Nüstern entloht, Und stürmet dahin wie ein Wüstenhauch, Dem folget der schwarze Tod. Da hebt sich jauchzend die Heldenbrust, Da fühlt sich jung wie in Schlachtenlust 50 Der alte Dietrich von Berne. Doch jäher und jäher nun wird der Ritt, Vorbei jagt Felsen und Baum. Wie könnten die Diener, die Rüden mit? Nichts fruchtet der straffe Zaum: 55 Es stürmet, das ist nicht Galopp noch Trab, Ist Windsbrautsausen; nicht kann er herab, Der alte Dietrich von Berne. Ihm schließt sich das Aug’ und es starret das Blut: Doch als er, betäubt noch, erwacht, 60 Da schaut er, und höher wächst ihm der Muth, Den Vater, den Elfen der Nacht.
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Der fasset die Hand ihm: wie fühlt er sich stark, Wie schwillt in den Knochen ihm jugendlich Mark, Dem alten Dietrich von Berne! 65 So sprach der Vater: Mein stolzer Sohn, Du hast dich in Ehren bewährt, Wohl mußt’ ich selbst dich holen schon, Schon rittst du ein Geisterpferd: Drum auf, dich grüß’ ich, Schwarzelfe der Nacht, 70 Nun jagst du mit mir in der wilden Jagd, Mein starker Dietrich von Berne!
Das Gedicht besteht aus zehn Strophen, die jeweils sieben Verse umfassen, von denen nur der letzte eine klingende Kadenz aufweist, alle anderen Versausgänge sind männlich. Mit einer Ausnahme (Strophe 6) lässt sich innerhalb der Strophen eine Zweiteilung beobachten, die syntaktisch durch Punkt oder Ausrufezeichen nach dem vierten Vers markiert wird. Die Form der siebenzeiligen Strophe stellt literarhistorisch und gattungsgeschichtlich nicht nur einen Zusammenhang mit älteren Schauerballaden her,234 sondern auch mit der mittelhochdeutschen, aus dreizehn Versen bestehenden großen Kanzonenform, die in der sogenannten aventiurehaften Dietrichepik verwendet wurde und als deren siebenzeiliger Abgesang die von Kinkel gewählte Strophe verstanden werden kann.235 Auch andere mittelhochdeutsche Formen der siebenzeiligen Strophe aus dem höfischen Minnesang (Heinrich von Veldeke u.a.) stellen einen formalen Bezugsrahmen zu Kinkels Gedicht dar, besonders aufgrund der auch dort zu beobachtenden inhaltlichen Zäsur nach dem vierten Vers.236 Auch das hier vorliegende Reimschema aus einem Kreuz- mit anschließendem Paarreim und einer Waise (ababccx) weist Ähnlichkeiten mit dem Reimschema etwa in der Heldendichtung zu Dietrich von Bern (sogenannter Berner-Ton) auf.237 Die Wahl dieser Strophenform erscheint nur insofern außergewöhnlich, als sie in der Neuzeit nahezu in Vergessenheit geraten war, für den Dietrich-Stoff indessen
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Erscheinung und Bedeutung der siebenzeiligen Strophe wurde bereits beschrieben von Ernst F. Kossmann: Die siebenzeilige Strophe in der deutschen Litteratur. Haag 1923; in einigem korrigiert, dennoch als Grundlage gewürdigt und fortgeführt wurde Kossmanns Darstellung von Walter Hinck: Goethes Ballade Der untreue Knabe. Zur Geschichte der siebenzeiligen Strophe in mittelalterlicher und neuerer deutscher Lyrik, in: Euphorion 56 (1962), S. 25–47; Hinck widerspricht auch dem Vorschlag, die Strophenform als »Fragment« der achtzeiligen Leonore-Strophe zu verstehen und unterstreicht die bewußte Entscheidung Goethes für den Siebenzeiler (S. 27). Grundlegend und als Einführung in das Thema vgl. die Habil.-Schrift von Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte späterer Heldendichtung. Zürich, München 1978, bes. S. 185–186; knapper Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin, New York 1999 (De-Gruyter Studienbuch), hier bes. S. 98–103. Zu den mittelhochdeutschen Beispielen ferner Hinck, Goethes Ballade, 1962, S. 32f. Vgl. Heinzle, Einführung, 1999, S. 100–103.
247
aber eine naheliegende Form darstellte.238 Wie intensiv Kinkel sich mit formalen Aspekten der Lyrik-Produktion beschäftigt hat, dokumentieren einmal mehr seine Jugendbriefe, in denen er sich auch zur langen Entstehungszeit seines DietrichGedichtes äußert: Mit dittrichs tode kann ich noch nicht fertig werden; form und auffassung quälen mich unerlaubt; der stoff ist gar spröde. Entweder episch erzählend in der nibelungenstrofe, dann wirds lang, oder, wie die englischen balladen, dialogisch, fast dramatisch. So ließe es sich mit einem male fertig machen, aber dazu gehört ein talent, das höchste ausbildung hätte.239
Entschieden hat sich Kinkel für die »englische« Variante und damit für die Ballade auch einen liedhaft erzählenden Gestus gewählt. Der direkten Rede Dietrichs (Strophe 1–4) folgt ein retardierendes und erzählendes Zwischenstück (Strophe 5–9), auf das wiederum eine direkte Rede folgt, die die Entgegnung des zuvor von Dietrich angesprochenen Vaters an seinen Sohn und gleichzeitig Dietrichs Abgang von der irdischen Welt darstellt (Strophe 10). Die an den Vater gerichteten Worte fassen die Bitte um Erlösung vom irdischen (Helden-)Leben zusammen und werden in ihrer Eindringlichkeit verstärkt sowohl durch die doppelten Senkungen – besonders im jeweils ersten Vers jeder Strophe – und männlichen Versausgänge als auch die zahlreichen rhetorischen Mittel wie Alliterationen, Anaphern (V. 1, 2, 10; V. 16, 18; V. 26, 33 e.a.) und besonders die von der Apostrophe »Vater« unterbrochenen Wiederholungen in Vers eins und einundzwanzig. Die altnordischen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellengrundlagen für die Abstammung Dietrichs vom Teufel, worauf etwa die Anrede »du dunkler Elfe der Nacht« (V. 10) hinweist, fand Kinkel zusammengefasst in der zuerst 1835 publizierten Darstellung Die deutsche Heldensage von Wilhelm Grimm,240 die er in einen Brief vom April 1836 erwähnt: In dem schönen buche: die deutsche heldensage (von Grimm verfaßt) habe ich einen pompösen epischen stoff gefunden: die geschichte Dietrichs von Bern. Sieh dir einmal diese riesengroße figur im Nibelungenlied an. Er ist sohn des teufels, eine christliche umbildung dessen, was die alte sage von seiner zeugung durch einen nachtelfen erzählt; feuer sprüht aus ihm, wenn er kämpft; dem zürnenden erglüht die ganze rüstung. Wunderbare abentheuer, in die sich viel gedanke hineinlegen ließe – also etwas für mich. […] so denke ich zunächst nur eine romanze: Ditrichs tod zu bearbeiten. Auf schwarzem rosse holt den ergrauten sohn der dunkle, geheimnißvolle vater ab, mit ihm zu jagen in der wilden jagd.241
238 239 240 241
Zur Verbreitung der Strophenform seit dem Mittelalter vgl. Hinck, Goethes Ballade, 1962, S. 31; ferner: Frank, Handbuch, 1993, S. 541–542. Ennen, Unveröffentlichte Jugendbriefe, 1955, S. 76 (Brief vom Mai 1836). Hier und im folgenden zitiert nach der dritten Auflage: Wilhelm Grimm: Die deutsche Heldensage. Dritte Auflage von Reinhold Steig. Gütersloh 1889. Ennen, Unveröffentlichte Jugendbriefe, 1955, S. 69 (Brief vom April 1836).
248
Der Übersetzung und Präsentation des Nibelungenliedes durch Karl Simrock (1827) folgten zahlreiche andere, die gleichzeitig die Grundlage für die philologische Auseinandersetzung mit dem Text bildeten. In der literarischen Rezeption des als urdeutsch verstandenen Stoffes durch Autoren wie Ludwig Uhland (Dramenfragment), Ernst Raupach, Friedrich de la Motte Fouqué kam Dietrich von Bern nur als Nebenfigur vor, gewann dann aber in Simrocks schon erwähntem Amelungslied und Hebbels Nibelungen-Trilogie eine im Hinblick auf die Stellung als deutscher Nationalheld wichtigere Bedeutung.242 Kinkels Gedicht nun stellt zum einen eine frühe literarische Rezeption der Grimmschen Heldensagen-Forschung dar und, so weit ich sehe, überhaupt die einzige Dichtung der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts, die jenen Strang des Dietrich-Stoffes verarbeitet, den Kinkel auch in seinem oben zitierten Brief anspricht. Es ist nicht anzunehmen, dass Kinkel – zumindest zu dieser Zeit – selbst Einblick in die altnordischen Quellen nehmen konnte, was nicht ausschließt, dass er während seiner späteren Professorenzeit durchaus Quellen im Original wenigstens gekannt haben könnte. In den ersten vier Strophen der Ballade formuliert Dietrich nicht nur den Wunsch, dass ihn der Vater holen möge, sondern er rekapituliert auch seine wesentlichen Charaktereigenschaften und Stationen seines Heldenlebens, von denen das ihm ins Blut gegossene Feuer (V. 12–12) und die Erschlagung »Hagnens« (V. 19) die zentralen sind. Sie decken sich mit der Überlieferung in der um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen altnordischen Thidrekssaga.243 Auch das Motiv der »Nachtelfen«-Abstammung (V. 10), der »Ur«- und »Hirsch«-Jagd (V. 26, 32) und die Abholung durch einen Zwergen bzw. den Teufel (Strophe 10) geht auf die Saga zurück, wie sie auch Wilhelm Grimm in seiner Heldendichtung aufzeigt.244 Hingegen kommen die Teufelsgeschichte und die eben genannten Motive mit Ausnahme der Heldenbuchprosa in der mittelhochdeutschen Dietrich-Dichtung nicht vor.245 Kinkel geht es offensichtlich nicht um die von den genannten anderen Autoren teilweise vorangetriebene und später von der mediävistischen Forschung als heidnisch-germanische (oder auch christliche) Theoderich-Apotheose in der (literarischen) Gestalt Dietrichs von Bern.246 Noch weniger kann angenommen werden, dass er anknüpfen wollte an eine aus diesem Stoffkomplex ableitbare Kritik Dietrichs / Theoderichs, wie sie hauptsächlich von der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfassten Chronik Ottos von Freisingen ihren Ausgang nahm. Im Gegensatz zur Thidrekssaga aber wird bei Otto von Freisingen die Elfenabstammung
242
243 244 245 246
Zur Rezeption vgl. zusammenfassend mit der wichtigsten Literatur Otfrid Ehrismann: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. 2., neu bearbeitete Auflage. München 2002 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), hier S. 166–200. Vgl. Heinzle, Einführung, 1999, S. 38–41. Vgl. die Stellen bei Grimm, Heldensage, 1889, S. 42–45 und 116–119. Vgl. Heinzle, Einführung, 1999, S. 41–57. Grundlegend Otto Höfler: Germanisches Sakralkönigtum. Bd. 1 Tübingen 1952.
249
negativ als Teufelsabstammung gewertet und in der späteren katholisch-klerikalen Rezeption als Grundlage eines negativen Dietrich-Bildes gesehen, das zudem aus der ebenfalls bei Otto von Freisingen überlieferten Ermordung des Symmachus und Boethius durch Theoderich befördert wurde.247 Die Wahl des ungewöhnlichen Teilgebietes der Dietrich-Überlieferung und die formale Anlehnung an ältere deutsche Strophenformen sowie die Konzeption des Textes als Schauerballade lassen das Gedicht als Beitrag auch zur – in diesem Falle lyrischen – Auseinandersetzung mit den neuentdeckten Texten und Stoffen des deutschen Mittelalters erscheinen, was mithin auch ein entscheidendes Merkmal des oben beschriebenen Historismus darstellt.
6
Im Konflikt mit Preußen
6.1
Politische Lyrik vor und während der Revolution von 1848/49 (Männerlied – Ein März am Rhein – Die Todesstrafe)
Bereits vor seiner Teilnahme an revolutionären Erhebungen 1848/1849 und der darauf folgenden strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung ist Kinkel mit staatlichen Organen in Konflikt geraten. Sowohl vor als auch nach der Hochzeit mit Johanna stieß sein Verhalten als auch grundsätzlich seine gewandelte Einstellung zur Religion und zum Christentum bei der Bonner Universitätsleitung und den Vertretern der Theologischen Fakultät auf Kritik. Am Ende dieser Auseinandersetzungen stand Kinkels Wechsel von der Theologischen zur Philosophischen Fakultät im Mai 1845. Doch sollten für seine universitäre Laufbahn auch weiterhin religiöse Fragen von Bedeutung bleiben. In Kinkels 1847 im ersten Jahrgang seiner Zeitschrift Vom Rhein publiziertem Gedicht Männerlied (G II, S. 330–331)248 sahen die preußischen Behörden eine Diffamierung der Religion, was nach staatspolitischer Lesart auch einen Angriff auf die Allianz von Thron und Altar darstellte. Die von dem Berliner Kunsthistoriker Franz Kugler im Spätjahr 1846 befürwortete Berufung Kinkels als Professor nach Berlin war mit der Publikation des Gedichtes aussichtslos geworden.249 Im zuständigen Ministerium reagierte man mit einer Absage an Kinkel, wie aus dem bei Beyrodt aufgenommenen und auf den 7. Dezember 1846 datierten Brief Johann Friedrich Albrecht Eichhorns an den königlichen Kurator der Bonner Universität, Bethmann-Hollweg, hervorgeht:
247 248 249
Zu Otto von Freising vgl. Grimm, Heldensage, 1889, S. 42–45. Zum Kontext der Erstveröffentlichung vgl. Vom Rhein. Leben, Kunst und Dichtung 1 (1847), S. 415–416. Der sieben Jahre ältere Kugler und Kinkel waren sich persönlich nie begegnet, doch kannten sie sich über den gemeinsamen Freund Jakob Burckhardt und schätzten jeweils die Arbeiten des anderen. Zum Verhältnis von Kinkel und Kugler vgl. Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 201–211.
250
Das Gedicht des Professors Kinkel, welches Ew. Hochwohlgeboren mir mit der gefälligen Suite vom 16. d.M. vorgelegt haben, giebt allerdings von der Eitelkeit u. Unbesonnenheit dieses sonst so talentvollen Mannes einen so auffallenden Beweis, dass auch ich Bedenken tragen muß, seine Stellung an der dortigen Universität gerade jetzt durch Anweisung einer festen Besoldung zu consolidiren. Ich möchte ihn jedoch in der Hoffnung, dass sein Charakter nach und nach auf dem Wege der Erfahrung mehr Festigkeit und würdigere Haltung gewinnen werde, nicht ganz aufgeben, wünsche vielmehr algelegentlicht, dass Ew. Hochwohlgeb. Ihn ferner durch ernste u. wohlwollende Vorhaltungen aufrecht zu erhalten und auf gute Wege zu lenken suchen möchten.250
Auch Franz Kugler reagierte in seinem Brief vom 15. Dezember 1846 enttäuscht auf diese Entwicklung. Doch kritisierte er weniger die im Gedicht proklamierte, von Staatsseite unbeschränkte Freiheit des Individuums in religiösen Fragen, als vielmehr Kinkels ungeschickte Vorgehensweise: Aber wir sollen nicht bloß ohne Falsch sein wie die Tauben, sondern auch klug wie die Schlangen, und diese goldne Regel haben Sie versäumt. Sie haben in Ihrem Rheinischen Taschenbuch einen sehr guten (vielleicht nur um ein paar Grad zu begeisterten) Aufsatz über Simrock geschrieben, Sie haben darin eine Novelle gegeben [gemeint ist Kinkels Novelle Margret, B.W.], die mich trotz ein paar kleiner Bedenken doch förmlich entzückt hat, – aber zugleich ein Gedicht, das in vollster freundschaftlicher Offenherzigkeit gesprochen, nichts taugt, das Ihnen keiner danken wird, das keine große That ist, und das bei alledem zugleich die schneidende Herausforderung einer Richtung in sich enthält, mit der doch – zumal in Ihrer Stellung – mit der größten Vorsicht gehandelt werden mußte.251
Die bisher behandelten Gedichte aus der Zeit bis zur Mitte der 1840er Jahre haben zwar deutlich Kinkels national-liberales politisches Profil und seinen sozialkritischen Blick auf Staat und Gesellschaft erkennen lassen, doch blieben diese Texte für seine Stellung als Professor und Dichter folgenlos. Erst mit seinem Männerlied schlägt Kinkel einen deutlich schärferen Ton an, der schon auf den späteren radikaleren Revolutionsdichter verweist. Offensichtlich war sich Kinkel auch der möglichen Folgen seiner Publikation bewusst und nahm eventuelle persönliche und berufliche Nachteile billigend in Kauf, wie er es in seiner Selbstbiographie darstellt: Das Männerlied schnitt scharf ein. Herr von Bethmann-Hollweg, der überhaupt bei meinen Schriften noch eine Nachzensur übte, nahm die Miene an, darüber eine Verhandlung eröffnen zu wollen. Früher hatte er einen Aufsatz von mir über die politischen Dichter in der New Yorker Schnellpost aufgetan, in welchem ich die Republik für das Staatsideal erklärte, und hielt mir darüber bei einem Besuche Vorlesung. Eine ähnliche Väterlichkeit seinerseits habe ich schon bei meiner Gymnasialabdankung erzählt. Jetzt citirte er mich brieflich zu sich und machte dieses Lied [das Männerlied, B.W.]mir zu einem großen Frevel. Allein ich hatte diese Art von Vormundschaft satt und deutete ziemlich rund an, er möge um des Liedes willen gegen mich aufstellen, was er wolle: So sei es einmal meine Überzeugung, und wenn man mir die Professur gegeben habe [Kinkel meint seine
250 251
Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 320. Ebd., S. 323.
251
Bonner Professur an der Philosophischen Fakultät, B.W.], so würde ich in dieser nie einen Maulkorb sehen […].252
Das aus sechs trochäischen Siebenzeilern bestehende Gedicht variiert mit seinem Reimschema xbxbddb die Form einer überkommenen geselligen Liedstrophe mit vier Hebungen bei den männlich ausklingenden und drei Hebungen bei den weiblich endenden Versen.253 Auch inhaltlich greift das Gedicht das Thema der Geselligkeit auf. Gleich in den ersten Versen wird eine Sprechsituation konstruiert, durch die sich das Gedicht als anlassbezogene Schilderung einer Zusammenkunft von Männern einordnen lässt, bei der auf die Freiheit angestoßen wird: 1
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Weil wir denn versammelt sind Bei der Gläser Klingen, Laßt der heil’gen Freiheit uns Dieses erste bringen: Die wie Frühlingsluft und Lust Labt des Mannes starke Brust, Ihr vor allen Dingen! Ach ihr Weizen blühte ja Auch bei uns schon munter! Doch es warf der fromme Schwarm Unkraut wieder drunter. Mit dem guten Korn zuhauf Wächst das Unkraut nun herauf Bunt und immer bunter. Laßt die alten Weiber sich Um den Himmel schelten! Aber freie Männer wir Lassen das nicht gelten. Gegen dich, o Vaterland, Sind uns nichts als eitler Tand Alle Sternenwelten! Denket Alle denn zuerst An die grüne Erde, Wo noch Dornen mancherlei Schaffen viel Beschwerde. Haut sie ab, wenn treu ihr seid, Und erhebt mir keinen Streit Wie’s da drüben werde.
Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S. 181; hierzu auch schon die knappen Ausführungen von Beyrodt, Gottfried Kinkel, 1979, S. 205; zur Stellung des Männerliedes in Kinkels politischen Dichtungen ferner auch schon Kersken, Stadt und Universität Bonn, 1931, S. 7–11; Rösch-Sondermann, Gottfried Kinkel, 1982, S. 124–128. Vgl. Frank, Handbuch, 1993, S. 539–540.
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Bruder rechts und Bruder links Reich mir deine Rechte! Ob du Zion oder Genf Rufest im Gefechte Wendest du dein Haupt gen Rom, Betest du im Eichendom: Hasse nur die Knechte! Weiß nicht, ob dich oder mich Dort der Teufel hole; Doch hier schaffen wir vereint Am gemeinen Wohle. Hebt die Gläser frank und frei! Nur auf Erden Freiheit! sei Unsre Siegsparole.
Zunächst wird der Leser bewusst im Unklaren belassen, auf welche »Freiheit« (V. 3) hier angestoßen wird. Aufgrund der Überhöhung des Begriffes durch die Zuordnung des Adjektivs »heilig« (V. 3) liegt freilich eine Deutung im Sinne eines sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konsolidierenden ›modernen‹ Freiheitsbegriffes nahe. Gerade in der Singular-Verwendung richtete sich dieser gegen ältere staats-philosophische Modelle und Rechtszustände, in denen der Begriff im Plural immer die Freiheiten und Privilegien einzelner Stände oder Korporationen meinte. Im Gegensatz dazu verband sich mit jenem letztlich im Liberalismus des 19. Jahrhunderts wurzelnden ›modernen‹ Freiheitsbegriff, der in der Revolution von 1848/49 gewaltsam eingefordert werden sollte, sowohl die »Freiheit von obrigkeitlicher Macht« als auch und im besonderen die »Freiheit als Grundwert staatlicher Verfassung«.254 In dem erst später entstandenen und in die zweite Auflage von Kinkels Sammlung aufgenommenen Gedicht Bruderlied (G II, S. 186–187) wird die Errungenschaft dieser Freiheit emphatisch bedichtet: 1
5
Die Freiheit bringt dem deutschen Land Ihr Füllhorn voll von Glück; Sie kehrt nun, die so lang verbannt, Im Adlerflug zurück. Des Volkes Macht und Herrlichkeit Blüht auf, wie nie in alter Zeit. O hört, wie ihre Schwinge rauscht! Bei uns auch kehrt sie ein: Empfangen wird sie lustberauscht
254
Vgl. den sehr informativen und mit zahlreichen Quellenbelegen versehenen Abschnitt »Freiheitsbegriff im 19. Jahrhundert« (Artikel »Freiheit«) von Christof Dipper, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. 7 Bde., hier Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 488–538, Zitat S. 489.
253
10
Von dir, o Volk am Rhein. Es weht durch deine kühne Brust Wie Morgenhauch und Maienluft. […]
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Reicht her die Hand zum Bruderbund, Macht einen großen Kreis, Und ruft’s hinaus in’s Weltenrund, Von Lieb’ und Freiheit heiß: Wir wollen Alle, frei und gleich Nur Brüder sein im deutschen Reich!
Erst in der dritten Strophe von Kinkels Männerlied wird deutlich, dass hier die Freiheit von religiösen Jenseitsvorstellungen gemeint ist, die allerdings nur noch für »alte Weiber« (V. 5) von Bedeutung seien, für den fortschrittlichen »freien Mann« (V. 17) hingegen die Auseinandersetzung mit dem Diesseits an deren Stelle treten müsse. Mit der qualitativen Opposition von »Vaterland« (V. 19) und »Sternenwelten« (V. 21) wird dabei nicht nur Kritik an der von religiöser Seite betriebenen Relativierung alles Irdischen formuliert, sondern implizit auch die Religion als hinderlich für die Durchsetzung einer politischen Grundordnung eingestuft (V. 22–28). Der Religion wird überdies aufgrund ihrer konfessionellen Aufsplitterungen jede im nationalen Sinne einheitsstiftende Kraft abgesprochen. Nur das »Vaterland« und die Verwirklichung der nationalen Einheit als politische Zielvorgabe und Handlungsmaxime stellen über alle konfessionellen und individuellen Unterschiede hinaus die Grundlage einer (freiheitlichen) Bürgergesellschaft dar (V. 29–35). Auffällig ist, dass sich Kinkel bei der Darstellung der »Freiheit« mehrfach einer auch bei anderen Zeitgenossen zu beobachtenden religiösen Sprache255 (V. 3: »heil’ge Freiheit«) oder biblischer Motive bedient. So lässt sich in dem in der zweiten Strophe gebrauchten Bild der Freiheit als in der Vergangenheit schon einmal zur Blüte gekommener Weizen, unter den dann aber der »fromme Schwarm« (V. 10) Unkraut gemischt habe, noch das biblische Gleichnis vom Weizenkorn aus dem Johannes-Evangelium (Joh., 12,24) erkennen. Die Originalstelle vom Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt und erst dann reiche Frucht bringt, steht freilich mit ihrem christlich-heilsgeschichtlichen Aussagegehalt, dass erst der Tod das ›wahre‹ Leben berge, dem hier vertretenen Konzept einer Glücks- und Lebenserfüllung im Diesseits diametral gegenüber. Anders als im Falle des Männerliedes, hatte die Publikation von Kinkels Gedicht Ein März am Rhein keine Folgen, denn es erschien erst in der zweiten Auflage seiner Gedichtsammlung (G II, S. 175–176). Die fünfhebig-jambischen Verse der sechs Strophen zeigen einen Kreuzreim mit wechselnd männlich-weiblichen Kadenzen, dem
255
Zur Metaphorik und den der Freiheit zugeordneten Epitheta vgl. ebd., S. 493–497.
254
sich ein männlich ausklingender Paarreim anschließt. Das Gedicht stellt einen Rückblick auf die revolutionären Ereignisse dar, deren Verlauf und Bedeutung sich symbolisch im wintererstarrten Wasser des Rheines abbilden, dessen Frühlingserwachen im Rückblick gleichsam auch als politischer Frühling inszeniert und gefeiert wird: 1
5
O Rhein, mein Vater, warum säumst du so? Eng preßt dich ein des Eises blanker Spiegel – Die Buben tummeln sich so frech und froh Auf dir, als lägst du unter Schloß und Riegel. Du aber schläfst, und ruhig unterm Eis Rinnt deine Flut. – Bist wirklich du ein Greis?
Ich weiß es wohl, du träumst von Sommerzeit Als rings im Sonnenglanz die Fluren lagen – Du träumst auch von des Herbstes Herrlichkeit, 10 Wo Nebel auf dir braun’ an frühen Tagen. O Rhein, zerbrich das Joch! Es kehrt das Glück Des frühern Jahrs, sobald du willst, zurück. Spürst du es nicht, wie aus dem nahen West Der Hauch hervorbricht, lösend jede Kette? 15 Aus Welschland kömmt der laue Süd, und lässt Dir keine Ruh’ im kühlen tiefen Bette. Vater erwach! Dieß ist die rechte Stunde – der Lüfte Geister sind mit dir im Bunde. Er hört’s, und aus dem grünen Wasserschwall 20 Hebt er sein Schulternpaar und drückt unbändig: Das Eis birst auf mit einem jähen Knall Und sinkt zurück – er wühlt und hebt beständig. Plötzlich mit einem ungeheuren Stoß Zerschmettert er den Panzer – er ist los. 25 Und mit des Elementes Wuthgewalt, Wie einst, als in der Schöpfung erster Fülle Die Kräfte tobten, heiß zum Kampf geballt, Packt er das Eis mit lautem Siegsgebrülle, Und wirbelnd, zitternd, schwankend all’ die Schollen 30 Zerschmettert nach dem öden Meere rollen. Der Rhein ist frei! Ihr habt es nicht gedacht, Denn ihr denkt nichts, solang die Ketten halten. – Es kam ihm in den Sinn so über Nacht Und eigensinnig sind, ihr wißt, die Alten – 35 In seinen eignen Farben, blaurothweiß, Rollt er dahin, der königliche Greis.
Das Gedicht lässt sich allgemein in die seit Goethes Mahomets Gesang prominente Stromdichtung einordnen, in der Flüsse als Symbol und Bildspender gebraucht wur255
den.256 Darüber hinaus ist Kinkels Gedicht mit dem Rhein als Gegenstand und Träger auch einer politischen Aussageabsicht Teil an der umfangreichen Rheindichtung und Rheinliteratur, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert in verschiedene Phasen und literarischen Aneignungsstrategien des Rheins unterscheiden lässt.257 Als Fluss im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Frankreich stand die Thematisierung des Rheines freilich besonders zur Zeit der Befreiungskriege und der Rheinkrise (Nikolaus Becker: Rheinlied, 1840) immer unter politischen Vorzeichen. Entscheidenden Anteil an der Bewusstmachung des Rheins und der Rheinlandschaft verbunden mit einer nationalistisch geprägten Heimatidee hatten im frühen 19. Jahrhundert Reisebücher wie etwa Aloys Schreibers Handbuch für Reisende am Rhein (1816) und Sammlungen von Volksliteratur und Sagen, wie sie der Historiker Niklas Vogt in seiner dreibändigen Ausgabe Rheinische Geschichten und Sagen (1817) zusammenstellte.258 Sie stellen die Vorläufer der dreißig Jahre später gedruckten Bände von Karl Simrock (Rheinsagen aus dem Munde des Volkes und deutscher Dichter, 1837) und Adelheid von Stolterfoth (Rheinische Lieder und Sagen, 1839) dar.259 Zeitgleich entstanden zahlreiche Rheingedichte von Max von Schenkendorf (Lied vom Rhein, 1815; Die Tafel am Rhein) und Ernst Moritz Arndt (Was ist des deutschen Vaterland, Flugblatt-Lied 1814), die im Horizont der Befreiungskriege überdies auch anti-französische Töne anschlugen.260 Als exemplarisch für eine sowohl kultur-, geo- und soziographisch ausgerichtete Literarisierung des Rheinlandes, die gleichzeitig dem romantischen Erbe von Clemens Brentanos Rheindichtungen aber auch Goethes Rochusfest verpflichtet ist, können die Versepen Die Rheinfahrt
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Generell zur Bedeutung des Fluss-Motives in der Literatur seit der Antike vgl. Wyman H. Herendeen: The Rhetoric of Rivers: The River and the Pursuit of Knowledge, in: Studies in Philology 78 (1981), S. 107–127. Einen historisch und geographisch gegliederten Überblick (nicht nur aus literarhistorischer Sicht) zum Rhein bietet der Band von Horst Johannes Tümmers: Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte. München 1994. Erschienen sind die Bände im Verlag der Hermannschen Buchhandlung in Frankfurt a. M.; ein vierter Band kam 1836 hinzu. Vgl. zuletzt und fundiert Helmut Fischer: Volksliteratur und Identitätsstiftung. Die Rheinsagen und die Bewußtmachung der Rheinlandschaft, in: Rheinisch-westfälische Zeischrift für Volkskunde 49 (2004), S. 33–55. Vgl. hierzu mit Blick auch auf die Literarisierungen des Rheins von französischer Seite (Gérard de Nerval, Eugène Lerminier, Xavier Marmier) Bernd Kortländer: »Diesseits und jenseits des Rheins«. Das Bild des Rheins in Deutschland und Frankreich«, in: Deutschfranzösischer Ideentransfer im Vormärz. Hg. von Gerhard Höhn und Bernd Füllner. Bielefeld 2002 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 8, 2002), S. 159–180; zur Rheinlyrik insgesamt grundlegend die Arbeit von Susanne Kiewitz: Poetische Rheinlandschaft. Die Geschichte des Rheins in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2003; neben textnahen nach den verschiedenen ideologischen Vereinnahmungen des Rheins gegliederten Einzeldarstellungen überzeugt Kiewitz’ Studie auch durch ihre theoretisch fruchtbaren Überlegungen zu Begriffen und Problemhorizonten wie »Textlandschaft und Raumlandschaft« (S. 28), die für das Verständnis der einzelnen Text sehr erhellend sind.
256
(1824)261 und Das Rheinthal (1828) des heute vergessenen Georg Christian Braun gesehen werden.262 Die unter dem Schlagwort ›Rheinromantik‹ in die Literaturgeschichte eingegangenen Publikationen vor allem von Clemens Brentano, der so häufig wie kein anderer den Rhein und das Rheinland bedichtet hat, sind zwar durchaus auch geprägt von deutsch-nationalen Schreibhaltungen, doch verbinden sich Natur, Landschaft und Geschichte hier zu einem romantischen Kunstwerk, dem Ferdinand Freiligrath zu Beginn der 1840er Jahre in seinem bekannten Gedicht Ein Flecken am Rhein eine deutliche Absage erteilt:263 Ja, dies der Rhein! Die Woge mit dem Hort, In dessen Strahl sich Uhlands Wimper sonnte! Und dort er selbst! die Sängerlippe dort, Romantik, ach, die mit gefeitem Wort All deinen Zauber noch verkünden konnte! Das Auge dort, das tief im Elfenbusch In deiner Bronnen Spiegel klar sich wusch! […] Lautlos die Stätte! Markt und Strom wie weit! Romantik, ha, mein Trauern ist gebrochen! Den Gottesfrieden, die Gotttrunkenheit, Die du nur kennst – nicht, ach, die neue Zeit! – Hier fühl‹ ich rein sie meine Brust durchpochen. Die Erde weicht, in sel‹gen Armen hält Der Himmel mich – verschollen ist die Welt! Genug, genug! Nicht lange solch ein Port! Zurück ins Leben! Mächtig ruft das Neue! Doch was ins Herz mir senkte dieser Ort, Für immer flamm‹ es! Poch‹ es fort und fort In meinen Adern! Geb‹ es mir die Weihe! Geb‹ es mir Mut und Freudigkeit und Halt, Wenn laut und fordernd mich der Tag umschallt! […]
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263
Das Versepos erschien mit dem Untertitel: Ein Natur- und Sittengemälde. Mainz 1824. Zu Braun vgl. jetzt meinen Artikel sub verbo in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Helmuth Kiesel und Reimund B. Sdzuj. Bd. 2. Berlin, New York 2008, S. 137. Vgl. hierzu auch aus der Perspektive Sagensammlungen der Romantik Fischer, Volksliteratur und Identitätsstiftung, 2004, S. 39.
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Leb‹ wohl für heut! – Des Abends letztes Gold Strömt durch die Scheiben; über mir Geläute! Die Kirchenfahnen flattern, halb entrollt! – Ihr allzeit Klugen, die ihr wissen wollt, Was alles Ding, auch was dies Lied bedeute: Der Lettner glüht, die ew‹ge Lampe flammt – Nennt für Brentano es ein Totenamt!264
In Freiligraths »Totenamt« für Brentano manifestiert sich der Endpunkt einer literarischen Tradition – wenn auch noch 1846 Brentanos Rheinmärchen erschien, die Susanne Kiewitz in ihrer grundlegenden Studie neben Gedichten von Heinrich Heine ebenfalls am Beispiel von Freiligrath zusammenfasste: »Aus der poetischen Landschaft wurde das nationale Symbol.«265 Die aufgezeigten Traditionslinien und literarhistorischen Entwicklungen lassen sich exemplarisch auch an Kinkels Auseinandersetzung mit dem Rhein und dem Rheinland nachvollziehen. Denn bereits vor seinem Gedicht Ein März am Rhein hat Kinkel seine Heimat mehrfach zum Gegenstand von Gedichten gemacht. Sein im Sinne einer historisch-geographischen und künstlerischen Erschließung der Rheinlande zu verstehendes Jahrbuch-Projekt Vom Rhein stellt sich ebenfalls in die Tradition der oben genannten Sammlungen und Darstellungen. In seinem noch aus Jugendtagen stammenden und erst in die zweite Sammlung 1868 aufgenommenen Gedicht Auf der Wolkenburg (G VI, S. 205–206) inszeniert Kinkel einen Blick vom erhöhten Standpunkt in das Rheintal bei Bonn, an dessen Ende noch einmal die Rhetorik der Befreiungskriege zum Ausdruck kommt:266 21
Stolz, wie meine Wangen, brennen, Schwör’ ich dir’s, o Vater Rhein, Deutsch soll man dich ewig nennen, Und auch frei sollst du mir sein!
Hier, wie auch in dem Gedicht Auf der Höhe von Altenahr (G II, S. 190–191) bleibt aber grundsätzlich die politische Dimension des Gedichtes noch mit dem Blick nicht nur auf den Fluss, sondern auch auf die umgebende Uferlandschaft verbunden.
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265 266
Zitiert nach der Ausgabe Ferdinand Freiligrath: Werke in sechs Teilen, hier: Zweiter Teil: Ein Glaubensbekenntnis – Ça ira! – Neuere politische und soziale Gedichte – Zwei poetische Episteln. Hg. von Julius Schwering. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1909], S. 17–21, Zitate S. 18, bzw. 20–21. Kiewitz, Poetische Rheinlandschaft, 2003, S. 10. Unter dem Aspekt eines »neuen Realismus« behandelt das Gedicht knapp auch Kiewitz, Poetische Rheinlandschaft, 2004, S. 212; dabei soll ihr Realismus-Begriff offenbar nicht unbedingt auf die Landschaftsdarstellung bezogen werden, sondern auf Kinkels persönliche Situation. Nicht selten verbinden sich in diesen Gedichten Landschaftsbetrachtung mit Reflexionen über Liebe und Trennungen.
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Dagegen kommt die Landschaft in Ein März am Rhein gar nicht mehr vor. Hier geht es nicht um die Betrachtung einer Flusslandschaft, sondern um die lyrische Präsentation eines nationalen Symbols, der »als Strom der Freiheit die Uferlandschaft als symbolische Trägerin der Heimat- und Einheitsidee verdrängt« hat.267 Die ausschließliche Konzentration auf den Rhein deutet sich bereits in der den Anfang des Gedichts markierenden Apostrophe »O Rhein, mein Vater« (V. 1) an. Diese Anrede stellt einerseits den Zusammenhang mit älteren antiken und humanistischen Vorbildern (Pater Rhenus) her und verweist andererseits auf die persönliche Bindung des Sprechers mit dem Fluss, dessen Bedeutung weit über die eines reinen Naturphänomens hinausgeht.268 In den folgenden Strophen zwei und drei wird das persönliche Gespräch des Sprechers mit dem Rhein fortgesetzt. Dabei wird eine Jahreszeitenmetaphorik entfaltet, die schon von Wilhelm Müllers Gedichtzyklus Winterreise bekannte Bilder einer winterlichen Erstarrung benutzt, der auf der politischen Ebene freilich die aufgrund der nicht eingelösten liberalen und nationalen Forderungen kritisch betrachtete staatliche Situation im Vormärz-Deutschland entspricht. Nach der rhetorischen Frage, ob der Rhein den als Frühlingsluft zu wertenden »West« (V. 13) aus Frankreich nicht spüre, wechselt die Sprechsituation. Die direkte Ansprache des Rheins wird in Strophe drei bis sechs ersetzt durch die Beschreibung des aus dem Eis sich befreienden, personifizierten Rheines (V. 21: »Er hebt sein Schulternpaar«). Ähnlich wie schon in Kinkels Elegie Roma’s Erwachen wird hier eine phantastische Szenerie beschrieben. Am Ende jedoch des RomGedichtes zieht sich die resignierte Riesin Roma wieder zurück, wohingegen in Kinkels Revolutions-Gedicht im Bild des befreiten Rheins eine noch ungebrochene Hoffnung auf den Bestand der revolutionären Errungenschaften und Erfüllung der politischen Forderungen zum Ausdruck kommt. Eine dieser Forderungen, die Abschaffung der Todesstrafe, wurde kontrovers im Frankfurter Paulskirchenparlament diskutiert.269 Selbst in den Äußerungen der Befürworter der Todesstrafe macht sich eine prinzipielle Skepsis gegenüber der Todesstrafe bemerkbar. So kündigte Wilhelm Philipp Wernher aus Nierstein im Parlament an, dass er für die Erhaltung der Todesstrafe stimmen würde, »nicht weil ich wünsche, dass eine ausgeführt wird, sondern damit es dem Gesetz noch möglich
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Ebd., S. 224. Zum Sinnbild des »Vater Rhein« liegt ein älterer, aber immer noch lesenwerter Beitrag vor, der die Verwendung der Formel seit Conrad Celtis’ Übertragung antiker Vorbilder auf den Rhein bis zu Herweghs Rheinweinlied nachzeichnet, vgl. Lothar Kempter: »Vater Rhein«. Zur Geschichte eines Sinnbildes, in: Festschrift für Friedrich Beißner. Hg. von Ulrich Gaier und Werner Volke. Tübingen 1974, S. 197–225. Neben der ausführlichen Dokumentation durch den Stenographischen Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. (9 Bde., 1848–1849) liegt zum Thema auch eine Auswahl der Debatte mit einer kurzen Einführung und dem Abdruck der wichtigsten Beiträge vor, auf die hier zurückgegriffen wurde: Die Todesstrafe im Frankfurter Parlament 1848 [Mit einem Vorwort von Hermann von Staden]. München 1911 (Vorkämpfer deutscher Freiheit, Heft 28).
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ist, eine auszuführen, wenn eine ausgeführt werden muß«.270 Gerade diese Frage, welche Verbrechen die Todesstrafe zwingend fordern würde, bestimmte auch die Beiträge der Gegner der Todesstrafe. So wollte etwa Ernst Moritz Arndt die Todesstrafe für »Elternmörder und Vaterlandsverräter«271 beibehalten. Eine generelle Abschaffung der Todesstrafe forderten nur die wenigsten.272 Zahlreiche Abgeordnete, darunter der Heidelberger Jura-Professor Carl Joseph Anton Mittermaier, der Veteran der Befreiungskriege Ernst Moritz Arndt und der in Tharandt Naturwissenschaften lehrende Emil Adolf Roßmäßler sprachen sich mit Blick auch auf die unsicheren politischen Verhältnisse besonders für die Abschaffung der Todesstrafe bei politischen Vergehen aus.273 Der ebenfalls zunächst in Heidelberg angestellte Jura-Professor Karl Georg Christoph Beseler stimmte diesen Positionen zwar generell zu, doch gab er zu bedenken, dass »jetzt ohne nähere Bestimmung, ohne umfassendere Gesetze, die Todesstrafe für politische Vergehen noch nicht abgeschafft werden kann, und zwar deshalb, weil der Begriff des politischen Verbrechens noch nicht feststeht«.274 Auch unter praktischen Aspekten, im Blick auf die noch nicht vorhandenen Einrichtungen und Institutionen, die mit einem Anklageprozess verbunden seien, hielt es Beseler für ratsam, die Frage aufzuschieben und »die gestellten Anträge nicht in die Grundrechte aufzunehmen«.275 Dennoch fand der Antrag zur Abschaffung der Todesstrafe mit den ins Parlament eingebrachten Zusätzen in der Abstimmung eine Mehrheit und ging als § 9 in das Reichsgesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes mit folgendem Wortlaut ein: »Die Todesstrafe, ausgenommen wo das Kriegsrecht sie vorschreibt oder das Seerecht im Falle von Meuterei sie zulässt, sowie die Strafen des Prangers, der Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung sind abgeschafft.« Bereits im August 1848 hatte die Preußische Verfassungsgebende Versammlung die Abschaffung der Todesstrafe mit großer Mehrheit beschlossen.276 Nach dem Scheitern der Revolution wurde freilich auch der Grundrechtekatalog und damit die Abschaffung der Todesstrafe nicht in allen Bundesstaaten als verbindlich angesehen. Neben mittleren und kleineren Staaten wie Sachsen, Württemberg, Oldenburg und anderen, die die Todesstrafe zunächst abschafften, waren es vor allem die größten deutschen Bundesstaaten Preußen, Österreich und Bayern die durch ihre Beibehaltung der Todesstrafe und Nichtanerkennung der in Frankfurt vereinbarten Grundrechte in
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Ebd., S. 39. Ebd., S. 16. So etwa der gebürtige Mannheimer und Verfasser der Stenographischen Berichte Franz Jakob Wigard (ebd., S. 35–37). Vgl. die entsprechenden Stellen in den Reden, ebd., S. 34 bzw. 17 bzw. 23. Ebd., S. 59. Ebd., S. 60. Vgl. Olaf Hohmann: Die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland, in: Zur Aktualität der Todesstrafe. Interdisziplinäre Beiträge gegen eine unmenschliche, grausame und erniedrigende Strafe. Hg. von Christian Boulanger, Vera Heyes und Philip Hanfling. Berlin 1997, S. 11–31, bes. S. 16–17.
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der Folge auch die anderen Länder wieder dazu bewegten, die Abschaffung der Todesstrafe rückgängig zu machen.277 Die bis zur Reichsgründung völlig uneinheitliche Handhabung der Todesstrafe wurde erst mit dem Reichsstrafgesetzbuch beseitigt, das allerdings nach wie vor die Hinrichtung als Strafe für Mord (§211) und Mord oder Mordversuch am Kaiser oder Landesherrn (§80) vorschrieb.278 Nur kurze Zeit vor Ausbruch der Revolution und gut ein Jahr vor der Debatte in der Frankfurter Nationalversammlung wurde dieselbe Frage nach Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe auch auf dem Ersten Vereinigten Preußischen Landtag im Januar 1848 behandelt. Die Abgeordneten kamen dort indessen mehrheitlich zu der Ansicht, dass die Todesstrafe beibehalten werden sollte. Kinkels Gedicht Die Todesstrafe (G II, S. 332–336) stellt in dem in Klammern gesetzten Zusatz zur Überschrift (»Am 20. Januar 1848. Als der vereinigte Landtag die Todesstrafe beibehielt«) den konkreten Zeitbezug des Textes her. Es handelt sich um ein Zeitgedicht, das nicht nur auf ein aktuelles politisches Thema aufmerksam machen will, sondern durch seine Argumentation und komplexe Kommunikations- und Sprechsituation auch verschiedene moralische, juristische und philosophische Standpunkte der Diskussion um die Todesstrafe seit der Mitte es 18. Jahrhunderts zusammenfasst. Zudem finden sich auch zahlreiche Parallelen zu den später in der Frankfurter Nationalversammlung vorgebrachten Argumenten. Das Gedicht hebt an mit einer exclamatio, die gleich zu Beginn die ablehnende Haltung des Sprechers gegenüber der Todesstrafe zum Ausdruck bringt und diese als unchristlich und barbarisch verurteilt: 1
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Weh, es geschah! Des Heidenthumes Fluch, Wie lange bringt den Enkeln er Verderben? Mit Christenhand in des Gesetzes Buch Einschrieben sie: »Es soll der Sünder sterben! Nicht schwinde vom Gefild der Rabenstein, Wir wollens nicht: es sollen Henker sein, Des Reichs Purpur mit Blut zu Färben.«
Zur Geschichte der Todesstrafe knapp Hohmann, Die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland, 1997, S. 16–18. Vgl. den Gesetzestext nach folgender Ausgabe: Das Reichsstrafgesetzbuch. Mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Erläutert von Ludwig Ebermayer, Adolf Lobe, Werner Rosenberg. 2., vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin und Leipzig 1922, §80 (S. 296–297): »Der Mord oder der Versuch des Mordes, welche an dem Kaiser, an dem eigenen Landesherrn, oder während des Aufenthalts in einem Bundesstaate an dem Landesherrn dieses Staates verübt worden sind, werden als Hochverrat mit dem Tode bestraft«; §211 (S. 571): »Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.«; vgl. auch Hohmann, Die Geschichte der Todesstrafe in Deutschland, 1997, S. 18–19.
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Auch die Befürworter der Todesstrafe kommen in der ersten Strophe zu Wort und führen religiöse Argumente an (V. 4–7). Die religiösen Gesichtspunkte der Frage allerdings standen sowohl in der Debatte im Landtag als auch allgemein nicht im Mittelpunkt. Vielmehr dominierten die Diskussion um die Todesstrafe politische, sittliche und rechtliche Überlegungen sowie die Frage nach Wirkung und Nutzen der staatlichen Tötung.279 Diese werden in Kinkels Gedicht erst später thematisiert, doch ist die prominente Anspielung auf die religiöse Dimension der Frage gleich zu Beginn des Gedichtes mit dem Gegensatzpaar Heidentum und Christentum in wirkungsästhetischer Hinsicht ausgesprochen klug, da der Leser sich freilich gezwungen sieht, Position – gegen das barbarische Heidentum und damit für eine Abschaffung der Todesstrafe – zu beziehen. Die konkrete Verhandlungssituation im Vereinigten Landtag, wo das Thema nur einen Tag zur Debatte stand, wird ebenfalls rhetorisch fruchtbar gemacht: Nur einen, einen Tag nur ward’s bedacht – Wie sicher sie auf ihrem Sinne ruhten! 10 Sie dachten, o, nicht an die lange Nacht Mit ihren gräßlich schleichenden Minuten, Die den umschnürt, dem in die dunkle Haft Der Spruch erscholl: »Mitten in Lebenskraft Morgen beim Tagsgraun sollst du bluten!«
Mit der Gegenüberstellung der kurzen Verhandlungszeit (V. 8: »Nur Einen, Einen Tag nur ward’s bedacht«) und der langen Nacht »mit ihren gräßlich schleichenden Minuten« (V. 11) wird der Blick nicht nur auf die Situation eines Verurteilten gelenkt, sondern dadurch auch der Landtagsmehrheit eine moralische und sittliche Unzulänglichkeit unterstellt. Das Verhältnis vom zeitlichen Aufwand der politischen Debatte und den strafrechtlichen Konsequenzen wurde auch später in der Frankfurter Nationalversammlung von dem schon erwähnten Gegner der Todesstrafe, Emil Adolf Roßmäßler, thematisiert: [Ich] kann aber nicht glauben, dass wir, die deutsche Nationalversammlung, über die Frage wegen Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe in einer halben Stunde werden entscheiden wollen. (Mehrere Stimmen: Warum nicht?) Man sagt: warum nicht? Ich sage: darum nicht, weil ich denke, das Menschenleben sei etwas mehr wert, als die Aufmerksamkeit einer Stunde.280
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Als Reaktion auch auf die Debatte im Landtag erschien in der Gegenwart ein Artikel, in dem die wichtigsten zeitgenössischen Argumente für und wider die Todesstrafe zusammengefasst sind, vgl. Anonymus: Die Todesstrafe, in: Die Gegenwart 1 (1848), S. 509–532, zu den religiösen Aspekten bes. S. 527–529; die verschiedenen Argumente sind auch zusammengefasst (mit umfangreicher Quellenbibliographie, S. 310–333) bei Jürgen Martschukat: Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2000, hier bes. S. 207–216. Die Todesstrafe im Frankfurter Parlament 1848, 1911, S. 18–19.
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In den folgenden drei Strophen wird die religiös fundierte Begründung für die Abschaffung der Todesstrafe aus der ersten Strophe wieder aufgegriffen: 15 Und wieder auf die Kirche ward’s gebaut, Die sie erniedrigt zu des Reiches Dirne – Sie, die noch zu jung, als unbefleckte Braut Zuerst vom Henker abgewandt die Stirne! Die Heil’ge ruft: »Nicht will ich Blut und Tod!« 20 Waren sie fromm, sie hörten ihr Gebot Herunter von des Oelbergs Firne. Nur einer lebt: er rauscht in Waldespracht Wie in des Saatfelds goldenschwerem Glanze. Er sprengt das Eis und scheucht des Winters Nacht, 25 Er haucht den Frühling – und es lebt die Pflanze, Es spielt das Thier in goldner Sonnenluft, Es drückt das Weib den Säugling an die Brust; All Leben webt sich ihm zum Kranze. – Er zieht zurück den Hauch – und seelenlos 30 Zerfällt des Leuen Kraft, der Baum im Laube; Der müde Mensch sinkt in der Erde Schooß, Anderm Lebend’gen wird sein Leib zum Raube An’s Ohr schlägt euch im Wetter sein Gebot: Bei Mir allein steht Leben oder Tod, 35 Bei euch nicht, die ihr selbst von Staube.
Wenn auch die Umschreibungen des Göttlichen weniger auf einen Schöpfergott im biblischen Sinne, sondern vielmehr auf Kinkels pantheistische Vorstellungen eines in der Natur waltenden göttlichen Prinzips verweisen, stellt das in Vers 34–35 leicht abgewandelte alttestamentarische Gotteswort »Mein ist die Rache« (Mos 5, 32,35) doch das hier vorgetragene Kernargument gegen die Todesstrafe dar. Zudem werden unterschwellig die verfassungspolitischen Voraussetzungen für die Entscheidung einer Beibehaltung der Todesstrafe durch den Vereinigten Landtag in den folgenden drei Strophen kritisiert: O deutsches Herz, vor allen Völkern mild, Hörst du, wie sie mit hartem Wort dich strafen? »Das Volk will Blut – sei denn sein Durst gestillt!« So sprachen die Gelehrten und die Grafen. 40 Mein Volk, sie haben dich vor Gott verklagt, Aus einem Mund sei ihnen widersagt – Mein Volk, du sollst sie Lügen strafen! Ruft’s laut: So lang ein Stück vom Freiheitshort, Vom Eisen, nicht dem Erdschooß ward entrissen, 45 So lange Schlang’ und Krokodil noch dort Im Schlamm sich wälzt und Urwaldsfinsternissen,
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So lang ein Christenweib verzweifelnd stöhnt, Weil des Osmanen wüster Lust sie fröhnt, Dürfen wir keines Mannes missen! 50 Spreng ab, mein Volk, von dir auf sie dieß Blut! Du hast gehört, wie selber sie gesprochen Mit kühnem Mund und mit getrostem Muth: »An uns nur sei der Sünder Tod gerochen!« So laß sie einstehn für ihr trotzig Wort, 55 Und nur Ein Tropfen fall’ auf sie hinfort Von Jedem der das Beil verbrochen.
Schon seit dem 18. Jahrhundert wurde von den Befürwortern der Todesstrafe darauf hingewiesen, dass die staatliche Tötung eines Verbrechers durchaus dem Willen des Volkes entspreche und auch durch ihr in fast allen Religionen und Staaten bezeugtes Vorkommen keine Einwände zulasse, die auf kultur- und zivilisationsgeschichtlichen Überlegungen basierten.281 So werden auch hier den Abgeordneten des Vereinigten Landtags die Worte »›Das Volk will Blut – sei denn sein Durst gestillt!‹« (V. 38) in den Mund gelegt, die den Volkswillen als Rechtfertigungsgrundlage ihrer Entscheidung geltend machen wollen. Dabei ist die Zusammenfassung der die Todesstrafe befürwortenden Landtagsabgeordneten als »Gelehrte und Grafen« (V. 39) durchaus als Stellungnahme Kinkels zur verfassungspolitischen Bedeutung des Ersten Vereinigten Landtags zu verstehen, besonders auch, weil ihre Mitglieder dem mehrfach angesprochenen »Volk« (V. 36, 40, 42, 50) gegenübergestellt werden. Hier wird suggeriert, dass am 20. Januar 1848 mit der Entscheidung über die Todesstrafe nicht der Wille des Volkes zum Ausdruck gekommen ist, sondern nur der der herrschenden Klasse.282 Gut 30 Jahre später hat sich Kinkel noch einmal in seiner Rede gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe im Schweizer Kanton Zürich an die preußische Entscheidung von 1848 erinnert und auch die Zusammensetzung der Versammlung scharf angegriffen: Am 20. Januar 1848, kurz vor der Revolution, war in Berlin der Vereinigte Landtag versammelt und berieth über eine ihm zugegangene Petition für Aufhebung der Todesstrafe. Dieser Landtag war eine Scheinvertretung, womit man die Preußen um die vor 33 Jahren versprochene Constitution beschwindeln wollte. Nicht das Volk hatte ihn gewählt, es
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Vgl. Martschukat, Inszeniertes Töten, 2000, S. 54–83. Aus historischer Sicht ist dieses Urteil freilich zu einseitig. In der älteren Forschung zumal wurden die Landtagsabgeordneten nicht selten als Liberale zusammengefasst. In seiner grundlegenden Studie würdigt Johannes Gerhardt den Landtag als Ort auch der Austragung sozialer Konflikte und Profilierung und will die Begriffe »liberal« und »konservativ« in diesem Kontext genauer unterschieden wissen. Allerdings behandelt er nicht die – freilich erst im Januar 1848 in den Landtag eingebrachte – Frage der Todesstrafe, vgl. Johannes Gerhardt: Der Erste Vereinigte Landtag in Preußen von 1847. Untersuchungen zu einer ständischen Körperschaft im Vorfeld der Revolution von 1848/49. Berlin 2007 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 33).
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sassen Juristen, Adlige, reiche Leute darin. Sie verwarfen die Petition, sie sagten, das Volk verlange den Tod des Verbrechers. Damals schrieb ich im Jugendfeuer das Gedicht: die Todesstrafe. Ich dachte nicht an mich, denn wie hätte ein wohlbestallter Professor in Bonn daran denken sollen, dass zwei Jahre später ihm Kugel und Guillotine drohen könnten! In dem Gedicht erklärte ich, dass die Gelehrten und die Grossen im Landtag nicht die wirkliche Meinung des Volkes ausgesprochen hätten. Darüber kam denn unsere Revolution und die beiden großen Parlamente, das in Frankfurt, das in Berlin, hatten abermals über die Todesstrafe sich zu entscheiden. Beide Parlamente waren aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen, beide drückten also die wirkliche Gesinnung der Nation aus.283
Nachdem in den Strophen sechs bis acht das deutsche Volk angesprochen und dessen ablehnende Haltung gegenüber der Todesstrafe beschworen wurde, wechselt in den folgenden Strophen die Sprechsituation gleich mehrfach. Zunächst richtet sich der Sprecher an den Henker: Ich weiß, und Manchem wird der Tropfen schwer! Es wird auch dich dein Stündlein nicht verfehlen, Dann schaust du blasse Schemen um dich her, 60 Bang wirst dein Haupt du in die Kissen hehlen. Doch frommt dir nicht Gebet und Sakrament! Sie sind’s, die du vom Leben hast getrennt, Die fordern von dir ihre Seelen.
Gleichwohl wird damit auch dem Leser vor Augen geführt, welche Folgen die Todesstrafe nicht nur für den Hingerichteten hat. Auch der an der praktischen Vollstreckung der Todesstrafe beteiligte Henker lade Schuld auf sich, zumindest aber, so suggeriert das Gedicht, wird sein Seelenheil durch seinen Beruf gestört, das auch nicht durch »Gebet und Sakrament« (V. 61) wiederhergestellt werden kann. Die Henker-Frage gehört in der Debatte um die Todesstrafe zum Kernbestand der Auseinandersetzungen und fand sogar in der Äußerung Gretchens »Wer hat dir, Henker, diese Macht / Über mich gegeben?« Eingang in Goethes Faust. Vor allem von den Gegnern der Todesstrafe wurde sein Amt als menschenunwürdig betrachtet und betont, dass der Staat nicht das Recht habe, durch seine Gesetzgebung einen solchen Beruf hervorzubringen.284 Tatsächlich stellten die Henker – oder auch Scharfrichter genannt – bis ins 19. Jahrhundert hinein eine eigene soziale Gruppierung innerhalb der Gesellschaft dar, von der sie aber durch juristisch und sozial faktisch ausgegrenzt waren, indem sie im Gasthaus nur an einem bestimmten Tisch sitzen durften, ihre Kühe nicht auf derselben Wiese mit anderen weiden durften und allgemein auch als »unehrlich« galten. Die Mitglieder
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Gottfried Kinkel: Gegen die Todesstrafe und das Attentat, sie in der Schweiz wieder einzuführen. Vortrag gehalten im December 1878 in zwei Zürcher Ausgemeinden. Zürich 1879, S. 2. Vgl. zur sozialen Stellung der Henker seit der Antike Karl Bruno Leder: Todesstrafe. Ursprung, Geschichte, Opfer. München 1986 (dtv Geschichte, 10622), S. 223–234.
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einzelner Familien heirateten meist untereinander und waren von den Zünften und Bürgerrechten ausgeschlossen.285 Auf diese in den verschiedenen Darstellungen gegen die Todesstrafe vorgebrachten Argumente greift Kinkel allerdings nicht zurück, sondern stellt die inneren Kämpfe der Henker selbst dar und appelliert damit auch an das Mitgefühl der Leser. Auch in den folgenden Strophen geht es Kinkel nicht um eine philosophisch oder gesellschaftstheoretisch fundierte Absage an die Todesstrafe. Vielmehr führt er konkrete, historisch verbürgte und anspielungsreiche Beispiele an, die die Fragwürdigkeit der Todesstrafe bei bestimmten Verbrechen wie Kindesmord (Strophe 10) oder Diebstahl (Strophe 11) sowie deren Sinnlosigkeit auch vor dem Horizont des Abschreckungsgedankens demonstrieren sollen. Sie schwebt heran, die Kindesmörderin: 65 Fluch wurden ihr der Mutterfreude Gnaden. Dein Wort gab ihr den Tod, nun irrt sie hin Auf von den Geistern selbst gemiednen Pfaden. Es träuft aus den verschnittnen Haares Wirr’n Wie Schwefeltropfen dir aufs’ kranke Hirn – 70 Ihr Blut – du hast’s auf dich geladen. Des Wilddiebs Sohn mit zorngekniffnem Mund, Mit Augen tritt er her, die dich durchbohren, Der von des Försters Blei im Waldesgrund Um einen Hirsch den Vater hat verloren. 75 Statt seines Rechts war ihm des Feindes Hohn: Blutrache für den Vater schwur der Sohn, Blutrache – wie ihr selbst geschworen. Es kam die Nacht, das Mondlicht stand so blaß, Da trafen sich die todesgrimmen Beiden. 80 Durchbohrt warf er den Erbfeind in das Gras, Dann ging er starr und stumm den Tod zu leiden. Den Tod gabst du ihm – und sein Schatten naht, Entsetzliches Geleit auf dunklem Pfad Lauert er heut auf dein Verscheiden.
Der Kindesmord gehört gerade im späten 18. Jahrhundert zu den vielfach bezeugten Verbrechen, die teilweise mit der Todesstrafe geahndet wurden. Auch in der Literatur wurde das Thema oft behandelt. Das in Strophe zehn angesprochene Du (V. 66) könnte man zunächst als namenlosen Richter deuten, durch dessen Urteil der Tod einer ebenfalls namenlosen Kindesmörderin besiegelt wurde. Doch liegt es nahe, darin auch eine Anspielung auf die schon zu Kinkels Zeit kolportierte Rolle Goethes im Kindsmordprozeß 1783 gegen Anna Katharina Höhn zu sehen. Die 285
Zum Scharfrichter mit einschlägigen historischen Beispielen und den wichtigsten Quellen zur Diskussion vgl. Martschukat, Inszeniertes Töten, 2000, S. 29–33.
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in dem Gedicht An die Klassiker (s. folgendes Kapitel 7) formulierte Kritik an der Person und politischen und sozialen Haltung Goethes findet damit hier ihre Fortsetzung. Von der neueren Goethe-Forschung wird indessen Goethes Rolle als Mitglied des Geheimen Consiliums in Weimar bei der Verurteilung der Höhn hinterfragt.286 Auch die von der älteren Forschung hauptsächlich von seinen Straßburger Promotionsthesen abgeleitete generelle positive Stellung Goethes zur Todesstrafe wurde mit Blick auf spätere Schriften und Äußerungen sowie der genauen Rekonstruktion des Prozessverlaufs relativiert, wenn auch in populären Darstellungen bisweilen Goethe als entscheidender Befürworter der Höhn-Hinrichtung verurteilt wird.287 Am Beispiel des verwaisten Sohnes eines Wilddiebes, wird das Thema der Zweckmäßigkeit und Abschreckung der Todesstrafe aufgegriffen.288 Denn die seit ihrer Einführung 1532 zwar mehrfach modifizierte, aber dennoch im 19. Jahrhundert Gültigkeit besitzende Constitutio Criminalis Carolina sah auch für Diebstahl noch die Todesstrafe (durch Erhängen) vor.289 Dabei wird nicht nur ein durch die Todesstrafe ausgelöster, fataler circulus vitiosus beschrieben, sondern die Situation des auf Rache sinnenden Sohnes als dieselbe hingestellt, wie die des hinrichtenden Staates (V. 75–77). Zudem wird die Kritik an der Todesstrafe gerade in diesem Fall vor allem auch deshalb nachvollziehbar, weil Strafe und Verbrechen hier so offensichtlich in einem Mißverhältnis stehen und auch zu vermuten ist, dass die soziale Situation, möglicherweise auch Hungersnot des Verurteilten den Wilddiebstahl bedingten. Auch in den folgenden Strophen steht nicht so sehr die Todesstrafe als solche im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern vielmehr die sozialen Lebensbedingungen von Arbeitern, mit denen offensichtlich die schlesischen Weber gemeint sind (V. 85):
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Vgl. zuletzt und zusammenfassend René Jaques Baerlocher: Anmerkungen zur Diskussion um Goethe, Todesstrafe und Kindsmord, in: Goethe-Jahrbuch 119 (2002), S. 207–217; ferner Heinz Müller-Dietz: Goethe und die Todesstrafe, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 120–145. Zum Prozess gegen die Höhn vgl. Baerlocher, Anmerkungen zur Diskussion um Goethe, 2002, S. 211–215; zur älteren Forschung und Goethes Straßburger Thesen vgl. MüllerDietz, Goethe und die Todesstrafe, 1998, S. 124–126; Baerlocher wendet sich anfangs auch ausführlich gegen die Ausführungen in der populären Biographie von Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Frankfurt a. M., Leipzig 1998, zum Kindmordprozess bes. S. 89. Zur Frage der Abschreckung seit Cesare Beccarias Schrift (1764) und in der zeitgenössischen Diskussion vgl. Martschukat, Inszeniertes Töten, 2000, S. 209–211. Mathias Reimann: Die Carolina im Schwurgerichtsprozeß gegen die badischen Revolutionäre Struve und Blind, in: Strafrecht. Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina. Hg. von Peter Landau und Friedrich-Christian Schroeder. Frankfurt a. M. 1984 (Juristische Abhandlungen, Bd. 19), S. 205–213, bes. S. 209; ferner in demselben Band den Beitrag von Friedrich Schaffstein. Die Bedeutung der Carolina für die Entwicklung strafrechtlicher Deliktbestände (S. 145–159).
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Sie waren arm dort in dem rauhen Thal, So eifrig Jeder fremdem Dienste schaffte; Es flossen Tag um Tag in gleicher Qual, Derweil ihr Herr das Gold zusammenraffte. Wohl war er reich – er wollte reicher sein: Er maß die Arbeit groß, die Löhnung klein, Bis dann ihr letzter Muth erschlaffte. Die Väter sahn der Kinder grimme Noth, Sahn ihre Weiber wanken zu dem Grabe; Sie traten vor ihn und begehrten Brod, Nur bittend – und er weigerte die Gabe. Da kamen sie zuhauf um Mitternacht: Es glomm der Zorn, die Flamme ward entfacht Und fraß ihn auf mit seiner Habe.
Du griffest Einen, gabst ihn hin dem Beil 100 Als Opfer für die schwächeren Genossen. Nach starb sein Weib, die Tochter beut sich feil; Ihn aber hält nicht Gruft und Sarg verschlossen: Er reckt sich auf an deines Bettes Fuß Und winkt hohläugig dir den Todesgruß 105 Das ist das Blut, das ihr vergossen!
Die Eintönigkeit und Härte der Arbeit stehen in scharfem Kontrast zum Reichtum der Fabrikbesitzer, die durch ausbeuterische Bezahlung die bittere Armut der Weber herbeigeführt haben (V. 87–91). Historische Vorbilder für die in der Literatur des Vormärz häufig dargestellten Lebensbedingungen der Weber und deren Armut lieferten verschiedene Ortschaften am Fuße des Eulengebirges, von wo aus auch jener frühe Proletarieraufstand 1844 seinen Ausgang nahm, auf den in Vers 96–98 angespielt wird. Sowohl das Eingreifen der Militärs als auch die späteren juristischen Verhandlungen gegen die Aufständischen forderten zahlreiche Todesopfer.290
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Peterswaldau und Langenbielau sind nur die prominentesten Orte, die von Aufständen betroffen waren. Peterswaldau wurde besonders dadurch auch bekannt, weil die Arbeiter die Villa des dort ansässigen Fabrikanten Zwanziger verwüsteten. Die wichtigsten und einschlägigen Zeitungsartikel zu den Vorkommnissen sind gut dokumentiert in dem Band Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur. Mit einem Geleitwort von Bernd Engelmann. Hg. von Lutz Kroneberg und Rolf Schloesser. Köln 1979, S. 145–239; zur Literarisierung des Proletarieraufstandes vgl. Wulf Segebrecht: Ergriffenes Dasein der Weber, in: Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen. Protestlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik. Hg. von Walter Hinck. Frankfurt a. M. (edition suhrkamp, 721), S. 100–108; Wolfgang Büttner: Der Weberaufstand in Schlesien 1844, in: Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815–1848/49. Hg. von Helmut Reinalter. Frankfurt a. M. 1986 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 629), S. 202–229.
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Mehr noch als beim Beispiel des Wilddiebes wird hier durch die ausführliche Darstellung des Weber-Elends, der Ergebenheit in ihr Schicksal (V. 92–95) und schließlich ihres gerechtfertigten Aufbegehrens (V. 96–98) und folgenden Schicksals (V. 99–105) die Frage nach der Zulässigkeit der Todesstrafe ohne Berücksichtigung der zum Verbrechen führenden Zustände und implizit auch nach einem sinnvollen Verbrechensbegriff gestellt. Mit diesen historischen und allgemeinen Beispielen von Verbrechen, die mit der Todesstrafe geahndet werden, liefert das Gedicht eine Entscheidungsgrundlage wider die Todesstrafe und richtet sich in der letzten Strophe noch einmal mit einer Warnung an das Volk, die Landtagsentscheidung nicht zu unterstützen. Hinweg, ihr Schatten! – Nein, sie rufen dir, Mein Volk! Blick an den Jammer ohne Namen! Fall in den Arm des Henkers roher Gier, Gieb nicht zum zweiten Mord dein heilig Amen! 110 Sprich du, mein Volk, ein menschlicher Gerich! Mit deinen Schriftgelehrten rufe nicht: »Auf Uns dieß Blut und unsern Samen!«
Nicht vom Volk, so wird noch einmal betont, wurde die Entscheidung getroffen, sondern von den »Schriftgelehrten« (V. 111). Dem Volk zugeordnet und von ihm verlangt wird eine am Humanitätsgedanken ausgerichtete Strafgesetzgebung: »Sprich du, mein Volk, ein menschlicher Gericht« (V. 110). 6.2
Selbstaussprache im Angesicht des Todes: Gedichte aus dem Kerker (Vor den achtzehn Gewehrmäulern – Mein Vermächtnis – Der letzte deutsche Glaubensartikel)
Die Radikalisierung zunächst liberaler Gedanken und Reformvorschläge in den 1840er Jahren bis hin zur Revolution macht sich literarhistorisch in der Vielzahl von Gedichten bemerkbar, die nach dem Verständnis vieler Autoren als Instrument der politischen Opposition gerade dann auch im unmittelbaren Umfeld der Revolution genutzt werden sollten.291 In der abendländischen Literaturgeschichte haben Texte, deren Inhalt und Aussageabsicht im Konflikt mit den bestehenden politischen und moralischen Verhältnissen standen, nicht selten auch zu einer – je nach Epoche unterschiedlich gearteten – Bestrafung ihrer Verfasser geführt. Das prominenteste Beispiel aus der Antike ist Ovid, dessen Ars amatoria wohl den sittenstrengen Kaiser Augustus dazu veranlasste, seinen ehemaligen Hofdichter in
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Exemplarisch diese Vorstellung auch schon in den Titeln folgender Sammlungen: Hermann Rollett: Kampflieder. Leipzig 1848; Julius Heinsius: Märzlieder. Seinen deutschen Brüdern zum Andenken an die Tage des 18. bis 22. März 1848 gewidmet von J.H. Berlin 1848.
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die Verbannung zu schicken. Andere Jahrhunderte und Regime bedienten sich bei der Zurechtweisung unliebsamer Dichter der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe, der Festungs- und Kerkerhaft oder auch der Hinrichtung. Bereits das Beispiel Ovid verdeutlicht, dass die durch eigene Texte ausgelöste Verbannung nicht das Ende der literarischen Produktion bedeutet, sondern die neue Situation den Ausgangspunkt für weitere Werke – im Falle von Ovid für seine Tristia und Epistulae ex Ponto – bildet, in denen diese Verbannung ihre Verarbeitung findet. Im Zusammenhang bürgerlich-freiheitlicher und revolutionärer Bestrebungen im späten 18. und 19. Jahrhundert wurden viele Autoren aufgrund ihrer Texte politisch verfolgt und in Gefangenschaft genommen. Neben bekannten Dichtern wie Christian Friedrich Daniel Schubart, der von 1777 zehn Jahre lang auf der Festung Hohenasperg eingesperrt war und dort seine Gedichte aus dem Kerker (Wien und Preßburg 1785) verfasste, wurde das Thema der Gefangenschaft nicht nur von tatsächlich Betroffenen aufgegriffen. Im Bild des Kerkers fand etwa im Sturm und Drang ein symptomatisches Epochengefühl in vielen Texten seinen Niederschlag, die freilich nicht selten auch durch reale zeitgenössische Fälle von Gefangenen ihre Anregung erhielten.292 Bei Kinkel nun handelt es sich um einen Dichter, der Gefangenschaft aus persönlicher Erfahrung kannte. Während seiner Haft in Rastatt und Naugard 1849/1850 schrieb Kinkel seine Erinnerungen an die Kindheits- und Jugendzeit, die von ihm als »Testament an die Demokratie«293 bezeichnete Erzählung Die Heimatlosen sowie verschiedene Gedichte, von denen drei hier exemplarisch vorgestellt werden: Vor den achtzehn Gewehrmäulern, Mein Vermächtnis und Der letzte deutsche Glaubensartikel. Im Vorwort zu den Kerkerpoesien (1844) von Wilhelm Weitling sind die wesentlichen Aspekte der Schreibmotivationen von (politisch) Gefangenen zusammengefasst, die sich auf die Gattung der Gefangenenliteratur insgesamt beziehen lassen: Lieber Leser! Hiermit erhältst Du wieder ein Lebenszeichen von mir, einige von mir im Gefängnis gemachte Gedicht, aus deren Inhalt Du Dir einen Begriff meiner Gemüthsstimmungen in meiner damaligen Lage als Gefangener machen kannst. Ich machte diese Gedichte theils um mich zu trösten und aufzuheitern, theils nur um mich zu beschäftigen. […] Poesien sind angenehme, oft träumende Bilder in im fließenden Redestyl, wohllautend zusammengesetzt; es sind Bilder, welche der innere, geistige Mensch sich macht, um durch ihre Betrachtung die unangenehmen Eindrücke der Wirklichkeit zu mildern und zu verwischen, oder den angenehmen eine längere Dauer und mehr Genuß abzugewinnen; folglich kann die Poesie besonders auf das Loos des Gefangenen einen sehr wohlthätigen Einfluß üben.294
292
293 294
Vgl. hierzu David Hill: »Die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt«: The rhetoric of Freedom in the Sturm und Drang, in: Literature of the Sturm und Drang. Ed. by David Hill. Rochester 2003 (The Camden House History of German Literature, Vol. 6), S. 159–184, hier bes. S. 161. Die Überlieferung bei Poschinger, Gottfried Kinkels sechsmonatige Haft im Zuchthause zu Naugard, 1901, S. 27. Wilhelm Weitling: Kerkerpoesien. Hamburg 1844, S. V und XI.
270
Ähnlich beschreibt auch Nicola Keßler in seiner Studie zur Gefangenenliteratur die Merkmale dieser Gattung.295 Als Mittel zum »Überleben« sei bei aller Unterschiedlichkeit in Form und Inhalt ein ähnlicher und grundlegender Entstehungskontext der Gefangenenliteratur gemeinsam, die auf dem »Wege literarischer Selbst- und Weltreflexion [versuche], lebensbedrohende Entfremdungen aufzuheben und neue, autonome Handlungsräume zu erschließen«.296 Keßler beschränkt sich neben einleitenden Überlegungen zur Gefangenenliteratur als literarischem Feld297 in seinem Interpretationsteil allerdings auf bekanntere Beispiele aus dem 20. Jahrhundert wie Peter Paul Zahl, Horst Bienek oder Felix Kamphausen.298 Weitgehend unaufgearbeitet ist, soweit ich sehe, die Gefangenenlyrik des 19. Jahrhunderts, zu deren Bestand allerdings die nach Phasen verschiedener staatlicher Strafmaßnahmen geordnete und knapp kommentierte Arbeit von Sigrid Weigel einen repräsentativen Überblick unter Einbeziehung auch von Auszügen aus Prosatexten liefert.299 Zu nennen sind vor allem die von Kinkels Freunden Gustav Struve und Adolph Strodtmann publizierten Sammlungen Lieder eines Gefangenen300 und Lieder eines Kriegsgefangenen auf der Dronning Maria (Hamburg 1848). In den Gedichten Der Gefangene an seine Brüder im Freien, Leib und Seele, An die Feinde aus Struves Sammlung wird exemplarisch auch der kommunikative Stellenwert von in Gefangenschaft geschriebenen Texten anschaulich, die eine Verbindung zur Außenwelt sicherstellen und dadurch auch die eigene Isolation vergessen machen sollen. Besonders interessant ist auch Struves Gedicht Das Vaterland (S. 355–356),301 dessen erste Strophe (»Süß ist der Tod für’s Vaterland!«) mit einer Anspielung auf das Horazsche dulce et decorum est pro patria mori einsetzt. In den folgenden Strophen wird dieses Motiv vom Vaterland, das den für alle Handlungen maßgeblichem ideellen Wert darstellt, noch variiert. 13
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Und süß ist’s auch, für’s Vaterland Nach freigesprochnem Wort, Um schlossen von des Kerkers Wand, Zu denken künft’ger Zeit:
Vgl. Nicola Keßler: Schreiben, um zu überleben. Studien zur Gefangenenliteratur. Mit einem Geleitwort von Martin Walser und einem Vorwort von Helmut H. Koch. Mönchengladbach 2001, hier bes. S. 25–43. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 136–157. Vgl. den zweiten Teil der Arbeit, ebd., S. 213–469; die Arbeit entstand im Rahmen einer an der Universität Münster eingerichteten Arbeitsstelle »Randgruppenkultur/-literatur«. Sie behandelt freilich auch unveröffentlichte Texte von (namenlosen) Gefangenen und untersucht auch die mündliche Redekultur im Gefängnis. Vgl. Sigrid Weigel: »Und selbst im Kerker frei…!« Schreiben im Gefängnis. Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur (1750–1933). Marburg 1982, hier besonders den Quellenteil, S. 109–233. Vgl. Gustav Struve: Lieder eines Gefangenen, in: Politisches Taschenbuch für das deutsche Volk 1 (1846), S. 347–366. Struve, Lieder eines Gefangenen, 1846, S. 355–356.
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20
Da das geliebte Vaterland Geachtet, groß und frei, Gerettet von des Abgrunds Rand, An dem es jetzt noch steht; Das ganze weite Vaterland, Umringt von Berg und See’n, Bis an der deutschen Zunge Rand, Vereinigt, frei wird sein.
Obgleich Struve nicht durch ein Todesurteil bedroht war, wird das Gedicht bestimmt von der Verherrlichung des Leidens und Sterbens für das Vaterland und formuliert damit eine grundsätzliche Todesbereitschaft, die auch schon die Lyrik der Befreiungskriege kennzeichnete.302 In Kinkels Gedicht Vor den achtzehn Gewehrmäulern (G II, S. 344–345) nimmt die Todesbereitschaft freilich eine herausragende Stellung ein, da die dort vergegenwärtigte Hinrichtung nicht nur eine literarische Imagination eines in Kauf genommenen Todes darstellt, sondern die tatsächliche – wenn auch noch in der Zukunft liegende – Situation des empirischen Autors beschreibt: 1
5
Trommler, schlagt an und führt mich zum Platz Der rasch vom Leben mich scheidet – Ich fürchte die pfeifende Kugel nicht, Die mein Gebein mir zerschneidet! Nein, wie mir durch Augen und Hirn und Herz Die tödliche Salve knattert, So spür’ ich wie mir die Seele befreit In Wolkenflöckchen zerflattert.
Zwar handelt es sich hier um eine poetisch vermittelte Geschehensbeschreibung einer bevorstehenden Hinrichtung, doch ist es gleichzeitig auch eine Aussprache des Autors Kinkel mit sich selbst in seiner Zeller in Rastatt, die auf der Ebene und im Medium des Gedichts vollzogen wird. Anders als bei anderen Gedichten, bei denen die Verwechslung bzw. nicht ausreichende Unterscheidung von empirischem Autor und sprechendem Ich im Gedicht häufig zu Fehleinschätzungen führt, kann man hier durchaus von einer Identität des Sprechers im Gedicht mit dem empirischen Autor sprechen. Die consolatorische Funktion des Gedichtes wird dabei besonders in den folgenden vier Strophen deutlich, in denen pantheistische Erlösungsvorstellungen und Imaginationen verschiedener Wiedergeburten über die Sinnlosigkeit des Todes hinwegtrösten sollen:
302
Vgl. Michael Jeismann: Feind und Vaterland in der frühen deutschen Nationalbewegung, in: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg 1996 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 18), S. 279–290, hier S. 284.
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Was einmal gelebt in der Sonne Schein 10 Das kann ja nimmer verenden; Wozu nun, ewiges Herz der Welt, Willst m e i n e n Geist du verwenden? Das heilige Licht, ich hab’ es geliebt, Mein Geist flog auf zu der Sonne, 15 In’s leuchtende All’ das ihn liebend gebar Ström’ ich ihn hinaus mit Wonne. Die Lerche werd’ ich des Morgenroths In flammenden Wolken geborgen, Die dem armen Gefangenen im kalten Thurm 20 Ansagt den nahenden Morgen. Ein Frühhauch bin ich, ein Bote des Glücks, Der die Purpurbanner durchfächelt, Dass der Freiheitskämpfer mit strahlendem Aug’ Entgegen dem Schlachttag lächelt. 25 Heut bin ich der Sturm, der, ein Gottesgericht, Durch giftige Nebel schreitet, Und den aufgerüttelten Moder der Gruft Befruchtend auf ’s Erdreich spreitet; Und morgen die Blume, die tröstend erquickt 30 Mit Duft den zagenden Kranken, Und in des Sterbenden Seele weckt Unsterblichen Lebens Gedanken. Ein Tropfen bin ich der niederströmt Im landbeglückenden Regen, 35 Die Scheune des Armen, des Winzers Faß Zu füllen mit nährendem Segen. Der Wellen eine bin ich im Meer, Die das Schiff, das stöhnende hetzen, Das den Wucherer trägt, und ich schling ihn hinab, 40 Ihn mit den erwucherten Schätzen.
Erst in der letzten Strophe wird die Vergegenwärtigung der Hinrichtungsszene aus der ersten Strophe wieder aufgegriffen, so dass diese beiden Strophen das Gedicht in seiner thematischen Ausrichtung zusammenhalten: Hier steh’ ich, nun zielt! Nun brichst du, o Leib, Wenn achtzehn Mündungen knallen! Die Seele, sie braust in den heiligen Chor Der Freien die vor mir gefallen; 45 Wir kennen nicht Rast, wir durchstreichen die Welt In Sonnenschein und Gewittern, Bis die letzte Zwingburg flammend zerbirst, Und die letzten Ketten zersplittern.
273
Die Beschreibung des Todesmomentes (V. 43–44) stellt gleichzeitig aber auch motivisch die Verbindung zu anderen Kerkergedichten her, indem die vorher schon Hingerichteten wie auch der Sprecher selbst als »Freie« (V. 44) glorifiziert werden, denen auch die Kerkerhaft nicht die Freiheitsgedanken und den Glauben an eine freilich politisch zu verstehende Freiheit rauben kann.303 Bei den Gedichten Vor den achtzehn Gewehrmäulern und Mein Vermächtnis fällt im Blick auf andere Dichtungen etwa von Schubart, Struve oder Weitling auf, dass hier weder mit einer poetischen Entfaltung der Kerker-Zustände operiert wird, noch Fragen der Schuld, der Anklage oder der Haftbedingungen zur Sprache kommen. Die für viele Texte von Gefangnen gattungskonstituierende Thematisierung von Gefangenschaft und Gefangenenbewusstsein tritt hier völlig zugunsten der Konzentration auf den Moment der Todeserwartung zurück.Vor dem Hintergrund dieses nahenden Todes, dessen Abwendung Kinkel im August 1849 nicht ahnen konnte, erhält sein Gedicht Vor den achtzehn Gewehrmäulern testamentarischen Charakter. In seinem ebenfalls im Rastatter Zuchthaus entstandenen Gedicht Mein Vermächtnis (G II, S. 346–348) zeigt sich das Bewusstsein, mit diesen Texten gleichzeitig die literarische Öffentlichkeit zu verlassen, bereits im Titel. Gleichwohl ist der Ton des in sieben Strophen zu je acht Versen mit doppeltem Kreuzreim, wechselnd vierhebigen und dreihebingen jambischen Versen sowie alternierenden männlich-weiblichen Kadenzen eingeteilte Gedicht persönlicher gehalten als in Vor den achtzehn Gewehrmäulern und stellt eine Lebensbilanz dar, die zunächst die politischen Geschicke des Autors in den Hintergrund treten lassen: 1
5
Das beste was das Leben giebt, Das hab’ ich nun genossen, Mich hat ein edel Weib geliebt Und gab mir holde Sprossen. Im Freundesreigen stand ich stark Beim Becher und in Fehde. Mein Leib war fest, gesund mein Mark Und golden floß die Rede.
Mir gab Natur ein fühlend Herz 10 Für Seligkeit und Wunden; Des Gottes Lust, des Wurmes Schmerz – Ich hab’ ihn mitempfunden; Es lag der Zeiten großes Buch Vor meinem Geiste offen, 15 Der Freiheit Glück, der Knechtschaft Fluch, Der Völker Gram und Hoffen.
303
Bezeichnenderweise ist das Gedicht auch aufgenommen worden in die Sammlung: Deutsche Freiheitslieder. Hg. von Ernst Rothschild. München 1911 (Vorkämpfer deutscher Freiheit, Heft 20), hier S. 64–65.
274
Den Feinden mild, den Freunden gut, Die Hand noch rein vom Fluche, Kein Blatt voll Haß, kein Blatt voll Blut 20 In meines Schicksals Buche: So werf ’ ich in den Opferbrand Ein reichbekränztes Leben – O Glück und Stolz, mein Vaterland, Für dich es hinzugeben. 25 Der müden schwielenharten Hand Ein sanfter Loos zu werben, Du vierter Stand, du treuer Stand, Für dich geh’ ich zu sterben. Euch Armen treu bis in den Tod, 30 Für euch zur That entschlossen, Fall’ ich um’ s nächste Morgenroth Vom kalten Blei durchschossen. So haltet mich in treuem Sinn, O Meister und Geselle! 35 Gedenke mein, du Näherin, In deiner trüben Zelle: Du Winzer, der am Fels der Ahr Umsonst in Gluten leidet, Du arme Tagewerkerschaar, 40 Die fremde Garben schneidet! Ich werde nicht vergessen sein, Du Jugend wirst mich kennen Und wirst an meines Geistes Schein Zum Freiheitsdurst entbrennen. 45 Manch Frauenauge weint um mich, Den Sänger süßer Lieder; Als Gruß der Erde neigen sich Viel Blumen zu mir nieder. Den letzten Gruß dir überm Rhein 50 Du edles Volk der Franken! Die Völker sollen einig sein In Herzen und Gedanken. Stehn soll, so weit auf diesem Rund Sich Aug’ in Auge spiegelt, 55 Der ew’ge Bund, der Bruderbund, Den euch mein Blut besiegelt.
Die Grundlage für die in den ersten beiden Strophen zum Ausdruck gebrachte Zufriedenheit mit dem bisherigen Lebensweg bilden die familiären Verhältnisse (V. 1–4), das nähere soziale Umfeld der Freunde (V. 5–8) aber auch die emphatische Haltung gegenüber den Schicksalen und Nöten der Nächsten (V. 9–16). Der Lebensrückblick orientiert sich an christlichen Tugend- und Moralvorstellungen, die 275
besonders in der dritten Strophe (V. 17–20) in den Mittelpunkt gerückt werden. Insgesamt freilich verzichtet der Dichter aber auf christliche Motive und Heilsvorstellungen, die über den eigenen Tod hinwegtrösten sollen. Wenn auch deutlich hervorgehoben wird, dass der nahende und unnatürliche Tod als Opfer für das Vaterland verstanden werden will (V. 21–24), stellt diese Bestandsaufnahme eines Lebens indessen keine nostalgische Verklärung des Lebensentwurfes dar. Vielmehr vermittelt sie die ungebrochene Identifikation des Sprechers mit sich selbst und seinen Ansichten, die auch durch die staatlichen Strafmaßnahmen nicht gestört werden konnte. Das belegt auch die Rekapitulation des eigenen politischen und sozialen Einsatzes für den vierten Stand (13–16), der nicht in Frage gestellt wird und implizit auf die Ursachen für die Haft und Todeserwartung anspielt. Mit dem Einsatz für die »Armen« (V. 17) ist für den Dichter auch eine Memoria-Hoffnung verbunden (V. 41–44), die aller christlichen Konnotationen entbehrt und ihre Gewissheit nur aus dem im irdischen Leben Geleisteten bezieht. Aus der Zeit seiner Haft in Naugard, wohin Kinkel nach der Verkündigung des Urteils auf lebenslängliche Zuchthausstrafe im Oktober 1849 überführt wurde, datiert Der letzte deutsche Glaubensartikel (G 2, S. 23–25), das erst in die die zweite Sammlung seiner Gedichte von 1868 aufgenommen wurde. Anders als die in Rastatt entstandenen Texte ist dieses Gedicht von einer aggressiven Rhetorik des Aufrufes geprägt, was sicherlich auch der geänderten persönlichen Perspektive Kinkels geschuldet ist. Als aus dem Kerker fortgeführte Teilnahme am politischen und revolutionären Handeln mittels Lyrik zeigt es insofern auch eine größere Nähe zu anderen Kerkergedichten: 1
5
Von Allem, was ich einst geglaubt, Ist wenig mir geblieben, Die Priester haben’s weggeraubt, Die Welt hat’s ausgetrieben. Mir blieb ein einz’ger Glaube, Der macht mir alles wett; Vernehmt’s beim Saft der Traube: Ich glaube, ich glaube, Ich glaub’ an’s Bajonet!
10 So herrlich hatt’ ich mir gedacht Den Friedensschlag der Liebe! Doch seh’ ich’s heut: der Fürst der Nacht Weicht nur dem Flammenhiebe. So wird er uns zum Raube, 15 Er stürzt auf ’s blut’ge Bett! Vernehmt’s beim Saft der Traube: Ich glaube, ich glaube, Ich glaub’ an’s Bajonet!
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Was schert mich alles Reden noch, 20 Was scheren mich die Kammern? Wir brechen nimmermehr das Joch, Solang wir’s nur bejammern! Setzt auf die Pickelhaube Zum blutigen Bankett! 25 Vernehmt’s beim Saft der Traube: Ich glaube, ich glaube, Ich glaub’ an’s Bajonet! Die Feinde sparen uns die Wahl, Fahr hin, du feige Sünde! 30 Die Kugel und der blanke Stahl, Das sind die letzten Gründe. Hinab zu Dampf und Staube Von Eurem schwanken Brett! Vernehmt’s beim Saft der Traube: 35 Ich glaube, ich glaube, Ich glaub’ an’s Bajonet! Es saust der Hieb, die Kugel pfeift, Und die Tyrannen zittern! Die Frucht der deutschen Freiheit reift 40 Nur in der Schlacht Gewittern. Es lebe dieser Glaube, Ein Hoch dem Bajonet! Vernehmt’s beim Saft der Traube: Ich glaube, ich glaube, 45 Ich glaub’ an’s Bajonet!
Der ruhigen und gleichmäßigen, an ältere Kirchenliedstrophen angelehnte Struktur von Kinkels Mein Vermächtnis stehen hier fünf Strophen gegenüber, deren Verse im vierzeiligen Aufgesang wechselnd vierhebige und dreihebige Jamben mit männlich-weiblich alternierenden Versausgängen aufweisen. Dem Aufgesang folgen zwei jambische Dreiheber, denen sich in jeder Strophe derselbe dreizeilige Refrain anschließt, dessen doppelte Senkungen in der zweiten Zeile bei nur zwei Hebungen den insgesamt unruhigen Charakter des Gedichtes noch verstärken. Durch die Wiederholung des Refrains in jeder Strophe und die dreimalige Nennung von »Ich glaube« wird nicht nur der Zusammenhang mit der Überschrift hergestellt, die die Präsentation eines verfassungsmäßigen Artikels suggeriert. Die gebetsartige Wiederholung der Worte soll auch gleichzeitig als Bekenntnis des Sprechers und Selbstvergewisserung verstanden werden. In der Absage an eine versöhnliche Beilegung politischer Meinungsverschiedenheiten und einen friedlichen Weg zum Erreichen der angestrebten Ziele von Einheit, Freiheit und bürgerlichen Mitspracherechten (V. 19–22) schwingt auch Kinkels persönliche Enttäuschung über die nachrevolutionären parlamentarischen
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Versuche in Frankfurt und Berlin mit, wie sie bei etlichen Vormärz-Autoren zu beobachten ist.304
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Künstlertum und Vaterland: Klassiker-Auseinandersetzung (Die Klassiker – Elegien im Norden. An Johanna)
In seiner 1835 publizierten Romantischen Schule inspirierte die zeitliche Nähe des Todes von Goethe (1832), Hegel (1831) und Clausewitz (1831) Heinrich Heine zu seiner satirischen Feststellung, dass der Tod wohl in »diesem Jahre plötzlich aristokratisch geworden« sei, da er »die Nobilitäten dieser Erde besonders [habe] auszeichnen wollen, indem er sie gleichzeitig ins Grabe schickte«.305 Schon einige Jahre zuvor in seinen Reisebildern (1826–1830) hatte Heine die Goethezeit in literarhistorischer und -ästhetischer Hinsicht als Kunstperiode bewertet und als Begriff bereits in seiner Menzel-Kritik in die Diskussion gebracht.306 Goethes Tod markierte demnach das Ende dieser Kunstperiode, gleichwohl aber nicht erst den Anfang der kritischen Auseinandersetzung, der Schmähungen und vielfach literarisch und publizistisch zum Ausdruck gebrachten Goethe-Opposition. Allerdings erfuhr die Goethe-Kritik nach dem Tode des Dichterfürsten eine enorme Steigerung sowohl quantitativ als auch im Hinblick auf die Schärfe des Tonfalls, was die umfangreiche Sammlung von Mandelkow eindrücklich dokumentiert.307 Die Goethe-Opposition lässt sich aber literarhistorisch mitnichten auf das »platte Niveau einer mechanischen Konfrontation von progressiv contra reaktionär« reduzieren, sondern stellt ein »vielschichtiges und widersprüchliches Phänomen« dar.308 Mithin kann die gerade von den jungdeutschen, liberalen und radikalen Autoren
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Am bekanntesten ist sicherlich Gustav Struves Bezeichnung des Frankfurter Paulskirchenparlamentes als »Dienstmagd der Reaktion«. Heinrich Heine: Die romantische Schule, in: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe in 16 Bänden. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, hier Bd. 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die Romantische Schule (Text). Hamburg 1979, S. 121–243, Zitat S. 163. Heinrich Heine: Reisebilder. Zweyter Theil. Die Nordsee, in: Heinrich Heine: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe in 16 Bänden. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, hier Bd. 6: Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder I/II (Text), bearbeitet von Jost Hermand. Hamburg 1973, S. 139–167. Vgl. Karl Robert Mandelkow (Hg.): Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. 3 Bde. Hg., eingel. und kommentiert von K.R.M. München 1975–1979, bes. Bd. 1 (1975), S. 386–516 und Bd. 2 (1977); neben dieser Dokumentation hat Mandelkow auch eine hervorragende und bis heute grundlegende Darstellung der Goethe–Rezeption geliefert vgl. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. 2 Bde. München 1980 und 1989, hier bes. Bd. 1 (1980), S. 101–145. Mandelkow, Goethe in Deutschland Bd. 1, 1980, S. 101.
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formulierte Goethe-Kritik als Standortpositionierung im literarischen Markt und Leben der Zeit gewertet werden. Die verschiedenen Spielarten der literarisch – als Rezension, Kontrafaktur oder Essay – formulierten Goethe-Opposition bedienten sich daher auch etablierter und tradierter Motive, Vorwürfe und Kritikpunkte, die ein bestimmtes negatives Goethe-Bild zeichnen, mitunter aber auch im Widerspruch zu sonst geäußerten Einschätzungen Goethes und seines Werkes stehen, worauf auch in der neueren Forschung zum prominentesten und schärfsten GoetheKritiker, Ludwig Börne, hingewiesen wird.309 Zumal auch apologetische Publikationen zu und Verteidigungen von Goethe gleichzeitig existierten. Während Georg Herwegh in seiner Schrift Die Literatur im Jahre 1840 (1840) als Signum der modernen Literatur die »Opposition gegen Göthe« definiert,310 findet die jungdeutsche und liberale politische – und insofern Goethes Kunstkonzept gegenüberstehende – Literatur in der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung indessen kaum Erwähnung. Hingegen markiert Goethe nicht selten den Höhe- und Endpunkt dieser Darstellungen, was in Teil I (Kapitel 1.3) dieser Arbeit bereits ausführlich und mit Blick auch auf die von Kinkel in seiner Autobiographie vorgetragene Kritik nachgewiesen wurde.311 Aber auch bei Kinkel finden sich neben den vorwiegend kritischen Tönen Stellen, die sichtbar werden lassen, dass in der Tat das Bewusstsein, »nach Goethe« zu schreiben bei den Zeitgenossen der jüngeren Generation durchaus stark ausgeprägt war.312 In seiner Würdigung Karl Immermanns schreibt Kinkel in der Selbstbiographie:
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Vgl. Inge Rippmann: »Ihn tadeln heißt ihn achten.« Goethe im Gegenlicht, in: Goethe im Vormärz. Hg. von Detlev Kopp und Hans-Martin Kruckis. Bielefeld 2004 (Forum Vormärz-Forschung; Jahrbuch 9, 2003), S. 49–70, hier S. 52–53; ferner und im Kontext von Börnes Lobrede auf Jean Paul (1825) vgl. Wulf Wülfing: »In weiten Bahnen zieht der leuchtende Genius«. Zur Rhetorik der Dichterverehrung im 19. Jahrhundert am Beispiel Ludwig Börne und Berthold Auerbach, in: Verehrung, Kult Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert. Beiträge des Symposions »Verehrung und Distanz« zum 200. Geburtstag von Christian Dietrich Grabbe vom 27. bis 30. September 2001 in Detmold und Marienmünster. Hg. von Wolfgang Braungart. Tübingen 2004 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 120), S. 203–218. Georg Herwegh: Die Literatur im Jahre 1840, in: Georg Herwegh: Über Literatur und Gesellschaft (1837–1841). Bearbeitet und eingeleitet von Agnes Ziegengeist. Berlin 1971 (Deutsche Bibliothek, Bd. 6), S. 116–119, Zitat S. 117. Vgl. zusammenfassend wieder Hess, Die Vergangenheit, 1974, S. 197; auch die Stelle bei Kinkel, Meine Schuljahre, 1873, S. 178. Zur Bedeutung – Bewunderung und Ablehnung – Goethes für die Lyrik um und nach 1832 vgl. den Aufsatz von Claudia Stockinger: Paradigma Goethe? Die Lyrik des 19. Jahrhunderts und Goethe, in: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus, Stefan Scherer, Claudia Stockinger. Bern [u.a.] 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N.F., Bd. 11), S. 93–125, hier bes. S. 95.
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Denn an ihm [Immermann, B.W.], der von den Modernen einzig und allein die Zusammenstellung mit Goethe und Schiller erträgt, ersah ich es, welche Kraft in der Brust des echten Mannes die Verkennung der Welt und der Trotz gegen sie aufweckt.313
Auch Kinkels Gedicht zeichnet nur auf den ersten Blick ein völlig negatives GoetheBild. Das Gedicht Die Klassiker (G 2, S. 26–28) wurde zunächst als Fragment mit vier Strophen unter dem Titel An die Klassiker in die zweite Auflage von Kinkels Gedichten aufgenommen (G II, S. 349). Mit insgesamt elf Strophen wurde es erst vollständig abgedruckt in der zweiten Sammlung von 1868. Bisher konnte man annehmen, dass der Text im Zuchthaus zu Naugard entstanden ist, da Kinkel im Inhaltsverzeichnis der zweiten Gedichtsammlung selbst diese Datierung angibt (»Naugard, Winter 1850«). Auch der Inhalt der elften und letzten Strophe ließ keinen Zweifel an Kinkels eigener Angabe. Doch findet sich das Gedicht bereits in Kinkels Reisejournal im Winter 1837, das er während seiner Italienreise verfasste. Es liegt bisher nur in der handschriftlichen Fassung des in der Universitäts- und Landesbibliothek befindlichen Nachlasses vor.314 Das Gedicht erscheint dort mit der Überschrift Die Großen der Vergangenheit und weist zusätzlich zu den elf Strophen der zweiten Gedichtsammlung noch zwei weitere, also insgesamt dreizehn Strophen auf. Wichtig für die Interpretation des Textes ist indessen, dass auch die letzte Strophe der Buchausgabe bereits im selben Wortlaut im Reisetagebuch, also schon 1837, vorlag: 1
Ihr hohen Meister sonder Gleichen, Die Weimars Musenhof gesehn, Wie tief beschämt wir vor euch weichen, Wie gern wir unsre Schmach gestehn!
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Vor euern hohen Idealen Sind wir gemein in Schmerz und Lust; Es schlägt mit jedes Winzers Qualen, Mit jedem Weber unsre Brust.
Wir singen kindisch in die Fiedel 10 Ein deutsch Gefühl, ob bang, ob froh. Doch den Terenz verdeutscht’ Einsiedel, Und Falk gar den Amphitruo. Wir wußten nicht wie ihr zu schneidern, Und maßen nicht mit kluger Wahl 15 Robbespierre’s Scharlachkleidern Den Rock dem Bürgergeneral.
313 314
Kinkel, Selbstbiographie, 1931, S: 91. Signatur S 2677/2.
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Ein Weib, das uns mit Lust und Schmerzen Gelabt aus tiefstem Lebensquell, Wir stießen’s nie aus unserm Herzen 20 Um eine hübsche Hausmamsell. Wie arm ist unser Herz im Minnen, Das Einem Weib nur sich gewährt, Und, um die eine zu gewinnen, Der ganzen Welt den Krieg erklärt! 25 O wohl mag solche Schmach uns grämen! Noch auf der Schatten düsterm Pfad, Wie müssen wir vor euch uns schämen – Wir wurden nie geheimer Rath! Nicht gaben uns die Musen Mittel! 30 Und doch mied trotzig unser Bund Den Hof und alle großen Titel, Eh uns bezwang ein Pudelhund. Wie milde trugt ihr’s, wie ergeben, Als sich der Freiheit Sturz genaht! 35 Ein Kunstwerk war für euch das Leben – Uns war es nichts als eine That! Was gilt auch vor den Lorbeerruthen, Die eure weiche Hand sich brach, Für’s Vaterland das bischen Bluten, 40 Für’s Vaterland das bischen Schmach? Und billig drum in Fürstengrüften Ruht ihr, wo Erz und Marmor klingt, Indeß in Pommerns rauhen Lüften Das Grablied uns die Krähe singt.
Der äußeren Form nach ist das Gedicht in einfachen, volksliedhaften Strophen mit je vier Versen gehalten, die einen regelmäßigen vierhebigen Jambus, Kreuzreim und wechselnd weibliche und männliche Kadenzen zeigen. Es stellt ein ästhetisches Programmgedicht dar, das sich gegen die Ideal- und Kunstwelt der Weimarer Klassik und speziell auch gegen die Person Goethes richtet. Propagiert wird auch eine Poesie der Tat (V. 35–36), was schon für Kinkels frühes Programmgedicht Zum Eingang festgestellt werden konnte. In Gedichtform vorgetragene Auseinandersetzungen mit Goethe und der Weimarer Klassik sind – anders als vielleicht anzunehmen – nicht so zahlreich und stechen daher als Gattung aus der ungeheuren Menge goethekritischer Publikationen besonders hervor. Als direkte Goethe-Opposition in lyrischer Form seien neben Kinkels Die Klassiker noch die auch bei Mandelkow behandelten Gedichte Ein Lied aus meiner Zeit (1842) von Heinrich Hofmann von Fallersleben, 281
Die Tendenz (1842) von Heinrich Heine und Den Göthe-Philistern (1845) von Gottfried Keller genannt.315 Die ersten beiden Strophen fassen das Grundprinzip persönlicher und generationenspezifischer Opposition zusammen, wie sie durch die Frontstellung des Sprechers als Vertreter eines Wir-Kollektivs zu den bereits im ersten Wort angesprochenen Klassikern (»Ihr«, V. 1) zum Ausdruck gebracht wird. Auf der einen Seite und mit den Klassikern verbunden, verknüpfen sich die Begriffe »Meister« (V. 1), »Ideale« (V. 5) und »Musenhof« (V. 2), denen Scham (V. 3) und »Schmach« (V. 4) gegenüberstehen. Freilich lässt sich der ironische Ton dieser vom Sprecher auf sich selbst und seine Sinnesgenossen bezogenen Abwertung der eigenen Leistungen im Vergleich mit den Klassikern kaum überhören, worauf besonders Vers vier hinweist: »Wie gern wir unsre Schmach gestehn!« Der »Gemeinheit«, als Dichter poetisch Anteil zu nehmen an sozialen Missständen wie der Situation der Winzer und schlesischen Weber316 in der ersten Hälfte der 1840er Jahre, korrespondiert in Vers neun eine »kindische« Auffassung von Lyrik, was aber hier im positiven Sinne von »schlicht« und damit im Horizont auch von Schillers Kategorien von naiver und sentimentalischer Dichtung zu sehen ist. Der Schlichtheit und auf ein »deutsch Gefühl« (V. 10) bezogenen Literaturauffassung und -produktion werden als Negativ-Beispiel einer undeutschen und nur reproduzierenden Literatur die Übersetzungen von Friedrich Hildebrand von Einsiedel-Scharfenstein und Johannes Daniel Falk an die Seite gestellt, die beide mit Goethe am Weimarer Hof eng befreundet waren (V. 11–12).317 Goethes Name indessen kommt während des gesamten Gedichtes nicht ein einziges Mal vor. Mit der vierten Strophe wendet sich die zuvor allgemein und auf der literarästhetischen Ebene als Gegenprogramm zum Weimarer Kunstideal vorgetragene Kritik aber offensichtlich gegen Goethe. Mit der Nennung von Goethes für den Weimarer Hof und dort mit großem Beifall aufgenommenem Stück
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Vgl. Mandelkow, Goethe in Deutschland Bd.1, 1980, S. 115–118; freilich ließen sich noch mehr Gedichte nennen, rechnete man auch die zahlreichen Kontrafakturen auf Goethes Gedichte ein. Repräsentativ zum Weber-Thema: Walter Wehner: Heinrich Heine: »Die schlesischen Weber« und andere Texte zum Weberelend. München 1980; ferner zu Heines berühmtem Gedicht Wulf Segebrecht: Ergriffenes Dasein der Weber, in: Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen. Protestlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik. Hg. von Walter Hinck. Frankfurt a. M. (edition suhrkamp, 721), S. 100–108; ferner Wolfgang Büttner: Der Weberaufstand in Schlesien 1844, in: Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815–1848/49. Hg. von Helmut Reinalter. Frankfurt a. M. 1986 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 629), S. 202–229. Vgl. jeweils die Artikel sub verbo von Walter Hettche (Einsiedel) und Ernst Fischer / Johannes Demandt (Falk) in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Helmuth Kiesel und Reimund B. Sdzuj. Bd. 3. Berlin, New York 2008, S. 236 bzw. 369–370.
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Der Bürgergeneral318 spielt Kinkel auf Goethes (literarische) Opportunität (»mit kluger Wahl«, V. 14) für das Erreichen persönlicher Vorteile an, deren positive soziale Folgen in Form von Goethes sozialer Stellung als »Geheimer Rath« (V. 24) in Strophe sieben und acht aufgegriffen werden. Dass diese Form der Integration des Dichters in die (höfische) Gesellschaft eine Form der Bestechlichkeit darstellt und des Seelenverkaufes, macht die in Vers 32 benutzte faustische Pudelgeschichte deutlich. Sie stellt gleichzeitig klar, dass der Sprecher und die von ihm vertretene Gruppe (»unser Bund«, V. 30) trotz sozialer und persönlicher Nachteile »den Hof und alle großen Titel« (V. 31) gemieden habe. Neben der literarästhetischen Opposition zu den Klassikern und Goethe wird indessen auch noch auf moralisch-ethischer Ebene Kritik speziell an Goethes Lebensführung geübt (Strophe 5 und 6). Seit Wolfgang Menzel, der selbst an die burschenschaftliche Kritik gegen Goethe anknüpfte und diesen als Verkörperung der Unmoral, des Unpolitischen und Atheistischen bezeichnete, gehören auch Vorwürfe dieser Art zum gängigen Repertoire der Goethe-Gegner.319 Das bis heute kaum erhellte, zumindest aber schwer einzuordnende Verhältnis Goethes zu seiner Mutter, deren Briefe vor 1792 Goethe alle vernichtete, bildet die Grundlage für Strophe fünf. Goethes Fortgang nach Weimar, seine nur wenigen Besuche bei der Mutter und schließlich gar sein Fernbleiben von deren Beerdigung 1808 haben bereits im 19. Jahrhundert die Vorstellung eines gestörten Verhältnisses Goethes zur Mutter und in der Folge moralische Kritik provoziert. Bis heute bleibt dies aber nicht nachweisbar.320 Der moralische Vorwurf der Vernachlässigung der Mutter (V. 17) wird noch gesteigert durch den Hinweis auf Goethes Verbindung mit – in den Worten von Charlotte von Stein – einer »Hausmamsell« (V. 20), mit der hier nur Christiane Vulpius gemeint sein kann, die Goethe 1788 kennenlernte und 1806 heiratete. Das Verhältnis von Goethes Mutter und Christiane soll indessen und anders als es im Gedicht hier nahegelegt wird recht gut gewesen sein. Zusätzlich verstärkt wird diese moralische Kritik durch die Anspielung auf Goethes zahlreiche Liebschaften und Frauengeschichten (Strophe 6). Auch und noch
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Zur Entstehung und Rezeption des Einakters vgl. den Artikel von W. Daniel Wilson: Dramen zum Thema der Französischen Revolution, in: Goethe-Handbuch in vier Bänden, hier Bd. 2: Dramen Hg. von Bernd Witte [u.a.]. Stuttgart, Weimar 1996, S. 258–287, hier S. 273–280. Vgl. den Auszug aus Menzels Die deutsche Literatur (1828) bei Mandelkow, Goethe im Urteil, Bd. 1, 1985, S. 388–399; hierzu auch Rainer Rosenberg: Literaturverhältnisse im Vormärz. München 1975 (Marxistische Ästhetik und Kulturpolitik), S. 44–46. Auch die biographische Literatur zu Goethe ist unüberschaubar. Aus der Fülle der Darstellungen dienten folgende gängige und zuverlässige Biographien als Orientierung: Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. 2 Bde. Königshausen / Tn. 1982–1985, zum Verhältnis zur Mutter bes. S. 19–21; Richard Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit. München 1963, hier bes. S. 14–17; zuletzt erschienen: Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit [bisher] 2 Bde. München 1995–1999, bes. S. 59–83; zu Goethes Mutter liegt eine etwas populäre aber dennoch treffende Darstellung vor von Dagmar von Gersdorff: Goethes Mutter. Eine Biographie. Frankfurt a. M., Leipzig 2001.
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stärker zeigt sich dieses Prinzip einer ins Allgemeine gehobenen Gegenüberstellung persönlicher Kunstvorstellungen und Lebensführung in den letzten beiden Strophen (10 und 11). Neben der Verabschiedung des traditionellen Dichterattributes Lorbeer (V. 37) werden »Blut« (V. 39) und »Schmach« (V. 40) zu neuen Ehrenzeichen des Dichters und Zeichen des Einsatzes fürs Vaterland nobilitiert. Gleichzeitig wird die durch zwei Litotes scheinbare Minderwertigkeit von »Blut und Schmach« gegenüber den »Lorbeerruten« der Klassiker ins Gegenteil verkehrt. Für die letzte Strophe liegt zunächst Kinkels eigene Situation im Naugarder Zuchthaus im Winter 1850 als Assoziationshorizont nahe, da Kinkel selbst in der zweiten Sammlung von 1868 das Gedicht auf diese Zeit datiert. Demnach könnte man die Verse als situative Vergegenwärtigung verstehen, dass die eigene nahe Zukunft – aus der Perspektive der Naugarder Haft – mehr als ein »bischen Bluten« (V. 39) bringen würde und damit die letzten beiden Verse (V. 42–44) auch wörtlich als Erwartungshorizont Kinkels zu deuten sind, der im pommerschen Naugard nicht unbedingt damit rechnen konnte, am Ende seiner Prozesse nicht zum Tode verurteilt zu werden. Doch lag das Gedicht, vor allem die letzte Strophe, ja schon im 1837 verfassten Reisejournal vor, so dass noch eine andere Interpretation der Verse möglich ist. Den Anspielungshorizont für die letzten beiden Verse bilden wohl die schon mehrfach als Identifikationspunkt angeführten Befreiungskriege gegen Napoleon. Auch im Hinblick auf die hier formulierte Goethe-Kritik scheint es ebenso sinnfällig, diese letzten beiden Verse im Zusammenhang mit Goethes Napoleon-Begeisterung zu sehen. Das Grablied der Krähe in »Pommerns rauhen Lüften« (V. 43–44) ist dann als Anspielung auf den im Frühjahr 1809 im pommerschen Stralsund gefallenen preußischen Offizier Ferdinand von Schill zu verstehen, dem Max von Schenkendorf mit seinem Gedicht Schill. Eine Geisterstimme bereits 1809 und Ernst Moritz Arndt mit Das Lied vom Schill 1812 ein literarisches Denkmal setzten und der auch später noch, etwa in Rudolf Gottschalls Drama Ferdinand Schill (1850), als nationale Identifikationsfigur diente.321 Einen wichtigen Bezugrahmen für die Goethe-Kritik insgesamt und speziell auch für Kinkel stellt die Rezeption des anderen großen Weimarer, Friedrich Schiller, dar. Zwar ist die Rezeptionsgeschichte Goethes vielfach durch eine »Doppelperspektive« auf beide Dichter verbunden, doch zeichnet sich schon vor Goethes Tod und vermehrt noch danach eine in der Rezeption zu beobachtende »GoetheSchillerpolarität« ab.322 Prominentestes Beispiel für eine mit der Goethe-Kritik verbundene Schiller-Apologie ist wiederum Wolfgang Menzel.323
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Zu Schill vgl. zuletzt Robert Riemer: Der Anfang der Befreiung? Ferdinand von Schill in Mecklenburg und Pommern, in: Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum. Wahrnehmungen und Transformationen. Hg. von Michael North. Köln 2008, S. 306–327. Mandelkow, Goethe in Deutschland Bd. 1, 1980, S. 126–136, hier S. 126. Die maßgeblichen Stellen bei Mandelkow, Goethe im Urteil Bd. 1, 1975, S. 388–399.
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Dass sich Kinkels Klassiker-Gedicht nicht auch gegen Schiller richtet – was ja von der Überschrift her zumindest angenommen werden könnte –, sondern nur gegen Goethe und die namentlich pars pro toto erwähnten Dichter im Umkreis Goethes, Einsiedel und Falk, legt nicht nur die Aussparung seines Namens oder Anspielungen auf ihn im Gedicht nahe. In Kinkels Rede in London anläßlich des hundertsten Geburtstages von Schiller 1859324 werden wesentliche Motive und Themen des Gedichtes wieder aufgegriffen und Schiller als das Musterbeispiel des »Dichters und Bürgers« gefeiert.325 Mehr noch: Auf Schiller und sein Werk sollen sich die Gesinnungsgenossen beim bevorstehenden Kampf für die deutsche Einheit – 1859 formuliert! – einschwören.326 Schillers Drama Kabale und Liebe (1784) wertet Kinkel in seiner Rede gar als »racheathmenden Aufschrei gegen das kleine Fürstenthum, die sittenlose Macht der Höfe, die Zerstörung des Bürgerideals«.327 Dass all dem die Person und politische Positionen Goethes diametral gegenüberstehen, wurde bereits bei der Analyse des Gedichtes deutlich. Zwar erwähnt Kinkel in seiner Rede, dass Schillers Sarg »rastet unter den Großen der Erde« und damit neben Goethe.328 Im Kontrast aber zu Goethe wird Schillers soziale Herkunft als »Sohn des Feldschers und der Bäckerstochter, dessen Wiege in der Hütte stand« und seine spätere Lebensführung und Ehe gegenüber Goethe moralisch aufgewertet, wie das auch im Klassiker-Gedicht zu sehen war.329 Bei aller moralischen Kritik an Goethes Lebensführung und Kunstauffassung zeigen die gut zwei Jahre nach dem Klassiker-Gedicht entstandenen Elegien im Norden. An Johanna (1840–1841), wie bedeutsam und literarisch fruchtbar für Kinkel die Auseinandersetzung mit dem Dichterfürsten gewesen ist. Die formale Gestaltung der Gedichte als Elegien, Titel und Untertitel sowie zentrale Themen wie Erotik und Liebe, Treue und Künstlertum, verweisen auf einen Prätext, dessen Form, Inhalt und Wirkungsgeschichte einen schon durch die Gattungs- und Titelwahl deutlich markierten330 intertextuellen Zusammenhang mit Kinkels Elegien aufweist und dessen Kenntnis beim Leser vorausgesetzt wurde: Goethes Römische Elegien (1795). Dieser intertextuelle Zusammenhang zwischen Goethes Römischen
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Voraussetzungen, Ablauf und Bedeutung der Londoner Schillerfeier sind gut aufgearbeitet; Kinkels Rede allerdings wird nicht angemessen gewürdigt, vgl. Hermann Rösch: Die Londoner Schillerfeier 1859, in: Klassik modern. Für Norbert Oellers zum 60. Geburtstag. Hg. von Georg Guntermann. Berlin 1996 (Zeitschrift für deutsche Philologie 115; Sonderheft), S. 94–111. Gottfried Kinkel: Festrede bei der Schillerfeier im Krystallpalast. 10. November 1859. London 1859, S. 3. Ebd., S. 15. Ebd., S. 4. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3; zu Schillers Eheleben S. 7. In Anlehnung an die Überlegungen von Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität, in: Manfred Pfister, Ulrich Broich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 35), S. 31–47.
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Elegien und Kinkels Elegien im Norden beschränkt sich indessen nicht nur auf – nach Genettes Begriffen – architextuelle, also hier deutlich markierte Gattungsbezüge und metatextuelle Verweise im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit einem Prätext. Die Elegien Kinkels nehmen ihrerseits Bezug auf das vorangestellte und von Goethe stammende Motto (Paratextualität).331 Die Analyse der intertextuellen Bezüge zwischen den beiden Zyklen ist nicht nur für die Deutung von Kinkels Elegien von Bedeutung, die inhaltlich in Opposition zu Goehtes Gedichten treten, sondern lässt auch die epochalen Unterschiede im Hinblick auf die Bewertung von Liebe, Ehe und Künstlertum in der Zeit der Weimarer Klassik und der Restaurationsepoche erkennen.332 Wie schon beim KlassikerGedicht sollte indessen nicht vergessen werden, dass es sich auch bei den Elegien im Norden um eine literarisch-kunstvoll formulierte Kritik an Goehte handelt, die mitunter der Beurteilung des Autors und Literaturkenners Kinkel diametral gegenübersteht. In einem Brief aus dem Zuchthaus in Naugard vom 3./4. Februar 1850 an seine Frau, äußert sich Kinkel auch in Erinnerung an seine eigenen Elegien positiv über Goethes Zylkus und spricht von »jenen römischen Elegien, die zu den unverwelklichsten Blumen seines Kranzes gehören«.333 Anders als viele der bisher behandelten Gedichte, sind die Elegien im Norden nicht im Maikäfer-Heft und auch nicht in der ersten Ausgabe der Gedichte (1843) gedruckt worden, was insofern verwundert, als Kinkel die Elegien immer wieder in Briefen unter seine besten Dichtungen rechnet. Publiziert wurde der Zyklus zum ersten Mal in der von Johanna besorgten zweiten Auflage (1850) der Gedichte (G II, S. 135–171).334 Entstanden sind die Elegien aber bereits im Sommer 1840, als Kinkel und die damals noch mit Johann Paul Mathieux verheiratete Johanna sich gut ein Jahr kannten. In einem Brief an Johanna vom 15. August 1840 erwähnt Kinkel: »Besseres als diese Elegien habe ich wohl noch nicht geschrieben.«335
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Sehr instruktiv zusammengefasst die Begriffe Intertextualität und Dialogizität von Bachtin über Kristeva bis Genette und Lachmann bei Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, in: Ders., Ulrich Broich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 35), S. 1–30, hier S. 17–26. Zur Signifikanz und Verbreitung von Liebeslyrik-Zyklen in der Restaurationszeit liegt ein überblicksartiger Beitrag von Martin Lindner vor, in dem auch Kinkels Elegien – allerdings mit einigen fehlerhaften Angaben – erwähnt werden, worauf noch einzugehen ist, vgl. Martin Lindner: »Noch einmal«: Das tiefenpsychologische und künstlerische Konservieren der Erinnerung an den »Liebesfrühling« in Liebeslyrik-Zyklen 1820–1860, in: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Hg. von Michael Titzmann. Tübingen 2002 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 92), S. 39–77. Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 830. Hierzu besonders der Brief von Johanna an Kinkel vom 26. Januar 1850, abgedruckt in Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 2, 2008, S. 812. Klaus, Liebe treue Johanna, Bd. 1, 2008, S. 56.
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Einerseits stellen die Gedichte gerade aufgrund ihrer intertextuellen Gesamtanlage fiktionale literarische Kunstprodukte dar. Andererseits aber weisen gerade der Untertitel, An Johanna, und die deutlich autobiographisch gefärbten Passagen auch auf den emprischen Autor Kinkel zurück, der als Sprecher hier oftmals zu identifizieren ist und identifiziert werden soll. Der Titel Elegien im Norden spielt freilich auf die Erstpublikation von Goethes Römischen Elegien, die im Juliheft von Schillers Horen 1795 unter dem Titel Elegien. Rom 1788 erschienen und erst im siebten Band von Goethe’s neuen Schriften von 1800 dort – allerdings nur im Inhaltsverzeichnis – als Römische Elegien bezeichnet wurden. Die Anlehnung an Goethes Zyklus wird also bereits im Titel kontrafaktorisch gebrochen, indem explizit auf den Entstehungs- und Bedeutungsraum dieser Dichtungen hingewiesen wird. Kinkel spielt damit freilich auch auf die lange Zeit verbreitete und wohl auch von ihm noch angenommene Meinung an, die Goetheschen Elegien seien tatsächlich in Rom entstanden.336 Als intertextueller Bezug zu Goethe erscheint auf den ersten Blick auch der Untertitel, der Kinkels Elegien als Frauenpreis charakterisiert wie auch Goethes Dichtungen als Preislieder seiner jungen Geliebten römischen Faustina zu verstehen sind.337 Doch auch hier wird der Prätext kritisch rezipiert. Der jungen, mit betont weiblich-erotischen Zügen beschriebenen goetheschen Liebesgefährtin und gepriesenen Faustina mit ihrem offensichtlich fiktiven Namen338 wird eine – wenngleich an Jahren noch junge – reife, charakterstarke Johanna gegenüberstellt, was gleich in der ersten Elegie aufgegriffen und herausgestellt wird (G II, S. 137–138): 1
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Nicht im schwächlichen Laut romantischen Reimegeklingels Hallt dein Preis mir hinfort, klassiche unter den Frau’n! Nicht wie ein liebliches Kind mit zätlich schmachtendem Auge, Das mit des Schweigens Gewalt zaubrisch verwundet das Herz – Nicht wie die träumende Blume noch halb umhüllt von der Knospe, Nein, im vollesten Duft stehst du, ein herrliches Weib!
Die Literatur zu Goethes Römischen Elegien ist umfangreich; im Folgenden wird nur auf für den jeweiligen Zusammenhang wichtige Studien verwiesen. Zur Entstehungsund Publikationsgeschichte vgl. die immer noch grundlegende Arbeit von Dominik Jost: Deutsche Klassik. Goethes »Römische Elegien«. Pullach bei München 1974, zu den Goethe-Ausgaben des 19. Jahrhunderts bes. S. 36; bei Jost auch ein Paralleldruck der Handschriftenfassung und Horenausgabe samt dem Abdruck der sogenannten »Priapeen«, die aus der ursprünglichen Elegiensammlung Erotica Romana auch für den Horen-Druck von Goethe getilgt wurden (Handschriften H50 und H51); einen synoptischen Abdruck bietet sowohl die Münchner als auch die Frankfurter Goetheausgabe, auf den Kommentar und Text der letzteren sei verwiesen, aus ihr stammen auch im Folgenden die Zitate aus Goethes Römischen Elegien, jeweils freilich nach dem Erstdruck, vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Römische Elegien, in: Gedichte 1756–1799. Hg. von Karl Eibl. (Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hier I. Abt., Bd. 1.) Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 18), S. 392–441, Kommentar S. 1085–1129. Vgl. hierzu Jost, Deutsche Klassik, 1974, S. 25. Vgl. ebd., S. 19.
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Mag dich die Masse verschmähn, weil dir die erschaffende Mutter Gab für die Farbe die Form, gab für die Fülle die Kraft: Aber Wem sich entzündet der Sinn für Macht des Charakters, 10 Der auf die leibliche Form prägt den gewaltigen Druck; Wer, ein Paris nicht, doch ein hochverständ’ger Odysseus Oder ein starker Achill Pallas für Venus erwählt: Diesem wendest das Herz du im Busen, wenn du zur Seite Halbgewendet dich zeigst, sendend in’s Ferne den Blick! 15 Dann verbreitet das Haar sich spielend zum wallenden Helmbusch, Aus dem saphirenen Aug’ schießen die Pfeile hervor; Gleich als hielte die Hand ein Schwert, so fest und entschlossen Trotzend der feindlichen Macht blickst du auf ’s Lebensgewühl. Also schaut’ ich dich gestern: es lachte die mächtige Stirne 20 Und aus der Brauen Gewölb hüpften die Scherze heraus.
In der Verbindung von Johanna mit Pallas und eben nicht mit Venus ist bereits ein wesentlicher Kunstgriff der Elegien genannt, der in beinahe allen weiteren wieder aufgegriffen wird: die Stilisierung des Paares Kinkel und Johanna – bzw. des Sprechers und Johanna – zu einem Künstlerpaar, dessen verbindende Basis das gemeinsame Kunstinteresse bildet. Durch die Beziehung wird auch die künstlerische Produktivität von beiden gesteigert. Anders bei Goethes Elegien, in denen gerade das venushafte Schönheitsideal der Faustina hervorgehoben wird und das Sinnlich-Erotische der Beziehung im Vordergrund steht. Die angebetete Faustina selbst dagegen ist bei Goethe nicht als künsterlische Figur charakterisiert, sondern dient dem Dichtenden lediglich als Inspiration. Gleichwohl sind beide Beziehungen zu diesen unterschiedlichen Frauen als Rückzugsmöglichkeit vor der als feindlich und bedrohlich empfundenen Welt charakterisiert. So heißt es in Kinkels zweiter Elegie (G II, S. 139): 5
Mit dir Arm in Arm, von dem fliegenden Geiste getragen, Heiter vom Scherz umspielt, trotzt’ ich dem Grimme der Welt Aber ich beuge das Haupt dem furchtbar mächtigen Willen, Der die verwandte Natur doch für die Erde getrennt.
In Goethes zweiter Römischen Elegie ist die Geborgenheit bei der Geliebten verbunden mit einer Abgrenzung gegen den Norden und die dort erlebte höfisch-sozial kontrollierte Welt: 1
Ehret wen ihr auch wollt! Nun bin ich endlich geborgen! Schöne Damen und ihr Herren der feineren Welt; Fraget nach Oheim und Vettern und alten Muhmen und Tanten; Und dem gebundenen Gespräch folge das traurige Spiel. 5 Auch ihr übrigen fahret mir wohl in großen und kleinen Zirkeln, die ihr mich oft nah der Verzweiflung gebracht, Wiederholet politisch und zwecklos jegliche Meinung, Die den Wandrer mit Wut über Europa verfolgt. […] 15 Nun entdeckt ihr mich nicht so bald in meinem Asyle,
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Das mir Amor der Fürst königlich schützend verlieh. Hier bedecket er mich mit seinem Fittig. Die Liebst Fürchtet, römisch gesinnt, wütende Gallier nicht, Sie erkundigt sich nie nach neuer Märe, sie spähet 20 Sorglich den Wünschen des Mannes, dem sie sich eignete, nach, Sie erfreut sich an ihm, dem freien rüstigen Fremden, Der von Bergen und Schnee, hölzernen Häusern erzählt […].339
Nach den einleitenden Versen in Kinkels zweiter Elegie im Norden werden der Sprecher als Dichter (V. 23–28) und die Angesprochene, Johanna, als Sängerin und Komponistin vorgestellt (V. 29–32), die zusammen als Künstlerpaar erscheinen: »Dann ein Doppelgestirn, die Lichte freudig vermischend, / Singen wir leicht durch die Welt, jeder dem andern zur Lust.« (V. 39–40). Verständlich wird die beschriebene und ›natürliche‹ Trennung der Liebenden in Vers sechs bis sieben der zweiten Elegie, wenn man berücksichtigt, dass Kinkel und Johanna zu diesem Zeitpunkt eben noch nicht verheiratet waren. Gleichwohl wird in die Zukunft ein Zusammenleben projeziert und dichterisch imaginiert, das seine Verwriklichung ja dann tatsächlich in der Eheschließung im Mai 1843 finden sollte (G II, S. 141–142): 61 Eh sie sich wandernd erschaun und als ebenbürtig erkennen, Feßl’ ihr Dasein streng stählerne Kette der Pflicht. Dann, wenn ernsteres Alter sie warnt vor kindischem Leichtsinn, Bringt sie zusammen der Pfad, den sie sich selber gewählt. 65 Er mit besonnenem Wort wird ihre Seele durchschüttern Und aus der stöhnenden Nacht heben an den sonnigen Tag. […] 71 Fest dann ruh’ er in Lieb’ und Achtung tüchtiger Freundin, Die ihm sein besseres Selbst zeigt in verklärendem Schein! Schwesterlich ist sie ihm nah: sie giebt ihm Mark der Gedanken, Wenn ihm die eigene Kraft, Lehre verspendend, versagt. 75 Oder tobt in der Brust ihm fressender düsterer Unmuth, Zaubert ihr Ton und Gesang schönere Welten ihm her. Geistig walte die Ehe, und zahllos hege sie Kinder: Lieder der Milde und Kraft, paarend das Wort und den Ton!
Deutlich ist hier gegenüber dem goetheschen Prätext eine Enterotisierung der beschriebenen Beziehung zu beobachten, die zudem von der zugrundeliegenden Zeitstruktur noch versärkt wird: imaginieren Kinkels Elegien im Norden eine verheißungsvolle und erfüllte Zukunft, so beschwören Goethes Römische Elegien eine – zum Zeitpunkt der Niederschrift schon vergangene – sinnlich-erotische Gegenwart als Zusammensein mit Faustina.340 Der bei Kinkel zugrunde liegende Liebesbegriff ist nicht mehr ein goethezeitlich individueller, sondern Liebe erscheint hier als »letzt-
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Goethe, Römische Elegien, 1987, S. 397. Sehr erhellend und knapp in diesem Zusammenhang der Beitrag von Wolfgang Riedel: Eros und Ethos. Goethes Römische Elegien und Das Tagebuch, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 147–180, bes. S. 162–167.
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lich unpersönlicher, immer neu sich wiederholender Naturprozeß«,341 der mit der Ehe in vernünftige und ›enterotisierte‹ Bahnen gelenkt werden soll. Auffällig ist, dass bei Kinkel die zentralen Stellen seines Gegenentwurfs zu Goethes Liebes- und Erotikauffassung gerade in der dritten Elegie zu finden sind. Entsprechend steht in Goethes dritter Elegie die Verteidigung von Faustinas Verhalten, ihrer schnellen Hingabe an die die Erfüllung der Leidenschaft im Mittelpunkt. Die wichtigsten Stellen seien hier gegenübergestellt, zunächst jene aus Goethes dritter Elegie: 7
Laß dich, Geliebte, nicht reun, dass du so schnell dich ergeben, Glaub’ es, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von dir. Vielfach wirken die Pfeile des Amors, denn einige ritzen 10 Und vom schleichenden Gift kranket auf Jahre das Herz; Aber mächtig befiedert, mit frisch geschliffener Schärfe, Dringen die andern ins Mark, zünden auf einmal uns an. In der heroischen Zeit, da Götter Göttinnen liebten, Folgte Begierde dem Blick, folgte Genuß der Begier: 15 Glaubt du, es hätte sich lange die Göttin der Liebe besonnen, Als im Idäischen Hain einst ihr Anchises gefiel?342
Kinkel dritte Elegie konterkarriert diese Liebesauffasung und stellt ihr »Entstagung« und Zurückhaltung von Leidenschaften zugunsten einer geistigen Verbundenheit gegenüber. Hingegen wird die Erfüllung der Leidenschaften ebenfalls ›vergeistigt‹ und ins Jenseits verlegt (G II, S. 143–144): 1
Irdischem Leben gesetzt ist ein Losungswort: die Entsagung! Und kein härteres Wort nennt dir der menschliche Laut. Stammelnd lernt es die Lippe, die bleiche: doch immer aufs Neue Muß sie es lernen, denn ach, ach sie vergißt es zu gern! […] 13 Hör’ es und schaudre vor Lust: die Ewigkeit bringt die Gewährung Und kein süßeres Wort nennt dir der menschliche Laut. 15 Einst wird fallen die Hülle, die nebelhaft um des Geistes Wetterleuchten sich legt und um des Herzens Erglühn. Was als reines Gefühl du trugst durch die Stürme der Erde, Was du in Treue geminnt, los vom begehrenden Wunsch: Das wirst ganz du besitzen, wenn frei der Geist mit dem Geist 20 Heilig und sündlos tauscht, was in den Tiefen ihm brennt.
Beständigkeit wird gegenüber dem Nachgeben des Augenblicks favorisiert und die reife, vernünftige Liebe als Vorbild und Zukuntprojektion gewählt. Besonders deutlich wid dies in der siebten Elegie von Kinkel (G II, S. 156): 1
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Weithin schau’ ich hinaus in die dunstigen Neben der Zukunft. Vor dem prophetischen Blick hebt sich die schlummernde Zeit. Folge mir, fliege voran, du hellbegeisternde Freundin!
Lindner, Liebeslyrik-Zyklen, 2002, S. 39. Goethe, Römische Elegien, 1987, S. 399.
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5
Nie von dir ja getrennt leuchtet das Künftige mir. Alles schaust du gewandelt: es blich uns beiden die Locke, Müd schon strauchelt der Fuß, langsamer kreiset das Blut. Aber die Lieb’ ist treu; nicht kann das Herz sich verwandeln, Ewig ruhest du mir in der verschwiegenen Brust.
Das gealterte, von Leidenschafte befreite Liebespaar als Ideal steht in metatextueller Hinsicht nicht nur der bei Goethe postulierten Apotheose des Augenblicks gegenüber, sondern weist auch paratextuelle Bezüge zu dem Kinkels Elegien im Norden vorangestellten Motto auf. Dieses nun stammt aus dem Buch der Sprüche aus Goethes Alterswerk West-Östlicher Divan und war als Motto auch dem Vorabdruck des Werkes im Morgenblatt für gebildete Stände vom 22. März 1819 vorangestellt: Die Flut der Leidenschaft sie stürmt vergebens An’s unbezwungne feste Land – Sie wirft poetische Perlen an den Strand Und das ist schon Gewinn des Lebens.343
Zwischen dem Motto von Kinkels Elegien, das eines der Hauptthemen des Zyklus’ – die leidenschaftslose Altersliebe – vorwegnimmt, und dem maßgeblichen Prätext für die Elegien selbst (Goethes Römische Elegien) wird also insofern ein ebenfalls intertextueller Bezug hergestellt, als beide vom selben Autor stammen, aber gegensäztliche Positionen proklamieren. So zeigen Kinkels Elegien im Norden eine intensive Auseinanersetzung mit dem (lyrischen) Werk Goethes, das als Prätext präsent bleibt, dessen intertextuelle Verarbeitung aber vielfach und kritisch gebrochen erscheint.
343
Hier zitiert nach der Frankfurter Ausgabe: Johann Wolfgang von Goethe: West-Östlicher Divan. Teil 1. Hg. von Hendrik Birus, in: Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hier I. Abt., Bd. 3/1 Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek Deutscher Klassiker, Bd. 113), S. 67; vgl. auch den Kommentar in Teil 2 (= Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, hier I. Abt., Bd. 3/2 [s. o.], S. 1155).
291
IV.
Ausblick und Schlussbetrachtung
Selbst unter schwierigsten Bedingungen im Gefängnis und in den ersten Monaten des Exils hat Kinkel eine Erzählung (Die Heimatlosen) und einige Gedichte vollenden können. Doch war er nach seiner Amerika-Reise im Spätjahr 1851 bei Weitem nicht mehr so produktiv wie zuvor, was ein vergleichender Blick auf Kinkels dichterische Erzeugnisse vor und während der Revolution mit jenen aus dem Zeitraum 1852 bis zu seinem Tode offenbart. Gründe hierfür mögen zum einen in der belastenden und nicht viel Zeit für seine Dichtungen gewährenden Lebenssituation zu suchen sein, die von der Sorge um den Verdienst des Lebensunterhaltes beherrscht wurde. Zum anderen hatten sich, als Kinkel wieder auf eine Professorenstelle berufen worden und damit auch von zeitaufwendigen Vortragsreisen befreit worden war, mit der preußischen Vormachtsstellung in Deutschland und der Reichsgründung 1871 bisher für ihn zentrale Themen seiner Gedichte und Erzählungen gewissermaßen historisch erledigt. In seinem noch auf der Amerika-Reise entstandenen Gedicht Die künftige Poesie, das erst in die zweite Sammlung von 1868 aufgenommen wurde (G 2, S. 3–4) und diese eröffnet, knüpft Kinkel noch einmal an seine politischen Gedichte der 1840er Jahre und das schon in den Gedichten Mit Bürger’s Gedichten und Zum Eingang aufgegriffene Thema der liedhaften Lyrik und dem Gedicht als Beitrag politischer Auseinandersetzungen zurück. Der kämpferische Charakter des Textes wird kombiniert mit der Zukunftsvision einer neuen »jungen Dichtung« (V. 28), die sowohl als Produkt einer neuen Zeit beschrieben wird als auch deren Verkünderin sein soll. 1
5
Sollt uns nicht als Dichter feiern! Unsre Lieder fraß der Brand, Und die Saiten von den Leiern Riß des Krieges Eisenhand. Sang und Klang deckt mit den Todten Rastatt’s Wall und Ungarns Ried: In den Kerkern der Despoten Liegt begraben unser Lied. […]
25
292
Wenn das Volk, das thatenfrohe, Ausruht von dem Siegeslauf, Dann erst, dann erst aus der Lohe
30
35
40
Steigst du, junge Dichtung, auf: Die das Tuch mit unserm Blute Auf der Bühne kühn enthüllt, Mit der Väter Opfermuthe Noch die Brust des Enkels füllt. Angestammt von Morgenröthen Schaut dich mein Prophetensinn! Schleuderst Blitze, welche tödten, Göttliche Spartanerin! Auf dem Säulenstumpf von Thronen Lehnt die Harf ’ am nackten Knie – Tochter freier Nationen, Gruß dir, junge Poesie!
In anderen Gedichten wiederum verarbeitet Kinkel seine Exilsituation, die er aufgrund seiner Behandlung und seines Verbrecherstatus’ in der Heimat als »Verbannung« empfindet.1 Im Widmungsgedicht An mein Vaterland,2 das dem 1857 zuerst publizierten Trauerspiel Nimrod vorangestellt ist,3 wird sowohl eine bittere Anklage gegen das Vaterland vorgetragen (V. 41–48) als auch auf dessen Verlust hingewiesen, den es durch die Verbannung seiner schöpferisch tätigen Geister erleidet: 41
45
O Heimath, die statt Bürgerrechten Du Wunden gabst und Ketten schufst, Wir werden nichts von dir begehren, Bis selbst du unsre Stärke rufst. Und doch, ob du uns rauh vertrieben Aus deinem lebenswarmen Schooß, Wir werden ewig, ewig lieben Dich, deutsche Mutter, schön und groß.
[…]
60
1
2 3
Was wir im fremden Lande schaffen, Es ward von deinem Mark genährt; Du schmiedest unsres Sieges Waffen Auf deinem ewig wachen Herd. Uns stärkt zur Abendfeierstunde
Zur Exilliteratur bzw. Exilgedichten nach der Revolution von 1848/49 liegt, soweit ich sehe, keine zusammenfassende Darstellung vor. Im größeren Rahmen auch des frühen 19. Jahrhunderts und ausgehend von Heines Gedichten Lebensfahrt und Libelle skizziert Norbert Otto Eke Grundzüge vormärzlicher Exiltexte, vgl. Norbert Otto Eke: »Wie fern der Heimath! Mein Herz wie schwer!« Vormärz und Exil – Vormärz im Exil, in: Vormärz und Exil. Vormärz im Exil. Hg. von Norbert Otto Eke und Fritz Wahrenburg. Bielefeld 2005 (Forum Vormärz Forschung; Jahrbuch 10, 2004), S. 13–30. Das Gedicht wurde auch gedruckt in Kinkels zweiter Gedichtsammlung, G 2, S. 49–52. Vgl. dort Gottfried Kinkel: Nimrod. Ein Trauerspiel. Hannover 1857, S. 5–10.
293
Des deutschen Freundes tiefes Wort, Und hell aus unsrer Kinder Munde Klingt deutsches Lied uns fort und fort. 65
70
Wenn wir die Harfen höher spannen, Trunken von unsres Rheines Wein, Genug, wenn wir den Preis gewannen, Als Sänger deiner Werth zu sein. Mit Gold mag uns die Fremde lohnen, Du giebst der Locken stolzre Zier Einst fordern unsre Bürgerkronen Und heut den Lorber wir von dir!
Nur auf den ersten Blick scheinen das auf einen aktuellen Anlass verweisende Gedicht und der Stoff des nachfolgenden Trauerspiels um den alttestamentarischen babylonischen Herrscher Nimrod wenig miteinander zu tun zu haben. Doch bereits die Zeitgenossen sahen in Kinkels Drama mit seiner als »gewaltiger Jäger« und »Tyrann« in die Literaturgeschichte eingegangenen Hauptfigur durchaus Zusammenhänge mit der eigenen Gegenwart. Nicht nur, weil im Mittelpunkt des Dramas immer wieder die Themen persönliche Freiheit, Freiheit der Völker und politische Entwicklungen und Konstellationen, die zur Unfreiheit führen, stehen. Nimrod tritt auch als Vermittler in einer Grenzfrage auf und seine Entscheidung führt zu einer territorialen Neuordnung zwischen dem Hirtenvolk der Chaldäer und den historisch zunächst als Nomaden fassbaren Assyrern. Eine eingehende Untersuchung des Dramas müsste indessen nicht nur der von Ernst Ziel unterstellten »demokratischen Tendenz«4 des Stückes nachgehen. Zu berücksichtigen sind auch die aus Nimrods Schiedsspruch zugunsten der Assyrer ableitbaren Verweise auf zeitgenössische Diskussionen über staatliche Okkupationen und imperialistischer Bestrebungen verschiedener europäischer Staaten, die sich auch in Kinkels Londoner Wochenschrift Hermann finden:5 [Nimrod:] Doch Freiheit für den Mann, Gras für sein Vieh. Hier, wo der Pflug ernährt ein dicht Geschlecht, Hier hat die Heerde eingebüßt ihr Recht. So will’s Natur: Nicht dem gehört das Land, der es ererbt – nein, es gebührt der Hand, Die es erobert, weil sie es bebaut.6
In einer der letzten Dichtungen, die zu einer Reihe von Gedichten auf den Tod von Kinkels erst zwölfjähriger Tochter Gerda, die im Spätjahr 1879 erkrankte und kurz darauf im November starb, gehören, schlägt Kinkel einen sehr persönlichen Ton 4 5 6
Ernst Ziel: Gottfried Kinkel, in: Die Gartenlaube 1883, S. 80–83, hier S. 83. Darauf hat schon Alfred De Jonge, Gottfried Kinkel as political and social thinker, 1966, S. 82–88, hingewiesen und die wichtigsten Beiträge zusammengestellt. Kinkel, Nimrod, 1857, S. 27.
294
an, nutzt aber das Gedicht auch zur Thematisierung der damals gerade kontrovers diskutierten Einführung der Feuerbestattung. Das erst 1890 zusammen mit vier weiteren Gedichten auf Gerdas Tod aus dem Nachlass publizierte Trauergedicht7 stellt also das Ergebnis einer gewandelten Trauer- und Bestattungskultur dar: 1
Den Myrthenkranz ums Haupt, in Blumenfülle Ruhst Lilie du im weißen Mädchenkleid, Und leis entfärbt sich schon die zarte Hülle, Dem unerbittlichen Zerfall geweiht!
5
O könnt’ ich nur dich vor dem Moder retten, Der langsam und entstellend dich verzehrt, Und dürft ich dich, solang du schön noch, betten Mit Vaterarmen auf den Flammenherd!
Die Gluthen lösten rasch die jungen Glieder, 10 Du stiegst, ein Wölkchen, auf zu Licht und Luft, Du schwebtest bald auf Wald und Wiesen nieder Und hauchtest neu in junger Blumen Duft. In kleiner Urne könnten wir vereinen, Was dann als Erdenstaub von dir noch blieb – 15 Auf reine Asche fromme Thränen weinen, Für Vater und für Mutter, o wie lieb! Umsonst! Du sollst nicht frei zum Aether lodern, Gereinigt von der heil’gen Flamme Schwall! Dein Los ist, in dem feuchten Grund zu modern, 20 Und spät erst kehrst du wieder in das All!
Drei Jahre zuvor, am 7. Juni 1876, hielt Kinkel in Dresden die Eröffnungsrede des ersten Kongresses für die Feuerbestattung, die einen repräsentativen Querschnitt der von den Befürwortern der Kremation angeführten Argumente liefert, die sich auch – verkürzt – in seinem Totengedicht auf Gerda wiederfinden.8 Freilich geht er in seiner Rede ausführlicher auf technische Fragen der Verbrennung und den Krematoriumsbau sowie auf Aspekte der Hygiene und Nützlichkeit ein.9 Neben Jacob Grimms Rede von 1849,10 die als eines der frühesten Dokumente für die Feuerbestattung im 19. Jahrhundert gelten kann, nimmt auch Kinkels Dresdner Rede innerhalb der seit 1870 stetig und explosionsartig ansteigenden Zahl von
7 8 9 10
Abgedruckt unter dem Titel: Nachgelassene Gedichte von Gottfried Kinkel (Gerda), in: Die Gartenlaube 1890, S. 237–238; das vorgestellte Gedicht S. 238. Vgl. Gottfried Kinkel: Für die Feuerbestattung. Vortrag gehalten zur Eröffnung des europäischen Congresses für Feuerbestattung. Dresden 7. Juni 1876. Berlin 1877. Vgl. ebd., S. 5, 7 und 11–12. Vgl. Jacob Grimm: Ueber das Verbrennen der Leichen. Eine in der Academie der Wissenschaften am 29.11.1849 gehaltene Vorlesung. Berlin 1850.
295
schriftlichen Zeugnissen einen prominenten Platz zum Thema ein. Allein zwischen 1874 und 1880 sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – 386 Titel zur Frage der Feuerbestattung nachweisbar.11 Dass Kinkel selbst bei einem Gedicht, dessen Anlass in erster Linie rein privater Natur war, aktuelle zeitgenössische Fragen einbezieht und thematisiert, führt zum Ausgangsthese dieser Arbeit zurück. Es konnte nachgewiesen werden, dass selbst die frühen Gedichte, Erzählungen und publizistischen Schriften Kinkels äußerst sensibel und anspielungsreich auf die politischen, sozialen und religiösen Zustände ihrer jeweiligen Entstehungszeit reagieren und entsprechend von Kinkels freilich im Laufe der Zeit gewandelten politischen Überzeugungen eine Botschaft transportieren. An den Texten ließen sich also zwei wesentliche Aspekte nachweisen: Zum einen dokumentieren sie Kinkels Wandel vom national gesinnten Liberalen und Konstitutionellen zum demokratischen Republikaner. Zum anderen zeigt sich in ihnen die große Aufmerksamkeit ihres Autors für politische und soziale Zeitfragen und gleichzeitig ein ausgeprägtes literarisches Formenbewusstsein. Das von der älteren Forschung gerade über Kinkels Gedichte verhängte Epigonalitätsverdikt konnte mit Überlegungen zur intendierten Anlehnung an ältere Formensprachen und deren Instrumentalisierung im Dienste neuer Intentionen ebenso entkräftet werden wie insgesamt und erstmals eine literarhistorisch ausgerichtete Einordnung und Interpretation von Kinkels Texten vorgenommen wurde.
11
Vgl. die Angaben bei Rolf Thalmann: Urne oder Sarg? Auseinandersetzungen um die Einführung der Feuerbestattung im 19. Jahrhundert. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1978, bes. S. 13–15; ferner zur Kremation in Deutschland – dessen erste Krematorium 1878 in Gotha in Betrieb genommen wurde – am Beispiel Hamburgs Norbert Fischer: Technik, Tod und Trauerkultur. Zur Einführung der Feuerbestattung in Hamburg 1892, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 79 (1993), S. 111–132, bes. S. 111–119.
296
Literaturverzeichnis
Hinweis zur abgekürzt zitierten Literatur: Die einzelnen Werke Kinkels werden wie alle anderen Angaben in der ersten Nennung vollständig, danach dann mit Namen, anzitiertem Titel und Jahr angegeben. Lediglich die Gedichte werden nicht in den Fußnoten nachgewiesen. Nach der Titelnennung folgt im Fließtext in Klammer die Angabe der jeweiligen Ausgabe von Kinkels Gedichten (G), wobei sich die aufsteigenden römischen Zahlen (I–VI) auf die Auflagen beziehen. Dagegen verweist die Abkürzung »G 2« auf Kinkels zweite Gedichtsammlung (1868).
1
Werke Gottfried Kinkels
1.1
Briefe und Textausgaben
Bebler, Emil (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Kinkel. Ihre persönlichen Beziehungen auf Grund ihres Briefwechsels. Zürich 1949. Brandt, Ulrike, Astrid Kramer, Norbert Oellers, Hermann Rösch-Sondermann (Hg.): »Der Maikäfer. Zeitschrift für Nichtphilister.« 4 Bde. Bonn 1982–1985 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bde. 30–33). Enders, Carl: Gottfried Kinkel im Kreise seiner Kölner Jugendfreunde. Nach einer beigegebenen unbekannten Gedichtsammlung. Bonn 1913 (Studien zur rheinischen Geschichte, Bd. 9). Ennen, Edith (Hg.): Unveröffentlichte Jugendbriefe Gottfried Kinkels 1835–1838. Nebst einem Anhang späterer Briefe von G. und J. Kinkel und eines Briefes von E.M. Arndt über Kinkel, in: Bonner Geschichtsblätter IX (1955), S. 37–121. Kinkel, Gottfried: Die Ahr. Eine romantische Wanderung vom Rheintal in die Hohe Eifel. Neue, bearbeitete Ausgabe nach der 1849 in Bonn erschienenen zweiten Auflage »Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende. Mit zwanzig Stahlstichen nach Originalzeichnungen«. Eingeleitet und herausgegeben von Hermann Kochs. Köln 1967. Kinkel, Gottfried: Meine Kindheit. Meine Schuljahre. Bonn-Oberkassel 1982 (Schriftenreihe des Heimatvereins Bonn-Oberkassel e.V., Bd. 4). Kinkel, Gottfried: Nachgelassene Gedichte (Gerda), in: Die Gartenlaube 1890, S. 237–238. Kinkel, Gottfried: Otto der Schütz. Eine rheinische Geschichte in 12 Abenteuern. Hg. mit einer Einleitung v. Max Mendheim. Leipzig o.J. [1920?] (Reclams Universal-Bibliothek, 5494). Kinkel, Gottfried: Selbstbiographie 1838–1848. Hg. von Richard Sander. Bonn 1931 (Veröffentlichungen aus der Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Bonn). Kinkel, Gottfried: Verteidigungsrede vor dem Rastatter Kriegsgericht am 4. August 1849. München 1912 (Vorkämpfer deutscher Freiheit, Heft 36), S. 9–29.
297
Kinkel, Gottfried: Verteidigungsrede vor den Cölner Assisen, in: Der Zug der Freischärler unter Kinkel, Schurz und Annecke behufs Plünderung des Zeughauses in Siegburg nebst Kinkel’s Vertheidigungsrede vor den Assisen in Cöln. 2. Auflage. Bonn 1886 (Aus der rheinischen Geschichte, Bd. 8), S. 28–32. Klaus, Monica (Berarb.): Liebe treue Johanna! Liebster Gottit! Der Briefwechsel zwischen Gottfried und Johanna Kinkel 1840–1858. 3 Bde. Bonn 2008 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 67–69). Rösch, Hermann (Hg.): Gottfried Kinkel. Dichter und Demokrat. Mit einem Geleitwort von Klaus Kinkel. Königswinter 2006.
1.2
Schriften
Historisch-kritische Untersuchung über Christi Himmelfahrt, in: Theologische Studien und Kritiken. Eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie 14 (1841), S. 597–634. Die Auswanderungen aus dem Ahrthal und der Eifel, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 135 vom 15. Mai 1842, S. 1074–1076. Gedichte. Stuttgart, Tübingen 1843. Die moderne Dichtung, in: Augsburger Allgemeine Zeitung (Beilage), Nr. 98 (8.4.1843), S. 741–742, Nr. 99 (9.4.1843), S. 749–750, Nr. 347 (13.12.1843), S. 2725–2728, Nr. 349 (15.12.1843), S. 2741–2743, Nr. 350 (16.12.1843), S. 2749–2750. Kunstausstellung in Düsseldorf, in: Augsburger Allgemeine Zeitung 22./23.9.1843, S. 2070– 2072, 2078–2080. Otto und Adelheid, in: Niederrheinisches Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Poesie 1 (1843). Hg. von Laurenz Lersch, S. 342–359. Margret. Eine Geschichte vom Lande, in: Vom Rhein 1 (1847), S. 143–188. Die rheinische Kirchenbaukunst des dreizehnten Jahrhunderts, vorzüglich im Kölner Oberstift, in: Niederrheinisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 2 (1844), S. 313–340. Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende. Bonn 1846. Otto der Schütz. Eine rheinische Geschichte in elf Abenteuern. Stuttgart, Tübingen 1846. Über den verschiedenen Charakter der antiken und modernen Kunst, in: Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande X (1847), S. 109–141. Handwerk errette Dich! Oder Was soll der deutsche Handwerker fordern und thun, um seinen Stand zu bessern? Bonn 1848. Die Ahr. Landschaft, Geschichte und Volksleben. Zugleich ein Führer für Ahrreisende. Mit zwanzig Stahlstichen nach Originalzeichnungen. Bonn 1849. Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel. Stuttgart 1849. Der Führer durch das Ahrthal. Nebst Beschreibungen der Städte Linz, Remagen und Sinzig. Bonn 1849. Gedichte. 2., vermehrte Auflage. Stuttgart, Tübingen 1850. Verteidigungs-Rede des Dr. Gottfried Kinkel vor dem Preußischen Kriegsgericht zu Rastatt am 4. August 1849. Berlin 1850. Vertheidigungsrede vor den Kölner Assisen. Dritte Auflage. Berlin 1850. Weltschmerz und Rococo. Ein Zeitbild, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Kunst und Leben 1 (1850), S. 182–202. Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel. 2., unveränderte Auflage. Stuttgart 1851. Nimrod. Ein Trauerspiel. Hannover 1857. Festrede bei der Schillerfeier im Krystallpalast. 10. November 1859. London 1859. Festrede auf Ferdinand Freiligrath. Gehalten zu Leipzig am 6. Juli 1867. Leipzig 1867. Gedichte. Zweite Sammlung. Stuttgart 1868.
298
Polens Auferstehung die Stärke Deutschlands. Wien 1868. Die Gypsabgüsse der Archäologischen Sammlung im Gebäude des Polytechnikums in Zürich. Zürich 1871. Meine Kindheit, in: Die Gartenlaube 1873, S. 455–458, 470–473, 500–502, 520–522. Meine Schuljahre, in: Die Gartenlaube 1873, S. 44–47, 97–100, 178–181, 209–211. Mosaik zur Kunstgeschichte. Berlin 1875. Für die Feuerbestattung. Vortrag gehalten zur Eröffnung des europäischen Congresses für Feuerbestattung. Dresden 7. Juni 1876. Berlin 1877. Gegen die Todesstrafe und das Attentat, sie in der Schweiz wieder einzuführen. Vortrag gehalten im December 1878 in zwei Zürcher Ausgemeinden. Zürich 1879. Nimrod. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Für die Bühne umgearbeitet von dem Verfasser. Leipzig 1879. Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel. Dritte durchgesehene Auflage. Stuttgart 1883. Tanagra. Braunschweig 1883.
2
Quellen und Textsammlungen
Abegg, Julius: Lehrbuch der Strafrechts-Wissenschaft. Neustadt a.d. Orla 1836. Allgemeines Deutsches Kommersbuch. Ursprünglich herausgegeben unter musikalischer Redaktion von Friedrich Silcher und Friedrich Erk. [hier]127.–135. Auflage. Lahr / Baden 1925. Althaus, Friedrich: Beiträge zur Geschichte der deutschen Colonie in England, in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart N.F. 9 (1873), S. 225–245. Althaus, Friedrich: Erinnerungen an Gottfried Kinkel, in: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift XXIV (1883), S. 227–244. Anonymus (Rez.): Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 2 (Beilage) vom 2. Januar 1850, S. 42–44 und Nr. 4 vom 4. Januar 1850, S. 57–58. Anonymus: Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 54 vom 4. März 1850, S. 214–215. Anonymus: Gottfried und Johanna Kinkel, in: Europa. Chronik der gebildeten Welt Nr. 1 vom 2. Januar 1850, S. 8. Anonymus: Das Itzsteinfest zu Mannheim, am 22. September 1844. Mit dem Brustbilde Abrahams von Itzstein, in: Deutsches Taschenbuch 1 (1845), S. 57–102. Anonymus (Rez.): Otto der Schütz, Cotta 1846, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 313, vom 9.11.1847, S. 1249. Anonymus: Die Todesstrafe, in: Die Gegenwart 1 (1848), S. 509–532. Anonymus (Rez.): Übersicht der neuesten poetischen Erzeugnisse, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 364, vom 29.12.1844, S. 1453–1455. Arndt, Ernst Moritz: Der Aulberg, wie muß er heißen?, in: Niederrheinisches Jahrbuch 1 (1843), S. 19–21. Arndt, Ernst Moritz: Wanderungen aus und um Godesberg. Bonn 1844. Auerbach, Berthold: Schwarzwälder Dorfgeschichten. 6 Bde. Stuttgart 1861. Baltisch, Franz [d.i. Franz Hermann Hegewisch]: Eigenthum und Vielkinderei. Hauptquellen des Glücks und Unglücks der Völker. Kiel 1846. Bekk, Johann Baptist: Die Bewegung in Baden von Ende Februar 1848 bis zur Mitte des Mai 1849. Mannheim 1850. Beta, H[einrich]: Ein Nichtamnestierter, in: Die Gartenlaube 1862, S. 21–41. Brandt, Hartwig (Hg.): Restauration und Frühliberalismus 1814–1840. Darmstadt 1979
299
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300
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Namenregister
Erfasst sind alle erwähnten historischen Namen
Abegg, Johann Friedrich Heinrich 73 Achenbach, Andreas 40 Adrian, Johann Valentin 103 Alexis, Willibald 18, 122 Althaus, Friedrich 77 Anne(c)ke, Carl Friedrich Theodor 70 Ariost 222 Arndt, Ernst Moritz 9, 38, 62, 65, 99, 186, 203, 256, 260, 284 Arnim, Achim von 106 Arnim, Bettine von 182 Aston, Louise 7 Auerbach, Berthold 106, 142, 144f., 279 Augusti, Johann Christian Wilhelm 49 Augustus, röm. Kaiser 269 Bader, Joseph 96 Baedeker, Gottschalk Dietrich 102 Baedeker, Karl 94, 96 Baltisch, Franz [d.i. Franz Hermann Hegewisch] 141 Bannasch, Karl-Heinz 2 Bassermann, Friedrich Daniel 57 Bauer, Bruno 112 Becker, Nikolaus 50f., 256 Beckstein, Ludwig 93 Beseler, Karl Georg Christoph 260 Beta, Heinrich 111 Bethmann-Hollweg, Moritz August von 53, 250 Beyschlag, Willibald 50, 52, 103 Bienek, Horst 271 Bismarck, Otto von 3, 84 Blaze de Bury, Baronin Marie Pauline Rose 133 Bleuler, Johann Ludwig 202 Blittersdorf, Friedrich Landolin Freiherr von 147 Blum, Robert 169 Blumenhagen, Wilhelm 93 Bodmer, Karl 202
Boegehold, Sophie 43 Boegehold, Wilhelm 43 Börne, Ludwig 18f., 25, 89, 279 Braun, Georg Christian 257 Braunthal, Johann Karl von 219 Brenner, Alexander 2 Brentano, Clemens 256f. Brockelmann, Ernst 76 Bunsen, Carl Josias von 182, 197 Burckhardt, Jakob 10, 49f., 52f., 250 Bürger, Gottfried August 166, 176–180, 292 Büsing, Friedrich 160 Camphausen, Ludolf von 57 Caracalla, röm. Kaiser 234 Carus, Carl Gustav 115 Celtis, Conrad 259 Chamisso, Adalbert von 164, 177 Claudius, Matthias 212 Clausewitz, Carl von 278 Constantin I. (der Große)., röm. Kaiser 236 Cornelius, Peter von 39 Cornelius, Wilhelm 93 Cotta, Johann Friedrich 6, 131, 142, 162, 218 Cranach, Lucas 3 D’Alton, Eduard 54 Dahlmann, Friedrich Christoph 57, 62 Dahn, Felix 212 De Velt, Theodor Hilgard 141 Deutsch, Israel 197 Dickens, Charles 77 Dietrich von Bern s. Theoderich Diezler, Johannes Jakob 202 Dingelstedt, Franz 25, 29 Dräxler-Manfred, Carl Ferdinand 103, 113 Dronke, Ernst 133
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Droste-Hülshoff, Annette von 56, 231 Droste-Vischering, Clemens August von (Erzbischof von Köln) 48, 185f. Duller, Eduard 93 Ebert, Karl Egon 224 Eichendorff, Joseph von 107 Eichhorn, Johann Friedrich Albrecht 54, 250 Eichhorn, Carl Friedrich 119 Einsiedel-Scharffenstein, Friedrich Hildebrand von 280, 282, 285 Engels, Friedrich 76–78 Falk, Johannes Daniel 280, 282, 285 Fallersleben, August Heinrich Hoffmann von 172, 212, 281 Fallmerayer, Jakob Philipp 62 Fay, Josef 163 Feuerbach, Ludwig 215 Ficker, Julius 128 Fiorillo, Johann Domenico 54 Follen, Karl 15 Fontane, Theodor 3, 46, 81 Forster, Georg 90 Fouqué, Friedrich Baron de le Motte 177, 249 Frankl, Ludwig August 219 Freiligrath, Ferdinand 7, 26, 29, 77, 80, 83, 96, 102, 169, 182, 192, 206f., 257f. Fresenius, Friedrich Carl 50 Frey, Ludwig 73 Friedrich II., staufischer Kaiser 223 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 38, 180–185 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 57, 62, 129, 180–198, 203 Friedrich, Caspar David 115 Fröbel, Julius 73 Gaius Marius, röm. Konsul 240, 244 Gaudy, Franz Freiherr von 244 Geibel, Emanuel 26, 49, 164, 212 Gervinus, Georg Gottfried 21–25, 27, 62 Geßner, Salomon 143 Gisebrecht, Wilhelm von 127–129 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 26, 179 Goegg, Armand 78 Goethe, Johann Caspar 90 Goethe, Johann Wolfgang von 3, 21, 25–28, 36, 89, 216f., 234f., 247, 255f., 265–267, 278–291 Görres, Joseph 185 Gottfried von Straßburg 223
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Gottschall, Rudolf 27f., 163, 284 Götzinger, Maximilian Wilhelm 163 Grabbe, Christian Dietrich 280 Grillparzer, Franz 236, 239 Grimm, Jakob 22, 62, 224, 292 Grimm, Wilhelm 119, 224, 248 Grünewald, Georg 141, 208 Gryphius, Andreas 31 Gutzkow, Karl 16, 18f., 25, 113, 123 Hagemann, Friedrich Gustav 224 Halem, Georg Anton von 90 Hamerling, Robert 29 Hartmann von Aue 119 Hasenclever, Johann Peter 40 Hasse, Leo 50 Hauff, Wilhelm 123 Haug, Ernst 78 Hebbel, Friedrich, 244, 249 Hebenstreit, Wilhelm 163 Hecker, Friedrich 63, 131, 147, 172f. Heeringen, Gustav von 93 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 216, 222, 278 Heine, Heinrich 14, 16, 89, 94, 102, 107, 115, 204, 228, 235, 258, 282 Heine, Wilhelm Joseph 40 Heinrich I., ostfränk. König 125–127 Heinrich II. (der Eiserne), Landgraf von Hessen 224 Heinrich von Veldeke 247 Heinse, Gottlieb Heinrich 224 Heinsius, Julius 269 Heinzen, Karl 25 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 42 Henne am Rhyn, Otto 31 Hensel, Fanny 7 Henß, Adam 60 Herder, Johann Gottfried 68, 119, 172, 216, 227f. Hermes, Georg 38 Herwegh, Georg 15f., 25f., 28f., 84, 107, 169, 172, 182, 190f., 259, 279 Herzog, Karl 27 Heuss, Theodor 57 Hey’l Ferdinand 9 Heydenreich, Ferdinand Friedlieb 27 Hildebrand, Rudolf 228 Hitler, Adolf 172 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 106 Höhn, Anna Katharina 266f. Homer 26 Horaz 187, 271 Humboldt, Wilhelm von 116, 185 Hus, Johann 41
Immermann, Karl 36, 91f., 184, 228, 279 Itzstein, Abraham von 147 Jacobi, Friedrich Heinrich 216 Jacoby, Johann 62, 191 Janssen, Peter 230 Jordan, Wilhelm 62 Kalischer, Zvi Hirsch 197 Kamphausen, Felix 271 Karcher, Friedrich Albert 133 Karl d. Große, fränk. König und Kaiser 113f., 129 Kaschnitz, Marie Luise 235 Kaufmann, Alexander 50, 103 Keller, Friedrich von 218 Keller, Gottfried 282 Kerner, Justinus 164 Kinkel, Elisabeth Johanna 30 Kinkel, Gerda 294f. Kinkel, Johann Gottfried Sen. 30f. Kinkel, Johanna (gesch. Matthieux, geb. Mockel) 6, 9, 11, 49, 51, 75, 77, 80–82, 104f., 107, 109, 111, 131, 162, 164–166, 210, 218, 225–227, 250, 285–289 Kinkel, Minna (geb. Werner) 11, 82 Kinkel, Sibylla Maria 30 Klopstock, Friedrich Gottlieb 187 Kobbe, Theodor 93 Konrad I., ostfränk. König 111, 114, 124f., 127, 130 Krummacher, Gottfried Daniel 33 Krupp, Alfred 3 Kugler, Franz 10, 53f., 250f. Kurz, Heinrich 22, 24, 29 Lachmann, Karl 119 Lalande, Joseph Jerôme 90 Laßberg, Joseph von 119 Laube, Heinrich 16 Lenau, Nikolaus 93, 219 Lerminier, Eugène 256 Lersch, Heinrich 203 Lessing, Carl Friedrich 40f., 46 Lessing, Gotthold Ephraim 216 Leue, Friedrich Gottlieb 170 Lewald, Fanny 7, 87 Lingg, Hermann 29 List, Friedrich 60–62 Longard, Sebastian 50 Lübke, Wilhelm 83 Lubojatzky, Franz 133 Luden, Heinrich 120, 125–127, 129
Ludwig I. (der Fromme), fränk. König und Kaiser 114 Ludwig IV. (das Kind), ostfränk. König 125 Luther, Martin 3 Marezoll, Theodor 73 Marmier, Xavier 256 Marquardsen, Heinrich 73 Martin, Henri 84 Marx, Karl 11, 76–78, 82 Matzerath, Christian 102 Maxentius, röm. Kaiser 234 Mayer, Philipp 163 Mazzini, Giuseppe 78 Meinecke, Friedrich 172 Mendelssohn, Benjamin Georg 57 Mendelssohn, Moses 216 Mengelberg, Otto 5, 163, 209, 231 Menzel, Wolfgang 25, 278, 283f. Mevissen, Gustav von 57 Meyer, Conrad Ferdinand 9, 68, 85 Meysenburg, Malwida von 7 Michiels, Joseph Alfred Alexandre 132 Mittermaier, Carl Joseph Anton 73, 171, 260 Mohr, Heinrich 107 Mörike, Eduard 26 Moritz, Karl Philipp 90 Mosen, Julius 219 Müller von Königswinter, Wolfgang 50, 206, 208 Müller, Adam 68 Müller, Otto 133 Müller, Wilhelm 259 Muncker, Franz 106, 136, 139 Mundt, Theodor 123 Nadler, Joseph 103 Napoleon I., Kaiser der Franzosen (Napoleone Bonaparte) 30, 96, 172, 244 Nebenius, Karl Friedrich 146f. Nerval, Gérard de 256 Nicolai, Friedrich 92, 94, 101 Nicolai, Gustav 44 Nicolovius, Georg Heinrich 184–186 Nietzsche, Friedrich 215 Nitzsch, Karl Immanuel 49 Nodier, Charles 96 Nose, Carl Wilhelm 202 Ortlepp, Ernst 219 Otto von Freisingen 249 Otto, Luise 133
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Ovid 269f. Palladio, Andrea 235 Perthes, Georg 57 Pfarrius, Gustav 29, 103 Pfau, Karl Ludwig 29 Pfitzer, Gustav 29 Pischon, Friedrich August 27 Pius VII., Papst 185 Platen, August Graf von 177 Plutarch 242 Prutz, Robert 89 Pyrker, Ladislaus 219 Rabener, Gottlieb Wilhelm 26 Ramler, Karl Wilhelm 26 Ranke, Leopold von 31, 52, 119 Raupach, Ernst 249 Redwitz, Oskar von 219 Reichardt, Johann Friedrich 90 Riehl, Wilhelm Heinrich 31, 97 Riesbeck, Johann Kaspar 89 Robbespiere, Maximilien de 280 Rollet, Hermann 269 Ronge, Johannes 78 Roquette, Otto 219 Rosenkranz, Karl 23 Roßmäßler, Emil Adolf 260, 262 Rotteck, Karl von 150, 154 Rousseau, Johann Baptiste 102 Rückert, Friedrich 164, 177, 212 Ruge, Arnold 11, 78, 106, 186f. Rumohr, Carl Friedrich von 52, 54 Savigny, Carl von 119 Schadow, Wilhelm von 39f., 46 Scheffel, Joseph Victor von 219 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 52, 216 Schenkendorf, Max von 256, 284 Schill, Ferdinand von 284 Schiller, Friedrich 179, 285, 287 Schinkel, Karl Friedrich 191 Schlegel, August Wilhelm 26, 54, 177 Schlegel, Friedrich 26, 113, 202 Schleiermacher, Friedrich 41f., 113 Schloenbach, Carl Arnold 50, 65, 133 Schlosser, Friedrich Christoph 119f., 129 Schmidt, Julian 24f., 27f. Schnaase, Karl 53f. Schnauffer, Karl Heinrich 173 Schneider, Ernst Gottlieb 224 Schopenhauer, Arthur 215 Schreiber, Aloys 202, 256 Schreyvogel, Joseph 236 Schroedter, Adolph 40
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Schubar, L. [d.i. Rudolf Lubarsch] 133 Schubart, Christian Friedrich Daniel 68, 270, 274 Schubert, Gotthilf Heinrich 115 Schücking, Levin 56, 96, 102, 231f. Schumann, Clara 7 Schumann, Robert 210, 212 Schurz, Carl 1, 3, 70, 75 Schwab, Gustav 93f. Schwarz, Theodor 4, 70. 76 Scott, Walter 120f. Seidel, Johann Gabriel 93 Siebenpfeiffer, Jakob Philipp 67f., 203 Simons, Andreas 50 Simrock, Karl 93f., 102, 202, 244, 249 Smets, Wilhelm 103 Spielhagen, Friedrich 36 Spinoza, Baruch de 216 Spitteler, Carl 219 Springer, Anton 55 Stein, Charlotte von 283 Stein zu Altenstein, Karl Freiherr vom 116, 184–186 Stern, Adolf 29 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 90 Stolterfoth, Adelheid von 256 Strauß, David Friedrich 112 Streckfuß, Adolph 30 Strodtmann, Adolph 30, 33, 58, 105, 111, 131, 136f., 139, 140, 166, 211, 230, 271 Struve, Amalie 77 Struve, Gustav 77, 271f., 274 Sturm, Julius 212 Swoboda, Karel 218 Sybel, Heinrich von 128 Tacitus 243 Techow, Gustav 64 Terenz 280 Theoderich (der Große), ostgot. König 244–250 Tiberius, röm. Kaiser 240 Tieck, Ludwig 106f., 227 Tromlitz, August 93 Twesten, August Detlef Christian 41 Uhland, Ludwig 41, 62, 164, 177, 194f., 249, 257 Varnhagen von Ense, Carl 3, 65, 68 Vergil 26 Vilmar, August Friedrich Christian 22, 24f., 29 Vischer, Friedrich Theodor 16, 36, 62, 143f.
Vischer, Robert 16 Vitruv 235 Vogel, Theodor 43 Vogt, Niklas 256 Volkmann, Johann Heinrich 90 Voß, Johann Heinrich 143 Vulpius, Christiane 283 Waagen, Gustav Friedrich 53f. Wachler, Ludwig 21 Wackernagel, Wilhelm 23f. Waldmüller, Robert 212 Weerth, Georg 18, 78, 238 Weill, Alexander 133 Weiß, Ferdinand 39, 164 Weitling, Wilhelm 270, 274 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 89 Welcker, Carl Theodor 38, 59f., 150, 155
Welcker, Friedrich Gottlieb 38 Wernher, Wilhelm Philipp 259 Weyden, Ernst 99 Wienbarg, Ludolf 123 Wiggers, Moritz 3f., 75f. Wihl, Ludwig 103, 233 Willich, August von 64, 78, 158 Willkomm, Ernst 133 Winter, Ludwig 147 Wirtgen, Philipp 99 Wirth, Johann Georg August 67f. Wolfram von Eschenbach 223 Wolters, Albrecht 52 Zahl, Peter Paul 271 Zedlitz, Johann Christian von 218 Zirkler, Johann Heinrich 73 Zschokke, Heinrich 133
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