Vormoderne 9783412300920, 3412004979, 9783412004972


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German Pages [636] Year 1997

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Vormoderne
 9783412300920, 3412004979, 9783412004972

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Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt Band 1 Vormoderne

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt zum 75. Geburtstag herausgegeben von

Erich Donnert Band 1

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt Band 1

Vormoderne

Herausgegeben von

Erich Donnert

1997

Böhlau Verlag Weimar · Köln · Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Europa in der Frühen Neuzeit : Festschrift für Günter Mühlpfordt / hrsg. von Erich Donnert. - Weimar ; Köln ; Wien : Böhlau NE: Donnert, Erich [Hrsg.]: Mühlpfordt, Günter: Festschrift Bd: 1. Vormoderne. - 1997 ISBN 3-412-00497-9

Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem Papier hergestellt. © 1997 by Böhlau Verlag G m b H & Cie Köln, Weimar Alle Rechte vorbehalten

Satz: Graphische Werkstätten Lehne G m b H , Grevenbroich Druck und Verarbeitung: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 3-412-00497-9

Inhalt

Vorwort des Herausgebers Tabula Gratulatoria

IX XV

URSULA NIGGLI, ZÜRICH

Peter Abaelard - ein Vorläufer des modernen Intellektuellen

1

W I L H E L M B A U M , KLAGENFURT

Europapolitik im Vorfeld der Frühen Neuzeit: König und Kaiser Sigismund vom Hause Luxemburg, Ungarn, Byzanz und der Orient

13

H E I N Z BERTHOLD, H A L L E

Die „Attischen Nächte" des Aulus Gellius in Hartmann Schedels Weltchronik HANS-JOACHIM DIESNER

45

(t), Halle

Religion und Staat bei Machiavelli

53

H E I N E R LÜCK., H A L L E

Der Roland und das Burggrafengericht zu Halle. Ein Beitrag zur Erforschung der Gerichtsverfassung im Erzstift Magdeburg

61

HEINER LÜCK, HALLE

Supan - Senior - Ältester. Kontinuität und Wandel in der Gerichtsverfassung des mitteldeutschen Kolonisationsgebiets

83

M A N F R E D STRAUBE, LEIPZIG

Die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit

99

KARLHEINZ BLASCHKE, D R E S D E N / F R I E D E W A L D

Sachsen in der frühbürgerlichen Bewegung des 16. Jahrhunderts

119

SIEGFRIED W O L L G A S T , D R E S D E N

Aspekte geistiger Entwicklungslinien der lutherischen Reformation bis zur klassischen deutschen Philosophie

133

VI

Inhalt

STEFAN O E H M I G , BERLIN

Hermann Mühlpfordt der Ältere (1486-1534). Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

161

SIGRID L O O S S , BERLIN

Annotationes über die nachgelassene Familie des Andreas Bodenstein aus Karlstadt

189

VOLKMAR JOESTEL, LUTHERSTADT WITTENBERG

Magister Bonifatius von Roda. Ein Wittenberger Mathematiker und Bekannter Karlstadts

197

SIEGFRIED BRÄUER, BERLIN

Der Hüttenmeister Christoph Meinhard in Eisleben und seine Beziehung zu Thomas Müntzer PAUL G . K U N T Z , ATLANTA,

211

USA

Der Sittenkodex eines radikalen Reformators: Paracelsus und die Zehn Gebote

237

A D O L F LAUBE, BERLIN

Radikale Obrigkeitskritik in der Nachbauernkriegszeit

247

G Ü N T E R VOGLER, BERLIN

Leopold von Rankes Bild vom Täuferreich zu Münster

263

E R N S T - H E I N Z LEMPER, G Ö R L I T Z

Görlitz und die Oberlausitz im Jahrhundert der Reformation M A R I O N LEATHERS K U N T Z , ATLANTA,

281

USA

Guillaume Postel und die Deutschen: Zwischen Mythos und Wirklichkeit

301

B O D O SEIDEL, H A L L E

Was nun das Volk der Alten Hebräer in Ansehung sonderlich seyns edlen religiösen Princips denn sey: Israel in der Alten Welt - Ansichten und Weisheiten in der Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit. Auch eyn Beytrag zur Monotheism-Debatte

315

D I E T E R FAUTH, WÜRZBURG

Bedeutung des Islam für Erziehungs- und Bildungsvorstellungen vor allem in der Radikalen Reformation mit Nachwirkungen

333

Inhalt

VII

BURCHARD BRENTJES,

BERLIN

Islamische Architektur an der Wolga und auf der Krim ULMAN WEISS,

351

ERFURT

Der dogmentreu drapierte Dissident. Ein schwarzburgisches Pfarrerschicksal aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges M I C H A E L SCHIPPAN,

BERLIN

Zwei Havelberger „Weigelianer" aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges Panthaleon Trappe und Johann Bannier ULRICH BUBENHEIMER,

443

HALLE

Hermann Conring (1606-1681) und der Gelehrtenstreit in der Medizinund Rechtsgeschichte der Frühen Neuzeit D I E T R I C H BLAUFUSS,

451

ERLANGEN

Melchior Adam Pastorius (1624-1710) und Franz Daniel Pastorius (1651-1719/20). Frühe Beispiele des Wandels zwischen den Konfessionen DETLEF DÖRING,

427

BERLIN

Hobbes als Toleranzdenker GERDA CAESAR,

405

GLASGOW

Stereotypen und soziale Wirklichkeit in der weltlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts HERMANN KLENNER,

383

HEIDELBERG

Aspekte der Karlstadtrezeption von der Reformation bis zum Pietismus im Spiegel der Schriften Karlstadts zur Gelassenheit ANTHONY HARPER,

359

465

LEIPZIG

Untersuchungen zur Entstehung des „Christenstaates" von Veit Ludwig von Seckendorf HANSPETER MARTI, ENGI,

SCHWEIZ

Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold. Konfessionalistische Abgrenzung und mystisch-spirituelle Solidarität CHRISTOPH BOCHINGER,

477

501

MÜNCHEN

Aus Anton Heinrich Walbaums Tagebuch - Beobachtungen zur Religionskultur und weltweiten Kommunikation des Hallenser Pietismus in der zweiten Generation

521

VIII

Inhalt

H A N N E L O R E L E H M A N N , POTSDAM

Zur pietistischen Konventikelbewegung in Potsdam (1692-1742)

539

I R I N A M O D R O W , F R A N K F U R T AN DER O D E R

„Wir sind philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und Mährischen Rock . . . " Die Lösung der Identitätsfrage der Herrnhuter Brüdergemeine

577

H O R S T W E I G E L T , BAMBERG

Das „Kurtze Bekäntnus" der schlesischen Schwenckfelder von 1726. Aspekte zur Frömmigkeitstheologie des Schwenckfeldertums im 18. Jahrhundert J A N HARASIMOWICZ,

593

WROOAW

Die Haupt- und Pfarrkirche zu St. Elisabeth in Breslau, ,evangelischer Zion' einer multinationalen Metropole

603

Vorwort

Am 28. Juli 1996 beging der Historiker Günter Mühlpfordt, emeritierter ordentlicher Professor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, seinen 75. Geburtstag. Der Fabrikantensohn aus Halle besuchte die Oberrealschule der Franckeschen Stiftungen in seiner Heimatstadt. Er studierte dann an der halleschen Universität Geschichte, mit Vorgeschichte, daneben Rechtsgeschichte, Philosophie, Germanistik und Slawistik. In den Seminaren der Mediävisten Martin Lintzel und Karl Jordan verfaßte er seine ersten größeren wissenschaftlichen Arbeiten. In Neuerer Geschichte fesselten ihn die Seminare von Martin Göhring zur Frühen Neuzeit und regten ihn zu eigenen Ausarbeitungen an. So schlug die Frühe Neuzeit schon den Studenten in ihren Bann. Vor die Wahl zwischen Mittelalter und Neuzeit gestellt, entschied sich Günter Mühlpfordt schließlich für die Neuere Geschichte mit ihrem Quellenreichtum, wobei er das Schwergewicht von vornherein auf die Frühe Neuzeit legte. Seine besondere Aufmerksamkeit zog die frühneuzeitliche Geschichte des östlichen Europa auf sich, das ihm auch der an der Universität Halle wirkende ukrainische Kulturhistoriker und Slawist Dmytro Cyzevskyj nahebrachte. Das Hauptinteresse von Mühlpfordt richtete sich auf das Zeitalter der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa mit seinen Reformen, worüber er auch promovierte. 1941-45 war er zur Marine eingezogen. Nach dem Krieg betätigte sich Günter Mühlpfordt zunächst als Dozent der Volkshochschule Halle. 1947 trug ihm der an die Universität Halle berufene Professor für Osteuropäische Geschichte Eduard Winter an, sein Assistent zu werden. Als Lehrbeauftragter hielt Mühlpfordt seit 1948 Vorlesungen und Seminare. Ab 1951, nach Eduard Winters Berufung an die Berliner Humboldt-Universität, führte er in Halle alle Lehrveranstaltungen zur Osteuropäischen Geschichte durch. Zudem stand Mühlpfordt seinem Lehrer bei der Einrichtung des Berliner Instituts für Osteuropäische Geschichte und bei der Heranbildung von Nachwuchskräften zur Seite. Seit 1951 Institutsdirektor, zunächst kommissarisch, baute Mühlpfordt das hallesche Institut für Osteuropäische Geschichte aus dem Nichts auf. Seine Vorlesungen fanden starken Zuspruch und mußten zeitweise wegen Überfüllung in das Auditorium maximum verlegt werden. Dozenten an Universitäten der DDR riefen damals die Studenten auf, sich für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu melden. So wurde ich sein erster Assistent. Von ihm habe ich das wissenschaftliche Rüstzeug erworben. 1952 habilitierte sich Günter Mühlpfordt mit der Arbeit „Die Polnische Krise von 1863", worauf er 1953 zum Universitätsdozenten ernannt wurde. 1954 erfolgte seine Berufung zum „Professor mit Lehrauftrag". Sein Wirken als Hochschullehrer 1953-56 fiel in die Zeit des „Tauwetters" nach dem Tode Stalins. Der „Neue Kurs" der Regierung der DDR nach dem 17. Juni 1953 zeitigte auch eine gewisse Entkrampfung zwischen den Historikern der beiden getrennten Teile Deutschlands. So kam es zwischen den Universitäten Göttingen und Halle zu einem Studentenaustausch, in den sich Mühlpfordt aktiv einschaltete. Eingeladen von Percy Ernst Schramm und Walther Hubatsch, besuchte er 1956 in Begleitung von halleschen Geschichtsstudenten und Assistenten, zu denen ich gehörte, die Universität Göttingen, an der er eine Gastvorlesung hielt und Kontakte zu Fachkollegen aufnahm. Die halleschen Studenten beteiligten sich an Seminaren der Göttinger Professoren Schramm, Heimpel und Hubatsch. Im Gegenzug kamen Göttinger

χ

Vorwort

Professoren in die DDR und hielten Gastvorlesungen an den Universitäten Halle, Leipzig und Jena. Ebenfalls 1956 rief Mühlpfordt ein eigenes Periodikum ins Leben, mit dem sein Institut an die wissenschaftliche Öffentlichkeit trat. Er nannte es ,Jahrbuch für Geschichte Ostund Mitteleuropas". Der Verlag führte die etwas umständliche Erweiterung , Jahrbuch für Geschichte der deutsch-slawischen Beziehungen und Geschichte Ost- und Mitteleuropas" ein. In seinem Vorwort zum ersten Band (1956) bezeichnete Mühlpfordt es als ein Ziel, durch das Jahrbuch „Brücken zu schlagen" und damit „im Sinne der natürlichen Mittlerfunktion des deutschen Volkes zwischen östlichen und westlichen Ländern" zu wirken. Die Jahre bis 1957 standen am halleschen Institut für Osteuropäische Geschichte im Zeichen des Ausbaus der Bibliothek, verstärkter Lehr- und Forschungstätigkeit wie auch der Gewinnung weiterer Mitarbeiter. Mühlpfordt betreute neu eingestellte Assistenten und andere Doktoranden. Vor und nach dem Intervall der Entspannung befand sich Günter Mühlpfordt politisch in prekärer Lage. Bereits seit 1948 sah er sich Angriffen wegen seines „bürgerlichen Objektivismus" ausgesetzt. Im März 1951 erging ein Erlaß des Staatssekretärs für Hochschulwesen gegen seine Vorlesungen. „Auch seine Habilitationsschrift" sei, warf man ihm vor, „von rein bürgerlicher Position aus geschrieben". Seine Antrittsvorlesung als Dozent wurde im Mai 1953, in der gespannten Situation vor dem 17. Juni, verboten. Der größte Stein des Anstoßes war, daß Mühlpfordt sich beharrlich weigerte, in seinen Lehrveranstaltungen und Veröffentlichungen gegen die angeblichen Geschichtsfälscher und Kriegshetzer in der Bundesrepublik Deutschland Front zu machen. Vor allem wurde ihm vorgehalten, er entziehe sich dem notwendigen „Kampf gegen die imperialistische Ostforschung" und habe daher als Historiker „seinen Beruf verfehlt". Die Kampagne gegen Mühlpfordt erreichte ihren Höhepunkt bei den Auftritten Walter Ulbrichts in Halle im April 1958. Ulbricht griff Mühlpfordt öffentlich schärfstens an, zweimal in Halle und zum dritten Mal im Juni 1958 in Berlin vor versammeltem „Plenum". In sechs Publikationen Ulbrichts von 1958 bis 1964 wurden seine Attacken auf Mühlpfordt wiederholt. Auf Weisung Ulbrichts wurde Mühlpfordt am 19. April 1958 seiner Universitätsämter als Institutsdirektor und als Fachrichtungsleiter für Geschichte enthoben. Gleichzeitig wurde gegen ihn Lehrverbot verhängt, auch das auf direkten Befehl Ulbrichts. Als die verlangte „Selbstkritik" ausblieb, erhielt Mühlpfordt 1962 seine Entlassung, ohne jede Abfindung und mit Berufsverbot. Durch die Vertreibung von der Universität und durch Publikationsverbote wurde der Lebensplan von Mühlpfordt als Hochschullehrer und Historiker zerstört. Uber zwanzig Jahre lang schlug er sich als Privatgelehrter durch. Erst im September 1983 erhielt er eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Akademiegeschichte am Zentralinstitut für Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, mit der Hälfte der Bezüge eines Universitätsprofessors. Auch da fand er sich nicht zu Widerruf und Selbstbezichtigungen bereit. Die Abstrafung Mühlpfordts als eines unbequemen Gelehrten und seine Fernhaltung vom Universitätsleben sind eines der düstersten Kapitel in der Wissenschaftsgeschichte der DDR. Die Verstoßung aus dem Kreis der Hochschulprofessoren und die Druckverbote gegen ihn bedeuteten eine menschliche Tragödie. Doch auch in den Jahrzehnten seiner Stellungslosigkeit und ohne Einkommen setzte Günter Mühlpfordt seine Forschungen fort. An der Hinwendung zur Frühen Neuzeit Mittel- und Osteuropas hielt er fest. Seine hervorstechenden Wesenszüge als Wissenschaftler sind Gründlichkeit, Vielseitigkeit und Sachlichkeit. Charakteristisch für seine Forschungen ist die weitgespannte, fächerübergreifende Untersuchungsmethode.

Vorwort

XI

Seit 1952 und namentlich nach seiner Vertreibung aus dem Universitätsdienst war neben der Aufklärung die Reformation ein zweiter Schwerpunkt der Forschungen von Mühlpfordt. Seither erstreckt sich seine Frühneuzeitforschung vom Zeitalter der Entdeckungen, des Renaissancehumanismus und der Reformation über das der Konfessionalisierung, des Barock und des Dreißigjährigen Krieges zur Aufklärungsepoche, bis zur Reformzeit 1 8 0 6 15, mit der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa als Kernstück. Er unterscheidet Vormoderne, als erstes Stadium der Frühen Neuzeit, von Frühmoderne, die er im wesentlichen mit dem Aufklärungszeitalter gleichsetzt, als zweitem. Bei den grundlegenden Arbeiten von Mühlpfordt zur Frühen Neuzeit erwies sich die Verbindung von Reformations- und Aufklärungsforschung als methodisch sehr fruchtbar. Von der Reformation als erster und der Aufklärung als zweiter großer Reformbewegung der Frühneuzeit her erschloß er in vergleichender Betrachtung wichtige Aspekte der frühneuzeitlichen Kulturgeschichte. Das zeigen beispielsweise seine U n tersuchungen zur kulturgeschichtlichen Relevanz des Luthertums, besonders des lutherischen und allgemein des evangelischen Pfarrhauses in der Frühen Neuzeit, auch seine Studien zum Luther- und Melanchthonbild der Aufklärung. Regionalgeschichtlich vermittelte die Verknüpfung von Reformation und Aufklärung ihm Einsichten in Mitteldeutschlands überragende Bedeutung für die Geistesgeschichte der Frühneuzeit. Wie in der Reformation waren mitteldeutsche Bildungsstätten und Persönlichkeiten auch in der Aufklärung wegweisend im deutschen Kulturbereich und darüber hinaus für weite Teile Europas. Das demonstriert Mühlpfordt sowohl bildungsgeschichtlich anhand der Spitzenstellung mitteldeutscher Universitäten und Gymnasien als auch für die allgemeine Wissenschaftsgeschichte und in den einzelnen Disziplingeschichten, oft mit biographischer Vertiefung. Wie bei der Aufklärung unterscheidet Mühlpfordt bei der Reformation gemäßigte und entschiedene Richtungen. Demgemäß ist seine Reformationsforschung ebenfalls zweigleisig angelegt. Sie richtet sich teils auf die lutherische Reformation, teils auf rigoristische Strömungen, die er als „radikale Reformation" zusammenfaßt. Viele Forscher in Amerika und Europa sind ihm darin mit unterschiedlicher Begriffsauffassung gefolgt. Neue Erkenntnisse zum Luthertum gewann Mühlpfordt über Luther selbst (dessen reformatorische Hauptschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" einem seiner Ahnen gewidmet ist), über Luthers Verhältnis zur Freiheit, zur Politik, zum Natürlichen und über die politischen Voraussetzungen des Erfolgs der lutherischen Reformation. Zweites lutherisches Hauptthema ist für ihn Melanchthon und der Philippismus, auch als Ansatz und Ubergang zur Voraufklärung. Ausgiebig erörterte er Ansichten von Johann Agricola-Eisleben, dem Famulus, Stellvertreter und Kritiker Luthers, dem einzigen Zeugen des Lutherschen Thesenanschlags. Dabei hob er Agricolas Fürsten- und Adelskritik hervor, mit dessen Voraussage, daß ganz Deutschland dereinst eine Republik sein werde. Er zählt den eigenwilligen Antinomisten „Eisleben" zu den „pararadikalen", halbradikalen Reformatoren, im Unterschied zu „kryptoradikalen" wie Valentin Weigel, die ihre Gesinnung verhüllten. Das von ihm und Friedrich Niewöhner geleitete Wolfenbütteler Arbeitsgespräch über „Kryptoradikale Reformatoren" war 1990 die erste von einem Wissenschaftler der neuen Bundesländer in den alten Bundesländern durchgeführte internationale wissenschaftliche Tagung nach der Wiedervereinigung. Den mitteldeutschen Ursprüngen des reformatorischen Rigorismus und seiner Ausbreitung über Deutschland, Europa und die Welt ging Mühlpfordt bei mancherlei Verzweigungen nach. Er verfolgte dabei die Entfaltung reformatorischer Radikalität von den Zwickauer Propheten über die Wittenberger Bewegung 1521/22, mit Karlstadt und den Karlstädtern, über Müntzer und seine Anhänger, zum Täufertum, zu Schwenkfeld und den

XII

Vorwort

Schwenkfeldern, bis zur weltweiten Verbreitung rigoristischer Reformationsbestrebungen und -kirchen. Uber Herkunft und Glaubensgemeinschaften der Täufer, so über die östliche Odyssee von Täuferexulanten, hat er viel geforscht und geschrieben, ebenso über Unitarier (Antitrinitarier, Neuarianer, Sozinianer). - Das Übergreifen der lutherischen und der radikalen Reformation auf Südosteuropa rückte dessen Kirchen und religiöse Gemeinschaften in sein Blickfeld (Bogomilen, Paulikianer und andere, die mit Exiltäufern Religionsgespräche führten, dazu die orthodoxe Volksbewegung der griechischen „Anabaptisten"). Mittels der osmanischen Steuerstatistik wies er einschneidende Wandlungen im frühneuzeitlichen Südosteuropa nach. - Auch zur Bauernkriegsforschung steuerte er bei. Er analysierte Ziele und militärische Aussichten des deutschen Bauernkriegs 1524-26 sowie die Beteiligung von Städtern an ihm. Bei aller Gewichtigkeit der reformationsgeschichtlichen Arbeiten von Mühlpfordt, die ihn als einen der vorzüglichsten Kenner der Reformation ausweisen, ist dennoch die bereits in den Anfangsjahren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit angesteuerte Thematik der deutschen Aufklärung in ihren europäischen Zusammenhängen sein eigentliches Lebensthema. Sein Hauptgebiet stellt die mitteldeutsche Aufklärung dar, mit ihren beiden Brennpunkten Halle und Leipzig. Er erforscht die Halle-Leipziger Aufklärung,wie die deutsche Aufklärung als Ganzes, in ihrer nationalen, europäischen und weltweiten Verflechtung. Dabei betont er die Ausstrahlung des Universitätsdreiecks Halle - Leipzig - Jena. Diese drei Hochburgen der Aufklärung,unterstreicht er, waren maßgebend im deutschen Kulturraum und weit über dessen Grenzen hinaus, wobei sie zugleich als Mittler zwischen West und Ost in Europa dienten. Auch anderen Sitzen der mitteldeutschen Aufklärung gilt sein Interesse als Forscher, so Magdeburg, Halberstadt und Quedlinburg, Desssau, Kothen, Bernburg und Zerbst, Merseburg, Weißenfels, Naumburg und Zeitz, Gotha, Weimar, Eisenach und Altenburg, Dresden, Freiberg, Meißen und Zwickau, Görlitz, Bautzen, Lauban und nicht zuletzt Zittau. Nachdrücklich verweist er auf die gesamtdeutsche, europäische und globale Wirksamkeit mitteldeutscher Aufklärer und Pietisten, ζ. B. auf die von Aufklärern und Pietisten bzw. Herrnhutern aus der Oberlausitz (Tschirnhaus, Christian Weise, Johann Hübner usw.). Die für Mühlpfordt als Osteuropahistoriker im Vordergrund stehende Rußlandthematik ist gleichfalls stark auf die Aufklärung ausgerichtet, besonders auf deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen unter deren Auspizien und damit auf deutsche und russische Aufklärer des Zarenreiches. Sein erstes Thema dieser Art, auf das ihn E. Winter hinwies, war die beratende und betreuende Tätigkeit Christian Wolffs für die Petersburger Akademie der Wissenschaften. Uber die Wirkung Wolffs und seiner Anhänger auf das Russische Reich hinaus erkundete er die deutsche, europäische und globale Geltung Wolffs, den er als „Bahnbrecher der Aufklärung" und „Enzyklopädisten der deutschen Aufklärung", als bedeutenden Systemdenker würdigt, und die der Wolffianer. Bei Wolffs Schüler Lomonosov zeigte er auch Anregungen durch andere mitteldeutsche Aufklärer, meist von HalleLeipziger Prägung, auf (G. E. Stahl, F. Hoffmann, Gottsched, Tschirnhaus, H . Winkler usf.). - Zwei Rußlandthematiken, die er vom Mittelalter bis zur späteren Neuzeit bearbeitete, sind Rußlands Stellung zu Deutschland und die Entwicklung des deutschen Rußlandbildes. N o c h eine Fülle weiterer geschichtswissenschaftlicher Zusammenhänge und Probleme hat Mühlpfordt zu ergründen und zu klären gesucht, vornehmlich zur Kulturgeschichte im umfassenden Sinn und besonders zur Wissenschaftsgeschichte, mit dem Akzent auf Universitäts- und Akademiegeschichte. Demgemäß versteht er sich vorrangig als Kulturhistoriker und primär als Wissenschaftshistoriker. Im Rahmen seiner überwiegend der Aufklärung zugeordneten wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten widmet sich Mühlpfordt der

Vorwort

XIII

Geschichte der Geschichtsschreibung, der Geschichte des Denkens, der Erziehungs-, Schul- und allgemeinen Bildungsgeschichte. In der Universitätsgeschichte behandelt er hauptsächlich die fünf mitteldeutschen Hochschulen von Leipzig, Halle, Jena, Wittenberg und Erfurt sowie die ihnen verbundene Oderuniversität Frankfurt. Mit Gestalten der Aufklärungswissenschaft befassen sich die meisten seiner zahlreichen biographischen U n tersuchungen, so allein mehr als 4 0 über Karl Friedrich Bahrdt und dessen Aufklärerbund „Deutsche U n i o n " . Häufig schildert er den Typ des aufklärerischen Gesinnungsdemokraten, der unter dem Absolutismus seine Einstellung nur verdeckt bekunden konnte (Schlözer u. a.). Auch Sonderentwicklungen innerhalb der Aufklärung, wie Philanthropismus und N e u humanismus, finden seine Aufmerksamkeit, dazu Abzweigungen von ihr, ζ. B . die literarischen Bewegungen Sturm und D r a n g sowie Empfindsamkeit, die er beide als flankierende Ausprägungen neben der Rationalaufklärung wertet. Ausmünden sieht er die deutsche Aufklärung in die klassische deutsche Literatur und Philosophie in die Weimarer Klassik und den deutschen Idealismus, wie auch in den Neuhumanismus H u m b o l d t s c h e r Prägung und in die Erziehungsreformen bis zu Fröbel und Diesterweg. D e n Pietismus, dessen historische Patina ihn schon in den Mauern der Franckeschen Stiftungen umgab und mit dem er sich seit langem befaßt, versteht er als eigenständige religiöse Reformbewegung, dem geschichtlichen Charakter nach als Parallelbewegung zur Aufklärung, als sowohl korrelatives wie konträres Seitenstück, mit andersartiger Motivation und Haltung. E r macht auf den örtlichen Ausgleich zwischen Aufklärung und Pietismus aufmerksam, auf ihren vielfältigen Zusammenklang, ihre Verschwisterung und Symbiose, in Halle bei Siegmund J . Baumgarten und seiner Schule, im Königsberg Kants, im Schwaben Schillers und anderswo. Weitere Forschungsfelder von ihm sind die Bezeichnungs- und Begriffsgeschichte sowie die damit zusammenhängende geschichtliche N a m e n k u n d e . Eine Vielzahl von Begriffen hat er analysiert, ihren Ursprung geklärt und sie in ihren geschichtlichen Wandlungen verfolgt. In der O n o m a s t i k eruierte er ζ. B . die Wurzeln und Wege der globalen Verbreitung germanischer N a m e n seit der Völkerwanderung und seit den großen geographischen Entdeckungen mit den nachfolgenden überseeischen Gründungen. U b e r die G e i s t e s - und K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n hinaus hat sich M ü h l p f o r d t der Vergangenheit der N a t u r w i s s e n s c h a f t , T e c h n i k und M e d i z i n zugewandt. H i e r gilt sein b e s o n deres A u g e n m e r k der G e s c h i c h t e von B e r g b a u und H ü t t e n w e s e n , von C h e m i e , A s t r o n o m i e und A u f k l ä r u n g s m e d i z i n . So zeigte er die g e s c h i c h t l i c h e B e d e u t u n g der m i t t e l d e u t s c h e n B e r g b a u g e b i e t e und des Textilgewerbes auf, legte die B e g r ü n d u n g der t h e o r e t i s c h e n C h e m i e durch G . E . Stahl und dessen S c h ü l e r dar und wies die u n b e k a n n t e n frühesten D r u c k e über die E n t d e c k u n g der A t m o s p h ä r e des Planeten Venus nach ( E n t d e c k u n g 1761 in M a g d e b u r g und H a l b e r s t a d t , D r u c k e 1761 in M a g d e b u r g und Leipzig). Alles in allem hat G ü n t e r Mühlpfordt in fast 60-jähriger rastloser Gelehrtenarbeit seinen Lesern, H ö r e r n und Gesprächspartnern Europas Frühe Neuzeit in plastischer Sprache als Aufbruch der europäischen Völker zur Moderne vor Augen geführt. Zu Ehren des 75-Jährigen haben sich Wissenschaftler der verschiedensten Fachbereiche aus aller Welt zusammengefunden, um dem international angesehenen halleschen Historiker als Ausdruck ihres Dankes und Respektes das vorliegende Sammelwerk darzubringen. Sie bieten in ihren Beiträgen ein beeindruckendes Panorama jener G r o ß e p o c h e , der Frühen Neuzeit in E u r o pa. D i e Autoren fühlen sich darin den Arbeiten des Jubilars verpflichtet. Sie beleuchten unter ihren jeweiligen Blickwinkeln und mit neuen Erkenntnissen die Umbruchszeit zwischen Mittelalter und Moderne. Ihre Aufsätze zeigen die Vielfalt dieses Zeitalters, die der

XIV

Vorwort

Vielfalt im Lebenswerk des Geehrten entspricht. Sie alle, Schüler, Fachkollegen und Freunde, wünschen Günter Mühlpfordt Gesundheit und weitere Schaffenskraft, eingedenk seines Mottos: Vitam impendere vero - im Dienste der Wahrheit. 1 Erich Donnert

1

Für die Festschrift eingereichte Beiträge, die in Band 1 und 2 noch nicht enthalten sind, werden in den nachfolgenden Bänden 3 und 4 veröffentlicht. Das Personenregister zum Gesamtwerk folgt im Schlußband.

TABULA GRATULATORIA

Sankt Augustin/Bonn Weimar R E I N H A R D A U L I C H , Wertheim W E R N E R B A H N E R , Leipzig K A R O L B A L , Wroclaw R O G E R B A R T L E T T , London D I E T E R B A U K E , Gera W I L H E L M B A U M , Klagenfurt G E R T R U D B E N S E , Halle G U N N A R B E R G , Halle D A N B E R I N D E I , Bukarest B R U N O B E R N A R D , Brüssel H E I N Z B E R T H O L D , Halle W A L T E R B E T T E R M A N N , Halle

MANFRED AGETHEN,

GÜNTER ARNOLD,

Hamburg Hamburg J O H A N N E S R. von B I E B E R S T E I N , Bielefeld K A R L H E I N Z B L A S C H K E , Dresden/Friedewald D I E T R I C H B L A U F U S S , Erlangen C H R I S T O P H B O C H I N G E R , München K L A U S B O C H M A N N , Leipzig H O L G E R B Ö N I N G , Bremen K L A U S B O H N E N , Aalborg P I E R R E - A N D R E B O I S , Reims C H R I S T I A N E B O M M E R , Berlin S I E G F R I E D B R A U E R , Berlin B U R C H A R D B R E N T J E S , Berlin U L R I C H B U B E N H E I M E R , Heidelberg S T E P H A N B U C H H O L Z , Marburg G E R D A C A E S A R , Halle Z O L T Ä N C S E P R E G I , Üröm, Ungarn R O S T I S L A V J U . D A N I L E V S K I J , St. Petersburg O r r o D A N N , Köln F R I E D R I C H DE B O O R , Halle HEIDI BEUTIN,

WOLFGANG BEUTIN,

Halle Hagen D E T L E F D Ö R I N G , Leipzig E R I C H D O N N E R T , Halle U D O D R Ä G E R , Halle V I N C E N T A S D R O T V I N A S , Vilnius E L E N A I . D R U 2 I N I N A , Moskau F R A N Z D U M O N T , Mainz S U S A N N E E H R H A R D T - R E I N , Gammelin/Halle R E N A T E E N D L E R , Merseburg H A N S - W E R N E R E N G E L S , Hamburg V O L K E R E R D M A N N , Halle JOACHIM DIETZE,

STEFFEN DIETZSCH,

XVI

Tabula Gratulatoria GOTTFRIED ETZOLD, W o l f e n b ü t t e l DIETER FAUTH, W ü r z b u r g OTHMAR FEYL, B e r l i n CHRISTA FLECKENSTEIN, H a l l e GISELA FLEISCHHAMMER, H a l l e ZSUZSANNA F O N T , S z e g e d ISTVAN FRIED, S z e g e d

ORCUTT W. FROST, A n c h o r a g e , A l a s k a GOTTHARDT FRÜHSORGE, W o l f e n b ü t t e l MICHAIL I. FUNDAMINSKIJ, S t u t t g a r t BERNHARD GAJEK, R e g e n s b u r g J Ö R N GARBER, H a l l e / M a r b u r g H A N S - M A R T I N GERLACH, L e i p z i g / M a i n z KARLHEINZ GERLACH, B e r l i n WOLFGANG G Ö T Z , R e i n h e i m HERMANN GOLTZ, H a l l e WALTER GRAB, T e l A v i v CONRAD GRAU, B e r l i n REINER GROSS, C h e m n i t z MARTIN GUNTAU, R o s t o c k ANNEMARIE HAASE, A a c h e n R O L F HAASER, G i e ß e n CHRISTA HABRICH, G i e ß e n / I n g o l s t a d t H A N S HAERING ( t ) , H e r b o r n LUDWIG HAMMERMAYER, M ü n c h e n / I n g o l s t a d t

JAN HARASIMOWICZ, W r o c l a w WOLFGANG HARDTNVIG, B e r l i n ANTHONY HARPER, G l a s g o w CHRISTINE H A U G , G i e ß e n HORST H A U N , D r e s d e n WIELAND H E L D , L e i p z i g ALOYS H E N N I N G , B e r l i n ERHARD HEXELSCHNEIDER, L e i p z i g LOTHAR HIERSEMANN, L e i p z i g SIEGFRIED HILLERT, L e i p z i g ERNST HINRICHS, O l d e n b u r g / B e r l i n WIELAND HINTZSCHE, H a l l e / L e i p z i g FRIEDHELM H I N Z E , B e r l i n ERHARD HIRSCH, H a l l e THOMAS H O E R E N , D ü s s e l d o r f IRMGARD H Ö S S , N ü r n b e r g PETER HOFFMANN, N a s s e n h e i d e - B e r l i n SIEGFRIED HOYER, L e i p z i g JOHANNES IRMSCHER, B e r l i n SERGEJ N . ISKJUL·, S t . P e t e r s b u r g CHRISTA JACOB, L a n d s b e r g O T T O JACOB, L a n d s b e r g

VOLKMAR JOESTEL, L u t h e r s t a d t W i t t e n b e r g HELMAR JUNGHANS, L e i p z i g

PAUL KAEGBEIN, B e r g i s c h G l a d b a c h WOLFRAM KAISER, D E N E S KARASSZON,

Halle Budapest

SERGEJ J A . K A R P ,

Moskau

H E I N Z KÄTHE,

Halle

WOLFGANG KEHN, GUNDOLF KEIL,

Kiel

Würzburg

HANS-JOACHIM KERTSCHER, BALINT KESERÜ,

GERHARD KETTMANN, W O L F G A N G KESSLER, JÜRGEN KIEFER,

Halle

Szeged Halle Herne

Erfurt/Jena

HARRO KIESER, B a d

Homburg/Bonn

LARISSA V . K I R I L L I N A , FRITZ KLEIN,

Moskau

Berlin

HERMANN KLENNER, AGATHA K O B U C H ,

Berlin

Dresden

MANFRED KOBUCH,

Dresden

ERWIN KÖNNEMANN,

Halle

EDUARD I. KOL'CINSKIJ, S t .

Petersburg

ZORAN KONSTANTINOVIC, I n n s b r u c k FRANKLIN KOPITZSCH,

Hamburg

ANDREAS KOPP,

Halle

JOHANNES KOPP,

Halle

EVA KOWALSKA, B r a t i s l a v a H A N S - T H O M A S KRAUSE, J A N I S KRESLINS,

H O R S T KRITZLER, O T T O KRUGGEL,

Halle

Stockholm Halle

Königslutter

AXEL KUHN,

Stuttgart

PAUL G . K U N T Z , A t l a n t a ,

USA

M A R I O N LEATHERS K U N T Z , A t l a n t a , PETER KUNZE, HERBERT LANGER,

USA

Bautzen Greifswald

A D O L F LAUBE,

Berlin

HANNELORE LEHMANN, GABRIELA LEHMANN-CARLI,

Potsdam

Berlin/Potsdam

M A R K LEHMSTEDT,

Berlin

MANFRED LEMMER,

Halle

HEIKKI LEMPA, T u r k u / N e w Y o r k E R N S T - H E I N Z LEMPER,

Görlitz

R O L F LIEBERWIRTH,

Halle

A N N I LINGESLEBEN,

Halle

HANS-HELMUT LÖSSL, H ü n f e l d e n , T a u n u s SIGRID LOOSS,

Berlin

HEINER LÜCK,

Halle

LUDGER LÜTKEHAUS, F r e i b u r g i m B r e i s g a u KLAUS L U I G , HENRIK LUNDBAK, L U I G I CATALDI M A D O N N A ,

Köln Kopenhagen Rom/Francavilla

Tabula Gratulatoria

XVIII JOACHIM MAI, G r e i f s w a l d BURKHARD MALICH, H a l l e WOLFGANG MARTENS, M ü n c h e n / M u r n a u

HANSPETER MARTI, E n g i , S c h w e i z JOHANNES MEHLIG, E n g e l s d o r f - L e i p z i g CHRISTIAN MEIER, M ü n c h e n REGINA MEYER, R ö b l i n g e n a m

See

DANIEL MINARY, B e s a n c o n INGRID MITTENZWEI, B e r l i n PAUL MITZENHEIM, J e n a

IRINA MODROXV, F r a n k f u r t an der O d e r H EINZ MOHNHAUPT, F r a n k f u r t a m M a i n HUBERT M O H R , P o t s d a m FABIENNE M O L I N , L i l l e / H a l l e GÜNTER MÜHLPFORDT ( t ) , W e i m a r RENATE MÜHLPFORDT, W e i m a r WERNER MÜHLPFORDT, E l l e r s t a d t ECKHARD MÜLLER-MERTENS, B e r l i n ALEKSANDR S. MYL'NIKOV, S t . P e t e r s b u r g MONIKA NEUGEBAUER-WÖLK, H a l l e

ULRICH NEUHÄUSSER-WESPY, N e u n k i r c h e n a m B r a n d THOMAS N I C K O L , H a l l e MICHAEL NIEDERMEIER, B e r l i n FRIEDRICH NIEWÖHNER, W o l f e n b ü t t e l URSULA N I G G L I , Z ü r i c h Z E N O N HUBERT NOWAK, Τ ο π ι ή HELMUT O B S T , H a l l e STEFAN OEHMIG, B e r l i n KONRAD O N A S C H , H a l l e MICHAEL PANTENIUS, H a l l e

BOGUSILAW PAZ, W r o c l a w WOLFGANG PFAUCH, S c h n e p f e n t h a l / G o t h a WERNER PIECHOCKI ( t ) , H a l l e D O R I S POSSELT, J e n a WOLFGANG PROMIES, D a r m s t a d t PAUL RAABE, W o l f e n b ü t t e l / H a l l e

MATTHIAS REIN, G a m m e l i n , M e c k l e n b u r g H E L M U T REINALTER, I n n s b r u c k ULRICH RICKEN, H a l l e WERNER RIECK, P o t s d a m G E R T RÖBEL, M ü n c h e n / I n n s b r u c k IRENE ROCH-LEMMER, H a l l e G Ü N T E R ROSENFELD, B e r l i n GÜNTHER RUDOLPH, B e r l i n HERMANN-JOSEF RUPIEPER, H a l l e RICHARD SAAGE, H a l l e WALTER SAAL ( t ) , M e r s e b u r g STANISIAW SALMONOWICZ, T o r u i i GERHARD SAUDER, S a a r b r ü c k e n

XIX

Tabula Gratulatoria

PETER SCHALLER, N a u m b u r g

ANNEGRET SCHAPER, F r e i b u r g i m B r e i s g a u CLAUS SCHARF, M a i n z HEINZ SCHEIBLE, H e i d e l b e r g GÜNTER SCHENK, H a l l e HARTMUT SCHIEDERMAIR, B o n n KLAUS SCHILLINGER, D r e s d e n ANTON SCHINDLING, T ü b i n g e n MICHAEL SCHIPPAN, B e r l i n

UWE SCHIRMER, D r e s d e n HANS SCHLEIER, L e i p z i g JOCHEN SCHLOBACH, S a a r b r ü c k e n DIETER SCHMIDMAIER, B e r l i n HORST SCHMIDT, H a l l e HANNO SCHMITT, P o t s d a m HERMANN SCHÜTTLER, M ü n c h e n

HELGA SCHULTZ, F r a n k f u r t a n d e r O d e r GÜNTHER SCHULZ, M ü n s t e r WINFRIED SCHULZE, M ü n c h e n BODO SEIDEL, H a l l e ULRICH SEIDELMANN, E r f u r t GALINA I. SMAGINA, S t . P e t e r s b u r g HARRY Α. M . SNELDERS, U t r e c h t SABINE SOLF, W o l f e n b ü t t e l

WOLFGANG SOMMER, N e u e n d e t t e l s a u , B a y e r n ALMUT SPALDING, J a c k s o n v i l l e , U S A PAUL SPALDING, J a c k s o n v i l l e , U S A IRENA STASIEWICZ-JASIUKOWA, W a r s c h a u GERHARD STEINER ( t ) , B e r l i n STIFTUNG MITTELDEUTSCHER KULTURRAT, B o n n

MANFRED STRAUBE, L e i p z i g HEINRIHS STRODS, R i g a

ARPÄD SZALLASI, E s z t e r g o m , U n g a r n ARVO TERING, Tartu, E s t l a n d EDWARD C A R L T H A D E N , C h i c a g o / S e a t t l e

HEINZ THOMA, H a l l e ACHIM TOEPEL, H a l l e ERNST ULLMANN, L e i p z i g GERDA UTERMÖHLEN, H a n n o v e r DANIEL VESELY, B r a t i s l a v a MARIA VIDA, B u d a p e s t ARINA VÖLKER, H a l l e GÜNTER VOGLER, B e r l i n H A N S JOACHIM V O G T , O f f e n b a c h

WALDEMAR VOISE ( t ) , W a r s c h a u

DOROTHEE VORBECK, F r a n k f u r t a m M a i n JÜRGEN VOSS, P a r i s JOHANNES WALLMANN, B o c h u m GÜNTHER WARTENBERG, L e i p z i g

XX

Tabula Gratulatoria

Jena

MICHAEL WEGNER, H O R S T WEIGELT,

Bamberg

Halle Mannheim

J Ü R G E N WEISBROD, CHRISTOPH W E I S S ,

U L M A N WEISS, E r f u r t

Berlin Zürich

FOLKNVART W E N D L A N D , BERNHARD WIEBEL,

HEINZ WIEDEMANN, M ü l h e i m a n d e r R u h r RAINER WOHLFEIL, EIKE WOLGAST,

Hamburg

Heidelberg

Dresden Halle WALTER Z Ö L L N E R , Halle FRIEDHELM Z U B K E , Göttingen H A R T M U T ZWAHR, Leipzig

SIEGFRIED W O L L G A S T ,

H A N S - D I E T E R ZIMMERMANN,

Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Deutsches Historisches Institut, Paris Deutsches Historisches Institut, Rom Historische Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz

URSULA NIGGLI, ZÜRICH

Peter Abaelard - ein Vorläufer des modernen Intellektuellen

Der Frühscholastiker Peter Abaelard (1079-1142) fand in der neueren Zeit, was sein Denken und seine Lehre betrifft, zahlreiche kluge Anwälte: von Victor Cousin und Charles de Remusat über Ottaviano, Cottiaux, Sikes, Ostlender, Van den Eynde, Buytaert bis auf Jolivet, Luscombe und Mews, um nur einige wichtige Namen zu nennen. Freilich fehlt es trotz dieser engagierten Anwälte für Abaelards Lehre auch in guter neuester Literatur, ζ. B. bei Fumagalli 19861 nicht an kritischen Vorbehalten gegenüber Abaelards Charakter und Persönlichkeit. Nicht nur seine zeitgenössischen Kollegen, sondern auch deren Nachfahren an den modernen Universitäten sind nicht vorurteilsfrei, wo es um dieses enfant terrible des 12. Jh. geht. Die Warnung, welche Etienne Gilson vor fünfzig Jahren an Professoren richtete, welche „die Geschichte großer Menschen auf ihr Format herunterschrauben",2 behält ihre Aktualität. Im vorliegenden Beitrag sollen die wichtigsten Vorurteile gegen Abaelard behandelt werden. Dabei möchte ich den gegen dessen Person und Charakter vorgebrachten Meinungen nicht einfach andere entgegensetzen, sondern die vorgetragenen Auffassungen anhand von Abaelards Originaltexten rechtfertigen. Ich beginne mit einer kurzen Erörterung von Abaelards Autobiographie und gehe dann auf drei Streitfälle ein. Anschließend befasse ich mich mit den Vorbehalten, die gegen Abaelards Person und Charakter geäußert worden sind. Mit dem Dreischritt von Uberblick, Textanalyse und kritischer Reflexion wird im Ergebnis eine Vorstellung von Abaelards Geistesart gegeben.

Die Autobiographie Um Enttäuschungen vorzubeugen, hebe ich hervor, daß ich hier einen formalen, als Lesehilfe konzipierten Durchblick gebe, mithin davon absehe, Abaelards Lebensgang inhaltlich und farbenprächtig zu schildern. 1. Zur Abfassungszeit: Abaelard verfaßte seine Autobiographie mit dem Titel Historia Calamitatum (= H. C.), Geschichte meiner Unglücksfälle, in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit als Abt von St. Gildas; denn er beendete sie mit den düsteren Farben jener bedrängten Zeit, als ihm außerhalb des Klosters ein Mörder dingender Tyrann auflauerte und ihm innerhalb der Klostermauern rohe Mönche mit Giftmordversuchen nachstellten. Doch hatte Abaelard bereits in der Betreuung der Nonnen von Paraklet „einen großen Trost" gefunden. Zu Ende der H. C., nämlich S. 60 in der deutschen Ausgabe von Eberhard Brost3, wird ein Ereignis berichtet, das wir präzis datieren können: Abaelards Schen1

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Mariateresa Fumagalli, Heloise und Abaelard, München und Zürich 1986 (ital. Originalausg., Mailand 1984). Etienne Gilson, Heloise et Abelard, Paris 1938, S. 78: „On peut craindre que cette histoire de grands hommes reduits ä la taille des professeurs qui l'ecrivent manque s o u v e n t . . . " Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, übersetzt von Eberhard Brost, Heidelberg (1938 1 ); zit. Ausgabe dtv 1987 - 4. verb. Aufl. von 1979 (erste, zweite und vierte Aufl. sind je verschieden paginiert).

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Ursula Niggli

kung seiner verwaisten Kapelle Paraklet an die aus Argenteuil vertriebenen Nonnen wurde am 23. Nov.l 1314 durch Papst Innozenz II bestätigt. Die H. C. dürfte wenig später abgefaßt worden sein. 2. Zu Inhalt und Kontext: Da der dreiundfünfzigjährige Abaelard in seine Autobiographie die Bitterkeit einer halben Lebenszeit goß und sie dergestalt abarbeitete, könnte der heutige Leser leicht vom rhetorischen Thema und einem tieferen Verständnis sowohl der Autobiographie als des nachfolgenden Briefwechsels mit Heloisa abgelenkt werden. Der innere Zusammenhang zwischen der Autobiographie und dem Briefwechsel läßt sich mit dem Stichwort: ,Abaelards Entwicklung zum neuen Hieronymus' bezeichnen. Diese Entwicklung zum neuen Hieronymus spricht dagegen, das Desaster der irdischen Liebe zwischen Abaelard und Heloisa in den alles beherrschenden Vordergrund zu rücken und darob den ,monastischen Rest' zu vernachlässigen. Das monastische Happy End zwischen den berühmten Liebenden ist zwar nicht unbestritten, aber Abaelards Überlegungen zu Herkunft und Würde des Nonnenstandes in Brief 7 und seine Klosterregel in Brief 8 verdienen trotzdem unsere Aufmerksamkeit. 3. Zum rhetorischen Thema: Wenngleich die Autobiographie vielleicht kein wirkliches, an einen Adressaten gerichtetes Trostschreiben war, so wurde sie zumindest als ein „Trostschreiben an einen Freund" stilisiert. Aus dem Gesichtspunkt der zeitgenössischen Briefkunst ist das letztere entscheidend: Briefe wurden als Denkmal für die Gelehrsamkeit ihrer Verfasser gesammelt, und es spielte für den mangelnden geschichtlichen Sinn der damaligen Menschen keine Rolle, ob der Brief in dieser Form überhaupt in Umlauf gewesen war. Ein Brief war primär weder ein Geschichtsdokument noch ein Persönlichkeitsausdruck, sondern ein gelehrtes Produkt. Entsprechend maß man der Echtheit des Tones weniger Wert bei als der Stilkunst, mit welcher der Verfasser die traditionell vorgeschriebenen Topoi, Leitmotive eingelöst hatte. - In Abaelards Autobiographie entdecken wir mehr, wenn wir sie aus dem Gesichtspunkt der Ars dictaminis, der zeitgenössischen Anleitung zum Verfassen lateinischer Prosa, lesen, statt uns bloß an Fakten und Emotionen zu orientieren. Tatsächlich hat Abaelard alle vier Topoi, welche die Ars dictaminis für einen Trostbrief vorschrieb, in einer eigentümlichen Weise eingelöst. 4. Die Strukturelemente: In den Hauptteilen der H. C. herrscht der folgende Topos vor: .Nicht minder schweres Unheil ist anderen Menschen widerfahren'. Um seinen Freund zu trösten, schildert Abaelard sein eigenes Unglück anhand von sieben Schicksalsschlägen, die gleichsam zu Aufhängern seines Lebensrückblickes werden. Dabei läßt sich beobachten, daß die beiden auf Heloisa bezogenen Leiden nicht nur biographisch-faktisch, sondern auch formal-literarisch eine Sonderstellung einnehmen. Biographisch-faktisch ist Kalamität 2, das ist die Kastration, mit der Heloisas Onkel sich grausam an ihm rächte, und der durch die Kastration bedingte Klostereintritt um 1116/7 entscheidend für den Gesamtentwurf seines Lebens geworden. Andererseits brachte die neue Aufgabe in Betreuung der Nonnen von Paraklet ab 1129 eine Wende und den „großen Trost" für den Abt des verrotteten Klosters St. Gildas; Kalamität 7 betrifft das neue Odium, das sich Abaelard als Seelsorger und Lehrer der Nonnen und ihrer Äbtissin Heloisa zuzog. - Formal-literarisch ist die Sonderstellung der beiden auf Heloisa bezogenen Leiden daran

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Gegen die nach PL 179,114 C datierende opinio communis: 28. Nov. 1131 nach M. Lalore, Collection des principaux cartulaires du diocese de Troyes t. II: Cartulaire de l'abbaye du Paraclet, Paris 1878, S. 1: 23. Nov. 1131.

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Ursula Niggli

abzulesen, daß ihnen zwei lange Reden zugeordnet sind: Heloisas gelehrter Vortrag gegen eine Eheschließung steht vor Kalamität 2, und Abaelards Ausführungen über die Zusammenarbeit von Männern und Frauen um des Gottesreiches willen steht nach Kalamität 7. Soviel zum ersten, anhand der sieben Unglücksfälle illustrierten Topos: ,Nicht minder schweres Unheil ist mir, oh Freund, widerfahren'. Im Schlußteil der H. C. treten nun die anderen drei Topoi des Typus Trostschreiben auf: ,Das Unglück ist ein verkleideter Segen, es ist ein Sündengericht und es ist eine gottgesandte Prüfung'. Die Weise, wie Abaelard diese weiteren Topoi einlöst - er bezieht sie allesamt auf die eigene Situation - , nährt den Verdacht, daß er seine Autobiographie bloß als Trostschreiben einkleidete. Freilich scheint der Anfang von Brief 2 das Gegenteil zu belegen. Heloisa schrieb: „Einen Trostbrief an einen Freund . . . hat mir ein Zufall jüngst in die Hand gespielt... Du hast in dem Brief wirklich das Versprechen erfüllt, das Du in seinem Eingang Deinem Freunde gabst: ein vergleichender Blick auf Deine Heimsuchungen, und sein Leid mußte ihm nichtig und unbedeutend scheinen!" Der Umstand, daß Heloisa die Autobiographie als wirkliches Trostschreiben auffaßte, besagt aber im Licht der damaligen Einstellung gegenüber Briefen wenig: Heloisa faßte die Autobiographie als Trostschreiben auf, weil sie erfolgreich als solche stilisiert war. Ihr Verfasser könnte nach wie vor seinen Trostbriefempfänger fingiert haben. Die eigentümliche Weise, in der Abaelard die vorgeschriebenen Topoi einlöste, besteht wie gesagt darin, daß er sie allesamt auf die eigene Situation anwendete. Er gebrauchte diese drei Leitmotive nicht wie Eliphas, Bildad und Zophar im Buch Hiob, um seinen Freund zu trösten, bzw. um dessen Situation zu klären. Im Licht dieser Strukturanalyse ist es sinnvoll zu behaupten: Abaelards als Trostbrief an einen Freund stilisierte Autobiographie wirkte vornehmlich auf ihren Verfasser tröstlich. 5. Zwei Hypothesen zum Empfänger der H. C.: Aufgrund spärlicher Hinweise halte ich es für möglich, daß es sich beim Empfänger um den S. 49 erwähnten „befreundeten Kleriker" handelte, mit dem Abaelard zur Gründungszeit seines Oratoriums Paraklet Anfang der zwanziger Jahre zusammen lebte. Nach S. 14,17 und 69 f hat der Empfänger die scholastische ,Belagerung von Paris' zwischen 1109 und 1111 miterlebt, kennt aber Abaelards späteren Erfolg an der Domschule von Notre-Dame nur vom Hörensagen. Er wird ein „aus theologischen Gesprächen sehr vertrauter Gefährte" genannt und leidet für seinen Dienst als Kleriker um Christi willen. Daneben läßt sich eine andere Hypothese über den Empfänger stellen: Der Abaelardschüler Berengar hat uns nicht nur Abaelards Glaubensbekenntnis an Heloisa, die (übrigens bei Brost mitabgedruckte) Epistula 17 überliefert, sondern er hat uns in einem Brief auch ein Selbstgespräch Abaelards mitgeteilt, in dem sich ein Ρ und Α besprechen, wohl Petrus und Abaelardus. Ich erwähne dieses neuerdings auch kritisch edierte Soliloquium,5 weil es die Struktur der Autobiographie erlaubte, auch sie als ein Soliloquium, bzw. als eine Epistula soliconsolatoria, als Selbsttrostschreiben aufzufassen. Denn in ihr vermittelte Abaelard seinen Lesern eine Deutung seiner Geistesart und seiner leidvollen Vita, die vornehmlich auf ihn selber tröstlich wirkten, daher so/iconsolatoria. 6. Die Pointe dieser Deutung: Diese Selbsttrost-Autobiographie gibt dem Leser, der auf ihre Struktur achtete, auch den Schlüssel zu ihrer Deutung an die Hand. Abaelard berich-

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Von Ch. Burnett in: Studi medievali 26 (1985).

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tet nämlich von einem wiederholt gelesenen Brief des Hieronymus an Asella (S. 61 f), der ihm „großen Trost" spendete. Der im Trostschreiben gespiegelte Trost und mithin der Schlüssel zu Abaelards Autobiographie ist also seine Identifikation mit Hieronymus. Der Schlußteil der H. C., S. 57 ff, ist mit expliziten Hinweisen auf Hieronymus durchsetzt, und schon im vorangehenden klangen Charakterzüge an, die Abaelard mit seinem Wahlverwandten Hieronymus, dem Kirchenvater des vierten Jahrhunderts teilt: Beider Unbotmäßigkeit wurde durch die christliche Philosophie zum Guten gewendet. Sie verstehen sich gleichermassen als Erben profaner und christlicher Bildung. Beide wurden mehrmals durch die Animosität anderer vertrieben, fanden aber in der Anhänglichkeit ihrer Schüler Trost. Schließlich wurde beiden die Aufgabe übertragen, gebildete und fromme Frauen geistlich zu betreuen. - Mit der Pointe dieser Deutung sind der Spannungsbogen und die Klimax des an die Autobiographie anschließenden Briefwechsels mit Heloisa bezeichnet. Der Briefwechsel läßt uns an Abaelards Entwicklung zum neuen Hieronymus teilnehmen.

Die Interpretation dreier Streitfälle 1. Die Herausforderung durch die Studenten des Anselm von Laon: Abaelard berichtet, wie ihn die Studenten des Anselm von Laon foppten, nachdem sie merkten, daß er Anselms Vorlesungen schwänzte. Auf ihre Frage, was er vom Lesen der Hl. Schrift halte, antwortete der fünfunddreißigjährige Student, der bisher vornehmlich Philosophie studiert hatte: „Ihr Studium ist für das Seelenheil gewiß sehr bedeutungsvoll. Allein ich wundere mich, daß den Belesenen für das Schriftverständnis nicht diese Schriften selber samt einer Glosse (das ist ein paraphrasierender Kommentar - U. N.) genügen, sondern daß sie noch eine andere Lehrautorität brauchen." Brosts Übersetzung der H. C. ist ausgezeichnet, aber das schließt nicht aus, daß sie sich in Einzelheiten noch verbessern läßt. Brost schrieb statt „Lehrautorität" „Hilfsmittel", das ist für lat. ,magisterium' wenig spezifisch und im Kontext verharmlosend. Denn Abaelard, der nicht länger im Schatten Anselms sitzen wollte und deshalb seine Vorlesungen schwänzte, meinte mit ,magisterium' zweifellos dessen Lehrautorität. Der Hohn, den der seinem Alter und Können nach fortgeschrittene Student über die größte damalige Autorität im Fach der Theologie ergoß, ist Ausdruck jugendlichen Ubermutes und goliardischer Rebellionslust, aber auch einer schmerzlichen Enttäuschung; denn Anselm von Laon war der Lehrer von Abaelards „vorzüglichem Lehrer" Wilhelm von Champeaux, und Abaelard hatte sich von einem Theologiestudium in Laon viel versprochen. Stattdessen traf er einen alten Routinier ohne geistige Bedeutung, dessen Wortfülle erstaunlich und dessen Feuer den Hörsaal mit Rauch erfüllt habe, der aber im Zwiegespräch von Frage und Antwort kein Licht verbreitet hätte. Abaelards Replik auf die Fangfrage der Anselm-Studenten fiel ziemlich selbstbewußt aus. Er kam unumwunden zur Sache und wirkt in seiner Offenherzigkeit fast ein wenig naiv. Gewiß hätte er diplomatischer, d. h. auf die Fragenden abgestimmter und in der Sache ausweichender, aber schwerlich ehrlicher antworten können. Er bekundete ein ernsthaftes Interesse an seinem neuen Studienfach, hält das Schriftstudium für existentiell bedeutsam. Aber als fortgeschrittener Student der Dialektik und Rhetorik, der bereits auf eigene Erfolge als Lehrer zurückblickte, machte er keinen Hehl aus seinen Bedenken gegen die Lehrmethoden in Laon. In seinen kühnen Worten kündigte sich an, daß er neue wissenschaftliche Wege in der Theologie beschreiten würde. Als die Anselm-Studenten spöttisch reagierten und ihn zu einem Probestück auf seine Großsprecherei aufforderten, konnte das nur nach Abaelards Geschmack sein. Am

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nächsten Tag fesselte er seine Kommilitonen mit der Auslegung einer schwierigen Ezechielstelle, die sie ihm aufgegeben hatten. Sein Erfolg in kleinem Kreise sprach sich herum, und mit der fama, dem Widerhall von Abaelards Brillanz, schritt wie immer die invidia einher, diesmal war es die Eifersucht des Altmeisters von Laon. Er verbot dem jungen Hitzkopf die Fortsetzung seiner exegetischen Vorlesung. Und da der Einfluß von Abaelards Gönner Stephan von Garlande, dem königlichen Seneschall, nicht bis nach Laon reichte, mußte sich Abaelard Anselms Machtwort fügen. Er kehrte nach Paris zurück. - In dieser Episode werden die Motive der Beteiligten glaubhaft geschildert. Im Ergebnis gewann Abaelard neben begeisterten Hörern in Alberich und Lotulf zwei erbitterte Konkurrenten, die ihm in Soissons seine erste Verurteilung eintragen werden. 2. Der zweite Streitfall fand sieben Jahre später während der Verhandlungen in Soissons statt. Es handelt sich um ein Streitgespräch mit Alberich: Ich bin der Ansicht, daß diese Anekdote der geschichtlichen Wahrheit über den Verurteilungsgrund in Soissons näher kommt als all die sog. Kritik an Abaelards Lehre. In Begleitung seiner Studenten sprach Alberich privat bei Abaelard vor und erkundigte sich: Obgleich Gott Gott gezeugt habe und es nur einen Gott gebe, bestreite er in seinem Opus, daß Gott sich selbst gezeugt habe. Abaelards Anerbieten, ihm den Punkt rational auseinanderzusetzen, lehnte Alberich schroff ab. „In solchen Fragen kommt es gar nicht auf die menschliche Vernunft und euer Meinen an, sondern auf die maßgeblichen Zeugnisse der Kirchenväter." Hierauf schlug Abaelard in dem von Alberich mitgebrachten Folianten von Abaelards erster Theologie das einschlägige Augustinuszitat nach, wonach kein Wesen, auch Gott nicht, sich selbst zeugt. Sicher war das für Alberichs Studenten peinlich: Wie konnte er, der so viel Wert auf Autoritäten legte, dieses Zitat übersehen haben! Aber Alberich suchte sein Gesicht zu wahren und entgegnete: „Dieses Zitat ist einer guten Erklärung bedürftig!" Brost übersetzte diesen Satz mit: „Nun schön, das kann man ja verstehen". Das ist sprachlich zwar möglich, bringt unsere Episode aber um ihre Pointe. Auch in der Sekundärliteratur, ζ. B. Fumagalli S. 123, bleibt die Pointe unverstanden. Nach der gängigen Deutung erhellt zwar die peinliche Abfuhr für Alberichs Studenten, aber es bleibt unklar, warum es Abaelard im folgenden gelingt, seinen Herausforderer in ohnmächtige Wut zu treiben. Im Originaltext lautet Alberichs Auskunft: „Bene est intelligendum", d. h. in meiner Übersetzung: „Es (wohl das beigebrachte Augustinuszitat - U. N.) muß gut verstanden werden", bzw. verdeutlichend: „Es bedarf einer guten Erklärung." Bei Unterlegung dieses Sinnes wird Abaelards Replik verständlich. Abaelard erwiderte: Das sei nichts Neues, stehe aber jetzt nicht zur Debatte, da Alberich erklärtermaßen nur die Worte, nicht ihren Sinn gesucht hätte. Falls ihn freilich der Sinn interessiere, sei er zu erklären bereit, inwiefern ihm, Alberich, mit der These, der Vater sei sein eigener Sohn (d. h. mit der These der Selbsterzeugung Gottes), eine Irrlehre unterlaufe. Wutschnaubend und unter Drohungen brach Alberich auf. Die Pointe besteht m. E. darin, daß Alberich mit der Verlegenheitsauskunft: „Das bedarf einer guten Erklärung" just denjenigen Standpunkt der menschlichen und vernünftigen Argumente einnahm, von dem sein überlegener Kontrahent ausgegangen war. Abaelard wies auf diesen Widerspruch hin und wiederholte sein Angebot einer rationalen Erklärung, nicht ohne ihm dabei lustvoll eins auszuwischen: Dann sehen wir, wer Ketzerlehren vertritt! Hatte Alberich Abaelard bei einem Widerspruch in seinem neuen Opus behaften wollen, so war es Abaelard gelungen, den Spieß umzudrehen: Durch die Herbeischaffung des

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einschlägigen Augustinuszitates veranlaßte er Alberich zu einer Äußerung, welche in Widerspruch zur barschen Auskunft am Anfang trat, wonach Alberich auf Vernunftgründe verzichten wollte. Abaelard hatte den Traditionalisten also genau auf den Punkt gebracht, von dem er als Hermeneutiker ausgegangen war. Die Schaustellung vor den eigenen Studenten, die Alberich vorgehabt hatte, wurde zur Blamage - weil der sich als Kritiker aufspielende Alberich als Leser Abaelards versagt hatte, und - wichtiger: weil Alberich nicht konsistent seinen traditionalistischen Standpunkt zu vertreten imstande war, sondern sich in einen Widerspruch verwickelte. Inwiefern kommt diese Anekdote der geschichtlichen Wahrheit über den Grund von Abaelards Verurteilung in Soissons am nächsten? Abaelard wurde für den tüchtigen Exegeten Alberich, der nach dem Tod Anselms zusammen mit Lotulf das theologische Lehrmonopol erstrebte, deshalb gefährlich, weil der Traditionalist lieber „Worte zelebrierte, denen keine Einsicht folgt", statt sich wie Abaelard in seiner ersten Theologie der Anstrengung von menschlichen und philosophischen Begründungen zu unterziehen. Der „Philosoph Gottes" Abaelard mußte seinen theologischen Erstling eigenhändig dem Feuer übergeben, weil er sich als Aufklärer betätigt hatte. Mehrere Fakten sprechen dafür, daß es in Soissons weniger um die Verurteilung eines Irrlehrers ging als darum, einen unbequemen Frager loszuwerden. Der Disput mit Alberich könnte Abaelards Schlüsselerlebnis für die Abfassung von Sic et Non gewesen sein. In Sic et Non sammelte Abaelard widersprüchliche Aussagen von Autoritäten wie Kirchenvätern, Konzilsbeschlüssen und Bibelstellen unter bestimmten Fragen, indem er die einen u n t e r , J a " (Sic) und die anderen unter „ N e i n " (Non) anordnete. Die Autoritäten haben nicht nur, wie Abaelards Zeitgenosse Alain von Lille es ausdrückte, „eine Wachsnase, die man in einem beliebigen Sinn biegen kann", 6 sondern sie widersprechen sich in Sachfragen oft diametral. Es wird daher unausweichlich, diesen Problemen vermittels rationaler Verfahren auf den Grund zu gehen. 3. Ich komme zum dritten Streitfall, dem Disput über den hl. Dionysius: Nach seiner Verurteilung in Soissons und einer kurzen Kerkerhaft in St. Medard durfte Abaelard in sein Kloster St. Denis zurückkehren. Aus Schilderungen des Bernhard von Clairvaux 7 können wir uns ein Bild machen von dem „unverschämten Prunk" der lehnsherrlichen Abteien Cluny und St. Denis. Vor der Reform durch Abt Suger glich das Kloster St. Denis einem Fürstenhof. Bernhard sprach von einer „Synagoge des Teufels", und Abaelard prangerte das „schändliche Weltleben und zügellose Treiben" an. Er berichtet, wie ihn viele seiner Mitmönche als Sittenrichter haßten und wie sich sein Abt Adam sogar vor ihm fürchtete. Das gibt den Hintergrund für die folgende Episode ab. Eines Tages zeigte Abaelard seinen Mitmönchen halb im Scherz Bedas Kommentar zu Apg. 17, 34, wonach Dionysius Areopagita Bischof von Korinth, und nicht wie herkömmlich angenommen von Athen gewesen war. Damit stand die Identität des Pariser Klosterpatrons auf dem Spiel. Der hl. Dionysius von St. Denis war nach der sog. Passio Gloriosae in Paris als Märtyrer für die hl. Trinität gestorben. Im 9. Jh. hatte Abt Hilduin auf den Spuren des Dionysius eigens Griechenland bereist, und in seiner auf Befehl Ludwigs des Frommen verfaßten Dionysius-Vita waren die ursprünglich getrennten Heiligengestalten - der Paulusschüler und der Pariser Märtyrer - mit Hilfe von gefälschten Dokumenten endgültig

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Sed quia auctoritas cereum habet nasum, id est in diversum potestflectisensum, rationibus roborandum est, in: Alanus de Insulis, De fide catholica contra haereticos, PL 210, 333 A. Apologia ad Guillelmum Abbatem, in: S. Bernardi Opera III, ed. Leclercq/Rochais 1963, 103 f und Epist. 78, in: ibid. VII, 1974, 201-210, bes. 203 f.

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verschmolzen worden. Da überdies die von Scotus Eriugena übersetzten vier Schriften eines Neuplatonikers aus dem fünften Jh., der sich für den von Paulus bekehrten Ratsherrn von Athen ausgab, höchstes Ansehen genossen, beruhte der Ruhm der königlichen Abtei St. Denis auf einer doppelt zweifelhaften Überlieferung. Abaelard war zwar noch nicht so genau informiert über den dubiosen Status dieser Uberlieferung, wie wir es heute dank der gründlichen Untersuchung von Max Buchner von 1939 sind, 8 aber Abaelard hatte im englischen Kirchenhistoriker Beda eine konfligierende Autorität ausfindig gemacht und hegte eine generelle Skepsis gegenüber Hilduins Zeugnis. In der H. C. berichtet er, wie man seine nonchalante Äußerung zur ,Staatsaffäre' aufbauschte. Er bat, für seine unvorsichtige Bemerkung der Ordensregel entsprechend bestraft zu werden, aber man drohte, ihn bei der königlichen Gerichtsbarkeit zu verklagen; denn er hätte sich nicht nur als Feind ihres Klosters entpuppt, sondern nach des Reiches Ehrenkrone gegriffen. Auch diese Episode illustriert Abaelards Geistesart: Fast belustigt registrierte er den Widerspruch zwischen Beda und Hilduin. Ihn, den Intellektuellen, interessierte der Sachverhalt, seine Haltung war objektiv-wissenschaftlich. Es wollte ihm nicht einleuchten, daß der Ruhm des eigenen Klosterpatrons, der nachweislich als Märtyrer gestorben war, von einer autoritativ beglaubigten, aber geschichtlich zweifelhaften Tradition abhing. Zu den Hilduin-Fälschungen sei angemerkt: Die Identifikation des hl. Dionysius von Paris mit dem Areopagiten war wie gesagt Hilduins Schöpfung. Hilduin leitete von dem apostolischen Prestige seines Klosterpatrons eine Art vizepäpstlicher Gewalt des Abtes von St. Denis her. Es ist bemerkenswert, daß zu Abaelards Zeit Suger von St. Denis diese machtpolitische Idee einer Zwischeninstanz zwischen der fränkischen Reichskirche und dem römischen Stuhle neu aufleben ließ. Suger fingierte eine Deklaration Karls des Großen, wonach sich die fränkischen Könige in der „Mutterkirche" von St. Denis krönen lassen mußten, und bei der Bestätigung der Bischöfe im Reich sei die ausdrückliche Genehmigung des Abtes von St. Denis einzuholen. Unter der Voraussetzung, daß es um eine vitale Machtfrage ging, läßt sich der Konflikt über den hl. Dionysius besser verstehen: Die Mitmönche bestürmten Abaelard, er möge ihnen sein Urteil über diesen Autoritätenkonflikt Beda-Hilduin nicht vorenthalten. Als Mönche des angesehenen Königsklosters empfanden sie in den Kategorien einer feudal strukturierten Gesellschaft ineins nationalistisch und royalistisch. Dionysius war nicht nur der klösterliche Schutzheilige, sondern zugleich der Patron des französischen Königtums. Die Bestreitung seiner Apostolizität war Hochverrat in ihren Augen. Als sie ob des Sakrilegs auf ihn einschrien, suchte er sie zu beschwichtigen: „Es ist doch unerheblich, ob er der Dionysius vom Areopag oder ein Dionysius von anderswoher ist, Hauptsache, er hat bei Gott (durch sein Martyrium) eine herrliche Ehrenkrone erlangt". In Abaelards Bericht hallt deutlich seine naive Verwunderung darüber nach, wie dieser in goliardischer Nonchalance, der lockeren Art der damaligen Wanderstudenten gesprochene Satz die Mönche nur noch mehr reizte. Wider Willen und ohne Verständnis für die Situation provozierte Abaelard seine Mitmönche als Vertreter einer neuen Geistesart: Als Intellektueller brachte er für die Widersprüchlichkeit des Überlieferten, die Zufälligkeit von Meinungen und die Brüchigkeit etablierter Ordnungen ein besonders scharfes Auge mit. Diese Scharfsicht verband sich bei ihm mit der Unerschrockenheit und Freiheit von einem, der aus seinem persönlichen Nachdenken und Lehren einen Beruf machte, mit der

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Max Buchner, Die Areopagitika des Abtes Hilduin von St. Denis und ihr kirchenpolitischer Hintergrund, Paderborn 1939.

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(bisher noch unbekannten) Freiheit des Intellektuellen. In seiner Logik war das Geschrei über eine solche Lapalie wirklich unverständlich. O d e r es war, wie er argwöhnte, ein bloßer Vorwand, weil man ihn in St. Denis als Tadler sittlich verderbter Zustände ohnehin haßte. Halten wir hier inne, um im Licht der interpretierten Streitfälle und anderer Daten der H. C. ein wenig Vorurteilskritik zu betreiben.

Die kritischen Vorbehalte gegen Abaelards Charakter Die folgenden vier Vorbehalte gegen Abaelards Person und Charakter sind weit verbreitet. Ich entnahm sie den Ausführungen zweier angesehener Gelehrter, Erwin Panofsky' und Mariateresa Fumagalli. 1 0 Dabei geht es mir nicht um persönliche Polemik, sondern um das Symptomatische. I. Nach dem ersten Vorbehalt war Abaelard unleidlich, starrköpfig, kritiksüchtig, ja sophistisch. Gerechtigkeitshalber ist darauf hinzuweisen, daß in den besprochenen Streitfällen die Aggression und Initiative von Abaelards Gesprächspartnern ausging. Abaelard parierte die Herausforderungen jeweils geschickt, ehrlich und sachbezogen, aber lieferte wohl in keinem der drei Fälle ein Glanzstück von Diplomatie. Die Unumwundenheit, mit der er zur Sache kam, konnte brüskieren, aber sie macht den Sophismusvorwurf gegenstandslos. Übrigens verwahrte sich der Philosoph zu Anfang von Abaelards Dialogus ausdrücklich gegen diesen Vorwurf, wenn er dem Juden versichert: „Ich zanke nicht wie ein Sophist, sondern spähe wie ein Philosoph nach Gründen und, was das Wichtigste ist, ich jage nach dem Heil meiner Seele". Etwas zeitgemäßer ausgedrückt: Abaelards Philosoph ist existentiell interessiert an dem, wonach er forscht, es liegt ihm nichts an bloß akademischer Überlegenheit. 2. Abaelard sei ein überreizter Mensch mit Verfolgungswahn gewesen. Es ist eine Tatsache, daß es in Abaelards leidvoller Vita nur wenige Orte gab, an denen er kurzweilig aufatmen konnte: zuhause in Le Pallet, in seiner Eigengründung Paraklet und als schwerkranker Mann in Cluny unter der freundschaftlichen Fürsorge Peters des Ehrwürdigen. Abgesehen von diesen kurzen Friedenszeiten schildert er uns sein Leben als eine Verkettung von Schicksalsschlägen. Ist es verwunderlich, wenn ihn in späteren Jahren ein Gefühl ständiger Bedrohung nicht mehr losließ und ihn dauernd Angst vor neuer Verfolgung peinigte? Das ist nicht nur psychologisch verständlich, sondern es läßt sich auch historisch-kritisch belegen, daß diese Ängste je einen konkreten Anhalt hatten. So belegt etwa Brief 15, daß sein Jugendlehrer Roscelin genau jenen Doppelvorwurf, wonach Abaelard weder über Profanliteratur, noch über Theologie hätte lehren dürfen, vorbrachte, von dem die H . C. S. 35 berichtet, daß er hinter seinem Rücken erhoben wurde. Auch Abaelards Gefühl, seitens zweier neuer Apostel bedroht zu sein, was ihn bewog, die Forschungsgemeinschaft im Paraklet zu verlassen und das undankbare Amt als Abt von St. Gildas anzunehmen, bekommt in einem an Hugo von St. Viktor gerichteten Antwortschreiben Bernhards einen konkreten Anhalt. In diesem Schreiben aus Mitte der zwanziger Jahre ging Bernhard v. C . auf Irrlehren eines ungenannt gebliebenen Theologen ein, und es 9

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Erwin Panofsky (ed.), Abbot Suger on the Abbey Church of St. Denis and Its Art Treasures, Princeton 1946', 1979 2 , Introd. p. [17]. Vgl. oben Anm. 1, und zwar die S. 116, 128 und 132 (ital. Orig. S. 97, 106 und 108).

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handelte sich nachweislich um Abaelard. 11 - Die Beispiele zeigen: Abaelard reagierte seismographisch auf seine Umwelt. In ihrem Buch S. 128 schrieb Frau Fumagalli von dem „immer auf der Lauer liegenden Verfolgungswahn, der dann eine traurige Bestätigung erfahren habe". Und Panofsky behauptete sogar, daß der paranoide Abaelard „reale Verfolgung hervorrief, indem er sich ständig Verschwörungen einbildete". 12 Μ. E. ist das eine Verwechslung von Ursache und Wirkung: Abaelard wurde nicht verfolgt, weil er es paranoid wähnte. Aber man kann es ihm nicht verdenken, daß er Verfolgungsphobien bekam, denn er geriet, was immer er in bester Absicht und erfüllt von seiner Mission tat, in Schwierigkeiten. In den drei Streitfällen kam keine Überreiztheit zum Vorschein: Abaelard reagierte mit einer ungestümen Vitalität, nicht neurotisch, ζ. B. als er Alberich lustvoll eins auswischte und ihn in ohnmächtige Wut trieb. 3. Abaelards stolzes Wichtignehmen der eigenen Person, seine Selbstzentriertheit und Arroganz Stolz und eine gewisse Arroganz mochten die Kehrseite seines nicht illegitimen gesunden Selbstbewußtseins gewesen sein. So rechnete er sich ζ. B. in männlichem Chauvinismus seine Chancen zur Verführung der Angebeteten vor, H. C. S. 91: „Ich dachte sie in Liebesbande zu verstricken, und am Gelingen zweifelte ich keinen Augenblick: war ich doch hoch berühmt und jugendlich anmutig vor anderen und brauchte von keiner Frau eine Abweisung zu fürchten, wenn ich sie meiner Liebe würdigte." Was sein gesundes Selbstbewußtsein betrifft, wäre zum Vergleich ein erstaunlich selbstbewußter Passus des doch so bescheidenen Kant beizuziehen. Kant schrieb als Dreiundzwanzigjähriger in der Vorrede seiner Schrift „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" von dem edlen Vertrauen zu sich selbst, ohne das keine große Leistung abseits der Heeresstraße möglich werde.13 Verwundert es angesichts der Keckheit des 23j. Schustersohnes aus Königsberg, wenn der 35j. Ritterssohn mit einem gesunden Selbstbewußtsein auftrat? Dieses „edle Zutrauen zu sich selber" wirkte wohl in Verbund mit Abaelards bretonischem Temperament, einer gewissen Heftigkeit und Ungeduld, rasch einmal anmaßend. Abaelards Selbstzentriertheit trat an der Struktur seiner Autobiographie klar hervor. Sie mag auch der Grund dafür sein, daß er das erste menschliche Gefühl des nicht reflektierenden Betrachters gegen sich hat, wie Brost S. 427 schrieb. Vergleicht man die H. C. mit Augustins Confessiones - beides sind Autobiographien großer Intellektueller - so fällt auf, wie verschieden sich bei beiden jenes spezifisch christliche Gefühl eigener Unzulänglichkeit, jenes paulinische „das Wollen meines besseren Ichs habe ich, aber nicht das Vollbringen", äußert. Beim Bischof von Hippo ist ein Sündenbewußtsein allgegenwärtig, während es bei Abaelard ersetzt scheint durch das heutigen Menschen wohl näher liegende Gefühl der Scham. Abaelard berichtet uns noch und wieder, auch in bezug auf die Verführung Heloisas und seine wilde Zeit mit ihr, wie ihn pudor und erubescentia martern. Auch am Vorherrschen des Schamgefühls läßt sich Abaelards Selbstzentriertheit ablesen. Denn Sünde und Schuld sind, wenn man von ihrem ursprünglichen, alttestamentlichen Sinn ausgeht, ein Verstoß gegen die Gemeinschaft und müssen in bezug auf sie gesühnt werden. Im Gegensatz dazu ist das Schamgefühl ein vereinzelndes Gefühl des Vor-sich-selbst-Versagthabens; es wirft das Individuum auf sich zurück.

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S. M. Deutsch, Ρ. Α., ein kritischer Theologe des 12. Jh., Leipzig 1883, 466-72 (fünfte Beilage) erbrachte aufgrund einer doktrinalen Analyse erstmals den Nachweis, daß Bernhards Epist. 77 „De Baptismo" auf Abaelard gemünzt war. Vgl. oben Anm. 9: „he invites real persecution by constantly suspecting imaginary conspiracies . . . " Vorrede Absatz VII der zitierten Schrift von 1747.

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Als ein Faktum, das sich bei der Lektüre der H. C. aufdrängt, bedarf Abaelards Selbstzentriertheit der Deutung. Sie ist nicht bloß ein individueller Charakterzug. Zum einen steht sie in Wechselwirkung zu Abaelards Sendungsbewußtsein: Abaelard reagierte auf Fehlschläge und Zurücksetzungen nicht wehleidig, aber er reagierte leidenschaftlich und namentlich dort mit großer Empfindlichkeit, wo sein ganzes Streben, als Gelehrter einen Weg zu Gott zu finden, bedroht war. Bezeichnend ist, daß er seine Kastration tapfer verwand, aber die Ehrabschneiderei in Soissons beinahe larmoyant beklagte. Angesichts von Heloisas Selbstenthüllung in Brief 4 wirkt sein unbeirrbarer geistlicher Führungswille ziemlich hart, und die Unnachsichtigkeit, mit der er auf die gemeinsame Vergangenheit zurückblickt, ist nur vor dem Hintergrund seiner Mission und seines Einsatzes für das monastische Ideal nachvollziehbar. Zum andern steht Abaelards Selbstzentriertheit auch in Relation zu seiner historischen Rolle als Vorkämpfer des modernen Intellektuellen. Losgelöst von feudalen Abhängigkeitsverhältnissen, wie sie sein Vater, der Ritter Berengar, sicher noch unterhielt, hatte er sich in seinem Beruf als Gelehrter eine Emanzipationsgrundlage verschafft. Der persönlichen Ungebundenheit entsprechend, die sich mit dieser neuen Rolle verband, warfen ihn seine Leiden auf sich selber und seine Mission zurück. - Wie anders reagierte sein großer Antipode Bernhard von Clairvaux! Bernhard fühlte sich primär als Glied seiner Kirche, er wurde nicht auf sich als Individuum zurückgeworfen. Abaelards neue wissenschaftliche Methoden in der Theologie empfand er nicht als begrenzten Angriff auf die von ihm vertretene Mönchstheologie, sondern sie galten ihm als Angriff auf das Fundament der Kirche. In Brief 192 rief er beschwörend: „Es geht um Christus!" (als ob es seinem Gegner nicht auch um Christus gegangen wäre). 4. Der vierte und letzte Vorbehalt lautet: Der Leser der H. C. stehe fassungslos vor Abaelards Sucht, die Dinge zu komplizieren und sich stets neues Ungemach zuzuziehen, indem er jederzeit bereit gewesen sei, Regeln umzustoßen, und trotzdem nach Anerkennung und Beifall verlangt hätte. Von Komplikationssucht konnte angesichts der drei Streitfälle nicht die Rede sein. Abaelard zeigte jedes Mal wenig Interesse an einer Eskalation des Konflikts, er ging nuanciert darauf ein, um ihn beizulegen. Was Abaelards Nonkonformismus betrifft, wäre zu prüfen, ob er akzidentieller Art war, gleichsam ein Sich-über-Regeln-Hinwegsetzen aus Laune, oder aber wesenhafter Art. Nur im ersten Fall wäre es billig zu behaupten, Abaelards Bedürfnis nach Anerkennung vertrage sich nicht mit seinem Nonkonformismus. Nun scheint ihm in jedem der besprochenen Streitfälle, ohne daß er sie gesucht hätte, die Rolle des Neuerers zugefallen zu sein, die Rolle des unbekümmert auf die Wahrheit dringenden Intellektuellen: - nämlich erstens angesichts der größten damaligen Lehrautorität im Fach der Theologie und der herkömmlichen Lehrmethoden in Laon - zweitens gegen Anselm von Laons Nachfolger, den Traditionalisten Alberich von Rheims - und schließlich gegenüber den nationalistisch und royalistisch gesinnten Mitmönchen, denen der historisch-kritische Sachverhalt gleichgültig war. Die Unerschrockenheit, mit der Abaelard Fragen stellte, und die Beharrlichkeit, mit der er eine intellektuell überzeugende Sicht anvisierte, machten ihn für das feudale Establishment genauso unbequem und untragbar, wie es seinerzeit die .Stechmücke' Sokrates für das träge Roß Athen gewesen war, weswegen ihm Peter der Ehrwürdige auch zu Recht den Ehrentitel „Sokrates der Gallier" verlieh.14 14

Epitaphia Abaelardi (Grabinschrift): Gallorum Socrates . . . in: PL 178, 103 C.

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Hätte es zur Zeit Abaelards für die Rolle des kritischen Intellektuellen schon einen institutionell konsolidierten Rahmen gegeben, hätte man ihn unter seinesgleichen gewähren lassen können. Aber es gab noch keine Universitäten, sondern erst die Domschulen mit ihren stark fluktuierenden Wanderstudenten. Erst Abaelards durch die damalige Studiensituation bedingte .Breitenwirkung', der Umstand, daß der Nonkonformist „an Wegkreuzungen mit Knaben und Analphabeten über die erhabensten Geheimnisse der Gottheit debattierte", wie es Bernhard v. C. ausdrückte, 15 ließen es dringlich erscheinen, ihn zum Schweigen zu bringen. Im Ergebnis teilte Abaelard nicht einfach den Rebellionsgeist der Goliarden, die respektlos an den bestehenden Ordnungen rüttelten und einer ungehemmten Lebenslust frönten. Abaelards wesenhafter Nonkonformismus gehörte zu seiner Rolle als Aufklärer. Diese Rolle hat auch der spätere Ordensgründer und ,neue Hieronymus' nicht abgelegt. Konfrontiert mit Heloisas humanistischer Aufgeschlossenheit und ihrer Krise als Klosterfrau, trat er zwar voll für die fundamentalen klösterlichen Gelübde des hl. Benedikt ein, aber schrieb zur Nonnendisziplin in Brief 8 S. 302: „Wir verbieten rundweg, eine alte Gewohnheit über das Vernunftgemäße zu stellen. Ein freudiger Gehorsam hat einen durchdachten Befehl zur Voraussetzung. Bei der Begründung einer Maßnahme darf man sich nicht darauf berufen, es sei immer so gemacht worden, und es sei ein alter Brauch; es kommt nur darauf an, daß die Maßnahme gut und vernünftig ist." Damit bin ich am Ende meiner Vorurteilskritik angelangt. Abaelard war gewiß kein Heiliger, und Hagiographie war auch nicht meine Absicht. Die beste Hinführung zu diesem Aufklärer und,Mächtigenschreck' des 12. Jh. bietet nach wie vor seine Autobiographie, in der er sich ungeschminkt porträtierte. Mögen wir ihm zugestehen, was er sich in Abfassung seiner Vita erhofft haben mag: ein wenig Liebe und Verständnis!

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Epist. 331 sq., in: Opera S. Bernardi VIII, ed. Leclercq/Rochäis 1977, 269 ff.

WILHELM BAUM, KLAGENFURT

Europapolitik im Vorfeld der Frühen Neuzeit: König und Kaiser Sigismund vom Hause Luxemburg, Ungarn, Byzanz und der Orient

Von den ungarischen und römisch-deutschen Königen des späten Mittelalters hatte wohl niemand derartig intensive Beziehungen zum byzantinischen Kaisertum und zu den orientalischen Staaten wie Sigismund von Luxemburg ( t 1437), der 1387 König von Ungarn und 1410/11 römisch-deutscher König wurde 1 . Nach dem Tode seines Schwiegervaters Ludwigs I. „des Großen" von Ungarn und Polen (t 1382) und der Heirat mit dessen Tochter Maria (1385) konnte er sich allmählich als König von Ungarn durchsetzen und wurde am 31. 3. 1387 in Stuhlweißenburg gekrönt; er behauptete diese Stellung trotz diverser Umsturzversuche auch nach dem Tod seiner Gemahlin Maria ( t 1395) bis zu seinem Tode.2 Seine Beziehungen zu Byzanz und dem Orient müssen stets aus der ungarischen und der deutschen Perspektive gesehen und beurteilt werden. 3 Er benutzte die Möglichkeiten der traditionellen Politik der ungarischen Herrscher gegenüber Venedig und Byzanz wie auch die Stellung des römisch-deutschen Königs in der europäischen Politik. Zu Beginn des Überblicks über die Beziehungen Sigismunds zu den Paläologen und den Herrschern des Osmanischen Reiches, der Fürstentümer Bosnien, Serbien, Bulgarien und Walachei soll ein Blick auf diese Gebiete und ihren Zustand um 1380 geworfen werden. In Byzanz hatte sich nach langwierigen Bürgerkriegen und mehrfachen Vertreibungen der Paläologe Johannes V. (f 1391) durchsetzen können, der Vater des Kaisers Manuel II. (t 1425)4 und Großvater Johannes, VIII. 5 Bereits Johannes V. hatte Ungarn besucht und Unionsverhandlungen mit dem Papsttum geführt, um auf diese Weise Hilfe gegen die Osmanen zu erlangen. 6 Kaiser Manuel II., der in seiner Jugend einige Zeit als Geisel am ungarischen Hof und 1390/91 als Vasall osmanischen Hof verbringen mußte, floh nach dem Tod seines Vaters 1391 nach Konstantinopel und benutzte 1391/92 den anatolischen Feldzug Bayezits I. gegen das Emirat von Aydin, um das 1387 von den Türken eroberte Saloniki und Teile Mazedoniens wieder zurückzuerwerben. Dies stärkte seine Position, da die Byzantiner außer dem Fürstentum Morea auf der Peloponnes, der Enklave Philadelphia in Westkleinasien (bis 1390) und den Besitzungen in Ostthrakien und der Stadt Konstantinopel nichts mehr besaßen. 7

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Prosopographisches Lexikon der Palaiologenzeit, Fasz. 10, bearb. v. Erich Trapp, (= Österr. Akademie der Wiss., Veröff. d. Komm. f. Byzantinistik 1/10), Wien 1990, 231 f, N r . 25283 (Künftig zitiert als: PLP). Elemer Mälyusz: Kaiser Sigismund in Ungarn 1387-1437, Budapest 1990 u. Wilhelm Baum: Kaiser Sigismund. Konstanz, Hus und Türkenkriege, Graz-Wien-Köln 1993. Loränd von Szilägyi, Die Personalunion des Deutschen Reiches mit Ungarn in den Jahren 1410 bis 1439, in: Ungarische Jahrbücher 16, 1937, S. 145-189.. PLP 9, 1989, 101 f, N r . 21513 u. John W. Barker: Manuel II Palaeologus (1391-1425): Α Study in Late Byzantine Statesmanship, N e w Brunswick-New Jersey 1969.. PLP 9, 1989, 93 f, N r . 21481 u. Walter Helfer: Johannes VIII. Palaiologos. Eine monographische D o k u mentation., phil. Diss., Wien 1969. Gyula Moravcsik: Byzantium and the Magyars, Amsterdam 1970, 98 f. Georg Ostrogorsky: Geschichte des byzantinischen Staates, (= Byzantinisches H a n d b u c h 1/2, München 1952, S. 435 f.

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Wilhelm Baum

Nach dem Zerfall des serbischen Reiches Stefan Duschans (1331-1355), das sich im Süden bis in das heutige Griechenland ausgedehnt hatte, konnten die Türken in der zweiten Hälfte des 14. Jh. bereits große Teile des südlichen Balkan besetzen. Sultan Murad I. (1360-1389) verlegte nach der Eroberung von Adrianopel (Edirne) (1361) den Sultanssitz von Bursa dorthin; seither lag der Schwerpunkt des Osmanischen Reiches in Europa. 8 Nach der Eroberung Philippopels (1363) und dem Sieg über die serbischen Teilstaaten an der Maritza (1371) fiel den Türken ganz Mazedonien in die Hände. Am „Veitstag" („Vidovdan") 1389 besiegte Murad I. in der berühmten Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) den Zaren Lazar von Serbien und die Heere von Bosnien, Bulgarien und Albanien, fand dabei jedoch selbst den Tod. 9 Sein Sohn Bayezitl. (1389-1402) 10 , genannt „der Blitz", setzte die Eroberungspolitik seines Vaters in Europa und Kleinasien fort. Der byzantische Kaiser war wie die Fürsten von Serbien de facto zum Vasallen des Sultans geworden, denen kaum noch eine eigenständige Politik möglich war. Die Balkanfürstentümer waren bisher Vasallenländer der ungarischen Krone und hatten einen „Cordon sanitaire" um Ungarn gebildet, der nun ins Wanken geriet. Die Walachei geriet unter polnische Oberhoheit und behauptete nach der Eroberung Bulgariens (1393) zu Beginn des 15. Jh. unter dem GroßWoiwoden Mircea dem Alten (1386-1418)" ebenso wie die Moldau zwischen den Karpaten und dem Prut unter Alexander dem Guten (1400-1432) ihre Unabhängigkeit von den Türken. Mircea brauchte erst 1414 die Oberhoheit der Türken über die Walachei anzuerkennen und ab 1415 Tribut zu zahlen sowie die Dobrudscha abzutreten. Bosnien wurde 1408 nach der Absetzung von König Twartko II. (+ 1443)12 durch König Sigismund aufgeteilt; der Nordteil fiel an Ungarn, der östliche Teil kam an den serbischen Fürsten Stefan Lazarewitsch (+ 1427) und der Süden an den Fürsten Ostoja ( t 1418)13, möglicherweise einem unehelichen Sohn König Twartkos I. Kotromanic von Bosnien ( t 1391)14. Die Landeseinheit war nicht mehr wiederherzustellen; halb abhängige Fürsten pendelten zwischen der Anlehnung an Ungarn und die Türkei hin und her. 1413 fiel der bosnische Teilfürst Hervoja ( t 1416) von Sigismund ab und rief die Türken ins Land, die Sarajewo besetzten und nach Hervojas Tod einen Teil Bosniens erobern konnten. Anfang Februar 1415 erkannte Sigismund den Fürsten Ostoja als König von Bosnien an und bestätigte dies mit dem „sigillum imperialis". 15 Serbien und Bosnien versuchten durch geschicktes Lavieren zwischen Ungarn und den Türken ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Als König von Ungarn mußte Sigismund sich ein halbes Jahrhundert mit den Türken auseinandersetzen. 16 Im Mai 1392 unternahm er seinen ersten Feldzug gegen die Türken nach Bosnien, wo nach dem Tode König Twartkos I. dessen Bruder Stefan Dabischia die

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Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt, 2. Aufl., 1990, S. 36 f. Constantin Jirecek: Geschichte der Serben, Bd. 2, 1. Hälfte (1371-1537) (1917), Neudruck Amsterdam 1967, S. 118 ff. Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 1, München 1972/74,163 f (künftig zitiert als: BLGOE). PLP 7, 1985, 231 f, N r . 18124 u. BLGOE 3, 1979, S. 221 f. BLGOE 4, 1981, S. 367. BLGOE 3, 1979, S. 369 f. BLGOE 4, 1981, S. 366 f. Nicolae Jorga: Notes et extraits pour servir a 1, histoire des croisades au XVe siecle, Paris 1899, 149. Franz Reiner E r k e n s : . . . Und wil ein grosse Reise do tun. Überlegungen zur Balkan- und Orientpolitik Sigismunds von Luxemburg, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift Erich Meuthen, Bd. 2, hrsg. v. Johannes Helmrath u. Heribert Müller, München 1994, 739-762.

Europapolitik im Vorfeld der Frühen Neuzeit

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Regierung übernommen hatte. Sigismund führte diesen Krieg - den er auch den Venezianern ankündigte - mit Unterstützung seiner deutschen Verwandten; sein Vetter Jobst von Mähren und Graf Wilhelm von Cilli nahmen am Kriegszug teil.17 Bedeutende Erfolge scheint Sigismund dabei nicht erzielt zu haben, aber er vermochte die Türken an der Moravamündung zu schlagen, so daß Belgrad in seiner Hand blieb. Dafür gelang es ihm im Laufe des Jahres 1394, die zu Anfang seiner Regierungszeit verlorengegangenen Besitzungen in Kroatien und Bosnien zurückzuerobern. Unterdessen hatten die Türken im Krieg mit Bulgarien bedeutende Erfolge erzielt und 1393 den bulgarischen Vasallenfürsten Sisman besiegt und die Hauptstadt Trnovo eingenommen. 18 Nur in der Dobrudscha und in Vidin gab es in Zukunft noch bulgarische Fürsten; Ungarn und die Türkei grenzten nun erstmals aneinander. Am 12. 4. 1394 nahm Bayezit I. Thessalonike ein.19 Konstantinopel wurde zwischen 1393 und 1399 fast ununterbrochen von den Türken belagert und in seiner Existenz gefährdet. 20 Bereits 1394 ersuchte Sigismund die Republik Venedig um Unterstützung in einem Krieg gegen die Türken, was die Serenissima jedoch ablehnte. 21 Im Februar 1395 kam Sigismund nach Kronstadt, wo sich der von den Türken vertriebene Mircea aufhielt und Schloß mit ihm einen Vertrag über seine Wiedereinsetzung ab.22 Im Mai 1395 kam es zu einer Schlacht bei Rovine, in der der von Sigismund protegierte Walachenfürst Mircea vermutlich über die Türken siegte,23 die auf Ersuchen einiger walachischer Bojaren den Fürsten Vlad I. (1394-1395) als Gegenregenten eingesetzt hatten. Dieser wurde jedoch von Sigismunds siebenbürgischen Statthalter Stibor wieder vertrieben.2,t Der König zog bis Klein-Nikopolis am linken Donauufer, vertrieb die osmanische Besatzung und setzte Mircea, der mit seinen Söhnen Michael (1418-1428) und Vlad II. Dracul (1435-1466) 25 an den Kämpfen teilnahm, nach dem Sommerfeldzug des Jahres 1395 wieder als Woiwoden ein.26 Während die Türken es bisher vorwiegend mit den christlichen Balkanfürsten zu tun hatten, griff nun König Sigismund von Ungarn in das Geschehen ein. Der Krieg gegen die Türken bot ihm die Möglichkeit, sein durch den ungarischen Bürgerkrieg und die Auseinandersetzungen mit Ladislaus von Neapel angeschlagenenes Image in Ungarn und in der europäischen Politik zu heben, und verschaffte vielen Angehörigen eines funktionslos werdenden Rittertums unter dem Motto „Deus lo volt" („Gott will es") die Möglichkeit, 17

Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hrsgt. v.Joseph Seemüller, ( - Monumenta Germaniae Historica. Deutsche Chroniken 6), (Hannover 1906/09), Neudruck München 1980, 206 u. Gustav Beckmann: Der Kampf Kaiser Sigmunds gegen die werdende Weltmacht der Osmanen 1392-1437, Gotha 1902, S. 5 f. 18 Stanford Shaw: History of the ottoman empire and modern Turkey, Bd. 1: Empire and Gazis: The Rise and Decline of the Ottoman Empire, 1280-1808, Cambridge-London-New York-Melbourne 1931.. " A. Bakalopoulos: Zur Frage der zweiten Einnahme Thessalonikes durch die Türken 1391-1394, in: Byzantin. Zeitschr. 61, 1968, 285 ff. 20 A. Bakalopulos : Les limites de 1, empire byzantin depuis la fin du XlVe siecle jusqu, ä sa chute (1453), in: Byzantinische Zeitschrift 55, 1962, 56-65, hier 57. 21 Max Silberschmidt: Das orientalische Problem zur Zeit der Entstehung des Türkischen Reiches nach venezianischen Quellen, (= Beitr. z. Kulturgesch. d. Mittelalters u. d. Renaissance 27), Leipzig-Berlin 1923, 47 f. 22 Nicolae Jorga: Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 1 (bis 1451), (Gotha 1908), Neudruck Frankfurt 1990, 276. 23 Nikolaus Iorga: Geschichte der Rumänen und ihrer Kultur, Hermannstadt/Sibiu 1929, 103; Donald M. Nicol: The Last Centuries of Byzantium 1261-1453, London 1972, 316 u. u. Peter Schreiner: Die byzantinischen Kleinchroniken, (= Corpus Fontium Historiae Byzantinae XII/1), Wien 1975, 357. 24 Jorga (1990), 293. 25 PLP 3, 1978, 78, Nr. 5817. 26 Elemer Mälyusz: Kaiser Sigismund in Ungarn 1387-1437, Budapest 1990,141.

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die ideale Gesellschaft zu errichten, die in der Ritterideologie propagiert wurde. Ein Hauptvertreter der spätmittelalterlichen Kreuzzugsidee war Philippe de Mezieres ( t 1405), der sich in Frankkreich für Sigismunds Kreuzzugspläne einsetzte. 27 Im April 1395 trafen die Briefe Sigismunds in Frankreich ein, die am Hof König Karls VI. auf ein starkes Echo fielen, hatte doch Graf Philippe d'Artois, Graf d'Eu, der Connetable von Frankreich, mit einigen hundert französischen Rittern am Feldzug Sigismunds im Jahre 1395 teilgenommen. 28 Fürst Stefan Lazarevic von Serbien führte dem Sultan bei den kommenden Auseinandersetzungen vertragsgemäß seine Hilfstruppen zu. Stefan Dabischia von Bosnien war im Juli 1393 von Sigismund bei einem Treffen in Djakovo als König von Bosnien anerkannt worden und hatte sein Land den Ungarn vermacht. 29 Vor Ende 1394 schrieb Manuel II. an Sigismund, Konstantinopel sei von den Türken eingeschlossen und müsse übergeben werden, wenn keine Hilfe komme. 30 Es war dies der erste nachweisbare Kontakt zwischen Sigismund und dem Kaiser von Byzanz. Vor Beginn des Türkenkrieges versuchte er, Unterstützung aus ganz Europa zu gewinnen. Manuel schickte den Diplomaten Manuel Philanthropenos nach Buda, um ein Bündnis mit Sigismund auszuhandeln. 31 Das Bündnis kam Ende 1395 oder Anfang 1396 zustande. Manuel II. verpflichtete sich, auf eigene Kosten 10 und auf Kosten Sigismunds 3 weitere Schiffe auszurüsten und für den Kreuzzug bereitzustellen. 32 Pseudo-Phrantzes (Makarios Melissenos) dagegen berichtet, es sei Sigismund gewesen, der Manuel II. zur Teilnahme am Krieg aufgefordert habe. 33 Dukas hingegen berichtet, es sei Manuel gewesen, der sich an den „Kral" Sigismund von Ungarn gewendet habe. 34 Der wichtigste potentielle Verbündete der Kreuzfahrer war die Republik Venedig, die allein in der Lage war, den Nachschub der Türken von Asien nach Europa mit ihrer Flotte zu unterbrechen. Es ging nun darum, die zwei Zielsetzungen, die Entlastung der ungarischen Südfront und den Entsatz von Byzanz miteinander zu verbinden. Bereits im September 1394 ließ Sigismund den Feldzug in Venedig für das kommende Jahr ankündigen und ersuchte um Unterstützung. Die Antwort war jedoch ausweichend; Venedig wollte so lange wie möglich den Frieden und die Handelsprivilegien im osmanischen Herrschaftsbereich bewahren und erklärte, es könne den Kreuzzug nur unterstützen, wenn auch von 27

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Nicolas Jorga: Philippe de Mezieres 1327-1405. La croisade au XlVe siecle, (Paris 1896), Neudruck London 1973, 488. Joseph v. Hammer-Purgstall: Geschichte des osmanischen Reiches, Bd. 1: Von der Gründung des osmanischen Reiches bis zur Eroberung Constantinopels 1300-1453, (Pest 1827), Neudruck Graz 1963, 237 u. Aziz Suryal Atiya: The crusade of Nicopolis (1934), London o.J. (1978?), 36 f. Jirecek I I / l (1967), 132. Franz Dölger: Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reiches von 565 - 1453, Bd. 5: 1341-1453, (= Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren Zeit, Reihe A: Regesten, Abtlg. 1), München-Berlin 1965, 82 f, Nr. 3251. ebenda, 83, Nr. 3255; vergl. dazu: Johann Wilhelm Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa, Bd. 1: Urgeschichte und Wachstum des Reiches bis zum Jahre 1453, Hamburg 1840, 287. Sime Lubic: Listine ο odnosajih izmedju juznoga slavenstva i mletacke republike, (= Monumenta spectantia historiam Slavorum meridionalium 4), Zagreb 1874, 359, N r . 508; vergl. dazu: Silberschmidt (1923), 151; Klaus-Peter Matschke: Die Schlacht bei Ankara und das Schicksal von Byzanz. Studien zur spätbyzantinischen Geschichte zwischen 1402 und 1422, (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 29), Weimar 1981,109 u. Kenneth Μ. Setton: A History of the Crusaders on Europe, Vol. 6: The impact of the crusaders on Europe, hrsg. v. Harry W. Hazard u. Norman P. Zacour, Madison 1989, 252. Georgios Sphrantzes: Memorii 1401-1477. In anexa Pseudo-Phrantzes: Macarie Melissenos Cronica 1258-1481, hrsg. v. Vasile Grecu, Bukarest 1966, 198-201, Kap. XIV. Ducas: Historia Turcobyzantina (1341-1462), hrsg. v. Vasile Grecu, (= Scriptores Byzantini), Bukarest 1958, 79, Kap. 8.

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anderer Seite Hilfe käme. 35 Die ersten Zusagen kamen daher von Frankreich und Burgund. Im März 1395 beschloß Venedig dann, sich mit einem Viertel der von den christlichen Mächten bereitzustellenden Flotte am Kreuzzug zu beteiligen. 36 Sigismund und die Kreuzfahrer sollten von Ungarn aus auf Konstantinopel vorstoßen und die Venezianer mit der byzantinischen Flotte für die Türken den Übergang über die Meerengen sperren. Im April 1396 meldete ein Gesandter Sigismunds den Venezianern, daß dieser zu Pfingsten (21. 5. 1396) den Kreuzzug eröffnen werde. 37 Eine Mission des ungarischen Königs an den französischen Hof Anfang 1396 blieb nicht ohne Erfolg; die Rundschreiben Sigismunds wurden überall bekanntgemacht. Herzog Philipp der Kühne von Burgund schickte Hilfsgelder, und von Deutschland kam ein Kreuzfahrerheer mit dem Grafen Johann („Ohnefurcht") von Nevers, dem Sohn des Herzogs von Burgund 38 , Pfalzgrafen Ruprecht (t 1397), dem Nürnberger Burggrafen Johann und Graf Hermann II. von Cilli 39 , das Ende Juli 1396 in Ofen von Sigismund begrüßt wurde. Eine florentnische Gesandtschaft bemühte sich vergeblich, Sigismund mehr für die italienischen Anliegen zu interessieren. 40 Die Kreuzfahrer hatten aus den Erfahrungen der Vergangenheit wenig gelernt. Sigismund schlug eine eher defensive Strategie vor und wollte die Türken nach Ungarn hineinlocken, um sie dann von den dortigen Festungen aus anzugreifen. Er kannte ihre Stärke und vertrat wie die früheren byzantinischen Kaiser die Auffassung, die Sicherheit der Christenheit hänge von der Erhaltung des eigenen Reiches ab. Die Franzosen aber plädierten für eine Offensive und glaubten, man könne die Türken leicht besiegen und durch Anatolien nach Syrien und zu den heiligen Stätten vorrücken. 41 Sigismund war jedoch skeptisch; er wollte den kommenden Winter in Ungarn verbringen und erst im Jahr darauf nach Jersusalem ziehen. Ihm ging es mehr um den Schutz Ungarns als um den Kreuzzug nach Jerusalem. 42 Auch in Zukunft blieben seine Kreuzzugspläne stets eher allgemein und verfolgten kaum kurz- oder mittelfristige Ambitionen. Beckmanns Bild von Sigismunds Konzeption seiner Führerschaft der Christenheit gegen den Islam und der Befreiung Jerusalems muß daher relativiert werden; es handelte sich dabei um durchwegs konventionelle Vorstellungen, die lediglich den Hintergrund der aktuellen politischen Pläne Sigismunds illustrieren. 43 Während die französischen Kriegsschiffe ins Schwarze Meer segelten, zog das Kreuzfahrerheer 1396 über Siebenbürgen in die Walachei, wo es sich mit dem Woiwoden Mircea und seinen Truppen vereinigte. König Sigismund zog durch das Eiserne Tor und besetzte Vidin und Orschowa in Bulgarien. Sultan Bayezit erfuhr durch einen abgefangenen Brief Sigismunds an Kaiser Manuel von den Plänen der Kreuzfahrer und brach sofort die Belagerung Konstantinopels ab und sammelte in Adrianopel seine Armee von etwa 11-12 000 Mann. Sigismund befehligte die Armee der Kreuzfahrer von etwa 9-10 000 Mann.44

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42 43 44

Silberschmidt (1923), 98 ff. ebenda, 107. ebenda, 158. Joseph Calmette: Die großen Herzöge von Burgund, München 1963, 88. BLGOE 1, 1972/74, 314 f. Nicolae Jorga: Notes et extraits pour servir a 1, histoire des Croisades au XVe siecle, sec. serie, Paris 1899, 64 f. Steven Runciman: Geschichte der Kreuzzüge, Bd. 3: Das Königreich Akkon und die späteren Kreuzzüge, München 1960, 464 f. Erkens (1994), 754. Beckmann (1902), 70-73; vergl. dazu: Erkens (1994), 739 ff u. 760 f. Runciman III (1960), 464 spricht von „annähernd hunderttausend Mann", Jirecek I I / l (1967), 134 von 60 000, Barker (1969) von „upward of 100 000 men" und Nicol (1972) von „nearly 100 000 men". Hans

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Die Kreuzfahrer zogen am linken Donauufer entlang bis Orschowa am „Eisernen Tor" und setzten dann auf die rechte Seite, das Gebiet der Türken, über. Dann marschierte das Heer an der Südseite bis Widdin, dem Sitz des den Türken tributpflichtigen Fürsten Ivan Sracimir (f 1396)45, der sofort zu den Kreuzfahrern überging. Die Franzosen griffen dann die stark befestigte Stadt Rahova an und wären fast von den Türken aufgerieben worden, wenn Sigismund nicht mit den Ungarn gekommen wäre. Dann erreichten die Kreuzfahrer, die in den eroberten Städten die Türken niedergemetzelt hatten, die stark befestigte Stadt Nikopolis. Hier sollte es sich als verhängnisvoll erweisen, daß Sigismund sich gegenüber den Franzosen nicht durchsetzen konnte. 46 Unterdessen kreuzte die venezianische Flotte die den ausdrücklichen Befehl hatte, nicht weiter als bis Konstantinopel hinaus ins Schwarze Meer zu fahren 47 - vor Byzanz, während die Flotte der Johanniter von Rhodos und der verbündeten Kreuzfahrer mit den kaiserlichen Galeeren ins Schwarze Meer vor die Donaumündung fuhr. Bei der Belagerung von Nikopolis zeigte sich das bunt zusammengewürfelte Kreuzfahrerheer wenig diszipliniert. Nach zwei Wochen kam Sultan Bayezit mit einem wohl disziplinierten Entsatzheer. Der Sultan war ein tüchtiger Heerführer und achtete auf strenge Disziplin, während bei den Kreuzfahrern Streitereien ausbrachen. Die Franzosen wollten eine Schlacht erzwingen und brachten Sigismund dazu, ihnen nachzugeben; als Heerführer versagte der König, der nicht fähig war, Disziplin durchzusetzen. 48 Die Ritter aus dem Westen informierten Sigismund nicht einmal von ihrem Vorgehen sondern stürmten einen Hügel hinauf, wo ihnen der Sultan mit frischen Truppen entgegenkam. Sigismund wollte den Verbündeten zu Hilfe kommen, aber seine schwerbewaffneten Panzerreiter wurden von den Janitscharen und den osmanischen Lehensreitern zum Fluß zurückgetrieben; die walachischen und siebenbürgischen Gefolgsleute flohen. Die Schlacht von Nikopolis am 25. 9. 1396 wurde infolge der wenig straffen Führung des Kreuzfahrerheers zu einem Desaster für die Armee Sigismunds, der sich gegen die Verbündeten nicht durchsetzen konnte und als Feldherr versagte. Zunächst gab es Rivalitäten um das Recht des „Vorstreites", des Beginns des Kampfes, das die Franzosen beanspruchten. Es wirkte sich verhängnisvoll aus, daß Sigismund ihnen nachgab. 49 Die Belagerer von Nikopolis griffen die von der Höhe auf dem rechten Donauufer heranstürmenden disziplinierten Türken frontal an. Als der serbische Fürst Stefan Lazarewitsch auf Seiten der Türken in den Kampf eingriff, gab Sigismund den Kampf auf und floh mit dem Grafen von Cilli, dem Nürnberger Burggrafen und dem Graner Erzbischof Johannes Kanizsai mit einem Schiff donauabwärts bis Kilia an der Donaumündung und von dort zum Schwarzen Meer und nach Konstantinopel. 50 Die 1431 von einem Bulgaren verfaßte und in einer serbischen und zwei russischen Miksch: Der Kampf der Kaiser und Kalifen, Bd. 2: Ungarn zwischen Kreuz und Halbmond, Koblenz 1990, 206 f beziffert das Heer Sigismunds mit „mehr als 50 000 Mann, davon allerdings nur etwa 30 000 bis 40 000 Kombattanten" und beziffert die Zahl der teilnehmenden Franzosen auf 10 000 Mann, 10 000 aus dem römisch-deutschen Reich, je 6 000 Engländer und Polen. Alle diese Zahlen dürften jedoch viel zu hoch gegriffen sein; Mälyusz (1990), 133 schätzt das Heer auf 9 000 bis 10 000 Mann. Barbara Tuchmann: Der ferne Spiegel, München, 12. Aufl., 1994, 488-502, schildert das Geschehen aus der Perspektive von Enguerrand de Coucy. 45 46 47 48 49 50

BLGOE 2, 1976, 254 f. Atiya (o.J.), 85 ff. Silberschmidt (1923), 159. Atiya (o.J.), 77. Miksch II (1990), 212 ff. Runciman III (1960), 466-469; Nicol (1972), 318 f u. Atiya (o.J.), 98 f (der hier irrtümlich von venezianischen Schiffen spricht!).

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Fassungen erhaltene Vita des serbischen Despoten von Konstantin dem Philosophen berichtet über die Teilnahme Stefans am Kampf gegen Sigismund. 51 Auch die türkischen Geschichtsschreiber Seadeddin (Saad-al-Din) in seiner „Chronik über den Ursprung des ottomanischen Hauses" und Leunclavius in den „Annalen der ottomanischen Sultane" berichten über die Schlacht. 52 In einem Enkomion von Isidor von Monemvasia für Kaiser Manuel heißt es, daß der Ungarnkönig auf byzantinischen Schiffen geflohen sei. 53 Dies wird auch von einer byzantinischen Kleinchronik bestätigt, die die Flucht des „rex" der Ungarn mit den kaiserlichen Galeeren erwähnt. 54 Der etwa 1470 gestorbene byzantinische Geschichtsschreiber Chalkokondyles berichtet eingehend über die Schlacht. Es lohnt sich, auf den Bericht näher einzugehen, da er etwas von den - teilweise verworrenenen - Vorstellungen eines Griechen über die Verhältnisse in Mitteleuropa widerspiegelt. Im 2. Buch seines Werkes kommt Chalkokondyles auf die Schlacht zu sprechen. Sigismund sei ein deutscher Fürst (hegemon te Germanen) gewesen, der sich meist in Wien (!) aufgehalten habe und den die Ungarn zum König gewählt hätten. 55 Darauf folgt der bekannte Deutschland-Exkurs des Chalkokondyles. 56 Nach dem Ungarn-Exkurs kommt Chalkokondyles wieder auf Sigismund zu sprechen. Nach seinem Regierungsantritt in Ungarn habe er Gesandte zum Papst geschickt, um ihn als römischen Kaiser zu bestätigen. Diese Würde hätten die Päpste zuerst den Königen der Franken für ihre Kämpfe gegen die Mauren verliehen. Als der Papst Sigismund die Würde versprochen habe, hätte er einen Romzug unternehmen wollen, der jedoch daran gescheitert sei, daß die Venezianer ihm den Weg versperrt hätten. Von Oberitalien sei er dann nach Mailand und von dort nach Rom gezogen, wo der Papst ihn zum Kaiser (basileus) gekrönt habe. Nach der Kaiserkrönung (!) habe er den Papst um Unterstützung für seinen Kriegszug gegen die Barbaren aufgefordert. Sigismund aber habe ihn um Geld und Soldaten ersucht, worauf der Papst sich an den französischen König und den Herzog von Burgund gewandt habe, die 8 000 Mann zugesagt hätten. Auch der Papst habe ihm reichlich Geld geschickt. Nach den Rüstungen sei Sigismund mit den Kreuzfahrern, Ungarn und Walachen gegen Bayezit gezogen. Die Franzosen seien dann - selbstgefällig und unbesonnen, wie sie zumeist seien - als erste vorgerückt, um den Sieg allein für sich zu beanspruchen. Auf der Flucht seien sie schließlich mit den eigenen Leuten zusammengestoßen. In diesem Durcheinander seien auch die Ungarn und die Deutschen besiegt und in die Donau getrieben worden. Auch Sigismund sei in größte Gefahr geraten und fast gefangengenommen worden, bis er ein Schiff bestiegen habe, mit dem er nach Konstantinopel zum Kaiser gefahren sei. 57 Richtige Detailkenntnisse gehen hier mit falschen chronologischen Zuordnungen durcheinander! Zumindest ein Teil der Flotte, die vor der Donaumündung kreuzte, bestand aus byzan-

51

Lebensbeschreibung des Despoten Stefan Lazarevic von Konstantin dem Philosophen, hrsg. v. Maximilian Braun, ( = Slavo Orientalia 1), Wiesbaden 1956, 14 f.

52

Atiya (o.J.), 34.

53

A n o n y m o n Panegyrikos eis Manouel kai loannen tous Palaiologous, in: Sp. Lampros: Palaioiogeia kai Peloponnnesiaka, Bd. 3, Athen 1926, 160; vergl. dazu: Matschke (1981), 109.

54

Elpidio Mioni: Una inedita cronaca bizantina (dal Marc. gr. 595), in: Miscellanea Agostini Pertusi, Τ . 1, ( = Rivista di studi bizantini e slavi 1, 1981, 7 1 - 8 7 , hier 75, N r . 23.

55

Laonici Chalcocandylae Historiarum Demonstrationes, hrsg. v. Eugen Darkö, ( = Editiones criticae scriptorum Graecorum et Romanorum Academiae Litterarum Hungaricae), 2 Bde, Budapest 1 9 2 2 / 2 7 , hier Bd. I, 64.

56

Europa im 15. Jahrhundert von Byzantinern gesehen, übers, v. Franz Graber, ( = Byzantinische Geschichtsschreiber 2), Graz-Wien-Köln 1954, 1 6 - 1 8 .

57

Chalkokondyles I (1922), 6 8 - 7 1 (Für Übersetzungshilfen danke ich Herrn Dr. Herbert Wurm, Tamsweg, der mir alle Sigismund betreffenden Stellen übersetzte).

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tinischen Schiffen, der Rest stammte von den verbündeten Kreuzfahrerfürsten aus Griechenland und den Johannitern von Rhodos. Der Vorwand, mit Manuel über ein neues Bündnis verhandeln zu wollen, kaschierte nur die katastrophale Niederlage des Königs, der sich nicht recht getraute, wieder in Ungarn zu erscheinen, wo man ihn dringend gebraucht hätte. Der abassidische Kalif von Kairo soll Bayezit nun offiziell den Titel Sultan des „Römerlandes" (= Rum) verliehen haben. 58 Fortan gliederte sich das osmanische Reich in zwei Bereiche: Anatolien in Asien und „Rumelien" in Europa. Die Orthodoxie erlangte gewissermaßen die Stellung einer zweiten Staatsreligion. „Der Stadtstaat Byzanz hatte jede gesellschaftsgestaltende Kraft verloren und hielt sich mühsam in einem Bereich, der kaum über die mächtigen Stadtmauern hinausging." 59 Das osmanische Gesellschaftssystem wurde allmählich in den Augen der Orthodoxen zur akzeptierten sozialen Ordnung, was schließlich dazu führte, daß man in den Resten der „fränkischen" Kreuzfahrerstaaten in Griechenland die Eroberung durch die Türken durchaus als Befreiung empfand; nur am Hof und in Konstantinopel lebte man noch in der alten Reichsideologie von der „Oikumene", die durch das Kaisertum repräsentiert wurde. Für eine Reihe von Jahren kam es zu keinen ernsthaften Aktionen mehr gegen die Türken. Sigismund selbst kam auf der Flucht Ende September oder Anfang Oktober nach Konstantinopel, von wo er am 11. 11. 1396 dem Großmeister der Johanniter einen euphorischen Brief schrieb, er habe die Reichshauptstadt gerettet, da sie ohne sein Eingreifen in die Hände der Türken gefallen wäre. Auch spricht er von einer Liga zwischen dem Kaiser, ihm, Venedig und Genua, die freilich nie Zustandekommen sollte. 60 Kaiser Manuel schrieb im Oktober seinem Lehrer Demetrios Kydones, Sigismund sei kurz nach seiner Abreise gekommen; er bezeichnete ihn dabei als „rex", nicht aber als „basileus", gemäß seinem Selbstverständnis, der einzige rechtmäßige „basileus" zu sein." Diese Titulierung führt zur Frage des Selbstverständnisses des Basileus und zur Terminologie der byzantinischen Geschichtsschreibung bezüglich des römisch-deutschen Königs. Chalkokondyles und Syropoulos - zwei Autoren des 15. Jh. - bezeichnen Sigismund in der Regel als „Basileus" 62 , Dukas hingegen als „Kral" 63 und der vermutlich auf Isidor von Kiew zurückgehende „Anekdotos Panegyrikos'auf Sigismund aus der Zeit des Basler Konzils als „Basileus" und „Autokrator". 64 Der Titel „Basileus" wird von Chalkokondyles als gleichbedeutend mit „Rex" großzügig allen möglichen christlichen und mohammedanischen Herrschern verliehen, wie ζ. B. an die Könige von Portugal, Kastilien, Navarra, Aragon, Valencia, Sardinien, Frankreich, England, Ungarn, Sizilien, Neapel und Zypern, außerdem auch an die Herrscher von Bulgarien, Serbien (Stefan Dusan) und Trapezunt und die Osmanen- und Mamelukensultane, die tartarischen Khane und die Großfürsten von Litauen. Der Titel „Hegemon" findet sich bei Chalkokondyles bei den russischen

58

Matuz (1990), 43.

59

Miksch II (1990), 216.

60

Η . V. Sauerland: Ein Brief des Königs Sigmund von Ungarn an den Großmeister des Johanniterordens Philibert von Naillac, in: Neues Archiv der Ges. f. ältere deutsche Geschichtskunde 21, 1896, 5 6 5 f u. Barker (1969), 482 f, Appendix X I .

61

The letters of Manuel II. Palaeologus, hrsg. v. George T . Dennis, ( = Corpus Fontium Historiae Byzantinae VIII), Washington 1977, 80 f, N r . 31.

62

Chalkokondyles II, 24 u. Les „Memoires" du Grand Ecclesiarque de l'Eglise de Constantinople Sylvestre Syropoulos Sur le concile de Florence ( 1 4 3 8 - 1 4 3 9 ) , hrsg. v. V. Laurent, ( = Publications de l'Institut francaise d'etudes byzantines), Paris 1971, 114: basileus ton Alamanon, ebenso 126 f, 1 8 0 - 1 8 3 u. 584 f.

63

Dukas (1958), 78 f, Kap. 8.

64

Anekdotos Panegyrikos tou autokratoros tes Germanias Sigismoundos, hrsg. v. Spyridon Lampros in: N e o s Hellenomnemon 15, 1921, 1 1 3 - 1 2 6 , hier 113 f.

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Fürsten und Großfürsten, den Fürsten Serbiens (ζ. B. Lazar oder Georg Brankovic), Burgunds, Rumäniens und den Despoten von Morea. Weiters verwendet er ihn bei den Herzögen von Mailand, den Herrschern über italienische Städte wie Treviso und Padua, türkischen Großwesiren und kleinasiatischen Fürsten: „Basileus" und „ H e g e m o n " lassen sich bei Chalkokondyles jedoch nicht immer scharf trennen. Chalkokondyles bezeichnet Sigismund als „Rhomaion basileus kai autokrator" (I, 64,2), „Hegemon Germanon" (I, 64,7), „Bienes tes Germanon poleos hegemon" (I, 68,8), „Rhomaion autokrator" (I, 69,1; 69,6 u. 70,6), „Rhomaion basileus" (I, 70,23; 73,14 u. II, 24,7 u. 34,21) sowie „basileus Paionon" (= von Ungarn) (II, 95, 18; 187,9 u. 187,11). Der um 1573/75 schreibende PseudoPhrantzes (Makarios Melissenos) bezeichnet Sigismund als „tes Germanias basileus". 6 5 Die erwähnte - bis 1462 reichende - byzantinische Kleinchronik bezeichnet Sigismund im Zusammenhang mit Nikopolis als „basileus ton Oungron ho Sigismountos" und im Zusammenhang mit der Reise des Kaisers nach Ungarn 1424 als „basileus ton Alamanon". 6 6 Im Vordergrund seiner Darstellung steht bei Chalkokondyles ( t ca. 1470) 67 eher die Geschichte der Türken als die des byzantinischen Staates; wenn er nur vom „hö basileus" spricht, meint er meist den Sultan. Der byzantinsche Kaiser ist für ihn der „Basileus" der Hellenen oder von Byzanz und der „Rhomaion basileus" der abendländische Kaiser. 68 Allerdings bezeichnet er Konstantin XI. auch allein als „Basileus" (II, 162, 3 f)· Er nennt Sigismund bereits im Zusammenhang mit dem Feldzug von 1396 „Rhomaion basileus", obwohl dieser damals nur König von Ungarn war. 69 Den Romzug und die Kaiserkrönung durch den Papst (den „großen Erzpriester" = megas archiereus") berichtet Chalkokondyles in seinem Deutschland-Exkurs - der sich auf die Verhältnisse vor 1456 bezieht - als vor dem Kreuzzug von 1396 geschehen! Entscheidend ist für Chalkokondyles bei Sigismund jedoch nicht der - auch anderen Königen verliehene - Titel des „basileus", sondern der des „basileus te kai autokrator Rhomaion", den er dem weströmischen Kaiser überläßt, während der griechische Kaiser der „basileus ton Hellenon" oder „Byzantiou" ist. In der Titulatur des Königs Sigismund spiegelt sich die alte byzantinische Vorstellung, „der Basileus" sei der einzige, auch zu einer Zeit wider, als das einst so stolze Reich bereits beinahe zu einem Stadtstaat mit einigen Außenposten (Peloponnes und ägäische Inseln) geworden war. Nur Karl dem Großen hatten die Byzantiner 812 den Titel eines „Basileus" zuerkannt, gleichzeitig aber „den Titel Basileus Rhomaion zum Kennzeichen des einzig von Gott legitimierten Weltherrschers gemacht." 7 0 Die Vorstellung von der weltumspannenden Idee der ununterbrochenen Stellvertreterschaft Gottes im christlichen Weltreich durch den Kaiser ging auf Konstantin zurück. „Bis zuletzt und trotz allem hielten die Byzantiner an dem D o g m a fest, daß ihr Herrscher der einzige rechtmäßige Kaiser sei und als solcher das natürliche Haupt der christlichen Oikumene s e i . . . . Byzanz klammerte sich an die Ideen, durch die es einst die östliche Welt geistig beherrschte. Aber die harte Wirklichkeit entzog dieser Idee unbarmherzig den Boden." 7 1

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7t)

71

Sphrantzes (1966), 198 f. Mioni (1981), 76, N r . 41. Herbert Wurm - Ernst Gamillscheg: Bemerkungen zu Laonikos Chalkokondyles, in: Jb. d. österr. Byzantinistik 42, 1992, 213-219. Herbert Hunger: Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, ( - Byzantinisches Handbuch V/1), München 1978, 486. H a n s Ditten: Bemerkungen zu Laonikos Chalkokondyles' Deutschland-Exkurs, in: Byzantinische Forschungen 1, 1966, 49-75, hier 49 u. 65. Franz Dölger: Bulgarisches Zartum und byzantinisches Kaisertum, in: Byzanz und die europäische Staatenwelt. Ausgew. Aufsätze u. Vorträge, Darmstadt 1964183-196, hier 153. Ostrogorsky (1952), 440.

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Zurück zum Aufenthalt König Sigismunds in Konstantinopel! Anfang 1397 ermahnte der Patriarch Antonios IV. von Konstantinopel König Wiadislaw JagieJlo von Polen, gemeinsam mit Sigismund den Krieg gegen die Ungläubigen fortzuführen. Dem Metropoliten Kyprian von Kiew schrieb er in einem Brief, Sigismund wolle im März einen neuen Feldzug beginnen. 72 Bayezit I. aber ließ noch im Winter 1396 Konstantinopel von neuem einschließen. Er versuchte auch, den Mitkaiser Johannes VII., den Sohn von Manuels Bruder Andronikos IV., gegen seinen Onkel aufzuwiegeln und ließ auf der asiatischen Seite des Bosporus 1395 die Festung Anadolu Hisar erbauen. Außer den Besitzungen im Peloponnes (Morea) und einigen Ägäisinseln gehörte zum Byzantinischen Reich damals nur noch ein Gebietsstreifen in Ostthrakien bis zum Schwarzmeerhafen Mesembria sowie ein Küstenstreifen in Thessalien und die Halbinsel Chalkidike. 7 3 König Sigismund hatte Konstantinopel nach Abfassung des Briefes an den Großmeister der Johanniter per Schiff verlassen und kam über Rhodos am 6. 12. nach Modon, der venezianischen Festung an der Westküste des Peloponnes 74 am 21. 12. 1396 nach Ragusa (Dubrovnik) und reiste über Split, das er Anfang Januar 1397 erreichte und Knin nach Slawonien. 75 Die Tatsache, daß er unbehelligt von den Türken von der Donaumündung bis nach Konstantinopel und weiter nach Ragusa reisen konnte, obwohl diese weite Teile des Festlandes beherrschten, verdeutlicht, daß sie im Marinebereich den Christen immer noch weit unterlegen waren. Als Sigismund durch die Dardanellen fuhr, stellten die Türken höhnisch ihre Gefangenen zur Schau. Darunter war der kaum 16jährige Bayer Johann Schiltberger, der in Nikopolis in türkische Gefangenschaft geraten war, aus der er sich nach 30 Jahren befreien konnte und über die er dann berichtete. 76 Sigismund war unterdessen in Sicherheit; sein Bündnisangebot wurde vom Dogen von Venedig abgelehnt. Die Pläne bezüglich eines neuen Türkenkreuzzuges verliefen im Sande. Wie bei vielen Plänen Sigismunds hatte auch dieses Versprechen keine Folgen. Kaiser Manuel II. erhielt lediglich aus Frankreich Unterstützung von 1200 Kriegern unter der Führung des Marschalls Boucicaut, der den Kaiser zu einer Werbereise nach Europa überredete. 77 Gemeinsam brachen beide Ende 1399 nach Paris auf, 78 während Manuels Neffe Johannes V I I . die Regentschaft führte. Manuel weigerte sich, den orthodoxen Glauben für materielle Hilfe zu opfern und blieb in Paris, bis er von der Niederlage Bayezits in der Schlacht bei Ankara am 2. 7. 1402 durch Tamerlan (Timur Lenk), den Tatarenherrscher von Samarkand, erfuhr, wodurch das Byzantinische Reich eine letzte Atempause erhielt. 79 In dieser Schlacht kämpfte der serbische Despot Stefan Lazarevic mit

72

Franz Miklosich u. Joseph Müller: Acta Patriarchatus Constantinopolitani M C C C X V - M C D I I , 2 Bde (Wien 1862), Neudruck Aalen 1968, hier Bd. 1 , 2 8 0 - 2 8 2 , N r . 515f u. Les Regestes des actes du Patriarcat de Constantinople, Vol. I: Les Actes des Patriarches, Fase. VI: Les Regestes de 1377 a 1410, hrsg. v. J. Darrouzes, (= Le Patriarcat Byzantin, Serie I), Paris 1979, 3 0 2 - 3 0 5 , N r . 3 0 3 9 f; vergl. dazu: Barker (1969), 150 f; Gyula Moravcsik: Byzantium and the Magyars, Amsterdam 1970, 99 u. Nicol (1972), 320 f.

73

Bakalopulos (1962), 64 f u. Barker (1969), Karte. Silberschmidt (1923), 168.

74 75

Chronica Ragusina, hrsg. v. Speratus Nodilo, (= Monumenta spectantia historiam slavorum meridionalium 25, Scriptores II), Zagreb 1893, 182.

76

Johann Schiltpergers Reisebuch, hrsg. v. V. Langmantel, (=•= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 172), Tübingen 1885, 7: „ D a namen sie uns auß dem thuren unnd fürten uns zu dem mere und stehen ainen nach dem anderen dem chönig Sigmundt zu tratz und schrien in nach, das er herauß tret auß der galein und löset sein volck, und das thetten sie im zu ainem gespötte.".

77

Nicol (1972), 321.

78

Schreiner (1977), 365 f.

79

ebenda, 370; vergl. dazu: Nicol (1972), 3 2 6 ff u. Runciman (1977), 44 f.

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seinem Neffen Georg Brankovic auf Seite der Türken mit. Nach der Schlacht orientierte er sich an König Sigismund und erhielt als sein Vasall Belgrad und die Macva, also das Gebiet, das der König 1392 nach der Schlacht bei Branicevo im Kampf mit Bayezit I. und seinem Schwager Stefan Lazarevic erobert hatte; damals wurde Belgrad erstmals serbische Hauptstadt. 80 Auf der Rückreise nach Serbien erhielt Stefan in Konstantinopel von Johannes V I I . die ad personam verliehene Despotenwürde. Bereits zu Beginn des Krieges hatte Bayezit 1401 mit Byzanz Frieden geschlossen und die sechsjährige Belagerung der Stadt aufgehoben. Nach seinem Tod 81 setzte sich sein Sohn Süleyman in den europäischen Besitzungen durch, während Mehmet I. (1413-1421) zunächst nur Anatolien beherrschte. 8 2 Die europäische Position der Türken hatte jedoch standgehalten; nach der Auffassung von Dukas lebten damals bereits mehr Türken in Europa als in Anatolien. Es war also nicht so, als ob jetzt die Möglichkeit bestanden hätte, die Türken leicht aus Europa zu vertreiben. Die Zeit der Kreuzzüge war seit Nikopolis vorbei. Die Republik Venedig verfolgte zudem eine Politik des Gleichgewichts im griechischen Raum; da sie maßgeblichen Anteil am Niedergang von Byzanz seit dem 4. Kreuzzug hatte, blieb ein möglicher Wiederaufstieg des Kaisertums ein Trauma der Serenissima, die nach der Schlacht von Ankara auf einen Ausgleich mit den Türken hinarbeitete. 8 3 Als römisch-deutscher König widmete Sigismund sich in den ersten Jahren vor allem der Überwindung des Schismas innerhalb der katholischen Kirche; die Wirren innerhalb der osmanischen Herrscherdynastie verschafften ihm auf dem Balkan eine mehrjährige Atempause, die er zu militärischen Reformen in Ungarn und dem Ausbau eines Verteidigungssystemes nutzte. 84 In den osmanischen Thronwirren trat Süleyman im Januar oder Anfang Februar 1403 dem Reichsverweser Johannes V I I . im Vertrag von Gallipoli für die Anerkennung als türkischer Herrscher Thessalonike mit dem Athos und den Inseln Skiathos, Skopelos und Kyros und mehrere Städte an der Küste Thrakiens bis Mesembria oder sogar Varna ab 8 5 und heiratete die uneheliche Tochter von Manuels Bruder Theodor I. 8 6 von Morea. Die Venezianer erhielten Athen und andere Orte. Der Vertrag wurde zwischen Süleyman auf der einen und dem Mitkaiser Johannes VII., Venedig, Genua und den Johannitern von Rhodos geschlossen. Im Vertrag bezeichnet Süleyman den Mitkaiser Johannes als seinen „Vater". 8 7 Er knüpfte hier an die mittelalterliche Vorstellung von der Familie der Könige an, die in den Beziehungen der Byzantiner zu ihrer dynastischen Umwelt eine große Rolle spielten; nach ihrer Vorstellung gab es drei Stufen in den Beziehungen der „Basileis" als Christusstellvertretern und irdischen Weltherrscher, die der Freundschaft, der Vaterschaft und der Bruderschaft. An der Spitze der Oikumene steht der Basileus Rhomaion. 8 8 Der Sultan wurde somit zum „Sohn" und Verbündeten des Kaisers. Der im Westen weilende Manuel II. war in die Verhandlungen zunächst nicht involviert; er wollte sich nicht voreilig binden und hielt am Konzept fest, die christlichen Staaten Europas für einen Kreuzzug zu

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Jirecek I I / l (1967), 140. Schreiner (1977), 376 f. Nicol (1972), 329. Matschke (1981), 41 f. Erkens (1994), 743-745. Dölger V (1965), 75, Nr. 3201; vergl. dazu: George T. Dennis: The Byzantine-Turkish Treaty of 1403, in: Byzantium and the Franks 1350-1420, London 1982, 72-88, hier 77-80; Bakalopulos (1962), 59 u. Nicol (1972), 335. PLP 9, 1989, 88 f, Nr. 21460. Matschke (1981), 40-51. Franz Dölger: Die „Familie der Könige" im Mittelalter, in: Byzanz und die europäische Staatenwelt. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Darmstadt 1964, 34-69.

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gewinnen. Nach seiner Rückkehr akzeptierte er jedoch den Vertrag mit Süleyman. Nach seiner Rückkehr aus Europa übernahm er wieder die Regierung; sein Neffe Johannes VII. wurde Statthalter in Thessalonike. Der tatenlose Süleyman wurde 1411 ermordet, als er nach Konstantinopel fliehen wollte. Zunächst trat nun Bayezits zweiter Sohn Musa die Regierung an89, eroberte Thessalonike wieder zurück und begann eine neue Belagerung Konstantinopels. 90 Mehmet I. aber besiegte 1413 mit Hilfe von Byzanz und Stefan Lazarevic von Serbien seinen Bruder Musa und setzte sich als Alleinherrscher durch. 91 Er gab Thessalonike und andere von Musa besetzte Städte an Manuel II. zurück, mit dem er zeitlebens in guten Verhältnis blieb.92 König Sigismund von Ungarn hatte sich mittlerweile 1408 mit dem Vorschlag einer christlichen Besetzung von Gallipoli an die Venezianer gewandt, deren Flotte er dazu benötigte. 93 Er wollte von Kilia aus nach Gallipoli vorstoßen. „Wahrscheinlich hatte der König, der seine alten Beziehungen zum byzantinischen Kaiser nie unterbrochen hatte, von diesem die Anregung erhalten, die Zwietracht unter den türkischen Dynasten zu benutzen, um sich mit vereinten Kräften des Hafens zu bemächtigen." 94 Diese aber antworteten wie üblich, sie seien nur dann zu einem deratigen Unternehmen bereit, wenn auch andere christliche Staaten sich daran beteiligten.95 Dazu aber kam es nie, und der Kreuzzug unterblieb. 1410/11 wurde Sigismund von den Kurfürsten zum deutschen König gewählt. Das Trauma von Nikopolis wirkte bei dem Luxemburger weiter, der noch kurz vor seinem Tod davon schwärmte, an der Spitze des christlichen Europa gegen die Türken zu ziehen. Direkte Kontakte zwischen Kaiser Manuel und Sigismund sind seit dem Kreuzzug von Nikopolis erst wieder im Mai 1411 nachweisbar, als eine Gesandtschaft unter der Leitung des Humanisten Manuel Chrysoloras ( t 1415)96 nach Rom gekommen war, um Vorschläge des Kaisers bezüglich einer Wiedervereinigung der byzantinischen Kirche mit Rom zu überbringen. Davon erfuhr auch Sigismund, der dem Kaiser in Sachen der Kirchenunion schrieb. 97 Er erklärte, er habe die Wahl zum römischen König nur angenommen, um so leichter einen Feldzug gegen die Ungläubigen organisieren zu können, kündigte ihm einen neuen Kreuzzug („passagium terre sancte") an und legte ihm seine Vorstellungen über eine Wiedervereinigung zwischen Katholiken und Orthodoxen vor. Die Kontakte des Königs zu Manuel stellen den Schlüssel zum Verständnis seiner Konzilspläne dar. 98 Er dachte auch an die Befreiung des Heiligen Landes und erklärte, daß er den Papst Johannes XXIII. als einzigen Papst anerkenne, von dessen in Rom geplanten Konzil jedoch nicht viel halte, da es dort keine geeigneten Persönlichkeiten gebe, um das Werk der Wiedervereinigung voranzutreiben. Die Wiedervereinigung im Glauben sei eine Voraussetzung für den geplanten Kreuzzug. 99 Nachdem der Humanist Manuel Chrysoloras Sigismund die

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Schreiner (1977), 393. Jorga I (1990), 356. Runciman (1977), 47. Ostrogorsky (1952), 442 f. Beckmann (1902), 11 f. Jorga I (1990), 346. Barker (1969), 269. PLP 12, 1994, 253, Nr. 31165. Barker (1969), 522 f weist nach, daß Manuel Chrysoloras Sigismund nicht vor 1414 persönlich kennenlernte!. Walter Brandmüller: Das Konzil von Konstanz 1414-1418, Bd. I: Bis zur Abreise Sigismunds nach Narbonne, (= Konziliengeschichte, Reihe A), Paderborn 1991. Heinrich Finke: Acta Concilii Constanciensis, 4 Bde, Münster 1896/1928, hier Bd. 1, 391-394, Nr. I l l ; RI XI/2 (1900), 433, Nr. 1224 u. Dölger: Regesten V (1965), 98, Nr. 3329; vergl. dazu: Beckmann (1902), 13.

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Bereitschaft zu einer Union mitgeteilt hatte, ersuchte dieser den „frater carissime" um Vorschläge für Ort und Zeit des Konzils. Da bei der Bevölkerung von Konstantinopel wie auch in der einflußreichen orthodoxen Kirche in den Balkanländern und in Rußland kein großes Interesse an einer Wiedervereinigung bestand, die ein mächtiger Kaiser wie Michael V I I I . nach dem Konzil von Lyon nicht durchsetzen konnte, gab es auch nicht die geringste Aussicht, die Basis der orthodoxen Kirche für eine derartige Wiedervereinigung zu gewinnen. Im Frühjahr 1412 wandte sich König Sigismund wiederum mit einem Brief an den Kaiser, in dem er sich über die Venezianer beklagte, an ihre Raubzüge nach Morea und Konstantinopel sowie an den Raub des Reichsgutes und ungarischer Gebiete erinnerte und seine Absicht mitteilte, sich zum römischen Kaiser krönen zu lassen und nach Italien zu ziehen, nachdem er Venedig im März besiegt habe. Er schickte ein Verzeichnis der eroberten Plätze und forderte Manuel auf, mit genuesischer Hilfe die Venezianer zur See anzugreifen und den Markt in Konstantinopel für sie zu sperren. Auch erinnerte er den Kaiser an die Eroberung Konstantinopels 1204 durch die Venezianer sowie an die Wegnahme von Negroponte (Euböa) und Kreta sowie der Festungen Modon (Methoni) und Koron auf der Peloponnes durch die Venezianer. 100 Der alte Warenweg von Kilia an der Donaumündung über das genuesische Kaffa auf der Krim nach „Chatan" (Nordchina), der durch die Züge Tamerlans unterbrochen worden war, sollte wieder geöffnet werden. Dadurch sollte der Handel von den venezianischen Routen nach Ägypten abgezogen werden. Er erwähnte auch eine mögliche Unterstützung durch den König von Polen und kam dann auf das Verhältnis des Basileus Rhomaion zum Rex Romanorum zu sprechen. Bereits im 12. Jh. bot Kaiser Alexios I. Komnenos dem Papsttum Schutz vor den Deutschen und verlangte dafür die römische Kaiserkrone. 1 0 1 Die byzantinischen Kaiser haben den Anspruch auf die Einzigartigkeit des Basileus Rhomaion nie aufgegeben. Dies wußte auch Sigismund, als er Manuel an die altrömische Idee der Reichsteilung erinnerte, als mehrere Kaiser sich „cooperatores" gewählt und das Reich geteilt hätten, damit es besser verwaltet werden könne. Er wolle Manuel im Besitz des griechischen Reichs anerkennen und unterschied zwischen dem „Graecorum imperator" und dem „Romanorum imperator" („ut nos Romanorum imperator et vos Grecorum imperator intitularemur"). 1 0 2 Offensichtlich betrachtete Sigismund die beiden römischen Reiche als Einheit. Dabei erwog er die „Möglichkeit eines einzigen Imperiums im antik-hegemonialen Sinne, in das sich der griechische und der römische Kaiser wegen zu großer Ausdehnung des Herrschaftsbereiches ohne Kompetenzschwierigkeiten teilen könnten." 1 0 3 Der ans Phantastische grenzende Plan zeigte den mangelnden Realitätssinn Sigismunds. Seine wirtschaftspolitischen Pläne schienen sich jedoch eher zu verwirklichen zu lassen. Von einem Palästinazug war im zweiten Brief Sigismunds jedoch keine Rede mehr. D a ß freilich auch die Vorstellungen der Byzantiner völlig unrealistisch geworden waren, zeigt sich ζ. B. daran, daß Manuels Sohn Johannes 1439 auf dem Konzil von Florenz die Wiedervereinigung der beiden Reichshälften zu Gunsten des byzantinischen Kaisers forderte, wobei er

100 Vergl. dazu: Beckmann (1902), 57 u. Denis A. Zakythinos: Le Despotat grec de Moree, Ed. par Chryssa Maltezou, London 1975, 2 Bde, hier Bd. 1,166 f. 101

Walter Norden: Das Papsttum und Byzanz. Die Trennung der beiden Mächte und das Problem ihrer Wiedervereinigung bis zum Untergang des byzantinischen Reichs, Berlin 1903, 90.

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Finke I (1896), 3 9 4 - 3 9 9 , N r . 112 u. R I X I / 2 (1900), 1226.

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Odilo Engels: Der Reichsgedanke auf dem Konstanzer Konzil, in: Das Konstanzer Konzil, hrsg. v. Remigius Bäumer, ( = Wege der Forschung 415), Darmstadt 1977, 3 6 9 - 4 0 3 , hier 375.

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dann konzedierte, der Herzog von Mailand könne sein Reichsvikar für den Westen des Reiches werden! 104 Die Langlebigkeit derartiger Konzepte ist erstaunlich, vermochte sie doch den beiden Kaiserwürden auch am Ende des Mittelalters noch einen letzten Rest des alten Glanzes zu verleihen. Die Belebung des Handelsweges von der Krim nach Nordchina bezieht sich auf den Weg, den der Missionar Wilhelm von Rubruk 1253/55 bereiste. 105 Der Tatarenkhan Pulad Beg von Kiptschak in der Nogaier Steppe und an der Wolga im Gebiet der „goldenen Horde" 1 0 6 hatte 1410 das bereits von Tamerlan zerstörte venezianische Tana (Asow) am Asowschen Meer besetzt, die Genuesen jedoch geschont. Er sollte Sigismunds antitürkische Politik unterstützen; eine Gesandtschaft sollte mit dem Khan über die Öffnung des Weges verhandeln. Schon seit Beginn seiner Wirtschaftsblockade gegen Venedig, das 1409 das früher ungarische Zara besetzt hatte, versuchte Sigismund, asiatische Herrscher im Rücken des Osmanischen Reiches in seine Politik einzubeziehen und den Handel Venedigs zu unterbinden. 107 Die Idee eines Kreuzzuges tauchte gelegentlich noch in unverbindlicher Form bei ihm auf. Seit der Niederlage von Nikopolis trug er sich auch mit dem Gedanken, das Burzenland auf dem Balkan an den Deutschen Orden zu übertragen - eine Idee, die er erst 1427 vorübergehend verwirklichen konnte! Der polnische Chronist Dlugosz berichtet, daß 1412 eine Abordnung des Tatarenkhans nach Ofen zu König WladysJaw von Polen kam, der seinen früheren Schwager Sigismund besuchte, um beiden Unterstützung gegen ihre Feinde anzubieten. 108 Demnach unterhielt Sigismund bereits zu dieser Zeit Kontakte mit den Tataren. In einer Urkunde vom 16. 2. 1428, in der Sigismund seinen Gesandten Nikolaus Szentpäly „Sarazenus" und Josa Turcus Güter in Ungarn verlieh, heißt es, der König habe sie Vorjahren „ad principem Mohemethan dominum Tartarorum de Ahorda" geschickt. Damit ist vermutlich Ulugh Mehmed, der Sohn Hasan Tasch-Timurs gemeint, der von 1419 bis 1423 Chan des Kiptschak war; damit läßt sich die Gesandtschaft auf 1419/23 zeitlich festlegen. 109 Beim Ausgleich zwischen Sigismund und Wladyslaw im Vertrag von Lublau 1412 konzedierte der Ungarnkönig Polen die Oberlehnsherrschaft über das Fürstentum Moldau; gleichzeitig wurde aber vereinbart, daß der Woiwode bei einem türkischen Angriff beide unterstützen müsse. Unterlasse er dies, sollte das Fürstentum geteilt werden und Ungarn den Hafen Kilia erhalten. Der Vertrag zeigt das enorme Interesse, das Sigismund an dem Stützpunkt an der Donaumündung hatte. 110 Kilia wurde 1420 von den Türken erobert, gelangte dann jedoch wieder an den Woiwoden der Moldau zurück. Erst Johannes Hunyadi konnte es 1448 für zwei Jahrzehnte für Ungarn erwerben. Sigismunds Pläne für den Ausbau der Route von Ungarn über Kilia nach Asien wurden damit endgültig zerstört. 111 104 105

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N o r d e n (1903), 724. Hermann Heimpel: Zur Handelspolitik Kaiser Sigismunds, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23, 1930, 145-156, hier 148. Berthold Spuler: Die Goldene Horde. Die Mongolen in Rußland 1223-1502, 2. Aufl., Wiesbaden 1965. Wolfgang von Stromer: Die Kontinentalsperre Kaiser Sigismunds gegen Venedig 1412-1413, 1418-1433 und die Verlagerung der transkontinentalen Transportwege, in: Trasporti e sviluppo economico, (= Istituto internazionale di storia economica F. Datini, Publicazioni, Ser. II, Atti delle Settimane di studio e alti Convegni), Firenze 1986, 61-84. Dlugoss, Buch X I , zitiert nach Beckmann (1902), 68. Stromer (1972), 596. Serban Papacostea: Kilia et la politique de Sigismond de Luxembourg, in: Revue Roumaine d, Histoire 15, 1976, 421-436, hier 421 ff. Elizabeth A. Zachariadou: Ottoman Diplomacy and the Danube Frontier (1420-1424), in: Okeanos. Havard Ukrainian Studies 7, (Festschrift für Ihor Sevcenko), Cambridge Mass. 1983, 680-690, hier 684.

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Vor dem Sommer 1414 wandte Kaiser Manuel sich erneut an König Sigismund, den er um Unterstützung gegen die Türken ersuchte und seine Bereitschaft zu einer Kirchenunion signalisierte. Er schickte den Gesandten Johannes Chrysoloras ( t v. 1427) 1 1 2 , einen Neffen des Humanisten Manuel, zu Sigismund, der mittlerweile das Konstanzer Konzil einberufen hatte. 1 1 3 Der König ernannte Johannes und Manuel Chrysoloras im Juni 1414 in Pontestura in der Lombardei zu Pfalzgrafen und nahm sie zu Famiiiaren auf. 114 Manuel hatte sich seit 1411 am Hof Johannes X X I I I . aufgehalten und seit September 1413 gemeinsam mit den Kardinälen Challant und Zabarella die Verhandlungen mit Sigismund geführt. 1 1 5 Im Sommer 1414 antwortete Sigismund dem Kaiser („imperatori Romeorum, fratri nostro carissimo") in eimem dritten Brief, in dem er seine Sympathie für die Byzantiner bekundete, über den Verlauf des Konzils berichtete und Hilfe nach Abschluß des Konzils in Aussicht stellte und ihn ersuchte, den Johann Chrysoloras oder andere G e sandte zum Konzil zu schicken. 1 1 6 Die Gesandtschaft, zu der auch Manuel Chrysoloras, Nikolaos Eudaimonoioannes 1 1 7 und dessen Sohn Andronikos gehörten, erreichte Konstanz Anfang März 1415. Bereits im April 1415 starb Manuel Chrysoloras in Konstanz; sein Grabstein in der ehemaligen Dominikanerkirche ist noch erhalten. 1 1 8 Eine Bulle Papst Johannes X X I I I . erwähnt seine Zusammenarbeit mit Sigismund. Mitte Juli 1415 hielt Sigismund auf dem Konzil eine Rede, in der er die Befreiung des hl. Grabes in Jerusalem und die Rettung der Christen unter der Herrschaft der Ungläubigen als Ziel seiner Politik bezeichnete. 1 1 9 Die Wiedervereinigung mit der orthodoxen Kirche kam auf dem Konzil jedoch nicht zur Sprache. 1416 berichtete Sigismund der Stadt Ragusa von seinen neuen Plänen über einen Türkenzug. 1 2 0 Im November 1417 zeigte er Kaiser Manuel die Wahl des neuen Papstes Martin V. an. 1 2 1 Anfang 1418 bekräftigte er gegenüber König WladysJaw JagieJJo von Polen seine Absicht, die griechisch-orthodoxe Kirche zur Union mit der römisch-katholischen zu führen. 1 2 2 Der Dauerkonflikt zwischen Sigismund und der Republik Venedig berührte auch die Interessen des Kaisers. Vor dem Februar 1416 erhielt der Gesandte Nikolaos Eudaimonoioannes den Auftrag, zwischen Sigismund und Venedig zu vermitteln. 1 2 3 Die Markusrepublik hatte jedoch 1414 alte Verträge mit den Osmanen erneuert und schwankte zwischen einer Vereinbarung mit den Osmanen und dem Plan der Liga der christlichen Staaten. Der ungarische König beschuldigte die Venezianer angesichts türkischer Einfalle in Dalmatien und Kroatien des Verrats an der Christenheit und geheimer Zusammenarbeit mit den Türken, was den Senat Ende August 1415 dazu bewog, in einem Zirkularschreiben an die Christenheit die Unterstützung der Republik nach dem Kreuzzug von Nikopolis bekannt112 113 114

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PLP 12, 1994, 252, Nr. 31160. Dölger V (1965), 99, Nr. 3339. Regesta Imperii XI: Die Urkunden Kaiser Sigmunds (1410-1437), hrsg. v. Wilhelm Altmann, 2 Bde, Innsbruck 1896/1900, hier Bd. 1, 57, Nr. 981-983 (künftig zitiert als: RI X I / 1 (1896) und X I / 2 (1900)). Kenneth Μ. Setton: Europe and the Levant in the Middle Ages and the Renaissance, London 1975, 58. Finke I (1896), 399-401, Nr. 113 u. RI X I / 2 (1900), 435, Nr. 12248. PLP 3, 1978, Nr. 6223. Helmut Maurer: Konstanz im Mittelalter, Bd. 2: Vom Konzil bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Konstanz 1989, 45 (Abbildung). RI X I / 1 (1896), 120, Nr. 1828a; vergl. dazu: Beckmann (1902), 89 f. Barker (1969), 335. RI X I / 1 (1896), 190, Nr. 2668. RI X I / 1 (1896), 204, Nr. 2866. Dölger V (1965), 102 f, Nr. 3354 u. Barker (1969), 324.

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zumachen. 1 2 4 Die Vorwürfe Sigismunds dürften jedoch nicht ganz aus der Luft gegriffen gewesen sein. 125 Im Herbst 1419 Schloß Sigismund nach einem Feldzug gegen die Türken einen fünfjährigen Waffenstillstand. 126 Sigismund bezog auch die asiatischen Nachbarn und Gegenspieler der Türken in seine politischen und strategischen Überlegungen ein. Dies setzte eine Kenntnis der orientalischen Verhältnisse voraus, die für Europa zu dieser Zeit ganz ungewöhnlich war. Sein Augenmerk richtete sich in erster Linie auf die Khane des Reichs der „goldenen Horde" an der Wolga, auf die Turkmenen im östlichen Kleinasien und die Timuriden in Persien. Bereits 1412 hatte Sigismund den Ungarn Nikolaus von Geretz genannt „Sarazenus", der nach der Schlacht bei Nikopolis in die Gefangenschaft der Türken geraten war und 12 Jahre bei ihnen gelebt hatte, zu den Genuesen in KaffaFeodosia auf die Krim und dann weiter nach Sarai zum Khan des Kiptschak geschickt. Genua als Hauptkonkurrentin der Venezianer im Mittelmeer mit Besitzungen auf der Krim und am Asowschen Meer war für den König stets ein begehrter Bundesgenosse. Der Taktiker Sigismund dachte über Jahrzehnte daran, die Türken durch einen Zweifrontenkrieg in die Knie zu zwingen. Obwohl derartige Spekulationen ans Phantastische grenzten und selten zu realen konkreten Ergebnissen führten, reichten sie doch aus, um Sigismund für seine Zeitgenossen zu einem gefährlichen Gegenspieler zu machen, den man keineswegs unterschätzte und der in gewisser Hinsicht unberechenbar war. Venedig hingegen dachte er durch die Umleitung des Handels von Indien über den Persischen Golf und Mesopotamien über das Rote Meer nach Beirut und Alexandria sowie von dort nach Venedig zum nördlichen transasiatischen Karawanenweg, der von China über Landwege zum Schwarzen Meer führte, entscheidend zu treffen. 127 Anfang November 1417 versuchte Sigismund, den Handel von Deutschland nach Italien über Genua statt über Venedig zu lenken und erneuerte im Sommer 1418 das Handelsembargo gegen die Serenissima. 128 Enea Silvio Piccolomini berichtet in seiner Vita Sigismunds von seinen Kontakten mit dem Herrscher von „Kleinpersien", um den Sultan aus Europa zu vertreiben. Gemeinsam mit zum Christentum übergetretenen Josa „Turcus" reiste Nikolaus Sarazenus 1419 zu Uthman, genannt Q a r a Yuluq (Karaywluk), 1 2 9 dem „schwarzen Blutegel", dem Herrn der Turkmenenhorde „vom weißen H a m m e l " (Aq-Qoyunlu) in Aserbeidschan, dem Bundesgenossen Timur Lenks in Ostanatolien mit dem Zentrum in Diarbekr (Amida) am oberen Euphrat in Mesopotamien, mit dem Sigismund bereits seit 1412 in Kontakt stand. In einer späteren Urkunde Sigismunds ist außerdem von einer Reise zu „Sahrohmerze filio Demerling, domino Tartarorum Chatakay" die Rede. Dabei handelt es sich entweder um Schah Roch „Mirza Miran Schah" (1405-1447), den Herrscher über das Tschagatai-Reich und Persien und Sohn Tamerlans von Samarkand, auf den die „Rochade" im Schachspiel

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Jorga I (1990), 367. Heinrich Kretschmayr: Geschichte von Venedig, Bd. 2: Die Blüte, (Gotha 1920), Neudruck Aalen 1964, 277. Joseph von Aschbach: Geschichte Kaiser Sigmunds, Bd. 2: Die Zeit des Konstanzer Konzils bis zum Anfang der Hussitenkriege, (Hamburg 1839) Neudruck Aalen 1964, 412 (nach Eberhard Windecke); Ignaz Aurelius Feßler: Geschichte von Ungarn, Bd. 2: Die Zeit der Könige aus verschiedenen Häusern, bearb. v. Ernst Klein, Leipzig 1869, 346; L. Kupelwieser: Die K ä m p f e Ungarns mit den Osmanen bis zur Schlacht bei Mohacs, Wien-Leipzig 1895, 35 u. Jirecek I I / l (1967), 155. Zsigmond P. Pach: Die Verkehrsroute des Levantehandels nach Siebenbürgen und Ungarn in der Zeit Sigismunds, in: Sigismund von Luxemburg. Kaiser und König in Mitteleuropa 1387-1437, hrsg. v. J. Macek, E. Marosi u. F. Seibt, (= Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 5), Warendorf 1994, 192-199, hier 197 ff. RI X I / 1 (1896), 184, N r . 2591; 234, N r . 3303 u. 242 f, N r . 3420. P L P 6, 1983, 171, N r . 14764.

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zurückgehen soll, oder um Schah Rochs Sohn Soyurghatmysh (1418-1427), den Vizekönig von Kabul und Kandahar im heutigen Afghanistan. Dieses tollkühne Unternehmen zeigt den weiten Horizont von Sigismunds Politik, dessen politische Perspektive bis nach Zentralasien reichte. 1 3 0 Es wird noch davon zu reden sein, wie Sigismund, der als deutscher König selbst über keine Hausmacht im Reich mehr verfügte, es verstand, politische Möglichkeiten auszuloten, um die Türken von mehreren Seiten aus in die Zange zu nehmen. Der politische Spielraum der Byzantiner war dagegen zu dieser Zeit bereits sehr zusammengeschrumpft. Johannes VIII., der Sohn Manuels II., versuchte 1421, durch eine Heirat mit Sophia von Montferrat und die Ehe seines Bruders Theodors II. 1 3 1 mit Cleopa Malatesta neue Verbündete in Italien zu gewinnen. 1 3 2 Anfang 1420 schickte der Kaiser wiederum den Gesandten Nikolaos Eudaimonoioannes und Manuel Philanthropenos - der schon vor dem Kreuzzug von Nikopolis mit der Markusrepublik über eine Unterstützung verhandelt hatte - nach Venedig, um zwischen der Republik und König Sigismund zu vermitteln, der als einziger Herrscher Europas den Byzantinern immer wieder Hilfe versprach. 133 Anfang 1420 berichteten Straßburger Gesandte vom Breslauer Reichstag nach Hause, Sigismund wolle zuerst die Hussiten bekämpfen. Danach aber sei der große Türkenzug an der Reihe. „Ouch het er geordent über die Durcken ahtzigtusent pfert und vil buhssen, und wil ein grosse reise do thun." 1 3 4 Wiederum blieb die Ankündigung der „grossen reise" vage und drückte wohl nur eine Grundstimmung der Absichten aus, die zu erfüllen gewesen wären, wenn vorher alle die drängenden Probleme gelöst gewesen wären, mit denen Sigismund zeit seines Lebens konfrontiert war. Die Realität sah anders aus, hatte er doch erst 1419 den fünfjährigen Waffenstillstand mit den Türken geschlossen. Manuel Philanthropenos 1 3 5 reiste zunächst nach Ungarn zu Sigismund und dann weiter zu König Wladyslaw JagieJlo nach Polen, den er im August 1420 traf. Im Februar 1421 kam Manuel nach Venedig zurück und teilte dem Senat mit, daß Sigismund mit der Vermittlung einverstanden sei. 136 Die Differenzen zwischen Sigismund einerseits und Polen sowie den Venezianern andererseits aber ließen die Mission erfolglos bleiben; zudem war der König zu dieser Zeit mit dem Beginn der Hussitenkriege beschäftigt und konnte sich kaum der Türkenfrage widmen. Im Juli 1420 schickte Papst Martin V. Sigismund eine Bulle, in der er ihn zu einem Zug gegen die Türken ermunterte. 1 3 7 Auch an den König von Polen und den Großfürsten von Litauen sowie an die Könige von Aragon wandten die Gesandten Manuels sich um Unterstützung. Nennenswerte Erfolge erzielten sie jedoch nirgends; Europa kümmerte sich kaum um das Schicksal von Konstantinopel. 1 3 8 König Sigismund war durch den Hussitenkrieg gebunden. Lediglich der Papst unterstützte Pläne für ein Unionskonzil zwischen Rom und der Ostkirche. Nach dem Tode Mehmets I. folgte ihm sein erst 17jähriger Sohn Murad II. (1421-1451) nach, der die Eroberungspolitik der Osmanen von neuen aufnahm. 1 3 9 Die zwei Jahrzehnte 130

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135 136 137 138 139

Wolfgang von Stromer: König Siegmunds Gesandte in den Orient, in: Festschrift Hermann Heimpel, Bd. 2, Göttingen 1972, 591-609, hier 594. PLP 9, 1989, 88, Nr. 21459. Schreiner (1975), 410. Dölger V (1965), Nr. 3378 f; Barker (1969), 337 f u. Zachariadou (1983), 684. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Bd. 7/1: 1410-1420, hrsg. v.Dietrich Kerler, 2. Aufl. Göttingen 1956, 408, Nr. 280. PLP 12, Nr. 29769. Barker (1969), 338. ebenda, 339. ebenda, 338. Schreiner (1977), 412.

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dauernde Atempause für Byzanz ging damit dem Ende zu. Zunächst mußte Murad sich aber mit dem Thronprätendenten Mustafa „Düzme" auseinandersetzen, dessen Anspruch auf die Westhälfte des Reiches von Byzanz unterstützt wurde, zumal dieser sogar versprach, den Griechen die ottomanische Flotte zu übergeben. 140 Nach einer vollständigen Niederlage vor Bursa wurde Mustafa 1422 von Murad II. gehenkt, der nun an den Griechen Rache nehmen wollte. 141 Byzanz, das Gallipoli eingenommen hatte, wurde seit Juni 1422 von Murad belagert, was die Byzantiner veranlaßte, einen neuen Thronprätendenten Mustafa, den jüngeren Bruder Murads, zu unterstützen. Die Republik Ragusa informierte König Sigismund über die Belagerung. 142 Dank der heldenmütigen Verteidigung Konstantinopels unter der Leitung Johannes VIII. gab Murad am 6. 9. 1422 die Belagerung der Stadt auf. Papst Martin V. versprach dem Kaiser Hilfe. Die Byzantiner waren zwar zu einem Unionskonzil bereit, erwarteten sich aber auch Kompromisse von den Lateinern. Auch die Bevölkerung von Konstantinopel stand einer Kirchenunion skeptisch gegenüber; Sphrantzes berichtet von Meinungsverschiedenheiten zwischen dem skeptischen Manuel, der seinen Sohn Johannes noch auf dem Totenbett die Union für unmöglich erklärt haben und davor gewarnt haben soll, daß die aus politischen Gründen geführten Unionsverhandlungen das Schisma nur vertiefen würden. Unterdessen ging der Krieg weiter. Manuels Sohn Andronikos überließ als Statthalter von Thessalonike aus Angst, die Stadt nicht halten zu können, diese im Sommer 1423 an die Venezianer. 143 Aber auch der „kleine Mustafa" wurde besiegt und hingerichtet, und Byzanz mußte am 22. 2. 1424 in einen Waffenstillstand einwilligen, der den Stadtstaat zu Tributzahlungen verpflichtete, allerdings den Hafen Selymbria am Marmarameer und die thrakische Schwarzmeerküste bei Byzanz beließ. 144 Vielleicht willigte Murad angesichts der Verhandlungen Johannes VIII. in Italien in den Frieden ein, den er mit Manuel II. Schloß. Johannes hatte Anfang Oktober 1422 als Mitkaiser die Regierung für seinen erkrankten Vater Manuel übernommen, der im Juli 1425 als Mönch Matthäos starb. Theodor, Konstantin und Thomas, die drei Brüder Johannes VIII., übernahmen die Regierung des Despotats von Morea (Peloponnes), in dem die byzantinische Kultur durch den Philosophen Plethon von Mistra eine letzte Blüte erlebte. Der von den Türken schwer bedrohte Kaiser Johannes unternahm nun neue Verhandlungen mit Rom über eine Union, um auf diese Weise Waffenhilfe aus Europa zu erhalten. Der Kaiser stellte Rom dabei die Union in Aussicht, die freilich von der Basis der Orthodoxie nicht mitgetragen wurde. 145 Die Venezianer vermochten Thessalonike nur sieben Jahre zu behaupten, das am 29. 3. 1430 von Murad II. im Sturm eingenommen wurde. 146 Mitte November 1423 unternahm Johannes VIII. einen neuen Vorstoß in Richtung Europa. 147 Er entschloß sich, nach Europa zu reisen, um dort Hilfe für sein gefährdetes Reich zu suchen. Er setzte er seinen Bruder Konstantin zum Regenten während seiner Abwesenheit ein, verließ Konstantinopel und reiste nach Venedig, wo er im Dezember um

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Zachariadou (1983), 687. Schreiner (1977), 412. Jorga: Notes et extraits II (1899), 206 f. Schreiner (1977), 424; vergl. dazu: Nicol (1972), 350. Dölger V (1965), 112, Nr. 3414; Schreiner (1975), 423 f u. Mioni (1981), 76, N r . 42; vergl. dazu: Jorga I (1990), 383, Ostrogorsky (1952), 444 u. Nicol (1972), 350. Ostrogorsky (1952), 446 f u. Runciman (1977), 19 f. Schreiner (1977), 440; vergl. dazu: Jorga I (1990), 407. ebenda, 424 f u. Mioni (1981), 76, N r . 41.

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Unterstützung verhandelte und seine Vermittlung im Streit mit König Sigismund anbot. 1 4 8 Die Signoria versprach, eine größere Flotte nach Konstantinopel zu senden. Sie erklärte, daß Sigismund das Haupthindernis für einen Frieden in Europa sei. 1 4 9 Über Mailand, das 1420 mit Venedig ein Bündnis gegen Sigismund geschlossen hatte, reiste der Kaiser weiter nach Ungarn; im Juni traf er in Ofen mit Sigismund zusammen, der ihm vor die Stadt entgegenritt. 1 5 0 Es war dies die erste persönliche Begegnung der beiden Monarchen. Sigismund hatte kurz zuvor Hilario Doria, der mit einer unehelichen Tochter Manuels II. verheiratet und der Schwiegervater von Johannes Chrysoloras war, zum Famiiiaren aufgenommen. 1 5 1 Am 22. 6. 1424 nahm Johannes VIII. mit Sigismund in Ofen an der Fronleichnamsprozession teil. 1 5 2 Der Besuch des Kaisers brachte Sigismund in eine peinliche Situation, hatte er doch seit 28 Jahren vom Kreuzzug gegen die Türken gesprochen. Jetzt aber, als der Kaiser ihm mit bewegten Worten von der Belagerung Konstantinopels erzählte und ihm vorschlug, gemeinsam mit Venedig die Türken zu Wasser und zu Lande anzugreifen, wurde er durch die Auseinandersetzungen mit den Hussiten und die Opposition der Kurfürsten an einer wirksamen Hilfe gehindert. 1 5 3 D e r Kaiser mußte bald erfahren, wie wenig konkret die Kreuzzugsankündigungen Sigismunds gemeint waren. Zudem trafen zu dieser Zeit Gesandte Murads II. in Ofen ein, die ihm Geschenke brachten und einen Waffenstillstand anboten. Gleichzeitig waren auch der serbische Despot Stefan Lazarevic und der schwedische König Erich von Pommern zu Besuch in Ofen 1 5 4 ; die beiden Könige und der Kaiser wurden auf einer Zeichnung Pisanellos abgebildet. 1 5 5 Syropoulos berichtet, daß Sigismund dem Kaiser dabei seine Nachfolge im Reich versprochen habe, wenn es zu einer Wiedervereinigung käme. 1 5 6 Diese Nachricht erscheint jedoch wenig glaubwürdig. Auch die Vermittlung zwischen Ungarn und Venedig kam wieder zur Sprache. Im Grunde blieb die Europareise des Kaisers, der am 24. 8. 1424 Ofen nach achtwöchigem Aufenthalt wieder verließ, jedoch ohne jedes Ergebnis. Niederschlag fanden die Verhandlungen in einem Enkomion auf Kaiser Manuel II. 1 5 7 Von Ungarn aus schickte der Kaiser einen Boten mit der Bitte nach Konstantinopel, ihn per Schiff an der Schwarzmeerküste abzuholen. 1 5 8 Um diese Zeit hielt sich auch der etwa 15-16jährige Demetrios, der zweitjüngste Sohn Manuels II., in Ungarn auf, der Anfang Juli 1423 aus ungeklärten Motiven den H o f in Konstantinopel verlassen hatte. Im September 1423 war er über den Schwarzmeerhafen Asprokastron (Akkerman) nach Ungarn gekommen. 1 5 9 Als Johann Schiltperger Ende 1426 nach 30jähriger Sklaverei nach Konstantinopel kam, hatte er eine Audienz beim Kaiser. Dabei erwähnte er, daß sein Bruder noch bei König Sigmund in Ungarn sei. 1 6 0 Der 148

Dölger V, 111 f, N r . 3408a - 3410; Schreiner (1977), 440; vergl. dazu: Helfer (1969), 5 7 f u. Nicol (1972), 365 f.

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Barker (1969), 376 f.

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Eberhard Windecke: Das Leben König Sigmunds, ( = Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit. 15. Jahrhundert, Bd.l), Leipzig 1886, 136, N r . 186: „Dieser blieb wohl acht Wochen lang.".

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R I X I / 1 (1896), 406, N r . 5749; vergl. dazu: Matschke (1981), 192 f.

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RI X I / 1 (1900), 417, N r . 5891a.

153

Moravcsik (1970), 99 f.

154

Jorga: Notes et extraits II (1899), 219: Ankunft Erichs in Ragusa im November 1424. Baum (1993), Tafel 8 neben 129 (Treffen vom Juni 1424).

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Syropoulos (1971), 584, N r . 5 (44); vergl. dazu: Norden (1903), 724, Anm. 2; Barker (1969), 378 u. Helfer (1969), 60, Anm. 6.

157

Hrsg. v. Sp. Lampros in: Palaiologeia kai Peloponnesiaka III, Athen 1926, 219, 2 7 - 2 2 0 , 5 .

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Peter Schreiner: Studien zu den Β Ρ Α Χ Ε Α Χ Ρ Ο Ν Ι Κ Α , München 1967, 165 f.

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Schreiner (1975), 4 2 0 f u. Mioni (1981), 76, N r . 40. Schiltperger (1885), 45.

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Aufenthalt von Demetrios in Ungarn muß also rund drei Jahre gedauert haben; 1429 ist er als Despot von Lemnos nachweisbar. 161 Der Kaiser schickte Schiltberger 1427 mit einem Schiff, das seinen Bruder aus Ungarn abholen sollte, nach Kilia zur Donaumündung. Von dort aus reiste Schiltberger dann über Suceava in der Moldau, Lemberg, Krakau und Breslau nach Bayern zurück - eine für die die damalige Zeit durchaus übliche Handelsroute.162 Zurück zur Ungarnreise Johannes, VIII.! Von Asprokastron aus fuhr der Kaiser, der nach moldauischen Quellen im Fürstentum Moldau von Alexander dem Guten und dem Metropoliten Iosif in der Hauptstadt Suceava empfangen worden war und in Asprokastron möglicherweise mit Gesandten von Polen und Litauen verhandelte, im Oktober 1424 über Mesembria nach Konstantinopel zurück, wo er Anfang November eintraf. 163 Das Treffen mit dem Fürsten der Moldau wird von Historikern jedoch bezweifelt, da er mit Sigismund verfeindet war und es eher anzunehmen ist, daß der Kaiser von Siebenbürgen aus über die Walachei zurückreiste. Der walachische Fürst Mircea hatte den Türken schließlich doch Tribut zahlen und seinen Sohn als Geisel ausliefern müssen. Der von den Türken unterstützte Fürst Dan II. (1420-1431)164 hatte Michael besiegt und die Regierung übernommen, sich dann aber dem Schutz Sigismunds unterstellt. Dan hatte 1422 als türkischer Vasall bei der Belagerung Konstantinopels den Belagerungsring verlassen und Byzanz unterstützt, was ihm im Winter 1423 eine Strafexpedition der Türken in die Walachei eingetragen hatte. 165 Offensichtlich reiste Johannes VIII. von Ungarn über die Walachei ans Schwarze Meer und kehrte Anfang November 1424 ohne greifbare Ergebnisse seiner Europareise nach Konstantinopel zurück. 166 Der von den Hussiten, Türken und der Kurfürstenopposition im Reich bedrängte König Sigismund befand sich durch das türkische Friedensangebot während des Ofener Aufenthaltes des Kaisers in einer peinlichen Situation. Da Murad II. zu dieser Zeit in Venedig seinen Hauptgegner sah, war Sigismund gewissermaßen ein natürlicher Bundesgenosse für ihn. Nach Ablauf des 5jährigen Waffenstillstandes von 1419 kam es daher zu einer Verlängerung um zwei weitere Jahre. Erwähnt wird der Vertrag von Eberhard Windecke, der zu dieser Zeit in Ofen anwesend war. 167 Ende November 1424 schrieb Sigismund an Witold, daß seine Verhandlungen mit Murad zur Verzögerung anderer Fragen geführt habe. 168 Da die Walachei in den Vertrag nicht einbezogen wurde, vertrieben die Türken den Woiwoden Dan II., der an den Hof Sigismunds kam. 169 Sein Bruder Radul wurde von den Türken als neuer Fürst der Walachei eingesetzt. Im Juni 1426 berichtete Sigismund dem Kardinal von England, daß „Dan waida, dominus Walachie, noster fidelis" von den Türken bedrängt werde und auch König Twartko II., der 1408 von Sigismund gefangengenommen und dann als Gegengewicht zu Hervoja und Ostoja nach Bosnien zurückgeschickt worden war und

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Ewald Kislinger: Johann Schiltberger und Demetrios Palaiologos, in: Byzantiaka 4, 1984, 99-111, hier 104 (Herrn Dr. Kislinger habe ich für vielfältige Literaturhinweise und Übersetzungshilfen bei dieser Studie zu danken!). Paul Meinrad Strässle: Der internationale Schwarzmeerhandel und Konstantinopel 1261-1484 im Spiegel der sowjetischen Forschung, (= Geist und Werk der Zeiten 76), Bern-Frankfurt-New York-Paris 1989, 61 f. Schreiner (1977), 426-428. PLP 3, 1978, 14, N r . 5153. Zachariadou (1983), 689. Helfer (1969), 61-64. Windecke (1886), 136 f, Nr. 186 u. 141, Nr. 191; vergl. dazu: Zachariadou (1983), 690. RI XI/1 (1896), 426, Nr. 6016. Windecke (1886), 155, Nr. 206.

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1421 wieder die Herrschaft in Bosnien übernommen hatte, ihn um Hilfe ersucht habe. 170 Twartko hatte sich inzwischen mit Graf Hermann von Cilli, dem Schwiegervater Sigismunds verbündet; da Hermanns Mutter eine Tochter Twartkos I. war, waren beide verwandt, und Twartko II. setzte 1427 die Cillier als seine Erben ein.171 Der vertriebene walachische Woiwode Dan fand 1427 Zuflucht in Siebenbürgen. Sigismund aber vertrieb Radul und setzte seinen Verbündeten Dan wieder als Großfürsten ein.172 Damit stand eine neue Auseinandersetzung Sigismunds mit den Türken bevor. Kilia scheint 1426 vom Großfürsten der Moldau besetzt worden zu sein; 1429 bemühte sich der Woiwoder der Walachei - im Einverständnis mit Sigismund - vergeblich, den Hafen von der Seeseite her zu besetzen. 173 Im September 1426 kam der betagte serbische Fürst Stefan Lazarevic mit seinem Neffen Georg Brankovic nach Tata zu König Sigismund, um sein Land angesichts der türkischen Bedrohung wieder der ungarischen Oberhoheit zu unterstellen, der es immer unterworfen gewesen sei. Im Austausch für Besitzungen in Südungarn trat der Serbenfürst Ungarn die Festungen Belgrad, Macsö, Szokol, Szomszedvär und Galamböcz ab, die zu Zeiten König Ludwigs zu Ungarn gehört hatten und erkannte an, daß Serbien (Rascien) immer zur ungarischen Krone gehört habe und noch gehöre. Dieser Gebietsaustausch wird auch von Chalkokondyles erwähnt, der erzählt, daß „Eleazaros" Belgrad übergeben habe. 174 Es wird dabei allerdings nicht klar, daß es Fürst Stefan Lazarevic war, der Belgrad übergab. 175 Dafür wurde Stefans Neffe Georg Brankovic als Nachfolger anerkannt, der sich zum Gehorsam gegenüber Sigismund verpflichtete. Nach Aussterben der Familie Georgs sollte ganz Serbien an Ungarn fallen. 176 Das Zeremoniell der Einsetzung mit Mitra und Schwert wird in einem Formular in den Reichsregistern genau beschrieben. 177 Für Ungarn war dies ein großer Gewinn, da nun die Schlüsselpunkte an der Donaulinie unter ungarische Kontrolle kamen und auf diese Weise eine Vormauer gegen die Türken errichtet wurde. Nach dem Tod des Serbenfürsten (+ 19. 6. 1427) nahm Sigismund im November Belgrad rasch in Besitz und förderte sogleich die Besiedlung der neuen Stadt und die Ansiedlung von Handwerkern dort. 178 Die Festung Galamböcz wurde vom Burgvogt des Despoten jedoch den Türken in die Hände gespielt. Sofort ließ Sigismund am gegenüberliegenden Donauufer die Festung Szentläszlövära errichten, die 1428 zum Ausgangspunkt des Angriffs auf Galamböcz wurde. Sigismund versuchte auch, den Deutschen Ritterorden in dieser Grenzregion gegen die Türken anzusiedeln. 179 Die Besetzung von Galamböcz durch die Türken, die Vertreibung und Wiedereinsetzung des Woiwoden Dan in der Walachei und das Auslaufen des Waffenstillstandes nötig170

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Heinz Grill: Die ältesten „Turcica" des Haus-, Hof- u. Staatsarchivs, in: MÖSTA 3, 1950, 127-142, hier 133 f, N r . 7. Mälyusz (1990), 140. Jirecek I I / l (1967), 160. Papacostea (1976), 429-431. Chalkokondyles II (1923), 24. Mit „Eleazaros" kann Chalkokondyles nur Stefan Lazarevic gemeint haben. Vergl. dazu: Herbert Wurm: Anmerkungen zum PLP im Anschluß an die Lektüre der Apodeixeis Historion des Laonikos Chalkokondyles, in: Jahrb. d. österr. Byzantinistik 37, 1987, 277-291, hier 288. Joseph von Aschbach: Geschichte Kaiser Sigmunds, Bd. 3: Die Zeit der Hussitenkriege bis zur Eröffnung des Basler Konzils, (Hamburg 1841) Neudruck Aalen 1964, 269; Fessler-Klein II (1869), 372 f; Jirecek I I / l (1967), 158 f; Mälyusz (1990), 146 u. Baum: Kaiser Sigismund (1993), 205. Jorga: Notes et extraits II (1899), 239 f. Iorga I (1908), 395. Erich Joachim: König Sigmund und der Deutsche Ritterorden in Ungarn 1429-1432, in: M I Ö G 33,1912, 87-119.

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ten Sigismund nach siebenjähriger Pause zur Wiederaufnahme des Türkenkrieges. Nach der Landung der Sarazenen auf Zypern war der christliche König Janus von Lusignan im Juli 1426 besiegt und gefangengenommen worden, den Sigismund in einem Schreiben an seinen Bruder, den Kardinal Hugo von Zypern „frater und consanguineus noster" nannte. 180 In den Reichsregistraturbüchern, die an sich nur die auslaufende Post registrierten, wurde ein Brief der Universität Paris über die Ereignisse in Zypern vom Juli 1426 verzeichnet. 181 Seine Rückkehr auf die Insel meldete Ragusa Ende März 1427 an Sigismund. 182 Ende 1426 war der König nach Kronstadt gekommen, um die Operationen gegen die Türken persönlich zu leiten; den Winter von 1426 auf 1427 verbrachte er im Feldlager in Siebenbürgen, um dann im Frühjahr den Krieg zu eröffnen. Im April hatte Sigismund seine Ziele in der Walachei erreicht und Dan wieder eingesetzt. Der Krieg zwischen Venedig und Mailand bot die Chance auf ein gemeinsames Vorgehen gegen die Osmanen. Diesbezügliche Verhandlungen aber scheiterten an der Forderung Sigismunds nach der Rückgabe Dalmatiens, wozu die Venezianer jedoch nicht bereit waren. Die ungarischen Interessen hatten in diesem Konflikt ein größeres Gewicht als ein großangelegter Türkenkrieg. Der mit Sigismund verbündete Herzog von Mailand forderte das Erscheinen des Königs in Italien, wo ein gemeinsamer Feldzug gegen Venedig unternommen werden sollte. In der Korrespondenz mit der Republik Ragusa kam Sigismund im Sommer 1427 immer wieder auf den geplanten Zug gegen die Türken zu sprechen. Im September 1427 berichtete Sigismund dem päpstlichen Legaten Heinrich von Winchester, er werde nun den Romzug antreten. Danach wolle er den Vernichtungsschlag gegen die Hussiten und Osmanen führen und dann den Kreuzzug ins Heilige Land unternehmen. 183 Im Frühjahr 1428 mußte Mailand im Frieden von Ferrara mit Venedig Frieden schließen, da es keine Hilfe von Sigismund erhalten hatte, der immer noch in der Nähe von Belgrad war und seine Romzugspläne zur Kaiserkrönung weiter verschieben mußte. 184 Der von Sigismund in der Walachei wieder eingesetzte Woiwode Dan II. unterstützte den Türkenfeldzug des Königs im Frühjahr 1428 mit 6 000 Mann; Stephan Rozgony befehligte die ungarische Hauptstreitmacht vor Galamböcz, wo Sigismund Ende April mit litauischen Hilfstruppen eintraf. Die Eroberung der Festung scheiterte jedoch. Kurz vor der Einnahme erschien Sultan Murad mit einer türkischen Armee, und Sigismund Schloß am 6. 6. 1428 einen Waffenstillstand, der die Festung in der Hand der Türken beließ. 185 Nach Abschluß des Vertrages überfielen die Türken das ungarische Heer und brachten ihm eine Niederlage bei. Der Serbenfürst Georg Brankovic und der walachische Woiwode Dan mußten sich zu Tributzahlungen an die Türken verpflichten. Der Sultan, der durch Aufstände der Karamanen in Anatolien bedrängt wurde, willigte schließlich in einen neuen dreijährigen Waffenstillstand ein, in dem Sigismund vermutlich akzeptieren mußte, daß Serbien und die Walachei, die bisher unter ungarischer Oberhoheit gestanden waren, nun den Türken tributpflichtig wurden. 1 8 6 Das Unternehmen war gescheitert, weil der König zugleich mit den Hussitenkriegen, den Auseinandersetzungen mit der Reichsopposition

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Jorga: Notes et extraits II (1899), 232 f. ebenda, 233. ebenda, 235. Otto Schiff: König Sigmunds italienische Politik bis zur Romfahrt (1410-1431), (= Frankfurter historische Forschungen 1), Frankfurt 1909, 113. Schiff (1909), 119 f u. Baum: Kaiser Sigismund (1993), 209. Schiff (1909), 120 u. Baum: Kaiser Sigismund (1993), 213. Fessler-Klein II (1869), 376; Schiff (1909), 124; Jirecek II/l (1967), 164; Jorga I (1990), 396 u. Baum: Kaiser Sigismund (1993), 213.

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und dem Konflikt mit Venedig befaßt war und seine Kräfte allein nicht ausreichten, mit den Türken fertig zu werden. Zum Sündenbock wurde der moldauische Woiwode Alexander gestempelt, der den Ungarn keine Hilfe geleistet hatte und über den sich Sigismund beim Treffen mit König Wladyslaw von Polen und Großfürst Witold von Litauen im Januar 1429 beklagte. Dabei verlangte er vergeblich gemäß dem Altlubauer Vertrag von 1412 die Aufteilung der Moldau. 1 8 7 Kaiser Johannes V I I I . brachte unterdessen wieder das Thema der Kirchenunion ins Gespräch und schickte deshalb den mailändischen Gesandten Benedetto Folchi zu Sigismund. 1 8 8 Sigismund aber ratifizierte nach dem (ersten) nicht eingehaltenen Waffenstillstand vom Juni 1428 im Februar 1429 einen zweiten Waffenstillstand mit den Türken auf drei Jahre. 1 8 9 Am 18. 2. 1429 berichtete er dem Hochmeister des Deutschen Ordens vom Abschluß des Vertrages und erklärte, daß Serbien, die Walachei und „Ruwszen" frei geblieben seien. Schadenfroh meldete er auch, daß Murad infolge seiner Verhandlungen mit ihm die Friedensangebote der Venezianer zurückgewiesen habe. 1 9 0 Auf der türkischen Seite dokumentiert ein Brief des Sultans - aus der Briefsammlung des Faridun - an den Mamelukenherrscher Barsbay von Ägypten (1422-1438) über die Unterwerfung der Walachei die andere Perspektive. 191 Im September 1428 Schloß Sigismund in Illied bei Temesvar einen Waffenstillstand bis Ende April 1429 mit Venedig. 192 In dieser Zeit sollte über einen endgültigen Friedensvertrag verhandelt werden. Im Frühjahr 1429 wurde in Florenz unter der Vermittlung der Florentiner weiterverhandelt. Dabei kam auch die Sperrung der Dardanellen, die Entsendung einer venezianischen Flotte in die Donau und die Versorgung ungarischer Truppen von Thessalonike aus zur Sprache." 3 Die Venezianer schlugen einen Kreuzzug vor, bei dem Sigismund auf dem Landweg nach Konstantinopel vorstoßen sollte, während sie mit ihren Galeeren die Meerengen bewachten. 1 9 4 Aber das bereits 1396 gescheiterte Modell fand keine Neuauflage; nach ergebnislosen Verhandlungen und dem Auslaufen des Waffenstillstandes trat das Handelsembargo gegen Venedig im Mai 1430 wieder in Kraft. Murad II. hatte nun freie Hand gegen Venedig; Folchi berichtete später, er habe es erreicht, daß Venedig Thessalonike an die Türken verloren habe. 1 9 5 Sigismund schrieb im Oktober 1429 an an Filippo Maria Visconti von Mailand und an Konstantin und Theodor, die Brüder des griechischen Kaisers („consanguineis nostris carissimis"), er habe wegen der Tyrannei der feindlichen Venezianer mit den Türken einen dreijährigen Waffenstillstand („cum Omorath, Teucrorum domino, per triennium treugarum inducias") geschlossen, um den Venezianern besser Widerstand leisten zu können. Darüber habe er auch dem Kaiser geschrieben. 1 9 6 Dem kaiserlichen Gesandten Ioannes Disypatos schrieb er darüber einen Brief. 1 9 7 Auch dem Herzog von Mailand berichtete er über den Abschluß des Friedensver187

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Aschbach III (1964), 274-277; Fessler-Klein II (1869), 376 f; Jorga I (1990), 396 u. Baum: Kaiser Sisgismund (1993), 213 f. Dölger V (1965), 114, Nr. 3424. Baum: Kaiser Sisgismund (1993), 223. RI X I / 2 (1900), 81, Nr. 7171; Schiff (1909), 124, Anm. 2 u. Jirecek I I / l (1970), 165. Kenneth Μ. Setton: A History of the Crusaders on Europe, Vol. VI: The impact of the Crusaders on Europe, ed. by Harry W. Hazard and Norman P. Zacour, Madison 1989, 261. Schiff (1909), 123. ebenda, 128. Jorga I (1990), 406. Schiff (1909), 125. Jorga: Notes et extraits II (1899), 252; Grill (1950), 134 f, Nr. 10; vergl. dazu: Iorga I (1908), 412 u. Jirecek I I / l (1970), 165. Zakythinos (1975), 220.

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träges. Papst Martin V. hatte mit Kaiser Johannes VIII. einen Vertrag über ein Unionskonzil in Italien geschlossen.198 Sigismund informierte den Papst durch Folchi, der auf dem Rückweg vom Sultan von Johannes VIII. ein Schreiben über seine Konzilsbereitschaft bekommen hatte, über den Vertrag mit Murad II. und die Unionspläne, zu denen der Kaiser sich in Konstantinopel gegenüber dem Gesandten geneigt gezeigt habe. 199 Der byzantinische Kaiser hatte Sigismund allerdings auch einen neuen Kreuzzug gegen die Türken vorgeschlagen. 200 Der Papst bot die Geldmittel für die Reise zu einem Konzil an. Im Februar oder März 1430 erklärte der Kaiser sich mit einem Unionskonzil in Italien einverstanden. 201 Vergeblich beschwerte Johannes VIII. sich zu dieser Zeit auch über die Belagerung Thessalonikes, das Ende März 1430 von den Türken eingenommen wurde. 202 Auch weiterhin betrieb Sigismund seine Koalitionspolitik gegenüber den Türken. Im April 1429 teilte Sigismund dem Hochmeister des deutschen Ordens mit, daß er den Plan hege, den Schwarzmeerhafen Kilia, der von den Türken erobert, dann aber an den Woiwoden Alexander zurückgegeben worden war, friedlich von diesem zu erwerben. 203 Im Herbst 1430 kam Sigismund nach sechsjähriger Abwesenheit aus Deutschland erstmals wieder ins Reich und besuchte Nürnberg. Im Juli 1430 hatte er seine Pläne, die beiden Nachbarstaaten Ungarn und Litauen in der Abwehr gegen die Türken zu vereinen, in einem Brief an Großfürst Witold von Litauen entwickelt. 204 Während des Reichstags zu Nürnberg im Frühjahr 1431 erhielt Sigismund einen Brief des Turkmenenherrschers vom „weißen Hammel", Uthman ibn Tur Ali genannt Qara Yuluk, „dem schwarzen Blutegel" vom September 1430, der mit einer Tochter des Komnenenkaisers Alexios IV. von Trapezunt (1416-1429)205 verheiratet war. Qara Yuluk war nicht nur ein Feind der Türken, sondern auch der Venezianer, denen er mit seinen Einfällen nach Syrien Schrecken einjagte. Trotz der Verballhornung orientalischer Namen in europäischen Texten besteht an der Identifizierung nicht der geringste Zweifel, denn in einem Adressenverzeichnis aus dem Reichsregister D von Ende der 1420er Jahre werden neben Kaiser Johannes VIII. und seinen Brüdern Theodor und Konstantin von Morea sowie Alexios IV. von Trapezunt und König Jussuf von Granada und „Serenissimo principi d. Karoyuluk principi Mezopotamie et imperatori Tartarorum" in der Liste der Könige genannt, die zu krönen seien oder mit denen man sich verbinden müsse („Hii sunt reges christianorum, et sunt quidem coronandi, et quidem non tarnen ίIii qui sunt coronandi debent inungi, et habent privilegium de antiquo".); weiters werden auch Rat und Bürger von Kaffa auf der Krim, „unsere und des Reichs Getreue und Geliebte" Verbündete genannt. 206 Das Verzeichnis dokumentiert die Kenntnisse Sigismunds über die Verhältnisse im Mittelmeerrraum und in Asien. Auf dem Reichstag in Nürnberg selbst erschien der König 1431 in Begleitung eines Herzogs „aus Tatern" (Tartarei) und etlicher „herren auß der Dürkgey sowie des Walachenfürsten Vlad II. Dracul (t 1447)207, eines unehelichen Sohnes Mirceas des Alten. Dieser wurde am Hof Sigismunds als Thronprätendent und Gegengewicht zu Dan II. erzogen 198

199 200 201 202 203 204 205 206 207

J. Gill: Konstanz und Basel-Florenz. Geschichte der ökumenischen Konzilien, Bd. 9, Mainz 1967, 150— 152. RI XI/2 (1900), 102, Nr. 7457 u. Grill (1950), 134, Nr. 11; vergl. dazu: Stromer: Gesandte (1972), 601 f. Iorga I (1908), 412. Dölger V (1965), Nr. 3425. Jorga I (1990), 407 f. RI XI/2 (1900), 83 f, Nr. 7215; vergl. dazu: Stromer: Kontinentalsperre (1986),80 f. Beckmann (1902), 93. PLP 5, 1981, 223, Nr. 12082. Jorga: Notes et extraits II (1899), 226; Baum: Kaiser Sisgismund (1993), nach 208, Tafel 15 (Faksimile). PLP 3, 1978, 78. Nr. 5817.

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und - wie der litauische Großfürst Witold, der polnische König Wladysiaw und der serbische Despot Stefan - in den ungarischen Drachenorden aufgenommen. 208 Von daher erhielt er den Beinamen „Dracul" und wurde zum Urbild der Gestalt des „Dracula". Sigismund belehnte ihn im Februar 1431 in Nürnberg auf dem Reichstag unter Trommelwirbel mit einer Keule und ließ ihn zum Woiwoden der Walachei ausrufen. Auf diese Weise wurde zumindest der Schein einer ungarischen Oberhoheit über die Walachei erweckt. 209 Vlad Dracul tötete seinen Vetter Dan II. und Schloß sich bereits ein Jahr später den Türken an, die er im Juni 1432 nach Ungarn führte. 210 In der Wahl seiner Verbündeten hatte Sigismund nicht immer eine glückliche Hand. Im Feldzug gegen die Hussiten hatte Sigismund 1430 den blinden osmanischen Thronprätendenten „Morathbeg imperator Turcorum de domo Othomanorum" mitgenommen, dem er ein Haus in Ofen geschenkt hatte. 211 Für mögliche Gegenspieler des türkischen Sultans war Sigismund immer empfänglich. In den Berichten Ragusas wird mehrfach auch die Politik Sigismunds, Thronprätendenten gegen die Türken einzusetzen, erwähnt. 212 In Nürnberg erhielt Sigismund nun den erwähnten Brief des Quara Yuluk, der ihm mitteilte, was die Verbündeten im vorderen Orient erreicht hätten. Schah Roch habe seine Macht in Persien gefestigt; sein Sohn Soyurghatmys (Geromertz) habe die Turkmenen vom „schwarzen Hammel" besiegt, deren Herrscher Iskender ibn Qara Yusuf in Aserbaidschan geschlagen und seither verschollen sei. Nun rüste Schah Roch zu einem Feldzug gegen die Türken. In Syrien habe der Araberfürst Qurqmas ibn Husain ibn Nuair die Mameluken geschlagen und die Emire von Damaskus und Aleppo als Vergeltung für das Schicksal des Sohnes Qara Yuluks gefangengenommen. Der bereits erwähnte Gesandte Nikolaus Sarazenus könne den Rest berichten; er erwarte die Botschaft des Königs, um dann gemeinsam mit Schah Roch gegen die Türken vorzugehen. 213 Über die Kämpfe zwischen Quara Yusuf vom „schwarzen Hammel" und den Timuriden berichtete auch der Bayer Hans Schiltberger in seinem Reisebuch. Die Anspielung über das Schicksal des Sohnes von Qara Yuluk läßt sich durch die etwa gleichzeitige „Geschichte Ägyptens" von Taghri Birdi aufklären: Schah Roch hatte Iskender ibn Quara Yusuf 1421 und 1429 besiegt. Emir Saifaddin Habil ibn Uthman ibn Tur Ali, der Sohn Qara Yuluks und Vizekönig von Edessa, war 1429 in Gefangenschaft des Mamelukensultans Barsbay geraten und ein Jahr darauf in Kairo an der Pest gestorben, nachdem sein Vater vergeblich um seine Freilassung ersucht hatte. 214 Noch kurz vor seinem Tode konnte der achtzigjährige Qara Yuluk 1435 an den Statthaltern von Aleppo und Damaskus Rache für das Schicksal seines Sohnes nehmen, bevor er 1435 bei Erzerum in der Schlacht fiel.215 Über weitere Kontakte Sigismunds zu ihm ist nichts bekannt, der noch im April 1431 den Gesandten Benedetto Folchi „ad Teucrorum imperatorem" schickte. 216 Im Reichsregisterbuch D blieb ein bisher wenig beachteter Brief Mu20

" Holger Kruse/Werner Paravicini/Andreas Ranft (Hrsg.): Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland, (= Kieler Werkstücke D/1), Frankfurt-Bern-New York 1991, 241. 209 Aschbach III (1964), 365 u. Baum: Kaiser Sisgismund (1993), 227. 210 Jorga 1 (1990), 413 f. 211 Stromer: Gesandte (1972), 592. 2,2 Jorga: Notes et extraits II (1899), 336 f. 213 Wolfgang von Stromer: Diplomatische Kontakte des Herrschers vom Weißen Hammel, Uthman genannt Qara Yuluk, mit dem deutschen König Sigismund., in: Südostforschungen 20, 1961, 267-272, hier 267 f. 214 Wolfgang von Stromer: Eine Botschaft des Turkmenenfürsten Qara Yuluq an König Sigismund auf dem Nürnberger Reichstag im März 1431, in: Jahrbuch f. fränk. Landesforschung 22, 1962, 433-441, hier 437. 215 Stromer: Gesandte (1972), 599. 216 Schiff (1909), 142, Anm. 1.

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rads II. („Murat-weg") an „seinen Vater" Sigismund erhalten, in dem er sich für die durch „Stephan Byczkele" überbrachte Botschaft bedankte und eine Antwort ankündigte, die der Gesandte überbringen sollte. 2 1 7 Leider enthält der Brief keine konkreten Einzelheiten. Es dürfte sich dabei um den wohl ältesten erhaltenen Brief eines osmanischen Sultans an einen römischen König handeln! Mehrere ausführliche Schreiben der Republik Ragusa an Sigismund vom Juni 1430 bis Ende 1431 bestätigen, daß Stefan Bichelli, der königliche „cubicularius", am Hof des Sultans gewesen sei. 218 D e r Gesandte Folchi war im Juli 1432 „ad portam" Murads, als Gesandter Sigismunds bei der „Pforte". 2 1 9 Als er in Adrianopel von Murad II. forderte, dieser solle die O b e r h o heit über die Walachei, Bosnien, Serbien und Albanien aufgeben, antwortete der Sultan nach dem Bericht des französischen Reisenden Bertrandon de la Broquiere mit Hohn, er habe seinen „Vater" Sigismund, der niemals männlich zu kämpfen vermöge und von ihm bisher doch immer geschlagen worden sei, nur allzulange geschont. 2 2 0 D e m Gesandten Josa Turcus hatte Sigismund noch während des Nürnberger Reichstages Ende Juni 1431 ein Wappen verliehen. Als Josa später verhaftet wurde, hatte er „scripturas Turconicas legumque Makometi in se continens, qui liber Alkoranus nuncupatur" bei sich, die Sigismund ihm Anfang 1437 zurückzugeben befahl. 2 2 1 Auf dem Reichstag war schließlich auch das Projekt Sigismunds zur Sprache gekommen, eine neue Straße von Ungarn nach Kilia und Kaffa zu bauen, um den Handel von den venezianischen Routen abzulenken. 2 2 2 Nach der Eroberung Thessalonikes rückten die Türken durch Bosnien auf Kroatien vor. Der Rat von Ragusa meldete Sigismund am 22. 3. 1432, daß Qara Yuluk und Schah Roch ihre Truppen an den Ostgrenzen Anatoliens zusammengezogen hätten, um gegen Murad II. vorzugehen, der sofort seine Feldherren aus dem Europa zurückrief. 2 2 3 Der blinde türkische Thronprätendent Murad hinterließ einen Sohn David, den Sigismund auf den türkischen Thron zu setzen versuchte. 224 Derartige Unternehmungen scheiterten in der Regel; für seine Gegenspieler blieb der ungarische und römisch-deutsche König auf diese Weise jedoch stets ein unberechenbarer und ernstzunehmender Gegner, der keine Gelegenheit ungenutzt ließ, seinen politischen Einfluß zu steigern. Der römische König war auch im 15. Jh. immer noch eine Legitimationsinstanz, auf die politische Kräfte zurückgreifen konnten, deren Rechtsgrundlagen zweifelhaft waren. Auf diese Weise spielte Sigismund in den Auseinandersetzungen innerhalb des Despotats von Epirus eine Rolle, das um 1430 ebenfalls von den Türken bedroht war. 1429 hatte Carlo II. Tocco ( f 1448), ein Angehöriger einer „fränkischen" Dynastie in Griechenland, nach dem Tode seines Onkels Carlo I. die Herrschaft in Epirus übernommen. 2 2 5 Die nördliche Despotatshauptstadt Ioannina wollte nicht das Schicksal Thessalonikes erleben und ergab sich am 9. 10. 1430 den Türken, die aufgrund der freiwilligen Übergabe den Einwoh-

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Jorga : Notes et extraits II (1899), 288.

218

ebenda, 2 6 8 - 3 0 9 ; Vergl. dazu: Stromer (1972), 602.

219

ebenda, (1972), 603, Anm. 34a.

220

Iorga I (1908) u. Jirefek I I / l (1967), 170.

221

Stromer: Gesandte (1972), 601.

222

ebenda, 608, Anm. 45.

223

Wolfgang von Stromer: Die Schwarzmeer- und Levantepolitik Sigismunds von Luxemburg, in: Bulletin

224

Jorga I (1990), 416.

de l'Institut Historique Beige de Rome, fasc. X L I V , Bruxelles-Rome 1974, 6 0 1 - 6 1 0 , hier 606. 225 p e t e r Soustal: Nikopolis und Kephallenia (unter Mitwirkung von Johannes Köder), ( = Tabulae Imperii Byzantini 3, in: Österr. Akademie d. Wiss., philosoph.-histor. Klasse, Denkschriften 150), Wien 1981, 75 f.

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nern die Privilegien bestätigten. 226 Carlo behauptete nun nur noch die Inseln Kephalonia, Zakynthos und Leukas sowie die Provinz Arta. Sein Vetter Menuno kam Ende 1433 an Sigismund und ersuchte ihn, ihm den Titel eines Despoten von Ioannina und Arta zu verleihen.227 Für Sigismund war dies eine Gelegenheit, sein Prestige zu erhöhen, ohne dafür etwas einsetzen zu müssen. Konsequenzen haue die Verleihung vom 14. 12. 1433 durch den Kaiser228 nicht; Carlo II. behauptete sich auch weiterhin in Arta, und Ioannina blieb türkisch. Unterdessen war Sigismund am 31.5. 1433 in Rom von Papst Eugen IV. zum Kaiser gekrönt worden. Im Oktober 1431 war eine griechische Gesandtschaft beim Papst eingetroffen, die sich nach dem Vertrag der Byzantiner mit Martin V. mit der Kurie auf eine nach Bologna einzuberufende Synode einigte. Dies benutzte der Papst als Vorwand zu dem Versuch, das Basler Konzil aufzulösen. Sigismund hegte Zweifel an der Realisierbarkeit der Union mit den Griechen, die auch in Basel für unwahrscheinlich gehalten wurde. 229 Im Sommer 1433 verhandelte eine Delegation der Byzantiner in Rom in Anwesenheit Sigismunds mit Eugen IV. über eine Übereinkunft über Ort und Teilnehmer des Unionskonzils, ohne eine Einigung zu erzielen. 230 Sigismund kehrte im August 1433 nach Basel zurück, wo mittlerweile im Juli das Konzil feierlich eröffnet worden war, das sich schon bald mit dem Papst überwarf. Der Dominikanerprokurator Johannes Stojkovich von Ragusa (t 1443) setzte sich in besonderer Weise für das Projekt der Wiedervereinigung mit den Griechen ein. Bis dahin waren die langjährigen Verhandlungen immer auf einen Handel „Union gegen Türkenhilfe" hinausgelaufen. 231 Der Papst und die konziliaristische Partei engagierten sich in dieser Frage vor allem aus Prestigegründen. „Die Griechenfrage wurde quasi als Stellvertreterkrieg der inneren Spannungen des Basler Konzils einerseits, des latenten und offenen Machtkampfes zwischen Papst und Konzil ausgefochten." 232 Es war abzusehen, daß die Partei, der es gelang, den Vertrag mit den Orthodoxen zu schließen, damit einen entscheidenden Sieg über die andere Partei erringen würde. Bereits Anfang 1433 hatte sich das Konzil mit einer eigenen Gesandtschaft nach Konstantinopel gewandt, wo Johannes von Ragusa zweieinhalb Jahre (1434-1437) verblieb. 233 Sigismund unterstützte das Konzil, mußte aber - vor allem vor der Kaiserkrönung - auch Rücksicht auf den Papst nehmen und bemühte sich, eine Spaltung des Konzils zu verhindern. Von ihrer Theologie her neigten die Griechen eher zum hierarchischen Denken der Kurie als zu den konziliaristischen Tendenzen der Konzilsväter. 234 Bereits Martin V. (14171431) hatte mit dem Kaiser die Abhaltung einer Synode in Italien vereinbart. Sein Nachfolger Eugen IV. (1431-1447) hatte bereits im ersten Amtsjahr Zusicherungen über den

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Nicol (1972), 367 f. Iorga I (1908), 416 u. Donald M. Nicol: The Despotate of Epirus 1267-1479, Cambridge-London-New York 1984, 204 f. 228 Jorga: Notes et extraits II (1899), 318 f. 229 Werner Krämer: Der Beitrag des Nikolaus von Kues zum Unionskonzil mit der Ostkirche, in: Mitteilungen u. Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 9), Mainz 1971, 34-52, hier 37 f. 230 Dölger V (1965), 116, N r . 3436. 231 Johannes Helmrath: Das Basler Konzil 1431-1449. Forschungsstand und Probleme, Köln-Wien 1987, 372. 232 ebenda, 373. 233 Hermann Josef Sieben: N o n solum papa definiebat nec solus ipse decretis et statutibus vigorem praestabat. Johannes von Ragusas Idee eines römischen Patriarchenkonzils, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift Erich Meuthen, Bd. 1, hrsg. v. Johannes Helmrath u. Heribert Müller, München 1994, 123-143, hier 125. 234 Helmrath (1987), 377: „Der Kirchenbegriff der Griechen war episkopalistisch-hierarchisch." 227

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Besuch eines Konzils in Bologna erhalten. 235 Im Frühjahr 1433 hatte auch der Papst eine Delegation unter der Leitung des Legaten Garatoni nach Konstantinopel geschickt. 236 Der Papst und die Griechen waren für eine Unionssynode in Italien, während das Konzil auf eine Abhaltung in Basel, Avignon oder Savoyen beharrte. Kaiser Johannes VIII. ersuchte Sigismund Anfang November 1333 durch seine Konzilsgesandten Demetrios Palaiologus, Abt Isidor vom Demetrioskloster in Konstantinopel - den späteren Kardinal Isidor von Kiew ( t 1463)237 - und dessen Schwager Johannes Dishypatos, die Unionsbestrebungen zu unterstützen. Er wandte sich aber auch an den Papst und an das Konzil. Die Gesandten reisten über die Walachei und Ungarn in Richtung Basel und trafen Sigismund auf der Rückreise von Basel nach Ungarn am 24. 6. 1434 in Ulm. 238 Offensichtlich verfaßte Isidor nach seiner Ankunft in Basel den erwähnten überschwenglichen „Panegyrikos" auf Sigismund, in dem konkret die große Sprachkenntnis des Kaisers gerühmt wurde, der mit den meisten Völkern seiner Reiche in der Muttersprache reden konnte. 239 Im Juli 1434 traf die byzantinische Delegation in Basel ein.240 Die griechische Delegation wurde vom Konzilspräsidenten Kardinal Cesarini begrüßt. Im Grunde waren die Konzilsväter jedoch nur wenig für die Diskussion vorbereitet; nur Johann von Ragusa erwies sich als Experte in dieser Frage. Er verhandelte im Jahr darauf in Konstantinopel als Konzilsbevollmächtigter mit dem Kaiser, der bereit war, selbst zum Konzil zu kommen. Die Zweigleisigkeit der päpstlichen und konziliären Politik behinderte die Verhandlungen, bei denen es zunächst um den Ort für ein Unionskonzil ging. Kaiser Sigismund, der Basel bereits verlassen hatte, schaltete sich in die zunächst schleppende Diskussion ein; Anfang September erreichte ihn eine neue griechische Gesandtschaft in Regensburg, die ihn über den Stand der Verhandlungen mit dem Konzil informierte. 241 Am 7. 9. 1434 versprachen die griechischen Gesandten dem Konzil in einem Vertrag (Dekret „Sicut pia mater"), der Kaiser werde das Konzil besuchen. 242 Anfang Oktober 1434 schrieb Sigismund aus Regensburg an das Konzil über seine Verhandlungen mit den griechischen Gesandten und drückte seine Hoffnung aus, daß die Griechenunion der ganzen Kirche zum Heil gereichen werde. 243 Gleichzeitig schrieb er auch an Johannes VIII., den „Kaiser der Romäer" und („imperatori et moderatori Romeorum, fratri nostro carissime") und lobte die Abmachungen der griechischen Gesandten mit dem Konzil, das allein die Union bewerkstelligen könne und ermahnte ihn zur Betreibung der Union. 244 Der griechische Theologe Silvester Syropoulos,

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Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. III: Die mittelalterliche Kirche, 2. Halbbd.: Vom kirchlichen Hochmittelalter bis zum Vorabend der Reformation, hrsg. v. Hubert Jedin, 2. Aufl., Freiburg-Basel-Wien 1973, 576. 236 Krämer (1971), 38. 237 PLP 4, 1980, 130 f, Nr. 8300. 238 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Bd. 11: 1433-1435, hrsg. v. Gustav Beckmann, Göttingen, 2. Aufl. 1957,479, Nr. 250 u. Dölger V (1965), 117, Nr. 3438. 23 ' Lampros: Anekdotos Panegyrikos (1921); vergl. dazu: Giovanni Mercati: Scritti d, Isidora il cardinale Ruteno e codici a lui appartenuti, (= Studi e Testi 46), Roma 1926, 5. Herrn Dr. Herbert Wurm (Tamsweg) habe ich für wertvolle Hinweise in dieser Frage zu danken. 240 Nicol (1972), 369. 241 ebenda, 118, Nr. 3443. 242 Helmrath (1987), 375. 243 RI XI/2 (1900), 337, N r . 10898. 244 ebenda, 446, N r . 12330 u. Eugenio Cecconi: Studi storici sul concilio di Firenze, Parte prima: Abtecedenti del concilio, Firenze 1869,Cf, Nr. XXXIII.

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der auch über den Besuch Johannes V I I I . in Ofen berichtete 2 4 5 , erwähnt das Einvernehmen des Kaisers mit Sigismund. 2 4 6 Theologisch scheint Syropoulos den Konziliarismus unterstützt zu haben. Unterdessen machten die päpstlichen Delegierten unter der Leitung des Legaten Cristoforo Garatoni in Konstantinopel dem Kaiser weitgehende Zugeständnisse. Im April 1435 referierte der Legat in Basel über das päpstliche Angebot, ein Konzil in Konstantinopel abzuhalten. Man überließ den Griechen dann die Entscheidung für das bereits beschlossene Dekret „Sicut pia mater" oder eine Synode in Konstantinopel unter der Leitung des päpstlichen Legaten. Die Byzantiner entschieden sich jedoch für das Dekret. 1436 berichtete Johannnes von Ragusa aus Konstantinopel an das Konzil über die Abordnung einer neuen Gesandtschaft des Kaisers. 247 Auch die Vertreter des Kaiserreichs Trapezunt und der Walachei wurden von Johannes V I I I . zum Konzil eingeladen. 248 Der 1436 zum Erzbischof von Kiew und zum Metropoliten von Rußland gewählte Isidor von Kiew wurde nach Rußland geschickt, um die russischen Bischöfe auf das Konzil einzuladen. 2 4 9 Der Kaiser von Byzanz ersuchte auch die Patriarchen von Alexandrien, Antiochia und Jerusalem um die Teilnahme am Konzil. Im Juli 1436 begannen auf dem Basler Konzil die theologischen Vorarbeiten für den Dialog mit der Ostkirche. Die Kosten für die Reise und den Unterhalt der Griechen wurden auf 60 bis 80 000 Goldgulden geschätzt, die Kaiser Sigismund, sein Schwiegersohn Albrecht V. von Österreich, der Herzog von Mailand und die Städte Venedig, Florenz und Avignon vorschießen wollten. 2 5 0 Inzwischen war es nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zu einer Annäherung zwischen Kaiser Sigismund und der Republik Venedig gekommen, deren Gesandte betonten, erst nach der Wiederherstellung der Einheit im Glauben sei eine erfolgreiche Türkenabwehr möglich. Am 3 1 . 8 . 1435 kam es zum Abschluß eines Bündnisses zwischen dem Kaiser und der Senenissima. 251 Im August 1436 konnte Sigismund nach 16jährigen Auseinandersetzungen mit den Hussiten endlich in Prag einziehen und die Macht im Königreich Böhmen übernehmen. In der letzten Phase seines Lebens konnte der Kaiser sich nun wieder mehr dem Fortgang des Konzils und der Hilfe für Byzanz widmen. Nachdem das Basler Konzil beschlossen hatte, den Kaiser und den Patriarchen von Konstantinopel mit ihrem Gefolge mit Schiffen holen zu lassen, wurden die Verhandlungen fortgesetzt. Ende November 1435 teilten die Byzantiner dem Konzil mit, sie wünschten Verhandlungen in einer Hafenstadt am Meer, die per Schiff zu erreichen sei. Papst Eugen IV., dessen Position durch die Abschaffung der Annaten und das Verbot der Berufung an den Papst angeschlagen war, wandte sich an Sigismund, der die päpstlichen Gesandten Ende 1435 in Stuhlweißenburg empfing. Auf der Rückreise vom Konzil kam der byzantische Gesandte Demetrios im Juli 1436 nach Iglau, wo Sigismund dem Kaiser freies Geleit für die Reise zum Konzil erteilte. 2 5 2 In der Diskussion über den Ort, an dem das Unionskonzil abgehalten werden sollte, schaltete er sich mit dem Vorschlag ein, die ungarische Stadt Ofen dafür in Aussicht zu nehmen.

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Syropoulos (1971), 115, Nr. 12. ebenda, 127. Dölger V (1965), 120, Nr. 3454. ebenda, 121, Nr. 3458 f. ebenda, Nr. 3460. Krämer (1971), 45. Bruno Spors: Die Beziehungen Kaiser Sigmunds zu Venedig in den Jahren 1433-1437, Kiel 1905,46-49; vergl. dazu: Baum: Kaiser Sigismund (1993), 270. RI X I / 2 (1900), 370, Nr. 11367.

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Im November 1436 schickte Kaiser Johannes eine neue Gesandtschaft nach Basel, die den Auftrag erhielt, für den Fall, daß das Konzil keinen Beschluß über Ort, Zeit und Finanzierung des Konzils fassen könne, sich zum Papst Eugen IV. zu begeben, um dann einer Einberufung des Konzils durch den Papst zuzustimmen, wenn dieser bereit sei, alle Kosten zu übernehmen. 253 Am 11. 2. 1437 teilte er dem Basler Konzil mit, er könne den Wünschen des Kaisers Sigismund und den Bitten des Johann von Ragusa, zum Konzil nach Basel zu kommen, nicht nachkommen. 254 Sigismund schrieb Anfang 1437 an den Bischof Johannes Scheie von Lübeck und Dr. Georg Vischel, seine Gesandten beim Konzil, er wolle das Konzil nach Ofen verlegen und habe bereits die Venezianer ersucht, den Byzantinern Galeeren zur Verfügung zu stellen.255 In der 25. Session des Konzils kam es am 7. 5. 1437 zum Bruch, als die Mehrheit beschloß, Basel als Ort für das Unionskonzil mit den Griechen zu bestimmen und die Minderheit - zu der auch Nikolaus Cusanus gehörte sich für den Vorschlag des Papstes, Florenz oder Udine dafür in Aussicht zu nehmen, aussprach. 256 Mitte Mai beglaubigte die Minderheit ihre Gesandtschaft an den byzantinischen Kaiser.257 Im Juni trafen die Gesandten in Bologna bei Papst Eugen IV. ein, der Sigismund von der Ankunft des Cusanus informierte. 258 Eugen IV. ersuchte Sigismund auch um Unterstützung für die Griechen, die bereit waren, die Union abzuschließen. 259 Auf der Rückreise von Basel nach Konstantinopel besuchte der byzantinische Gesandte Manuel Dishypatos im Sommer 1437 den Kaiser in Eger, um ihn über den Gang der Dinge zu informieren. 260 Innerhalb von 40 Tagen reiste er dann über Ungarn und Serbien nach Konstantinopel zurück. 261 Es setzte nun ein förmliches Wettrennen der Gesandtschaften des Papstes und des Konzils nach Konstantinopel ein. Anfang September 1437 erreichte die päpstliche Gesandtschaft mit Nikolaus Cusanus ihr Ziel, die Konzilsflotte jedoch erst einen Monat später. 262 Vergeblich versuchte Kaiser Johannes VIII. zwischen den beiden Gesandtschaften zu vermitteln. Im Oktober meldeten die päpstlichen Gesandten, daß der Kaiser und Patriarch Joseph II. mit den päpstlichen Schiffen nach Italien kommen wollten. 263 Als das Unionskonzil von Ferrara am 8. 1. 1438 von Kardinal Albergati eröffnet wurde, war Kaiser Sigismund bereits tot. Noch 1437 hatte er Johannes VIII. durch den Gesandten Manuel Dishypatos vom Besuch des Konzils in Italien abgeraten. 264 Er dachte jedoch daran, in Venedig oder Zara mit dem byzantinischen Kaiser und dem Papst zusammenzutreffen. 265 Am 9.12. 1437 starb er in Znaim auf der Rückreise von Prag nach Ungarn. Ein katalanischer Bischof berichtete am 25. 11. in einem erschütternden Brief über die letzten Tage des greisen Kaisers, der erklärte, er werde nicht sterben, bevor er den Kreuzzug ins heilige Land

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Dölger V (1965), 122 f, N r . 3465-3467. ebenda, 123, N r . 3470. RI XI/2 (1900), 389, N r . 11621; vergl. dazu: Baum: Kaiser Sisgismund (1993), 279. Handbuch der Kirchengeschichte III/2 (1973), 576. Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, Bd. 1/2: 1437 Mai 17-1450 Dezember 31, hrsg. v. Erich Meuthen, Hamburg 1983, 201 f, Nr. 295a. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Bd. 12: 1435-1437, hrsg. v. Gustav Beckmann, 2. Aufl. Göttingen 1957, 229 f, Nr. 142. Jorga: Notes et extraits II (1899), 342 (7. 6. 1437). Dölger V (1965), 123, N r . 3471. Syropoulos (1971), 180-183. Krämer (1971), 48 f. Acta Cusana 1/2 (1983), 222 f, Nr. 331. PLP 10, 1990, 232, Nr. 25283. Syropoulos (1971), 212, Anm. 1.

Europapolitik im Vorfeld der Frühen Neuzeit

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unternommen habe. 2 6 6 Dieses eindrucksvolle Dokument bezeugt, daß Sigismund ein halbes Jahrhundert lang an seinen noch ganz mittelalterlichen Kreuzzugsidealen festgehalten hatte. Dies bezeugen auch panegyrische Gedichte wie das des Meisters Nicolö aus Perugia von 1433 und ein gleichzeitiges Gedicht des Meisters Prosper über Sigismunds Türkenzü& e · 267 Kaiser Johannes VIII. traf Anfang Februar 1438 in Venedig ein. 2 6 8 Sein Aufruf an das Basler Konzil, sich dem Unionskonzil in Italien anzuschließen, fand keine Beachtung. Am 6. 7. 1439 verkündete das Konzil von Florenz die Wiedervereinigung der Orthodoxie mit der lateinischen Kirche. Die Union hatte jedoch keinen Bestand, weil sie von der Basis der orthodoxen Kirche nicht mitgetragen wurde. Auf beiden Seiten war die innere Bereitschaft zu einer Wiedervereinigung nicht vorhanden; politische Fragen standen stets im Vordergrund. Auch Sigismund hatte versucht, aus der Konzilsfrage (Basel, Florenz oder Ofen) politisches Kapital zu schlagen. Trotz der - bedingt durch die Vernichtung der königlichen Archive Budapests und der kaiserlichen in Konstantinopel durch die Türken - schlechten Quellenlage hinsichtlich der politischen Beziehungten zwischen Sigismund von Luxemburg, Byzanz und dem Orient läßt sich doch ein weitgehend klares Bild von der politischen Konzeption des Königs und Kaisers sowie der letzten Paläologen gewinnen, die sich trotz ihrer schwierigen Lage an die Einzigartigkeit ihres Basileus-Titels klammerten. Trotz aller in den Vordergrund geschobenen weltanschaulichen Argumentationslinien blieb die Politik des letzten Luxemburgers von den jeweiligen tagespolitischen Fragen bestimmt, die sich aus seiner Tätigkeit in Ungarn und im Reich ergaben. Entscheidend war hier auch stets das Verhältnis zu den Venezianern und Türken, die die östliche und südöstliche Perspektive mitbestimmten. Programmatische traditionelle Konzeptionsmuster wie die byzantinische Vorstellung von der „Familie der Könige" und der Suprematie des Basileus Rhomaion in der christlichen Welt wurden weitgehend als Argumentationsmittel benutzt, spielten jedoch nach dem gescheiterten Kreuzzug von 1396 keine Rolle mehr. Zudem hatte sich auch im römischdeutschen Kaisertum längst die Vorstellung von der „Monarchia mundi" durchgesetzt, in der die Kaiser als Nachfolger der antiken Cäsaren auftraten; „tu Caesaris et Augusti successor" ist ein Topos der Kaiseranrede, den Dante für Heinrich V I I . und O c k h a m für Ludwig den Bayern verwendeten. 269 Der Philosoph Antonio Roselli ( t 1466), mit dem Sigismund im Frühjahr 1433 in Rom zusammentraf, widmete ihm einen Traktat „Über die Monarchie", in dem die weltkaiserliche Ideologie im Sinne Dantes auch auf das römischdeutsche Kaisertum übertragen wurde. Letztlich prallten somit zwei inkompatible Weltbilder aufeinander. „Nationale" deutsche und ungarische Interessen spielten auch für den Rex und Imperator Romanorum am Ende des Mittelalters eine zunehmende Rolle, die als Herrschaftsparadigma allmählich die mittelalterliche Reichskonzeption ablösten.

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Deutsche Reichstagsakten, Bd. 12 (1957), 263, Nr. 160: „dicit se non moriturum hac vice, quousque passagium adimpleverit terre sancte". Jorga: Notes et extraits II (1899), 508-510. Iohannes G. Leontiades: Die griechische Delegation auf dem Konzil von Ferrara-Florenz. Eine prosopographische Skizze, in: Annuarium Historiae Conciliarum 21/2, 19, 353-369 u. Manfred Hellmann: Geschichte Venedigs in Grundzügen, Darmstadt, 3. Aufl., 1989, 123. Ernst Schubert: König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (= Veröff. d. Max Planck-Instituts für Geschichte 63), Göttingen 1979, 208 f.

HEINZ BERTHOLD, HALLE

Die „Attischen Nächte" des Aulus Gellius in Hartmann Schedels Weltchronik

Die Gratulation für Günter Mühlpfordt bietet dem Schreiber die ehrenvolle und gern ergriffene Gelegenheit, eigene Beobachtungen im gemeinsam beackerten Wissenschaftsgarten in einen großen, bunten Strauß einzubinden und darzubringen. Da mag es gestattet sein, Ergebnisse nicht nur in der Schnürbrust systematischer Ordnung vorzuführen, vielmehr ein Thema in chronologischer Wissenschaftserzählung gewissermaßen auf dem Anmarschweg zu zeigen. Vor wenigen Jahren ist der Entdeckung Amerikas (12. 10. 1492) durch Christoph Columbus und aller damit gebotenen Möglichkeiten und Folgen für die geschichtliche Entwicklung gedacht worden, ebenso aber auch der nahezu gleichzeitig (12.7. und 23. 12. 1493) erfolgten Drucklegung des größten buchhändlerischen Unternehmens der Dürerzeit, der Weltchronik des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440-1514), eines Werkes, das der in das heilsgeschichtlich orientierte Schema eingebundenen Chronographie des Mittelalters die neuen Impulse der humanistischen Ideenwelt einbrachte, die vom Bürgertum der freien Städte getragen wurden. Beim Blättern in dieser Chronik in den Räumen der halleschen Marienbibliothek suchte und fand ich Vorjahren in dieser Chronik das Notat zu einem Autor, der in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Skriptorien und Bibliotheken eine einst hochgeschätzte, heute wenig beachtete und fast vergessene Rolle spielt, zu Aulus Gellius - im Mittelalter zu Agellius entstellt und auch im Schedeischen Registrum noch unter A (=Aulus) eingeordnet - , einem Autor aus einer Zeit, die E. Gibbon für die glücklichste des Römischen Weltreichs erklärte, des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts oder besser „kaisergeschichtlich" von Trajan über Hadrian und Antoninus Pius bis zum Beginn der Regierungszeit des Mark Aurel. Diese Nachfrage war kein Zufall. Es ging mir um das Aufspüren von Gemeinsamkeiten zwischen diesem spätantiken Autor und seinen Nachnutzern und Gesinnungsgenossen. Dieser Aulus Gellius trug in einem um 160 n. Chr. herausgegebenen Miszellanwerk, dem er angeregt durch einen Studienaufenthalt in Griechenland den blumigen Titel „Attische Nächte" (Noctes Atticae) gab, Lehrstücke und Merkstoff aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten in ca. 400 Kapiteln mit Auszügen aus ca. 275 Autoren zusammen, in unterhaltsamer Form. Der hohe Wert der von ihm mitgeteilten Lesefrüchte ist unbestritten. Unsere Kenntnis verlorener „Original"autoren ist durch Gellius oft entscheidend erweitert worden. 1 Umgekehrt geht es vom Standpunkt der frühen Neuzeit aus betrachtet um das Aufspüren von Gemeinsamkeiten mit antiken Vorbildern hinsichtlich einer offenen Literaturform, die in Um- und Aufbruchszeiten anzutreffen ist und mit ihrer Kompilationsarbeit künftigen Entwicklungen vorarbeitet. 1

Über die in der Gelliusforschung anstehenden Aufgaben habe ich mich an folgenden Stellen geäußert (dort auch weitere Literatur): Heinz Berthold, Aulus Gellius. Seine Bedeutung als Vermittler antiker Bildungsund Kulturtraditionen in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle XXIX, 1980 G, H . 3, S. 4550. Ders., Interpretationsprobleme im Miszellanwerk des Aulus Gellius in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, 34.Jahrgang 1985 G, H . l , S. 12-15. Ders., Aulus Gellius, Attische Nächte. Aus einem Lesebuch der Zeit des Kaisers Marc Aurel. Herausgegeben und übersetzt von Heinz Benhold, Leipzig 1987. Nachwort S. 203-220.

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Heinz Berthold

Neben, genauer nach den üblichen und erwarteten Informationen zum Autor überraschte mich im „Schedel" der mit ideo de eo legitur eingeleitete Ubergang zu einer fast hymnischen, jedoch unabgesetzt in den fortlaufenden Prosatext eingebundenen Passage, die in Versform, genauer als elegisches Distichon, zu lesen ist: Si quem cecropia darum latiaque camoena Esse iuvat: Gelli scripta probanda legat. Attica nox luci nunquam cessura diurnae Ad varias artes quam bene monstrat iter. Suchst Du rühmliche Kunde von Hellas und Latiums Musen, Wähle des Gellius Werk, das sich bewährt hat und lies! Niemals wird „Attikas Nacht" dem hellen Tageslicht weichen, Weil sie Dir kundig erschließt jegliches Wissensgebiet. Diesen Worten nachsinnend und im Hinterhof des Gedächtnisses bewahrend, stieß ich wenig später in der Vorrede der am Scheideweg zur neuzeitlich-kritischen Beschäftigung mit diesem Autor 2 stehenden Ausgabe beider Gronovii (Johannes Fredericus et Jacobus), die 1706 in Leiden erschien auf eben dieses Distichenpaar, dem sich noch ein weiteres, ganz auf die mit der Ausgabe verbundene Arbeit am Text abzielendes, anschloß (das weiter unten vorzustellen ist) und bezeichnet war als aus der Brixener Ausgabe des Gellius von 1485 stammend: Impressum Brixiae per Boninum de Boninis de Ragusa anno domini M.CCCC.LXXXV. Die tercio Martii. Correctore Marco Scaramucino de Palatiolo. Diese Gellius-Inkunabel 3 ist eine der zehn im Gesamtkatalog der Wiegendrucke vermerkten Frühdrucke. Allein diese Anzahl früher Drucke weist auf den Gebrauchswert dieses Autors im 15. Jh.. Schaut man jedoch in der Uberlieferungsgeschichte ein wenig zurück, findet man unseren Gellius bereits unter den Lieblingsbüchern des Francesco Petrarca (1304-1374), was sicherlich hoch zu veranschlagen ist. 4 Wie aber war Hartmann 2

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Die kritische Verarbeitung der Gelliusüberlieferung liegt in folgenden modernen Ausgaben vor: Auli Geiiii Noctium Atticarum Libri XX: - Martin Hertz, editio maior I.II Berlin 1883-5; - Carl Hosius I.II Leipzig 1903 (und Nachdrucke); - P.K. Marshall I.II Oxford 1968 (weitere Bearbeitung 1990); - Aulu-Gelle, Les Nuits Attiques, texte etabli et traduit par Rene Marache Paris 1967(1.1-4), 1978 (1.5-10), 1989 (1.11-15); mit französischer Übersetzung; Bd.IV noch ausstehend. Auch der Zufall spielt eine gewisse Rolle; denn die Gronoviusausgabe, die ihrerseits über die Brixener Ausgabe berichtet und überhaupt die frühen Ausgaben einzusehen, hatte ich keinen Grund. Hier half ein Antiquariatsfund weiter. Vgl. zu den Frühdrucken: Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Herausgegeben von der Deutschen Staatsbibliothek Bd. IX, Stuttgart/Berlin 1991, Sp. 338-346: Gellius, Aulus N r . 1059310602; bes. die Ausgabe Brixen 1485 = N r . 10597. Vergleichen konnte ich mit freundlicher Genehmigung das Exemplar des Buchmuseums der Deutschen Bücherei Leipzig. Vgl. auch: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (W. Stammler - K. Langosch - K. Ruh) Bd. 8, Berlin 1992, Sp. 609 Boninus de Boninis, der Drucker der genannten Gelliusausgabe von 1485 wirkte von 1483-1491 in Brixia/Brescia, das ab 1472 ein bedeutendes Druckerzentrum in der Lombardei war; vgl. Lexikon des gesamten Buchwesens I, Stuttgart 1987, S. 352 (2. Aufl.). F.J. Worstbrock, .Index librorum'. Wissenschaftssystem und Humanismus um 1500, in: Studien zum 15. Jahrhundert = Festschrift für E. Meuthen, Bd. 2, München 1994, S. 697-715. Im Abschnitt „Petrarcas Lieblingsbücher" vermerkt H.Rüdiger in „Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel", München 1988, S. 532 f.(2. Aufl.): „Die Werke beider Sammler (Macrobius und Gellius) waren für Petrarca unentbehrliche Fundgruben für Stoff und anekdotische Zugaben zu seinen eigenen Res memorandae. Vgl. auch: B.L. Ullmann, Petrarch's Favorite Books, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 54, 1923.

Die „Attischen N ä c h t e " des Aulus Gellius in Hartmann Schedels Weltchronik

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Schedel zu diesen preisenden Versen gelangt? Sein Bücherverzeichnis zählt zu den wenigen, die uns aus dieser Zeit vorliegen. Das Schicksal der größten und gepflegtesten Privatbibliothek dieser Zeit ist bekannt. 5 Nach R. Staubers Arbeit über die Schedeische Bibliothek ist in jüngerer Zeit das Thema „Bücherverzeichnisse der Humanistenzeit" von W. Milde wieder aufgegriffen worden. Die Zusammenstellung der in Schedels Bibliothek versammelten Bücher führt, wohl verleitet durch das Stichwort „attisch", Gellius unter den Griechischen Historikern an. Das mag ein wenig verwundern. Aber schon diese Einordnung weist auf die Schwierigkeit hin, den Gellius einzuordnen. „Autor" (im Bibliothekskatalog) und „orator et grammaticus" (im Chronikartikel, s. u.) sind charakteristische Verlegenheitslösungen. In beiden Bibliotheken jedenfalls wird Gellius' Sammelwerk hoher Wert zugestanden. In Schedels Bibliothek stand also eine Gelliusausgabe zur Verfügung; mehr ist der Eintragung im Bücherverzeichnis zunächst nicht zu entnehmen. Mit großer Wahrscheinlichkeit muß es die Ausgabe von 1485 - 8 Jahre vor dem Erscheinen von Schedels Chronik - gewesen sein, die in Brixia (=Brescia) erschien. Dieser Gellius stand mit Sicherheit nicht nur im Regal. Zeugnisse von Kenntnis und Verwendung dieses Autors durch Hartmann Schedel sind später noch beizubringen, aber soviel darf vorab gesagt werden: die Abzielung auf „das Attische", vielleicht sogar auf Vergleich und Synthese von Griechischem und Römischem als Bildungsanliegen formt den Grundtext von Schedels Gelliusartikel, der den oben angeführten Versen vorangestellt ist, und der freilich - in diesem Fall sogar wortwörtlich - dem Supplementum Chronicarum des Augustinereremiten Jacobus Philippus Foresta di Bergamo entnommen ist, das 1483 vorlag (im folgenden gleich Foresta), aber die entdeckte Versgruppe nicht enthält, mithin als Vorlage derselben ausfällt. Dieser lateinische, wie betont bei Schedel und Foresta fast identische Grundtext zu Aulus Gellius lautet wie folgt: 6 Aulus Gellius romanus orator et insignis quidem grammaticus hoc tempore clarus existens agnoscitur. Q u i inter cetera sue virtutis opera: cum e roma per hiemem in atticam profisceretur terram. commentarios celebres edidit quos in libros .XIX. dividens de nocticis atticis pernotavit. Ich schließe die deutsche Übertragung von Georg Alt an, die lediglich das „in libros .XIX. dividens" ausläßt und das anschließende Distichenpaar nicht übernimmt: Aulus Gellius ein römischer Kunstredner und treffenlicher grammaticus was zu disen Zeiten achtper. Der hat unter andern wercken seiner kunst und tugent als er auß Rom im

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Vgl. R.Stauber, Die Schedeische Bibliothek, Freiburg/Br. 1908: unter den Drucken der erhaltenen Schedeischen Bibliothek befindet sich keine Gelliusausgabe; S. 115 nur: Aulus Gellius noctium Acticarum (sie) und Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz 111,3 München 1961, S. 802-844. S. 803: „Schedel war der geborene S a m m l e r " Weiter: Wolfgang Milde, Über Bücherverzeichnisse der Humanistenzeit (Petrarca, Tommaso Parentucelli, Hartmann Schedel), in: Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der frühen Neuzeit =» Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens Bd. 10, Wiesbaden 1984.

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Hier und im folgenden ist die lateinische Fassung der Schedeischen Chronik vorlagengetreu wiedergegeben; nur sind die Abkürzungen und Ligaturen aufgelöst. Orthographische Eigenheiten - auch Versehen! und die Handhabung der Groß- bzw. Kleinschreibung sind beibehalten. Foresta weicht vom obigen Text ab: Aulusgelius; hoc+est; de grammatica commentarios; in libros. 20.! (vgl. Anm. 7); noctibus atticis titulo. Die deutsche Übersetzung setzt im letzten Satz das „ h a t " doppelt und schließt mit einem Sonderzeichen. Kürzungstechnik bzw. -zwang der Übersetzung bleiben außerhalb der Kalkulation. Im allgemeinen kürzt G. Alt im Werkverzeichnis und bei philologischem Detail; hier auch den poetischen Schluß. Vgl. auch M. Haitz (Anm. 12), S. 50 über die Situation des Übersetzers. - Die mit der Lay-out=Problematik verbundenen Zwänge der Anpassung des Textumfangs an das vorgegebene Bildmaterial vgl. Christoph Reske, Die Umsetzung der handschriftlichen Vorlagen beim Druck der Weltchronik, in: Pirckheimer-Jahrbuch 1994 (s. Anm. 12), S. 133-164.

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winter in das Atticisch land zohe gar vil treffenlicher glawbwirdiger buecher geschriben und inen den titel von Aticischen nachten gegeben hat. (Hinweis auf Kürzung) Die Gelliusdrucke des 15. Jh. von der editio prirtceps, die 1472 in Rom erschien, bis zur 1500 in Venedig gedruckten Ausgabe ruhen auf schlechter Textgrundlage 7 und wurden sorglos abgedruckt und verändert. Das wundert nicht. Die Zeit war faktenhungrig und nicht auf Mühewaltung gegenüber den Sachkenntnisse vermittelnden Autoren, gewissermaßen Autoren der zweiten Reihe, bedacht. Das eingangs vorgeführte Lobgedicht der Brixener Ausgabe ist dazu kein Widerspruch; seine, von Schedel nicht aufgenommene Fortsetzung warnt den Benutzer sogar ausdrücklich. En tibi docta cohors marcus correxit ad unguem Quem tulit adriaco Brixia marte potens. Si quid erit falsi veniam dabis: inscia turba Forsitan huic nocuit: dum celerabat opus. Sieh' diese tüchtige Schar. Der Marcus las Korrekturen. Brescia heißt seine Stadt, mächtig im Adriakrieg. Schlichen Fehler sich ein, verzeih' nur, die Eile gebot es. Helfer ohne Verstand schadeten unserem Werk! Diese Versgruppe wirft ein amüsantes Streiflicht auf den Druckvorgang. Er, Marcus, der gründliche Korrektor, will den Leser wissen lassen, daß er keine Gelegenheit zu einer zweiten Korrektur hatte. Die „Eile" des Werks darf für viele Druckunternehmen der Zeit, vor allem auch für Schedels Chronik als Entschuldigung von Flüchtigkeiten in Anspruch genommen werden. Als ich in der Einleitung meiner Gelliusübersetzung zunächst nur die Zitation der Brixener Verse in Hartmann Schedels Weltchronik als Beispiel für das Wohlgefallen der Humanisten an diesem, ihren eigenen Bestrebungen so verwandten Autor anführte 8 , hatte ich auf eine Traditionslinie gewiesen, von der uns Zedlers Universallexikon berichtet: Am ersten Advent 1641 habe eine „Zusammenkunft einiger gelehrter Leute in Leipzig" (der Stadt, in der Hartmann Schedels Universitätsstudien begannen) stattgefunden, die sich die Selbstbezeichnung Collegium Gellianum zulegten und dessen Mitglieder „wöchentlich sonntags nach dem Gottesdienst zusammenkamen und von einigen zur Philologie (und das war ein weites Feld) gehörigen Sachen sich unterredeten." Aber noch Ersch-Grubers Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste verwendet 1853 auf Gellius fast den gleichen Raum wie auf den „großen" Autor Horaz (Gellius, S. 39-65; Horaz S. 457475). Es darf also vermutet werden: Das Werk des Gellius arbeitete der Gedankenwelt der Humanisten vor, indem es ein Bildungsprogramm vorbereitet und stützt, das Römisches und Griechisches Altertum als Einheit begreift, als Synthese anbietet und zugleich enzyklopädisch orientiert ist. Die vieleicht treffendste Kennzeichung seiner „Attischen Nächte" bezeichnet diese als eine „Enzyklopädie der freiesten Art". 9 Wie die lateinischen Personalartikel in Schedels Chronik ausweisen, zählt Gellius zu den Autoren, die mit einem zusätzlich beschafften Lobgedicht bedacht werden (allein das ist

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Vgl. dazu den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, oben Anm. 3. - Der lateinische Text Schedels rechnet entsprechend den auf den recentiores basierenden frühen Drucken - mit 19 Büchern, obwohl Gellius' Vorwort deutlich von 20 Büchern spricht. Die Differenz ist überlieferungsgeschichtlich, durch den Verlust des 8. Buches, begründet. Zwei an der Nahtstelle zusammengerückte Überlieferungsstränge wurden neu durchgezählt. Vgl. Gelliusübersetzung Anm. 1, S. 219 f. Nach L. Mercklin, Jahrbücher für klassische Philologie. Suppl.bd. III, Leipzig 1860, S. 694.

Die „Attischen N ä c h t e " des Aulus Gellius in H a r t m a n n Schedels Weltchronik

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nicht wenig!). Das vorliegende Gedicht entstammt - wie wir sahen - mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Ausgabe in seiner eigenen Bibliothek. Wie Foresta benutzt Schedel diesen Autor und seine Ausgaben in anderen Personalartikeln, meist ohne ihn dabei auch als Herkunftsort anzugeben, was andererseits Foresta ohne weiteres tut. Es ist eben des Gellius Schicksal, als Literaturempfehler, als Vermittler, ohne Namensnennung zitiert, ausgebeutet zu werden. Schedel folgt also ähnlichen Grundsätzen wie sein spätantiker Geistesverwandter. Für seine Personalartikel könnte man nun durchaus eine Begründung in Anspruch nehmen, die Gellius in seinem Synkrisis-Kapitel (N.A. 17,21; § 1) so formuliert: Ne in sermonibus forte inconspectum aliquid super aetate atque vita clarorum hominum temere diceremus. Und: ut ab istiusmodi temporum aetatumque erroribus caveremus, excerpebamus ex libris, qui chronici appellantur, quibus temporibus floruissent Graeci simul atque Romani viri. „Damit wir im Gespräch über Lebenszeit und Lebensführung berühmter Männer nicht voreilig etwas Unbedachtes von uns geben." Und: „Um uns vor irrtümlichen Zeit- und Altersangaben der geschilderten Art hüten zu können, stellten wir uns aus Büchern, die man Chroniken nennt, Auszüge her, die Aussagen über die Zeiten enthielten, in denen berühmte Griechen und Römer wirkten." Diese programmatische Erklärung des Gellius, die mir in Hinblick auf Schedels Arbeitsweise in seinen Personalartikeln wichtig zu wissen ist, war vorwegzunehmen. Man vergleiche hierzu die Devise aus Schedels Handexemplar seiner Chronik: Omnes praeterea viros in armis et disciplinis excellentes tarn Hebreos, Graecos quam Latinos summa cum diligentia collegimus 1 0 und die mit einer Erwähnung des Gellius (wohl auf N.A. 13,17 bezogene) verbundene Mahnung: Itaque si sola tibi essent humanitatis studia, que in literis consumuntur - quemadmodum Agellius in noctibus definit, quia humanum animum imbuunt et exornent, quo commercium cum doctis habere possit, die sich in Schedels Briefwechsel fand. 11 Eine nächste Frage drängt sich auf: „Warder Gelliusartikel ein Einzelfall, in dem Schedel - einen Stilbruch in Kauf nehmend, bzw. kaum bemerkend - in seinen fortlaufenden Prosatext Verse aufnimmt und folgt er hierin seiner Quelle, besser seinem Leitfaden, Foresta?" Wider Erwarten war festzustellen, daß Schedel (wenn auch nur gelegentlich) in seinen Personalartikeln analog verfährt, das meint: Gedichte einbaut, diese jeweiligen poetischen Erweiterungen aber aus Foresta übernimmt. Der Stellenwert meiner Beobachtung für die mitgeteilten Verse auf des Gellius Werk bleibt also erhalten. Eine Umschau nach weiteren Gelliusspuren im Bereich der antiken griechischen und lateinischen Autoren - die zugleich die unserem Streifzug auferlegte Beschränkung ist 12 - war geboten und soll sich anschließen.

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Serapeum, Leipzig 1854, S. 1 3 7 - 1 5 4 : Das E x e m p l a r von „ H a r t m a n n i Schedelii C h r o n i c o n lat. N o r i m b e r gae 1 4 9 3 " , welches der Verfasser H . S. selbst besaß, beschrieben von A n t o n Ruland.

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H e r m a n n Schedels Briefwechsel ( 1 4 5 2 - 1 4 7 8 ) Herausgegeben von Paul J o a c h i m s o n , in: Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart C X C V I , Tübingen 1893. Enthält als N r . 10: Hieronymus Rotenspeck an Sigismund G o s s e m b r o t ( R o m , 1 5 . 3 . 1458); Text S. 1 9 . - V g l . auch die Untersuchung von Eva Matthews Sanford, Some Literary Interests of Fifteenth Century G e r m a n Students, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 59, 1928, S. 7 2 - 9 8 ; S. 74 betrifft das Interesse an Gellius.

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D i e folgenden Beobachtungen erstrecken sich nur auf die lateinischen Autoren und beanspruchen nicht, eine abschließende Untersuchung zu bieten. D i e an Ausschließlichkeit grenzende Ableitung des Schedeischen Textes aus Foresta ist unbefriedigend und vielleicht auch die Ursache des Desinteresses an der Beschäftigung mit dem Textautor Schedel im Bereich der lateinischen Autoren. D i e grundlegende und unentbehrliche Darstellung von Michael H a i t z : H a r t m a n n Schedel's Weltchronik, Diss. M ü n c h e n 1899 verleitet dazu. Meine Untersuchung setzt bei den Differenzen Schedel - Foresta an und versucht zu zeigen,

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Befragt man die beiden Chronikbücher Schedel und Foresta nebeneinander, zeigt sich der ältere Foresta, der Schedel als Leitfaden diente, als ein übersichtliches Arbeitsinstrumentar. Bei Foresta sind die Textblöcke der Viri doctrinis excellentes und der Viri disciplinis excellentes vollständiger und auf dem Zeitstrahl sinnvoller positioniert. Hält man die von Schedel ausgewählten berühmten Griechen und Römer 13 dagegen, wird man fragen, ob und wie der Wegfall von Artikeln zum Beispiel über die Dichter Lukrez, Catull und Tibull erklärt werden kann oder soll. Die Raumvorgaben für Schedels Textgestaltung (vgl. auch Anm. 6), der ihm auferlegte Zwang zur Kürze, sind als (Teil)erklärung einleuchtend. Neben der geringeren Zahl ausgewählter Personen fällt bei Schedel der durchgehende Drang zu Kürzungen auf, die sich hauptsächlich im Bereich der Werkverzeichnisse der Autoren und in den Angaben der antiken Gewährsmänner zeigen. Letztere werden gewöhnlich mit „N.N. teste", „N.N. referente", „ut N.N. scribit" oder ähnlich namhaft gemacht; ihr Kreis läßt sich annähernd vollständig umgrenzen mit den Namen Eusebius, Diogenes Laertius, Cicero, Plinius maior, Quintilian, Hieronymus und Augustin; bei Foresta erscheint auch Gellius. In gewissermaßen freier Gestaltung begegnen nur wenige antike Persönlichkeiten. Bei den Griechen, die nur hier einmal einbezogen werden sollen, erscheinen die „Weisen"-Artikel - zum Beispiel Solon und Chilon - nahezu als Spielwiesen, auf denen jeder Chronist breit ausbordend seine Lieblingsvorstellungen einbringt. Aber auch in Artikeln zu jüngeren Personen wie zum Beispiel Mithradates (und wenigen anderen) bleibt Raum für unabhängige Gestaltung. Doch kehren wir zum Gelliusartikel zurück. Foresta postiert seinen Gellius hinter dessen Lehrern, dem Mittelplatoniker Taurus und seinem persönlichen Bildungsmuster, dem Sophisten Favorinus von Arelate. Beide fehlen - zum Nachteil der Information - bei Schedel. Dagegen bedingt die Gesamtanlage der Schedeischen Chronik die Einordnung des Gellius - nahezu verloren - unter Bischöfen, Märtyrern und Ketzern seines Jahrhunderts. Beim Vergleich der Artikel zum Enzyklopädisten Varro zum Beispiel steht Forestas umfangreicheres Werkverzeichnis (das ein Auskunftsbedürftiger vorerst erwartet) und seine genauere Zitation von Gewährsmännern gegen Schedels starke Kürzungen, bzw. dessen gröbere Notierung in diesem, dem Werk-Bereich. Dabei wird man dem Augustinerfrater Foresta nachsehen mögen, daß er gerade im Varroartikel zahlreiche Anleihen aus Augustin macht, der sich ja (in De civitate Dei) seinerseits stark auf diesen, von ihm bewunderten Polyhistor stützt und seine Quelle auch ausdrücklich benennt. Das Letztere tut Schedel nicht einmal im Sallustartikel, der praktisch aus einem einzigen Augustinzitat gebaut ist; das heißt natürlich, daß er auch hier die Quelle Augustin, die Foresta angab, nicht erwähnt. Stellt sich die Frage, was Schedel in seinem (wie immer begründeten) Zwang und Drang zur Kürzung entgegenzustellen hat. Auch hier wieder nur Eindrücke, die sich bei fortlaufender Lektüre und eingehendem Vergleich verstärken würden: der Humanist Schedel bringt - teils mit, teils auch gegen seinen Leitfaden Foresta - persönliche Züge ein, versucht - wie im Altertum Plutarch - an Kleinigkeiten Charakteristisches, daß sich das lohnt. Hartmann Schedel soll als Autor mit eigener Zielstellung gesehen werden. Vgl. Elisabeth Rücker in: Beiträge zur Humanismusforschung Bd. VI (Humanismus und Naturwissenschaften.Herausgegeben von R. Schmitz und Fr. Krafft) Boppard 1980, S. 183: „In Bezug auf die inhaltliche Untersuchung dieser voluminösen Weltchronik ist jedoch relativ wenig geschehen. Man weiß zwar sehr genau, woraus Schedel überall abgeschrieben hat, . . . eine historische Einordnung in die lateinische Literatur des ausgehenden deutschen Mittelalters hat dieses Werk m. W . jedoch nie erfahren . . . Die Chronik gilt als textlich belanglose Kompilation. 13

Zur Beziehung Griechenland - Rom vergleiche meinen 1996 erscheinenden Beitrag zur deutsch-georgischen „Griechenland-Rom=Konferenz" Jena 1988: Synkrisis Rom - Griechenland im zweiten Jahrhundert n. Chr. am Beispiel Aulus Gellius.

D i e „Attischen N ä c h t e " des Aulus Gellius in H a r t m a n n Schedels Weltchronik

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Liebenswertes zu zeigen, und das trotz der gebotenen Kürze. Nur ein Beispiel: vom Dichter Vergil berichtet Schedel zusätzlich, daß er die Mittel, die ihm sein Dichten verschaffte, zur großzügigen Unterstützung seiner armen Eltern verwandte. Doch blicken wir weiter auf einen Personenkreis, der auf jeden Fall Gelliusnähe verspricht: die römischen Dichter Naevius, Ennius, Terenz und Plautus. Der Ein- und Ausbau eines Schedeischen Lieblingsmotivs ist in diesem Umkreis besonders deutlich zu machen: die Verwendung von Grabinschriften, kurzen Sinnsprüchen, die das Wesen einer historischen Gestalt erfassen wollen; vergleichbar der persönlichen Hinwendung (consummatio vitae), die antike Historiker gelegentlich in den Geschichtsablauf einblenden, wenn ein Akteur ausscheidet. Natürlich fehlen diese Gestaltungselemente auch bei Foresta nicht. Cn. Naevius (gestorben um 200 v. Chr.), der Schöpfer des nationalrömischen Dramas, doch fast vollständig auf seine Bedeutung unter den römischen Komikern reduziert, erscheint als Dritter einer Rangliste römischer Komödiendichter, die allein von Gellius überliefert ist (N.A. 15,24). Diese berühmte Liste hat Versform, die freilich nur Foresta im Druck kenntlich macht, der diese comicorum dinumeratio mit den von Schedel ausgelassenen Worten abschließt: hanc etiam gellius confirmat sententiam. Auch Q . Ennius (gestorben um 169 v. Chr.) - wie seine Dichterkollegen in liebenswerten Einzelheiten geschildert - erscheint nicht als Schöpfer des ersten Nationalepos der Römer, sondern wiederum als poeta c o m i c u s . . . mit selbstverfaßtem Grabepigramm, das man aus Cicero zusammenstellte (Tusc. disp. I 15,34 und Cato maior 20,73). P. Terentius Afer (um 190-159 v. Chr.) wird in einem quellenkritisch diffizilen Artikel vorgestellt, der alle Elemente humanistischer Menschendarstellung verwendet: Familienbindung, Aussehen, Bildungsgang, Lebensweise, Tod und lehrhaftes Epitaph. Die Mitteilungen über den Komödiendichter T . Maccius Plautus (um 2 5 0 - 1 8 4 v. Chr.) weichen bei Foresta und Schedel nur geringfügig (nach den üblichen Schedeischen Kürzungsgewohnheiten) voneinander ab, doch scheint bedeutsam: Foresta führt das Grabepigramm des Dichters mit „Varrone lib. de poetis testante" ein, Schedel mit „ut Varro de poetis dicit" und der bezeichnenden Bemerkung ,Jussit tale suo sepulchro epigramma incidi" gegen Forestas schlichtes „tale epigramma inscriptum fuit." Bekannt ist diese Grabschrift aber allein aus Gellius (keiner der beiden nennt ihn namentlich), der N.A. I 24 drei von berühmten Dichtern selbstverfaßte Grabepigramme vorstellt. Eine direkte Bekanntschaft mit diesem Gelliuskapitel ist für beide - Foresta und Schedel - zwingend festzustellen, da Schedel den charakteristischen Einzelzug „epigrammata, . . . quae ipsi fecerunt" n u r aus Gellius, nicht aus Foresta entnehmen konnte. Beispiele für Gelliusnutzung mit Namensnennung bietet Foresta mehrfach, das sei eben nur angedeutet. 14 Wichtig bleibt, daß - über die Fronten hinweg - bei Foresta und Schedel reges Interesse an allem Biographischen festzustellen ist. Man wird aber vielleicht sogar sagen dürfen, daß dieser biographische Blickwinkel bei Hartmann Schedel das Übergewicht gewinnt. Sicherlich teilte er das Sammeln von narrativen Epitaphien, Elogien, inschriftlichen und literarischen Epigrammen mit anderen Zeitgenossen, aber eine Gewichtsverlagerung des Interesses ist eben deutlich, schafft ein eigenes Flair. Schedels Textarbeit muß - soviel darf abschließend festgehalten werden - differenzierter eingeschätzt werden und hier werden verschiedene Disziplinen zusammenwirken müssen. Beim Gellius liegen die Dinge anders. Er - „das Schaf mit dem goldenen Fell" - ist

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Vgl. zum Beispiel den bei Schedel fehlenden Artikel über Ventidius Bassus mit namentlicher N e n n u n g des Gellius ( Ν . A. 15,4), die freie Adaption von Gellius N . A . 2,2,9 im Artikel des Mittelplatonikers Taurus; das freie Spiel mit Gelliusbezügen im Kapitel Mithradates u. a.m.

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fachgerecht verteilt worden. Die Goldkörner - sprich: die Originalzitate aus nicht erhaltenen Schriftwerken - sind längst auf die zuständigen Fragmenten- und Testimoniensammlungen verteilt worden. Mit dem Rest weiß man noch wenig anzufangen, wenngleich sich ein Umschlag anzubahnen scheint. Für die Erhellung seiner Wirkungsgeschichte kann die Beschäftigung mit der Chronik Schedels Einsichten einbringen; andere Felder wie etwa die der Emblematik sind noch unbestellt, aber Ernte versprechend. Sachwissen und Fragestellungen vermittelnde Bücher sind vom Ansatz her kompiliert. Von „druck"reifen Mitteilungen bis hin zu mehr oder weniger geordneten (auch in der Humanistenzeit nach wie vor handschriftlichen) Exzerptbüchern. Es bleibt die Frage stehen, ob mit der Erhellung kompilatorischer Arbeit ein Vorwurf oder eine Werteinschränkung zu verbinden sei oder ob nicht vielmehr Kompilation eine aus der Funktion der Wissensvermittlung heraus zu verstehende Umgangsform mit historischem Material darstelle. 15 Die Summe kompilatorischer Entscheidungen, also: Auswahl oder Kürzung, Kürzung und Hinzufügung aus Raum- und Zeitzwang, Einstellung auf Publikumserwartung, bzw.-bedarf, motivierte Einzeländerungen, Wertungen, Positionierung innerhalb eines Ganzen, diese Summe ergibt einen Bildungsimpuls, auf den es zu achten gilt. Mit der Möglichkeit, durch systematische Aufgliederung oder alphabetische Register (Forestas tabula generalis und Schedels Registrum) Gegenstandsbereiche abrufbar/verfügbar zu machen, ist im Frühhumanismus der enzyklopädischen Struktur vorgearbeitet. Aber auch der antike Autor Aulus Gellius hat durch seine, dem Sammelwerk vorgeschaltete Kombination von Register und Inhaltsverzeichnis, Wege gewiesen. Die Kurzformel für die mit „Bildungsimpuls" umschriebenen Vorgänge könnte lauten: sich mit Hilfe antiker Autoren dem Geist enzyklopädischer Bildung zu verpflichten. Auf Hartmann Schedel blickend, dessen Werk im Jubiläumsjahr 1993 und den Folgejahren wortreich gewürdigt wurde, ist mit diesen Beobachtungen und Gedanken nur ein bescheidener Hinweis auf noch ausstehende, Einsichten versprechende und irgendwie notwendige Behandlungsarten und Forschungsabsichten zu verbinden. Mit Blick auf Aulus Gellius ist ein weiteres Glied einer Kette von Hinweisen aufgewiesen, die die Kundigen reizen mögen, sich mit der Wirkungsgeschichte dieses Autors - bis ins 18. Jh. hinein - zu befassen.

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Vgl. Klaus A. Vogel, Hartmann Schedel als Kompilator. Notizen zu einem derzeit kaum bestellten Forschungsfeld, in: Pirckheimer-Jahrbuch 1994, Bd. 9: 500 Jahre Schedeische Weltchronik, S. 73-97; dort S. 97 eine schöne Beurteilung H. Schedels als Sammler und Kompilator und S. 74 ff. zum Problem der Kompilation.

HANS-JOACHIM DIESNER ( T )

Religion und Staat bei Machiavelli

Vertieft man sich in die Werke Machiavellis (1469-152 7), der unbestritten an der Wiege des neuzeitlichen Staates steht und diesen .ideologisch' untermauert, so wird man bald erkennen, daß es um seine Beziehung Staat - Religion und um seine persönliche Religiosität sehr merkwürdig bestellt ist. Ihn verbindet manches mit Luther oder auch mit Thomas Morus und anderen Reformern und Reformatoren dieser Umbruchszeit des Renaissance-Humanismus: An vielen Stellen jedoch gewinnt er eine sehr eigene und eigenwillige Position, die den Leser immer wieder vor neue Fragen stellt, deren ganze Palette in ihrem Schillern kaum zu fassen ist. Machiavelli ist stets in erster Linie Politiker und Staatstheoretiker - und damit in unserem Bezug politischer Religionshistoriker' sowie Religionsphänomenologe, da er alles Diesbezügliche vorrangig in die staatlich-politische Ordnung einfügt. Es ist daher bereits anzudeuten, daß er offenkundig weit mehr auf das Außere, vor allem auf die Einzelheiten des Kultes bis hin zum antik-heidnischen Kult achtet und eingeht als auf die religiöse Beziehung und Haltung des vom Religiösen ergriffenen Menschen. Allerdings: Religiöse Gründer- und Reformgestalten, unter denen Moses, Numa Pompilius, Christus, Petrus, Franziskus, Dominikus oder Savonarola hervorragen, werden ernstgenommen und in ihrer jeweiligen Bedeutung analysiert oder gar ,benotet'. Christus steht irgendwie über allen, wird jedoch selten erwähnt. Der Hauptgrund dafür dürfte darin zu sehen sein, daß Christi Nachfolger - so die meisten Päpste - die Lehre des Stifters entstellt haben. Hier tut sich manche Kluft auf. Denn Petrus und seine unmittelbaren Nachfolger werden ihre Heiligkeit und ihres direkten und indirekten missionarischen Wirkens halber hochgehalten (Florentinische Geschichte 1,9). Es würde zu weit führen, hier von den Ansätzen einer Petrinologie zu sprechen, zumal Machiavelli alles Diesbezügliche nur eben andeutet. Der Verfall des Papsttums beginnt mit dem Untergang des Weströmischen Reiches (Verlegung der Hauptstadt nach Konstantinopel) und der Zerreißprobe, der Italien durch die Völkerwanderung ausgesetzt war: Denn die Päpste, deren Autorität und faktische Macht ständig zunahm, wandten sich um Hilfe an die fränkischen Könige, sind daher an der Überflutung Italiens mitschuldig, die seitdem nie aufgehört hat und das Land ohnmächtig und uneins ließ. Von diesem Zeitpunkt an sieht Machiavelli grundsätzlich Kirche und Papsttum in einem Verfallsstadium. Das Christentum hielt sich eigentlich nur deshalb, weil einzelne Große, Reformer wie Franziskus und Dominikus, mit ihren Orden auftauchten und die Menschen durch ihr Vorbild wieder ermutigten. Im übrigen schätzt der Florentiner nur die zeitgenössischen Medici-Päpste Leo X. und Clemens VII., von denen er sich persönlich abhängig wußte. Alexander VI. wird sehr negativ bewertet, Julius II. Rovere erscheint in einem ambivalenten Licht, in dem Helligkeit und Schatten ständig miteinander wechseln. Die scharfe, oft ätzend-ironische Kritik an Kurie und Papsttum zeigt Machiavelli weithin als einen Fortsetzer von Wiclif, Hus und Marsilius von Padua. Doch hängt diese möglichst rational gestützte Kritik im wesentlichen damit zusammen, daß Machiavelli die Religion in erster Linie und überwiegend als Staatskult und damit in engem Kontakt mit der Verfassung und der politischen Ordnung ernst nimmt. Vielleicht konnte er als Bewunderer der altrömischen Verhältnisse und Kommentator des Titus Livius nicht anders

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verfahren, soweit die zeitgenössischen Verhältnisse ihm dazu die denkerischen und literarischen Möglichkeiten eröffneten. Denn: Machiavelli relativiert auf diese Weise zwar in erster Linie das Christentum, er relativiert aber auch die Religionen generell etwa alle 5000 Jahre - meist im engen Zusammenhang mit dem Wechsel von Sprache und Kultur (Discorsi 11,5). Dabei werden göttliche, jedenfalls supranaturale Kräfte einkalkuliert, .Naturereignisse' wie Pest, Hunger und Überschwemmungen, in deren Gefolge nur relativ wenige Menschen übrigbleiben. Hiermit fassen wir auch schon etwas über Machiavellis ,Theologie', sofern man diese Vokabel für seine Auffassung als adäquat ansehen will. Denn Gott wird bei ihm oft mit ,Himmel' oder auf andere Weise umschrieben, ja er steht oft nur neben der Fortuna. Gewiß offenbart Gott sich bisweilen einzelnen Menschen, so dem Moses oder vorgeblich Männern wie Savonarola. Im übrigen überläßt er den Verlauf der Weltgeschichte weithin sich selbst und tritt nur höchst selten in Erscheinung. Machiavellis Gott erinnert stark an die Götter Epikurs, die als glückliche Wesen in den Intermundien leben, sozusagen bewegungslos und untätig. Damit führt der Florentiner zweifellos schon auf den Deismus hin, den man normalerweise natürlich zeitlich später anzusetzen hat. Gott und Christus eben noch anerkennen, das bedeutet für diese Zeit natürlich nicht viel. Soweit man sieht, sagt Machiavelli nirgends Genaues über Gott als Schöpfer oder als ewige, allmächtige, letztlich apostatische Person. Die Trinität wird nicht angesprochen, auch Christus bleibt vage: Im Grunde wird er fast nur mit seinen ,Nachfolgern', den Päpsten, kontrastiert, die seine Lehre entstellt und verdorben haben. Wo Männer wie Franziskus und Dominikus als echte Nachfolger hohe Anerkennung zuerkannt wird, bleibt auch einiges offen. Diese Männer führten .unsere' Religion zwar durch Armut und christusähnlichen Lebenswandel zu ihren Anfängen zurück und begannen, den Päpsten und Prälaten Paroli zu bieten (Discorsi 111,1). Machiavelli erwähnt einen christusähnlichen Lebenswandel jedoch sonst nicht und wendet sich des öfteren scharf gegen Weltflucht, Demut, Askese und im Grunde jede Form der Geringschätzung weltlicher Dinge: Denn hierdurch werden die Menschen schwach, zur Wahrnehmung ihrer bürgerlichen Pflichten unfähig (Discorsi 11,2). Hier tun sich scharfe Gegensätze auf, die auch das gesamte Denken Machiavellis bestimmt haben. Die Abwertung vieler christlicher Grundanliegen könnte dazu führen, in Machiavelli einen frühen Atheisten oder zumindest einen Wegbereiter des Atheismus zu sehen. Mir scheint dies zu weit zu gehen, obwohl auch diese Position nicht außer acht gelassen ist. Denn Machiavellis Theologie bzw. religiöse Auffassung ist trotz zahlreicher Bezüge auf ,unsere Religion', die auch mehr oder minder zeitgenössisch bedingt sind, trotz seines gelegentlichen Eingehens auf Gott oder Christus weithin auf die vorchristliche, insbesondere die römische Religion konzentriert. Der legendäre Numa Pompilius, der das noch irrtümliche und wilde Volk mit Hilfe einer fiktiven Begegnung mit der Nymphe Egeria zu Gottesfurcht und zur Einrichtung von Götterkulten bewegt haben soll, steht ihm sehr hoch. Freilich tun sich hier nicht selten Widersprüche auf. Denn während der Florentiner einerseits religiöse Furcht, Furcht vor allem vor einem Eidbruch oder vor ähnlichen Vergehen deutlich herausstellt (Discorsi 1,11), lobt er im übrigen die aufreizende und faszinierende Seite des antiken Religionsbetriebes.' Die Pracht der Opfer und des Zeremoniells haben das Volk beeindruckt, und auch die Grausamkeit der blutigen Tieropfer war erforderlich, weil die Menschen auf diese Weise zu Mut und zum Durchhalten erzogen wurden. Solche Maßnahmen flössen - so die abstruse Schlußfolgerung Machiavellis - in die politische und militärische Erziehung der Menschen ein, waren also erforderlich, um die Alten für die Freiheit und Größe ihres Vaterlandes bedenkenlos eintreten zu lassen.

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Hier tu: sich etwas von der zuweilen überdeutlichen Monomanie des ,Politikers' Machiavelli auf, der - so noch in einem kurz vor dem Tode geschriebenen Briefe an Francesco Vettori (16. 4. 1527) - offen äußerte, daß er das Vaterland mehr liebe als die Seele, das Seelenheil. - Von hier aus m u ß ein Blick auf die Anthropologie Machiavellis geworfen werden. Gerade weil er den Menschen, ob als Individuum, ob als gesellschaftliches Wesen, mehr dem Schlechten als dem Guten zugeneigt sieht, sucht er ihm an H a n d wichtiger Vorbilder eine tragfähige positive Brücke zu bauen. Bestimmt wird diese von dem Begriff Virtü, der spezifischen Leiteigenschaft machiavellischen Denkens. Machiavelli modelliert die Virtü an antiken Denkern wie Thukydides, Sallust oder Tacitus geschult, vor allem im Kontrast zu dem weithin negativen Menschenbild heraus, das sich ihm aus Geschichte und Gegenwart erschlossen hat. Er sieht, nicht nur im „Principe", die Großen allzuoft durch Machtgier und Ehrgeiz, aber auch durch Grausamkeit, Hochmut, Geiz und Wortbruch bestimmt, während die Untergebenen oft, vor allem in Krisensituationen, durch Furcht, Neid und H a ß bestimmt sind; in der Psychologie der Massen koppeln sich nicht selten Unbesonnenheit mit Ehrgeiz und jenem MehrHaben-Wollen, das in der Behauptung gipfelt, arm und reich hätten nur die Kleider zu wechseln und schon sei ihre Position jeweils die umgekehrte. In seinem Gedicht „Dell' ambizione" deutet Machiavelli die Besessenheit des Menschen durch Gier und andere negative Triebe auch an H a n d des ersten Brudermordes, der Tat Kains. Nebenbei gesagt, ein anderer Brudermord, der des Romulus an Remus, wird damit gerechtfertigt, daß der Gründer eines Gemeinwesens allein stehen müsse, keinen Konkurrenten' neben sich haben dürfte (Discorsi 1,9). U m die Anthropologie Machiavellis ist es, was jedenfalls die Schlußfolgerungen betrifft, oft seltsam bestellt. Natürlich vertritt er, vornehmlich in der Schrift über den Fürsten, auch die landläufig bekannte Meinung, daß die Fürstengewalt eben wegen der Bösartigkeit der überwiegenden Mehrheit der Menschen unbeschränkt und nur auf den Maximen der Klugheit bzw. der Staatsräson aufgebaut sein könne. Der Begriff „Staatsräson" kommt genau in dieser Zeit auf. Bei Machiavelli wird er noch umschrieben. Sein wichtiger Zeitgenosse und literarischer Bekannter' Francesco Guicciardini verwendet jedoch den Terminus selbst bereits. Solche Verhaltensweisen empfiehlt Machiavelli jedenfalls im „Principe" denen, die eine Herrschaft aufbauen wollen. Doch ist dies längst nicht der ganze, vor allem nicht der durch mancherlei weitere Irrungen und Wirrungen zum Staatshistoriker par excellence gereifte Machiavelli. Dessen Ziel ist vielmehr ein möglichst ausgereifter, weithin republikanisch gelenkter Staat, in dem von Anfang an und bis zu einem erstrebenswerten .perfekten' H ö h e p u n k t hin Verfassung, Verwaltung, Gesetze, Erziehung, Moral und Religion lückenlos ineinander übergehen, wobei die Virtü des Einzelnen wie der Gesamtheit eine eindeutig führende und regulierende Funktion zugewiesen erhält. Den Römern war die Virtü sehr bedeutungsvoll, für Machiavelli ist sie als eine unentbehrliche, letztlich den Geschichtsablauf bestimmende Kraft. Denn Virtü kann zwar Mut und Bewährung im militärischen und beruflichen Bereich bedeuten, sich zumindest darauf beschränken. Das Wortfeld ist jedoch bei Machiavelli weiter, so daß die Konturen bis zum Imaginären hin verschwimmen. Virtü kann jeder besitzen, der im Leben irgendwie seinen Mann steht. Doch dann handelt es sich nur um ein selbstverständliches Erfordernis, über das nicht viel auszusagen ist. Für den Leistungsfähigen, vor allem für die führenden Männer, soll Virtü zusätzliche Komponenten enthalten, unter denen Klugheit, Gerechtigkeit und Güte herausragen. Erst eine solche Virtü befähigt den Religionsschöpfer, den Staatslenker oder den Feldherrn dazu, anderen Menschen Vorbild zu sein und sich im ständigen Kampf gegen die Fortuna oder die Necessitä - die durch die Natur oder die politischen Gegner vergebenen Zwänge - zu behaupten. Damit enthält die Virtü auch

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etwas Charismatisches, das übrigens an einigen bedeutenden Gestalten der Weltgeschichte wie Scipio Africanus Maior exemplifiziert wird. Der Gegensatz von religiösen und areligiösen Personen ließ sich bei Machiavelli, der historisches Detail dabei bedenkenlos über Bord warf, gerade auf dem Hintergrund der Virtü gestalten. Gewiß verkörpern auch Personen wie Hannibal, den Machiavelli mit Scipio gerade am Begriff der Virtü kontrastiert, Mut und sogar „infinite virtü". Doch diese hohe militärische Befähigung koppelt sich mit einer unmenschlichen Grausamkeit, die Freund wie Feind vor ihm erzittern ließ. Scipio hingegen war zwar nicht weniger befähigt oder energisch, verband seine Virtü jedoch mit Humanität, Milde und Frömmigkeit {„pietä": Princ. 17; Discorsi 1,11), so daß er auch viel Ruhm gewann. Er steht damit fast allein auf einsamer Höhe, denn die meisten vorchristlichen und christlichen Heerführer paßten sich eher einer pragmatischen Handlungsweise an. Quasi makellos sind - auch bei hartem Vorgehen gegen alle Feinde oder Konkurrenten - nur Männer wie Moses oder Romulus. Hingegen werden Agathokles oder Alexanders d. Gr. Vater Philipp, vor allem aber auch Cäsar, trotz ihrer bedeutenden militärischen Virtü als hinterhältig und grausam gekennzeichnet. Cäsar gilt aufs Ganze gesehen sogar als der Verderber des Römischen Reiches und seiner Virtü. Philipp war so grausam, daß er, um seine Machtstellung aufzubauen, die Menschen von Land zu Land trieb wie die Hirten ihre Herden. Machiavelli scheut sich nicht, dies scharf - anachronistisch auch als unchristlich - zu kritisieren. Zugleich stellt er hier jedoch eine bedeutsame Alternative: Der Mensch sollte, statt so unmenschlich zu werden, lieber als „private" bescheiden im ,Bürgerstande' bleiben. Hat er sich aber einmal entschlossen, Macht auszuüben, so m u ß er den Weg des Guten sein lassen können. Irgendeinen Mittelweg streitet er hier entschieden ab (Discorsi 1,26). Und der Florentiner exemplifiziert die Unmöglichkeit eines solchen Kompromisses auch selbst im folgenden Kapitel an der Gestalt des Stadtherren von Perugia, Giovanni Pagola Baglioni (1471-1520). Die auf Grund einer genauen, jedoch nun effektvoll zurechtgemachten Erkenntnis gestaltete ,Geschichte' dieses kleinen Tyrannen ist auch anthropologisch- religionsgeschichtlich und kirchengeschichtlich aufschlußreich. Machiavelli hebt hervor, daß Julius II. im Jahre 1506 ungestüm in Perugia einzog, während Baglioni sich ihm inmitten seiner Stadt und einer überlegenen Zahl von Bewaffneten ergab - ein Ausdruck unglaublicher Feigheit (viltä), zumal bei einem Mann, der sich bereits durch Blutschande und Verwandtenmord befleckt hatte. Baglioni hätte doch, so schlußfolgert Machiavelli, sein Verbrechertum wenigstens in diesem günstigen Moment durch eine mutige Tat krönen und dabei zugleich große Beute machen können. Hier bricht die kurien- oder kirchenfeindliche Einstellung Machiavellis durch, der verdeutlicht, wie sehr er dem Papst eine solche Niederlage gegönnt hätte. Wichtiger ist jedoch folgendes: Der Florentiner sieht Baglioni als jenseits von Gut und Böse an, als einen Mann, der voller Verbrechen, aber bar der Fähigkeit war, dieses auch durch ein besonderes Kapitalverbrechen zu krönen, das seinen Namen unsterblich gemacht hätte. Ins Allgemeine überleitend, meint Machiavelli, daß man, könne man nicht vollkommen gut sein, doch wenigstens in Ehren schlecht sein solle (Discorsi 1,27). In solchem Urteil sind Ironie und Zynismus nicht zu überhören, und die bisherige Machiavelli-Forschung hat dies keineswegs übersehen - eher sogar oft überbetont. Seine rationale und pragmatische, das Politische stets in den thematischen Vordergrund rückende Betrachtung gab dem Florentiner auf Grund seines gewundenen Lebenslaufs, seiner persönlichen wie historisch-quellenmäßigen Erfahrung mit den Menschen oft auch keinen anderen Ausweg. Dennoch: Man sollte seine Aussagen überhaupt und natürlich auch seine Äußerungen zur Religion insgesamt ernst nehmen, zumal sie seinem System als unverzichtbar inkorporiert sind. Sollten nämlich seine Bemerkungen zu den vor allem unter

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dem Virtü-Aspekt analysierten Bemerkungen samt und sonders dem Verdikt ,Ironie' unterliegen, so hätte er einen großen Teil seines Werkes bereits selbst ad absurdum geführt. Dies ist natürlich nicht denkbar. Es sei dies am Gegensatz sowie an den Ähnlichkeiten gezeigt, die er (Principe 6) an Moses und an Savonarola ,herausfiltert'. Moses wird als von Gott inspiriert, gewissermaßen als Befehlsempfänger Gottes hingestellt, der dennoch eine große virtühafte Energie aufbringen mußte, um die versklavten Israeliten von Ägypten wegzuführen und ihnen ihr Lebensrecht zu verschaffen. Das ging nicht ohne Gewalt ab, und so schreibt Machiavelli den großen Gründern und Propheten prinzipiell das Recht zu bewaffnetem Vorgehen gegen innere wie äußere Feinde zu. Warnendes Gegenbeispiel ist der Fra Girolamo Savonarola, dem Machiavelli selbst übrigens anfangs nahegestanden hatte: Da er seine Gesetze gewaltlos durchbringen wollte, konnte er sich der Gläubigen nicht dauerhaft versichern und mußte zwangsläufig zugrunde gehen. Machiavellis Urteil über den Dominikaner ist durchaus zwiespältig: Er lobt zwar dessen Glauben, Gelehrsamkeit und Reformeifer und meint, daß er Ehrfurcht verdiene (ob er nun mit Gott gesprochen habe oder nicht), tadelte aber auch seinen Ehrgeiz und seine einseitige Herrschsucht, die dem Unbewaffneten schließlich die Anhänger entzog, so daß ihm nach der Exkommunikation durch Alexander VI. konsequenterweise der Tod sicher war. Moses steht als eine der großen Gründergestalten weit darüber und hebt sich auch von den ihm vergleichbaren Personen Kyros, Theseus und Romulus noch positiv wegen seiner charismatischen Gaben ab. Bei ihm also - für Machiavelli doch eine besondere Ausnahme - werden zwei Aufstiegsfaktoren gewissermaßen getrennt wirksam: die Begnadung durch Gott und die eigene Leistung, die er mit aller verfügbaren Kraft und wo nötig mit Gewalt erbringt. Der Kampf gegen die Rotte Korah wird ausdrücklich genannt. M.E. verdeutlicht Machiavelli am - natürlich nur sporadisch angedeuteten - Lebensweg des Moses, daß er an ein gelegentliches Eingreifen Gottes in die Geschichte durchaus zu glauben bereit ist. Sie ist jedoch die Ausnahme, nicht die Regel, denn normalerweise waltet eine innerweltliche Kausalität, die durch die Virtü bestimmt wird, freilich durch Fortuna und Necessitä auch in unterschiedlichster Richtung verlaufen kann. Das seit Thukydides auftauchende irdische Kausalitätsprinzip erhält mithin bei Machiavelli durchaus eine eigene Prägung. Einige weitere Gedankengänge müssen hier angeschlossen werden. Aus der Konsequenz der Einschätzung von Männern wie Moses ergibt sich mir (Discorsi 1,10) die Hervorhebung aller Häupter und Stifter von Religionen als der berühmtesten Persönlichkeiten überhaupt. Es heißt hier: „Intra tutti gli uomini laudati, sono i laudatissimi quelli che sono stati capi e ordinatori delle religioni". Damit stellen gerade die ,Religionsstifter' für den Florentiner eine Elite besonderer Art dar. Denn sogar die Gründer von Republiken und Reichen nehmen nur die nächstniedrige Stufe ein - und im weiteren Abstand folgen die Feldherren und schließlich die Schriftsteller („uomini letterati"). Diese Bewertungsskala wird man zu beachten haben, auch wenn sonst immer wieder deutlich wird, daß Machiavelli der Religion prinzipiell eher eine dienende als eine führende Rolle im Leben der Staaten und damit auch der Einzelmenschen zuzuteilen geneigt ist. Daß Religion jedoch unentbehrlich ist und daß man sie nicht zerstören, sondern nur im jeweils notwendigen Umfang reformieren soll, ist Machiavelli eine unumstößliche Gewißheit. Es ist aufschlußreich, daß der zwischen monarchischem und republikanischem Gedankengut hin und her schwankende, seine Richtung gelegentlich ändernde Machiavelli die Religion zwar als unverzichtbaren Bestandteil des Staates und der Gesellschaft ansieht, sie jedoch selten - am ehesten im Alten Rom - in der Masse, bei der Bevölkerung in ihrer ganzen Breite wirksam sieht. Anders als bei Luther und manch anderem Zeitgenossen ist ihm die Volksmenge gerade in religiöser Hinsicht hauptsächlich passives Piedestal: Sie

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reagiert mit Furcht, jedoch unter günstigen Umständen auch mit dienstwilligem G e h o r sam, mit Mut, Virtü und Opferbereitschaft auf die Anweisung der „ C a p i " und „ O r d i n a t o ri", welche die Religion schaffen, reformieren oder zumindest im öffentlichen Kult verwenden, um der Gesamtheit und dem Staat auf diese Weise zu dienen. O h n e solchen Patriotismus kann auf die Dauer kein Staat sich festigen, ja kaum auch nur existieren. Man sieht: D i e Staatsräson Machiavellis, nach landläufiger Meinung n o c h heute ein reiner Machtmechanismus, ist in Wirklichkeit ein viel komplizierteres, nicht zuletzt doch an religiösen und moralischen Kategorien orientiertes Gebilde. D a wir die falsche Fixierung der Staatsräson auf das rein Machtmäßige nur am Rande kritisieren k ö n n e n , sei gesagt, d a ß man sich fälschlicherweise eben überwiegend auf den „Principe", die Schrift über den Fürsten, konzentriert, die verbreitet und auffällig ist: Man sollte darüber niemals die späteren wichtigen Hauptschriften, die „Discorsi sopra la prima deca di T i t o Livio", die „Kriegskunst" und die „Florentinische G e s c h i c h t e " vergessen, die Machiavellis Bild von Politik, Staatsräson und nicht zuletzt Religion wesentlich modifizieren. Es steht auf einem anderen Blatt, wenn Machiavelli für all diese Bereiche eine bestimmte Elite als ausschlaggebend sieht, die für die anderen, die Mehrheit der Bevölkerung - positiv, nicht selten freilich auch negativ - vorbildhaft ist. Diese Elite ist es auch, die bei Machiavelli am ehesten offen oder zumindest verborgen von G o t t , a n g e s p r o c h e n ' und auf zumeist rätselhafte Weise gelenkt wird. O f t gibt sie diese L e n k u n g jedoch nur vor, um sich ihre Herrschaft zu erhalten oder diese in einem von Machiavelli zumeist als notwendig angesehenen P r o z e ß zu steigern. Dies gilt etwa für katholische Könige seiner Zeit selbst. D e r Florentiner nennt (Principe 21) Ferdinand von Aragonien, einen typischen „Principe nuovo", der vom schwachen K ö n i g vorgeblich zum ersten Herrscher der Christenheit aufgestiegen ist. E r arbeitete, um überhaupt rüsten zu k ö n n e n , mit dem Gelde der Kirche und des Volkes und vertrieb unter dem Vorwand religiösen Interesses die Marranos aus Spanien. Für ihn war die Religion also viel m e h r eine ,ancilla' seiner Staatsräson als eine eigenständige G r ö ß e . D a ß gerade der Borgia-Papst Alexander VI. dem spanischen König den Beinamen „ D e r K a t h o l i s c h e " verliehen hat (1495), sagt Machiavelli jedoch nicht einmal. Religionen k ö n n e n göttlicher H e r k u n f t sein, wie Machiavelli es für Moses' Jahve-Lehre nahelegt, sie sind jedoch auch als Schöpfung eines „ O r d i n a t o r s " wie des N u m a Pompilius möglich. In der (Discorsi 11,5) verzeichneten vergleichbaren religionsgeschichtlichen Analyse neigt sich die Waagschale bedenklich zugunsten menschlicher Erfindung. Es klingt hier etwa so, als führe G o t t Naturkatastrophen herbei, die nur von wenigen Menschen überlebt werden. D i e Überlebenden k ö n n e n anschließend leichter existieren und sich läutern - womit gewiß auch die Besserung mit Hilfe neuer Glaubenssetzungen und Kulte gemeint ist, die möglichst nicht an das Vorangegangene anknüpfen. Machiavelli exemplifiziert dies etwa am Vorgehen Gregors d.Gr., der nur deshalb Reste des Antik-Heidnischen habe belassen müssen, weil mit dem Christentum nicht zugleich eine neue Sprache aufgek o m m e n sei. Machiavelli „zerpflückt" gerade hier die Religion und insbesondere das Christentum wie ein Zoologe das Insekt; und selbstverständlich ist seine rationale Betrachtungsweise nicht nur von der Idee der „theologia naturalis" beeinflußt, sondern auch stark doktrinär im antikurialen Sinne geprägt. Eine kurze Zusammenfassung erscheint nützlich, obwohl auch nach verdienstvollen Untersuchungen von Huovinen oder M a c e k nicht weniges zu Machiavellis religiöser E i n stellung und Auffassung unklar bleibt. Dies gilt für seine Staatslehre jedoch fast in gleichem Maße: G o t t existiert, doch ist er ein weithin Undefiniertes und undefinierbares Wesen, das gern mit Umschreibungen (,Himmel'; Fortuna) versehen wird und gleich den G ö t t e r n Epikurs kaum in den Weltenlauf eingreift. Freilich führt Machiavelli Inspira-

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tionen bedeutender religiöser Gestalten (Moses) und andererseits Naturkatastrophen auf göttliches Einwirken zurück. Trotz seiner nicht seltenen Bezugnahme auf Christus und das Christentum kennt Machiavelli keinen persönlichen christlichen Gott. Es fällt ihm deshalb auch leicht, das Christentum zu relativieren und in eine - anscheinend unabsehbare Reihe bereits historischer oder noch zu erwartender Religionen zu stellen (Discorsi 11,5) ,Unterhalb' Gottes gibt es nur einzelne bedeutende Religionsstifter wie Moses oder Christus. Es hat Erneuerungsversuche des Christentums durch Männer wie Franziskus und Dominikus gegeben, weshalb es sich trotz der Unzüchtigkeit der Päpste und Prälaten, trotz der häufigen Verfälschung seiner Wahrheit hat halten können. Machiavellis Urteil wird bei solchen Erörterungen immer wieder ambivalent. Das Antikuriale und Antiklerikale bleiben stets vorhanden, im übrigen werden für die genannten Ordensgründer Armut und christusähnlicher Lebenswandel gelobt (Discorsi III, 1), während im übrigen Weitabgewandtheit, Askese und Kontemplation gering geschätzt werden - vor allem weil sie die Menschen zu untüchtigen Bürgern machen. Die Argumentation dreht sich - vor allem bei der Erörterung der Demut - zuweilen im Kreise. Offenbar wünscht Machiavelli - was er natürlich nirgends ausspricht - eine Art Mischung aus positiven Elementen der heidnischrömischen und der christlichen Religion, damit die Menschen seiner Zeit, speziell in Italien, auf opferbereiten Patriotismus hingeführt werden. Jedenfalls muß Religion die übrigen den Staat tragenden Säulen - also Verfassung, Gesetze, Erziehung, Moral und Militärwesen - ergänzen: Dabei hat sie - um es scharf zuzuspitzen - , den wilden oder unkultivierten Menschen gehorsam und gläubig, gegenüber dem Kult und den Gesetzen geradezu ängstlich zu machen. Den Überfeinerten oder zur Weltflucht Neigenden hingegen hat sie in dem Sinne tapfer und widerstandsfähig zu machen, daß er sich für das Vaterland aufzuopfern bereit ist. Das Postulat ist schwerlich genauer zu fassen und weist in mancher Hinsicht auf die Spätphase Rousseaus hin, mit dem er den „Deismus" wie manche utopische Vorstellung teilt. Als stark verinnerlicht und religiös ergriffen wird man Machiavelli nicht bezeichnen können, so daß seine Achtung vor Männern wie Moses, Franziskus, Dominikus und Savonarola eo ipso auf manchen Mißverständnissen aufbaut. Das Heilige oder Numinose ergreift ihn selbst wohl kaum je - aber doch die dahinterstehende Machtäußerung. Man ist versucht, hier auf moderne Termini der Religionswissenschaft wie Mana, Tabu und Magie zuzukommen, die er nicht kannte und doch von der Sache oder von der Situation her ins Spiel bringt. Gott oder auch die Fortuna sind supranaturale Kräfte, die er - unter Anerkennung des freien menschlichen Willens - achtet. Und nicht selten erweckt er den Eindruck, daß er vor den übernatürlichen Kräften eher kapituliert als vor den immerhin berechenbaren irdischen Mächten.

Anmerkungen Veröffentlichungen über N i c c o l ö Machiavelli von Hans-Joachim Diesner Luther und Machiavelli. In: Theologische Literatur-Zeitung 108 (1983) 8, Sp. 561-570. Prognose bei Thukydides und bei Machiavelli. In: Storia della Storiografia (1983), 3. S. 90-95. Die Virtü der Principi bei Machiavelli. In: Zeitschrift für historische Forschung 12 (1985) 4, S. 385-428. Aufstieg und Untergang Roms bei Machiavelli. Die Zyklustheorie als methodologisches Ordnungsprinzip. In: Zu Alexander dem Großen. Festschrift Gerhard Wirth zum 60. Geburtstag am 9. Dezember 1986. Bd. 2, S. 1211-1232. Amsterdam 1988, S. 584.

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Hans-Joachim Diesner

Numa Pompilius bei Machiavelli. In: Wolfenbütteler Renaissance - Mitteilungen 9 (1985) 2, S. 49-56. Fine als Staatszweck. Staatsräson bei Machiavelli. In: Antike und Abendland 33 (1987), S. 163171. Der florentinische Staatsdenker. Niccolö Machiavelli - dem bedeutenden Geist des Renaissance-Humanismus zum 460. Todestag. In: „Neue Zeit", Nr. 143 vom 20. Juni 1987, S. 7. Niccolö Machiavelli. Mensch, Macht, Politik und Staat im 16. Jahrhundert. Bochum 1988 (Studienverlag N . Brockmeyer). Die Rolle der Staatsräson bei Machiavelli. Die Bildung des frühmodernen Staates - Stände und Konfessionen. In: Forum Politik. Hrsg. H. Timmerman, Saarbrücken (1989), S. 381-394. Die Religion eines frühneuzeitlichen Staatstheoretikers - Machiavelli als religiöser Denker. In: Theologische Literatur-Zeitung 114 (1989) 4, S. 249-256. Stimmen zu Krieg und Frieden im Renaissance-Humanismus. In: Abhandig. der Akademie der Wiss. Göttingen. Phil.-Hist.-Kl. 3. Folge, Nr. 188 (1990). Machiavelli - Macht- und Staatstheoretiker par excellence? In: Der Neue Weg, S. 6 vom 27. Juli 1991. Machiavelli - Rechtfertigung oder Entlarvung der Macht? In: Renaissance-Hefte 1 (1992) 2, S. 36-50. Die politische Welt des Niccolö Machiavelli. In: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wiss. Leipzig. Phil.-Hist.Kl. 132 (1992) 3. Virtü, Fortuna und das Prinzip Hoffnung bei Machiavelli. In: Nachrichten der Akademie der Wiss. Göttingen. I.Phil.-Hist.Kl. (1993) 5. Machiavellis Illusion eines perfekten Staates. In: Nachrichten der Akademie der Wiss. Göttingen. I. Phil.-Hist.Kl. (1994) 2. Rez. Niccolö Machiavelli - Der Fürst (II Principe). Hrsg. W. Bahner, 2. Aufl., Übertragen von F. Blaschke. In: Wolfenbütteler-Renaissance-Mitteilungen 9, (1985) 3, S. 121-123. Rez. Alfred A. Strnad. Niccolö Machiavelli. Politik als Leidenschaft. Göttingen-Zürich 1984 (Persönlichkeit und Geschichte, Bd. 120/121). In: Zeitschrift für hist. Forschung, 14 (1987) 1, S. 86 f. Rez. A. Buck. Machiavelli. Darmstadt 1985 (Erträge der Forschung, Bd. 226) - In: Deutsche Literaturzeitung 107 (1986) 4, Sp. 289-292. Rez. Niccolö Machiavelli. Politische Schriften. Hrsg. von Herfried Münkler. Frankfurt/M. 1990. In: Zeitschrift für hist. Forschung 20 (1993) 2, S. 221-222. Rez. S. de Grazia. Machiavelli in Hell. New York, London, Toronto, Sydney, Tokyo 1989. In: Hist. Zeitschrift 252 (1991), S. 448-449.

H E I N E R LÜCK, H A L L E

Der Roland und das Burggrafengericht zu Halle Ein Beitrag zur Erforschung der Gerichtsverfassung im Erzstift Magdeburg1

„Zu Halle auf dem Markt, Da steht ein großer Riese. Er hat ein Schwert und regt sich nicht, Er ist vor Schreck versteinert." 2 Diesen Vierzeiler widmete Heinrich Heine 1823 dem hallischen Roland, als dieser noch konkurrenzlos die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zog. Heute ist der große Marktplatz ganz vom Denkmal Georg Friedrich Händeis 3 beherrscht, während der Roland eher unauffällig am Umbau des Roten Turmes steht. Dennoch fasziniert der Riese mit dem Schwert nach wie vor den aufmerksamen Betrachter und fordert vehement zu Überlegungen über den Sinn seines Daseins heraus. Die Suche nach einer einheitlichen Erklärung für die geographisch wie zeitlich verstreuten Rolande, von denen einige sogar in Dörfern stehen 4 , ist müßig. 5 Eine solche gibt es sehr wahrscheinlich nicht. 6 Vielmehr muß jede Figur konkret bezogen auf ihren Standort untersucht werden. 7 Dieser Ansatz ist eines der wesentlichen Ergebnisse nach dreieinhalb Jahrhunderten Rolandforschung. 8 Von daher ist hier eine Beschränkung auf den hallischen Roland nicht nur sinnvoll, sondern auch geboten. Im folgenden soll versucht werden, seine Funktion und Bedeutung im Rechtsleben der Stadt näher zu bestimmen. Dabei wird in drei Schritten vorgegangen. Zunächst sind das Äußere der hallischen Rolandsfigur und ihre schriftlich überlieferte Geschichte genauer zu betrachten. Vielleicht verraten bereits äußere Gestalt und urkundliche Nachrichten etwas über Rolands Identität. 1

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Geringfügig überarbeitete und ergänzte Fassung der öffentlichen Antrittsvorlesung am 26. Oktober 1995 in der Aula der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Heines Werke in fünf Bänden, 1. Bd.: Gedichte (= Bibliothek deutscher Klassiker), 11. Aufl., Berlin, Weimar 1970, S. 80. Bronzeplastik von Hermann Heidel; errichtet 1858. Vgl. Der Bezirk Halle, bearb. von Abteilung Forschung des Instituts für Denkmalpflege (G. Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler), 2. Aufl., Berlin 1978, S. 170. Ζ. B. Questenberg (Sachsen-Anhalt), Buch (Brandenburg), Potzlow (Brandenburg). Vgl. dazu auch A. Lappin, Die Rolande von Nordhausen, Neustadt und Questenberg, in: Nordharzer Jahrbuch X I (= Veröffentlichungen des Städtischen Museums Halberstadt 19), Halberstadt 1986, S. 48; J. Kohlmann, Die Rolande von Stendal, Gardelegen und Buch, in: Nordharzer Jahrbuch X I , S. 42. Vgl. auch D. Pötschke, Rolande als Problem der Stadtgeschichtsforschung, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 37 (1988), S. 4 ff. A. D . Gathen, Rolande als Rechtssymbole. Der archäologische Bestand und seine rechtshistorische Deutung (= Neue Kölner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 14), Berlin 1960, S. 8. R. Lieberwirth, Zum Stand der rechtsgeschichtlichen Beurteilung der Rolandbilder, in: Nordharzer Jahrbuch X I (wie Anm. 4), S. 8. Als erstes wissenschaftliches Werk über die Rolande gilt J. Gryphiander, De Weichbildis Saxonicis sive Colossis Rulandinis urbium quarundam Saxonicarum commentarius historico-iuridicus, Frankfurt am Main 1625; 2. Aufl., Straßburg 1666.

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Zweitens ist der Zusammenhang der Gerichtsverfassung des Erzstifts Magdeburg und der Stadt Halle mit dem Roland aufzuzeigen. Drittens schließlich soll auf der Grundlage der empirisch gewonnenen Ergebnisse ein weiterer Deutungsversuch gewagt werden.

I.

Insgesamt existieren noch 20 vollständig erhaltene Rolandstatuen aus Stein bzw. aus Holz. Hinzu kommen noch 2 Fragmente und 17 urkundlich belegte bzw. durch Zeichnung bekannte Rolande. Man kann also mit etwa 40 bezeugten Rolanden rechnen. 9 Diese Zahlen können nur einer allgemeinen Orientierung dienen. Die Abgrenzungsfragen sind teilweise sehr schwierig zu beantworten und können hier ausgeklammert bleiben. Das Verbreitungsgebiet der Rolande läßt sich etwa von West nach Ost mit den Flüssen Weser und Weichsel und von N o r d nach Süd mit der N o r d - bzw. Ostseeküste und den böhmischen Mittelgebirgen eingrenzen (Abb. 1). Dabei ist eine Konzentration zwischen Weser und Oder auffällig. Etwas abseits liegen im Nordosten der urkundlich belegte Roland von Riga 1 0 und im Südosten der heute noch existente Roland von Ragusa (Dubrovnik) 11 . Halle scheint dabei eine Art Zentrum zu bilden, um das sich die bedeutenden Rolande von Halberstadt 1 2 , Zerbst 1 3 , Quedlinburg 1 4 , Calbe 1 5 und Nordhausen 1 6 scharen. Die zentrale Lage ist jedoch nicht die einzige Besonderheit, die der hallische Roland aufweist. Vor allem finden seine äußere Gestalt und sein mutmaßliches Alter keine Parallele. 17 Die Exklusivität des hallischen Standbildes ließ sogar Zweifel daran aufkommen, ob es überhaupt als Roland angesprochen werden könne. 18 In Wirklichkeit handelt es sich nicht nur um den eigenwilligsten, sondern auch um den ältesten Roland. Die schriftlichen Nachrichten über ihn fließen glücklicherweise reicher als anderswo. Das etwa vier Meter hohe, aus Sandstein gearbeitete Standbild hat ein jugendliches, idealisiertes Aussehen. Bekleidet ist Roland mit einem wadenlangen Gewand, das in regelmäßigen Falten herabfällt. Ferner trägt er einen Mantel, der Rücken und Schultern bedeckt und durch ein broschenartiges Verbindungsstück auf der Brust zusammengehalten wird. Einige Autoren

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Gathen (wie Anm. 6), Kataloge I und II (S. 10 ff.). Vgl. dazu neuerdings (mit ansprechendem Bildmaterial) N . Popov, D a s magische Dreieck. Rolandfiguren im europäischen Raum. Bremen-Riga-Dubrovnik, Oschersleben 1993, S. 56 ff.; H . Rempel, Die Rolandstatuen. Herkunft und geschichtliche Wandlung, Darmstadt 1989, S. 94 f.; Gathen (wie Anm. 6), S. 29. Vgl. I. Mitic, Die Rolandsäule in Ragusa (Dubrovnik), in: Z R G G A 82 (1965), S. 306 ff.; Gathen (wie A n m . 6), S. 24 f., 99 ff.; Popov (wie Anm. 10), S. 208 ff.; Rempel (wie A n m . 10), S. 79 ff Gathen (wie Anm. 6), S. 16 f., W. Grape, Roland. Die ältesten Standbilder als Wegbereiter der Neuzeit, Hürtgenwald 1990, S. 67 ff.; H . W. Hehn, 550 Jahre Roland von Halberstadt, in: Nordharzer Jahrbuch X I (wie Anm. 4), S. 36 ff.; Popov (wie Anm. 10), S. 104 ff. H.-J. Friedrich, Der Roland von Zerbst, in: Nordharzer Jahrbuch X I (wie A n m . 4), S. 39 f.; Gathen (wie Anm. 6), S. 27; Grape (wie Anm. 12), S. 71 ff.; K. Hoede, Die sächsischen Rolande. Beiträge aus Zerbster Quellen zur Erkenntnis der Gerichtswahrzeichen, Zerbst 1906; Popov (wie Anm. 10), S. 138 ff. Gathen (wie Anm. 6), S. 23 f., 87 ff.; G r a p e (wie Anm. 12), S. 69 ff.; B. Meixner, C . Blum, Der Roland von Quedlinburg, in: Nordharzer Jahrbuch X I (wie Anm. 4), S. 43 ff. Gathen (wie Anm. 6), S. 15. Lappin (wie Anm. 4), S. 45 ff. Gathen (wie Anm. 6), S. 102. K. Heldmann, Rolandsspielfiguren, Richterbilder oder Königsbilder? N e u e Untersuchungen über die Rolande Deutschlands, Halle 1905, S. 128; Gathen (wie Anm. 6), S. 102 ff.

Der Roland und das Burggrafengericht zu Halle

Abb. 1: Die Verbreitung der Rolande (nach Rempel 1989). Grafik: Maria Siegel

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wollen auch noch einen Sack auf dem Rücken erkennen. 19 Doch bleibt dem hallischen Roland der Ruf als „Rucksack-Roland" erspart, denn die Wölbung des Gewandes in Rückennähe ist nichts anderes als ein Teil des Mantels. Den Kopf schmückt nahezu schulterlanges, gelocktes Haar. Bei genauerem Hinsehen ist zudem auf dem Kopf ein Rosenkranz zu erkennen, dessen offene, ungefüllte Blüten an die Heckenrose erinnern. 20 Die Figur trägt einen kunstvoll gearbeiteten Hüftgürtel mit zwei länglichen Gegenständen in Vierecksform an der linken Seite, die an Ketten oder Schnüren auf den linken Oberschenkel herabhängen. Dabei soll es sich um eine Messerscheide und um eine Almosentasche handeln. 21 Die Füße stecken in Stiefeln; die Hände sind mit Handschuhen bekleidet. Mit der rechten Hand umfaßt er in Brusthöhe den Griff des senkrecht nach oben gerichteten Schwertes. Der linke Arm ist etwas angewinkelt. Die Finger der Hand sind leicht gespreizt und ruhen in der Leistengegend. Er selbst steht auf einem Podest vor einem angedeuteten schmalen spitzen Hausgiebel. Die hier beschriebene Figur ist eine Nachbildung eines älteren, hölzernen Rolands, der bunt bemalt und teilweise vergoldet gewesen sein soll.22 Die steinerne Kopie hat der hallische Bildhauer Bürger in den Jahren 1718/1719 im Auftrag des Rates angefertigt. 23 Der Gesamteindruck des Standbildes läßt darauf schließen, daß sich Bürger recht genau an die Vorlage gehalten hat. Für die Originaltreue sprechen vor allem die wie Schnitzflächen wirkenden Partien an den Unterarmen. Lediglich Handschuhe, Soldatenstiefel und die Rückenwand in Gestalt eines preußischen Schilderhäuschens dürften Zutaten des 18. Jh. sein. Auf das Ganze gesehen repräsentiert die Statue eine vornehme Persönlichkeit. 24 Bei den meisten anderen Rolanden entspricht das Außere dem Zeitgeschmack ihrer urkundlichen Ersterwähnung. Man denke nur an die relativ sicher zu datierenden Harnische der Rolande von Bremen 25 , Brandenburg 26 , Perleberg 27 und Ragusa 28 . Beim hallischen Roland klafft aber eine erhebliche zeitliche Divergenz zwischen dem romanisierenden Aussehen 29 und der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 142630. Schon früh ist daher, vor allem auf Grundlage von Körperhaltung und Gewand, eine Parallele u. a. zu den Grabmälern des Grafen Roberts von Braine (gest. 1233) in S. Yved de

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23 24 25 26 27 28 29 30

Gathen (wie Anm. 6), S. 17; Th. Goerlitz, Der Ursprung und die Bedeutung der Rolandsbilder, Weimar 1934, S. 152. Goerlitz (wie Anm. 19), S. 151. Gathen (wie Anm. 6), S. 17. G. Olearius, Halygraphia Top-Chronologica, Das ist Ort- und Zeitbeschreibung der Stadt Hall in Sachsen, Leipzig 1667, S. 30; J. C. von Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici oder Ausführliche diplomatischhistorische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr aber durch den westphälischen Friedens-Schluß secularisirten Hertzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Creyses . . . , II. Theil, Halle 1755, S. 506. Goerlitz (wie Anm. 19), S. 151. Gathen (wie Anm. 6), S. 104 f. Gathen (wie Anm. 6), S. 13 f., 83 ff.; Popov (wie Anm. 10), S. 14 ff. Gathen (wie Anm. 6), S. 12 f.; Grape (wie Anm. 12), S. 75 ff.; Popov (wie Anm. 10), S. 84 ff. Gathen (wie Anm. 6), S. 21; Grape (wie Anm. 12), S. 85 ff.; Popov (wie Anm. 10), S. 76 ff. Vgl. Anm. 11. R. Lejeune, J. Stiennon, Die Rolandssage in der mittelalterlichen Kunst, Brüssel 1966, S. 396. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHSAD), Cop. 15, fol. 20 v . Abgedr. in: Codex diplomaticus Saxoniae (regiae), I. Hauptteil, Reihe B: Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen, Bd. 4, hg. von H. Ermisch, Leipzig 1941 (CDS I Β 4), Nr. 470.

Der Roland und das Burggrafengericht zu Halle

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Braine 31 , der Wettiner auf dem Petersberg bei Halle 32 und des Wiprecht von Groitzsch (gest. 1124) in Pegau bei Leipzig33 gesehen worden. Vor allem aber gibt es eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer Plastik im Braunschweiger Dom, die Heinrich den Löwen (gest. 1195) darstellen soll,34 in jüngerer Zeit jedoch als dessen Sohn Kaiser Otto IV. (1198-1218) angesprochen wird. 35 Insbesondere fallen die Haltung der linken Hand und die kunstvoll gearbeitete Almosentasche am Braunschweiger Standbild auf. 36 Nach langer Diskussion 37 wird diese Figur nun auch in das 13. Jh. datiert.38 Selbst wenn nur eine der genannten Figuren als Vorbild in Frage kommt, stammt der hallische Roland aus dem 13. Jh. Manches spricht für die Jahrhundertmitte.39 Damit wäre er etwa ein Jahrhundert älter als die übrigen frühen Rolande, die nach urkundlichem und kunstgeschichtlichem Befund sämtlich in das 14. Jh. gehören. 40 Mit der Datierung ist schon die Frage der schriftlichen Uberlieferung und der bewegten Geschichte des hallischen Rolands angesprochen. Die Aussagen der Stadtchronisten Gottfried Olearius und Johann Christoph von Dreyhaupt von 1667 bzw. 1755 widersprechen zumindest der stilkundlichen Einordnung nicht. Ubereinstimmend teilen sie mit, daß in Halle schon im frühen 14. Jh. ein Roland vorhanden war. Er soll auf einem kleinen Berg neben dem Rathaus an der Ostseite des heutigen Marktes gestanden haben. 41 Dort befand sich die Gerichtsstätte des hallischen Schöffengerichts 42 , das sich zunächst ohne Bezug zum Roland als „Schöffen auf dem Berge" bezeichnete. 43 1 341 soll er an den Roten Turm versetzt worden sein, weil an seinem alten Platz ein Archivturm errichtet wurde. 44 Bei dem neuen Standort kann es sich jedoch nicht um den heutigen Roten Turm handeln, mit dessen Bau erst 1418 begonnen wurde. 45 Vielmehr kommt der im berühmten Hallischen Talrecht von 1386 erwähnte Rote Turm in Betracht, dessen genaue Lage nicht bekannt ist. 46 3' 32

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K. Heldmann, Die Rolandsbilder Deutschlands in dreihundertjähriger Forschung und nach den Quellen. Beiträge zur Geschichte der mittelalterlichen Spiele und Fälschungen, Halle 1904, S. 64. R. Hünicken, Geschichte der Stadt Halle, 1. Teil: Halle in deutscher Kaiserzeit. Ursprung und Entfaltung einer mittelalterlichen Stadt, Halle 1941, S. 228. Hünicken (wie Anm. 32), S. 228 f. Goerlitz (wie Anm. 19), S. 152 f. B. U. Hucker, Otto IV., der kaiserliche Sohn Heinrichs des Löwen, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Weifen 1125-1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, Bd. 2: Essays, hg. von J. Luckhardt u. F. Niehoff, München 1995, S. 367. Abb. bei Hucker (wie Anm. 35), S. 364. Goerlitz (wie Anm. 19), S. 152 ff. Hucker (wie Anm. 35), S. 364. Gathen (wie Anm. 6), S. 104; Goerlitz (wie Anm. 19), S. 154; Hünicken (wie Anm. 32), S. 229; Lieberwirth, Stand der Forschung, (wie Anm. 4), S. 6. Gathen (wie Anm. 6), Kataloge I und II (S. 10 ff.). Olearius (wie Anm. 22), S. 30; v. Dreyhaupt (wie Anm. 22), S. 506. Vgl. F. Battenberg, Schöffen, Schöffengericht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von A. Erler, E. Kaufmann, unter philologischer Mitarbeit von R. Schmidt-Wiegand (HRG) IV, Berlin 1990, Sp. 1463 ff. „auf einem kleinen Berge neben dem Rathhause auf dem ietzigen Platze der Raths-Wage gestanden, auch daher die Schultheissen-Gerichte den Nahmen der Gerichte auf dem Berge vor dem Rolande erhalten" (v. Dreyhaupt, wie Anm. 22, S. 506). Vgl. auch Hünicken (wie Anm. 32), S. 160. Olearius (wie Anm. 22), S. 161. E. Neuss, Die Baugeschichte des Roten Turmes zu Halle an der Saale (= Schriftenreihe der Bauhütte Roter Turm. Beiträge zur Stadt- und Kulturgeschichte Halles, Η. 1), Halle 1946, S. 2 ff. Neuss, Baugeschichte, (wie Anm. 45), S. 2. Nach neueren Vermutungen war der zwischen 1315 und 1479 genannte ältere Rote Turm mit dem Talgericht verbunden. Er soll sich auf dem Kirchhof der alten Gertrudenkirche befunden haben. Vgl. H.-J. Krause, G. Voss, Der Rote Turm in Halle, in: Denkmale in Sachsen-Anhalt. Ihre Erhaltung und Pflege in den Bezirken Halle und Magdeburg, Weimar 1986, S. 286, Anm. 14.

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Freilich ist diese Überlieferung äußerst kritisch zu sehen. Immerhin blickt Olearius mit einem Abstand von mehr als 300 Jahren auf diese Ereignisse zurück. Urkundlich gesichert ist die Existenz des Rolands erst seit dem Jahre 1426, als der Kurfürst von Sachsen in seiner Eigenschaft als Burggraf von Magdeburg in Halle das Burggrafengericht abhielt. 4 7 Eine merkwürdige Nachricht findet sich bei Olearius, der zum Jahre 1481 zu berichten weiß, daß Erzbischof Ernst (1476-1513) um den Roland ein hölzernes Haus bauen und diesen versperren ließ. 4 8 Ein Jahr später wird der alljährliche öffentliche Tanz vor dem Roland durch denselben Erzbischof verboten. 4 9 In diesen Aktionen ist gelegentlich ein Symbol für die Unterwerfung der Stadt seitens des Erzbischofs als Landesherrn gesehen worden. 5 0 Das macht jedoch nur Sinn, wenn der hallische Roland, wie etwa der von Bremen oder Quedlinburg, für städtische Vorrechte gegenüber dem Stadtherrn stehen würde. In Halle fehlt jedoch jeglicher Hinweis auf eine solche Funktion. 5 1 Vielmehr deutet alles darauf hin, daß Roland die Gerichtsherrschaft über die Stadt repräsentierte. Deshalb ist nicht auszuschließen, daß der Umbau um den Roland eine Schutzmaßnahme gegen schlechtes Wetter war. Der Roland aus Holz war gegenüber der Witterung stets anfällig. Offensichtlich wurde der Bretterverschlag bei Bedarf geöffnet. So ist wohl auch die Beobachtung Martin Luthers zu werten, der 1545 eine Gerichtssitzung vor dem geöffneten Roland in Halle gesehen hat. 52 Im Jahre 1504 soll der Roland südöstlich des gerade vollendeten, jetzigen Roten Turmes gestanden haben. 5 3 Zum Jahre 1513 wird eine Versetzung auf den Berg am alten Rathaus, wo auch die Ratswaage stand, berichtet. 5 4 Von dort wechselte er 1547 auf Geheiß des neuen Burggrafen, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen (1532-1547), wieder an den Roten Turm, an dessen südöstlicher Ecke er freistehend aufgestellt wurde. 5 5 Hier stand er, durch ein „Häuslein" vor schlechtem Wetter geschützt 56 , bis zu Beginn des 18. Jh. Als das Gebäude der Stadtwache vergrößert werden sollte, mußte Roland 1718 auch diesen Platz räumen. 5 7 Das alte Standbild aus Holz wurde auf den Bauhof in der Nähe des Leipziger Turmes gebracht, wo es am 25. November 1719 mit dem Bauhofgebäude verbrannte. 58 Inzwischen war von Bürger die bereits erwähnte steinerne Kopie angefertigt worden, deren Aufstellung am 2. September 1719 am Hause des Schöffengerichts erfolgte. 5 9 Nach seiner

47

Vgl. Anm. 30.

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Olearius (wie Anm. 22), S. 210.

49

Olearius (wie A n m . 22), S. 210. Vgl. dazu auch W . Becker, Der Rolandstanz im alten Halle, in: „Glaube und H e i m a t " . Evangelischer Volkskalender für die Provinz Sachsen. Auf das Jahr 1932, 26. Jg., Halle (1931), S. 63 f.

50

v. Dreyhaupt (wie Anm. 22), S. 506; S. Baron v. Schultze-Gallera, Die Stadt Halle. Ihre Geschichte und Kultur, Halle 1930, S. 84; G. Schlenker, Der weitere Ausbau der fürstlichen Territorien und die Auseinandersetzungen in den mittelalterlichen Städten im Gebiet zwischen Ostharz und Elbe, in: Geschichte Sachsen-Anhalts, I: Das Mittelalter, Berlin, München 1993, S. 172.

51

Gathen (wie Anm. 6), S. 102.

52

D . Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, 5. Bd., Weimar 1919, S. 610.

53

Olearius (wie Anm. 22), S. 219.

54

Olearius (wie Anm. 22), S. 219; v. Dreyhaupt (wie A n m . 22), S. 506.

55

v. Dreyhaupt (wie A n m . 22), S. 506. v. Dreyhaupt (wie Anm. 22), S. 506.

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v. Dreyhaupt (wie Anm. 22), S. 506. Bemerkenswert ist, daß es um die Entfernung des „alten Roland mit dem H a u s e " ging, das 1547 errichtet worden sein soll (Stadtarchiv Halle, Rep. X X I I , Abt. A, N r . 2: Acta betr. Die Aufstellung des neuen Rolands am Schöppenhause 1718, nicht foliiert).

58

Goerlitz (wie Anm. 19), S. 151.

59

Goerlitz (wie Anm. 19), S. 151; E. Neuss, Rote-Turm-Fibel. Denk- und Merkwürdigkeiten des Roten

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Der Roland und das Burggrafengericht zu Halle

Neuaufstellung wird der Roland vor allem in Verbindung mit dem Hochnotpeinlichen Halsgericht genannt. 60 Mit den grundlegenden Reformen der Gerichtsverfassung, des Prozesses und des materiellen Rechts im frühen 19. Jh. wurde der Roland für rechtliche Zwecke nicht nur entbehrlich; er begann auch zu stören. Nachdem das alte Schöffenhaus 1817 privatisiert 61 und in ein Kaffeehaus (= das spätere Hotel „Zur Börse") umgewandelt worden war, behinderte die Rolandfigur den Lichteinfall in das Billardzimmer. 62 Der Eigentümer veranlaßte daraufhin die Zerlegung des Rolands und die Einlagerung in einem jämmerlichen Schuppen auf dem Rathaushof. 63 Hier war die Figur erheblichen Beschädigungen ausgesetzt. Im Jahre 1854 konnte der Roland jedoch restauriert und an der Südostecke des 1825 vollendeten neugotischen Umbaus des Roten Turmes aufgestellt werden. 64 Eine weitere Restaurierung folgte 1885. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der Schwertgriff vergoldet. 65 Den Zweiten Weltkrieg überstand der Roland eingemauert in einem mit einer Betonplatte verschlossenen Ziegelsteinturm. Infolge der starken Beschädigung des Roten Turmes durch die Bombardierung vom 16. April 1945 mußte der Umbau abgerissen werden. Die Figur wurde auf Beschluß der „Bauhütte Roter Turm" im Dezember 1946 an der Ostwand des Roten Turmes wieder aufgestellt. Eine vermauerte Urkunde schildert Umstände und Beweggründe der Verlagerung. 66 An seinen heutigen Standort kam der Roland 1976, als der Rote Turm seinen Helm aus Kupfer und einen Umbau aus Glas und Beton erhielt. 67 Genau 550 Jahre waren zu diesem Zeitpunkt seit seiner ersten urkundlichen Erwähnung 1426 vergangen. Zu ihr ist nun zurückzukehren, um die bereits angedeutete Verbindung mit dem Burggrafengericht näher zu untersuchen.

II. Die mittelalterliche Gerichtsverfassung war nicht nach einheitlichen Kriterien aufgebaut. 68 Es gab weder exakt voneinander abgegrenzte Kompetenzen noch Instanzenzüge. Auch die Rechte am und aus dem Gericht kreuzten sich häufig. Jedes Gericht konnte veräußert werden, sogar an Privatpersonen. Es konnte einem Gerichtsherren allein, mehreren gemeinsam oder anteilig gehören. Der Gerichtsherr des einen Gerichts konnte Gerichtsuntertan eines anderen Gerichtsherrn sein. Eine Vielzahl von Hoheitsträgern übte die Gerichtsherrschaft aus, die keineswegs nur mit Rechtsprechung im heutigen Sinne ausgefüllt war. Vielmehr waren die Gerichte Institutionen, mit denen alle möglichen Herrschafts-

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Turmes zu Halle a. d. Saale (= Schriftenreihe der Bauhütte Roter Turm. Beiträge zur Stadt- und Kulturgeschichte Halles, H. 2), Halle 1947, S. 23. V. Dreyhaupt (wie Anm. 22), S. 505, 507 f. G. F. Hertzberg, Geschichte der Stadt Halle an der Saale von den Anfängen bis zur Neuzeit, Bd. III: Halle während des 18. und 19. Jahrhunderts (1717 bis 1892), Halle 1893, S.482. H. Zoepfl, Die Rulands-Säule. Eine rechts- und kunstgeschichtliche Untersuchung («= Alterthümer des deutschen Reichs und Rechts. Studien, Kritiken und Urkunden zur Erläuterung der deutschen Rechtsgeschichte, 3. Bd.), Leipzig, Heidelberg 1861, S. 235. Neuss, Rote-Turm-Fibel (wie Anm. 59), S. 23. Hertzberg (wie Anm. 61), S. 482; Neuss, Rote-Turm-Fibel (wie Anm. 59), S. 23; Zoepfl (wie Anm. 62), S. 235 . . . Neuss, Rote-Turm-Fibel (wie Anm. 59), S. 23. Neuss, Rote-Turm-Fibel (wie Anm. 59), S. 23 f. Krause, Voss (wie Anm. 46), S. 280 ff. G. Buchda, Gerichtsverfassung, in: H R G I (1971), Sp. 1563 ff.

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rechte verwirklicht wurden. Auf Grund der vorwiegend personellen Struktur von Herrschaft im Mittelalter scheint jedoch die Zugehörigkeit des jeweiligen Gerichts zu einem oder mehreren Gerichtsherren ein brauchbares Systematisierungskriterium zu sein.69 Danach war das Burggrafengericht zu Halle ein Gericht des Magdeburger Erzbischofs, das der Burggraf für ihn tatsächlich abhielt. Als geistlicher Oberhirte seiner Diözese war der Erzbischof zunächst Richter in geistlichen Angelegenheiten.70 Die geistliche Gerichtsbarkeit wurde auf der zentralen und regionalen Ebene durch die regelmäßig zusammentretenden Sendgerichte71 ausgeübt. Auf der zentralen, bischöflichen Ebene stand dem Erzbischof dabei ein kirchenrechtlich ausgebildeter Offizial 72 zur Seite. Ein solcher bischöflicher Richter ist in Magdeburg erstmals 1295 bezeugt.73 Auf regionaler Ebene nahmen diese Aufgaben die Archidiakone und Erzpriester wahr, die sich zumeist aus den Pröpsten der in der Diözese gelegenen Klöster rekrutierten. So war ζ. B. der Propst des Klosters Neuwerk regelmäßig der Archidiakon von Halle. Sein Sendgericht fand in der Kirche St. Marien am Markt statt. Die Kompetenz der Sendgerichte erstreckte sich sachlich über alle Kirchenangelegenheiten, insbesondere über Verletzungen der Kirchendisziplin, aber auch auf Straftaten, die in Verbindung mit der Kirche standen. Personell waren sie sowohl für Kleriker als auch für Laien zuständig. Als Sanktionen standen den Sendgerichten die spezifisch kirchlichen Strafen in Gestalt von Bußen und Exkommunikation zur Verfügung. Die richterliche Gewalt des Erzbischofs war jedoch nicht auf die Ahndung kirchlicher Delikte beschränkt. Neben seinen geistlichen Kompetenzen - den spiritualia - besaß er Herrschaftsrechte wie jeder Fürst über die seiner Bischofskirche gehörenden Besitzungen - die temporalia. Gerade das Erzbistum Magdeburg war durch zahlreiche Schenkungen der Könige und anderer Dynasten reich mit Grundbesitz ausgestattet worden, der verwaltet werden mußte. Auch dazu war es erforderlich, die Gerichtsbarkeit als Instrument zur Realisierung von Herrschaftsrechten auszuüben, d. h. Recht zu sprechen, die Einnahme von Abgaben zu organisieren sowie das militärische Aufgebot sicherzustellen. Hinsichtlich der weltlichen Rechtsprechung war jedoch eine wichtige Besonderheit zu beachten: Das kanonische Recht verbot den Klerikern, sich an der Ausübung der Blutgerichtsbarkeit zu beteiligen. Für sie galt der Rechtssatz ecclesia non sitit sanguinem - Der Kirche dürstet nicht nach Blut. 74 Daher mußte sich jeder geistliche Gerichtsherr bei der Ausübung der Gerichtsbarkeit in ihrem ganzen Umfang eines weltlichen Vertreters bedienen. Das betraf sowohl die mit Gerichtsrechten ausgestatteten Klöster als auch die Bischöfe. Diese weltlichen Vertreter der geistlichen Gerichtsherren waren in der Regel Angehörige des hohen Adels. Sie führten den Titel advocatus, aus welcher die deutsche Amtsbezeichnung Vogt75 hervorging. Die

Vgl. H . Lück, Die Gerichtsverfassung des spätfeudalen deutschen Territorialstaates. Versuch einer C h a rakter· und Begriffsbestimmung, in: Wiss. Zschr. d. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe, X X X V I I I (1989), Η . 1, S. 75 ff. 70

Das Folgende nach H . Lück, Das Gericht des Burggrafen von Magdeburg zu Halle an der Saale. Eine Skizze nach vorwiegend sächsischen Quellen, in: Vertrauen in den Rechtsstaat. Beiträge zur deutschen Einheit im Recht. Festschrift für Walter Remmers, hg. von J. Goydke, D. Rauschning, R. Robra u. a., in Verbindung mit der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Köln, Berlin, Bonn, München 1995, S. 689 ff.

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H.-J. Becker, Send, Sendgericht, in: H R G IV, Sp. 1630 f.

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W . Trusen, Offizialat, in: H R G III (1984), Sp. 1214 ff.

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G. A. v. Mülverstedt, Regesta archiepiscopatus Magdeburgensis, Teil III, Magdeburg 1899, S. 873 f.

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Vgl. auch A. Erler, ecclesia non sitit sanguinem, in: H R G I, Sp. 793 ff.

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D . Willoweit, Vogt, Vogtei, in: H R G V, 36. Lfg. (1993), Sp. 9 3 2 ff.

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Vogtei war nicht allein schon deshalb begehrt, weil sie die Verwirklichung eines der vornehmsten Herrschaftsrechte beinhaltete, sondern vor allem wegen der Beteiligung an den vereinnahmten Gerichtsgebühren. Die ersten namentlich bekannten Vögte des Erzstifts Magdeburg tauchen Ende des 10. Jh. auf. So begegnet 978 ein Vogt namens Friedrich, 979 ein gewisser Rikdag. 76 Da das Magdeburger Moritzkloster bereits seit seiner Gründung 937 mit dem Recht der freien Vogtwahl ausgestattet war, kann davon ausgegangen werden, daß die Vögte des Erzstifts gewählt wurden. Der König besaß jedoch ein Bestätigungsrecht. Grundsätzlich konnte nur er nach mittelalterlicher Auffassung zur Ausübung der hohen Gerichtsbarkeit berechtigen. Die Vögte bedurften daher der Bannleihe durch den König. 77 Über die Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit gibt erstmals eine Urkunde aus dem Jahre 1221 näheren Aufschluß. 78 Daraus geht hervor, daß der Burggraf dreimal im Jahr vor der Bischofspfalz Gericht zu halten hat. Die Kompetenz dieses Gerichts scheint umfassend gewesen zu sein, d. h. von ihm wurden Straftaten geahndet und Streitigkeiten aus allen Bereichen des Rechts entschieden. Vornehmlich war das Burggrafengericht zuständig für die damals als besonders schwerwiegend geltenden drei „hohen Brüche" Notzucht, Wegelagerei und Heimsuchung mit blutenden Wunden. 79 Unter letzterer ist eine qualifizierte Form des Hausfriedensbruches zu verstehen. 80 Doch nicht nur in der Bischofspfalz Magdeburg, sondern auch in den Städten Halle und Calbe hielt der Burggraf Gerichte ab. Schon die Pegauer Annalen berichten zum Jahre 1124, daß Wiprecht von Groitzsch in Halle weilt, um dem Vogteigericht beizuwohnen. 81 Mit Wiprecht ist eine bedeutende Etappe der hallischen Stadtgeschichte verbunden. Er ließ u. a. die Stadt erweitern und mit einer Stadtmauer versehen. 82 Während seiner Amtszeit (spätestens aber unter seinen nächsten Nachfolgern) bildete sich wohl auch die für Halle charakteristische räumliche Zweiteilung der erzbischöflichen Gerichtsbarkeit heraus. In der Oberstadt (um den heutigen Markt) übte der seit 1161 nachweisbare Schultheiß 83 mit den Schöffen die Gerichtsbarkeit aus. Das „Tal" mit der Salzproduktionsstätte (der heutige Hallmarkt) stand dagegen spätestens seit 1145 unter der Jurisdiktion des Salzgrafen. 84 Beide werden ursprünglich Unterbeamte des Hochvogtes gewesen sein. Schultheiß und Salzgraf erhielten von ihm den Bann. Einerseits war er somit der höhere Richter gegenüber den vorgenannten, andererseits saß er selbst seinem eigenen Gericht, dem Burggrafengedinge, vor. Während die Gerichte des Schultheißen und des Salzgrafen für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten und geringere Straftaten zuständig waren, mußten die bereits genannten drei „hohen Brüche" vor dem Burggrafengericht verhandelt werden. In Halle hielt er, ganz ähnlich wie in Magdeburg, dreimal jährlich das Burggrafengedinge ab.85 Schon das Halle-Neumarkter Recht von 1235 bestimmte, daß zwei Wochen vor

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D. Claude, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, Teil II (= Mitteldeutsche Forschungen 67/2), Köln, Wien 1975, S. 243 ff. Claude (wie Anm. 76), S. 247. Urkundenbuch des Klosters Berge bei Magdeburg, hg. von H. Holstein (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 9), Halle 1879, N r . 71. W. v. Brünneck, Das Burggrafenamt und Schultheißentum in Magdeburg und Halle sowie die Umbildung dieser Ämter durch das magdeburg-schlesische und kulmisch-preußische Recht, Berlin 1908, S. 2. K. Kroeschell, Hausfrieden, in: H R G I, Sp. 2023. M G H SS XVI, S. 254. Hünicken (wie Anm. 32), S. 142 ff. Vgl. A. Erler, M. Neide«, Schultheiß, Schulze, in: H R G IV, Sp. 1519 ff. Hünicken (wie Anm. 32), S. 140. Vgl. Lück, Gericht des Burggrafen (wie Anm. 70), S. 693 ff.

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und nach dem jeweiligen Gerichtstermin die Jurisdiktionsgewalt des Schultheißen und des Salzgrafen ruhen soll. Nur der Burggraf war an diesen Tagen berechtigt, Recht zu sprechen. Für die Ahndung jedes schweren Verbrechens sollte er 6 Talente (ca. 2 kg Silber) erhalten. Für die Verhandlung von minderen Straftaten stand ihm nur ein Talent zu. 8 6 Während in Magdeburg das Burggrafengericht auf dem alten und neuen Markt gehalten wurde 8 7 , tagte es in Halle sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadtmauern. In einer Urkunde aus dem Jahre 1276 ist ausdrücklich vom Burggrafengericht „extra muros Hallenses" die Rede, wodurch diese Zweiteilung bezeugt wird. 8 8 Zusammensetzung, Zuständigkeit und Verfahren des Burggrafengerichts nahmen offensichtlich im Zusammenhang mit der Belehnung Kurfürst Friedrichs des Streitbaren von Sachsen (1423-1428) aus dem Hause Wettin mit dem Burggrafenamt im Jahre 1423 festere, vielleicht auch modernere Formen an. Die aus diesem Anlaß angefertigten Dokumente enthalten neben der ersten Erwähnung des Rolands eine detaillierte Beschreibung dieses bemerkenswerten Gerichts. 8 9 Dabei handelt es sich vermutlich um Abschriften von U r kunden aus dem Besitz der 1422 ausgestorbenen Burggrafen aus dem Hause Askanien. Dazu gehört auch die Abschrift einer Urkunde Kaiser Karls IV. (1346-1378) vom 25. Januar 1365. 9 0 Ferner sind wichtige Angaben zu den Gerichtsterminen, zur Besetzung des Gerichts, zur Amtseinführung von Schultheiß, Salzgraf und Schöffen durch den Burggrafen, zu den Gerichtsbräuchen und zu den Abgaben, die dem Burggrafen aus verschiedenen Dörfern zukamen, dokumentiert. 9 1 In den letzteren dürfte die eigentliche Lukrativität des Amtes gelegen haben. Allein der Titel berechtigte zu den Einnahmen, was die permanente Abwesenheit der Burggrafen seit dem frühen 15. J h . ermöglichte. An ihrer Stelle saßen vom Rat bestimmte Bürger dem Gericht vor, die an den vereinnahmten Gebühren und Geldern beteiligt wurden. In der Kaiserurkunde von 1365 erscheint das Burggrafenamt zu Halle als Reichslehen, was es in Wirklichkeit nie gewesen ist. Das ursprüngliche Bestätigungsrecht des Königs scheint nach den Forschungen von Claude spätestens im 11. Jh., wenn nicht sogar schon früher, außer Übung gekommen zu sein. 92 Im 13. Jh. ist keine Rede mehr davon. Das Burggrafenamt war zu dieser Zeit an bestimmte Lehen gebunden, die der Erzbischof allein ausreichte. 93 Die ältere Literatur erklärt die plötzliche Bindung des Burggrafenamtes an den Kaiser damit, daß im 14. J h . eine entsprechende Auffassung über die Zugehörigkeit des Amtes zum Reich aufgekommen sein soll. 94 So hätten die askanischen Kurfürsten von

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Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster, Teil 1 ( 8 0 6 - 1 3 0 0 ) , bearb. von A. Bierbach ( = Geschichtsquellen des Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe, Bd. 10), Magdeburg 1930 ( U B H I), N r . 224.

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B. Schwineköper, Zur Deutung der Magdeburger Reitersäule, in: Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet, Bd. 1, Wiesbaden 1964, S. 129 ff.

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U B H I, Nr. 353. SHSAD, Loc. 4350, Klöster und Stifter, Erzstift Magdeburg, Kapsel III, fol. 9 7 ff.

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Original in SHSAD, O . U . 3787; abgedruckt in: Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster, Teil III ( 1 3 5 1 - 1 1 0 3 ) in drei Bänden, Bd. 1 ( 1 3 5 1 - 1 3 8 0 ) , bearb. von A. Bierbach ( = Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 2), Halle 1954 ( U B H III, 1), N r . 856.

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Eine ähnliche Dokumentation befindet sich im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar (THSAW), Ernestinisches Gesamtarchiv, Kopialbücher, Β 6, fol. 1 1 - 2 5 . Auszugsweise gedruckt bei Goerlitz (wie Anm. 19), S. 159 ff.

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Claude (wie Anm. 76), S. 2 4 6 f.

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Claude (wie Anm. 76), S. 252.

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v. Brünneck (wie Anm. 79), S. 17; H . Kretzschmar, Die Stellung Magdeburgs in der sächsischen Geschieh-

Der Roland und das Burggrafengericht zu Halle

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Sachsen sich ihr Recht, das Burggrafenamt in Halle auszuüben, vom Kaiser bestätigen lassen. Die näheren Umstände, die dazu führten, sind bislang unbekannt. Zunächst mag man an die engen Beziehungen zwischen Karl IV. und Kurfürst Rudolf I. von Sachsen (1298-1356) denken. Rudolf war einer der engsten Parteigänger Karls IV. und maßgeblich an dessen Wahl beteiligt. 95 Eine Bestätigung der Privilegien der askanischen Kurfürsten von Sachsen wird Karl keinesfalls schwergefallen sein. Es lassen sich aber auch andere Überlegungen dazu anstellen. So könnte die Initiative zur Verbriefung des Burggrafenamtes als Reichslehen durchaus vom Kaiser selbst ausgegangen sein. Die intensiven Bemühungen Karls IV. um die Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt 9 6 sprechen dafür, daß er das Burggrafenamt für das Reich vereinnahmt hat. Möglicherweise war auch die Erinnerung daran noch wach, daß die Hochvögte des Erzstifts Magdeburg ursprünglich vom König bestätigt und mit dem Bann beliehen worden sind. Da auch noch im Spätmittelalter nur das aufgezeichnet wurde, was besonders wichtig oder strittig war, könnte es Auseinandersetzungen, zumindest aber Überlegungen, über den Charakter des Burggrafenamtes gegeben haben. Vielleicht ist 1356 bei der Abfassung der Goldenen Bulle, welche neben der Königswahl ausführlich die Rechtsstellung der Kurfürsten regelte 97 , die Frage aufgetaucht, ob das seit 1269 von den Herzögen von Sachsen ausgeübte Burggrafenamt ebenso untrennbar mit der sächsischen Kurwürde verbunden war wie das Reichsvikariat 98 und das Erzmarschallamt. Für eine solche Interpretation spricht die Belehnung Friedrichs des Streitbaren mit der Kur Sachsen und dem Burggrafenamt („burgraveschafft und gravending") zu Magdeburg und Halle in einer Urkunde. 9 9 Zumindest 1425 hat es den Anschein, als ob das Burggrafenamt zu Halle an das Kurfürstentum Sachsen gebunden ist. Als die sächsische Kurwürde 1547 von den Ernestinern auf die Albertiner übergeht, wurde auch das Burggrafenamt albertinisch, ganz so, als gehörte es selbstverständlich zum Kurfürstentum Sachsen 100 . N o c h im 16. Jh. galten einige Ländereien nördlich von Magdeburg (die kurfürstlichsächsischen Amter G o m m e r n , Elbenau, Plötzky, Ranis und Gottau) ausdrücklich als dem Burggrafenamt zugehörig. 1 0 1 Während über das Burggrafengericht in Calbe nichts näheres bekannt ist 102 , sind wir

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te, in: Meißnisch-Sächsische Forschungen. Zur Jahrtausendfeier der Mark Meißen und des Sächsischen Staates, hg. von W. Lippert, Dresden 1929, S. 164. Zum Streit vgl. auch die Anmerkungen von A. Bierbach zu U B H III, 1, N r . 856. R. Schmidt, Brandenburg und Pommern in der Politik Kaiser Karls IV. Das Kräftespiel zwischen Wittelsbachern, Luxemburgern und Greifen, in: Kaiser Karl IV. Staatsmann und Mäzen, hg. von F. Seibt aus Anlaß der Ausstellungen in Nürnberg und Köln 1978/79, 2. Aufl., München 1978, S. 203. Vgl. dazu F. Seibt, Karl IV. Ein Kaiser in Europa 1346 bis 1378, München 1994, S. 205 ff. Vgl. A. Laufs, Goldene Bulle, in: H R G I, Sp. 1739 ff.; E. Müller-Mertens, Geschichtliche Würdigung der Goldenen Bulle, in: Die Goldene Bulle. Das Reichsgesetz Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356. Deutsche Übersetzung von Wolfgang D. Fritz, Geschichtliche Würdigung von Eckhard Müller-Mertens, Weimar 1978, S. 9 ff.; A. Wolf, Das „Kaiserliche Rechtbuch" Karls IV (sogenannte Goldene Bulle), in: IUS C O M M U N E . Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main II, hg. von H. Coing, Frankfurt am Main 1969, S. 1 ff. Vgl. dazu auch W. Lammers, Reichsvikariat, in: H R G IV, Sp. 807 ff.; E. Heinze, Das Kursächsische Reichsvikariat vor der Goldenen Bulle, in: Historische Vierteljahresschrift 1924, S. 1 ff. CDS I Β 4, Nr. 432. Vgl. auch die Bestätigung in: CDS I Β 4, Nr. 435. Kretzschmar (wie Anm. 94), S. 171. C. Römer, Gommern, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. XI: Provinz Sachsen Anhalt, hg. von B. Schwineköper, 2. Aufl., Stuttgart 1987, S. 142 f. Vgl. auch Kretzschmar (wie Anm. 94), S. 164. Vgl. etwa G. Hertel, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale. Nach den Quellen bearbeitet, Berlin, Leipzig 1904; B. Schwineköper, Calbe, in: Handbuch (wie Anm. 101), S. 65 ff.

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über die Gerichtssitzungen in Magdeburg 103 und Halle 104 recht gut unterrichtet. Das Burggrafengericht in der Stadt Halle sollte an den Tagen St. Udalrici (4. Juli), St. Clementis (23. November) und Scholastice (10. Februar) stattfinden. Jeweils vierzehn Tage vorher mußte es durch den Fronboten der Stadt Halle verkündigt, d. h. bekanntgemacht werden. Ab diesem Zeitpunkt ruhte die Gerichtsbarkeit des Schultheißen- und Salzgrafengerichts für vier Wochen. Besetzt war das Gericht mit dem Burggrafen als Vorsitzenden und elf Schöffen, worunter sich an erster Position der Schultheiß befand. Die Schöffen wurden vom Rat der Stadt Halle gewählt und vom Burggrafen im nächsten Gerichtstermin in ihr Amt eingewiesen. Sie waren verpflichtet, bei Gericht zu erscheinen und das Urteil zu finden. Ihr Amt übten sie auf Lebenszeit aus. Starb ein Schöffe, mußte einer vom Rat nachgewählt werden, den der Burggraf anschließend in das Gericht aufnahm. 105 Zum Personal des Gerichts gehörten ferner der Schultheiß und der Fronbote106. Der Schultheiß, dessen Vorsitz im Schöffengericht während des Burggrafengerichtes ruht, war der Rangfolge nach der erste unter den Schöffen und hatte dem Burggrafen bestimmte Hilfsdienste zu leisten. Der Fronbote war der Gerichtsdiener, der die Dingtage vorher ankündigte, aber auch für die Vollstreckung der ausgesprochenen Bußen zu sorgen hatte. Die Gerichtsstätte des Burggrafengerichts in der Stadt befand sich bei der Lambertikapelle, einer der ältesten Kapellen Halles, an der Nordwestseite des heutigen Marktes. 107 Dort standen die hölzernen Gerichtsbänke auf dem Hügel, in die der Burggraf hinein ritt, wenn er zum Burggrafengedinge nach Halle kam. Sein Pferd sollte zwischen der Lambertikapelle und dem Rathaus stehen. Im Zusammenhang mit der bereits berührten Gerichtssitzung am 22. Januar 1426, bei welcher der Burggraf persönlich anwesend war, wird der Standort der Gerichtsbänke erstmals mit den Worten „vor dem Rulande zcu Halle" näher bestimmt. 108 Bemerkenswert ist die Regelung, daß der Burggraf den Roland umreiten sollte, sobald er in die Stadt eingeritten war. 109 Somit erscheint der Roland als ein wesentliches Attribut des Burggrafengerichts. Vor ihm stand der hölzerne Richterstuhl. Er war der Platz des Schultheißen des „Berggerichts". Doch während der Sitzung des Burggrafengerichts gebührte dem Burggrafen dieser Platz, während der Schultheiß auf einer der Schöffenbänke Platz nahm. Die Zuständigkeit des Gerichts umfaßte die Bürger, die Erbe und Eigen, also Grundstücke, in der Stadt hatten. Im Jahre 1263 konnte sich die Stadt jedoch weitgehend von der erzbischöflichen Rechtsprechung der Gerichte des Schultheißen, Salzgrafen und Burggrafen befreien, 110 was in den Jahren 1310111 und 1335112 noch einmal umfassend bestätigt wurde. 103

Schwineköper, Magdeburger Reitersäule (wie Anm. 87), S. 129 ff. Lück, Gericht des Burggrafen (wie Anm. 70), S. 693 ff. 105 Vgl. dazu auch R. Schranil, Stadtverfassung nach Magdeburger Recht. Magdeburg und Halle (= Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, hg. von O. v. Gierke, 125), Breslau 1915, S. 263 ff. 106 Vgl. G. Buchda, Fronbote, in: H R G I, Sp. 1304 ff. 107 Vgl. S. Schultze-Gallera, Topographie der Häuser- und Strassen-Geschichte der Stadt Halle a. d. Saale, Bd. 1, Halle 1920, S. 103. 108 Vgl. Anm. 30. 109 „Wann der burggrave Erst In die Stat kompt So soll er aller erst umb die Bengk und umb den Roland Inreyten mit allen den, die mit Ime da sein und darnach so reyt er In die Herberg." (THSAW, wie Anm. 91, fol. ll v ). 110 U B H I, Nr. 310. 111 Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster, Teil 2 (1301-1350), bearb. von A. Bierbach (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Landes Anhalt, Neue Reihe, Bd. 20), Magdeburg 1939 (UBH II), N r . 515. 112 U B H II, N r . 676. 104

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Seitdem verblieben nur noch Ritter, Knechte und Lehnsleute des Erzbischofs in der Kompetenz des Burggrafengerichts. 113 Bei der Androhung einer Buße waren sie dem Gericht dingpflichtig, d. h. an den Gerichtstagen hatten sie auf der Gerichtsstätte anwesend zu sein. Das Burggrafengericht vor der Stadt war für 71 Dörfer in der näheren Umgebung Halles zuständig, über die der Erzbischof uneingeschränkt die Gerichtsrechte hatte. Das Gericht sollte jeweils einen Tag nach dem Termin in der Stadt zusammentreten. Als Schöffen fungierten hier sieben Dorfvorsteher aus Dörfern des Amtes Giebichenstein. Ihr Schöffenamt lag erblich auf den entsprechenden Höfen. 114 Die Dingstätte befand sich auf dem kleinen Petersberg nahe der St. Petrikapelle. Diese Lage darf nicht mit dem „Berg" auf dem Marktplatz, wo der Roland stand, verwechselt werden. Auf dem Gerichtsplatz steht heute das Landestheater (Opernhaus). In dieser Form hielt sich das Burggrafengericht für die Dörfer des Amtes Giebichenstein bzw. des Saalkreises noch bis ins 18. Jh. Der burggräfliche Gerichtsplatz in der Stadt vor dem Roland scheint zu dieser Zeit nur noch für die feierliche Sitzung von Strafgerichten und für Hinrichtungen genutzt worden zu sein.115

III. So sahen die Stadtchronisten Olearius 116 und von Dreyhaupt folgerichtig in der Rolandsfigur ein Symbol der Blutgerichtsbarkeit. Sowohl als Zeitzeugen als auch als Inhaber hoher kirchlicher bzw. städtischer Amter betonten sie die enge Verbindung von Halsgericht und Roland. Daran hielt auch noch die Literatur zu Beginn unseres Jahrhunderts fest. 117 Wenn diese Erklärung für das 17. und 18. Jh. auch durchaus zutreffend ist, so ist sie für Rolands Funktion im Spätmittelalter völlig unzureichend. Hierzu hat sich erst die moderne Rolandforschung geäußert. Rietschel sah in ihm ein „Burggrafenbild" als Symbol der Blutgerichtsbarkeit. 118 Auf Grund der Kleidung handele es sich um ein abstraktes Richterbild. 119 Schließlich will Goerlitz an Habitus und Attributen (insbesondere an der Almosentasche) einen Vornehmen in Pilgertracht erkennen 120 und bringt das Standbild mit dem historischen Burggrafen von Magdeburg Burchard VI. von Querfurt (1210-1246) in Verbindung. 121 Dieser war 1233 zur Unterstützung des Hochmeisters des Deutschen Ordens mit einem Pilgerheer nach Preußen gezogen. 122 So steht Burchard dann auch als erster weltlicher Zeuge in der Kulmer Handfeste von 1233123, dem berühmten Städtegründungsprivileg für Thorn 124 und Kulm

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SHSAD, Loc. 4350 (wie Anm. 89), fol. 100r. Vgl. H. Lück, Supan-Senior-Ältester. Slawische Rudimente in der mittelalterlichen Gerichtsverfassung des Kolonisationsgebietes, in diesem Band. v. Dreyhaupt (wie Anm. 22), S. 505, 507 ff. Olearius (wie Anm. 22), S. 51; v. Dreyhaupt (wie Anm. 22), S. 505, 507 ff. Gathen (wie Anm. 6), S. 102. S. Rietschel, Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Stadtverfassung, Leipzig 1897, S. 226. Rietschel (wie Anm. 118), S. 226. Goerlitz (wie Anm. 19), S. 152. Goerlitz (wie Anm. 19), S. 154 ff. Belege aus der chronikalischen Überlieferung bei Goerlitz (wie Anm. 19), S. 154 ff. B. Koehler, Kulmer Handfeste, in: H R G II (1978), Sp. 1243 ff. A. Erler, Thorn, in: H R G V, 33. Lfg. (1991), Sp. 195 ff.

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nach Magdeburger Recht 125 . Die brillante Argumentation von Goerlitz mündet in der Hypothese, daß der hallische Roland eben jenen Burggrafen Burchard VI. darstelle. Der Schluß vom Äußeren der Figur auf einen Pilger ist jedoch nicht zwingend. 126 Vielmehr scheint Roland die Amtstracht eines Richters zu tragen, was zuerst Türk 127 erkannt und Heldmann 128 vertieft hat. Ein Blick auf die Richterdarstellungen in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, die sämtlich aus der ersten Hälfte des 14. Jh. stammen, läßt das wadenlange, faltige Gewand als Kleidung des Richters erkennen. 129 Nach den neuesten Forschungen von Hüpper verkörpert diese Kleidung nicht das zeitgemäße Kostüm der übrigen Figuren, sondern die bewußte Anlehnung an die althergebrachte Richtertracht, möglicherweise die des 13. Jh. 130 Auch die von Gathen 131 im Anschluß an Goerlitz 132 und Hünicken 133 fortgeführte Hypothese, es handele sich bei dem hallischen Roland um ein Leibzeichen des Burggrafen als Ersatz bei dessen Abwesenheit während des Burggrafengerichts, vermag nicht zu überzeugen. Vor allem spricht dagegen, daß es im Mittelalter nicht üblich war, lebenden, sterblichen Personen derartige Monumentalplastiken zu widmen. 134 Außerdem würde der Umritt des Burggrafen um den Roland als Ehrenerweisung gegenüber einem seiner gleichrangigen Amtsvorgänger hierzu nicht passen. Der neueste Interpretationsversuch von Trusen, Roland sei vor allem der heilige Roland 135 , unterstreicht zwar richtig die Lebendigkeit der Rolandslegende, erklärt aber nicht den Symbolgehalt des hallischen Standbildes. Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß sie den Roland abgekoppelt von den mittelalterlichen Gerichtsverhältnissen der Stadt und des Erzstifts betrachten. Doch war der

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Abgedr. bei G. Kisch, Die Kulmer Handfeste. Text, rechtshistorische und textkritische Untersuchungen nebst Studien zur Kulmer Handfeste, dem Elbinger Privilegium von 1246 und einem Beitrag zur Geschichte des Begriffes „ius teutonicum", „Deutsches Recht" im Deutschordensgebiet (= Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte des Deutschordenslandes 2), Sigmaringen 1978, S. 111 ff.; moderne Edition: K. Zielinska-Melkowska, Przywilej Chelminski 1233 i 1251 (= Teksty pomnikow prawa chelminskiego 1), Torun 1986, S. 34 ff.

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Vgl. auch die neueren Erkenntnisse zu den Pilgertrachten und -attributen bei B. Thier, „godes denest buten lande". Die Pilgerdarstellung des Oldenburger Sachsenspiegels im Lichte archäologischer Hinweise zur Wallfahrt nach Santiago de Compostela, in: Beiträge und Katalog zur Ausstellung Aus dem Leben gegriffen - Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit, hg. von M. Fansa (= Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 10), Oldenburg 1995, S. 351 ff. C. Türk, De statuis Rolandinis, Habilitationsschrift Rostock 1824, S. 24 ff. Heldmann, Rolandsspielfiguren (wie Anm. 18), S. 118 ff. Ζ. B.: Eike von Repgow, Sachsenspiegel, Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift, Berlin 1993 (W), fol. 19r, unterster (5.) Bildstreifen; Vollständige Faksimile-Ausgabe des Oldenburger Sachsenspiegels. Codex picturatus Oldenburgensis CIM1410 der Landesbibliothek Oldenburg, Graz 1995 (O), fol. 32 r , unterster (3.) Bildstreifen; Der Sachsenspiegel. Die Heidelberger Bilderhandschrift Cod. Pal. Germ. 164, Kommentar und Übersetzung von W. Koschorreck, neu eingeleitet von W. Werner, Frankfurt am Main 1989 (H), fol. 14v, alle (1. bis 5.) Bildstreifen; K. v. Amira, Die Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, I Faksimile, Leipzig 1902 (D), fol. 17*, 2. bis 4. Bildstreifen. Vgl. dazu auch R. Schmidt-Wiegand, Robe, in: H R G IV, Sp. 1093.

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D. Hüpper, Kleidung, in: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Aufsätze und Untersuchungen, Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe, hg. von R. Schmidt-Wiegand, Berlin 1993, S. 168. Gathen (wie Anm. 6), S. 105. Goerlitz (wie Anm. 19), S. 154 ff. Hünicken (wie Anm. 32), S. 178 ff. So W. Trusen, Der „heilige" Roland und das Kaiserrecht, in: Festschrift Nikolaus Grass. Zum 70. Geburtstag dargebracht von Fachkollegen und Freunden, hg. von K. Ebert, Innsbruck 1986, S. 401. Trusen, Der „heilige" Roland (wie Anm. 134), S. 395 ff.

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Roland gerade mit diesen, besonders mit dem Burggrafengericht als einem Teil der erzstiftischen Gerichtsverfassung, eng verbunden. Darin könnte der Schlüssel für die Deutung der hallischen Rolandsfigur liegen. Bevor dazu weitere Überlegungen angestellt werden sollen, ist es unumgänglich, zuvor einen Blick auf Ursprung und Uberlieferung der Rolandslegende zu richten. Der Name R O L A N D und das Schwert weisen nach Spanien, wo ein Kriegsgefährte Karls des Großen (768-814) namens Roland 778 im Tal zu Roncevalles im Kampf gegen die Heiden und für den christlichen Glauben fällt. 136 Die Überlieferungsgeschichte beruht maßgeblich auf der Schrift „Historia Karoli Magni et Rolandi", die dem Zeitgenossen Karls des Großen und Erzbischof von Reims Turpin zugeschrieben wurde. In Wirklichkeit stammt sie jedoch aus dem 12. Jh. 137 Darin werden die historisch belegbaren Ereignisse um Karl und Roland beschrieben und wohl auch mit der Phantasie des Autors etwas ausgeschmückt. Neben dem „Pseudo-Turpin" haben vor allem die französische „Chanson de Roland" und das deutsche „Rolandslied des Pfaffen Konrad", beide aus dem 12. Jh., wesentlich zur Tradierung des Stoffes beigetragen. 138 Die Verehrung Rolands als eine Art Volksheiliger tat ein übriges für die Popularität der Figur, worauf Trusen nachdrücklich hingewiesen hat. 139 Kritisch hat man die Frage gestellt, ob die Rolandsfiguren tatsächlich auf die Gestalt des Rolandsliedes zurückgeführt werden können. 140 Ein Blick in die Heidelberger Handschrift des Rolandsliedes des Pfaffen Konrad läßt in ihren Illustrationen Roland mit dem Schwert und im langen Gewand erkennen 141 , wie es zumindest im hallischen Standbild verkörpert ist. Die beiden belgischen Forscher Lejeune und Stiennon konnten durch eine Fülle kunstgeschichtlicher Belege eine kontinuierliche Linie in der Rolandverehrung von der Wende zum 12. Jh. bis zu den Rolandsäulen des späten Mittelalters ziehen. 142 Die Bildzeugnisse belegen nahezu vollständig die einzelnen Szenen des Rolandsliedes. Neuerdings wird davon ausgegangen, daß die Rolandstatuen doch in einer Verbindung mit dem Helden von Roncevalles stehen. 143 Dieses Nachleben Rolands muß im Hochmittelalter mit dem herrschaftlichen Ausbau des Markengebietes östlich der Elbe und Saale einen neuen Akzent erhalten haben. 144 Der Legende nach eroberte Roland mit seinem christlichen Schwert immense Ländereien für den Frankenkaiser. Im Rolandslied zählt er sie im Angesicht des Todes im Dialog mit seinem Schwert Durendal auf, darunter auch das „Sachsenland". 145 Als das Recht der Sachsen im frühen 13. Jh. durch Eike von Repgow im Sachsenspiegel seine schriftliche Fixierung erhält, wird das sächsische Gewohnheitsrecht mit Selbstverständlichkeit auf die

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U. Nonn, Roland, in: Lexikon des Mittelalters (LdMA) VII, 5. Lfg., München, Zürich 1994, Sp. 957; R. Schmidt-Wiegand, Prozeß Ganelons (Geneluns), in: H R G IV, Sp. 18 ff. W. Trusen, Rolandsäulen, in: H R G IV, Sp. 1103. Vgl. dazu auch P. Canisius-Loppnow, Recht und Religion im Rolandslied des Pfaffen Konrad (= Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 22), Frankfun am Main, Bern, New York, Paris 1992, S. 5 ff. Trusen, Der „heilige Roland (wie Anm. 134), S. 397 ff. Vgl. die Übersicht bei Gathen (wie Anm. 6), S. 78. Abb. in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Weifen 1125-1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, Bd. 1: Katalog, hg. von J. Luckhardt u. F. Niehoff, München 1995, S. 61. Lejeune, Stiennon (wie Anm. 29), 2 Bde. Trusen, Der „heilige Roland" (wie Anm. 134), S. 395 f. So etwa schon Goerlitz (wie Anm. 19), S. 241 ff. Das Rolandslied, hg. von R. Besthorn (= Sammlung Dietrich 341), Leipzig 1972, Vers 171 (S. 106 f.).

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Kaiser Konstantin (306-337) und Karl den Großen zurückgeführt. 146 Spätestens seit dem frühen 14. Jh. wurde der Sachsenspiegel als Privileg Karls des Großen für die Sachsen aufgefaßt, 147 was er natürlich nicht gewesen ist.148 Aus seinem Entstehungsraum bei Halle gelangte der Sachsenspiegel u. a. nach Hamburg, wo er das Stadtrecht der wichtigen Hansestadt beeinflußte. Von dortaus wurden einige Bestimmungen des Sachsenspiegels in das Stadtrecht von Bremen übernommen. 149 Auf den angeblichen Ursprung dieses Rechts weist die Umschrift auf dem Schild hin, den der Bremer Roland trägt: „vryheit do ick iu openbar / de karl vnd mennich vorst vorwar desser stede ghegheven hat des danket gode is min radt" 150 . Das „Sächsische Weichbild" 151 , d. h. das Magdeburger Stadtrecht 152 , wird in einem Rechtsbuch aus dem späten 13. Jh. („Buch von der Gerichtsverfassung" 153 ) auf Karl den Großen gegründet. 154 Es ist jenes Recht, das die hallischen Schöffen „auf dem Berge" anwandten. In der Rechtsweisung an die schlesische Stadt Neumarkt von 1235155 wird zum erstenmal auf den Sachsenspiegel Bezug genommen. Das Rechtsbuch war demnach den hallischen Schöffen sehr früh bekannt und damit Kaiser Karl der Große als angeblicher Schöpfer dieses Rechts. Auch das Sächsische Weichbild weist die Rechtsuchenden aus den Marken Lausitz und Meißen sowie aus Böhmen und Polen an die Schöffen zu Halle. 156 Diese Umstände belegen deutlich die exponierte Stellung Halles in der sächsisch-magdeburgischen Rechtsfamilie. Sie könnte eine Erklärung dafür sein, weshalb gerade in Halle der mit Abstand älteste Roland steht. Da es die Rolandstatue sehr wahrscheinlich schon um die Mitte des 13. Jh. gegeben hat, kann sie nur auf den Kaiser hinweisen. 157 Die kaiserliche Herkunft des Rechts ist zudem auch Legitimationsgrund für die hallischen Schöffen, eine Vielzahl von Städten Ost- und Norddeutschlands sowie Osteuropas mit Rechtsmitteilungen 158 zu versorgen. 159 Wenn der Burggraf nach Halle kommt, huldigt er mit einem Umritt nicht seinesgleichen, sondern einer hierarchisch höherstehenden Person. 146

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Sachsenspiegel, Text des Prologs (Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel, hg. von C. Schott, Übertragung des Landrechts von R. Schmidt-Wiegand, Übertragung des Lehenrechts und Nachwort von C. Schott, Zürich 1984, S. 30). Vgl. auch A. Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow (= Rechtsu. Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N . F., H. 42), Paderborn, München, Wien, Zürich 1984, S. 172 f.; W. Trusen, Die Rechtsspiegel und das Kaiserrecht, in: Z R G GA 102 (1985), S. 12 ff. Trusen, Rechtsspiegel (wie Anm. 146), S. 28 f. Vgl. F. Ebel, Sachsenspiegel, in: H R G IV, Sp. 1228 ff. R. Lieberwirth, Die Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels, in: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Aufsätze und Untersuchungen (wie Anm. 130), S. 74. Nach Gathen (wie Anm. 6), S. 13. Zum Begriff vgl. R. Schmidt-Wiegand, Weichbild, in: H R G V, 37. Lfg. (1994), Sp. 1209 ff. G. Buchda, Magdeburger Recht, in: H R G III, Sp. 134 ff. U. D. Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, Bd. 1: Beschreibung der Rechtsbücher, Köln, Wien 1990, S. 47. Weichbildrecht I § 4 (Das saechsische Weichbildrecht. Jus municipale Saxonicum, hg. von A. v. Daniels u. F. v. Gruben, 1. Bd.: Weltchronik und Weichbildrecht in XXXVI Artikeln mit der Glosse, Berlin 1858, Sp. 63). U B H I, N r . 224). Weichbildrecht X § 1 (wie Anm. 154), Sp. 79). Zu demselben Ergebnis gelangt auch D. Munzel-Everling in ihrer Untersuchung Kaiserrecht, Stadtrecht, Rolande. Zur Einwirkung der Rechtsbücher auf die Rechtswirklichkeit. Das Manuskript, das mir die Verfasserin dankenswerterweise überließ, erscheint voraussichtlich 1996 im Tagungsband des Quedlinburger Rolandskolloquiums von 1994. Ihr sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Vgl. D. Werkmüller, Rechtsmitteilung, in: H R G IV, Sp. 313 ff. H. Lück, Die Verbreitung des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts in Osteuropa, in: Beiträge und Katalog zur Ausstellung Aus dem Leben gegriffen - Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit (wie Anm. 126), S. 37 ff.

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Da er selbst in der Gerichtsverfassung mit dem Erzbischof auf einer Stufe steht, kommt nur noch der Kaiser als Adressat dieser Geste in Frage. Als Parallele drängt sich die Gerichtsbarkeit der westfälischen Feme 1 6 0 auf, die unter Berufung auf den König ihre Kompetenz von Westfalen aus auf das gesamte Reich ausdehnte. Symbolisiert die Figur mit dem Schwert das kaiserliche Recht, so liegt die Frage nahe, warum man nicht ein Kaiserstandbild mit den eindeutigen Attributen der Kaiserwürde aufstellte. Die Bevorzugung Rolands liegt möglicherweise im Charakter des Gebietes östlich der Elbe und Saale. Es handelte sich um erobertes Gebiet der heidnischen Slawen, in deren Christianisierung das 968 gegründete Erzbistum Magdeburg seine vornehmliche Aufgabe sah. Zur militärischen Sicherung wurden vom König Markgrafen eingesetzt, denen auch Verwaltung und Rechtsprechung oblagen. 161 Diese Konstellation entspricht genau dem Verhältnis von Kaiser Karl und Roland in der Legende. Denn Roland war nicht nur der Paladin und Kriegsheld des Kaisers, er war auch dessen Markgraf - der Befehlshaber der bretonischen Mark (bei Einhard „Brittannici limitis praefectus"). 162 Dieser Aspekt ist von der bisherigen Forschung kaum beachtet worden. Doch darf gerade dieser Umstand nicht übergangen werden. Vom Kaiser belehnt übte Roland in den hinzugewonnenen Gebieten kraft seines markgräflichen Amtes Herrschaft über die Heiden aus. Auch der Magdeburger Burggraf führte in den Urkunden des 10. bis 12. Jh. häufig den Titel praefectus·, und auch er war ursprünglich nur für Jurisdiktion über die slawische Bevölkerung zuständig. 163 Erst seit dem späten 12. Jh. fand die Bezeichnung burggravius für Burggraf in die Urkundensprache Eingang. 164 In den fränkischen Quellen taucht im Zusammenhang mit Roland erstmals das Konstrukt der späteren Markenverfassung 165 auf. Roland war somit einer der ersten Markgrafen überhaupt. Wie Karl der Große Vorbild für die nachfolgenden Kaiser war, könnte Roland das Idol der späteren Markgrafen geworden sein. Das trifft vor allem auf Karl IV. zu. Er war der erste deutsche Kaiser mit dem Namen Karl seit Karl dem Großen. Während seiner Amtszeit blühte der Kult um den Frankenkaiser. 166 Mit dem Karlskult erfuhr auch die Rolandslegende, die das ganze Mittelalter hindurch lebendig geblieben war, 167 eine Renaissance. 168 Hinzu kommt, daß Karl IV. nicht nur Kaiser war, sondern auch die Mark Brandenburg in seinem Besitz hatte. 169 Markgraf selbst war er nicht, doch übte er die Regentschaft für seine Söhne aus. Fühlte sich der Vater in der Tradition Karls des Großen, so liegt es nahe, die Söhne als die Nachfahren im Amt von Roland aufzufassen. Es ist daher wohl kaum ein Zufall, daß fast alle älteren Rolandsäulen in Karls IV. Regierungszeit erstmals erwähnt, errichtet oder erneuert worden sind. In der Mark Brandenburg haben sich zudem die meisten Rolande erhalten, wenn auch Zufälligkeiten und unterschiedliche Zeithorizonte einkalkuliert werden müssen. Dazu mag auch die schwerpunktmäßige Verlagerung der Hausmachtpolitik Karls IV. in den Nordosten des Reiches beigetragen haben. 1 7 0

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R. Gimbel, Femgerichte, in: H R G I, Sp. 1100 ff. P. Schmid, Mark II (Grenzmark), in: H R G III, Sp. 286 ff.; ders., Markgraf, in: H R G III, Sp. 316 ff. Nonn, Roland (wie Anm. 136), Sp. 957. Claude (wie Anm. 76), S. 245 f. Claude (wie Anm. 76), S. 249. C. Lübke, Mark, -grafschaft, in: LdMA VI (1993), Sp. 300 ff. A. Erler, Karlskult, in: H R G II, Sp. 654 ff. Ν. H. Ott, Roland (in der Überlieferung), in: LdMA VII, 5. Lfg. (1994), Sp. 952 f. Erler, Karlskult (wie Anm. 166), Sp. 655 f. R. Schmidt (wie Anm. 95), S. 203 ff. Seibt (wie Anm. 96), S. 279 ff.

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Es kommt nicht darauf an, ob sich die geschilderten Ereignisse um Roland und Karl im 8. Jh. auch tatsächlich so zugetragen haben. Entscheidend ist, daß die Tradition im Hochund Spätmittelalter lebendig war und unter Karl IV. offenbar eine neue Dimension annahm. Die Anknüpfung an die Persönlichkeit Rolands im Markengebiet war daher noch passender als ein direkter äußerlicher Bezug auf den Kaiser. Das Verbreitungsgebiet der Rolande stimmt weitgehend mit dem Markgengebiet des hohen Mittelalters überein, in dem sächsisch-magdeburgisches Recht galt. Außerhalb des Markengebietes liegen die Rolandstandorte Bremen und Hamburg sowie Elbing und Riga. Jedoch gehörten auch sie zum Einflußgebiet des sächsisch-magdeburgischen Rechts. Für die politische Relevanz dieser Gemeinsamkeit der nördlichen und nordöstlichen Reichsteile unter Karl IV. spricht die Regelung der Goldenen Bulle über das Reichsvikariat, wonach der Herzog von Sachsen als einer der beiden Reichsvikare für die Gebiete zuständig sein soll, „wo das sächsische Recht bewahrt wird". 171 Unter diesem Aspekt scheint allein Ragusa, wo die Rolandsäule als Symbol der Unabhängigkeit von Venedig aufgestellt wurde, einen Sonderfall darzustellen. Berücksichtigt man jedoch, daß die Aufstellung sehr wahrscheinlich auf Veranlassung König Sigismunds (1410-1437), des Sohnes Karls IV., erfolgte, 172 so läßt auch sie sich in die Welle der Karlsverehrung einordnen. Ein weiterer Umstand könnte für Roland als Verkörperung des Markgrafen sprechen. Während alle Herrschaftsträger im Reich ihre Gerichtsgewalt vom König ableiten mußten, besaß der Markgraf seine Gerichtsbarkeit kraft Amtes. 173 In der Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels trägt er regelmäßig die Fahne als Erkennungszeichen. 174 Die Gerichtsbarkeit besitzt er, weil er die Markgrafschaft als Fahnenlehen innehat, nicht weil er das Gericht vom König im Wege der Bannleihe verliehen bekam. Für den letzteren Fall steht in den Bilderhandschriften der beliehene Richter mit dem Schwert. 175 Der Markgraf hat dieses vornehme Herrschaftsrecht jedoch kraft seines Amtes inne, deshalb die Fahne. Mit dieser eindeutigen Kennzeichnung wollte der Illustrator den originären Richter vom beliehenen Richter unterscheidbar machen. Die mittelalterliche Plastik gibt dem Markgrafen dagegen regelmäßig das Schwert in die Hand. Ihr Anliegen war es nicht, die recht komplizierten Gerichtsverfassungsverhältnisse zu erklären, worum der Sachsenspiegel in Text und Bild aber gerade bemüht ist.176 Bei den publikumswirksamen Rolandsfiguren kam es auf das Schwert an. Es ist neben dem männlichen Geschlecht das einzige Gemeinsame, das nahezu alle Rolande auszeichnet. Kein anderes Symbol verkörpert Herrschaft und Recht so allgemein wie das Schwert.177 Dieses kann für den Kaiser, für den Landesherrn, für eine Stadt oder auch für ein Dorf stehen. Letztlich steht das Schwert auch im Mittelpunkt der Rolandslegende und ihrer Überlieferung. 178 Vielleicht wird so gesehen die Vielfalt der Bedeutung und der Standorte der Rolande etwas verständlicher. Die schwertlosen Figuren von Neustadt/Harz (mit erhobener Schwurhand) 179 und Leitmeritz (mit Keule)180 können diese Symbolik kaum entkräften.

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Die Goldene Bulle (wie Anm. 97), S. 56. Mitic (wie Anm. 11), S. 306 ff. 173 Ssp. Ldr. III, 65, 1. 174 W fol. 53, 1. u. 2. Bildstreifen. 175 Η fol. 10v, 1. u. 2. Bildstreifen; W fol. 20 r 2. bis 4. Bildstreifen; Ο fol. 67 r , 2., 3. und 4. Bildstreifen. 176 Vgl. D. Hüpper, Die Bildersprache. Zur Funktion der Illustrationen, in: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Aufsätze und Untersuchungen (wie Anm. 130), S. 143 ff. 177 Vgl. D. Hüpper, Schwert, in: H R G IV, Sp. 1570 ff. 178 W. Trusen, Roland (in der Überlieferung) B. Recht, in: LdMA VII, 5. Lfg. (1994), Sp. 954. 179 Über ihn vgl. Lappin (wie Anm. 4); Abb. bei Popov (wie Anm. 10), S. 127 f. 180 Vgl. dazu Gathen (wie Anm. 6), S. 18; Abb. bei Popov (wie Anm. 10), S. 201. 172

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Schließlich weis: noch ein Detail des hallischen Roland auf eine Verbindung mit dem Markgrafen hin: der Rosenkranz! Im Sachsenspiegel hat der Markgraf (neben dem Burggrafen, Grafen und Lehnsherrn) regelmäßig ein Schapel als Kopfbedeckung. 1 8 1 Dabei handelt es sich um einen Metallreif, der mit Blumen besetzt sein konnte oder gar nur aus Blumen bestand. Vielleicht hatte das hölzerne Standbild von Halle einen ähnlichen Kopfschmuck getragen, mit dem der Bildhauer des 18. Jh. nichts mehr anfangen konnte und diesen in einen Rosenkranz umdeutete. 1 8 2 Freilich ist die Rose auch ein Heiligensymbol das Zeichen des Blutzeugentodes. 1 8 3 Bei anderen Rolanden (Bremen, Halberstadt, Zerbst, Brandenburg, Quedlinburg) befindet es sich auf dem Gürtel. N a h e liegt jedoch auch der rechtliche Symbolgehalt der Rose. 184 In den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels erscheinen sie als Zeichen für das Urteil. 1 8 5 In Halle ließ der Erzbischof von Magdeburg seine Herrschaftsrechte über die Stadt u. a. durch das Gericht des Burggrafen ausüben. Mit den U r k u n d e n von 1263, 1310 und 1335 hatte er sich jedoch fast gänzlich seiner Rechte zugunsten der Stadt begeben. Sein Burggraf hatte an sich keine Gerichtsbarkeit mehr in der Stadt Halle wahrzunehmen. Vor der Stadt jedoch behielt der Erzbischof unstreitig die Jurisdiktionsrechte über die zum Burggrafengericht gehörigen Dörfer. U m in der Stadt jedoch weiterhin Gericht halten und die damit verbundenen Einnahmen erlangen zu können, bedurfte es nun einer besonderen Legitimation. Auf eigene Rechte über die Stadt konnte er sich nicht mehr berufen. Es half nur noch der nachdrückliche Hinweis, daß alle Gerichtsrechte letztlich vom König bzw. vom Reich abgeleitet sind, denen letztlich auch die Stadt Halle unterfällt. Endlich wird 1365 in einer kaiserlichen U r k u n d e festgeschrieben, daß es sich beim Burggrafenamt um ein Reichslehen handelt. Auf nichts anderes dürfte der Umritt des Burggrafen um den Roland hindeuten. Unmittelbar bestätigt wurde dieses Recht den askanischen Kurfürsten von Sachsen, zu gute gekommen ist es mittelbar den Erzbischöfen von Magdeburg. Die Rekurierung auf das Reich ermöglichte ihre weitere Einflußnahme auf die Geschicke der Stadt über die burggräfliche Gerichtsbarkeit. Verwunderlich ist das nicht, denn 1361 hatte der Kaiser seinen Favoriten und Kanzler Dietrich von Portitz (1361-1367) auf den Magdeburger Erzstuhl lanciert. 186 Doch auch diese bedeutsamen Vorgänge lassen den Roland unerwähnt. Erst 1426, fast zwei Jahrhunderte nach seiner mutmaßlichen Aufstellung, wird der Roland aktenkundig. Seit 1432 ist er auch in den Schöffenbüchern präsent 1 8 7 , obwohl diese bereits seit 1266 geführt werden. Das plötzlich gehäufte Auftauchen der Bezeichnung Roland für die seit langem existente Figur kann kein Zufall sein. Der Zeitpunkt macht einen Zusammenhang mit dem Wechsel des Burggrafenamtes von den Askaniern auf die Wettiner im Jahre 1423 unübersehbar. Der Roland erscheint vor diesem Hintergrund als Identifizierungs- und Lokalisierungsmerkmal für das Burggrafen- und Schöffengericht. Die alte Bezeichnung

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Vgl. Η fol. 23 r , 2. Bildstreifen; Ο fol. 83 r , 3. Bildstreifen; W fol. 53 r , 2. Bildstreifen. Vgl. dazu auch Hüpper, Kleidung (wie Anm. 130), S. 177. Vielleicht kann auch das Donnerkraut auf dem Kopf des Brandenburger Rolands (Gathen, wie Anm. 6, S. 12) als verballhorntes Schapel gedeutet werden. A. Erler, Rose, in: H R G IV, Sp. 1141. Der neueste Forschungsstand bei Hüpper, Bildersprache (wie Anm. 176), S. 153. Vgl. aber die Gegenansicht bei Trusen, Der „heilige" Roland (wie Anm. 134), S. 403. Erler, Rose (wie Anm. 183), Sp. 1143. Seibt (wie Anm. 96), S. 282. Die Hallischen Schöffenbücher, Zweiter Theil (1401 bis 1460), bearb. von G. Hertel (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 14), Halle 1887, S. 330, 440.

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„Schultheiß und Schoppen auf dem Berge zu Halle" war offensichtlich nicht mehr eindeutig genug, um das Gericht und seine Dingstätte genau zu bezeichnen. Dieses hat seinen guten Grund, der sich freilich nicht in Halle selbst finden läßt. Der Begriff „Gericht auf dem Berge" bzw. „Richter und Schöffen auf dem Berge" war im wettinischen Sachsen seit langem besetzt. Darunter wurden seit dem 14. Jh. die Berggerichte verstanden, die für die Bergwerksangelegenheiten zuständig waren, 1 8 8 etwa das berühmte Gericht auf dem Schneeberg im Erzgebirge. Mit der Übernahme des Burggrafenamtes in Halle bekamen es die Wettiner mit einem Gericht auf dem Berge zu tun, das jedoch einen völlig anderen Charakter hatte. Hier bezeichnete der Zusatz „Berg" nicht die sachliche Zuständigkeit, sondern ein ganz bestimmtes Gericht und die örtliche Lage seiner Dingstätte. Um Verwechslungen zu vermeiden und um die kursächsische Kanzlei nicht zu irritieren, könnte das hallische Berggericht den Zusatz „vor dem Roland" erhalten haben. Die Figur stand an der Dingstätte ja seit langem. Nach dem Verzicht auf das Burggrafenamt durch den Kurfürsten August von Sachsen (1553-1586) im Jahre 1579 1 8 9 wurde der Titel nach dem Anschluß Halles an Kurbrandenburg 1680 abgeschafft. 1 9 0 Der Roland jedoch blieb. Die Frage, ob das anzuwendende Recht sich vom Kaiser herleitet und ob dieser gerichtsherrliche Rechte über die Stadt ausüben kann, ist im Zuge der Entfaltung des brandenburgisch-preußischen Polizeistaates gegenstandslos geworden. Von nun an sah man den Roland als Mittelpunkt des Platzes, an dem Strafgerichte gehalten und Hinrichtungen vollzogen wurden. Er ist zu einem nicht hinwegzudenkenden Bestandteil des peinlichen Gerichts geworden. Wie stark die Verbindung von Roland zur Blutgerichtsbarkeit gesehen und praktiziert wurde, belegt eindrucksvoll ein Ereignis aus dem Jahre 1718 1 9 1 : Es war gerade jener Zeitpunkt, zu dem die alte Rolandstatue bereits auf dem Bauhof lag, eine neue jedoch noch nicht aufgestellt war. Darauf nahmen freilich die Langfinger im barocken Halle keine Rücksicht. So harrten im Rathaus gerade zwei Diebe ihrer Verurteilung und Hinrichtung. Erstmals nach mehreren Jahrhunderten standen die hallischen Schöffen vor der Frage, ob und wo sie ohne Roland das Strafgericht halten sollten. Mit diesem Problem wandten sich sich sogar an den preußischen König. Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) reskribierte, daß das Strafgericht ohne Roland gehalten werden könne, jedoch an dem Ort, an dem der Roland demnächst stehen würde, also am Schöffenhaus. Bei dieser Gelegenheit dachte man auch darüber nach, wie die Neuaufstellung des Rolands erfolgen könnte. Offenbar erwog man nach Berliner Vorbild, den Roland mit einem ausklappbaren Gitter zu versehen. Dieses hätte dann nach Belieben aufgestellt werden können, um das Publikum bei Hinrichtungen auf Distanz zu halten. Zu einer solchen Anlage ist es in Halle jedoch nicht gekommen. Festzuhalten bleibt, daß der hallische Roland einem dreistufigen Bedeutungswandel unterlag. Wurde er im 13. J h . als Symbol des Kaiserrechts angesehen, so stand er spätestens seit dem frühen 14. J h . für den Kaiser als der höchsten Gerichtsgewalt im Reich. Zudem diente er seit 1426 zur genaueren Bezeichnung von Gericht und Gerichtsstätte. Schließlich verengte sich seine Bedeutung seit dem 17. J h . zu einem Zeichen der Blutgerichtsbarkeit. Das hier gezeichnete Bild kann sich im Großen und Ganzen auf eine gute quellenmäßige Überlieferung stützen, doch bleiben erhebliche Zweifel. Auch den Fragen, ob es sich

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Vgl. dazu F. R. Huffmann, Über die sächsische Berggerichtsbarkeit vom 15. Jh. bis zu ihrem Ende, Weimar 1935; S. Hoyer, Das Herzogtum Sachsen in der Zeit des Frühkapitalismus und der frühbürgerlichen Revolution ( 1 4 8 5 - 1 5 4 7 ) , in: Geschichte Sachsens, hg. von K. Czok, Weimar 1989, S. 174 ff.

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Kretzschmar, Stellung Magdeburgs (wie Anm. 94), S. 173. v. Brünneck (wie Anm. 79), S. 24 ff.

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Stadtarchiv Halle (wie Anm. 57), nicht foliiert.

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bei der Figur vom Eingangsturm zur Unterburg Giebichenstein um einen „Roland" handelt 192 und welche Beziehungen zu den Skulpturen des heiligen Mauritius als dem Schutzpatron des Erzbistums Magdeburg bestehen 193 , muß an anderer Stelle nachgegangen werden.

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Vgl. Popov (wie Anm. 10), S. 162 ff. Popov (wie Anm. 10), S. 151 ff.; W. Braunfels, Roland, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von W. Braunfels, 8. Bd., Rom, Freiburg, Basel, Wien 1976 (Sonderausgabe 1994), Sp. 278 f.

HEINER LÜCK, HALLE

Supan - Senior - Ältester Kontinuität und Wandel in der Gerichtsverfassung des mitteldeutschen Kolonisationsgebiets

Die Verfassung der mitteldeutschen Städte, insbesondere die von Magdeburg und Halle, ist weit in den osteuropäischen Raum übernommen worden. Das Magdeburger Stadtrecht bestimmte in vielen Städten Polens, Litauens und der Ukraine die Rechtsentwicklung bis in die frühe Neuzeit. Mit der Ausbreitung des Magdeburger Rechts ging auch die Rezeption des Sachsenspiegels einher. 1 Die hallischen Schöffen hatten 1235 offenbar mehrere Bestimmungen des Landrechts, eines ursprünglich streng vom Stadtrecht geschiedenen Rechtskreises, auch für das Stadtrecht als nützlich erkannt. 2 Doch ist die Verbreitung des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts in Osteuropa nicht die einzige Beziehung zu den slawischen Gebieten. Die beiden bedeutenden Rechtsquellen selbst sind im deutsch-slawischen Grenzgebiet an Elbe und Saale während des frühen 13. Jh. entstanden. 3 Im Lehnrecht des Sachsenspiegels wird die Saale sogar als Grenze zum slawischen Osten genannt: Hier sollen all jene Königsdienst tun, die in diesem Gebiet ihre Lehen haben (Lehnr. 4, l) 4 . Überhaupt steht der Sachsenspiegel noch ganz unter dem Eindruck des Nebeneinander von Slawen und Sachsen. 5 N o c h spielte beispielsweise die Frage eine Rolle, welche Herkunft ein Kind hat, das von einer slawischen Mutter und einem deutschen Vater abstammt (Ldr. III, 73, 2). Ferner bestanden Unterschiede hinsichtlich der Mitwirkung von Sachsen und Slawen im Gerichtsverfahren und der personellen Zuständigkeit der Gerichte. So wird in Ldr. III, 68, 2 gesagt, daß das unter Königsbann tagende Gericht über jedermann, er sei deutsch oder „wendisch", Urteil finden soll. Bei den Gerichten, die nicht unter Königsbann stehen, dürfen nur Sachsen über Sachsen bzw. Wenden über Wenden Recht sprechen (Ldr. III, 70, 1). Lediglich bei Verbrechern, die bei offener Tat ertappt und durch das Gerüfte vor das Gericht gebracht werden, soll diese Unterscheidung keine Rolle spielen (Ldr. III, 70, 2). Diese Regelungen deuten darauf hin, daß die Slawen im Kolonisationsgebiet eine andere Stellung in bezug auf die Gerichtsverfassung hatten als die deutschen Siedler. Doch auch nachdem die slawische Bevölkerung in die deutschen Gerichts- und Herrschaftsstrukturen integriert war, haben sich slawische Einflüsse, insbesondere in der Gerichtsverfassung auf der unteren Ebene (LandVgl. R. Lieberwirth, Die Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels, in: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Aufsätze und Untersuchungen. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe. Hg. von R. Schmidt-Wiegand, Berlin 1993, S. 63 ff. 2 Urkundenbuch der Stadt Halle, ihrer Stifter und Klöster, Teil I (806-1300), bearbeitet von A. Bierbach, Magdeburg 1930, Nr. 224. ' Zu den Datierungsfragen vgl. R. Lieberwirth, Die Entstehung des Sachsenspiegels und Landesgeschichte, in: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels (wie Anm. 1), S. 43 ff und G. Buchda, Magdeburger Recht, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. Hgg. A. Erler und E. Kaufmann unter philologischer Mitarbeit von R. Schmidt-Wiegand (HRG), Berlin 1971 ff., Bd. III, Sp. 134 ff. 1

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Benutzt wurde die Ausgabe: Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel. Hg. C. Schott, Zürich 1984. Vgl. dazu Lieberwirth, Entstehung (wie Anm. 3), S. 54 ff.

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gerichte), lange erhalten. Das kommt in den Urkunden des Elbe-Saale-Gebietes unzweifelhaft zum Ausdruck. Darin begegnen sich begrifflich wie institutionell kolonisatorische und althergebrachte slawische Elemente der Gerichtsverfassung. Ein solches kann in der Besetzung der Landgerichte mit den „Ältesten", die in der Sprache der Slawen „Supane" hießen, gesehen werden. Während die mittelalterlichen Landgerichte ganz sicher deutsche Einrichtungen sind, in denen der Richter das Urteil von den Beisitzern erfragte, rekrutierte sich die Bank der Urteilsfinder aus ehemals slawischen Dorfvorstehern. 6 Das Phänomen ist für die markmeißnischen Verhältnisse bereits im 19. Jh ausführlich behandelt worden. 7 Über die Ältesten in der Umgebung von Halle hat R. Hünicken 1938 eine wichtige Studie vorgelegt. 8 Die „Saupen" am Rochlitzer Landgericht und im Amt Meißen haben W. C. Pfau 9 und J. Leipoldt 10 ausführlich gewürdigt. In neuerer Zeit haben W. Schlesinger und K. Blaschke die Herrschaftsstrukturen im gesamten Kolonisationsgebiet östlich der Elbe und Saale gewissenhaft nachgezeichnet. 11 Schließlich unterzog M. Hardt die Institution des Supans einer tiefgründigen, europaweiten Untersuchung. 1 2 Bei allen Autoren wird deutlich, daß die Ältesten/ Supane in einer engen Verbindung zur Gerichtsverfassung stehen. Auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse auf dem Gebiet der älteren sächsischen Gerichtsverfassungs-

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So auch K. Blaschke, Geschichte Sachsens im Mittelalter, Berlin 1990, S. 69 f. Zur Institution vgl. P. Malingoudis, Die Institution des Zupans als Problem der frühslavischen Geschichte. Einige Bemerkungen, in: Cyrillomethodianum II, Thessalonique 1972-1973, S. 61 ff.; S. Walter, Suppan und Dorfrichter in der Steiermark. Kontinuitätsprobleme bei Dorfrechtsbräuchen, in: Alpes Orientales V, Ljubljana 1969, S. 267 ff.; R. Büttner, Die Supane der österreichischen Donauländer, in: Archaeologia Austriaca. Beiträge zur Paläanthropologie, Ur- und Frühgeschichte Österreichs, H . 17, Wien 1955, S. 61 ff.; J. Brankack, Studien zur Wirtschaft und Sozialstruktur der Westslawen zwischen Elbe-Saale und Oder aus der Zeit vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, Bautzen 1964, S. 172 ff.; W. Schlesinger, Die Verfassung der Sorben, in: W. Schlesinger, Mitteldeutsche Beiräge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Göttingen 1961, S. 158 ff.; K. Bischoff, Sprache und Geschichte an der mittleren Elbe und der unteren Saale (= Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 52), Köln/Graz 1967, S. 85 ff. Zur Etymologie vgl. E. Eichler, Etymologisches Wörterbuch der slawischen Elemente im Ostmitteldeutschen, Bautzen 1965, S. 113 ff.

H . Knothe, Die verschiedenen Klassen slawischer Höriger in den wettinischen Landen während der Zeit vom 11. bis zum 14. Jahrhundert, in: NASG 4 (1883), S. 1 ff.; E. O . Schulze, Die Kolonisierung und Germanisierung der Gebiete zwischen Saale und Elbe, Leipzig 1896. 8 R. Hünicken, Die Eidesten, in: Thüringisch-sächsische Zschr. f. Geschichte und Kunst XXVI (1938), S. 46 ff. ' W. C. Pfau, Die Gemeinde der Rochlitzer Saupen. Sonderabdruck aus dem „Rochlitzer Tageblatt", Dezember 1935, Rochlitz o.J.; ders., Die Saupen vom alten Rochlitzer Landgericht. Sonderabdruck aus dem „Rochlitzer Tageblatt", 1900, N r . 36 ff., Rochlitz o.J. 10 J. Leipoldt, Wesen und Wandlungen der Saupenverfassung im Amte Meißen, in: Von Land und Kultur. Festschrift zum 70. Geburtstag Rudolf Kötzschkes, Leipzig 1937, S. 140 ff. 11 W. Schlesinger, Zur Gerichtsverfassung des Markengebiets östlich der Saale im Zeitalter der deutschen Ostsiedlung, in: W. Schlesinger, Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Göttingen 1961, S. 48 ff.; ders., Die Verfassung der Sorben, in: ebenda, S. 7 ff.; ders., Bäuerliche Gemeindebildung in den mittelelbischen Landen im Zeitalter der mittelalterlichen deutschen Ostbewegung, in: ebenda, S. 212 ff.; Blaschke, Geschichte (wie Anm. 6), S. 43 ff. Vgl. auch C. Higounet, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, München 1986, S. 108 ff. 12 M. Hardt, Der Supan. Ein Forschungsbericht, in: Zschr. f. Ostforschung 39 (1990), S. 161 ff.; ders., Supan, in: H R G V, Sp. 84 ff. Auch der Jubilar wies auf „die Kontinuität der Supan-Verfassung im wettinischen Sachsen bis ins 16. Jh." hin (G. Mühlpfordt in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 5, 1957, Heft 1, S. 132).

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geschichte 13 soll im folgenden versucht werden, Vorkommen und Funktion der Ältesten/ Supane im Elbe-Saale-Raum und in den östlich angrenzenden markmeißnischen Gebieten näher zu bestimmen. Für die in den Dörfern und Städten des Kolonisationsgebietes lebende Bevölkerung waren Landgerichte zuständig, welche wohl im 12. Jh. eingerichtet worden sind. Sie treten damit zunächst neben die alten placita provincialia}*, um sie um die Mitte des 13. Jh. endgültig zu verdrängen. Die in dieser Zeit ausgebildeten Grundlagen der Gerichtsverfassung waren insbesondere für die späteren territorialstaatlichen Gerichte der unteren Ebene lange Zeit bestimmend. Vom Kernraum der Wettiner an der Saale um Wettin und den Petersberg wurden diese Grundlagen in das markmeißnische Gebiet weitergetragen. Doch finden sich diese Verhältnisse auch vereinzelt westlich der Saale, was mit der Ausdehnung des wettinischen Herrschaftsbereiches nach Westen erklärbar ist. Als Wurzel dieser Landgerichte werden im allgemeinen die Burggrafengerichte und die Burgwardorganisation im Kolonisationsgebiet angesehen, die teilweise auf den slawischen Burganlagen aufbauten. 15 Die ursprünglich königlichen Burggrafen wurden in ihrer richterlichen Funktion allmählich von den sich als Landesherren etablierenden Markgrafen von Meißen verdrängt. 16 Bereits im 12. Jh. begann die Untergliederung des markgräflichen Herrschaftsbereiches in Landgerichtsbezirke, wobei sowohl an die Burggrafschaften als auch an solche Burgwarde angeknüpft wurde, die niemals in einer Beziehung zu einem Burggrafen gestanden haben. 17 Die Entwicklung Schloß die Vereinigung mehrerer Burgwarde zu einem Landgerichtsbezirk und die Orientierung an bereits bestehenden Herrschaftsgebieten des Landesherren ein. 18 Die Landgerichte wurden bereits nach landesherrschaftlichen Gesichtspunkten eingerichtet. Traten die alten Landdinge nur an wenigen bestimmten Orten der Mark Meißen zusammen, so wurde das Markengebiet nun von einem Netz von Landgerichten mit erheblich kleineren Sprengein und mit mindestens jährlichem Sitzungsturnus überzogen. Zu den relativ wenigen Gerichtsstätten desplacitum provinciate, die in der Regel den Vorsitz des Markgrafen noch ermöglichten, trat eine Vielzahl von Landgerichten, denen nur der jeweilige örtliche Vogt als beauftragter Richter des Markgrafen Vorsitzen konnte. Die Vögte als Lokalbeamte übernahmen so die landesherrliche Gerichtsbarkeit in ihren jeweiligen Amtssprengeln. Ihr Amtssitz war in der Regel der Ort, an dem das Landgericht gehalten wurde. Als Territorialeinheiten erscheinen spätestens seit dem 15. Jh. die Bezeichnungen Vogtei, Landgericht, Gericht und Pflege synonym, bis sie schließlich im 16. Jh. von der administrativen Einteilung „Amt" verdrängt wurden. 19

" H. Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung von 1423 bis zur Mitte des 16. Jh. unter besonderer Berücksichtigung der landesherrlichen Gerichtsorganisation, Jur. Diss. Β (-= Habil.-schr.), Halle 1988 (Ms.). 14 15

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Vgl. dazu Blaschke, Geschichte (wie Anm. 6), S. 158 f. Schlesinger, Gerichtsverfassung (wie Anm. 11), S. 92 ff.; H. Heibig, Der wettinische Ständestaat - Untersuchungen zur Geschichte des Ständewesens und der landständischen Verfassung in Mitteldeutschland bis 1485 (= Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 4), Münster/Köln 1955, S. 204 ff.; Blaschke, Geschichte (wie Anm. 6), S. 59. Vgl. dazu im einzelnen Blaschke, Geschichte (wie Anm. 6), S. 153 ff. Schlesinger, Gerichtsverfassung (wie Anm. 11), S. 97 ff. K. Blaschke, Die Ausbreitung des Staates in Sachsen und der Ausbau seiner räumlichen Verwaltungsbezirke, in: BllfdLG 91 (1954), S. 76 ff. Blaschke, Ausbreitung (wie Anm. 18), S. 74 ff.

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Die Verfassung der Landgerichte war maßgeblich vom Zusammenleben deutscher Kolonisten und slawischer Bevölkerung geprägt. In einer 1181 auf dem Petersberg bei Halle (Lauterberg, mons serenus) ausgestellten Urkunde 2 0 wird ein Grundprinzip deutlich, das jahrhundertelang Gültigkeit besaß. Die slawische Bevölkerung erscheint hier in einer dreistufigen sozialen Differenzierung, die auch in anderen Gebieten feststellbar ist. 21 Die sozial am besten gestellten „Altesten", welche die Slawen selbst „Supane" nannten, waren mit bestimmten gerichtlichen Aufgaben betraut. 22 Von ihnen wurden unterschieden die „Withasii" und die „Smurden". Die ersteren hatten Roßdienste zu verrichten und waren ebenfalls landgerichtspflichtig. 23 Die letztere Gruppe der Smurden verfügte nicht über Ackerbesitz und hatte eine minderfreie Rechtsstellung. 24 Sie waren vom Besuch des Landgerichts ausgeschlossen, sofern sie nicht selbst dort verklagt wurden oder Rechtssachen über Blutvergießen und dringende militärische Aufgaben beraten werden mußten. 2 5 Die Altesten hatten jedoch an jeder Landgerichtssitzung teilzunehmen und mußten anschließend die Verlautbarungen des Gerichts, d. h. der Herrschaft, in ihren Dörfern bekanntmachen. Die im Elbe-Saale-Gebiet noch zahlreich vorhandenen „Bauern-, Dorf-, Schenk- oder Verkündsteine" bezeichnen möglicherweise den jeweiligen dörflichen Versammlungsplatz, an dem u. a. diese Bekanntmachungen erfolgten. 26 Seit dem 13. Jh. begegnen die Ältesten auch als Urteilsfinder. Als 1276 der Graf von Brehna auf seine Gerichtsrechte in fünf Dörfern um Gimritz-Raunitz zugunsten der Merseburger Propstei verzichtete, bedang er sich aus, daß die drei Altesten dieser Dörfer weiterhin in seinem Landgericht Wettin Urteile sprechen sollten. 27 W. Schlesinger plädiert dafür, diese Ältestenfunktion schon ein Jahrhundert früher anzusetzen, doch fehlt dafür jeder Anhaltspunkt. 2 8 Die Urkunde von 1276 weist bereits darauf hin, daß nicht jedes Dorf einen Ältesten hatte. Vielmehr war jeweils einer für mehrere, wohl benachbarte Dörfer zuständig. 29 Als Vergünstigung für ihre gerichtsbezogene Tätigkeit

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Codex diplomaticus Saxoniae (regiae), I. Hauptteil (Reihe A), Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen. Hg. O. Posse, Leipzig 1882 ff. ( - CDS), Bd. 2, Nr. 446. ' Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch. Neubearbeitung. Hg. J. Herrmann, Berlin 1985, S. 371 f. 22 ,jeniores villarum, quos lingua sua supanos vocant" (CDS I, 2, Nr. 446, S. 309). 23 „et in equis servientes, id est withasii, ad comprovinciale ius, quod lantdinc dicitur, veniant" (ebenda). 24 Die Slawen in Deutschland (wie Anm. 21), S. 372. ,^murdi, qui cottidiano servicio imperata faciunt, et hi, qui censuales ecclesie vel proprii sunt, apud se domi maneant, nisi publico clamore, id est wafen heiz, venire cogantur vel pro sanguinis effusione vel alicuius querimonie impeticione" (CDS I, 2, Nr. 446, S. 309). 26 Vgl. dazu W. Fieber/R. Schmitt, Zum Stand der Inventarisation rechtsarchäologischer Denkmäler in Sachsen-Anhalt, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde. Hg. L. Carlen, Bd. 13, (1991), S. 70, 78 ff.; W. C. Pfau, Ueber alte Dorfsteine in Westsachsen, in: Unsere Heimat. Illustrierte Monatsschrift für die obersächsischen Lande 5 (1905/06), S. 191 ff. 27 „Tres tarnen seniores dictarum villarum ad iudicium suum in Wicin ibunt ter in anno et iudici sua dictabunt sententias sine vara" (Codex diplomaticus Anhaltinus. Hg. O. v. Heinemann, Dessau 1867 ff., Bd. II, Nr. 482, S. 348). 28 Schlesinger, Gerichtsverfassung (wie Anm. 11), S. 93. 29 Vgl. Hünicken, Eidesten (wie Anm. 8), S. 47. 2

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besaßen die Ältesten zusätzlich zu ihren ein bis vier Hufen 3 0 ein abgabenfreies Gut, das „eldestgud" 3 1 , „Eldistum" 3 2 oder die „Eidisthufe" 3 3 . Diese Ältestenverfassung war ursprünglich auf die ehemals slawischen Dörfer des Kolonisationsgebietes beschränkt. Im Altsiedeiland und in den deutschen Kolonistendörfern wurde die Gerichtsverfassung nach anderen Gesichtspunkten gestaltet. 34 Gelegentlich wird betont, daß eine neue Siedlung nicht eines Ältesten bedürfe. So wird ζ. B. im Jahre 1207 von dem Markgrafen Konrad von der Ostmark dem kurz vorher angelegten Nauendorf am Petersberg das Recht verbrieft, nicht zum Landgericht gehen zu müssen. Folgerichtig brauche es auch keinen Ältesten. 35 Nachdem die slawische Bevölkerung von der deutschen assimiliert worden war, blieb die Beziehung der Dorfvorsteher bzw. Gemeindeoberhäupter zum Landgericht erhalten und wurde in ähnlicher Form auch in deutsche Dörfer übernommen. Seit wann die Ältesten/Supane bzw. Dorfvorsteher die Rügepflicht vor Gericht, d. h. das Vorbringen der in ihren Dörfern vorgefallenen Rechtsverletzungen, wahrnahmen, ist nach wie vor unklar. W. Schlesinger vermutet, daß sie „in die mittelalterliche Zeit" zurückreiche 3 6 , kann diese Annahme jedoch nur auf einen von ihm selbst als fragwürdig erkannten Beleg aus dem Jahre 1360 und die Ausführungen von J. C. v. Dreyhaupt 3 7 über das Landgericht Wettin aus dem 18. Jh. (!) stützen. Neben der Besetzung der Landgerichte mit den Ältesten ist die Rügepflicht der Ortsvorsteher vor dem Landgericht, die der des Bauermeisters im Sachsenspiegel entspricht 38 , ein weiteres wichtiges Grundprinzip der Gerichtsverfassung im Markengebiet. Ähnliches gilt für die Gastungspflicht des Ortsvorstehers oder der ganzen Gemeinde gegenüber dem Gerichtshalter und seiner Begleitung 3 9 sowie für die Drittelung der Gerichtsgefälle, von denen in der Regel zwei Drittel der Gerichtsherr und ein Drittel der tatsächlich handelnde Richter erhielt. Beide Grundsätze reichen ebenfalls weit in das Mittelalter zurück. 4 0 Im 16. Jh. sind die Landgerichte feste Bestandteile der Ämterverfassung. 4 1 Als solche erscheinen sie in den Amtserbbüchern, Gerichtsbüchern und anderen Quellen. Besonders lange erhielt sich die Ältestenverfassung in den Gebieten um Halle, Meißen

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Die Slawen in Deutschland (wie Anm. 21), S. 371. Die ältesten Lehnbücher der Magdeburger Erzbischöfe. Hg. G. Hertel (=• Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und der angrenzenden Gebiete, Bd. 16), Halle 1883, S. 298. Das Lehnbuch Friedrichs des Strengen, Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 1349/50. Hgg. W. Lippert und H. Beschorner (= Schriften der Königl. Sächsischen Kommission für Geschichte, Bd. 8), Leipzig 1903, S. 106, 153. E. Neuß, Wüstungskunde des Saalkreises und der Stadt Halle, Weimar 1969, S. 239. Schlesinger, Gerichtsverfassung (wie Anm. 11), S. 95 f. „Preterea seniorem höhere non debent, ne eius occasione ad provinciate placitum compellantur" (CDS I, 3, Nr. 110, S. 90). Schlesinger, Gerichtsverfassung (wie Anm. 11), S. 106. J. C. v. Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici Oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des . . . Saal-Creyses, Bd. II, Halle 1755, S. 798. Ssp. Ldr. I, 2, 4. Hünicken, Eidesten (wie Anm. 8), S. 47. Schlesinger, Gerichtsverfassung (wie Anm. 11), S. 96 f. Vgl. im einzelnen Blaschke, Ausbreitung (wie Anm. 18), S. 75 ff.; ders., Zur Behördenkunde der kursächsischen Lokalverwaltung, in: Archivar und Historiker. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner,

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und Rochlitz. 4 2 Bezeichnend dafür ist das Burggrafengericht in Halle. Es wurde jahrhundertelang mit sieben Ältesten als Urteilsfinder besetzt. Im Amt Meißen ist die alte Einteilung in „Supanien" noch im 16. J h . erkennbar. Eine noch augenfälligere Parallele bietet die ebenfalls noch in dieser Zeit übliche Besetzung des Landgerichts zu Rochlitz mit den „Saupen", wozu der Besitz eines „Saupengutes" verpflichtete. Diese Gerichte sollen im folgenden näher vorgestellt werden. Das Burggrafengericht zu Halle war das erzbischöfliche Gericht, das der Burggraf für den Erzbischof ausübte. 43 Die Funktion des Burggrafen hatten nach denen von Querfurt und den Askaniern von 1423 bis 1579 die Wettiner, d . h . die Kurfürsten von Sachsen, inne. 4 4 Die Altesten aus verschiedenen Dörfern in der näheren Umgebung der Stadt Halle hatten die Urteilerbank des erzbischöflichen Burggrafengerichtes zu besetzen. Das Gericht wurde sowohl innerhalb der Stadt Halle als auch vor ihren Mauern gehalten. In der Stadt sollte es an den Tagen St. Udalrici (4. Juli), St. Clementis (23. November) und Scholasticae (10. Februar) stattfinden. Jeweils vierzehn Tage vorher sollte es durch den Fronboten der Stadt Halle verkündigt, d. h. bekanntgemacht werden. Im 15. Jh. wurden die Schöffen offenbar vom Burggrafen vorher angeschrieben. 4 5 Das Gericht war mit dem Burggrafen als Vorsitzenden und einer Anzahl von Schöffen besetzt. Die Schöffen wurden vom Rat der Stadt Halle gewählt und vom Burggrafen zum nächsten Gerichtstermin in ihr Amt eingeführt. Sie waren verpflichtet, bei Gericht zu erscheinen und die Urteile zu finden. Ihr Amt übten sie auf Lebenszeit aus. Starb ein Schöffe, mußte einer vom Rat nachgewählt werden, den der Burggraf anschließend als Schöffe in das Gericht aufnahm. Zum Personal des Gerichts gehörten ferner der Schultheiß 4 6 und der Fronbote 4 7 . Der Schultheiß war der Rangfolge nach der erste unter den Schöffen und hatte dem Burggrafen bestimmte Hilfsdienste zu leisten. D e r Fronbote war der Gerichtsdiener, der die Dingtage vorher ankündigte, aber auch für die Vollstreckung der ausgesprochenen Bußen zu sorgen hatte. Die Gerichtssitzungen begannen mit der Ankunft des Burggrafen auf der Dingstätte. Ausdrücklich festgeschrieben war der Brauch, daß der Burggraf zwischen die Gerichtsbänke reiten und nicht gehen sollte. Auch den Roland sollte er umreiten. 4 8 Beim Absitzen des Burggrafen mußte der Schultheiß das Pferd am Zaum halten und anschließend dem Knecht des Burggrafen übergeben. Tat er das nicht, mußte er eine Buße von 10 Pfund Silber

Berlin (1956), S. 343 ff.; C. Bornhak, Die Entwicklung der sächsischen Amtsverfassung im Vergleich mit der brandenburgischen Kreisverfassung, in: Preußische Jahrbücher 56 (1885), S. 125 ff.; Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hgg. K. G. A. Jeserich, H. Pohl, G.-C. v. Unruh, Bd. I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 828 ff.; R. Schmidt, Die kursächsischen Ämter im Bereiche des unteren Muldetals von der Mitte des 16. bis zum Anfang des 18. Jh., Meißen 1913. 42 43

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Dreyhaupt II (wie Anm. 37), S. 798, 850; Blaschke, Geschichte (wie Anm. 6), S. 257. Vgl. dazu R. Hünicken, Geschichte der Stadt Halle, I. Teil: Halle in deutscher Kaiserzeit. Ursprung und Entfaltung einer mitteldeutschen Stadt, Halle 1941, S. 141 ff. und W. v. Brünneck, Das Burggrafenamt und Schultheißentum in Magdeburg und Halle sowie die Umbildung dieser Ämter durch das magdeburgschlesische und kulmisch-preußische Recht, Berlin 1908, S. 24 ff. Vgl. H. Kretzschmar, Die Stellung Magdeburgs in der sächsischen Geschichte, in: Meißnisch-thüringische Forschungen. Zur Jahrtausendfeier der Mark Meißen und des Sächsischen Staates. Hg. W. Lippert, Dresden 1929, S. 152 ff.; Codex diplomaticus Saxoniae (regiae), I. Hauptteil (Reihe B), Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen. Hg. H. Ermisch, Dresden/Leipzig 1899 ff., Bd. 4, Nr. 470, 471. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHSAD), Cop. 15, Bl. 33 r . A. Erler/M. Neiden, Schultheiß, Schulze, in: H R G IV, Sp. 1519 ff. G. Buchda, Fronbote, in: H R G I, Sp. 1304 ff. SHSAD, Cop. 15, Bl. 33 v .

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erlegen. Nachdem sich der Burggraf auf die Bank niedergesetzt hatte, wurde das Burggrafengericht wie jedes andere Gericht gehegt, d. h. durch einen feierlichen Dialog zwischen Richter (Burggraf) und Schöffen eröffnet. Dieser bestand aus Fragen und Antworten zur Anwesenheit der Schöffen, zur üblichen Gerichtszeit und in der Mahnung, Recht zu finden. Der Schultheiß erfragte bei der anwesenden Gerichtsgemeinde die Rechte, die dem Burggrafen aus dem Gericht zustehen. Dazu gehörte die Bestätigung des Burggrafen als Richter, der damit verbundenen Einkünfte, der ihm zustehenden Dienste u.a. Diese mündliche Feststellung der burggräflichen Rechte und der Obliegenheiten der Gerichtsgemeinde sind typische Elemente der ungeschriebenen Gerichtsverfassung und Rechtsordnung. Wie in allen dörflichen Gerichtsgemeinden wurden diese Regelungen jährlich mindestens einmal am Gerichtstag den Anwesenden ins Gedächtnis gerufen, indem sie förmlich erfragt oder später verlesen wurden. 49 Das Erfragen von „Gebot und Verbot" oblag hier dem Schultheißen. Diesem einleitenden Teil folgte das Vorbringen der Rechtsverletzungen durch die anwesenden Gerichtsgenossen, über welche die entsprechenden Sanktionen verhängt wurden. Personell zuständig war das Gericht ursprünglich für die Bürger der Stadt. Nachdem sich die Stadtgemeinde 1263 weitgehend von der Jurisdiktion der erzbischöflichen Amtsträger befreien konnte, 50 unterlagen nur noch Ritter, Knechte und Lehnleute des Erzbischofs der Kompetenz des Burggrafengerichts. Das betraf alle Personen, die Lehen vom Erzbischof trugen. 51 Sie waren verpflichtet, an den Gerichtstagen vor dem Gericht zu erscheinen. Blieben sie ohne triftigen Grund fern, hatten sie eine Buße von einem Pfund Silber zu leisten. Für seine richterliche Tätigkeit erhielt der Burggraf in Halle 5 Mark Silber. Etwas anders war das Burggrafengericht vor der Stadt organisiert. Es sollte jeweils am Tage nach dem Gericht in der Stadt stattfinden, also am 5. Juli, 24. November und 11. Februar. Der Fronbote des Landgerichts Bitterfeld sollte den Dörfern das Burggrafending vorher verkündigen. 52 Auch hier kam dem Burggrafen der Vorsitz zu, doch konnte er sich in diesem Gericht vertreten lassen. Schon das Halle-Neumarkter Recht von 1235 unterscheidet zwischen den Burggrafengerichten in der Stadt, welche die Präsenz des Burggrafen erforderten, und solchen außerhalb der Mauern, die er durch einen Vertreter halten lassen konnte. 53 Anstelle des Burggrafen trat daher häufig der Vogt von Giebichenstein auf. Er war der erzbischöfliche Lokalbeamte für die Dörfer der größten Vogtei im südlichen Stiftsterritorium (Giebichenstein). Die Urteilerbank war nicht mit gewählten Schöffen besetzt, sondern mit den sogenannten Altesten (Eldisten) aus sieben Dörfern des Amtes Giebichenstein. Im Gegensatz zu den gewählten städtischen Schöffen war die Beisitzerfunktion im Burggrafengericht außerhalb der Stadt an den Besitz eines bestimmten Grundstücks gebunden (Eldestum, Eidesthufe, Eldesthoff u.ä.). Der jeweilige Besitzer eines solchen Grundstücks war verpflichtet, als Urteilsfinder im burggräflichen Gericht zu fungieren. So lagen die Herkunftsorte der Altesten für Jahrhunderte fest. Dingpflichtig waren die Bauern aus ca. 70 Dörfern bzw. Wüstungen in der näheren Umgebung von Halle. Sie alle gehörten zum späteren Amt Giebichenstein. Die überlieferten Aufzählungen der zum Burggrafengericht gehörigen Ortschaften 54 beginnen regelmä-

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Vgl auch H. Lück, Verlesen von Rechtssatzungen, in: H R G V, Sp. 760 f. E. Neuß, Halle, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. XI: Provinz Sachsen Anhalt. Hg. B. Schwineköper, 2. Aufl., Stuttgart 1985, S. 180. SHSAD, Loc. 4350, Klöster und Stifter, Erzstift Magdeburg, Kapsel III, Bl. 100r. SHSAD, Cop. 15, Bl. 33r. UB Halle I (wie Anm. 2), Nr. 224 u. 353. SHSAD, Cop. 15, Bl. 33v; Loc. 4350 (wie Anm. 51, Bl. 99 r ff.); Dreyhaupt II (wie Anm. 37), S. 850.

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ßig mit der Nennung der sieben Ältesten-Dörfer: Hohen, Spickendorf, Hondorf 5 5 , Beesen, Dieskau, Wörmlitz und Bennewitz. Dann folgen die Dörfer, die zum Burggrafengericht gehen müssen: Giebichenstein, Trotha, Deckritz 5 6 , Rodenitz 57 , Brachwitz, Morl, Sennewitz, LehndorP 8 , Löbnitz 5 9 , Räthern, Pranitz 60 , Oppin, Ober- und Untermaschwitz, Mötzlich, Hordorf 6 1 , Diemitz, Westendorf 62 , Nauendorf, Grinzena 63 , Wernsdorf 64 , Friedersdorf 65 , Dammendorf, Gödewitz bei Dammendorf 6 6 , Steffendorf 67 , Schwerz 68 , Kleinoder Großkugel, Nimzena 6 9 , Radewell, Ammendorf, Malteritz 70 , Benndorf, Osendorf, Pronich 7 1 , Prauenz 72 , Basena 73 , Kanena, Glaucha, Wörmlitz, Böllberg, Seeben, Gutenberg, Hardingesdorf 74 , Westendorf 75 , Göttlitz 7 6 , Neumarkt vor Halle, Kerstitz (Kröllwitz?), Beidersee, PoppendorP 7 , Werldnisdorf 78 , Oppin-Inwenden, Schwoitsch?, Opperschöna 7 9 , Zwintschöna, Burg Radewell, Möderau, Gruptitz 8 0 und Pristawelch 81 . Das förmliche Verfahren war den in der Stadt geübten Gepflogenheiten sehr ähnlich. Das Gericht wurde zunächst gehegt. Danach wurden die Rechte des Burggrafen festgestellt. Diese Rolle übernahm hier der Vogt von Giebichenstein. Er forderte die Anwesenden auch auf, die vorgefallenen Rechtsverletzungen vorzutragen: „Ihr sollt melden die lute und die bösen Lute, die dem Lande und euch selben uneben kommen, die gebet in die Achte und meldet was ihr zu rechte melden s u i t . . . " 8 2 . Der Vogt übernahm in diesem Gericht auch die Rolle des Fronboten. Er war demzufolge auch für die Vollstreckung der verhängten Bußen zuständig. Dem Burggrafen hatte er die 5 Mark Silber auszuhändigen, die diesem für das Gericht und Ding vor Halle zustanden. Außerdem erhielt der Burggraf ein

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Entweder Wüstung bei Krosigk (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 106 ff.) oder bei Rothenburg (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 109 f.). Wüstung bei Sennewitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 31 ff.). Wüstung bei Krosigk (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 262 ff.). Ortsteil von Teicha. Ortsteil von Teicha. Ortsteil von Oppin. Wüstung bei Mötzlich (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 110 ff.). Wüstung bei Niemberg (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 327 ff.). Wüstung bei Niemberg (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 91 ff.). Wüstung bei Dammendorf (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 324 ff.). Wüstung bei Dammendorf (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 63 ff.). E. Eichler, Slawische Ortsnamen zwischen Saale und Neiße. Ein Kompendium, Bd. 1: A-J, 2. Aufl., Bautzen 1987, S. 146. Wüstung unbekannter Lage (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 300). Wüstung bei Brachwitz, Vorgängersiedlung von Friedrichsschwerz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 289 ff.). Wüstung bei Halle (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 193 ff.). Wüstung im Süden von Halle (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 164 ff). Nicht lokalisierbar. Nicht lokalisierbar. Wüstung bei Drehlitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 8 ff.). Nicht lokalisierbar. Wüstung entweder bei Niemberg (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 327 ff.) oder bei Brachstedt (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 330 ff.). Wüstung bei Spickendorf (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 80 ff.). Wüstung bei Naundorf (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 220 ff.). Nicht lokalisierbar. Wüstung bei Niemberg? (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 202 ff.). Wüstung bei Stichelsdorf? (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 97 ff.). Nicht lokalisierbar. SHSAD, Loc. 4350 (wie Anm. 51), Bl. 110 r .

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Drittel der vereinnahmten Gelder. Die anderen zwei Drittel gingen an den Erzbischof als Gerichtsherrn. Diese Drittelung der Gerichtsgefälle ist fränkischen Ursprungs und ein typisches Merkmal für die mittelalterliche deutsche Gerichtsverfassung. Das Gericht außerhalb der Stadt hielt sich, von einigen unerheblichen Veränderungen abgesehen, in dieser Form noch bis in das 18. Jh. N o c h in dieser späten Zeit besetzten die sieben Ältesten aus den genannten Dörfern die Urteilerbank. Den Vorsitz führte jedoch der jeweilige Amtmann von Giebichenstein. Erst in der vorübergehenden Einführung einer Gerichtsverfassung nach französischem Vorbild (1807-1815) fand das Gericht sein Ende. Die Dingstätte des Burggrafengerichts vor der Stadt lag „uf dem Berge". Damit ist der Platz gemeint, auf dem heute das Opernhaus steht (Petersberg). Auch hier befand sich die Gerichtsstätte in unmittelbarer Nähe eines Sakralbaus, der St. Petri Kapelle. N o c h 1836/37 soll dort ein großer Granitblock als Gerichtsstein gelegen haben. 83 Als Folge der permanenten Vertretungen des Burggrafen durch die Vögte und späteren Amtleute des Amtes Giebichenstein soll die Gerichtsstätte später an die Saalebrücke unterhalb der Burg Giebichenstein verlegt worden sein. G a n z ähnliche Verhältnisse bestanden im Burgamt Wettin. 84 Es handelt sich um die Güter der Grafen von Brehna, die diese 1288 an das Erzstift Magdeburg „cum Ulis qui vocantur Eidesten" verkauften. 8 5 Die Erzbischöfe veräußerten sie anteilig 1446 an die Herren von Ammendorf und die H e r r e n Aus dem Winkel, die zunächst gemeinsam auf der Burg Wettin residierten. Nach Dreyhaupt (1755) gab es vier Landgerichtsschöppen,"so in alten Zeiten Eltesten genennet worden." 8 6 Sie reichen jedoch ganz sicher auf das 15. Jh. zurück. 8 7 Eine Kontinuität zu den Ältesten von Gimritz-Raunitz, die 1276 als Urteilsfinder im Landgericht Wettin genannt werden, ist jedoch nicht nachweisbar. Die Landgerichte fanden in Wettin auf dem Markte statt. 88 Die Termine lagen jeweils dienstags nach Trium Regum (6. Januar), Petri Stuhlfeier (22. Februar), Quasimodogeneti (1. Sonntag nach Ostern), Trinitatis (Sonntag nach Pfingsten), Kiliani (8. Juli), Bartholomei (24. August), Galli (16. O k t o b e r ) und Elisabethae (19. November). N e b e n dem Landrichter gehörten dazu 17 Landschöffen, von denen jeder ein bis zwei Eidistgüter besaß. Man traf sich auf der Gerichtsstätte „unter freyem H i m m e l " . Die Entscheidungen fanden die Schöffen barhäuptig, stehend mit einem Federspieß in der H a n d und einer „Wehr" (= Waffe) an der Seite. 8 ' Die Schöffen m u ß t e n alle ihnen zu O h r e n gekommenen Rechtsverletzungen rügen (vorbringen). Jeder von ihnen war f ü r eine bestimmte G e m a r k u n g zuständig, die (seit 1446) entweder denen von A m m e n d o r f oder denen Aus dem Winkel gehörte. Diese Marken lagen in Prelkendorf 9 0 , Ubis 9 1 ,

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S. Schultze-Gallera, Topographie der Häuser- und Strassen-Geschichte der Stadt Halle a. d. Saale . . . , Bd. III.2, Halle 1923, S. 65. Vgl. Dreyhaupt II (wie Anm. 37), S. 790 ff. C. Schoettgen/G. C. Kreysig, Diplomataria et scriptores historiae Germanicae medii aevi, Teil III, Altenburg 1760, S. 395/396. Regest in: Regesta archiepiscopatus Magdeburgensis. Hg. G. A. v. Mülverstedt, Magdeburg 1876 ff., Teil III, Nr. 600. Dreyhaupt II (wie Anm. 37), S. 795. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Außenstelle Wernigerode (LHASA), Rep. Da, Rothenburg 1 (Amtserbbuch Rothenburg 1642), S 583 ff. Vgl. dazu auch Dreyhaupt II (wie Anm. 37), S. 798. LHSA (wie Anm. 87), S. 591; Dreyhaupt II (wie Anm. 37), S. 798. Die äußere Erscheinung des Gerichts stimmt nicht mehr mit Ssp. Ldr. III, 69, 1/2 überein. Danach hatten die Schöffen das Urteil ohne Kopfbedeckung, ohne Handschuhe, ohne Waffen und sitzend finden. Wüstung bei Löbejün (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 231 ff.). Wüstung bei Domnitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 313 f.).

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Prestewitz 9 2 , Keyritz 9 3 , Glintz 9 4 , Belitz 9 5 , Neckewitz 9 6 , Schlettau, Domnitz, Wehrhaus 9 7 , Nehritz 9 8 , Loberitz 9 9 , Neutz, Plöns 1 0 0 , Lettewitz, Trebitz, Dachritz, Schwerz 1 0 1 , Raunitz 1 0 2 und Noßlitz 1 0 3 (?). Die Inhaber der Schöffen-/Eltesthufen hatten das Recht und die Pflicht, im Landgericht Wettin die Urteile zu finden. Als Ausgleich dafür durften sie die zinsfreie Eltesthufe nutzen. Bei Besitzwechsel der Hufen hatten sie dem Amt eine bestimmte Lehnware zu zahlen. Der neue Besitzer wurde bei der nächsten Gerichtssitzung in die Bank „gewiesen". Dabei hatte er einen Eid als Gerichtsbeisitzer zu leisten. 104 Von der Saale aus scheint dieser Typus der Landgerichtsverfassung weiter nach Osten vorgedrungen zu sein. Uber das Amt Meißen hat H . Pannach eine umfassende Untersuchung vorgelegt, in welcher auch die Organisation der Gerichtsbarkeit behandelt wird. 1 0 5 Nach J . Leipoldt 1 0 6 und W . Schlesinger 1 0 7 konnte auch er deutlich machen, wie stark die Gerichtsverfassung um die Mitte des 16. J h . noch in den mittelalterlichen Verhältnissen verwurzelt war. Die ursprünglich slawische Gebietseinteilung in Supanien, die jeweils mehrere Dörfer umfaßten und einen Supan als Vorsteher hatten, wurde zwar im Zuge der deutschen Ostkolonisation modifiziert, im wesentlichen jedoch beibehalten und in den Aufbau der territorialstaatlichen Herrschafts- und Gerichtsorganisation einbezogen. 1 0 8 Diese Synthese kommt deutlich in der Schöffenfunktion der Supane zum Ausdruck. Die Supane entsprechen somit hinsichtlich ihrer Funktion in der Gerichtsverfassung den Altesten in der Gegend bei Halle. Auch die Supane des Meißener Gebietes waren mit bestimmten Gütern ausgestattet, welche zur Wahrnahme des Schöffen- bzw. des Richteramts verpflichteten und dafür mit Dienst-, Brau- und Schenkfreiheit entschädigten. 1 0 9 Das Meißener Amtserbbuch von 1547 1 1 0 kennt die Bezeichnung „Supan" allerdings nicht mehr. Es spricht von Landschöffen und Landrichtern bzw. Landschöffen- und Landrichtergütern. Ein Jahrhundert früher war die Bezeichnung „Supanie" für das Richter- oder Schöffengut noch gebräuchlich. 1 1 1 Für die Gerichtsverfassung des Amtes Meißen ist von Bedeutung, daß in ihm zwei Landgerichtsbezirke bestanden. Von den 263 Amtsdörfern 1 1 2 waren 179 dem Landgericht Meißen und 71 dem Landgericht Lommatzsch ganz oder

Wüstung bei Wallwitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 234 ff.). Wüstung bei Domnitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 124 f.). 9 4 Wüstung bei Schlettau (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 78 ff. 9 5 Wüstung bei Bebitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33,.S. 13 ff.). 9 6 Wüstung bei Schlettau (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 186 ff.). 9 7 Wüstung bei Domnitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 322 f.). 9 8 Wüstung bei Domnitz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 188 ff.). 9 9 Wüstung bei Wettin (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 150 ff.). 100 Wüstung bei Trebitz am Petersberg (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 211 ff.). 1 0 1 Wüstung bei Brachwitz, Vorgängersiedlung des heutigen Friedrichsschwerz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 289 ff.). 1 0 2 Ortsteil von Gimritz. 1 0 3 Ortsteil von Gimritz (Neuß, Wüstungskunde, wie Anm. 33, S. 191 f.). 1 0 4 LHASA (wie Anm. 87), S. 593. 1 0 5 H. Pannach, Das Amt Meißen vom Anfang des 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts - Studien zu Sozialstruktur, Verfassung und Verwaltung - (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 5), Berlin 1960. 92

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Leipoldt (wie Anm. 10). Schlesinger, Gerichtsverfassung (wie Anm. 11). Pannach (wie Anm. 105), S. 12 f. SHSAD, Loc. 40090, XLVII, Meißen 165 b (Amtserbbuch Meißen 1547, Vol. II), Bl. 744 f., 749. SHSAD, Loc. 40090, XLVII, Meißen 165a-g (= AEB Meißen 1547, Vol. I-VII). Im Jahre 1457 erhielt Urban Bottone „die Freie Supanie" im DorfSoppen. Ihm wurde dafür die Zahlung eines jährlichen Erbzinses und die Pflicht, das Landgericht zu besetzen, auferlegt: „ . . . die Dingbanck zu

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teilweise zugewiesen. Die Gerichte der übrigen Dörfer waren in anderer Hand. Lommatzsch bildete eine Art Unteramt des Amtes Meißen, an dessen Spitze ein markgräflicher Vogt stand. 113 Da das Amt Lommatzsch offensichtlich nicht aus einem Burgward hervorgegangen ist, könnten die von H. Pannach erwogenen Gründe für die Entstehung dieses Verwaltungsgebildes - die Größe des Amtes Meißen und die dezentrale Lage Meißens im äußersten Osten des Amtsgebietes - durchaus zutreffen. 114 Das Landgericht Meißen fand auf der Burg statt, 115 ursprünglich wohl am „Roten Turm", der um 1500 abgebrochen wurde. 116 In fünf Ortschaften gab es je zwei Landschöffengüter, deren Inhaber die Schöffenbank besetzen mußten. Hinzu kam das Landrichtergut in Soppen, dessen Besitzer als Landrichter fungierte. 117 In Lommatzsch kam dem Besitzer des entsprechenden Gutes in Altlommatzsch der Vorsitz im dortigen Landgericht zu. Die Schöffen rekrutierten sich aus den Inhabern von sieben Landschöffengütern, von denen der aus Pulsitz noch die alte Bezeichnung „Landsaupe" führte. 118 Sie konnten zur Gerichtssitzung auch einen sachkundigen Vertreter entsenden." 9 Der Landknecht des Amtes hatte die üblichen Aufgaben zu erfüllen. Ursprünglich besaß das Amt zwei Landknechte. Spätestens seit 1543 bewachte ein „Stubenheizer" die Gefangenen, wofür er von dem einen verbliebenen Landknecht vier Pfennige pro Nacht bezog. 120 In Meißen werden die Landgerichte viermal jährlich stattgefunden haben. 121 Vor ihnen mußten die Rechtsverletzungen gerügt und Klagen vorgebracht werden. Als Rügende traten u. a. die Landrichter, die Landschöppen und der Landknecht auf.122 Beide Landgerichte waren sowohl für bürgerliche als auch für peinliche Fälle zuständig. Die Vollstreckung der peinlichen Strafen besorgte der Henker zu Dresden. Die Städte Meißen und Lommatzsch waren ihm dafür jährlich vier bzw. zwei rheinische Gulden schuldig. 123 Aus dem Jahre 1543 ist eine „Ordnung der zcweyer Landtgericht Meyssen und Lommatsch" überliefert, die neben einem umfangreichen Bußen- und Gebührenkatalog wichtige Ver-

Meissenn durch sich selbs oder einen andern vorstendigen Mahn bestellen . . . „also das vormals die besitzer derselben supanen gethan haben . . . " (SHSAD, AEB Meißen 1547, Vol. V, Bl. 684 v ff.). 112 Nach Pannach (wie Anm. 105),S. 86. 113 K. Blaschke, Lommatzsch, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. VIII: Sachsen. Hg. W. Schlesinger, Stuttgart 1965, S. 210 f. 114 Pannach (wie Anm. 105), S. 89. 115 „ . . . an gewonlicher gerichtestellen ufm Schloß . . . " (SHSAD, AEB Meißen 1547, Vol. VI, Bl. 644). 116 Seit dem 19. Jh. werden die Reste des Roten Turmes gesucht. Die mehrfachen Grabungen auf dem Burgberg haben jedoch immer noch nicht zu einer eindeutigen Lokalisierung geführt. Vgl. dazu H. Küas, Ein mittelalterlicher Gebäudekomplex auf dem markgräflichen Burghof in Meißen, in: Ausgrabungen und Funde 7 (1962), S. 102 f. Anm. 6; H.-J. Mrusek, Meissen, Leipzig 1982, S. 47. Die Autoren des Lexikon Städte und Wappen der Deutschen Demokratischen Republik, 3. Aufl., Leipzig 1984, S. 291/ 294, wollen in dem roten Turm des Meißener Stadtwappens den Roten Turm erkennen, an dem das zunächst burggräfliche, später markgräfliche Gericht tagte. 117 SHSAD, Gerichtsbuch Meißen x847, Bl. l v . Das Amtserbbuch Meißen 1547 weist dagegen nur drei Orte mit Landschöffen sowie das Landrichtergut zu Soppen aus. Diese Differenz resultiert offenbar aus der Ungenauigkeit des Amtserbbuchs, so daß die Angaben des Gerichtsbuchs den tatsächlichen Verhältnissen wohl näher kommen. Ähnlich dürften auch die anderen von Pannach (wie Anm. 105), S. 88 f., festgestellten Differenzen erklärbar sein. 118 SHSAD, GB Meißen x836 (nicht foliiert) 7. Bl. r . Das Amtserbbuch vermerkt dagegen nur vier Landschöffengüter. 119 SHSAD, AEB Meißen 1547, Vol. II, Bl. 744. 120 SHSAD, GB Meißen 266, Bl. 318 r . 121 SHSAD, GB Meißen x847, Bl. 116r. 122 SHSAD, GB Meißen x847, Bl. 44 r , 74v. 123 SHSAD, GB Meißen 264, Bl. 2.

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fahrensregelungen enthält. 1 2 4 N e b e n den beiden Landgerichten gab es im A m t sieben Dingstühle, wo das A m t zu beliebigen Terminen Gericht halten konnte. O b sie auch jeweils einem der beiden Landgerichte bzw. -Amter zugeordnet waren, ist nicht erkennbar. Den Einwohnern der Ortschaften oblag die Gastungspflicht gegenüber dem Gerichtshalter. 1 2 5 Eine Besonderheit stellt der Dingstuhl in L o m m a t z s c h dar, der ausschließlich für die Stadt L o m m a t z s c h zuständig war und deshalb als „Stadtgericht" bezeichnet wurde. Dieses Gericht wurde vom Vogt zu L o m m a t z s c h gehalten. Die Schöffen wurden aus den Mitgliedern des Rates genommen, die „nicht vom Rat, sondern von m.g.h. ( = vom Fürsten - H . L.) dazu verordnet" wurden. 1 2 6 Von den Schöffen wurde ein „Scheppenmeister" ausgewählt, „der die Scheden von wegen der Gericht beßyehett und in die Rüge brengen m u ß " . Der Stadtschreiber versah die Funktion des Gerichtsschreibers, während der Stadtbüttel als Gerichtsdiener auftrat. D a s Gericht war auch für peinliche Sachen zuständig. Im Jahre 1542 setzte der A m t m a n n von Meißen die Ratsmitglieder als Schöffen ab, da sie sich geweigert hatten, in peinlichen Sachen Gericht zu halten. Die G r ü n d e dafür sind nicht bekannt. Seitdem versehen der Landrichter und die Landschöffen die Aufgaben des L o m matzscher Stadtgerichts. Der Vogt hatte den Termin der Gerichtssitzungen mindestens zwei Sonnabende zuvor auf dem Markt ausrufen zu lassen. 1 2 7 An Markttagen oblag ihm die Kontrolle über richtiges Maß und Gewicht. Ferner mußte er die Gefängnisse instandhalten. Weitere Funktionen bestanden im Vergeben der Stände auf dem Jahrmarkt, in der Ausbesserung der Brücke vor Mügeln, der Beaufsichtigung der Straßen und Wege und in der ordnungsgemäßen Einnahme finanzieller Einkünfte. 1 2 8 Auch im A m t Meißen gab es nicht in jedem D o r f einen Richter. In den Dörfern mit Landschöffengütern nahmen deren Besitzer in der Regel diese Funktion wahr. 1 2 9 Waren in einem Dorf zwei Landschöffen ansässig, so wurde das Richteramt regelmäßig gewechselt. 1 3 0 Eine Ausnahme bildete Pulsitz, wo trotz Existenz eines Landschöffen das A m t einen Heimbürgen einsetzte. 1 3 1 Deutlich dominierte das „walzende Gericht". Von diesen jährlich wechselnden Richtern führten neun die Bezeichnung Heimbürge. 1 3 2 Bemerkenswert ist, daß bei der Besetzung dieser Funktion auch auf Gärtner zurückgegriffen wurde, wenn Hufenbauern in dem betreffenden Ort bzw. Vorort nicht ansässig waren. 1 3 3 N u r in mehreren Dörfern mit Landschöffengütern war das Ortsrichteramt erblich. Die Besonderheiten des Landgerichts Rochlitz sind bereits mehrfach beschrieben worden. 1 3 4 Sie beziehen sich einerseits auf die Bezeichnung der Landschöffen als „ S a u p e n " , andererseits auf die relative Eigenständigkeit derselben als Gerichtsgemeinde. Begriff und Funktion der Saupen gehen ebenfalls auf die Zeit der deutschen Ostkolonisation zurück. Auch sie haben offenbar in den Ältesten der Saalegegend eine historische Parallele. Wäh-

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SHSAD, GB Meißen 266, Bl. 307 ff. SHSAD, AEB Meißen 1547, Vol. I, Bl. 196. Dies und das folgende nach SHSAD, GB Meißen x836, Bl. 93. SHSAD, GB Meißen 266, Bl. 302r. Ebenda, Bl. 302 f. SHSAD, AEB Meißen 1547, Vol. VI, Bl. 131, 17Γ. Ebenda, Vol. III, Bl. 582. SHSAD, AEB Meißen 1547, Vol. I, Bl. 667. H. Wiemann, Der Heimbürge in Thüringen und Sachsen, Köln/Graz 1962, führt dagegen in seiner Übersicht nur drei Heimbürgen nach dem AEB Meißen auf (S. 20, 21, 22). SHSAD, AEB Meißen 1547, Vol. IV, Bl. 692. Pfau, Saupen (wie Anm. 9); ders., Gemeinde (wie Anm. 9), R. Kötzschke, Ländliche Siedlung und Agrarwesen in Sachsen. Aus dem Nachlaß hg.von H. Heibig, Remagen/Rhein 1953, S. 92 ff.

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rend dort die slawische Bezeichnung (Supan) schon bald durch die deutsche (Ältester) bzw. in den Urkunden durch die lateinische (Senior) verdrängt wurde, behielten die Schöffen des Rochlitzer Landgerichts den alten slawischen Namen auch in den folgenden Jahrhunderten bei. Wie bei den Altesten war ihre Schöffenfunktion an einen bestimmten Landbesitz (Saupengut) gebunden. Neben dem Schöffenamt oblagen den Saupen weitere Verpflichtungen, vor allem das Halten von 6 Pferden für das fürstliche Hoflager, eine besondere Leinwandabgabe sowie die Ausrichtung der Amtsgebote in der Pflege Rochlitz. 135 Wie bei nahezu allen mit Gerichtspflichten verbundenen Gütern, lagen auch auf den Saupengütern bestimmte Vergünstigungen. Diese Vorrechte wurden sorgsam gehütet und 1475 von Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht noch einmal bestätigt, wobei ausdrücklich auf ein älteres, wohl verlorengegangenes Privileg Bezug genommen wurde. 136 Danach waren die Saupen von Hofdiensten, Soll- und Wegegeld befreit. Auf den Märkten zu Rochlitz, Mittweida und Geithain konnten sie abgabenfrei Produkte von ihren Gütern verkaufen. Streitigkeiten untereinander konnte ein von den Saupen gewählter Saupenrichter entscheiden, sofern es sich um Schuldsachen handelte. Auch für Ungehorsam, worunter sicher zuerst eine Vernachlässigung der Schöffenpflicht zu verstehen ist, war der Saupenrichter zuständig. Während das Privileg von 1475 vom „Setzen" des Saupenrichters spricht, erscheint ein solcher um die Mitte des 16. Jh. im Dorf Stöbnig als fest ansässig. 137 Als das Oberhaupt der Saupen war er anscheinend nur für das Innenverhältnis relevant, nach außen trat er nicht in Erscheinung. Möglicherweise nahm er auch den ersten Platz auf der Schöffenbank des Landgerichts ein wie etwa der „Eidistmeister" im Landgericht zu Wettin. Die Saupen bildeten somit eine relativ eigenständige Gerichtsgemeinde innerhalb des Rochlitzer Landgerichtsbezirks. Mit der Veräußerung eines Saupengutes gingen auch die damit verbundenen Rechte und Pflichten, insbesondere die Schöffenfunktion, auf den Erwerber über. Der Besitzwechsel hatte vor dem Landgericht zu erfolgen. 138 Dieses hatte dabei zu prüfen, ob der Erwerber ein „frome, unbescholdenen man und zu gericht tuglich sey oder nicht". Wurde er für fähig befunden, mußte er dem Gericht gegenüber einen entsprechenden Eid leisten. Der Kurfürst erhielt in diesen Fällen einen Schock Lehnware. 139 Das Landgericht des Amts wurde vierzehntägig in einem Haus in der Stadt Rochlitz gehalten. 140 Obwohl dem Rat der Stadt Rochlitz schon seit 1464 die Ober- und Erbgerichte zustanden, konnte das Amt „Messerzüge" und „Hader", die sich in diesem Haus ereigneten, ahnden. 141 Im Jahre 1528 wurde dazu eine gesonderte Regelung getroffen. 142 Neben dem Landrichter als Vorsitzenden saßen mehrere Saupen als Landschöffen. Ihre Anzahl ist nach wie vor nicht bekannt, das Amtserbbuch Rochlitz von 1548 nennt neun, doch hat C. Pfau aus anderen, ζ. T. jüngeren Quellen weitere Saupen nachgewiesen. 143 Wahrscheinlich rekrutierte sich auch der Landrichter bis in das späte 16. Jh. aus den Reihen der Saupen. Nach dem Amtserbbuch verteilen sich die Saupen auf zwei Dörfer mit je einem, ein Dorf mit zwei und ein Dorf mit fünf.

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SHSAD, Loc. 38061, XLVII, Rochlitz 9c (AEB Rochlitz 1548, Vol. III), Bl. 79 r . Abgedruckt bei Pfau, Saupen (wie Anm. 9), S. 6 ff. SHSAD, AEB Rochlitz 1548, Vol. III, Bl. 50. Vgl. den Vertrag über den Verkauf des Saupengutes zu Stöbnig von 1538 in SHSAD, GB Rochlitz 3, Bl. 24. SHSAD, AEB Rochlitz 1548, Vol. III, Bl. 77 v f. SHSAD, Loc. 38060, XLVII, Rochlitz 9b (AEB Rochlitz 1548, Vol. II), Bl. 528 v . Ebenda. SHSAD, GB Rochlitz 2, Bl. 167». Pfau, Gemeinde (wie Anm.9), S. 10.

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Neben dem Landgericht besaß das Amt zwei Dingstühle. Die Einwohner dieser Ortschaft waren wie üblich zur Versorgung der Gerichtspersonen mit „Futter und Mahl" verpflichtet. 1 4 4 Davon sind die zwei Dingstühle der Saupen zu unterscheiden, wo ausschließlich über deren Angelegenheiten „über Schulde und Guide" sowie „Ungehorsam" verhandelt wurde. 1 4 5 In drei Ortschaften konnte das Amt willkürlich einen Richter einsetzen, während in drei anderen Dörfern, wo das Amt auch die Erbgerichte besaß, das Heimbürgenamt jährlich unter den Nachbarn wechselte. 1 4 6 Geht man von der Kontinuität zwischen Supan (Altester) und Saupe aus, so sind in den Saupen die jeweiligen Ortsrichter der betreffenden Dörfer zu sehen, wie es in einem Fall ausdrücklich mitgeteilt wird. 1 4 7 Der Saupe von Noßwitz führte als einziger die Bezeichnung „Erbrichter" 1 4 8 , welche die Verbindung des Amtes mit dem Gut deutlich macht. In den Dörfern mit mehreren Saupen wird das örtliche Richteramt jährlich unter ihnen gewechselt haben, wie es auch im Landgerichtsbezirk Meißen üblich war. Die anderen Gerichtsherren unterstehenden Heimbürgen bzw. Richter sollten auch die Interessen des Amts wahrnehmen, insbesondere rügten sie die Obergerichtsfälle vor dem Landgericht. 1 4 9 Darüber hinaus waren die Richter zu Köttern und Sörnzen verpflichtet, alle 6 Wochen zum Landgericht zu gehen. 1 5 0 Erschien dem Amt ein solcher Richter „verdächtig", konnte es einen eigenen Richter einsetzen. 151 Dadurch unterscheiden sich die durch obrigkeitliche Entscheidung „auswechselbaren" Richter von den Saupen, deren Amt stets an den Besitz des entsprechenden Saupengutes gebunden war. Die nähere Untersuchung des Burggrafengerichtes zu Halle sowie der Landgerichte Meißen/Lommatzsch und Rochlitz hat eine ganze Reihe von gemeinsamen Prinzipien deutlich werden lassen, welche der Gerichtsverfassung des Markengebietes und der späteren territorialstaatlichen Gerichtsverfassung Kursachsens zugrundeliegen. Erstens wurde an slawische Zustände angeknüpft, was in der Besetzung der Gerichte mit ehemals slawischen Dorfvorstehern zum Ausdruck kommt. Zweitens spielten bei der Einrichtung der Landgerichtsbezirke die Burgwarde eine Rolle, die teilweise auf dem slawischen Burgensystem aufbauten. Ein drittes Prinzip betrifft die Funktion der Altesten/Saupen. Sie bestand vor allem in der Besetzung der Urteilerbank der Landgerichte, im Vorbringen der Rügen und in der Mitteilung von obrigkeitlichen Anordnungen in ihren Dörfern. Viertens war ihr Amt an ein bestimmtes Gut gebunden, das nach besonderen Vorschriften in Besitz genommen und veräußert wurde. Auch ihre Aufnahme in die Schöffenbank des jeweiligen Gerichts geschah nach bestimmten Regeln. Fünftens erhielten sie für ihre Tätigkeit im Gericht verschiedene Privilegien, die sich auf die Nutzung ihres Gutes bezogen. Sechstens besaßen sie eine Art Vorsteher (Eidistmeister, Saupenrichter), der aus ihrer Mitte gewählt wurde oder durch den Besitz eines bestimmten Gutes jeweils feststand. Schließlich wurden die Ältesten bei Veräußerung der Gerichte an eine andere Gerichtsherrschaft gesondert behandelt. Entweder wurden sie von der Übertragung ausgenommen oder ausdrücklich mit veräußert.

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SHSAD, AEB Rochlitz 1548, Vol. I, Bl. 37 r . Ebenda, Vol. II, Bl. 245 v . Ebenda, Vo. I, Bl. 37 r , 45 r ; Vol. II, Bl. 468 r ; Vol. I, Bl. 65 r , 206 r ; Vol. III, Bl. 123 r . Ebenda, Vol. III, Bl. 51 v . Ebenda, Vol. II, Bl. 245 v . Ebenda, Vol. III, Bl. 87 v . Ebenda, Vol. II, Bl. 25 v . Ebenda, Vol. II, Bl. 426.

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Trotz der Vielfalt der einzelnen Gerichte im Kolonisationsgebiet war über die vorgenannten Prinzipien eine gewisse Einheitlichkeit der Gerichtsverfassung für Jahrhunderte gewährleistet. Sie sollte erst im 19. Jh. grundlegend umgestaltet und von ihren mittelalterlichen Grundlagen abgetrennt werden.

M A N F R E D STRAUBE, LEIPZIG

Die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit

A m 20. Juli 1497 bestätigte Maximilian I., „von gottes gnaden Romischer Kunig", die drei großen Leipziger Jahrmärkte, „nemlich eines yeden Jars einen auf Sontag Jubilate anzufallen vnd bis auf den Sonntag Cantate nechst darnach werende, Den anndern auf den nechsten Sontag nach sannd Michaelstag anzufallen, vnd Acht tag die nechsten darnach werende, vnd den dritten an dem heiligen Newen Jarstag anzuheben, vnd auch die nechsten Achttag darnach volgende zuweren" 1 , und verbot zugleich die Jahrmärkte zu Halle. Als 1507 dieses Privileg erneuert wurde 2 , erhielt es zusätzlich einen Passus, „das auch nu hinfur kein Jarmarckht, Mess oder Nyderlage Inner funftzehen Meyln gerynngs v m b die obbestimbten Stat Leybtzigkh sol aufgericht und gehallten werden in kainerley weyse". Erstmals wurde auch der Begriff Messe im Zusammenhang mit den großen Märkten verwendet. Die Vorgeschichte dieser Privilegierungen, die näheren Umstände ihrer Erteilung sowie die Versuche der Konkurrenten Halle, N a u m b u r g , Erfurt und Magdeburg, dagegen anzugehen, hat Ernst Hasse bereits 1885 ausführlich dargestellt 3 ; Ernst Müller hat sich im knappen Vorwort seiner Edition 1941 nochmals damit auseinandergesetzt. 4 Auch wenn die Arbeit von Hasse 1963 in Leipzig einen Nachdruck erlebte, sind die Vorgänge im einzelnen recht wenig präsent, so daß ein kurzes, kritisches Resümee notwendig erscheint, um weiterführende wirtschafts- und handelsgeschichtliche Überlegungen und Schlußfolgerungen anschließen zu können. Zunächst ist die von Hasse getroffene Feststellung aufzugreifen, „daß durch die Privilegien factisch kein neuer Zustand geschaffen", sondern „der längst bestehende Zustand nur mit einem neuen Rechtsschutz umgeben" wurde. 5 Dieser Gedanke kann auch dahin interpretiert werden, daß sich an den konkreten Bedingungen im Warenaustausch durch die neuen Rechtsgrundlagen nichts änderte. Danach ist es jedenfalls zweifelhaft, daß die großen Leipziger Märkte ihren besonderen wirtschaftlichen Rang erst durch diese Privilegien erhalten haben; vielmehr dürfte der Handelsplatz Leipzig f ü r die Kaufleute durch einen „ m o d e r n e n " massenhaften Handel mit Massengütern 6 , wie er sich im 15. Jh. herausbildete, im Ost-West-, aber auch im Nord-Süd-Verkehr eine immer stärkere Anziehungskraft gewonnen haben. So sind die Privilegien f ü r die drei großen Leipziger Märkte zwar ein Ausdruck für deren ständig wachsende Bedeutung, sie können aber keinesfalls inter1

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Zitiert nach: Die Privilegien der Leipziger Reichsmessen. Bearb.v. Ernst Müller, Leipzig 1941, S. 28 ff. Nachdruck in: Quellen zur älteren Wirtschaftsgeschichte Mitteldeutschlands, II. Teil, hgb. v. Herbert Heibig, Weimar 1952, S. 86 ff. Privilegien, S. 31 ff., Quellen, S. 89 f. Ernst Hasse, Geschichte der Leipziger Messen, Nachdruck 1963. Verwiesen werden muß noch auf die Studien von Ernst Kroker, Handelsgeschichte der Stadt Leipzig, Leipzig 1925, darin der Beitrag „Die Messen und ihre Privilegien" , S. 71-92 Hasse (wie Anm. 3), S. 19 Dieser Gedanke wurde erstmals - ohne direkten Bezug auf Leipzig - von Zsigmond Pal Pach formuliert in: „Zur Geschichte der internationalen Handelswege und des Handelskapitals vom 15. bis 17. Jahrhundert" in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1969/III, S. 179-189.

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pretiert werden als Ausgangspunkt für die hervorragende wirtschaftliche Stellung der sächsischen Metropole im mitteldeutschen Raum. Zu bedenken ist außerdem, daß das Privileg Maximiiiansi, von 1507 verliehen wurde, um den Konkurrenten Erfurt in die Schranken zu weisen. Werden diese Überlegungen auch angewandt auf die übrigen, vorhergehenden Privilegien der Leipziger und auch für die anderen großen mitteldeutschen Märkte, dann ergeben sich interessante Schlußfolgerungen und Fragestellungen für den Stand des Warenaustauschs und damit für den Stand der Produktion und Konsumtion im Einzugsbereich dieser Märkte zu Beginn der Neuzeit. Mit der am 1. März 1268 beurkundeten Zusicherung, allen Kaufleuten, „woher sie auch sein mögen, wenn sie Kaufmannswaren . . . (der) Stadt kaufen oder verkaufen wollen", vollen Schutz und jede Förderung zu gewähren, selbst wenn er „mit den Landesherren dieser Kaufleute in offener Fehde liegen sollte" 7 , gab Markgraf Dietrich von Landsberg den politischen und rechtlichen Rahmen vor, in dem sich in den folgenden Jahrzehnten die beiden großen Märkte zu Ostern und zu Michaelis entwickeln und die Stadt zu einem bedeutenden Handelszentrum werden konnten. 8 Am 1. November 1458 wurde durch Kurfürst Friedrich II. ein dritter großer Markt in Leipzig privilegiert, der 1466 auf Antrag von Herzog Albrecht durch Kaiser Friedrich III. bestätigt wurde. 9 Dieser dritte große Markt - der Neujahrsmarkt - hat bisher keine angemessene Würdigung und kaum eine Erwähnung erfahren. Verantwortlich dafür sind ausgerechnet Ernst Hasse und Ernst Kroker, denen die Leipziger Messegeschichtsforschung ihre Grundlagen verdankt. Für beide war das Privileg von 1458 mehr oder weniger eine Privatangelegenheit, eine freundliche Geste Kurfürst Friedrichs II. gegenüber „seiner Stadt Leipzig" und nicht etwa das notwendige Ergebnis einer möglichen oder wahrscheinlichen Steigerung des Warenaustauschs in der ersten Hälfte des 15. Jh.. Beide haben damit von vornherein für diesen dritten Markt nicht gelten lassen, was Hasse für die beiden anderen als selbstverständlich richtig voraussetzte, daß nämlich „die Leipziger Messen . . . ebensowenig wie irgend welche andere Messen aus dem Willen, aus der Feststellung oder Anordnung irgend Jemandes entstanden" sind. „Sie sind geworden, sie sind aber nicht gemacht worden". 1 0 Dem zunehmenden Warenaustausch und notwendigen Verbesserungen bei der Abwicklung der Handelsgeschäfte entsprach ein Beschluß des Leipziger Rates vom 22. Januar 1466, „das nu hinforder eyn iczlicher burger unde burgerynne in sinem husse allir ley cramerye feile haben mag, ap ouch der addir die in den kramen nicht hussir hetten, unde die Kremer solli ouch nymants, der anders burger ist, dorin haldin noch daran vorhindern." 1 1 Es handelt sich dabei zweifellos nicht um eine „Maßregel", die nur „auf den

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Privilegien, S. 16 f. Hier ist zweifellos bereits von einem Fernhandelsmarkt die Rede und nicht nur von einem Jahrmarkt für den lokalen Warenaustausch wie in dem sog. Stadtbrief des Markgrafen Otto, ebd., S. 14 ff. Eine urkundliche Bestätigung oder Bewilligung dieser Märkte hat es offensichtlich nicht gegeben, vgl. Hasse, S. 12 f. Wahrscheinlich sind die beiden Märkte frühzeitig entstanden und haben sich dann gewohnheitsrechtlich weiterentwickelt. Kroker, S. 16, bringt die Urkunde Markgraf Dietrichs vom 1. 3. 1268 in Zusammenhang mit dem Ostermarkt dieses Jahres: „Ostern fiel in diesem Jahr auf den 8. April, die Bestimmung hat also dem Ostermarkt gegolten, der immer der Hauptmarkt der Stadt gewesen ist". Unterstützt wird diese Annahme durch einen Ratsbeschluß zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Gerbern und Schustern vom 20. Dezember 1446. In ihm ist die Rede von „czwen iarmarckten als ostern vnde Michaelis" und nicht von einem Jubilate-Markt. U B Leipzig, hgb. v. Karl Fr.v. Postern-Klett, Bd. 1, Leipzig 1868, N r . 245, S. 187 ff. Privilegien, S. 17 ff. bzw. S. 19 ff. Hasse (wie Anm. 3), S. 1 und bes. S. 15. Hasse, S. 14.

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einheimischen H a n d e l " und „nicht auf die Messen Bezug" hatte, wie Hasse meinte, sondern gerade die Messegeschäfte verlangten einen derartigen Beschluß. Es darf ja nicht übersehen werden, daß das Warenangebot und der Handel nur auf wenige feste Gewölbe im Rathaus und in großen Handelshäusern und sonst auf Buden auf dem Markt und in den Straßen angewiesen waren. Besonders zum Neujahrsmarkt müssen die Bedingungen für Käufer und Verkäufer außerordentlich schwer gewesen sein. Die relative H ä u f u n g der M a ß n a h m e n zugunsten der Stadt Leipzig und des Handels auf den drei großen Märkten 1 2 läßt sich nur verstehen, wenn das weitere handelspolitische Umfeld der Stadt, die benachbarten d. h. die benachbarten Handelszentren, beachtet wird. Dazu gehört vor allem im Zusammenhang mit dem Leipziger Neujahrsmarkt das nur ca. 40 km entfernte Halle. Die Stadt an der Saale, wirtschaftlich geprägt von der Saline und der Salzproduktion, besaß schon seit langem einen Neujahrsmarkt und zweifellos haben die Hallenser mit Argwohn die Entwicklung in Leipzig verfolgt. Als erste Gegenmaßnahme erlangten sie eine Bestätigung ihres Neujahrmarktes durch Kaiser Friedrich III.: Unter dem D a t u m 25. Mai 1464 untersagte er alle „ u m b die . . . Stadt Halle und allenthalb in der gegene" gleichzeitigen Jahrmärkte. 1 3 Diese Zusicherung hinderte den Habsburger nicht, am 29. Januar 1466 den Leipziger Neujahrsmarkt „zuuernewen, zubestetten und zu confirmirn . . . , wie dann solher jarmarckt in derselben . . . statt bißher gehalten ist worden". 1 4 Die darauf folgenden Auseinandersetzungen - Verbot des Besuchs des hallischen Marktes durch Leipzig, 15 - Einspruch Halles gegen die Privilegierung Leipzigs und Widerruf des Kaisers am 25. Mai 1469," - Widerruf des Widerrufs und Verbot des hallischen Marktes am 7. August 1469 durch Friedrich III., 17 sind zwar außerordentlich interessant, werfen vielfache Fragen auf und bedürfen dringend einer gründlichen Untersuchung, sie gewinnen aber ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund, daß es um die Mitte des 15. Jahrhunderts bereits drei große Märkte im mitteldeutschen Raum in unmittelbarer Nachbarschaft gegeben hat. Eine ähnliche Zusammenballung überregionaler wirtschaftlicher Aktivitäten bereits in jener frühen Zeit hat es in Mitteleuropa nicht gegeben. 18 12

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Die Erhöhung des Schlegeschatzes von 1 d auf 3 d von 1 Schock (20 gr) Warenwert an der Waage von den Handelsgütern „auslendischer kauflewt" durch Kurfürst Friedrich II. am 10. 3. 1464 kann allerdings nicht unbedingt als Förderung des Handels verstanden werden (UB Leipzig, N r . 370, S. 302). Auch wenn Friedrich II. gegenüber der Stadt stark verschuldet war und sich in einer Zwangslage befand, ist eine Erhöhung des Schlegeschatzes um 200 % nur möglich, wenn dadurch die Leipziger Märkte nicht gefährdet wurden. Am 2. Mai 1470 (UB Leipzig, Nr. 450, S. 376) verkauften Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht diesen Schlegeschatz für 6000 rh. Gulden „erblich und ewiglich" an die Stadt. Hasse, S. 13. Privilegien, S. 19 UB Leipzig, Nr. 428, S. 356. UB Leipzig, S. 355 ff. UB Leipzig, N r . 432, S. 361 ff. Halle hat mit der Entscheidung vom 7. 8. 1469 zwar eine vollständige Niederlage erlitten, aber sich dennoch über das absolute Verbot insofern hinweggesetzt, als es „seinen" Neujahrsmarkt am Ende des Leipziger Neujahrsmarktes beginnen ließ. Über die Ergebnisse ist bisher nichts bekannt. Hasse (S. 34) hat darauf verwiesen, daß Halle „alle Vorzüge der allgemeinen geographischen Lage mit Leipzig teilte", ist aber nicht auf die sich dadurch eigentlich ergebenden Straßenverbindungen und das noch bedeutsamere wirtschaftliche Umfeld eingegangen. In diesem Zusammenhang auf angebliche Vorzüge Halles, wie die schiffbare Saale und die Salzstraßen zu verweisen, geht am Gegenstand der Auseinandersetzungen und den tatsächlichen Handels- und Verkehrsverbindungen vorbei.

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Leipzig verdank: seinen Aufschwung gegenüber Halle neben der massiven landesherrlichen Förderung und der engen Anbindung an das wirtschaftliche Hinterland auch seiner günstigen verkehrsgeographischen Lage. „Die schriftlich überlieferten Nachrichten zusammen mit den neuesten Funden und Grabungsergebnissen machen es wahrscheinlich, daß der befestigte Handelsplatz (Leipzig) am Schnittpunkt der via regia und der Reichsstraße noch im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts angelegt wurde. 19 Die via regia führte von Paris über Frankfurt/M und von Brügge über Köln nach Erfurt, Naumburg, Leipzig, Görlitz, Breslau und weiter nach Krakau, Lemberg und Kiew,20 die Reichsstraße (via imperii) kam aus dem Norden über Magdeburg, Halle bzw. über Kothen und Landsberg nach Leipzig und weiter über Borna, Altenburg, Zwickau, Hof, Nürnberg weiter in den süddeutschen Raum. 21 Nach dem Sieg über den benachbarten Rivalen konnte Leipzig seine Vorrangstellung ausbauen, und die drei großen Märkte gaben fortan die Maßstäbe für die Rolle Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit. Wenn es richtig ist, daß die Ost-West-Straßen „seit dem Ende des Mittelalters . . . auf Leipzig ausgerichtet" waren und die Ost-West-Verbindungen „in zeitlicher Abfolge . . . früher eine Rolle spielten als die Nord-Süd-Straßen" 22 , dann ist der Verlauf der via regia und ihre Frequentierung als Handelsstraße von besonderem Interesse. Damit rücken zwei weitere Handelszentren zwischen Frankfurt/M und Leipzig ins Blickfeld: Erfurt und Naumburg. Die alte Bischofsstadt Naumburg hatte schon seit dem 11. Jh. einen eigenen, weithin besuchten großen Markt zu Peter und Paul, dessen Anfänge als forum regale bis auf das 11. Jh. zurückgehen. 23 Konkrete Nachrichten über diesen großen Markt sind seit 1305 überliefert, als die Naumburger Tuchhändler beim Rat ihrer Stadt das Verbot erwirkten, daß kein Fremder zu Naumburg Herrengewand verschneiden durfte außerhalb des Peter-PaulMarktes. Wenige Jahre später (1340) spielte der Waidhandel aus Thüringen nach Görlitz eine hervorragende Rolle.24 Von besonderem Interesse ist, daß etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der Warenhandel auch zum Peter-Paul-Markt eine neue Qualität erreichte und neue Rahmenbedingungen erforderte. Nachdem bereits zu Beginn des Jahrhunderts bestimmt werden mußte, daß Kaufmannskarren und Holzwagen vor der Stadt zu parken hatten und 1401 ein Waagehaus errichtet wurde, erhöhte sich in den nächsten Jahren fortlaufend die Zahl der Kaufleute, die nach Naumburg kamen. 1453 mußten bereits 152 Verkaufsbuden aufgestellt werden und von 1454 bis 1491 steigerten sich die städtischen Einnahmen von diesem Markt von 284 Schock gr auf 910 Schock gr.25 Bereits 1481 hatte die Stadt ein Gewandhaus errichten lassen - d. h. zumindest gleichzeitig mit Leipzig 26 - , 1498 kam die Errichtung

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Waltraud Volk, Leipzig. Historische Straßen und Plätze heute, Berlin 1979, S. 9. Privilegien, S. 3. S. u. S. 109. Friedrich Bruns - Hugo Weczerka, Hansische Handelsstraßen. Textband. Weimar 1967, S. 286. Der Naumburger Peter-Paul-Markt ist in der Forschung bisher nicht beachtet worden. Die 1925 in Halle vorgelegte jur. Diss, von Fritz Heydenreich, Geschichte der Naumburger Peter-Paul-Messe, ist so schwach, daß sie nur aus bibliographischen Gründen genannt wird. Das Naumburger Stadtarchiv (in einem bedauernswerten Zustand) besitzt ausgezeichnete Quellen zum Thema. Vgl. dazu Sixtus Braun, Naumburger Annalen von 799 bis 1613, hgb. v. Köster, Naumburg 1892. Stadtarchiv Naumburg, Stadtrechnungen. Dazu auch Heydenreich, S. 17. Am 14. Januar 1478 forderten die Brüder Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht den Rat der Stadt auf, endlich mit dem Bau des Gewandhauses voranzukommen und legten von sich aus entsprechende Maßnahmen fest, weil bisher der Rat „zcubawen gar leßlich" sei. UB Leipzig, N r . 498, S. 416. Der erste Bauabschnitt war 1482 vollendet.

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eines Kramgewölbes am Kirchhof hinzu; für 1494 vermerkte der Chronist, daß der Markt fast vier Tage gedauert hätte. 27 Damit gab es in unmittelbarer Nachbarschaft - Naumburg liegt nur etwa 60 km von Leipzig entfernt - und an der gleichen Straße vier große Märkte mit 28 Handelstagen, gleichmäßig über das ganze Jahr verteilt: 1. in Leipzig „an dem heiligen Newen jarstag (1.1.) anzuheben und . . . achttag darnach volgende zu weren"; 2. in Leipzig „auf Sontag Jubilate (3. Sonntag nach Ostern) anzufahen und bis auf den Sonntag Cantate nechst darnach werende"; 3. in Naumburg „auf Sanct Peter und Pauels der heyligen Aposteln tagk" (29. 6.); 4. in Leipzig „auf den nechsten Sonntag nach sannd Michaelstag (29. 9.) anzufahen und Acht tag die nechsten darnach werende". Der größte zeitliche Abstand mit 17 Wochen trennte das Ende des Neujahrsmarktes vom Beginn des Jubilatemarktes, den geringsten gab es mit 6 - 7 Wochen zwischen dem Ende des Jubilatemarktes und dem Anfang des Peter-Paul-Marktes. Naumburg war Leipzig auf der via regia westlich „vorgelagert" und lag etwa auf halber Strecke auf dem Wege nach Erfurt, dem 2. großen Wirtschafts- und Handelszentrum im mitteldeutschen Raum neben Leipzig. 28 Auch Erfurt war außerordentlich begünstigt durch seine verkehrsgeographische Lage: hier trafen sich die via regia und die sog. Kreuzstraße, die von Lübeck, Lüneburg, Magdeburg oder Hannover nach Nürnberg, Augsburg und weiter führte. Dem so prädestinierten Ort verlieh Kaiser Ludwig der Bayer am 24. Dezember 1331 auf Bitten des Erzbischofs Balduin von Trier, zugleich Verwalter des Erzbistums Mainz und damit Stadtherr von Erfurt, dieser Stadt das Recht, alljährlich einen allgemeinen Markt abzuhalten, der von Sonntag Misericordia domini, d. h. dem 2. Sonntag nach Ostern, bis Himmelfahrt, also fast vier Wochen, dauern sollte. Allen zu diesem Markt nach Erfurt reisenden Kaufleuten wurde kaiserlicher Schutz und sicheres Geleit zugesichert und weitgehende Befreiung von allen Abgaben, die sonst bei Handelsgesellschaften erhoben wurden. 29 Dieses Privileg war ein Ausdruck sowohl der politischen Stellung Erfurts in jener Zeit als auch der städtefreundlichen Politik des Kaisers vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und deutschem Königtum. Entscheidend für die Privilegierungen war aber die wirtschaftliche Rolle, in die Erfurt seit dem Ende des 13. Jh. hineingewachsen war. Erfurt hat sich über lange Jahrzehnte kontinuierlich und problemlos zu einem überregionalen Handelsplatz entwickelt, der besonders für den Warenverkehr auf der via regia wichtig wurde. Konkurrenz hatte es bis in die Mitte des 15. Jh. nicht zu fürchten. Erst als die Erfurter vor 1497 „um mehrerer Bequemlichkeit willen" versuchten, den Markt vom ursprünglichen Termin auf das Pfingstfest zu verlegen und auch bei Maximilian I. eine entsprechende Beurkundung erlangte, sahen der sächsische Herzog und Stadtherr von Leipzig sowie die Stadt selbst eine günstige Gelegenheit, den lästigen Mitbewerber um den Handel im West-Ost-Verkehr zurückzudrängen. Sie legten erfolgreich Widerspruch gegen die Erfurter Pläne ein. 30 1505 war es aber den Erfurtern gelungen, ein 27 2®

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Braun, S. 124. Nach wie vor fehlt eine umfassende Darstellung der wirtschaftlichen Bedeutung Erfurts. Verschiedene kleinere Beiträge lassen erkennen, welche zentrale Rolle die Stadt im deutschen Wirtschaftsleben des Mittelalters und der Neuzeit gespielt hat. UB Erfurt, bearb. V. Carl Beyer 2. Teil, Halle 1897, Nr. 100, S. 82 f. Abgedruckt auch in: Quellen, Nr. 141, S. 81 f. Hasse (wie Anm. 3), S. 46.

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ihnen genehmes Privileg zu erreichen; sie ließen das Ergebnis sogar auf einem Leipziger Markt verkünden. Die Leipziger blieben abermals Sieger, wie aus ihrem großen Privileg vom 23. Juni 1507 hervorgeht. Hierin wurde ausdrücklich auf Erfurt Bezug genommen und der Stadt alle bisherigen Privilegien, die den Leipziger Märkten „abbrach, Verhinderung oder Verletzung" tun konnten, aberkannt. Direkt gegen Erfurt war zweifellos auch die häufig zitierte Bestimmung über die 15-Meilen-Zone um Leipzig gerichtet: danach durfte „nu hinfur kein jarmarckht, mess oder nyderlage inner funftzehen meyn gerynngs umb die . . . stat Leybtzighk . . . aufgericht und gehallten werden in kainerley weyse". 3 1 Die 15-Meilen-Zone endete unmittelbar westlich Erfurts. 3 2 Negative Auswirkungen auf die Rolle Erfurts als Handels- und Transitort scheinen sich nicht ergeben zu haben, allerdings gelang es der thüringischen Metropole auch nicht, Leipzig mit seinen großen Märkten Konkurrenz zu bieten. Eine Konzentration von großen Märkten in regelmäßigen Abständen war nur möglich bei einem umfangreichen und auch ständig steigenden, profitablen Warenaustausch im überregionalen Rahmen. Schließlich haben auch damals die Verantwortlichen in den Städten abgewogen, welche Vorteile die kostspieligen Investitionen in Handelshäuser, Waagehäuser, Marktorganisation usw. bringen konnten; und die Landesherren haben die erforderlichen Privilegien und Unterstützungen mit Straßenschutz, Straßen- und Brückenbau zweifellos nur gegeben, wenn sie sich davon direkt oder indirekt materiellen Gewinn sichern oder erhoffen konnten. Die Urkundensprache ist gerade in dieser Hinsicht mehr als deutlich. Umgekehrt widerspiegeln damit aber die großen Märkte die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung im unmittelbaren Hinterland, d. h. der jeweiligen ökonomischen Region, aber auch in den überregionalen Produktions- und Konsumtionszentren; um Handelsgüter eintauschen oder kaufen zu können, mußten entsprechende Äquivalente vorhanden sein. Auch in der Zeit fortgeschrittener Geldwirtschaft mit den vielfältigen Formen des Wechselgeschäfts, konnten dafür nur Waren eingesetzt werden, gleichgültig, ob es sich um verarbeitete Produkte oder um Rohstoffe handelte. Der Warenwert war entscheidend. Kennzeichnend für die Charakterisierung der Märkte ist der sich im 15. Jh. stürmisch vollziehende europaweite Prozeß des verstärkten Warenaustauschs und die beginnende überregionale Arbeitsteilung. Die Markt-Geschäfte erreichten eine völlig neue Qualität mit bisher unbekannten Waren, Werten und Quantitäten und Handelsverbindungen. Mit „verstärktem Warenaustausch" in Verbindung mit „überregionaler Arbeitsteilung" sind jene Begriffe genannt, die entscheidend sind für die Beurteilung des Handelsverkehrs zwischen bestimmten Produktions- und Konsumtionszentren und auch für die Rolle und Funktion der verschiedenen wirtschaftlichen Regionen. Dabei waren bedeutende Konsumtionszentren für einige Waren wichtige Produktionszentren für andere und umgekehrt. Deshalb sind bei den Ost-West- bzw. Nord-Süd-Handelsverbindungen die jeweiligen Gegenrichtungen von gleichem Wert und werden stets mit gemeint. Die Ansatzpunkte für entsprechende Untersuchungen geben die Handelsgüter ab, d. h. die Beantwortung der Frage, was wurde von wo nach wohin und warum in welcher Quantität und Qualität transportiert und gehandelt. Dazu stehen umfängliche Quellen zur Verfügung, ζ. B. Zoll- oder zollähnliche Bestimmungen, Stadtrechnungen mit Angaben über Einnahmen oder Ausgaben zu den großen Märkten; eine besondere Rolle spielen alle Quellen, die im Zusammenhang mit dem 31

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Die alte sächsische Meile enthielt 7 4 1 9 , 5 8 m = 111,294 km. Die heutige Entfernung Leipzig - Erfurt mißt nach Eisenbahn-Kilometern 118 km.

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Straßenzwang und dem Geleitswesen entstanden und auch vielfach statistisch auswertbar sind . . . Auch wenn bei weitem noch nicht alle Quellen, die auf die genannten Fragen Auskunft geben können, erfaßt oder gar ausgewertet sind, lassen sich sichere Konturen zeichnen vom überregionalen und regionalen Warenverkehr in Mitteldeutschland zu Beginn der Neuzeit. K n a p p 50 Jahre, nachdem Markgraf Dietrich von Landsberg 1268 allen Kaufleuten, die auf dem Wege von oder zu den Leipziger Märkten waren, vollen Schutz in seinem Territorium zugesagt hatte, wurde 1315 in Erfurt ein Verzeichnis aller jener Waren angefertigt, die entweder hier zum Kauf angeboten, zur Niederlage gebracht oder nur als Transitgut erfaßt werden sollten, 3 3 und zugleich festgelegt, welche (Geleits-)Gebühren dafür zu entrichten waren. Wie oftmals üblich, griff man auf ältere Gewohnheiten zurück („Wyn das geleite von aldem genomen hat und noch phlegit zu nemen"), so daß es sehr wahrscheinlich ist, daß die Waren schon in den Jahrzehnten davor in Erfurt bekannt waren. An Fernhandelsgütern, d. h. an Gütern, die nach Mitteldeutschland gebracht wurden, wurden vor allem Tuche genannt aus Aachen, Gent, Soest, Arras, Speyer und Nürnberg, aber auch „tuche hir in deme lande gemachit", sowie Leinen und Ziechen. Danach vor allem Meeresfische wie Hering, gesalzen und grün, Bücklinge, Stock- und Klippfische, dann Gewürze wie Anis, Ingwer, Lakritz (Süßholzsaft), Muskat und Muskatblumen (Macis), Pfeffer, Safran, Zucker (zukir), außerdem Reis, Glas und Papier. Hinzu kommen Waren, die sowohl nach Mitteldeutschland eingeführt als auch von hier ausgeführt worden sind wie Leder, Felle und Pelze, Wein, Honig und Wachs, Eisen, eiserne Drähte, Messer, Sensen und Sicheln, Messing, Kupfer und Blei, Salz und natürlich Waid. Im Grunde sind alle Güter wenigstens summarisch genannt, die damals im überregionalen Warenaustausch angeboten wurden. Mit anderen Worten: bereits zu Beginn des 14. Jh. trafen sich in Erfurt Handels- und Fuhrleute mit Waren aus Flandern und dem Niederrheingebiet mit Transporteuren aus Schlesien und Polen, aber auch Wagenladungen mit Waren aus den hansischen Küstengebieten der Ost-und N o r d s e e nach Franken und in das Bodenseegebiet sowie in Gegenrichtung passierten Erfurt. Ist diese Geleitsordnung von 1315 im Grunde ein Katalog von Fernhandelsgütern aus dem beginnenden 14. Jh., so ist die des Erfurters Härtung Cammermeister aus dem Jahre 1441, die bedeutendste aller überlieferten Ordnungen, ein getreues Spiegelbild der neuen Q u a l i t ä t des Warenaustauschs im 15. Jh. mit der Vielfalt und Massenhaftigkeit der H a n delsgüter am Ausgang des Mittelalters. 3 4 In der O r d n u n g werden u. a. erwähnt Tuche aus Amsterdam, Brüssel, Gent, Aachen, Ypern und Brabandt, aber auch „einheimische" aus Arnstadt, Meiningen und Zwickau, Fische aller Art (Heringe, Stör, Hausen, Hecht, Lachs, Aal, Neunaugen, Zander, Schollen sowie Bücklinge und Stockfisch), Metallwaren (Bleche, Sicheln, Sensen, Messer, Nadeln, Hufeisen, Siebe, Schaufeln, Spaten u. a.), Waffen (Harnische, Panzer) und sog. Zentnergut, d. h. Waren verschiedener Art, die nur nach Zentner berechnet und verpackt wurden. Darunter verstand man „garn, hanf, wollen, baumwolln, pflocken, filtzhutte, filtze, puttern, unschlitt, schmaltz, schmer, fleisch, speck, wilpret, dalck, stael, stortzblech, blechgieß, scherhar, weinstein, zwibbelsamen, kupferwasser, kupfer, messing, schwefel, zinn, lorbern, lackritz, mandel, victriel, reis, anis, Wacholdern, johansbrodt, kohmehl, steinmehl, kalmuß, hirschen, Schweinsborsten, feddern, wilt saffran, entzian, galopfel, rubesamen, safrankorner, bech, zwetzken, alaun, wilde preßilien, speckenarius, rothe pallas, pallas, hausgereth, baumwolle, saffler". 33 34

Quellen, N r . 169, S. 133. Quellen, N r . 145, S. 174.

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Hinzu kam „Spitzerey" (Spezerei) mit Taschen, Baretten, Seilen, „lauthen, papier, bucher, . . . gemachte hoßen und kleider", „Cramerei" mit den bereits 1315 genannten Gewürzen sowie Zimt, Glafar, Sandel, Samt und Seide, Korallen und Perlen, Kristall, Gold und Silber. Die Geleitsordnung führt noch zahlreiche andere, hier nicht aufgenommene Waren an, aber bereits mit den zitierten ist die Rolle Erfurts als Handelszentrum und die Stellung Thüringens im damaligen Warenaustausch charakterisiert: beide hatten nicht nur Anschluß an den überregionalen, europäischen Markt gefunden, sie spielten nicht nur eine Rolle im Transit von Ost nach West und von Süd nach Nord bzw. in Gegenrichtung, sie waren auch aufgrund der Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur wichtig als Produktionsund Konsumtionszentren. Neben den erwähnten Tuchen aus einheimischer Produktion spielten vor allem Kleineisenwaren aus dem Schmalkalder Revier35, gesaigertes Kupfer aus den Kupferhütten um Gotha bzw. aus dem Thüringer Wald36 und selbstverständlich Waid neben anderen Agrarprodukten wie Getreide, Hopfen, Wolle37 eine herausragende Rolle. Wichtige Handelsgüter waren auch zahlreiche Waren aus der hochentwickelten Handwerksproduktion. 38 Nach der bereits erwähnten herausragenden Rolle der via regia in Mitteldeutschland ist es nicht verwunderlich, daß die in Erfurt 1315 und 1441 aufgeführten Fernhandelsgüter auch in den Leipziger Quellen frühzeitig vermerkt sind. Vorrangig genannt werden Weine, Tuche und Fisch. Die Überlieferung beginnt bereits zwischen 1382 und 1401, als der Rat Einzelheiten über den Weinhandel festlegen mußte. 39 1452 wurde über „Elsesßer und Frankenweyn" im Rat verhandelt 40 ; zehn Jahre später, als der Rat den Weinverkauf wieder in eigene Regie nahm, ging es um „Malmuseyn, Rynfals, Walschsschen wayn und deß Passeners unde des Romanyn". 41 Vom Tuchhandel ist ausführlich in einem „Registrum paani" von 1436 die Rede.42 Darin werden neben Kaufleuten 43 mit „Kirsey", „Harras", „leydisch Tuch" und „Vorstadt" 44 auch Tuchmacher aus dem thüringisch-sächsischen Raum als Verkäufer genannt. Diese kamen aus Gera, (Stadt-)Roda, Zeitz, Lobeda und Weida, aus Zwickau, Oschatz, Chemnitz, Werdau, Mittweida, Freiberg, Pirna, Dresden und Döbeln. Erwähnt sind auch Tuchmacher aus der Lausitz (Kamenz, Bautzen) und aus Böhmen (Brüx, Elbogen). Das Angebot der einzelnen Kaufleute und Tuchmacher reichte „von 100 und mehr Tuch bis zu einem". 45

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Dazu Manfred Straube, Über den Handel mit Eisen und Eisenwaren im thüringisch-sächsischen Raum im 15. und 16. Jahrhundert, in: Stadt und Eisen, hgb. v. Ferdinand Opll, Linz/Donau 1992, S. 259-290. Ekkehard Westermann, Das Eislebener Garkupfer und seine Bedeutung für den europäischen Kupfermarkt 1460-1560, Köln-Wien 1971. Antje Bauer, Schafhaltung und Wollproduktion in Thüringen im 16. Jahrhundert, Phil. Diss. Leipzig 1994. Hinweise dazu bei Wieland Held, Zwischen Marktplatz und Anger, Weimar 1988. UB Leipzig Nr. 84, S. 49 UB Leipzig Nr. 289, S. 233 ff. UB Leipzig N r . 353, S. 277. Dazu Georg Buchwald, Auf dem Leipziger Tuchmarkt im Jahre 1436, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs, 13. Bd., Leipzig 1926, S. 115-136. In dem Register wird ein Claus von Collen genannt, der vermutlich ebenso aus Köln stammte wie Hans Kolyn, der „die stattliche Menge von 52 langen, 80 kurzen Tuchen, 9 Kirsey, 6 Harras und 2 Vorstadt mitgebracht" hatte. Buchwald, S. 118. „Kirsey": ein geripptes, leichtes Wolltuch aus Kersey, England, Grafschaft Kent; „Harras": ursprünglich in Arras hergestellter leichter Wollstoff, auch als Futterstoff benutzt; „leydisch tuch": allgemein holländisches Tuch, speziell aus Leiden; „Vorstadt": ein aus vierdrahtigem Faden gewebtes, hartes Kammgarngewebe, nach dem englischen Worstead, Grafschaft Norfolk. Buchwald, S. 120. Nach dem Tuchregister hatten 345 Tuchmacher bzw. Händler ihre Ware angeboten.

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1453 wurde das Tuchschneiden der „Gäste" durch den Leipziger Rat reglementiert. 4 6 Im Zusammenhang mit einer offensichtlich notwendigen Verbesserung der Waageordnung wurden 1464 aufgeführt „syden gewant, sammit, gilden tuch, parchan, lynwat, wellisch tuch, engelisch unde prandisch tuch etc." 47 , an anderer Stelle ist die Rede von „inlendischem tuch, geverbeth adder graw, rinisschen tuche, welschen, lundischen, bruckschen tuchern, vorlendische vnde rinisschen tuchern von Ache adder Frankfurt . . . leydischen, mechlischen, lundischen etc., geringe . . . (und) guten behmischen t u c h e r n , . . . harras". 4 8 Der Handel mit Fisch spielte zweifellos schon früher eine bedeutsame Rolle, wird aber erst 1464 quellenkundig, als ein Leipziger Bürger mit dem „Fischzoll, Heringzoll und N u ß z o l l " belehnt wurde, so wie schon Jahre zuvor sein Vater. 49 Im gleichen Jahr wurde der Verkauf „aider heringk" verboten, 5 0 und in der Vorlage für eine neue Waageordnung wurden ausführlich Fische genannt: „ h e r i n g , . . . hecht, ander fisch, n e w n e u g e n , . . . Stockfisch, eß sei groß adder klein, bergerfisch, lobben adder langen". 5 1 1467 beschloß der Rat über die Maße von Honig- und Heringstonnen. 5 2 In den Quellen finden sich natürlich auch Hinweise auf den Handel mit Gewürzen („safran, pfeffer, inngebern, negelin etc."), Eisenwaren („Messir, ysen, senssen, sicheln unde deßglichen"), aber auch auf „Centenergut ader anderlei cremerie" sowie „Fenedisch vnde anders". 5 3 Alle diese Waren finden sich - alphabetisch geordnet zusammengefaßt in einem „Taxbüchlein", dessen Alter noch nicht genau bestimmt werden kann, dessen Grundlagen aber mindestens auf das späte 15. Jh. zurückgehen. 5 4 Enthalten sind auch ungewöhnliche, sonst nicht genannte Handelsgüter wie „isländisch Fisch", „Korck", „Reinisch H a n f " , „Venedisch" und „Bohemische Seifen", „Türkische Farbe", „Venum Grecum". D u r c h die verkehrsgeographische Lage an der via regia zwischen Erfurt und Leipzig ist es selbstverständlich, daß in N a u m b u r g die gleichen Waren angeboten wurden. Der bisherigen Vernachlässigung des Peter-Paul-Marktes durch die Forschung ist es sicher zuzuschreiben, daß ein „Vorzeichnus von aller handelwahr, die man einem erbarn rath alhier im markt vorrechnen m u ß " , erst für das Jahr 1567 bekannt ist. 55 An Besonderheiten sind nur hervorzuheben die Vielfalt der genannten Fell-, Pelz-, Leder- und Fischarten (darunter „leder breussisch uf lohe gar gemacht"), schlesische und Lausitzer Leinwand, „Kese holendisch". Außerdem ist in diesem Verzeichnis vermerkt, daß es notwendig sei, „einem erbr an radt der Stadt H a m b u r g zu schreiben", weil Fische mit falscher Bezeichnung und minderer Qualität geliefert wurden, „darmit das volgk böslich betrogen wird". Allein schon die Aufzählung der Waren macht deutlich, d a ß Mitteldeutschland ein wichtiges Transit-, aber auch Produktions- und Konsumtionsgebiet zu Beginn der Neuzeit gewesen ist und voll integriert war in den überregionalen, europäischen Warenaustausch. 46 47 48 49 50 51 52 53

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UB Leipzig, N r . 298, S. 239. UB Leipzig, Nr. 383, S. 311 ff. UB Leipzig, Nr. 383, S. 316 ff. UB Leipzig, Nr. 368, S. 300. UB Leipzig, Nr. 370, S. 302. UB Leipzig, Nr. 384, S. 316 ff. UB Leipzig, Nr. 409, S. 342. UB Leipzig, Nr. 383, S. 311 ff. In der Geleitsordnung Torgau 1524/23 (LHA Weimar, Reg. Cc 1185) formuliert: „Item venedisch pfennigwert als dingen, stael, blech, bley, wachs, leder und federn, kupfer ist centnergut". Stadtarchiv Leipzig, Tit. XVIII, Nr. 115. 1529 vermutete ein Schreiber die Entstehungszeit „etwan a.o. 1 5 0 0 , . . . es kann auch wohl sein, daß dieses Büchlein A.o. 1400 ungefehr geschrieben,... mag wenigß aus einen alten Register abgeschrieben sein". Stadtarchiv Naumburg, Rep. XLVII - 2 - 1567.

wird auch umb auch

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Manfred Straube

Die meisten Waren lassen erkennen, aus welcher Region sie kamen, und damit sind auch Rückschlüsse über ihre Produktionsstandorte möglich. Besonders einfach ist es bei Nahrungsgütern wie Fisch, Salz, Getreide und bei Getränken wie Wein und Bier. Hier helfen schon die Geleitsordnungen weiter. 56 Aufschlußreicher für die Stellung Mitteldeutschlands im überregionalen Handelsverkehr ist aber der Warenaustausch von verarbeiteten Produkten bzw. den dazu notwendigen Rohstoffen. Hier muß vor allem auf den Handel mit Textilien verwiesen werden, nicht nur, weil ihre Herstellung für den überregionalen Markt ausgezeichnete, gleichbleibende Qualitätsarbeit auf hohem Produktionsstandard verlangte, sondern weil auch derartige Tuche mit den Namen ihrer Produktionsorte auf den Markt kamen. Sie waren die ersten Fernhandelsgüter mit Massencharakter: ohne ein großes Angebot an Quantität und Qualität wären „Gewandhäuser" nicht notwendig gewesen. Daraus ergibt sich aber auch eine übergreifende wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellung, auf die hier nur hingewiesen, aber nicht eingegangen werden soll: woher kam die Kaufkraft für die kostbaren, „turen tuche" aus England, Flandern, dem Rheingebiet? Bereits aus den Geleitsordnungen ergibt sich, daß diese wertvollen Tuche in West-OstRichtung gehandelt wurden. Weiter ist eindeutig nachzuweisen, daß die auf den Gewandhäusern während der 4 großen Märkte in Leipzig und Naumburg angebotenen Tuche fast ausschließlich weiter nach Osten bzw. Nordosten gehandelt und nur ein relativ geringer Teil für den Gebrauch im unmittelbaren Umfeld verkauft wurde. Den Beweis liefert hier zunächst die besonders aussagefähige Geleitsordnung von Eilenburg, die „lundisch, leydisch, mechlisch, amsterdams, engelisch, brugkisch . . . tuch gewandes" nennt neben „eynlendisch, zwicgkische, kempnitzsch, naustetter, mitweydisch ader ander geferbte tucher". 5 7 An dieser Stelle muß auf den weiteren Verlauf der via regia östlich von Leipzig verwiesen werden: in einem „Leipziger Ratsvermerk für auswärtige Kauf- und Fuhrleute über die Benutzung der vorgeschriebenen Straßen" aus der Zeit vor 1471 58 heißt es, „welch furman kauffmanschacz adir centener gut von Lipczkg gen Breszlaw zcu füren geladen hat, der sal von Lipczk uff Ylnburg adir Grym, von Grym uff Ylnburg adir Oschatz 5 9 , von Oschatz uff den Hayn, vom Hayn uff Konigsburg und dann furder uff dy sechs stette von Konigsburg uff Camenz, Budissin, Gorlicz und furder gein Breßlaw . . . Item welch furman kauffmanschacz ader centener gut zu Lipczk in das konreich zcu Polan ader Posznaw und in dy margk gen Frankfurt an dy Oder gen Berlyn ader der geieichen gelegenheyt in die Marg zcu füren geladen hat, der sal von Lipczk uff Ilburg, von Ilburg uff Torgaw, von Torgaw uff Herczberg und dann furder der lande wo in das ebent in die Margk adir gen Polen zcu faren . . . 60 Damit wird erkennbar, daß das Transitgut, das aus westlicher Richtung nach Leipzig

56

57 58 59

Bisher wurden über 100 Geleitsordnungen aus dem thüringisch-sächsischen Raum aus dem ausgehenden 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ermittelt. Ihre Edition ist vorgesehen. D . h. aus Zwickau, Chemnitz, Neustadt an der Orla, Mittweida. Quellen, S. 187 ff. Hier liegt offensichtlich ein Schreibfehler vor: es muß richtig heißen „von G r y m adir Ylburg uff Oschatz . . . " . Ylnburg = Eilenburg, Grym = Grimma, Hayn = Großenhain, Konigsburg = Königsbrück, sechs stette = Bündnis der sechs lausitzischen Städte Bautzen, Kamenz, Löbau, Zittau, Görlitz, Lauban. Der entscheidende Oderübergang nach Polen und dem Ostseegebiet war bei F r a n k f u r t / O . Vgl. Manfred Straube, Die Stellung Frankfurts im Wirtschaftsleben zur Zeit der Gründung der Universität, in: Viadrina. Die Oder-Universität Frankfurt, Beiträge zu ihrer Geschichte, Weimar 1983, S. 73-90.

Die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit

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kam, nicht nur nach Osten bis Schlesien und weiter transportiert wurde, sondern daß von hier aus auch der hansische Nordosten mit „westlichen" Waren versorgt wurde. 61 Andererseits mußten alle Waren aus diesen Regionen in Leipzig niedergelegt werden vor weiterem Verkauf oder Transport. Dabei handelte es sich auch um Waren, die nicht weiter auf der via regia verfrachtet wurden, sondern direkt nach Süden bestimmt waren. Dazu heißt es in dem erwähnten Ratsbeschluß: „Item welch furman kauffmanschacz adir centener guth von Lipczk uff Nurenberg zcu füren geladen hat und vor den Hoff obir das gebirge faren wold, der sol von Lipczk uff Borne und von Borne uff Aldenburg, von Aldenburg uff Zcwickau und Plawen adir Olßnicz und von dann uff den Hoff faren. Item welch furman zcu Regensburg, zcu Nurenberg, zcu Bamberg, Elbogen und Eger ader an ander ende der landart kauffmanschacz ader centener gut gen Lipczk zcu faren hett", der hatte die genannten Städte ebenfalls zu passieren. 62 Die Angaben über die verschiedenen Warenarten und die Straßenverläufe lassen zweifellos erkennen, daß Mitteldeutschland eine bedeutende Rolle im überregionalen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit spielte, sie sagen aber noch nichts aus über den Umfang dieses Verkehrs. Dazu stehen Quellen zur Verfügung, die in Verbindung mit den Geleitsordnungen entstanden sind: die Geleitsrechnungen. In ihnen sind verzeichnet die Einnahmen entsprechend den in den Geleitsordnungen festgeschriebenen Gebühren für die sichere Straßenbenutzung unter Beachtung des Straßenzwangs, die einzelnen Transporte, die geladenen Güter, Herkunft und Ziel der Transporte, Bespannung und Namen der Fuhrleute und das Tagesdatum. So lassen sich einmal anhand der Geleitseinnahmen die Transportfrequenzen allgemein nach Tagen, Wochen, Monaten und Jahren ermitteln, zum anderen - bei entsprechend korrekter Führung der Geleitsrechnungen - auch der Umfang der transportierten Warenarten mit Herkunft und Ziel. Daneben stehen noch die verschiedenen Stadtrechnungen zur Verfügung, die Auskunft geben können über die Stellung und Funktion der großen Märkte im überregionalen Warenverkehr. Aus der Fülle der überlieferten und ausgewerteten Rechnungen können an dieser Stelle nur einige jener Ergebnisse angeführt werden, die die bisherigen, anhand anderer Quellen getroffenen Feststellungen bestätigen. 63 So spezifiziert die Handelsgüter in der Erfurter Geleitsordnung von 1441 wurden, so differenziert waren auch die Geleitsgebühren: für einen Zentner „centner gut" wurden 6 alte Pfennig (d; 9 d = 1 gr) verlangt, von „Spitzerey" je Zentner 10 alte d, und vom Zentner „Cramerei" 20 d. Von einer „Thonne heringe" hatte der Fuhrmann 3 d zu zahlen, von einer „Thonne honigs" 12 d und von einer „Thonne stoer" 15 d. An der Höhe der Geleitsgebühren läßt sich auch bei anderen Waren der Wert des jeweiligen Transportgutes erkennen: „ein tuch von Probanndt, Prosßel, Ambstertham, Lundisch tuch und dergleichen gibt eins 15 pfennige, . . . ein Saum gewandes von Ache helt 16 tuch, je von einem tuch 9 d, . . . ein stuck gewandts von Normbergk, Frannckfurdt, Erffurdt helt 16 tuch, von einem tuch 6 d". 64 Nicht immer haben die Geleitseinnehmer bzw. -Schreiber die Angaben nach Vorschrift bis in alle Einzelheiten eingetragen, sondern ζ. B. vieles unter „centner gut" abgerechnet.

62

63

64

Den Nachweis erbringen die zahlreichen Transporte mit Fuhrleuten aus Danzig, Stettin, Posen und Frankfurt/O. Vgl. die Studie A n m . 60 und u. S. 115 f. Von Bedeutung ist, daß die sog. Saaletalstraße über Jena - Saalfeld in den Überlegungen des Leipziger Rates keine Rolle spielte. Die nachfolgenden Angaben stützen sich vor allem auf die Habilitationsschrift des Verfassers „Zum überregionalen und regionalen Warenverkehr im thüringisch-sächsischen Raum, vornehmlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts" (Masch.), Leipzig 1981. Dabei muß natürlich die unterschiedliche, aber meist nicht bekannte G r ö ß e eines Tuches beachtet werden. Vgl. Buchwald, S. 120: Unter den 345 Kaufleuten mit Tuch hatte einer „190 Stück Harras, ein anderer 101 kurze (etwa 30 Ellen lange) und 21,5 (etwa 44 Ellen) lange Tuche, ein dritter 71,5 kurze Tuche".

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Manfred Straube

Noch einfacher veranschlagt wurden die „grossen gedeckten polnischen Wagen" bzw. die Fuhrleute aus Frammersbach 65 , „die über jhar fharen": sie zahlten pauschal „ein gulden zu glaite" bzw. „von einem wagen ein halben gulden". Von wirtschaftspolitischer und wirtschaftsgeschichtlicher Bedeutung ist der Gebührenerlaß für „alle burger und bauren und allemenniglichen zu Doringen gesessen" zu den Erfurter Märkten und für „alles, das im landt zu Duringen gewachsen ist, es sei weidt, wein, gersten, hopfen, habern e t c . , . . . item alles das do lebt, . . . als pferde, kuhe, schwein, schaf, visch und dergleichen". Daneben enthält die Geleitsordnung von 1441 - die über Jahrhunderte galt und noch 1769 benutzt wurde 66 - noch zahlreiche andere Befreiungen von Städten und Bevölkerungsgruppen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Aufgrund dieser Privilegierungen wurden diese Transporte auch nicht in den Rechnungen vermerkt und können nicht festgestellt werden. Noch bedeutsamer ist aber die in fast allen Geleitsordnungen festgeschriebene Praxis, daß das Geleit 14 Tage „stand", d. h., daß ein Fuhrmann, kehrte er innerhalb dieser Frist an den Geleitsort zurück, von einer neuen Geleitsgebührenzahlung befreit war. Demzufolge wurde er auch nicht in den Rechnungen eingetragen. Unter diesen Gesichtspunkten entsprechen die aus den Quellen ermittelten und nachfolgend aufgeführten Einnahmen und Transporte, Güter und Fuhrleute usw. für Erfurt nur etwa 40 % der tatsächlichen Frequenz, bei den anderen Geleitsorten kann mit etwa 50 % der wirklich erfaßten Transporte usw. gerechnet werden. Nach den Geleitsrechnungen für Erfurt betrugen die Geleitseinnahmen vom 15. 11. 1517-13. 11. 1518 (52 Wochen) 1 771 fl 4 14. 11. 1518- 5. 11. 1519 (52 Wochen) 1 848 fl 14 6. 11. 1519-15. 4. 1520 (24 Wochen) 886 fl 7 1. 5. 1522- 4. 4. 1523 (48 Wochen, 3 Tg.) 1 788 0 2 5. 4 . 1 5 2 3 - 7. 11. 1523 (31 Wochen) 1318 fl 8 5. 11.1525-31. 3. 1526 (21 Wochen) 652 fl 7 1. 5.1526-30. 4. 1527 (52 Wochen) 2 028 fl 8 1. 5.1527-30. 4. 1528 (52 Wochen) 2 233 fl 1 15.11.1528-27. 4. 1529 (23 Wochen, 5 Tg) 784 fl 12 28. 4.1529-30. 4.1530 (52 Wochen) 1749 fl 3 (Sommertheyl 1529 von 28 Wochen 1 031 fl 18 (Wintertheyl 1529/30 von 24 Wochen 717 fl 7 7. 8. 1530-30. 4. 1531 (38 Wochen) 1 275 fl 13

gr gr gr gr gr gr gr gr gr gf gr gr gr

2d 6 d 6 d 1 d 4 d 8 d 10 d 7 d 8 d 7 d 2d 5 d 3d

1 1 1 1 1 1

h h h h h h

1 h 1 h

wöch. wöch. = wöch. = wöch. = wöch. = wöch. = wöch. = wöch. = wöch. = wöch. = wöch. - wöch. = wöch. = =

0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

34 fl 1 gr 35 fl 11 gr 36 fl 19 gr 36 fl 18 gr 42 fl 11 gr 31 fl 1 gr 39 fl 42 fl 19 gr 32 fl 14 gr 33 fl 13 gr 36 fl 18 gr 29fl 18 gr 33 fl 10 gr 6 d67

3d 6d 6d

4d 9d 6d 6d 3d) 8 d)

Wie gleichbleibend die Geleitseinnahmen über Jahrzehnte und wie abhängig sie von den Messeterminen waren, zeigen die Geleitsrechnungen vom 1. 5. 1553-30.4. 1554 (52 Wo-

65

66

67

Dazu Peter Moser, Mittel- und Nordwesteuropäischer Landtransport: Die Frammersbacher Fuhrleute und ihr Beitrag zur Transportgeschichte. (15.-19. Jahrhundert). Phil. Diss. Bamberg 1990. Vgl. LHA Magdeburg, Rep. A 3 7 b i l l Tit. V, Nr. 22 mit der Geleitsordnung von 1441 in späterer Abschrift und mehreren Verweisen auf die Gültigkeit bis 1746 bzw. 1769, dazu „Extract und Verzeichnis" über Strafen, die Mainzer Amtsuntertanen 1769 nach der alten Geleitsordnung nach Weimar zu zahlen hatten. Ebd., Nr. 19, enthält Auseinandersetzungen um das Geleit Erfurt im 17. und 18. Jahrhundert. LHA Weimar, Geleitsrechnungen Erfurt, Reg. Cc 729-740.

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Die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit

chen 2 Tage)68; die Einnahmen betrugen 2 179 fl 7 gr 10 d, daraus ergibt sich ein wöchentlicher Durchschnitt von 41 fl 17 gr. E i n n a h m e n vom 1. 5. 1553- 4. 11. 1553 (27 Wochen) 1 256 fl 20 5. 11. 1553-30. 12. 1553 ( 8 Wochen) 244 fl 5 1. 5. 1553-30. 12.1553 (35 Wochen) 1 501 fl 4 3 1 . 1 2 . 1 5 5 3 - 3 0 . 4 . 1 5 5 4 (17 Wochen, 2 Tg) 677 fl 3 H ö c h s t e Einnahmen 30. 7 . 1 5 5 3 - 5. 8. 1553 7. 1.1553-13. 1.1553 1. 1 0 . 1 5 5 3 - 7. 10. 1553 23. 7 . 1 5 5 3 - 2 9 . 7. 1553 24. 9 . 1 5 5 3 - 3 0 . 9 . 1 5 5 3

89 81 80 77 70

fl 5 gr fl 6 d fl 4 gr fl 11 gr fl 10 gr

5d 6 d 5d

gr 10 d gr gr gr

= = -

wöch. wöch. wöch. wöch.

Niedrigste E i n n a h m e n 29. 10. 1553- 4. 11. 1553 26. 11. 1553- 2. 12. 1553 31. 12. 1553- 6. 1. 1554 19. 11. 1553-25. 11. 1553 12. 11. 1553-18. 11. 1553

22 22 20 20 17

0 0 0 0

46 fl 6 gr 30flllgr 42 fl 19 gr 39 fl 13 gr

fl 15 gr fl 13 gr 8 d fl 7 gr 6 d fl 4 gr 2 d fl 8 d

Anhand der besonders gut geführten Rechnungen von 152369 läßt sich auch der Anteil der einzelnen Güter an den Transporten ermitteln. So wurden im Zeitraum vom 5. 4 7. 11. 1523 (31 Wochen) in Erfurt insgesamt 391 Wagen und 58 Karren mit Zentnergut registriert. Auf der via regia waren 296 Wagen und 53 Karren unterwegs, auf der „Kreuzstraße" 95 Wagen 5 Karren. 70 Allein 127 Wagen und 15 Karren wurden auf der via regia von Fuhrleuten aus Frammersbach geführt, die den Fernhandel zwischen Breslau/Posen Leipzig und Antwerpen beherrschten. 71 Wesentlich für die Bestimmung der Zentnergutwagen als Fernhandelstransporte im Ost-West-Verkehr sind auch die Termine, in denen sich diese Fuhren konzentrierten: 1. vom 12. 4.1523-23. 4. 1523 2. vom 26. 8. 1523- 2. 9. 1523 3. vom 21. 9. 1523- 1. 10. 1523

65 39 79 = 183

Wagen 23 Karren Wagen Wagen 39 Karren, Wagen 39 Karren.

Diese Ballung hängt zweifellos zusammen mit den großen Märkten in Leipzig und Frankfurt/M, denn die Transporte des 1. Termins gingen ausschließlich nach Buttelstedt Leipzig, die des 2. Termins mit Ausnahme von 5 Wagen nach Creuzburg bzw. Eisenach Frankfurt und die des 3. Termins mit Ausnahme von 2 Wagen alle nach Buttelstedt Leipzig; die Leipziger Ostermesse begann am 26. April, die Frankfurter Messe am 15. August und die Leipziger Michaelismesse am 4. Oktober. Wie bereits erwähnt, ist die Stellung des Naumburger Peter-Paul-Marktes noch ungenügend bekannt, aber die bisher ausgewerteten Stadtrechnungen lassen zumindest die gleichen Tendenzen des Handelsverkehrs auf der via regia wie in Erfurt erkennen. Aller-

68 69 70

71

LHA Weimar, Geleitsrechnung Erfurt, Reg. Cc 777. LHA Erfurt, Geleitsrechnung Erfurt, Reg. Cc 732. Zum Einzugsbereich der „Kreuzstraße" vergl. Manfred Straube, Der hansische Binnenhandel - die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Thüringen und den Seestädten zu Beginn der frühen Neuzeit, in: Katalog zur Ausstellung „Städte im Bunde. Die sächsischen Hansestädte zwischen Weser und Elbe um 1500", Magdeburg 1996, S. 396-405. In einem Bericht über die Erfurter Geleitspraxis heißt es 1516 u. a.: „Die framsbacher und posener wagen, das seint die wagen, welche uff Frankfurt fharen . . . " . LHA Weimar, Reg. Aa 2886, Gebrechen 1516.

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Manfred Straube

dings sind die Angaben in den seit 1490 überlieferten Rechnungen recht unbestimmt, so daß auch ihre Auswertung nur bedingt sichere Ergebnisse bringen kann. An der Spitze stehen die Einnahmen „vom Jahrmarkte", die nicht näher zu definieren sind 72 , danach folgen die Einnahmen über „Biereile", „von der Waage", „von der Fehre", „vom Salzkasten", „vom Gewandschneiderkasten" usw. Die ,Jahrmarktgelder" ergaben sich natürlich aus dem Angebot aller Waren, die auf allen Straßen zu den Peter-Paul-Messen gebracht wurden 73 ; sie lassen erkennen, daß auf den Naumburger Messen ein hoher Umsatz erzielt wurde. Entgegen älteren Auffassungen, nach denen parallel zum Aufstieg der Leipziger Messen sich der Verfall der Naumburger Messen vollzog 74 , kann dem zumindest anhand der Jahrmarktgelder eindeutig widersprochen werden. Diese Einnahmen sind von 1490 unaufhörlich und mit ziemlicher Stetigkeit gestiegen 75 : von 1490 bis 1499 betrug der jährliche Durchschnitt 520 fl76, von 1500 bis 1509 schon 572 fl, von 1510 bis 1519 verringerte sich der Durchschnitt auf 560 fl durch die absolut niedrigste Einnahme im Zeitraum von 1490 bis 1529 von 427 fl 5 gr im Jahre 1518, danach ließ sich ein jährlicher Durchschnitt von 719 fl für die Zeit von 1520 bis 1529 feststellen. Hier sind aber Teile der Waageeinnahmen mit verrechnet worden. 77 Dieser Trend scheint sich zumindest bis über die Mitte des 16. Jahrhunderts hinaus erhalten zu haben, wie die Reisen oberdeutscher Kaufleute nach Naumburg 78 und der verstärkte Warenverkehr um die Naumburger Messezeiten durch die Geleitsorte an der via regia deutlich machen. Wenn auch weitere Nachrichten über die Naumburger Peter-Paul-Messe noch nicht zur Verfügung stehen, so kann doch immerhin festgestellt werden, daß diese Messe einen bedeutenden Platz im überregionalen Warenaustausch durch Mitteldeutschland einnahm; zugleich wird damit die dominierende Rolle der via regia nachdrücklich unterstrichen. Der hohe Rang des überregionalen, europäischen Handelsverkehrs durch Mitteldeutschland zu Beginn der frühen Neuzeit läßt sich auch an den Umsätzen während der drei großen Leipziger Märkte quantitativ und qualitativ nachweisen. Die entscheidenden Quellen sind die Stadtrechnungen, die bisher unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet wurden. Dabei spielen auch hier die Waageeinnahmen die entscheidende Rolle,

72

73

74 75

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77

78

Es scheint sich nicht wie in Leipzig um Städte- oder Budenzins gehandelt zu haben, denn erst 1531 ist „dem Rat vom P. Paulsmarkt das Städtegeld, so dem Bischof gehörig, eingethan und verpachtet worden auf 5 Jahre, jedes Jahr 100 fl und folgends auf etliche Jahre erstreckt worden". Braun, S. 219. Nach den vorliegenden Quellen haben offensichtlich die Warentransporte auf der via regia für die Naumburger Messen die größte Bedeutung. Bei den Chronisten ist fast ausschließlich von dieser Straße für den Ost-West-Handel die Rede. Ζ. B. Müller, Privilegien, S. 4. Vgl. Nicolaus Krottschenschmidt, Naumburger Annalen vom Jahre 1305 bis 1547 nach seiner im städtischen Archiv befindlichen Handschrift hrg. v. Köster, Naumburg 1935: „Diese Zeit (1349) hat der Radt durch die Burner auff den Marg selbst aufbuden lassen, und dis, das der Ratd hat selbst aufbuden lassen, hat geweret bis man 1488 geschrieben; der Rad hat es aber dorumb geändert, das got lob der marg tapfer zugenohmen und das es inen zu mühsam geworden", S. 8. In Naumburg rechnete man seit 1447 nach Gulden, die Stadtrechnungen wurden aber noch bis 1500 mit alten Schock geführt. Die Angaben aus den Rechnungen von vor 1500 wurden entsprechend umgerechnet. Nicht zuletzt diese Einnahmen werden dem Rat von Naumburg ermöglicht haben, Bergwerksanteile im böhmischen Erzgebirge zu kaufen. 1520 waren es 12 Kuxe im S. Joachimsthal, 1529 hat der Rat dort unbestimmte „viel Kuxe gehabt" und 1536 hat er 16 neue Kuxe erworben. Vgl. Braun, S. 211 und S. 229. 1545 und noch 1573 ersuchte der Rat von Nürnberg um Geleit für seine Kaufleute zur Naumburger Peter-Paul-Messe. L H A Weimar, Reg. Β Nr. 23218, p. 2 bzw. p. 134.

Die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit

113

denn jeder Kauf- oder Fuhrmann mußte seine Waren entsprechend der „Waageordnung" und den Gebührenangaben im „Taxbüchlein" an der Waage wiegen bzw. taxen lassen. Umfängliche Vorschriften und Kontrollen versuchten, Unterschleife zu verhindern, so daß mehrfach festgestellte Mängel schnell behoben wurden; es kann davon ausgegangen werden, daß die Rechnungsangaben den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen. Die Waagetaxen waren eine Waren-Wert-Abgabe, der der allgemeine durchschnittliche Kaufpreis der Warenarten zugrundelag. 79 Die Abgabe betrug durchgängig l a d von 1 fl Warenwert. Die Abrechnungspraxis der Waageeinnahmen in Leipzig erlaubt auch, die Stellung der drei großen Märkte zueinander näher zu bestimmen: es wurde abgerechnet nach den Märkten und zwischen den Märkten. So wurden zur Ostermesse 1471 (vom 6.-11. 5.) an der Waage 507 fl 4 d 1 h, bis zum Beginn der Michaelismesse am 7. 10., d. h. für 31 Wochen, aber nur 126 fl 4 gr eingenommen; die Michaelismesse brachte der Stadt 490 fl 1 gr ein, die Zeit bis zur Neujahrsmesse, d. h. für 13 Wochen, aber nur 88 fl 12 gr. Daß es sich dabei nicht etwa um jahreszeitlich bedingte Verminderung des Warentransports handelte, zeigen die Einnahmen zur Neujahrsmesse 1572, die immerhin 424 fl 12 gr 3 d betrugen. Die Jahreseinnahmen an der Waage vom Februar 1471 bis zum Februar 1472 - Anfang und Ende eines Rechnungsjahres war jeweils der Ratswechsel - ergaben 1 906 fl 4 gr 7 d 1 h, davon 1 4 2 1 f l l 3 g r 7 d l h allein während der Messen. Dieses Bild wiederholt sich laufend. Nachdem der Rat 1480 die Waage hatte „erweyten lassen", nahm er 1481 von 2 336 fl 10 gr Jahreseinnahmen zum Ostermarkt 559 fl 1 gr ein, zum Michaelismarkt 490 fl 18 gr und zum Neujahrsmarkt 1482 gar 590 fl 6 gr. Es bleiben also 694 fl 6 gr an Waageeinahmen für die Zeiten zwischen den Messen. 1491 ist die gleiche Tendenz festzustellen: die Messen bestimmten den Wareneingang in Leipzig. 1 8 1 3 f l 7 g r 6 d waren die Jahreseinnahmen, davon gingen zur Ostermesse 489 fl 6 gr ein, zur Michaelismesse 408 f l l 2 g r 6 d l h und zur Neujahrsmesse 571 fl 1 9 g r 3 d . Auch 1501 bewegten sich die Einnahmen an der Waage in ähnlicher Höhe wie in den vorangegangenen Jahren und betrugen 2 091 fl 10 gr 7 d mit dem Schwerpunkt auf der Neujahrsmesse 1502: hier wurden 630 fl 15 gr kassiert! 1511 konnten 2 878 fl 16 gr 7 d 1 h als Jahreseinnahmen abgerechnet werden. Im Verlaufe des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts stiegen die Einnahmen immer mehr, so daß sie 1521 bereits 3 670 fl 13 gr und 1526 sogar 4 011 fl 14 gr betrugen. Werden nun diese Summen - mit allem gebotenen Vorbehalt 80 - in das Verhältnis gesetzt zum Warenwert entsprechend der Taxordnung 1 a d für 1 fl, dann ergeben sich noch eindrucksvollere Zahlen. 81 Danach wurden zu den einzelnen Messen folgende Warenwerte an der Waage präsentiert:

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80

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Preisvergleiche bestätigen diesen Ansatzpunkt des „Taxbüchleins", daneben gibt es aber auch Spielräume für Preisschwankungen. In der Waageordnung heißt es ζ. B. bei Hecht: „von der thun . . . 4 d, darnach er teuer ist", bei Mandeln: „vom Ztr. 3 gr, auch 4-5 gr, nach dem sie gelten". So heißt es ζ. B. bei Transitgut in der Taxordnung: „Durchfart. Alle gueter, die herkommen, nidergelegt und nicht verkauft, wider aufgeladen und weckgefuert werden, gibt man von yedem stuck, sei es groß oder klein, 4 d." Zu berücksichtigen sind auch Vergünstigungen für einheimische Kaufleute, die - oft in „geselschaft" mit auswärtigen Kaufleuten - Bestimmungen der Waageordnung umgingen und weniger Waagegeld zahlten oder zahlen wollten. Hier werden erst weitere Untersuchungen Klarheit schaffen können. Die Groschen werden entsprechend den alten Währungsrelationen mit 9 d gerechnet, der Gulden mit 189 d.

114 1471 1472 1481 1482 1491 1492 1501 1502 1511 1512 1521 1522

Manfred Straube

Ostermesse 507 fl Michaelismesse 490 fl 1 gr Neujahrsmesse 424 fl 12 gr 3 d Ostermesse 559 fl 1 gr Michaelismesse 490 fl 18 gr Neujahrsmesse 590 fl 6 gr Ostermesse 489 fl 6 gr Michaelismesse 408 fl 12 gr 6 d Neujahrsmesse 571 fl 19 gr 3 d Ostermesse 480 fl 1 gr Michaelismesse 426 fl 5 gr Neujahrsmesse 630 fl 15 gr Ostermesse 797 fl 15 gr Michaelismesse 657 fl 5 gr Neujahrsmesse 719 fl 16 gr Ostermesse 918 fl 12 gr Michaelismesse 778 fl 14 gr Neujahrsmesse 952 fl 10 gr

= = = = = = = = = = = = = = = = = =

95 827 fl 92 619 fl 80 246 fl 105 660 fl 92 772 fl 111 564 fl 92 475 fl 77 224 fl 107 903 fl 90 729 fl 80 559 fl 119 205 fl 150 768 fl 124 218 fl 136 035 fl 173 610 fl 147 168 fl 179 829 fl.

Neben den Waageeinnahmen enthalten die Leipziger Stadtrechnungen auch Angaben über das eingeforderte Standgeld für die Verkaufsstände. Daraus ergibt sich, daß die Einnahmen von den „großen Buden" auf dem Gewandhaus die von den „kleinen Buden . . . uff dem margkte" bei weitem übertrafen. Ein Vergleich zwischen den Einnahmen an der Waage und dem Budengeld für jede einzelne Messe macht deutlich, daß Schwankungen in der Höhe der Einnahmen an der Waage ihre Ursache in der geringeren oder höheren Anzahl der großen Buden im Gewandhaus hatten. Das bedeutet: Der Tuchhandel bestimmte vor allem die Messegeschäfte. 82 Leider sind für Leipzig keine Geleitsrechnungen überliefert, wohl aber für Eilenburg, Wittenberg und Torgau und damit für die wichtigsten Geleitsorte östlich und nordöstlich von Leipzig an den Straßen in Richtung Schlesien/Polen und des hansischen Ostseeraums. Die bisher vorgenommene Auswertung läßt erkennen, wie weit die Handelsverbindungen reichten und wie sehr sich Leipzig vor allem zu den Messezeiten zum Umschlagsort bzw. Transitort für den Warenaustausch zwischen den östlichen/nordöstlichen und den westlichen und südlichen Regionen entwickelt hatte. Es war zum „Vorort" nach Osten geworden. Aus der Fülle des vorliegenden Materials brauchen nur einige Beispiele angeführt zu werden, um die bisher getroffenen Feststellungen über die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit eindrucksvoll zu bestätigen. 83 So wurden in der Zeit vom 1. 5. 1524 - 30. 4.1525 in der Geleitsstelle Eilenburg registriert

82

Vgl. dazu die in Anm. 63 genannte Arbeit, bes. 235 ff. Vgl. zuletzt Manfred Straube, Funktion und Stellung deutscher Messen im Wirtschaftsleben zu Beginn der frühen Neuzeit. Die Beispiele Frankfurt am Main und Leipzig, in: Brücke zwischen den Völkern - Zur Geschichte der Frankfurter Messe. Bd. I: Frankfurt im Messenetz Europas - Erträge der Forschung, Frankfurt/M 1991, S. 191-204.

Die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr ru Beginn der Neuzeit 7 0 7 6 W a g e n u n d 7 6 K a r r e n , d a r u n t e r 3 9 4 W a g e n geleitsfrei. 8 4 D i e

115

Geleitseinnahmen

b e t r u g e n in d i e s e m R e c h n u n g s j a h r 2 1 5 6 fl 9 gr u n d w a r e n d a m i t - m i t 2 A u s n a h m e n

-

w e s e n t l i c h h ö h e r als die l a n g j ä h r i g e n d u r c h s c h n i t t l i c h e n E i n n a h m e n des E r f u r t e r G e l e i t s a m t e s . A l l e r d i n g s m u ß t e n n a c h d e r E i l e n b u r g e r G e l e i t s o r d n u n g alle W a g e n „ d i e d a z e n t n e r g u t f ü h r e n , . . . h i n u n d w i d e r g e l e i t h e n " , d. h., f ü r diese T r a n s p o r t e m u ß t e n bei j e d e r D u r c h f a h r t G e l e i t s g e b ü h r e n g e z a h l t w e r d e n ; sie b e t r u g e n f ü r jedes P f e r d 3 g r . 8 5 I m R e c h n u n g s j a h r 1 5 2 4 / 2 5 w u r d e n in d e n E i l e n b u r g e r R e c h n u n g e n 1 6 8 1 W a g e n m i t Z e n t n e r g u t verzeichnet, davon 1 2 2 3 auf dem Wege nach Leipzig, 4 1 8 Wagen fuhren von Leipzig nach O s t e n , N o r d o s t e n u n d N o r d e n . 8 6 H i n z u k a m e n aus ö s t l i c h e r R i c h t u n g u. a. 2 6 4 W a g e n m i t s l o w a k i s c h / u n g a r i s c h e m K u p f e r u n d F u h r l e u t e n aus L e m b e r g , G r e i f e n b e r g , E r f u r t , L a u b a n , H i r s c h b e r g u n d L i e g n i t z , aus d e m N o r d o s t e n w u r d e n d u r c h E i l e n b u r g

gefahren

1 3 9 8 , 5 Tonnen Fisch auf 2 6 3 Wagen und 2 3 1 5 , 5 Tonnen H e r i n g auf 3 9 3 Wagen. N a c h O s t e n g i n g e n aus R i c h t u n g L e i p z i g u. a. 3 4 0 m i t W a i d b e l a d e n e W a g e n , b e s p a n n t m i t 2 1 3 2 P f e r d e n . 8 7 B e i diesen T r a n s p o r t e n g a l t a l l e r d i n g s die ü b l i c h e 1 4 - t ä g i g e G e l e i t s f r e i h e i t , d. h. , hier w u r d e n u r eine F a h r t e r f a ß t u n d die G e s a m t z a h l d e r T r a n s p o r t e m u ß w e s e n t l i c h , v e r m u t l i c h u m das D o p p e l t e , e r h ö h t w e r d e n . V e r g l e i c h b a r e A n g a b e n lassen s i c h a u c h für die G e l e i t s o r t e W i t t e n b e r g u n d T o r g a u a n f ü h r e n . 8 8 B e i s p i e l g e b e n d sind d a f ü r die T r a n s p o r t e aus F r a n k f u r t / O d e r , C r o s s e n / B o b e r , Danzig und Posen.89 In Eilenburg wurden registriert auf dem Wege nach und von Leipzig - Fuhrleute aus F r a n k f u r t / O d e r mit 152 Wagen und 546 - Fuhrleute aus C r o s s e n / B o b e r mit 130 Wagen und 663 mit 41 Wagen und 151 - Fuhrleute aus Danzig mit 32 Wagen und 2 0 9 - Fuhrleute aus Posen

Pferden, Pferden, Pferden, Pferden;

in Wittenberg - Fuhrleute aus F r a n k f u r t / O d e r

mit

28 Wagen und 171 Pferden,

- Fuhrleute aus C r o s s e n / B o b e r - Fuhrleute aus Danzig - Fuhrleute aus Posen

mit mit mit

37 Wagen und 222 Pferden, 34 Wagen und 166 Pferden, 19 Wagen und 128 Pferden;

84

LHA Weimar, Reg. Cc 676, Geleitsrechnung Eilenburg. Es handelt sich dabei vor allem um Salz-, Lebensmittel- und Biertransporte, die ζ. T. von verschiedenen Gemeinden summarisch erfaßt wurden, ζ. Β von Delitzsch, das 137 Wagen Korn, 114 Wagen Hafer und 30 Wagen Weizen nach Torgau transportierte für Herzog Georg. Auch die übrigen geleitsfreien Fuhren waren für Adlige bestimmt. Die geleitsfreien Fuhren hätten 108 fl 19 gr an Gebühren gebracht.

85

Die Geleitsordnung Eilenburg ist gedruckt in meinem Beitrag „Mitteldeutsche Städte und der Osthandel zu Beginn der frühen Neuzeit. Forschungsergebnisse, Forschungsmöglichkeiten, Forschungsnotwendikeiten", in: Stadt und Handel, hgb. v. B. Kirchgässner und H.P. Becht (Stadt in der Geschichte, Veröff. d. Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, Bd. 22), Sigmaringen 1995, S. 104 ff.

86

Die Differenz zwischen beiden Richtungen - 1 223 Wagen nach und nur 418 Wagen von Leipzig läßt sich gegenwärtig nur so erklären, daß viele Fuhrleute über Leipzig hinausfuhren und/oder einen anderen Rückweg wählten, oder aber, die Rückfracht zählte nicht zu Zentnergut. Hier können nur vergleichende Untersuchungen anhand der Familiennamen und der Herkunftsorte weiter helfen. Die Angabe der Pferde ist nicht nur interessant wegen der Bespannung der Wagen auf den Fernhandelsstraßen - hier ein Verhältnis von 1:6 ,2 - sie wirft auch die Frage nach der Pferdezucht auf. Das genannte Verhältnis ist nicht genau, weil nach der Geleitsordnung, „wo 5, 6, 7, 8 pferde in eynem wagen gehen, vorsehet man allewege in eynem wayne ein pferdt", d. h. es wurde nicht mit Gebühren belegt und somit nicht erfaßt. Zu Wittenberg vgl. Manfred Straube, Zur wirtschaftlichen Stellung Wittenbergs in der ersten Hafte des 16. Jahrhunderts, in: Jb. f. Regionalgeschichte, 10. Bd. Weimar 1983, S. 49-69; dort auch gedruckt die Geleitsordnung von Wittenberg.

87

88

89

Ausführlich dazu Manfred Straube, Stellung Frankfurts, o. Anm. 60.

116 in Torgau - Fuhrleute - Fuhrleute - Fuhrleute - Fuhrleute

Manfred Straube

aus aus aus aus

Frankfurt/Oder Crossen/Bober Danzig Posen

mit mit mit mit

85 84 3 10

Wagen Wagen Wagen Wagen

und 2 0 7 Pferden, und 442 Pferden, und 13 Pferden, und 57 Pferden.

In Torgau wurden außerdem besonders Fuhrleute aus Schlesien und der Lausitz registriert, so aus Glogau, Schwiebus, Liegnitz, Breslau, Sorau, Görlitz, Guben, Sagan. Im gleichen Zeitraum passierten Eilenburg, Wittenberg und Torgau auch Transporte mit Fuhrleuten aus Franken, Thüringen und Sachsen, d. h. aus Regionen, die südlich Leipzigs lagen. 90 So wurden auf dem Wege von Leipzig nach Nordosten in Wittenberg 76 Wagen mit 529 Pferden in die Rechnungen eingetragen, deren Fuhrleute aus Kronach (41 mit 276 Pferden) , Nürnberg (15/113) , Lehesten (15/112) 9 1 , Neustadt/Orla (2/8), Lobenstein/ Thür. (1/8), Pößneck/Thür. (1/6) und Wurzbach/Franken (1/6) stammten; aus dem Hanseraum auf der Rückfahrt wurden erfaßt Fuhrleute aus Kronach (35/263), Lehesten ( 3 2 / 230), Nürnberg (9/60), Wurzbach (6/35), Neustadt (2/16), Kulmbach (1/8) sowie aus Saalfeld, Gräfenthal/Thür, und Pößneck (je 1/6). Zusammen waren es also 164 Wagen mit 1 159 Pferden. In Eilenburg wurden erfaßt vor allem Fuhrleute aus Erfurt mit 359 Wagen, Lehesten (145), Kronach (97), Dresden (94), Nürnberg (19) und H o f (4), in Torgau 49 Wagen aus Lehesten und je 13 aus Nürnberg und Kronach. Die Vielzahl der Zahlen und Orte mag zunächst verwirren und muß anhand der Geleitspraxis miteinander in Ubereinstimmung gebracht werden, sie ist aber lediglich ein Ausdruck der Vielfalt des Handelsverkehrs zu Beginn der Neuzeit und auch nur ein schmaler Ausschnitt des Handelsverkehrs insgesamt. Hinter den Zahlen stehen Fuhrleute, die bei einer täglichen Reisegeschwindigkeit eines 5-spännigen Fuhrwerkes von ca. 20 km oft monatelang und zu jeder Jahreszeit unterwegs waren mit wertvollsten Rohstoffen, Nahrungsgütern oder Produkten. Ein derart bespannter Wagen konnte - wie Angaben bei Kupfertransporten erkennen lassen - mit ungefähr 2 to Last beladen werden; alle Transporte zusammen ergeben danach ein Frachtgutvolumen von bisher unbekanntem Ausmaße. Vergleichende Einzeluntersuchungen auf der Grundlage weiterer Geleitsrechnungen und anderer Quellen und mit modernen Forschungsmöglichkeiten lassen hier noch manche Überraschung erwarten. 92 Wenn es also noch weiterer und vorgesehener Untersuchungen bedarf, um den Handelsverkehr in Mitteldeutschland zu Beginn der Neuzeit weiter zu erhellen, so kann doch bereits an dieser Stelle resümierend festgestellt werden, daß

® Die Tatsache, daß diese Transporte ohne Aufenthalt in Leipzig im Transit passierten, wirft neue Fragen auf über die Rolle und Funktion des Leipziger Stapelrechts, die aber gegenwärtig noch nicht beantwortet werden können.

9

91

92

Lehesten, ein kleiner Ort an der thüringisch-fränkischen Grenze, s. Saalfeld an der Straße Saalfeld Kronach. 1542 konnte der Schosser die Türkensteuer nicht eintreiben, weil die Fuhrleute nicht daheim, sondern „zu Presla, Poßen, Krakow und Lublin" unterwegs waren. L H A Weimar, Reg. Pp 256 5 . Vor nur 25 Jahren konnte Miroslav Hroch noch zweifelnd fragen, „dürfen wir überhaupt von einem wichtigen Warentransport auf dem Landwege nach Osten sprechen?... Es muß sich um wertvolle und leicht transportierbare Waren handeln, damit sich der weite Transport lohnte . . . Zugleich ist nach Warensorten zu forschen, die nach Osteuropa in der fraglichen Zeit - sei es auf neuen Transportwegen, sei es in bisher unbekannter Quantität - geliefert worden sind." M. Hroch, Die Rolle des zentraleuropäischen Handels im Ausgleich der Handelsbilanz zwischen Ost- und Westeuropa 1550-1650, in: Der Außenhandel Ostmitteleuropas 1450-1650, hgb. v. Ingomar Bog, Köln-Wien 1971, S. 11.

Die Stellung Mitteldeutschlands im europäischen Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit

117

- Mitteldeutschland ein wichtiges Bindeglied war für den Warenaustausch zwischen den westdeutschen bzw. westeuropäischen und den mittelosteuropäischen Produktionsund Konsumtionszentren, gekennzeichnet durch die hohe Frequenz der via regia, - über die Kreuzstraße durch Erfurt und die via imperii durch Leipzig Mitteldeutschland maßgeblich beteiligt war an der wirtschaftlichen Verbindung zwischen Oberdeutschland und dem gesamten niederdeutschen Hansegebiet, - das große Handelszentrum Erfurt und Leipzig mit Naumburg und den großen Märkten/Messen entscheidend dazu beigetragen haben, den überregionalen Warenaustausch und die damit verbundene überregionale Arbeitsteilung zu fördern und zu organisieren, - Mitteldeutschland bzw. die thüringisch-sächsische Wirtschaftsregion durch eigene, hochentwickelte Marktproduktion nicht nur maßgeblich dazu beigetragen hat, den überregionalen Handelsverkehr zu fördern, sondern auch gleichzeitig selbst einen weiteren wirtschaftlichen Aufschwung nahm, - die Geschichte des Handelsverkehrs durch Mitteldeutschland Aufschlüsse geben und beispielgebend sein kann für Erkenntnisse über die Organisation der Gütertransporte auf den Landstraßen mit allen sich daraus ergebenden Fragen nach feudaler Belastung und politischen Einflußnahmen, nach der sozialen Stellung der Fuhrleute und der Rolle von Handelsgesellschaften, nach Straßenzustand und Transportgeschwindigkeiten, nach dem quantitativen und qualitativen Verhältnis zum Warenverkehr über See und nach dem „Neuen" im Handelsverkehr zu Beginn der Neuzeit.

KARLHEINZ BLASCHKE, DRESDEN-FRIEDEWALD

Sachsen in der frühbürgerlichen Bewegung des 16. Jahrhunderts

Der englische Universalhistoriker Arnold Joseph Toynbee weist aufgrund seiner tiefen Einsichten in den Gang der Weltgeschichte in seinem grundlegenden Werk „A Study of History" darauf hin, daß der „alternierende Rhythmus von statisch und dynamisch, von Bewegung und Pause und Bewegung", zu den grundlegenden Erkenntnissen über die Natur des Universums gehört. Er übernimmt die dafür im alten China angewandten Begriffe des Yin für das statische und Yang für das dynamische Prinzip1. Dieses aus einem weiten Horizont des Wissens um Geschichte abgeleitete Denkmodel läßt sich auch auf die räumlich eingeschränkte Ebene der Landesgeschichte anwenden, die selbst in dem kurzen Ablauf von tausend Jahren mehrfach einen Wechsel von Ruhe und Aufbruch zeigt. Die Vorstellung von einem Ruhen der Geschichte darf dabei freilich nicht als Stillstand verstanden werden, denn in der Geschichte geht es unentwegt weiter. Aber im geruhsamen Dahinfließen der Ereignisse gibt es immer wieder die Stromschnellen des raschen Vorwärtseilens, die von den früheren Zeitgenossen mit ihrer Gewöhnung an Bewahrung und Beharrung als „geschwinde Läufte" empfunden wurden. Für eine grundsätzliche Einschätzung der sächsischen Landesgeschichte in den Jahrzehnten um 1500 unter dem Gesichtspunkt von Yin und Yang ergibt sich die volle Berechtigung, von einem Aufbruch zu sprechen, wie er zu jener Zeit überhaupt in Deutschland und Europa zu verzeichnen war. Sachsen war in seiner damaligen, den mitteldeutschen Raum beherrschenden Stellung beispielhaft und wegweisend, man kann ihm sogar eine Spitzenstellung zuweisen, denn es war auf drei Gebieten führend: in der Herausbildung der neuen frühkapitalistischen Wirtschaftsorganisation, im hohen Grad der staatlichen Durchbildung und in seiner Rolle als Ursprungsland der Reformation.2 Mitteldeutschland befand sich zu Beginn der Neuzeit in einem Yang-Abschnitt seiner Geschichte, während das späte Mittelalter auch hier eher dem Yin zuzuordnen ist. In dieser Zeit sind zwar viele strukturelle Voraussetzungen für den neuen Aufbruch geschaffen worden, ein quantitativer Ausbau der tragenden gesellschaftlichen Kräfte und eine Verdichtung herrschaftlicher Gewalt in Richtung auf moderne Staatlichkeit lassen sich ebensowenig verkennen wie eine Steigerung von Ratio und Intellekt, aber aufs Ganze gesehen fehlten doch noch die stürmischen Ereignisse, die tiefen Aufbrüche, die qualitativen Neuerungen und nicht zuletzt die großen Persönlichkeiten, die der starken Bewegung um die Jahrhundertwende und danach das Gepräge gaben.3 In den vergangenen Jahrzehnten hat es sich als guter Brauch erwiesen, die Darstellung einer geschichtlichen Epoche mit einem Blick auf die Bevölkerung zu beginnen. In Sachsen läßt sich um 1500 eine deutliche Bevölkerungszunahme feststellen, die mit einer sozialen und wirtschaftlichen Differenzierung verbunden war4. Es ist nur natürlich, daß 1

2

3 4

Hier zitiert nach der gekürzten deutschen Ausgabe „Der Gang der Weltgeschichte", dtv Wissenschaft Nr. 4035, Bd. 1, 3. Aufl., München 1979, S. 96 f. Karlheinz Blaschke, Sachsen im Zeitalter der Reformation. Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 185, Jg. 75/76, Gütersloh 1970. Ders., Geschichte Sachsens im Mittelalter, Berlin 1960, S. 223 - 370. Ders., Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 85 ff.

120

Karlheinz Blaschke

die Ausdehnung einer Quantität zu qualitativen Unterschieden führt, in einer Stadt etwa zu einer stärkeren Schichtung von reichen und armen Bürgern und nicht in das Bürgerrecht aufgenommenen Einwohnern. Für Sachsen ist der hohe Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung besonders hervorzuheben. Er machte in dem Stichjahr 1550 33 % aus, so daß hier ein ebenso hoher Grad der Urbanisierung erreicht war wie in Flandern, das gern als die am höchsten entwickelte Städtelandschaft des damaligen Reiches bezeichnet wird. Auf der anderen Seite betrug der Anteil der Bauern nur noch genau 50 %. Das weist auf eine hohe Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit hin, denn jeder Bauer war in der Lage, sich und einen weiteren Landesbewohner zu ernähren. Gleichzeitig zeigt sich ein Anteil von 17 % der Gesamtbevölkerung, die mit gewerblicher Tätigkeit auf dem Lande ihr Brot verdienten. Demnach befand sich nur noch die Hälfte der Bevölkerung, eben die Bauern, in feudaler Abhängigkeit, wenn man darunter im strengen Sinne das Verhältnis zwischen der landleihenden Grundherrschaft und den dienst- und abgabepflichtigen landwirtschaftlichen Produzenten versteht. Das eine, aus Bürgern bestehende Drittel der Bevölkerung war infolge der Stadtverfassung aus der unmittelbaren Gültigkeit der Feudalordnung herausgetreten, die gewerblich tätigen Dorfbewohner unterstanden der Grundherrschaft nur noch deshalb, weil diese auch außerökonomische Herrschaftsbefugnisse erlangt hatte. Mit Rücksicht auf diese Schwächung der Grundherrschaft im ökonomische Sinne darf die Frage gestellt werden, ob die damalige Gesellschaft noch als Feudalgesellschaft in des Wortes voller Bedeutung bezeichnet werden kann. Das weitverbreitete ländliche Textilgewerbe schuf Marktbeziehungen für einen namhaften Teil der Dorfbevölkerung und fügte diesen in die Geldwirtschaft ein. Auf dem Wege über das Verlagsgeschäft im Leinwandhandel wurde Sachsen zu einem Wirkungsfeld oberdeutscher Hochfinanz. Die tonangebenden und vorwärtsdrängenden Kräfte in der Gesellschaft kamen allenthalben aus dem Bürgertum, das innerhalb der damaligen Gesellschaft eine führende Stellung erlangt hatte. Mit seiner städtischen Selbstverwaltung befand sich das Bürgertum seit dem Anfang des Städtewesens um die Mitte des 12. J h . grundsätzlich außerhalb feudaler Abhängigkeit, wenn auch die kleinen Patrimonialstädte am unteren Ende der städtischen Größenordnung noch in gewissem Sinne in grundherrliche Verpflichtungen eingebunden waren. Gerade das 15. Jh. hatte einen weiteren Ausbau der Selbstverwaltung ermöglicht, indem zahlreiche Städte die Obergerichtsbarkeit und mit ihr die höchste Stufe städtischer Selbständigkeit erworben hatten, die eine landsässige Stadt im mitteldeutschen Raum erreichen konnte. Innerhalb der Stadtgemeinden waren im Zuge einer Stärkung des Gemeindelebens Viertelsmeister und andere gewählte Organe bürgerlicher Mitbestimmung hervorgetreten, die vor allem der Kontrolle des städtischen Finanzwesens dienten und insofern die Selbstherrlichkeit der Stadträte einschränkten. Dazu kam die allgemeine Bevölkerungszunahme, die auch zu einer oft beträchtlichen Zunahme der städtischen Einwohnerzahlen führte. Nach Auskunft zweier Steuerregister verdoppelte die kursächsische Residenzstadt Torgau ihre Einwohnerzahl zwischen 1505 und 1551. Das Städtchen Zöblitz im mittleren Erzgebirge wies 1500 18 Häuser, 1551 aber 59 Häuser auf. Die Stadt Zwickau erlebte als Versorgungsbasis für den mächtig aufblühenden westerzgebirgischen Bergbau zwischen 1460 und 1550 eine Steigerung von etwa 3 900 auf 7 000 Einwohner. In den sieben neu entstandenen sächsischen Bergstädten Annaberg, Marienberg, Schneeberg, Buchholz, Altenberg, Scheibenberg und Oberwiesenthal lebten um 1550 15 000 Menschen. Das Städtewesen war demzufolge nach Quantität und Qualität spürbar ausgebaut worden 5 . Auf

5

Ebenda, S. 138-141.

Sachsen in der frühbürgerlichen Bewegung des 16. Jahrhunderts

121

dieser wesentlich verbreiterten Grundlage konnte das Bürgertum seine ihm innewohnende Ausdehnungskraft weiter zur Geltung bringen, indem es mit der Macht seines Geldes herrschaftliche Rechte außerhalb der Stadt erwarb. Die U m w a n d l u n g von Geld in H e r r schaft war die Art und Weise, mit der das genossenschaftlich organisierte Bürgertum von Anfang an seine Freiheiten gegen eine herrschaftlich geprägte Welt durchgesetzt hatte. Die bedeutend erweiterten Möglichkeiten und der gewaltig angestiegene Geldumlauf gestatteten es zu Beginn der Neuzeit, eine neue Welle städtischer Expansion in Gang zu setzen, indem einzelne Bürger und ganze Stadträte adlige Grundherrschaften aufkauften. Die Stadt Leipzig begann am Ende des 15. Jh. mit der Erwerbung einzelner Rittergüter in ihrem Umfeld, 1543 konnte sie den größten Teil der Besitzungen des säkularisierten Thomasklosters und 1569 das umfangreiche Rittergut Taucha mit der Stadt und seinen Dörfern an sich bringen 6 . Für Görlitz begann diese Entwicklung 1440, wobei das größte Landgebiet erworben werden konnte, das im heutigen Sachsen je einer Stadt zugestanden hat. Die Landgüter des Zittauer Rates waren nicht viel geringer. Zwickau baute seit 1440 sein grundherrschaftliches Territorium auf, das im späteren 16. Jahrhundert die ganze Herrschaft Wiesenburg umfaßte. Auch Dresden und Großenhain nahmen die Möglichkeit wahr, während der Reformation die Güter aufgelöster Klöster anzukaufen. Das Bemerkenswerteste an dieser Entwicklung ist jedoch die Tatsache, daß die Städte feudale Herrschaftsrechte über Dörfer ohne Einschränkung und ohne sie je in Frage zu stellen übernahmen, während sie doch selbst diese Herrschaft aus ihren Mauern verdrängt hatten. Der Gedanke, in ihren n u n m e h r erworbenen Besitzungen das Feudalsystem abzuschaffen, wie sie es zuvor in ihren Städten für sich selbst getan hatten, scheint den Bürgern nicht gekommen zu sein. So konnten auch einzelne reich gewordene Bürger, die ihr Vermögen durch den Kauf von Rittergütern angelegt hatten, auf dem Lande als Gutsherren mit allen feudalen Rechten und Einkünften leben, während sie in der Stadt dem bürgerlichen Prinzip der Selbstverwaltung dienten. Der Zustrom städtischen Kapitals in den ländlich-feudalen Grundbesitz hat das Herrschaftssystem nicht in Frage gestellt, sondern eher stabilisiert. Die betreffenden Bürger wurden selbst ein Teil dieses Systems und waren auf der ländlichen Seite ihrer Existenz an seiner Aufrechterhaltung interessiert. Bürgertum und Städtewesen haben in Sachsen zu Beginn der Neuzeit mit dem Aufblühen des Silberbergbaus eine gewaltige Steigerung erlebt, denn dieser wurde von höchster Bedeutung für das Land, seine Wirtschaft, seine Gesellschaft, seine politische Kraft und seine kulturelle Entfaltung. Mit dem Fündigwerden von Schneeberg 1470 und der G r ü n dung von Annaberg 1496 und Marienberg 1521 sind die drei in dieser Hinsicht wichtigsten Ereignisse gekennzeichnet, in die zeitlich die Entstehung weiterer kleiner Bergstädte einzuordnen ist. Eine ganze, bis dahin vom mittelalterlichen Städtewesen entfernte Landschaft veränderte ihr Gesicht und wurde zu einer dichten Städtelandschaft mitten im unwegsamen Gebirge und abseits der großen Fernhandelswege. N i c h t mehr der wagemutige Kaufmann und Fernhändler des hohen Mittelalters bildete die tragende Kraft dieser Städte, sondern der risikobereite Bergbauunternehmer und Fundgrübner. In kürzester Zeit wuchsen hier riesige Vermögen auf, was eine starke Differenzierung der Einwohnerschaft in den Bergstädten zur Folge hatte, die wiederum soziale Spannungen hervorrief. In den jungen Bergstädten häufte sich ein Konfliktpotential an, das sich bis zum Ausbruch eines Streiks steigern konnte. Hier hatte sich eine sehr bewegliche, von kraftvollem Streben beherrschte Bevölkerung zusammengefunden, die alte Traditionen hinter sich ließ und dem N e u e n zugetan war.

6

Werner Emmerich, Der ländliche Besitz des Leipziger Rates. Leipzig 1936.

122

Karlheinz Blaschke

Hier setzte sich in großem Umfang zum ersten Mal die Trennung von Kapital und Arbeit durch, weil der in die Tiefe gehende Bergbau den Einsatz erheblicher Investitionsmittel erforderte, die nur mit Hilfe von Kapitalgesellschaften beschafft werden konnten, während der Bergmann zum Lohnarbeiter herabsank. Hier wurden aber auch unter dem Zwang der Notwendigkeiten Erfindungen gemacht und .technische Neuerung eingeführt, die den wirtschaftlichen Erfolg in der westerzgebirgischen „Industrielandschaft" erst ermöglichten: der Pferdegöpel, der Hochofen, das Naßpochwerk, die Stauteiche und Kunstgräben zur Heranführung des Wassers als der einzigen Energiequelle außerhalb der Muskelkraft, mit dessen Hilfe die Pumpen zur Niedergewältigung des Grubenwassers und die Vorrichtungen zur Förderung des Erzes betrieben wurden. Der Zwang zu technischen Neuentwicklungen brachte Anstöße für die Wissenschaft, die im Bergbau zum ersten Male in großem Umfang ihren Praxisbezug beweisen konnte, wie es den Auffassungen von Humanismus und Renaissance entsprach. Aus dem unmittelbaren Umgang mit Bergbau, Hüttenbetrieb und Münzwesen ergab sich bei dem aus Glauchau stammenden Georgius Agricola in Chemnitz die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bergbau, die ihren Niederschlag in seinem Werk „ D e re metallica" fand, das der europäischen Montanwissenschaft für die nächsten 200 Jahre die Richtung gab 7 . In Annaberg fand der aus Oberfranken stammende, vom Erfurter Humanismus angeregte Adam Ries seine Lebensaufgabe als landesherrlicher Bergschreiber, Finanzkontrolleur im Bergwesen und Sachverständiger in Rechen-, Geld-, Münz- und Vermessungsfragen der Bergstädte und wurde dabei zum Rechenmeister des deutschen Volkes 8 . Er war im Sinne seiner Zeit ein Wissenschaftler, der als scharfsinniger Praktiker der Rechenkunst über seine alltägliche Arbeit hinaus zu Abstraktionen und theoretischen Erkenntnissen gekommen ist, die dann wieder zur Lösung praktischer Aufgaben dienten. Der größte Teil des im Erzgebirge geförderten Silbers wurde vermünzt, so daß der Geldumlauf gewaltig gesteigert wurde. Aus den sächsischen Quellen flöß das Silber in Gestalt von Groschen, Gulden und Talern in das Land hinaus, wo sich der Bestand an Bargeld mit allen daraus sich ableitenden Folgen für die Wirtschaft und die Mentalität der Leute spürbar erhöhte. Im Jahre 1490 wurden im Erzgebirge 15 000 Gewichtsmark Silber gefördert, 1537 wurde mit 90 000 Mark der Höhepunkt erreicht 9 ; eine Gewichtsmark entspricht 234 g. An den Werten des 20. Jahrhunderts gemessen waren es viele hundert Millionen Mark, die in der Blütezeit des sächsischen Bergbaus in Form von gemünztem Gelde in die Wirtschaft flössen. D a den Landesherren mit dem Bergregal der Bergzehnte zustand und sie mit dem Monopol des Silberaufkaufs und dem beim Vermünzen einbehaltenen Schlagschatz weitere Einkünfte hatten, ging etwa ein Fünftel des gesamten sächsischen Bergsegens in die Kassen der Landesherren. Es läßt sich ermessen, was diese Quelle des Reichtums für die Stellung Sachsens in der Reichspolitik bedeutete und in welchem Maße die sächsichen Fürsten jener Zeit gegenüber ihren Standesgenossen, die nicht über derartige Mittel verfügten, im Vorteil waren. Der Hauptnutznießer an den Erträgen des erzgebirgischen Bergbaus aber war das Bürgertum, das mit dem Aufblühen der Bergstädte zahlenmäßig gestärkt wurde, das den größten Teil der Kapitalinvestitionen erbrachte und somit auch den größten Gewinn davontrug. Es bestimmte als die entscheidende Kraft im

Georgius Agricola, Bergwelten 1494 - 1994, H g . Bernd Ernsting, Bochum, Chemnitz 1994. ' A d a m Ries, Humanist, Rechenmeister, Bergbeamter. Beiträge zum wissenschaftlichen Kolloquium, H g . Rainer Gebhardt, Annaberg-Buchholz 1992. 9 Adolf Laube, Studien über den erzgebirgischen Silberbergbau von 1470 bis 1546. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte Bd. 23), 2. Aufl., Berlin 1976, S. 268 f. 7

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erzgebirgischen Innovationsraum die technische Entwicklung, den wirtschaftlichen Betrieb und den wissenschaftlichen Fortschritt. Während somit Stadt und Bürgertum als die tragenden Pfeiler der Epoche zu Beginn der Neuzeit dargestellt worden sind, büßte der Adel im gesellschaftlichen Gefüge jener Zeit seine einst führende Stellung ein. Im Grunde genommen verlor er seine Daseinsberechtigung, denn die militärische Aufgabe, um deretwillen er überhaupt zu einem eigenen Stande geworden war, ging ihm mit den tiefgreifenden Veränderungen im Militärwesen verloren. Der Ritterstand war dadurch aufgekommen, daß sich in karlingischer Zeit aus der Masse der wehrhaften und wehrpflichtigen Bauern eine stets einsatzbereite Schicht von berittenen und später gepanzerten Kriegern herauslöste, die von bäuerlicher Arbeit freigestellt und für den Waffendienst mit Diensten und Abgaben der ihnen nun unterworfenen Bauern befähigt wurden. Das Ritterlehen war der Lohn für den Ritterdienst. Wenn der Dienst wegfiel, hatte auch das Lehen seine Berechtigung verloren, was auch für alle daraus abgeleiteten Privilegien hätte gelten müssen. Was sich auf der Ebene der europäischen Geschichte in den Schlachten von Kortrijk 1302, Crecy 1346 und Murten 1476 geäußert hatte, machte im Rahmen der sächsischen Landesgeschichte die Hussitenschlacht vor Aussig 1426 mit der Vernichtung des sächsischen Ritterheeres offenkundig: die ritterliche Kampfesweise hatte keine Zukunft mehr, der Adel war mit seiner militärischen Leistung im traditionellen Sinne wertlos und überflüssig geworden. Gleichzeitig geriet er in wirtschaftliche Bedrängnis, weil er bei seiner naturalwirtschaftlichen Grundlage mit der zunehmenden Geldwirtschaft nicht Schritt halten und unter den veränderten Bedingungen seine gesellschaftliche Führungsrolle nur schwer aufrechterhalten konnte. Schließlich mußte er einen Bedeutungsverlust im Bereich von Hof und Regierung des Fürsten hinnehmen, wo die adligen Räte hinter den neu aufkommenden gelehrten Räten bürgerlichen Standes, die als Juristen mit einem Universitätsstudium um 1500 immer unentbehrlicher wurden, einfach ins Hintertreffen gerieten. Es ist auch dem sächsischen Adel jener Zeit bewußt gewesen, daß er in dieser dreifachen Hinsicht an Geltung verloren hatte. Man kann durchaus von einem Schockerlebnis sprechen, das dann auch zu entsprechenden Reaktionen führte. Da der Adel jener Zeit nichts weiter als das Waffenhandwerk gelernt hatte, versuchte er, mit dieser Fähigkeit sich seinen Anteil am steigenden Geldumlauf zu verschaffen und wurde zum Raubritter. In der Oberlausitz haben schon im 14. Jahrhundert die im Sechsstädtebund von 1346 vereinigten mächtigen Städte des Landes diesem Treiben ein Ende gesetzt, im sächsischen Territorialstaat wies die starke landesherrliche Gewalt die vereinzelt auftretenden Landfriedensbrecher in die Schranken. Das Geiseldrama des sächsischen Prinzenraubes von 1455, in dem der sächsische Ritter Kunz von Kaufungen seinen Kurfürsten durch den nächtlichen Raub der Kinder Ernst und Albrecht zu erpressen suchte, kann auch als ein untauglicher Versuch gewertet werden, sich gegen das Schicksal aufzubäumen, das dem landsässigen Adel mit dem immer stärkeren Einbau in den werdenden Territorialstaat drohte 10 . In einer Denkschrift aus dem Jahre 1542, die aus Kreisen des sächsischen Adels hervorgegangen ist, wurde in einer durchaus hellsichtigen Art und Weise die Gefahr beschworen, die dem Adel von der Geldwirtschaft und der Macht des Geldes schlechthin mit seiner gleichmachenden Wirkung drohte. In einer durchaus realistischen Vision von der künftigen bürgerlichen Gesellschaft wurde das Schreckgespenst einer Auswucherung des Adels durch die Bürger entworfen, demzufolge „Fürsten, Grafen und Adel unter den Städten und Bauern sitzen

10

Max Voretzsch, Der sächsische Prinzenraub in Altenburg. Altenburg 1906.

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würden, wie jetzt die Herren und Adel unter den Schweizern sein und bleiben müssen" 1 1 . Eine unmittelbare Auswirkung des Bedrängtseins, das den Adel zu Gegenmaßnahmen veranlaßte, war der verstärkte Druck auf die ihm untertänigen Bauern. Die einzige Möglichkeit, den Anschluß an die Geldwirtschaft zu gewinnen und sich zu diesem Zweck Bargeldeinkünfte zu verschaffen, war der Ausbau der bescheidenen ritterlichen Eigengüter zu ertragreichen Gutswirtschaften 1 2 . Das konnte jedoch nur mit Hilfe von eingezogenen Bauerfeldern geschehen, so daß nun in weiten Teilen Ostdeutschlands das Bauernlegen einsetzte. Auch der sächsische Landadel folgte dieser Tendenz, konnte dabei aber nur geringe Erfolge erzielen, weil er an einem Aufbau großer Gutsbetriebe in ostelbischen Ausmaßen durch das landesherrliche Verbot des Bauernlegens gehindert wurde 1 3 . D a ß der Druck auf die Bauern insgesamt schwächer als in Thüringen, Franken und Schwaben war, läßt sich daran erkennen, daß es außer im Vogtland und im Westerzgebirge in Sachsen keine Bauernkriegsereignisse gab 1 4 . D e r Territorialstaat sorgte im Bunde mit den ihn tragenden bürgerlichen Kräften für eine ausgeglichene Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse und verhinderte eine Verschiebung der Gewichte zugunsten des Adels. Damit tritt die Entwicklung des Staates in das Blickfeld. Er hat sich auf einer eigenen Entwicklungslinie aus der mittelalterlichen Landesherrschaft herausgebildet, der Landesherr war der Kristallisationskern, um den herum sich moderne Staatlichkeit auf dem Wege der Verdichtung (Peter Moraw) öffentlicher Gewaltausübung entwickelte. Das Mittelalter kannte den Staat weder als Wort noch als Sache, es ist im Blick auf eine saubere Begrifflichkeit falsch, vom mittelalterlichen Staat oder gar vom Lehnsstaat zu sprechen. Beim Übergang von der Landesherrschaft zum modernen Staat lassen sich mehrere Einzelvorgänge feststellen, die auch in der sächsischen Landesgeschichte zu beobachten sind 15 . Ein wesentlicher Vorgang war der Umbau von personalen in institutionelle Beziehungen zwischen den Ebenen der Ausübung von Herrschaft. Aus der persönlich wahrgenommenen Herrschaft des Fürsten, seiner Rolle als Lehnsherr mit einer persönlichen Beziehung zum Lehnsmann und seinem Amt als oberster Richter entwickelte sich die Regierung und Verwaltung mit ihren Behörden und Beamten, die größtenteils bürgerlicher Herkunft waren. Der durch ein Universitätsstudium ausgewiesene Jurist wurde im Zusammenhang mit der Rezeption des römischen Rechts eine unentbehrliche Figur in den landesherrlichen Rats- und Amtsstuben. Mit dem Abbau personaler Beziehungen, mit dem Einfluß des geschriebenen römischen Rechts und infolge der nachlassenden Reisetätigkeit des Landesherrn, der seine Aufenthalte jetzt nur noch auf wenige Residenzorte beschränkte 1 6 , wurde die Schriftlichkeit zu einem notwendigen Hilfsmittel von Regierung und Verwaltung. Akten ersetzten das menschliche Gedächtnis und verlängerten es weit über das einzelne Menschenleben hinaus. Der Ausbau der landesherrlich-staatlichen Zentralverwaltung mit ihren sich differenzierenden Fachbehörden, der Bedarf an fachlich qualifizierten ortsfesten Beamten, der 11

Hauptstaatsarchiv Dresden, Copial 13, Allerley Copien der alten Fürsten Händel 1403 - 1546, fol. 4 2 6 450.

12

Karlheinz Blaschke, Grundzüge und Probleme einer sächsischen Agrarverfassungsgeschichte. In: Z R G ,

13

Ders., Das Bauernlegen in Sachsen. In: V S W G 42. Jg. (1955) Heft 2, S. 9 7 - 116.

14

Ders., Ereignisse des Bauernkrieges 1525 in Sachsen. Der sächsische Bauernaufstand 1790. Karten mit

Germ. Abt. 82. Bd. (1965), S. 224 - 287.

erläuterndem Text. (Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-Hist. Klasse Bd. 67, Heft 4) Berlin 1978. 15 16

Deutsche Verwaltungsgeschichte, H g . Kurt G. A. Jeserich u. a., 1. Bd., Stuttgart 1983, S. 308 f. Brigitte Streich, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung. Der wettinische H o f im späten Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen 101) Köln, Wien 1989.

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größer werdende Umfang der im Zuge der Aktenführung entstehenden Behördenregistraturen und Archive setzten auch der Reiseherrschaft des spätmittelalterlichen Landesherrn ein Ende und zwangen die Zentralverwaltung zur Ortsfestigkeit. Es stand dem Fürsten frei, aus der Zahl seiner über das Land verteilten Schlösser eines zu dauerhaftem Aufenthalt auszuwählen, so daß es zum Residenzschloß und die zugehörige Stadt zur Haupt- und Residenzstadt wurde. Die albertinischen Wettiner legten sich seit 1485 auf Dresden fest, von den ernestinischen Kurfürsten residierte Friedrich der Weise in Wittenberg, sein Bruder Johann der Beständige in Torgau. Abseits von diesen Regierungshauptstädten wurde das erste ortsfeste oberste Gericht des Kurfürstentums Sachsen 1483 in Gestalt des Oberhofgerichts in Leipzig begründet, weil dort die stärkste Konzentration von richterlicher Erfahrung und juristischem Sachverstand vorhanden war. Das erklärt sich aus der jahrhundertelangen Tradition bürgerlicher Rechtspflege in Leipzig, das im Laufe des späten Mittelalters zu einem überregional anerkannten Ort der Rechtsprechung mit einer hochgeschätzten Kompetenz geworden war 17 . Im Oberhofgericht wirkten unter einem stets adligen Oberhofrichter adlige und bürgerliche Beisitzer auf zwei paritätisch besetzten Bänken, der adligen und der gelehrten Bank, zusammen, womit auch im Gerichtswesen auf höchster staatlicher Ebene das bürgerliche Element sich als unentbehrlich erwiesen hatte. Man kann geradezu von einer Zweckehe zwischen dem sich entwickelnden Staat und dem Bürgertum sprechen. Auch auf die Rolle des Geldes ist hier nochmals einzugehen, denn erst dadurch ist die Umformung der Landesherrschaft zum Staat vollendet worden, daß die materielle Grundlage auf die Geldwirtschaft umgestellt worden ist 18 . Ein moderner Staat ist ohne Behörden und Beamte ebenso undenkbar wie ohne Bargeldeinkünfte. Feudale Herrschaft war mit Naturalwirtschaft verbunden und auf Dienste und Naturalabgaben gegründet, ein „Feudalstaat" ist vom Begriff her ein Widerspruch in sich selbst. Die Bargeldeinkünfte des modernen Staates waren nicht lehnsmäßig begründet wie der Ritterdienst eines Vasallen oder die Naturalabgaben eines Bauern, sondern wurden allein kraft staatlicher Hoheit erhoben. Das Staatsprinzip stand somit gegen das Lehnsprinzip. Auch hierin zeigt es sich, daß das Mittelalter zu Ende und die Neuzeit angebrochen war. Feudalrechtlich begründete Verpflichtungen ergaben sich aus einem Verhältnis auf Gegenseitigkeit, Forderungen der staatlichen Gewalt sind nur aus ihrer Hoheit abgeleitet. Die persönliche Autorität des Verfügungsberechtigten, wie sie im Mittelalter galt, sei es nun der fürstliche Landesherr, sei es der adlige Grundherr, wurden jetzt durch die Zuständigkeit einer anonymen staatlichen Behörde ersetzt. Dabei kam es für den werdenden Staat auch darauf an, unmittelbare Beziehungen zu jedem Bewohner auf seinem Territorium herzustellen. Zwischen einem Bauern und dem Landesherrn stand im Mittelalter der Grundherr, zwischen einem Bürger und dem Landesherrn stand die Stadtgemeinde. Grundherrschaft und Stadtgemeinde waren Leistungsgemeinschaften, die den einzelnen Menschen mit seinen öffentlichen Leistungspflichten banden und ihn gegenüber der Landesherrschaft abschirmten. Der moderne Staat mußte diese Zwischenformen öffentlicher Organisation beseitigen, um die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen unmittelbar für sich einsetzen zu können. Das zeigte sich am frühesten bei der Erhebung einer Steuer zur Befriedigung des wachsenden Bedarfs an Bargeldeinkünften. Es war nichts Geringeres als eine Mißachtung der Feudalordnung, als in Sachsen während des 15. Jh. die Landsteuer als eine regelmäßig erhobene Abgabe aller Ansässigen 17

18

Karlheinz Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht. Die Stadt Leipzig als Ort der Rechtsprechung. In: Sächsische Justizgeschichte Bd. 3, Leipzig, Stadt der Rechtsprechung. Dresden 1994, S. 7 - 29. Ders., Steuer, Geldwirtschaft und Staat in vorindustrieller Zeit. In: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege, Festschrift, für Hermann Kellenbenz Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 31 - 42.

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und bald auch aller Lohnempfänger eingeführt wurde, die an Grundherrschaften und Stadträten vorbei von den Steuerpflichtigen an den Staat abgeliefert werden mußte. Diese Mittelinstanzen wurden zwar dazu verwendet, die Steuern einzunehmen, weil der Staat noch nicht über eigene Steuereinnehmer auf der untersten Ebene verfügte, aber die Beträge wurden ohne jede Kürzung an die staatlichen Zentralbehörden abgeliefert. Grundherrschaften und Stadträte wurden dabei zu Amtsstellen gemacht, die in staatlichem Auftrag handelten. An diesen Beobachtungen ist die Tatsache wichtig, daß der moderne Staat von oben nach unten gewachsen ist. Auf der zentralen Regierungsebene war er zuerst vorhanden, der Landesherr war sein erster Repräsentant19. Nun ergab sich die Notwendigkeit, sich durch den Aufbau eines verzweigten Behördenapparates einen tragfähigen Untergrund zu verschaffen, Wurzeln voranzutreiben, die dem Staat im ganzen Territorium und in der ganzen Bevölkerung einen festen Halt gaben. Er mußte bestrebt sein, auf eigenen Füßen zu stehen, um sich nicht mehr der aus dem Mittelalter überkommenen Inhaber öffentlicher Herrschaft bedienen zu müssen. Das war ein sehr langer Weg, der in Sachsen erst mit der Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit im 19. Jh. an sein Ende kam. Aber um 1500 wurde mit der Verstaatlichung der Gesellschaft begonnen. Dabei konnte die Landesherrschaft in Sachsen an eine bewährte Einrichtung anknüpfen, die ihr uneingeschränkt mit ihren über das ganze Territorium verteilten Stützpunkten zur Verfügung stand. Seit dem 13. Jh. sind in wichtigen Burgen unter wettinischer Herrschaft Vögte nachzuweisen, die dort als ortsfeste Vertreter anstelle des im Lande umherziehenden Markgrafen ihren Dienst taten. Ihre Aufsichtsbereiche erscheinen in den Amtsbüchern des 14. Jahrhunderts als Burgbezirke (Castrum), sie selbst wurden gegen Ende des Mittelalters als Amtleute bezeichnet, die adligen Standes waren. Aber auch dieses System örtlicher Herrschaftsausübung wandelte sich unter den Herausforderungen der Zeit, indem der Geldverwalter des Amtsbezirks, der sogenannte Schösser, in den Vordergrund trat, bis er schließlich den adligen Amtmann auf eine wenig bedeutende Stellung als Aufsichtsperson über mehrere Ämter abdrängte, während er selbst zur Hauptperson der Amtsverwaltung wurde. Die Schösser waren durchweg bürgerlicher Herkunft, die vom Bürgertum getragene Geldwirtschaft hatte somit auf der unteren Ebene der Staatlichkeit eine leistungsfähige Verwaltungsorganisation geschaffen20. Diese Ämterorganisation wurde nun in Sachsen zur Grundlage für die schon angedeutete Verstaatlichung des Territoriums. Wie in anderen deutschen Territorien auch stellte ein Amtsbezirk oder einfach ein Amt die Zusammenfassung von Dörfern und Städten dar, in denen der Landesherr zugleich die Grundherrschaft innehatte. Das Amt stand somit innerhalb der Feudalordnung gleichrangig neben den anderen Grundherrschaften, d. h. dem Landadel, den Klöstern und den landsässigen Städten. Während aber in Brandenburg und Mecklenburg die landesherrlichen Ämter als bloße Domänenämter auf die Verwaltung der landesherrlichen Grundherrschaften beschränkt blieben, konnten sie in Sachsen ihre Botmäßigkeit auch über die anderen Inhaber von Grundherrschaft ausdehnen und im Laufe des 16. Jh. ein flächendeckendes Verwaltungssystem bilden, von dem das ganze Territorium überzogen wurde. Das war die „Verämterung" des Territoriums, mit dem es zugleich verstaatlicht wurde, weil die Ämter zu untersten Verwaltungsstellen der staatlichen Zentralverwaltung gemacht wurden. 19

20

Ders., Kanzleiwesen und Territorialstaatsentwicklung im Herrschaftsbereich der Wettiner bis 1485. In: Archiv für Diplomatik 30. Bd. (1984) S. 202-302. Ders., Zur Behördenkunde der kursächsischen Lokalverwaltung. In: Archivar und Historiker, Fs. für Heinrich Otto Meisner, Berlin 1956, S. 343-363.

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Mit der Verbürgerlichung der unteren landesherrlich-staatlichen Verwaltungsebene ging das Eindringen des Bürgertums in die Zentralbehörden einher. Auf den Bedarf an studierten Juristen wurde oben bereits hingewiesen. Da bis zur Mitte des 16. Jh. nur ganz wenige junge Männer aus dem sächsischen Adel ein Studium aufgenommen hatten, konnten Juristen bürgerlicher H e r k u n f t in die Ratsstellen der Zentralbehörden eintreten. Im Kurfürstentum und im Herzogtum Sachsen lassen sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bürgerliche Räte in hohen Vertrauensstellungen feststellen. Besonders aus Leipzig mit seinem hochentwickelten Bürgertum und seiner Universität kamen diese Männer. Der Leipziger Bürger Jakob Blasbalg baute die Finanzverwaltung des Herzogtums Sachsen auf, sein Mitbürger H a n s Leimbach tat dasselbe für das Kurfürstentum. Da die adligen Räte nicht über die nötige Erfahrung und Sachkenntnis im Umgang mit Geld verfügten, fiel die Aufgabe den darin erprobten Großbürgern zu, wobei der Vergleich mit Jacques Coeur aus Bourges, dem Finanzministeres des französischen Königs von 1440 bis 1451 naheliegt. Ebenfalls aus Leipzig kamen die Juristen Ludwig Fachs, Ulrich Mordeisen und Simon Pistoris, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts den sächsischen Fürsten als Räte oder Kanzler dienten, bis zu Nikolaus Krell, dem Kanzler von 1586 bis 1591. Aus Meißen stammte Georg Komerstädt, der als herzoglicher Rat besonders auf dem Gebiet der Kirc h e n · und Schulpolitik einen N a m e n hatte. Die maßgebliche Mitwirkung bürgerlicher Kräfte an der Leitung des Staatswesens hat mit dazu beigetragen, auf der zentralen und der lokalen Ebene eine kraftvolle Staatsgewalt zu schaffen, die wiederum als Grundlage für Sachsens Rolle in der damaligen Reichspolitik tragfähig war. Das Haus Wettin hat zu Beginn der Neuzeit neben den Habsburgern im Reich eine führende Stellung eingenommen. Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen diente dem Kaiser Maximilian als kaiserlicher Rat 1494 - 97, trat danach an die Spitze des Reichshofrates und übernahm 1507 das Amt eines Generalstatthalters für den aus Deutschland abwesenden Kaiser. Herzog Albrecht diente dem Kaiser im Kampf gegen Ungarn und gegen Herzog Karl den Kühnen von Burgund und als Statthalter in den aufrührerischen Niederlanden. Sein Sohn Georg wirkte im Nürnberger Reichsregiment mit. Kurfürst Johann stand auf den Reichstagen von Speyer und Augsburg an der Spitze der lutherischen Reichsstände, sein Sohn Johann Friedrich wurde im Schmalkaldischen Krieg zum Märtyrer der evangelischen Sache. Das politische Gewicht, das Sachsen um die Mitte des 16. Jh. besaß, machte den jungen Kurfürsten Moritz neben König Ferdinand zu einer Hauptperson in den deutschen Reichs- und Religionsfragen, sein Bruder August vertrat auf dem Augsburger Reichstag von 1555 das Interesse der protestantischen Seite. N e b e n den Veränderungen in den Bereichen von Wirtschaft und Politik, die Sachsens mitbestimmende Rolle im europäischen Frühkapitalismus und in der Reichspolitik begründeten, w u r d e auch die Gesellschaft in ihren Führungsschichten modernisiert, die sich n u n den Einflüssen von H u m a n i s m u s und Renaissance öffneten und sich ebenso der Reformation zuwandten. Ihrem U r s p r u n g nach war die Reformation ein geistliches Ereignis, das aus der Seelennot des tiefgläubigen Menschen Martin Luther hervorging. Indem er mit seiner Erkenntnis von der geschenkten G n a d e Gottes an die Öffentlichkeit trat, überzeugte er alle diejenigen, die in der gleichen Weise wie er eine befreiende A n t w o r t auf die Frage nach dieser G n a d e gesucht hatten. Diese Menschen fanden sich fast ausschließlich in den Städten. Auch f ü r Sachsen gilt die z u m geflügelten Wort der Reformationsgeschichte gewordene Erkenntnis vom „urban event", von der ausschlaggebenden Bedeutung der Städte f ü r das A u f b l ü h e n und die D u r c h s e t z u n g der Reformation. Mit dieser sozialgeschichtlichen Sicht wird der Rahmen des rein geistlichen Interesses an der Reformation überschritten und die Frage nach ihren geschichtlichen Umweltbedingungen gestellt.

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Die Geschichte der Reformation in Sachsen21 läßt sich in zwei Abschnitte gliedern, wenn man nach den Triebkräften fragt. Sie begann mit einer spontanen Hinwendung städtich-bürgerlicher Kreise zur neuen Lehre Luthers, dessen Thesen sich in Windeseile über das Land verbreiteten 22 . Aus den Jahren 1518 bis 1523 liegen aus 19 sächsischen Städten Nachrichten über die Tätigkeit lutherischer Prediger und die Bildung lutherischer Gemeinden vor. Einige Ereignisse sind dabei besonders bemerkenswert. In Zwickau, der damals größten Stadt im Kurfürstentum Sachsen, leiteten 1521 die aus der städtischen Unterschicht stammenden Zwickauer Propheten eine radikal-religiöse Bewegung ein, in der auch Thomas Müntzer während seiner Anwesenheit in der Stadt eine Rolle spielte. In Leisnig gab sich die große, aus Stadt- und Dorfbewohnern bestehende Kirchgemeinde 1522 die berühmt gewordene Kastenordnung, die über die Regelung der Geldfragen hinaus eine gut durchdachte Selbstverwaltung einführte, wie man sie von einer mündigen Gemeinde erwartet. Im gleichen Jahre wandte sich in Oschatz eine länger dauernde Unruhe gegen den dorten Kaplan, wobei das Bestehen einer lutherisch gesinnten Gemeinde deutlich wurde. In Döbeln wurde 1521 auf Drängen von Bürgern mehrmals auf dem Rathaus gepredigt, weil dem lutherischen Prediger die Kirche verschlossen blieb. Daß sich Kirchgemeinden trotz obrigkeitlichen Widerstandes für die Reformation entschieden, zeigen die Forderung in Görlitz 1521 an den noch altgläubigen Rat und die starke reformatorische Bewegung in Leipzig 1522, die schließlich durch Maßnahmen des Landesherrn unterdrückt wurde. Die Bewohner der Bergstädte erwiesen sich in ihrer Mehrzahl als frühe Anhänger der Reformation. So fand 1523 ein lutherischer Prediger in Schneeberg großen Zulauf, während es in Buchholz im gleichen Jahre eine Spottprozession gegen die damals erfolgte Heiligsprechung des Bischofs Benno gab, die narrenhafte Züge annahm. Im benachbarten Annaberg erhielt damals ein altgläubiger Prediger eine Menge anonymer Schmähschriften, in denen ihm seine „Lügen" vorgehalten und festgestellt wurde, die Laien könnten nun auch die Bibel lesen. So läßt sich in der ersten Phase der Reformation von einer selbst in Gang gekommenen Ausbreitung in der städtisch-bürgerlichen Welt Sachsens sprechen, noch bevor vom Jahre 1527 an die vom Landesherrn verordnete Einführung begann. Die Reformation von unten stand am Anfang. Sachsen war nicht nur deswegen ihr Ursprungsland, weil Luther im sächsischen Wittenberg lebte und wirkte, sondern auch wegen des breiten Widerhalls, den sie hier fand, und wegen der Fruchtbarkeit des Nährbodens, auf den hier die Botschaft aus Wittenberg fiel. Luther ist mit gutem Grund als der rechte Mann zur rechten Zeit am rechten Ort bezeichnet worden, womit auch die Frage nach seinem schnellen Erfolg beantwortet wird. Der rechte Ort - das war eben dieser mitteldeutsche Raum mit den beiden sächsischen Fürstentümern, und die rechte Zeit drückt den Reifegrad der gesamtgesellschaftlichen Bedingungen aus, die hier eine Ausbreitung der Reformation außerordentlich begünstigten. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß am Vorabend der Reformation in vielen Entwicklungslinien der Gesellschaft krisenhafte Verhältnisse eingetreten waren, die nach Lösungen drängten 23 . Der Umbau der Landesherrschaft zum modernen Staat, die existenzielle Bedrohung des Adels, die sozialen Konflikte in den großen Städten mit ihren vorwärtsdrängenden Unterschichten, die Unruhe unter einer nach Tausenden zählenden 21 22

23

Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen. Hrsg. von Helmar Junghans, Berlin 1989. Karlheinz Blaschke, Einführung oder Ausbreitung der Reformation? Triebkräfte und Entwicklungsstufen in der Reformationsgeschichte Sachsens. In: Herbergen der Christenheit, Jb. für deutsche Kirchengeschichte Bd. 18 (1991/92) S. 26 - 32. Willy Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, Stuttgart 1932.

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beweglichen bergmännischen Bevölkerung in den Bergbaugebieten, der Widerstand der Bauern gegen das Vordringen der Grundherrschaft, die Entstehung unterbäuerlicher, vom Gemeinderecht ausgeschlossener Schichten auf den Dörfern, das Ringen zwischen Scholastik und Humanismus, die gesteigerte Macht des Geldes und die starken Veränderungen in Wissenschaft und Technik können als Einzelheiten genannt werden, um die von Unruhe, Unsicherheit und einer Suche nach neuen Lösungen beherrschte Stimmungslage zu kennzeichnen. Uber allem aber stand für die Masse der Menschen in ihrer durchaus noch mittelalterlichen Prägung die Suche nach dem Seelenheil, die von einer mehr und mehr fragwürdig gewordenen Kirche nur in herkömmlicher Weise mit den traditionellen Angeboten beantwortet wurde: Meßgottesdienste, Prozessionen, Wallfahrten, Almosen, Stiftungen und Ablaßkauf waren die Mittel, mit denen die Gläubigen im Sinne der Werkheiligkeit die Gnade Gottes zu erlangen glaubten. Aber die allgemeine Krise pochte auch an die Tore der Kirche, deren Schwächen und Mängel benannt, deren untaugliche Diener bloßgestellt und deren Verstrickungen in die Dinge dieser Welt getadelt wurden. Konnte man von einer solchen Kirche noch das Heil erwarten? Die Frage nach dem gnädigen Gott muß als die zentrale Frage des einzelnen Menschen und der Gesellschaft begriffen werden, wenn man die überaus schnelle und in die Breite gehende Wirkung von Luthers Thesenveröffentlichung verstehen will. In dem Bündel miteinander verflochtener Entwicklungslinien setzte seine neue Lehre vom Evangelium dort an, wo in der damals noch durch und durch von religiösen Vorstellungen beherrschten Lebenswirklichkeit alle Fäden zusammenliefen. Von hier aus kam das Angebot zur Lösung der aufgewachsenen Krise. In Sachsen als einem damals in jeder Hinsicht weit entwickelten Land sind alle diese Konflikte beispielhaft spürbar gewesen, hier sind auch die neuen Wege begangen worden. Die alte Kirchenordnung brach schnell zusammen, das brüchig gewordene Wertsystem erwies sich als untauglich für die neuentstandenen Verhältnisse, die Schleusen öffneten sich für eine umfassende Modernisierung, das gesellschaftliche Leben erhielt eine neue Struktur, die Neuerungen im Bereich von Kirche und Glauben zogen Veränderungen der weltlichen Dinge, der Gewohnheiten, der Besitzverhältnisse und der Mentalität nach sich. Die hier gefundenen Lösungen wirkten bald vorbildlich auf andere deutsche Länder, die sächsische Kirchenordnung wurde als beispielhaft exportiert 24 . Sachsen war zu Beginn der Neuzeit ein weit vorangeschrittenes Land, in dem sich die Formen moderner Staatlichkeit abzeichneten. Als Territorialstaat nahm es nächst der habsburgischen Ländermasse eine führende Stellung in Deutschland ein, es stand an der Spitze der protestantischen Reichsstände. Innerhalb des von der Natur vorgegebenen mitteldeutschen Raumes hatte es sich zu einer territorialen Einheit entwickelt, die über diesen Raum hinaus keine expansive Politik betrieb. Die volle Entfaltung der in diesem Lande und seinen Menschen angelegten Kräfte und Fähigkeiten hatte es ihm ermöglicht, diese Höhe zu erreichen. Im Sinne des Denkmodels von challenge and response, von Herausforderung und Antwort, wie es Arnold Toynbee entwickelt hat 25 , haben die Menschen in Sachsen auf die Herausforderungen des Landes geantwortet, auf das Angebot, das in Gestalt siedlungsgünstiger Landschaften, weitreichender Verkehrswege, ergiebiger Bodenschätze, holzreicher Wälder und starker Wasserkräfte vor ihnen lag. Die hohe wirtschaftliche Leistung hat eine überdurchschnittliche Entfaltung der intellektuellen Fähig24

25

Karlheinz Blaschke, Reformation und Modernisierung. In: Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten. Archiv für Reformationsgeschichte, Sonderband, gg. H a n s R. Guggisberg u. a., Gütersloh 1993, S. 511-520. Toynbee (wie A n m . 1), S. 107 ff.

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keiten nach sich gezogen, Wirtschaft und Kultur waren bereits am Anfang der Neuzeit als die hauptsächlichen Handlungsfelder der sächsischen Geschichte zu erkennen. Der frühneuzeitliche Staat hat sich auf diese sächsische Wesensart eingestellt und mit seinen nach innen gerichteten Maßnahmen diese Entwicklung begleitet und gefördert. Die reife Form des sächsischen Staates jener Zeit ergab sich aus dem Reifegrad seiner Gesellschaft. Dieser Staat lebte und handelte in einer beeindruckenden Übereinstimmung mit der Gesellschaft und als ihr Diener, nicht als eine künstliche Konstruktion über ihr aufgrund einer fremdbestimmten Staatsidee. Nach diesen Darlegungen zur Ereignisgeschichte gilt es, sich um eine Deutung und Verallgemeinerung der geschichtlichen Vorgänge zu bemühen, sie theoretisch zu verarbeiten und in größere Zusammenhänge einzuordnen. Es ist deutlich geworden, daß Sachsen in den Jahrzehnten um 1500 eine rasche und kräftige Aufwärtsentwicklung durchgemacht hat, in der das Bürgertum zu einer führenden gesellschaftlichen Kraft aufgewachsen ist. Wenn man den werdenden Staat als die über den Ständen und Gruppen stehende ordnungsstiftende öffentliche Gewalt und somit als die vorgegebene Rahmenbedingung für das Kräftespiel innerhalb der Gesellschaft ansieht, wofür es im damaligen Sachsen manche Bestätigung gibt, dann befand sich das Bürgertum überhaupt in einer eindeutigen Führungsrolle. Sein Aufstieg und sein Vorwärtsdrängen läßt sich als eine Bewegung in dem Sinne verstehen, wie man von liberaler, nationaler, sozialer oder von Arbeiterbewegung spricht. Damit sind Erscheinungen gemeint, in denen es um einen spürbar beschleunigten Fortschritt auf neue Ziele hin, um eine Verdrängung alter durch neue Strukturen, um einen Wechsel in den gesellschaftlichen Führungspositionen, um die Durchsetzung von Interessen bestimmter Gruppen und Schichten und um die Verwirklichung politischer Programme oder Ideen geht. Eine solche Bewegung kann entweder von einer sozialen Gruppe bewirkt, getragen und propagiert werden oder sich unbewußt mit elementarer Kraft durchsetzen. Der Begriff der politischen Bewegung ist „zur Beschreibung spontan entstehender, schwach koordinierter Handlungen in einer vorrevolutionären Situation" 26 herangezogen worden, eine Definition, die vorzüglich auf die dynamische Situation um 1500 in Sachsen zutrifft. In diesem Sinne gab es hier zu jener Zeit eine bürgerliche Bewegung, wie es mit den vorstehenden Ausführungen dargelegt werden sollte. Da das Bürgertum aber noch nicht die staatliche Gewalt an sich bringen konnte, die weiterhin, wenn auch in einer mit bürgerlichen Elementen angereicherten Art und Weise, in den Händen einer ihrem Ursprung nach feudalrechtlich begründeten Landesherrschaft blieb, und da in Deutschland eine zum vollen Sieg des Bürgertums führende Bewegung erst im 19. Jh. zu verzeichnen ist, muß der Begriff eingeschränkt werden. Im Verhältnis von Kapitalismus und seiner frühen Form, eben dem Frühkapitalismus, bietet sich eine sachliche Parallele an, so daß es angebracht ist, für die hier zur Rede stehende Epoche einer frühen Hochform des Bürgertums von frühbürgerlicher Bewegung zu sprechen 27 . Eine Bewegung erstreckt sich über einen 26 27

Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. Joachim Ritter, Bd. 1, Basel, Stuttgart 1971, S. 880 f. Daß es mir nicht möglich ist, im Laufe des 16. Jh. in Deutschland eine frühbürgerliche Revolution zu entdecken, habe ich bereits in meinem Aufsatz „Luthers reformatorische Leistung in ihrer Umwelt von Zeit und Raum" (Herbergen der Christenheit, Jb. für deutsche Kirchengeschichte Bd. 13,1982, S. 7-25) in der Auseinandersetzung mit Adolf Laubes Artikel „Bemerkungen zur These von der Revolution des gemeinen Mannes'" (ZfG 1978, Heft 7, S. 607-614) dargelegt. Man kann nicht den gemeinen Mann als Triebkraft der Revolution von einer den Charakter der Revolution bestimmenden Zielsetzung unterscheiden. Das würde nämlich bedeuten, daß die Bauern unbewußt und ohne ihr subjektives Wollen eine Revolution betrieben hätten, die nicht ihnen selbst, sondern einer anderen Gruppe der Gesellschaft zugute gekommen wäre, während das Bürgertum als Nutznießer der Revolution an ihr nicht aktiv teilnahm, sondern

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längeren Zeitraum, setzt keine Gewalt ein, ergibt sich aus elementaren gesellschaftlichen Bedingungen geradezu zwangsläufig u n d läuft auch o h n e O r g a n i s a t i o n oder b e w u ß t e Steuerung ab. Die frühbürgerliche Bewegung hat das B ü r g e r t u m nach drei J a h r h u n d e r t e n einer d a u e r h a f t e n A u f w ä r t s e n t w i c k l u n g in den mittelalterlichen Städten in die gesellschaftliche F ü h r u n g gebracht, o h n e d a ß es die politische F ü h r u n g erlangte, o b w o h l es einen stärkeren Anteil an ihr n e h m e n k o n n t e . Das B ü r g e r t u m w u r d e jetzt s t r u k t u r b e s t i m m e n d auf wirtschaftlichem u n d kulturellem Gebiet, es beeinflußte das Wertsystem u n d beherrschte die materiellen G r u n d l a g e n von Gesellschaft u n d Staat. D e r Adel als die zuvor f ü h r e n d gewesene gesellschaftliche G r u p p e w u r d e dabei nicht restlos ausgeschaltet, er k o n n t e sich vielmehr nach einer längeren Zeit der G e f ä h r d u n g wieder fangen, indem er sich b e s t i m m t e n , vom B ü r g e r t u m geschaffenen Bedingungen a n p a ß t e . E r verschaffte sich Bargeldeinkünfte u n d Bildung u n d gewann d a d u r c h im 17. Jh. verlorengegangene Positionen z u r ü c k . A b e r das B ü r g e r t u m hatte d o c h eine Stellung erlangt, die sich nicht m e h r völlig rückgängig m a c h e n ließ. Es k o n n t e G r u n d l a g e n seiner einmal erlangten gesellschaftlichen B e d e u t u n g b e h a u p t e n , von denen aus sein neuer u n d diesmal endgültiger Aufstieg u n t e r den Bedingungen der Industrialisierung u n d des liberalen Staates erfolgen konnte. Wenn m a n nach einer zeitlichen Festlegung der f r ü h b ü r g e r l i c h e n Bewegung in Sachsen fragt, so bieten sich h i e r f ü r zwei G r e n z j a h r e an, o b w o h l es i m m e r mißlich ist, die von Ü b e r g ä n g e n geprägte E n t w i c k l u n g in scharf abgegrenzte E p o c h e n gliedern zu wollen. Das F ü n d i g w e r d e n der Schneeberger Silbererze im Jahre 1470 hat jedoch in so starkem M a ß e einen gewaltigen A u f b r u c h der wirtschaftlichen Kräfte in Sachsen mit allen oben dargelegten Folgen eingeleitet, d a ß sich dieses Jahr als A n f a n g s p u n k t eignet. Einen gewissen A b s c h l u ß errreichte die Bewegung mit d e m spürbaren R ü c k g a n g des erzgebirgischen Silberbergbaus u m die Mitte des 16. Jh., wobei der plötzliches Tod des K u r f ü r s t e n Moritz im Jahre 1553 u n d der f ü r die protestantische F ü h r u n g s m a c h t Sachsen wichtige A u g s b u r ger Religionsfriede b e s t i m m t e Marksteine setzte. Es geht also insgesamt u m eine Zeit von reichlich 80 Jahren, in d e n e n sich in Sachsen die f r ü h b ü r g e r l i c h e Bewegung vollzogen hat. Sie stellt einen herausragenden A b s c h n i t t in der Geschichte von L a n d u n d Leuten in Sachsen dar, eine Zeit, die mit ihren Ereignissen u n d Ergebnissen dazu beigetragen hat, d a ß Sachsen seine Identität g e f u n d e n hat. Es war schließlich eine Zeit, in der dieses L a n d mit seiner festen politischen O r g a n i s a t i o n , seiner wirtschaftlichen Leistung u n d seiner kulturellen E n t f a l t u n g im weitesten Sinne des Wortes eine F ü h r u n g s r o l l e in der deutschen Geschichte ausgefüllt hat.

sich die Hauptarbeit von anderen besorgen ließ. Um der eindeutigen Begriffsbildung willen muß man schon an der Übereinstimmung von Triebkräften und Zielsetzung einer Revolution festhalten. Wenn das Bürgertum nicht revoltiert hat und die Bauern naturgemäß für ihre eigenen Ziele revoltiert haben, dann gestattet es die Logik nicht, von einer bürgerlichen Revolution zu sprechen. Wenn der geprägte Begriff der Revolution nicht entwertet und verwässert werden soll, ist an bestimmten, historisch bewiesenen Elementen festzuhalten. Dazu gehören eine soziale Basis, eine Führungsgruppe, ein Programm, ein äußerer Anlaß, die Bereitschaft zur Gewaltanwendung und ein kurzer, hart zupackender Einsatz der Kräfte. Diese Merkmale treffen auf den Bauernkrieg und die Reformation nicht zu. Aus der reichen Literatur zum Begriff der frühbürgerlichen Revolution seien die folgenden Titel erwähnt: Reformation oder frühbürgerliche Revolution? Hrsg. von Rainer Wohlfeil, München 1972; Bernhard Töpfer, Zur Frage nach dem Beginn der Neuzeit. In: ZfG, Jg. 16 (1968), S. 773-779; Winfried Schulze, Reformation oder frühbürgerliche Revolution? In: Jb. f. d. Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands Bd. 22 (1973), S. 253-264; Karl-Hermann Kandier, Reformation + Bauernkrieg - Frühbürgerliche Revolution? In: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 48. Jg. (1977), Heft 3.

SIEGFRIED W O L L G A S T , D R E S D E N

Aspekte geistiger Entwicklungslinien der lutherischen Reformation bis zur klassischen deutschen Philosophie

Georg Wilhelm Friedrich Hegel schätzt die Bedeutung der lutherischen Reformation für die Philosophie aus mehreren Gründen sehr hoch ein. Er versteht sie als geistige Revolution, in der „der Geist zum Bewußtseyn der Versöhnung seiner selbst kam, und zwar in dieser Gestalt, daß sie im Geiste vollbracht werden müsse". Hegel sieht in der Reformation eine starke Hinwendung „aus dem Jenseitigen" auf „die Erde und ihre Körper, menschliche Tugenden und Sittlichkeit, das eigene Herz und das eigene Gewissen". 1 Dabei faßt er die Hochschätzung der Ehe und der Arbeit sowie die Freiheit von blindem, die menschliche Freiheit unterdrückendem Gehorsam als wesentliche Errungenschaften der lutherischen Reformation. Der bedeutende klassische deutsche Philosoph Hegel betont weiter, durch die Reformation werde die unmittelbare Verbindung zwischen Mensch und Gott hergestellt. Er erwähnt als positiv, daß diese Reformation die Vermittelung des MenschGott-Verhältnisses durch „eine eherne, eiserne Scheidewand", die „die Laien von der Kirche trennte", beseitigte. Diese Vermittelung bestehe zweifellos auch weiter, aber sie sei im Protestantismus ohne Scheidewand. Letztere sei hier durch Lehre, Einsicht, Beobachtung seiner selbst und seiner Handlungen gesetzt. Hegel konstatiert davon ausgehend: „Erst mit Luther begann die Freiheit des Geistes, im Kerne: und hatte diese Form, sich im Kerne zu halten. Die Explikation dieser Freiheit und das sich denkende Erfassen derselben ist ein Folgendes gewesen." 2 Dieses Folgende soll hier interessieren! Nicht in seiner Fülle - das ist weder sachlich noch zeitlich hier nachvollziehbar. Einige Linien sollen verdeutlicht werden, die an folgende Tatsachen anknüpfen: Mit der Reformation, ihrem Denken geschuldet, „entstanden Schulen als Pflanzstätten für eine bürgerliche Intelligenz, die das Erbe des Humanismus fortsetzte und schließlich der frühen Aufklärung zuführte. In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch eine eigenständige protestantische Schulphilosophie, die wesentlich durch Melanchthon geprägt wurde, eine große Spannweite von Auffassungen aufwies, das antike philosophische Erbe in spezifischer Weise bewahrt und auf dem Gebiet der Ethik, Metaphysik und Logik selbständige Leistungen hervorbrachte. Vor allem an Auffassungen des jungen Luther knüpften oppositionelle Denker des 17. Jh. wie Valentin Weigel und Jakob Böhme an; oppositionelle Mystik, Pantheismus und Ideen der Toleranz schufen wichtige Grundlagen für die Frühaufklärung."· 5 Letztlich stimmt mein Bild von Luther und seiner philosophischen Wirkung mit dieser Passage überein. 4 1

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 19, hg. von Hermann Glockner, ^Stuttgart 1959, S. 253. Ebd., S. 254f. Vgl. zusammenfassend zu Hegels Stellung zur lutherischen Reformation: Martin Luther in der deutschen bürgerlichen Philosophie 1517-1845. Eine Textsammlung, hg. von Werner Schuffenhauer und Klaus Steiner, Berlin 1983, S. 333-347. Thesen über Martin Luther. Zum 500. Geburtstag, Berlin 1981, S. 26. Vgl.: Klaus Deppermann, Martin Luther - Bahnbrecher der Neuzeit? In: ders.: Protestantische Profile von Luther bis Francke. Sozialgeschichtliche Aspekte, hg. von Thomas Baumann/Christoph Dittrich/Frank Hugelmann/Herbert L. Müller, Göttingen 1992, S. 5-21. Vgl. Siegfried Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650, 2 Berlin 1993, S. 25-64, S. 128-220.

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Siegfried Wollgast

Schon Hegel erinnert daran, daß es auch schon vor der Reformation Versuche gab, eine derartige geistige Revolution zu vollziehen, wie sie die Reformation bedeutete. Dieser Vorgeschichte der Reformation sei hier sowenig nachgegangen, wie eine philosophische Wichtung von Auffassungen Luthers und seiner Freunde und Mitstreiter vorgenommen werden soll oder kann. Es geht mir hier „lediglich" um die Wirkung der Reformation, um Wirkungen in einem Zeitraum, der etwa die Jahre zwischen 1555 und 1789 umfaßt. 1555 wurde als Beginn gewählt, weil am 25. September dieses Jahres der Augsburger Religionsfrieden geschlossen wurde. Er hob, zum Grundgesetz des Reiches geworden, „die religiöskirchliche Basis des Reiches praktisch auf und förderte den Ausbau der weltlichen Territorialstaaten. Zugleich aber hemmte er durch den geistlichen Vorbehalt die Weiterführung der Fürstenreformation und ebnete der Gegenreformation den Weg. Seine Widersprüche ließen im Grunde genommen alle Möglichkeiten offen." 5 Das Jahr 1789 wurde gewählt, weil nach vielfältiger Forschungsmeinung damit weitgehend das Ende der Aufklärung in West- und Mitteleuropa gesetzt wird. 6 In dieser Periode ist die Religion, wenn auch in verschiedenen Varianten, uneingeschränkt präsent. Die große Masse der Menschen, die Gelehrten wie die Ungebildeten, Kaiser, Fürsten wie Plebejer und Bauern erfüllt eine tiefe subjektive Frömmigkeit. Ihre Ausprägungen sind unterschiedlich, aber es sei nicht vergessen: 1. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg beginnt allmählich das religiöse (besser vielleicht das konfessionelle) Banner zu verschleißen; der Nationalgedanke tritt an seine Stelle. An den Universitäten übernimmt allmählich die Artisten- (die philosophische) Fakultät die bisherige Vorrangstellung der theologischen. 2. Sicher gibt es in dieser Zeit auch „Atheismus" oder Deismus und Pantheismus, aber sie sind keine Massenerscheinung, finden sich eher bei Fürsten und Intellektuellen, denn bei den Massen. Geläufig ist, den Andersgläubigen als Atheisten zu verteufeln. Stets ist dabei auch zu bedenken, daß „Atheismus" in diesen Jahrhunderten eine völlig andere Bedeutung denn heute in sich faßt. 7 Daraus ergibt sich auch: 3. Der philosophische, wie der allgemein-kulturelle Progreß vollzieht sich zwischen der Reformation und klassischer deutscher Philosophie nicht etwa über einen Atheismus, sondern über den Naturalismus. Dieser aber bedeutet - zumindest auch - Umgestaltung der Religion in Richtung auf Abweisung des Widernatürlichen und selbst des Ubernatürlichen; er ist somit Aufklärung, steht zudem mit Toleranz in engem Zusammenhang. 4. Aufklärung wird in Deutschland, und nicht nur in Deutschland, weitgehend vom Deismus getragen, nicht etwa primär vom Materialismus. Selbst in der französischen Aufklärung ist und bleibt der Materialismus eine zwar einflußreiche, aber kleine Fraktion. Der Deismus ist die „Religion" der Aufklärung.

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Max Steinmetz, Deutschland von 1476 bis 1648 (Von der frühbürgerlichen Revolution bis zum Westfälischen Frieden), 2. überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1978, S. 225. Vgl. u. a.: Theodor Mahlmann, Aufklärung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 1: A-C, Basel - Stuttgart 1971, Sp. 620-635; auch: Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kant, Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie. Hg. u. mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner, Berlin 1988, S. 221. In unserer Zeit: Werner Bahner, „Aufklärung" als Periodenbegriff der Ideologiegeschichte, in: Renaissance - Barock - Aufklärung, hg. von Werner Bahner, Berlin 1976, S. 156-169; Nicoiao Merker, Die Aufklärung in Deutschland, München 1982, S. 8,11; Werner Schneiders, Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Aus Anl. d. 250jährigen Bestehens d. Verlages Vandenhoek & Ruprecht hg. von Rudolf Vierhaus, Göttingen 1985, S. 60; ders., Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, S. 41. Vgl. Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971; Hans-Werner Schütte, Atheismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (wie Anm. 6), Sp. 595-597.

Aspekte geistiger Entwicklungslinien der lutherischen Reformation

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Wenn wir hier über Wirkungen der Reformation bis zur klassischen deutschen Philosophie sprechen - sie setzt mit Kants „Kritik der reinen Vernunft" 1781 ein, wobei Eckpunkte, gefaßt durch Jahreszahlen, selbstverständlich nur relativ sein können - so kann hier nur von Deutschland die Rede sein. Die Verbindung zum außerdeutschen Europa sowohl hinsichtlich des Einflusses der Reformation und der von ihr ausgehenden Philosophie als auch der zeitweilig recht starke Einfluß der westeuropäischen auf die sich im protestantischen Deutschland entwickelnde Philosophie ist aber dabei stets zu bedenken. Entwicklung der Philosophie im protestantischen Deutschland bedeutet auch keine Scheidemauer zu den katholischen Gebieten Deutschlands, zu Frankreich, Spanien, Italien usw. und der sich dort entwickelnden Philosophie. Im Gegenteil: der Protestantismus empfängt bis ins 18. Jh. aus der sich dem Katholizismus verpflichtet fühlenden Philosophie starke Impulse. Und er vermittelt dieser „katholischen Philosophie" in wachsendem Maße Anregungen, beziehungsweise schärft ihre Argumente. Die Kommunikation funktioniert - trotz aller zumeist agitatorisch-propagandistischen Kontroversliteratur. Nicht immer will man an das Milieu, aus dem man kommt, gern erinnert werden. Man schämt sich bisweilen seiner Herkunft oder sucht Spuren zu verwischen. Das gilt auch für die Aufklärung, die die ihr unmittelbar voraufgehende, von der Reformation ausgehende philosophische Linie stark herabsetzte. Der Philosophiehistoriker hat Objektivierung anzustreben. Er wird dabei durch Hinweise großer Deutscher der Vergangenheit bestärkt. Hier beschränken wir uns auf zwei Beispiele. Ludwig Feuerbach stellt fest: „Der deutsche Materialismus hat einen religiösen Ursprung; er beginnt mit der Reformation; er ist eine Frucht der Liebe Gottes zum Menschen . . . Der deutsche Materialist ist also kein Bankert, keine Frucht der Buhlschaft deutscher Wissenschaft mit ausländischem Geiste, er ist echter Deutscher, der bereits im Zeitalter der Reformation das Licht der Welt erblickte." 8 M.E. wird Materialismus hier in seiner Bedeutung überbewertet. Hingegen verfolgt Heinrich Heine - m.E. sachkundiger - in seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" gerade auch die Zeit zwischen Reformation und klassischer deutscher Philosophie unter starker Betonung des Wertes, den die Mystik und der Pantheismus vermitteln. 9 Gerade auf Mystik und Pantheismus bin ich in meiner Forschungstätigkeit häufig eingegangen10, nicht zuletzt aus der Überlegung heraus, daß etwa seit Rene Descartes die Ratio vereinseitigend überschätzt wurde, man aber mit ihr eine Vielzahl von gesellschaftlichen und individuellen Problemen weder sehen, noch begreifen, noch lösen kann. Dabei habe ich von Günter Mühlpfordt - nunmehr über drei Jahrzehnte hinweg - mannigfache Anregungen erhalten, im Gespräch und durch seine Publikationen. Theologie und Philosophie stehen seit der Renaissance bis zum Ende des 17. Jh. in enger Verbindung. (Auf die zeitweilig erfolgreichen, unterschiedlich motivierten Forderungen

8

Ludwig Feuerbach, Der religiöse Ursprung des deutschen Materialismus, in: L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Bd. 11: Kleinere Schriften IV ( 1 8 5 1 - 1 8 6 6 ) , hg. von Werner Schuffenhauer, 2 Berlin 1982, S. 115, 117.

' Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Heines Werke in fünf Bänden. Bd. 5, Berlin - Weimar 1972, S. 1 3 - 7 4 . Vgl. ebd, S. 39: „Ruhm dem Luther! Ewiger Ruhm dem teuren M a n n e . . . Es ziemt uns wenig, über die Beschränktheit seiner Ansichten zu klagen. Der Zwerg, der auf den Schultern des Riesen steht, kann freilich weiter schauen als dieser selbst, besonders wenn er eine Brille aufgesetzt; aber zu der erhöhten Anschauung fehlt das hohe Gefühl, das Riesenherz, das wir uns nicht aneignen können." 10

Vgl. jüngst: Siegfried Wollgast, Mystische Strömungen in Literatur und Philosophie der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutschland, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur, 21 (1992) H . 2 / 3 , S. 2 6 9 - 3 0 3 ; Siegfried Wollgast, Deus sive natura: Zum Begriff des Pantheismus in der europäischen Philosophie- und Religionsgeschichte (im Druck).

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Siegfried Wollgast

nach Trennung von Philosophie und Theologie im Mittelalter - bei Thomas von Aquino, in den Pariser Thesen von 1270 bzw. 1277 usw. - kann hier nicht eingegangen werden). Zwar setzt schon in den zwanziger Jahren des 17. Jh. die Trennung beider Disziplinen, vermittelt über die Ethik, allmählich ein. Aber bis weit ins 18. Jh., muß Philosophie, will sie ernstgenommen werden, auch theologisches Denken, theologische Fragestellungen verfolgen. Ja, sie wird eigentlich von der Theologie inspiriert, getragen und gewertet. 11 Auch sind etwa Trost, Glaube, Hoffnung, Leid, Hilflosigkeit, eschatologisches oder auch chiliastisches Denken usw. in der Frühen Neuzeit bedeutsamer als heute. Und dazu bedarf auch der als Philosoph Antretende letztlich der Theologie. Wer diese Mühe scheut und dafür eine theoretische, subjektiv gefärbte Begründung vulgarisierend flugs parat hält, wird ebenso fehl gehen wie andererseits jene Theologen, die den Glauben an Gott als conditio sine qua non einer Beschäftigung mit Kirchengeschichte betrachten. Oder die Beschäftigung mit weltlicher Wissenschaft überhaupt ablehnen oder verachten. Philosophie in Deutschland zwischen 1550 und 1650 umfaßt vornehmlich: 1. die an Universitäten, Ritterakademien und akademischen Gymnasien gelehrte Philosophie; 2. das explizit philosophische Denken der Naturwissenschaftler dieser Zeit; 3. Philosophische Reflexionen der Vertreter der Volksopposition; 4. das philosophische Denken von Dichtern und Literaten. Dabei ergeben sich vielfältige Verflechtungen, die hier außer Betracht bleiben. Diese Gruppierungen von Philosophie mit jeweils unterschiedlichem Adressatenkreis sind dem Luthertum verpflichtet, gehen von ihm aus, oder setzen sich - im katholischen, im reformierten wie im „Sekten"-Bereich - mit ihm auseinander. Der junge Philipp Melanchthon (1497-1560) war begeisterter Humanist und Aristotelesanhänger. Nachdem er sich 1518 zu Luther bekannt hatte, begann er zunächst einen Feldzug gegen die aristotelische Philosophie beziehungsweise gegen die Philosophie überhaupt. Theologie sollte die Philosophie ersetzen. 12 Das widerspiegelt auch noch die theologisch eingefärbte Abneigung des Humanismus gegen die Metaphysik überhaupt. Schon zu dieser Zeit ist allerdings sichtbar, daß es Melanchthon vorwiegend um den Kampf gegen das katholisch-scholastische Aristotelesverständnis geht. Es ist also kein völliger Bruch mit seinen vorherigen und den späteren Anschauungen zu konstatieren. Auch das mittelalterliche Erbe bleibt stets konstitutives Element der Weltauffassung Melanchthons. Martin Luther dagegen war nie Humanist. Er, der ältere Freund Melanchthons, nennt Aristoteles u. a. „einen Erzverleumder, Komödianten und Teufel, einen falschen und gottlosen Heuchler, einen Erztadler, der soviel hin und her redet, daß man schließlich nicht weiß, was er will, einen Proteus, dreiköpfigen Cerberus oder dreileibigen Geryon, der die Geister äfft, einen Sykophanten und lasterhaften Schwindler". 13 Dementsprechend wendet er sich auch

11

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Vgl. Richard H. Popkin, The Religious Background of Seventeenth-Century Philosophy, in: Journal of the History of Philosophy, 25 (1987), S. 35-50. Vgl. ζ. Β. Philipp Melanchthon, Opera quae supersunt omnia. Ed. Carl Gottlieb Bretschneider, Bd. 1, Halle 1834 (Corpus Reformatorum, ed. Carl Gottlieb Bretschneider, Vol. 1), Sp. 163, Sp. 273-275 (Brief an Johann Lang vom April 1520; Widmungsschreiben der „Wolken" des Aristophanes an Nikolaus von Amsdorf vom Dezember 1520). Ebd. Sp. 286-358. („Didymi Faventini adversus Thomam Placentinum Oratio pro Martino Luthero Theologo"). Vgl. ebd., Vol. X X I , Braunschweig 1854 (1. Auflage der „loci communes rerum theologicarum . . . " ) , Sp. 101, Sp. 117 u. a. - Vgl. die Standardmonographie zur philosophischen Entwicklung des jungen Melanchthon: Wilhelm Maurer, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation, Bd. I: Der Humanist, Göttingen 1967; Bd. 2: Der Theologe, Göttingen 1969. Ferdinand Bahlow, Luthers Stellung zur Philosophie, Phil. Diss. Jena, Berlin 1891, S. 31f. Dort auch die Belege und weitere Äußerungen. Vgl. Friedrich Nitzsch, Luther und Aristoteles, Festschr. z. 400 jähr. Geburtstag Luther's, Kiel 1883, S. 3. Hier weitere ungünstige Urteile Luthers über Aristoteles. Vgl. auch:

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in seiner Programmschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation" gegen Aristoteles. 14 Später hat er - wohl unter dem Einfluß Melanchthons - ebenfalls Aristoteles weitgehend anerkannt, dessen Bedeutung für die Philosophie er ohnehin nicht in Frage gestellt hatte. Nach 1525 erfolgt bei Melanchthon - mit Billigung Luthers - eine erneute Hinwendung zu Aristoteles, überhaupt zur Philosophie. Nach dem Speyerer Reichstag von 1526 erhält Melanchthon die Aufgabe, das Bildungswesen in den protestantischen Ländern zu reformieren. Dabei stützt er sich - ebenfalls mit Billigung Luthers - auf Aristoteles. Es gibt objektive Gründe dafür, daß sich der orthodox verstandene Aristoteles und das von Melanchthon kanonisierte Luthertum verbinden lassen: „Eine Philosophie, die der Kirche wirklich zu gesunden und festen Bildungsgrundlagen verhelfen konnte, mußte drei Anforderungen . . . genügen: sie mußte eine klare philosophische Propädeutik ermöglichen; Wesen, Sein und Zusammenleben der Menschen frei von Schwärmerei und den gröbsten Widersprüchen mit der christlichen Psychologie, Ethik und Staatslehre begründen; sowie eine Physik enthalten, die mit der biblischen in Einklang gebracht werden konnte, mindestens einigermaßen." 15 Diesen Anforderungen vermochte ein orthodox gefaßter Aristoteles durchaus zu genügen. Ph. Melanchthon betont dann auch nachdrücklich den Wert einer entsprechenden Philosophie für die protestantische Kirche. 16 Er gibt selbst Werke des Aristoteles mit entsprechenden Kommentaren heraus. Unter den vielen Bekenntnissen Melanchthons zu Aristoteles sei als bezeichnend das von 1550 hervorgehoben, in dem er die aristotelische Philosophie als die wahre bezeichnet, die wissenschaftlich am brauchbarsten und der Kirche am nützlichsten sei. 17 Neben Ph. Melanchthon propagierten eine Reihe von lutherischen Zeitgenossen dessen „Aristotelismus", vor allem sein Freund Joachim Camerarius (1500-1574). An der WittenMartin Luther, WA, Bd. 58: Gesamtregister, Τ . 1, Weimar 1948, Stichwort Aristoteles, S. 1 6 3 - 1 7 0 . Zum Humanismus Luthers vgl.: H e l m a r Junghans, D e r junge Luther und die Humanisten, Weimar 1984. Zu Luther als Philosoph: Wilhelm Link, Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, hg. von Ernst W o l f / M a n f r e d Mezger, Berlin 1954; R u d o l f Malter, Das reformatorische Denken und die Philosophie. Luthers E n t w u r f einer transzendental-praktischen Metaphysik, B o n n 1980. 14

Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 1520, in: M . Luther, WA, Bd. 6, Weimar 1888, S. 457f. (Zum X X V . )

15

Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, S. 4 7 (Reprint: Stuttgart - Bad Cannstatt 1964); vgl. Lewis W h i t e B e c k , Early G e r m a n Philosophy, Kant and his Predecessors, C a m b r i d g e / M a s s . 1969, S. 1 1 5 - 1 3 8 ; Gerhard Müller, D i e Aristoteles-Rezeption im deutschen Protestantismus, in: D i e Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Vorträge gehalten anläßl. d. 1. Kongresses d. Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung in der H e r z o g August Bibliothek Wolfenbüttel vom 2.-5.9.1978, hg. von August B u c k , H a m b u r g 1981, S. 5 5 - 7 0 ; Ulrich Gottfried Leinsle, D a s D i n g und die Methode. Methodische Konstitution und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik, T . 1 - 2 , Augsburg 1985; ders., Reformversuche protestantischer Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus, Augsburg 1988; Joseph S. Freedman, Deutsche Schulphilosophie im Reformationszeitalter ( 1 5 0 0 - 1 6 5 0 ) , 2., völlig umgearb. und erg. Aufl., Münster 1985. Zur Entwicklung des Aristotelismus in den katholischen Gebieten Deutschlands vgl.: Ernst Lewalter, Spanisch-jesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts, H a m burg 1935; Frederick Charles Copleston SJ, A History of Philosophy, Vol. I I I : O c k h a m to Suarez, L o n d o n 1953, p. 2 1 7 - 2 3 0 ; Paul Richard Blum, D e r Standardkurs der katholischen Schulphilosophie im 17. Jahrhundert, in: Aristotelismus und Renaissance. In memoriam Charles B . Schmitt, hg. von Eckhard Keßler, Charles H . L o h r und Walter S p a m , Wiesbaden 1988, S. 1 2 7 - 1 4 8 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 40).

16

Philipp Melanchthon, O p e r a quae supersunt omnia, ed. Carl G o t t l i e b Bretschneider, Vol. X I , Halle 1834, Sp. 2 7 8 - 2 8 4 ( D e philosophia, anno 1536): ebd., Sp. 3 4 2 - 3 4 9 (De Aristotele, an. 1537), Sp. 6 4 7 - 6 5 8 ( D e Aristotele, an. 1544).

17

Ebd., Vol. V I I , Halle 1840, Sp. 6 8 4 - 6 8 8 .

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Siegfried Wollgast

berger Universität blieb auch nach Melanchthons Tod Aristoteles in hohem Ansehen. Das philosophische Lehrprogramm der Wittenberger Universität und damit der Aristotelismus im Verständnis Melanchthons ist auf alle protestantischen Universitäten übertragen worden. Einige von ihnen waren (Marburg 1527, Königsberg 1544, Jena 1548 bzw. 1558) schon unter landesherrlich-protestantischem Vorzeichen gegründet worden. Die bereits 1506 gegründete Universität Frankfurt an der Oder, die 1578 bzw. 1622 gegründete Universität Altdorf und das 1576 gegründete Helmstedt spielen zeitweilig eine Sonderrolle. Leipzig wetteiferte an „Rechtgläubigkeit", auch hinsichtlich der aristotelischen Philosophie, mit Wittenberg. Die Universität Jena galt bis zum Ende des 18. J h . als ein Hort des echten Luthertums und des Aristotelismus. Zum Hort der aristotelischen Philosophie im Sinne Melanchthons wurden auch die meisten Gelehrtenschulen bzw. akademischen Gymnasien in den „lutherischen Territorien", die man geradezu „Aristoteleshäuser" nannte. Mitte des 17. J h . beginnt der Einfluß der melanchthonischen Aristotelesinterpretation weitgehend zu schwinden, vor allem seine Geringschätzung der Metaphysik. In einer Visitation (1600) in Jena wird darüber geklagt, daß Melanchthons Arbeiten gar nicht mehr oder wenig gelesen werden. 18 Im wissenschaftlichen bzw. philosophischen Bereich erwuchs der melanchthonisch-aristotelischen Philosophie ein ernstzunehmender Gegner in Gestalt der Auffassungen von Petrus Ramus (Pierre de la Ramee) (1515-1572). Der Ramismus fand zunächst in Deutschland große Verbreitung, vor allem im vom Calvinismus erfaßten Bereich, etwa an den Universitäten Heidelberg und Herborn. Aber der lutherische und reformierte Schuldogmatismus verband sich mit größter Unduldsamkeit gegen jeder Abweichung vom Aristotelismus in der ihm von Melanchthon bzw. dem reformierten Theoretiker Theodor Beza (de Beze, 1579-1605) verliehenen Form. 1 9 Die Kritik am Ramismus - der übrigens keineswegs so „revolutionär" war, wie bisweilen dargestellt (er verwarf u. a. die Auffassung des Aristoteles und der Averroisten, wonach die Seele sterblich ist und eine Vergeltung bereits im Diesseits erfolgt) - zwang auch die lutherischen Schulphilosophen, ihre Kenntnisse von Aristoteles' Logik zu vertiefen, denn sie wollten ja den Ramismus mit Aristoteles schlagen. Jakob Scheghs „Organum Aristotelic u m " (Tübingen 1577) bezeichnet die beginnende Rückkehr zu Aristoteles' logischen Schriften. Diese Wendung mußte zwangsläufig direkt zum Studium seiner Metaphysik führen. Dazu vollzog sich die Rückkehr zu Aristoteles unter dem Einfluß des Paduaner Aristotelismus, vor allem Giacomo Zabarellas (1533-1589). Jetzt erreichte Aristoteles' Metaphysik eine Beachtung, wie sie sie unter den Humanisten und der Vorherrschaft der melanchthonischen Philosophie nicht gehabt hatte. Dabei bildeten sich drei Richtungen heraus. Die erste Richtung führte den Aristotelismus der Italiener, vor allem Pietro Pomponazzis (1462-1525), Andreas Cesalpins ( 1 5 2 4 / 2 5 - 1 6 0 3 ) und G . Zabarellas weiter. Sie vertrat eine scharfe Trennung der christlichen Theologie und der „heidnischen" Metaphy-

18

Max Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt, Jena 1932, S. 38; vgl. dagegen Ernst Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon, Göttingen 1891, S. 88f.

"

Es sei ausdrücklich betont, daß wir hier eine Übersicht über das Schulmäßige geben. Natürlich gab es auch Gelehrte, die Aristoteles heterodox betrachteten, ihn weiterzuführen suchten. So Daniel Sennert ( 1 5 7 2 - 1 6 3 7 ) und seine Schüler, Johannes Sperling ( 1 6 0 3 - 1 6 5 8 ) oder der Staatstheoretiker Johannes Althusius ( 1 5 5 7 - 1 6 3 8 ) . Sie alle sind zumeist noch nicht hinreichend untersucht worden. Vgl. Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1 5 5 0 - 1 6 5 0 (wie Anm. 4) Kap. VI und VII. Zum Wirken des Ramismus vgl.: Walter J. O n g SJ, Ramus. Method and the Decay of Dialogue. From the art of discourse to the art of reason, Cambridge/Mass. 1958; Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983.

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sik, die Theorie der doppelten Wahrheit und wurde vor allem in Altdorf vertreten. Philipp Scherb (um 1555-1605) spielte hierbei eine führende Rolle. Den zweiten Weg wählte Nicolaus Taurellus (1547-1606). Er lehnte die Theorie der doppelten Wahrheit ab und suchte eine speziell christliche Philosophie zu schaffen, die der Theologie nicht widerstreite. Das verlange auch, eine neue Metaphysik an die Stelle der aristotelischen zu setzen, was wiederum entschiedene Auseinandersetzungen mit der aristotelischen Metaphysik erfordere. Der dritte Weg führte zur Begründung der eigentlichen protestantischen Schulmetaphysik durch Weiterfuhrung der und durch Anpassung an die Neuscholastik, wie sie in der posttridentinischen katholischen Kirche vor allem durch Francesco Suärez (1548-1617) entwickelt wurde. Dieser dritte Weg der N u t z u n g der aristotelischen Metaphysik wurde dann bis Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), Samuel von Pufendorf (1632-1694) und Christian Thomasius (1655-1728) bestimmend. „Auf ganze gesehen, vollzieht sich die Entwicklung der lutherischen Metaphysik in Mitteldeutschland, und sie ist hier besonders an die Universitäten Helmstedt, Wittenberg, Gießen und Jena geknüpft; einzelne Ausläufer reichen nach Berlin, Danzig und Königsberg . . . Die Philosophie des reformierten Bekenntnisses entfaltet sich mehr in Westdeutschland, auf einer Linie, die etwa durch die N a m e n Heidelberg, Herborn, Duisburg, Steinfurt bezeichnet wird. Zeitweise kommt Marburg hinzu. Sie fließt dann ohne feste Grenze in die holländische Philosophie hinüber und wird im Laufe des 17. Jh. fast ganz dorthin abgedrängt." 2 0 Letzteres ist m.E. überzogen. Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jh. läßt sich ihrem geschichtlichen Verlauf nach in drei Abschnitte unterteilen, wobei der zweite allmählich in den dritten übergeht. Im ersten „setzt sich die neue Bewegung im Kampf gegen feindliche Richtungen durch, im zweiten hat sie die kaum mehr bestrittene Herrschaft, und sie verfällt im dritten, indem sie allmählich durch andere Richtungen zersetzt wird". Die erste Periode reicht vom Ende des 16. Jh. bis etwa 1625. Erst allmählich hebt in den 30er Jahren des 17. Jh. die Bewegung wieder an, um sich in den 40er und 50er Jahren vollständig durchzusetzen. „Etwa zwischen 1670 und 1680 beginnt die Zeit des Niedergangs. Mit der Jahrhundertwende k o m m e n neue Bewegungen herauf, die zur Aufklärung führen und vor denen die alte Schulmetaphysik ihr geschichtliches Recht verliert." 21 Wir können auf diese Schulphilosophie nicht im einzelnen eingehen. Jedenfalls fußen G.W. Leibniz, Erhard Weigel (1625-1699) in Jena, S. von Pufendorf, Chr. Thomasius u. a. mehr oder weniger ausgeprägt auf ihr oder setzen sich mit ihr auseinander. Will man aber nun dem Wesen dieser bedeutenden Philosophien gerecht werden, so m u ß man auch jene Ideenwelt untersuchen, aus der sie hervorgehen, die sie in der Auseinandersetzung überwinden, dabei ihr eigenes qualitativ neues System schaffend. Hinzuweisen ist auch darauf, daß - auch unter dem Einfluß Baruch de Spinozas (1632-1677) - Ende des 17. und Anfang des 18. Jh. in Deutschland völlig neue oppositionelle Denksysteme entstanden. Als Beispiel seien nur T h e o d o r Ludwig Lau, Friedrich Wilhelm Stosch und Gabriel Wagner (Realis de Vienna) genannt. Sie sind Repräsentanten des radikalen Flügels der weltlichen deutschen Frühaufklärung. 2 2 Aber auch sie fußen 20

21 22

Max Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939, S. 69. Vgl. Walter Sparn, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976; Siegfried Wollgast: Philosophische Strömungen in Deutschland im 17. Jahrhundert: Einige Grundlinien, in: Siegfried Wollgast: Vergessene und Verkannte. Zur Philosophie und Geistesentwicklung in Deutschland zwischen Reformation und Frühaufklärung, Berlin 1993, S. 10-67. Ebd., S. 144. Vgl. Siegfried Wollgast, Die deutsche Frühaufklärung und Samuel Pufendorf, in: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994), hg. von Fiametta Palladini/Gerald Härtung, Berlin 1996, S. 40-60. Theodor Ludwig Lau (1670-1740). Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, Homine (1717). Medi-

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letztlich auf Luthers bzw. der reformatorischen Theologie, so eigenständig ihre Interpretation auch ist. Die Neoscholastik des 16. und 17. Jh. hat, wie auch immer im einzelnen, das Erbe von Humanismus, Renaissance und Reformation in sich aufgenommen. Dabei und eben aus diesem Grunde ist neben dem von Suärez ausgehenden Einfluß der der italienischen Aristoteliker, etwa G. Zabarellas, nicht zu vernachlässigen. Gerade sie pflegten das Erbe des Averroes und verstanden es heterodox. Von großer Bedeutung in dieser Schulphilosophie und Schulmetaphysik sind auch die Überlegungen zum Systemdenken bei Johann Heinrich Aisted (1588— 1638), sein Einfluß auf Jan Arnos Comenius (1592-1670), das Wirken von Bartholomäus Keckermann (um 1572-1609) u. a ·23 Verdienstlich bleibt in dieser Schulphilosophie die Bewahrung des aristotelischen Erbes (Rationalismus); der Dogmatismus ließ sich später relativ leicht abstreifen. Indem die Philosophie die Theologie rationalisierte, sie zeitweilig in Gestalt der Metaphysik überformte, schuf sie Voraussetzungen für den Deismus. Je mehr man sich mit dieser Schulphilosophie beschäftigt, desto deutlicher erweist sich das von P. Petersen geprägte negative Bild als einseitig. Das heißt nicht, daß H. Leubes einseitig positive Wertung der protestantischen Orthodoxie zutrifft. Nach diesen Gedankensplittern möchte ich zur pantheistisch-mystischen Linie in Deutschland eine gewisse Ubersicht zu geben suchen. Pantheismus und Mystik haben beim explizit philosophischen Denken der Naturwissenschaftler sowie im philosophischen Denken von Dichtern und Literaten zwischen Reformation und klassischer deutscher Philosophie einen hohen Stellenwert. Die philosophischen Reflexionen der Vertreter der Volksopposition - das religiöse Denken dabei stets, das lutherisch-religiöse weitgehend vorausgesetzt - sind m.E. fast ausschließlich durch Pantheismus und Mystik geprägt. Für das gesellschaftliche Denken waren auch Chiliasmus, Messianismus sowie Utopie sehr wichtig und auch einflußreich. Diesen Denkrichtungen waren Vertreter verschiedenster Gesellschaftsschichten verhaftet. 24 Aus dem weiten Feld von mystischen Pantheisten vor dem Beginn der Aufklärung sei kurz auf Valentin Weigel eingegangen. Nach Ernst-Heinz Lemper zieht sich eine direkte Linie vom „linken Flügel" der Reformation über V. Weigel zu J. Böhme (1575-1624).25 Ohne weitere Stimmen dieser Art zu zitieren, die sich leicht beibringen lassen, will ich nunmehr skizzieren, in welcher Weise m.E. Weigel als unmittelbarer Vorläufer Böhmes anzusehen ist. Der luthersche Pfarrer Valentin Weigel (1533-1588) hat zu seinen Lebzeiten letztlich tationes, Theses, Dubia philosophico-theologica (1719). Dokumente. Mit einer Einleitung hg. von Martin Pott, Stuttgart - Bad Cannstatt 1992 (über Lau vgl. auch Erich Donnert in Bd. 2 der vorliegenden Festschrift S. 61); Friedrich Wilhelm Stosch (1648-1704): Concordia rationis et fidei (1692). Dokumente. Mit einer Einleitung hg. von Winfried Schröder, Stuttgart - Bad Cannstatt 1992. Gabriel Wagner (1660— 1717), Realis de Vienna: Discursus et Dubia in Christ. Thomasii Introductionem ad philosophiam aulicam (1691) - Realis de Vienna: Prüfung des Versuchs Vom Wesen des Geistes . . . (1707) - Vorschlag an die Königl. Weltw. Gesellschaft in Berlin (1716) - Dokumente . . . Mit einer Einleitung hg. von Siegfried Wollgast, Stuttgart - Bad Cannstatt (im Druck). ^ Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica universalis, (wie Anm. 19). Zu J.A. Comenius noch immer zentral: Milada Blekastad, Comenius. Versuch eines Umrisses von Leben, Werk und Schicksal des Jan Arnos Komensky, Oslo-Praha 1969; zu Keckermann vgl.: Willem Hendrik van Zuylen, Bartholomäus Keckermann. Sein Leben und Wirken, Borna - Leipzig 1934 (Theol. Diss., Tübingen). 24 Vgl. ζ. B. Siegfried Wollgast, Zur Wirkungsgeschichte des Paracelsismus im 16. und 17. Jahrhundert, in: Resultate und Desiderate der Paracelsus-Forschung, hg. von Peter Dilg/Hartmut Rudolph, Stuttgart 1993, S. 113-144 (Sudhoffs Archiv Β 31), Siegfried Wollgast, Zum Chiliasmus in der deutschen Frühaufklärung (im Druck); Siegfried Wollgast, Soziale Utopie und Chiliasmus im Paracelsismus, in: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung, hg. von Peter Dily/Hartmut Rudolph, Stuttgart 1995, S. 111-139 (Hohenheimer Protokolle, 47). 25 Ernst-Heinz Lemper, Jakob Böhme. Leben und Werk, Berlin 1976, S. 131-137.

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nicht den Schein eines Zweifels an seiner Rechtgläubigkeit aufkommen lassen. Er hat gleichsam ein Doppelleben geführt - einmal war er der orthodoxe Pfarrer, zum anderen aber schrieb er Manuskripte, die die Grundfesten des herrschenden Glaubens erschütterten. Diese Handschriften zirkulierten nach Weigels Tod in ziemlicher Zahl, fanden große Verbreitung, bis dann 1609 bis 1614 in Halle bzw. auch in Magdeburg erstmalig fast alle Weigelschen Schriften und eine Vielzahl von Pseudoweigeliana gedruckt wurden. Sie lösten euphorische Zustimmung, aber auch empörte und gereizte Gegenwirkungen aus. Reichel führt 34 Gegenschriften aus dem Lager der Lutheraner und 7 aus dem der Reformierten an. 26 Weigel steht in einer Traditionslinie, die vom „radikalen Flügel" der Reformation (Hans Denck, Ludwig Hätzer, die Täufer, Sebastian Franck usw.) herkommt. Alle diese Denker standen den herrschenden Kirchen ihrer Zeit oppositionell gegenüber und entwickelten pantheistische Ideen. V. Weigel wurde dann ein Gewährsmann all jener Kräfte im Bereich des Protestantismus, die die orthodoxe lutherische Scholastik nicht mehr zufrieden zu stellen vermochte. Er knüpft vorrangig an die Mystik (Johannes Tauler, „Theologia teutsch") und gleichzeitig an Paracelsus ( 1 4 9 3 / 9 4 - 1 5 4 1 ) und S. Franck (1499-1542) an. Dabei vertritt er u. a. folgende Grundgedanken: Der Priester ist als Mittler zwischen Gott und Gläubigen überflüssig; Gott ist nicht außerhalb der Welt, sondern in uns; Gottes Tempel ist nicht das Gotteshaus, sondern der inwendige Mensch; wenn Christus nicht in uns ist, so ist der äußere, von der Kirche gepredigte „historische" Christus nichts nütze; die Taufe ist lediglich ein äußeres Zeichen; Sakramente und Zeremonien machen nicht selig; ein gezwungener ist kein rechter Glaube; allein wer im „Buch der Natur" liest, erkennt die Schöpfung; der innere Mensch ist frei, keiner Obrigkeit unterworfen; es gibt eine unsichtbare Kirche der Gläubigen, keine Kirche kann den Anspruch erheben, allein Gott zu verkünden; jegliche „Ketzer'verfolgung wird abgelehnt; universelle Toleranz ist vonnöten. Die Bibel ist auch Menschenwerk - nur ein Wegweiser zu Gott; die Prädikanten und ihre Predigten sind überflüssig; alles Reden und Schreiben der Theologen ist Maulfrömmigkeit und Schulgezänk; der Mensch selbst kann zu Gott werden. Damit entfernt sich Weigel völlig von der orthodox-lutherischen Frömmigkeit seiner Zeit. Er steht ideengeschichtlich in einer pantheistisch-aufklärerischen Tradition, die bis in die klassische deutsche Philosophie führt. Weigel ist für mich einer der Belege dafür, daß sich - wenn auch in religiöser Form - die Entwicklung der Philosophie in Deutschland vom 16. bis 18. Jh. kontinuierlich vollzog. Außer seiner Einflußnahme auf J. Böhme ist für ihn zu konstatieren: Er geht mit seinem Gedankengut auch in den Pietismus, vor allem den „linken" Pietismus ein (Johann Georg Gichtel, Paul Felgenhauer, Christian Hoburg, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen u. a.). O h n e ihn sind auch letztlich Friedrich Christoph Oetinger und Johann Albrecht Bengel nicht verständlich. Letztere, Vertreter des schwäbischen Pietismus, haben unmittelbaren Einfluß auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel. V. Weigel bezeichnet auch nach rückwärts einen Eckpunkt eben durch die gemeinsame Wiederaufnahme der Mystik, des Paracelsus und S. Francks. Weigel wirkte in seiner Zeit (besser: vornehmlich im 17. Jh.) progressiv, indem er sich gegen die lutherische Scholastik wandte, ein neues Religions- und Gottesverständnis vertrat, das für eine mit dem herrschenden Feudalstaat eng verbundene Kirche unannehmbar war. Er vertrat die geistigen Interessen jener Volksschichten, die von den theoretischen

Johannes G o t t l o b Reichel, Vitam, Fata et Scripta M . Valentini Weigelii ex genuinis monumentis c o m p r o bata atque a compluribus naevis ac lapsibus purgata, praeside M . J o h . Zacharia Hilligero Dissertatione Historica disquisitioni publicae submittit respondens Johannes G o t t l o b Reichelius, Wittenberg 1721, S. 29f. Vgl. zum neuesten Forschungsstand: Horst Pfefferl, Die Überlieferung der Schriften Valentin Weigels (Teildruck), Phil. Diss. d. Philipps Universität M a r b u r g / L a h n , M a r b u r g / L a h n 1991.

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Ergebnissen der Reformation enttäuscht waren, aber nicht offen dagegen angingen, die „Stillen im Lande". Weigel verlangt eine nicht mit den herrschenden staatlichen Mächten verbundene Kirche, wobei Kirche nicht als Institution gefaßt ist. Modern gesagt verkündet er die „bürgerliche" Forderung: Religion ist Privatsache. Auch in diesem Sinne gehört V. Weigel in die progressive Linie theologisch geformten Philosophierens in Deutschland. Weigel geht von zwei Hauptquellen aus: a) von der Mystik. Dies ist nicht mehr die mittelalterliche Mystik etwa in der Gestalt, wie sie uns in der „Theologia teutsch" oder bei Meister Eckhart und Tauler begegnet. Sie ist mit Humanismus und den Ideen des „radikalen Flügels" der Reformation versetzt. Ich habe den entsprechenden Nachweis dafür an anderer Stelle am Beispiel S. Francks wie auch in neueren Arbeiten zu führen gesucht. 27 b) Vom Paracelsismus; und zwar in seiner umfassenden Gestalt, mit all seinen naturwissenschaftlichen bzw. naturphilosophisch progressiven und retardierenden Erkenntnissen bzw. Spekulationen und mit dem religiös fundierten Sozialprogramm des Paracelsus. 28 Dem Wirken des Paracelsismus kann hier nicht näher nachgegangen werden. Jedenfalls vermag man - um zum ersten Aspekt zurückzukehren - wesentliche Bereiche der Philosophie des 16. und 17. Jh. in Deutschland (und nicht nur in Deutschland!) nicht zu verstehen, wenn man sich nicht ein wissenschaftliches Bild von der Mystik erarbeitet. Sie ist seit der Antike bis zur Aufklärung in jeder historischen Periode legitimer Bestandteil theoretischen Denkens. Wenn heute der Begriff der Mystik ζ. T. mit abwertenden Epitheta belegt wird, so ist das für das philosophische Denken unserer Zeit keineswegs eine Empfehlung. Die Mystik vereint widersprüchliche Seiten in sich: „extrem subjektivistische Züge, die vorherrschend sind, mit Elementen eines objektiven, religiös-philosophischen Idealismus, Momente des Pantheismus, quietistische und aktivistische Züge, ja, sogar gewisse Tendenzen des Atheismus. 29 Je nachdem, welche Seiten oder Tendenzen in den Vordergrund gerückt werden, überwiegen die orthodoxen oder heterodoxen Seiten der Mystik. Zeitweilig wird die Mystik Banner progressiver Auseinandersetzungen, wozu sich die Ablehnung von Priester und Kirche, das Zusammenfallen von Gott, Mensch und Natur in der Mystik besonders eignen. Sehr bedeutsam für das progressive Wirken der Mystik in Deutschland sind Leben und Werk Meister Eckharts (1260-1327). Die zur Mystik tendierenden Denker des 16. und 17. Jh. lernten Eckharts Auffassungen über J. Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (Suso, 1295/1300-1366) kennen. Tauler wurde gerade im 16. J h . heterodoxer verstanden, als er sich wohl selbst fühlte. Sein überragender Einfluß auf das 16. Jh. ist in allen Fraktionen der Reformation zu konstatieren - von Luther bis Thomas Müntzer - bis hin zu V. Weigel. Dabei darf man nicht von der Lehre Taulers abstrakt ausgehen, sondern von ihren Wirkungen auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen.

27

Vgl. Siegfried Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert. Sebastian Franck und seine Wirkungen auf die Entwicklung der pantheistischen Philosophie in Deutschland, Berlin 1972; vgl. Valentin Weigel, Ausgewählte Werke, hg. von Siegfried Wollgast, Berlin 1977 (Stuttgart 1978); Siegfried Wollgast, Valentin Weigel und seine Stellung in der deutschen Philosophie- und Geistesgeschichte, in: Wollgast, Vergessene und Verkannte (wie Anm. 20) S. 2 2 9 - 2 5 3 . Vgl. uns. Anm. 10.

28

Vgl. Paracelsus, Vom gesunden und seligen Leben. Ausgewählte Texte, hg. mit einem Nachwort, Anmerkungen u. einem Personenregister von Rolf Löther/Siegfried Wollgast, 2., stark veränd. Aufl., Leipzig 1991, S. 5 - 1 1 9 .

29

Philosophisches Wörterbuch, hg. von Georg Klaus/Manfred Buhr, 12. Aufl., Leipzig 1976, Bd. II, S. 830. Zum Gesamtkomplex vgl.: Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert (wie Anm. 27).; Hans-Ulrich Lessing, Mystik, Mystisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter (+)/Karlfried Gründer, Bd. 6: M o - O , Basel - Stuttgart 1984, Sp. 2 6 8 - 2 7 9 . Zu den Grundlagen für das 16. u. 17. Jh.: Peter Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn 1994.

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Zeller konstatiert: „Die mystische Renaissance des sechzehnten Jahrhunderts, läßt sich im wesentlichen als eine Rückbesinnung auf Tauler ansehen, wobei noch die ,Deutsche Theologie' und die ,Nachfolge Christi' von Bedeutung werden." 3 0 Den Begriff der „mystischen Renaissance" zweifle ich an. Die „Imitatio Christi" - wohl ein Werk des Thomas Hemerken von Kempen (Malleolus); um 1380-1471 - ist in ihrer Wertung m.E. nicht den Werken Taulers und nur ζ. T. der „Theologia teutsch" gleichzusetzen. Sie ist von der Anlage her orthodoxe Mystik. Allerdings hat sie im 16. und 17. Jh. auch heterodox gewirkt. Die „Theologia teutsch" wurde von Martin Luther 1516 und in erweiterter Form 1518 herausgegeben. Von ihm stammt auch der Titel. Diese „Theologia" geht aus vom Gegensatz von Vollkommenem und Stückwerk. Das Vollkommene heißt ein Wesen, das in sich alles begriffen und beschlossen hat, ohne welches und außer welchem kein wahres beständiges Sein gefunden wird, in dem vielmehr alle Dinge ihr Wesen haben. Unwandelbar und unbeweglich in sich selber setzt, wandelt und bewegt das Vollkommene Dinge. Stückwerk ist, was aus dem Vollkommenen seinen Ursprung hat, wie ein Glanz oder Schein vom Licht oder der Sonne ausgeht: das Endliche, das Unvollkommene, das Etwas. Das Vollkommene gelangt, wenn es empfunden und erkannt wird, in die Seele des Menschen. Die Kreatur m u ß ihre Ichheit und Geschöpflichkeit überwinden, wenn sie das Vollkommene begreifen will. Vermag sie dies, gelangt sie zum Vollkommenen, wird sie vollkommen. Lebt die Kreatur in ihrer Ichheit, strebt sie nicht zum Vollkommenen, so ist sie böse. Erkennt sich der Mensch im Vollkommenen, so ist er selbst gut. Sünde heißt Abwendung von Vollkommenen zum Stückwerk. Der Sündenfall, das Annehmen des Ich, Mir, Mein, der Selbstsucht, wiederholt sich in allen Menschen. Man kann ihm nur entgehen, wenn man zum Vollkommenen strebt. Der Mensch m u ß in Gott eingehen. Das geschieht nicht durch einen einseitigen Gnadenakt Gottes; der Mensch vermag es nicht ohne Gott, Gott will und tut es nicht ohne den Menschen. Darum mußte Gott vermenschlicht werden und unsere Natur annehmen, damit der Mensch vergottet werde. Dies ist nicht einmal in Jesus geschehen, sondern wiederholt sich in allen Menschen, die zu Gott streben. Gott ist das Vollkommene, die Negation jeder Bestimmtheit, Teilbarkeit und Kompliziertheit und überhaupt nicht definierbar. Wäre Gott Etwas, dies oder das, hier oder da, heute oder morgen, so wäre er nicht vollkommen. W i r finden hier also die negative Theologie. Sie dient zumeist oppositionellen Bewegungen. Erkenntnis aus der Natur reicht nach der „Theologia teutsch" nicht aus. Auch Erkenntnis aus Büchern ist nur Stückwerk; um zum wahren Wissen zu gelangen, m u ß der Mensch in sich selbst, in seine Seele zurückgehen. W i r haben die Kraft, das Ewige in der Vernunft zu schauen, vermögen es zu ergreifen. Im Göttlichen unterscheidet die Vernunft Gottheit und Gott, Gott an sich und Gott in der Menschwerdung. Die Gottheit ist das Wesen in seiner reinen Allgemeinheit, Gott das Wesen in seiner Selbsterfassung und Persönlichkeit. Gott als Mensch ist das nach außen wirkende, im Endlichen selbstbestimmte Göttliche. Alles ist eins, und eins ist alles in Gott. Ebenso ist das Gute in allem Guten. Soll Gott wirken, so m u ß er es in Kreaturen tun. Gott als Gottheit gehört weder Wille noch Wissen zu, er ist affektlos, erst im Menschen (in der Kreatur) wird er zu Gott. Mit Hegeischen und Feuerbachschen Termini zugleich interpretiert Carriere den Gottesbegriff der „Theologia teutsch" so: „ . . . was von dem Vollkommenen und dem Stückwerk gesagt wird, das hat

Winfried Zeller, Meister Eckhart bei Valentin Weigel - Eine Untersuchung zur Frage der Bedeutung Meister Eckharts für die mystische Renaissance des 16. Jahrhunderts, in: Winfried Zeller: Theologie und Frömmigkeit, Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, hg. von Bernd Jaspert, Marburg 1978, S. 56.

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Spinoza mit Substanz und Accidens bezeichnet; G o t t ist die eine Substanz, das Wesen aller Dinge. Aber als reine Wesenheit wäre er nicht offenbar, weder sich noch Andern; die Deutsche Theologie erklärt darum, daß das Wesen des Wesens Licht und Erkennen sei; die Substanz ist Subject, Selbstbewußtsein. W ü ß t e sie aber nur sich selbst in reiner Wesenheit, so wäre keine Bestimmung, kein Unterschied, somit auch kein eigentliches Erkennen in ihr, so wäre sie müßig oder bloße Möglichkeit. G o t t aber ist wirklich und wirkend, sein Wesen ist That, er offenbart sich der Nothwendigkeit seiner N a t u r , er wirkt, er setzt Bestimmungen, und das sind die endlichen Wesenheiten. Erst durch diese Selbstbestimmung und Unterscheidung gewinnt er Gestalt; das Denken m u ß Etwas denken . . . sonst denkt oder ist es nicht wirklich. Die Welt ist die Selbstoffenbarung Gottes, sein Werk, durch das er heraussetzt was in ihm ist, und dadurch thätiges Wissen seiner selbst ist." 31 Die Dinge haben ihr Sein in G o t t und indem sie dies erkennen, die „Ichheit" abwerfen, werden sie zu Gott. Die Vergottung erfolgt in dieser Welt. Das künftige Leben läßt der anonyme Autor der „Theologia teutsch" als Problem stehen. 3 2 Das ewige Leben ist auf Erden zu erreichen. Die wahrhaft vernünftigen Geschöpfe haben G o t t in sich, leben ihn, und damit haben sie auch das Paradies, den H i m m e l , in sich. Sünde ist allein Annehmen des Ich. Nicht durch Adams Erbsünde ist der Mensch verdammt - er verdammt sich selbst, wenn er sich vom Ganzen zum Stückwerk, von Gott zu sich kehrt. Sich subjektiv außer Gott setzen (objektiv ist ja der Mensch mit Gott eins) das ist das Wesen der Sünde. Der Mensch hat die Freiheit, sich aus der Sünde wieder zu Gott hinzuwenden, - eben durch Ablegung der Ichheit. Das verlangt Aktivität des Individuums. Christus ist der Gegenpol zu Adam, der durch eigenen Willen von Gott zur Selbstheit abfiel. Christus wirkt als Vorbild, wie man zu Gott gelangt. Es gilt, Christi Lehren und sein Leben aufzunehmen und nachzuvollziehen, so hat man Christus in sich. Hat der Mensch erst (mit Hilfe Christi) die Vergottung erreicht, so bedarf er keines Gesetzes und keiner O r d n u n g mehr. Unter der Hölle ist wesentlich der Eigenwille zu verstehen. Der Mensch, der zunächst nur Natur ist und in seiner Ichheit-Verhaftetheit auch bleibt, wird durch sein aktivistisches Bemühen um Gott selbst zu Gott. Gott ist nicht ruhendes Sein. Er ist Werden und Entwicklung, insofern wir uns ja entwickeln und Gott Mensch, Mensch Gott ist, sobald er Affekte gewinnt. Die Begriffe Adam, Christus, Teufel, Himmel, Paradies und Gott erfahren in der „Theologia teutsch" eine radikale Umwertung. Für den diesen Auffassungen Anhängenden sind Beichte, Kirchgang, Sakramentempfang, Priester und sogar Kirche letztlich überflüssig. Durch aktivistisches Tun stellt das Individuum selbst die unmittelbare Verbindung zu Gott her, vergottet. Der Terminus „Pantheismus" ist erst 1709 geprägt worden. Aber schon im Altertum finden wir ausgeprägt pantheistische Gedanken. 3 3 Von wesentlicher Bedeutung für die Geschichte des Pantheismus ist der Neuplatonismus, der selbst kein pantheistisches philosophisches System ist, aber Möglichkeiten für die Entwicklung des Pantheismus birgt. Sie

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Moriz Carriere, Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart, 2. vermehrte Aufl., Τ. 1, Leipzig 1887, S. 274. „Aber was das ende sey, da weiß nymandes von zu sagen. Aber wer eß gerne wißte, der gehe den rechten weg dar czu. Das ist diß leben." Wolfgang von Hinten, „Der Franckforter" („Theologia Deutsch"). Krit. Textausgabe, München 1982, S. 102. Vgl. Winfried Schröder/Günter Lanczkowski: Pantheismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter (t)/und Karlfried Gründer, Bd. 7, Ρ - Qu, Basel 1989, Sp. 59-64. Diogenes Laertius sieht Pantheismus bei Zenon, Chrysipp und Archedamos (Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. II: Buch VII-X, übers, von Otto Apelt, Berlin 1955, S. 70, VII, 135).

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liegen u. a. darin, d a ß G o t t unpersönlich gefaßt wird. Im Neuplatonismus verbinden sich nicht nur platonisierende, sondern dem ganzen Spektrum der griechischen Philosophie (außer dem Epikureismus) e n t n o m m e n e Auffassungen zu einem eigentümlichen Geflecht. Wenn der Kreationismus der monotheistischen Religionen als äußerster Ausdruck metaphysischen Denkens über die Entstehung der Dinge anzusehen ist, so birgt der neuplatonische Emanationsgedanke in idealistischer und mystischer Form eine dialektische Tendenz. In diesen Zusammenhang ist auch Plotins Begriff des „Einen" zu stellen, der für sein System von zentraler Bedeutung ist. Von Plotin (204-270) und Proklos (411-485) wird später wesentlich ausgegangen, an sie wird in zeitgemäßen Formen angeknüpft. 3 4 Werden zunächst im Mittelalter zur Konstituierung des Pantheismus Gedankengänge Plotins benutzt, so k o m m t es in der Folgezeit immer mehr zu einer U m k e h r u n g der mystifizierten überirdischen Weltseele in die an Materie gebundene, als allmächtig gefaßte Vernunft, die zunächst noch mit G o t t identifiziert wird. Ein bedeutender Mittler des Neuplatonismus ist Marsilio Ficino (1433-1499). Mystik und Pantheismus berühren sich also in dieser Zeit, durchdringen sich wechselseitig, was besonders in .der heterodoxen Mystik sichtbar wird. Die Naturwissenschaftler wurden durch die Auffassung, daß der Mensch G o t t gleich werden könne, darin bestärkt, in manchem Falle ihrem Verstände zu trauen, wenn sie nicht auf G r u n d dieser Überzeugung bis zu einer Form des zeitgenössischen „Atheismus" vordrangen. Bei Amalrich von Bene (gest. 1206) und David von Dinant (um 1200), die in ihren pantheistischen Auffassungen von Avicenna (Ibn Sina; 980-1037) und Averroes (Ibn Roschd; 1126-1198) abhängig sind, führt der Pantheismus zu sozialen Schlußfolgerungen. Nach Nicolaus von Kues (1401-1464) kam es in Italien neben der pantheistischen Mystik zur Entwicklung einer mehr oder weniger pantheistisch beeinflußten Naturphilosophie. Es seien nur die N a m e n Girolamo Cardano (1501-1576), Francesco Patrizzi (1529-1597) und Bernardino Telesio (1509-1588) genannt. Ich unterscheide zwischen idealistischem und materialistischem Pantheismus, eine vorläufige Bestimmung, die im Verlaufe weiterer Forschungen exakter zu fassen ist. Der idealistische Pantheismus setzt gemäß diesem Verständnis G o t t und Welt nur relativ identisch. Er läßt zwischen beiden ein - wenn auch gegenüber der christlichen Religion eingeschränktes - Verhältnis bestehen und räumt in ihm G o t t den Vorrang ein. Aber auch idealistischer Pantheismus kann als Frühform heterodoxer Mystik auftreten, so bei Pseudo-Dionysios-Areopagita (5. Jh.) und Johannes Scotus Eriugena (um 810-877), insofern als ihre Ansichten in ihrer Konsequenz eine Rehabilitierung der Materie beinhalten. Dieser stark von Proklos geprägte Pantheismus wird im Verlaufe seiner Benutzung durch häretische Kräfte heterodox verstanden. Der materialistische Pantheismus setzt G o t t und Welt gänzlich identisch, identifiziert sie. Hier fungiert G o t t letztlich lediglich als Summenformel f ü r die Welt. Daraus resultiert, daß diese Form des Pantheismus die Schöpfung der Welt durch Gott radikal leugnet. Er befindet sich somit in einer gegensätzlichen Stellung zur Religion und endet in seinem Wesen letztlich beim Atheismus.

Von Bedeutung für die Bestimmung des Pantheismusbegriffs erscheinen mir auch die entsprechenden Ausführungen Hegels (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Band I, ^Berlin - Weimar 1976, S. 355 f.: Georg Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. II, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg. von Hermann Glockner, Bd. 18, Stuttgart 1959 und Bd. 19 (wie Anm. 1) passim. Vgl. Dietrich Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle/S. 1937; Die Philosophie des Neuplatonismus, hg. von Clemens Zintzen, Darmstadt 1977; Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650 (wie Anm. 4), S. 112-116, 230-234, 854 ff.

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Von V. Weigel wird die Aktivität des Individuums betont, die Fähigkeit des Menschen zur Selbsterlösung, d. h. zur eigenständigen Gotterfassung oder -Wertung. Das impliziert die Ablehnung der ganzen offiziellen Kirche und ihrer Hierarchie. Da V. Weigel die Ergebnisse philosophischen Denkens seit J . Tauler rezipiert - auch die Ergebnisse der Naturwissenschaft - ist seine Mystik qualitativ neuer Art gegenüber der des ausgehenden Mittelalters. Das antifeudale Element ist unverkennbar. Dementsprechend ist für ein halbes Jahrhundert für die bestehenden Kirchen der „Weigelianismus" übelste Häresie, den Ideen T h . Müntzers und der Täufer von Münster vergleichbar. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß im protestantischen (Johann Arndt, 1555-1621) wie im katholischen Bereich (Teresa von Avila, 1515-1582; die Jesuiten usw.) dann die Mystik auch bewußt oder unbewußt als Auffang- und Kanalisationsbewegung zur Anpassung der Kirchen an die neuen Verhältnisse eingesetzt wird. Weigel bezeichnet insgesamt bereits einen Ubergang zur Philosophie der Neuzeit, ungeachtet, daß er entscheidende wissenschaftliche Entdeckungen seines Jahrhunderts nicht zur Kenntnis nimmt. Aber das tat ζ. B. auch F. Bacon nicht. 3 5 Dogma und biblische Geschichte sind dem Mystiker und dem Rationalisten jener Zeit lediglich Symbole, objektivierte Sinnbilder zeitloser, universaler Wahrheiten und Ideen, die im Individuum immer wieder Wirklichkeit werden. Diese ahistorische Frömmigkeit, die Religion nur in der Metaphysik und Psychologie kennt, verbindet Mystik und Rationalismus. Sie äußert sich schon bei V. Weigel. Immer wieder blitzen bei ihm Ansätze dialektischen Denkens auf, das er - gleich S. Franck - in Paradoxien faßt. Ich warne aber davor, Mystik etwa gänzlich mit Rationalismus zu identifizieren. Es gibt auch einen breiten Bereich, der, nicht nur in der Mystik, dem zuzurechnen ist, was eine schwache Philosophie unter das weitgehend überflüssige Stichwort Irrationalismus faßt. Höhepunkt Weigelschen Philosophierens ist der „Dialogus de Christianismo" (1584). In diesem Meisterwerk - auch sprachlicher Art - kulminieren seine philosophischen Ideen. Der ganze Dialog ist eine Abrechnung mit der lutherischen Theologie und dem Gottes-, Welt- und Menschenverständnis seiner Zeit aus pantheistisch-mystischer Sicht. Wer M y stik als reine Kontemplation versteht und Weigel dementsprechend faßt, wird weder den Entwicklungsstufen der Mystik noch Weigels Philosophie gerecht. Mystik enthält durchaus auch aktivistische Züge. Bei Weigel sind sie durch die Verbindung mit der Paracelsischen Naturphilosophie und Elementen des Renaissancehumanismus insgesamt sowie des neueren Rationalismus noch verstärkt. Bei ihm finden wir - wie etwa auch bei J . Böhme vorgeformt, was wir in der klassischen deutschen Philosophie so schätzen: das aktive Element, wie es deutlich in Johann Gottlieb Fichtes Tatphilosophie zum Ausdruck kommt. Eine genauere Untersuchung dürfte den Anteil der von Weigel vertretenen Strömung an der Herausbildung der Voraussetzungen der klassischen deutschen Philosophie wohl höher einschätzen, als bisher geschehen. Jakob Böhme ist der bekannteste Philosoph zwischen Reformation und Aufklärung in Deutschland. 3 6 Schon K. Holl und H . Bornkamm hatten versucht, Böhme und Luther

35

Vgl. meine Einleitung zu: Weigel, Ausgewählte Werke (wie Anm. 27) S. 1 7 - 1 6 4 ; Siegfried Wollgast, Valentin Weigels philosophische Auffassungen. Einige Aspekte, in: Kryptoradikale Reformatoren, hg. von Günter Mühlpfordt/Friedrich Niewöhner (im Druck). Eine ausführliche Darstellung auch bei Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1 5 5 0 - 1 6 5 0 (wie Anm. 4), S. 4 9 9 676.

36

Natürlich ist Böhme nicht der erste deutsche Philosoph, wie Hegel meint. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III (wie Anm. 1), S. 300. Dagegen sollte man m . E . für alle oppositio-

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anzunähern, ersteren aus letzteren herzuleiten. 37 Dieser Versuch wird in der Gegenwart verstärkt. Böhme als der vom Oberpfarrer Gregor Richter (1560-1624) in Görlitz Mißverstandene, Böhme als der orthodoxe Mystiker, Böhme als Vorläufer „des" Pietismus, Böhme als Bewahrer der echten lutherischen Gedankenwelt, Böhme der wahrhaft fromme Geist - so und ähnlich wird auch von manchen Theologen und Philosophen verschiedener Provenienz Böhme dargestellt. 38 Dabei sei hier einem Mißverständnis vorgebeugt: Sicher: Luther war nicht primär Philosoph! Aber alle theoretisch oppositionellen Bestrebungen, Bewegungen und Persönlichkeiten seiner Zeit, auch der Folgezeit bis zur Aufklärung, nehmen im protestantischen Bereich den jungen Luther auf! Zu recht stellt G . Brendler fest: „Die geistigen und ideologischen Erfolge der lutherischen Bewegung brachten die Reformation voran; sie hielten sie aber auch für einige Zeit in den einmal eingeschlagenen Bahnen fest und zwangen die Weiterwollenden und Weiterdenkenden dazu, die Prämissen des bisher Erreichten zu revidieren und neu zu formulieren. Dies ist der An- und Einsatzpunkt dafür, daß Thomas Müntzer gerade durch das wiederholte Bohren in den von Luther auf seine Weise schon gelösten Grundfragen der Theologie Schritt für Schritt und stückchenweise Neues in der Reformationsbewegung herausprozessieren konnte." 3 9 Diese Haltung gilt von den Radikalen der Reformation bis zu V. Weigel, J. Böhme und J. V. Andreae, und das setzt sich fort im radikalen Pietismus. Auf J. Böhme wirkte die Mystik, der spätere Renaissancehumanismus und die „Linke" der Reformation, vor allem S. Franck. Große Teile des Böhmeschen Gesamtwerkes stellen eine Art Naturdialektik unter Ausklammerung des Menschen dar, wobei die von ihm benutzten Begriffe samt seinen eigenen Wortschöpfungen fast durchgängig der Sphäre des Menschen entnommen sind, stark anthropomorphen Charakter tragen. Im folgenden Zitat ist m.E. in nuce Böhmes gesamtes System zusammengefaßt: „Gott ist selber Alles und in Allem; aber er gehet aus dem Grimm aus, und findet die Licht- und Kraftwelt in sich selber, er machet sie selber, daß also der Grimm mit allen Gestalten nur eine Ursache des Lebens (und sich selber in großen Wundern finden) sei. Er ist der Grund und Ungrund, die Freiheit und auch die Natur, in Licht und Finsterniß; und der Mensch ist's auch Alles, so er sich nur also selber suchet und findet, als Gott. Unser ganzes Schreiben und Lehren langet nur dahin, wie wir uns müssen selber suchen, machen und endlich finden." 4 0 Der Mensch nellen Strömungen dieser Zeit und ihre Vertreter, auch für die Schulphilosophie, Hegels auf Böhme angewandtes Wort bedenken: „Ihn als Schwärmer zu qualificiren, heißt weiter nichts. Denn wenn man will, kann man jeden Philosophen so qualificiren, selbst den Epikur und Baco; denn sie selbst haben dafür gehalten, daß der Mensch noch in etwas Anderem seine Wahrheit habe, als im Essen und Trinken, und in dem verständigen täglichen Leben des Holzhackens, Schneiderns, Handelns, oder sonstiger Stands- und Amtsgeschäfte." (ebd., S. 297). 37

Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I, ^Tübingen 1932, S. 531; Heinrich Bornkamm, Jakob Böhme - Leben und Wirkung. Der Denker, in: Heinrich Bornkamm, Das Jahrhundert der Reformation, Gestalten und Kräfte. Zweite vermehrte Aufl., Göttingen 1966, S. 315-345.

38

Vgl. Beispiele bei Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 15501650 (wie Anm. 4) S. 678f. Gerhard Brendler, Thomas Müntzer - Geist und Faust. Berlin 1989, S. 59, ähnlich S. 27. Vgl. Günter Vogler, Thomas Müntzer, Berlin 1989. Jakob Böhme, De incarnatione verbi, oder: Von der Menschwerdung Jesu Christi, in: J. Böhme, Sämmtliche Werke, hg. von Karl Wilhelm Schiebler, Bd. 6, Leipzig 1846, S. 292 (II, 10, 6f). Ähnlich: ders., 47. Sendbrief an Gottfried Freudenhammer und Joh. Huser vom 11.11.1623, in: Jakob Böhme, Sämmtliche Werke, hg. von Karl Wilhelm Schiebler, Bd. 7, Leipzig 1847, S. 514f; ders. Aurora oder Morgenröte im Aufgang, in: Jakob Böhme, Sämmtliche Werke, hg. von Karl Wilhelm Schiebler, Bd. 2, Leipzig 1832, S. 260 (Kap. 22); ders., Sex puncta theosophica, Oder: von sechs theosophischen Punkten, in: Jakob Böhme, Sämtliche W e r k e , . . . Bd. 6, S. 385 (9, 21); ders., De signatura rerum, in: Jakob Böhme, Sämmtliche Werke,

39

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Siegfried Wollgast

ist also das eigentliche Zentrum von Böhmes Pantheismus. Es geht Böhme nicht nur um eine Wesensgleichheit von Natur und Gott. Er geht aus von der Einheit der Welt und ihren Gesetzen. Böhmes Schriften, 1612 und 1618-1624 entstanden, stellen eine Mischung von heterodoxer Mystik, neuplatonisierenden Gedanken, pantheistischer Naturphilosophie bzw. Alchemie, biblisch-lutherischem Ideengut, verhaltener Sozialkritik, mit Einsprengseln aus Kabbala und paracelsischem Humanismus dar. Man hat, wie oben erwähnt, Böhme faktisch zu dem deutschen Philosophen des 17. Jh. erklärt. Nachdem die wichtigsten Weigeltexte vorliegen, dürfte sich erweisen, daß Böhme viel an Originalitätsschmelz verliert, sobald man seine Quellen kennt, daß er zudem längst nicht die Abstraktionshöhe und logische Konsequenz wie sie erreicht. Zu seinen Quellen gehören neben Sebastian Franck zweifelsohne V. Weigel und Paracelsus, aber auch Caspar von Schwenckfeld (1489-1561), der wie Andreas Oslander d. Alt. (1498-1552) einer vertieften Neubewertung auf der Grundlage der Texte dringend bedarf. Um das Jahr 1614 fällt die erste öffentliche Regung der Rosenkreuzer, eines Kreises, der sich um Johann Valentin Andreae gruppierte. Diese sog. älteren Rosenkreuzer, die Literatur pro et contra geht bis etwa 1622, unterscheiden sich grundsätzlich von den Rosenkreuzerspielereien des 18. Jh., ganz zu schweigen von denen der Gegenwart. Andreae und seinem Kreis ging es um die Generalreformation, eine neue „reformatio mundi". Wer wissen will, wie die Ergebnisse dieser Reformation aussehen sollten, der greife zu Andreaes „Christianopolis" (1619). 41 Dieses Werk, progressiver als Tommaso Campanellas „Civitas Solis" (Andreae im Manuskript bekannt; erschienen 1623) und Francis Bacons „Nova Atlantis" (verfaßt um 1623, Erstausgabe 1627) weitgehend vorwegnehmend, hat die verdiente Beachtung leider nicht erfahren. Mit dieser Utopie reiht sich Andreae in das bekannte Dreigestirn der Utopisten - Thomas Morus, T. Campanella, F. Bacon - würdig mit einem eigenständigen Beitrag ein. Will-Erich Peuckert und andere Autoren wollen das Anliegen Andreaes und seines Kreises - auch Jan Arnos Comenius' - als Pansophie verstanden wissen. 42 M.E. bedarf es dieses Begriffes nicht. Es geht bei der Rosenkreuzerbewegung um einen der wohl letzten Versuche aus progressivem Anliegen heraus, Christentum (im Sinne eines pantheistisch verstandenen Neuplatonismus), Ergebnisse der lutherischen Reformation und Ergebnisse der Naturwissenschaft zu vereinen. Daß der Versuch scheiterte, scheitern mußte - und nicht nur, wie bisweilen dargestellt, an der Ungunst der Verhältnisse, am Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, ist bekannt. Weniger bekannt ist, daß die Rosenkreuzerdiskussionen fast die ganze deutsche Intelligenz erfaßten, daß die verschlüsselten Schriften um den sagenhaften Christian Rosenkreutz sehr wohl als Aufruf zur Veränderung der Welt verstanden wurden. Um die Rosenkreuzer scharrten sich Intellektuelle in Straßburg, Ulm, Nürnberg, Lüneburg, Darmstadt, Danzig, Hamburg, ja in Dorpat - um nur einige Orte zu nennen. Ihre Beziehungen reichten bis England. Andreae war mit Ideen V. Weigels bekannt, mit Comenius, ja fast mit allen Gelehrten der Zeit, befreundet. hg. von Karl Wilhelm Schiebler, Bd. 4, Leipzig 1842, S. 274 (1, 7). Die 7 Bände der Böhme-Ausgabe von Karl Wilhelm Schiebler liegen auch in einem unveränderten Nachdruck (Leipzig 1922) vor. 41

42

Vgl. Johann Valentin Andreae, Christianopolis. Utopie eines christlichen Staates aus dem Jahre 1619. Mit einem Nachwort von Günter Wirth, Leipzig 1977; Vgl.: Richard van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft - Johann Valentin Andreae (1586-1654), Τ. 1, Stuttgart - Bad Cannstatt 1978. Eine Einschätzung der philosophischen Bedeutung Johann Valentin Andreaes auch bei: Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1 5 5 0 - 1 6 5 0 (wie A n m . 4), S. 2 6 3 - 3 4 5 . Vgl. Will-Erich Peuckert, Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie, Stuttgart 1936; ders., Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation, Jena 1928 (zweite, neugefaßte A u f l . u. d. T. Das Rosenkreutz, m. e. Einl. hg. v. Rolf Christian Zimmermann, Berlin 1973).

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Zu denen, die den Rosenkreuzern nahestanden, zeitweilig zu deren Begründern erklärt wurden, gehört auch Joachim Jungius (1587-1657). 4 3 Er gilt neben Daniel Sennert 4 4 und anderen als Neubegründer der Atom- bzw. Korpuskulartheorie in Deutschland. Scheinbar hat diese Linie - eher schon der in meinem Aufsatz nicht behandelte Sozinianismus - mit der von Luther herkommenden Linie nichts zu tun. D o c h sie fußt in der Tat auf Luther, ist in die von ihm ausgehende Entwicklung eingebunden, wird durch die lutherische Reformation erst möglich. Mit Wolfgang Ratke (1571-1635) kämpfte Jungius für die Erneuerung des Unterrichts und der Jugenderziehung, wobei der Einfluß der Muttersprache und der experimentellen Wissenschaften betont wurde, der scholastische Wissensballast eliminiert werden sollte. Jungius ist Prototyp dafür, daß sich die Naturwissenschaft auch in Deutschland aus der Naturphilosophie herausentwickelte bzw. beider Entwicklung einher ging. Gleiches gilt auch für Johannes Kepler (1571-1630), aber Kepler ist Neuplatoniker bzw. Neupythagoreer im Ansatz, J . Jungius dagegen Aristoteliker. Es besteht also kein Grund, etwa F. Bacon als typisch englisches Phänomen zu sehen, während in Deutschland für theoretische Aussagen dieser Art keine Bedingungen bestanden hätten. Wir haben bei Jungius faktisch Experimental- und Induktionsphilosophie, die auf Praxisanwendung gerichtete Philosophie Francis Bacons und Rene Descartes' in einer eigentümlichen Synthese vorliegen. Für die Vernachlässigung dieser Traditionslinie in der deutschen Philosophieund Wissenschaftsgeschichte spricht, daß die erhalten gebliebenen Manuskripte Jungius' bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ediert wurden. Dabei ist er für Leibniz einer der bedeutendsten Philosophen und Mathematiker seiner Zeit. 4 5 Bei ihm finden sich zudem schon wesentliche jener Gedanken, um derentwillen Robert Boyles (1627-1691) chemisches Werk als epochemachend betrachtet wird. Jungius gründete 1622 in Rostock die erste wissenschaftliche Gesellschaft („Akademie") in Deutschland, die „Societas ereunetica". Im ersten ihrer 23 Artikel umfassenden Satzungen (leges) heißt es: „soll der Zweck unseres Vereins einzig der seyn: die Wahrheit aus der Vernunft und der Erfahrung (hervorgeh. - S. W.) sowohl zu erfahren als sie, nachdem sie gefunden ist, zu erweisen-, oder alle Künste und Wissenschaften, welche sich auf die Vernunft und die Erfahrung stützen, von der Sophistik zu befreien, zu einer demonstrativen Gewißheit zurückzuführen, durch eine richtige Unterweisung fortzupflanzen, endlich durch glückliche Erfindungen zu vermehren". 4 6 Jungius wandte sich mit seinem Sozietätsprogramm expressiv verbis gegen die Philosophie der Jesuiten. 4 7 Nun ist „Philosophie der Jesuiten" in dieser Zeit vor allem Metaphysik. 43

Martin Vogel, Memoriae Joachimi Jungii, Matematici summi ceteraque incomparabilis Philosophi, H a m burg 1657; Christoph Meinel, In physicis futurum saeculum respicio. Joachim Jungius und die Naturwissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1984; Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1 5 5 0 - 1 6 5 0 (wie A n m . 4) S. 4 2 3 - 4 7 0 . Siegfried Wollgast, Joachim Jungius - zur Philosophia practica und zum Methodenstreit, in: Wollgast, Vergessene und Verkannte (wie Anm. 20) S. 3 1 1 - 3 3 6 . Siegfried Wollgast, Zu Joachim Jungius „Societas ereunetica". Quellen - Statuten Mitglieder - Wirkungen (im Druck).

44

Vgl. Wolfgang-Uwe Eckart, Grundlagen des medizinisch-wissenschaftlichen Erkennens bei Daniel Sennert ( 1 5 7 2 - 1 6 3 7 ) , untersucht an seiner Schrift „De chymicorum liber . . . " , Wittenberg 1629, Med. Diss. Münster 1978.

45

Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1890, S. 186; vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, Vorwort, Abhandlung erster u. zweiter Teil, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. I I / l , Frankfurt/M. 1986, S. 583 (II, 214). Weitere Zeugnisse Leibniz' für Jungius bei: Gottfried Wilhelm Leibniz, Opuscules et fragments inedits, publ. par Louis Couturat, Paris 1903, p. 345; Joachim Jungius, Logicae Hamburgensis Additamenta, C u m annotationibus ed. Wilhelm Risse, Göttingen 1977, S. 3 7 9 - 3 8 5 .

47

Zit. nach: Gottschalk Eduard Guhrauer, Joachim Jungius und sein Zeitalter, Stuttgart und Tübingen 1850, S. 71. Vgl. Wollgast, Zu Joachim Jungius „Societas ereunetica" (wie Anm. 43). Ebd., S. 70, vgl. ebd., S. 236.

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Bei Luther wie Melanchthon spielte die Metaphysik keine Rolle. Für den Protestantismus wurden ihre Grundlagen vornehmlich aus Francesco Suarez' „Metaphysischen Disputationen" (1597) übernommen; Rudolf Goclenius d. Ä. (1547-1628), Cornelius Martini (15681621), Johann Gerhard (1582-1637), Jakob Martini (1570-1649) waren wohl ihre ersten Vertreter an den lutherischen Universitäten. Gegen die Metaphysik geht Jungius an, wenngleich er, was hier nicht näher erwiesen werden kann, der aristotelischen Metaphysik durchaus noch verhaftet ist. Er glaubt jedenfalls zu wissen, „wie wenig wahre Wissenschaft die Metaphysik ihren Verehrern verheiße". Jungius betrachtet sie nicht als eigentliche Wissenschaft, „weil es in derselben keine Demonstrationen gibt" und forderte: „daß die Verbesserung der Philosophie von der Physik ihren Ausgang nehmen müsse".48 Es war stets seine Devise, daß das Philosophieren der mathematischen Schulung und Methode bedarf. Seine „Logica Hamburgensis" (163 8)49 ist nach übereinstimmender Meinung moderner Logikhistoriker das wertvollste Logiklehrbuch des 17. Jh. Ausgehend von der stoischen Logik entwickelt Jungius seine Aussagenlogik; er versucht erfolgreich, über die beschränkten logischen Schlußformen der aristotelischen Syllogistik hinauszugehen. Leibniz trug sich mit dem Gedanken, seine eigene Logik nur in Erläuterungen und Ergänzungen zu Jungius' „Logica Hamburgensis" darzustellen und bedauerte, daß Jungius' Leistungen weitgehend unbekannt seien. Zu den bedeutenden Vertretern der Korpuskulartheorie im Deutschland dieser Zeit gehört auch das Werk des Sennert-Schülers Johannes Sperling (1603-1658). Es harrt noch der philosophie- und wissenschaftshistorischen Auswertung. Sperling verteidigte, popularisierte und baute Sennerts Auffassungen aus. Auch Otto von Guericke (1602-1686) ist hier zu erwähnen, der etwa um 1650 seine Versuche begann. Es darf auch nicht vergessen werden, daß im katholischen Bereich Christoph Scheiner (1575-1650) und Athanasius Kircher (1602-1680) bedeutende naturwissenschaftliche Leistungen erbrachten. Man muß überhaupt mehr als bisher die theoretische Entwicklung in Süddeutschland in dieser Zeit untersuchen. Hier gibt es noch vielerlei unerschlossenes theoretisches Material. Die wertvollen Vorarbeiten von Eduard Winter sollten dabei beachtet werden. 50 Wir sind bisher nicht auf die Naturphilosophie im Deutschland des 16. und 17. Jh. eingegangen. Sie spielt eine nicht unwesentliche Rolle, ist mit weißer Magie, Astrologie und Alchemie, Mystik, kabbalistischen und neuplatonischen Ideengängen, zudem mit dem Humanismus verbunden, der u. a. bei Paracelsus eine spezifische (auch entschieden sozialkritische) Note gewonnen hatte. Der Humanismus in dieser paracelsischen Gestalt wirkt bis auf J. Böhme. Die naturphilosophischen Anliegen von B. Telesio, F. Patrizzi, H. Cardano und anderen italienischen Naturphilosophen verbinden sich damit. Insgesamt ist diese qualitative (nicht, wie dann nach Galileo Galilei und Isaac Newton quantitative) Naturphilosophie pantheistisch. Es handelt sich um einen Pantheismus, der zu B. de Spinoza erst hinführt, mit ihm noch nicht auf gleicher Höhe steht. 48

49

51

Zit. nach ebd., S. 160. Vgl. Joachim Jungius, Über den propädeutischen Nutzen der Mathematik für das Studium der Philosophie, hg. und übersetzt von Johannes Lemcke und Adolf Mayer, in: Beiträge zur Jungius-Forschung, Prolegomena zu d. v. d. Hamb. Univ. beschl. Ausg. d. Werke v. J. Jungius (1587-1657), hg. von Adolf Meyer, Hamburg 1929; Joachim Jungius, Praelectiones Physicae. Historisch-kritische Edition hg. von Christoph Meinel, Göttingen 1982; Gaby Hübner, Aus dem literarischen Nachlaß von Joachim Jungius. Edition der Tragödie Lucretia und der Schul- und Universitätsreden, Göttingen 1995. Vgl. Joachim Jungius, Logica Hamburgensis, ed. Rudolf W. Meyer, Hamburg 1957. Vgl. ζ. B. Eduard Winter: Frühaufklärung. Der Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-slawische Begegnung, Berlin 1966. Vgl. Siegfried Wollgast, Naturphilosophie der Renaissance, in: Philosophie und Naturwissenschaften, Wörterbuch zu den philosophischen Fragen der Naturwissenschaften, hg. von Herbert H ö r z / H e i n z Liebscher/Rolf Löther/Ernst Schmutzer/Siegfried Wollgast, Neuausg. Berlin 1991, S. 641-643; ders., Ent-

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Trotz gewisser Unterschiede hat diese Naturphilosophie gemeinsame Züge 51 : 1. Sie ist pantheistisch. Die Mehrzahl der Naturphilosophen stützt sich auf den Neuplatonismus, zum Teil gleichzeitig auf den Stoizismus. Gott bleibt noch als geheimnisvolles Prinzip erhalten, das das Leben der Natur und des Menschen lenkt. Die radikale Ausnutzung der negativen Theologie, verbunden mit der pantheistischen Auflösung Gottes in der Natur, führt aber die Naturphilosophen immer mehr zum Gedanken von der Natur als der einzigen Quelle alles Existierenden. Pantheismus und Mystik sind Quellen der äußerst wichtigen Idee der Naturphilosophie des 16. und 17. Jh. - des Gedankens von der Unendlichkeit bzw. Ewigkeit der Welt. Dieser Gedanke erfährt in der Naturphilosophie eine Entwicklung von der dumpfen Ahnung bis zur klaren Formulierung bei Giordano Bruno. 2. Sie ist organizistische Naturbetrachtung, die den Naturphilosophen dieser Zeit eine Umarbeitung der neuplatonischen Emanationslehre ermöglichte. Durchgängig ist das Bestreben, die Welt in ihrer Einheit, in ihrer Harmonie zu fassen. Der Hauptstrom des pantheistischen Denkens vollzog sich im Rahmen der organizistisch-pantheistischen Welterfassung. 3. Sie ist untrennbar mit dem Hylozoismus verbunden. Ausgangspunkt war dabei gewöhnlich die platonisch-neuplatonische Idee der „Weltseele". Während jedoch im Neuplatonismus die Weltseele die zweite Stufe der Emanation des „Einen" und ein außerund übernatürliches Prinzip bleibt, wird sie in der Naturphilosophie des 16. und 17. Jh. letztlich ein natürliches Prinzip. Der Hylozoismus gewann gegenüber ähnlichen Auffassungen der Antike neue Züge, die Allbeseelung wurde nicht als Folge eines besonderen geistigen Prinzips, sondern als Resultat einer bestimmten Verbindung von Naturelementen gesehen. 4. Ihr Zentralgedanke, die Idee der Einheit von Makro- und Mikrokosmos, wurde schon in der Antike entwickelt, wird aber nun systematisch den scholastisch-theologischen Auffassungen gegenübergestellt. 52 Aus Unkenntnis der Naturgesetze benutzten die Naturphilosophen des 16. und 17. Jh. oft Methoden der einfachen Analogie zwischen Mensch und Natur und kamen dadurch zu phantastischen Vorstellungen. Diesem Prinzip des Anthropomorphismus verdankt ζ. B. die Idee der Selbsterhaltung der Dinge als einer Triebkraft der Naturerscheinungen ihre Entstehung. Mit der Annahme einer Weltseele hat der Anthropomorphismus seinen Höhepunkt in der Naturdeutung erreicht. Mit ihrer Hilfe vor allem suchten die Naturphilosophen des 16. und 17. Jh. die der Natur eigene Entwicklung zu fassen. 5. Indem die Naturphilosophen jetzt Gott und Natur identifizierten, setzten sie Gott und Materie gleich, erklärten so die Materie zum einzigen schöpferischen Wesen. Damit wurde ebenfalls ein „materialistisches" Umdenken der neuplatonischen Emanationslehre vollzogen. Natur und Materie werden nicht nur als lebendig, sondern auch als qualitative Vielfalt betrachtet. 6. Diese Naturphilosophie betont - an antike Denker anknüpfend - den Zusammenhang aller Naturerscheinungen und -prozesse in ihrer ständigen Bewegung. Sie propagiert aber auch dynamische Vorstellungen von der Bewegung, die auf stoisch-neuplatonische Vorstellungen von „Zusammenballung" und „Entzweiung" des Kosmos zurückgehen. Hervorstechend ist auch die Vorstellung, daß der Kampf zweier entgegengesetzter Prinzipien einer der Wesenszüge sei, der der allgemeinen Bewegung der Gegenstände und Erscheinungen der Welt eigen ist. Die Naturphilosophen des 16. und 17. Jh. vertreten einen Entwicklungsgedanken, wenn auch theologisch oder mystisch geprägt. Sie setzen sich auch damit in Gegensatz zur herrschenden orthodoxscholastischen Weltanschauung. 7. Sie ist weitgehend spekulativ. Dabei wirkt Spekulation

52

wicklungsdenken von Nikolaus von Kues bis Giordano Bruno, in: Veränderung und Entwicklung. Studien zur vormarxistischen Dialektik, hg. von Gottfried Stiehler, Berlin 1974, S. 48-92. Vgl. Rudolf Allers, Microcosmus. From Anaximandros to Paracelsus, in: Traditio. Studies in ancient and medieval history, thought and religion, New York 2 (1944) p. 319-407.

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in dieser Zeit fruchtbar und anregend. Die naturwissenschaftliche Basis der Theorien ist relativ schmal und wird nur zum Teil genutzt, dabei ist allerdings die Naturphilosophie am Beginn und am Ende der Frühen Neuzeit zu unterscheiden. In Deutschland wirkt sie zunächst im breiten Strom des Paracelsismus. Übrigens wirkt der Pantheismus in Europa bis zum Ende des 18. Jh. am stärksten in Deutschland. 8. Diese Naturphilosophie ist weitgehend eklektisch. Der Eklektizismus, letztlich auf dem Bibelwort 1 Th. 5,21 fussend, hat in der Geschichte der Philosophie vor allem in Umbruchphasen eine wesentliche Rolle gespielt. 53 Man legte sich nicht auf eine Konzeption fest, sondern suchte unter Umständen mit Versatzstücken eine Gesamtschau der Welt zu vermitteln. Einzelwissenschaftlich hat diese eklektisch philosophische Grundlage zu nicht wenigen beachtlichen Ergebnissen geführt. Auch die Luther bzw. dem Luthertum direkt verhafteten Strömungen haben oppositionelles Denken gepflegt, jedenfalls sind sie in ihrer Zeit oppositionell verstanden worden was sie nicht wollten und was sie weithin auch nicht waren. Sie wollten gewisse vernachlässigte Aspekte theologischen bzw. theoretischen Denkens wieder beleben. So etwa auch das Mystikverständnis des jungen Luther. Das gilt besonders für Johann Arndt. Er erkannte wesentliche Mängel in seiner lutherischen Kirche, und sprach sie aus. Er wollte diese Mängel abstellen, dabei auf dem Boden seiner Kirche bleiben, sie bessern, verinnerlichen, auf ihr eigentliches Anliegen zurückführen - nicht etwa aufheben oder grundlegend umgestalten. Bei seinem Reformanliegen bediente er sich auch der Mystik, verarbeitet überhaupt das vorhandene naturphilosophische, humanistische und theologische Material. Arndts „wahres Christentum" (1606) wird seinem Anliegen gerecht, schafft aber zugleich Grundlagen für den Pietismus, damit für eine entschiedene Weiterentwicklung des Luthertums. 54 In dem um 1620 einsetzenden offenen und erbitterten Kampf um das „Wahre Christentum" wurde sein Autor des Weigelianismus, der Rosenkreuzerei und des Enthusiasmus, des Osiandrismus, Papismus, Schwenckfeldianismus und Paracelsismus angeklagt. Keineswegs immer zu Unrecht, verschiedenste dieser Aspekte schwingen bei Arndt mit, m. E. m u ß man auch bei ihm den Eklektizismus bedenken. Zudem verbindet sich gerade im 17. Jh. in Deutschland Orthodoxes immer wieder mit Vorwärtsweisendem. Bei der Anknüpfung an „Vorläufer" ist eine einheitliche Linie schwer zu erkennen. Die Frühaufklärung in Deutschland ist m.E. von 1672 bzw. 1675 bis 1718 bzw. 1723 zu datieren. 55 Sie verlangt stärkere Beachtung als bisher. Zur Frühperiode der deutschen Aufklärung gehört auch der Pietismus! Den Pietismus hat es nie gegeben; er war stets nur ein höchst vager Oberbegriff, dessen genauere Untersuchung verschiedenste Strömungen ergibt. In vier Punkten sei das Neue am Pietismus zusammengefaßt, das den Pietismus der ersten zwei Generationen, auch wohl den württembergischen, auszeichnete 56 : 1. Er ist Protest gegen die verderbten Sitten der Gesellschaft, gegen die Kluft, die sich zwischen dem öffentlich bekannten Christen53

Vgl. Horst Dreitzel, Zur Entwicklung und Eigenart der „eklektischen Philosophie", in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991) S. 281-343. Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart - Bad Cannstatt 1994. 54 Vgl. Christian Braw, Bücher im Staube. Die Theologie Johann Arndts im Verhältnis zur Mystik, Leiden 1986. 55 Vgl. Siegfried Wollgast, Zur philosophischen Frühaufklärung in Deutschland. Quellen - Hauptlinien Vertreter, in: Karol Bai/Siegfried Wollgast/Petra Schellenberger (Hg.), Frühaufklärung in Deutschland und Polen, Berlin 1991, S. 21-59. 5 ' Vgl. Michel Godfroid, Le pietisme allemand a - 1 - il existe? Histoire d' un concept fait pour le polemique, In: Etudes Germaniques, Lyon 26 (1971) S. 36f.; (deutsche Fassung in: Zur neueren Pietismusforschung, hg. von Martin Greschat, Darmstadt 1977, S. 91-110). Vgl. auch Klaus Deppermann/Dietrich Blaufuß,

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tum, der Lehre und dem Lebenswandel herausgebildet hat. Zur Ü b e r w i n d u n g dieser Kluft werden Mittel auch außerhalb der Religion, etwa in der Pädagogik, gesucht. 2. Die Sakramente verlieren gegenüber dem individuellen und kollektiven Lesen der Bibel an Einfluß. Es geht um die individuelle Aneignung der christlichen Botschaft und Gottes. 3. Die Dogmenstreitigkeiten haben weitgehend an Bedeutung verloren. Daraus ergibt sich auch eine veränderte Funktion des Pfarrers. Seine vorrangige Aufgabe ist es jetzt, die Gläubigen zur Bekehrung und zur Neugestaltung der Sitten aufzufordern. Ziel der Predigt wird die Aufrichtung und Erschütterung der Herzen. Daraus resultiert auch eine neue Bestimmung von Frömmigkeit. 4. Während im Luthertum des 17. Jh. die ständige Bezugnahme auf das sola-fide-Prinzip von wirklicher Anstrengung enthob, ist der Pietismus vom Vollkommenheitseifer durchdrungen. Voraussetzung für diesen Eifer ist ein Erlebnis: die Wiedergeburt oder die Geburt des neuen Adam, durch die sich die göttliche G n a d e manifestiert. Die Wiedergeburt leitet ein neues Leben ein. Sie führt auch auf die A n k u n f t des Reiches Gottes hin, auf Chiliasmus, charakteristisch f ü r viele oppositionelle Bewegungen. Dieser Aspekt ist am Pietismus am heftigsten kritisiert worden. Hier seien Philipp Jakob Spener (1635-1705) und August H e r m a n n Francke (1663-1727) als Hauptvertreter des Pietismus genannt. Wenn wir die Verbindung des Pietismus zur Aufklärung betonen, so gilt dies für den Pietismus ab Erscheinen der „Pia desideria" (1675), und dann für etwa zwei Generationen. H i n z u k o m m t der radikale Pietismus, der reformierte und, mit Phasenverschiebung, der württembergische Pietismus mit J.A. Bengel (1687-1752) und F.Chr. Oetinger als Hauptvertretern. Letzterer, wesentlich von J. Böhme wie von I. N e w t o n beeinflußt, wirkt später u.a. entscheidend auf den jungen wie auch den späten Schelling. Der Pietismus sammelt im Verlauf seiner Entwicklung, d. h. wieder auf die genannte Zeit bezogen, Angehörige aller sozialen Stände und Schichten vom armen Bauern bis zum Hochadel in seinen Reihen. Er ist u. a. zunächst theoretischer Protest bürgerlicher Schichten gegen die Produktion und Handel hemmenden feudalen Zustände, gleichzeitig Ausdruck eines neuen Religionsverständnisses des in ein neues Stadium tretenden Bürgertums. Spener gilt als der eigentliche theoretische Kopf des Pietismus, A . H . Francke vornehmlich als der religiös-ethische Sozialreformer. Übrigens: die Ethisierung des Weltbildes ist auch ein Übergang zum aufklärerischen Denken: Im Halleschen Pietismus stellt sich diese Weltauffassung als religiöse Form der Aufklärungsideologie dar. Da das Bürgertum in Deutschland zu schwach ist, sich durchzusetzen, n i m m t es den Schutz des Feudalabsolutismus an und unterstützt ihn bzw. später den „aufgeklärten" Absolutismus im Kampf gegen die Mächte der Vergangenheit. Francke sieht und will bestimmte Ergebnisse der bürgerlich-revolutionären Umwälzung, wie sie sich in England und in den Niederlanden bereits vollzogen hatte und wie sie sich in Frankreich anbahnte. Er wollte sie ebenfalls für Deutschland u. a. Länder mit feudalen und feudalabsolutistischen H e r r schaftsverhältnissen - aber er wollte sie mittels Reformen und Evolution erreichen. Dies entsprach durchaus dem Entwicklungsstand der Potenzen des Bürgertums in diesen Ländern. Wie die weltliche Aufklärung vertrat der Pietismus ein aktives, diesseitiges, tätiges Leben. Er bereitet das Menschenbild der eigentlichen Aufklärung entscheidend vor. Auf die erste Seite einer jeden geschichtlichen Darstellung der deutschen Aufklärung gehört Gottfried Arnolds „Kirchen- und Ketzerhistorie" (1699). 57 In ihr wird der Ge-

Pietismus Bibliographie 1990 mit Nachträgen, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus, Göttingen 16 (1990) S. 248-281. ^ Vgl. u. a. Christiane Hartwig, Philosophisch-weltanschauliche Positionen des radikalen Pietisten Gottfried Arnold (1666-1714). Einige Aspekte. Phil. Diss, der T U Dresden 1988; Johann Friedrich Gerhard Goeters, Gottfried Arnolds Anschauung von der Kirchengeschichte und ihrem Werdegang, in: Traditio -

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gensatz zwischen Kirchlichkeit und Christentum „auf die Spitze" getrieben; das führt zur Negation des religiösen Charakters der kirchlichen Institutionen. Spiritualismus und Mystik erweisen in diesem Werke nochmals ihre revolutionäre Sprengkraft. Arnold ist in gewisser Hinsicht der deutsche Pierre Bayle. Er ist einer der Hauptrepräsentanten des radikalen Pietismus. Seine „Kirchen- und Ketzergeschichte" hat auf den auch als Aufklärer bekannten König Friedrich II. von Preußen und noch auf Johann Wolfgang von Goethe gewirkt. Johann Christian Edelmann (1698-1767) kam durch sie wesentlich zu seiner radikalen philosophischen Position. Mit ihm erreicht das oppositionelle Denken in Deutschland eine neue Stufe. Edelmann bleibt noch Theologe, aber mit seinem Wirken erreicht die deutsche Aufklärung eine neue Stufe in der Radikalität der Religionskritik und der Publizität.58 Bei ihm verbinden sich die von Mathias Knutzen, Th.L. Lau, F.W. Stosch, G. Wagner, G. Arnold u. a. herkommenden Einflüsse mit denen der englischen Deisten, John Tolands und Spinozas. Objektiv bedeutet also Edelmanns Wirken eine unmittelbare Vorleistung für die deutsche Aufklärung Gotthold Ephraim Lessings, wenngleich sich Lessing nicht auf den „anrüchigen" Edelmann bezieht. Edelmann stellt fest: „Er (d. h. Gott - S. W.) und die Materie gehören unzertrennlich zusammen / und ohne die Materie würde GOTT nimmermehr eine materialische Welt haben hervorbringen können."59 Das Verhältnis von Gott und Materie könne man sich leicht erklären, wenn man sich „GOTT als das Wesen aller Dinge/und als etwas Gantzes in seinem unzugänglichen Lichte; die Materie aber als seinen Schatten, und dessen verschiedene Bewegung und Stellung, als die Schöpfung der Welt und derselben continuirliche Erhaltung vorstelle."60 Voller Erbitterung konstatiert Edelmann: „ . . . daß der Pfaffen-Stand zu sonst weiter nichts nutze, als die Menschen, die einander lieben solten, gegen einander zu verbittern/AAS Marek im Lande zu saugen, die Dummheit und den Aberglauben zu unterhalten, und die Menschen nach aller Möglichkeit zu verhindern/Az& sie zu keiner näheren Erkentniß Gottes und ihrer selbst kommen können." 61 Man muß zwischen einem „Pfaffen" und einem Lehrer des Wortes Gottes unterscheiden. Seinen Gottesbegriff faßt Edelmann wie folgt: ich erkenne aus Betrachtung der Natur und aller Dinge, im Lichte der Vernunfft, ein einiges, ewiges, unveränderliches, höchst vollkommenes, und in allen Dingen gegenwärtiges Seyn oder Wesen, dessen Vortreflichkeiten und Eigenschafften zwar mehr empfunden, als ausgesprochen werden können. . . daß aus demselben durch dasselbe und in dasselbe alle Dinge gehen." 62 Jeder hat die Freiheit, dieses Wesen so zu betrachten, wie es ihm für richtig erscheint. Niemand vermag es völlig zu erkennen, es ist

Krisis - Renovatio aus theologischer Sicht. Festschrift Winfried Zeller zum 65. Geburtstag, hg. von Bernd Jaspert/Rudolf Mohr, Marburg 1976, S. 241 -257; Siegfried Wollgast: Zu den philosophischen Quellen von Gottfried Arnold und zu Aspekten seines philosophischen Systems, in: Gottfried Arnold (1666-1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714, hg. von Dietrich Blaufuß/Friedrich Niewöhner, Wiesbaden 1995, S. 301-335. 58 Vgl. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert (wie Anm. 27), S. 316f. 59 Johann Christian Edelmann, Moses mit aufgedeckten Angesichte. Erster, zweyter und dritter Anblick. Faksimile - Neudr. d. Ausg. 1740 mit einer Einl. von Walter Grossmann, Stuttgart - Bad Cannstatt 1972, III. Anbl., S. 7. 6 ® Ebd., S. 5. Vgl. Wolfgang Heise, Johann Christian Edelmann, Seine historische Bedeutung als Exponent der antifeudalen bürgerlichen Opposition in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine Studie zur Geschichte der Aufklärung. Phil. Diss. Humboldt-Universität Berlin 1954; Walter Grossmann,Johann Christian Edelmann. From Orthodoxy to Enlightenment, The Hague - Paris 1976. 61 Johann Christian Edelmann, Abgenöthigtes Jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes GlaubensBekenntniß, Faksimile-Neudr. d. Ausg. 1746 mit einer Einl. von Walter Grossmann, Stuttgart - Bad Cannstatt 1969, S. 10. 62 Ebd., S. 26.

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stets Stückwerk. Hier kann auf die einzelnen Entwicklungsphasen Edelmanns vom radikalen Pietisten zum zeitgenössischen Materialisten nicht eingegangen werden. Die erste Übersetzung eines ausländischen aufklärerischen Werkes erschien in Deutschland 1741, Matthew Tindals „Christianity as old as the creation". Wohl ist P. Bayles „Dictionnaire historique et critique", der 1695-1697 in Amsterdam in erster Auflage erschien und bereits 1702 - erweitert und verbessert - neu aufgelegt wurde, auch in den aufklärerisch gesinnten Kreisen Deutschlands eifrig gelesen worden. Und Edelmann etwa hatte, bevor er Spinoza kennenlernte, schon die Werke J. Tolands, M. Tindals, Anthony Collins u. a. zur Hand gehabt. Aber woher kamen die aufklärerischen Gedanken bei den „einfachen Leuten"? Hier wird man eben dem Pietismus den Vorrang einräumen müssen und der von ihm gepflegten, ζ. T. unbewußt aufgenommenen Traditionslinie. Schon 1697 erschien Johann Conrad Dippels (1673-1734) besonders unter dem Volke weit verbreitete „Orcodoxia orthodoxorum". Auch Dippel gehört zu den Hauptvertretern des radikalen Pietismus. Und dies ist eine von der Reformation herkommende Linie! Es ist einseitig, die Reformation in ihrem geistigen Umfeld lediglich auf den reifen M. Luther zu begrenzen. Es gibt auch eine „Linke der Reformation" und sie wirkt bis in die klassische deutsche Philosophie. Diese Linie hat in Thomas Müntzer einen ihrer Ursprünge. Aber auch diese Linie ist - zumindest ohne den jungen - Luther nicht denkbar. Und sie ist eine Frucht der Reformation! Sie sieht eben vieles - aus welchen Gründen auch immer - anders als die Orthodoxie, die das ausschließliche Recht auf Luthers Ideen und seine Wirkungen zu haben vorgibt. Das Erbe des radikalen Pietismus sowie der voraufgegangenen, letztlich dem Luthertum entstammenden oppositionellen philosophischen Richtungen in Deutschland tritt auch der sog. württembergische oder schwäbische Pietismus an. Auch er weist mehrere Entwicklungslinien auf. Zu den herausragenden Vertretern der progressiven Tendenz zählt Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782). Er geht zunächst von Leibniz und Christian Wolff aus. Ihre Lehren befriedigen ihn nicht. Auch Spinoza vermag ihn nicht zu fesseln. Aus seiner Kenntnis der Naturwissenschaften, besonders der Chemie bzw. Alchemie, der Kabbala, der Kirchenväter und der Bibel, aus seiner Neigung zu und seiner gründlichen Kenntnis von J. Böhme entwickelt Oetinger einen idealistisch-pantheistischen Gottesbegriff und eine daraus entspringende Dialektik. Beide sind religiös überformt, ζ. T. mit extremem Biblizismus gepaart. So schreibt er: „ich schließe, daß Gott innigst gegenwärtig sei, aber von dem Irdischen unergriffen, in allen Werkzeugen und Geburten. Er dirigirt den idealen Einfluß in allen Samen. Ich schließe ferner, daß Gott von Anfang des Wachsthums ein unsichtbares Bild darin unterhalte . . . Gott ergießt das Urteil aller Gestaltungen in alle Arten der Dinge, nicht vermittelst Präformation, sondern in wirklicher fortwährender Wirkung. Die Primordialkräfte Gottes sind im Streit und bringen die Substanz und Figur zu Stand durch Direction der göttlichen Ideen. Aller Dinge Ursprung liegt in der Voraussicht Gottes, nicht als ein Gebildetes, sondern in stets währender Bildung, da die Formen zur Herrlichkeit und zum Gericht in Gottes Augen schon zugegen sind." 6 3 Nach Oetinger gibt es jenseits von Denken und Sein noch ein drittes, das beiden zugrunde liegt, Leben und Selbstbewegung: „Alles Leben ist ein Umlauf, wie ein Rad, und gibt sein Eigenstes heraus vom Centro an; alles Leben offenbart sich durch einen Streit der 63

Zit. nach: Friedrich Christoph Oetingers Leben und Briefe, als urkundlicher Commentar zu dessen Schriften, hg. von Karl Christian Eberhard Ehmann, Stuttgart 1859, S. 190, vgl. zum ff.: Martin WeyerMenkhoff, Christus, das Heil der Natur. Entwicklung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers, Göttingen 1990.

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Kräften. Das schleußt keinen Materialismum oder bloße Extension in sich." 64 Weiter sagt Oetinger: „Keine Seele, kein Geist kan ohne Leib erscheinen, keine geistliche Sache kan ohne Leib vollkommen werden. Alles, was geistlich ist, ist dabey auch leiblich . . . Ein purer Geist ist roh und bloß. Hinweg die Platonische und Leibnizische phantasmata, daß allein die Geister o n t a (Wesen) seyen, Leiber seyen nur f a i n o m e u a , (Erscheinungen) keine Wesen." 65 Oetinger faßt Gott als actus pttrissimus, der in einer ewigen manifestatio sui begriffen ist. 66 Gleich Böhme fußt er dabei auf neuplatonischen und kabbalistischen Gedankengängen. Zugleich wendet er sich gegen Spinoza, überhaupt gegen die Pantheisten. Manifestatio sui gibt nach Oetinger auch die Lösung für den Ubergang von Unendlichem in Endliches, von Gott in Mensch. Gottes Leben - als Selbstbewegung - entläßt die essentiellen Kräfte der Dinge freiwillig aus sich. Gott schafft! Aber er ist in den Kreaturen, ihnen so nahe wie möglich gebracht, das Endliche wird so gleichermaßen in das Unendliche aufgenommen. Es kommt zu einer realen und lebendigen Allgegenwart Gottes in den Geschöpfen, obwohl Oetinger verbal den Pantheismus ablehnt. Sein „idealistischer" Pantheismus kommt aber m.E. deutlich in seinen Worten zum Ausdruck: „Nach heiliger Schrift ist Gott über alles, durch alles, in allem; Gott ist nicht t ö p a n , sondern alles in allem. Man m u ß also das Universum nicht so weit außer Gott sezen, als die Erde vom Himmel. Das Universum ist in Gott. Gott ist dessen Centrum, aber nicht physicum; er gehört nicht zur Geburt der Natur, sondern bleibt und wohnet in sich selbst, ob er schon die Natur überall durchdringt. Gott ist selbständig, die Natur nicht." 67 D a ß Gott als manifestatio sui schafft, wird Oetinger klar, das Warum dieses Schaffens nicht, obwohl er darauf großen Wert legt und sich immer wieder damit beschäftigt. Als Maßstab für die Beurteilung anderer Philosophien benutzt Oetinger gewöhnlich das System J. Böhmes. Am Anfang wie am Ende der schriftstellerischen Arbeit Oetingers steht eine Arbeit zu Jakob Böhme. Von diesem entnimmt Oetinger vor allem den Gedanken, daß das Leben aller Dinge im Gegensatz besteht. Es gibt nichts Vollkommenes und Ewiges in der Natur, es gibt nur ewige Bewegung und Umwandlung. Oetinger ist - im Gegensatz zu seinem philosophischen Hauptgegner G.W. Leibniz - entschiedener Gegner der Präformationstheorie. In dieser Ablehnung berührt sich Oetinger übrigens mit Johann Gottfried Herder. Neben der Monadenlehre ist Leibniz' prästabilierte Harmonie ein Angriffspunkt Oetingers. Im Menschen wohne überhaupt ein Trieb, das Ganze eher als die Teile einer Sache zu erlernen. Analytische und synthetische Erkenntnis verbinden sich nach Oetinger in der Intuition. Ihr Zentralorgan ist der „sensus communis". Trotz seiner Hochschätzung der Intuition weiß Oetinger, daß wir die Natur sukzessive, nicht per Eingebung erkennen. Er ist zu stark naturwissenschaftlich gebildet um - wie der zeitweilig von ihm geschätzte Emmanuel Swedenborg (1688-1772) - das Gegenteil zu behaupten. Oetinger legt seine Auffassungen überall verstreut vor, ein systematisches Ableiten, ein philosophisches System fehlt. Grundlage seiner Naturauffassung ist das Experiment. Wenn

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66 67

Zit. nach Carl August Auberlen, Die Theosophie Friedrich Christoph Oetinger's nach ihren Grundzügen. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte und zur Geschichte der Philosophie. Mit ein. Vorw. von Richard Rothe, Tübingen 1847, S. 146. Friedrich Christoph Oetinger, Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia, hg. von Reinhard Breymayer/Friedrich Häussermann, Τ. 1: Text, Berlin - New York 1977, S. 242. Ebd., S. 173f. Friedrich Christoph Oetinger, Swedenborgs irdische und himmlische Philosophie. Hg. von Karl Chr. Eberhard Ehmann. Eingel. u. neu hg. von Erich Beyreuther, in: Friedrich Christoph Oetinger, Sämtliche Schriften. Gesammelt und hg. von Karl Chr. Eberhard Ehmann. Eingel. u. neu hg. von Erich Beyreuther, Abt. II: Theosophische Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1977, S. 11.

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er ein hypothetisches geistiges Prinzip, das alle Erscheinungen der Natur durchwaltet, mit J. Böhme „tinctur" mit Paracelsus „archaeus" nennt, so zeigt er hier seine Verbindung zur Renaissancephilosophie. Sie wird in faktisch allen seinen Schriften deutlich. Dieser „Bildungstrieb" lacht in sinnlich poetischem Glanz auch hier den Menschen an. Die bohrende Zentralfrage Oetingers ist aber immer wieder die nach dem Leben - seiner Zentralkategorie. Eines seiner Hauptwerke lautet „Theologia ex Idea Vitae deducta in sex locos redacta" (1765). Ein Zentralgedanke Oetingers ist der sensus communis: „keine kürzere Definition gibt es nicht als: id qttod respondet sapientiae in plateis clamanti. Dieser sensus communis ruft nicht nur auf Universitäten sondern überall." 68 Er ist „das allgemeine Gefühl des Lebens, der Wahrheit, des Rechts und Unrechts oder auch des Lichts und der Billigkeit." 69 Diesen Sensus haben alle Menschen. Etwas von Eckharts „Seelenfünklein" schwingt hier mit. Der sensus communis ist Oetinger ein Fühlungswerkzeug, ein Sensorium. Es kommt danach auf das innere Erleben einer Sache an, wenn man sie recht erkennen will. Der Sensus communis findet in allem rein Menschlichen, in der Natur im weitesten Sinne, in Staat, Wissenschaft, Gesellschaft die Offenbarung des allgegenwärtigen Gottes und seiner Weisheit. Ob daraus Esoterik abzuleiten ist, wie einige Autoren postulieren, möchte ich bezweifeln. Bei der Betrachtung der Erscheinungen in Natur und Gesellschaft will Oetinger nicht vom quantitativen, sondern vom qualitativen ausgehen. Triebkraft aller Entwicklung sind in der unbelebten Natur die Gegensätze zwischen der Newtonschen Zentripetal- und Zentrifugalbewegung; in der belebten Natur setzt sich dieser Streit der Kräfte als Urform jeder Bewegung auf höherer Ebene fort. Eine Fähigkeit alles Lebenden ist ζ. B. die Regeneration. Dadurch, daß das unsichtbare Band der Kräfte die polare Spannung zweier Prinzipien in sich birgt, entsteht Leben und Bewegung. Aktivität und Passivität sind die beiden Pole, zwischen denen das Leben schwingt. Diese beiden Prinzipien bezeichnen die Anfänge aller Dinge. Die Natur ist nach Oetinger nicht die Summe letzter, einfacher Elemente, sondern, „ein unsichtbares Band der Kräfte, welche in einer Wirkung und Gegenwirkung miteinander streiten und im innersten Zusammenfluß blizend auseinander gehen und sich wieder in eben das Zentrum, aus welchem sie sich verteilet, zusammenfügen."70 Oetinger bezieht sich in dieser Lehre von der Einheit der Gegensätze ausdrücklich auf J. Böhme und auf Pythagoras, wie er überhaupt auf die altgriechische Philosophie und deren Dialektik ständig Bezug nimmt. Auch zwischen Innerem und Äußerem der Natur besteht eine dialektische Spannung der Polarität, ebenso im Bereich des Körperlichen. So stehen ζ. B. Stoffwechselvorgänge in polarem Verhältnis zu den Funktionen des Nervensystems. Unter der „physiologischen Polarität" versteht Oetinger das Verhältnis der den Auf- und Abbau des menschlichen Körpers bewirkenden, sich gegenseitig durchdringenden Kräfte. Einen sinnbildlichen Ausdruck für die Lebendigkeit und Polarität des Weltganzen findet Oetinger im Salz. Mikro- und Makrokosmos entsprechen einander in der Polarität der sie aufbauenden Elemente. Ohne Polarität wäre die Natur zur Bewegungslosigkeit, Ruhe, zum Tode verurteilt. Leben bedeutet Bewegung! Ständige Bewegung aber entsteht aus Wirkung 68

Friedrich Christoph Oetinger, Die Wahrheit des Sensus communis, oder des allgemeinen Sinnes, in den nach dem Grundtext erklärten Sprüchen und Prediger Salomo, der das beste Haus- und Sittenbuch für Gelehrte und Ungelehrte. In: ders., Sämmtliche Schriften, hg. von Karl Chr. Eberh. Ehmann, 2. Abth., Bd. IV, Stuttgart 1861, S. 33.

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Zit. nach Auberlen, Die Theosophie Friedrich Christoph Oetinger's (wie A n m . 64), S. 70. Vgl. Wilhelm-Albert Hauck, Das Geheimnis des Lebens, Naturanschauung und Gottesauffassung Friedrich Christoph Oetingers, Heidelberg 1947, S. 94f; Friedrich Christoph Oetinger, Die Philosophie der Alten, wiederkommend in der güldenen Zeit, Zweyter Theyl, Frankfurt - Leipzig 1762, Bd. II, S. 37f.

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Siegfried Wollgast

und Gegenwirkung zweier polarer Kräfte, die einander voraussetzen und befehden, aber in einem allumfassenden „Band der Kräfte" vereint sind. Im Menschen kommt die Polarität in der Gestalt des Widerstreits von Gutem und Bösem zum Ausdruck. Den Ausschlag, welches Prinzip siegt, gibt der menschliche Wille. Materie und Geist sind Oetinger insgesamt keine selbständigen Größen mit vollendeter Eigenexistenz. „Sie sind ihm lediglich Funktionen des einen lebendigen Kosmos, die in polarer Wechselbeziehung zueinander angelegt sind und wie Hebelarme sich wechselseitig in Bewegung und im Gleichgewicht halten." 71 Leben ist also stets etwas Bewegtes und Werdendes. Oetinger erklärt dabei, Heraklit folgend: „Die ewigen Elemente sind immer im Werden. Alle Augenblicke sind sie das nicht, was sie vorher gewesen. Sie sind in perpetuo fieri,"72 Kosmos ist nicht, sondern er vollzieht sich. Sein Wesen ist der Wandel. Selbst Gott ist, um es nochmals zu sagen, eine unendliche Gebärung seiner selbst, eine gespannte Vielheit von bewegten Kräften. Nach Oetinger gibt es keine angeborenen Ideen. Unsere Begriffe werden an den Sachen selbst gebildet und finden an der empirischen Wirklichkeit ihre Korrektur. Grundlage der Naturerkenntnis sind die empirischen Erfahrungen. Mit seinem Sensualismus bewegt sich Oetinger auf den Bahnen F. Bacons, den er auch mehrfach als Kronzeugen zitiert. Hier konnte nur skizzenhaft auf einige Grundgedanken Oetingers hingewiesen werden. Er ist ein Mittler Böhmes. An diesen kann unterschiedlich angeknüpft werden. Sein Werk schillert. Progressive Anknüpfung an Böhme heißt: u. a. 1. Beachtung seiner Naturdialektik, 2. Hochschätzung des Menschen (Mikro-Makrokosmos-Lehre) und seines wesentlich idealistischen Pantheismus, 3. Beachtung der tätigen Seite seines Philosophierens. Diese Elemente werden, jeweils mehr oder weniger stark, von Oetinger rezipiert. Von hier wirken sie, nochmal sei es betont, u. a. auch auf Schelling. Damit sei der Bogen zu Kant geschlossen, obwohl noch viele Zwischenglieder fehlen. Zu ihnen gehört als herausragender Gipfel Christian Wolff (1679-1754). Er steht ebenso sicher in der Tradition der Reformation, wie er mehr ist als ein bloßer Popularisator und Systematiker der Leibnizischen Philosophie: ein Höhepunkt der deutschen Aufklärung. Bekannt ist sein Streit mit den Hallenser Pietisten, ebenso, daß Kant von Wolff ausging, ihn studierte, stark unter seinen Einfluß stand. In seiner Jugend wurde Kant vom Pietismus entschieden geprägt. Er pflegte diese seine „pietistische Erziehung als eine Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke aus seiner eigenen Erfahrung zu rühmen". 73 Seinem Erzieher und Gönner, dem Pietisten Franz Albert Schultz (1692-1763) wollte er noch bis kurz vor seinem Tode ein literarisches Denkmal setzen. 74 Nun war Schultz nicht nur Pietist, sondern zugleich Wolffianer. Er hatte in Halle bei Wolff studiert und dieser soll von ihm gesagt haben: „Hat mich je jemand verstanden, so ist's Schultz in Königsberg." 75 Aber Schultz blieb dabei Theologe - auch als Lehrer und Rektor der Universität. Von Wolff wird bei ihm vornehmlich die Sprache und Darstellungsweise übernommen. Aber auch das 71 72

73

74 75

Ebd., S. 100. Zit. ebd., S. 107, nach: Friedrich Christoph Oetinger, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Mit einem Vorw. von Dmitrij Tschizewsky, Hildesheim 1969. Repr. Nachdr. d. Ausg. Stuttgart 1776, S. 147. Reinhold Bernhard Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, in: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L.E. Borowski, R.B. Jachmann und A.Ch. Wasianski, hg. von Felix Groß, Berlin o.J., S. 123. Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants, in: ebd., S. 70. Zit. nach: Karl Vorländer, Immanuel Kants Leben, Leipzig 1911, S. 6. Vgl. Erich Riedesel, Pietismus und Orthodoxie in Ostpreußen. Auf Grund des Briefwechsels G.F. Rogalls und F.A. Schultz' mit den Halleschen Pietisten, Königsberg (Pr.) - Berlin 1937.

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barg den Keim zur Zersetzung des orthodoxen Pietismus in sich, der mit rationalistischer philosophischer Denkweise ζ. T. nicht verträglich war. Unsere Bezüge und Querverweisungen vermögen nur einen Aspekt der Herausbildung der klassischen deutschen Philosophie anzudeuten. Wir glauben aber nachgewiesen zu haben, daß die deutsche Philosophie und Theologie seit der Luther-Zeit in den verschiedensten Strömungen auf die klassische deutsche Philosophie wirkt. Diese wird nicht etwa primär von ausländischem Gedankengut gespeist. Und sie kommt im protestantischen Bereich letztlich von Martin Luther her! 76

76

Vgl. zusammenfassend bis zur Gegenwart: Jörg Baur, Luther und die Philosophie, in: Jörg Baur, Luther und seine klassischen Erben, Tübingen 1993, S. 1 3 - 2 8 .

STEFAN O E H M I G ,

BERLIN

Hermann Mühlpfordt der Ältere (1486-1534) Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit*

. . . homo eloquens

magnae orator,

prudentiae, caput

Corona vrbis; similis temporis

non

et eius

futt

Paul G r e i f 1 D e r M a n n , d e s s e n L o b g e s a n g P a u l G r e i f in s e i n e n Z w i c k a u e r A n n a l e n h i e r a n l ä ß l i c h seines Todes a n s t i m m t , w a r zu Lebzeiten einer d e r b e k a n n t e s t e n u n d b e d e u t e n d s t e n mitteld e u t s c h e n B ü r g e r . 1 4 8 6 in Z w i c k a u g e b o r e n u n d h i e r a u f g e w a c h s e n , h a t H e r m a n n M ü h l p f o r d t z u s a m m e n mit einigen anderen, k a u m weniger einflußreichen u n d fähigen Bürgern d i e G e s c h i c k e s e i n e r V a t e r s t a d t in e r e i g n i s r e i c h e r Z e i t g e l e n k t u n d i h r d a m i t s e i n e n S t e m p e l a u f g e d r ü c k t . 2 1 5 1 0 / 1 1 f i n d e n w i r i h n i m Z w i c k a u e r R a t w i e d e r , in d e m e r in r a s c h e r F o l g e d i e e i n z e l n e n S t u f e n s e i n e r s t e i l e n K a r r i e r e n i m m t . S e i n e A u f n a h m e in d e n R a t w a r proprio

motu

electorisi,

auf W u n s c h d e s L a n d e s f ü r s t e n , e r f o l g t u n d n i c h t , w i e s o n s t ü b l i c h ,

m i t K o n s e n s a l l e r M i t g l i e d e r d e s a l t e n u n d n e u e n R a t e s . 4 B e r e i t s 1 5 1 3 / 1 4 u n d s o d a n n in d e n J a h r e n 1 5 1 5 / 1 6 , 1 5 1 7 / 1 8 u n d 1 5 1 9 / 2 0 ist Herman

Mulpfort5

einer der sechs Schöffen

Für freundliches Entgegenkommen beim Eruieren der Quellen und unbürokratische Hilfen bei der Beschaffung von Kopien habe ich zu danken Frau Schmidt und Frau Teichert aus dem Stadtarchiv Zwickau, Herrn Dr. Nagel aus der Ratsschulbibliothek Zwickau sowie Frau Dagmar Blaha aus dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar. - Im Text werden folgende Abkürzungen verwendet: Alt-Zwickau - AltZwickau. Beilage zur Zwickauer Zeitung; zugleich: Neue Folge der Mitteilungen des Altertumsvereins Zwickau; Herzog, Chronik I, II - Emil Herzog, Chronik der Kreisstadt Zwickau, Band I, Zwickau 1839; Band 2, Zwickau 1845; Mitt Zwickau - Mitteilungen des Altertumsvereins für Zwickau und Umgebung, Heft 1 ff., Zwickau 1887 ff.; RSB - Ratsschulbibliothek; StadtA - Stadtarchiv; fl - Gulden; Gr - Groschen; Pf - Pfennig; β - Schock. ' Sächsische Landesbibliothek Dresden: Msc. d 3 : PAUL G R E F F , Zwickauer Annalen, Bl. 1 0 9 A . Über ihn vgl. O r r o CLEMEN, Hermann Mühlpfort in: Alt-Zwickau 5 (1922), S. 20 und 12 (1922), S. 46-48 (jetzt auch in: O r r o C L E M E N , Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte, hrsg. von ERNST K O C H , Bd. 8: 1898-1950, Leipzig 1987, S. 61-64). 3 StadtA Zwickau: III d, Nr. 13a: Copialbuch, Bl. CXXV a : Zusatz am Rande: NB: Electus in Consulem proprio motu electoris. Vgl. auch: StadtA Zwickau: III b 1 , N r . 23 b : Neuer Rathherren Buch Wie ein Ietzlicher In den Rathsstandt kommen vnd erwölet worden, Vnd zu welcher Zeitt... , Bl. 8 a : Er Herman Mühlpfort Electus in consulem proprio motu Electoris. Vgl. ebenda, Bl. 25^, wo zur Aufnahme von Wolf Mühlpfordt, dessen Sohn, in den Zwickauer Rat ausdrücklich folgendes hervorgehoben wird: Wolff Mühlpfort teclaratus est publice consul sextapost Inuocauit [5. März] Ao. 1563. - Zu den Umständen von Hermann Mühlpfordts Aufnahme in den Rat vgl. auch RSB Zwickau: LVIII und LIXb: PETER SCHUMANNS Annalen, Bd. II (1501-1530), bes. Bl. 50a. 2

4

Zum Wahlmodus und zur Struktur des Zwickauer Rates vgl. KARL B R O D , Rat und Beamte der kurfürstlichen Stadt Zwickau, 1485-1547. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte, Zwickau 1927, bes. S. 3-10. - Die Schreibweise des Namens schwankt. Am häufigsten kommen folgende Formen vor: Mulpfort-, Muelfort; Mülphordt; Molphord etc. Mühlpfordt selbst hat sich meist Herman Mulpfort geschrieben. Ab etwa 1529/30 verwendet er in Abgrenzung zum jüngeren Mühlpfordt in seinen Briefen den Zusatz der Elter 1

Stefan Oehmig

162

am Stadtgericht. 6 Wohl erstmals in den Jahren 1 5 1 8 / 1 9 und 1 5 2 0 / 2 1 steht er diesem als Stadtvogt 7 , als Richter im Weichbild der Stadt 8 , vor und hat damit bereits das wichtigste und einflußreichste Ratsamt nach dem des Bürgermeisters inne. 1 5 1 6 / 1 7 fungiert er zudem als Schöffe am Schultheißengericht 9 , dem die richterliche Gewalt in den Ratsdörfern, den Vorstädten und Stadtgütern zustand 1 0 . 1 5 1 5 / 1 6 und 1 5 1 6 / 1 7 verwaltete er als K ä m m e r e r (Chamerer)

die Finanzen der S t a d t . " Von Michaelis 1521 bis Michaelis 1522 währt seine

erste Amtszeit als regierender Bürgermeister. 1 2 Von da an stand H e r m a n n Mühlpfordt bis zu seinem Tode im August 1534 alle zwei Jahre an der Spitze der Stadt Zwickau, eines prosperierenden Gemeinwesens, das mit seiner breit gefächerten Gewerbestruktur 1 3 und mit etwa 7 . 3 6 5 Einwohnern 1 4 unter den Städten im Kurfürstentum Sachsen nach Freiberg den zweiten Rang einnahm. 1 5 Dieser Spitzenrang resultierte zum einen aus der guten Verkehrslage und einer Reihe wichtiger Privilegien 1 6 , die sich wiederum günstig auf die einzelnen Gewerbe der Stadt auswirkten, unter denen die Tuchmacherei die angesehenste und wirtschaftlich am besten dastehende Innung w a r 1 7 ; z u m andern war er eine Folge des Aufblühens des erzgebirgischen Silberbergbaus, an dem die Stadt von Anfang an führend beteiligt war. 1 8 E r vor allem bewirkte, daß Zwickau, „das bei Kaiser Karolus IV. n o c h

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7

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9 10 11

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bzw. der Eitere. Dieser Zusatz begegnet in jener Zeit auch in offiziellen Dokumenten wie zum Beispiel den Bestätigungen der Ratswahl durch den Landesherrn. Vgl. StadtA Zwickau: A A I 25 nr. 4 - Ratskonfirmationen 1526-1550; hier die OU vom 16. Sept. 1531 und vom 16. Sept. 1533. StadtA Zwickau: III b1 nr. 54 I: Amtsbücher 1503-1516, fol. 113ä (für 1513/14 und mit obiger Namensform); fol. 126 »(für 1515/16); StadtA Zwickau: III b1 nr. 54 II: Amtsbücher 1516-1521, fol. 2 b (für 1516/17); fol. 39 a (für 1517/18); fol. 90 a (für 1519/20). StadtA Zwickau: III b1 nr. 541: Amtsbücher 1516-1521, fol. 80* (für 1518/19); fol. 126b (für 1520/21). Das Amt des Stadtvogts hat Mühlpfordt auch später noch mehrfach inne: Vgl. StadtA Zwickau: III b1 54 III: Amtsbücher 1521-1531, fol. 37a (für 1522/23); fol. 53a (für 1526/27). 1530/31 begegnet er auch nochmals als Schöffe am Stadtgericht. Vgl. ebenda, fol. 113b. V g l . BROD, R a t u n d B e a m t e (wie A n m . 4), S. 10 f. ERICH WILHELM RAU, G e r i c h t s v e r f a s s u n g d e r Stadt

Zwickau im 16. Jh., Diss.-phil. Leipzig 1923 (MS). StadtA Zwickau: III b1 nr. 54 II: Amtsbücher 1516-1521, fol. 2 b (für 1516/17). Vgl. BROD, Rat und Beamte (wie Anm. 4), S. 11-13. StadtA Zwickau: III b1 54 I: Amtsbücher 1503-1516, fol. 126b (für 1515/16); III b1 54 II: Amtsbücher 1516-1521, fol. 2 b (für 1516/17). StadtA Zwickau: A A I 25 nr. 3: Ratskonfirmationen - Originalurkunde (im folgenden: OU) vom 19. September 1521; StadtA Zwickau: III b1 nr. 54 III: Amtsbücher 1521-1531, fol. I 1 , 2 ä . Vgl. PAUL KUMMER, Gewerbe und Zunftverfassung in Zwickau bis zum Jahre 1600, Diss.- phil. Leipzig 1921 ( M S ) , bes. B l . 8 f., 16 ff., 2 4 ff. W e i t e r f ü h r e n d : SUSAN G . KARANT-NUNN, Z w i c k a u in Transition, 1 5 0 0 - 1 5 4 7 :

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The Reformation as an Agent of Change, Columbus/Ohio 1987, S. 58 ff. Die Zahlen schwanken zwischen 7 000 und 8 000 Einwohnern. Ich folge hier den Angaben bei Helmut Bräuer, die dieser anhand eines Türkensteuerregisters aus dem Jahre 1531 errechnet hat. Vgl. HELMUT BRÄUER, Zwickau und Martinus Luther. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die städtische Kirchenpolitik in Zwickau (1527-1531). Hrsg. v. der Bezirksleitung des Kulturbundes der DDR und dem Bezirkskunstzentrum Karl-Marx-Stadt, Karl-Marx-Stadt 1983, bes. S. 16. Vgl. auch: DERSELBE, Lutherund der Zwickauer Rat (1527-1531), in: Martin Luther. Leben-Werk-Wirkung. Hrsg. v. GÜNTER VOGLER in Z u s . - a r b e i t m i t SIEGFRIED HOYER u n d ADOLF LAUBE, B e r l i n 1 9 8 3 , S. 2 2 3 - 2 3 3 , hierzu bes. S. 2 2 5 f.

Vgl. KARLHEINZ BLASCHKE, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 138-141: Tab. 10. 16

V g l . HERZOG, C h r o n i k I, bes. S. 91 f., 2 4 6 , 2 4 8 ff., 2 5 6 - 2 6 3 ; I I , bes. S. 11 ff., 21 ff. u.ö.

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Vgl. MAX MÜLLER, Das Tuchmacher-Handwerk und der Tuchhandel in Zwickau in Sachsen, ein Beitrag zur Wirtschafts-Geschichte Sachsens, Leipzig 1929; KARL STEINMÜLLER, Zur Lage der Zwickauer Tuchmacherei zwischen 1470 und 1530, in: Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin 1961, S. 220224; KUMMER, Gewerbe und Zunftverfassung (wie Anm. 13), bes. Bl. 8 ff.; KARANT-NUNN, Zwickau in Transition (wie Anm. 13), bes. S. 75 ff.

Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

163

ungeacht, als der Schneeberg fundig, sehr gebessert und mit Gebäuden zierlich geschmückt, in Reichtum und Herrlichkeit" erblühte. 1 9 In H e r m a n n Mühlpfordts Amtszeit fallen wichtige Ereignisse, die dieser als Ratsmitglied und Bürgermeister mitgetragen und vielfach aktiv mitgestaltet hat: so 1 5 2 1 / 2 2 die Auseinandersetzungen mit den „Zwickauer Propheten" um Nikolaus Storch, Markus Stübner und Thomas Drechsler 2 0 , die ausgangs der zwanziger Jahre fast nahtlos in die mit den „Wiedertäufern" einmündeten 2 1 ; die Reform des Schulwesens und der gelehrten Studien, die 1519 - Mühlpfordt war zu jener Zeit „Aufseher" über die Zwickauer Schulen 2 2 mit der Gründung der Griechischen Schule begonnen hatte und die mit der neuen Schulordnung des Leonhard Nather vom Sommer 1523 einen gewissen Abschluß fand 2 3 ; die schrittweise Umgestaltung des Gottesdienstes in den Jahren 1523 bis 1525 und darüber hinaus 2 4 ; die Einrichtung eines Gemeinen Kastens Ende November 1523 und mit ihm die Neuordnung des kommunalen Armen- und Fürsorgewesens auf reformatorischer Grundlage samt Zentralisierung der gesamten Armenpflege in den Händen des Rates 2 5 ; der Neubau eines repräsentativen Gewandhauses für die Tuchmacher in den Jahren 1 5 2 2 / 2 3 bis 1525 sowie weitere große innerstädtische Bauvorhaben 2 6 , der Bauernaufstand von 1525 und die Visitationen von 1529 und 15 3 3 2 7 ; der Landtag zu Zwickau vom Januar 1531, auf dem es v.a. um die Türkenhilfe und um die Sequestration der geistlichen Güter ging und auf dem Lorenz Bärensprung und H e r m a n n Mühlpfordt seitens der Städte als Verordnete „gemeiner Landschaft" fungierten 2 8 sowie das Ringen mit der Gemeinde um die Grundlinien kommunaler Kirchenpolitik nach 1527, das Luther ebenso auf den Plan rief wie den 18

Vgl. A D O L F L A U B E , Studien über den erzgebirgischen Silberbergbau von 1 4 7 0 bis 1 5 4 6 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 22), 2., unveränd. Auflage Berlin 1976, bes. S. 23 ff.; 68 ff.; 126 ff. u.ö.

" Mit diesen Worten beschrieb um 1530 der sog. „Pirnaischen Mönch" Johannes Lindner in seinem „Onomasticon mundi generalis . . . " den Aufschwung Zwickaus infolge des Berggeschreis. Hier zitiert nach: R E I N H O L D H O F M A N N , Bilder aus einer sächsischen Stadt im Reformationszeitalter. Aus den Kämmerei-Rechnungen der Stadt Zwickau, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 25 (1904), S. 31-67; Zitat S. 32. 2 0 Über sie vgl. zuletzt: SIEGFRIED H O Y E R , Die Zwickauer Storchianer - Vorläufer der Täufer?, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 1 3 ( 1 9 8 6 ) , S. 6 0 - 7 8 . Ferner grundlegend: PAUL W A P P L E R , Thomas Müntzer in Zwickau und die Zwickauer Propheten, Zwickau 1908 (Nachdruck in den „Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte", Nr. 1 8 2 , Jg. 7 1 ; Gütersloh 1 9 6 6 ) . 21 Vgl. PAUL W A P P L E R , Inquisition und Ketzerprozesse in Zwickau zur Reformationszeit. Dargestellt im Zusammenhang mit der Entwicklung der Ansichten Luthers und Melanchthons über Glaubens- und Gewissensfreiheit, Leipzig 1908, S. 12 ff. 2 2 StadtA Zwickau: Rats-Protokolle 1519-1522, 1520, fol. 2 b : Ratsverlaß vom Montag nach Francisci [10. Okt.] 1519: Schull zubestellen ... Ist beschlossen vnd Er Herman Mulpforten vnd neben yme er Wolfen Jacob beuohlen wurden vffseher der schulen zuseyn. 2 3 Vgl. E M I L H E R Z O G , Geschichte des Zwickauer Gymnasiums. Eine Gedenkschrift zur Einweihungsfeier des neuen Gymnasialgebäudes, Zwickau 1869, bes. S. 10 ff.; K A R L STEINMÜLLER Agricola in Zwickau, in: Agricola-Studien (Freiberger Forschungshefte. Kultur und Technik D 18), Berlin 1957, S. 20-44; hierzu bes. S. 25 ff. 2 4 Vgl. v.a.: A N N E - R O S E F R Ö H L I C H , Die Einführung der Reformation in Zwickau (Diss.-phil. Leipzig 1 9 1 9 ) , Zwickau 1 9 1 9 [auch in: Mitt Zwickau 1 2 ( 1 9 1 9 ) ] , S . 2 1 ff.; W A P P L E R , Thomas Müntzer (wie Anm. 2 0 ) , S . 1 9 ff. 2 5 Vgl. F R Ö H L I C H , Einführung der Reformation (wie Anm. 2 4 ) , S. 5 7 . Vgl. auch: StadtA Zwickau: Kastenrechnung 1 5 2 3 / 2 4 . 2 6 Vgl. H E R Z O G , Chronik II, bes. S. 195 ff., 200 ff. 2 7 Vgl. G E O R G B U C H W A L D , Allerlei aus drei Jahrhunderten, Zwickau 1888, S. 1-30; C. Α. H. B U R K H A R D T , Geschichte der sächsischen Kirchen- und Schulvisitationen von 1524 bis 1545, Leipzig 1879, S. 63-69; Die Protokolle der zweiten Kirchenvisitation zu Zwickau, Crimmitschau, Werdau und Schneeberg 1533 und 1534, hrsg. v. E R N S T F A B I A N , in: Mitt Zwickau 7 (1902), S. 37-147, bes. S. 118 ff.

164

Stefan Oehmig

Landesherrn, und das 1531 auf dem Landtag zu Torgau in Gegenwart Mühlpfordts in wesentlichen Punkten zugunsten des letzteren entschieden wurde 29 . Auch die seit Jahren geforderte Reform der kommunalen Verwaltung 30 und die Schaffung eines zeitgemäßen Stadtrechts 31 hat Hermann Mühlpfordt in seiner Amtszeit mit befördert. Ihr Abschluß fiel jedoch bereits in der Zeit nach seinem Tode. Darüber hinaus war Mühlpfordt in landesherrlichen Angelegenheiten tätig: so u. a. 1532/33 als Sequestrator und Mitaufseher bei der Erhebung und Verwaltung der Türkensteuer im Landkreis Meißen. 32 Viele dieser Maßnahmen hingen direkt mit der Reformation zusammen, der sich der Zwickauer Rat mehrheitlich schon früh öffnete. 33 So beschlossen die Ratsherren, darunter auch Hermann Mühlpfordt, im März 1519 sich nach Wittenberg zu wenden, um von Luther oder Kaspar Güttel einen neuen Prediger vermittelt zu bekommen. 34 Wenig später wird Hermann Mühlpfordt wegen seiner großen lieb und lust, ßo yhr zu der heyligen schrifft traget, von Johann Sylvius Egranus Luther wärmstens empfohlen, worauf dieser dem fursichtigen und weyßen hern Hieronymo [sie!] Mülphordt, Stadtvogt zu Zwykaw, meynem besondern günstigen freund und Patron die deutsche Ausgabe seiner dritten großen Reformationsschrift vom Jahre 1520: „Von der Freiheit eines Christenmenschen" widmete. 35 Ab Ende April 1522 schließlich weilte Luther, von Altenburg kommend, anläßlich seiner v f f erfordern des Rodts erfolgenden Zwickauer Predigten 36 für mehrere Tage in der Stadt; jedoch nicht, wie immer behauptet, in Mühlpfordts geräumigem Haus am Markt in der jetzigen inneren Schneeberger Straße. 37 Danach läßt Luther ihn bzw. die Consules meo, consules & sacerdotes tuos oder auch Consules & omnes nostras über den Stadtpfarrer Nikolaus Hausmann immer wieder grüßen. 38 Auch Mühlpfordts Briefe der Jahre 1523 und 28

29

Vgl.: Ernestinische Landtagsakten, Bd. I: Die Landtage von 1487-1532, bearb. von C. Α. H. BURKHARDT (Thüringische Geschichtsquellen. Neue Folge, Bd. 5), Jena 1902, Nr. 377-407, S. 196-215, bes. Nr. 404, S. 213 f. Vgl. hierzu zuletzt: HELMUT BRÄUER, Zwickau und Martinus Luther (wie Anm. 14), S. 32-84, bes. S. 39 ff.; DERSELBE, L u t h e r u n d d e r Z w i c k a u e r R a t ( w i e A n m . 14), S. 2 2 8 - 2 3 2 . - ERNST FABIAN, D e r Streit L u t h e r s m i t

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31

dem Zwickauer Rat im Jahre 1531, in: Mitt Zwickau 8 (1905), S. 71-139 und 141-176. - Zur Rolle Mühlpfordts in diesen Verhandlungen vgl. auch CLEMEN, Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 64. Vgl. KARL STEINMÜLLER, Die Zwickauer Stadtschreiberei 1526 bis 1546, in: Wissenschaftliche Zeitschrift des Pädagogischen Instituts Zwickau. Gesell, u. sprachwiss. Reihe 4 (1968), S. 58-84. Die Zwickauer Stadtrechtsreformation 1539/69. Hrsg., eingeleitet u. bearb. v. HILDEGARD BERTHOLD, KARL HAHN u n d ALFRED SCHULTZE ( Q u e l l e n z u r G e s c h i c h t e d e r R e z e p t i o n , B d . 3), L e i p z i g 1935.

32

33

34

35

36

Vgl. Ernestinische Landtagsakten (wie Anm. 28), Nr. 472, S. 259 f. vom 24. Febr. 1532 sowie Nr. 422, S. 230 (1531). Vgl. auch: ALFRED HILPERT, Die Sequestration der geistlichen Güter in den kursächsischen Landkreisen Meißen, Vogtland u. Sachsen 1531 bis 1543. Studien zur Säkularisation (Diss.-phil. Leipzig 1911), Plauen 1911, S. 14. Zum folgenden vgl. v.a.: FRÖHLICH, Einführung der Reformation (wie Anm. 24), bes. S. 1-19; WAPPLER, Thomas Müntzer (wie Anm. 20), S. 19 ff. Vgl. StadtA Zwickau: Ratsprotokolle 1516-1519,1}19, fol. 88B, Sonnabend nach Estomihi [12. März]. - Vgl. auch WAPPLER, Thomas Müntzer (wie Anm. 20), S. 19 mit Anm. 67. WA 7 (1897), S. 20-38. Obige Zitate S. 20. Zu Luthers Zueignung seiner deutschen Freiheitsschrift an Mühlpfordt und zu den weiteren Beziehungen zwischen Luther und Hermann Mühlpfordt äußerte sich mehrfach auch der Jubilar, ζ. B. GÜNTER MÜHLPFORDT, Herbergen der Christenheit (Bespr.), in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Wissenschaft, Jg. 82 (1961) Heft 3, Sp. 208 f. (Vgl. unten meine Anm. 43). G. Mühlpfordt hat in einem vorbereiteten kleinen Aufsatz untersucht, wie es zu erklären ist, daß Luther in seiner Widmung Hermann Mühlpfordt den Älteren versehentlich „Hieronymus" nannte. V g l . SCHUMANN, A n n a l e n II ( w i e A n m . 3), Bl. 144''. V g l . a u c h FRÖHLICH, E i n f ü h r u n g d e r R e f o r m a t i o n ( w i e

Anm. 24), S. 18. 37

38

V g l . KARL HAHN, L u t h e r in Z w i c k a u , in: A l t - Z w i c k a u 5 (1922), S. 3 3 - 3 5 . V g l . a u c h CLEMEN, H e r m a n n

Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 63. Luther wohnte wohl im Gasthof zum goldenen Adler, Hauptmarkt 23. Vgl. dessen Briefe an Nikolaus Hausmann vom 26. März 1522 in: WA Br 2 (1931), Nr. 465, S. 483 Z. 31 f.; vom 19. Mai 1522, in: ebenda, Nr. 494, S. 536, Z. 21 (mit erstem Zitat); vom 30. Juni 1522, in: ebenda,

Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

165

1 5 2 4 an seinen F r e u n d u n d s p ä t e r e n S t a d t s c h r e i b e r S t e p h a n R o t h 3 9 in W i t t e n b e r g , die n o c h d e r A u f a r b e i t u n g b e d ü r f e n , sind erfüllt v o n e i n e r intensiven H i n w e n d u n g z u r R e f o r m a t i o n und einer geradezu schwärmerischen Verehrung Luthers.40 1 5 2 5 wird dieses enge Verhältnis nachhaltig getrübt, d e n n H e r m a n n M ü h l p f o r d t , d e m O t t o C l e m e n „ein w a r m e s H e r z für die A r m e n u n d U n t e r d r ü c k t e n " 4 1 bescheinigt, ergreift im S o m m e r 1 5 2 5 Partei gegen L u t h e r s "Wüten „ W i d e r die räuberischen u n d m ö r d e r i s c h e n R o t t e n der B a u e r n " . 4 2 In seinem b e r ü h m t e n Brief an Stephan R o t h in W i t t e n b e r g v o m 4. J u n i 1 5 2 5 läßt er diesen wissen, d a ß er derzeit mit doktor Martina... armen

nott vergessen.43

mordens sunder

an pattern, bürgern, iren unschuldigen

nicht eins sei, wie gehurt, das [er] der

R o t h m ö g e dringend m ä ß i g e n d auf L u t h e r einwirken: Es geschickt weibem

weibern

und kindern

und kindem

genug,

das nicht allein di armen

wirt ire hab und guter genomen

L u h e r solle d a h e r seiner „hitzigen S c h r i f t " alsbald ein schwind

schreiben

leut und

ane geheie

susten

erschlagen, vorbrent.44 [Hitze]

folgen lassen, u m d e m plündernden und m o r d e n d e n A d e l in die A r m e z u fallen. 4 5 - E r selbst tat dies auf seine Weise, i n d e m er z u s a m m e n mit d e m Stadtpfarrer N i k o l a u s H a u s m a n n u n d den anderen Z w i c k a u e r Predigern das von den siegreichen F ü r s t e n für den 4. Juli

1525

geplante Strafgericht über die B ü r g e r u n d B a u e r n verhinderte. 4 6 Infolge dessen w u r d e n den Aufständischen im Z w i c k a u e r Gebiet z w a r Strafgelder auferlegt; z u Tode k a m j e d o c h keiner von ihnen. 4 7 Diese Linie, die in der B e h a n d l u n g anstehender P r o b l e m e , a u c h solcher sozialer N a t u r , Elastizität und Sachlichkeit mit D u r c h s e t z u n g s v e r m ö g e n

und H ä r t e verband, hat

H e r m a n n M ü h l p f o r d t a u c h n o c h 1 5 2 5 beibehalten. 4 8 Nr. 514, S. 572 Z. 16; vom 6. August 1522 in: ebenda, Nr. 528, S. 585 Z. 12 (2. Zitat); vom 23. Sept. 1522 in: ebenda, Nr. 5 3 9 , S. 6 0 3 Z. 12 (3. Zitat)) sowie vom 15. Juni 1 5 2 4 in: WA Br 3 ( 1 9 3 3 ) , Nr. 7 5 1 , S. 3 0 4 , Z. 9 : Saluta D. Hermanmtm Molpfordt. Danach trat eine längere Pause ein. Erst 1531 läßt Luther in seinem Brief an Hausmann vom 21. Januar 1531 Mühlpfordt nochmals grüßen. Vgl. WA Br 6 (1935), Nr. 1775 S. 23 Z. 21. Über ihn vgl.: E[MIL] HERZOG, M. Stephan Roth. Ein culturgeschichdiches Lebensbild aus der Reformationszeit, in: Archiv für die Sächsische Geschichte, Neue Folge 3 (1877), S. 267-275; GEORG MÜLLER, Mag. Stephan Roth, Schulrektor, Stadtschreiber und Ratsherr zu Zwickau im Reformationszeitalter, in: Beiträge zur sächsischen K i r c h e n g e s c h i c h t e 1 ( 1 8 8 2 ) , S. 4 3 - 9 8 ; OTTO CLEMEN, S t e p h a n R o t h , in: S ä c h s i s c h e L e b e n s b i l d e r 2 ( 1 9 3 8 ) , S. 3 4 0 3 5 1 ; STEINMÜLLER, S t a d t s c h r e i b e r e i (wie A n m . 3 0 ) , S. 5 8 ff., bes. S. 6 4 ff. 40

41

Vgl. insbesondere Mühlpfordts Briefe an Roth vom 2. Juni und 17. Juli 1523 sowie vom 11. März 1524, in: RSB Zwickau: Briefsammlung Roth: Ο 7; Ο 9; Ο 22. CLEMEN, Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 63.

42

A b d r u c k d e r S c h r i f t in: W A 18 ( 1 9 0 8 ) , S. 3 5 7 - 3 6 1

43

Der Brief wurde bereits mehrfach vollständig oder teilweise ediert; hier wird zitiert nach: Akten zur Geschichte

(788-790).

des B a u e r n k r i e g s in M i t t e l d e u t s c h l a n d , B d . 2 . U n t e r M i t a r b e i t v o n GÜNTHER FRANZ hrsg. v. WALTHER PETER

FUCHS, Jena 1942 (Neudruck Aalen 1964), Nr. 1628, S. 437^40; Zitat S. 439. - Zum Kontext, in dem dieses Schreiben steht, vgl. GÜNTER MÜHLPFORDT, Bürger im Bauernkrieg - Stimmen und Stimmungen 1524/25, in: Der d e u t s c h e B a u e r n k r i e g . G e s c h i c h t e - T r a d i t i o n e n - L e h r e n , hrsg. v. GERHARD BRENDLER u n d ADOLF LALBE ( A k a d e m i e

44 45 46

der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Geschichte, 57), Berlin 1978, S. 131-144, bes. S. 139 f. - RSB Zwickau: Briefsammlung Roth: D 161. Akten zur Geschichte des Bauernkriegs (wie Anm. 43), S. 438. Ebenda, S. 438. Vgl. PETER SCHUMANNS Annalen, Bd. II (wie Anm. 3), Bl. 176A ff. Vgl. auch CLEMEN, Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 63, der „das Hauptverdienst daran, daß in Zwickau nicht wie anderwärts das Henkerbeil niedersauste, dem warmherzigen und menschenfreundlichen Bürgermeister" Mühlpfordt zuschreibt. - Wenn demgegenüber noch 1960 GEBHARD FALCK, Strafgeldregister, unausgeschöpfte Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges 1525 in Thüringen, in: Die frühbürgerliche Revolution (wie Anm. 17), S. 126-133, von einem „Gerichtstag" zu Zwickau sowie davon sprach, daß „an allen Stationen", die von den Fürsten auf ihrem Strafzug aufgesucht wurden, die „Anführer . . . dem Henker ausgeliefert" worden seien (S. 128 f.), so entspricht das für Zwickau nachweislich nicht den tatsächlichen Gegebenheiten.

47

Vgl. EWALD RANNACHER, Die Strafgeldregister des Bauernkrieges im Vogtland und im Amt Zwickau, 1525-1527, in: Mitteilungen des Vereins für vogtländische Geschichte und Altertumskunde zu Plauen i.V. 43 (1941), S. 7 -

48

Zu Mühlpfordts Aktivitäten nach 1525 vgl. KURANT-NUNN, Zwickau in Transition (wie Anm. 13), bes.

75.

166

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Im folgenden sollen jedoch nicht Mühlpfordts Aktivitäten im Dienste seiner Väterstadt einer neuerlichen Betrachtung unterzogen werden. Vielmehr soll an dieser Stelle ein Aspekt in den Vordergrund gerückt werden, der bislang kaum beachtet wurde: Mühlpfordts Aktivitäten auf wirtschaftlichem Gebiet. Es soll also um die Quellen und den Umfang seines Reichtums gehen, der aufgrund verschiedener Steuerregister aus den Jahren 1496, 1523, 1531 und 1542 sowie diversen anderen Quellen gut dokumentiert ist. Dabei werden auch einige jener „dunklen Seiten in Mühlpfordts Charakter" und dem seiner Familie zur Sprache kommen müssen, die zur Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit des Bürgermeisters, der bislang nur aus seiner anfänglichen Verehrung von Luther heraus beurteilt und bewertet wurde, unabdingbar sind. Auf sie hat in jüngster Zeit vor allem Susan Karant-Nunn aufmerksam gemacht.49 Der zweite Abschnitt befaßt sich mit der Regelung seines Nachlasses und der Aufteilung des Erbes. Da zum Zeitpunkt des Todes des Vaters drei Bünder unmündig und zwei weitere wohl abwesend waren, wurde zunächst ein Nachlaß vereinbart, der erst 1539 - nach Behebung verschiedener Zwistigkeiten - aufgelassen werden konnte. Dieser Prozeß hat seinen Niederschlag in den Quellen gefunden, von denen ein wichtiges Dokument, das der Auflassung von 1539, im Anhang wiedergegeben ist. Es gewährt zugleich Einblick in den Bereich bürgerlicher Sachkultur in Zwickau im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Hermann Mühlpfordt entstammte einem der vornehmsten Zwickauer Bürgergeschlechter, das mit Werther de porta bzw. Werther de porta molendini bereits 1302/03 und 1306/07 oder 1307/08 Ratsherren gestellt hatte.50 Anderthalb Jahrhunderte später, 1457, legte sich Hermann Mühlpfordt, dessen Urenkel und Großvater unseres Hermann, ein eigenes Wappen zu51, das er sich im Mai 1473 von Kaiser Friedrich III. von newen für sich und seine Eheliche Leibes Erben und derer selben Erbens Erben bestätigen ließ 52 . Es zeigt in blauem Schild einen weißen Mühlstein und auf dem Helme mit blau-weißer Decke ein goldenes Tor oder Pforte mit Schließgatter.53 1440/41 wurde dieser unter dem Bürgermeister Oswaldus Kouffman in den Zwickauer Rat gewählt54, dem er von da an über vier Jahrzehnte in verschiedenen Funktionen angehörte:55 so u. a. 1463/64 und 1475/76 als Stadtvogt.56 Zudem soll er „wirklicher kaiserlicher Rat" gewesen sein. S. 153 ff. Einen wichtigen Einblick in Mühlpfordts Vorstellungen gewährt auch sein Verhalten im Streit mit dem Prediger Paul Lindenau. Vgl. hierzu ζ. B. dessen Schreiben an Stephan Roth in Wittenberg vom 15. März 1527, in: WA Br 4 (1933), Nr. 1091: Beilage zum Brief Luthers an Nikolaus Hausmann vom 29. März 1527, S. 181-183.

52

„It is high time for the dark side in Miihlpfort's character to be acknowledged.". KARANT-NUNN, Zwickau in Transition (wie Anm. 13), S. 46. Vgl. StadtA Zwickau: I I I x 1 141b: Codex Statutorum Zwiccaviensium de anno MCCCXLVIII, Bl. 12a (linke Spake). CLEMEN, Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 61. Abschrift des Wappenbriefes vom 8. Mai 1473 in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv (im folgenden ThHStA) Weimar: F 691, fol 301 A -302^. - Der Wappenbrief ist abgedruckt in: Deutsches Geschlechterbuch (Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien), hrsg. v. BERNHARD KOERNER, Bd. 68 (Ostpreußisches Geschlechterbuch Bd. 2), Görlitz 1930, Anhang A, S. 585-587, obige Zitate S. 586 und 587. - Die ebenda, S. 200 Anm. 11 zu lesende Deutung, wonach unter von newen eine Neuverleihung zu verstehen sei, ist abwegig, da das Geschlecht nach Otto Clemen bereits seit 1457 wappenfähig war. Vgl. CLEMEN, Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S.

53

Vgl. auch die Beschreibung des Wappens bei HERZOG, Chronik II, S. 124 und im Deutschen Geschlechterbuch,

49

50

51

61. B d . 6 8 (wie A n m . 52), S ; 1 9 7 .

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Vgl. StadtA Zwickau: A* A I 25 nr. 1: Ratskonfirmationen - Originalurkunde vom 22. September 1440. Vgl. StadtA Zwickau: A* A I 25 nr. 1: Ratskonfirmationen: Urkunden der Jahre 1442 bis 1481. StadtA Zwickau: λ ' Α III 5 nr. 62: O U vom [18.10.] 1463; ebenda: Α* Α III 6 nr. 2: O U vom [15.2.] 1476; ebenda: III x 1 nr. 2: Stadtbuch (1475-80), fol. 35 a vom 18.10. 1475.

Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

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Auch in wirtschaftlicher Hinsicht war Hermann Mühlpfordt überaus regsam und erfolgreich. Sein Reichtum beruhte zunächst vor allem auf der Tuchmacherei, die bereits verlagsmäßig organisiert war 57 und deren Produkte im gesamten mitteldeutschen Raum und darüber hinaus gehandelt wurden. 58 Schon 1419 finden sich deren Tuche in Breslau; 1441 verzeichnet eine Erfurter Geleitstafel Zwickisch tuch; acht Jahre später betreibt Nickel Kalbskopf aus Zwickau einen eigenen Verkaufsstand für Zwickauer Tuche auf der Nördlinger Messe. Die meisten Tuche dürften jedoch nach Pegau und Leipzig gegangen sein, wo sie nach einem Tuchzollregister von 1436 mit etwa 6,5 Prozent an den auf dem Ostermarkt gehandelten Tuche beteiligt waren. 59 Die Familie Mühlpfordt, vertreten durch „Hermann und Mauritius Mölpfort", hatte daran einen Anteil von etwa 30 Tuchen. 60 Als um 1460 das „Berggeschrei" auf dem Schneeberg anhob, war Hermann Mühlpfordt unter den Zwickauern einer der ersten, der auch hier groß einstieg. 61 Nach Theodor Gustav Werner war er sogar einer jener „Männer, die durch den Schneeberger Bergbau reich wurden". 6 2 Freilich konnte sich Hermann Mühlpfordt darin nicht mit jenen Zwickauer Bürgern wie etwa dem Schneeberger Großgewerken, Silberhändler und Amtshauptmann Martin Römer 6 3 oder dem Tuchmacher Hans Federangel 64 messen, die aus ihrer Beteiligung am erzgebirgischen Silberbergbau geradezu märchenhafte Gewinne zogen. Hermann Mühlpfordt besaß nach dem, was hierzu bislang bekannt wurde, nur einige wenige Kuxe. 65 Welchen Ertrag diese hatten und ob sie zu jenen Gruben gehörten, die ausgangs des 15. Jahrhunderts besonders reiche Ausbeute lieferten 66 , bedarf weiterer Untersuchung. Einige Zechen, in die sich auch Zwickauer Bürger eingekauft hatten, warfen zeitweise enorme Gewinne ab. So wurde zur Bergsteuer von 1478 ein Kux in der Alten Fundgrube, der zehn Jahre früher noch für 135 1/2 fl zu haben war, mit 1 600 fl veranschlagt; im Kuxhandel bekam man ihn aber für 3 000 fl! 6 7 Darüber hinaus lieh Hermann Mühlpfordt größere Geldbeträge gegen Zinsen aus 68 und betrieb einen schwunghaften Handel mit Wein und Bier, Vieh und Fleisch, Salz und 57

Vgl. M Ü L L E R , Tuchmacher-Handwerk (wie Anm. 17), S. 2; STEINMÜLLER, Zur Lage (wie Anm. 17), S. 220 ff.; BRÄUER, Zwickau und Martinus Luther (wie Anm. 14), S. 14 f., 63.

58

MÜLLER, T u c h m a c h e r - H a n d w e r k (wie A n m . 17), bes. S. 92.

60

Vgl. G E O R G BUCHWALD, Auf dem Leipziger Tuchmarkt im Jahre 1436, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs 13 (1926), S. 115-136, bes. S. 126 f. Errechnet anhand der Angaben bei BUCHWALD, Leipziger Tuchmarkt (wie Anm. 59), S. 126 f. - Vgl. MÜLLER, T u c h m a c h e r - H a n d w e r k (wie A n m . 17), S. 43 f.

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63

64

65 66

67

68

V g l . HERZOG, C h r o n i k II, S. 131 u n d 139.

Das fremde Kapital im Annaberger Bergbau und Metallhandel des 16. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der Kuxspekulation und der Verhältnisse in anderen erzgebirgischen Bergstädten, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 58 (1937), S. 1-47 und 136-201, Zitat S. 155 f. Über ihn vgl. E[MIL] H E R Z O G , Martin Römer. Ein biographischer Beitrag zur sächsischen Culturgeschichte, in: Mitteilungen des Kgl. Sächsischen Vereins für Erforschung und Erhaltung vaterländischer Geschichtsund Kunstdenkmale, H . 1 4 , Dresden 1 8 6 5 , S . 4 9 - 6 3 ; L A U B E , Studien (wie Anm. 1 8 ) , bes. S. 1 2 6 - 1 3 1 . Über ihn vgl. EIMIL] H E R Z O G , Hanns Federangel. Ein mittelalterliches Lebensbild, in: Archiv für die Sächsische Geschichte, Neue Folge 1 (1875), S. 260-267. LAUBE, Studien (wie Anm. 18), bes. S. 131 f. Vgl. HERZOG, Martin Römer (wie Anm. 62), bes. S. 51 f. Vgl. K A R L H A H N , Die ältesten Schneeberger Zehntrechnungen, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 53 (1932), S. 35-50; LAUBE, Studien (wie Anm. 18), bes. S. 77 ff. Vgl. CHRISTIAN MELTZER, Bergkläufftige Beschreibung der Churfürstl. Löbl. Bergk-Stadt Schneeberg, Schneeberg 1684, S. 715 und 358 f. Laut einem Eintrag in die Kämmereirechnung von 1471 hatte der Leipziger Rat bei einem Herman Molpfortth aus Zwickau ein Darlehen über 1 000 fl. aufgenommen. StadtA Leipzig: Jahreshauptrechnung 1471-1473, Bl. 28 b . Nach Lage der Dinge müßte es sich um den Großvater unseres Hermann M. handeln, der in dieser Zeit rege Geschäftsbeziehungen in die Messestadt hatte. - Im Unterschied dazu sieht K A R L STEINMÜLLER, Zur Lage (wie Anm. 17), S. 224, in ihm bereits den „Vater des zu Müntzers Zeit T H E O D O R GUSTAV W E R N E R ,

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Getreide, das von ihm vor allem ins Erzgebirge geliefert wurde. 69 - Sein Reichtum befähigte ihn zu verschiedenen Stiftungen, unter denen die zugunsten des Helenenaltars in der Marienkirche herausragt, den Hermann Mühlpfordt 1481 mit 400 rheinischen Gulden ausstattete. 70 Zudem war er mit 62 fl an einem „Seelgerät" von mehr als zwanzig Zwickauer Fundgrübnern zugunsten der Stadtarmut beteiligt, dessen Gesamthöhe bei 6.562 fl lag und zu dem außer ihm u. a. Martin Römer 1 000 fl, Hans Federangel 625 fl sowie Hans Stöckart und Peter Schwabe jeweils 500 fl beigesteuert hatten. 71 Hermann Mühlpfordt war verheiratet mit Katharina oder Margaretha Erlocher, einer Tochter des Zwickauer Bürgers Apetz Erlocher. 72 Mit ihr hatte er mindestens drei zu Zwickau geborene Kinder: einen Sohn namens Heinrich; eine Tochter Margarethe, von der kaum mehr als der Name blieb, sowie Hermann, den Erstgeborenen und Vater unseres Hermann Mühlpfordt. 73 Von ihm weiß man, daß er im Sommersemester 1474 in Leipzig studiert hat 74 , aber noch vor 1492 verstorben ist.75 Zu diesem Zeitpunkt war seine Witwe Clara bereits wieder verheiratet, und zwar mit dem reichen Zwickauer Bürger Balthasar Eyring. 1496 versteuerte dieser 2.111 fl; darunter 700 fl für seine unmündigen Stiefkinder Hermann, Moritz und Anna Mühlpfordt. 76 Wichtiger für die Geschichte des Geschlechts war damals freilich Heinrich Mühlpfordt, der Bruder des verstorbenen Vaters und Onkel unseres Hermann Mühlpfordt, der über einen längeren Zeitraum hinweg in Zwickau in hohen städtischen Amtern eine beachtliche politische Rolle spielt. 1493/94 finden wir ihn im regierenden Rat, dem er von da an bis zu seinem Tode am 27. Juni 151677 jeweils in den geraden Jahren angehörte. 78 1512/13 war er

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78

amtierenden Stadtrichters und späteren Bürgermeister Hermann M.", was insofern wenig wahrscheinlich ist, da jener Hermann M., den Steinmüller im Auge hat, erst 1474 ein Studium in Leipzig aufnahm (vgl. Anm. 74), zu diesem Zeitpunkt also noch sehr jung und wirtschaftlich unselbständig gewesen sein dürfte. Vgl. HERZOG, Martin Römer (wie Anm. 63), S. 60 f. Vgl. Deutsches Geschlechterbuch, Bd. 68 (wie Anm. 51), S 201. Vgl. Zwickauer Urkundenbuch, Bd. III (1450-1476), Nr. 594, 8. - Vgl. ferner: StadtA Zwickau: III d nr. 17 d, fol. 6A-7A. Zu diesem Seelgerät vgl. auch HERBERT FRIEDRICH, Das Armen- und Fürsorgewesen in Zwickau bis zur Einführung der Reformation. Ein Beitrag zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Sachsens (Diss.- phil. Leipzig 1934), Würzburg 1934, S. 73 f. Vgl. StadtA Zwickau: III d nr. 14, Kopialbuch II, fol. 32 a -33 a : Bestätigungsurkunde des Bischhofs Dietrich von Naumburg über die Stiftung des Helenenaltars durch Hermann Mühlpfordt vom 5. Dezember 1483. Abdruck in: Zwickauer Urkundenbuch, Bd. IV (1476-1574), Nr. 692 (MS). - Nach HERZOG, Chronik II, S. 856 ist Hermann Mühlpfordt am 1. November 1481 gestorben. Die Angaben in: Deutsches Geschlechterbuch (wie Anm. 52), S. 201, sind dementsprechend zu korrigieren Hinsichtlich der Genealogie, die nicht eindeutig festzulegen ist, folge ich hier den Angaben von CLEMEN, Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 61. Danach ist dieser Hermann M. „unsres Hermanns Vater". Vgl.: Die Matrikel der Universität Leipzig. Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1409-1559, hrsg. von GEORG ERLER (= Codex diplomaticus Saxoniae Regiae, II, XVI), Leipzig 1895, S. 294 Z. 36: Hermannus Mulpfort de Zwickaw 10 [Gr.], Vgl. StadtA Zwickau: III x1: Stadtbuch 1486-1492, fol. 298b: Erbteilung Hermann Mühlpfordts vom Donnerstag nach Erhardi 1492. Vgl. ThHStA Weimar: Reg. Pp 3671, Steuerregister der Stadt Zwickau 1496, fol. 41b (Baltzer Ering). - Von mir benutzt wurde die Abschrift des Steuerregisters in: StadtA Zwickau: A* A II 17, Nr. 23. Das Weimarer Original konnte von mir nicht ermittelt werden. Vgl. StadtA Zwickau: III d nr. 13a: Copialbuch, fol. 125a: Heinrich Mulpfort f 27.6.1516. - Die Angaben im Deutschen Geschlechterbuch (wie Anm. 51), S. 201, wonach Heinrich Mühlpfordt bereits „1512" gestorben sei, sind dementsprechend zu korrigieren. StadtA Zwickau: A* A I 25 nr. 2: Ratskonfirmationen 1466-1500 - OU von 1493/94 bis 1500; ebenda: A* A I 25 nr. 3: Ratskonfirmationen 1501-1525 - OU der Jahre 1501 bis 1516.

Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

169

zudem Schöffe am Stadtgericht 79 ; 1513/14 und 1515/16 Mitglied des Schultheißengerichts. 80 Über seine wirtschaftlichen Verhältnisse gibt uns ein Steuerregister von 149681 Auskunft, das für die Landsteuer von 1495/96 und die gleichzeitige Erhebung des Gemeinen Pfennigs angefertigt worden ist. 82 Danach versteuerte Heinrich Mulpfort ein Vermögen von 1.830 fl, wofür dieser - bei einem Steuersatz von 0,5 Prozent - 9 fl 3 Gr 2 Pf zahlte. 83 Ferner gehörte zu seinem Haushalt eine, mit einem halben Groschen belegte Magd (meidt). 84 Hinzu kamen weitere 12 1/2 Groschen, die Heinrich Mühlpfordt als ein Spitalmeister zu Sand Margrethen fur das Spitalgesinde entrichtete. 85 Für unseren Hermann Mühlpfordt war somit in materieller Hinsicht schon durch das Elternhaus ein fester Grundstein gelegt, den dieser im Laufe seines Lebens durch vielfältige eigene Aktivitäten weiter aufgestockt hat, wozu auch eine standesgemäße Heirat gehörte. So heiratete er „um 1506" 86 in das Geschlecht der Römer ein, dessen bedeutendster Vertreter, Martin Römer, ausgangs des 15. Jh. der reichste Mann Sachsens war. 87 Seine Gattin wurde Anna Römer, mit der Hermann Mühlpfordt zwölf Kinder hatte und die ihn fast auf den Tag genau - Anna starb am 30. August 1550 - um sechzehn Jahre überleben sollte. Anna war eine Tochter des Hans Römer, der wiederum ein Sohn von Niklas Römer war, dem Bruder und Universalerben von Martin Römer dem Reichen. 88 - Was Anna in die Ehe einbrachte, ist nicht bekannt. Angesichts der Tatsache, daß die Witwe des Niklas Römer vor der Teilung des Erbes unter ihre fünf Söhne noch immer mit Abstand das größte Vermögen Zwickaus versteuerte 89 , wird man wohl auch bei ihr von einer beträchtlichen Mitgift 90 ausgehen können. Darüber hinaus trug Hermann Mühlpfordt durch eigene Aktivitäten zur Mehrung seines Vermögens bei, dessen Entwicklung sich aufgrund der günstigen Quellenlage in zwei Phasen einteilen läßt: die Zeit vor der Übernahme des Amts eines regierenden Bürgermeisters der Stadt Zwickau und die Jahre danach. Betrachten wir zunächst die Jahre bis 1522/23, so begegnet uns Hermann Mühlpfordt in dieser Zeit vor allem in seiner Eigenschaft als ein führender Vertreter des Zwickauer

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81 82

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86 87 88

StadtA Zwickau: III b 1 nr. 54 I: Amtsbücher 1503-1516, fol. 113a. StadtA Zwickau: III b 1 nr. 54 I: Amtsbücher 1503-1516, fol. 113' (für 1513/14); fol. 126a (für 1515/ 16). ThHStA Weimar: Reg. Pp. 367 1 : Steuerregister der Stadt Zwickau 1496. - Vgl. Anm. 76. Vgl. E R N S T M Ü L L E R , Türkensteuer und Landsteuer im ernestinischen Sachsen von 1485 bis 1572, Diss.-phil. Jena 1951 (MS), Bl. 5 ff. ThHStA Weimar: Reg. Pp. 367 1 , Steuerregister der Stadt Zwickau 1496, fol. 32 b . Vgl. ebenda, fol. 32 b . Ebenda, fol. 32 b . Zum St. Margarethenspital, dem größten und reichsten Hospital der Stadt, vgl. F R I E D R I C H , Das Armen- und Fürsorgewesen (wie Anm. 71), bes. S. 2 ff.; 10 ff.; 31 ff.; 38 f.; 41 ff.; zum Amt und den Aufgaben eines Vorstehers: S. 24 f. So C L E M E N , Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 61. Vgl. H E R Z O G , Martin Römer (wie Anm. 63), S. 60. Vgl. H E R Z O G , Martin Römer (wie Anm. 6 3 ) , S. 6 2 f. - Vgl. auch L A U B E , Studien (wie Anm. 1 8 ) , S. 1 2 8 Anm. 35.

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Laut Steuerregister von 1496 versteuerte Nickel Römers selige nachgelassene wieweh mit allen yren Funff Sonen die noch vngeteylt seint, 29.634 fl.: ThHStA Weimar: Reg. Pp. 367 1 , (wie Anm. 76), fol. 41 b . Zur Bedeutung einer angemessenen Mitgift für eine standesgemäße Heirat vgl. R I C H A R D VAN D Ü L M E N , Fest der Liebe. Heirat und Ehe in der frühen Neuzeit, in: Armut, Liebe, Ehe. Studien zur historischen Kulturforschung, hrsg. v. R I C H A R D VAN D Ü L M E N , Frankfurt/M. 1988, S. 67-108; DERSELBE, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 1. Band: Das Haus und seine Menschen 16.-18. Jahrhundert, München 1990, bes. S. 138 ff.

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Tuchgewerbes, das zu Beginn des 16. J h . in voller Blüte stand. 9 1 Einige Zahlen mögen das verdeutlichen: So sollen nach E m i l H e r z o g um 1527 etwa 15 000 bis 2 0 0 0 0 Stein, das heißt etwa 3 000 bis 4 0 0 0 Zentner Wolle verarbeitet worden sein, aus denen sich 10 000 bis 12 000 Stück Tuche herstellen ließen. 9 2 Von Michaelis 1525 bis Walpurgis 1526 verrechnete der Wagemeister 36 gute S c h o c k 15 G r 6 Pf 9 3 , was bei einer verbrieften Abgabe von einem Pfennig pro Stein Wolle 9 4 auf etwa 2 6 . 1 0 0 Stein Wolle schließen läßt. 1 5 2 2 / 2 3 hatte der Wagemeister sogar 44 S c h o c k 30 G r abgeführt 9 5 , die bei gleichem Ansatz 32 0 4 0 Stein Wolle oder aber mehr als 20 000 Stück Tuche ergeben würden. H e r m a n n Mühlpfordt war an diesem Ausstoß um 1520 mit mindestens 5 0 Tuchen beteiligt; soviele Tuche durfte laut einer Beschwerdeschrift der Tuchmacher von 1526 9 6 ein jeder der etwa 2 3 5 Meister 9 7 pro Jahr herstellen. Allerdings war mit diesen wenigen Tuchen kein Reichtum zu erzielen, so daß von etlichen Meistern gefordert wurde, diese O b e r g r e n z e wieder aufzuheben. Auch läßt das „ E i n b r e n g e n " erkennen, d a ß einige Meister schon jetzt viel m e h r als diese 50 Tuche zur Tuchschau auf das Gewandhaus und zum E x p o r t brachten. O b H e r m a n n Mühlpfordt zu ihnen gehörte, ließ sich bislang nicht ermitteln. Weit höhere G e w i n n e als die Tucherzeugung versprach in aller Regel der Gewandschnitt und der Tuchexport, der in Zwickau im Unterschied zu anderen deutschen Städten von den Tuchmachern in Personalunion betrieben wurde 9 8 , was diesen zusätzliche Handelsgewinne sicherte. Welchen U m f a n g die E x p o r t e insgesamt und hinsichtlich der einzelnen Tuchhändler hatten, läßt sich den Quellen nicht entnehmen. Gewisse Anhaltspunkte liefern die Kämmereirechnungen und Tuchzollregister des Zwickauer Rates, die allerdings „nur A n gaben über den von Fremden bzw. von Einheimischen im Auftrage fremder Kaufleute besorgten E x p o r t " machen 9 9 , während der Gesamttuchexport in aller Regel weit höher gelegen haben dürfte. So wurden 1 5 1 4 / 1 5 von Fremden bzw. in deren Auftrag 94 Ballen 1 0 0 und 1 5 2 8 / 2 9 72 Ballen Tuch von hynnen wegk gefurt]m. 1 5 3 4 / 3 5 , im Todesjahr von H e r mann Mühlpfordt, waren es 87 Ballen. 1 0 2 1 5 2 2 / 2 3 kamen an Tuchtzoll 11 S c h o c k 38 G r ein. 1 0 3 D a pro Ballen 6 G r zu zahlen waren 1 0 4 , läßt diese Abgabe auf einen E x p o r t von 116 Ballen Tuch schließen. Folgt man den Zahlen bei Karl Steinmüller, wonach in der ersten Hälfte des 16. J h . im Durchschnitt ein Exporttuch etwa 10 fl und ein Ballen zu 24 Tuchen 91

92 93 94

95 96

Vgl. MÜLLER, Tuchmacher-Handwerk (wie Anm. 17), bes. S. 107 ff.; BRAUER, Zwickau und Martinus Luther (wie Anm. 14), S. 14. HERZOG, Chronik II, S. 149 Anm.**. StadtA Zwickau: Ratsrechnung 1525/26, fol. 34 a : Aus der wagen Gefallen. StadtA Zwickau: Ratsrechnung 1526/27, fol. 17a. Vgl. MÜLLER, Tuchmacher-Handwerk (wie Anm. 17), S. 55 mit Anm. 9, wonach ein Stein Wolle etwa 22 Pfund wog. StadtA Zwickau: Ratsrechnung 1522/23, fol. 9 b . Vgl. StadtA Zwickau: X 4 9 123: Einbrengen der Tuchmacher widder die Ztalh, Tuchmacherßr die Ztalh, bes. fol.

97

12a;

13a. -

V g l . a u c h MÜLLER, T u c h m a c h e r - H a n d w e r k

(wie A n m .

1 7 ) , S. 4 6 f; BRÄUER,

Zwickau und Martinus Luther (wie Anm. 14), S. 2. Vgl. die Angaben zum Jahre 1542 bei MÜLLER, Tuchmacher-Handwerk (wie Anm. 17), S. 114-116: Tabelle

1.

98

V g l . MÜLLER, T u c h m a c h e r - H a n d w e r k ( w i e A n m . 17), S. 6 .

99

KARL STEINMÜLLER, Die Chemnitzer Familie Neefe und ihre Beziehungen zur Zwickauer Tuchmacherei. Ein Beitrag zur Geschichte des Fernhandels im 16. Jh., in: Beiträge zur Heimatgeschichte von Karl-MarxStadt 4 (1955), S. 77-112; Zitat S. 87 Anm. 14.

100

V g l . MÜLLER T u c h m a c h e r - H a n d w e r k ( w i e A n m . 1 7 ) , S. 1 0 8 .

101

StadtA Zwickau: Ratsrechnung 1528/29, Nr. 1, fol. 29A. Vgl. auch BRÄUER, Zwickau und Martinus Luther (wie Anm. 1 4 ) , S. 1 4 .

102

MÜLLER, T u c h m a c h e r - H a n d w e r k ( w i e A n m . 1 7 ) , S . 1 0 8 .

103

StadtA Zwickau: Ratsrechnung 1522/23, fol. 9 a : Tuchtzoll. Vgl. ebenda, fol. 9 a .

104

Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

171

etwa 240 fl hielt 105 , dann gewinnt man eine gewisse Vorstellung von dem ökonomischen Wert, der hinter diesem Teil des Exports stand. 1 5 1 4 / 1 5 belief er sich auf etwa 22.560 fl, 1522/23 auf 27 840 fl und 1 5 2 8 / 2 9 auf 17 280 fl! - Auch Hermann Mühlpfordt hat die umliegenden Märkte mit seinen Tuchen und anderen Waren aufgesucht, wobei er vor allem auf denen zu Naumburg und Leipzig regelmäßig anzutreffen war.' 0 6 Als Rückfracht kommt neben nicht verkauften Tuchen und solchen anderer Qualität sowie vielen anderen Produkten immer wieder Wein vor, der auf dem Leipziger Michaelismarkt geordert und oft nach Schneeberg weitergeleitet wurde, wo sich damals ein Schwerpunkt für den Umschlag von Wein befunden haben muß. 1 0 7 Große Profite versprach auch der Handel mit Wolle, die das Zwickauer Tuchgewerbe in der ersten Hälfte des 16. Jh. vor allem von verschiedenen Adelsschäfereien um Altenburg und Naumburg sowie aus Thüringen bezog 1 0 8 , wo die Schafhaltung unter dem Eindruck wachsender Nachfrage auf den Gütern des Adels und in einzelnen Ämtern - speziell im Amt Arnshaugk/Triptis - sprunghaft wuchs. 1 0 9 Für Mühlpfordt selbst konnte bislang nur ein derartiger Handel über 13 Stein 19 Pfund Wolle nachgewiesen werden, bei dem es auch um die Herstellung von Tuchen ging. 110 Außerdem wurden in Mühlpfordts Haus regelmäßig größere Mengen Bier gebraut, das in einem eigens für diesen Zweck angelegten Bierkeller gekühlt und gelagert wurde, der sich jenseits der „Bierbrücke" befand 111 , und den er 1523 mitversteuert hat. 1514, einem besonders guten Braujahr, sollen von den etwa 273 brauberechtigten Bürgern Zwickaus 777 Gebräude oder umgerechnet mehr als 50 000 Hektoliter Bier gebraut worden sein 112 , die sich im übrigen nur dadurch absetzen ließen, weil der Rat über etwa 30 Dörfer im Umland der Stadt den Bierbann ausübte, wobei gegen fremde Konkurrenz

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STEINMÜLLER, Familie Neefe (wie Anm. 97), S. 87 f. Diese Transporte zu und von den Messen und Märkten in Leipzig und Naumburg liefen jeweils über Altenburg und Borna und haben ihren Niederschlag in den Registern der Geleite dieser beiden Orte gefunden. Sie sind Jahr für Jahr so umfangreich, daß von mir für diese Studie nur die der Jahre 1510/11, 1524-26 und 1530/31 stichprobenartig durchgesehen werden konnten. ThHStA Weimar: Reg. Cc 420; 421; 431; 432; 440; 441 und Reg. Bb 351 für das Geleit Altenburg und Reg. Bb 654; 655; 656; 677 und 684 für das Geleit Borna. Zur Bedeutung der Geleite zu Altenburg und Borna für den Warenverkehr von und nach Zwickau vgl. generell: M A N F R E D S T R A U B E , Zum überregionalen und regionalen Warenverkehr im Thüringisch-sächsischen Raum, vornehmlich in der ersten Hälfte des 16. Jh., Diss.-phil. B, Leipzig 1981 (MS), bes. S. 281 ff.; 292 ff.; 305 ff. - Zur speziellen Bedeutung Zwickaus als Umschlagplatz für den Osthandel vgl. jetzt auch: M A N F R E D S T R A U B E , Mitteldeutsche Städte und der Osthandel zu Beginn der frühen Neuzeit. Forschungsergebnisse, Forschungsmöglichkeiten, Forschungsnotwendigkeiten, in: Stadt und Handel, hrsg. von B E R N H A R D K I R C H G Ä S S N E R und H A N S - P E T E R B E C H T (Stadt in der Geschichte. Veröff. des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, 22), Sigmaringen 1995, S. 83-106.

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Auch der Zwickauer Rat hat regelmäßig große Mengen Wein aus Leipzig und anderen Gegenden holen lassen. 1527/28 zum Beispiel wurden für den Ankauf von Saale-, Rhein- und Frankenwein sowie Kötzschenbrodaer und böhmischen Wein 1.085 Schock ausgegeben! StadtA Zwickau: Weinrechnung 1527/28. Zu den Weinkäufen des Zwickauer Rats in Leipzig vgl. auch HOFMANN, Bilder aus einer sächsischen Stadt (wie Anm. 19), S. 43.

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Zur Herkunft der in Zwickau verarbeiteten Wolle vgl. MÜLLER, Tuchmacher-Handwerk (wie Anm. 17), S. 54 ff. Vgl. hierzu zuletzt: A N T J E B A U E R , Schafhaltung und Wollproduktion in Thüringen im 16. Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften 3:666), Frankfurt/M. u. a. 1995, bes. S. 39-54. - Zur Beschaffung der Wolle vgl. allgemein: K A R L H E I N Z BLASCHKE, Wollerzeugung und Wollhandel im östlichen Mitteldeutschland bis 1700, in: La lana come materia prima, Fiorenze 1974, S. 67-74. StadtA Zwickau: III x 1 , 10: Stadtbuch 1507-1510, fol. 50 1 . Zur Lage der Bierkeller jenseits der Mulde. HERZOG, Chronik I, S. 252. - 1 Gebräude = 72 Scheffel ä 103,985 Liter = 74,86 Hektoliter.

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V g l . HERZOG, C h r o n i k I I , S. 2 1 3 .

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rigoros vorgegangen wurde. 1 1 3 Eine weitere wesentliche Quelle seines Reichtums bildete sein Kuxbesitz, über dessen Ertrag (Ausbeute, Zubuße) bislang aber keine Erkenntnisse vorliegen. Bekannt ist nur, daß H e r m a n n Mühlpfordt vor allem im Schneeberger Revier aktiv war, wo der Familie noch später mehrere Bergteile gehörten. D o c h sind gerade zu diesem Punkt weitere Untersuchungen notwendig, zumal Kuxe nicht in Mühlpfordts Steuerregistern auftauchen, so daß ihr U m f a n g und Wert sich nicht bemessen läßt. 1 1 4 Infolge dieser verschiedenen Aktivitäten wuchs Mühlpfordts Vermögen bis Anfang der zwanziger Jahre auf 800 S c h o c k bzw. 2 . 4 0 0 fl 1 1 5 an, womit er zusammen mit Wolff Jacof, der 2 150 fl versteuerte 1 1 6 , schon damals mit Abstand der reichste Ratsherr war. I m September 1521 wird H e r m a n n Mühlpfordt zum Bürgermeister gekürt; am 19. September bestätigt der Landesherr seine Wahl. Zehn Jahre später, 1531, ist die nächste Türkensteuer fällig, die für Mühlpfordt mit 3 342 Vi S c h o c k bzw. 9 . 5 5 0 Gulden einen rasanten Anstieg seiner Vermögenswerte ausweist! 1 1 7 W i e ist dieser zustandegekommen? D i e Ü b e r n a h m e der neuen Funktion allein hatte daran den geringsten Anteil. Mitglied des Rates oder gar Bürgermeister zu sein, war eine Sache der Ehre, die die in der Regel 24 Mitglieder des alten und neuen Rats von den städtischen Abgaben wie Wach-, Graben-, Hirten-, Markt- und Heerfahrtsgelde befreite und für das seit 1494 als eine Art Aufwandsentschädigung der Stadtvogt sieben S c h o c k und der Bürgermeister fünf S c h o c k erhielten. 1 1 8 Zwar wurden zu dieser „Versoldung" wegen gewachsener M ü h e n im Amtsjahr 1 5 2 4 / 2 5 11 Vi S c h o c k zugelegt, sodaß hinfuro Eyn Regirender burgermeister jherlichen l[50]

fl vnd beyn alter burgermeister mit den dreyen schocken eynes Schopffensoldes zwentzigk fl bekamen. 1 1 9 D o c h diente diese Anhebung der Bezüge eher dazu, den M i ß b r a u c h mit den collationes vnd zechen v f f dem Radthaws, den Festschmäusen und Trinkgelagen zulasten der Stadtkasse, abzustellen, denen die Herren des Rats seit langem über G e b ü h r zugetan waren. 1 2 0 Reichtümer waren damit nicht zu gewinnen. Woraus erklärt sich aber dann der rasante Anstieg von Mühlpfordts Vermögens in diesem einen Jahrzehnt? Zum einen sicher aus der Herstellung und dem großflächigen Handel mit Tuchen, den Mühlpfordt auch als Bürgermeister uneingeschränkt fortsetzte, zumal die K o n j u n k t u r gut und die Nachfrage nach Zwickauer Tuchen ungebrochen war. U m ihn abzuwickeln, beschäftigte er einen eigenen schiermeister, von dem es 1531 heißt: dient auff ν fl)2X M i t ihm zusammen belieferte Mühlpfordt in H i n - und R ü c k f r a c h t die umliegenden Märkte (Naumburg, Leipzig; Erfurt; Breslau) sowie die Bergstädte mit Tuchen und anderen Handelsgütern. Faßbar sind außer diesen regelmäßigen Tuchtransporten auch erhebliche Getreidefuhren. 1525 war Mühlpfordt mit mindestens 5 Fuhren an den insgesamt 314 Getreidefuhren beteiligt, die in der Zeit vom 30. April bis zum 18. N o v e m -

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Zum Kuxbesitz des Hermann Mühlpfordt im Schneeberger Revier vgl. u. a.: Bergarchiv Freiberg: Verleihbuch Schneeberg 1530-1533, Bl. 46 b ; Receßbuch Bergamt Schneeberg Nr. 272 b (1516-1533) und Nr. 272 a (1511-1537). - Laut frdl. Mitteilung von Herrn Kaden, Bergarchiv Freiberg, vom 19. 3. 1996. ThHStA Weimar: Reg. Pp 368 2 j t : Vorzeichnus der ligenden gründen vnd gutter Im Weichbilde der Stadt Zwickau Wirderung etc., Bl. 23a : Burgermaister Mulpfort - Haws Hoff Ecker wisen Scheven garten vnd keler - facet. 840 β [-2 400 fl], Vgl. ebenda, fol. 33a. - Vgl. K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (wie Anm. 13), S. 49 Table 2. StadtA Zwickau: A A II 17, Nr. 19a [wie Anhang 1], fol. 62a. Vgl. auch: K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (wie Anm. 13), S. 50 Table 3. Vgl. H E R Z O G , Chronik II, S. 156. Vgl. B R O D , Rat und Beamte (wie Anm. 4), S. 8 f. StadtA Zwickau: Ratsrechnung 1524/25, fol. 86 (alte Seitenzählung). Y G ] H O F M A N N , Bilder aus einer sächsischen Stadt (wie Anm. 1 9 ) , S. 4 5 . Stadt Α Zwickau: A* A II 17, Nr. 19a [wie Anhang 1), fol. 62a.

Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

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ber 1525 das Geleit Altenburg via Zwickau passierten 122 und die offenbar mit den Strafgeldzahlungen der Bauern nach der Niederlage von 1525 zusammenhingen. 123 Ein Teil dieser Frachten scheint alsbald von Zwickau ins Erzgebirge weitergeleitet worden zu sein, denn auch in diese Richtung ergibt sich in dieser Zeit eine Häufung an entsprechenden Transporten. 124 Da die mit Strafgeldern belegten Bauern um Altenburg und Borna ihr Getreide zu recht moderaten Preisen abgeben mußten 125 , wohnte den Transporten ein beträchtliches Profitpotential inne, das sich Hermann Mühlpfordt nicht entgehen ließ. Der Handel mit Getreide scheint vor und nach 1525 überhaupt eine wichtige Säule seines Geschäftsgebahrens gewesen zu sein, wie auch die „Auflassung" von 1539 erkennen läßt. In ihr ist von 247 Scheffel Korn v f f m kornhause die Rede, von denen 100 Scheffel dem Kurfürsten bzw. ins Amt Altenburg gehörten, welche Er burgermeister Mulpfortt seyliger alda geporget, vnnd vnbetzalt fliehen, die man aber zu 36 Gr pro Scheffel hätte bezahlen müssen. 126 Das verbleibende Korn wurde, da es ser schadhafft gewesen, für 190 1/2 fl, den Scheffel zu 23 Gr gerechnet, an die Schneeberger Mühle verkauft. 127 Bemerkenswerte Geschäfte hat Hermann Mühlpfordt in dieser Zeit auch mit Vieh getätigt. Anfang Oktober 1530 treibt er eine Herde von 70 Ochsen durch das Geleit Altenburg nach Zwickau und war damit neben Michael von Mila der bedeutendste Großviehhändler der Stadt.128 Ein weiteres Indiz für Mühlpfordts ungebrochene Handelstätigkeit liefert der Umfang seines Kapitaleinsatzes im Handel selbst (Handelgeld), den er 1531, hindan geschätzt alle böse schuldt, also unter Abzug der Verbindlichkeiten, auf 280 Schock bzw. 800 Gulden veranschlagte. 129 Einen erheblichen Teil der auf diesem Wege gewonnenen Gelder legte er wiederum im Tuchgewerbe, und damit im produktiven Bereich an: So hatte er zu Beginn der dreißiger Jahre in seine im Burglehen gelegenen Färbhäuser 600 Gulden investiert. 130 Diese Häuser, die es in Zwickau seit Mitte des 15. Jh. gab, lagen an der Mulde vor der Stadt zwischen der Bier und der Tränkbrücke 131 , dienten dem Färben und Veredeln der Tuche und sicherten ihren Inhabern bzw. Betreibern regelmäßige Einkünfte an Faß- und Kesselgeldern. 132 Sie lagen umso höher, je mehr Tuche gefärbt wurden, waren also abhängig vom Stand der Tuchkonjunktur. - Ungebrochen war über 1522 hinaus auch Mühlpfordts Vertrauen in die Ergiebigkeit der erzgebirgischen Silbergruben, in denen die Familie um 1538 122 123

ThHStA Weimar: Reg. Cc 432: Geleitsregister Altenburg 1525, fol. 2 a -139 b . Vgl. MANFRED STRAUBE, Über Getreidehandel und bäuerliche Strafgelder 1525/26 in den kursächsischen Ämtern Altenburg und Borna, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 5 (1975), S. 92-109 bes. S. 100 ff.

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V g l . STRAUBE, W a r e n v e r k e h r ( w i e A n m . 106), b e s . S. 3 0 5 ff.

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Um 1525 kostete in Altenburg ein Scheffel Korn (ca. 146,56 Liter) je nach Qualität zwischen 10 und 15 Gr, in Zwickau (ca. 139 % Liter) etwa 15 Gr und in Annaberg und Schneeberg 15 bis 18 Gr. Vgl. STRAUBE, Getreidehandel (wie Anm. 123), S. 99; KARANT-NUNN, Zwickau in Transition (wie Anm. 13), S. 66 f.; MAX RAU, Z w i c k a u e r B ä c k e r l e b e n i m 16. J a h r h u n d e r t , i n : A l t - Z w i c k a u 9 ( 1 9 2 4 ) , S. 3 3 - 3 5 ; 10 ( 1 9 2 4 ) , S. 3 7 38.

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StadtA Zwickau: III x 1 113: Unmündiger Kinderbuch 1536-1540 [wie Anhang 2], fol. 146 a " b . 127 Ebenda, fol. 146b. Vgl. auch ThHStA Weimar: Reg. Bb 351: Rechnung des Amtes Altenburg 1530/31, fol. 87 b . 128 ThHStA Weimar: Reg Cc 441: Geleitsrechnung Altenburg 1530, fol. 110b vom Freitag nach Michaelis [30. Sept.], 129 StadtA Zwickau: A* A II 17, N r . 19a [wie Anhang 1], fol. 62": Schätzt sein handelgeldt, hindan geschätzt alle böse schuldt, auff 280 ß. 130 Vgl. ebenda, fol. 62a: Die ferbheuser im burgklehen gelegen, dieweil sie inns ampt nicht verschätzt, sind auff vic fl gewirdert, facet. 210 β. 131 Zu Alter, Lage und Wert der Zwickauer Färbehäuser vgl. MÜLLER, Tuchmacher-Handwerk (wie Anm. 17), S. 35 ff. und 83, der seine Angaben jedoch vor allem aus Herzogs Chronik bezieht und Mühlpfordts Anteile nicht erwähnt. 132

V g l . MÜLLER, T u c h m a c h e r - H a n d w e r k ( w i e A n m . 17), S. 4 0 .

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noch fünf, nicht näher spezifizierte Kuxe hielt, so daß deren Ertrag im Dunkeln bleibt. 1539 werden diese funffkuckes im Einvernehmen aller Beteiligten von der Teilung des Erbes ausgeklammert und Hermann Mühlpfordt d. J. übereignet. 133 Darüber hinaus hat sich Hermann Mühlpfordt ab 1522 verstärkt Kreditgeschäften zugewandt, die ihm in dieser Form und in diesem Umfang wohl erst jetzt möglich und zugänglich waren. Näheren Einblick gewährt wiederum das Türkensteuerregister von 1531. Danach hatte Mühlpfordt 3 500 fl. bey vnserm gnedigsten herrn dem Churfursten zu Sachsenn [zu] stehen, die ihm bei einem Zinsfuß von fünf Prozent jährliche Einnahmen in Höhe von 175 fl eintrugen. 134 Hinzu kam eine Hauptsumme über 200 fl, die der Zwickauer Bürger Hans Braun bei ihm aufgenommen hatte. Eine weitere Säule seines wachsenden Vermögens bildete der gezielte Erwerb von Grundbesitz, der unter den gegebenen Umständen, das heißt den hohen Steigerungsraten im Wert der landwirtschaftlichen Nutzflächen und den steigenden Preisen für Lebensmittel135 zur Versorgung der stark wachsenden Stadtbevölkerung besonders hohe Gewinne versprach. Das gilt vor allem für die Gärten im Stadtfeld, von denen anzunehmen ist, daß sie bevorzugt der Versorgung der Bürger mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen dienten und daher auch gut gepflegt und gedüngt wurden, was wiederum ihren Wert erhöhte. Anfang der dreißiger Jahre hatte Hermann Mühlpfordt in diesem Bereich mit l.2071/2 Schock bzw. 3.450 Gulden circa 36,13 Prozent seines Gesamtvermögens festgelegt.136 Im einzelnen handelte es sich um einen großen Garten und eine große Wiese im Werte von 210 ß (600 fl) bzw. 105 ß (300 fl); diverse Äcker des Hospitals und der Filberin im Werte von 175 ß bzw. 500 Gulden sowie die Äcker und Wiesen der Tzopenheckin im Werte von 122 Vi ß bzw. 350 fl. Ferner betrieb Hermann Mühlpfordt jenseits der Bierbrücke ein „Vorwerk", zu dem der bereits oben erwähnte Bierkeller und mehrere Äcker im Werte von 315 ß bzw. 900 fl gehörten. Außer diesen hatte er noch Lehnsäcker unter dem Amt, die sampt den schewnen 280 Schock bzw. 800 Gulden hielten. Im Unterschied zu diesem erheblichen Grundbesitz im Umland der Stadt und auch im Gegensatz zu anderen Zwickauer Bürgern scheint Hermann Mühlpfordt innerhalb der Mauern nur ein Haus besessen zu haben, das 1531 mit 350 ß gleich 1 000 fl veranschlagt war.137 Zum Vergleich: Um 1500 hatte der Wert dieses Hauses noch bei etwa 500 fl gelegen; 1538 geht es bereits mit 1.200 fl in die Erbteilung ein. Wie Hermann Mühlpfordt im einzelnen an seine Güter gelangte, kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Klar ist, daß er sich dabei sein Insiderwissen als Stadtvogt und Bürgermeister zunutze machte. So hat Mühlpfordt mehrfach Wiesen und Äcker von Personen gekauft, deren Familien im Laufe weniger Jahre einen dramatischen Vermögensverfall erlebten oder sich anderweitig in einer Notlage befanden, die sie zum Verkauf zwang. Als Beispiel sei auf den Erwerb der Äcker und Wiesen der Tschopenbeckin und der Vilberinm verwiesen, die beide nach dem Tod ihrer Männer in Not geraten waren. Deut133 134 135

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StadtA Zwickau: III x 1 113: Unmündiger Kinderbuch 1536-1540 [wie Anhang 2], fol. 144 a - b ; 154". Vgl. StadtA Zwickau A*A II 17, N r . 19a [wie Anhang 1], fol. 62 a . Zu Löhnen und Preisen in Zwickau vgl. die Angaben bei: O T T O LANGER, Zwickauer Lohntaxen aus dem 16. Jh., in: Mitt Zwickau 8 (1905), S. 22-39 und bei K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (wie Anm. 17), bes. S. 66 ff. mit den Tabb. 6,7 und 8. - Vgl. hierzu auch Luthers Brief an Spalatin vom 24. April 1531, in dem er auf die sehr hohen Kosten für Nahrungsmittel in der Stadt infolge einer Teuerung hinweist. WA Br 6 (1935), N r . 1808, S. 83. Alle Angaben nach: StadtA Zwickau: A* A II 17, N r . 19» [wie Anhang 1], fol. 62a. Vgl. ebenda. Bei ihr dürfte es sich um Margareta Vilberin gehandelt haben, die in den Quellen jener Jahre öfter vorkommt. 1542 versteuerte sie Haus und Hoff im Werte von 100 fl. Ferner gehörten zu ihrem Haushalt

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lieh wird aus den vorhandenen Quellen aber auch die besondere Zähigkeit und Unverfrorenheit, mit der Mühlpfordt und seine N a c h k o m m e n den Nießbrauch der Güter betrieben; selbst jener, w o ihre Rechtsansprüche vage waren. Symptomatisch hierfür war der Streit um Der Römer wiesen, so die Mulpfortten zu sich bracht, auf den zurückzukommen ist. Ein weiterer Kritikpunkt, der allerdings erst nach dem Ableben Mühlpfordts deutlich artikuliert wurde, war sein wohl recht freier U m g a n g mit den ihm anvertrauten städtischen Finanzen, von dem die Kunde bis nach Wittenberg dran. 139 Ziemlich merkwürdig verlief zeitweise auch das Ringen Mühlpfordts und seiner Erben um das 1483 gestiftete Familienlehen, das diese für sich reklamierten, sowie hinsichtlich einer Stiftung der Familien Lasan und Funckel, deren Einkünfte unter Umgehung der Stiftungsmodalitäten dem Gemeinen Kasten zugewiesen werden sollten. Schließlich wurde unter Vermittlung Luthers vom Kurfürsten eine Entscheidung herbeigeführt. Sie bewirkte, daß die Stiftung in zwei Stipendien der Familie Lasan verwandelt wurde und dadurch erhalten blieb. 140 A m 25. August 1534 stirbt nach kurzer Krankheit Hermann Mühlpfordt der Ältere. 141 Tags darauf wird er zu Grabe getragen. Er hinterläßt außer seinen zwei erwachsenen Söhnen Hermann und Paul sowie der Tochter Anna, die 1533 den Ratsherrn Franz Funckel geheiratet hatte 142 , drei unmündige Kinder Wolf, Marie und David, so daß das Erbe nicht sogleich vollstreckt werden kann. Da zum Zeitpunkt des Todes des Vaters auch die beiden ältesten Söhne abwesend sind - Hermann schlägt sich nach seinen „Werdauer Eskapaden" wohl gerade in Ungarn; Paul, „ein wüster gewalttätiger Mensch" 143 , soll wegen Renitenz gegenüber dem Rat kurz vor dem Tode des Vaters der Stadt verwiesen worden sein - wurde

der Tuchmacher Peter Merten (3 Gr), eine Dienstmagd (1 Gr.) und eine kemmerin. Vgl. StadtA Zwickau: A A II 16 Nr. 1: Die bewilligte hulff zw widerstandt des Turkens. 1542, fol. 22*. 139 Vgl. Zur Wittenberger Stadt- und Universitätsgeschichte in der Reformationszeit. Briefe aus Wittenberg an M . Stephan Roth in Zwickau, hrsg. v. G E O R G BUCHWALD, Leipzig 1 8 9 3 , Nr. 1 7 5 vom 1. Sept. 1 5 3 9 . 140 Vgl. PAUL FLADE, Luther und Oswald Lasan aus Zwickau. Ein Beitrag aus Sachsens Reformationszeit, in: Beiträge zur Sächsischen Kirchengeschichte 24 (1910), S. 77-92, bes. S. 78 ff., 89 f. 141 Vgl. StadtA Zwickau: III d Nr. 13»: Copialbuch, fol. CXXV»: Herman Mhlpffmdtt An" Χ>». Obiit Consul, 25. Augusti tertia post Bart[holom]ej Hora pomeridiana sexta Anno 34. Vgl. auch das in der RSB Zwickau befindliche und mit zahlreichen Randbemerkungen von der Hand Peter Schumanns des Jüngeren versehene Calendarium Historicvm, Das ist Ein allgemein Calender/in welchem vff ein jeden tag durchs gantze ]ar/eine namhaffte Geschieht oder Historienjaus heiliger Schrifft vnd sonsten/so sich voriger oder neulicher zeit hin vnd wider in der Welt zugetragen/kurtzlich vermeldet vnd gezeigt wird: Vor xxx Jaren in das Latein zusammen getragen/von dem Ehrwirdigen Herrn Paulo Ehero der heiligen schrifft D. Jtzt aber von seinen So nen/dem gemeinen Vaterland zum besten verdeutschet/und mit vielen newen Historien vermehret worden. Witteberg/1582, Bl. 3362. Ebenda, Bl. 3782 mit weiteren Angaben zur Ratswahl von 1534. Auch die Bestätigung des neuen Rats durch den Kurfürsten vom 6. Sept. 1534 gedenkt auf besondere Weise des Todes der beiden Altbürgermeister Mühlpfordt und Magister Laurentius Bärensprung, der bereits am 20. April 1533 verstorben war. - Vgl. auch H E R Z O G , Chronik II, S. 240. 142 Vgl. C L E M E N , Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 61. 143 H E R Z O G , Chronik II, S. 240 Anm.*. Vgl. auch C L E M E N , Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 61. - Dieser Paul Mühlpfordt scheint in der Tat ein „wüster gewalttätiger Mensch" gewesen zu sein. 1531 bleibt er zusammen mit seinem Bruder Hermann, hier als Herman Miilpfort der Jüngere bezeichnet, die Türkensteuer schuldig [Vgl. StadtA Zwickau: A A I 17 nr 19a: Verzeichnis der anlage zur ersten frist [wie Anhang 1], fol. 128»; 130a; 132b und 133b]. 1537 ist ein Paul Mülpfortt in eine Messerstecherei mit Hans Bucher verwickelt und verletzt ihn dabei so schwer, daß dieser eine Woche später stirbt. Mühlpfordt scheint daraufhin die Stadt verlassen zu haben, denn einige Zeit später gewährt ihm der Rat freies Geleit für vierzehn Tage, damit er mit den Hinterbliebenen die Sache ins Reine bringen kann [Vgl. StadtA Zwickau: IIIX 64» - Ratsprotokolle 1536-38; 1537, fol. 38b: Sitzung vom Sonnabend nach Pfingsten

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erst einige Monate später der Nachlaß aufgezeichnet. Fünf Jahre später, am 9. August 1539, wird dieser aufgelassen und das Erbe verteilt. Die Jahre dazwischen sind angefüllt mit Zwistigkeiten und einem Gezerre um die Güter, so daß sich der Rat gleich mehrfach damit befassen muß. Erstmals geschieht das Ende 1534, als der Rat bezüglich des Bürger[meis]ter Mühlpforttens schuld folgendes festlegt: Sol den erben furgebalten werden vnd trachten das dieselhige zum förderlichsten eingebracht werde.144 Mitte Februar 1535 befaßt sich der Rat mit dem Nachlaß des Bürgermeisters, der schleunigst in ein Inventar zu bringen sei, um Unterschleif zu vermeiden. Die Familie Mühlpfordt, vertreten durch Paul Mühlpfordt, Franz Funckel als Ehemann von Anna Mühlpfordt sowie Hans Hausmann und Hans Braun als Vormunde von Mühlpfordts unmündigen Kindern, willigt ein, für den Fall, daß etwas von den irmentirten guttem vnd fahrender habe vorkaufft wurde odder vmbkheme, das die erben vnd derselbigen Vormunden bürge vnd gutk dafür sein wölten.145 Im Anschluß daran gibt es Streit um den Röhrwasseranschluß des Mühlpfordtschen Hauses, den man offenbar bislang kostenlos genutzt hatte. Der Rat ordnet an, daß die Leitung zukünftig nur noch laufen soll, wenn die Familie die fälligen Zinsen entrichtet.146 Einige Monate später beschwert sich Mühlpfordts Witwe beim Rat darüber, daß sie der furmundschafft halben vbel versehen sei.147 Besondere Schärfe haben die Auseinandersetzungen um verschiedene Wiesen, in die sich Martin und Wolf Römer sowie die Familie Mühlpfordt je zur Hälfte geteilt hatten, für die aber letztere wohl weder die Lehen empfangen noch seit Jahren Steuern abgeführt hatten. Sie kulminieren auf einer Ratssitzung vom Frühjahr 1536, deren Protokoll hier im Wortlaut wiedergegeben sei, da es etwas von der Dramatik jener Sitzung verrät: Der Römer wiesen, so die Mülpfortten zu sich bracht: Dieweil der Bürg[ermeis]ter Mülpfordt durch ein vorteil vndm betrugkw der Römer wiesen, vom gemeynem gut, zu sich bracht hat, vnd nach nicht im leben empfangen, so sol den Mülpfortten angesagt werden, das sie der wiesen müssig gehen vnd dem Radth widderumb einrewmen sollen. Mit dem gelde so die Mülpfortten dorumb gegeben, vnd was die abnutzung der sechs Jare gewesen vnd dem gemeynen gut entzogen, sol nach gelegenheit gehandelt werden. Vnd im falle, wo die Mülpfortte sich des wegern wolten, so sol dieser handel an vnsern gnedigsten herrn gelangen, seiner Churffürstlichen] gfnaden] erkentnis darüber zuleiden etc. Folgende aber sol mit Merten Römer zur Steinpleis vnd seinem bruder Wolffen zu Marienthal, auch mit Mauritzen Römer dem Berkman, vmb die wiesen gehandelt werden, das sie der Radth erblich zum gemeynen gut bringen möchte etc. Als diese sache dem Paul Mülpfortten heutdis tages angezeigt, hat der Burgfermeisjter Lasan dieser wort gebraucht. Nachdem ewer vater diese wiesen nicht mit einem gar gutten titel an sich bracht hat etc.150 Offenbar taten Lasans klare Worte ihre Wirkung, denn wenig später erschienen die beiden Römer vor

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(26. Mai) 1537] Wenig später erhält er gegen Zahlung von acht guten Schock bzw. rund 23 fl, von denen ihm einer sogar wieder erlassen wird, einen abtrag der begangenen Mordthat an Hansen Puchern seligen [Vgl. ebenda, fol. 42 a : Ratssitzung vom Mittwoch nach dem achten Tag Bonifacii (13. Juni) 1537] und kann damit wieder als unbescholtener Bürger gelten. Vgl. auch K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (wie Anm. 13), S. 226, die in diesem Paul M. den „brother of the Reformation burgomaster" erblickt. Da in der fraglichen Zeit in den Zwickauer Quellen kein anderer Paul Mühlpfordt auftritt, dürfte es sich auch hierbei um Mühlpfordts älteren Sohn gehandelt haben. StadtA Zwickau: Ratsprotokolle 1534-36; 1534, fol. 3 b . Ebenda, 1535, fol. 33°: Sitzung vom Mittwoch nach Invocavit [17. Februar] 1535. StadtA Zwickau: Ratsprotokolle 1534-1536,1535, fol. 351"13: Sitzung vom Montag nach Oculi [1. März] 1535. Ratsprotokolle 1536-1538, 1537, fol. 50^: Sitzung vom Samstag nach Laurentii [11. August] 1537. Die Worte vorteil vnd sind übergeschrieben, vnd wurde aber wieder gestrichen. Wort durch starke Striche unkenntlich gemacht, aber zweifelsfrei zu entziffern. StadtA Zwickau: Ratsprotokolle 1534-1536; 1536, fol. 41a"'): Sitzung vom Sonnabend nach Reminiscere [18. März] 1536.

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dem Rat, um diesem kundzutun, daß sie ihren halben Anteil an den Wiesen an Mühlpfordt abtreten wollten. Derhalben wolten sie itzo,fur ihren halben teil, an derselben wiesen verzieht thuen.xbx - Der Rat war dazu nicht bereit, sondern blieb bei seiner Entscheidung, in dieser Angelegenheit den Kurfürsten anzurufen, was auch geschah.152 - Unter dessen Einfluß wurde schließlich zu Mühlpforts Gunsten entschieden. 1538 wird auch hinsichtlich der Schulden, die Hermann Mühlpfordt hinterlassen hat, eine Einigung erzielt. Franz Funckel, der Gatte von Mühlpfordts Tochter Anna, erklärt sich bereit, von den aufgelaufenen Schulden in Höhe von 500 fl 300 fl auf seine Güter zu nehmen. 153 Damit war endgültig der Weg frei für die Aufteilung des Mühlpfordtschen Erbes. Am 9. August 1539 erfolgt die Auflassung154, bei der - nach Abzug diverser Verbindlichkeiten und unter Ausklammerung verschiedener Besitzungen, deren Teilung gesondert erfolgen sollte (Kuxe, Färbehäuser u. a.) - von einem Gesamterbe von 4 500 fl ausgegangen wurde. Diese Summe wurde nach dieser Stadt rechte vnnd gewonheit inn drey teyl zurschlagen, so daß ein Drittel der Witwe und zwei Dritteile auf die fünf Kinder entfielen. Dabei erhielt die Witwe für ihren Anteil in Höhe von 1 500 fl das halbe Haus am Niedersteinweg, der heutigen inneren Schneeberger Straße 2, für 600 fl; die Äcker des Balthasar Eyring sampt der Bernspmngs ecker vnnd den tzweien ochsenstellen fur dem Frauenthor für 500 fl; die große Wiese bei Weißenborn etwo der Rhomer gewest, für 400 fl; ferner vom Bargeld 100 fl, so daß sich insgesamt ein Uberhang von 89 fl 17 Gr ergab. Sohn David bekam die andere Hälfte des Vaterhauses und von der Mutter vom zuviel empfangenen Bargeld 4 fl 1 Gr 7 Pf: vnnd ist also himit seines teyls abgericht. Wolf Mühlpfordt wurde der große, mit einer Mauer umgebene Garten vor dem Niedertor zugesprochen. Und wie sein Bruder erhielt er von der Mutter weitere 4 fl 1 Gr 7 Pf. Zugleich wurde Vorsorge für den Fall getroffen, daß ihm dieser Garten, dessen Wert mit 600 fl veranschlagt war, souiel nicht gelden wirdet, das sye yme allerseits zw gepurendem anteyl nachuolgen vnnd dye summa erstrecken wollen. Paul, der dritte Sohn, bekam das Vorwerk mit dem dazugehörenden Bierkeller und die Scheune vor dem Niedertor für 600 Gulden. Ferner erhielt er 190 fl für die Franz Funckel zugesprochenen Äcker der Tzschepenpekin und von seiner Mutter weitere 14 fl 1 Gr 7 Pf, so daß sich sein Anteil auf insgesamt 804 fl 1 Gr 7 Pf belief, von denen er 200 fl zur Tilgung der Schuld von 500 fl verwenden sollte, die ein erbar radt v f f m fornwerge verschrieben hatt. - Bleiben noch die beiden Töchter, die ebenfalls wie ihre Brüder mit 600 fl abgefunden wurden. Maria erhielt zw yrem gepurenden erbe die Äcker des Hans und Merten Römer zwischen der Marienstraße und Weißenborn für 300 fl sowie die eckere, der Vilberin gewest, sampt dem wießlein für 250 fl. Den Restbetrag von 54 fl füllte die Mutter auf. Mit ihm war eine Schuldsumme von Hans Winkler und seiner Frau verbunden, die am Montag nach Nativitatis Marie [12. Sept.] 1552 abgelöst wurde. - Bis ins Detail geregelt war auch das Erbgut von Mühlpfordts ältester Tochter Anna, deren Hochzeit mit Franz Funckel Hermann Mühlpfordt 1533 noch mitgefeiert hatte. Sie erhielt die Äcker des Hospitals an der Lichtentanner Straße und eine Scheune bei der Kapelle vor dem Frauentor für 400 fl; die Äcker der Zzopenpeckin sampt der wiesen im Mittelgrunde und der eckscheune fur dem Frauenthore für 380 fl, von denen aber die Hälfte der Summe Paul Mühlpfordt zustand. Ferner gab ihr die Mutter 14 fl, so daß sich ihr Erbteil auf 904 fl 1 Gr 7 Pf summiert, von denen 300 fl zur 151 152

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Ebenda, 1536, fol. 50 a ' b : Sitzung vom Sonnabend nach Ostern [22. April] 1536. Vgl. StadtA Zwickau: Conceptbueh 1536 - Eintragung vom Mittwoch nach Quasimodogeniti [26. April] 1536. StadtA Zwickau: Ratsprotokolle 1536-1538, 1538, fol. 95^ Sitzung vom Mittwoch nach Laurentii [14. August] 1538. Die folgenden Angaben basieren auf dem im Anhang 2 abgedruckten Protokoll der Auflassung vom 9. August 1539, so daß hier auf weitere Nachweise verzichtet wird.

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Ablösung des beim Zwickauer Rat mit 500 fl belasteten Vorwerks einzusetzen waren. Ferner wurde für den Fall vorgesorgt, daß Franz Funckel die Äcker der Zschopenbeckin nimmer behalten wolde oder konde vnnd den zuuerkauffen gedeckte. In diesem Falle sollte der Grund und Boden zuerst Paul Mühlpfordt angeboten und ihm zu jenen Bedingungen überlassen werden, wie er inn der teylung mit sampt der scheunen angeschlagen. Analog war zu verfahren, falls iungkfraw Maria Mulpfortin . . . der VUberin ecker, welcher dann drey stucklein seint, sampt dem wießlein verkaufen wolle. Hier war als Ersterwerber Franz Funckel vorgesehen, der für die Äcker einschließlich den Zinsen 88 fl, zahlbar in zwei Jahresraten zu jeweils 44 fl, entrichten sollte. - Zuletzt wurde der umfangreiche Hausrat aufgeteilt, von dem der größte Teil an die Witwe und ihre unmündigen Kinder fiel.155 Diese Regelung war auch insofern notwendig, als in Annas Haushalt noch auf Jahre hinaus Kinder verblieben, wie auch aus der Anlage zur Türkensteuer von 1542 hervorgeht. Danach versteuert Anna Mulpfortin für sich und ihre unmündigen Kinder hauß vnnd hoff mit 1 200 fl; dye eckere vnnd beide scheunen mit 500 fl und eine Wiese mit 400 fl. Ferner gehörten zu ihrem Haushalt ein Knecht und eine Dienstmagd, die beide mit je einem Groschen veranschlagt waren. Von den weiteren Miterben bleibt auch Paul Mühlpfordt in Zwickau wohnen und nährt sich wohl vor allem mit Landwirtschaft. 1542 versteuert er sein Haus mit 400 fl, den Bierkeller im perge mit 60 fl; einige Äcker mit 270 fl. sowie das fornbergk sampt seinen zugehorenden eckem mit 700 fl. Auf ihm hält er 13 Kühe und acht Kälber im Wert von 64 fl, was auf Milchwirtschaft zur Versorgung der Stadtbevölkerung schließen läßt. Als Schulden, dy er dem Rath verzinset, sind die schon mehrfach erwähnten 200 fl ausgewiesen. Auch hat er einen Knecht, zwei Dienstmägde und ein kinderweip, worunter wohl eine Amme zu verstehen ist. - Als 1550 die Mutter stirbt, ergeben sich unter den Erben neue Zwistigkeiten, die aber außerhalb des Zeitrahmens dieser Studie liegen, so daß wir hier getrost abbrechen können. Hermann Mühlpfordt der Ältere war insgesamt betrachtet eine kraftvolle Zwickauer Bürgergestalt am Beginn der frühen Neuzeit, der in seiner Amtszeit als Stadtoberhaupt, die mit dem Ausbruch der Reformation zusammenfiel, viel Positives auf den Weg bringen konnte. Bei seinen vielfältigen Aktivitäten konnte er sich auf eine solide wirtschaftliche Basis im Tuchgewerbe und im Tuchhandel stützen, die er vor allem in seiner Zeit als Bürgermeister stark ausgebaut hatte, wobei er in der Wahl der Mittel nicht immer zimperlich war. Obwohl Hermann Mühlpfordt am Ende seines Lebens nahezu die Hälfte seines umfangreichen Vermögens in Grund und Boden angelegt hatte, kann er keineswegs als „Ackerbürger" 156 angesprochen werden. Dem steht sein umfangreicher und großflächig betriebener Handel mit Tuchen und anderen Produkten ebenso entgegen, wie sein Engagement im Bergbau und im Kreditwesen sowie die Anlage größerer Geldbeträge im produktiven Bereich (Färbehäuser). Hermann Mühlpfordt war - wirtschaftlich wie politisch eher ein Mann des Ubergangs, der in politischer Hinsicht der Landesherrschaft, der er einen Teil seiner Karriere verdankte, zeitlebens nahestand, nicht ohne gleichzeitig die Wahrung, ja den Ausbau städtischen Machtpositionen wie etwa im Bereich der Kirche zu

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Zur Aufteilung des Hausrats, der detaillierte Einblicke in Mühlpfordts Hauswirtschaft gewährt, vgl. Anhang 2. FRIEDRICH-WILHELM H E N N I N G , Die zunehmende wirtschaftliche und soziale Differenzierung in einer obersächsischen Gewerbe-Exportstadt (Zwickau) bis zum 16. Jahrhundert (Scripta mercaturae 1) 1968, S. 4 5 . - Vgl. auch: H E I N R I C H K R A M M , Studien über die Oberschichten der mitteldeutschen Städte im 16. Jh. (Mitteldeutsche Forschungen, 87 I, II), Köln-Wien 1981, S.46.

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betreiben. Zudem war er vielseitig interessiert und gebildet. 157 Sein Bestreben, Politik und Bildung bzw. Geist und Macht miteinander zu verbinden, 158 wollte Hermann Mühlpfordt wohl auch auf seine Kinder übertragen, was freilich nur ansatzweise gelang. D e n n von seinen N a c h k o m m e n hat nur Wolf Mühlpfordt, der jüngste Sohn, nach einem Studium in Wittenberg 1 5 9 jene Karriere gemacht, wie sie dem Vater für alle seine Söhne vorgeschwebt haben mag. 1556 wird dieser Ratsherr seiner Vaterstadt; ab 1563 ist er alle zwei Jahre ihr Bürgermeister und bleibt es bis an sein Lebensende am 19. April 1574. 160 Zwei Jahre vor seinem Tode läßt er in der Marienkirche für seinen berühmten Vater ein Epitaphium errichten, das dort noch heute an ihn erinnert. 161 Mit Wolf Mühlpfordt überschreitet der Zwickauer Zweig des Geschlechts seinen Zenit. Was folgt, ist ein schleichender Niedergang, der sich in jenen Jahrzehnten auch bei anderen ehemals blühenden Bürgergeschlechtern der Stadt wie etwa den Welsern und Gaulenhöfern, den Reichenbachs und Tretweins feststellen läßt. 1 ' 2 D o c h im Unterschied zu diesen hing er bei der Familie Mühlpfordt nicht mit verfehlten Spekulationen im Bergbau und anderen Geschäften zusammen, sondern war eher ein Spiegel der Stagnation und des allmählichen Verfalls der Stadt ab der zweiten Hälfte des 16. Jh., 163 wie er in jenen zwei Jahrzehnten, als Hermann Mühlpfordt der Ältere ihr Ruder führte, nicht abzusehen war.

Beilagen 164 1. Veranlagung zur Türkensteuer 1531 Fundort: StadtA Zwickau: A* A II 17, N r . 191: Verzeichnis der anlage zur ersten frist.. . Pfingsten Anno XXXj, Bey dem Bürgermeister Ern Herman Mülpfortten [Türkensteuerregi157

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Nach KARL STEINMÜLLER, Agricola (wie Anm. 23), S . 41 Anm. 33 ist Hermann Mühlpfordt „mit großer Wahrscheinlichkeit... zu den Akademikern zu rechnen", wobei er von einem Studienort außerhalb des Reiches („Krakau?") ausgeht. Dazu würde passen, daß Mühlpfordt gelegentlich als „Magister" bezeichnet wird, was aber auch eine Ehrenbezeichnung sein kann. Zudem war er im Besitz einer größeren Bibliothek, deren Reste in der Ratsschulbibliothek Zwickau aufbewahrt werden. RSB Zwickau: Sign. 20.8.35. Vgl. O T T O C L E M E N , Ein Sammelband aus Hermann Mühlpforts Besitz, in: Alt Zwickau 9 (1922), S. 36 [auch in: C L E M E N , Kleine Schriften (wie Anm. 2), S. 66]. Der Sammelband enthält ausschließlich frühe Lutherdrucke, darunter die „Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum" von 1520, die auf dem Titelblatt Luthers Widmung trägt: Hermanno Molphordt. Vgl. WA 7 (1897), S. 92 Anm. Zu dieser Problematik vgl. H E I N R I C H K R A M N , Besitzschichten und Bildungsschichten der mitteldeutschen Städte im 16. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 51 (1964), S. 454491, bes. S. 462 ff., 479 ff., 484 ff. Vgl. Album Akademiae Vitebergensis ab a Ch. MDII usque a MDLX, Bd. 1, hrsg. v. K[arl] Efduard] FOERSTEMANN, Leipzig 1841, S. 158a, 32. StadtA Zwickau: III b1, Nr. 23b Neuer Rathherren Buch (wie Anm. 3), Bl. 25b sowie ebenda: A* A125 nr. 5 die O U der Ratskonfirmationen der Jahre 1563 bis 1574. Vgl. auch C L E M E N , Hermann Mühlpfort (wie Anm. 2), S. 61. Vgl.Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. 12. Heft: Amtshauptmannschaft Zwickau, bearb. v. R. STECHE, Dresden 1889, S. 116. Vgl. KARL H A H N , Die Zwickauer Welser, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 48 (1927), S. 61-77, bes. S. 76 f. Vgl. K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (wie Anm. 1 3 ) , bes. S. 2 3 3 ff., die auf die negativen Folgen des Übergangs der Stadt auf das albertinische Sachsen aufmerksam macht und darin wohl zurecht „The End of an Era" (S. 233; 245) sieht. Editionsgrundsätze: Die Wiedergabe des Textes erfolgt getreu der Vorlage. Normalisiert wurden die Groß- und Kleinschreibung und so schonend wie möglich die Interpunktion. Die üblichen Abbreviatu-

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ster 1531], fol. 62 a . Bislang ungedruckt; von der H a n d des Stadtschreibers Stephan Roth. Er Herman Mülpfort Bürgermeister haus vnd hoff, auff 350 ß Das fornbergk sampt den eckern vnd keller, auff 315 ß Den grossen gartten, auff 210 ß Die grosse wiese, auff 105 ß Die ferbheuser im burgklehen gelegen, dieweil sie inns ampt nicht verschätzt, sind auff vic fl gewirdert, facet 210 ß Die ecker inn lehen sampt den schewnen, auff 280 ß Des hospitals vnd der Filberin ecker sampt der wiesen, auff 175 ß Die ecker vnd wiesen Tzopenbecken, auff 122 ß xxx gr Schätzt sein handelgeldt, hindan geschätzt alle böse schuldt, auff 280 ß H a t vierdthalbtausent gulden haubtsum, bey vnserm gnedigsten herrn dem Churfursten zu Sachsen stehen, facet 1.225 ß H a t zweyhundert gülden haübtsum bey Hanse Braun stehend, facet lxx ß Ein knecht, auff viij aide schock ν gr Ein schiermeister dient auff ν fl facet i ß xlv gr Ein magd auff iiij aide ß Ein magd, auff iiij aide schock [79a] Bürgermeister Mülpforttens hausgnos. Valten Rudolff cum vxore, ein Steinschneider 1 gr Merten Brandt cum vxore, ein taglohner 1 gr die taube Dorothea, ein radtspynneryn 6 d Jacoff Zymmerman cum vxore, ein taglohner 1 gr 2. Teilung des Nachlasses von Hermann Mühlpfordt im Jahre 1539 Fundort: Stadtarchiv Zwickau: IIIx 1 113, Unmündiger Kinderbuch 1536-1540. Bl. 144 a -154 b . Bislang ungedruckt; Schreiberhand. [Bl. 144a] Teilung Er Herman Mulpforten etwo burgermeisters seyligen nachgelassener guthere vnnd erben. Als Er Herman Mulpfort etwo burgermeister seliger verschinnen c v c vnnd viervnnddreissigk, Dinstags nach Bartholomei [25. August], die tage seines lebenns beschlossen, ist bishero aus deme, das etzliche irrungen vnnther den erbenn entstannden, zw deme auch die rechtliche forderung, so Er Johann Rietesel zum Neuenmargkt gegen ynen furgehapt, im wege gewest, vnnd annders halbenn die erbteylung vor zogenn, weyl dann auch Herman Mulpfort, der eldiste söhn, ein tzeit lanngk apwesende gewest, vnnd also die andern, seine mutter vnnd geschwistere, als mitherbenn, weß er seines vaterteyls hinwegk hat, nicht habenn berechent vnnd entschlossen gehapt, vnnd aber solches erst itzt dato bescheen, wie dann auch der selbe Herman Mulpfort dorauff vonn stundt vor denn hern stadtuoyt vnnd Schultheis, dietzeyt Er Wolffen Schicker vnnd Er Wolffen Jacob, personren wurden in der Regel ohne Kennzeichnung aufgelöst; editorische Bemerkungen und Blattzahlen stehen in eckigen Klammern.

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lieh erschinnen vnnd bekannt, das er alles vnnd yedes sein vaterterlich erbteyl, was yme des hette gepuren mugen, zuuorn allenthalb empfanngen vnnd hinwegk habe, vnnd derhalbenn auch ann allen vnnd yeden seines vatern seyligen verlassenen guethern vnnd habe, wie dye benant vnnd wue sye inn vnnd fur der Stadt alhie gelegen, nichtes dann funff kuckes, [144 b ] welche hierein nicht getzogen, sonndern yme seinenn anteyl daran zuuernbehalten gegen obberurten seynen mutter vnd geschwistern, rechtliche vnd erbliche vertzicht vnnd auflasunge gethann vnd zugesaget, derhalben ferner ihnen keine anforderunge noch einspruche zuthuen. So habenn dieselben mutter vnnd geschwisterde, nemlich fraw Anna dye wittib, sampt yrem gekornen vnnd bestettigtem furmunden E m Jobsten Gepffarten, Paul Mulpfort fur sich, Franntz Fungkel vonn wegenn vnnd inn ehlicher furmundschafft Annen seines weybes, vnnd dieselbe neben yme, vnnd Hanns Braun vnnd Hanns Haußman inn bestetigter vormundschafft der vnmundiger dreyer Wolffen, Marien vnnd Dauids, alle erbenn obgenats burgermeister Mulpfortens seyligenn, sich aus den gelassenenn guethern vnnd habe gedachts yres hauswirts, vaters vnnd schwehers, nach stadtgewonheyt geteylet, vnnd dieselbenn wie volget gewirdert vnnd angeschlagen. Nemlichf:] Das wonhaus am Nidersteinwege sampt dem breugerethe, vassen vnnd was darinne gewiedt, erdt vnnd nagelfest, vor eintausent zweyhundert gulden; die grose wiesen, bey Weysenporn, etwo der Rohmer gewest, vmb vierhundert gulden; [145 a ] die eckere Balthasar Eirings sampt des Bernsprungs eckern besehet, sampt den tzweien ochssen stallenn fur dem Frauenthore seint gewirdert vor funffhundert gulden; die eckere etwo Merten vnnd Hanns Rohmers gewest, angeschlagen vmb dreyhundert guldenn; der grose garthen vor dem Niderthore mit der mauer vmbfanngen vmb sechshundert gulden; der acker des hospithals bey der Lichtenthanner straeß sampt der Scheunen beim Capellein fur dem Frauenthore vmb vierhundert gulden; der acker etwo der Zschopenbeckin sampt der wiesen doan vnnd der eckscheunen vmb dreyhundert achtzigk gulden; das fornwergk sampt seiner zugehorunge vber der bierbrucken vnnd der keller dohinder, auch dye scheune vor dem Niderthore, etwo Nickel Reinolts gewest, vor sechshundert gulden. [145 b ] Ann bahrem gelde Ist das ihenige, so vonn den viertausent gulden, die bey vnnserm gnedigisten hern angelegt gewesen, vber das, das bey lebenn des verstorbenen E m Herman Mulpforten durch dye verordenten des kleinern vnd engen ausschus abgeleget vnnd vff solchen hauptbrieff geschrieben vnnd apgerechent worden. Nemlich[:] zweytausent dreyhundert, vnnd dan auch die dreitzehendhalbhundert gulden, so Ernn Johann Riedtesel zum Neuenmargkt, vermuge derhalb auffgerichten receß dauon geuolget, nach hinderstellig pliebenn, vnnd vonn gedachten hern des ausschuß betzalt, verhannden gewesenn sechshundert einvndneuntzigk gulden. Dann es seint vierhundert funfftzigk gulden inn golde, ihe 22 zinsgroschen vor j fl vnnd einen guldengroschen vor 24 zinsgroschen getzelet. Vnnd dann zweihundert gulden muntze gewesen, die zu zinse vertaget, vnnd volgennde vnnther den erben die guldengroschen alle zw xxv gr, wie sye dyezeit gegolden, gerechent worden, domit dye summa so hoch gestiegenn. Ann kornn Zweihundert vnnd sibenvndvirtzigk scheffel vffm kornhause. Dauon seint einhundert scheffel korn vnnserm gnedigisten herrn dem Churfursten zw Sachssenn etc. inn s.c.f.g. ampt Aldenburgk, welche der Er burgermeister Mulpfortt [146 a ] seyliger alda geporget, vnnd vnbetzalt plieben, geuolget, welchs man sinst den scheffel zw 36 gr hette betzalen sollen. Bleibenn also nach einhundert vnnd sibenvndvirtzigk scheffel korns vberley, welchs vff dye Schneperger muhle, yeden scheffel zw xxiij gr, nachdem es ser schadhafft

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gewesen, verkaufft, vnnd drey scheffel inn kauff gegeben, inn ansehung, das sich hochgedachter vnnser gnedigister herr mit korn, das doch deßmals nicht souiel gegolden, als darumb es der alte Mulpfort seyliger angenommen, betzalen lassen. Machen also dye verkauften einhundert vnnd viervnndviertzigk scheffel, ieden zw xxiij gr, einhundert noenunfftzigk gulden xv gr. Summa obuertzeichenter guethere, bahrschafft vnd annders, thutt funfftausent vierhundert achtvndsibentzig gulden funfftzehen groschen. Vber das seint nach die ferbheusere vor der Niderpforten vffm graben gelegen, sampt yrer zugehorung dißmals vngewirdert vnnd vngeteylt pliebenn, dann die erben alle tzugleich beschlossen, solches zuuerkauffen vnnd inn ordentliche teylung dasselbe kauffgeldt sodenne zubrenngen. [146 b ] Vonn solchem werden erstlich abgetzogen die schulden, so der herr burgermeister Mulpfort seyliger vnbetzalt hinter y m e gelassen. Nemlichen[:] funffhundert gulden einem erbarnn radthe vermuge derhalb vollzogener schultuerschreybunge; xxxvj gulden dem rathe versessene tzinse vonn bemelten gelde vnnd dann auch geschoß; lxx gulden Mauritzen Rohmer dem elthern, vnnd dann Joachim Rohmern vnnd seinen brudern zur Steinpleiß vonn wegenn der grosen wiesen entlichs Vertraggeldes domit dieselbe den erbenn geruiglich pleybet, lx gulden Pauln Thiemer gelihens geldis zur Sachen mit dem Rietesel der hauptsumma halben bey vnnserm gnedigisten hernn etc. xxxv gulden xv gr dem hernn Doctori Andrea Franngken vonn Camentz, zur verherung, das er den erbenn inns Rietesels Sachen gedienet; xxv gulden versessene zinse dem Engelschalck zw O l ß n i t z vonn iij c [250] fl hauptsumma zum lehen gehorigk, welche summa nuhmals Hanns Braun sol versichernn vnnd auff sich nehmen; xxix gulden xvi gr Ciriax Hohe barbirer gelihenns geldis; xix gulden i gr habenn die erben zw Leiptzigk vertzert als sye die entliehe tzalung vom ausschus nachm vertrage mith Rieteseln gemacht entspangen haben; [147 a ] xxxij gulden xiij gr hatt die wittib verrechent so sye inn etzlichen Sachen den procuratorn, vnnd im hauß vor allerley notturfft, auch zw enthalt der kindere, vnnd z w pesserung der ferbheusere vnnd gartengepeude etc. außgebenn; iiij gulden hat Paul Mulpfort inn etzlichen Sachen zw Leiptzigk vnnd Torgaw vertzert; ij gr Mag[ist]ro Benedicto Schiler procuratori, das er den erbenn etzliche Sachen gefurth; xxvij gulden hatt dy mutter ferner verrechent den dreschern z w dreschlone gegebenn; i c vij gulden Pauln Mulpforten, so er vonn der erbenn wegen, inns Rietesels vnnd anndern Sachen, außgegeben vnnd verrechent, vermuge seiner rechnung. Summa der schulden thut neunhundert achtvnndviertzigk gulden vier groschen. Wann nun solche obgesatzte schulden vonn den teylungsgutern apgezogen, so bleybet nach der wittfrauen vnnd denn funff kinden vnnd erben vberley zuteylenn[:] Viertausent fünfhundert dreissig gulden zwelff gr. [147 b ] Solche summa nach dieser Stadt rechte vnnd gewonheit inn drey teyl zurschlagen, gepuret der wittib zum drittenteyl eintausent funffhundert zehen gulden iiij gr vnnd den funff kinden zw yren tzweien teylen drey tausent zwentzigk gulden viij gr. Vnnd also einem yeden derselbenn zw seinem funfften teyl sechshundert vier gulden ein groschen vij d vnnd bleybet ein pfennig vngeteylt. Wye nun die erbenn vnnd wittib ein yedes des seinen angeweist auch entricht vnnd woran sye solches empfanngen volget hernach. Nemlichf:] Dye witfraw Anna. Hatt nachuolgende stucke zuuergnugung yres drittenteyls angenommen[:] Erstlich das halbe haus am Nidersteinwege (dann dye anndere helfft ist dem Dauid wie volget, zukommen), vor sechshundert gulden. [148 ä ] Ferner hatt dye witfraw angenommen die eckere Balthasar Eirings sampt der Bernsprungs eckern vnnd den tzweien ochsenstellen fur dem Frauenthor vmb funffhundert gulden; mehr die grose wiese bey Weissenborn etwo der

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Rhomer gewest vor vierhundert gulden; vnnd vber das ann pahrem gelde einhundert gulden. Summa sechtzehenhundert gulden. Hatt also die wittib vber yren drittenteyl empfanngen Neunvndachtzigk gulden sibentzen groschen. Dauid Mulpfortt. Dem ist das halbe haus am Nidersteinwege (wie dann die mutter die anndere helfft hat) zukommen, vor sechshundert gulden. Dartzw sal yme dye mutter vonn deme, so sye zw viel entpfanngen, noch entrichten vier gulden i gr vij d. Vnnd ist also himit seines teyls abgericht. [148b] Wolff Mulpfort. Dem ist der grose garthen fur dem Niderthore mit der mauer vmbfanngen zugeteylt, vmb sechshundert gulden. Dartw gibt yme dye mutter nach iiij fl i gr vij d. Es ist aber dorneben vonn den erben allerseits bewilliget, wo dem Wolff Mulpforten dieser garten souiel nicht gelden wirdet, das sye yme allerseits zw gepurendem anteyl nachuolgen vnnd dye summa erstrecken wollen. 165 Paul Mulpfort. Dem ist das fornwergk sampt seiner zugehorung, auch der keller dohinter, vnnd dye scheune vor dem Niderthore gelegen zukommen, vor sechshundert gulden. Ferner ann dem acker der Tzschepenpekin, welchen Franntz Fungkel wie hernach volget bekommen, einhundert neuntzigk gulden. So gibet yme dye wittfraw dortzw xiiij fl i gr vij d heraus, das er also inn summa bekumpt achthundert vier gulden i gr vij d. Nachdem er aber also zweihundert gulden mehr hat dann yme geburet, so sal er solche ann den funffhundert gulden, die ein erbar radt vffm fornwerge verschrieben hatt, dem radt zubetzalen vnnd zuuerzinssen auff sich behalten, wie dann (?) Frantz Fungkel, als hernach volget, die anndern iijc fl vff sich genommen vnnd das fornwergk derselben gelediget hatt. [1491] Jungkfraw Maria Mulpfortin. Der ist zw yrem gepurenden erbe zugeteylt wordenn. Nemlich[:] Die eckere Merten vnnd Hanns Rhomers gewesen, zwischen der Marienthaler Straß vnnd Weissenporn gelegenn, sambt dem acker Schrembergers, nehist Jorg Schenckens, welchs nuhr ein stuck ist, vmb dreyhundert gulden. 166 Mehr die eckere der Vilberin gewest sampt dem wießlein und den acker Khünels nehist Fritz Dörings, vor zweihundert funfftzig gulden, vnnd gibt yr dye mutter vonn dem ihenigen, so sye wie obstehet inn der teylung angenommen nach heraus viervndfunfftzig gulden i gr vij d. Diese viervndfunfftzigk gulden i gr 7 d hat Magister Oßwaldus Lasan inn volmacht Hannsen Wingklers vnnd seines weybes frauen Marien empfangen, vnnd dero Mulpfortens erbenn gentzlich quittirt vnnd loßgetzelet. Actum Montag nach Natiuitatis Marie [12. Sept.] Anno 1552.167 Frentzen Funckel vnnd seinem weibe Annen. Denen ist zw abrichtung yres gepurenden teyls zukommen wie volget[:] Erstlich der acker des hospitals gewest, bey der Lichtenthanner straeß, sampt der Scheunen beim Capellen fur dem Frauenthore vmb vierhundert gulden. Mehr der acker etwo der Zschopenpeckin sampt der wiesen im Mittelgrunde vnnd der eckscheune fur dem Frauenthore, vor dreyhundert achtzigk gulden. Doan geburet dye helffte, nemlich 190 fl, Pauln Mulpforten, wie oben bey seinem vertzeichnus, was yme zwteyl wurden, zubefinden. [149b] Ferner hatt Franntz Fungkel vnnd sein weip entpfanngen vom pahrem gelde dreyhundert gulden. So gibet ynen dye mutter vonn dem, so sye zuentrichtung yres drittenteyls angenommen,

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Dieser Satz wurde nachträglich, aber von gleicher Hand eingefügt. Der Satz sambt dem acker bis welchs nuhr ein stuck ist, wurde später eingeschoben. Der gesamte Satz ist später, aber wohl von gleicher Hand, eingefügt.

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herauß viertzehen gulden i gr vij d. Vnnd habenn also Franntz Fungkel vnnd sein weip (ausgeschlossen dy 190 fl, so Paul Mulpforten vonn der Zschopenpeckin acker wie obstehet, zukommen) angenommen in Summa machende neunhundert vier gulden i gr vij d. Weyl aber nun das fornbergk, so Paul Mulpfort anngenommen, einem erbarn rathe, wie oben inn der teylung zubefinden, vmb funffhundert gulden verschriebenn, vnnd vonn den erben solchs demselben Mulpforten sal gelest werdenn, so seint Franntzen Fungkel vnnd seinem weybe dorumb vonn den erben dreyhundert guldenn mehr vntergeben vnnd eingethann, das er das bemelthe fornbergk vonn solchen dreyhundert gulden ledigen vnnd vff des hospitals ackere vergewissen sol. Die anndern zweyhundert gulden aber seint Paul Mulpforten auch gefallen, vnnd beheldet die vff bemelthem fornberge, wie oben zubefindenn. Was nun belanget die einhundert vnd neuntzig gulden, so Franntz Fungkel vnnd sein weip dem [150a] Paul Mulpforten vonn der Zschopenbeckin acker heraus zu raichen vnnd zubetzalen verpflichtet, doan hatt bemelther Fungkel dem Mulpforten alspalde einhundert gulden betzalt, wie dann yme Paul Mulpfort dero hiemit quittirt vnnd loßtzelet. Die andern neuntzigk gulden aber wil vnnd sol Frantz Fungkel dem Mulpforten vff schiersten Michaelis auch danglich bey schleuniger hulffe betzalen, dafür yme dan auch der acker obbemelt, hiemit verhafft pleyben sali etc.. Selche neuntzig gulden seint Pauln Mulpforten auch betzalt, laut des stadtbuchs Anno Domini 1538 fo. 73.168 Dorneben aber ist tzwischen ynen peyden dyß beredt vnnd gewilliget[:] Wann Franntz Fungkel berurten der Zschepenbeckin acker irgent mit der tzeyt nimmer behalten wolde ader konde vnnd den zuuerkauffen gedechte, so sal er dennselben acker etc. dem Paul Mulpforten, wue er yn annderst haben vnd annehmen wil, vor anndern, vnnd inn deme werde, wie er inn der teylung mit sampt der Scheunen angeschlagen, auch zu kauffen gebenn vnnd volgen lassenn. Als auch iungkfraw Maria Mulpfortin, wie oben inn der teylung angetzeiget, der Vilberin ecker, welcher dann drey stucklein seint, sampt dem wießlein ann yrem teyle mith bekommen, so hat sye vnnd yr Vormunde, mit nachlasung yrer mutter vnnd geschwister, auch derselben verordenten vnnd bestetigten Vormunden Er Jobsten Gepffarts vnd dann Hannsen Brauns, das eine stucklein ackers [ 150b] gegen der stadtwarts gelegen, vngeuerlich auff vier scheffel, vnnd das obbemelthe wießlein vff funff fuder hau wachs geachtet, vmb achtzigk gulden hingelassen vnnd verkaufft, der gestalt vnnd also, das yr Franntz Fungkel berurthe achtzigk gulden binnen tzweien iharen Dannglich entrichten vnnd betzalen, vnnd aber vnnther des dye tzwey ihar vber iherlich mit vier gulden verapnutzen sal. Dafür sal genanter iungkfrauen Marien solcher acker vnnd wiese himit biß zw entlicher zalunge verhafft stehen bleybenn, sich dan vnnd ap solche irgent mangel hette, ann allen anndern Franntzen Fungkels gutern vnnd habe, wie yr das am gelegensten sein wirdet, im vhalle der nichtzuhaltunge, schleunig one fur vnnd auffgebot zuerholen haben magk. Es ist auch hierneben weyther beredt vnnd vom Fungkel bewilliget, wann er solchen acker vnnd wiese mit der tzeit, es sey vber kurtz oder lanngk, ahnwerden (?) oder verkauffen wurde, das er solchs seiner schwegerin, der iungkfrauen Marien Mulpfortin widerumb anpieten vnd inn obgesatzten werde der achtzigk gulden widerumb einreuhmen vnnd zustellen wil, wie dann solchs alles auch Doctor Camitz auffgerichter receß, welchenn dye part bey sich habenn, weyther meldet. Ferner habenn sich alle teyle vnnd yre Vormunden vntereinander des auch bewilliget. Nachdem [151a] Mauritz Rohmer zur Steynpleiß vor sich vnnd seine brudere, die wittib vnnd erben von wegen yres hauswirdts, vaters vnnd schwehers Er Herman Mulpforten 168

Vgl. StadtA Zwickau: IIIx 1 , 23: Stadtbuch 1537-1539, 1538, fol. 73 a .

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seligen, gehapter vormundschafft vnnd Verwaltung etc. inn anspruchen hat, das sye wider solchs, alle vor einen man stehen wellen vnnd sollen. Vnnd vnther des ihr keiner vonn seinen guethern, so yme zw teyl wurden, biß dieselb Sache yre entschafft erreicht, ychtes verwennden, noch anwerden, das auch zuthuen nicht macht habenn. Was aber belannget die geschoß verschinnen Walpurgis, sol ein yeder erbe das seine vonn denen guethern, dye yme zuteyl wurden, aptragen. Dergleichen auch dye zinsse yeder vonn dem seinen reichen vnd gebenn. Was den dreyen vnmundigen kindenn Wolffen, Dauid vnnd Marien an fahrnus im loß gefallenn vnd zw teyl wurden. Nemlichen[:] Wolff Mulpforten. Drey federpedte mit weisen ziechen; drey hauptkussen; ein pfuhl; neun gute flechsene bedtucher; vier bedtzichen; sechs grobe pedtucher; eylff guete handtquelen; [151 b ] sechs tischtucher; zwe grobe handtquelen; funff virtels kanndeln, vier noßlein; zwelff schusseln klein vnnd groß; ein bratteller; funff grose [und] funff kleine tischteller; zwey salsirichen; zwey messing becken; drey leuchter; ein fischtigel; ein eiserne pfanne; zwene eiserne leffel; acht reinische [und] zwene vngarische goltgulden; ein toppel ducaten; vier Innsprucker[?] groschen. Dauid Mulpforten. Drey federpette, der tzwey mit gestreifften vnnd eins mit einer weissen ziechen; zwey grose hauptkussen; ein klein kussenn, ein pfuhl; alles mit weissen ziechen; ein schwebisch bettuch; acht flechsene pettucher; funff grobe pedtucher; sechs zwillichene tischtucher; zwey grobe tischtucher; acht guthe [und] funff geringe hanndtucher; drey flechsene pedtziechen; ein schwebisch küssen ziechlein; [152 a ] ein tzwillichene kussentzieche, siben kleine zielmesige schusseln; drey grose schusseln; ein grose kanndel; drey virteyl skandeln; drey noselein; ein zinerne lathwergen buchse; drey bratteller; funff grose [und] vier kleine tischteller; zwey salsirichen; ein halb noßlein; ein sprengkeßlein; ein groß messing becken; ein messing kanndel; ein leuchter mit dreyen röhren; ein leuchter mit einer röhren; ein kupffern tiegel; ein eiserne pfanne; eine kelle; acht rheinische, vier vngarische; vier Innsprucker groschen. Mehr dem Wolffen vnnd Marien ein güldene kethen, vngeuerlich vff funfftzigk gulden muntz geacht. Marien Mulpfortin. Drey federpette mit weysenn tziechenn; ein grosser pfuel; ein groß küssen; drey kleine küssen; ein gut schwebisch pettuch; neun flechsene pedtucher; sechs grobe pedtucher; [152 b ] sechs zwillichene tischtucher; zwey flechsene tischtucher; viertzehen guethe hanndtquelen; ein weyse gemeine pedtzichen; zwo pfultziechen; ein kussentziechlein; vier virtels kanndeln; vier noßlein; ein kinderkendlin; ein tzinene tyriackbuchse; eilff schusseln, groß vnd klein; ein klein bratterlerlein; funff grose theller; vier kleine theller; zwey senfftieglein; zwene leuchter; ein eiserne pfanne; ein tigel mit zwey peinen; zwene eyserne leffel; vier vngarische [und] acht reinische goldtgulden; vier Innsprucker groschenn. Item yr vnnd den Wolffen ein güldene kethen, vngeuerlich vff funfftzig gulden muntz geachtet. [153 a ] Ferner ist den obgesatzten drey vnmundigen kindern zw gleich ann silberwergk inn der teylung gefallen. Nemlich: Ein vergulther hoffbecher mit einer decken wigt 2 margk 10 loth; eine schale inwenndigk vergult, wigt 2 m. [Mark] 5 Vt loth; ein hoffpecher; zwey silberne gebelein [und] zwey magelichen [?] wegen 3 m. 2 Vz lodt. Summa acht margk drey loth. Was aber ann farender

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habe auch guldener barschafft, silberwergk vnnd dergleichen der witfrauen, auch Paul Mulpforten vnnd Franntzen Fungkel von wegen seines weybes zw teyl wurden, das habenn sye alspalde, yr yedes das seine, betzalt, entpfanngen vnd zw yren hannden genommen. Die manneskleydung belanngende. So viel des verstorbenen burgermeisters Er Herman Mulpforten seligen nachgelassene kleydungen betrifft, habenn Franntz Fungkel inn ehlicher vormundschafft seines weybes, vnnd dann dye anndern obbemelten verordente furmunden vonn wegen iungkfrauen Marien gewilliget vnnd nachgelasen, das solche kleydungen den dreyen brudern Pauln, Wolffen vnd Dauid Mulpforten volgen sal. Darauff ist sye geteylet vnd hat Paul Mulpfort das seine zw sich genommen. Aber dem Wolffen vnnd Dauid ist zw teyl wurden[:] [153b] ein guethe zschamlot schaube mit guetem marder gefuttert; ein groer rogk auch mit zschonaischen (?) gefuttert vnnd ein Schwartz sammat wammes etc. Der keller betreffennde ist beredt vnnd gewilliget, das dy wittfraw den keller, so Paul Mulpfort bekommen, zw yrem lebenn vnuerhindert gebrauchen sal, wie sye dann den alspalde selbst hat vnterscheyden lassenn. Letzlich ist auch dis vnter den erben allerseits beredt vnnd sonderlich vonn der wittib, auch Marien vnnd Dauid sampt derselben Vormunden bewilliget. Nachdeme dem Dauid ann seinem teyle das halbe hauß am Nidersteinwege vnd der Marien etzliche liegende gründe zukommen, das dye wittfraw solches, biß zw peyder kinder mundigen iharen vnnd verehlichung, ohne geringerung vnnd Verminderung innehaben vnnd gebrauchen,vnnd dogegen dye beyde kindere, Marien vnnd den Dauid, bey sich behalten, die auch mit essen, tringken, kleydung vnd aller anndern leybs notturfft versorgen vnd ertzihen sal. Vnnd wann der kindere eins sich verehlichen oder sonnst nach erkentnus der furmunden vnd eins erbarnn radts, das seine bedurffen oder inn bessere wege zugeniesen wüsten, so sal ynenn dye mutter das yre vnwegerlich zustellen vnnd einreuhmen. Alles gantz treulich vnd one geuehrde. Gescheen vnnd volzogen Sonnabends nach Jacobi [26. Juli] Anno 1539. [154*] Ferbheusere belangende. Nachdem hieroben inn der teylung zubefinden, das die erben allerseits dye ferbheusere vffm graben fur dem Trenngkthore gelegen, sampt derselben zugehorunge etc. vngeteylt gelassen vnnd dyeselben dermasen ausgesatzt, das sye solten verkaufft vnnd inn ordentliche teylung bracht werden etc. So haben demnach dieselbenn erben inn der teylung benumpt, auch yre allerseits Vormunde bestirnte ihre fernheusere sampt yren zugehorungen, Hansen Ferber vermuge des Schultheis buchs Anno 1539 fo. 117 verkaufft vnnd yme dye vmb sibenhundert vnnd dreissig gulden gegeben. Dauon werden apgetzogen die hundert gulden, so die erbenn vonn Bonauentura Engels gelassenen kinder Vormunden Casparn Brew goldschmide zw Mauritzen Rhomers zur Steinpleiß rechtssache, so er wider dye erben etc. furgenommen, zugebrauchen, entlehnet vnnd dann funff gulden vertagte apnutzung. Dauon bleybt also zw teylen vic xxv fl. Dauon gepuret der witfrauen zw yrem drittenteyl iic viii fl vii gr vnnd den funff kindern zw yren tzweien teylen iiiic xvj fl xiiij gr. Vnnd also yedem kinde zw seinem funfften teyle lxxxiij fl vii gr. [154b] Diese obgesatzte teylung habenn die erben vnnd Vormunden allerseits vbergeben vnnd gebeten, das dye zw besserer verwharung vnd bericht, ap der mit der tzeit yemandes von nothen sein mochte, inn der vnmundigen kinderbuch nicht eingeschrieben worden,

Reichtum, Nachlaß und Erbe des Zwickauer Bürgermeisters der Reformationszeit

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welches yne dann vonn Bürgermeister Ernn Michaeln vonn Milau vergunstet vnnd zugescheen beuohlen worden. Actum Sonnabends am abennde Laurentii [9. August] Anno Domini cv c vnd xxxix. Die vertzicht findet man im Schuldhaisbuch anno 1539 folio 119; im Stadtbuche Anno 1539 folio 214. 1 6 9

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Vgl. StadtA Zwickau: IIIx 1 , 82a: Schuldheißbuch 1538-1540, 1539, fol. 119 b -120 b ; vom Sonnabend nach Jacobi [26. Juli] 1539; StadtA Zwickau: III x 1 , 23: Stadtbuch 1537-1539, 1539, fol. 214 b .

SIGRID L O O S S ,

BERLIN

Annotationes über die nachgelassene Familie des Andreas Bodenstein aus Karlstadt

Im September 1524 ist Andreas Bodenstein genannt Karlstadt, ehemaliger Archidiakon des Allerheiligenstifts und Professor der Theologie an der Universität Wittenberg, aus Kursachsen ausgewiesen worden. Man verdächtigte ihn der Anstiftung zum A u f r u h r und der Renitenz gegenüber den sich bereits verfestigenden Strukturen des landesherrlichen Kirchenregiments. ' N a c h unstetem Wege über Nördlingen, Schweinfurt, Kitzingen, Straßburg - wobei als sicher eigentlich nur ein viertägiger Aufenthalt in Straßburg gilt - trifft er im Dezember in Rothenburg ob der Tauber ein, von wo er im Mai 1525 vor dem Strafgericht der fürstlichen Sieger über den Bauernkrieg in Franken wiederum flüchten m u ß und letztlich sich dem Diktat Luthers und des Kurfürsten von Sachsen unterwirft. Sein Leben mit Schreib-und Predigtverbot und das seiner Familie bewegt sich am Existenzminimum. In Kemberg läßt er sich u. a. als „Kiepenkrämer" nieder. 1529 wird er endgültig aus Kursachsen ausgewiesen. H o f f n u n g e n auf eine Anstellung in Ostfriesland bei Christoph von D o r n u m oder im toleranten Straßburg zerschlagen sich. Auch in Basel bekam er zunächst keine Anstellung, obwohl er hierher bereits seine Familie hatte nachkommen lassen. Aus dieser Zeit stammt die Mitteilung eines Zeitgenossen, d a ß Karlstadts Frau Anna, eine geborene von Mochau, in Basel ihre Kinder auf der Straße betteln lassen mußte. 2 Die materielle Lage der Familie wird sich gebessert haben, als Zwingli Karlstadt in Zürich eine Anstellung verschaffte: zunächst als Diakon am G r o ß m ü n s t e r mit Seelsorge am Spital. Im September 1531 bekam er die Pfarrei Altstätten im Rheintal, die er aber nach der Schlacht von Kappel, in der Zwingli fiel, wieder räumen mußte. Wieder in Zürich war er wiederum Diakon und Prediger, daneben akademischer Lehrer an Zwingiis „Prophezei." 3 Die Universität Basel und der Rat der Stadt Basel sahen in ihm nun doch den geigneten Mann, um die Universität zu reformieren und zu reorganisieren. Im Juni 1534 übersiedelten Karlstadt und seine Familie nach Basel. Er wurde Pfarrer an St. Peter und Professor des Alten Testaments an der Universität. Mehrfach ist er Dekan der Theologischen Fakultät, 1534/35 und 1537/38 auch Rektor der Universität gewesen. Karlstadts Lebensweg war über eine Reihe wichtiger, spektakulärer Stationen wieder in eine Universitätskarriere eingemündet. Die Familie hatte durch die Tätigkeit des Vaters ihr Auskommen. Reichtümer konnte sie aber sicherlich nicht erwerben, war doch selbst der bescheidene Besitz der Anna von Mochau in Segrehna bei Wittenberg durch die Turbu-

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Vgl. dazu Volkmar Joestel, Ostthüringen und Karlstadt. Soziale Bewegung und Reformation im mittleren Saaletal am Vorabend des Bauernkrieges (1522-1524), Berlin 1996, insbes. S. 80-111; Zu Leben und Werk Karlstadts s. ULrich BubenheimeriKarlstadt, Andreas Rudolf Bodenstein von (1486-1541), In:Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. XVII, Berlin/New York 1988, S. 649-655. Vgl. Ulrich Bubenheimer, Andreas Rudolff Bodenstein von Karlstadt, In :Andreas Bodenstein von Karlstadt 1480-1541, Karlstadt 1980, S. 50-54. Zu Karlstadts Züricher Zeit s. Hans-Peter Hasse, Zum Aufenthalt Karlstadts in Zürich (1530-1534), In:Zwingliana 18, H. 4/5 (1990/91), S. 366-388.

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lenzen vergangener Jahre aufgezehrt worden. Seit ihrer Hochzeit mit dem bekannten Professor der Universität Wittenberg und damaligen Prälaten des Allerheiligenstifts hat Anna Anfeindungen, Entbehrungen und bittere Armut kennengelernt. Die katholischen Stiftsherren am Allerheiligenstift berichten empört am 29. Dezember 1521 an Kurfürst Friedrich den Weisen: „Des andern tags (26. 12. 1521 S. L.) ist bemelter Doctor Carolstadt sampt ethlichen, die er dazu vermocht, hynnaus auff ein dorff gezcogen (gemeint ist Segrehna S. L.), ime eine zum ehweib lassen vortrawen, das auch widder gemeinen gebrauch vnd die recht. Was sein straff darinne gnucsam ausgedruckt vnd ob es ime nachzugeben ader nicht, stellen wir in e. kf. g. gnedigs Bedencken" 4 . Seine Begleiter sollen Philipp Melanchthon und Justus Jonas gewesen sein. 5 Warum er sich gerade mit dieser jungen, ziemlich mittellosen, nicht sehr attraktiven Adligen verlobte, ist nicht bekannt. Aber für Karlstadt war nach seinen Vorstellungen über die Schädlichkeit und Unchristlichkeit des Zölibats diese Verlobung und die Heirat am 19. Januar 1522 folgerichtig. 6 An den Kurfürsten, dem er seine Verlobung am 6. Januar 1522 brieflich mitteilte, schreibt er: „Insonderheit betrachte ich, daß viel arme elende, betrogne und verlorne Pfaffen eine lange Zeit in des Teufels Gefängnis und Kerker liegen, denen ohne Zweifel durch vorgehende Exempel und Fürbilder möchte geraten und geholfen werden." 7 Seine Hochzeit feierte Karlstadt mit beträchtlichem Aufwand, eine größere Anzahl von schriftlichen Einladungen erging an Persönlichkeiten des Hofes und Adlige der Umgebung sowie an Kollegen an der Universität. Die Verbreitung der Einladung im Druck ist nicht durch Karlstadt selbst erfolgt, vermehrte aber den Eklat, daß ein Stiftsherr heiratete, um ein weiteres. 8 Karlstadt und seine Gattin sahen sich Hohn und Spott der Gegner ausgesetzt. Von Luther, der Anna kannte, wurde die Nachricht mit Anerkennung vermerkt. Er schreibt an Nikolaus Amsdorf am 13. Januar 1522: „Carlstadii nuptiae mire placent, novi puellam. Confortet eum Dominus in bonum exemplum inhibendae et minuendae papisticae libidinis. Amen." 9 Wie sein späteres Verhalten zeigt, hat Luther Anna in sein Verdikt gegenüber Karlstadt nicht in gleichem Maße einbezogen. Aber er hat auch nicht verhindert, daß sie mit wenigstens drei kleinen Kindern bis zu ihrem Ruhepunkt in der Schweiz das harte Schicksal von Vertriebenen erleiden mußte. Wie eine durch Ulrich Bubenheimer erstellte Stammtafel der Familie nachweist, ist der älteste Sohn 1523/24 in Orlamünde geboren und ein Jahr später gestorben. Sein Pate war Simon Grynäus. Der Zweitälteste Sohn Andreas ist Anfang 1525 in Orlamünde geboren (zu der Zeit war der Vater bereits ausgewiesen und

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Abgedruckt in:Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Leipzig 1905, Bd. 2 (im folgenden Barge 2), Anlage 12, S. 559. Ebenda, Bd. 1 (im folgenden Barge 1), S. 364. Andreas Karlstadt, Super coelibatu, monachatu et viduitate, Axiomata perpensa Wittenbergae, (Nickel Schirlentz), Wittenberg (Anf. August) 1521; s. a. Anonym, Daß die Priester Eheweiber neemen mögen und sollen . . . Beschützrede des würdigen Herrn Bartholomei Bernhardi, Propst zu Kemberg, (Nickel Schirlentz) Wittenberg 1522. Karlstadt an Kurfürst Friedrich vom 6.1.1522, in: (Corpus Reformatorum (CR) I, S. 539, zitiert nach Barge 1 (wie Anm. 5), S. 365. Sendbrief D. Andreas B. von Karlstadt meldend seiner Wirtschaft, (Matthes Maler, Erfurt 1522). Abfassungsdatum 5. Januar 1522, zugrundeliegend: Karlstadts oben erwähnter Brief an den Kurfürsten; erstmals abgedruckt in: Nikolaus Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, 2. Aufl. Leipzig 1911, S. 145/46, N r . 65. WA Br. 2 (1931), N r . 449, S. 423, Z. 45-47.

Annotationes über die nachgelassene Familie des Andreas Bodenstein aus Karlstadt

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befand sich in Rothenburg ob der Tauber). Er wird erst im Februar 1526 in Segrehna getauft (Paten:Justus Jonas, Philipp Melanchthon, Katharina Luther), weil Anna mit ihm nach Franken geht, das Flüchtlingselend des Vaters teilt, um schließlich wieder nach Wittenberg zurückzukehren. 1 0 Jakob wird 1526 in Bergwitz bei Wittenberg geboren, Adam 1528 in Remberg. 11 Bis zur völligen Rehabilitierung des Vaters mit der Übersiedlung 1534 nach Basel hatte die fünfköpfige Familie ein hartes Leben hinter sich. Am Weihnachtstag 1541 ist Andreas Bodenstein in Basel an der Pest gestorben. Selbst nach seinem Tode verstummte die böse Nachrede über ihn nicht. Sein Konkurrent an der Basler Universität, Oswald Myconius, berichtet am 17. März 1542 Luther über Legenden, die sich an Karlstadts Tod knüpften. 12 In verschiedenen Briefen gibt Luther diese fein dosiert wieder. 13 Seine schlechte Meinung über Karlstadt hat sich nicht geändert. Gleichzeitig mit dem Brief des Myconius an Luther wurde ihm ein Brief der Anna von Mochau, der Witwe Karlstadts an ihren Onkel Christoph von Mochau, der nach dem frühen Tod ihres Vaters ihr Vormund gewesen ist, übergeben. Der Brief ist also nicht an Luther gerichtet, wie Barge schreibt 14 , sondern Christoph von Mochau hat Luther den Brief zu lesen gegeben 15 . Der Brief selbst ist wohl verloren, sein Inhalt läßt sich bedingt aus den Briefen Luthers und Christoph von Mochaus an den Baseler Rat erschließen. 16 Offenbar enthält er Klagen über die zweifellos kritische soziale Lage der Familie. Anna hatte für mindestens vier noch minderjährige Kinder zu sorgen. Ein fünftes mußte offenbar erwartet werden, denn aus den Basler Taufregistern geht hervor, daß die jüngste Tochter Gertrud am 31. Juli 1542 geboren und in St. Peter getauft wurde. 1 7 Zur mutmaßlichen Schwangerschaft kommt noch ein angegriffener Gesundheitszustand, über den Karlstadt schon in einem Brief an Bulliger vom 10. Juni 1541 berichtet. 18 Eine gewisse Verbitterung über ihr Schicksal wird sicherlich mitschwingen, ist auch angesichts der obwaltenden Umstände verständlich. Ob allerdings Anklagen gegen den verstorbenen Gatten in einer solchen Schärfe ausgesprochen werden, wie Luther in einem Brief vom 30. 4. 1542 an Justus Jonas in Halle berichtet, sei dahingestellt. Es heißt da: „Uxor Carlstadii hue scripsit literas tristitia plenas et tyrrannidem mariti (etiam post mortem eius) grauiter accusantes, ut reliquerit nudam, et perditis clinodiis suis egentem, debentem, exulantem, quinque liberis gravatam, nihil proprii habentem etc. Si ex fructibus arbor iudicanda sit, nae ille recta ad infernum saltauit, imo praeeipitem sese dedit, nisi quod mortuorum iudices esse non possumus; tarnen sie uxorem loqui est horribile, praesertim contra maritum, id est carnem suam". 19

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Jener Andreas ist 1536 als Student in Zürich bezeugt und soll zum Katholizismus zurückgekehrt sein. Vgl. Barge 2 (wie Anm. 4), S. 518/19. Bubenheimer, Karlstadt(wie Anm. 2), Abb. S. 53. WA Br 10 (1947), Nr. 3725, S. 13-14; die Anna betreffenden Teile S. 13 unten - S. 14, Z. 12. u. a. Luther an Justus Jonas in Halle, 16. Febr. 1542, WA Br. 9 (1941), Nr. 3714, S. 621, Z. 20/21; 622, Z. 25-29; Luther an Jakob Probst in Bremen, 26. M ä r z 1542, WA Br 10, Nr. 3728, S. 24, Z. 30-33; Luther an Nikolaus Amsdorf in Zeitz, 7. April 1542, Ebenda, Nr. 3732, S. 29, Z. 24-S. 30, Z. 35; Luther an dens., 13. April 1542, Ebenda, Nr. 3741, S. 49, Z. 55-59. Barge 2 (wie Anm. 4), S. 515. Vgl WA Br. 10, S. 14, Anm. 2 Luther und Melanchthon an den Rat zu Basel, 29. 5. 1542, WA Br. 10, Nr. 3756, S. 71-72; Christoph von Mochau an den Baseler Rat 30. 5. 1542, abgedruckt bei: G. Linder, Die Beziehungen Luthers zu Basel mit besonderer Berücksichtigung eines bisher ungedruckten dritten Briefes Luthers an den Rat in Basel, in:Theologische Studien und Kritiken, Bd. 59(1886), S. 735-774, insbes. S. 745-757, Text des Briefes S. 756/57(nach dem Original im Baseler Staatsarchiv, Sign.: St76 D, Nr. 3). Nachlaß Dr. Arnold Lötz, Genealogie der Familie Bodenstein, STA Basel, PA 355 C, Nr. 539 . Barge 2 (wie Anm. 4), Anlage 55, S. 610. WA Br. 10, Nr. 3745, S. 54, Z. 13-19.

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Obwohl es darüber keinen Quellennachweis gibt, dürfte eingetreten sein, daß Anna und die Kinder nach dem Tode des Vaters nicht mehr berechtigt waren, in dem Haus des Pfarrers von St. Peter, das kirchliches Eigentum war, weiter zu wohnen. Auch ein großer Teil der Einrichtungsgegenstände gehörte der Familie nicht. In den Bauakten des Basler Staatsarchivs 20 existiert eine eigenhändige Erklärung Karlstadts vom 10. März 1539 das Stiftsgut St. Peter betreffend: „Ich Andreß Botenstein von Carolstat/Lüthmeister zu Sanndt Peter/tun meniglichen hiemit kundt daß ich hernach angezeuchten stuke/ Deren halben sich die erwirdigen und fürsichtigen herrn der stiffte zu S. Peter mit dem hochgelerten hern doctore Paulo vereinparet/in der abgemelter stiffte behusung/in welcher ich wonen/gefunden/vnd widervmb drinnen wil lan/one einige myner und myner Erben Einspruch. Nämlich ein bankdrögly in der mitteil Stuben mit zweyen Schubladen. Item ein küpfrin offenhafen. Item ein umlouffender spis. Item den grossen bücherschafft in der grössere Stuben. Item das Röstlich Schloß an der stubenthuren in der fordren Stuben. Das alles sollend wäder ich noch die myne obgenempten mynen üben herrn endwären(entwenden, S. L.) sonder bleiben lassen." 2 1 Die Panik der Witwe Karlstadts scheint also nicht nur aus ihrer Mittellosigkeit, sondern auch aus der drohenden Gefahr der Obdachlosigkeit erwachsen gewesen zu sein. Luther, Melanthon und Christoph von Mochau reagierten auf den Brief. D e r von Schreiberhand gefertigte, nur mit den eigenhändigen Unterschriften von Luther und Melanchthon versehene Brief vom 29. Mai 1542 an den Basler Rat bezieht sich auf die Bitte um Beistand für die Nichte durch Christoph von Mochau, bittet um Wohlverhalten der Basler der Witwe und ihren Kindern gegenüber und betont besonders die Obhutspflicht des Rates gegenüber seinen Kirchendienern und ihren Familien. 2 2 Injurien gegenüber Karlstadt enthielt man sich. Auch der Brief von Mochaus an den Baseler Rat vom 30. Mai 1542 - ebenfalls von Schreiberhand nur mit eigenhändiger Unterschrift- enthält keine Ausfälle gegen den Ehemann seiner Nichte. Er schildert ihre soziale Lage:fünf kleine Kinder, keine eigene Behausung oder Vorrat, dazu noch eine Summe Geld schuldig. Diese Nachricht habe ihn besonders betrübt: „Dan, wiewol ich mich eines sonderlichen vormugens bei gedachtem meinem Schwager, dem Gott genade, nihe vormutet, So hab ich mich doch der eußersten noth vnnd armut, so hoch, wie sie sich leider eräuget (erzeigt, augenscheinlich ist S. L.) vnnd außweiset, viel weniger können vorsehen." 2 3 Er selbst könne der Witwe keine Hilfe leisten, erbitte aber eine solche vom Basler Rat. Er bittet um umgehende Antwort durch den Boten, der seinen Brief überbrachte. Die Vermittlung des Briefes von Anna an ihn durch Grynäus und Luther erwähnt er nicht, auch nicht, daß er Luther und Melanchthon um ihre Fürsprasche gebeten hat. Anna hat er offenbar in einem gesonderten Schreiben seiner Anteilnahme versichert („habe ich ihr mein bedencken zugeschrieben," Linder, S. 757, Z. 15) und auf sein Schreiben an den Rat verwiesen. Beide Schreiben gingen zusammen in Basel ein und wurden am 19. Juni im Rat vorgetragen. 24 O b es dazu irgendwelche Beschlüsse gegeben hat, ist nicht bekannt.

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Bei Barge nur in einer Anm. in einem anderen Zusammenhang und ohne nähere Beschreibung des Inhalts genannt, Barge 2 (wie Anm. 4), S. 504, Anm. 286. STA Basel, Bauakten M M 19. W A Br. 10, N r . 3756, S. 72, Z. 2 0 - 2 5 . Eine Beschreibung der Briefe Luther/Melanchthon und des von Mochaus gibt Linder (wie Anm. 16) S. 750.

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G. Linder(wie Anm. 16), S. 757, Z. 5 - 9 .

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W A Br. 10, Einleitung zu N r . 3756, S. 71. Bei der Beschreibung der Originale stellt Linder (wie A n m . 16) die Ratsvermerke fest „Betrifft Carlstats seligen wittwe vnnd Kind, putat. 19. Junii Anno 1 5 4 2 " und (auf dem Brief v. Mochaus) „Betrifft Doktor Carlstats frowen und Kind, putat. 19. Junii A°, 4 2 " .

Annotationes über die nachgelassene Familie des Andreas Bodenstein aus Karlstadt

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Anna Bodenstein schein: aber zu dieser Zeit über ihre wahren Vermögensverhältnisse nicht informiert gewesen zu sein. Barge 25 ist eine U r k u n d e vom 2. März 1545 bekannt geworden, die einen Zinsverkauf durch Anna, Witwe des Andreas Bodenstein und ihrer Kinder, an das St. Peters Stift um 155 P f u n d Basler W ä h r u n g zum Gegenstand hat. 26 Karlstadt hatte also, um den Unterhalt der Familie zu sichern, Kapitalien zinsbar ausgeliehen. Die U r k u n d e ist sowohl in Hinsicht auf die Menge des ausgeliehenen Kapitals und den Zinsbedingungen als auch auf die N a m e n der N u t z n i e ß e r interessant. Es sind die fünf Kinder Adam, Jacob, Daniel, Küngold und Gertrud sowie die Witwe. Das Basler Staatsarchiv enthält f ü r diesen Zusammenhang weitere Stücke, die den Sachverhalt deutlich machen und die bisher in die Betrachtung nicht einbezogen wurden. In der von Barge zitierten U r k u n d e vom 2. März 1545 wird als Grundlage für die Zinseinnahmen der Witwe und ihrer Kinder eine Hauptverschreibung erwähnt. Auch diese ist unter den Pergamentsurkunden(mit Siegel) vom St. Peters Stift enthalten. 2 7 Sie stammt vom 26. April 1540 und ist zu gunsten des „würdigen Hochgelerten H e r r n Andreas Bodenstein von Karolstat der heiligen geschrifft D o c t o r zu Basel" und seinen Erben bzw. demjenigen, der diese Zinsverschreibung von ihnen ehrlich erworben hat, abgefaßt. Ein gewisser Balthasar Schonlin verkauft zusammen mit seiner Ehefrau Zins von besonderen Gütern in Weil, die alle im einzelnen mit der genauen Summe bzw. der Zinsart aufgenommen sind. Die Verhandlung wird von Fridlin Schony, Vogt zu Weil, geführt und beurkundet. Karlstadt hat an der Verhandlung selbst nicht teilgenommen. In seiner Abwesenheit unterzeichnet für ihn B. Gebwiler, Doctor. Insgesamt geht es um ein ausgeliehenes Kapital von 109 Pfund, für das jährlich am St. Martinstag Zinsen von 5 Pfund und 9 Schillinge zu zahlen waren. Karlstadt hatte also keine Schulden hinterlassen, sondern im Gegenteil eine ziemlich große Summe Geldes selbst verliehen. In einem anderen Zinsbrief 28 wird diese Abmachung nochmals erwähnt. Aus einem weiteren geht hervor, daß sich ein gewisser Hans Hödel aus Weil an der Zinsablösung der Hauptverschreibung vom 26. April 1540 beteiligt haben muß, denn es bezeugt ein gewisser Petrus Keßler mit Unterschrift die Ablösung von 70 Pfund Basler Währung in Anwesenheit, „der mutter vnd Adams." 2 9 In den Jahren 1543 und 1544 werden weitere Ablösungen von Zinskäufen durch Schuldner an Anna und die Kinder Karlstadts durch Petrus Keßler bezeugt. Weitere Hauptverschreibungen von Zinskäufen Karlstadts aus den Jahren 1539 und 1541, die zugunsten der Witwe und ihrer Kinder gingen, sind aus der bei Barge zitierten Urkunde von St. Peter vom März 1545 zu entnehmen. Nachdem der erste Schock über den plötzlichen Tod ihres Gatten überwunden war, fand Anna ihre Tatkraft wieder und erkannte, daß Karlstadt durchaus für sie und die Kinder vorausschauend gesorgt hatte. O b sie weiter in der Stiftswohnung wohnen durfte oder eine andere Wohnung in Basel gemietet hat, ist nicht bekannt. Aber ohne Basler Bürgerrecht und ohne festes Einkommen eines Ehemanns war ihre Lage auch mit dem bescheidenen Erbe nicht günstig. Der Zinsverkauf vom 2. März 1545 an Propst, Dekan und Kapitel des Stifts St. Peter durch Anna Bodenstein schuf ihr die Möglichkeit, Basel zu verlassen. Die erwartete Geldsumme war ihr Kapital für einen neuen Anfang. In den Ratsbüchern von Basel findet sich das Konzept für einen Geleitsbrief Annas und für eine Art „polizeiliches Führungszeugnis" für sie und ihren Ehemann. Das Schriftstück ist vom 16. März 1545 und von dem bekannten langjährigen Bürgermeister T h e o d o r Brand und dem Rat der Stadt 25 26 27 28 29

Barge 2(wie Anm. 4), STA Basel, Urkunden STA Basel, Urkunden STA Basel Zinsbriefe, Ebenda, Nr. 23 b.

S. 516/17. St. Peter, N r . 1488. St. Peter, N r . 1476. N r . 23.

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Sigrid Looss

Basel verfaßt und mit dem Siegel der Stadt versehen. 30 Anna war zusammen mit dem Ratsherrn Jakob Rude(Rüdin, Rudin), der ihr vom Rat als Vogt zugeordnet war, vor dem Rat erschienen und hatte darum gebeten, daß man sie, „jrer hohen nothurfft nach" zusammen mit ihren kleinen Kindern, „widerumb jn jr vatterland zu reisen" erlauben möge. Sie bat außerdem um einen Geleitsbrief des Rates, der ihres und ihres Gatten Wohlverhalten anzeigte. Der Rat gab ihrem Ansinnen statt und befand: „Demnach Doctor Carlstatt seliger vergangener j a m durch die Herrn Deputaten so die geschefft der Kilchen unnd Schulen zuverwahren verordnet uff unserm bevelch erstlich die predicatur jns Thumstifft auch zum ordenlichen lerer jn der hailigen schrifft beruefft vnnd nachmals jn Sant Peters Stifft zum Pfarherren ordenlich erweit worden. Das sich der genannt Doctor Carlstadt an des beden der Kilchen vnd schulen diensten, wie sich einem fromen gotsforchtigen cristenlichen Predicanten vnnd Kilchendiener geburt, ayn cristlichen leeren vnnd erbaren lebens ehrlich vnd redlich gehalten hatt, bys jn syn end. Wellicher am dienst der pfarramter by Sant Peter Cristenlich vnd seligklich jm herrn geendet vnd beschlossen. Das wir jm, wo es Gott gefallen gern langer haben mögen. Es hat sich auch die gedachte Anna mechin by zyt jrs herren vnnd gemahels seligen zustender Ee vnnd nachmals als der herr jrn Eewirt vß den zyten dis Jammerthals zu den frouden ewiger Seligkeit berufft, jn wyttwen stand . . . eerlich vnd wol gehalten. Das wir jrn alle eer vnnd guts erwiesen . . . wir einer fromen vnversprochnen (ohne üble Nachrede S. L.) person vertruwen vnd glouben. Sy ist auch mit vnserm gutten gunst, wissen vnd willen . . . von vnns abgeschiden . . . " Das Schriftstück ist in mehrfacher Hinsicht wichtig und deshalb auch ausführlich zitiert worden. Zunächst enthält es die uneingeschränkte Zustimmung und Hochachtung des Rates Andreas Karlstadt gegenüber, zu dessen Arbeit als Prediger im Dienste des Rates man sich rückhaltlos bekennt. Es spiegelt sich hier die völlige Rehabilitierung des vormals aus Kursachsen ausgewiesenenen Flüchtlings wieder. Diese Hochachtung bezieht sich auch auf die Ehefrau und Witwe. Für Anna war dieses Schriftstück besonders wichtig, weil sie zurück in ihr, „vatterland", d. h. in den Bereich des sächsischen Kurfüsten wollte und dort das Verdikt gegenüber Karlstadt noch andauerte. Wohin sie mit vier Kindern, also Jacob (19 Jahre), Daniel (6 Jahre), Küngold (8 Jahre) und Gertrud (3 Jahre) 3 1 genau wollte, ist nicht bekannt. Es ist aber zu vermuten, daß sie nach Segrehna gezogen ist, um eventuell mit Hilfe ihres Onkels dort wieder Eigentum zu erwerben. In Basel tauchen über sie und die vier erwähnten Kinder keine Nachrichten mehr auf. Das Geschlecht der Bodensteins in Basel knüpft an den in der Stadt verbliebenen Sohn Adam an, der 1545 17 Jahre alt ist. Es wird in dem Ratsdokument ausdrücklich hervorgehoben, daß Adam in Basel bleiben wird, um sein Studium an der Universität fortzusetzen. Er hat während des 2. Rektorats seines Vaters (1537 - 30. April 1538) offenbar schon als Zehnjähriger Veranstaltungen an der Universität besucht, denn er ist als 19. Student in die Universitätsmatrikel eingetragen mit dem Vermerk „filius rectoris-nihil", d. h. er hatte keine Gebühren zu bezahlen. 3 2 Aus dem Ratsschreiben geht auch hervor, daß Adam ein

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Anna Mechin D . Andresens Bottnsteins gelassner Wittib Abscheid ouch Irens vnnd gemelts Irs gemahels seligen wolhalten. STA Basel, Ratsbücher D 2, fol 109 r + v .

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Küngold, geb. 11. Juni 1537 in Basel, getauft in St. Peter Daniel, geb. 20. Februar 1539 in Basel, get. in St. Peter Gertrud, geb. 31. Juli 1542 in Basel, get. in St. Peter, N a c h den Taufregistern St. Peter, STA Basel, Nachlaß Dr. Arnold Lötz, PA 3 5 5 C , N r . 539.

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Universitätsmatrikel der Universität Basel, Bd. II, S. 17.

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Annotationes über die nachgelassene Familie des Andreas Bodenstein aus Karlstadt

S t i p e n d i u m d e s Rates b e k o m m e n hatte. Seine w e i t e r e n L e b e n d a t e n sind b e k a n n t . A m 26. 10. 1546 w i r d er baccalaurius

artium,

a m 8. 2. 1548 m a g i s t e r artium. D a n a c h studierte er

M e d i z i n in Basel, Freiburg, L e i p z i g , M a i n z u n d Ferrara, w o er am 11. 3. 1550 d e n D o k t o r der M e d i z i n erwarb. A m 10. 11. 1558 w i r d er in Basel in das Concilium

medicorum

berufen

u n d a m 27. 1. 1564 als f a n a t i s c h e r A n h ä n g e r d e s Paracelsus aus der M e d i z i n i s c h e n Fakultät u n d d e m C o n c i l i u m m e d i c o r u m a u s g e s c h l o s s e n . 1 5 7 7 ist er Basel g e s t o r b e n . Er w a r z w e i m a l verheiratet, z u n ä c h s t m i t E s t h e r W y s s , der T o c h t e r des S c h a f f n e r s v o n St. Peter in Basel, d a n a c h m i t Maria Jacobs, g e b o r e n e S c h e n c k . D e r e n Vater, G e o r g S c h e n c k , ist A m t m a n n z u S c h w e i n s b e r g in N e u k i r c h e n u n d w o h l e i n alter B e k a n n t e r s e i n e s Vaters g e w e s e n . 3 3 A u s b e i d e n E h e n sind i n s g e s m t 15 K i n d e r h e r v o r g e g a n g e n . D i e F a m i l i e ist bis 1623 in d e n Taufregistern v o n St. Peter n a c h w e i s b a r . 3 4 O b A d a m j e m a l s w i e d e r K o n t a k t z u seiner M u t t e r u n d s e i n e n G e s c h w i s t e r n hatte, ist n i c h t b e k a n n t .

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Ein Georg Schenk ist der Adressat der Karlstadt-Schrift von 1523," Was gesagt ist, sich gelassen und was das Wort Gelassenheit bedeutet . . . " . Er hat mit Karlstadt zusammen in Wittenberg studiert, ist 1523 Ratsherr in Schleusingen (Grafschaft Hennberg), 1525 hier Bürgermeister, nach dem Bauernkrieg wird er aus Schleusingen ausgewiesen, da er sich reformations- und bauernfreundlich gezeigt hatte. Vgl. Ulrich Bubenheimer, Phänomene der Karlstadtrezeption von der Reformation bis zum Pietismus im Spiegel der Schriften Karlstadts zur Gelassenheit, Typoskript vom 16. 11. 1995, S. 4 (zum Colloquium „Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486-1541), ein Theologe der frühen Reformation," am 24./25. Nov. 1995 in Wittenberg); s. a. über Karlstadts Schriften zur Gelassenheit Ulrich Bubenheimer im vorliegenden Bd. S. . . . Auch: Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, Bd, 2, hg. Günther Franz, Leipzig 1934, S. 428, 566, 604/05.

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Vgl. Nachlaß Dr. Lötz, STA Basel, PA 355 C, N r . 539; zu Adam speziell: Universitätsarchiv Basel X 4, Medizinische Fakultät, Akademische Grade, Η 1, 35; Universitätsarchiv, Matricula facultatis artium (philosophorum) 1460-1748, 261. 90; Matricula facultatis medicae 1460-1804, 5'(33); Albrecht Burckhardt, Geschichte der medizinischen Fakultät zu Basel 1460-1900, Basel 1917, S. 56 ff; AdB 3 (Leipzig 1876), S. 7/8.

VOLKMAR JOESTEL, LUTHERSTADT WITTENBERG

Magister Bonifatius von Roda Ein Wittenberger Mathematiker und Bekannter Karlstadts

Prosopographische Untersuchungen sind wie kaum ein anderes Genre geeignet, sonst streng getrennte Bereiche der Wissenschaft interdisziplinär zusammenzuführen und damit die Totalität der Historie widerzuspiegeln. Diese Studie will anhand der Nachzeichnung wichtiger Stationen des Lebensweges eines Bekannten des Reformators Andreas Bodenstein einige Fakten und Zusammenhänge aufzeigen, die für so disparate Themen wie Karlstadts Orlamünder Wirksamkeit, frühneuzeitliche kirchenpolitische und soziale Konflikte in Ostthüringen, aber auch für frühe naturwissenschaftliche Einflüsse der Universität Krakau auf die Wittenberger Leucorea neue Anregungen vermitteln können. Da der ostthüringische Wirkungsbereich Andreas Bodensteins 1523/24 für die Untersuchung eine wichtige Rolle spielt, seien einige Bemerkungen zur kirchenpolitischen Struktur dieses Gebiets vorangestellt. Die in Ostthüringen an der Saale gelegene Parochie Orlamünde mit der Pfarrkirche Unser Lieben Frau gehörte zum Erzstift Mainz, genauer zur Sedes Oberweimar des Archidiakonats Beatae Mariae Virginis in Erfurt.1 Seit 1504 liefen jedoch im Zuge der Bestrebungen zum Ausbau des landesherrlichen Kirchenregiments Verhandlungen zwischen Kurfürst Friedrich dem Weisen und der Kurie über die Inkorporierung einiger thüringischer Pfarreien in landesherrliche Stifte. In diesem Zusammenhang wurde durch päpstliches Dekret vom 20. Juni 1507 auch die Parochie Orlamünde dem Wittenberger Allerheiligenstift inkorporiert, dessen Patron der Stifter, Kurfürst Friedrich der Weise wurde.2 Praktisch wirksam war diese Regelung seit 1509.3 Der überdurchschnittlich großen Parochie war eine ganze Anzahl ländlicher Pfarreien inkorporiert, die zum Teil wiederum Filialen besaßen.4 Bereits 1510 war Karlstadt mit der Übernahme des Archidiakonats am Wittenberger Allerheiligenstift formell Pfarrer von Orlamünde geworden, ließ sich aber dort, wie es weithin üblich war,5 durch einen Vikar, Konventor genannt, vertreten.6 Die Nominierung dieses Vikars oblag der Wittenberger Universität, die Präsentation dem Kurfürsten und die institutio dem Stadtpfarrer (nicht mehr dem Erfurter Marienstift!). Seit dem 26. Februar

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Vgl. Martin Hannappel, Das Gebiet des Archidiakonats Beatae Mariae Virginis Erfurt am Ausgang des Mittelalters. Ein Beitrag zur kirchlichen Topographie Thüringens, Jena 1941 (=Arbeiten zur Landes- und Volksforschung 10), S. 190-196. Vgl. Friedrich Israel, Das Wittenberger Universitätsarchiv, seine Gesch. und seine Bestände, Halle/S. 1913 (=Forschungen zur Thüringisch-Sächsischen Gesch. 4), Nr. 83. Vgl. ebd., Nr. 86. Vgl. Julius Löbe/Ernst Löbe, Gesch. der Kirchen und Schulen des Herzogtums Sachsen-Altenburg, Bd 3, Altenburg 1891, S. 461-726; E. Löbe, Die Kirchenvisitation im Westkreis unseres Herzogtums im Jahre 1529, in: Mitteilungen des Vereins für Gesch. und Altertumskunde zu Kahla und Roda 2 (1884), S. 187f.; Regesten und Urkunden über die Kirche Unsrer Lieben Frau zu Orlamünde, T. 2, Hg. E. Löbe, Nr. 31, in: Ebd., S. 347-351. Auch im benachbarten Kahla war diese Stellvertretung üblich, (vgl. Heinrich Bergner, Gesch. Kahlas, H. 2, Kahla 1919, S.91). Vgl. Karl Müller, Luther und Karlstadt, Tübingen 1907, S. 137f.; Martin Wähler, Die Einführung der Reformation in Orlamünde, Erfurt 1918, S. 49-51.

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Volkmar Joestel

1518 war Magister Konrad Glitzsch Pfarrconventor in Orlamünde, der von Karlstadt einen Teil der Pfarrpfründe erhielt. 7 Er hatte vom Wintersemester 1502/03 bis zu seiner Versetzung nach Orlamünde an der Philosophischen Fakultät der Leucorea in Wittenberg gewirkt. 8 Nach der Wittenberger Bewegung 1521/22 war Karlstadt bei Luther und dem Kurfürsten in Ungnade gefallen und von der Universität mit einem Publikationsverbot belegt worden. Parallel zur weiteren Entwicklung seiner Theologie suchte er nun nach Möglichkeiten, die von ihm proklamierte religiöse und theologische Mündigkeit der einfachen Laien auch im praktischen Gemeindeleben zu realisieren. Eine Möglichkeit bot sich ihm im Frühjahr 1523 mit der Übersiedlung nach Orlamünde. Bis zu seiner Ausweisung aus Kursachsen durch den Kurfürsten im September 1524 konnte Karlstadt hier seine reformatorischen Ideen gemeinsam mit der bis zuletzt zu ihrem Pfarrer stehenden Gemeinde in die Tat umsetzen. In der reformationsgeschichtlichen Forschung spielt das Problem der „Radikalität" eine wichtige Rolle. Für die theoretische Durchdringung hat Günter Mühlpfordt wichtige Aspekte aufgezeigt. 9 Unabhängig von allen Definitionen und Abgrenzungen ist es communis opinio, daß Karlstadt einer der wesentlichen „radikalen" Reformatoren war. Neben seinem Wirken während der Wittenberger Bewegung 1521/22 und seiner Auseinandersetzung mit Luther um das Abendmahl seit 1524 war es besonders seine Wirksamkeit in Orlamünde 1523/24, die Karlstadt den Ruf eines unter dem Einfluß Thomas Müntzers stehenden „Schwärmers" und „Propheten" einbrachte. In der Tat hatte Bodenstein im Juli 1524 in Orlamünde einen Brief Thomas Müntzers aus Allstedt mit der Aufforderung erhalten, dessen Verbündnis beizutreten, den Karlstadt am 19. Juli abschlägig beantwortete. 10 Über dieses Erlebnis berichtete er nach dem Bauernkriege in seiner 1525 gedruckten „Entschuldigung D. Andres Carlstads des falschen namens der auffrür", daß sein Geblüt beim Lesen des Müntzerbriefs erkaltet sei und er ihn vor Schreck in viele Stücke zerrissen habe. Er fuhr fort: „Hernach aber bedachte ich, das ich sollichen briffe, auffs minste einem solt gezeigt haben, damit doch irgent eyner wissen trüg, wilche torheit mir der Müntzer anmutten dorfft, vnd wie leichtfertig vnd vnwitzig mich der Müntzer achtet [ . . . ] Derhalben setzet ich mich bald auff ein pferdlein, vnd eylet gen Hellingen" zu Magistro Bonifacio, beclagt mich des Muntzerischen briffs, solicher

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Vgl. Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, B d 2 , Leipzig 1905 (Ndr.: N i e u w k o o p 1968), S. 96. 568f. Anlage 17a. Vgl. Ulrich Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung, L e i d e n / N e w York/Kopenhagen/ Köln 1989 (»Studies in Medieval and Reformation Thought 46), S. 175f. Anm. 180. Vgl. Günter Mühlpfordt, Rezension zu G o r d o n Rupp, Patterns of Reformation, London 1969, in: Mennonitische Geschichtsblätter, J g . 28, N F 23 (1971), S. 85-89; ders., Der frühe Luther als Autorität der Radikalen. Zum Luther-Erbe des „linken Flügels", in: Weltwirkung der Reformation, Bd 1, Berlin 1969, S. 205-225; ders., Radikal - eine Kategorie in Anwendung auf Reform, Reformation und Revolution, in: Reform, Reformation, Revolution, H g . Siegfried Hoyer, Leipzig 1980, S. 156-166; ders., Luther und die „Linken". Eine Untersuchung seiner Schwärmerterminologie, in: Martin Luther. Leben-Werk-Wirkung, H g . Günter Vogler in Zusammenarbeit mit Siegfried Hoyer u. Adolf Laube, Berlin 1983, S. 325-345. Eine historiographische Zusammenfassung unter dem Titel „Radikale Reformation. Ziel und Wirklichkeit im Urteil der Mit- und Nachwelt von Luther bis heute", die 1980 dem Akademie-Verlag vorlag, wurde ein O p f e r der Zensur. Ein Sammelband „Kryptoradikale Reformatoren", H g . G . Mühlpfordt, ist in der Reihe „Wolfenbütteler Forschungen" angekündigt. T h o m a s Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, H g . Günther Franz u. Paul Kirn, Gütersloh 1968, Briefwechsel N r . 56. Obwohl in den Quellen zumeist von „Hellingen" die Rede ist, handelt es sich eindeutig um das Dorf

Magister Bonifatius von Roda

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vnchristlicher anmüttung, böses argwans, vernichtigung meiner person, vnd verlewmung meynes lebens [ . . . ] Darauff fugten wir die stuck des briffs, auf eynem tisch zusamen, vnd als wir des Müntzers brieff gelasen, da ward obgenannter Bonifacius ye so vngeduldig vnd zornig widder den Müntzer als ich [ . . ,]" 12 Es sei dahingestellt, ob die hier geschilderte Motivation Karlstadts den Tatsachen entsprach. Eher scheint er durch den Brief Müntzers zunächst zutiefst aufgewühlt und verunsichert worden zu sein, weshalb er sich mit einem Freund beraten wollte. Deutlich wird jedenfalls, daß besagter Magister Bonifatius einer von Karlstadts engsten Vertrauten in dessen unmittelbarem Wirkungskreis in Orlamünde war. Wer war dieser Bonifatius? In der Forschung finden sich einige, jedoch eher irreführende Anhaltspunkte. So geisterte ein Kahlaer Geistlicher namens Bonfatius, der ein Anhänger Karlstadts gewesen sei, durch die Literatur. Die Quelle dafür war Christoph Heinrich Loeber, der ihn 1701 unter den ersten evangelischen Pfarrern Kahlas aufführte und anfügte: „vel in ipsis turbis Carolstadianis, vel paulo post illas pastor fuit?" (War er Pastor in diesen Karlstadtschen Wirren, oder wenig später?) 13 Ernst Löbe vermutete 1876, und dem Schloß sich die Literatur weitgehend an, daß dieser „Bonifatius" nach dem Bauernkriege begnadigt wurde und eventuell mit dem späteren ersten evangelischen Pfarrer von Walpernhein, Bonifatius Wagner, identisch sei. 14 Auf diesen imaginären „Bonifatius" bezog die Forschung zunächst auch Luthers Aussage vom 27. Oktober 1524 im Brief an Amsdorf: „Plebanus Calensis resipuit et veniam petit, dum esset et ipse iussus terra exire; scripsi pro eo, nescio an impetrem". (Der Pleban von Kahla ist umgekehrt und bittet um Gnade, da auch ihm geboten worden war, aus dem Lande zu gehen. Ich habe für ihn geschrieben, weiß aber nicht, ob ich es erlangen werde.) 15 Erst Paul Flemming wies 1913 nach, daß es sich bei dem „Plebanus Calensis" nicht um einen „Bonifatius", sondern um den Kahlaer Pfarrvikar Johann Wolffram gehandelt hat, der 1529 bekannte, ein Karlstadtanhänger gewesen zu sein, sich jedoch mittlerweile von diesem distanziert zu haben, und daher um die Übertragung einer neuen Pfarrstelle bat. 16 Einen ersten weiterführenden Hinweis auf den von Karlstadt genannten Bonifatius aus Heilingen gaben Julius und Ernst Löbe schon 1891. Sie erwähnten unter Berufung auf Loeber, daß ein „M. Bonifacius Roda, von Czorbeck [Zörbig]" 1522 als Pfarrer von Heilingen auf der ersten Seite des Kirchenregisters des Dorfes Mötzelbach seinen Namen geschrieben habe und dann als Diakon nach Pößneck versetzt worden sei. 17 Diese Hinweise werden durch ältere regionalgeschichtliche Quellen und Literatur bestätigt und wesentlich erweitert. Eine Kurzbiographie des Bonifatius von Roda, zwar unvollständig und fehlerhaft, findet sich in lateinischer Sprache auf seinem Grabstein, der sich seit der Zerstörung des Pößnecker Museums 1945 auf Burg Ranis befindet. Die Worte sind heute völlig unleserlich. Ein Pößnecker Chronist hat sie aber um 1800 übersetzt: „Der, dem der Name eines eigentlichen Wohltäters war, hatte den adligen Zunamen der Rodai-

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Heilingen bei Orlamünde und nicht, wie Max Steinmetz meinte, um Hellingen bei Heldburg. (vgl. M. Steinmetz, Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels, Berlin 1971 (-Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter Reihe B, Bd 4), S. 206. Karlstadts Schriften aus den Jahren 1523-1525, Hg. Erich Hertzsch, T. 2, Halle/S. 1957, S. 111,18-32; vgl. Barge (wie Anm. 7), S. 114f. Christoph Heinrich Loeber, Historia Ecclesiastica, quae Ephoriam Orlamundanam in Ducatu Altenburgensi d e s c r i b i t . . ..Jena 1701, S. 386. Vgl. E. Löbe, Nachrichten über die St. Margarethenkirche zu Kahla, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichts- und Alterthumskunde zu Kahla und Roda 1 (1876), S. 36. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel, Bd 3, Weimar 1933, S. 361,17f. Vgl. Paul Flemming, Fünf Lutherbriefe, in: Theologische Studien und Kritiken, Jg. 86 (1913), S. 293f. Vgl. J. Löbe/E. Löbe (wie Anm. 4), S. 562; Loeber (wie Anm. 13), S. 364.

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Volkmar Joestel

sehen Familia. Hier liegt er, der ausgediente Prediger zu Pößneck, ein frommer Greis, der 80 Jahre zählt, er war geboren in der alten Stadt der Sorben in Zörbig, 18 durch seine Geschicklichkeit erwarb er zu Prag die Magisterwürde. Wittenberg sah ihn auf dem Schloß seiner Elbschule den Lauf seiner Gestirne lehren, bis er auch in Christo den Weg zu den Sternen des Heils wies, so wie ihn der Glaube allein wies. Ein rechtschaffener Mann, von alter Tugend und Treue, der sein Amt pünktlich verwaltete, der die Vorschriften und Gebote Gottes, die er lehrte, auch selbst befolgte und die ihm anvertraute Gemeinde mit Mund und Beispiel weidete. Christo übergab er seine Seele, seine hinfälligen Gebeine dem Grabe, zwar gestorben vor den Menschen, aber lebend vor Gott, gestorben 1560" 19 Diese Angaben ergänzte A. Zapf 1889 dahingehend, daß Bonifatius von Wittenberg als Prediger nach Heilingen gegangen sei und danach in Pößneck als Diakon gewirkt habe. Gestorben sei er am Montag nach Pauli Bekehrung 1560. 20 Heute lassen sich wichtige Stationen auf dem Lebenswege des Bonifatius von Roda nachzeichnen. Er wurde 1479 oder 1480, also sechs oder sieben Jahre vor Karlstadt, in Zörbig bei Bitterfeld geboren. Im Sommersemester 1502 ließ er sich in der fernen Universität Krakau (nicht in Prag!), die besonders wegen ihrer mathematischen und astronomischen Leistungen einen hohen Ruf genoß,21 immatrikulieren. Hier erlangte er am 14. September 1505 den Grad eines baccalaureus artium. Im Wintersemester 1505/06 schrieb sich Roda an der erst 1502 gegründeten Wittenberger Universität ein. Kurz vorher war Andreas Bodenstein an gleicher Stelle zum magister artium promoviert worden. Im Sommersemester 1509 erwarb Roda, der in den Universitätsakten auch unter den Namen Bonifatius Erasmi oder Magister Zörbig erscheint, den gleichen Grad. 1513 trat er in den Senat der Philosophischen Fakultät ein. 1514 wurde, wohl auf Initiative von Roda selbst, eine Reform der Philosophischen Fakultät vorgenommen, die vor allem erstmals eine selbständige öffentliche Mathematikvorlesung brachte. Kurz nach der Übernahme der mathematischen Vorlesungen, im Wintersemester 1514/1515, wurde Erasmi zum Dekan der Philosophischen Fakultät gewählt, wodurch das Ansehen der neuen Disziplin erhöht wurde. 1516 und 1517 las Roda um 14 Uhr Astronomie und Mathematik. Dafür bezog er ein Jahresgehalt von 20 Gulden.22 Mit Gründung der Leucorea waren Mathematik und Astronomie zunächst traditionell in die Metaphysik eingegliedert worden. Der Beschluß von 1514 jedoch besagte, daß die Mathematik die ursprünglichste und sicherste Wissenschaft sei, ohne die man unmöglich zum Verständnis des Aristoteles gelangen könne. Da die Scholaren darin zumeist wenig beschlagen seien, solle Mathematik ununterbrochen gelesen werden. Seither galt die Mathematik für alle Bewerber um das Bakkalaureat als Pflichtvorlesung. Im Sommer waren die beiden Schriften des mittelalterlichen Mathematikers Johannes de Sacrobosco (?-1256 Paris) „Computus ecclesiasticus" und „Sphaera mundi" die wichtigsten Lehrbücher. Im Winter standen vorwiegend Euklids „Arithmetik" sowie die Schriften des Jean de Meurs 18

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Zörbig war eine sorbische Gründung, denn das slawische Zurb-ici bedeutet „Sorben-Ort", (vgl. Reinhold Schmidt, Gesch. und Beschreibung der Stadt Zörbig, Zörbig 1902, S. 11. Ratsarchiv Pößneck: Christoph Georg Siegel, Beschreibung der Stadt Pößneck (Ms.), S. 151; vgl. Georg Brückner, Landeskunde des Herzogtums Meiningen, Bd 2, Meiningen 1853, S. 685 Anm. 3. Vgl. A. Zapf, Chronik von Jüdewein, Pößneck 1889, S. 9f. Vgl. Henryk Barycz, Historja Uniwersytetu Jagiellonskiego w Epoce Humanizmu, Krakow 1935, S. 2 5 8 274; ders.: Alma Mater jagellonica. Studia i szkice ζ przeslosci Uniwersytetu Krakowskiego, Krakow 1958, S. 123-125; Gustav Bauch, Deutsche Scholaren in Krakau in der Zeit der Renaissance. 1460 bis 1520, in: Jahres-Bericht der Schlesischen Ges. für vaterländische Cultur. Jg. 78. (1900), Abtheilung lila, S. 3-10. Vgl. ebd., S. 58; Nikolaus Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, 2 Leipzig 1911, S. 343-345; Walter Friedensburg, Gesch. der Univ. Wittenberg, Halle/S. 1917, S. 106f. 109. 134.

Magister Bonifatius von Roda

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(Johannes de Muris) im Mittelpunkt. Muris hatte sich 1345 mit der Berechnung und Deutung von Planetenkonstellationen und auf Geheiß von Papst Clemens VI. mit Vorschlägen zur Kalenderreform beschäftigt. Das mathematische Hauptwerk des Muris „Quadripartitum numerorum" war später auch Gegenstand von Untersuchungen des Johannes Regiomontanus (1436-1476) gewesen. 23 Es wäre eine hier in extenso nicht zu leistende Untersuchung wert, wie sich an der Leucorea das Verhältnis von Astrologie und Astronomie entwickelte. Sicher trifft auch für die ersten Jahre das grundsätzliche Urteil Gustav Bauchs zu: „Es ist ein vergebliches Bemühen, wenn man versucht, zum mindesten die großen Astronomen der Zeit von diesem abergläubischen Spuk freizusprechen, weil es anachronistisch wäre." 2 4 Es sei aber immerhin darauf hingewiesen, daß der Gründungsrektor der Leucorea, Martin Polich, nach seinem fränkischen Geburtsort Mellrichstadt auch Doktor Mellerstadt genannt, der das Gesicht der Universität bis zu seinem Tode am 27. Dezember 1513 entscheidend geprägt hat, sich von einem Anhänger zu einem entschiedenen Gegner der Astrologie entwickelt hatte. 25 Im August 1518 kam der Anhänger der Astrologie Philipp Melanchthon nach Wittenberg und übernahm sofort die Federführung der seit 1517 laufenden Universitätsreform. In deren Gefolge wurde Johann Volmar, seinerseits Verfechter der Astrologie, 26 Rodas Nachfolger als Mathematikprofessor. 27 Letzterer erhielt im Wintersemester 1518/19, das im Mai 1519 abschloß, seinen Abschied und eine Entschädigung von zwei Gulden. Unter diesen Aspekten könnte Rodas Ablösung durchaus in einem neuen Licht erscheinen. Möglicherweise war sie weniger bisher vermuteter Unfähigkeit 28 als unterschiedlichen Lehrmeinungen geschuldet. Das langjährige gleichzeitige Wirken Bodensteins und Rodas an der „Leucorea" läßt eine Bekanntschaft beider als sicher erscheinen. Da sich, wie Ulrich Bubenheimer mit einigen Indizienbeweisen wahrscheinlich gemacht hat, auch Thomas Müntzer vom Herbst 1517 bis etwa Ostern 1519 mit Unterbrechungen in Wittenberg aufgehalten hat, 29 wäre

23

Vgl. Dietrich Wattenberg, Die Astronomie in Wittenberg zur Zeit des Copernicus, Leipzig 1973 ( = M i t t e i lungen der Archenhold-Sternwarte Berlin-Treptow 109); Sonderdruck aus: D i e Sterne 49 (1973), S. 34.

24

Bauch (wie A n m . 21), S. 5.

25

Vgl. T h e o d o r Grünberg: Martin Pollich von Meilerstadt, der erste R e k t o r der Wittenberger Universität, in: 4 5 0 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, H g . L e o Stern, H a l l e / S . 1952, S. 88. Es erscheint mithin als weiteres Desiderat, den frühen E i n f l u ß der Univ. Krakau auf die E n t w i c k l u n g der Naturwissenschaften an der Leucorea zu erhellen. In diesem Zusammenhang m ü ß t e auch die Frage untersucht werden, o b es möglicherweise Unterschiede zwischen astronomischen Lehrmeinungen innerhalb der Krakauer Schule und zwischen Krakau und Wien gab. Johannes Stöffler, der naturwissenschaftliche Lehrer M e lanchthons, m a ß der Astrologie einen hohen Stellenwert zu.

26

Hauptarbeits- und Publikationsgebiet Volmars waren Practica und Prognostica (Vorhersagen), ζ. B . 1519 für Leipzig und 1 5 2 3 / 2 4 für Wittenberg, (vgl. Wattenberg «wie A n m . 23>, S. 35).

27

Volmar hatte schon vor Roda in Krakau studiert. E r war dort im Wintersemester 1 4 9 8 / 9 9 immatrikuliert worden und hatte 1501 den G r a d des baccalaureus artium erworben. I m Sommerhalbjahr 1514 ließ er sich, wohl durch Vermittlung Rodas, in Wittenberg einschreiben. D i e Magisterwürde erlangte er unter dem D e k a n a t Rodas im folgenden Jahre. Wenige Monate nach Volmars Tode 1536 wurde die faktisch schon 1525 eingeführte Trennung zwischen höherer und niederer Mathematik sanktioniert, indem gesonderte Lehrstühle geschaffen wurden. D i e „niedere" Professur übernahm Volmars hervorragendster Schüler, G e o r g J o a c h i m Rheticus ( 1 5 1 4 - 1 5 7 4 ) . Dieser wiederum ging als begeisterter Anhänger des Kopernikus 1539 zu diesem nach Frauenburg und beschloß seine Tage in Krakau, womit sich der Kreis wieder schließt, (vgl. Bauch «wie A n m . 21 >, S. 53f.; N . Müller «wie A n m . 22>, S. 3 4 3 - 3 5 0 ; Friedensburg «wie A n m . 22>, S. 2 2 7 - 2 2 9 ; Karl H e i n z Burmeister, G e o r g J o a c h i m Rheticus. Eine Bio-Bibliographie, 3 Bde, Wiesbaden 1967-1968).

28

Vgl. N . Müller (wie A n m . 22), S. 344.

29

Vgl. Bubenheimer (wie A n m . 8), S. 1 4 5 - 1 7 5 .

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Volkmar Joestel

durchaus auch eine auf Wittenberg zurückgehende Bekanntschaft zwischen Roda und Müntzer denkbar. Von 1518 oder 1519 bis mindestens zum Herbst 1524 wirkte Roda dann als Pleban in Heilingen bei Orlamünde. Er war also etwa gleichzeitig mit seinem langjährigen Wittenberger Universitätskollegen Konrad Glitzsch, der am 26. Februar 1518 die Pfarrei Orlamünde übernahm, nach Thüringen gegangen. Ebenfalls nach Erkenntnissen Bubenheimers weilte etwa zur gleichen Zeit, als Roda nach Heilingen ging, konkret im Zeitraum zwischen dem 11. Januar und dem 24. April 1519, auch Thomas Müntzer eine unbestimmte Zeit in Orlamünde, 3 0 möglicherweise im Auftrage Karlstadts. Hier hatte er nachweislich Kontakt zu Konrad Glitzsch 3 1 , der in Güntersberge, einem Müntzers Geburtsort Stolberg benachbarten Dorf, geboren worden ist. Müntzer vermittelte von Orlamünde aus dessen Kontakte zu Karlstadt und hat nach einer späteren Aussage mit Glitzschs Köchin Schriften des deutschen Mystikers Johannes Tauler gelesen. Das bei Karlstadt und Müntzer zu beobachtende nachwirkende Interesse an Tauler geht wohl auf gemeinsame vorangegangene Mystikstudien in Wittenberg zurück. 3 2 Vorausgesetzt, daß Roda schon 1518 nach Heilingen gegangen ist, wäre es denkbar, daß seine mögliche Bekanntschaft mit Müntzer während dessen Aufenthalts in Orlamünde im Januar 1519 erneuert worden ist. Damit ergibt sich ein weiteres Indiz für die Erklärung der Tatsache, daß sich Karlstadt betreffs des Müntzerbriefs von 1524 gerade an Roda gewandt hat. Der Orlamünder Pfarrer mag den Heilingener Pleban als persönlichen Bekannten Müntzers für prädestiniert gehalten haben, dessen Anliegen zu beurteilen. Diese Zusammenhänge sind mithin ein Element der von Ulrich Bubenheimer als Desiderat benannten umfassenden Verflechtungsanalyse für Müntzers erste Wittenberger Phase. 3 3 Dann schweigen die Quellen zum Schicksal Rodas mehrere Jahre. So sind wir über seine Haltung im Zusammenhang mit Karlstadts Wirken in Orlamünde und dessen Ausweisung aus Kursachsen 1524 sowie über seine Stellung zum Bauernkrieg nicht informiert. Frühneuzeitliche soziale Auseinandersetzungen sind jedenfalls auch für Heilingen und seine Filialdörfer nachweisbar. Bereits im Oktober 1507 hatten sich die Bauern von Heilingen, Engerda und Dorndorf mehrmals an den Kurfürsten gewandt, „Etzliche grosse beswerunge ungelegener frone, und dinste halben So uns vom schosser zu Luchtinburgk wirdt uffgelegt." 3 4 Sie baten, „das wir bey altem herkomen, frone und dinste halben, als unsere alt Eidern und vorfarn gehabt, bleyben mochten." 3 5 In einem zweiten, undatierten Schreiben klagten sie, daß „wir mit swerer ungelener frone meher dan unssere vorfarn vor alters gethan beladen werden" 3 6 . Eine mitgesandte Liste der traditionellen Handfronen sollte die Klagen untermauern. 3 7 Darauf entwickelte sich ein umfangreicher Briefwechsel zwischen den ernestinischen Brüdern und verschiedenen Adligen des Gebiets. 3 8 Schließlich wurden im März 1508 vom Amtmann zehn Alte zum „alten H e r k o m m e n " befragt. 39 Das Ergebnis der Auseinandersetzung ist nicht überliefert. Dieser Streit ist zumindest in

30

Vgl. ebd., S. 1 7 5 - 1 8 6 .

31

Vgl. ebd., S. 1 7 5 - 1 8 3 .

32

Vgl. ebd., S. 1 8 2 - 1 8 5 .

33

Vgl. ebd., S. 152, Anm. 52.

34

Thüringisches Staatsarchiv Altenburg: Landesregierung, N r . 20606, Bl. 9 r .

35

Ebd., Bl. Ψ.

36

Ebd., Bl. 13 r . Ebd., Bl. 16f.

37 38

Vgl. ebd., Bl. 1 0 - 2 2 .

39

Vgl. ebd., Bl. 1 - 8 .

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203

bezug auf Ostthüringen einer der ganz wenigen Belege für vorreformatorische soziale bäuerliche Forderungen. Die nach Beginn der Reformation, also während Bonifatius von Rodas Heilingener Pfarrerschaft zunehmenden sozialen Konflikte, machten auch um dieses D o r f keinen Bogen, wobei, wie in vielen Gebieten Thüringens, die Hut- und Triftgerechtigkeit im Zentrum stand. Am 24. Juli 1522 hatte der Amtmann im Streit zwischen dem Adligen Kurt von Kochberg und Heilingen festgelegt, daß die Bauern die gepfändeten Schafe zurückzugeben und den gefangengenommenen Schäfer des Kochberg freizulassen haben. Würde der Schäfer jedoch wieder in der Heilingener Flur treiben, sollen die Bauern seine Schafe erneut pfänden. 4 0 Weitere Hut- und Triftstreitigkeiten zwischen diesen beiden Parteien mußte der Amtmann am 10. August 1523 schlichten. 4 1 Am 23. Juni 1524 behandelte er eine Auseinandersetzung zwischen Herfarth von Schönfeld und Heilingen. 4 2 Auch eine antiklerikale Aktion ist für Heilingen belegt, deren Hintergründe jedoch im Dunkeln bleiben. Im April 1524 verwüstete ein Heilingener Bürger das Haus eines gewissen Priesters Erhart. 4 3 Dieser war der Altarist Erhart Buler, 44 der schon am 30. Oktober 1522 vor den sitzenden Rat von Orlamünde zitiert worden war, weil er gegenüber einem Bürger Hans Kaudermann aus einem wiederkäuflichen Rentkauf resultierende finanzielle Forderungen gestellt hatte. 4 5 Dieses Beispiel unterstreicht die These Rudolf Herrmanns, daß sich die Meßpriester Ostthüringens in der großen Mehrheit der Reformation zumindest nicht freiwillig angeschlossen haben: „Sie gehörten nicht zu den Unzufriedenen, sondern zu denen, gegen die sich die Unzufriedenheit richtete." 4 6 Wenngleich dies regional unterschiedlich gewesen sein mag, in den südwestdeutschen und Schweizer Gebieten ζ. B. haben sich Meßpriester nicht selten auf die Seite der Bauern gestellt, 47 wird diese Haltung zumindest insofern verständlich, als sich ja die Meßpriester durch die Reformation der Gefahr ausgesetzt sahen, ihre Einnahmen zu verlieren. Rodas Haltung zu den sozialen Konflikten und in der Auseinandersetzung um den Altaristen Buler bleibt genauso unklar wie seine Stellung zu Karlstadts Wirken in Orlamünde 1523/24 und später zum Bauernkrieg. Wahrscheinlich hat er sich aus den Auseinandersetzungen herausgehalten. Als sich am 22. Mai 1524 verschiedene Gemeinden der Parochie Orlamünde mit der inständigen Bitte an den Kurfürsten wandten, Karlstadt als rechtmäßigen Pfarrer zu bestätigen, gehörte Heilingen jedenfalls nicht zu den Unterzeich-

40 41 42

43 44

45 46

47

Vgl. Thüringisches Staatsarchiv Altenburg: A. G. Kahla CI. X I Ca la, Bl. 132 v . Vgl. ebd., Bl. 175 v . Vgl. Akten zur Gesch. des Bauernkrieges in Mitteldeutschland, Hg. Waither Peter Fuchs, Bd 2, Jena 1942, Nr. 1123. Ebd., Nr. 1115. In Heilingen gab es eine Vikarie Beatae Mariae Virginis. Zu ihr gehörten 5 Acker Land, 3 Acker Weinwachs, 6 fl. und 4 Hühner Zins von mehreren Äckern; dazu vom Pfarrer 20 Schock Gr., 13 Gr., 10 Pf. Geld, 15 Hühner, je 7 Viertel Weizen und Roggen, 4 Scheffel Gerste, 5 Scheffel Hafer, 2 Scheffel Roggen; weiterhin die Zinsen von 203 Schock Gr. Kapital: 10 Schock Gr. 2Ά neue Gr. Bereits 1506 wird Erhard Buler als Inhaber genannt. 1529 taucht er, reformatorisch gewendet, als Verwalter des Gemeinen Kastens wieder in den Quellen auf. (vgl. J. Löbe/E. Lobe , S. 560f.) Vgl. Stadtarchiv Orlamünde: 3/4: Handbuch des Rates zu Orlamünde, Bl. I T . Rudolf Herrmann, Die Meßpriester in einer Thüringer Kleinstadt vor der Reformation und ihr Verhältnis zum Bauernkrieg, in: Z. des Vereins für Thüringische Gesch. und Altertumskunde 34, N F 26 (1925), S. 25. Vgl. Dietrich Kurze, Der niedere Klerus in der sozialen Welt des späteren Mittelalters, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Heibig zum 65. Geburtstag, Hg. Knut Schulz, Köln/Wien 1976, S. 290-295. 305.

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nern. 4 8 Auch die Tatsache, daß sich Karlstadt nach dem Bauernkrieg zur Bezeugung seiner Unschuld gerade auf Bonifatius von Roda berief, unterstreicht die Vermutung, daß dieser sich nicht im Sinne Karlstadts exponiert hatte und somit dem Kurfürsten als unverdächtiger Zeuge präsentiert werden konnte. Folgende Faktoren jedoch lassen zunächst auch der entgegengesetzten Vermutung Raum, Roda habe sich als Helfer Karlstadts und/oder der Bauern zumindest verdächtig gemacht. Erst nach 1529 nämlich taucht er wieder in den Quellen auf. In diesem Jahre, wie auch schon 1527, waren in Pößneck noch Andres Götze Pfarrer und Johann Lincken Prediger. 4 9 Lincken ist wohl Ende 1531 gestorben, und Bonifatius von Roda wurde sein Nachfolger. 5 0 In den Quellen wird er als Pößnecker Prediger erstmals anläßlich der Visitation von 1533 erwähnt. In der Verordnung der Visitatoren wird angewiesen, „daß sie den Prediger Herr Bonifacio eine Stube bauen wollen" 5 1 . Die Tatsachen, daß Roda zwischen 1524 und 1533 in den Quellen nirgends nachweisbar ist, daß er dann nur Prediger und nicht Pfarrer war und daß die Inschrift auf seinem Grabstein seinen Aufenthalt in Heilingen mit keinem Wort erwähnt, könnte man wohl als Hinweise auf eine infolge seiner Verbindung mit Karlstadt zumindest in den Augen der kurfürstlichen Machtorgane beschädigte Reputation werten. Die Pößnecker Lebensjahre Rodas verliefen ruhig und unspektakulär, weshalb sie hier nur summarisch erwähnt werden können. Er war dreimal verheiratet. Seine erste Frau war Else Leitz aus Heilingen, die zweite war Barbara Curth, von der dritten ist der Name unbekannt. Mit jeder Ehefrau hatte Roda zwei Kinder. 5 2 Folglich war im Haushalt oft Schmalhans Küchenmeister. Erstmals bitten der Pößnecker Pfarrer Adam Utzinger und sein Prediger Bonifatius von Roda 1539 um eine Zulage von 20 Gulden. 5 3 1545 erneuerten sie die Bitte um eine Aufbesserung ihres bisherigen Gehalts von 80 alten Schock Groschen. 5 4 Zwischen 1548 und 1550 erhielt Roda zweimal jährlich eine Zulage von 5 Gulden. 5 5 Anläßlich der Visitation 1554 wird dem Pößnecker Pfarrer und seinem „Caplan"

48

Vgl. Eduard Hase, Karlstadt in Orlamünde, in: Mitteilungen der Geschichts- und Altertumsforschenden Ges. des O s t e r e n d e s , Bd IV, Η . 1 (1858), S. 105.

49

Vgl. R. Herrmann, Die Kirchenvisitationen im Ernestinischen Thüringen vor 1528, Τ . 1, in: Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte, Bd 1, Jena 1 9 2 9 - 1 9 3 0 , S. 221; T . 2, in: Ebd., Bd 3, Jena 1 9 3 3 - 1 9 3 4 , S. 41; Paul Köhler, Als Pößneck evangelisch wurde, Pößneck 1925, S. 21. A u c h im Visitationsbericht vom 13. August 1527 über Orlamünde tauchen weder Heilingen noch Bonifatius von Roda auf (vgl. Supplementa Melanchthoniana, Abt. VI.: Melanchthons Briefwechsel, H g . O t t o Clemen, Bd 1 , Leipzig 1926, S. 369f.).

50

Vgl. Ernst Koch, Die Pfarreiverhältnisse zu Pößneck um das Jahr 1530, in: Pößnecker Zeitung, N r . 96, 23. April 1916. Abschrift in: Ratsarchiv Pößneck. Marginal sei angemerkt, daß der Mathematiker, Astronom und überzeugte Astrologe Erasmus Reinhold, der im Wintersemester von 1530 auf 1531 in Wittenberg immatrikuliert wurde und 1536 Professor für höhere Mathematik wurde, 1511 in Saalfeld in Thüringen geboren wurde. Saalfeld ist dem damaligen Wirkungsort Rodas, Pößneck, unmittelbar benachbart. Es ist also zumindest nicht ausgeschlossen, daß Reinholds mathematische Interessen und sein Weg nach Wittenberg durch Roda gefördert worden sein könnten, (vgl. Friedensburg , S. 2 3 2 - 2 3 4 ; Ernst Kroker, Nativitäten und Konstellationen aus der Reformationszeit, in: Schriften des Vereins für Gesch. Leipzigs 6 - Erfurter theologische Studien 22>, S. 331 f.). Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Ernestinisches Gesamtarchiv Reg. G 304, Bl. 44f.

64

Ebd., Bl. 46. Mit dieser Behauptung hatte C o c i sogar recht, denn nach dem Tode des Offizials Valentin Jungermann 1518 wurde diese Stelle nicht wieder besetzt, weshalb es auch keine förmlichen Investituren mehr gab. (vgl. Kleineidam «wie A n m . 62>, S. 330f.).

Magister Bonifatius von Roda

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Standpunkt dar. 66 Der kurfürstliche Amtmann habe vorgebracht, daß Coci den Pfarrer zu Heilingen mit „römischen Briefen" belästige, obgleich doch bekannt sei, daß der Kurfürst die Orlamünder Pfarrei samt den ihr inkorporierten Pfarreien der Wittenberger Universität einverleibt habe und sich dabei auf ausdrückliche päpstliche Bestätigung berufen könne. Der Amtmann habe darauf hingewiesen, daß in einem ähnlichen Falle in Coburg ein gewisser Gunther Gerstenberger, der in ähnlicher Weise Ambitionen auf die dortige Pfarrstelle angemeldet hätte, von den kurfürstlichen Beamten kurzerhand ins Gefängnis geworfen worden sei. Offensichtlich von derartigen kaum verhüllten Drohungen eingeschüchtert, erklärt das Kapitel, Coci geraten zu haben, von seinem Vorhaben Abstand zu nehmen und „ E m Bonifacium nicht weither [zu] turbiren, auch widder erlangte Bullen und aufgerichte erliche universitet nit [zu] handeln". Sollte sich Coci nicht daran halten, „wurden wir geursacht die wege gegen ime furzunemen das wir dadurch E. churf. und f gnad ungnad furkemen". Abschließend wird allerdings der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß der Kurfürst eine Entscheidung fällen möge, die sowohl dessen als auch die Interessen des Coci berücksichtige. Das letzte erhaltene Dokument ist ein undatiertes, im Auftrage des Kurfürsten durch die Wittenberger Universität ausgestelltes und an Deutlichkeit nichts zu wünschen lassendes Gutachten. 6 7 Die Pfarrei Orlamünde sei mit Zustimmung des Papstes der Universität Wittenberg inkorporiert worden. Es sei nicht das erste mal, „das die Curtisan zu Erffurdt und anderswo, so stets ein Auge auf solche ding haben und die lehn derselbigen pfarren [ . . . ] zu erwerben und impotriren" versuchen. Der Kurfürst habe jedoch verordnet, daß bei Erledigung eines Pfarrlehens die Wittenberger Universität dem Kurfürsten den neuen Pfarrer vorschlagen solle. Daher hätten Universität und Allerheiligenstift für die vakante Pfarrstelle in Heilingen „ernant ern magister Bonifacius vom Rode, als wir nicht anders wissen fuglich und vorstendig gnug zu der seisorg den ew kf g dan auch dozu presentirt und instituirn haben lassen". Nun käme Johannes Coci hervor, der früher zu Rom ein Koch und Diener gewesen sei. Wie tauglich er aber zur Seelsorge sei, bleibe genauso unerfindlich wie die Frage, ob er überhaupt am Pfarrort residieren wolle. Coci berufe sich auf seine angebliche Einsetzung durch den Papst, vergesse jedoch, daß Bonifatius von Roda durch den Kurfürsten „als a patrono Laico" präsentiert worden ist. Auch das Kapitel St. Severi wisse ganz genau, daß es dem päpstlichen Stuhl nicht zustehe, das kurfürstliche Präsentationsrecht zu umgehen oder zu verletzen. Daher seien das Kapitel und der Erfurter Rat ernstlich davor zu warnen, solche Leute zu beherbergen oder gar zu verteidigen, „die wider ew kf g schirm und schütz handelung vornehmen". Da es sich hier um einen Präzedenzfall handele, sei Konsequenz geboten, sonst „werden die Curtisan umblang all ew kf g presentation umbwerffen die lehn zu Rhom erwerben und ob sie schon keyn gerechtikeit dozu haben dodurch die einfeltigen armen priester mit irem mutwillen alzo umbtreiben, das sie davon entlauffen müssen". Uber den Ausgang der Angelegenheit liegen keine Quellen vor. Da aber Roda noch 1524 Pleban in Heilingen war, hat sich, wie nicht anders zu erwarten, der Kurfürst durchgesetzt. 68 Karlstadts eigene Rolle in dieser Angelegenheit bleibt im Dunkeln, obwohl er ja als Archidiakon des Wittenberger Allerheiligenstifts rechtmäßiger Pfarrer von Orlamünde

66 67 68

Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Ernestinisches Gesamtarchiv Reg. G 300, Bl. 48f. Ebd., Bl. 50f. Coci war einer der in der spätmittelalterlichen Kirche berüchtigten Pfründenjäger. Sowohl vor als auch nach der Heilingener Affäre gibt es in Erfurt diesbezügliche Klagen. Er blieb zeitlebens Anhänger der römischen Kirche, einmal mehr ein Beleg für die These R. Herrmanns, daß sich die Meßpriester Thürin-

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war. Im Unterschied beispielsweise zur Frage der Besetzung der gleichfalls der Pfarrei Orlamünde inkorporierten Pfarrei Uhlstädt 1517, wo es zu einem erbitterten Kompetenzstreit zwischen Karlstadt und dem Allerheiligenstift einerseits sowie dem Kurfürsten andererseits gekommen war,69 erscheint 1520 sein Name an keiner Stelle. Man wird aber wohl davon ausgehn dürfen, daß er mit den Bestrebungen des Heilingener Plebans und des Kurfürsten übereinstimmte, zumal die neuen Statuten des Allerheiligenstifts 1517 die Kompetenzen klar zugunsten des Kurfürsten regelten. 70 Der entscheidende Grund für Karlstadts Schweigen liegt jedoch in der Dynamik der Reformation begründet, die eine solche scheinbar kleinliche juristische Streiterei nun für ihn in den Hintergrund hatte treten lassen. Denn nicht nur für Luther und die Reformation insgesamt, sondern auch für Karlstadt selbst war das Jahr 1520 eine wichtige Zäsur. Sein Streit mit Eck um Willensfreiheit und gute Werke, der seinen Höhepunkt in der Leipziger Disputation Ende Juni/Anfang Juli 1519 gefunden hatte, war zu Ende des Jahres zu einer fruchtlosen persönlichen Polemik verkommen. Ein halbes Jahr veröffentlichte Karlstadt nichts mehr, sondern arbeitete intensiv an der Vertiefung seiner Ansätze zu einer eigenständigen „Theologie der Wiedergeburt und Heiligung" (Ronald J. Sider), die sich schließlich in seiner im Oktober 1520 erschienenen „Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit" widerspiegelten. 71 Zudem gehörte die Auseinandersetzung um die Pfarrei Heilingen 1520 inhaltlich nicht in den Zusammenhang der Reformation, sondern in den Zusammenhang der wettinischen Bestrebungen zum Ausbau des spätmittelalterlichen landesherrlichen Kirchenregiments. Dieses vehemente kurfürstliche Engagement in einer doch vergleichsweise unbedeutenden Angelegenheit wie der Besetzung einer Dorfpfarrstelle macht signifikant, welche Bedeutung der Kurfürst dem Erhalt und Ausbau des landesherrlichen Kirchenregiments beimaß. Wie bereits in der älteren Forschung nachgewiesen und in der neueren unterstrichen wurde, hatten derartige wettinische Bestrebungen zur Zurückdrängung des Einflusses des Klerus und der Bischöfe eine lange Tradition, 72 die zumindest in einem von Kaspar Elm beschriebenen weiteren Sinne durchaus unter den in der Diskussion befindlichen Begriff „Antiklerikalismus" subsumiert werden können: „Wie mit der Entstehung der Stadt war auch mit der Ausbildung der Landesherrschaft eine Wendung gegen den Sonderstatus der Kleriker und Ordensleute verbunden. Die Einschränkung ihrer Rechte und Privilegien, die Integration geistlicher Grundherrschaften sowie die möglichst weitgehende politische

69

70 71 72

gens in der Mehrzahl der Reformation verweigerten, (vgl. Volkmar Joestel, Konflikte um zwei Erfurter Kleriker in Ostthüringen während der Reformation, in: Erfurt - Gesch. und Gegenwart, Hg. Ulman Weiß, Weimar 1995, S. 323-329). Vgl. Barge (wie Anm. 7), Bd 1, Leipzig 1905, S. 59-64; U. Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. Andreas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation, Tübingen 1977 (^Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht 24), S. 32. Vgl. Barge (wie Anm. 69), S. 64-66. Vgl. ebd. S. 177-180. Vgl. Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Hg. Felician Geß, Bd 1, Leipzig 1905, S. LIII-LXVI; P. Kirn, Friedrich der Weise und die Kirche. Seine Kirchenpolitik vor und nach Luthers Hervortreten im Jahre 1517, dargestellt nach den Akten im Thüringischen Staatsarchiv zu Weimar, Leipzig/Berlin 1926 ( - Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit 30); Wilhelm Wintruff, Landesherrliche Kirchenpolitik in Thüringen am Ausgang des Mittelalters, Halle/S. 1914 («Forschungen zur thüringisch-sächsischen Gesch. 5); Rudolf Zieschang, Die Anfänge eines landesherrlichen Kirchenregiments in Sachsen am Ausgang des Mittelalters, Leipzig 1910 (»Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte, Jg. 23).

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Instrumentalisierung von Kirche und religiösem Leben waren Maximen, die der von der Grundherrschaft über die Territorialbildung bis zum Fürstenstaat führenden Entwicklung des ,modernen Staates' in Deutschland zugrundelagen [ . . . ] Die bei großzügiger Verwendung des Begriffs zweifellos als antiklerikal zu bezeichnenden Vorwürfe und Anklagen gegen die Sonderstellung des Klerus dienten nicht selten als Alibi für die Inanspruchnahme der Vogteirechte und des Ins reformandi, der Patronatsgewalt und des Nominationsrechtes für politische Zwecke, waren aber auch - daran kann kein Zweifel bestehen - Ausdruck landesherrlicher Sorge um die Sicherung des religiösen Lebens, die Förderung des Schulund Fürsorgewesens sowie der Verhinderung des Ärgernisses, das von pflichtvergessenen Klerikern und nichtregulierten Ordensleuten ausging und sowohl dem Ansehen der Obrigkeit als auch dem öffentlichen Wohl schadete." 75 Während es vom Beginn der Ostexpansion an in den späteren albertinischen Gebieten gelungen war, die fast ausschließlich auf diesen Territorien liegenden Bistümer Merseburg und Meißen faktisch zu herzoglichen Landesbistümern zu machen, hatten die Ernestiner vor allem in Thüringen wesentlich größere Schwierigkeiten, da dieses Gebiet zum großen Teil zum mächtigen Erzbistum Mainz gehörte. Eine besonders resolute Kirchenpolitik in Thüringen praktizierte Herzog Wilhelm III. (1445-1482). Schon die Landesordnung von 1446 enthielt die Willenskundgebung, eine umfassende Klosterreform durchzuführen 74 und die geistliche Gerichtsbarkeit in weltlichen Sachen generell zu beseitigen. „Den geistlichen Richtern konnte er [der Herzog - V.J.] ihr Handwerk nicht legen, da sie in Erfurt oder außerhalb seines Landes waren. Wohl aber konnte er die unteren Organe treffen, die in seinem Machtbereich waren." 75 Die herzoglichen Beamten gingen folglich zuweilen mit drastischen Mitteln gegen unbotmäßige kirchliche Körperschaften oder Personen vor. Dazu gehörten, wie später auch im Falle Heilingen zu beobachten, Androhung oder Exekution von Güterkonfiszierung, ja sogar von Verhaftungen. 76 Diese Politik setzte Kurfürst Friedrich der Weise konsequent fort. 77 Das widerspiegelt sich auch in den seit 1504 laufenden intensiven Verhandlungen mit der Kurie unter Ausschluß der Bischöfe über die Inkorporierung auch vieler thüringischer Pfarreien, wie Orlamünde, in kurfürstliche kirchliche Einrichtungen. 78 Die sich infolge der Reformation verstärkende Rivalität zwischen Kursachsen und dem Erzbischof von Mainz, Kardinal Albrecht von Brandenburg, führte folgerichtig auch zu einer Zuspitzung solcher Auseinandersetzungen in Thüringen.

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Kaspar Elm, Antiklerikalismus im deutschen Mittelalter, in: Anticlericalism in late medieval and early modern Europe, Hg. Peter A. Dykema u. Heiko A. Oberman, Leiden 1993 (»Studies in medieval and Reformation thought 51), S. 8. Hingegen wertete Karlheinz Blaschke diese Bestrebungen nicht als eine Form des Antiklerikalismus, (vgl. Karlheinz Blaschke, Erscheinungen des Antiklerikalismus in Sachsen vor und während der Reformation, in: Ebd., S. 229f. 235). Dem unmittelbaren Eingreifen des Herzogs war ζ. B. die Abwendung des Anfang der siebziger Jahre des 15. Jh. drohenden Zusammenbruchs des Augustinerklosters Neustadt/Orla zu verdanken. Im engen Zusammenwirken mit Andreas Proles, dem Vikar der deutschen reformierten Kongregation, konnte der Sieg der Observanzbewegung gesichert werden, (vgl. Theodor Kolde, Die deutsche Augustinerkongregation und Johann von Staupitz, Gotha 1879, S. 96-165). Wintruff (wie Anm. 72), S. 83. Vgl. ebd., S. 40. 43f. 50. 82f.; Zieschang (wie Anm. 72), S. 39. 84f. Vgl. P. Kirn (wie Anm. 72), S. 36-112. Vgl. Anm. 2f.

Siegfried BRÄUER, BERLIN

Der Hüttenmeister Christoph Meinhard in Eisleben und seine Beziehung zu Thomas Müntzer

„Vetter und Gevatter des Schössers Hans Zeiß von Allstedt" - lautet die Auskunft über Christoph Meinhard, die dem Benutzer der Müntzerausgabe von Günther Franz geboten wird. Sie ist wörtlich aus der Briefausgabe Heinrich Boehmers und Paul Kims übernommen worden. 1 Offenbar ist den Herausgebern unbekannt geblieben, daß bereits Mitte des 19. Jh. Karl Krumhaar auf die Eislebener Familie Meinhard als Erbfeuerbesitzer hingewiesen hat. Der Montanhistoriker Walter Möllenberg hat 1906 eine Liste von 40 Hüttenmeistern der Grafschaft Mansfeld veröffentlicht, in der neben Hans Luther u. a. auch Claus und Christoph Meinhard mit aufgeführt werden. 2 Möglicherweise ist die Identifizierung von Müntzers Eislebener Briefpartner längere Zeit auch dadurch behindert worden, daß Johann Agricola seinen Namen in latinisierter und zudem abgekürzter Form angab, als er Müntzers an Meinhard gerichtete Auslegung des 19. Psalmes im Mai 1525 veröffentlichte. 3 Magister Christian Wilhelm Aurbach entschlüsselte die Abkürzung „Christ. Menius" und Valentin Ernst Löscher folgte ihm noch im gleichen Jahr. 4 Für das Desinteresse an der Person des Eislebener Hüttenmeisters ist jedoch wohl vor allem ein Quellenverständnis verantwortlich zu machen, das sich einseitig an den kirchen- und theologiegeschichtlich relevanten Inhalten orientiert. Die nichttheologischen Korrespondenzpartner sind allzu oft außer Blick geblieben. Erst Max Steinmetz hat im Falle Meinhard das Versäumnis erkannt und benannt. 5 Müntzer hat vor allem während seiner Allstedter Zeit mit Meinhard in enger Verbindung gestanden. Aus einem umfangreicheren Briefwechsel sind immerhin drei inhaltsschwere Schreiben, darunter die erwähnte Psalmauslegung, erhalten geblieben. Meinhard hat mit seinen Fragen und Zweifeln für Müntzers Darlegungen mindestens bei zwei Schreiben den Anstoß gegeben. Seine Person und seine Lebensverhältnisse dürften daher für die reformationsgeschichtliche Forschung, insbesondere für die Müntzerforschung, von Interesse sein. Die Quellenlage setzt dem Bemühen um Meinhard jedoch Grenzen,

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Thomas Müntzer, Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe. H g g . Günther Franz/Paul Kirn, Gütersloh 1968, S. 398 Anm. 1 ( - MSB): Thomas Müntzers Briefwechsel. Hgg. Heinrich Boehmer/Paul Kirn, Leipzig/Berlin 1931, S. 52. Karl Krumhaar, Die Grafschaft Mansfeld im Reformationszeitalter, Eisleben 1855, S. 260; Walter Möllenberg, Hans Luther, Dr. Martin Luthers Vater, ein mansfeldischer Bergmann und Hüttenmeister; in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 39 (1906), S. 169-193; bes. S. 178. Die Liste ist danach mehrfach gedruckt worden. Johann Agricola, Auslegung des X I X Psalm. Coeli enarrant, durch Thomas Müntzer an seyner besten iunger einen . . . , in: Ludwig Fischer, Hg., Die lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer, Tübingen 1976, S. 43-78, bes. 46. Franz rectifiziert fälschlich „Meinhardo", vgl. MSB, S. 402. Christian Wilhelm Aurbach, Dissertationes Oratiae de eloquentia inepta Thomae Monzeri. Wittenberg 1716, Bl. Ε 4 r und F 4 r ; Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen, Leipzig 1716, S. 1242. Vgl. auch die falsche Identifikation Meinhards als Wittenberger Bürger bei Joachim Rogge, Johann Agricolas Lutherverständnis, Berlin 1960, S. 50 u.ö. Max Steinmetz, Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels. Berlin 1971, S. 76 Anm. 13: „ . . . die Rolle Meinharts bedarf der Untersuchung".

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zumal die Archivalien zur Stadtgeschichte Eislebens und zum Mansfelder Montanrevier nur teilweise erschlossen sind. Wenn im folgenden Meinhards verwandtschaftliche Verflechtungen, seine berufliche Tätigkeit, seine wirtschaftlichen Verhältnisse sowie seine Stellung zu Müntzer und Luther auf der Basis bislang bekanntgewordener Quellen dargestellt werden, ist mit Lücken zu rechnen.

1. Christoph Meinhards des Älteren Herkunft und verwandtschaftliche Verflechtungen Die Leipziger Universitätsunterlagen enthalten das erste Datum zu Christoph Meinhard. Danach wurde er zum Sommersemester 1495 als „Christoph Meinhardt de Ysleben" inskribiert. 6 Da er bereits 1507 als Hüttenmeister nachweisbar ist, dürfte er bald nach 1475 in Eisleben geboren sein. Er war der Zweitälteste Sohn des Eislebener Bürgers und vermutlichen Hüttenmeisters Hans Meinhard d.A. und seiner Ehefrau Gertrud. Als der Vater 1505 starb, überschrieb seine Witwe Haus und Hof, zwischen dem Anwesen Antonius Lindemanns und den Häusern des Rademachers gelegen, ihrem Schwiegersohn Sigmund Müller, dem Mann ihrer gleichnamigen Tochter Gertrud d.J. Bedingung war, daß Schwiegersohn und Tochter die Mutter lebenslang bei sich aufnehmen. Falls die Tochter vor der Mutter stürbe und sich Konflikte zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn ereigneten, soll Gertrud d.A. lebenslang das Hinterhaus überlassen werden. Ihre beiden Söhne Hans d.J. und Christoph sollen auf Grund der Rechte, die sie an der Behausung haben, jeder hundert rheinische Gulden erhalten. 7 Durch ihre Schwiegertochter, vor allem durch die Schwiegersöhne, war die Familie von Hans d.A. und Gertrud d.A. Meinhard mit bekannten Bürgerfamilien Eislebens verwandtschaftlich verbunden. Hans Meinhard d.J. ist wohl als der älteste Sohn anzusehen, da er bei der erwähnten Hausüberschreibung an erster Stelle aufgeführt wird. Uber ihn ist wesentlich weniger bekannt als über seinen Bruder Christoph. Unter den Hüttenmeistern wird er in der Zeit von 1507 bis 1509 erwähnt. 1508 gab er zu Protokoll, daß er dem Stadtschreiber Barthel Gebhard 160 Gulden für ein Haus auf dem Graben an der Mühle schuldig ist. 1519 entrichtet er Graf Ernst von Mansfeld die Kupferabgabe für ein Feuer. 8 Christoph Meinhards Schwester Gertrud d.J. war mit Sigmund Müller verheiratet, der bis 1498 Faktor der Gräfenthaler Gesellschaft des Saigerhüttenhandels war. 9 Im Konflikt wegen der Schulden, die auf den Bergfeuern vorm Rödichen lagen und für die Hans Luther 6

G e o r g Erler (Hg.), Die Matrikel der Universität Leipzig. Bd. 1. Leipzig 1897, S. 408. N a c h Spangenberg gehörten die „Meinharte" bereits 1501 zu den bedeutendsten Hüttenmeistern Eislebens, vgl. Cyriacus Spangenberg, Mansfeldische Chronica. Der dritte Teil. H g . Rudolf Leers, Eisleben 1912, S. 249. Ein Hans Meynhart wurde 1427 Neubürger in Eisleben. Er besaß 1433 ein H a u s am Markt, vgl. Hermann Größler, Hg., D a s Werder- und Acht-Buch der Stadt Eisleben 1890, S. 73 und 6. 1464 ist ein Lorentz Meynhard nachgewiesen, ebd., S. 71.

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Landeshauptarchiv Magdeburg, Rep. C o p . N r . 427 ' (Handelsbuch 1460-1554), Bl. 140 v - 1 4 1 r : Hanß meinharts zeligen nachgelassen Witwen aufflassunge Ires Hawses, Sigemunde Mollern abegetrethen, 24. Oktober 1505. Gertrud Meinhard wählte als Vormund den Hüttenmeister Tilo Rinck. Landeshauptarchiv Magdeburg. Rep. F 4 C h . N r . 16 (Rechnungen über den Hüttenzins 1506 und 15071531), Bl. 48 r ; Fritz Wöhlbier, Aus der Grafschaft Mansfeld zur Lutherzeit 2. D a s älteste noch vorhandene Händelbuch der Mansfelder Grafen, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 81-85, bes. S. 82; Kurt Kronenberg, Stiftungen Eisleber Bürger in vorreformatorischer Zeit - familiengeschichtlich ausgewertet, Mansfelder Sippenkunde 4 / 5 (1936/37), S. 33-40, bes. S. 38.

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Sein Nachfolger wurde Christoph Fürer aus Nürnberg, vgl. Ekkehard Westermann, D a s Eislebener Garkupfer und seine Bedeutung für den europäischen Kupfermarkt 1460-1560, Köln/Wien 1971, S. 272.

Hüttenmeister Christoph Meinhard und seine Beziehung zu Thomas Müntzer

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als P ä c h t e r A n f a n g 1508 e i n s t e h e n m u ß t e , f u n g i e r t e S i g m u n d M ü l l e r als Vertreter der S c h w a r z a e r S a i g e r h a n d e i s g e s e l l s c h a f t . 1 0 Er s c h e i n t 1508 a u c h als Probierer, als ein für die K u p f e r q u a l i t ä t v e r a n t w o r t l i c h e r B e r g b e a m t e r , tätig g e w e s e n z u sein. 1 1 1523 ist er als H ü t t e n m e i s t e r m i t z w e i Feuern in der Z e h n t r e c h n u n g für G r a f Ernst v o n M a n s f e l d u n d 1524 s o w i e 1527 e b e n f a l l s m i t z w e i F e u e r n in der Z e h n t r e c h n u n g für Graf H o y e r v o n M a n s f e l d bezeugt.12 Mit zinspflichtigem Besitz (zwei Gärten, eine Wiese, eine halbe H u f e Landes) w i r d S i g m u n d M ü l l e r a u c h i m Z i n s b u c h des K l o s t e r s H e l f t a ( 1 5 2 2 ) a u f g e f ü h r t . 1 3 A m 6. M ä r z 1 5 2 3 e i n i g t e er sich i m B e i s e i n d e s A d l i g e n O t t o S c h l e g e l u n d des A l l s t e d t e r S c h o s s e r s H a n s Z e i ß v o r d e m E i s l e b e n e r S t a d t g e r i c h t m i t W o l f g a n g L ü t t i c h , d e n er w e g e n B e l e i d u n g verklagt hatte. 1 4 C h r i s t o p h M e i n h a r d s S c h w e s t e r M a r g a r e t h e w a r m i t d e m E i s l e b e n e r Probierer H a n s M ü n t z e r verheiratet. A m

18. Januar 1508 m u ß t e er auf g r ä f l i c h e A n o r d n u n g h i n sein

P r o b i e r w e r k z e u g ü b e r a n t w o r t e n . 1 5 O f f e n b a r k o n n t e er aber in d i e s e m A m t n e b e n s e i n e m S c h w a g e r S i g m u n d M ü l l e r , d e r w o h l als der n e u e Probierer galt, w e i t e r tätig sein. W e d e r in der b e r u f l i c h e n Sphäre n o c h i m privaten B e r e i c h s c h e i n t er d e n Rechtsstreit g e s c h e u t z u h a b e n . 1 6 V o n A n f a n g 1508 bis z u m Frühjahr 1513 lag H a n s M ü n t z e r m i t seiner S c h w i e g e r m u t t e r G e r t r u d v e r w i t w e t e M e i n h a r d i m Streit ü b e r das Erbe seiner Frau. Erst a m 4. N o v e m b e r 1 5 1 3 w u r d e in G e g e n w a r t der S c h w ä g e r C h r i s t o p h M e i n h a r d u n d S i g m u n d M ü l l e r d i e s e r K o n f l i k t b e i g e l e g t . 1 7 Ü b e r s e i n e s o n s t i g e n Verhältnisse ist w e n i g b e k a n n t . 1 8 D a s gilt 10

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Ekkehard Westermann, Hans Luther und die Hüttenmeister der Grafschaft Mansfeld im 16. Jahrhundert. Eine Forschungsaufgabe, in: Scripta Mercaturae 2 (1975), S. 53-94, bes. S. 58; Landeshauptarchiv Magdeburg, Rep. F 4 Tit. Ak N r . 1 (Handelsbuch 1507-1509), Bl. 71 v -72 v und 59 r . Nicht vollständig stimmen die beiden Druckfassungen überein bei Walter Mück, Hg., Der Mansfelder Kupferschieferbergbau in seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung, Bd. 2, Eisleben 1910, S. 27 f.; Fritz Wöhlbier, Aus der Grafschaft Mansfeld zur Lutherzeit 10. Was in den Händelbüchern der Mansfelder Grafen alles noch von Luther steht, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 193-196, 201-203, bes. S. 196. Rep. F 4 Tit. Ak Nr. 1, Bl. 82 v -83 r (wie Anm. 10). Westermann: Luther, S. 74-76 (wie Anm. 10). Der Quellennachweis ist zu korrigieren, vgl. wie Anm. 8: Bl. 118 v (Graf Ernst), Bl. 62 r , 64 v , 72 r (Graf Hoyer). Max Krühne, Hg., Urkundenbuch der Klöster der Grafschaft Mansfeld, Halle 1888, S. 250 (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 20). Die Wiese gehörte vorher Christoph Meinhard. Der gleiche Eintrag steht auch noch im Zinsbuch von 1543, vgl. Carl Rühlemann, Das Zinsbuch und Register des Korn-Zehents des Klosters Neuen Helfta vor Eisleben von 1543, in: Mansfelder Blätter 41/42 (1937/38), S. 5-145, bis S. 29 (mit Lesefehlern). Rep. Cop.Nr. 427 Bl. 20Γ-201" (wie Anm. 7). Rep. F 4 Tit. Ak Nr. 1, Bl. 59 v , vgl. auch vom gleichen Tag Bl. 55 v , 56 r -57 r (wie Anm. 10). Zum Amt des Probierers vgl. Walter Möllenberg, Das Mansfelder Bergrecht und seine Geschichte, Wernigerode 1914, S. 34, 81 f., 98 f. (Eid). Wöhlbier bezeichnet Hans Müntzer als Waagemeister, vgl. Wöhlbier, Händelbuch, S. 85 (wie Anm. 8). Am 13. August 1508 wird Hans Müntzer geboten „sich widder willens vnnd gezengks seins probirs halben zcwuschen den huttenmeysternn vnnd kauffman . . . zu enthaltenn", vgl. Rep. F 4 Tit. Ak Nr. 1, Bl. 82 r (wie Anm. 10). Am 23. April 1507 reichte er Klage gegen Antonius Lindemann, den Nachbarn seiner Schwiegermutter, wegen 43 Gulden ein (ebd., Bl. 7 **). Rep. F 4 Tit. Ak N r . 1, Bl. 52 v : Hans Müntzers Appellation am 8. Januar 1508, Bl. 66 v : Libell Hans Müntzers zur Rechtfertigung seiner Appellation am 24. März 1508 (wie Anm. 10). Rep. Cop. Nr. 4 2 7 B l . 173 r -173 v : Schlichtung des Rechtstreites mit der Zusage der zustehenden 100 Gulden auf Zinsanlage und 55 Gulden zusätzlich am 14. April 1513, Empfangsbestätigung für die 55 Gulden am 4. November 1513 (wie Anm. 7). Am 20. Januar 1509 wurde beschlossen, daß Hans Müntzer das Ungeld, das ihm bis dahin erlassen worden war, dem Rat zu entrichten hatte, vgl. Rep. F 4 Tit. Ak Nr. 1, Bl. 88 v (wie Anm. 10). Am 19. März 1516 verkaufte er sein Haus und seinen Hof am Bäckerhof für 460 Gulden an den Kaufmann Sebastian Koschkaw (auch Koßka), vgl. Rep. Cop. Nr. 427 ', Bl. 183 v (wie Anm. 7). Zu Koschkaw vgl. Mück, Kupferschieferbergbau II, S. 4 und 25 (wie Anm. 10). Im Zinsbuch des Klosters Helfta wird Hans

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auch von den möglichen verwandtschaftlichen Verbindungen zu der gleichnamigen Stolberger Familie, die ebenfalls teilweise im Montangewerbe tätig war. 19 Die Familie Müntzer war wohl schon längere Zeit in Eisleben ansässig. Der in Spangenbergs Chronik bei den Notaten zu 1463 erwähnte Herrenvogt oder Amtmann auf dem Schloß, Hans Müntzer, ist sicher nicht mit dem Probierer identisch. Vielleicht handelt es sich um Vater und Sohn. 20 Ende 1528 starb Hans Müntzer. Seine Witwe Margarethe zog zu Tochter und Schwiegersohnjakob Ludwig. Mit der Gegenleistung, dem Vermächtnis ihres Bruders Christoph von 100 Gulden und ihres eigenen Hausrats, erklärten sich der Sohn Peter Müntzer und eine weitere Tochter, eine verheiratete Hildebrand, einverstanden. 21 Wie sein Onkel Christoph Meinhard unterhielt auch Peter Müntzer Geschäftsverbindungen zum Amt Allstedt. Sie sind allerdings erst aus der Zeit nach Thomas Müntzers Wirken zu belegen. 22 Offenbar hat auch der Hüttenmeister Simon Voith, der von 1505 an mehrfach das Amt des Stadtvogtes ausübte, eine Tochter von Hans und Gertrud Meinhard zur Frau gehabt. Sie verstarb vor ihrem Vater.23 Vermutlich stammt ihre Tochter Margarethe, die 1514 den gräflichen Kanzleischreiber Johann Ballersleben heiratete, aus dieser Ehe. 24 In zweiter Ehe war Voith mit einer Tochter Hermann Seyfrieds aus Naumburg verheiratet.25 Mit Produktionsangaben von einem Herrenfeuer wird er 1508 und 1509, desgleichen 1509 mit einem Hüttenzins von 20 Gulden, in den Rohkupferrechnungen für Graf Hoyer von Mansfeld aufgeführt. In den Rechnungen für Graf Ernst erscheint er 1512 mit einem Herrenfeuer. 26 1516 mußte er der Gräfenthaler Saigerhandelsgesellschaft sein Haus am Holzmarkt, seinen Garten und zwei Wiesen verpfänden. Zwei Jahre später fiel sein Besitz an die Saigerhandelsgesellschaft, weil er mit den Abzahlungsraten für die ausstehende Schuld noch immer

Müntzer 1522 und 1543 als früherer Besitzer von Haus und Hof bei Andreas Koschkawe, desgleichen bei Hans Knauer genannt, vgl. Krühne, Urkundenbuch, S. 250 und 254; Rühlemann, Zinsbuch, S. 19 und 27 (wie Anm. 13). " In der Einnahmerechnung der Stadt Stolberg von 1509 wird vermerkt, daß „Hans montzer von alten belgenn" (Blasebälgen) 11 Schock und 12 gr zu zahlen hatte und daß die Summe offenblieb, Stadtarchiv Stolberg, A 30, Bl. 16 r und 34 v . Hans Montzer kommt sonst in den erhaltenen Stoiberger Archivalien nicht vor. Nur Zeitfuchs will einen Hans Müntzer in einem alten Totenregister gefunden haben, vgl. Johann Arnold Zeitfuchs: Stolbergische Kirchen und Stadt-Historie, Frankfurt/Leipzig 1717, S. 256. Für seine Vermutung einer möglichen Verwandtschaft von Meinhard und Thomas Müntzer, bringt Seidemann keinen Quellenbeleg, vgl. Johann Karl Seidemann, Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (18421880), Bd. 1, Hg. Ernst Koch, Leipzig 1990, S. 100. 20 Cyriacus Spangenberg, Mansfeldische Chronica, Der vierte Teil, Hg. Rudolf Leers, Eisleben 1916, S. 260; Spangenberg, Chronica III, S. 204 (wie Anm. 6). 21 Rep. Cop. N r . 427 Bl. 249 v -250 r (wie Anm. 7). 22 Nach einem handschriftlichen Vermerk des Schossers Hans Zeiß war Peter Müntzer 1525/26 noch das Entgeld für 1 Malter, 14 Scheffel Roggen schuldig, vgl. Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. Bb 266, Bl. 68 v (Amtsrechnung Allstedt 1525/26). 2i Rep. Cop. N r . 427 ', Bl. 141 r (wie Anm. 7). Der Vermerk über seine Anwesenheit für seine verstorbene Frau bei der Besitzübertragung der verwitweten Gertrud Meinhard auf ihren Schwiegersohn Sigmund Müller ist im Handelsbuch durchgestrichen. 24 Rep. Cop. N r . 427 Bl. 174 v -175 r (wie Anm. 7). 25 Westermann, Luther, S. 93 Anm. 120 (wie Anm. 10). 26 Vgl. Rep. F 4Ch Nr. 16, Bl. 22 v , 59 v , 26 r (wie Anm. 8); Westermann, Luther, S. 68 f. und 71 (wie Anm. 10). Westermanns Angabe zu 1512 ist zu korrigieren: 291 1/2 Ztr. 27 Pfd. Westermanns Produktionsangaben in den Tabellen sind vielfach fehlerhaft. In den meisten Fällen sind nur die halben Zentner nicht korrekt wiedergegeben worden. Bei 1512 sind die meisten, bei der Hettstedter Tabelle von 1515 sind alle Angaben zu korrigieren. Korrekturen sind auch bei einigen Namens- (in der Hettstedter Tabelle in allen Fällen) und Ortsangaben vorzunehmen.

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im Rückstand war. 27 Dennoch zählte ihn Cyriacus Spangenberg zu den „fürnehmsten Hüttenmeistern" in der Grafschaft Mansfeld. Als er am 11. November 1527 starb, habe er „seiner Regierung halben . . . gut Lob . . . hinterlassen". 2 8 Unter die angeheiratete Verwandtschaft Christoph Meinhards ist wahrscheinlich auch der gräfliche Beamte und Montanunternehmer Dr. jur. utr. Philipp Drachstedt einzuordnen. Er war neben den Schwiegersöhnen Sigmund Müller, Simon Voith und Hans Müntzer sowie dem Advokaten Nikolaus Kniese zugegen, als die Voith und Müntzer betreffende Klausel im Kontrakt zur Eigentumsübertragung von Meinhards Witwe auf Sigmund Müller im Sitzenden Rat gelöscht wurde. 2 9 Nicht auszuschließen ist die Möglichkeit, daß Drachstedt dem Rechtsakt nur in amtlicher Funktion beiwohnte. Da der Nürnberger Montanunternehmer Jakob Welser d.Ä. nach Meinhards Tod Johann Drachstedt als einen von Meinhards „erbennvorwanten und vortrauten Befelhabern" bezeichnet, bestand zwischen den beiden Eislebener Familien auf jeden Fall eine verwandtschaftliche Beziehung. 3 0 Aus Spangenbergs Chronik kennen wir auch die Verwandtschaft zwischen Christoph Meinhard und der Eislebener Hüttenmeisterfamilie Beckmann. Christoph Meinhard heiratete Barbara, die Witwe Hans Beckmanns, eines der drei Söhne des Eislebener Bergvogts Andreas Beckmann. Barbara hatte zwei Kinder aus erster Ehe, Thomas und Sabina. Letztere heiratete Konrad Meiseberg in Leipzig. Der gleichnamige Bergvogt Thomas Beckmann war nicht identisch mit Meinhards Stiefsohn. Beide waren vielmehr Vettern, denn der Bergvogt war ein Sohn Oswald Beckmanns, eines Bruders von Hans Beckmann. 3 1 Die verwandtschaftliche Verflechtung der Familien Meinhard und Beckmann wirkte sich auch auf die wirtschaftliche Kooperation beider Familien aus. Wieviele Kinder Christoph Meinhard bei seinem Tod 1527 hinterließ, ist nicht bekannt. Mündig war zu diesem Zeitpunkt vermutlich nur der älteste Sohn Alexius, denn er konnte beim Abschluß eines Kupferkaufvertrages im Sommer 1527 durch die Erben Christoph Meinhards seine Interessen selbst vertreten. 32 In der Liste der Hüttenmeister, die 1531 den Gesellschaftern der Saigerhütten unter Leutenberg und Eisfeld erhebliche Summen schul-

Westermann; Garkupfer, S. 296-298 (wie Anm. 9). " Spangenberg, Chronica IV, S. 263 f. und 268 (wie Anm. 20); Hermann Größler/Friedrich Sommer, Hg., Chronicon Islebiense, Eisleber Stadt-Chronik aus den Jahren 1520-1738. Eisleben 1882, S. 5. 2 9 Rep. Cop. Nr. 427 ', Bl. 141 r (wie Anm. 7). Zu Philipp Drachstedt, gräflicher Rat, Verwandter Luthers, Initiator der Arnstädter Saigerhandelsgesellschaft sowie Rechnungsführer für die Berganteile Graf Hoyers von Mansfeld vgl. Krumhaar, Grafschaft S. 73 (wie Anm. 2); Walter Möllenberg; Die Eroberung des Weltmarkts durch das mansfeldische Kupfer, Gotha 1911, S. 16; Fritz Wöhlbier, Aus der Hofhaltung des Grafen Hoier IV, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 369-372, 377-380, bes. S. 370 f; Westermann, Garkupfer, Reg. (wie Anm. 9); Martin Kessler, Genealogische Beziehungen Martin Luthers zu seinem Mansfelder Freundeskreis, in: Lutherjahrbuch 58 (1991), S. 7-12, bes. S. 10; Kurt Kronenberg, Aus Luthers Mansfelder Freundeskreis 3: Die Drachstedts zu Eisleben, in: Mansfelder Heimatblätter 8 (1933), S. 114118, 122-127. 27 2

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Walter Möllenberg, Urkundenbuch zur Geschichte des Mansfeldischen Saigerhandeis im 16. Jahrhundert, Halle 1915, S. 112. Eine eindeutige Zuordnung Johann Drachstedts ist kaum möglich. Dreyhaupt weist einen „langen Hans" Drachstedt als Ratsmeister in Halle nach. Er konzentriert sich vowiegend auf die Hallenser Namensträger, vgl. Johann Christoph Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft . . . Magdeburg . . . gehörigen Saal-Creyses, Th. 2. Halle 1755, Beylage sub Β. Genealogische Tabellen oder Geschlechts-Register sowohl derer vornehmsten im Saal-Creyse mit Ritter-Gütern angenommenen Adelichen Familien . . . als auch derer . . . Adelichen, Patricien und Bürgerlichen Geschlechter. Halle 1750, 3, S. 30-35 Nr. 28: Geschlechts-Register derer Drachstädte, bes. S. 30.

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Spangenberg, Chronica IV, S. 261 (wie Anm. 20). Möllenberg, Urkundenbuch, S. 112 (wie Anm. 30).

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dig blieben, e r s c h e i n t er g e m e i n s a m m i t s e i n e m B r u d e r C h r i s t o p h d . J . 3 3 1 5 3 6 ist er u n t e r d e n H ü t t e n m e i s t e r n , die bei G r a f G e b h a r d v o n M a n s f e l d F ü n f t e l g e n a n n t w e r d e n . B e i W i m m e l b u r g b e t r e i b t er z w e i E r b f e u e r u n d z w e i H e r r e n f e u e r . 3 4 N a c h r i c h t e n ü b e r A l e x i u s M e i n h a r d s b e t r ä c h t l i c h e n A n t e i l a n d e r K u p f e r p r o d u k t i o n b z w . die d a r a u f b e z o g e n e n A b g a b e n u n d V e r p f l i c h t u n g e n liegen f ü r die J a h r e 1 5 2 7 , 1 5 2 9 , 1 5 3 2 , 1 5 3 4 u n d 1 5 4 6 v o r . 3 5 A m 1 5 . N o v e m b e r 1 5 4 7 w u r d e er in d e n E i s l e b e n e r n e u e n R a t b e r u f e n . 3 6 A l s seine T o c h t e r A g n e s a m 2 2 . M a i 1 5 5 4 d e n ältesten S o h n des N o r d h ä u s e r B ü r g e r m e i s t e r s M i c h a e l M e i e n burg, Johannes Meienburg, heiratete, w a r Alexius Meinhard wahrscheinlich n o c h

am

L e b e n . 3 7 I m S o m m e r 1 5 5 5 w a r e r bereits v e r s t o r b e n . 3 8 E i n e R e i h e w e i t e r e r N a m e n s t r ä g e r M e i n h a r d w e r d e n in d e n Q u e l l e n e r w ä h n t , o h n e d a ß sie d e r F a m i l i e C h r i s t o p h M e i n h a r d s v e r b ü r g t z u g e o r d n e t w e r d e n k ö n n e n . Z u L e b z e i t e n C h r i s t o p h Meinhards w ä r e n insbesondere Klaus Meinhard, der mit Christoph gemeinsam in d e r H ü t t e n m e i s t e r l i s t e v o n 1 5 0 8 a u f g e f ü h r t w i r d , a b e r a u c h 1 5 0 7 Valentin M e i n h a r d , ein Vetter M a r t i n H e l l e r s , o d e r Stefan M e i n h a r d z u n e n n e n . 3 9 A u s d e r z w e i t e n H ä l f t e des 16. J a h r h u n d e r t s ist ein w e i t e r e r H ü t t e n m e i s t e r A l e x i u s M e i n h a r d b e k a n n t , d e s g l e i c h e n d e r B e r g v o g t Valentin M e i n h a r d u n d d e r Steiger C h r i s t i a n M e i n h a r d . 4 0 D i e Ü b e r l i e f e r u n g z u d e n M e i n h a r d s , die o f f e n s i c h t l i c h v o r w i e g e n d i m M o n t a n g e w e r b e t ä t i g w a r e n , l ä ß t sich bis ins 17. J a h r h u n d e r t v e r f o l g e n . 4 1

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Ebd. S. 173. Nach den Angaben des Erbbuches von 1534 wohnte er, wie Hans Zeiß, in der ersten „riege am thor" im Vogelgesang, vgl. Hermann Etzrodt, Die Bürgerschaft der Neustadt Eisleben im Jahre 1534, in: Mansfelder Sippenkunde 8 (1940), S. 57-62, bes. S. 59. Fritz Wöhlbier, Die Grafschaft Mansfeld im Reformationszeitalter, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 68-71, 73-76, bes. S. 76. In der Rechnung Graf Hoyers für 1527 ist „Lexius meinhart" mit 1189 Zentner, 45 Pfund Kupfer" sowie 118,5 Zentner, 50 Pfund als Zehnten und einer Abgabe „zu dem gemeinen gepew vnd Stollen" von 8 Zentner für 4 Feuer angegeben, vgl. Rep. F 4 Ch Nr. 16, Bl. 71 v und 74 r (wie Anm. 8). 1529 hat er von 1157 Zentner, 28 Pfund 115,5 Zentner, 25,5 Pfund Zehnten gegeben. Die Abgabe für die 4 Feuer bleibt dieselbe, vgl. ebd., Bl. 115 ' und 1 1 6 r . 1534 produzierte er mit seinen 4 Feuern 1065,5 Zentner, 31 Pfund, vgl. Westermann, Luther, S. 77 (wie Anm. 10). Bei der Schätzung der Hütten- und Bergteile am 11. März 1532 hatte Meinhard für 2 Herren- und 2 Erbfeuer je 1200 Gulden, also insgesamt 4800 Gulden zu entrichten, vgl. Landeshauptarchiv Magdeburg, F 4 A d Nr. 1 (Bergsachen des Eyslebischen Vnd Mansfeldischenn bergs Anno 1531), Bl. 6 r , vgl. auch Bl. 7 v - 8 r . Zu 192 fl., 6 gr., 5,5 h, die Alexius Meinhard Ostern 1546 für seinen Kohlenhandel an Graf Botho von Stolberg zu zahlen hatte, vgl. Copialbuch des Bergrichters Martin Kniese sen., Bl. 20 v (im Besitz von Gerhard Stolle/Aschersleben). Chronicon Islebiense, S. 1 (wie Anm. 28). Vgl. Otto Clemen, Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897-1944). Hg. Ernst Koch, Bd. 6, Leipzig 1985, S. 590 f. und 588 Anm. 8. Am 11. Juni 1555 wurde von dem Notar Valentin Golthayn in „Lexius Meinharts seligenn behausung" eine notarielle Protestation an Kaiser Karl V. wegen eines Saigerhandeiskonflikts zwischen Graf Albrecht von Mansfeld, vertreten durch seine Faktoren Christoph Spieß, Martin Kniese, Cyriacus Kaufmann, Antonius Henckel, und dem Stoiberger Faktor Johannes Meyenburg aufgesetzt, vgl. Kniese, Copialbuch, Bl. 50 r (wie Anm. 35).

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Zu Claus Meinhard, vgl. Rep. F 4 Ak Nr. 1, Bl. 54 v (wie Anm. 10). Neudruck der Liste mehrfach. Abbildung bei Hanns Freydank, Martin Luther und der Bergbau, Halle 1933, S. Β 317. Zu Valentin Meinhard vgl. Rep.Cop. Nr. 4 2 7 B l . 151 v , ein Balthasar Meinhard 1530 ebd., Bl. 267 v (wie Anm. 7). Zu Stefan Meinhard vgl. Krühne, Urkundenbuch, S. 261 (wie Anm. 13).

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Zu Alexius Meinhard II vgl. Chronicon Islebiense, S. 59, 73, 78 (wie Anm. 28). Zu Valentin und Christian Meinhard vgl. Kniese, Copialbuch, Bl. 1 8 r (wie Anm. 35); Spangenberg, Chronica IV, S. 9 4 , 1 6 7 , 2 4 6 , 2 7 7 , 291, 295 (wie Anm. 20). Zu Paul Meinhard 1582 vgl. Otto Krümmling, Der Seeburger Weinbau im 16. Jahrhundert, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 281-283, bes. S. 282; zum Steiger Philipp Meinhard 1617 vgl. Kurt Kronenberg, Von dem Gefängnis des Berggerichts in Mansfeld,in: Mansfelder Sippenkunde 4 (1936),

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Hüttenmeister Christoph Meinhard und seine Beziehung zu Thomas Müntzer

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Ungeklärt ist noch immer das Verhältnis der Meinhards zur Familie Zeiß. Wir wissen gegenwärtig allein, daß Christoph Meinhard und der Allstedter Schosser Hans Zeiß Vettern waren, daß letzterer nach 1525 in den Diensten Graf Albrechts von Mansfeld stand und wie Alexius Meinhard auf der Nußbreite in Eisleben ansässig war. 42 So lückenhaft die Überlieferung auch ist, die Verflechtung Christoph Meinhards mit bedeutenden Familien des Eislebener Bürgertums sowie des Montangewerbes und damit auch zu einer Elitegruppe der Grafschaft Mansfeld ist eindeutig belegt.

2. Zu Christoph Meinhards wirtschaftlichen Verhältnissen und seiner Position in der Stadt Als die siebente Wohltat Gottes hat Spangenberg den Mansfelder Bergbau bezeichnet. Er erbringe „wochlichen zween Centner Silber auf beiden Bergen (den Eißlebischen und Mansfeldischen) . . . Daraus wohl abzunehmen, wieviel Centner Kupfer man ein Jahr gemachet. Dieweil ein Centner Kupfer etwan mehr nicht, denn von 24 bis auf dreißig oder 32 Lot Silber gehalten." 4 3 Mit gutem Grund nimmt der Bergbau in Spangenbergs Prioritätenliste unter den Erwerbszweigen den ersten Platz ein. Entsprechend weit vorn in der sozialen Rangordnung sind die Hüttenmeister als montane Unternehmer einzugruppieren. Sie sind in der Regel der städtischen Oberschicht, Zumindestens aber der aufstrebenden Mittelschicht zuzuordnen. Entgegen häufigen anderslautenden Äußerungen läßt die lückenhafte Quellenüberlieferung eine genaue sozialgeschichtliche Analyse der Gruppe der im Mansfelder Bergbau engagierten Hüttenmeister nicht zu. Trotz immer neuer Bemühungen gilt das nach wie vor für Hans und Jakob Luther, Vater und Bruder des Reformators, erst recht jedoch für Christoph Meinhard. 4 4 Bislang besteht keine Klarheit, wo Meinhard in der Stadt ansässig war. Bis 1518 hat er vermutlich Haus und Hof vor dem Schloß bewohnt, die er in diesem Jahr für 500 Gulden an Paul Teichmann verkauft hat. 45 Uber seinen sonstigen Grundbesitz wissen wir ebenso wenig Bescheid. Den Zins für eine Wiese, die ihm ursprünglich gehörte, zahlte 1522 sein Schwager Sigmund Müller an das Kloster Neuen-Helfta. 4 6 Er selbst regelte gemeinsam mit dem Stadtvogt Thomas Beckmann in diesem Jahr die Zahlungsverpflichtungen bei dem Kloster für ihr Mündel Burkhard Beckmann d.J. 47

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S. 41-45, bes. S. 44; zum Münzmeister Georg Meinhard 1601/02 vgl. Chronicon Islebiense, S. 60 und 73 (wie Anm. 28); zum Richter Thomas Meinhard 1601/14 vgl. ebd., S. 68, 72, 88, 93, 95. Zeiß nennt Meinhard im Brief vom 5. Mai 1525 „vetter und gefatter" vgl. Walther Peter Fuchs, Hg., Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland, Bd. 2, Neudruck Aalen 1964, S. 202. Zum Wohnsitz Nußbreite vgl. Spangenberg, Chronica IV, S. 246 (wie Anm. 20), zum Wohnsitz Vogelgesang vgl. Anm. 33. Spangenberg, Chronica IV, S. 25 (wie Anm. 20). Westermann hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Angaben und Berechnungen bei Freydank und Wöhlbier nicht immer zuverlässig sind, vgl. Westermann, Luther, S. 54 f (wie Anm. 10). Leider trifft das auf seinen in vielfacher Hinsicht weiterführenden Aufsatz ebenfalls zu, vgl. Anm. 26. Unrealistisch ist Westermanns Hoffnung, trotz lückenhafter Quellenüberlieferung „zu einer Besitz- und Sozialtopographie" Eislebens und Mansfelds vorstoßen zu können (ebd., S. 65). Kritisch dazu vgl. Wieland Held, Die soziale Umgebung von Martin Luthers Elternhaus, in: Günter Vogler u. a., Hg., Martin Luther. Leben. Werk. Wirkung, Berlin 1983, S. 13-29, bes. 25. Rep. Cop. Nr. 427 Bl. 189 v : 20. September 1518 (wie Anm. 7). Vgl. Anm. 13. Krühne, Urkundenbuch, S. 254. Zu den Vormunden Burkhard Beckmanns d.J. vgl. Anm. 95.

218

Siegfried Bräuer

Ausführlichere Informationen besitzen wir über seine Beteiligung am Bergbau als Hüttenmeister. Unter den 40 Hüttenmeistern, die am 15. Januar 1508 die dritte Bergwerksreformation unterschriftlich zu halten schworen, werden Claus und Christoph Meinhard an 33. und 34. Stelle, unmittelbar nach Hans Luther, aufgeführt. 48 Im Händelbuch der Grafen für die Jahre 1507 bis 1509 wird Christoph Meinhard noch weitere siebenmal genannt. 49 In der Liste der „fürnehmsten Hüttenmeister in der Grafschaft" von 1513 bei dem in der Regel gut unterrichteten Spangenberg, erscheint er nicht. 50 Dennoch kann er zu dieser Zeit schon nicht mehr zur untersten Gruppe der Hüttenmeister gehört haben, wenn er auch mit Lamprecht Kegel zu den Hüttenmeistern zählte, denen Graf Gebhard VI. um 1508 nur 20 Gulden schuldete. Bei anderen Hüttenmeistern stand der Graf erheblich höher in der Kreide, bei Hans Luther beispielsweise mit 500 Gulden. 51 1507 ist Meinhard Mitglied eines Gewerkes, einer Hüttenmeistergemeinschaft, auf der Breite. Sie bestand aus Georg Orlamunde, Burkhard Beckmann, Christoph Meinhard, Andreas Knebel, Mathis Wolfsberg, Bartold Risse und Martin Dieterich. Im Frühjahr 1507 geraten sie in Streit mit Martin Dieterich, der sich übervorteilt vorkam und beim Berggericht appellierte. 52 Im weiteren Verlauf der Klagesache, die erst am 18. Januar 1508 beigelegt wurde, erscheinen nur Burkhard Beckmann, Christoph Meinhard und Lorenz Buchner als Gegenpartei Dieterichs. 53 1511/12 mußte erneut mit Meinhard und Beckmann „vmb nidersinckung eins schachtes an der gebreite" verhandelt werden. 54 Beide Partner waren 1507 auch „mit den gewercken an der kunst alßdorf" (Ahlsdorf bei Mansfeld) tätig, kamen aber offenbar ihren Verpflichtungen nicht nach. Am 6. Juli 1507 beschloß die gräfliche Bergbehörde deshalb, daß Bergvogt und Bergrichter Beckmann und Meinhard auffordern sollten, ihren Teil weiterzubauen, da die Grafen ihn sonst anderen Interessenten überlassen würden. 55 Wenige Wochen darauf wurden beide Hüttenmeister in einen Rechtsstreit mit Hermann von Oberweimar verwickelt, möglicherweise ebenfalls in Bergwerksangelegenheiten. 56 Noch im gleichen Monat, am 12. August 1508, mußte das Berggericht die „Gebrechen uf der Heyde zwuschen Christoff Meinhardt, Blanckenberg, Fabian Francke, Mackenrodt, Orlomunde, Beckmann und ire Gewerckschaft in iren alten und nuwen entpfangnen Teylen"

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Rep. F 4 Ak N r . 1, Bl. 54 v (wie Anm. 10). Abbildung bei Freydank, Luther, S. Β 317 (wie Anm. 39). Druck: Möllenberg, Luther, S. 178 (wie Anm. 2); Mück, Kupferschieferbergbau II, S. 25 (wie Anm. 10). Wöhlbier, Händelbuch, S. 82 (wie Anm. 8). Die Mehrzahl der Hüttenmeister tritt im Händelbuch in geringerem Maße in Erscheinung, 13 liegen jedoch über Meinhard. An der Spitze stehen Hans Semler mit 28 und Hans Luther mit 24 Erwähnungen (ebd.) Spangenberg, Chronica IV, S. 263 f (wie Anm. 20). Dr. Philipp Drachstedt und Hans Luther werden genannt. Fritz Wöhlbier, Graf Gebhard als Schuldner, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 385-388,393-396, bes. S. 386. Rep. F 4 Tit. Ak N r . 1, Bl. 2 r , Anordnung vom 19. März 1507, „biß zu austrag vnd rechtfertigung der appellation" stille zu stehen (wie Anm. 10). Dieterich war vermutlich ein Schwiegersohn Wolfsbergs. Beide standen im Rechtsstreit um die Kupferschieferförderung offenbar auch sonst auf gegnerischer Seite, vgl. Mück, Kupferschieferbergbau II, S. 49 f und 46 (wie Anm. 10). Rep. F 4 Tit. Ak Nr. 1, Bl. 12 r (undatiert), 28 v (15. Oktober 1507), 59 r -59 v (18. Januar 1508): Die von Dieterich geförderten Schiefer wurden ihm und seiner Gesellschaft zugesprochen. Beckmann mußten sie ihr Hauergeld wiedergeben. Die Prozeßkosten wurden auf alle Beteiligten umgelegt (wie Anm. 10). Landeshauptarchiv Magdeburg, Rep. F 4 Tit. Ak N r . 2 (Handelsbuch 1511/12), Bl. 65 v (umdatiert). Rep. F 4 Tit. Ak Nr. 1, Bl. 15 r (wie Anm. 10). Vgl. Mück, Kupferschieferbergbau II, S. 22 (wie Anm. 10). Rep. F 4, Tit. Ak N r . 1, Bl. 52 r (wie Anm. 10). Graf Ernst II von Mansfeld wurde gebeten, die Mansfelder Grafen bei der Verhandlung am 5. August 1508 durch einen Beauftragten vertreten zu lassen.

Hüttenmeister Christoph Meinhard und seine Beziehung zu Thomas Müntzer

219

beilegen. Wiederum ging es um strittige Anteile beim Kupferschieferabbau. 57 Ein Schiedsvertrag von 1511 belegt, daß Meinhard auch an der Schieferförderung in Wolferode beteiligt war. 58 1517 baute er gemeinsam mit Thomas Beckmann, mit dem er schon 1515 zwei Hütten betrieb,eine neue Hütte im Wäschtal (Saugrund) bei Wimmelburg. Beide Hüttenmeister lösten damit einen Konflikt mit Nikolaus Lone, dem Abt des nahegelegenen Benediktinerklosters, aus. Schon 1512 hatte sich der Abt mit dem ganzen Konvent bei den Grafen um Schadensersatz wegen der Nachteile durch den stark aufkommenden Abbau, die Verhüttung und den Transport von Kupferschiefer beschwert. Die Grafen hatten sich mit dem Kloster geeinigt, indem sie ihm das Vorwerk Bischoferode mit Zinsen, Lehen und Diensten überließen. 59 Nun protestierte der Abt erneut gegen den Wasserverlust, den die Klostermühle wegen Meinhards und Beckmanns neuer Schmelzhütte erleiden müsse. Die Vermittlungsvorschläge (Bau einer Windmühle, Nutzung einer städtischen Mühle) lehnten die Mönche ab. Sie sperrten den Hüttenmeistern die Wassernutzung und lösten damit die Androhungen von Gegenmaßnahmen durch die Grafen aus. Erzbischof Albrecht von Magdeburg wurde als Schlichter eingeschaltet. Seine Beauftragten, der Kirchenjurist, Propst und Archidiakon des Klosters Neuwerk bei Halle, Johannes Gethinck, genannt Paltz, der Hauptmann auf der Moritzburg in Halle, Hans von Pack und der erzbischöfliche Rat Dr. Erhard Milde, führten am 15. Juli 1517 einen Vergleich herbei. Die Grafen überließen den Mönchen die Eislebener Mühle „auf der Sorge" mit allen Rechten. Dem Kloster wurde die volle Wassernutzung für die verhüttungsfreie Zeit und eine Teilnutzung für den täglichen Bedarf zugesagt. Am 20. Juli 1517 wurde der Vergleich vertraglich durch Erzbischof Albrecht bestätigt. 60 Nur noch einmal, am 12. März 1523, wird die Beteiligung Meinhards an weiteren Hütten auf dem Hirtenberg, auf dem auch Jakob Luther als Hüttenmeister tätig war, bezeugt. Als Mitgewerke werden Wilhelm Rincke und Moshauer genannt. 61 Für dieses Jahr wird die Hüttengemeinschaft Meinhard/Beckmann mit sechs Feuern angegeben, ohne daß diese zu lokalisieren sind. 62 Die bisher zugänglichen archivalischen Unterlagen und chronikalischen Aufzeichnungen, vorwiegend über Konflikte im Bergbau, konnten nur ein unvollständiges Bild von Christoph Meinhards Tätigkeit als Hüttenmeister vermitteln. Es läßt sich ergänzen durch Informationen aus Registern über die Erb- und Herrenfeuer und die Berechnung des Zehntkupfers für Graf Hoyer von 1508, 1515 und 1524, für Graf Günther von 1513, für Graf Ernst von 1512, 1519,1522 sowie dem Waageregister für Graf Ernst von 1523. Bei diesen Ergänzungen bleiben ebenfalls wieder Lücken, zumal eine Reihe von Einzelheiten

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Vgl. Mück, Kupferschieferbergbau II, S. 29 (wie Anm. 10). Meinhard, der mit den gräflichen Gewerken ein Viertel an den obersten bzw. alten Teilen hatte, wurden zwei Schächte, 15 Klafter von den anderen, wo die Schiefer nicht weggehauen waren, in der Länge und in der Breite seines Teils zugesprochen. Die untersten bzw. neuen Teile wurden mit Mackenrods Teil zusammengetan und halbiert. Eine Hälfte erhielten Meinhard, Blanckenberg, Francke und Martin Dieterich, die andere Orlamunde und Beckmann mit ihren Gewerken. Ebd., S. 35. Spangenberg, Chronica IV, S. 416 (wie Anm. 20). Ebd., S. 418-420. Der Neuwerk-Propst Dr. Johannes von Paltz ist zuweilen mit dem bekannteren Erfurter Augustinertheologen Dr. Johannes von Paltz (recte Johannes Jeuser), der bereits 1511 verstarb, verwechselt worden, ζ. B. bei Walter Delius: Die Reformationsgeschichte der Stadt Halle a.S. Berlin 1955, S. 13. Zum Neuwerk-Propst Paltz vgl. Gustav Friedrich Hertzberg, Geschichte der Stadt Halle an der Saale von den Anfängen bis zur Neuzeit. Bd. 1. Halle a.S. 1889, S. 530. Vgl. Möllenberg, Luther, S. 184 (wie Anm. 2). Zu den Schwierigkeiten einer genauen Lokalisierung der Hütten vgl. Fritz Wöhlbier, Wo lagen Hans Luthers Hütten?, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 209-213, 217-219.

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Siegfried Bräuer

unklar bleiben. Es fehlen beispielsweise Register der Grafen des Mittel- und des Hinterorts. 63 In den Erbfeuerregistern für Graf Hoyer von 1508 nimmt Meinhard unter den 15 aufgeführten Hüttenmeistern mit einer Rohkupferproduktion von 737,5 Zentnern und 25 Pfund von drei Feuern und einem Zehnt von 73,2 Zentnern und 31 Pfund den sechsten Platz ein. An fünfter Stelle rangiert Dr. Philipp Drachstedt und an letzter Martin Dieterich. 64 Nach heutiger Berechnung hätte Meinhard reichlich 39 Tonnen Rohkupfer produziert. 65 Im Erbfeuerregister für Graf Ernst von 1512 ist Meinhard nur noch mit einem Feuer und einer Produktion von 350,5 Zentnern und 52 Pfund vertreten. Abzuliefern hat er davon als Zehnt 35 Zentner und 10,5 Pfund. Er steht damit an 13. Stelle von 17 Hüttenmeistern. 66 Wiederum nur mit einem Feuer und 387 Zentner, 31 Pfund Kupfer, von denen er als Zehnt 38,5 Zentner und 25,5 Pfund zu geben hatte, erscheint Meinhard im Erbfeuerregister für Graf Günther von 1513. Unter den 14 genannten Hüttenmeistern steht er damit an 11. Stelle. 67 Nach den Registern für Graf Hoyer ist es 1515 mit Meinhards Hüttenmeistertätigkeit wieder kräftig aufwärts gegangen. Im Produktionsverzeichnis der Erbfeuer wird er zweimal aufgeführt, zunächst ohne Angabe über Feuer mit 206,5 Zentner und einem Zehnt von 20,5 Zentnern und 17 Pfund, versehen mit der Angabe: „vor die kindere". Für sich wird er noch einmal mit zwei Feuern und einer Produktion von 470 Zentnern, 10 Pfund genannt, für die er 47 Zentner, 1 Pfund als Zehnten abzuliefern hatte. Ohne das Kupfer für die Kinder stand er unter 20 Hüttenmeistern mit Thomas Beckmann, der ebenfalls eine Ausbeute von 470 Zentnern vorzuweisen hatte, an 10. Stelle. Zusammen mit der für die Kinder produzierten Kupfermenge würde er an die achte Stelle vorrücken. 68 Zum ersten Mal ist Meinhard in diesem Jahr außerdem unter den Herrenfeuerbelehnten nachweisbar. Gemeinsam mit Thomas Beckmann stellte er mit zwei Feuern noch einmal 470 Zentner und 5 Pfund Kupfer her. Dafür wurden ihm 47 Zentner, 0,5 Pfund Zinskupfer, berechnet. Unter den Herrenfeuerhüttenmeistern von 1515 nahmen Meinhard/Beckmann eine mittlere Position ein. 69 Eine weitere Produktionssteigerung bei Meinhard und Beckmann weist die Kupferproduktionsrechnung für Graf Ernst vom Jahr 1519 aus. Ihre zwei Erbfeuer erbrachten 589,5 Zentner, 42 Pfund Kupfer. Das ergab einen Zehnten von 58,5 Zentnern, 55,5 Pfund. Unter den 15 Erbfeuerbesitzern sind sie an achter Stelle einzugruppieren. Wesentlich weiter vorn, nämlich auf dem vierten Platz, lagen sie mit 1147,5 Zentnern und 35 Pfund Kupfer von vier Feuern und mit einem Zehnten von 114,5

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Vgl. Rep. F 4 Ch N r . 16 (wie Anm. 8). Im Kupferzinsregister für Graf Hoyer von 1508 und 1509 wird Meinhard nicht genannt (ebd., Bl. l r - 2 v , 26 r -27 v ). Zur Q u e l l e vgl. die knappen und ergänzungsbedürftigen Ausführungen Westermanns in: Westermann, Luther, S. 65 (wie Anm. 10). Vgl. Rep. F 4 Ch N r . 16, Bl. 2 0 r (wie Anm. 8). Die Tabelle bei Westermann, Luther, S. 68 ist korrekt. Nur bei Andres ist „Reße" zu ergänzen. Im Herrenfeuerregister von 1508, in dem Hans Luther mit 5 Feuern an drei Orten und einer Produktion von 1081,5 Zentnern verzeichnet ist, kommt Christoph Meinhard nicht vor. Der Zentner Rohkupfer wurde im 16. Jahrhundert mit 114 Pfund zu je 467 G r a m m berechnet, vgl. August Engler, Die Wälder der Grafschaft Mansfeld zur Zeit Luthers, in: Mein Mansfelder Land 8 (1933), S. 233-237, 241-245, 249-252, 257-260, 271-274, bes. S. 273. Rep. F 4 C h N r . 16, Bl. 41 v (wie Anm. 8). Unter den Hüttenmeistern mit Herrenfeuern kommt Meinhard ebenfalls nicht vor. Hans Luther erscheint nur noch mit 2 Feuern im Raben und einer Produktion von 553,5 Zentner, 2 Pfund (ebd., Bl. 43 v ). Westermanns Angaben zu diesem Jahr sind großenteils korrekturbedürftig, vgl. Westermann, Luther, S. 69 (wie Anm. 10). Rep. F 4 Ch N r . 16, Bl. 51 v (wie Anm. 8). Hans Luther ist wieder mit 3 Feuern tätig und produziert 849,5 Zentner, 3 Pfund (ebd., Bl. 53 r ). Rep. F 4 C h N r . 16, Bl. 58 r -58 v (wie Anm. 8) Ebd., Bl. 60 Heer des Himmels, Deut. 4,19. heißen,) folgt. Der Glaube an Elohims, welchen die Hebräer hatten, scheint diesen vorauszusetzen." 92 Sicher lägen die Zentren des Heidentums nicht in Israel, sondern außerhalb Israels und der ,hohe Begriff' des Monotheismus sei in Israel durchaus vorhanden gewesen, hätte sich aber nicht durchsetzen können: „Zur Fassung des Monotheismus gehört schon ein großer Grad von Aufklärung. So wie der Mensch die Zusammenstimmung des Ganzen in der Welt zu Einem Zweck mit Bewunderung wahrnimmt, so erhebt er sich zu einem einzigen Schöpfer und Regierer der Welt. Dieser hohen Idee war ein Abraham, und noch mehr ein einsichtsvoller Moses fähig, und sein Herz konnte so von dieser erhabenen Idee begeistert werden, daß er fest an derselbigen hin, und die wirksamsten Anstalten zu ihrer Erhaltung traf. Aber deswegen faßt diesen hohen Begriff noch nicht der rohere Israelit93, der mehr vom Beyspiel anderer geleitet 90

Vide supra: Β. BAYER: In: B A R 8/1 (1982) S. 20-33.

91

G E O R G L O R E N Z BAUER. G e b . 1 4 . 8 . 1 7 5 5 . G e s t . 1 2 . 1 . 1 8 0 6 . - V g l . A D B ( E r d m a n n ) : B d . 2 ( 1 8 7 5 ) S .

92

93

143-145.

O . Merk: Biblische Theologie des N e u e n Testaments in ihrer Anfangszeit. Marburg 1972 (MThSt 9). S. 143ff. [G.L. BAUER:] Theologie des alten Testaments oder Abriß der religiösen Begriffe der alten Hebräer. Von den ältesten Zeiten bis auf den Anfang der christlichen Epoche. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Leipzig 1796. S. 24f. D i e Ambitionen des ,rohen und groben' Israeliten der Alten Welt beschreibt schön EICHHORN in seiner Urgeschichte. Einerseits Anthropomorphismen in der Schöpfungsgeschichte, die den schlichten Stand des Geistes zeigen, andererseits Polytheismen. Das gehört etwa zusammen, so die späte Aufklärung. - Die uralte Schöpfungsurkunde (Gen 2) müsse „ z u einer Zeit verfaßt seyn, wo es noch der Sprache des Urhebers an allumfassenden Ausdrücken mangelte, wo man also Theile nennen mußte, um Begriffe vom Ganzen zu geben; mit einem Wort, in der Kindheit der Welt, wo dem Menschen noch der umfassende Blick mangelte." - Hier herrschen „noch sehr unvollkommene, rohe Begriffe von G o t t " - J . G . EICHHORN: Urgeschichte. In: R B M L 4 (1779) S. (129-256) 177. 184. - Vgl. auch G . E . LESSING [Fragmente eines Ungenannten etc.]. In: Gesammelte Werke. 7. Bd. H r s g . v. P. Rilla. Berlin u. Weimar 1968. S. [812-853]

Was nun das Volk der Alten Hebräer

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wurde. Daher klebte dieser am Thierdiens: der Egyptier [ . . . ] U n d daher ließen sich auch in der Folge bis auf die Zeit des Exils die Israeliten immer zum Polytheismus verleiten." 9 4 Das vorexilische Israel also war - in der Regel und aufgrund mangelnder geistlicher Kunst - polytheistisch. Hier schon, in der Späten Aufklärung, findet sich eine Beschreibung der Religionsgeschichte atl. Zeit, die der neuesten letztlich gar nicht ferne steht. Freilich sind nach der Ansicht Bauers die Israeliten immer wieder auch verdorben und ihre guten Ansätze zunichte gemacht worden - durch die heidnischen Nachbarn. Eine Abhängigkeit von den anderen Völkern ist aber auch nicht immer nur negativ zu werten: „Gleichwie Völker überhaupt in ihrer Cultur am besten Fortschritte machen, wenn sie in Verbindung mit anderen Völkern kommen, und dadurch gegenseitig sich ihre Ideen erhabene Geschicklichkeiten und Künste mittheilen, also ist auch die Cultur der alten Hebräer durch ihre Einwanderung in Egypten sehr befördert worden." 95 G.Ph.Chr. KAISER96 geht über diese Erwägungen hinaus. Es sei eben nicht Monotheismus gewesen, was die Israeliten durch Mose erhalten hätten, sondern vielmehr NationalTheism (Henotheismus). „Nach Genes. I, 21. Kap. I, 10-11. Kap. 1,15-19. scheint dieses ganz seine Tendenz zu seyn, und er statuirt den guten Weltgott, (obschon noch nicht Weltengott), der zugleich Nationalgott bleibt. Auch blieb selbst der Volksglaube geläutert durch persische Ideen, nach dem Exile treu an dem guten Weltgott der Nation (freilich neben dem bösen Principe nach persisch-chaldäischer Idee). - Ein Beweis auch hier wieder, daß das Volk durch Moseh noch keinen Monotheism erhalten hatte, sondern nur einen National-Theism, daß es nie zu anderen Nationalgöttern abgefallen wäre, wenn es früher von einer Art Monotheism auch nur einen Begriff erlangt hätte." 97 Somit sei das AT eigentlich eine U r k u n d e n s a m m l u n g des biblischen Henotheismus. Es klingt zunächst kurios, wenn Kaiser vertritt, daß die Alten Hebräer sich erst durch die Nachbarvölker aufhelfen lassen mußten. Das Geheimnis, das hier im Hintergrund der Wissenschaftsgeschichte steht, lautet: Entdeckung des Avesta durch A N Q U E T I L DE P E R R O N im Jahre 1 7 7 4 9 8 . Dieses findet man früh schon bei L E S S I N G 9 9 - und dann bei KAISER mehr

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838, § 15: „Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht." [BAUER]: Theologie. S. 26f. G.L. BAUER: Handbuch der Geschichte der hebräischen Nation von ihrer Entstehung bis zur Zerstörung ihres Staats. 1. Thl. Nürnberg 1800. S.433. G.Ph.Chr. KAISER. Geb.: 5.5. 1781 in Hof. Gest. 1847 in Erlangen. - Vgl. ADB (Herzog): Bd. 15 (1882) S. 8. G.Ph.Chr. KAISER: Die biblische Theologie oder Judaismus und Christianismus nach der grammatisch-historischen Interpretationsmethode und nach einer freymüthigen Stellung in die kritisch-vergleichende Universalgeschichte der Religionen und in die universale Religion. 2 Thle. Erlangen 1813 - 1814. S. 81.

J.M. SCHMIDT: Die jüdische Apokalyptik. Die Geschichte ihrer Erforschung von den Anfängen bis zu den Textfunden von Qumran. Neukirchen-Vluyn 1969. S. 17: „Schon H . Corrodi (1781) nannte es die g e wöhnliche Meynung,, daß die Juden auf Grund ihrer unmittelbaren Berührungen mit den Babyloniern und Persern manche ihrer Lehren übernommen und so ganz neue religiöse Vorstellungen ausgebildet h ä t t e n . . . . Seit Bekanntwerden des Zend-Avesta durch Anquetil de Perron (1774) setzt sich die Überzeugung durch, daß die jüdischen Vorstellungen über Engel, Dämonen und den Satan, wie sie in den nachexilischen Schriften sich fänden, aus dem ,Zoroastrischen System, übernommen worden seien." -

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Bodo Seidel

ausgebeutet als bei BAUER, wenngleich der Sachverhalt diesem ebenfalls nicht fremd ist. 1 0 0 Der Einfluß aber sei allemal durch das Exil geschehen. Bei der Beeinflussung Israels durch Mesopotamisches und Persisches während des Exils blieb es freilich nicht. Später sind es die Griechen, die das ihrige tun: „So wenig es den Juden in Absicht auf die Ausbildung religiöser Ideen geschadet hatte, zu allererst unter den Egyptiern zu stehen (denn dort bildeten sie den National=Charakter, und National=Gott), sowenig schadete dieser fernem Ausbildung die zweite Verbindung mit Egypten." 101 Und: „Denn noch reiner, als den im Exile gelernten Monotheism, modificirten sich die Juden denselben durch die Anaxagoras-platonisch-griechisch-alexandrinischen Ideen . . . Bis zum Weltgott brachten es die Philosopheme der alten Welt, aber nicht bis zum Weltengott . . ,". 1 0 2 Diese ,zweite Begegnung' mit dem Nachbarn Ägypten habe dann das Judentum veranlaßt, eine neue Kunst zu entwickeln: U m mit den Griechen geistig konkurrieren zu können, hätte man den eigenen Urkunden mit der Fertigkeit der allegorischen Auslegung aufhelfen müssen. Dabei kommt das Alte Volk des Alten Testaments nicht sehr vorteilhaft weg. Denn beklagt, daß die Gen zwar sehr erhaben mit den edlen Schöpfungsgedanken beginne, dann aber „im hintern Theile des Pentateuchs die grobsinnlichste Denkungsart vom grausamen und partheyischen Nationalgott (4. Mos. 31,15, u. 17.), neben dem noch andere aber nicht so mächtige Götter anderer Völker existiren" 1 0 3 regiere. Glücklicherweise hätten die Deuteronomisten (,die K A I S E R freilich so nicht anspricht') durch den Einschub einiger Urkunden den „bessern religiösen Begriff" 1 0 4 (Dtn 6,4) eingebunden. - In später Zeit aber mußten sich die Juden um ihrer Glaubwürdigkeit unter den Persern und Griechen willen ernstlich um „edlere religiöse Principe" 1 0 5 bemühen. KAISER

Die jüdischen Gelehrten mußten „zur Rettung der Heiligkeit ihrer Urkunden und Lehren einen geheimen Sinn hierein legen . . . , um der Weisheit der Chaldäer, Perser etc. nichts nachzugeben." 106 Daher also die Allegorie in der zwischentestamentlichen und noch späteren Zeit. - Für B A U E R und K A I S E R gilt aber grundsätzlich, daß erst das Exil den ,reinen' Monotheismus gebracht habe. 107 Und nach diesem wichen sie, die Juden, nicht mehr vom rechten Weg ab: Siehe [H. Corrodi:] Kritische Geschichte des Chiliasmus. Erster Theil. 1. Bd. Frankfurt u. Leipzig 1781. S. 27. 31. " G.E. LESSING: Erziehung des Menschengeschlechts. In: GOTTHOLD EPHRAIM LESSING. Gesammelte Werke. 8. Bd. A.a.O., S. [590-615] 601: „Da die Juden nunmehr, auf Veranlassung der reinem persischen Lehre, in ihrem Jehova nicht bloß den größten aller Nationalgötter, sondern Gott erkannten . . . " . 100

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Vgl. [G.L. BAUER:] Theologie. S. 199: Die Teufel-, Geister- und Engellehre habe das AT aus der „babylonischen oder chaldäischen Philosophie adoptirt". KAISER: Die biblische Theologie. S. 28f. - Das Zitat lautet weiter: „Es ist nicht zu leugnen, daß das armselige Judenvolk eines engen syrischen Winkels einen noch bestehenden, äußerst wichtigen Einfluß auf ganz Europa und einen Theil der übrigen Welttheile geäußert und dem persisch-griechischen Monotheismus, besonders durch seine Halbbrüder die Christen, ins Abendland gebracht h a t . . . " KAISER: Die biblische Theologie. S. 89. A.a.O., S. 96. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 99. Dabei handelt es sich nicht etwa um Spezialanschauungen, sondern um den Konsens der Historiotheolo-

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B A U E R : „Man kann daher diesen nachmaligen Eifer der Juden für die Einheit Gottes nicht anders erklären, als daß sie erst unter den Babyloniern und Persern an Geistescultur zugenommen haben, und daher für die Idee, einen einzigen Gott anzubeten, empfänglicher geworden sind." 108

Monotheisten waren also (im Tendenzgefälle der Theologiegeschichte der Späten Aufklärung) erst die nachexilischen Juden. Und darin hätten sie andere Völker beerbt. Es waren die vorexilischen Alten Hebräer National-Theisten. O d e r so ähnlich! Der Aufweis gewisser Ähnlichkeiten zwischen der modernen Fragestellung und den in der Wissenschaftsgeschichte fast schon versunkenen Anschauungen kann für die heutige Problemlage natürlich keine Lösung erbringen. Auch sind die Vergleichsmöglichkeiten begrenzt und beschränken sich hier doch nur auf die Fragen nach Absolutheit und monogenetischem Ursprung der atl.-biblischen Offenbarungs-Religion. - Jedoch sollte der Blick auf die oft als Hypothesenfriedhof gescholtene Forschungsgeschichte den Verstand freier und die Seele nüchterner machen für den vermeintlichen Schwund am vermeintlich Selbstverständlichen des Biblisch-Jüdisch-Christlichen.

gie der Späten Aufklärung. Vgl. EICHHORN, den man vielleicht als .Norm' für die theologische Geisteshaltung nehmen kann: J.G.E. [Rez.]: Beytrag zur Kritik der Religionsphilosophie und Exegese unseres Zeitalters. Ein Versuch auf Veranlassung der neuesten zur Begründung einer reinen Religionswissenschaft angestellten Untersuchungen; von Karl Heinrich Pölitz. Leipzig 1795. In: A B B L 6.4 (1795) S. [740-747] 742f.: „Eben so kamen die Hebräer nach dem Exil durch ihre Verbindung mit Chaldäern und Griechen mit ihren früheren religiösen Begriffen sehr ins Gedränge; das Ansehen ihrer heiligen Urkunden war während des Exils zum Theil noch mehr erhöht worden, und doch mußten sie der fortschreitenden Cultur des Volkes und Landes . . . nachgeben, und unvermerkt Begriffe von ihnen in ihr älteres Religionsgebäude aufnehmen. Um aber das Ansehen und die Heiligkeit ihres Moses zu retten, legten sie ihm das unter und fanden das in seinen Schriften und Worten, was ein Product späterer Zeit war." 108

[ G . L . BAUER:] T h e o l o g i e . S . 2 8 .

DIETER FAUTH, WÜRZBURG

Bedeutung des Islam für Erziehungs- und Bildungsvorstellungen vor allem in der radikalen Reformation mit Nachwirkungen

Einleitung Mit vorliegendem Beitrag 1 wird nach dem Einfluß des Islam auf Erziehungs- und Bildungsvorstellungen bei Martin Luther (1483-1546) sowie vor allem den radikalen Reformern Thomas Müntzer (vor 1491-1525) und Sebastian Franck (1499-1542) gefragt. Anschließend soll die einschlägige Nachwirkung der radikalen Theologen im protestantischen Dissidentismus exemplarisch am Beispiel eines nonkonformen Personenkreises in Tübingen um 1620 verfolgt werden. 2 Schließlich wird die gegenwärtige Bedeutung der dargestellten Positionen für die Religionspädagogik am Beispiel religiöser Bildungsbestrebungen im Land Brandenburg reflektiert.

1. Martin Luther Einwirkungen des Islam auf die Pädagogik Luthers liegen vor. Dies sei verdeutlicht, indem ein pädagogisches Wortfeld aus Luthers Bemerkungen über die Türken zusammengestellt wird. Luther begriff den Türken auch als „Schulmeister", der die Christen „steupen" (züchtigen) und „lehren" könne, Gott zu fürchten. 3 Der Reformator nannte den Türken eine „schreckliche Rute des göttlichen Zorns", mit der die Christen „gestraft" würden. 4 Bereits 1518 sah Luther die Hauptbedeutung der Türken für Christen darin, daß Gott durch die Osmanen die Sünden des Christen strafe. 5 Denn - so 1529 - wer nicht aus der Schrift lernen will, den „lehre" der Türke aus der Schwertscheide. 6 Wer also für einen literalen Bildungsansatz nicht zugänglich sei, der müsse eben mit Gewalt zur Einsicht kommen. So sollte jeder Christ sich „fleissigen", „zu leiden vom Türken". 7 Hier klang eine Form von

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Abkürzungen: CChr.SL = Corpus Christianorum. Series Latina, Turnholt 1953. - M S B = Thomas Müntzer: Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe unter Mitarbeit von Paul Kirn/ hg. v. Gunter Franz, Gütersloh 1968. - TOp.M = Randbemerkungen Thomas Müntzers [1521/22] zu Quintus Septimius Florens Tertullianus: Opera . . . , Basel: Johannes Frobes, 1521 (LB Dresden: Mscr. Dresd. App. 747). - WA - Martin Luther: . . . Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff.

2

Vgl. zu Erziehungs- und Bildungsvorstellungen der skizzierten Tradition Dieter Fauth: Lernen in der .Schule Gottes' - dargestellt an Quellen von Martin Luther und dem protestantischen Dissidentismus, in: Paedagogica historica 30(1994)477-504. WA 51, 594, 2 6 - 2 8 [1541], WA 30/2, 123, 16-18 [1529]; vgl. 116, 16f; 124, 15-19; 129, 10-15; 162, 1-3; 180, 14f; 183, 9-11; WA Br 9, 492, 19f; Br 41, 623, 33. WA 1, 535, 3 5 - 3 9 [1518]; vgl. WA 7, 140, 18 - 141, 25 [1520]; 443, 5f [1521]. W A 3 0 / 2 , 1 1 3 , 1 6 - 1 8 [1529]; Luthers Aussage bezieht sich auf seine Erkenntnis, daß der Türke nicht primär kriegerisch, sondern durch Glaubensbefestigungen bei den Christen überwunden werden müsse. WA 30/2, 173, 30 [1529].

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Dieter Fauth

Leidenspädagogik an, in der das Leiden dem Edukanten aufgezwungen und nicht etwa frei angenommen werden sollte. Ziele dieser Erziehung waren, Gott zu fürchten, 8 sein Christenleben zu bessern und Gott gnädig zu machen. 9 Das mit Türkenthematiken verbundene pädagogische Wortfeld Luthers zeigt, wie der Reformator auf die sittliche Hebung des Christen abzielte. Gemäß einem Vorwort Luthers zu der unten darzustellenden Schrift „Chronica und Beschreibung der Türkey" (1530)10 sollten die Christen auch „lernen, daß das Christentum etwas anderes sei als Zeremonien und gute Sitten". 11 Da die Türken ohne Christusglauben auf sittlich hohem Niveau stünden, könnten entgegen der Meinung der Papisten, die Werke nicht Teil der Religion sein.12 Insgesamt reflektierte Luther mit Türkenthematiken den Bereich der sittlichen Erziehung des Christen. Er kam zu dem heute auf dem Hintergrund der Diskussionen zum Verhältnis von Ethik und Religion wissenschaftstheoretisch problematischen Ergebnis, die Ethik von der Religion abzugrenzen. Aus pädagogisch-praktischen Erwägungen lag ihm als Theologe an der sittlichen Erziehung des Christen. Luthers Beschäftigung mit den Türken konnte mit dazu beitragen, in der evangelischen Erziehungslehre erziehungspessimistische und repressive Haltungen zu stärken. Der Edukant sollte die entsprechenden Maßnahmen zudem als Teil von Gottes Heilsplan und Gnade deuten. Die Türken dienten so dazu, ein wesentliches Element einer „Schwarzen Pädagogik" in der evangelischen Erziehungslehre zu etablieren, wonach der Zögling erfahrene Repression als Zuwendung zu deuten habe. 13 Damit ist ein Rezeptionsvorgang beschrieben, dessen Resultat in heute etablierten pädagogischen Werterahmen keine konstruktive, allerdings aber eine selbstkritische Bedeutung haben kann.

2. Thomas Müntzer Die Darstellung von Thomas Müntzers Türkenrezeption 14 wird unter der vorliegenden bildungshistorischen Hauptfragestellung auf drei Aspekte konzentriert. Zum ersten geht es um die anthropologischen Grundlagen einer interreligiösen Bildung. Zum zweiten wird die hermeneutische Struktur eines multireligiösen Bildungsprozesses der Christen dargelegt. Zum dritten geht es um die pädagogisch-praktische Bedeutung der Türken für die Christen. Hinsichtlich der anthropologischen Grundlagen eines christlich-muslimen Bildungsprozesses sah Müntzer bei allen Menschen das Herz, das heißt die Seele, als den anthropologischen Ort, an dem der Glaube wirkt. Glaube sei eine Bewegung des heiligen Geists in den Seelen der Menschen. Müntzer hatte dieses Interesse an der Seelenschau als Königsweg der Gottes- und Selbsterfahrung durch seine Mystikerstudien, insbesondere von Johannes

8

WA 30/2, 225, 36 [1529]. WA 7, 443, 19-21 [1520], 10 WA 30/2, 205-208. 11 WA 30/2, 207, 27f. 12 WA 30/2, 206, 23-34. 13 Die Erforschung der Schwarzen Pädagogik vor der Aufklärung ist ein Desiderat. Vgl. zur Moderne: Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung/ hg. v. Katharina Rutschky, Berlin 1977. M988. - Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, Frankfurt a.M. 1980. ^ Dieter Fauth: Das Türkenbild bei Thomas Müntzer, in: Berliner Theologische Zeitschrift 13(1994) 2-17. 9

Bedeutung des Islam für Erziehungs- und Bildungsvorstellungen

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Tauler (um 1300-1361) gewonnen. 15 Müntzer nahm für sich in Anspruch, diesen in der Seele des Menschen wirkenden Glauben zu predigen. Aufgrund des universellen Charakters seines Glaubens könnten Geistbegabte aus allen Nationen der Erde und nicht etwa gelehrte Theologen der christlichen Religion über seine Predigt urteilen. Am 3. August 1524 schrieb Müntzer an Sachsens Kurfürst Friedrich den Weisen: „Ich predige einen solchen Christenglauben, . . . der da in allen Herzen der Auserwählten auf Erden gleichförmig ist, Psalm 67 [= Ps 66,7fJ. Und wenn gleich ein geborener Türke da wäre, so hat er doch den Anfang dieses Glaubens, das ist die Bewegung des heiligen Geistes, wie vom Cornelius geschrieben steht, Act 10. Falls ich daher verhört werden sollte vor der Christenheit, so m u ß man [meine Lehre] entsenden, kund tun und schicken allen Nationen der Menschen, die im Glauben unüberwindliche Anfechtung erduldet hätten, die ihre Verzweiflung des Herzens gefunden hätten . . . Solche Leute möchte ich als Richter dulden." 16 Nach Müntzer stehen also am Anfang der Glaubenssozialisation bei Gläubigen verschiedener Religionen Seelenbewegungen, die der heilige Geist verursacht. Die Rückbesinnung auf diese spirituellen Anfänge aller Buchreligionen würde nach Müntzer interreligiöses Verstehen fördern: „Das ganze Gebrechen besteht darin, daß keiner der Türken, Heiden [= Perser], Juden und aller Ungläubigen am Anfang seines Glaubens gleich sein will, sondern jeder prahlt mit seinem Glauben und seinen Werken und von beidem weiß er weder die Begründung noch die Herkunft." 1 7 Die Glaubenserfahrungen des Petrus mit dem römischen Hauptmann Kornelius und anderen „Heiden" dienten Müntzer als Beleg dafür, „daß auch auf die Heiden die Gabe des heiligen Geistes ausgegossen ward" (Apg 10,45). Aufgrund der anthropologischen Übereinstimmung zwischen Christen und Muslimen wollte Müntzer eine „allgemeine Kirche der Auserwählten" (universa electorum ecclesia).xi Programm dieser Kirche sei es, daß „wir Christen nun zusammen einträchtig übereinstimmen, Psalm , mit allen Auserwählten unter allen Sekten oder Geschlechtern allerlei Glaubens". 1 9 Müntzer verwies auf die Prophezeiung des Psalmisten: „Aus Ägypten werden sie bald erscheinen. Äthiopien wird sich beeilen, sich Gott zu ergeben. Königreiche der Erde, singet, lobsinget dem Herrn." (Ps 68, 32f) Der Antityp dieser universalen Geistkirche ist die Amtskirche, die Müntzer als „ecclesia phantastica" 2 0 bezeichnete. Bisher wurden die anthropologischen Grundlagen des religiösen Bildungsprozesses skizziert, die nach Müntzer interreligiös gleich sind. Im folgenden geht es um die vom Türkenbild mit bestimmte Hermeneutik, die nach Müntzer den religiösen Bildungsprozeß strukturieren sollte. Diese Lehre vom Verstehen Gottes, Christi, des Leidens und aller religiös mitbestimmten Erfahrungsbereiche ist insgesamt als eine Ableitung der skizzierten Anthropologie verstehbar. Der zentralen Hochschätzung von göttlichem Geist und seelischen Prozessen in Müntzers Anthropologie korrespondierte als Antithese eine Mißachtung aller Schriftzeugnisse in religiösen Verstehensprozessen. So hat nach Müntzer jemand, der von Jugend auf unter den Ungläubigen, d. h. Juden oder Türken, aufgewachsen ist, doch das Werk und die Lehre

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Dieter Fauth: Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht, Ostfildern 1990 - Köln - Weimar - Wien 1993, 141-156 u. ö. MSB, 430, 29 - 431, 7; vgl. 407, 21-23. MSB, 221, 13-16. MSB, 505, 3f par. 496, 6. MSB, 278, 23-27.

TOp.M, [b 4]r.

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Gottes auch ohne alle Bücher erfahren 21 . Müntzer forderte eine religiöse Erziehung „ohne alle Bücher" 22 . Auch die Bibel war in seine Kritik an religiöser Erziehung mit Büchern eingeschlossen. Religiöse Wahrheit könne nicht von Büchern ausgehen 23 . Glaube, der auf Schriftzeugnissen, d. h. der Bibel bzw. dem Koran und deren gelehrten Auslegungstexten, fußt, entzweit. „Sollte ich die Schrift deshalb annehmen, da sie die Kirche ebenso aufgrund von Äußerlichkeiten annimmt und darüber hinaus keine Auskunft wissen? Was täte ich? Ich möchte mich weit umsehen auf dem ganzen Umkreis der Erde, ansehen alle Völker. Da vernehme ich, daß die Heiden [= Perser] auch glauben, wie ihre Götter fromme Heilige seien, dem obersten Gott Untertan. Weiter die Türken rühmen sich ihres Mohammeds eben so hoch wie wir [uns] unseres Christi. Weiterhin haben die Juden, äußerlich gesehen, einen beständigeren Grund als andere unwissende, oberflächliche Leute. Denn sie zanken sich mit anderen wegen der Schrift (es ist ein nützliches Gezänke) und wir [tun das] alleine um der Ehre und der zeitlichen Güter willen." 24 Bisher kam lediglich eine negative Hermeneutik Müntzers in den Blick. Was stellte der Reformator aber dem Ausfall der Schriftzeugnisse im interreligiösen Dialog positiv gegenüber? Antwort darauf geben zahlreiche Randglossen, die Müntzer in einem Buch mit Texten des Kirchenvaters Tertullian (ca. 150-220) anbrachte. 25 In diesen Texten wollte Tertullian seinen angeblich irrgläubigen Zeitgenossen Marcion (2. Jh.) vom rechten christlichen Glauben überzeugen. „Marcion ist das Fundament der Türken", 2 6 glossierte Müntzer, weswegen beiden in gleicher Weise begegnet werden könne. Müntzer begriff also die Türken als eine christliche Sekte. Er mag insofern etwas Wahres gestreift haben als der persische Religionsstifter Mani sowohl für die Manichäer um Marcion als auch Jahrhunderte später für Mohammed wichtig geworden war. Müntzer kam zu der Verknüpfung von Marcion und den Türken, da er beiden vorwarf, die Bedeutung des Leidens Christi zu mißachten. 2 7 Diesen Vorwurf bezog Müntzer aus seiner Lektüre der Confutatio Alcorani (Aus- bzw. Widerlegung des Korans) von Ricoldo da Monte Croce (+ 1320). Dieses Buch nannte Müntzer wegen seiner ausführlichen lateinischen Koranzitate und in Ermangelung einer besseren Alternative zu seiner Zeit „Alkoran". 2 8 Dort las Müntzer, daß Mohammed mit den Manichäern, also der Glaubensgemeinschaft um Marcion, darin übereinstimme, das Leiden Christi zu leugnen. 29 Welche interreligiöse Hermeneutik findet sich nun in Müntzers Randglossen zu den antimarcionitischen Texten Tertullians? Müntzer wollte dem Türken die Wahrheiten des christlichen Glaubens mit Hilfe von spirituellen Erfahrungen, der sogenannten O r d n u n g der Dinge (ordo rerum) und der Natur verdeutlichen. Auch in diesem Zusammenhang lehnte Müntzer Schriftzeugnisse ab. Mehrfach kritisierte Müntzer Tertullian, daß dieser den Häretiker Marcion mit Schriftzeugnissen anstatt Zeugnissen des Geistes umstimmen möchte: „Die Zeugnisse der Schriften führt er an, die Zeugnisse des Geistes übergeht er" 30 , kommentierte Müntzer das hermeneutische Verfahren Tertullians, Andersgläubige mit 21

MSB, 278, 30-36; vgl. 279, 4f. MSB, 277, 32; 278, 35; 293, 21f. 23 MSB, 251, 18f; 380, 13. 24 MSB, 231, 19-29. 25 TOp.M. 2 ' TOp.M 17 zu CChr.SL 2, 880, 48: „Marcion fundamentum est Turcarum". 27 Ebd; vgl. MSB, 232, 20-28. 28 MSB, 232, 20-28 ist eine Wiedergabe der in WA 53, 281, 23-33 edierten Stelle der Confuntatio. Zitiert ist Sure 4, 157-159. 29 Diese Aussage findet sich bei Ricoldo unmittelbar im Anschluß an die von Müntzer zitierte Stelle; vgl. Anm. 28. 22

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dem toten Bibelbuchstaben überzeugen zu wollen 31 . Eigene Geisterfahrungen gelte es mitzuteilen. Nach dem Urteil Müntzers waren dazu die gelehrten Theologen nicht fähig: „Im Buchstaben verweilen alle Doktoren und berühren überall [nur] Finsternis." 32 Außer eigenen Geisterfahrungen biete die von Müntzer sogenannte göttliche Ordnung der Dinge eine weitere Ebene, zu der alle Menschen gleichermaßen Zugang haben und die deshalb für ein Gespräch zwischen den Religionen hilfreich sei. Nach Müntzer manifestiert sich der Geist Gottes in einer göttlichen Ordnung, die allen Dingen innewohnt: dem Kosmos, der Natur, dem Geschichtsverlauf, dem Menschen als Mikrokosmos. Die Schau der göttlichen Ordnung hat eine entsprechende, Glauben schaffende Wirkung wie spirituelle Geisterfahrungen. Dem Menschen, der die Bibel nicht anerkennt, sollte die eigene Schau der göttlichen Ordnung in den Dingen vermittelt werden. Dieser hermeneutische Grundsatz wurde von Tertullian mißachtet. Müntzer fragte mit einer Randglosse am Text Tertullians kritisch an: „Warum beweist du nicht aus der Ordnung der Dinge gegen den, der die Schrift leugnet?" 33 Aus der Ordnung der Dinge könne der Türke von der Relevanz des christlichen Glaubens sowie von der Überlegenheit des Evangeliums gegenüber dem Koran überzeugt werden. Doch die Christenheit, in der eigene Geisterfahrungen und Erkenntnis der Ordnung Gottes durch theologisches Wissen verdrängt sind, verstehe von dieser ordo-Hermeneutik nichts: „Was wissen die törichten Menschen, was sie bewegt, Christen und nicht Heiden zu sein, oder warum der Alkoran nicht genauso wahrhaftig sei wie das Evangelium? Denn sie können das Gegenteil nicht beweisen aus der Ordnung . . . [Doch] dann würde erst der Umkreis der Erde zu der Versammlung der Auserwählten gehören, damit er ein christliches Regiment gewönne . . ,"34 Ein Bereich, in dem alle Menschen die Ordnung gleichermaßen studieren können, ist die Natur. Müntzer unterstrich im Tertulliantext, daß „der Gott der Welt über die Zeugnisse seiner Werke von Natur aus allen bekannt" sei35. Am Rand hob er diese Ansicht mit den Marginalien „ordo rervm" (die Ordnung der Dinge) hervor und glossierte: „Die Werke der Hände Gottes bezeugen vieles von Gott" 36 . Die Natur war also fester Bestandteil von Müntzers universaler Offenbarungslehre. Die Ordnung der Natur vermag Andersgläubigen nicht allein zu Gott, sondern auch zu Christus Zugang zu verschaffen. So kann nach Müntzer aus der Ordnung der Dinge die Auferstehung glaubhaft gemacht werden 37 . Müntzer bediente sich dazu des hermeneutischen Verfahrens der „Vergleichung" (comparatio/similitude). So versinnbildliche der Sonnenaufgang die Auferstehung. „Der Anfang des Tages nach der Nacht ist ein Gleichnis für die Auferstehung des Fleisches." 38 Auch die Bedeutung des Leidens Christi und seine Wunderkraft könnten aus der Natur glaubhaft gemacht werden 39 . Außer Gott und Christus vermögen auch die Aussagen in der Bibel mit 3

® TOp.M, 32 zu CChr.SL 2, 912, 46: „Testimonia scripturarum producit [sc. Tertullianus]; testimonium spiritus pertransiens." Vgl. entsprechende Kritik Müntzers an Tertullian in TOp.M, 20 zu CChr.SL 2, 887, 30: „cum littera convincit [sc. Tertullianus] hereticos illos."; TOp.M, 30 zu CChr.SL 2, 909,20: „Confundere nititur hereticos ex scripturis sanctis."; TOp.M, 21 zu CChr.SL, 2, 889, 70. 32 TOp.M, 21 zu CChr.SL 2, 889, 70: „In littera versantur omnes doctores palpant vbique tenebras." 33 TOp.M, 17 zu CChr.SL 2, 881, 20: „Quare non probas ex ordine rerum contra negantem scripturas?" 34 MSB, 23, 19-31. 35 TOp.M, 36, vgl. CChr.SL 2,923, 35: „ . . . deum mundi omnibus naturaliter notum de testimoniis operum 31

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Ebd.: „Opera manuum dei multi testantur de deo." TOp.M, 34: „Ex ordine rerum probat resurectionem." 3 ® TOp.M, 43 zu CChr.SL 2, 935, 7: „Ortus diei post noctem similitudo resurgentis carnis." 39 Entsprechende Inhalte eines Tertulliantextes glossierte Müntzer in TOp.M, 17 zu CChr.SL 2,882, 49: „Pulchrius ilia omnia ex natura probantur." 37

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Hilfe der Natur glaubhaft gemacht zu werden. „Die Natur stützt die Weissagungen." 40 So kann nach Müntzer der Sinn der Schriften aus der Natur gesichert werden 41 . Schließlich verhilft die Natur allen Menschen nicht nur zum Glauben an Gott, Christus bzw. die biblischen Verheißungen. Die Natur selbst ist eine theologische Quelle und schafft Glauben. Daher bleibt auch ohne die Bibel die christliche Wahrheit bestehen. 42 Kurz gesagt meint Müntzer, Christen und Muslime sollten (1) sich eigene Geisterfahrungen mitteilen, (2) gemeinsam der göttlichen Ordnung in allen Dingen (ordo rerum) nachspüren, etwa in der Natur, dem Geschichtsverlauf und dem Menschen als Mikrokosmos. Weiterhin sollten Christen und Muslime (3) keinesfalls über ihre heiligen Texte miteinander reden. Allerdings bleibt dieser interreligiöse Dialog bei Müntzer christozentriert. Die gemeinsame Gotteserkenntnis aus Seelenschau und ordo rerum zielte darauf ab, ein vorherrschend von Barmherzigkeit bestimmtes Gottesbild im Islam um ein positives Verständnis vom Leiden, insbesondere vom Leiden des Sohnes Christus, zu ergänzen. Die Natur diente Müntzer im interreligiösen Gespräch vor allem als Stütze der biblischen Weissagungen und des Auferstehungsglaubens. Insgesamt birgt Müntzers interreligiöse Hermeneutik vor allem unter Absehung der christologischen Werterahmung aktuelle Anregungen. Zum einen können wir aufmerksam werden für Formen der Frömmigkeit, Gottes- und Selbsterfahrung, die getragen sind von eigenen seelischen Erfahrungen sowie Erfahrungen mit allen Dingen um uns. Diese Zugänge zu religiös-weltanschaulichen Haltungen sollten uns befreien von einer toten praxis pietatis im Bann von heiligen und profanen Schriften. Methodisch heißt das, wegzukommen von papierenem Studieren auf der Basis von Texten und hin zu fleischernen Lernprozessen auf der Basis von Begegnungen. Das sind Müntzers Konsequenzen aus dem kulturellen und religiösen Pluralismus. Es handelt sich hier um Konsequenzen aus der Frageperspektive, wie der Christ den Türken begegnen solle. Zu ergänzen ist, was Müntzer aus der umgekehrten Perspektive vor Augen hat. An der wiederholt begegnenden christologischen Werterahmung von Müntzers Islamrezeption wurde bereits deutlich, daß der Theologe dem muslimen Glauben nur beschränkt eigenständige Berechtigung zusprach. Müntzer führte den Christen den muslimen Glauben allenfalls in polemischem Kontext im Vergleich zu solchen christlichen Haltungen vor, die zu kritisieren seien. So kritisierte Müntzer die Christologie der Wittenberger, die aufgrund einer falschen Paulusexegese in einseitiger Weise einen gnädigen Christus (den „honigsüßen Christus") predigen und den Christus, der Nachfolge und Leiden fordert (den „bitteren Christus"), verschweigen würden. Dieses Christusverständnis sei nicht besser als das der Türken: „Wäre [sc. der reformatorische Glaube] nicht anders wie ein altes Haus, das gekalkt wurde, und wir sagten, es wäre neu. So verhielten wir uns auch, wenn wir einen honigsüßen Christus wohlgefällig uns mit unserer mörderischen Natur predigten. Ja, daß sie nichts dürfte leiden und würde er [sc. Christus] alles umsonst geben. Was würden wir anrichten? Würden wir nicht mit dem Türken in ein Loch blasen?" 43 Die polemische Verwendung des Türken zielte darauf ab, den christlichen Gegner zu diffamieren und ihn zu bewegen, seine inkriminierten Auffassungen zu ändern. Diese Art Türkenkritik zielte also auf die innere Mission der Christenheit ab. Eine weitere Bedeutung kam den Türken für das Heil der Menschen im Urteil Müntzers dadurch zu, daß sie eine bestimmte Rolle im endzeitlichen Geschehen einnehmen würden. 40 41 42

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TOp.M, 43 zu CChr.SL 2, 936, 9: „Natura iuvat prophetias." TOp.M, 47 zu CChr.SL 2, 942,34: „Munivit [sc. Tertullianus] sensus scripturarum ex natura." TOp.M, 47 zu CChr.SL 2, 942, 15: „Sine scriptura etiam [„etiam" ist nachträglich übergeschrieben] perseverat Veritas christiana." MSB, 234, 21-26.

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Nach des Türken „wütender Brunst wird der rechte persönliche Antichrist regieren, das rechte Gegenteil Christi, der in kurzem wird das Reich dieser Welt geben seinen Auserwählten in Ewigkeit." 44 Müntzer skizzierte hier seine Vorstellung vom Verlauf des endzeitlichen Geschehens. Der Türke wütet jetzt in der Gegenwart. Danach wird kurze Zeit der Antichrist regieren, bevor Christus mit seinen Auserwählten tausend Jahre Gericht halten wird. Schließlich wird am Jüngsten Tag diese Welt für alle Ewigkeit Christus und seinen Auserwählten übergeben werden. Dieses apokalyptische Bild entsprach dem der Offenbarung des Johannes 45 . Mit seiner Randbemerkung zu einem Tertulliantext, in dem die Gerichtsthematik begegnet, hielt Müntzer seine chiliastische Position mit folgenden Worten fest: „Das Gericht Christi wird eine lange Zeit dauern. Viele Auserwählte werden einen Gottlosen verdammen." 46 Damit widersprach er Tertullian und auch Luther, die zwischen der Zeit des Antichristen und dem Jüngsten Tag kein tausendjähriges Reich erwarteten und beides direkt miteinander verbanden. „Er [sc. Tertullian] verknüpft die Ankunft des Antichristen mit dem Tag des [End-]gerichts so wie der Mönch Martin Luther; ich aber bin gegenteiliger Meinung." 47 Wie oben für Luther in einem Zusammenhang mit dem endzeitlichen Gericht dargestellt, kam auch bei Müntzer den Nichtchristen die pädagogische Rolle zu, „eine Rute des Volkes" zu sein.48 Während Luther mit der Türkengefahr die Ethik des Christen heben wollte, möchte Müntzer primär den Geistcharakter des Glaubens fördern. „Ich begehre nichts anderes von euch [sc. dem Volk], als daß ihr Fleiß aufwendet, um das lebendige Wort Gottes aus Gottes Mund selber zu studieren. Dadurch würdet ihr selber hören, greifen, wie die ganze Welt durch die tauben Pfaffen verführt i s t . . . Wer da eine solche Vermahnung verachten wird, der ist jetzt schon überantwortet in die Hände des Türken." 49 Müntzer richtete diese Androhung an die Adresse der Böhmen im November 1521, kurz nachdem die Türken Belgrad, die Hauptstadt des angrenzenden Ungarn, erobert hatten. Seine Worte zeugen von der Auffassung, daß der Türke nur aufgehalten werden könne, wenn die Christen ihren eigenen Glauben erneuerten und ihren toten Buchglauben durch einen selbst erfahrenen Geistglauben eintauschten. Andernfalls wird Gott die Böhmen „durch die Türken im kommenden Jahr [= 1522] erschlagen lassen". 50 Insgesamt stellt sich Müntzers innere Mission mit dem Türken breiter angelegt dar als bei Luther. Müntzer zielt hier nicht nur auf die ethische Erziehung des Christen ab, sondern mit der Skizze einer Leidensfeindlichkeit im Islam auch auf dogmatische Setzungen innerhalb der protestantischen Christologie bzw. mit dem Appell, vom Schrift- zum Geistglauben zu kommen, auf die Offenbahrungslehre und Hermeneutik. Uberblicken wir die Bedeutung der Türkenrezeption für die Erziehungs- und Bildungsvorstellungen Müntzers. Hauptsächlich aus der Frageperspektive, was Christen Türken zu bieten hätten, kam Müntzer für seine Zeit zu weitreichenden anthropologischen, institutionellen und hermeneutischen Reformideen. Der radikale Theologe begriff die Entste-

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MSB, 504, 35 - 505, 4. Apk 19 (Zeit des Antichrist); 20,1-4 (die tausendjährige Gerichtszeit); 20,11-15 (das Jüngste Gericht); 21 (der neue Äon). TOp.M, 64 zu CChr.SL 2, 976, 25-30: „Ad longum tempus durabit iudicium Christi. Multi electi damnabat impium vnum." TOp.M, 64 zu CChr.SL 2, 976, 25-30: „Adiungit aduentum Anticristi cum die iudicii sicut Monachus Martinus Luther; ego autem contrarior." MSB, 247, 30-32, hier nicht bezogen auf Türken, sondern den heidnischen König Nebukadnezar. MSB, 503, 6-16 par. 509, 16-20; 504, 24 - 505, 1; vgl. 507, 15-17. MSB, 494, 16-26.

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hung von Glaube als einen seelischen Vorgang, der sich bei Vertretern aller Religionen und Kulturen gleich gestalte. Grundlagen interreligiöser Bildungsprozesse seien daher die in allen Religionen gemeinsamen Zeugnisse wie Geisterfahrungen in Form von seelischen Entwicklungsprozessen, Träume als oraculae dei sowie die Ordnung der Dinge, insbesondere in der Natur und im Geschichtsverlauf. Keinesfalls hätten die heiligen Schriften der einzelnen Religionen, weder für die eigene Entwicklung noch im interreligiösen Dialog Glauben schaffende Wirkung. Als Buchreligionen stünden Islam und Christentum im Widerspruch. Müntzers neuer Beitrag bestand in seiner Zeit darin, eine Harmonie zwischen den beiden Weltreligionen als anthropologisch-kosmologischen Phänomenen gesehen zu haben. Aus der Frageperspektive, was die Türken den Christen zu bieten hätten, blieb Müntzer mit Varianten in ähnlich traditionellen Bahnen wie Luther, die in die pädagogische Anschauung von den Türken als Zuchtrute Gottes münden.

3. Sebastian Franck A b 1530 befaßte sich ca. sechs Jahre nach Müntzer anläßlich der Belagerung Wiens durch die Türken (1529) mit Sebastian Franck erneut ein Vertreter der radikalen Reformation mit dem christlich-islamischen Verhältnis. Franck legte in einem „Beschluß" (1530) 51 seine damalige Sicht vom Türken erstmals öffentlich dar. Dies geschah im Anhang zu einer von ihm besorgten modifizierten Ubersetzung des „Traktats über die Sitten, die Lebensverhältnisse und die Arglist der Türken" (zwischen 1475 und 1480) den ein damals nicht identifizierter Autor aus Siebenbürgen nach zwanzigjähriger Sklavenzeit in der Türkei verfaßte. 52 Spätestens seit 1993 ist er als ein auch sonst bekannter Georgius de Hungaria (1422/231503) genannter Siebenbürger identifiziert. 53 Der Text korrespondiert mit Francks Haltung einer bedingten interreligiösen Toleranz. Die Schrift war zur Reformationszeit in mehreren lateinischen 54 und deutschen Ausgaben sowie deren Abschriften verbreitet. Franck besorgte 1530/31 fünf deutsche Ausgaben. 5 5 Der Traktat wurde zur meistgelesenen und meinungsbildenden Quelle für das Türkenbild im christlichen Abendland jener Zeit. Gemäß Francks „Beschluß" zu dieser Schrift gibt es „Gotteskinder, die Gott wie überall so auch in der Türkei hat/die . . . [einen] Wandel im Glauben mit Ernst und Herz führen." Sie verwerfe Gott nicht. 56 Das widersprach dem exklusiven Heilsanspruch des christlichen Glaubens. Sogar von den Menschen des türkischen Landvolkes könne gesagt werden, „daß

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Sebastian Franck: Beschluß Sebastiani Franci - Wördensis / wider den Türcken . . . - [ . . . 2Zz . . . ] , in: Chronica vnnd be=schreibung der Türckey - [ . . . l l Z z . . . ] , Nürnberg: Friedrich Peypus 1530, [L3] v [03] v . ( N D = Köln-Wien 1983) - Klaus Kaczerowsky: Sebastian Franck. Bibliographie . . . , Wiesbaden 1976, Nr. A 31 = Tvrcica. Die europäischen Türckendrucke des XVI. Jahrhunderts, Bd. 1/ hg. v. Carl Göllner, Bukarest-Berlin 1961, Nr. 364. Carl Göllner: Einführung, in: Chronica und Beschreibung der Türckey . . . / Mit einer Einführung von dems., Köln-Wien 1983, XI - XVIII. (Lit.) - Hartmut Bobzin: Martin Luthers Beitrag zur Kenntnis und Kritik des Islam, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 27(1985)264f. Georgius de Hungaria: Tractatus de moribus, condictionibus et nequivia Turcorum . . . / Nach der Erstausgabe von 1481 hg., übersetzt und eingeleitet von Reinhard Klockow, Köln-Weimar-Wien 1993,1116.

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Tvrcica (wie Anm. 51) Nr. 35(1509). 48 (1511). 362f (1530); vgl. 63 (1514); vgl. Klockow 1983 (wie Anm. 53), 46-52; vgl. Klockow 1993 (wie Anm. 53), 46-52. Ebd., Nr. 364-369. 412; Kaczerowski 1976 (wie Anm. 51), Nr. A30-A34; vgl. Klockow 1993 (wie Anm. 53), 53-57. Franck 1530 (wie Anm. 51), Ο l r .

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sie nicht sauffen, spielen, Gott lästern, ihren Mohammed wie wir unseren Christus kreuzigen, martern, und täglich mit Füßen treten. Dort ist bei den Ungläubigen Zucht, Tapferkeit [und] aller ehrbarer Wandel." 5 7 Allerdings gelte Gottes Zuspruch an Heil nur wenigen Türken. In der Regel mangele es ihnen an dem „Glauben, ohne den alle Werke tot sind, Jacobus 2 [20] . . . Römer 14 [23]". 5 8 Primär disqualifizierte Franck diese Werke ohne Glaube im Licht von Luthers Rechtfertigungslehre und Andreas Bodensteins (1486-1541) Anschauungen vom Sabbat und von der Gelassenheit 5 9 als papistische Möncherei. Die meisten Türken böten Werke ohne Glaube. Umgekehrt pflegten die meisten der lutherischen Christen einen Glauben ohne Werke. Mit dem Jakobusbrief und gegen Luther ist für Franck auch dies für eine Rechtfertigung vor G o t t nutzlos. 6 0 Daher sei „der ehrbare W a n d e l . . . , den die Türken . . . führen, den Christen hoch von N ö t e n " . 6 1 Franck wünscht sich, Gott wollte, „daß wir der Türken Ordnung, Regiment, Zucht und Wandel viel in deutschen Landen hätten". 6 2 Um der Ethik des Islams willen sollte der Christ zum Türken „in die Schule gewiesen werden". 6 3 Insgesamt dient der Türke Franck wie schon Luther dazu, die sittliche Erziehung des Christen steigern zu wollen. Weil für Franck gegen Luther jedoch das Verhalten eine Dimension des Glaubens war, unterschied sich seine Türkenrezeption in zwei Aspekten von der Luthers. Erstens war die sittliche Erziehung für Franck Teil der religiösen Erziehung, während Luther beides trennte. Zweitens wertete die sittliche Integrität den Türken in den Augen Francks als homo religiosus auf, während Luther in ihr lediglich den verkleideten Teufel sah. Nach Drucklegung der zitierten verdeutschten Türkenchronik in der Erstausgabe von Nürnberg 1530 hatte sich Franck noch im selben Jahr dem Spiritualismus angenähert und zu Luther ein kritischeres Verhältnis als bisher gewonnen. 6 4 In der folgenden Augsburger Ausgabe seiner Übersetzung vom 26. Oktober 1530 ersetzte er Luthers Vorrede 65 durch eine eigene. 66 Darin beschrieb er, wie der christliche Glaube „in sechzehn oder siebzehn Sekten und Hauptglauben" und die Türken in vier Sekten zerteilt seien. Mit 1. Kor 1 1 , 7 - 1 3 sei das aber ein „seliger Unfriede". In dem „Guten" bzw. „Auserwählten" wecke dieser Zustand ein Nachfragen, einen Durst nach Wahrheit, treibe ihn aus der Schule der Menschen und führe ihn in die Schule Gottes. Franck reflektierte die multikonfessionellen Verhältnisse mit einem von Müntzer und ggf. Bodenstein übernommenen Schule-GottesTheorem. 6 7 Gott würde die Auserwählten aller christlichen und islamischen Denominationen in seiner Schule zur Einigkeit führen und zu Bewohnern seines Hauses, d. h. Mitgliedern einer interreligiösen Kirche machen. Der didaktisch-methodische Weg dorthin ist

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Ebd, Ο V. Ebd, [L IV] r . Franck 1530 (wie Anm. 51), M 3 r - [M4] r rezipierte Andreas Bodensteins Schrift über den Sabbat von 1524 - Erich Freys/Hermann Barge: Verzeichnis der gedruckten Schriften des Andreas Bodenstein von Karlstadt, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen 21 (1904) Nr. 115-118 oder inhaltlich vergleichbare Bodensteintexte, vor allem Bodensteins Gelassenheitstraktate von 1520 und 1523 - Freys/Barge 1904, Nr. 38. 104. Franck 1530 (wie Anm. 51), Ο l r . Ebd, Ο l r . Ebd, Ο 2'. Ebd, [L IV] r . Ο l v . Bernhard Capesius: Sebastian Francks Verdeutschung des „Tractatus de ritu et moribus Turcorum", in: Deutsche Forschung im Südosten 3(1944)125-128. Vgl. oben Anm. 10-12. Göllner 1983 (wie Anm. 52), X V I I I . Fauth 1990 (wie Anm. 15), 67, Anm. 98.

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durch den Hinweis angezeigt, daß der Glaube der Menschen eine „Vergewisserung in ihren Herzen", d. h. in der Seele bedürfe. 68 Franck hatte vor Oktober 1530 einen Veränderungsprozeß erlebt, nach dem er Turcica nicht mehr in den von Luther nahegelegten Kategorien Glaube und Werk reflektierte. Entsprechend traten ethische Fragestellungen aus dem Blickfeld. Wichtig wurde nun die Frage nach der einen Wahrheit jenseits der verschiedenen christlichen und islamischen Denominationen. Dieser neue Reflexionsrahmen begegnete auch noch in neun Jahre später entstandenen Francktexten, die Franck als „Apologia [= Verteidigung]" (1539) seines bisherigen Lebenswerkes bezeichnete. 69 Franck hatte sich inzwischen auch im Sinn seines Selbstanspruchs der „Unparteilichkeit" entwickelt. Er würde sich „durch Gottes Gnaden so unparteiisch gegen jedermann verhalten . . . , bei allen Sekten und Absonderungen . . . , daß er auch noch unter dem Papsttum, Türken, allen Sekten, Völkern und Nationen [seine] Brüder und Glieder des Leibes Christi . . . achtet. . . . Einer kommt früh in den Weingarten, der andere spät [Mt 20,1-16] . . . Mit dem ich jetzt nicht eines Sinnes bin, zu dem mag ich über eine Zeit kommen, oder er zu mir . . . Zeugnisse [sc. der Bibel] sammt der Erfahrung haben (ihn) gelehrt, jedermann zu tragen, sofern er (ihn) auch d u l d e t . . . " 70 Franck bereute nun, daß er früher oftmals ohne Kenntnis eines „autenticum authorem" von Ereignissen seiner Gegenwart wie dem „Türkenkrieg" parteiisch geschrieben hätte. 71 Allerdings blieb seine Irenik christozentriert. Interkonfessionellen Unterricht konnte sich Franck wie schon im Oktober 1530 lediglich als eine Pädagogik Gottes und nicht institutionell konkretisiert vorstellen. Gott würde in seiner Schule alle Bekenntnisse zusammenführen. Ein Analogon dieser Schule war für Franck eine universale Kirche mit Mitgliedern aus Orient und Okzident, wiederum als Geistkirche institutionell nicht konkretisiert gedacht. „ C h r i s t u s . . . ein gemeiner [= allgemeiner] Heiland ist der ganzen Welt. Und seine Kirche (ist) . . . allein im Geist und Glauben versammelt... [und liegt] wie ein zerstreuter Pferch oder eine Herde Schafe unter den Wölfen . . . Und Gott [wird] Kinder Abrahams von Orient und O k z i d e n t . . . rufen . . . Mir ist ein Papist, Lutheraner, Zwinglianer, Täufer, ja ein Türke ein guter Bruder, der mich zu gut hat und neben ihm leiden kann. Auch wenn wir nicht gleich gesinnt [sind], [sind wir] durchaus gleich, bis uns Gott einmal in seiner Schule zusammen hilft und eines Sinnes macht." 72 Franck stellte hier einer damals herrschenden religiösen Erziehung, die auf einem bestimmten Bekenntnis aufruhte, eine Gegenkultur zur Seite. Nach Franck ist die Wahrheitsfrage im religiösen Bildungsprozeß nicht a priori in dem Sinn geklärt, daß es lediglich um die mehr oder weniger selbständige Aneignung durch die Schülerschaft gehe. Vielmehr 68

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Sebastian Franck: Vorrede, in: Cronica/Abconterfayung vnd entwerffung der Türckey [ . . . 9 Zz . . . ] [Holzschnitt] [ . . . 1 Zz ...], Augsburg: Haynrich Stainer, 1530, Oktober 26, Al v -A2 r . (Bayerische Staatsbibliothek München: Res 4°. Türe 95/9; Kaczerowski 1976 (wie Anm. 51), N r . A 32 - Tvrcica 1961 (wie Anm. 51), Nr. 365). Sebastian Franck: Beschlus . . . aller seyner vorigenn buecher gleichsam Apologia, in: Ders.: Das verbütschiert??mit siben Siegeln verschlossen Buch/ [ . . . 6 Zz . . . ] . . . allen schü=??leren Christi zur Christlichen vbung/ [ . . . 3 Zz . . . ] [Titelholzschnitt] [ . . . 4 Zz . . . ]??[Augsburg: Heinrich Stainer,] 1539, 427 r -430 r . (Universitätsbibliothek Würzburg: Th. misc. f. 39; Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, Abteilung 1, Bd. Iff, Stuttgart 1983ff ( - V D 16), N r . F 2136). Ebd, 427 r . Ebd, 429 v -430 r . Ebd, 427".

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wird in einem von Gott betreuten Einigungsvorgang die Klärung der Wahrheitsfrage eingeschränkt in den Bildungsprozeß selbst verlagert. Eingeschränkt ist diese religionsdidaktische Gegenkultur dadurch, da Franck an dem Topos, Christus sei der Heiland - wenn auch der „allgemeine Heiland" - festhält.

4. Ein Kreis nonkonformer Tübinger Personen um 1620 Im folgenden Abschnitt 73 geht es um eine Nachwirkung der Erziehungs- und Bildungsvorstellungen, die die genannten radikalen Reformer des frühen 16. Jh. aus ihrer Sicht des Islams gewonnen hatten. Exemplarisch wird ausschnittsweise die islamische Irenik in einem Kreis annähernd 100 nonkonformer Tübinger Personen um 1620 beleuchtet. 74 Ich beschränke mich mit dem damaligen Utopisten Johann Valentin Andreae (1586-1654) sowie dem Tübinger Juraprofessor Christoph Besold (1577-1638) auf zwei Zentralfiguren des Kreises. Mitten in der lutherischen Hochorthodoxie wurde für diese Personen unter anderem Tauler wichtig. Dessen Hochschätzung des Glaubens als seelische Prozesse weckte bei den Tübingern wie bereits bei Müntzer ein interreligiöses Interesse. Müntzers oben skizzierte religiöse Hermeneutik konnte über die Schrift „Von den Werken Gottes" (1527)75 des Martin Borrhaus (Cellarius) (1499-1564) 76 auf Andreae gekommen sein. Andreae stellte Cellarius, den bedeutenden Arabisten des 16. Jahrhunderts Guillaume Postel (1510-1581) 77 und Sebastian Franck in eine Häretikerreihe. 78 In dem Kreis wurden auch mehrere Francktexte gelesen, unter anderem das von mir zuletzt zitierte Werk von 1539. Es wurde von den orthodoxen Theologen der Universität Tübingen 1622 im Tübinger Buchladen der Nonkonformisten des Eberhard Wild (1588-um 1635) beschlagnahmt. 79 Soviel zu den radikalreformatorischen Rezeptionen, die eine islamische Irenik im Tübinger Kreis mit bestimmen konnten. Wild als eine Zentralfigur des Kreises und andere Mitglieder waren mit dem Islam nicht lediglich auf literarischer Ebene befaßt. Der Buchhändler und Drucker hatte verwandtschaftliche und persönliche Kontakte 80 sowie Handelsbeziehun-

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Dieser Abschnitt entstand im Rahmen meiner freien wissenschaftlichen Mitarbeit im Forschungsprojekt „Heterodoxie und Bildung zwischen Reformation und Pietismus" an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Ich danke dem Projektleiter Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer für die Betreuung. Ulrich Bubenheimer: Wilhelm Schickard im Kontext einer religiösen Subkultur, in: Zum 400. Geburtstag von Wilhelm Schickard. Zweites Tübinger Schickard-Symposium 25. bis 27. Juni 1992/hg. v. Friedrich Seck, Sigmaringen 1995, 79-86. Martin Cellarius: DE OPERI-?? BVS D E I , . . . [ . . . 5 Zz . . . ], Straßburg: Johann Herwagen d.Ä.]. 1527, bes. 2 r -[6] r : Vorrede von Wolfgang Capito (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: 614.2 Th. (3); vgl. VD 16 (wie Anm. 69, Β 6745). Irena Backus: Martin Borrhaus (Cellarius), Baden-Baden 1981. - Dieter Fauth: Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht, Ostfildern 1990 - Köln-Weimar-Wien 1993, 34. 167, Anm. 153. Tvrcica 1961 (wie Anm. 51), N r . 809. 927. 1004-1006. 1652. - VD 16 (wie Anm. 69), Ρ 4475. 448lf. (Arabistica) - Guillaume Postel 1581-1981. Actes du Colloque International d'Avranches 5-9 septembre 1981/ hg. v. Jean-Claude Margolin, Paris 1985. - Hartmut Bobzin: Martin Luthers Beitrag zur Kenntnis und Kritik des Islam, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 27(1985)273, Anm. 61. Johann Valentin Andreae: Mythologiae Christianae sive virtutum et vitiorum vitae humanae imaginum. Libri tres, Straßburg: Lazarus Zetzners Erben (V), 1619,137f (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: Theol. oct. 405a). Verzeichnus//Derjenigen Bucher, Welche//dinstags den 12. Martii, Anno 1622 bei Eberhard W i l d e n / / Buchhändlern erhebt worden., Bl. l r (Universitätsarchiv Tübingen: 8/1, 39, Stück 2). Dieter Fauth: Dissidentismus und Familiengeschichte. Eine sozial- und bildungsgeschichtliche Studie

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gen zum heute ungarischen Ödenburg nahe der österreichischen Grenze. Diese Stadt war damals im Ungarisch-Habsburgischen Krieg zeitweise auf der Seite Ungarns und dann verbündet mit den Türken gegen Habsburg. Zeitweise mußte die Stadt auf der Habsburger Seite auch gegen die Türken kämpfen. 8 1 Hier reichte ein persönlicher Erfahrungsraum mit den Türken bis nach Tübingen. Im folgenden werden in Auswahl die Erziehungs- und Bildungsvorstellungen skizziert, die im Tübinger Kreis mit dem Islam verbunden wurden und unter anderem über die skizzierten Rezeptionslinien vermittelt waren. Zuerst wird ein Titelkupferstich der damals Johannes Tauler zugeschriebenen Schrift „Nachfolge des armen Lebens Christi" 8 2 gedeutet, die auf Veranlassung Besolds gedruckt 8 3 und im Tübinger Kreis gelesen sowie hoch geschätzt wurde (s. Abb.). Der Titelkupferstich zeigt die Antinomie zweier Wege der Frömmigkeit. Links wird das Kreuztragen in der Nachfolge Christi als der Weg vorgestellt, auf dem die Seele in den Himmel findet. Rechts finden sich Buchleser, die durch die Lektüre des Bibeltextes dem Tod entgegen gehen. Zwischen diesen Polen spielt sich das Leben der Menschen gelenkt von den Gestirnen in sieben Bereichen ab. In Emanzipation von der herrschenden christlichen Tradition ist der Bereich der Religion durch eine Moschee mit Halbmond repräsentiert, die wie der Tempel in Andreaes „Christianopolis" (1619) rund ist. 84 Das ganze Weltgetriebe wurde in einer Perspektive gesehen, in der der Islam die herrschende Religion ist. Für diese Realität konnte die Lektüre des Pseudotaulertextes sensibilisieren, der auf die universal beobachtbaren Seelenbewegungen als Grundlage des Glaubens aufmerksam machte. Besold fand in seiner vor allem auf Postel fußenden „Betrachtung des Gesetzes und der Sekte der Sarazenen" (1619) 8 5 die im Titelkupferstich dargestellten zwei Wege in den Suren 9 und 100 des Koran. „Aber da [sc. in Sure 9 (?)] fährt Mohammed fort und sagt: ,Wenn das Gesetz der Sicherheit oder jener Furcht kommt, führt sie es wenig weiter; aber [sie kommen weiter] wenn die Menschen und die Weisen dem Gesandten (Christus) folgen und ihre Herzen öffnen würden.'" In der Klammerbemerkung zur Koranübersetzung deutete Besold den Gesandten auf Christus hin. Entsprechend kommentierte er: „Die Salbung nämlich lehrt diejenigen alles, die unseren Erlöser nachahmen." 8 6 Die Nachfolgenden Christi, die Kreuzträger also, würden vom Geist belehrt, während der Weg des Gesetzes nicht weiter führt. Ahnliches entdeckte Besold in Sure 100, [?]: „Einen doppelten Weg habe ich den Menschen eröffnet, nämlich den rechten und den falschen." Wieder kommentierte Besold christologisch: „Den einen [Weg], nämlich des Evangeliums, durch den Glauben, den anderen zur Verdammnis, durch die Lüste." 8 7 Dieser zweite Weg der

zum kryptoheterodoxen Tübinger Buchhändler und Drucker Eberhard Wild ( 1 5 8 8 - u m 1635), in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 1 2 ( 1 9 9 4 ) 1 6 5 - 1 7 7 . 8 ' T h e o d o r Ö m i c h , Pfarrer zu Mörbisch am Neusiedler See an seinen Schwager Eberhard Wild in Tübingen, Ödenburg 162, Juli 6, Bl. 2 r (Universitätsarchiv Tübingen: 8 / 1 , 39, Stück 15). Bethlen Gabor (Gabriel Bethlen von Iktar, 1 5 8 0 - 1 6 2 9 ) , seit 1613 Fürst von Siebenbürgen, wurde auch nach dem Frieden von Nikolsburg (1621) in seiner gegen Habsburg gerichteten Politik von den Türken unterstützt (freundlicher Hinweis von Ulrich Bubenheimer, Heidelberg). 82

Johan Taulers Nachfolg des Armen Lebens Christi, Tübingen: Eberhard Wild, 1621. (Universitätsbibliothek Wien: I 178.570); Abb. in Bubenheimer 1995 (wie A n m . 74), 88.

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Bubenheimer 1995 (wie Anm. 74), 89, Anm. 138.

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Johann Valentin Andreae: Reipublicae Christianopolitanae Descripto . . . , Straßburg 1619, N r . 82: Der Tempel + Abb. Christoph Besold: Consideratio legis et sectae Saracenorum, Tübingen: Johann Alexander Cellius, 1619 (Universitätsbibliothek Tübingen: F p 43.4).

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Ebd, 9.

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Lüste entspricht insofern dem Gesetzesweg des Kupferstichs, da nach Paulus das Gesetz die Lust an der Gesetzesübertretung weckt (Rom 4,15). Die Zitate zeigen, wie Besold aus dem Koran die imitatio Christi, das Kreuztragen, als interreligiöse Zielperspektive der Lebensgestaltung ableitete. Das skizzierte Zwei-Wege-Konzept von Geist und Schrift bestimmte nach Besold nicht nur die Lebensgestaltung interreligiös, sondern mit Postel auch gleichermaßen die koranische und biblische Hermeneutik: „Soweit aber vieles [im Koran] dem Buchstaben nach absurd zu sein oder auch mit der anerkannten Wahrheit in Widerspruch zu stehen scheint, so besteht kein Zweifel, daß diese Dinge mit derselben Bescheidenheit auf den Geist zu ziehen sind, mit der wir auch unsere Dinge [= in der Bibel] miteinander versöhnen. Denn der Buchstabe tötet überall, außer im Bereich der einfachen Historie." 88 Besold rezipierte nicht nur die islamische Religion, sondern auch die islamische Philosophie in einer auch pädagogisch bedeutsamen Weise. Er fügte in seine Schrift 80 arabische Weisheitssätze ein, von denen viele um ein bestimmtes pädagogisches Programm kreisen. Danach gelte es, die Gelehrsamkeit mit einer von Askese und Barmherzigkeit geprägten Sittsamkeit zu verbinden. 89 Diese Verschränkung von Bildung und Sittlichkeit erinnert an humanistische Bildungsideale. Eine auf die Regierung des Staates bezogene arabische Sentenz, die Güte statt Strenge gut heißt, mündet derart allgemein aus, daß ihr Inhalt auch für andere Gebiete wie etwa die Pädagogik übertragbar wird. „Es ist besser, ein Reich mit Wohltaten zu halten als mit Gewalt und Furcht. Was nämlich nützt der Besitz von Körpern, denn der Besitz ist erst der wahre, mit dem einer Herzen und Seelen besitzt." 90 Mit repressionsfreien (Erziehungs-)methoden sollen Persönlichkeiten gebildet werden, die „die Toleranz als das Beste im Menschen" achten. 91 So entdeckte Besold in der islamischen Philosophie eine auf Askese und Freiwilligkeit zugleich abzielende Pädagogik. Zusammenfassend formuliert standen führende Leute im Tübinger Kreis in ihrer Islamrezeption auch in der Tradition des reformatorischen Dissidentismus. In der um 1620 in Tübingen begegnenden islamischen Irenik wurde eine in Islam und Christentum gleichermaßen gültige Leidenspädagogik postuliert. Danach sollten Kreuz und Geist freiwillig gesucht sowie Schriften und Gesetzlichkeit gemieden werden. Die Islamrezeption war hinsichtlich der Religion christologisch und hinsichtlich der Philosophie von humanistischen Bildungsidealen vorbestimmt. Bildungsgeschichtlich kann die skizzierte Irenik als ein Vorspiel der 50 Jahre später zur Geltung gekommenen Aufklärung gewertet werden, mit der sich Irenik nach und nach bis heute mehr oder weniger gesellschaftlich etablierte.

Schluß Aus der Geschichte der islamischen Irenik in der frühen Neuzeit wurden lediglich Ausschnitte der radikalen Reformation und ihrer Nachwirkung beleuchtet. Möglicherweise kamen andere Personen jener Zeit mit einer von irgend einem konfessionellen Standpunkt gelösten Betrachtungsweise zu einer weitreichenderen Irenik. Aus dem Gebiet der Jurisprudenz und Politik wäre Jean Bodin (1536-1596) zu nennen, der ein iuris universi suchte und dem Islam gegenüber noch unvoreingenommener als Postel war. Im Humanismus 88 89 90 91

Ebd, Ebd, Ebd, Ebd,

11 f. 23-28. 26, Nr. 58. 25 f, Nr. 48.

Bedeutung des Islam für Erziehungs- und Bildungsvorstellungen

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strebte Pico della Mirandola (1463-1494) eine weltweite Harmonie aller Philosophien und Religionen (pax philosophica) an. Aus der Astrologie wäre möglicherweise Joseph Grünpeck (1473 (?)-nach 1530) zu hören. 92 Unter den Utopisten war später der im Tübinger Kreis gelesene Tommaso Campanella (1568-1639) von der Idee eines universellen Konzils aller Religionen beseelt. 93 Die radikalen Reformatoren hielten in ihren Beschäftigungen mit dem türkischen Islam an Jesus dem Christus als universell gültigem Glaubensfundament fest. Insofern blieben auch ihre für die religiöse Bildung des Menschen bedeutsamen Religionenvergleiche christozentriert. Luther unterschied aufgrund seiner Islaminterpretation die ethische von der religiösen Erziehung und wollte die Christen zu einer sittlichen Besserung bewegen. Auch Müntzer und der frühe Franck leiteten aus ihrem Türkenbild mit teilweise anderen Akzenten eine Christianisierung des Christen ab. Innerhalb ihrer Werterahmung kamen die Radikalen jedoch zu auch pädagogisch bedeutsamen Einsichten, die für Angehörige aller Religionen gleichermaßen gelten sollten. Bei Müntzer gipfelte dieser Religionenvergleich in einem Plädoyer für eine anthropologisch-kosmologische sowie institutionelle Harmonie aller Religionen. Interreligiöse Bildungsprozesse beruhten bei ihm auf Introspektion und Naturbeobachtungen. Bei Franck mündete der interreligiöse Ansatz in die Idee der religiösen Unparteilichkeit. Dies führte ihn zu einem religionsdidaktischen Modell, in dem die Wahrheitsfrage nicht mehr Fundament, sondern Teil des pädagogischen Prozesses ist. Die radikalen Reformer gaben der islamischen Irenik im protestantischen Nonkonformismus des frühen 17. Jh. Impulse. Hier wurde die islamische Religion mit einer christlich gefärbten Leidenspädagogik harmonisiert. Die durch Besold vermittelte asketische Pädagogik der Toleranz in der islamischen Philosophie erinnerte an humanistische Erziehungsideale. Zum Schluß der Studie wird die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung von ausgewählten Erziehungs- und Bildungsvorstellungen gestellt, die in der Reformation in Auseinandersetzung mit dem Islam entfaltet wurden. Ich beschränke mich dabei auf das in seiner Grundsätzlichkeit in der gegenwärtigen religionspädagogischen Diskussion meines Erachtens weitreichendste Thema Müntzers und Francks. Es geht um den religionspädagogischen Umgang mit der Pluralität in Glaubensfragen. Pluralität äußerte sich bei Müntzer und Franck erstens in der Idee, eine Lerngemeinschaft mit Vertretern aus allen Religionen und Kulturen zu bilden und vor allem bei Franck zweitens in dem Bestreben, diese interreligiöse Begegnung im Sinn der Unparteilichkeit auf möglichst wenigen a priori festgesetzten Wertungen aufruhen zu lassen, sondern die Zusammenführung Gott als dem Lehrer anheim zu stellen, das heißt bildungstheoretisch, diese Zusammenführung als Aufgabe in den interreligiösen Bildungsprozeß mit aufzunehmen. Im Bereich kirchlicher Institutionalisierungen klingt Müntzers und Francks interreligiöser Ansatz einer Kirche mit Vertretern verschiedener Religionen und Kulturen heute noch fiktional und futuristisch. Nicht ganz so sieht es im schulischen Bereich aus. In der religiösen Bildungslandschaft Deutschlands sind mit einer Ausnahme religionsdidaktische Konzepte politisch favorisiert, die jeweils auf einem bestimmten Bekenntnis aufruhen. Die einzige Ausnahme bietet das Land Brandenburg. Religiöse Bildung ist hier als Dimension

92 93

Tvrcica 1961 (wie Anm. 51), Nr. 146-148. 184 sowie VD 16 (wie Anm. 69), G 3627-29. 41-45. Michael Sievernich SJ: The idea of interreligious dialogue in Tommaso Campanella, in: Studies in Interreligious Dialogue 3(1993)138-149.

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in einen Lernbereich Lebensgestaltung-Ethik-Religion(en) integriert. Ein mehrheitliches Klientel, dem eine unparteiische Suchhaltung in religiösen Fragen zugesprochen wird, soll sich untereinander und mit Mitschülern aus unterschiedlichen Kulturen, Konfessionen und Religionen verständigen. Das Konzept soll auf möglichst wenigen Wertesetzungen aufruhen. Religiöse Wertesetzungen sind ganz vermieden. Im ethischen Bereich ist der Selbstanspruch der Werteneutralität allerdings nicht durchgehalten, da es allgemeine Berufungen auf die UN-Menschenrechtskonventionen, insbesondere die Charta der Rechte für Kinder und die Verfassung des Landes Brandenburg gibt. Wie bei Franck die Unparteilichkeit auf Darstellungen von „authenticum authorem" angewiesen ist, sollen in Brandenburg in die plurale Hauptkultur religiöser Bildung „authentische Vertreter" verschiedenster Bekenntnisse einbezogen sein. Die Islamrezeption führte bei Müntzer und bei Franck außer zu einer gewissen Pluralisierung der Bildungskonzepte auch zu einer Wendung hin zu lebenspraktischen Interessen. Einen lebenspraktischen Hauptakzent bekam Müntzers quasi Religionsdidaktik durch sein Interesse am Glauben als Phänomen seelischer Prozesse. Der frühe Franck nahm den muslimen Glauben zum Anlaß, das Handeln als Dimension der Religion stark zu gewichten. Auch Luther erkannte durchaus richtig den pragmatischen Charakter des Islams, in dem die Theologie im Vergleich zur Ethik eine beiläufige Rolle spielt. Primär ist bis heute im Islam, dem Koran und auch den islamischen Katechismen für Kinder Handlungsweisungen zu entnehmen, die für die gesamte Lebensgestaltung und alle Dimensionen der Kultur wichtig werden. 94 Den durch den Islam in der Reformation beförderten Interessen an lebenspraktischen Ausrichtungen der religiösen Erziehung korrespondiert die gegenwärtige Renaissance, religiöse Bildung primär als Lebenshilfe zu verstehen. In Brandenburg wird jedenfalls bis Mitte 1996 als globales Ziel des genannten Lernbereichs genannt, „gemeinsam leben [zu] lernen". 95 „Lebensgestaltung" ist die Leitperspektive des Lernens. Folgerichtig werden nicht Theologie mit ihren Bekenntnistexten und auch nicht Religionswissenschaften, sondern Human- und Kulturwissenschaften als primäre Bezüge des Lernbereichs begriffen. Dies ist Müntzers Anliegen vergleichbar, der statt den Theologien und deren Bekenntnistexten Glaube anthropologisch-psychologisch und realienkundlich reflektierte. Luther wollte die interreligiösen Hintergründe seiner Zeit nutzen, um die Identität der Christen zu steigern. Mit diesem Bestreben trat er in Spannung zu Müntzer und Franck, die eher ein Verhältnis zu Muslimen suchten, das eingeschränkt auf Verständigung ausgerichtet war und sich institutionell ungebunden fühlten. Ein vergleichbares Spannungsverhältnis herrscht heute zwischen den lutherischen Kirchen und dem Land Brandenburg. 96 Gemäß den Kirchen müsse am Anfang des interreligiösen Lernens das Finden einer evangelischen Identität stehen. Dem Land ist das Streben nach Verständigung jenseits aller kirchlich-institutionellen Grenzen wichtig. So stelle ich schlußendlich die Frage, ob mein Kapitel Dissidentengeschichte, das ich hier zu entfalten versuchte, heute noch fortgeschrieben wird.

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Hans Zirker: Interkulturelles Lernen - im Verhältnis zum Islam, in: Religionspädagogische Beiträge 28(1991)31 f. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg: Gemeinsam leben lernen . . . , Potsdam 1991, Oktober 15, in: Religion - warum und wozu in der Schule?/hg. v. Jürgen Lott, Weinheim 1992, 507-511. Dieses Verhältnis ist ohne historische Reflexion beschrieben in Dieter Fauth: Die EKD-Denkschrift Identität und Verständigung im Licht von religiösen Bildungsbestrebungen im Land Brandenburg, in: Praktische Theologie 30(1995) 239-246.

Bedeutung des Islam für Erziehungs- und Bildungsvorstellungen

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Abstract At first it is shown, how the reception of the Islam by Martin Luther (1483-1546) and before all by Thomas Müntzer (vor 1491-1525) and Sebastian Franck (1499-1542) influenced the ideas of education of these persons. Then it is shown the later effects of these ideas on Johann Valentin Andreae (1586-1654) and Christoph Besold (1577-1638), the spiritual leaders of the Tübinger nonconformists about 1620. Finally these radical traditions are related to the actual religious education politics in the country of Brandenburg. Luther interpreted the morality of the Turks as disguise of the devil (specie pietatis) and disunited ethics and religion. The Turks only are importand as God's rod of correction („Zuchtrute Gottes") in the apocalyptic end lying ahead. Müntzer saw a common base of belief with the elects of all religious. This base can be found by interreligious communications about spiritual experiences and the divine order of all things (ordo rerum), for example in the nature and the course of history. Franck, discussing the islam, got to the idea, that from the point of view of impartiallity all religious could serve to find to an common religious truth. The religious nonconformism about 1620 regarded the islamic religion in harmony with the ascetic pedagogy of suffering as well the islamic philosophy with the ideals of humanistic education. In correspondence with radical traditions today in the country of Brandenburg a special culture of religious education is developed that isn't based on any confession.

BURCHARD BRENTJES, BERLIN

Islamische Architektur an der Wolga und auf der Krim

Die islamische Architektur repräsentiert sich von Marokko bis auf die Philippinen durch Moscheen, Medresen, Mausoleen und zivile Bauten und wird seit dem 19. Jh. in zahlreichen Werken gewürdigt. Die Bauwerke in Europa, mit Ausnahme derer in Edirne, werden indessen nur selten berücksichtigt. Für den Balkan hat sich die türkische Forschung dieser Aufgabe angenommen, und für die islamische Architektur auf der Krim liegt eine Untersuchung der wichtigsten Bauten aus der Feder Oktay Aslanapas vor. Dieses Interesse an den einst unter osmanischer Herrschaft stehenden Regionen hat ein Tabu durchbrochen, das in der Forschung der „christlichen" Staaten noch immer nachwirkt. Voll wirksam ist die Meidung noch immer für den Nordkaukasus und das Wolgagebiet, in dem bisher nur Velikij Bulgar, die einstige Hauptstadt der Wolgabulgaren, systematischer untersucht worden ist. Außerdem gibt es eine Reihe von Einzelarbeiten. Die Ruinenfelder der großen Städte der „Goldenen Horde" werden zwar in den Arbeiten der russischen Fachleute wie G . A. Fedorov-Davydov mit längeren Zitaten aus der arabischen Reiseliteratur, besonders aus Ibn Battutas Bericht über Sarai, gefeiert, doch fehlt eine ernstzunehmende Erfassung dieser viele Quadratkilometer deckenden Ruinen, obwohl sie und andere Stadtgebiete nicht überbaut sind und nicht weit ab von bewohnten Regionen, sondern an der Wolga liegen. Grabungen an verschiedenen Stellen haben Wohnbauten verschiedener sozialer Schichten gebracht, aber kaum künstlerisch wertvolle Großbauten. Die Arbeiten Α. V. Teres cenkos von 1843 bis 1851 waren offenbar eher zerstörend als aufschlußreich. Einen Uberblick über die Grabungsergebnisse lieferte Fedorov-Davydov in mehreren Publikationen Ebensowenig gibt es substantielle Untersuchungen über die Baukunst der Chanate von Kasan und Astrachan oder die der Nogaj-Tataren. Offenbar haben die in die Zeit der „Goldenen Horde" zurückgehenden Gefühle in Rußland entsprechende Forschungen behindert, und für viele noch vor hundert Jahren vorhandene Anlagen dürfte es dafür auch zu spät sein. Die folgenden Bemerkungen sollen nur eine Anregung sein, die neuen politischen Verhältnisse zur Aufnahme archäologischer Forschungen nach Spuren der islamischen Perioden an der Wolga, im Nordkaukasus und auf der Krim zu nützen, nicht als Ersatz für fehlende Arbeiten. Zum gegenwärtigen traurigen Bild haben regierungsamtlich verordnete Zerstörungen, Jahrhunderte rücksichtsloser Raubgräberei und der Abriß alter Ruinen, um billiges Baumaterial zu erhalten, beigetragen.

1. Historische Voraussetzungen Um die Rolle und Verteilung islamischer Bauten im Wolgagebiet und auf der Krim zu verstehen, bedarf es eines Uberblicks über die Geschichte der Islamisierung dieser Region und ihrer Unterwerfung durch Rußland, dessen Religionspolitik viel zum Zustand der Ruinen beigetragen hat - und das nicht erst im 20. J h . Die von der unteren Wolga aus das Land zwischen Ural und Don, dem Waldland im Norden und dem Kaukasus beherrschenden türkischen Chasaren konnten sich trotz mehr-

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Burchard Brentjes

facher schwerer Niederlagen der zwangsweisen Islamisierung durch die Araber entziehen. Sie verfolgten eine tolerante Religionspolitik. Zumindest einer ihrer Könige war zum Judentum übergetreten. Von Mittelasien, das 650 islamisiert worden war, drang der Islam mit den Fernhändlern an die Wolga vor, so daß neben Buddhisten, Juden und Anhängern zentralasiatischer Religionen auch islamische Gemeinden entstanden. N o r d w ä r t s der Chasaren siedelten die gleichfalls türkischen Wolgabulgaren, die in der Abwehr chasarischen Drucks und durch die Predigten arabischer Händler bewegt, in den Kalifen von Bagdad machtvolle Verbündete zu gewinnen hofften, indem sie als erstes Volk Europas zum Islam übertraten. Die Chasaren gerieten unter den Doppelangriff der Russen und neuer nach Westen ziehender Turkvölker, Vorboten der 1238/1239 anstürmenden Mongolen, die Osteuropa innerhalb von zwei Jahren unterwarfen. Sie organisierten sich schließlich als „Goldene H o r d e " um das an der Wolga gelegenen Sarai, in dem die Mehrheit der kiptschaksprechenden Türken die mongolische Oberschicht assimilierten.Chan Sartaq (1255-1257), ein nestorianischer Christ, war Batu, dem Enkel Dschingis-Chans, dem G r ü n d e r der „Goldenen Horde", auf dem T h r o n gefolgt, doch bereits sein Nachfolger Berke trat zum Islam über, da er in den islamischen Staaten des Vorderen Orients Rückhalt gegen die den alten Religionen anhängenden N o m a d e n Asiens suchte. Die „ H o r d e " wurde islamisiert, blieb aber nach den Prinzipien dieser Religion tolerant gegenüber Andersgläubigen, solange die Steuern pünktlich eingingen. Mit dem christlichen Byzanz verband sie die gemeinsame Feindschaft gegen die Il-Chane des Iran und der blühende Transithandel vorwiegend mit Sklaven nach Ägypten. Sarai und bald auch andere Städte von der Krim bis nach Choresmien wurden zu glanzvollen Großstädten des Islam. Schwer gelitten hatte bei dem mongolischen Siegeszug indes Wolgabulgarien, dessen wichtigste Siedlungen zerstört worden waren. Die „Goldene H o r d e " war durch gemeinsame Handelsinteressen eng verbunden mit Genua, das auf der Krim Handelskolonien unterhielt, sowie mit den Hohenstaufen in Sizilien und Aragon, deren Spuren in den Ruinen besonders auf der Krim zu finden sind. Zu Ende des 14. Jh. brach das Macht- und Handelszentrum des Ostens zusammen. Der H e r r Mittelasiens T i m u r fiel wiederholt ins Wolgagebiet ein, vernichtete die eroberten Städte und zerstörte die genuesischen Siedlungen an der nördlichen Schwarzmeerküste. Die „Goldene H o r d e " zerfiel. Die Krimtataren bildeten 1441 (?) ein eigenes Chanat und ebenso die Kasan-Tataren 1445. Das an der O k a bestehende Mescera wurde 1452 ein russischer Vasall, und um Astrachan entstand ein Nachfolgestaat der „Goldenen Horde". In den zwischen den Chanaten ausbrechenden Kämpfen zerstörten die Krimtataren das mühsam wiederaufgebaute Sarai. Das Kasan-Chanat wechselte mehrfach die Fronten. Zeitweise ging es mit den Krimtataren, dann wieder mit den Russen, die 1487 Kasan zum ersten Mal erstürmten. 1521 eroberten es die Krimtataren und setzten einen Girei-Chan als Herrscher ein. Er erneuerte den Krieg gegen Moskau und wurde abgeschlagen. Kasan unterstellte sich 1524 den O s m a n e n , doch fiel es 1552 endgültig an Rußland, das die Bewohner durch Zwangstaufen chistianisieren ließ. Im Jahre 1593 erließ Fedor Ivanovic einen Ukas, der die Zerstörung aller Moscheen im Kasaner Land anordnete, ein Befehl, dem mehr als 500 Moscheen zum O p f e r fielen. Astrachan war 1557 an die Russen gefallen. Die Krimtataren hatten sich 1475 dem Osmanenreich angeschlossen. Sie blieben bis in das 18. Jh. die Schutzherren der nordkaukasischen Tataren. Als sie sich den Russen beugen mußten, hatte sich in St. Petersburg eine tolerantere Rsligionspolitik durchgesetzt. Im Jahr 1742 erlaubte Elisabeth Petrovna erstmals den N e u b a u einer Moschee im Kasaner Land, und Katharina II. schuf im Rahmen des

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Russischen Reiches ein islamisches Religionssystem und eines für die Buddhisten im neueroberten Sibirien, das auch die Errichtung von Bauten nichtchristlicher Religionen vorsah.

2. Quellenlage und Baukunst Die geschilderten historischen Vorgänge erklären die sehr unterschiedliche Quellenlage zur Geschichte der islamischen Architektur und die unterschiedliche Ausprägung der Baukunst in den hier behandelten Regionen. Die ältesten erhaltenen islamischen Bauwerke stehen auf der Krim. Sie waren der christlichen Bekehrung entgangen. Auf dieser Halbinsel läßt sich auch der Einfluß der osmanischen Baukunst für die Zeit nach 1500 deutlich belegen, während in der vorhergehenden Zeit italienische Bauformen übernommen worden sind. An der oberen Wolga sind einige nennenswerte Bauten aus der Zeit vor der „Goldenen Horde" erhalten oder durch Grabungen nachgewiesen worden. Für das Herrschaftsgebiet der „Goldenen Horde" selbst gibt es weniger Material mit Ausnahme schriftlicher Nachrichten. Vereinzelte Bauwerke aus der Zeit dieses Großstaates stehen im Nordkaukasus, in Choresmien und auf der Krim. Im Kasaner Gebiet gibt es Moscheen erst aus der Zeit seit Katharinas II. Sie folgen in der Bauweise und im Dekorationsstil dem Petersburger Barock. Der Einfluß dieser russischchristlichen Baukunst ist auch an den späteren Bauten der Krimtataren zu spüren.

a) Velikij

Bulgar

„Groß-Bulgar" blühte als islamische Stadt bis 1229, als die Mongolen es zerstörten und danach als eine ihrer Städte neu aufbauten. Die Russen lernten es nur als „tote Stadt" kennen. Peter I. besuchte 1712 die Ruinen, nachdem er einen auf sie bezüglichen Bericht gelesen hatte, und befahl, eine staatliche Aufsicht über diese Baureste mit armenischen, islamischen und frühen russischen Inschriften zu schaffen. Wirksamer als dieser Befehl war wahrscheinlich der Ausbau der Ruine der Hauptmoschee zur Uspenskij-Kirche 1732 sowie die Urr Wandlung des einen der beiden Mausoleen in die Kirche des Heiligen Nikola und der anderen in eine Grabstätte für die Mönche des Kloster, das dort gegründet worden war. Viele Grabsteine und Ruinenteile wurden in diesen Kirchen verbaut. Die religiös tolerante Katharina II. untersagte 1767 die weitere Zerstörung der Denkmäler in Kasan. Die ersten Studien über diese Baudenkmäler wurden 1732 von Savenko und Krupivin angestellt. Der Architekt A. Smit zeichnete 1827 einen ersten Plan der Stadtmauer, der in der Literatur der folgenden Zeit kritisiert wurde. Im Jahre 1919 nahm P.N. Efimov Teile der Holzkonstruktionen auf, und eine Expedition unter A.P. Smirnov (1938-1940) arbeitete in den dreißiger Jahren in Velikij Bulgar. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten in Vorbereitung des Baus eines Stausees Grabungen sowohl in Velikij Bulgar (1950-1954) wie auch in Suvar und Biljar (1969) durchgeführt werden. Jetzt liegen alle drei Städte unter diesem See. Die in Velikij Bulgar gefundenen Befestigungsanlagen stammen aus zwei Perioden zum einen aus dem 11. bis 13. Jh. und zum anderen aus dem 14. bis 15. Jh. Sie bestanden als Holz-Erde-Wälle und Gräben und bildeten ein Dreieck, das sich mit der einen Seite an die Wolga anlehnte. Die Stadtmauer des 14. Jh. umgab die Siedlung in Trapezform. Der

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Raum zwischen zwei Holzmauern im Abstand von 1,5-3 m war mit Erde ausgefüllt. Drei Tore öffneten sich zur Stadt. Vor der Stadtmauer befand sich eine befestigte Vorstadt des 13. bis 14. Jh., in der die Ruine einer steinernen armenischen Kirche stand, die in der Regel als „Griechischer Palast" in der Literatur erscheint. Daran Schloß sich ein armenischer Friedhof. Die Anlage der Wolgabulgaren wurde 1236 niedergebrannt. Die große Moschee entstand in den sechziger Jahren des 13. Jh. Sie ist 1892 und 1915 untersucht worden. Es handelte sich um eine rechteckige Hallenmoschee mit fünf Schiffen, die von fünfmal vier Steinsäulen getragen wurden. Die Säulen erhoben sich auf Steinbasen. Sie waren achteckig und hatten Palmettkapitelle, die an aserbaidshanische Vorbilder erinnern. Die Moschee besaß ein großes Portal. Ihr „großes" Minarett war 24 m hoch. Es ist 1824 eingestürzt. Das „kleine" Minarett mit 12 m Höhe trägt eine arabische Bauinschrift des 14. Jh.. Es ist der Rest einer kleineren Grabmoschee. Das Tor ist schön dekoriert. De: runde Turmkörper steht auf einem quadratischen Sockel. Ein zum Spitzdach überleitender zweiter Rundbau erhebt sich über einem umlaufenden Balkon für den Mu'ezzin. Die Moschee wurde zu Ende des 13. Jh. und im 14. Jh. erneut umgebaut. Sie erhielt vier Ecktürme und diente anscheinend als Zitadelle. Sie weist seitdem drei Tore mit Kuppelräumen auf. In ihrer Nähe wird der Palast gestanden haben. Gegenüber der Ostfassade befindet sich eine Türbe aus den dreißiger Jahren des 14. Jh., die im 17. Jh. in die NikolaiKirche umgebaut wurde. Nördlich d;r Moschee, ihrem Haupteingang gegenüber, steht ein gleichaltes Mausoleum. Es hande.t sich um einen achteckigen Steinbau nach mittelasiatischen Vorbildern, der seit dem 18. J,1. als Kloster-Grabstätte benutzt wird. Ein Steinba α mit sphärischer Kuppel wird nach der Farbe der Ruine als „Cernaja Palata" bezeichnet. Dieser Bau ist vor 1350 verbrannt. Smirnov hat ihn als Moschee gedeutet, während Techner ihn als Palastteil (Divan) ansieht. Nach der publizierten Baustruktur war er ein Zentralxuppelgrab, dessen Grundkörper aus zwei aufeinander gestellten Quadratkörpern besteht, von denen ein achteckiger Tambour zur Kuppel überleitet, die auf Trompen ruht. Als „Paläste" werden auch die Ruinen zweier Bäder eingestuft, der 1938 bis 1940 freigelegte „Rote Palast", der 1361 nach kaukasischen Vorbildern entstand und dessen Hauptraum kreuzförmig ist und mehrere Wasserstellen besitzt, und der „Weiße Palast" aus dem 14. Jh., der im Plan mittelasiatischen Vorbildern folgt.Er ist dreiteilig und hebt die Mittelhalle hervor. In Suvar sind nur Reste eines Palastes aus dem 10. bis 11. Jh. ausgegraben worden. In Biljar wurde ein Bad mit Bodenheizung entdeckt, das ursprünglich als Karawanserei angesehen wurde.

b)

Krimarchitektur

Vor dem Eindringen der Tataren auf die Krim hatten die dortigen Bewohner das italienische Vorbild stets vor Augen. Die Genuesen hatten Kaffa, das alte Theodosia, zu einer schwerbefestigten Hafenstadt ausgebaut, deren Steinarchitektur für sie vorbildlich war. Konkurrenten der Genuesen waren die in Soldaja (Sudak) herrschenden Venezianer, deren Bauten wie die Festung von Cembalo (Balaklava) den Nomaden lange widerstanden. In den Krimstädten suchten Tausende armenischer Flüchtlinge Zuflucht vor den Türken. Sie errichteten beispielsweise bei „Alt-Krim" (Solchat) das große Kloster Surb Chac nach

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ihren Traditionen des kleinasiatischen Steinbaus. Mit der Eroberung der Krim durch die Tataren seit dem späten 13. und frühen 14. J h . begann dort die „tatarische" Baukunst. Solchat wurde ihr Hauptstützpunkt auf dem Handelsweg von Kaffa zur Wolga. Für den Bau einer Moschee in dieser Stadt spendete sogar der zuvor über die Krim nach Ägypten als Gefangener der Mongolen verkaufte Baibars, der bei den Mameluken zum Sultan aufgestiegen war. Erhalten ist die 1314 von Chan Uzbek gestiftete Medresenmoschee, die nach seldschukischen Vorbildern in Kleinasien entstanden ist. An die großzügige DreiIvan-Medrese schließt sich eine dreischiffige Hallenmoschee an, deren Fassade ein Prunkportal beherrscht und deren Hof von einem Säulengang umgeben ist. Eine typische Seldschukenmedrese ist die Zincirli-Schule von Salacik aus dem 16. J h . Das größte erhaltene Bauwerk aus der Zeit des Chans Uzbek ist das noch rund 60 m hohe Minarett der Kutluk-Timur-Moschee in Kunja Urgenc in Choresmien, das 1321 bis 1336 zusammen mit der großen Hallenmoschee erbaut wurde. Urgenc war damals die östliche Handelszentrale der „Goldenen Horde". In dem heute verödeten Stadtgebiet steht noch ein 1321 bis 1333 gebautes Mausoleum für den Führer der Derwische Nadschm ad-Din Kubra, ein prachtvoller Vierkuppelbau. Auch andere Mausoleen aus der Zeit der „Goldenen Horde" liegen in Choresmien. Nach Solchat wurde Cufud-Qal'a Residenz der Tataren, eine schon von den Byzantinern bewohnte Stadt auf einem Tafelberg, dessen Seiten mit Wohn- und Kirchenhöhlen durchsetzt ist. Auf seiner Spitze erhebt sich noch heute das schönste erhaltene Grabmal der „Goldenen Horde", ein achteckiger Steinbau, der nach der Inschrift von 1437 für DzanikeChanum, der Tochter Tochtamys-Chans, gebaut wurde. Es wird von einem großen Portal bestimmt und ist im Inneren mit Stalaktiten geschmückt. K y r k - O r löste Cufud-Qal'a ab und wurde zur Militärhauptstadt der „Goldenen Horde" und danach die der Krimchane. Erhalten sind die steinerne Stadtmauer und Ruinen einer Moschee, eines Bethauses der Karaim und Reste von Wohnbauten. In Eupatoria repräsentiert die Dschum'a Mecet von 1552 osmanische Hochkunst. Sie ist ein Bau Sinan Paschas, des „Michelangelo der Osmanen". Sie entstand nach dem Anschluß der Krim an das Sultanat (1475) und ist mit den großen Moscheen der Hauptstadt der Osmanen zu vergleichen. Sie ist eine Kuppelmoschee mit großer Zentralkuppel. Ihr Interieur verbindet zahlreiche Fenster, die den Raum mit Licht überfluten, mit vielfarbigen Kachelornamenten. An der Nordseite stand eine von Marmorsäulen getragene Arkade, die einen H o f umschloß. Die ihr vermutlich ähnliche Selim-Moschee von Kaffa ist leider schon im 18. J h . zerstört worden. Gut erhalten blieb hingegen der Palastkomplex der Krimchane von Bahaisaraj, dessen ältester Teil die „Eski T ü r b e " bildet. Sie ist ein achteckiges Kuppelgrab mit einem Portal im Osten und liegt in einem von Arkaden umgebenen rechteckigen Hof, der offenbar zu den seit dem 16. Jh. hinzugefügten Anlagen gehört. Das Grab ist ein Ziegelbau mit reichen Holzteilen, der dem mittelasiatisch-osmanischen Konzept eines Pavillonpalastes folgt.Der Palast war nicht befestigt, da die Tataren das Land für sicher hielten. Sein Schmuck besteht aus Steinschneidearbeiten, Glasurziegeln und Malerei. Bei dem Komplex handelt es sich um eine vielteilige Hofanlage, deren Gebäude bis auf die osmanischen „Bleistift"minarette nur zweistöckig waren. Gegenüber dem Palast befindet sich die Hallenmoschee. Der älteste Teil der Anlage ist der Saal für den Divan-Chan, ein Sreinbau. Vor ihm erstreckt sich eine von Holzsäulen getragene Kolonnade. Der Dekor folgt vor allem östlichen Vorbildern. Eine Ausnahme bildet das „Eiserne Tor", das Werk des Baumeisters Aleviz Novyj, des Architekten der Erzengelkathedrale im Kreml von Moskau. Er war auf dem Weg nach Moskau von tatarischen Streifscharen gefangenengenommen und auf die Krim gebracht worden. Er führte in Bahcisaraj die Zierweisen des zeitgenössischen Rußlands ein, die aus

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den Formen der Renaissance und des Barocks entstanden waren. Der zweietagige Palast wurde im 17. Jh. errichtet, und um 1750 baute der Iraner Omar den Gartenpavillon und das sogenannte „Goldzimmer" in der zweiten Etage des Palastes. Im Jahre 1764 entstand die durch Puschkins Gedicht berühmt gewordene Fontaine im Marmorsteinschnitt. Ihr vergleichbar sind Grabsteine aus dem Friedhof des Palastes. Ahnliche Grabbauten aus dem 14. bis 17. Jh. fanden sich bei Eski-Jurte westlich von Bahcisaraj. Zur Zeit laufen Grabungen unter Leitung von M.G. Komarovski in Solchat-Stara-Krim. Nachgewiesen wurden eine Moschee in der Zitadelle, eine Stadtmoschee von 1263 und eine Medrese mit Moschee des 14. Jh. Eine Inschrift nennt das Jahr 1332/1333. Diese Moschee ähnelt der Moschee von Sivas vom Jahre 1271/1272. Das Gebäude geht anscheinend bis in das frühe 14. jh. zurück. Der Mihrab ist auf 1350 datiert und gleicht Denkmälern aus Amasya. in der Medrese befand sich ein Silberhort mit Münzen von A H 710 bis A H 788. Die Inschrift eines Grabsteins nennt eine Ince Beg Chätun. Nordwestlich der Stadt sind rund dreißig Gräber untersucht worden. Sie lieferten u. a. hervorragende Beispiele selschukischer keramik mit figurativem Dekor, u. a. fünf sitzende Personen und eine Tänzerin (?). Die Grabungen werden weitergeführt. Nach der osmanischen Besetzung wurde Ak-Masdschid Residenzstadt, wurde aber 1736 zerstört. An ihre Stelle trat Simferopol.

c) Die Tatarenstadt an der Wolga Der große Reisende des Islam Ibn Battuta besuchte 1333 die Tatarenhauptstadt Sarai und beschrieb sie als eine der schönsten und größten Städte der Welt, doch ist bisher nichts Zuverlässiges über sie bekannt. Der ägyptische Autor al-Omari schrieb nach dem Diktat des Choresmiers Schudscha ad-Din Abd ar-Rahman, daß sie auf Befehl des Chans Berke um Ufer des Itil errichtet worden sei und keine Befestigungen benötigt habe. Im Zentrum der Stadt soll der Palast des Sultans gelegen haben, neben dem sich die Residenzen der Großen des Reiches befunden haben sollen. Die Stadt sei reich an Moscheen und zahllosen Wohnbauten für die verschiedenen Volksgruppen des Landes gewesen. Ihre von Raubgräbern durchwühlten Ruinen werden bei Selitrenoe an der Achtuba vermutet. Das dortige Ruinenfeld ist mehrere Kilometer lang und wird durch Münzen datiert, die in den Jahren nach 1280 einsetzen. Im Jahre 1341 soll Sultan Dzanibek eine neue Hauptstadt mit dem Namen Sarai al-Jadid gegründet haben, die vielleicht an der Stelle gestanden hat, wo sich das Ruinenfeld von Carev befindet. Die Ruinenhügel bergen hier Reste von Steinbauten, die jedoch im letzten Jahrhundert intensiv durchwühlt wurden, als die Regierung im Lande nach Schätzen suchen ließ. Außer den offiziell damit Beauftragten plünderten private Grabräuber diese Ruinen. Nur wenige Fundstücke blieben erhalten. Nach den Bruchstücken zahlloser farbiger Glasurziegel zu urteilen standen hier nach mittelasiatischer Sitte geschmückte Großbauten. Grabungen in den Jahren von 1959 bis 1973 unter der Leitung Fedorov-Davydovs legten Adelssitze und Wohnviertel frei und ermöglichten die Anfertigung eines Planes der Stadt. Die zwischen 1360 und 1370 erbaute Befestigung umgab eine ovale Fläche von 1,6 mal 1 km. Insgesamt sollen rund 400 ha bewohnt gewesen sein. Untersuchungen in dem Gorodisce von Vodjan (1971 bis 972), vielleicht der Stadt Beldzamen, sollen eine Palastmoschee des 14. Jh. nachgewiesen haben. Die steinerne Säulenhalle wies sechs Schiffe auf. Den Mihrab zierten Marmorsäulen mit postantiken Kapitellen, deren Vorbilder aus den Schwarzmeerstädten stammen dürften.

Islamische Architektur an der Wolga und auf der K r i m

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Ruinen von Mausoleen der „Goldenen Horde" liegen bei dem Mecet-Gorodisce nahe Volgograd, eventuell Tartauly und in Ureke bei Saratov. Ein Grabmal steht bei Madzar im Nordkaukasus. Der „Turm Tamerlans" beim See Kisjan im Südural ist ein Mazar dieser Zeit,ebenso der „Kolgasyn-Turm" in Baschkirien. In Nordkaukasien steht das als „Tatartup" bekannte Minarett von Dzulat, der Rest einer tatarischen Stadt. Grabungen legten in dieser ursprünglich alanischen Siedlung die Ruinen zweier Moscheen frei. Von der kleineren Anlage sind noch die Fundamente der Bethalle und des angebauten Minaretts erhalten. Die Bethalle maß 9,8 mal 6,6 m und der Mihrab 1,15 mal 1,15 m. Das Minarett der größten Anlage erhebt sich noch bis zu einer H ö h e von etwa 16 m. Die Messungen der Fundamente der Moschee ergaben für die Halle eine Fläche von 11,4 mal 13,8 m. Die Zerstörung der Moschee geschah erst im vorigen Jahrhundert. N o c h der Reisende Güldenstädt beschrieb sie als erhalten und erwähnte ihre 28 Bögen.

d) Die Moscheen von Kasan Die in Kasan erhaltenen Moschee sind Bauten des 18. und 19. Jh. Die älteste Steinmoschee ist die Mardzani-Moschee, benannt nach Sigab ad-Din Mardzani. Der Architekt war offensichtlich aus der russischen Hauptstadt gekommen, denn sie ist im besten Petersburger Barock gebaut. Wahrscheinlich war es der seit 1763 in Kasan lebende Baumeister Kaftyrev. 1768 entstand die Ananaever Masdzid als zweite Steinmoschee, die im Stil der Mardzani-Moschee folgt. Ihr polychromer Innendekor entspricht dem reicher Bürgerhäuser jener Zeit. Von zwei Holzmoscheen in der Vorstadt der Tataren ist nichts geblieben. Ein Bau des 19. J h . ist die Azimov-Moschee, deren Ausführung maurischen Vorbildern folgte. Die Zakabaner Moschee entstand 1923. Eine Reihe von Holzmoscheen wurde im 18. und 19. J h . in den tatarischen Dörfern errichtet. Sie haben klare rechteckige Pläne. Die achteckigen Minarette reiten zum Teil auf dem Dach. Ihr Innendekor wird von der oft verwendeten Tulpe beherrscht, einem alten zentralasiatischen Lebens- und Frühjahrsmotiv. Medresen scheinen auf die Vorstädte beschränkt gewesen zu sein. Tatarische Dörfer wurden seit dem 16. Jh. angelegt, ein Teil davon infolge der Verdrängung der Tataren aus den Städten. Es waren in der Regel lange Straßendörfer, die sich häufig an einen Fluß anlehnten. Die einzeln stehenden Häuser sind zumeist in große Gärten gesetzt. Die Dörfer hatten zwischen 200 und 4 000 Einwohner und waren 2 - 3 km voneinander entfernt. Die Baukunst der Tataren in Litauen und Polen scheint bisher keinen Bearbeiter gefunden zu haben.

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Burchard Brentjes

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ULMAN WEISS, ERFURT

Der dogmentreu drapierte Dissident Ein schwarzburgisches Pfarrerschicksal aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges

I m Jahre 1 6 3 0 wird N i k o l a u s H a r t p r e c h t , Pfarrer der schwarzburgischen D ö r f e r H o h e n u n d T h a l e b r a , seines A m t e s e n t s e t z t u n d d e s L a n d e s v e r w i e s e n , v o r g e b l i c h w e g e n b ö s e r B e l e i d i g u n g e n , t a t s ä c h l i c h a b e r w e g e n h a n d f e s t e r H ä r e s i e . 1 Seine S p u r e n

verflüchtigen

s i c h . W a s bleibt, sind e i n i g e scripta et acta u n d ein B u c h , d e s s e n V e r f a s s e r er ist - g e n u g , u m ihn jenen z u z u r e c h n e n , die a m A n f a n g einer „pietistischen" F r ö m m i g k e i t im L u t h e r t u m s t e h e n 2 , z u w e n i g a b e r , u m d a s L e b e n dieses M a n n e s g ä n z l i c h e r s c h l i e ß e n z u k ö n n e n . E r s t a m m t , dies ist g e w i ß , aus e i n e r P f a r r e r f a m i l i e . Sein V a t e r , einst A l u m n u s in d e r e v a n g e l i s c h e n S c h u l e W a l k e n r i e d , ist i m J a h r e 1 5 8 0 z u m P f a r r e r v o n S t e i n b r ü c k e n N o r d h a u s e n berufen worden und anscheinend lebenslang dort geblieben.3 N o c h v i e r z i g J a h r e n n e n n t i h n sein S o h n N i k o l a u s d e n getrewen Steinbr'uckeri'

-

dem N a m e n

Dienern

der Kirchen

Gottes

zu

n a c h ist er es w o h l a u c h , a b e r l ä n g s t s c h o n a m t i e r t

als

S u b s t i t u t 5 sein E r s t g e b o r e n e r J o h a n n C h r i s t i a n , v o n d e m m a n k a u m ein kennt, bloß, d a ß ihm

bei nach

Lebensdatum

1 6 0 2 ein S o h n g e b o r e n w i r d , d e r s p ä t e r a u c h d i e S c h a u b e d e s

G e i s t l i c h e n t r ä g t . 6 Sie alle, s o w e i t e r k e n n b a r , e r f ü l l e n i h r e H i r t e n p f l i c h t z u r Z u f r i e d e n h e i t d e r i h n e n A n b e f o h l e n e n u n d i h r e r O b e r e n . N u r N i k o l a u s e r l a n g t diese

Zufriedenheit

nicht. E r d ü r f t e u m 1 5 9 0 g e b o r e n w o r d e n sein. W a h r s c h e i n l i c h h a t er, w a s n a h e l i e g t , s p ä t e r h i n die S c h u l e in S o n d e r s h a u s e n b e s u c h t . - D i e S t a d t a m F u ß e d e r H a i n l e i t e g e h ö r t z u d e n 1

Zum Folgenden vgl. Contra Mag. Nicolaus Harprecht [!] Pfarrer zu Hohen- und Thalebra, welcher wegen geführter irriger lehr, besonders des Stifelianismi, seines PfarrAmbts ist entsetzt worden ao. 1629-1633 (Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt [künftig: ThStAR], Konsistorium Sondershausen [künftig: K. S. ] V l l b Nr. 225 Bl. 110 a f., 116 a -119 b , 136 a -137 b ). Diese Akte bildet die wesentliche Grundlage der Studie. Ergänzende authentische Äußerungen Hartprechts enthält als Abschrift ein Codex heterodoxer Schriften (Weigeliana, Stifeliana und Prognostica) in der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums Erfurt (künftig EvMin) (Msc 21 Bl. 1-114 a ); dieser Codex aus dem Besitz des Erfurter Arztes und Rektors Eckard Leichner (1612-1690) wird der Ministerialbibliothek nach 1652 und vor 1663 übereignet (Msc 72 Bl. 75 a ; zu Leichner vgl. Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis, Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Bd. 4, Leipzig 2 1988, S. 10 f., 41, 303). Hartprecht ist, abgesehen von der namentlichen Nennung bei Paul Meder (Der Schwärmer Esajas Stiefel, ein kulturgeschichtliches Bild aus Erfurts alter Zeit, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 20 [1899] S. 116) in der Literatur bislang völlig unbekannt.

Zum Unterschied zwischen pietistischer Frömmigkeit und Pietismus als Bewegung vgl. Johannes Wallmann, Die Anfänge des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 4 (1977/1978) S. 53. ' Laut Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen (Auskunft von Pfarrer Siegfried Holzhausen) amtiert Eustachius Hartprecht bis 1593. 4 Nikolaus Hartprecht, T U B A T E M P O R I S , / / Oder / / Warhafftige / Vnteilbare / / ZeitRechnung / D e r - / / g l e i c h e n die Welt noch nie gesehen hat / . . . Erfurt: P. Wittel (Drucker), J. Birckner (Verleger) (1620), A l b (Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel [künftig: HAB] 287.20 Quodl. [7]). In der Widmungsvorrede werden außerdem der Nordhäuser Bürgermeister Caspar Heußler und der Vierherr Wedekind Platner als Großschwiegervater, Gevatter und Schwager genannt. 2

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Zum Substitutenwesen vgl. Rudolf Herrmann, Thüringische Kirchengeschichte, Bd. 2, Weimar 1947, S. 235. Vgl. Pfarrerbuch (wie Anm. 3).

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größeren in der ganzen Gegend. 7 Sie hat etwa eintausendsechshundert Einwohner, 8 zwei Kirchen und zwei Spitäler. Der Hauptweg, der sie durchzieht, heißt schlechtweg „Straße". Nahebei liegt das Rathaus, das unlängst erst ganz aus Stein errichtet worden ist, und davor der Platz, auf dem der Markt abgehalten und die Wäsche gebleicht wird. An der Westseite des Gebäudes ist das Halseisen angebracht, in das der jährlich wechselnde Rat die Straftäter stellt. Doch mehr als eine eingeschränkte Gerichtsbarkeit besitzt er nicht. Die Gerichtsbarkeit über Hals und Hand gehört den vier gemeinschaftlich regierenden Grafen von Schwarzburg-Sondershausen. 9 Die Stadt, genauer: das auf dem Berg gelegene Schloß, ist ihre Residenz. Von hier, wo in den vergangenen Jahrzehnten beharrlich gebaut worden ist, regieren sie die ganze Unterherrschaft, das heißt, es sind eigentlich nur zwei Brüder, die als Regenten wirksam werden: Anton Heinrich und Christian Günther I. Sie sind es, die die politische Linie ihres Vaters fortsetzen - auch im Konfessionellen. Johann Günther I. hat die schwarzburgische Kirche wachsen lassen10 und ihr eine klare Gestalt gegeben. Die Wetterwenden von Vokation und Vertreibung, die sich im ernestinischen Thüringen zugetragen haben, hat es unter ihm nicht gegeben. Freilich hat man von all den Lehrstreitigkeiten genug gehört und gelesen, und es hat sich dann auch von selbst verstanden, daß die Pfarrer im Jahre 1580 auf das Konkordienbuch verpflichtet werden - genau in dem Jahr, da der Vater von Nikolaus Hartprecht ins Pfarramt nach Steinbrücken berufen wird. Was der Sohn über all diese Vorgänge hört, ist nicht bekannt. Aber es ist anzunehmen, daß ihm, falls er davon hört, vieles fremd vorkommt: Die befreiende Botschaft der Großvater- und Vatergeneration, die Rechtfertigung aus dem Glauben, ist ihm und seiner Generation das gewiß Gegebene. Er und seinesgleichen fragt eher, was dem Glauben nachfolgt und was ihn im Leben bewährt; gefragt wird nach der praxis pietatis jedes Einzelnen. Doch darüber wird an den Universitäten nicht doziert. Hier geht es um die reine Lehre, um die evangelische Dogmatik, die sich im Wissenschaftsmethodischen mehr und mehr des Aristotelismus bedient und solcherart, indem sie immer systematischer wird, das Selbstbewußtsein stärkt und konfessionelle Kampfkraft gewinnt, ja, die ganze Theologie erscheint mitunter als ein konfessionspolitisches Kampfinstrument, in dessen Gebrauch die Studenten zu unterweisen sind. Auch Nikolaus Hartprecht widerfährt dies, als er die Universität bezieht. Er kann es dank eines herrschaftlichen Stipendiums, 11 das ihm, da er ein besonderes ingenium besitzt, für drei Jahre bewilligt worden ist, freilich mit der Verpflichtung, danach in den Dienst des 7

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Zum Folgenden vgl. Günter Lutze, Aus Sondershausens Vergangenheit, Bd. 1, Sondershausen 1905, S. 2 0 64. 1567: 358 Steuerpflichtige (vgl. Deutsches Städtebuch, hg. Ernst Kayser, Bd. 2, Stuttgart / Berlin 1941, S. 366); H a n s Eberhardt (Die Bevölkerungsentwicklung schwarzburgischer Städte vom 15. bis 19. Jahrhundert, in: Weite Welten und breites Leben, Festschrift Karl Bulling, Leipzig 1966, S. 154) nennt für 1492 1224 Einwohner, keine Zahlen aber für spätere Jahre. Zum Folgenden Friedrich Apfelstedt, Heimathskunde für die Bewohner des Fürstenthumes SchwarzburgSondershausen, 3. H e f t , Sondershausen 1856, S. 88-95; ders., Beschreibende Darstellung der älteren Bauund Kunstdenkmäler des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, 1. H e f t , Sondershausen 1886, S. 8 2 87; Friedrich Lammert, Verfassungsgeschichte von Schwarzburg-Sondershausen, Entwicklung einer deutschen Territorialverfassung in kulturgeschichtlichem und staatsrechtlichem Zusammenhang, Bonn/Leipzig 1920, S. 36-52. Zum Folgenden vgl. Herrmann, Kirchengeschichte (wie Anm. 5) S. 181 f. Im Bewerbungsschreiben an Gf. A n t o n Heinrich bezeichnet sich Hartprecht als obligirten Stipendiaten der Landesherrschaft (vgl. ThStAR K. S. V l l b N r . 224). N a c h O . Fleischhauer (Oberspier, ein Dorfbild aus alter und neuer Zeit, Sondershausen o. J. [1899] S. 35) sind für Pfarrerkinder oft Landesstipendien erbeten worden.

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Landesherrn zu treten und sich ohne dessen Erlaubnis weder in ein Ehegelöbnis noch in eine Ehe einzulassen. 12 Die Universität, die der junge Mann aufsucht, kennt man nicht. 1 3 Man kennt auch nicht die Bücher, die er liest, und kennt nicht die Lehrer, die ihn unterrichten: Die Frage nach dem Prädestinierenden und Präfigurierenden verbietet sich. Erst im Frühjahr 1614 taucht er plötzlich aus dem Dunkel, das sein Leben bis dahin umgibt. Er immatrikuliert sich an der Universität in Jena, um sich, wie es scheint, zum Magister promovieren zu lassen und sein Studium zu beenden. Die Vorlesungen, die er hört, werden von Ambrosius Reuden, Albert Grawer und Johann Major gehalten. 14 Jeder von ihnen vertritt die lutherische Orthodoxie in wünschenswerter Weise. Reuden, 1 5 ein Mann in den Siebzigern, liest früh um neun über den Philipperbrief, Grawer, Anfang der Vierzig, über die Confessio Augustana, und zwar die Artikel vier bis neun, die er, Deo volente, im Sommersemester bewältigen will; und Major widmet sich der Apostelgeschichte. Alle drei Professoren setzen ihre Vorlesungen im Wintersemester fort, doch für Grawer stehen nun die controversias Pontificias, Calvinianas & Photinianas im Mittelpunkt: Der Dogmatik folgt die Polemik und umgekehrt, sofern sie sich nicht ohnehin durchdringen. - Der Student bekommt in den zwei Semestern, die er in Jena verbringt, nichts Abgeschlossenes geboten. Das ist sowieso nicht das Anliegen der Vorlesungen. Ihnen ist mehr um das Methodische zu tun: wie man dogmatisiert, polemisiert und exegesiert." Was in dieser Hinsicht verlangt wird, erbringt er anscheinend, auf jeden Fall erlangt er den Magistergrad 17 und verläßt die Salana. Er kehrt in die Heimat zurück und bewirbt sich, als er davon hört, um eine ledige Pfarrstelle. Es ist die von Hohenebra, einem kleinen D o r f südlich von Sondershausen, in dem das Kloster Ilfeld begütert ist. Seit mehreren Jahrzehnten ist das benachbarte Thalebra, in dem die Herren von Dacheröden ein Gut besitzen, Filial der Hohenebraer Andreaskirche. 18 Deren Pfarrer, zunächst als Substitut, ist achtzehn Jahre lang Michael Corvinus gewesen." Er hat, wie sich im nachhinein herausstellt, viele Pflichten verabsäumt, Kranke nicht besucht, 2 0 Verstorbene nicht gleich begraben und auch sonst Anlaß zu Ärger gegeben, wenn er Bauern in Geldgeschäften hat übervorteilen wollen oder sich bei Hochzeiten oder Kindtaufen vollgezecht hat. 21 Aber er meint, er habe mit seiner kinderreichen Familie lange genug gedarbt und nun Anspruch auf ein angemesseneres Amt. Das erhält er auch, und die freie Pfarrei muß neu besetzt werden. Sehr schnell bewerben sich drei Kandidaten, von denen zwei zur Probepredigt zugelassen werden: Valentin Buhl, ein

Vgl. genauer Günter Lutze, Zur Schulgeschichte der Stadt Sondershausen, Sondershausen 1905, S. 18. Eigener Auskunft zufolge sind es mehrere Academijs (ThStAR K. S. V l l b Nr. 224). 1 4 Zu ihnen vgl. Karl Heussi, Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, S. 104 f., 108110. 1 5 Zum Folgenden vgl. die Vorlesungsprogramme für das Sommersemester 1614 (3.4. 1614) und für das Wintersemester 1614/1615 (4. 9. 1614) (Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena 2 Hist. lit. VI, 8 Nr. 130 und 138). " Vgl. hierzu die Einschätzung von Heussi, Geschichte (wie Anm. 14) S. 112 f. 1 7 Der urkundliche Nachweis, da das Magisterverzeichnis nicht erhalten ist, fehlt. 1 8 Näheres zu beiden Orten bei Apfelstedt, Heimathskunde (wie Anm. 9) S. 170-172, 196 f.; ders. Darstellung (wie Anm. 9) S. 57, 92 f. 1 9 Knappe biographische Angaben in Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 2: Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, bearb. Bernhard Möller (erscheint 1997). 2 0 Vgl. hierzu die Bestimmungen der Kirchenordnung von 1574, die dem Pfarrer auferlegt, so oft es begehrt wird, die Kranken zu besuchen (Die evangelischen Kirchenordnungen des X V I . Jahrhunderts, bearb. Emil Sehling, 1. Abt., 2. Hälfte, Leipzig 1904, S. 135 f.) 2 1 ThStAR K. S. II N r . 3 B l . 81 b . 12

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junger Lehrer aus Arnstadt, 22 und Nikolaus Hartprecht. Die Gemeinden erklären sich für den Lehrer, die Konsistoriales 23 für den Magister. Gleichwohl glauben die Herren, keinen Glücksgriff getan zu haben; sie haben sich, deutlich gesagt, ettwas mehrers von ihm erhofft, was immer das heißen will. Doch sie denken auch, daß er durchs tegliche Exercitium in sein Amt hineinwachsen werde, 24 und vorbehaltlos votieren sie für ihn. In ihrem Urteil sagen sie auch, warum: weil er v f f einer academie studirt habe und weil er von den controuersis bericht geben könne. 25 Dies ist offenbar das Entscheidende: Daß er die Konfessionskontroversen kennt und die reine Lehre in der Polemik gegen das konfessionell Andere auf der Kanzel darlegen kann und dies auch soll, ein Verlangen freilich, das die Belange und Bedürfnisse der Bauern überhaupt nicht berücksichtigt: Sie, die kaum die Grundkenntnisse des Katechismus haben, können die Glaubenskontroversen gleich gar nicht verstehen 26 und wollen das auch nicht. Magister Hartprecht erhält die Vokation. Noch am selben Tag dankt er dafür und versichert, sich in lehr vnd leben so erzeigen zu wollen, daß es zur Ehre Gottes, zum Nutzen der christlichen Kirche und zum Rhum vnd wolgefallen der Grafen und aller promotoribus gereichen werde. 27 Er verläßt das elterliche Pfarrhaus in Steinbrücken und bezieht das eigene in Hohenebra. Am Sonntag Lätare des Jahres 1616 wird er in sein Amt eingeführt, und er hat, wie es Herkommen ist, die Gemeinde freizuhalten mit Lamm und Taube, Wein und Bier, und dies möglichst zwei Tage lang. 28 Von Anbeginn tut der Pfarrer, was seines Amtes ist: Er predigt am Sonntagmorgen in beiden Kirchen und am Nachmittag abwechselnd in Hohen- und in Thalebra; mittwochs hält er die Wochenpredigt über die Epistel, und er treibt mit den Kindern den Katechismus - alles, wie es die Kirchenordnung verlangt, auch die Predigt dauert nicht länger als eine dreiviertel Stunde. 29 Seine Tatkraft wird aber auch anderweitig verlangt: 30 Er bestellt das Pfarrhaus, bewirtschaftet einige Äcker, prüft die Dezimation, bestätigt Pachtverträge, vergleicht sich mit seinem Amtsvorgänger und unternimmt es nach kurzer Zeit, das niedergebrannte Pfarrhaus neu zu bauen. Das ist beschwerlich genug. Zudem weigern sich die Thalebraer, den dritten Pfennig, wie verlangt, zum Neubau beizusteuern. Doch Pfarrer Hartprecht dringt darauf, und er zögert auch nicht, die Obrigkeit anzurufen. Er tut dies

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Valentin Buhl "1596 Greußen +1678 Ebeleben, bis 1624 Lehrer in Arnstadt, 1625 kurzzeitig Kantor und Diakonus in Greußen, ab Oktober Pfarrer in Niederbösa, 1630 als Nachfolger Hartprechts Pfarrer in Hohenebra, seit 1635 Pfarrer in Ebeleben, seit 1651 Assessor des Konsistoriums in Ebeleben, seit 1657 Inspektor (Thüringer Pfarrerbuch [wie Anm. 19]).

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D e m seit ausgangs des 16. Jh. bestehenden Konsistorium gehören die Pfarrer von Berka und Jechaburg, der Archidiakon und der Sondershäuser Superintendent als Leiter an (Apfelstedt, Heimathskunde [wie Anm. 9] S. 93; Ulrich Hess, Geschichte der Behördenorganisation der thüringischen Staaten und des Landes Thüringen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1952, Jena/Stuttgart 1993, S. 4 5 47).

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ThürStAR K. S. V l l b N r . 224. Ebd. Einzelheiten zum Kenntnisstand der Gemeinden bei Herrmann, Kirchengeschichte (wie Anm. 5) S. 210 f. T h S t A R K. S. V l l b N r . 224. Zur Feier einer Amtseinführung 1617 im benachbarten Oberspier vgl. Fleischhauer, Oberspier (wie Anm. 11) S. 33 f. Vgl. die betreffenden Festlegungen der Kirchenordnung von 1574 (Kirchenordnungen [wie A n m . 20] S. 132-136) mit Hartprechts Antworten bei der Visitation am 28. 8. 1616 (ThStAR K. S. II N r . 3 Bl. 7 8 b 80k), wobei allerdings die Frageartikel fehlen. Zum Folgenden vgl. ebd. V l l b N r . 224; hier auch Angaben zum Inventar der Pfarrei und zur Pfarrbesoldung; ein Vergleich mit anderen Pfarreien der Superintendentur ist an dieser Stelle nicht möglich.

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auch sonst, wann immer es ihm geraten erscheint: wenn Pächter die Pfarräcker nur nachlässig bearbeiten, wenn die Grenzen des Pfarrlandes nicht deutlich gezeichnet werden oder wenn Altaristen in der Verwaltung säumig sind. D a ß diese Anrufungen von großen Konflikten zeugten, wird man nicht sagen können. Ganz im Gegenteil scheint es, als sei der Pfarrer wohl gelitten, und seinen Pflichten, wie gesagt, wird er allemal gerecht. Sie halten ihn nicht davon ab, all die verwirrenden Vorgänge, von denen die Welt voll ist, aufmerksamen Auges zu verfolgen: Mißernten und Hungersnöte, Waffengeklirr und Währungsverfall, die Thüringer Sündflut 31 und die Erhebung in Böhmen . . . D a ß dies alles Zeichen providentieller Bedeutung seien, glaubt er wie viele andere: die Endzeitstimmung, die im Schwange ist, hat auch ihn erfaßt. 3 2 Und als im November 1618 der große Komet mit ungeheurem Schweif am Himmel erscheint, weiß er, daß die letzte vnd dritte Zeit angebrochen ist. 33 Es ist dies, wie Daniel und Esdras prophezeit haben, eine Zeit der Krisis, bevor das zukünftige Zion anbrechen wird. Als christlicher Lehrer muß er, und sollte es vergebens sein, die Welt warnen und vermahnen. 3 4 Denn G o t t hat keinen Gefallen am Tod der Sünder, er will die Bekehrung, ein neues Herz und einen neuen Geist. 3 5 Und deshalb, wie Arnos angekündigt hat, verhängt Gott sein Strafgericht. Was der Prophet Arnos den Juden, sagt der Pfarrer Hartprecht den Christen: Gerade weil euch G o t t erwählt hat, sucht er eure Sünden heim. 3 6 D a ß dies bevorsteht, belegt er mit Zeugnissen der Schrift, die er eigens zu diesem Zweck eifrig durchforscht hat. Zwei Jahre lang hat er, nicht zuletzt bewogen durch die im Volk umlaufenden Prophezeiungen, sich beharrlich bemüht, eine vnfehlbare Chronologiam zu erstellen: den Frommen zu Trost, den Bösen zur Besserung und seinem eigenen Gewissen zum Zeugniß und zur rettung. Es ist ein entschiedener Ernst, der ihn zu solch erbaulicher und nicht etwa zu dogmatisch-polemischer Schriftstellerei bewegt. Wenn der junge Pfarrer auch die ganze Schrift zu Rate gezogen hat, so sind es doch die eschatologischen loci classici, auf die er sich stützt, namentlich auf das alttestamentliche Buch Daniel, die Offenbarung des Johannes und das apokryphe vierte Buch Esdras, das jetzt erst, wie er betont, in seinem valorem und florem erkannt werde. 37 Tatsächlich belegt er mit ihnen seine Auffassung, daß im Jahre 1620 eine messianische Zeit beginnen werde; 38 das zweite Weltalter sei dann zu Ende, und bevor das neue, vierte Weltalter heraufziehe, in dem Gott allein herrsche, werde eine Zeit sein, über deren Länge man nichts sagen könne, weil sie, wie Christus verheißen hat, verkürzt würde; aber in dieser Zeit, und wohl schon im Jahre 1620, werde Gott einen Jehu erwecken, der Izebel vom Thron stürze, der ihr die griffischen Hende abschlage, mit denen sie der Welt Reich vnd gut an sich gebracht, und der

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Näheres bei Fleischhauer, Oberspier (wie Anm. 11) S. 36. Daß die Endzeitstimmung im Luthertum besonders verbreitet gewesen sei, betont Hartmut Lehmann, Das 17. Jahrhundert als Endzeit, in: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988, hg. Hans-Christoph Rublack, Gütersloh 1992, S. 550-552. Hartprecht, T U B A T E M P O R I S (wie Anm. 4) A2 b . Hierzu und zum Folgenden die Vorrede mit dem auf 1620 weisenden Chronogramm Aper/te portas & Introeat gern IVsta CVstoDIens VerltateM (ebd. A l b - A 3 b ) . Vgl. Hes 18,23.31.32. Vgl. Am 3,2. Hartprecht, T U B A T E M P O R I S (wie Anm. 4) A2 b . Bemerkenswerterweise enthält der Wolfenbütteler Sammelband eine von Johannes Heyden stammende, 1620 bei Bismarck in Halle/Saale verlegte deutsche Ausgabe von 4 Esr. Vgl. ausführlich ebd. B l a - D l b .

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ihr Haupt, all ihre Macht und Gewalt, vernichte:39 Daß von der Papstkirche die Rede ist, wird deutlich. Doch heißt es auch, daß allen Königen auf Erden das Schwert abgegürtet und daß danach Juden, Heiden und Christen einträchtig zusammenleben würden: der nicht weiter entfaltete Gedanke eines sehr irdisch begriffenen Zwischenreichs, der, allein weil er dieses Tausendjährige Reich nicht spiritualisiert, obrigkeitlicherseits als anstößig angesehen werden muß - in dieser Zeit nicht anders als früher schon: Kategorische Gesellschaftskritik kleidet sich gern in das Gewand des Chiliasmus. Der Trost, den chilistische Gedanken gemeinhin atmen, teilt sich auch beim Lesen der Tuba Temporis mit. Nikolaus Hartprecht weiß, daß jene unterliegen werden, die gegen Zion streiten, und deshalb kann er auch bitten, Gott möge seinen Zorn über die Feinde, die Päpstlichen und die Türken, nicht länger verhalten, er möge ihnen das Zepter nehmen und sie in die Grube stoßen, die sie den Gerechten zugedacht haben, und dann möge er seinem Lande Frieden geben, auf daß Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.40 Ohne Frage gehört die Tuba Temporis in die Reihe der Kometenflugschriften 41 und ihr Verfasser zu jenen zahlreichen Theologen im Pfarramt, denen „Endzeitzeugnisse" zu verdanken sind.42 Was indes Aufmerksamkeit erregt, ist der chiliastisch geprägte Gedankengang. 43 Originell ist er nicht, und das will er auch gar nicht sein. Namhaft gemacht wird der Mathematiker Paul Nagel.44 Ihm und seiner einschlägigen Schrift, dem Prognosticon Astrologo-Harmonicum, ist die Tuba Temporis verpflichtet, und dies deshalb, weil das Prognosticon, wie Pfarrer Hartprecht meint, recht Weißlich auß dem Brunnen Göttlicher Weißheit gespeist ist.45 Aus diesem Brunnen hat Paul Nagel die Erkenntnis über das Jahr 1620 gewonnen und begriffen, was es mit dem Kometen des Jahres 1618 für eine Bewandtnis hat: Er ist so etwas wie Gottes Postbote, der seine Ankunft mitteilt. 46 Im Jahr der angekündigten Ankunft, 1620, erscheint die Tuba Temporis bei Johann Birckner in Erfurt. Daß sie ihre Käufer finde, darf angenommen werden, auch wenn das Jahr verstreicht und die Hoffnung auf einen Jehu sich nicht erfüllt. Stattdessen wird der Pfarrer im November vors Konsistorium nach Sondershausen geladen und eindringlich befragt: 47 Zunächst nach einem Buch, das ganz vom Milleniumsgedanken lebt und dessen Verfasser sich der Freundschaft Nikolaus Hartprechts rühmt; sodann nach seinem eigenen Buch, dem er, wie man höre, eine defension schrifft nachschicken wolle, was ihm, bevor er

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Ebd. E4 a f.; ausführlich zum dritten Zeitalter D2 b -F3 a mit dem aufschlußreichen Chronogramm lbVnt in CaptIVItateM Bestia & pseVDopropheta [Off 19,20] (E4 b ). Vgl. Ps 85,11; die Schrift schließt mit einem langen Gebet ab (F3 a f.). Vgl. Hartmut Lehmann, Die Kometenflugschriften des 17. Jahrhunderts als historische Quelle, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert, hg. Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer, Wiesbaden 1985, S. 683-700. Lehmann, Jahrhundert (wie Anm. 32) S. 547. Zur bemerkenswerten Resonanz des Chiliasmus in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges vgl. Silvia Tschopp, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges, Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628-1635, Frankfurt/Main, Bern, New York, Paris 1991, S. 237, 242 f., 284, 292. Zu ihm ADB Bd. 23, S. 215 f.; genannt wird auch ein Prognosticon von Paracelsus (Hartprecht, T U B A TEMPORIS [ w i e A n m . 4 ]

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D2a).

Ebd. Bl a . Paul Nagel, P R O G N O S T I C O N A S T R O L O G O - / / H A R M O N I C U M / / . . . Halle/S.: C. Bismarck o. J. D2 a (Exemplar HAB 287.20 Quodl. [1]); vgl. auch ders., C O M P L E M E N T U M A S T R O N O M I A E / / Und / / Auszf e uhrliche Erklerunng / / . . . Halle/S.: C. Bismarck 1620 (Exemplar HAB 287.20 Quodl. [3]) mit ausgeprägt chiliastischem Gedankengang; zur Vorstellung der Kometen als „Sonderbotschafter des erzürnten Gottes" vgl. Lehmann, Kometenflugschriften (wie Anm. 41) S. 689 f. Zum Folgenden ThStAR K. S. Vllb N r . 225 Bl. 5 a -6 b .

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sich überhaupt äußere, von vornherein verboten sein solle. Da hält es der Pfarrer für geraten, vorsichtig zu sein: Ja, das millenarische Buch kenne er, zwar nicht zur Gänze, aber doch hinlänglich, so daß er sagen könne, es sei nicht zu billigen wegen der 1000Jahr, auch wenn sich der Autor auf ihn berufe und sich gar seiner Freundschaft rühme, wofür er gleichwohl nichts könne; 48 was nun seine eigene Schrift anlange, so habe er sie von den Herren des Erfurter Evangelischen Ministeriums zensieren lassen und dabei ganz und gar nicht bedacht, daß er dies zuerst vom hiesigen Konsistorium hätte tun lassen sollen. Mehr nicht. Nur noch eine beruhigende Bemerkung zum ohnehin Verbotenen: daß das neue wercklein als eine fernere demonstratio der Tuba Temporis gedacht gewesen sei. Allein man hält das alles vor suspect in der religion,49 das Verbot bleibt bestehen, und Nikolaus Hartprecht befolgt es. 50 Zumindest hat es den Anschein. Denn wer will sagen, ob das Manuskript nicht pseudonym oder anonym oder unter anderem Titel doch noch erschienen ist?! Ein Drucker, allen Zensurvorschriften zum Trotz, hätte sich allein aus geschäftlichen Gründen gewiß gefunden. Denn Traktate dieses Themas werden gern gelesen, und zwar begieriger als die konventionellen Gedanken, die, gleichfalls durch den Kometen des Jahres 1618 veranlaßt, in vielen Schriften verbreitet werden und eine sozialdisziplinierende Absicht verfolgen: Wer vom Bösen läßt und Gutem folgt, bleibt von der Kometenstrafe verschont. 51 Nichts Endzeitliches. Aber gerade hierauf, auf dem Eschatologischen, beruht die Wirkung der Tuba Temporis. Sie wird gelesen und aus- und fortgeschrieben; nicht nur der unbekannte Joachim Cussovius bezieht sich auf sie, auch ein pseudonymer Meditator Jesu Crucis tut dies im Clangor buccinae Propheticae de Novissimis temporibus?2 und dies offenbar so erfolgreich, daß noch nach einem Vierteljahrhundert dagegen angeschrieben werden muß. Zu diesem Zeitpunkt könnte Pfarrer Hartprecht schon tot gewesen sein. Doch die Endzeitstimmung hat er sich lebenslang bewahrt, wenngleich sie sich später nicht mehr so artikuliert wie ehedem. Der Ertrag seiner eschatologischen Erregtheit ist eine intensivierte Innerlichkeit. Worin sie wurzelt, ist nicht klar zu sagen. Gewiß hat er, wie allein seine Sprache anzeigt, mystische Schriften gelesen und ihre Gedanken sich angeeignet. Aber namhaft macht er dies kein einziges Mal. Man weiß nicht, ob er die Theologia Deutsch oder die Nachfolge Christi, ob er Johannes Tauler oder Ludwig von Granada kennt. Verschweigt er seine nichtlutherischen Quellen mit festem Vorsatz? Auf jeden Fall nennt er, befragt, 53

Der als Autor genannte Joachim Cussovius und der Buchtitel Tuba propheciae sind bislang nicht ermittelt worden. 4 9 ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 B1.13*. 5® Der in diesem Zusammenhang genannte Titel Mensura temporis mystica ist bibliographisch nicht zu ermitteln gewesen. 5 1 Vgl. Johannes Weber, Cometen Predigt: / / . . . Erfurt: J. Birckner 1618, E2 1 (Exemplar HAB 49 Astron [11]); zu Weber vgl. ADB Bd. 41, S. 307 f. Zu Verfasser und Titel, die sonst nicht nachzuweisen sind, vgl. Nikolaus Baringius, Trewhertzige / / Warnung an alle from=//me Christen / . . . Hannover: J. F. Glaser 1646, S. 76 (Exemplar HAB 385.22 Th. [25]); hier auch die Einschätzung, daß der pseudonyme Meditator seinen Bindern M. Paulo Nagelio vnd M. Nicoiao Hartpr. Dienern der Kirchen zu Hohen vnd Thal Ebra ... nachgefolgt (S. 127). 5 5 Auf die unbekannte Frage der Visitatoren antwortet Hartprecht im August 1616, er hette Hafferrefferum, Herbrandum, Margaritam Theologicam vnd andere gelesen (ThStAR K. S. II Nr. 3 Bl. 78''). Die erstmals 1540 Lateinisch, im selben Jahr auch Deutsch und später noch Niederdeutsch erschienene Margarita Theologica von Johann Spangenberg (zu ihm ADB Bd. 35, S. 4 3 ^ 6 ) erlebt 32 Ausgaben (vgl. VD 16 S 7842-7872). Das Compendium Theologiae von Jakob Heerbrand (zu ihm T R E Bd. 14, S. 524-526) erscheint erstmals 1573 und erweitert seit 1578 in sieben Ausgaben, während ein Epitome Compendii Theologiae nur in zwei Ausgaben, Lateinisch und Deutsch, verbreitet wird (VD 16 Η 965-975). Die Loci theologici von Matthias Hafenreffer (zu ihm N D B Bd. 7, S. 460) verdrängen als „Dokument des nachkon48

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nur gutlutherische Literatur und nicht einmal die modernste: die Margarita Theologica von Johannes Spangenberg sowie das Compendium Theologiae und die Loci Theologici der beiden Tübinger Professoren Jakob Heerbrand und Matthias Hafenreffer. Daß diese Werke auf seinem Bücherbord stehen, ist denkbar, wahrscheinlich neben dem Konkordienbuch und neben der Historia Augustanae Confessionis von David Chytraeus; zweifelsfrei besitzt er aber die Schriften Martin Luthers, die Christian Rödinger seit 1555 in Jena verlegt hat. 54 Für das Selbstverständnis des jungen Pfarrers ist das aufschlußreich. Er ist vom nachreformatorischen und nachkonkordistischen Luthertum geistig geprägt, empfindet aber ein Ungenügen am Vorwalten des Dogmatischen und Polemischen, das die wahre Buße verhindert. Doch ohne sie ist die bewußte praxis pietatis, nach der Nikolaus Hartprecht strebt, nicht möglich. Wie sie sich im einzelnen gestaltet, ist nicht bekannt. Sicher sieht das äußere Frömmigkeitsleben anders aus als im förmlichen Pfarrhaus mit den gängigen Gebeten am Morgen, am Abend und bei Tische: 5 5 Es wird Andachten geben mit erbaulicher Lektüre und sicher auch mit geistlichen Gesängen. 56 Doch all dies allein im kleinen Kreis der Pfarrfamilie. Keim Amtsbruder, kein Bauer, kein Landadliger wird herzugebeten, und colloquia Gleichgesinnter gibt es ganz und gar nicht. Es ist, wie immer hervorgehoben wird, ein eingezogen vnd stilles leben, das Pfarrer Hartprecht führt, 57 und das ihm, möchte man ergänzen, eine fremde Frömmigkeit auszuformen erlaubt. So gesondert seine Frömmigkeit ist und so ungesellig er lebt, es gibt doch bestimmte persönliche Beziehungen zu Gesinnungsgenossen: zu einem jungen, wohl aus Gera stammenden Studenten namens Nikolaus Schlegel, der eine Zeitlang zum Hauskreis des Spiritualisten Esajas Stiefel im Erfurtischen gehört und nun, sicher durch Pfarrer Hartprechts Vermittlung, als Präzeptor bei einem benachbarten Adligen angestellt ist; 58 zu einer geborenen Gräfin von Honstein-Clettenberg, die Graf Johann Ludwig von Gleichen geheiratet hat und in Ohrdruf, wo sie wohnt, das geistliche Gespräch mit Esajas Stiefel, dem sie das Amt des herrschaftlichen Verwalters verschafft hat, fortgesetzt pflegt; 59 und schließlich zu Esajas Stiefel 60 selbst, einem fast väterlichen Freund. Wann er ihn kennenlernt, ist nicht zu sagen; vielleicht erst in der Zeit um 1622, in der mehrere Schriften dieses seltsamen Spiritualisten verlegt werden und augenscheinlich seine Aufmerksamkeit finden, so daß er

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kordistischen orthodoxen Luthertums" (ebd.) das Compendium Heerbrands und gewinnen große Geltung (VD 16 Η 152). ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 45 a f. Das Werk von Chytraeus ist als „erste quellenmäßige Spezialstudie" wertvoll (vgl. T R E Bd. 8, S. 88-90, 89). Zur Rödinger-Ausgabe vgl. Kurt Aland, Hilfsbuch zum Lutherstudium, 3., neubearb. und erw. Aufl., Witten 1970, S. 570 f. Allgemein hierzu Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3, München 1994, S. 65 f. Vgl. die entsprechenden Hinweise auf das Frömmigkeitsleben im Haus Esajas Stiefels, mit dem Hartprecht bekannt wird, in: Christliche / / Verantwortungs=//Schreiben / / / Der Hochwohlgebornen / / G A f f i n vnd Frawen / / / . . . Erdehmut Julianen / / / . . . Gi^affin zu Gleichen / . . . o. O., 1624, S. 10 f. (Exemplar HAB Yh 8.12° Heimst. 3) sowie die Tatsache, daß Stiefel seine theologischen Gedanken auch in Liedform ausdrückt (Stiefel, Verlauff [wie Anm. 61] S. 116-152, 185-297; ders., Antwort [wie Anm. 63] S. 65-70]). Vgl. auch ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 14 a . Ebd. Bl. 13 b ; vgl. auch Bl. 148 a . Zu ihm vgl. Meder, Schwärmer (wie Anm. 1) S. 110. Zu ihr vgl. Leberecht Wilhelm Heinrich Heydenreich, Kurtze Genealogische und Historische Beschreibung derer Grafen von Hohnstein, in: ders., Historia des ehemals Gräflichen nunmehro Fürstlichen Hauses Schwartzburg . . . Erfurt 1743, S. 22 f.; Guido Reinhardt, Geschichte des Marktes Gräfentonna, Langensalza 1892, S. 59-61, 153. Zur Biographie vgl. Meder, Schwärmer (wie Anm. 1) S. 98-123.

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den Autor aufsucht und mit ihm bekannt wird. Eine Freundschaft wächst. Was den jungen Pfarrer zu dem alten Spiritualisten hinzieht, ist dessen praxis pietatis, gegründet im Gedanken der wesentlichen Einwohnung Christi in den Gläubigen, in denen Christus derart wirkt, daß die Erwählten gleichsam heiligmäßig leben - kurzum, es ist das, was der orthodoxe Lutheraner förmlich verwirft: die Vollkommenheit.*1 In der Tat ist alles, was Esajas Stiefel lehrt, auf christlichen Perfektionismus gerichtet. Sein Ausgangspunkt ist der für Spiritualisten gängige Gedanke der Liebe Gottes. Gott ist die Liebe selbst, und die göttlichen Tugenden sind der Liebe Mitgespielen. 62 Aus Gott und mithin aus der Liebe wird der Mensch wiedergeboren. Diese Wiedergeburt bedarf der Taufe. Allein Wiedergeburt ist mehr, sie ist die Persönliche / Wesentliche Einwohnung vnd Vereinigung Christi JEsu mit allen Gläubigen, und das heißt, daß nicht Christi Geist, sondern Christus selbst lebendig / kr'afftig / tffatig / wircklich vnd wesentlich in den wahrhaft Gläubigen redet vnd alle wercke.. .in jhnen verrichtet,63 und zwar unmittelbar, so daß also Christus sündigt mit den Gläubigen; denn was sie tun, tut er selber, aber: Wer will die Auserwählten beschuldigen? In ihnen und aus ihnen spricht Christus, der neue Mensch und das lebendige Wort Gottes, das mehr ist als das vergängliche Schriftwort. Die Wiedergeborenen, sündlos wie sie sind, zeugen auch sündlose Kinder, ja mehr noch, sie sind nur Träger eines Namens, als die sie Christus einverleibt, gleichsam vergottet sind: So ist Esajas Stiefel der vnschuldige HERR JESUS CHRISTUS vnter dem Nahmen Stieffei Mit diesem Manne namens Stiefel wird Pfarrer Hartprecht vertraut und vertrauter. Was ihn, gerade ihn als studierten Theologen, beeindrucken mag, ist das für einen Laien erstaunlich systematische Theologisieren, aus dem anspruchsvolle Antworten auf viele fromme Fragen fließen, genau das, was der zeitgleichen dogmatischen und polemischen theologischen Literatur fehlt. Gegen sie, die die Schriftlehre zum aristotelischen „Prinzip" zu erheben sucht, wendet sich das bewußte Betonen des verbum internum, womit sich die grundsätzliche Kritik an der theologischen Professionalisierung65 verbindet, da sie für die vitam christianam nicht ersprießlich ist. Doch darum, um christlichen Lebensvollzug, ist dem Pfarrer zu tun. Seine Fragen, die ihn umtreiben, beantwortet nicht die etablierte Theologie, wohl aber die falscher Lehren verdächtigte facettenreiche Frömmigkeitsbewegung. In ihr hat auch der von Valentin Weigel beeinflußte Esajas Stiefel seinen Platz. Er ist Lutheraner, und auf Luther beruft er sich - freilich nicht immer zu Recht. Lutherisch ist auch sein grundlegender Gedanke von der wesentlichen Einwohnung Chri61

So das Urteil des Erfurter Seniors Modestinus Weidmann (zu ihm Martin Bauer, Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert, Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens, N e u s t a d t / A . 1992, S. 327) in der Wiedergabe von Esajas Stiefel, K'urtzlicher / / G r ü n d l i c h e r Verlauff / / in heiligen Religion-//Sachen: / / ... o. O., o. Dr. [Halle/S.: C . Bismarck?] 1624, S. 374 f., 377-389 (Exemplar H A B 1270.11 Theol. [1]).

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Zum Folgenden vgl. Esajas Stiefel, A P O L O G I A / / V n d RettungsSchrifft / / D e s heiligen Namens / / J E s u C h r i s t i . . . o. O., o. Dr. [Halle/S.: C. Bismarck?] 1624, S. 77-312, besonders 99-106, 222-224 (Exemplar H A B S 44 Heimst. 12°[2]); ders., Verantwortung / / des B ü c h l e i n s / / / Dessen Tittel: / / Etliche Christliche . . . Tract e atlein / . . . o . O . , o. Dr. [Halle/S.: C . Bismarck?] 1624, S. 13-19 (Exemplar H A B Yh 8 Heimst. 12°[2]); ders., Verlauff (wie Anm. 61) S. 327-329, 333-335; vgl. auch die Darstellung bei Siegfried Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650, Berlin 1988, S. 589-598.

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Stiefel, A P O L O G I A (wie Anm. 62) S. 290 f.; ders., KAmzliche A n t w o r t / / A u f f / / D . J O H A N N : Webers / . . . Außgesprengte Lateinische D i = / / s p u t a t i o n , . . . o. O., o. Dr. [Halle/S.: C . Bismarck?] 1624, S. 61 (Exemplar H A B Yh 8 Heimst. 12°[1]). Stiefel, A P O L O G I A (wie Anm. 62) S. 65 f.; vgl. auch S. 42-46, 70 f., 115 f.; ders., Verlauff (wie Anm. 61) S. 318-327. Hierzu vgl. Walter Sparn, Die Krise der Frömmigkeit und ihr theologischer Reflex im nachreformatorischen Luthertum, in: Konfessionalisierung (wie Anm. 32) S. 71-82.

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sti im wahrhaft Gläubigen. Denn wenn, wie in der Confessio Augustana festgestellt, im Abendmahl wahrer Leib und Blut Christi ausgeteilt und genossen wird, dann muß Christus auch wesentlich in den Gläubigen sein und in ihnen herrschen: 66 Statt, wie in der Reformationszeit, Christus pro nobis, heißt es nun Christus in me. Nur so geschieht Wiedergeburt, ein verwandeltes Sein und ein neues Leben. Damit wird die lutherische Rechtfertigung durch den Glauben nicht verworfen, doch deutlich erweitert. Die Rechtfertigung ist es, die für den Pfarrer zum Stein des Anstoßes wird. Er gerät in suspicionem Weigelianismi,67 In seinen Predigten, so erfährt der Superintendent, bediene er sich verdechtiger phrasium-, kurzerhand lädt er den Pfarrer mit einigen Pfarrkindern vors Konsistorium und befragt die Amtsbrüder. Aber alle Auskünfte beruhigen ihn: de erroribus Weigelianorum ist nichts zu merken, und ansonsten ist der Pfarrer fleißig in seinen Pflichten und untadelig in seinem Verhalten. Es scheint, als habe der Superintendent jetzt erst den Pfarrer von Hohen- und Thalebra näher ins Auge gefaßt und etwas Verwandtes in ihm entdeckt: Frömmigkeitsverlangen, Friedfertigkeit, ethischen Ernst. Von nun an ist er ihm als pium in Christo confratrem herzlich zugetan, und gern sucht er die Gelegenheit des geistlichen Gesprächs mit ihm.68 Auch Nikolaus Hartprecht faßt Vertrauen zu Salomon Glass69. Der neue Superintendent ist erst seit zwei Jahren, seit 1625, im Amte; vorher hat er an der Salana gelehrt, und nachmals wird er dem Ruf Herzog Ernsts des Frommen folgen und als Hofprediger und Generalsuperintendent das Reformwerk im Gothaischen voranbringen. Doch schon jetzt gehört er zu den reformorthodoxen Lutheranern, die sich den Gedanken Johann Arndts öffnen, und dies so sehr, daß er in der Rückschau als einer der Nachfolger Arndts erscheinen wird. 70 Daß die beiden Männer, der Superintendent und der Pfarrer, vom Wahren Christentum colloquieren und daß sich zwischen ihnen ein gewisser geistig-geistlicher Gleichklang ergibt, kann man glauben. Nikolaus Hartprecht scheut sich nun auch nicht, einen Gesinnungsgenossen mit Salomon Glass bekanntzumachen, damit er ihm fernere Förderung zuteil werden lasse. Es ist Nikolaus Schlegel.71 Der Superintendent empfängt ihn, bekommt ein feines wohlgemachtes carmen offerirt und empfiehlt ihn nur wenig später einem Adligen als Präzeptor. Nach einiger Zeit jedoch hört er von ebendiesem Adligen, daß der Kinderlehrer häufig nach Erfurt reise und dort, wie sich herausgestellt habe, den conventiculn des Esajas Stiefel beiwohne. Kaum, daß der Name fällt, fühlt sich der Superintendent an sein theologisches Wächteramt gemahnt. Denn er weiß über den alten Spiritualisten Bescheid. Er weiß noch von dem Aufsehen, das die Stifelisten im Jahre 1614 ringsumher erregt haben, als sie nach Dresden überführt und inhaftiert worden sind und als zwei kursächsische Mandate gegen die vermeinten newen Propheten und ihre New erdichten vndfalschen // Teuffels Lehre ergangen sind.72 Auch weiß er, daß Esajas Stiefel in Erfurt lebt, gelegentlich zum Widerruf bewogen 66

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Vgl. Verantwortungs=//Schreiben (wie Anm. 56) S. 51 f. sowie EvMin Msc. 21 Bl. 32 b -34 b mit Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 9 1982, S. 64. Vgl. ThStAR K. S. Vllb N r . 225 Bl. 13a f. (1627). Ebd. Bl. 13b. Zu ihm vgl. N D B Bd. 6, S. 434 f.; Heussi, Geschichte (wie Anm. 14) S. 131 f. So das Urteil Speners (vgl. Geschichte des Pietismus, hg. Martin Brecht, Bd. 1, Göttingen 1993, S. 280). Zum Folgenden vgl. ThStAR K. S. Vllb 225 Bl. 13 b -14 b . Warhaftiger bericht / / / Von dem vermeinten newen Propheten . . . o. O. 1614 (Exemplar HAB 506.5 Th [29]); Warhafftige / / Bekentn e usz vnd Aus=//sage der New erdichten vnd falschen / / Teuffels Lehre . . . o. O. 1614 (Exemplar HAB 506.5 Th [28]; zur Sache vgl. Meder, Schwärmer (wie Anm. 1) S. 104 f.

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wird, aber sich immer wieder in seiner Verirrung verstrickt. Erst kurz vor seinem Weggang von Jena und seinem Amtsantritt in Sondershausen ist die theologische Fakultät aufgrund einer Anfrage des Erfurter Rates mit einem Gutachten in causa Stifelii befaßt gewesen. 7 3 Salomon Glass weiß also: H i e r handelt es sich um handfeste Häresie. U n d sogleich stellt er den Hauslehrer zur Rede. E r erhält aber nicht mehr zur Antwort als einen Wechsel von windigen und wahren Worten: Er, Schlegel, sei mit dem Sohn von Esajas Stiefel bekannt, ihn besuche er ab und an, und gemeinsam musiziere man. Mehr nicht. Dogmatisches, so läßt er erkennen, interessiere ihn nicht sonderlich, und Salomon Glass gibt sich damit zufrieden. E r weiß ohnehin genug, als Nikolaus Schlegel de inhabitatione Christi in credentibus spricht. N u r eins will er noch wissen: o b auch Pfarrer Hartprecht mit dem Spiritualistenkreis in Erfurt U m g a n g habe und dessen Lehren anhänge? Vordem, meint der Präzeptor, mag es gewesen sein, aber jetzt k ö n n e er es nicht sagen. Kein Wort, daß der Pfarrer so oft in Stiefels Haus gewesen ist, kein Wort auch, daß der Spiritualist im W i n t e r 1623 wochenlang im Hohenebraer Pfarrhaus gewohnt und dort Schriften verfaßt hat, um deren Drucklegung Nikolaus Hartprecht bemüht gewesen ist, und kein Wort vom Besuch der Pfarrersfrau bei Esajas Stiefel, als ihr Sohn auf den Tod krank gelegen hat. 7 4 Salomon Glass forciert den Fall nicht. Anscheinend rät er dem Adligen b l o ß , seinem Hauslehrer zu kündigen, aber auch dies geschieht nicht gleich. U n d gegenüber Nikolaus Hartprecht rührt er überhaupt nicht an die Sache. Vielleicht tut er dies in der heimlichen Hoffnung, daß die Schwärmerei, wenn der Pfarrer von ihr infiziert sein sollte, nun, da der Spiritualist im S o m m e r 1627 gestorben ist, um so eher vorübergehen werde, als sie sich bisher noch nicht manifestiert hat. Allein die Hoffnung trügt. Es ist der Pfarrer selbst, der seinen Superintendenten gleichsam zum Handeln zwingt. Eines Tages im Frühjahr 1629 sucht ihn Nikolaus Hartprecht auf 7 5 und eröffnet ihm nach ziemlichem Zögern, daß die Gräfin von Gleichen ein Kind gebären werde, das wäre

ultimus Christi in gloriam et ad judicium adventus, und er bekräftigt, als Salomon Glass etwas von diabolicum errorem einwendet, seine Überzeugung mit Verweis auf die ganze Heilige Schrift, die diese newe geburth Christi bezeuge. Es beginnt nun ein theologischer Diskurs, der bis zum Nachmittag dauert und nur durch die Mittagsmahlzeit unterbrochen wird, zu der man den Amtsbruder in den Familienkreis bittet. Als er sich verabschiedet, ersucht er den Superintendenten um das beichtübliche Stillschweigen, das dieser verspricht, doch solle jener von Zeit zu Zeit k o m m e n und sich gesprächsweise in seinen Irrtümern berichtigen lassen. D e r Pfarrer sagt es zu und zieht, schon im G e h e n , ein Büchlein aus der Tasche, das er Salomon Glass zu lesen empfiehlt, weil es die rechte warheit

enthalte: Es sind die Etzliche Christ- und Gottselige Tractetlein von Esajas Stiefel.

D e r Superintendent n i m m t das Buch und behält es, und vermutlich liest er auch darin. Zu einer Gesprächskontinuierung k o m m t es jedoch nicht. Nikolaus Hartprecht, so scheint es, geht Salomon Glass aus dem Wege. Sein Vertrauen empfindet er als Fehler und seinen Freund als falsch. Etwas ist zerbrochen, das ihn tief enttäuscht. In einer eigentümlich esoterischen Epistel, die er ein Vierteljahr später schreibt, deutet er einiges an: N i e m a n d glaube seinem Nächsten, niemand verlasse sich auf einen Freund. 7 6 A b e r das, wovor der Prophet warne, habe er in den W i n d geschlagen, als er von einem seiner besondern geheimen

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Stadtarchiv Erfurt (künftig: StAE) 1-1 XXI lb Bd. 26 Bl. 255a f. Meder, Schwärmer (wie Anm. 1) S. 116 f., 121 f. Zur Drucklegung der 4 Tractate (gemeint sind offenbar die oben, Anm. 61-63, genannten Schriften Stiefels) vgl. StAE 1-1 XXI lb Bd. 26 Bl. 158 b -159 J , wo als Drucker Christoph Bischmar genannt wird. Zum Folgenden ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 14 b f., 18». Vgl. Mi 7,5. Der Brief datiert vom 22. 6. 1629 (ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 9 a -10 a ).

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freunde sich mit eußerlichen freundlichen wortten habe überreden lassen, mit ihm in einem Hause, Bethel genannt, des Nachts ohne leuchtende Laterne zu wandeln und sich dabei, in seiner Christlichen auffrichtigkeit etwas zu schnell gehend, sehr heftig an einem Pfosten des Hauses gestoßen habe, und zwar so sehr, daß, obwohl keine äußerliche Wunde zu sehen, das Inwendigste verletzt und er nun schwach vndt Madt sei und sich seither in statu tristitiae et angietatis befinde, wogegen eußerliche vernunfftige Mittel vnd Emplastica pharmaca nichts ausrichten könnten. Auf dem Pfarrhof lebt man noch eingezogener als sonst. Selbst der Hochzeit eines Schwagers, des Sondershäuser Rektors Matthias Cajus 77 , bleibt man fern und schickt stattdessen einen Taler als Geschenk. Da kommt Caspar von Dacheröden vom benachbarten Gut, bringt das Gespräch auf seinen einstigen Präzeptor und läßt dabei schmehwortt fallen über Esajas Stiefel und die Gräfin von Gleichen, vor allem über sie, die glaube, daß sie noch einmal Jesus Christus gebären werde, der noch einmal leiden, sterben, auferstehen und gen Himmel fahren solle, und er, der Pfarrer, glaube das wohl auch, jedenfalls habe ihm der Kanzler das zu verstehen gegeben, und der wiederum wisse es vom Superintendenten.78 In der Tat hat Salomon Glass das Beichtgespräch kundgetan, zunächst dem Archidiakon Hugo Schunk79 und dann dem Kanzler Dr. Christoph Lapp 80 , und dies, entgegen eigener Erklärung, wahrscheinlich nicht erst Anfang des Jahres 1630.81 Kurz vorher hat er Nikolaus Hartprecht zu einer Zirkularpredigt nach Sondershausen bestellt, zweifellos nicht zufällig auf den Silvestertag, wo die Perikopenpredigt vom Warten auf die Wiederkunft Christi zu handeln hat.82 Was der Pfarrer im einzelnen sagt, ist nicht bekannt, nur soviel, daß Christus bald als Menschenkind kommen würde, weshalb alle Prediger ihre Zuhörer ermahnen sollten, Christus würdig zu empfangen. Freilich, ein Eingeweihter spürt, daß alles auf die Gräfin gerichtet ist, wiewohl ihr Name nicht ein einziges Mal genannt wird. Anschließend, in der Sakristei, spricht der Superintendent von einem argen Anschlag. Er sehe nun, daß der Pfarrer seine Irrtümer ausbreite; wenn er das hier in der Stadt tue, was werde erst auf dem Dorf geschehen! Nikolaus Hartprecht beschwichtigt. Er räumt ein, daß das, was er im Frühjahr beichtweise über die künftige Geburt hat verlauten lassen, nur einfeltige albern thorhaffte gedancken gewesen seien, die er nun sehr bedauere. Aber die Ansicht vom baldigen Kommen des messianischen Kindes behält er. Sie ist in chiliastischen Kreisen keineswegs einzigartig. In der Reformationszeit hat der radikale Spiritualist Augustin Bader in seinem fünfjährigen Sohn, dem er alle Herrschaftsinsignien angelegt, den ersten König des nun anbrechenden Tausendjährigen Reiches gesehen und sich dabei auch auf die biblisch prophezeite Herrschaft eines Kindes als Friede-Fürst bezogen. 83 Auch für Nikolaus Hartprecht dürfte der Jesajas-Text maßgeblich

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Zu ihm Lutze, Schulgeschichte (wie Anm. 12) S. 5 f. Gegen diese Verfälschung verwahrt sich Hartprecht gegenüber Glass und vor dem Konsistorium (vgl. im einzelnen ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 18a, 21 b ). Zu ihm Thüringer Pfarrerbuch (wie Anm. 19). Als Christoph Lapp Blanckenhainen. WS 1592 in Jena immatrikuliert (Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 1, bearb. Georg Mentz, Reinhold Jauernig, Jena 1944, S. 179), + 1632 (briefliche Mitteilung K.H. Becker, Sondershausen). Vgl. ThStAR K. S. Vllb N r . 225 Bl. 17* f. mit dem Brief Hartprechts an Glass vom 10. 1.1630 (ebd. Bl. 18® f.). Ebd. Bl. 15k f.; vgl. Lk 12,35-40; zur Zirkularpredigt als Mittel der Beaufsichtigung vgl. Herrmann, Kirchengeschichte (wie Anm. 5) S. 226. Vgl. Jes 9,5.6; zur Sache vgl. Günther List, Chiliastische Utopie und radikale Reformation, die Erneuerung der Idee vom Tausendjährigen Reich im 16. Jahrhundert, München 1973, S. 172-186; Flugschriften vom

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gewesen sein. Nicht von ungefähr zeigt sich seine neuerliche eschatologische Erregtheit unmittelbar, nachdem Kaiser Ferdinand II. am 6. März 1629 das Restitutionsedikt erlassen und eine rigide Rekatholisierung eingeleitet hat. Von ihr, wie jeder weiß, wird die Grafschaft nicht verschont bleiben und folglich auch nicht das Stiftsgut in Hohenebra 84 - von Gewissenszwängen noch gar nicht zu reden. So mag man verstehen, wenn mancher wünscht: Dein Reich komme, und dabei an ein sehr irdisches Reich Christi denkt. Nur wenig später, als der Löwe aus Mitternacht auf Usedom landet, werden sich, dank beharrlich betriebener Propaganda, chiliastische Hoffnungen mit der Person des schwedischen Königs verbinden. 85 Doch auch dann geben die Gleichgesinnten um Nikolaus Hartprecht ihre Vorstellung vom messianischen Kind nicht auf. Zu wichtig ist ihnen die Uberzeugung von den sündlosen Wiedergeborenen und deren heiligen Kindern, als daß sie nicht in ihren chiliastischen Gedankenkreis einbezogen würde. Im Grunde geht es um die auserwählte Nachkommenschaft, eine vielfach vorgebrachte Forderung seit der Väterzeit, die jetzt erst wieder in Johann Valentin Andreaes Christianopolis erhoben worden ist.86 Wer heiligmäßig lebt, zeugt ohne Wollust, und seinen Kindern, ehe sie geboren werden, legt er einen hohen Lebenssinn zu. Dieser proles electa-Gedanke, wie ihn Esajas Stiefel aufgreift, 87 muß für die Gräfin von Gleichen ganz gewaltig gewesen sein: Sie ist die letzte derer von HonsteinClettenberg und ihr Gatte Johann Ludwig der letzte derer von Gleichen. Daß gerade diese Ehe mit einem Kind, genauer: mit einem Sohn, gesegnet werde, wird um so inständiger gewünscht, je länger der Segen ausbleibt. Da mag sich eine fromme Frau wie Erdmuth Juliane durchaus als zweite Hanna sehen und das Gottweihen des Sohnes88 zeitgemäß abwandeln: der chialistische Gedanke des messianischen Kindes. Zudem wird sie im Laufe der Jahre so sehr vom Kinderwunsch beherrscht, daß sie sich vermutlich Schwangerschaften einbildet, gelegentlich das Kind in ihrem Leib sich bewegen spürt und selbst weinen hört und für eine glückliche Geburt in den Kirchen der Grafschaft Gleichen beten läßt. 89 Genau dies hat sich im Frühjahr 1629 ereignet, als Nikolaus Hartprecht dem Superintendenten von dem großen wunderwerck Gottes erzählt, woran zu zweifeln er um so weniger veranlaßt gewesen ist, als er die Gräfin nicht allein als ganz gottesfürchtig kennt, sondern auch als belesen in der Bibel und in anderen Büchern, als gebildet, klug und verständig. In theologischen Dingen weiß sie Bescheid, da kann sie selbstbewußt mit dem Superintendenten der gleichischen Herrschaft disputieren, ihm, wenn es sein soll, die Stirn bieten und dann in Anspruch nehmen, seine Lehre zu urteilen: Mir ist aber, erklärt sie, das Cavete, vnnd nicht Euch befohlen / daß ich ... fleissig auff Euch acht haben soll / ob ... Christus JEsus ... in Euch ... lebe vnd lehre.,0 Und daß dies so sei, verneint sie schließlich.

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Bauernkrieg zum Täuferreich (1526-1535), hg. Adolf Laube in Zusammenarbeit mit Annerose Schneider und Ulman Weiß, Bd. 2, Berlin 1992, S. 987. Vgl. Anm. 18. Vgl. im einzelnen Tschaupp, Deutungsmuster (wie Anm. 43). Zur geistesgeschichtlichen Einordnung des proles electa-Gedankens vgl. Dieter Fauth, Das Menschenbild bei Thomas Müntzer, in: Der Theologe Thomas Müntzer, Untersuchungen zu seiner Entwicklung und Lehre, hg. Siegfried Bräuer, Helmar Junghans, Berlin 1989, S. 44-46. Vgl. die Kritik bei Jakob Böhme, APOLOGIA, / / Betreffend / / Die Vollkommenheit des / / Menschen. / / . . . Amsterdam 1682 (-'Werke Bd. 10) S. 109-111 (Exemplar HAB 878.10 Th [2]). Vgl. 1 Sam 1. Vgl. Zacharias Hogel, Antiquitatum Erfurtensium (EvMin Msc 83 Bl. 444^); Reinhardt, Geschichte (wie Anm. 59) S. 59-61. Vgl. Verantwortungs=//Schreiben (wie Anm. 56) S. 87 f.

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Johannes Weber ist in ihren Augen kein rechter Prediger, trotz seiner grossen Studia und seiner hohen Doctorlichen Meinung, ja, all seine Wissenschaft, deren er sich rühmt, ist ihr letztlich verdächtig, weil sie ihn nicht zur Gotteserkenntnis leite.91 Doch wie will ein Doctor theologiae, der selbst keine Gotteserkenntnis besitze, andere zu ihr führen? Was sich hier ausspricht, ist nicht nur Kritik am Aristotelischen in der Theologie und an deren zum Selbstzweck werdender „Verwissenschaftlichung", sondern auch eine donatistische Denkweise, zu der sie sich ganz klar bekennt:92 Johannes Weber ist für sie nicht der würdige Pfarrer, von dem allein sie das Wort Gottes hören und die Sakramente empfangen will. Ein würdiger Pfarrer, wie sie ihn versteht, ist Nikolaus Hartprecht. Er ist jetzt, nach dem Tode Esajas Stiefels, der geistige Kopf des klein gewordenen Kreises.93 Allein er führt ihn nicht fort, er unterläßt vielmehr alles, was auch nur den Anschein eines Konventikels erwecken könnte; denn sein individualistischer Spiritualismus bedarf keiner Gruppengemeinschaft. Ihm ist immer nur um die persönliche Frömmigkeit zu tun gewesen, und lediglich diesem Frömmigkeitsverlangen folgend, hat er das Gespräch mit Gleichgesinnten gesucht und standesunabhängige, religiös orientierte Beziehungen gepflegt: zu dem Handelsmann Stiefel, dem Studenten Schlegel, der Gräfin von Gleichen . . . Sie ist es, die er nun, zu Beginn des Jahres 1630, als Patin seines Neugeborenen bittet. Das kann zu diesem Zeitpunkt, wo es auf Spitz und Knopf zu stehen kommt, nur als deutliche Demonstration verstanden werden. Salomon Glass, der gerade noch, nach der Aussprache in der Sakristei, einen neuen Unterredungstag in Anwesenheit des Archidiakons Hugo Schunk 94 angesetzt hat, sieht nun, daß privata admonitio nichts fruchtet. Überdies sagt der Pfarrer den Termin ab, vorgeblich, weil er sich um die vom Kindbett geschwächte Frau kümmern müsse, eigentlich aber, weil er der Disputation mit dem Superintendenten, der sich nicht Beichtveterlich vndt Brüderlich erwiesen habe, aus dem Wege gehen will.95 Salomon Glass unterrichtet nun den Kanzler, und beide befürworten eine Verhandlung vorm Konsistorium. 96 So nimmt die Sache ihren Lauf. Am 4. Februar steht Nikolaus Hartprecht vor den Konsistoriales.97 Auch der Kanzler ist da. Er nimmt anscheinend zuerst das Wort und wirft dem Pfarrer vor, daß er mit der als Stifelianerin berüchtigten Gräfin von Gleichen Umgang pflege und sie kürzlich ganz und gar zu Gevatter gebeten habe. Das, so der Pfarrer, wolle er rechtfertigen, weil er die Gräfin als eine Frau schätze, die sonderliche weißheit vnd Erkendtnis Gottes sowie ein recht Christlich leben vnd wandel auszeichne; er habe sich allerdings, was ihre naherwartete Niederkunft betreffe, in Irriges verstiegen, dies aber widerrufen, es tue ihm leid. Im übrigen sei das kein Grund, sie zu verachten und zu verunglimpfen. Man räumt ein, daß es principalis causa auch nicht um die Gräfin und die Gevatterschaft gehe, sondern um den Autor dieses Buches, und der Superintendent hält die Tractetlein hoch, die ihm der Pfarrer seinerzeit gegeben hat, und fragt ihn, ob er es als Göttliche warheit ansehe. Er bejaht. Freilich habe er es nie so gründlich gelesen, daß er alles wisse, auch enthalte es schwere vnd hohe reden, die

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Ebd. S. 186, 180. Vgl. ebd. S. 63-78 mit der für die lutherische Orthodoxie maßgeblichen antidonatistischen Position des 8. Artikels der Confessio Augustana (Bekenntnisschriften [wie Anm. 66] S. 62). Abgefallen sind Stiefels Schwester, deren Mann sowie Ezechiel Meth (vgl. Meder, Schwärmer [wie Anm. 1] S. 123). Zu ihm Thüringer Pfarrerbuch (wie Anm. 19); Lutze, Vergangenheit (wie Anm. 7) 101. ThStAR K. S. Vllb N r . 225 Bl. 18a f. (10. 1. 1630). Ebd. Bl. 17b, 19a (Vorladungsschreiben, 29. 1. 1630). Zum Folgenden ebd. Bl. 21 a -22 b (offizieller Bericht), 40 a f. (Hartprechts Darstellung).

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nicht leicht zu verstehen seien. Aber der Autor, Esajas Stiefel, sei ein frommer Christlicher auffrichtiger vnd Gottseliger Man gewesen, der ein Christlich vnsträfflich leben geführt habe, wie jeder zugeben werde. Sicher, bestätigt Salomon Glass, sei er christlich und fromm gewesen, doch habe er lästerliche Lehren verbreitet, denen er, Nikolaus Hartprecht, wohl auch anhänge, jedenfalls solle er sich klipp und klar äußern, und der Archidiakon bekräftigt: wie Christus vor Pilatus. Der Pfarrer ist entsetzt. Der Verdacht seiner Pfarrkinder im vorhinein, daß man ihm Fallen stellen wolle, scheint bestätigt. Es ist, als schicke man sich an, mit ihm nach heidnischer weise die paßion Christi zu spielen. Er verstummt. Er bittet lediglich um einen rechtlichen Prozeß und fürs erste um die Fragepunkte, auf die er innerhalb einer Woche seine Antwort in Schrift setzen wolle. Man gesteht es ihm zu. Dann darf er abtreten. Am 11. Februar wird er erneut einbestellt.98 Die Verantwortung, die er vorlegt, bezeichnet Esajas Stiefels dogmata als gemäß der Bibel, der Schriften Luthers und der Confessio Augustana. Zwei Stunden lang sucht man ihm nun das Gegenteil einzubinden, dann, da jegliche Einsicht ausbleibt, wird die Schlußsentenz verkündet: Nikolaus Hartprecht ist mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben. Doch der Pfarrer protestiert; er spricht von suspicion und zunötigung und bittet, man möge ihm Gelegenheit zur Rechenschaft geben, auch seine Pfarrkinder befragen oder die Predigtnachschriften lesen, die der Schuldiener seit Jahren anfertige, um gewiß zu sein, daß er nichts Unrechtes gepredigt habe. Es verfängt nichts. Das einzige, was er erreicht, ist die Zusage, sich auf einen Catalogus etzlicher falschen vndt Jrrigen lehrpuncten in deß Stifelij... Tractätlein äußern zu dürfen. Diesen Catalogus erhält er erst nach fünf Tagen, die Zeit für ausführliche Antworten, zumal die Fragen verwickelt sind, ist kurz, und so bittet er um Fristverlängerung. Gleichzeitig mahnt er noch einmal an, daß nach Recht und Billigkeit verfahren werde. Das sagt er auch dem Superintendenten, als er ihm später seine Verantwortung übergibt. Es ist zudem von Gott und dem Gewissen die Rede und vom alttestamentlichen König Joasch und dem Sohn des Priesters Jojada." Sieht sich der Pfarrer als zweiten Secharja? Zumindest darf er annehmen, daß den Grafen um Rechtlichkeit zu tun ist. Denn sie sind es, die einer Disputation in conventu pastorum gegenüber dem Konferieren im kleinen Kreis des Konsistoriums den Vorzug geben und dies auch anordnen.100 So hat die Verhandlung am 11. März eine bemerkenswerte Publizität, zumal außer den Pfarrern der Umgebung auch der Sondershäuser Schulrektor sowie der Kanzler Lapp und der Rat Heden101 zugegen sind. Eingangs fragt man Nikolaus Hartprecht, ob er sich zwischenzeitlich eines Besseren besonnen habe. Er sagt nicht ja und nicht nein und verweist auf seine Verantwortung,102 die man vorlesen und mit Christlichen hertzensaugen ansehen möge. Doch weder das eine noch das andere geschieht. Man befragt ihn stattdessen Punkt für Punkt, zitiert hier einen Satz und dort ein paar Wörter und wirft ihm vor, Luthers Schriften, die er auffälligerweise allegiere, völlig falsch zu verstehen. Gleichwohl kommt er zu Wort, und an einigen Stellen, wo es um das innere und äußere Wort Gottes, um die Wiedergeburt und um die proles electa geht, erhebt sich ein ganz kontroverses Gespräch, das schließlich aus Zeitmangel, wie es heißt, beendet wird. Ohnehin hat man klare Gewißheit: Pfarrer Hartprecht ist tief im Weigelianismo vnd Stifelianismo gefangen

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Zum Folgenden ebd. Bl. 2i'{. (offizieller Bericht), 41^ f. (Hartprechts Darstellung). Vgl. 2 Chron 24,17-27; ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 251-26i>, 27af. Ebd. Bl. 54». Zu ihm vgl. Leichenpredigt auf Hieronymus Christian Heden, Arnstadt 1668, E3 a f. (Exemplar Museumsbibliothek Sondershausen A 1668); Lutze, Vergangenheit (wie Anm. 7) S. 101. EvMin Msc 21 Bl. 15 a -63 b .

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und muß weiterhin suspendiert bleiben; doch sollen die Akten, damit er sich nicht übereilt fühle, einer theologischen Fakultät übersandt werden. Indes verstreichen Wochen, ohne daß dies erfolgt; denn der Superintendent, wie Nikolaus Hartprecht vom Hörensagen weiß, versieht seine Verantwortung mit vielerlei Vermerken, um ein unparteiisches Urteil von vornherein zu hintertreiben.103 Daß Salomon Glass darauf bedacht sei, glaubt er um so mehr, als es nicht das erste Mal ist, daß so verfahren wird, und deshalb suppliziert der Pfarrer von Hohen- und Thalebra an seine Landesherrn, sie mögen darauf achten, daß sein Schriftstück in unverfälschter Form an das Gutachtergremium gelange. Wenn das nicht geschehe, werde er selbst seine Position durch offenen Druck allen frommen Christen bekanntgeben und sich deren Hilfe versichern.104 Vorerst verbleibt das. Denn Anfang Mai sendet das Konsistorium alle Akten nach Wittenberg und erbittet den Urteilsspruch der theologischen Fakultät. Ende Juni liegt er vor: Nikolaus Hartprecht solle, so er seine irrige meinung zuerkennen und dauon abzulassen gesinnet und zum Widerruf gewillt sei, wieder zum Pfarramt zugelassen, ansonsten aber endgültig entlassen werden.105 Kanzler und Konsistorium wünschen, daß diese Sentenz vor vielem Volk verkündet werde.106 Ob es sich wirklich in ziemlicher Zahl einfindet, ist nicht zu sagen. Auf jeden Fall sind die Pfarrer der ganzen Unterherrschaft107, die gräflichen Räte und Kanzler Lapp in der Cruciskirche versammelt, wo Nikolaus Hartprecht das Urteil verlesen wird. Es mutet ihm merkwürdig an, daß der Brief, der den Urteilsspruch enthält, schon erbrochen ist, daß er ihm nicht gezeigt wird und daß er auch keine Kopie erhält. Aber das sagt er nicht. Er soll nur rotunde reden, ob er widerrufe oder nicht. Ein klares Nein. Er widerruft nicht; denn, so erklärt er, er sei sich keines Irrtums in seiner Verantwortung bewußt, bisher auch keines Irrtums aus der Bibel, den Schriften Luthers oder der Confessio Augustana überführt worden; selbst der Wittenberger Spruch mache keinen einzigen Irrtum namhaft, weshalb er in ihm einen Verstoß gegen jegliches Recht sehe und entsprechende Mittel einlegen werde. Wieder bezieht er sich auf sein Gewissen und bietet den Widerruf an, sofern ihn die Konsistoriales auf ihr Gewissen nehmen. Doch dies wollen sie nicht hören. Sie warten auf sein Revoco. Die häretische Hartnäckigkeit, die sie womöglich ein wenig verwirrt, bestätigt ihnen, wie wichtig es gewesen ist, daß die lästerlichen Lehren im Pfarrkonvent disputiert worden sind. Salomon Glass selbst hat es unternommen gehabt,108 anhand der Publikationen des Esajas Stiefel und der Verantwortung von Nikolaus Hartprecht eine systematisierende Zusammenstellung109 der verdechtigen vnd falschen phrasium zu erarbeiten und sie aus der Schrift zu widerlegen.110 Dabei hat er freilich einen Traktat zu Rate gezogen, der schon vor Jahren erschienen und den Einfaltigen Christen zur wamung gedacht gewesen ist: den Bericht Von Etlichen Lehrpuncten des calvinistischen Herborner Theologen Johann Piscator.111 Auch er hat seinerzeit Esajas Stiefels Lehrsätze unter dogmatischen Gesichtspunk-

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Zur etwas gewundenen Erklärung von Glass hierzu vgl. ThStAR K. S. V l l b Nr. 225 Bl. 54 a f. Ebd. Bl. 43». Ebd. Bl. 59» f. Zum Folgenden ebd. Bl. 6 1 a f . (offizieller Bericht), 6 3 a - 6 4 b (Hartprechts Darstellung). Das ergibt sich aus ebd. Bl. 81 a . Die Mitwirkung des Archidiakons ist wahrscheinlich (vgl. EvMin Msc 21 Bl. 95 a ). Gliederung in 7 Kapitel: Vom göttlichen Wesen, von der Schrift und dem Wort Gottes, von der Schöpfung, vom Sündenfall, von Christi Person und Amt, von der Wiedergeburt und Vereinigung der Gläubigen mit Christus, vom Reich der ewigen Vollkommenheit (ebd. Bl. 15a—63^). ThStAR K. S. V l l b Nr. 225 Bl. 54 a , 56 b . Johann Piscator, Bericht // Von // Etlichen Lehrpun=//cten / die Christliche Re-=//ligion betreffend / . . . Herborn o. Dr. 1623 (Exemplar HAB 1262 Th [4]); zu Piscator vgl. R G G Bd. 5, S. 386.

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ten geordnet, sie zitiert und anschließend widerlegt. Nichts anderes, nur in geringerem Umfang, hat jetzt Salomon Glass getan und über die Thesen disputieren lassen. Nikolaus Hartprecht, als Respondent vermutlich eine fahle Figur, unternimmt es im nachhinein, seinem Standpunkt Geltung zu verschaffen, indem er diffamiert und denunziert: der Superintendent - ein Calvinischer grewelgeberer. Dies nachzuweisen vergleicht er Punkt für Punkt der kommentierenden Glossen von Salomon Glass mit den entsprechenden Ausführungen des Herborner Calvinisten und stellt fest, wie beide in gleichstimmiger Einigkeit als irrig verdammen, was wahr sei. Außerdem widerspreche sich der Superintendent: In seinem Arbor vitae konstatiere er beispielsweise etwas, was er nun, in seinen Bemerkungen zur Verantwortung, einfach verwerfe. Und dies alles einzig und allein, um Psalm zwei zu treiben.112 Die Polemik herrscht indes nicht vor. Ganz im Gegenteil. Sie ist zumeist nur der Auftakt zu den dogmatischen Darlegungen. Dabei beginnt der Pfarrer stets mit den einschlägigen Schriftstellen, denen er mehrere, gewöhnlich knappe Luther-Zitate und gelegentlich Belege aus der Confessio Augustana oder aus der Konkordienformel sowie aus den Werken von David Chytraeus oder Martin Chemnitius folgen läßt. Andere Autoritäten, allenfalls Aurelius Augustinus, werden nicht namhaft gemacht. Und das aus gutem Grund: Geht es doch darum, sich dem Häresievorwurf zu entziehen und sich mit jedem Satz als orthodox zu erweisen; im übrigen ist sein Selbstverständnis durch und durch lutherisch geprägt. Insofern entspringt seine Berufung auf die anerkannten Autoritäten der Orthodoxie nicht nur geschicktem Kalkül, sondern seinem Bestreben, durch die praxis pietatis jedes Gläubigen zur wahren Kirche Gottes ohne flecken oder mntzel hier auf Erden zu gelangen.113 Denn seiner Meinung nach ist Luthers Anliegen, die Verbindung von Lehre und Leben, verdeckt worden; was das für den christlichen Glauben, wie er ihn versteht, letztlich bedeutet, zeigt der Pfarrer von Hohenebra mit Verweis auf Luthers Vorrede zum Römerbrief 114 - zweiundzwanzig weitere Luther-Zitate fügt er noch hinzu: Daher sagt Lutherusui ist hier und sonst die stehende Rede. Dabei werden Zitate nicht selten aus Sinnzusammenhängen herausgerissen, ganz abgesehen von Auslegungen, die den Einspruch des Konsistoriums erfahren, so daß dessen Vorsitzender schließlich zu spotten beginnt: Ja, wie Ihr Lutherum zu allegiren pflegett!ui Ahnlich ist es mit dem Bezug auf die symbolischen Bücher, die zu nichts weniger taugen als zu einem orthodoxen Schutzmantel um eine heterodoxe Lehre 117 - im Verständnis von Salomon Glass. Mit dieser demonstrativ dargetanen Dogmentreue ist Esajas Stiefel seinem späteren Schüler vorausgegangen, ebenso mit der nahezu aggressiven Ablehnung Caspar Schwenckfelds, Valentin Weigels und aller anderen „Enthusiasten". 118 Überhaupt fällt es schwer,

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EvMin Msc 21 Bl. 68 b . Die Schrift Arbor vitae ist bibliographisch nicht zu ermitteln gewesen. Ebd. Bl. 56 b -58 b , 57". Ebd. Bl. 54a f.; vgl. WA DB Bd. 7, S. 2-26. EvMin Msc 21 B1.67 b , vgl. auch 68 b , 73 b , 77 a f., 78" und passim. ThStAR K. S.VIIb Nr. 225 Bl. 48 b . Den Zusammenhang bezeichnet Luthers Auslegung von Ps 110 (ebd. Bl. 48» - 50 b , 54 b f.; WA Bd. 1, S. 690-710, 700-702). In der Auslegung folgt Hartprecht, wie auch sonst, Esajas Stiefel (vgl. Stiefel, APOLOGIA [wie Anm. 62] S. 99 f.). Vgl. die Einschätzung von Piscator, Bericht (wie Anm. 111) S. 90: Stiefel suche seine Lehr vnder dem mantel der Augspurgischen Confession zu besckfonen. Stiefel, APOLOGIA (wie Anm. 62) S. 31, 50, 127, 143; vgl. auch Verantwortungs«//Schreiben ( w l e Anm. 56) S. 125 f.; zu dem auf Luther zurückgehenden Begriff „Enthusiasten" vgl. Günter Mühlpfordt, Luther und die „Linken", eine Untersuchung seiner Schwärmerterminologie, in: Martin Luther, Leben, Werk, Wirkung, hg. Günter Vogler in Zusammenarbeit mit Siegfried Hoyer und Adolf Laube, Berlin 2 1986, S. 334 f.

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Unterschiede in den Ansichten von Esajas Stiefel und Nikolaus Hartprecht zu erkennen. Das liegt natürlich auch daran, daß der Pfarrer, die Tuba Temporis ausgenommen, zu keinem Zeitpunkt seine Auffassungen zusammenhängend dargelegt hat. Wahrscheinlich hat er dies nie gewollt. So erscheint er lediglich als ausgesprochener Apologet Esajas Stiefels; denn zu dessen Lehrsätzen wird seine Stellungnahme verlangt. Sie ist ein bewußtes Bekenntnis zu dem toten Spiritualisten als einem Mann Gottes. Was er in seinen autorisierten Schriften 119 kundgetan hat, wird von Nikolaus Hartprecht förmlich verteidigt.120 Neue Gedanken werden nicht entfaltet, nur neue Belege beigebracht, und dies namentlich bei den Hauptsätzen, etwa dem von der wesentlichen und persönlichen Vereinigung Christi mit den Gläubigen. Hier meint der Pfarrer gleichsinnig mit Esajas Stiefel, daß Christus secundum Esse in den Gläubigen, was heißt: in seiner heiligen vnbefleckten gemeine, wirklich wohne, wovon die Schrift, aber auch Luther zeugen, der nicht zuletzt unter Berufung auf Hilarius die natürliche und wesentliche Vereinigung des Leibes Christi mit uns betont 121 und festgestellt habe, daß der Christ nicht vmb des sacraments willen gemacht, ßondern das sacrament vmb des Christen willen eyngesetzt sei,122 weshalb, wenn Christus im Abendmahl persönlich v. gantz zugegen, er auch in seinen Gläubigen persönlich inwonend sein müsse. Ganz ohne Frage hat es Nikolaus Hartprecht verstanden, im Laufe der Auseinandersetzung seine Position zu befestigen. Die Zeit dafür gibt ihm die abrupte Amtsentsetzung. Als sie das Wittenberger Urteil bestätigt, berät er offenbar mit Gräfin Erdmuth Juliane das weitere Vorgehen. Sie zögert nicht, sich seiner anzunehmen. In einem Brief an Graf Anton Heinrich empört sie sich über das Verfahren, das schlimmer sei als bei Papisten, und sie droht, das Prozedieren publik zu machen, wenn dem Pfarrer nicht Recht geschehe.123 Der Graf antwortet anfangs gar nicht und dann, nachdem er gemahnt worden ist, nur kühl: Nikolaus Hartprecht habe ein ordentliches, öffentliches Verfahren bekommen, in dem alles recht und billig sei.124 Von Anton Heinrich, das ist deutlich, kann nichts erwartet werden. Trotzdem wendet sich Magister Hartprecht auch weiterhin supplizierenderweise an seinen Landesherrn 125 und bewegt zudem seine Pfarrkinder, dies ihrerseits zu tun. Sie sind dazu desto eher geneigt, als sie, einfeltige Leyen, die sie sind, nur sagen können, daß der Pfarrer den Weg zum Reich Gottes recht gelehrt habe, auf jeden Fall habe er weder fehl noch tadel, und sie wünschen sehr, ihn als Seelsorger zu behalten.126 Doch zu diesem Zeitpunkt, Mitte August 1630, sind schon zwei Amtsbrüder für den Kirchendienst in Hohen- und Thalebra ausersehen: Magister Sebastian Becke aus Trebra und Valentin Buhl aus Niederbösa. 127 Von beiden verspricht sich das Konsistorium, wieder 119

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Hartprecht bezieht sich auf die Tractetlein, die APOLOGIA, die Antwort, die Verantwortung und den Verlauf} (vgl. Anm. 61-63). Das schließt auch die erneute Zurückweisung falsch verstandener Auffassungen Stiefels ein, wogegen sich dieser selbst schon gewandt hat, etwa daß Christus eine kleine und eine große Person sei (vgl. EvMin Msc 21 Bl. 27 a f. mit Stiefel, A P O L O G I A [wie Anm. 62] S. 184 f.). Zum Folgenden vgl. EvMin Msc 21 Bl. 32 b -34 b . Hartprecht meint (mit Verweis auf £ 3 Germ Jen f . 414) Martin Luther, D a ß die Wort Christi ,Das ist mein Leib' noch feststehen (WA Bd. 23, S. 239). EvMin Msc 21 Bl. 33 b ; zitiert wird Martin Luther, Von beider Gestalt des Sacraments zu nehmen (WA Bd. 10,2 S. 20). ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 66 a -70 a . Ebd. Bl. 73 a -74 b , 81 a f., vgl. auch 88 1 und I30 a f. Ebd. Bl. 72a f. (16. 8. 1630). Ebd. Bl. 75a - 76a (16. 8.1630). Sebastian Becke + 1675 Hachelbich, 1622-1634 Pfarrer in Trebra, danach in Niederspier, 1639-1660 Pfarrer in Hachelbich (vgl. Thüringer Pfarrerbuch [wie Anm. 19]); zu Buhl vgl. Anm. 22.

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zurechtzubringen, was mitt verfiihrischer falscher lehr ... verderbet worden ist.128 Ende August hält der Pfarrer aus Trebra die Probepredigt. In die Kirche, wie vom Konsistorium verlangt, strömt das Volk. Danach fassen Caspar von Dacheröden und die Gemeinde ihr Urteil in Schriftform. Sie sind zufrieden. Die Gemeinde begrüßt es, daß wiederumb eine feine Gottfürchtige tüchtige vnd qualißcirte persohn bestellt wird und macht mit der Wortwahl wiederumb keinen Hehl, wie sie von ihrem vorigen Pfarrer denkt. - Doch Magister Becke tritt das Amt gar nicht an. Seine Gemeinde ersucht die Grafen, ihr den Pfarrer zu lassen. Tut sie das von sich aus? Oder ist es der Wunsch Sebastian Beckes? Immerhin ist er nach ausgehändigter Vokation beim Konsistorium vorstellig geworden und hat gebeten, sie wieder zurückzunehmen, und dies vielleicht aus Gewissensgründen; 129 denn vier Jahre später verläßt er die Pfarrei. - Berufen wird nun Valentin Buhl. Es geht alles Schlag auf Schlag:130 Am Dienstag erhält er den Auftrag zur Probepredigt, am Sonntag hält er sie, am Montag gibt die Gemeinde ihr Urteil, und tags darauf, am 21. September, hat der neue Pfarrer den Vokationsbrief in der Hand. Er verpflichtet ihn, wie das üblich ist, auf die Lehre gemäß der Heiligen Schrift sowie der symbolischen Bücher und auf ein vorbildliches Leben. Nikolaus Hartprecht aber wird aufgetragen, innerhalb einer Woche den Pfarrhof zu räumen. Anstatt dem nachzukommen, bezieht sich der Pfarrer fort und fort auf seine Götliche vocation, die gültig sei und nicht kassiert werden könne. 131 Er suppliziert an die Grafen, kompromittiert das Konsistorium, kolportiert Gerüchte: 132 Ringsumher erhebt sich eine merkliche Unruhe. Manch einer meint, was mit Magister Hartprecht gespielt wird, geschehe nur aus affecten des Kanzlers und des Superintendenten. Die Obrigkeiten, weltliche wie geistliche, geraten in Mißkredit. Sie müssen reagieren. Es geschieht umgehend und mit aller Entschiedenheit. 133 Für Donnerstag, dem 14. Oktober, wird im Saal des Sondershäuser Rathauses eine Verhandlung anberaumt, auf der eine endgültige Entscheidung getroffen werden soll. Zuerst berichtet der Superintendent über den ganzen Hergang, dann erhält Magister Hartprecht das Wort. Seine Briefe an die Grafen werden verlesen. Anschließend äußern sich, einer nach dem anderen, seine Amtsbrüder. Sie alle betonen, wie glimpfflich und Recht Väterlichen mit ihm verfahren worden sei. Um so unverständlicher sind die Lügen, von denen Salomon Glass spricht, und er befragt Valentin Buhl und die Heimbürgen aus Hohen- und Thalebra, um dies bestätigen zu lassen. Danach, ohne dem Beklagten Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben, wird ihm gesagt, daß er dieser offenbahren lugen wegen bis auf weiteres arretiert werde, und mit Handschlag muß er es geloben. Von Weigelianismus und Stifelianismus, überhaupt von Häresie, ist während der ganzen Verhandlung nicht die Rede gewesen. Darum ist es vor geraumer Zeit in conventu pastorum gegangen, als man sich vergeblich bemüht hat, den abtrünnigen Amtsbruder mit geradezu kollektiver Kraft zum Widerruf zu bewegen. Da er sich dem verweigert hat, will ihn das Konsistorium aus dem Kreis der Geistlichkeit ausschließen. Denn die Beispielwirkung, wenn ein Pfarrer als Stifelianer bekannt ist und unbehelligt bleibt, kann kaum kalkuliert werden. Ohnehin ist der Stifelianismus, wie bloß vertraulich eingestanden wird, in der schwarzburgischen Unterherrschaft schon ziemlich stark eingerißen,XM so daß es der Super128 129 130 131 132 133 134

ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 71a. Becke, so Hartprecht, sei in seinem gwißen so angst v. bange geworden (ebd. Bl. 1041). Zum Folgenden vgl. ebd. 96 b -100 b . Ebd. Bl. 107'. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ebd. Bl. 107 a -109 b (4. 10. 1630). Zum Folgenden ebd. Bl. 111a f., 110a f., 116M19 b . Ebd. Bl. 56 b . Allgemein zur Verbreitung vgl. Stiefel, Antwort (wie Anm. 63) S. 1, ders., A P O L O G I A (wie Anm.62) S. 17 f.

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intendent für geraten hält, anhand der von ihm zusammengestellten heterodoxen Lehrsätze eine Disputation des Pfarrkonvents anzuberaumen. 1 3 5 Gleichzeitig sucht er eine Handhabe, den Häretiker nicht als Häretiker, sondern als Intriganten und Injuranten belangen zu können: Nicht das Sondershäuser Konsistorium, sondern der Jenaer Schöppenstuhl hat zu urteilen; der Fall ist kein geistlicher, sondern ein weltlicher. 136 So soll der Magister Achtung und Ansehen verlieren. Denn der Spruch des Schöppenstuhls, der Anfang November verkündet wird, besagt, daß der Gefangene wegen der gegen das Konsistorium gerichteten Beleidigungen öffentlichen wiederruff leisten solle und mit ewiger verweißnus des Landes zu strafen sei.137 Zu diesem Widerruf kommt es nicht - vorerst. Der Gefangene wehrt sich dagegen, daß der Fall politisiert und dadurch das Eigentliche verdeckt wird: Geistliches m u ß geistlich geurteilt werden. Und er wünscht, daß alle Akten an eine freie christliche theologische Fakultät gegeben würden, auf daß durch den Heiligen Geist für Recht erkannt werde. 138 Allein es ist vergebens. Seine Supplikationen, die er in kurzen Abständen an die Grafen richtet, bleiben ohne Antwort. Es ist, als gingen alle Wetter über ihn hin, als wäre er nichts als ein schändlicher Fluch der Welt. 139 Ab und zu kommt man mit vorgefertigtem Revers, und man geht wieder, da er kein placebo singen will und die Unterschrift verweigert: Man vertraut der Zeit und den Gefängniskosten, die der Magister zu tragen hat. Und tatsächlich hat ihn die H a f t schon nach wenigen Wochen körperlich und geistig mürbe gemacht. Er willigt in den Widerruf, sofern die Konsistoriales vor ihrem Gewissen bekennen, daß das, was er verantwortet habe, falsch sei. Doch das tun sie nicht. Und so bleibt ihm nichts anderes als klein beizugeben, zu unterschreiben ohne Wenn und Aber und alles dem Herrn anheimzustellen. 140 Das geschieht am 14. November, auf den Tag genau nach vierwöchiger Custodie. 141 D a ß Nikolaus Hartprecht zu Kreuze kriecht, verwundert allenfalls angesichts seiner aufrechten Antworten in Konsistorium und Kirche, und seiner Appellationen an die Grafen. Sie hätten wahrlich mehr Festigkeit erwarten lassen. Doch genau genommen ist der Widerruf schon zeitig erwogen und auch angeboten worden, allerdings mit dem Vorbehalt, daß ihn die Herren des Konsistoriums auf ihr Gewissen nehmen. 142 Anders gesagt: Magister Hartprecht hätte, ohne diesen Vorbehalt, nur gegen sein Gewissen handeln können, und dies hätte geheißen: gegen seine Seligkeit. Dagegen hat er sich gesträubt.

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ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 56 b f., 54». Die gleiche Absicht verfolgt Johann Weber 1623 mit einer Disputation der Pfafferschaft in der Grafschaft Gleichen (Stiefel, Antwort [wie Anm. 63] S. 1 f.). Von Hartprecht klar erkannt: der status Controversiae ist mir gäntzlich verendert vndt auß meiner Geistlichen ein Weltliche Vrsach gesucht worden, weil man in Glaubens soeben an mich nicht kommen kan (ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 136a). Die „Kriminalisierung" des Falles dient auch dazu, den treibenden Kräften jegliches Unrechtsbewußtsein zu nehmen (vgl. hierzu Ulrich Bubenheimer, Streittheologie in Tübingen am Anfang des 17. Jahrhunderts, Versuch einer sozialpsychologischen Interpretation, in: Kirchliche Zeitgeschichte 7 (1994) S. 39 f.). ThStAR K. S. Vllb Nr. 225 Bl. 164b. Ebd. Bl. 126»-127»; vgl. auch 131-132», 124». Ebd. Bl. 124». Ebd. Bl. 138b. Ebd. Bl. 165» f. (Widerruf: Dank, daß auf öffentlichen Widerruf verzichtet wird; Entschuldigung für die dem Konsistorium angetanen Beleidigungen; Versicherung, mit der Familie die Grafschaft zu verlassen und nichts gegen das Konsistorium zu unternehmen; vgl. auch den etwas abweichenden Entwurf vom 4.11. [ebd. Bl. 129» f.]). Vgl. ebd. B1.42b, 61» f.

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Es ist durchaus lutherisch, wenn er festhält, was in seinem Christlichen gewissen... als recht vndgutt gilt und wenn er verurteilt, was einer Vergewaltigung des Gewissens gleichkommt: Νon est maior Tyrannis quam Conscientijs dominari.143 Aber das wollen die Konsistoriales gar nicht. Sie wollen, ebenso lutherisch wie er, seinem Glaubensirrtum mit dem Wort Gottes begegnen und ihn vom Widerruf als heilsam für seine Seligkeit überzeugen. Da er sich dem versagt, wird alles ins Weltliche verbogen. Um so mehr darf der Magister gewiß sein, das Recht für sich zu haben. Weil ihm aber wider Recht etwas angemutet wird, muß er es nicht mit Recht verteidigen. So gesehen ist die Unterschrift unter den Widerruf nichts wert.144 Nikolaus Hartprecht ist wieder auf freiem Fuß. Wohin er ihn lenkt, ist nicht bekannt. Mag sein, er und die Seinen dürfen, worum er gebeten hat, den Winter über in der Unterherrschaft bleiben; allein im nächsten Frühjahr, spätestens dann, müssen sie das Land verlassen. Vielleicht suchen und finden sie Aufnahme in der Grafschaft Gleichen. Doch eine Bleibe von Dauer, wenn sie hätte gewünscht sein sollen, können sie nicht erhalten: Im Jahre 1631 stirbt Johann Ludwig und mit ihm das ganze Grafengeschlecht. Die Gräfinwitwe zieht nun auf ihr Leibgeding nach Tonna, aber zumeist wohnt sie im unweit gelegenen Erfurt, und hier stirbt sie nur zwei Jahre später - auch sie die letzte ihres Geschlechts. 145 Der Tod, als sie noch Kind gewesen, ist im Haus ein- und ausgegangen, er hat ihr die Eltern und alle vier Geschwister genommen: erschütternde Erlebnisse, denen man zugestehen möchte, daß sie ihr Frömmigkeitsverlangen folgenreich geformt haben. Nun stirbt sie selbst ganz in der Stille. Ob Nikolaus Hartprecht an ihrem Totenbett steht, ist nicht zu sagen. Es könnte sein; denn seit genau einem Jahr, dem Sommer 1632, lebt er mit seiner Frau und den sieben Kindern in Erfurt. Er hat sich, kaum eingetroffen, sogleich an Herren des Evangelischen Ministeriums gewandt, an die Pfarrer Kromayer und Wallenberger,146 und versucht, von ihnen ein Zeugnis zu erlangen, das den Rat geneigt machen soll, ihm Aufenthalt zu gewähren. Offenbar hat es zwischen den Geistlichen mehrere Gespräche gegeben, in denen sich der Exulant durchaus dogmentreu erklärt, dies in ein Bekenntnis gebracht und zudem, vielleicht erbetenerweise, förmlich versichert hat, sich in puncto Religionis aller incommodarum phrasium enthalten zu wollen, kurz: nullus dubitans.w Er erhält das Zeugnis und wird zum Abendmahl zugelassen. Er wohnt nun, wahrscheinlich nicht zufällig, in der selben Pfarrei wie seinerzeit Esajas Stiefel und bekommt von dem selben Pfarrer, der den Schweriner vor wenigen Jahren christlich begraben hat,148 Brot und Wein gereicht: Augustinus Kromayer. Gleichwohl hält es der Rat für angezeigt, den Sondershäuser Superintendenten über all dies zu unterrichten und ihn zu fragen, ob das, was der Magister vorgebe, als vertrauenswürdig zu erachten sei. Salomon Glass verneint, zwar nicht klipp und klar, doch deutlich genug. Er verweist darauf, daß der Amtsentsetzte seine zweiffelhafftigk Rede stets mit der Augsburgischen Konfession und dem Konkordienbuch drapiert und solcherart Rechtgläubigkeit vorgetäuscht habe; erst in die Enge getrieben, habe er sich zum 143

Ebd. Bl. 42 b ; zum Folgenden Bl. 54». Vgl. zur ganzen Problematik die von Hartprecht sicher als handlungsleitend verstandenen Positionen Stiefels (Stiefel, A P O L O G I A [wie Anm. 62] S. 8 f.; ders., Verlauff [wie Anm. 61] S. 224-280). 145 Vgl. oben Anm. 59. 146 Zu ihnen vgl. Bauer, Theologen (wie Anm. 61) S. 123, 323; besondere Beziehungen scheint Hartprechts Äußerung, sie seien seine werthen förderer, nahezulegen (ThStAR K. S. Vllb N r . 225 Bl. 154''). 147 So die Zeugnisse Kromayers und Wallenbergers (ebd. Bl. 146a, 145a; Hartprechts Bekenntnis ebd. Bl. 143 a -144 a ). 14 ® Meder, Schwärmer (wie Anm. 1) S. 123; zu dem auf Luther zurückgehenden Schwärmer-Begriff vgl. Mühlpfordt, Luther (wie Anm. 118) 332-334. 144

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Stifelianismo bekannt, indem er viel zu tief verstrickt, als daß nicht zu fürchten sei, die Irrlehren würden über kurz oder lang wieder aufleben. Freilich, was politicam angehe, habe er allseits ein gutt lob gehabt 149 - ein Nachsatz, der dem regierenden Rat gewiß nicht zum Hauptsatz wird, der aber gewichtig genug ist, um dem Mann und seiner Familie nicht das Stadttor zu weisen. Im übrigen, so scheint es, will der vertriebene Pfarrer in seiner Kirche wirklich wieder Fuß fassen, und einige Erfurter Amtsbrüder schicken sich an, ihm dabei zu helfen, allen voran die Vertreter der einheimischen Reformorthodoxie: 150 Valentin Wallenberger und Augustinus Kromayer, denen Ende des Jahres 1632 der hochangesehene Matthaeus Meyfarth zur Seite tritt. Er, der seine genaue Gesellschaftskritik mit Forderungen nach Reform des Bildungswesens und der Kirchenzucht verbindet, wird nach Erfurt berufen, um die Universität im evangelischen Geist zu erneuern und den Lehrstuhl für Homiletik und Kirchengeschichte zu übernehmen. 151 Mit ihm wird Bartholomäus Eisner berufen, 152 ein etwas jüngerer, aber weitgereister Mann, der in Oxford und Cambridge studiert und die puritanische Erbauungsliteratur ebenso kennengelernt hat wie die reformierte Frömmigkeitsbewegung in Amsterdam und Leiden. Seit einigen Jahren ist er wieder in seiner Heimatstadt, Diakonus an der Barfüßerkirche und nun Professor für orientalische Sprachen. Später wird er zu einer visitationem domesticam raten und sich den Unbill der orthodoxen Pfarrer zuziehen, und als einziger Geistlicher wird er mit den Herren des sogenannten frommen Bürgertums 153 colloquia pietatis abhalten. Sie, die politisch Bestimmenden, werden dann auch dazu tun, daß er Senior des Evangelischen Ministeriums wird. Jetzt aber sind es diese reformgerichteten Kreise der Pfarrerschaft und Bürgerschaft, die sich bemühen, Magister Hartprecht auf den rechten Weg zurückzuführen. Aktenkundig wird dies im September des Jahres 1633. Um diese Zeit, nur kurz nach dem Tode der Gräfin Erdmuth Juliane, verfaßt der amtsentsetzte Pfarrer eine dogmentreue declaratio, begibt sich nach Jena und erbittet dort, wo er einst zum Magister promoviert worden ist, so etwas wie ein testimonium, um wieder zu einer Pfarrei zu gelangen. Man begrüßt dies, meint aber, daß zuerst der ganze Handel zwischen dem Pfarrer und dem Konsistorium beigetan werden solle, und gibt ihm zu diesem Zweck ein brieflein·, das bekommt er auch von seinen werthen förderern in Erfurt, so daß er sich nun zu einer ehrerbietigen Epistel an den Sondershäuser Superintendenten entschließt, in der er nicht nur um die Beilegung des Streits, sondern eben auch um ein Zeugnis ersucht, das zu seiner und der Seinigen wiederannehmung vnd beförderung dienlich sein möge. Eine verschrifft von des Superintendenten Hand würde im Himmel große göttliche Freude bereiten und in ihrer beider Herzen feuriger Christlicher Liebe Kohlen entzünden, wie sie auch ein Beispiel christlicher Verzeihung wäre, die Salomon Glass zum besonderen Christlichen Ruhm der Gottseligkeit gereiche. Zwingt zu solch einem Brief die Not? Es mag so sein. Zumindest bittet er den Superintendenten, sein und seiner vielen kleinen vnerzogenen kinderlein langwieriges Exilium vnd großes Elend Christlich zu hertzen zu nehmen. 154 Und um vor einer

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ThStAR K. S. Vllb N r . 225 Bl. 147 a -148 b . Zum Begriff vgl. Geschichte (wie Anm. 70) S. 6, 166 f. Im einzelnen Kleineidam, Universitas (wie Anm. 1) S. 4-6, 323 f. Zu ihm Bauer, Theologen (wie Anm. 61) S. 135 f.; Johannes Wallmann, Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert, in: Erfurt 742-1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, hg. Ulman Weiß, Weimar 1992, S. 405-409. Zu dem von Hartmut Lehmann in die Forschung eingebrachten Begriff vgl. Geschichte (wie Anm. 70) S. 130. ThStAR K. S. Vllb N r . 225 Bl. 155».

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Fehlbitte gefeit zu sein, bedient er sich als Briefboten seines Bruders, des Pfarrers in Steinbrücken.155 Doch dieser, so beredt er noch manches dargelegt haben mag, erreicht nicht mehr als die Vorladung des Verwiesenen, der sich stehenden Fußes auf dem Weg macht und Tage darauf vorgelassen und angehört wird. Er erklärt, daß er seine vorige Errores samt und sonders agnosciren vnd revociren wolle, sich vielmehr zur wahren Religion bekenne und, dies vor allem, in ihr verharren werde. Es klingt wie ein förmliches Versprechen. Nikolaus Hartprecht beteuert, daß er alles, was der Superintendent seinerzeit als cacodox verurteilt und was er als orthodox verteidigt habe, nunmehr auch verwerfe. Daraufhin muß er sich Punkt für Punkt erklären. Vielfach genügt es, wenn er es im Sinne einer Einräumung tut. Er spricht dann von vngewöhnlichen phrasis oder von einer vngewöhnlichen form zu reden und versichert, dergleichen nicht mehr gebrauchen zu wollen.156 Bei einigen Punkten ist er freilich zu akkuraten Aussagen genötigt: Er verneint den Dualismus zwischen innerem und äußerem Wort Gottes und bejaht das Schriftprinzip gemäß der Konkordienformel; er verneint auch, daß von heiligen gläubigen Eheleuten nur heilige Kinder geboren werden, und verneint, daß die wahrhaft Gläubigen sündlos seien. Nur bei einem Punkt, wo es um die wesentliche und persönliche Vereinigung der Gläubigen mit Christus geht, sagt er weder ja noch nein, sondern verweist auf den Unterschied zwischen unioni personali und der unioni spirituali Christi cum credentibus und bekundet, sich weiter informieren und unterrichten lassen zu wollen.157 Schließlich darf er abtreten. Daß die Konsistoriales seinen Ausführungen Glauben schenken, verlautet nicht. Zumindest Salomon Glass wird skeptisch geblieben sein. Er hat seinerzeit zu tief in Nikolaus Hartprechts Inneres geblickt, um nicht zu wissen: Ketzergeist bleibt Ketzergeist. So ist es auch bei seinem Lehrmeister, dem Waidhändler Stiefel, gewesen, der einige Male seiner Häresie abgeschworen hat und immer wieder zu ihr zurückgekehrt ist und sich zudem mit gesuchten Gründen ein gutes Gewissen gemacht hat. 158 Ist nicht zu fürchten, daß Nikolaus Hartprecht genauso handelt? Ja, kann es nicht sein, daß alles, was er jetzt unternimmt, lediglich der äußere Mensch tut, während er sein Inneres davon fern hält? Das ist doch die Art Stifelianorum et Weigelianorum!159 Auf jeden Fall bekommt der Amtsentsetzte das begehrte Papier nicht. Im Schwarzburgischen will man ihn offensichtlich nicht haben. Im Ernestinischen und in Erfurt denkt man aber anders. Vermutlich verspricht man sich einigen Effekt auf heimliche Häretiker, deren es in der ganzen Gegend genügend gibt, 160 wenn einer der namhaften Stifelianer, als der Nikolaus Hartprecht ringsumher ausgeschrieen worden ist, bekehrt wird und zur Kirche zurückfindet, ja, man möchte ihn auch wieder mit einem Pfarramt betrauen, wenn er sich zur Konkordienformel bekennt. Und das tut er. Wahrscheinlich hat es in den Wochen nach dem Termin im Sondershäuser Konsistorium Gespräche mit Erfurter und Jenenser Theolo-

Das ergibt sich aus dem Konsistoriumsprotokoll vom 24. 9. 1633 (ebd. Bl. 157 1 ). Vgl. ebd. Bl. 157 b , 158 a , 158 b , 159 b . 1 5 7 Ebd. Bl. 159 b . 1 5 8 Hierzu Stiefel, Verlauff (wie Anm. 61) S. 224-280. 159 Vgl. hierzu Johann Weber, Non dimittitur peccatum. / / Nisi restituatur ablatum. / / . . . Erfurt: P. Wittel (Drucker), J. Birckner (Verleger) 1622, A 2 b - A 4 b (Exemplar H A B 248.27 Th [14]) und Nikolaus Stenger, Wahrhafftiger vnd eigentlicher / / Bericht / / / was mit Ezechiel Mehten / / . . . / / vorgangen / . . . [Erfurt]: F. M. Dedekind 1644, Β3° f. (Exemplar F.vMin 9 an Eh 12a) jeweils mit direktem Bezug auf Weigel. 155 156

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Vgl. Nikolaus Zapf, Trewhertzige / / Wachterstimme / / / Wegen der / / . . . / / Einschleichenden / Weigeliani=//schen Mordbrenner; / / . . . Ulm: B. Kühn 1639, Vorrede Bl. 8 a (Exemplar Wissenschaftliche Allgemeinbibliothek Erfurt LA 8° 210); zu Zapf vgl. Bauer, Theologen (wie Anm. 61) 338 f.; vgl. auch Anm. 134.

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gen gegeben, in denen alles Dogmatische debattiert worden ist. Danach reist Magister Hartprecht noch einmal nach Jena, diesmal, um sein Bekenntnis abzulegen. In ihm verspricht er, sich in allen Articuln der Christlichen Lehr vnd glaubens nach der einigen Regul vnd Richtschnur der Bibel und des Konkordienbuches halten zu wollen und alle Ketzereyen vnd Jrthume, von den Arrianern bis zu den Metistares, welche man auch Stifelisten nennet, gänzlich zu verwerfen.161 In einem eigenen Artikel widmet er sich der wesentlichen Einwohnung, die er bislang vertreten und die ihn in Verdacht gebracht habe, er lehre eine Christißcation, was heiße, daß die Gläubigen ihre menschliche Natur und ihr menschliches Wesen ablegten und per transsubstantiationem in Christum oder Gott selbst transmutiret würden, doch solcher Confusion sei er nicht im geringsten zugetan, vielmehr wolle er mit dem Wort wesentlich nichts anderes verstanden wissen, als daß Christus secundum esse, das ist . .. realiter, warhafftig in allen gleubigen sei und das zu ihrem Seelenheil Nötige tue, sie solcherart auch mit seinem h. Geist selbst gegenwertig regiere, führe, ... schütze vnd erhalte, daß also Christus und seine Gläubigen auf diese Weise sehr wohl können vereinigt sein.162 Was hier statuiert wird, ist die unio mystica, die gegenseitige Kommunikation von Christus und Christianus, wie sie der Hamburger Hauptpastor Philipp Nicolai in beredten Bildern dargestellt hat163 - eine überaus tröstliche Vorstellung in zerstörerischen Zeiten zumal. Gegenstand des Konkordienbuches hat dieser Gedanke, der die lutherische Rechtfertigungslehre bereichert, noch nicht sein können; auch deshalb und weil Christologisches im Luthertum ohnehin am umstrittensten ist,164 hat der Exulant eine eigene Erklärung entwerfen müssen. Sie wird gebilligt.165 Johann Major und Johann Gerhard, der Rektor und der Dekan, zögern nun auch nicht mehr, das testimonium orthodoxias auszustellen und mit Brief und Siegel zu bekunden, daß sie Nikolaus Hartprecht ein Predigtamt nicht verwehren. 166 Doch daß er wirklich eins erlangt habe, muß bezweifelt werden; mehr noch, es scheint, als sei der Makel des Heterodoxen lebenslang an ihm haften geblieben. Seine Spur und die seiner Kinder verlieren sich, nicht aber die seiner Frau. Sie lebt später, als sie sich nach dem Tod ihres Mannes wieder verheiratet, in dem kleinen kursächsischen Ort Tennstedt. Jeder weiß, wer sie ist. Und an manchen Sonntagen, wenn Pfarrer Toppius über die entsprechenden Evangeliumstexte predigt, scheut er sich auch nicht, auf die Frau zu zeigen, die mit dem verfemten Pfarrer verheiratet gewesen ist und dessen Irrlehren immer noch anhängt, und sie hinwiederum unterläßt es nicht, von der Unschuld ihres verstorbenen Mannes zu reden und den Pfarrer fortwährend anzufeinden.167 Dann hat auch dies ein Ende. Nikolaus Hartprecht soll vergessen werden: Die Geschichte der schwarzburgischen Grafschaft, wie sie der Historiograph zu schreiben gedenkt, wird mit dieses ketzers namen nicht besudelt und nicht beschmutzt.168

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ThStAR K. S. VHb Nr. 225 Bl. 162 a . Ebd. Bl. 162 b . Vgl. Geschichte (wie Anm. 70) S. 129 f. Sparn, Krise (wie Anm. 65) S. 56-61. Eigenhändige Beglaubigung des „Bekenntnisses" durch die Dekane der theologischen Fakultäten in Jena und Erfurt, Johann Gerhard und Matthaeus Meyfarth (ThStAR K. S. VHb Nr. 225 Bl. 163 a ). Ebd. Bl. 169 a (17. 10. 1633). Im einzelnen hierzu ebd. Bl. 170 a (1659); gemeint sind die Predigttexte Mt 13,24-30 (5. Sonntag nach Epiphanias), Mt 9,35-38 (7. Sonntag nach Trinitatis) und Mt 24,15-28 (25. Sonntag nach Trinitatis); zu Andreas Toppius (1605-1677) vgl. Thüringer Pfarrerbuch (wie Anm. 19). ThStAR K. S. VHb Nr. 225 Bl. 170 a .

MICHAEL SCHIPPAN, BERLIN

Zwei Havelberger „Weigelianer" aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges Panthaleon Trappe und Johann Bannier

Panthaleon Trappe 1 und Johann Bannier stammten beide aus der gleichen Stadt, der alten Bischofsstadt Havelberg in der Prignitz, die unweit der Einmündung der Havel in die Elbe liegt und in der Geschichte radikaler reformatorischer Strömungen bisher kaum erwähnt worden ist. D e m Umstand, daß sie ihre Heimat in der gleichen Stadt hatten, ist bisher keine Bedeutung beigemessen worden. Es ist wenig wahrscheinlich, daß sie einander nicht gekannt hätten. Beide lebten zur gleichen Zeit. Trappe und Bannier durchlitten die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, der die Gegend um Havelberg so in Mitleidenschaft zog, daß dort die Bevölkerungsverluste außerordentlich hoch waren. 2 Zu dieser Zeit gingen so manche Dokumente unwiederbringlich verloren, die Auskunft über ihr Leben hätten geben könnten. Die Nachrichten über die beiden Havelberger sind spärlich. Die folgenden fragmentarischen Mitteilungen sollen weitere Nachforschungen über das Auftreten nonkonformistischer Denker der frühen Neuzeit in der Mark Brandenburg anregen. Trappe war ein Bürgermeister in seiner Heimatstadt. Bannier fristete seine Existenz als einfacher Handwerker. Er arbeitete als Schneider. Beide gerieten in Konflikt mit der lutheranischen Geistlichkeit. Trappe und Bannier wurden wegen ihrer eigenwilligen Ansichten angegriffen. Sie gerieten in den Verdacht, „Weigelianer" zu sein. Wie Günter Mühlpfordt schrieb, „mußten die Namen der radikalreformatorischen Denker Müntzer, Schwenkfeld, Valentin Weigel und Fausto Sozzini in der Feindterminologie Dominierender als Schmähwörter für Andersdenkende und Unbequeme verschiedenster Färbung herhalten" 3 . „Weigelianer" und „Weigelianismus" dienten als Sammelbegriffe „für alle möglichen heterodoxen und widerkirchlichen Richtungen", die allerdings keine tatsächliche staats- oder kirchenfeindliche Verbindung untereinander eingegangen seien. 4 Jeder, der im Zeitraum von etwa 1620 bis 1640 für Pazifismus und Glaubensfreiheit eintrat, sei des Weigelianismus verdächtigt worden, meinte Richard van Dülmen. 5

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Er unterschrieb selbst: „Pantaleon Trappe". Im Erstdruck einer seiner Schriften wird der Vorname abgekürzt: „Pantel Trappe". In der Literatur findet sich auch die Schreibform „Trapp". In der Prignitz waren im Jahre 1640, entsprechend dem Landreiterbericht, kaum mehr als zehn Prozent der Vorkriegsbevölkerung im Lande ansässig. Nur noch zwölf Prozent aller Feuerstellen seien in Havelberg wie in anderen Prignitzstädten bewohnt gewesen. Vgl. Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte, Stuttgart/New York 4 1979, S. 20 f. Günter Mühlpfordt, Schwenkfeld und die Schwenkfelder - ihr „Mittelweg" als Alternative. Von gewaltloser deutscher Radikalreformation zur amerikanischen Freikirche, in: Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Hg. Günter Vogler, Weimar 1994, S. 146. August Israel, M. Valentin Weigels Leben und Schriften. Nach den Quellen dargestellt, Zschopau 1888, S. 30. Richard van Dülmen, Schwärmer und Separatisten in Nürnberg (1618-1648). Ein Beitrag zum Problem des „Weigelianismus", in: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973) S. 108.

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Die Havelberg benachbarte Altmark und die Prignitz sollten auch die letzten Lebensstationen Gottfried Arnolds (1666-1714) werden. 6 Im Jahre 1705 wurde er Pfarrer in Werben, das, von Havelberg aus gesehen, neun Kilometer entfernt am westlichen Elbufer in der Altmark liegt. Zwei Jahre später ließ sich Arnold in dem ebenfalls in der Nähe Havelbergs gelegenen Prignitzstädtchen Perleberg als Pfarrer nieder. Am 30. Mai 1714 führte eine in der Literatur oft erwähnte Begebenheit zu seinem frühen Tode: Soldatenwerber des Preußenkönigs drangen während des von Arnold abgehaltenen Pfingstgottesdienstes in die Kirche ein, entführten einige junge Männer, und der darüber entsetzte Prediger konnte sich von seinem Schrecken nicht mehr erholen. 7 Trappe und Bannier zogen die Aufmerksamkeit Gottfried Arnolds auf sich, der von ihnen im dritten und vierten Teil seiner „Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie" als „Zeugen der Wahrheit" berichtete und sogar eine längere Mahn- und Rechtfertigungsschrift Panthaleon Trappes ungekürzt abdruckte.8 Günter Mühlpfordt meinte, daß die „Unpartheyische" Historie Axnolds in Wirklichkeit eine „parteiliche Ketzerapologie" darstellte, „denn wer als Fürsprecher der - nach seiner Ansicht stets zu Unrecht - Unterdrückten und Verleumdeten für diese Partei ergreift, ist in seinen Augen unparteiisch" 9 . Für den Pastor Caspar Heinrich Starck (1681-1750) war die Beschäftigung mit dem Auftreten Johann Banniers in Lübeck ein Anlaß, in seiner 1724 erschienenen „Lübeckischen Kirchen-Historie" auch Arnolds geschichtliche Darstellung als eine „Lügen-Historie" anzugreifen, in der „Crethi, und Plethi zu eitel Zeugen der Wahrheit" aufgeworfen würden. 10 In seinem 1988 veröffentlichten Uberblick „Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1 5 5 0 - 1 6 5 0 " erwähnte Siegfried Wollgast erstmals seit langem wieder Trappe und Bannier im Zusammenhang mit Darlegungen über die „Wirkungskreise" der Schriften des Zschopauer Pfarrers Valentin Weigel (1533-1588) und dessen Anhängerschaft. 11 Ihr Lebensweg sollte sie von Havelberg weg in andere Städte Norddeutsch-

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Am 30. Mai 1992, dem 278. Todestag Gottfried Arnolds, hielt der Verfasser im Rahmen des von dem damals neugegründeten „Heimatverein Havelberg e. V." organisierten Havelberger Pfingstfestes einen Vortrag über P. Trappe und J. Bannier, in dem er auch den Autor der „Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie" würdigte.

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Vgl. jetzt Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Geschichte des Pietismus. Im Auftrage der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Hg. Martin Brecht/Klaus Deppermann/Ulrich Gäbler/Hartmut Lehmann. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 117 f; Gottfried Arnold (1666-1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714 Hgg. Dietrich Blaufuß/Friedrich Niewöhner, Wiesbaden 1995 ( - Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 61). Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie. Von Anfang des Newen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688, Frankfurt 1729, Ndr. Hildesheim 1967. Über Bannier wird berichtet im Abschnitt „Von Johann Bannier, Philipp Zieglern, ec" im III. Theil, Capitel X , S. 97 f. Im IV. Theil, Section III, Num. X I , S. 1090, wird Panthaleon Trappe als „Pantel Trapp" im Abschnitt „Mehrere zeugen der Wahrheit" an dritter Stelle nach Ludwig Friedrich Gifftheil und Lorenz Grammendorf (hier die Schreibweise: Lorentz Grammendorff) vorgestellt, als 57. Person (nach „56. Jacob Böhm, ein schuster aus Görlitz" und vor „65. Joh. Arnos Comenius") noch einmal, Johannes Banier", ebd., S. 1094. Der Abdruck der Schrift „Eine Christliche/beständige vnd gründliche Erklärung . . . " in: „Pantel Trappens lehre und schrifften" erfolgt ebd., Theil IV, Section III, Num. X I , S. 949-972.

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9

Günter Mühlpfordt, Gottfried Arnold als Apologet der byzantinischen Bogomilen, in: Ost und West in der Geschichte des Denkens und der kulturellen Beziehungen. Festschrift für Eduard Winter zum 70. Geburtstag, Berlin 1966, S. 166 f. Vgl. auch: Der Ketzerhistoriker Gottfried Arnold, in: Eduard Winter unter Mitarbeit von Günter Mühlpfordt, Ketzerschicksale. Christliche Denker aus neun Jahrhunderten, Berlin 1979, S. 191-196.

10

Caspar Heinrich Starckens Lübeckische Kirchen-Historie. Erster Band, Hamburg 1724, S. 758. Vgl. Siegfried Wollgast, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650, Berlin 1988 ( 2 1993), S. 522, 587, 787 (P. Trappe); S. 521, 577 f., 588 (J. Bannier).

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lands führen. Bannier gelangte auch nach Dänemark und Schweden. Sie lernten vorwiegend das nördliche Verbreitungsgebiet der lutherischen Konfession kennen. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Havelbergern bestand darin, daß sie von Johann Arndt (1555-1621) beeindruckt waren, dessen „Vier Bücher vom wahren Christentum" zuerst gerade in jenen Gebieten ihren Siegeszug antraten, die nach einer Beobachtung Wilhelm Koepps von den Ursprüngen des Luthertums weiter entfernt waren. An der Küste der Nordsee und in dem Landstrich von Braunschweig-Lüneburg bis Holstein, wo sich früh Kampfhandlungen des Dreißigjährigen Krieges abspielten, fanden die Werke Arndts einen besonderen Widerhall. 12 Ein Blick auf die geographische Lage Havelbergs und die weiteren Lebensstationen der beiden Havelberger erscheint als gerechtfertigt, weil er Aufschlüsse über die Ausbreitungsrichtungen nonkonformistischer Lehren vermittelt. In diesem Raum stellten Ströme wie die Elbe, die Oder und die Weichsel wichtige Nord-Süd-Verbindungen dar. An der Unterelbe, in Hamburg, starb Panthaleon Trappe im Jahre 1637. Johann Banniers Spuren lassen sich in dem an der Mündung der Weichsel gelegenen Danzig auffinden. Während Havelberg über die Elbe und die Havel mit anderen norddeutschen Territorien verbunden war, kam hingegen Ost-West-Landverbindungen in jener Region zu dieser Zeit weniger Bedeutung zu. In Berlin, das auf dem Wasserwege der Havel zu erreichen war, lebte Lorenz (Laurentius) Grammendorf (um 1575-1650), ein Freund Trappes. Drei Kilometer südlich der brandenburgischen Stadt Havelberg verlief die Grenze zum Erzbistum Magdeburg, das erst 1680 endgültig an Kurbrandenburg fiel. Die Traktate Valentin Weigels, die nach dem Tode des Zschopauer Pfarrers seit dem Jahre 1609 in Magdeburg und „Neustadt" erschienen waren, erregten dort großes Aufsehen. Namentlich „der gebildetere Theil des damaligen Publicums, vor Allem der Adel des Erzbisthums und der angrenzenden Landschaften begünstigte die Verbreitung weigel'scher Lehren mit großem Eifer", bemerkte Julius Otto Opel, der die Wirkung der Schriften Weigels mit dem Anklang Jacob Böhmes (1575-1624) verglich, der später „vorzugsweise unter dem schlesischen Adel seine Anhänger und Beschützer fand" 13 . In der Widmung des „Gnothi Seauton" werden der Magdeburger Domherr Christoph von Hünicke sowie die im Erzbistum beheimateten Adligen Wolfgang Spitznas Christoph von Göhren und Joachim Bernhard von Rohr erwähnt. 14 Die Wirkung Weigels reichte bis ins 18. Jh. Noch im Jahre 1700 ist die Verbreitung der Traktate Weigels im Erzstift Magdeburg durch landesherrliche Anordnung untersagt worden, 15 wie auch 1721 ein letzter kurfürstlicher Befehl an den Magistrat von Zschopau erging, „daß er Sorge tragen möge, die Postille und andere Schriften Weigels den Bürgern aus der Hand zu reißen" 16 .

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15 16

Wilhelm Koepp, Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum, Berlin 1912, S. 134, Erwähnung Panthaleon Trappes S. 139 (= Neue Studien zur Geschichte von Theologie und Kirche, N r . 13). Julius O t t o Opel, Valentin Weigel. Ein Beitrag zur Literatur- und Culturgeschichte Deutschlands im 17. Jahrhundert, Leipzig 1864, S. 81. Vgl. ebd. S. 108. Über J.B. v. Rohr, den Valentin Weigel einen „Liebhaber der warheit" nannte, vgl. auch Wollgast, S. 536 f., der Forschungen über ihn „für ein wesentliches Desiderat" hält. Auch in dem zum Erzbistum Magdeburg gehörenden Halle an der Saale erschienen im Zeitraum von 1609 bis 1615 Weigeliana, weil dort die Zensur nicht so streng gehandhabt wurde wie etwa in Wittenberg. Vgl. Ulrich Bubenheimer, Orthodoxie - Heterodoxie - Kryptoheterodoxie in der nachreformatorischen Zeit am Beispiel des Buchmarkts in Wittenberg, Halle und Tübingen, in: 700 Jahre Wittenberg. Stadt - Universität - Reformation. Im Auftrag der Lutherstadt Wittenberg hg. Stefan Oehmig, Weimar 1995, S. 265. Vgl.Opel, S. 223. Israel, S. 2.

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Die bei Havelberg gelegenen Flußübergänge zogen im Dreißigjährigen Krieg das Kriegsvolk an. Mehrfach wurde die Stadt von den verschiedenen Kriegsparteien besetzt. Ein gewaltiger Brand am 12. April 1627 war auf die Beschießung Havelbergs durch die in den Diensten des Dänenkönigs stehenden Söldner zurückzuführen. „Von der ganzen Stadt ist nur die Stadtkirche und der Bullenstall stehenblieben", bezeugte der Havelberger Pfarrer Joachim Blumenthal im Kirchenbuch. Bei den anschließenden Plünderungen „wurden alle Urkunden und Akten der Stadt vernichtet" 1 7 . Schon vor dem Dreißigjährigen Kriege hatte die Pest im Jahre 1611 in Havelberg und den eingemeindeten Bergsiedlungen 844 Todesopfer gefordert. 18 In den Leidensjahren 1626/27 kamen zu den Opfern der unmittelbaren Kriegshandlungen 668 Pesttote, 1631 waren es 227 - „Die Pest von 1631 wurde die schrecklichste des ganzen Dreißigjährigen Krieges" 1 9 - und 1636 nochmals etwa 200 Verstorbene. Diese beträchtlichen Verluste an Menschenleben, Flucht und Vertreibung veränderten die Zusammensetzung der Bevölkerung Havelbergs. Erst in dem am 1. Oktober 1628 begonnenen ersten Bürgerbuch der Stadt sind verläßliche Angaben über die Einwohnerschaft in 262 Wohnstätten überliefert. 20 Im „Ersten Viertel" (89 Wohnstellen), das bei der Langen Brücke begann, ist verzeichnet: „Panthaleon Trappe. Sei. (sp.) Rathsverwandter, eine braustedte". Die Eintragung wurde nachträglich vorgenommen; am 1. O k t o b e r 1628 lebten die aufgeführten Personen noch. Panthaleon Trappe hatte also in seinem Hause die Braugerechtigkeit inne. Der in dem Bürgerbuch im „Zweiten Viertel" (67 Wohnstellen) erwähnte „Dreas Möreke" war übrigens ein Vorfahre des Dichters Eduard Mörike ( 1 8 0 4 1875). 21 Im „Dritten Viertel" (60 Wohnstellen) schließlich lebten ein „Hans Trappe" als Inhaber einer Braustädte sowie ein , J o c h i m Bannier. Sei. braustädte", deren Verwandtschaftsverhältnis zu den hier behandelten Havelberger „Schwärmern" nicht geklärt werden konnte. Doch zeigen die Angaben, daß es sich bei Trappe und Bannier um Einwohner Havelbergs handelte, die in der Stadt verwurzelt waren. Die Geburtsjahre der beiden Havelberger „Weigelianer" ließen sich allerdings nicht ermitteln. Als der Kirchenhistoriker August Tholuck (1799-1877) seine Sammlung der Biographien von „Lebenszeugen der lutherischen Kirche" während des Dreißigjährigen Krieges herausgeben wollte, wandte er sich an den Superintendenten Kuntzemüller in Havelberg mit der Bitte, ihm Material über den Lebensweg Panthaleon Trappes herauszusuchen. D o c h auch Kuntzemüller konnte nur mit der Auskunft dienen, daß Trappe, „ein unstudierter Rathsmann", vermutlich 1637 in Hamburg gestorben sei. Im Jahre 1859 gab Tholuck die damals bekannten Angaben über den Havelberger Bürgermeister, die sehr spärlich waren, und in aller Kürze den Inhalt seiner Schrift „Christliche beständig und gründliche Erklärung . . . " wieder. 2 2 Aus einem im Brandenburgischen Landeshauptarchiv aufbewahrten Band mit „Rats-Sachen" geht nun folgendes hervor: Im Jahre 1621 leistete Panthaleon Trappe in Havelberg

17

Karl H . Lampe, Die Neubürger der Stadt Havelberg nach den ältesten Bürgerbüchern vom Jahre 1628— 1800, in: Familiengeschichtliche Blätter (1932) S. 61.

18

Vgl. diese und die folgenden Angaben in: Gerald Christopeit, Havelberger Familiennamen, in: Zwischen Havel und Elbe. Heimatheft des Kreises Havelberg 6 (1986) S. 47.

"

Fritz Schroer, Das Havelland im Dreißigjährigen Krieg. Ein Beitrag zur Geschichte der Mark Brandenburg. Ergänzt und hg. Gerd Heinrich, K ö l n / G r a z 1966, S. 129.

20

Vgl. die folgenden Angaben in: Lampe, S. 66 f., 1 2 5 - 1 2 7 ; Christopeit, S. 4 7 - 4 9 .

21

Vgl. Herbert Stertz, Eduard Mörike - ein Havelberger? in: Zwischen Havel und Elbe. Heimatheft des Kreises Havelberg 6 (1986), S. 5 1 - 5 5 . Vgl. August Tholuck, Lebenszeugen der lutherischen Kirche aus allen Ständen vor und während der Zeit des dreißigjährigen Krieges, Berlin 1859, S. 4 4 8 - 4 5 2 .

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den Bürgermeister-Eid. 23 Im nachhinein, in den dreißiger Jahren des 17. Jh., wurde festgehalten: „Des 19 Januarij a d 1621: Seint Panthaleon Trappe und Claus Dale eligiert und zu Raths Persones erwehlt". 24 Am 20. März 1629 legten die Bürgermeister Zacharias Berckholtz und Paul Block den Eid ab, nachdem sie „einhelligk erwählet" wurden und sie der Kurfürst von Brandenburg konfirmiert hatte. 25 Am 19. Dezember 1631 trat der Rat der Stadt Havelberg zusammen, um über Finanzfragen zu beraten. An vierter Stelle unterzeichnete „Pantaleon Trappe". 26 Am 25. Januar 1634 wurde zu den drei Bürgermeistern noch eine Person „eligiert", die der vierte Bürgermeister sein sollte - „und die Vota auf Herrn Pantaleon Trappe gefallen sein". Man kam überein, mit vierteljährlicher Abwechslung zu amtieren. Für das vierte Vierteljahr war nach Johann Herwig, Paul Block und Zacharias Berckholtz dann „Pantaleon Trappe" als Bürgermeister vorgesehen. 27 Schließlich wurde in dem Ratsbuch der Tod von Ratsmitgliedern festgehalten: „Ao. 1636 am 7. Novemb. Ist B. Johannes Herwig alhier gestorben. Ao. 1637 am 20. Febr. Ist B. Pantaleo Trappe in Hamburgk, wo selbst er wegen des Kriegeswesens sich aufgehalten, gestorben." Als nächsten ereilte am 12. Oktober 1641 den Bürgermeister Paul Block ebenfalls in Hamburg der Tod.28 Nunmehr kann man zwar Trappes Todesjahr 1637 und den Sterbeort Hamburg als bestätigt ansehen, doch fehlen weiterhin wesentliche Nachrichten über die Biographie des Havelberger Bürgermeisters. Panthaleon Trappe hat in seinen Ansichten eine Entwicklung durchgemacht, die allerdings aus Mangel an Quellen nur schwer nachzuvollziehen ist. Er verdankte seine „Erweckung" dem bereits erwähnten Lorenz Grammendorf, den er zunächst von seinem „vermeynten enthusiasmo" bekehren wollte. Jedoch wurde der Havelberger von Grammendorf selbst „gerühret" 29 . In der von Friedrich Breckling (1629-1711) überlieferten Liste von „Zeugen der Wahrheit", die Gottfried Arnold mit gewissen Veränderungen in seiner Kirchen- und Ketzerhistorie wiedergab, 30 wird Grammendorf an zweiter Stelle genannt. 31 Er war Kammergerichtsadvokat in Berlin und hatte viele Zeugnisse von der 23

24 25 26 27 28 29 30

31

An 14. Stelle unterzeichneten dort: „Pantaleon Trappe Mpp. Ao. 1621 Claus Dal Mpp." [Mpp. = „manu propria" - M.Sch.] Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Pr.Br. Rep. 8 Stadt Havelberg, Rats-Sachen, 142 I, N r . 4, STATUTA und Satzungen Eines Erbarn Wohlweisen Raths dieser Stadt Havelbergh verfast, vollzogen und angenommen im Jare nach Christi Geburt: 1615, Bl. 31. Es folgt dann auch die Eintragung jenes „Andras Möreke", eines Vorfahren Eduard Mörikes. Ebd., Bl. 89. Ebd., Bl. 91. Ebd., Bl. 81. Ebd., Bl. 83-83 v. Ebd., Bl. 92 v. Vgl. Arnold, Th. III, Capitel X, S. 108. Ohne die Hilfe Brecklings „wäre das staunenerregende Werk des 32 bis 33jährigen Mannes einfach nicht möglich gewesen". Martin Schmidt, Gottfried Arnold - seine Eigenart, seine Bedeutung, seine Beziehung zu Quedlinburg, in: Ders., Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969, S. 332 (« Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2). Allerdings war Breckling schließlich nicht mit der Historie zufrieden, der befürchtete, daß die Bücher „mehr schaden als nützen werden". Zit. in: Theodor Wotschke, Der märkische Freundeskreis Brecklings, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 23 (1928), S. 135. Vgl. Wotschke, S. 137 f.

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„ W e l t - B a b e l u n d i h r e m F a l l " d r u c k e n lassen. N a c h seinem Tode sei d e m v o n der G e i s t l i c h keit verfolgten G r a m m e n d o r f z u n ä c h s t das christliche B e g r ä b n i s versagt w o r d e n , d o c h habe der Kurfürst v o n B r a n d e n b u r g eingegriffen u n d i h m u n d seiner F r a u die B e s t a t t u n g auf d e m r e f o r m i e r t e n F r i e d h o f e r m ö g l i c h t . 3 2 D i e Titel einiger Schriften G r a m m e n d o r f s lassen erkennen, d a ß seine Kritik der Geistlichkeit galt: „ W e h k l a g e n über die H i r t e n der H e r d e G o t t e s , nebst einer A p o l o g i e w e g e n des a b g ö t t i s c h e n H e u c h e l - u n d L ü g e n w e r k s der falschen P r o p h e t e n , Mietlinge u n d B u c h d i e n e r . D a ß die P r e d i g e r m i t ihren P r e d i g e n u n d B ü c h e r s c h r e i b e n so w e n i g F r u c h t schaffen. O h n e O r t , 1 6 4 9 " . 3 3 G r a m m e n d o r f b e k a n n t e sich in Berlin öffentlich z u den A n s i c h t e n des aus O s t e r r e i c h s t a m m e n d e n „ S c h w ä r m e r s " J o h a n n P e r m e i e r ( 1 5 9 7 bis etwa 1 6 4 3 ) , der m i t einer fiktiven „ C h r i s t k ö n i g l i c h e n T r i u m p h s g e s e l l s c h a f t " o d e r „Societas regalis Jesu C h r i s t i " die W i e d e r g e b u r t d e r K i r c h e , eine „ G e n e r a l r e f o r m a t i o n u n t e r m H i m m e l , u n d die D e s t r u k t i o n des irdischen W e l t r e i c h s " in die W e g e leiten w o l l t e . 3 4 G r a m m e n d o r f habe, so ist in A r n o l d s H i s t o r i e zu lesen, d e n H a v e l berger P a n t h a l e o n Trappe z u d e m aus W ü r t t e m b e r g s t a m m e n d e n L u d w i g F r i e d r i c h Gifftheil ( 1 5 9 5 - 1 6 6 1 ) g e b r a c h t . M i t seinem B r u d e r u n d seiner F r a u habe G r a m m e n d o r f d e m Gifftheil „ t r e u l i c h bis in den T o d b e y g e s t a n d e n " , a u c h P a n t h a l e o n T r a p p e habe d e m W ü r t t e m b e r g e r „ h e r n a c h bis in d e n t o d gedienet, u n d a u c h m i t seinen gütern in f o r t p f l a n t z u n g der Wahrheit b e y g e s t a n d e n " . 3 5 D i e 1 6 3 7 in H o l l a n d g e d r u c k t e Schrift Trappes „ E i n e christliche /

beständige v n d

g r ü n d l i c h e E r k l ä r u n g " 3 6 (im folgenden k u r z : „ E r k l ä r u n g " ) w u r d e s c h o n v o n G o t t f r i e d

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Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlob Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico, worin die Schriftsteller aller Stände nach ihren vornehmsten Lebensumständen beschrieben werden, von Johann Christoph Adelung. Zweiter Bd: C - J. Leipzig 1787, unveränderter Ndr. Hildesheim 1960, Sp. 1571. Adelung, Fortsetzung und Ergänzungen, Sp. 1571. Weitere Werke Grammendorfs: „Erkändtniss der Zergehung dieser vierdten Monarchie Dan. 2 et 7 und wie das Gericht Gottes auff die Völcker dringet. Anno 1627"; „Error triunus, das ist Drey einiger schrecklicher und gefährlicher Irrthumb derer Evangelischen und Gewaltigen in Deutschland/so da müde sein in Angst zu ihren zeitlichen und ewigen Verderben/in Finsternuss irre gehen. Esaia 8 Psalm 82. Gedruckt zu Bitterfeld/von Aurelio Güldenstern Anno M D C X X X " . Vgl. Arnold Schleiff, Selbstkritik der lutheranischen Kirchen im 17. Jahrhundert, Berlin 1937, S. 193 (= Neue Deutsche Forschungen. Abteilung Religions- und Kirchengeschichte, Bd. 6).

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Nachdem Permeier im Jahre 1634 in Berlin dem Kurfürsten von Brandenburg ein Schreiben eingereicht hatte, in dem er sich als „Director et Primarius der Christköniglichen Triumphsgesellschaft" vorstellte, die 24 „Assessores" habe, darunter auch den Berliner Hofprediger Bergius (der aber in Wirklichkeit nicht dazugehört haben wird) sowie Lorenz Grammendorf, bekannte sich letzterer am Neujahrstage 1635 in einem Brief an den Berliner regierenden Bürgermeister Reichardt als ein Anhänger dieses Propheten. Der Brief enthielt mehrere Beilagen, die in der Stadt verbreitet werden sollten. Grammendorf wollte damit nichts weniger bewirken, als die Menschheit von der „Verwirrung der babylonischen Verkoppelung" durch „die neue wesentliche Geburt Christi" zu erlösen. Die Berliner Geistlichkeit ließ eine Gegenschrift erscheinen und klagte beim Konsistorium, doch wiederum schritt der Kurfürst mildernd ein, der es nicht zum Ausbruch religiösen Haders in Berlin kommen lassen wollte. Als Reaktion auf eine Fastenpredigt des Berliner Geistlichen M. Lilie kam es am 15. März 1635 zu einer Disputation zwischen Permeier und den reformierten Geistlichen im Dom, bei der Permeier unterlag. Vgl. Eberhard Faden, Berlin im Dreißigjährigen Kriege, Berlin 1927, S. 190 f. (Da Faden - ohne Belege - unmittelbar aus den Akten zitiert, ist es schwierig, die Zusammenhänge zu rekonstruieren); Richard van Dülmen, Prophetie und Politik. Johann Permeier und die „Societas regalis Jesu Christi" (1631-1643), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41 (1978), S. 417-473; Martin Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, in: Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Hg. Martin Brecht/Klaus Deppermann/Ulrich Gäbler/Hartmut Lehmann. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 220.

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Arnold, Theil IV, Section III, S. 1090. Eine Christliche/beständige vnd gründliche Erklärung Auff die schweren Beschuldigungen/so heuten ohn vnterscheid/so wol über die rechtschaffene ware Glieder JEsu Christi/als auch vber meine nichtige

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Arnold als „überaus seltsam" bezeichnet, 3 7 war also ein „überaus seltener Traktat" 3 8 . In diesem wie in vielen anderen Fällen boten die Niederlande eine Druckmöglichkeit, die im Verlaufe des 17. Jh. auch zunehmend eine Zuflucht nonkonformistischer Denker wurden. Arnold gab die Schrift entsprechend der von ihm bevorzugten historischen Methode vollständig wieder, „die Quellen selbst in ihrem pro und contra zu Wort kommen zu lassen und das Urteil dann dem Leser anheim zu stellen" 3 9 . Er veränderte für seine Ausgabe der Schrift Trappes die Orthographie der 1637 gedruckten Fassung, namentlich die G r o ß - und Kleinschreibung, sowie die Grammatik. Die Sprache der 1637 erschienenen Fassung wirkt altertümlicher. Arnold versah seine Ausgabe mit Marginalien, die den Text gliedern und insgesamt lesbarer machen sollten. Auch wenn sie lediglich den Inhalt eines entsprechenden Absatzes zusammenfassen, lassen sie dennoch erkennen, auf welche Aussagen Trappes er besonderen Wert legte. „Ein Christ muß ein Geistlicher seyn" (S. 950) 4 0 , lautete eine Forderung des Autors, die Arnold hervorhob. In einer anderen Marginalie heißt es: „Aeusserlicher Gottesdienst ohne den innerlichen ist vergebens" (S. 960). Panthaleon Trappe erkannte allein den „inneren Gottesdienst" als den wahren Ausdruck des Glaubens an. Panthaleon Trappes „Erklärung" ist zugleich eine Rechtfertigungs- und eine Mahnschrift, gerichtet an die „wahren Mitglieder in Christo", die sich allen weltlichen Wortgezänks und Streits enthalten sollten. Jeder solle sich prüfen, ob er im wahren Glauben lebe und Christus in ihm fruchtbar sei, „in keinem Wege aber auf menschen (sie seind auch wes standes sie wollen) urtheile andere zu verketzern, zu verdammen oder zu verbannen anzufallen" (S. 949) suchen. Trappe wendet sich mit diesen Worten gegen die in den Glaubenskämpfen seiner Zeit vorherrschende Intoleranz. Wenn er fordert, „wilt du ein Christ seyn, so must du auch ein clericus oder Geystlicher seyn" (S. 950), dann wird seine Auffassung von einem allgemeinen Priestertum deutlich, das den geistlichen Stand überflüssig mache. Die These vom Abfall der Kirche bereits in frühchristlicher Zeit findet sich in die Bemerkung eingekleidet, wonach „die boßheit sich schon bey der Apostel zeit erreget, und wenig jähre hernach die Kirche Christi zu huren worden ist, wie Eusebius bezeuget" (S. 962).

Person also geführet werden/samb verachte ich (wie dessen die Weigelianer/Enthusiasten/Phantasten/ Neuwe Propheten ins gemein/vnd ein jeder insonderheit vnter disen Nahmen mit beschuldiget wird) die Heylige Schrifft/die Heylige Sacramenta/das ware Apostolische Predigampt/den Standt der Obrigkeit vnd alle andere Stände/vnd wartete nur auff sonderbare Raptus. Allen Christlichen Hertzen zur nachricht auffgesetzet/nebenst einem kurtzen Extract deß S. Johan A m t s Christenthumb: Durch Pantel Trappen/ gewesenen Burger zu Havelberg in der Marek vnd C h u r Brandenburg . . . Gedruckt in H o l l a n d t / 1 6 3 7 (Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle, Sign. 61 D 21. Die Schrift ist angebunden an: Mandat oder Befehl Gottes, Darinnen dem Glauben nach zu erkennen/Was man sich des obschwebenden verderblichen Kriegswesens halber gegen denselbigen zuvorhalten, welche nicht allein wider den Grund der heiligen Schrift, sondern gar nach der Macht und Wirckung des Satans kriegen. Gedruckt im Jahr 1626. Auf dem Titelblatt findet sich der Besitzvermerk: „Lorentz G r a m m e n d . " [Lorenz Grammendorf]. In dem Band finden sich u. a. auch eine weitere Schrift von Panthaleon Trappe „Eine ernstliche treuwhertzige Warnung . . . " [vgl. Anm. 44] sowie ein Kriegs-Gebet aus dem Jahre 1640 mit dem handschriftlichen Vermerk: „Dies gebeth hat Ludwig Friderich Gifftheil drucken lassen und in gantz Deutschland ausgetheilet einmahlig Gott angerufen."). 37

Arnold, Theil IV, Section III, S. 949.

38

Tholuck, S. 448. Erich Seeberg, Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik, Meerane in Sachsen 1923, N d r . Darmstadt 1964, S. 231.

39

Im folgenden wird nach der Fassung „ N u m . X I I . Pantel Trappens lehre und schrifften" in Arnold, Th. IV, Sect. III, S. 949 ff. zitiert.

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Trappe dreht den Spieß gegen die „Ketzerriecher" der Orthodoxie um, indem er ihr Bestreben, alle, die nicht dem „äußeren Gottesdienst" folgten, als Abweichler und Häretiker zu entlarven, als ein Werk des Satans selbst kennzeichnet. Die „listige Schlange" bringe ihnen bei, „daß sie alles dasjenige, so mit dem gewohnten äusserlichen Gottesdienst nicht übereinstimmet, gantz für irrig und falsch halten müssen" (S. 951). „Darum alles, was sich ihnen opponirt, teuflisch, neulehrisch, verführisch, ketzerisch seyn muß" (S. 952). Die Schriftgelehrten faßten die Schrift „buchstäbisch" auf, doch müsse sie aus dem Geiste verstanden werden. Der Teufel zeige sich im äußeren Gottesdienst. Das Reich Gottes hingegen sei inwendig im Menschen zu suchen. Trappe wendet sich heftig gegen die Schriftgelehrten, gegen „steinerne Kirchen", „steinerne Priester" und eine „steinerne Gemeinde". Trappe nähert sich hier weigelianischen Ansichten. Er äußert Verständnis für den Separatismus: Wenn sich die Menschen vom äußerlichen Gottesdienste abwendeten, so geschehe dies nicht aus Haß gegen Gottes Ordnung, sondern „aus liebe, die menschen anzureitzen", daß sie sich nicht auf den äußeren Gottesdienst verlassen sollten. Doch schien ihm eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern, eine zweite Reformation, noch möglich zu sein, darauf will er mit seiner Mahnschrift hinarbeiten. Der wahrhaft getaufte Christ ersäufe in sich den alten Adam, während die Schriftgelehrten meinten, daß die getauften Christen Sünder seien und blieben. Panthaleon Trappe wendet sich hiermit gegen die Lehre von der Erbsünde. Im Verständnis der Sakramente wich der Havelberger beträchtlich von der in die Konkordienformel gefaßten lutherischen Lehrmeinung ab. Die „Ohren-Beichte" sei gotteslästerlich und wider das inwendige Reich Gottes. Aus dem Heiligen Abendmahl, dem „brüderlichen liebe-mahl", machten die Menschen ein „rechtes cyclopisches mörder-mahl" (S. 954), indem ein jeder ohne Prüfung seiner Sündhaftigkeit an ihm teilnehmen könne. Auch der Ehestand in Form gewöhnlicher „fleischlicher heyrathung, kinderzeugung" wird in Verbindung mit „schätzsammlung, trachtung nach der weit und ihren Wollüsten" (S. 968) als Abgötterei gebrandmarkt. Es wird noch zu zeigen sein, wie Johann Bannier, der Havelberger Landsmann Trappes, die Ablehnung der Ehe zu einem Hauptthema seiner Lehre machte. Der Obrigkeit wirft Trappe vor: „Aber ihr liebe Herren, sehet zu, wie ihrs zu verantworten habt, daß ihr eine solche trennung gemacht, und von dem stand der Obrigkeit das priesterliche Amt separiret, abgeschieden, und aus einem Stande zwey gemacht, und also eine vermeynte geistliche und weltliche Babel erbauet habet" (S. 965). Das Priesteramt sei königlich. Trappe fordert eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit. Unter der einen unteilbaren Obrigkeit sollten die Liebe und die Gerechtigkeit regieren. Die Herren der Obrigkeit, seine Zeitgenossen, müssten sich fragen lassen, ob sie ihre Untertanen wie sich selbst liebten. Eine zornige Obrigkeit werde von Gott gegeben, um das Volk zu strafen, das sich von der Liebe Christi abgewandt habe. Die Obrigkeit - „unsere Könige, Fürsten, Priester" - wird wie das ganze Volk angeklagt, Christus aus dem Innern ausgerottet, den „greuel der Verwüstung" angerichtet zu haben und mit „äußerlichem Gottesdienst" in Wirklichkeit Götzendienst zu betreiben. Trappe sucht sich aber gegen den Vorwurf zu wehren, den Stand der Obrigkeit aufheben zu wollen, wenn er „eine sehnliche und schmertzliche klage führen muß, daß es gar nicht in der weit zugehe, wie es Gott durch Christum in seinem liebes-reiche gern haben wolte" (S. 966). Durch seine Kritik an der Obrigkeit sah sich Trappe in den Verdacht einer Nähe zu den Ansichten Thomas Müntzers und seiner Anhänger gerückt. Der Autor der Mahnschrift greift selbst an, Müntzer und die „Münsteraner" von 1534/35 in damals üblicher Weise miteinander vermengend, und fragt: „Richtet selber, ihr Müntzerische gesellen, die ihr das schwerdt der obrigkeit zur erhaltung eures abgöttischen Gottesdiensts in die hände geprediget, und an allem vergossenen blut die schuld zuforderst habet und t r a g e t . . . O b

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ihr nicht eure wercke andern aufbürden wollet?" D o c h sieht er sich genötigt, gegen den Vorwurf an alle Kritiker der Zustände in der Welt aufzutreten, „ M ü n t z e r i s c h " zu sein: „Soll aber das Müntzerisch seyn, wann einer über den von euch angerichteten verkehrten zustand klaget, und dabey Gottes gerechtes so sonnen-klar in heiliger schrifft auch beschriebenes gerichte andeutet? so seynd N o a h , L o t h , Moyses, alle Propheten, ja Christus selber und alle seine Apostel insonderheit die Helden Gottes und Jer. 18. D a n . Esr. im 4. und Johannes in A p o c . ja Münsterisch gewesen?" (S. 966). M ü n t z e r oder die Münsteraner sind für Trappe falsche Propheten, und er grenzt sich von ihnen ab, indem er sich auf das Wort beruft, d a ß die „ M e n s c h e n - K i n d e r " der Obrigkeit G e h o r s a m schuldig seien, gleich o b sie böse und zornig oder gütig und liebreich sei. D e n n o c h m u ß t e den Wortführern obrigkeitlicher Interessen beim Lesen dieser Passagen höchst unbehaglich zumute werden, denn die Obrigkeit wurde insgesamt als schlecht angesehen, was freilich dem moralischen Zustand des Volkes insgesamt entsprach. D e r zu jener Zeit tobende Krieg hatte nichts mit einem „christlichen K r i e g " gemein, wie ihn Trappe verstand. D e r Autor der „ E r k l ä r u n g " sah - in durchaus traditioneller Weise - in dem Ausbruch des „großen Kriegs" den Willen Gottes, „mit krieg, pest und hunger innerlich und äusserlich, wie denn alle plagen Gottes hieher gehören" den alten Adam im Menschen zu ertöten, ihn zur U m k e h r und zur B u ß e zu bringen. E r unterschied den „heutigen K r i e g " von dem „krieg in rechter göttlicher f o r m " , beide k ö n n e man nicht miteinander vergleichen. „ D e n n christliche kriege werden schlechter dinges nach G o t t e s recht und gerichte zur erlösung der armen und elenden geführet, zorn-kriege aber zu bestraffung des Unglaubens, Ungerechtigkeit und abfalls von G o t t " (S. 967). D e r Dreißigjährige Krieg, dessen Ende Trappe nicht mehr erlebte, war ein „ Z o r n - K r i e g " . Jene, die in den „Steinkirchen" predigten und einen nur äußerlichen Gottesdienst ausübten, sollten abhalten von allen „wercken des fleisches, betrüglichen, gewinnützigen handeln, list, geitz, betrug, wucher, fündlein, practicken, scheinrecht, hoffart, Üppigkeit, stoltziren, zorn, feindschafft, hader, zancken, morden, rauben, plündern, huren, buben, schändieren, fressen, sauffen, überfluß treiben" (S. 967) - wie ein barocker Prediger prangert Trappe all die Laster seiner Zeitgenossen an. Trappe bekannte, „daß denjenigen, so Weigelianer insgemein genannt werden, . . . nie ins hertz k o m m e n , die heilige schrifft, das rechte wahrhafftige apostolische predigt-amt, die heilige sacramenta, die heiligen gemeine G o t t e s zu verachten, zu verwerffen und gäntzlich aufzuheben" (S. 963). E r verteidigte die Weigelianer wie auch J o h a n n Arndt, der ebenfalls als Weigelianer beschuldigt worden sei und festgestellt habe, d a ß niemand heilsam lehren könne, der nicht selbst heilig und gerecht lebe. 4 1 Das dritte Buch „Vom wahren C h r i s t e n t u m " des J o h a n n Arndt, das davon handele, wie ein „rechter Gottesgelehrter" beschaffen sein müsse, sei „den natürlichen schrifftgelehrten ein brandt im hertzen, und dorn in den äugen". Sie hätten es gern verworfen, „wenn sie sich für dem Volcke nicht fürchteten" (S. 970)! Bekanntlich setzte sich innerhalb der lutherischen Kirche die Linie der Integration des Arndtschen Werkes gegenüber der einer konfrontativen Auseinandersetzung mit ihm durch. Trappe grenzt sich von den Antitrinitariern ab, indem er dazu aufruft, sich „wider den

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Trappe beruft sich auf das 38. Kapitel des I. Buches vom wahren Christentum: „Das unchristliche Leben ist eine Ursache falscher verführerischer Lehre, Verstockung und Verblendung; und von der ewigen Gnadenwahl". Johann Arndt lehrt dort: „Reine Lehre, und ein unreines Leben stimmen nicht zusammen, haben keine Gemeinschaft." Hier in der Ausgabe: Herrn Johann Arndts Sechs Bücher vom Wahren Christenthum, Erfurth 9 1767, S. 196.

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subtilen Photinischen Irrgeist" sehr in acht zu nehmen. Christus sei „eines willens und sinnens mit dem vater" (S. 968). Die Schrift Trappes endet mit einer Vermahnung an zanksüchtige Disputanten. Sollte jemand wider sein Seelenheil noch Lust zum Disputieren verspüren, möge er sich an den 22 Fragen versuchen, die abschließend formuliert werden. Sie lehnen sich im wesentlichen an Arndts Gedanken über die „wesentliche Einwohnung" Christi in den Gläubigen an. Die Fragen können hier nicht ausführlich referiert werden, lassen aber erkennen, daß Panthaleon Trappe, wenngleich er nicht an einer Universität studiert hat, zu disputieren verstand und in Arndts von der Mystik beeinflußte Denkweise eingedrungen war. 42 Die schon im Titel der Schrift formulierten Vorwürfe gegenüber Trappe sind im Text der „Erklärung" keineswegs so entkräftet worden, daß die lutherischen Amtsprediger nunmehr befriedigt sein konnten, ganz im Gegenteil. Sie mußten sich angegriffen fühlen, wenn Trappe meinte, „ein wahrer Christ und ein natürlicher gelehrter Mensch" könnten sich ebenso wenig verstehen wie Himmel und Erde zueinander gebracht werden könnten (S. 964). Jene, die sich später mit der Schrift Trappes beschäftigten, sahen sein Hauptanliegen darin, eine Scheidung der Gläubigen von den Ungläubigen vorzunehmen, womit er ein Vertreter des Separatismus geworden sei. Panthaleon Trappe hinterließ noch weitere Schriften, die Friedrich Breckling bei sich aufbewahrte, so „Apologia, Ninivitische busse und andere tractaten" 4 3 . In dem im Vergleich zu der „Erklärung" wesentlich kürzeren Traktat „Eine ernstliche treuwhertzige Warnung", der erst 1660 in Amsterdam herausgegeben wurde, 44 wies Panthaleon Trappe darauf hin, daß Gott nicht nur ein liebender, sondern auch ein gerechter, ein strafender Gott sei. Gott sei die Liebe und der Zorn zugleich. Wie eine Fülle an Zeugnissen aus dem Alten Testament zeige, komme ein verzehrendes Feuer über die Verstockten oder Gottlo-

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Vgl. Edmund Weber, Johann Arndts vier Bücher vom wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenikdes 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung, Marburg 1 9 6 9 , 2 1978 ( = Schriften des Instituts für wissenschaftliche Irenik des Johann Wolfgang Goethe-Instituts Frankfurt am Main, II).

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Arnold, Theil IV, Section III, S. 1090. Mit der „Apologia" kann allerdings die hier vorgestellte Schrift „Eine Christliche beständige und gründliche Erklärung" gemeint sein. Die „Ninivitische Buße" bezieht sich auf den Propheten Jona, der den Einwohnern von Ninive voraussagte, die assyrische Stadt werde untergehen. „Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und ließen ein Fasten ausrufen und zogen alle, groß und klein, den Sack zur Buße an." Jona 3.

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Eine ernstliche Treuwhertzige Warnung/Einem iedwedern Frommen Christen in rechtschaffener Prüffung seiner selbsten darzu dienende/sich dem Glauben nach mit furchtsamb- und demütigem Gehorsamb zu verwahren/damit sich die Selbheit in der Vernunft unter einem falsch-geistlichen Schein der Liebe/ Luciferischer weise bey ihme nicht empor schwinge/GOTT/in dem Geheimnüß seines H E R Z E N S / s e i nem deßhalb jetzt schallenden Zeugnüß nach/zu seiner selbst höchsten Seelen gefährde/durch Ungöttliche frevele Vermessenheit zu tadeln/meistern oder rechtfertigen. Nebenst Gründlicher Aufflösung einer Christlichen Frage: O b nämlich ein rechter wahrer Christ auch G O T T könne anruffen/daß Er seine Gerechtigkeit wolle/wie ein verzehrendes Feuwer/über den verstockten/oder von ihm in einen verkehrten Sinn schon hingegebenen Gottlosen/ergehen lassen. Nach Göttlicher darreichung von einem in Christo seeliglich ruhenden getreuwen Zeugen und Bekennern der Göttlichen Warheit und Gerechtigkeit P.T. voor vielen Jahren auffgesetzet. Jetzt aber aus Christ-schuldigem absehen obangeregter höchst-nötiger Prüffung an den Tag gegeben durch J.F. M. Amsterdam/Gedruckt im Jahr 1660 (Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle, Sign. 76 D 5). Handschriftlich wurden auf dem Titelblatt die Initialen „P.T." aufgelöst als „Pantel Trapp" und , J . F . M . " als ,Joh. Friderich Münster". Von Münster berichtet Friedrich Breckling (und Arnold gibt die Mitteilungen in der „Ich-Form" wieder), er sei Sohn eines Doktors der Medizin und Professors in Gießen gewesen, habe sich als „amanuensis" zu Ludwig Friedrich Gifftheil begeben, ihm 28 Jahre treu gedient, bis er zu ihm, Breckling, gekommen und 1666 gestorben sei, worauf er in Zwolle in der Nähe des Grabes Thomas' a Kempis begraben worden sei. Vgl. Arnold, Teil IV,

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sen. Solle der Mensch nun, da ihm doch die Bergpredigt „Liebet ewre Feinde" gebiete, dennoch Gott anrufen dürfen, den Untergang der Gottlosen zu befördern? Da die Lästerung durch die Feinde Gottes auf das Höchste gestiegen sei, habe sich der Mensch, so antwortet Trappe, nun selbst zu prüfen, ob er von Christus regiert werde. Er müsse dann ein Feind aller Gottlosen und bereit sein, das Kreuz auf sich zu nehmen und Christus nachzueilen. Wenn ihn der Teufel anfechte, habe sich der Gläubige ganz nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift zu richten. Dies zeigt, daß Trappe die Schrift nicht als einen „toten Buchstaben" ansah, wie es die kirchlichen Polemiker den „Weigelianern" nachsagten. So meinte Johann Georg Walch (1693-1775), für Weigel sei die Schrift „ein todter Buchstabe". 45 Wie schon in seiner „Erklärung" fügte Trappe auch seiner „Warnung" Fragen an, die „im Geist wohl zu erwegen" seien. Die Frage, ob jemals ein Bote Christi so gehandelt habe, daß es „Vernunfftsbegreiflich" sei, wird verneint, denn Gottes Werke seien über alle Vernunft. Eine wahre Erkenntnis „ohne rechte Creutzähnligkeit JEsu Christi" könne es ebenfalls nicht geben, denn auch Christus mußte aller Welt „Narr/Thor/Spott/ ec." sein. Eine dritte Frage Trappes betrifft den gerechten Krieg: „Ob ein Krieg auß Gottes Befehl im Neuwen Testament nicht eben so wol für recht / als im Alten Testament zu achten?" Trappe antwortet: ,Ja: Dan GOTT ist heute so gerecht als gestern." Diese Antwort stimmt mit der zornigen Tendenz überein, die in der gesamten Schrift vorherrscht, denn immerhin verbindet sich bei der Erörterung des „gerechten Krieges" im Zusammenhang mit dem Neuen Testament gemeinhin in erster Linie die Vorstellung vom Gebot der Bergpredigt. Panthaleon Trappe war, so wird sichtbar, kein bedingungsloser Pazifist, wobei sich seine Betrachtungen in dieser Schrift nicht so sehr auf den großen Krieg der Menschen, dessen Zeitgenosse er war, richteten, sondern auf die gewaltsame Vertilgung der Gottlosen. Es wäre zu überlegen, ob sich hier vorwiegend Gemeinsamkeiten in den Ansichten Panthaleon Trappes und seines Gesinnungsgenossen Friedrich Ludwig Gifftheil erkennen lassen oder doch von beiden unterschiedliche Akzente gesetzt wurden. Gifftheil war „aus dogmatischen, humanen und weltgeschichtlich-theokratischen Gründen" 4 6 ein Kriegsgegner, ein „Antikriegs-Prophet" 47 . Er sah den Krieg im Widerspruch zu Jesu Gebot, als „Zeichen der vierten Monarchie" und als einen Versuch, in Gottes Gericht und in seine Weltregierung einzugreifen. „Vollends sinnlos aber ist es, nun gar ,wegen Erhaltung des Wortes Gottes' Krieg und Empörung zu erregen", 48 meinte Gifftheil. Dennoch erkannte er Kriege in den Fällen als „ultima ratio" an, in denen gegen „falsche Propheten" oder gegen den Kaiser gekämpft werden müsse, der einen ungerechten Krieg führe.

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Section III, Nr. XIIX, S. 1091. Die Schrift ist angebunden an: Facies regnis Coelorum. Sub seculi post Christum Natum, XVII. sinem Serenior. Amstelredam [Amsterdam] 1695. Auf dem Vorsatzblatt findet sich der handschriftliche Vermerk: „Allerhand Theosophische, und andere Streit-Piecy, meistens in Holland gedr. darunter Gichteis, Pantel Trappens etc. wie auch am Ende andere Miscell." Eine weitere Schrift Trappes „Eine herzliche Erörterung zu fernem Christgericht, Samt Nachdencken der frage: ob nemlich eine Veränderung in der Weld noch für dem Jüngsten tage zu erwarten" befindet sich in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, Chart. A 413, Bl. 327-325.). Johann Georg Walch, Historische und theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten außer der Evangelisch-lutherischen Kirche. Faksimile-Ndr. der Ausgabe Jena 1733-1736, Stuttgart 1972, Bd. I, S. 633. Ernst Eylenstein, Ludwig Friedrich Gifftheil. Zum mystischen Separatismus des 17. Jahrhunderts in Deutschland, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 41 (1922), S. 22; vgl. auch Siegfried Wollgast, Grundlinien oppositionellen weltanschaulich-philosophischen Denkens in Deutschland zwischen 1550 und 1720, in: Wegscheiden der Reformation (wie Anm. 3), S. 358 f. Vgl. Brecht (wie Anm. 34), S. 218 f. Zit. in: Eylenstein, S. 23.

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Schließlich stellt Trappe am Schluß seiner Schrift noch „vier andere Fragen", die ebenfalls das „Schwert", die Anwendung der Todesstrafe, betreffen, überläßt aber die Antwort dem Leser: O b eine christliche Obrigkeit die „Mörder/Ehebrecher und Gotteslästerer" am Leben strafen könne, wer es sei, der die Obrigkeit zu diesem „Rach-Ampt treiben muß", ob derselbe, der das Urteile fälle, auch für die Exekution zu sorgen habe und nunmehr für beides verantwortlich sei, und schließlich, ob derjenige, der die Exekution vollziehe, im göttlichen Amte stehen und gleichzeitig ein Christ sein könne. Freilich hatte Trappe bereits im Text seine Antwort gegeben: Wer Gott nicht lästern wolle, der solle nicht Reden der Art führen, „daß kein Christ ein Executor der Gerechtigkeit Gottes seyn könne". Als in Schweden der aus Havelberg stammende Schneider Johann Bannier hingerichtet wurde, mochten sich die urteilenden Richter und der das Urteil vollstreckende Scharfrichter kaum Fragen dieser Art vorgelegt haben. Er galt als ein gefährlicher Aufrührer wider die hergebrachte Ordnung. Eigene Schriften Banniers konnten bisher nicht eingesehen werden. Sie müssen bereits am Ausgang des 17. Jh. selten gewesen sein, denn schon Colberg und Arnold zitierten nicht mehr direkt aus ihnen. In seinem Buch „PlatonischHermetisches Christentum" 49 , der einzigen seiner sieben Schriften, die in deutscher Sprache erschien, 50 kritisierte Ehregott Daniel Colberg (1659-1698) die Auffassungen des Havelbergers. Auch zu Beginn des 18. Jahrhundert setzte man sich in Lübeck noch mit Bannier auseinander. 51 Während der Vernehmung durch den Lübecker Superintendenten Nikolaus Hunnius gab er selbst an: „Mein Nähme ist Johannes Bannier / von Havelsberg aus der Marckt bürtig: Ich bin meines Handwercks ein Schneider / hab das 14 Jahr getrieben / darnach mich zu Stargard in Pommern niedergelassen, alda ich 17 Jahr gelebet / und unterschiedene Aembter bedienet / bin Kirch-Vater 4 Jahre gewesen / An. 1617 bin ich von meinem Vater nach Hause beruffen." 52 1618 sei über Bannier die „Erleuchtung" gekommen. Nach Auskunft Colbergs habe der Schneider in Stargard als „gottloser Heuchler" noch vor seinem Abfall den Predigern Augsburger Konfession viel Verdruß bereitet, als „Praeceptor" selbst einen Geistlichen, den Prediger zu Stargard Gottschalk Bünting, verführt und dieser wiederum Bannier als „Amanuensis" gedient. Dann wurden sie gemeinsam auf Anordnung des Stargarder Rates angewiesen, die Stadt zu verlassen, es sei denn, sie hätten vom Ministerium in Danzig oder von der Theologischen Fakultät der Wittenberger Universität eine Bescheinigung vorzulegen, die ausweise, daß sie sich eines besseren bedacht hätten. 53 Ein solches Entlastungsschreiben erhielten sie aber nicht. Beide begaben sich nun, Bannier von Havelberg aus, nach Danzig und hielten dort in- und außerhalb der Stadt geheime „Winckelvermahnungen". 1620 wurden Bannier und Bünting auch hier als „Schwärmer" ausgerufen.

^ Das Platonisch-Hermetisches Christenthum/Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie unterm Namen der Paracelsisten/Weigelianer/ Rosencreutzer/Quäcker/Böhmisten/Wiedertäuffer/Bourignisten/Labadisten/und Quietisten/ausgefertiget von M. Ehre Gott Daniel Colberg/Professore Publico auff der Königl. Universität Greifswald. 2 Teile, Franckfurth/Leipzig 1690/1691. Der Ursprung all dieser Häresien ist, Colberg zufolge, „aus der schädlichen Vermengung der Philosophischen Lehren und des Worts Gottes" entsprungen (S. 2 f.). 5 " Vgl. Amano Carolo Vanselow, Gelehrtes Pommern, Stargard 1728, S. 18 f. 51 Ludwig Heller (Nikolaus Hunnius. Sein Leben und Wirken. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des siebzehnten Jahrhunderts, größtentheils aus handschriftlichen Quellen, Lübeck 1843, S. 84) erwähnt die Dissertation des fruchtbaren geistlichen Schriftstellers Georg Heinrich Goetze, Dissertatio historicotheologica, errores, quos Jo. Bannier, sartor Stargardiensis, Lubecae A. 1625 proposuit, exhibens et refutans, Lub. 1707 (Bibliothek der Hansestadt Lübeck, Sign. Goetziana 27,9, Ab 946). 52 Zit. in: Starck (wie Anm. 10), S. 940. 53 Vgl. Colberg, Teil 1, S. 227-229.

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Der Havelberger wandte sich, so berichtet Starck, nach Schweden.54 Er mußte inzwischen geheiratet haben, denn er zog dorthin, wo die Schwester seiner Frau wohnte. Bannier kam sechs Meilen von Stockholm entfernt bei einem Hammerschmied in Grimsholm unter. Mit seinem Wirt debattierte er über Johann Arndt. Der Pastor der schwedischen Gemeinde wurde auf Bannier aufmerksam, den er für einen Rosenkreuzer hielt. Nachdem Banniers Frau gestorben war, wurde sie ohne kirchliche Zeremonien begraben. Die schwedische Königin schickte den „Schwärmer" in Begleitung von Soldaten zu dem Staatsmann Johann Skytte (1577-1645), der ihn in Gegenwart der Reichs-Räte verhörte. Daraufhin erschienen deutsche Prediger, die Bannier vernahmen. Er wurde auch in Schweden als „Schwärmer" ausgerufen und mußte auf ein königliches Mandat hin das Land verlassen. Bannier zog nach Dänemark, wo er sich zunächst ruhig verhielt. Nachdem ein Druckergeselle ausgeplaudert hatte, Bannier sei zuvor aus Schweden verjagt worden, überreichte dieser dem Pastor von Helsing^r ein in 25 Punkte gegliedertes Bekenntnisschreiben. Als ein königlicher Befehl eintraf, auch Dänemark „zu weichen bei Leibes- und Lebens-Straffe", da wurden Bannier nach dessen eigener Darstellung „2Rhth. geschicket / weiß nicht von wem". Ein unbekannter Helfer hatte den Vertriebenen unterstützt. Ganz allein war Bannier noch nicht. Die Bilanz seines bisherigen Lebens sah düster aus: Er war sicher nicht mehr jung. Geistliche und weltliche Obrigkeit hatten sich verbündet, um ihn aus Stargard und Danzig, aus Schweden und Dänemark zu vertreiben. Johann Bannier hatte seine Frau durch den Tod verloren, ein richtiges christliches Begräbnis wurde ihr verweigert. Seine Häresie wurde in Schweden als derart ernste Abweichung vom rechten Glauben aufgefaßt, daß sich die Königsfamilie und führende Staatsmänner damit befaßten. 55 Am meisten aber setzten die Geistlichen dem Havelberger Schneider zu. Gegen Bannier wandte sich der Pfarrer Johannes Corvinus, ein 1618 an die Danziger Hauptkirche St. Marien gekommener „rechter Streittheologe seiner Zeit" 56 , mit einer Schrift: „Vorrede zweyer Theologischer Bedenken über ein Fanatisches Büchlein / dessen Titel: Spiegel oder Abriß der Greuel der Verwüstung (gedruckt 1623 zu Alten Stettin)". Die angeforderten Gutachten der Theologischen Fakultäten der Universitäten Tübingen 57 und Gießen bezeugten, daß der „Spiegel oder Abriß der Greuel der Verwüstung" in seinem Inhalt „gantz pure Weigelianisch / Schwenckfeldisch / und Enthusiastisch" sei; sie bewiesen „Weigelii zur Gnüge" 58 . Durch die Schrift des Corvinus wurde der Inhalt der Schrift „Spiegel oder Abriß des Greuels der Verwüstung" jenen Autoren bekannt, die sich mit Bannier beschäftigen sollten. Der Havelberger Schneider habe den Text der Heiligen Schrift „in lauter Allegorien" verkehrt und behauptet, Christus sei in uns getauft, der „neugebohrne Mensch / der 54 55

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Vgl. die folgenden Angaben über Banniers Leben in: Starck, S. 941 ff. Die Auseinandersetzung von Staat und Kirche in Schweden und Dänemark mit den „Irrlehren" Banniers ist, nach einer vorläufigen Prüfung der Literatur zu urteilen, offenbar noch nicht untersucht worden. Es wäre zu überprüfen, ob sich in den Akten in Stockholm und Kopenhagen Angaben über den „Fall Bannier" erhalten haben. Koepp, S. 87. Lukas Oslander der Jüngere (1571-1638, seit 1619 Professor, 1620 Kanzler) und Theodor Thumm (15861630, seit 1618 Professor) wandten sich als Hauptvertreter der lutherischen Orthodoxie an der Universität nicht nur gegen die Weigelianer, sondern auch gegen Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum". Vgl. Gunther Franz, Bücherzensur und Irenik. Die theologische Zensur im Herzogtum Württemberg in der Konkurrenz von Universität und Regierung, in: Theologen und Theologie an der Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Hg. Martin Brecht, Tübingen 1977, S. 139-158. Colberg, S. 229. Die folgende Zusammenfassung folgt seinem „Platonisch-hermetischen Christentum" S. 229-232; Wiedergabe auch in: Arnold, Theil III, S. 97 f.

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Christo nachfolget / heisse Christus" (S. 229). Diese Ansicht vertrat auch Valentin Weigel, jedoch ging Bannier nicht so weit zu sagen, daß auch „Gott in uns" sei. Der Weg zur Seligkeit sei durch Christus bisher nicht offenbart worden, obwohl er auf Erden gelebt und gepredigt habe. Auch seine Apostel hätten nicht den Weg zur Seligkeit gewiesen. Vielmehr sei er erst „von dem letzten Johanne oder Elia" offenbart worden - von Johann Arndt! Daß Arndt als „neuer Elias" begrüßt wurde, ist sicher bekannt, doch dürfte mit dieser - die Geistlichen schockierenden - Behauptung Banniers, Arndt müsse über Christus und die Apostel, die Autoren der Uberlieferungen des Neuen Testaments, gestellt werden, die wohl am weitesten gehende Verehrung dieses Autors an den Tag gelegt worden sein. Ein von den „Vier Büchern vom wahren Christentum" ergriffener Laie sah in Arndt den maßgeblichen Propheten seiner von blutigen Unruhen erfüllten Zeit. 59 Anstelle des geschriebenen oder gepredigten Wortes setzte Bannier auf die unmittelbare göttliche Erleuchtung der Seelen. Der gefallene Mensch sei der Teufel selbst. Christus sei gekommen, um uns von unserem sündigen Leib zu erlösen und unsere von Gott verliehene Seele „mit seinem heiligen unverweßlichen Fleisch wieder zu kleiden" (S. 231). Das Reich Gottes ist auch in einem noch nicht wiedergeborenen Menschen, nur habe dieser es noch nicht erkannt. Der sündige Mensch müsse durch Christus seine Natur und damit den Teufel in sich überwinden. Im „Aureum Seculum" seien lauter Gerechte versammelt, die alle von Gott unmittelbar gelehrt worden seien. Für die orthodoxen Lutheraner war hiermit der Weigelianismus Banniers erwiesen. Die Theologische Fakultät zu Wittenberg habe mitgeteilt, daß sich sowohl Bannier mit seiner „Schneider-Theologie" als auch Gottschalk Bünting zur „Rosencreutzer Brüderschafft" (S. 232) bekannt hätten, ein - heute sicher nur schwer nachprüfbarer - Vorwurf, der den Havelberger nur noch zusätzlich als verdächtig erscheinen lassen mußte. Auf seinem unsteten Lebensweg erreichte Johann Bannier „umb das Johanis-Fest" 1624 Lübeck, wo ihn eine Auseinandersetzung erwartete, die am besten durch die Quellen dokumentiert ist. Corvinus, Goetze und Starck von seiten der lutherischen Amtskirche, Breckling und Arnold als Anwälte der „Zeugen der Wahrheit", berichteten über den Kampf zwischen dem „Ketzer" und den Geistlichen, die einen mit unverhohlenem Haß auf den Unbotmäßigen, die anderen erfüllt von Achtung für den mutigen Laien und Bedauern wegen seines traurigen Schicksals. In Lübeck erwuchs Bannier in dem Prediger Nikolaus Hunnius (15851643) ein starker Gegner, der im Jahr zuvor nach Lübeck gezogen und für die Überwachung des Kirchen- und Schulwesens in der alten Hansestadt zuständig war. Durch Hunnius wurde Lübeck ein Zentrum des Kampfes gegen den Spiritualismus.60 Dieser streitbare Theologe hatte bereits in Wittenberg 1619, 1620 und 1622 antiweigelianische Traktate erscheinen lassen, Ezechiel Meth 61 und die Rosenkreuzer bekämpft. Der Traktat von 1622 wurde in deutscher Sprache herausgegeben, „damit er auch den Laien verständlich würde" 62 . Hunnius, der mit antikatholischer Polemik hervortrat, rief allerdings 1632, in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, auch als Ireniker die Anhänger der verschiedenen Konfessionen zur friedlichen Beilegung theologischer Differenzen auf.

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Vgl. auch Koepp, S. 102; Wollgast, Philosophie, S. 521 f. Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten, Lübeck 1981, S. 301. Ezechiel Meth (t 1640), der Schwestersohn des Thüringer Schwärmers Esajas Stiefel, wandte sich wie andere Weigelianer gegen die Theologen, die nicht die wahren Diener Gottes seien. Predigtamt, Taufe und Abendmahl seien unchristlich. Vgl. Wollgast, Philosophie, S. 590-592. Vgl. auch den Beitrag von Ulman Weiß in diesem Bd., S. 359-382. Heller, S. 37.

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Auch in Lübeck, wo er zunächst in der Hundestraße bei Grete Losch und dann im Grünen Gange bei Peter Klobbesejn eine Unterkunft gefunden hatte, verhielt sich Bannier wie zuvor in Dänemark zunächst still. 63 Ein dänischer Hofrat namens Bugslaff, der einen der Söhne Banniers bei sich und den Havelberger bereits in Dänemark mit 8 Ungarischen Gulden unterstützt hatte, half auch nun und schickte Mehl, Käse und Butter nach Lübeck. Doch hielt Bannier nicht zu lange still. Dem Lübecker Drucker Valentin Schmalhertz (t 1657) reichte er ein Buch zum Druck ein, der es am 24. Dezember 1624 wiederum Hunnius zur Zensur übergab. Schmalhertz, der erst wenige Jahre zuvor, im Jahre 1622, in Lübeck als Drucker zugelassen worden war und 1624 die Bürgerwürde erlangt hatte, wollte durch die Einhaltung der Zensurvorschriften seine Ausgangsposition für verlegerische Erfolge nicht gefährden, 64 und der Buchdrucker wurde auch tatsächlich ermahnt, sich nicht mit Bannier einzulassen und „die charteque keineswegs zum Druck zu befördern" 65 . Schon die Dedikation an den Rat der Stadt Lübeck enthielt Unerhörtes: „Datum am Tage Adam und Evä, welche Beide darum, daß sie ihre Kinder in Unzucht gezeuget, in des Satans Reich geraten und dem Tode unterworfen sind." 66 In einer eilig anberaumten Privatunterredung mit Bannier erkannte Hunnius dessen „Irrgläubigkeit". Gemeinsam mit seinen Amtskollegen, dem Pastor Adam Helms von St. Petri und Johann Reich, Pastor zu St. Agidien, beraumte Hunnius am 9. Januar 1625 ein öffentliches „Colloquium" im Hause des Superintendenten an. So fragmentarisch die Wiedergabe der Auffassungen Banniers auch ist, so sehr beeindrucken sie jedoch den Leser heute wegen ihrer Radikalität. Bei der Disputation hatte Bannier drei Patente auf den Tisch gelegt, die er hatte drucken lassen. Zuerst wurde über das Kinderzeugen gesprochen, das von Bannier als Sünde, Unzucht und Hurerei angesehen wurde. Adam und Eva seien durch Kinderzeugen gefallen und in des Teufels Stricke geraten. Starck faßte die „Irrtümer" Banniers so zusammen 67 : „1. Adam und Eva haben ihre Kinder in Unzucht gezeuget / dieweil Gott nicht verordnet / das sie dieselben solten in Sünden zeugen. 2. Die abstinentia a conjugio, ejusq; actibus sey eine Frucht des Geistes / Gal. 5 und wer noch in der Ehe lebe / sey kein wiedergebohrner." Bannier beruft sich auf Paulus, der die Galater ermahnte: „Ich sage aber: Lebt im Geist, so werdet ihr die Begierden des Fleisches nicht vollbringen" (Gal. 5. 16). Bei der Beurteilung der Ehe durch Bannier tritt ein direkter Anklang an die Lehren Valentin Weigels zutage, die Gottfried Arnold folgendermaßen wiedergab: „Es ist zweyerlei ehe, eine göttliche und eine menschliche. Die göttliche ehe ist, da gottsfürchtige fromme eitern durch Schickung Gottes zusammen kommen, in aller furcht Gottes nach dem willen Gottes, deraus werden treffliche leute gebohren, als Abraham, Isaac, Jacob, Samuel, Mose, David, Salomon; und ist eine menschliche ehe, da man nur in der lustseuche zusammen kömmt, und wie das viehe beysammen wohnet, als da ist der heyden ehe und aller ungläubigen, die da aus fleischlichem willen geschieht, und ist der mehrere theil in der weit auch unter den vermeinten Evangelischen der ehestand eine ehrbare hurerey, honesta scortatio, darum wir auch von geburth gemeiniglich seynd hurer, ehebrecher, diebe, mörder, Wucherer, hoffärtige, in hurerey werden wir gebohren, in hurerey leben wir und

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Vgl. die Nachrichten über Banniers Leben in Lübeck in: Starck, S. 941. Vgl. Hermann Colshorn, Lübecks Drucker, Verleger und Sortimenter von den Anfängen bis 1700, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe N r . 34 (29. April 1975), S. A 150 Starck, S. 759. Zit. in: Heller, S. 58. Starck, S. 939 f.; Wollgast, Philosophie, S. 577 f.

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sterben auch offt darinnen . . . " 6 8 Derartige asketische Ansichten hat es - nach dem Bericht des Josephus Flavius - schon bei der jüdischen Gemeinschaft der Essener 6 9 und in frühchristlicher Zeit gegeben. Auch die Marcioniten und die Manichäer lehrten Enthaltsamkeit. 7 0 Winfried Zeller vermutete, daß die weigelianische These, der Ehestand sei „erbare H u r e r e y " 'bereits aus Wiedertäuferkreisen herrührt" 7 1 . D o k u m e n t e über die Täufer im mitteldeutschen R a u m zeigen, daß selbst innerhalb einer G r u p p e verschiedene Meinungen über die E h e gehegt wurden. W ä h r e n d Christoffel von der Aichen aus Niederdorla 1 5 6 4 / 6 5 bekannte, „das der ehestand Gottes ordenung sei und den christen nachgelaßen", unterschied Christoffel von Bern, ein Wiedertäufer aus Langula, den geistlichen und den weltlichen Ehestand: „ D e n geistlichen heist er die verbundnis Christi und seiner Braut, der kirchen, der sei recht. D e n weltlich heist er die zusammenverfugung mannes und weibes, der sei fleischlich und b ö ß , sei auch nicht Gottes Ordnung und gefalle G o t t nicht, aus Ursachen: Man schelte, reif und schlage sich darin." 7 2 Ein im J u l i 1543 in Beyernaumburg verhafteter Widertäufer, der behauptete, keinen N a m e n zu haben, da G o t t , sein Vater, auch keinen N a m e n hätte, sagte beim Verhör aus: „Vom ehestand, wie wir in fragten, heist er ein hurnleben, glaubt nit, das in G o t t beschaffen und eingesetzt hat, will kein schrift zwlassen, pringt von stund an ein ander dink herfur." 7 3 D e r Kreis der „Wiedergeborenen" in Christi, zu denen sich Bannier zählen sollte, war klein, da nur wenige aus Uberzeugung die E h e ablehnten. Bannier, der selbst geheiratet und Kinder gezeugt hatte, machte entweder eine umgekehrte E n t w i c k l u n g durch als später Gottfried Arnold - der zuerst die Vermählung mit der geistigen „ S o p h i a " verkündigen und hernach eine weltliche „Eva" heiraten sollte - oder er konnte auf eine andere Weise seine Lehre mit der eigenen Lebensführung in Einklang bringen. W i r wissen es nicht. Jedenfalls sonderten sich er und einige wenige Gleichgesinnte von den Mitgliedern christlicher Gemeinden ab, die die E h e für geboten hielten. D a m i t entfernte sich Bannier geistig aus

Arnold, Th. II, Bd. X V I I , Kapitel 17: „Von denen so genannten Enthusiasten dieses seculi, und zwar erstlich von Valentino Weigel", S. 1101; vgl. auch Fritz Tanner, Die Ehe im Pietismus. Dissertation Zürich 1952, S. 11. „Die sinnlichen Freuden meiden sie wie die Sünde, und die Tugend erblicken sie in Enthaltsamkeit und Beherrschung der Leidenschaften. Von der E h e halten sie wenig, dagegen nehmen sie fremde Kinder auf, solange diese noch im zarten Alter stehen und bildungsfähig sind . . . " Flavius Josephus, Geschichte des Judäischen Krieges. Zweites Buch, Achtes Kapitel. Aus dem Griechischen, Übersetzung von Heinrich Clementz, Leipzig 1974, S. 158. 70

„Die Marcioniten verwarffen den Ehestand und verthädigten/dass alle/die sich darinn begeben/sündigen. Wie Hieronymus von ihnen meldet/s. contr. Jovianum. Von den Tatianem und Entratiten/so ein Sprößling der Valentinianer und Marcioniten sind/bezeuget Nicephorus 1.4. Hist. Eccles. c. 4, daß sie keinen Unterscheid zwischen dem Ehestand und der Hurerey haben erkennen wollen. Eben dieses erzehlet Augustinus de haeres. c. 4 6 von den M a n i c h ä e m / d a ß diejenigen/so in den Ehestand treten/sündigen." Colberg, Teil 1, S. 759. Die Manichäer begründeten ihre Auffassung so: Da Gott den Untergang der „ H y l e " , der Finsternis, beschlossen habe, würde man „sich auch der Ehe, des Geschlechtsverkehrs und der Kinderzeugung enthalten, damit die Kraft nicht noch mehr durch die Abfolge der Geschlechter in der Hyle Wohnung nähme", heißt es in „Alexandri Lycopolitani contra Manichaei opiniones disputatio", Übersetzung in: Die Gnosis. Dritter Bd.: Der Manichäismus. Unter Mitwirkung von Jes Peter Asmussen eingeleitet, übersetzt und hg. von Alexander Böhlig, Zürich/München 1980, S. 132. Selbstzeugnisse der Manichäer über die Enthaltsamkeit finden sich ebd. S. 75 f., 94 („Aus dem Leben Manis").

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Winfried Zeller, Die Schriften Valentin Weigels. Eine literaturkritische Untersuchung, Berlin 1940, N d r . Vaduz 1965, S. 64.

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Zit. in: Paul Wappler, Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526 - 1584, Jena 1913, N r . 63, S . 4 9 8 , 501.

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Zit. ebenda, N r . 58, S. 470.

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der Gesellschaft und geriet in eine Konfrontation mit der Kirche, die das Gewissen der Gemeindemitglieder überwachte, und der Obrigkeit, die „Aufruhr" darin sah. Auch die folgenden Glaubenssätze Banniers, die sich auf alttestamentarische Gestalten bezogen, lassen erkennen, daß ihn vor allem das Verhältnis von geistiger und fleischlicher Zeugung beschäftigte: „3. Henoch / von dem geschrieben stehet / er sey in einem Göttlichen Leben geblieben / und Söhne und Töchter gezeuget / habe allein geistliche Kinder gezeuget / und nicht nach dem Fleisch." (Bannier bezog sich hier auf Gen.5.21-23: „Und Henoch wandelte mit Gott. Und nachdem er Metuschelach gezeugt hatte, lebte er 300 Jahre und zeugte Söhne und Töchter, daß sein ganzes Alter ward 365 Jahre.") „4. Isaac sey nicht in Unzucht / und Sünden gebohren / dan er nach der Verheissung gezeuget / und nicht nach dem Fleisch. 5. Isaac sey nicht gestorben / sondern allein aufgelöset worden. 6. Der verbotene Baum, von welchem Eva gegessen / ist Adam gewesen / mit dem sie Kinder gezeuget nach dem Fleisch. 7. Die Schlange / die Evam verführet / sey weder die natürliche Schlange / noch der Teuffei / sondern in die böse Lust. 8. Was in der Schrifft gemeldet sey von Mose / Josua / Paulo etc. sey nicht nach dem Buchstaben zu verstehen / sondern nach dem Geist . . . 9. Imgleichen die Historien müste man nach dem Geiste verstehen . . ," 7 4 In der Forderung, die biblische Überlieferung nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Geiste aufzunehmen, begegneten sich Trappe und Bannier, und allein sie reichte den orthodoxen Geistlichen zur Begründung des Vorwurfes aus, die „Weigelianer" würden die Heilige Schrift mißachten. In dem von Starck wiedergegebenen Verzeichnis der während des „Colloquiums" mit Hunnius zutage getretenen „Irrtümer" Banniers findet sich jene Behauptung wieder, die bereits bei Corvinus Anstoß erregt hatte: „Was ist Christus? Ein Gesalbter / nemlich einjeder wiedergebohrner". „10. Die Weissagungen vom künfftigen Zustand der Christenheit seyn wahr / und was Nagelius geschrieben / habe er aus dem heiligen Geist geschrieben / und ob es schon das Ansehen habe / als wäre etliches nicht erfolget / so sey doch vor Gottes Angesicht tausend Jahr / wie ein Tag / es werde sich alles noch finden." Paul Nagel ( + 1621) war Professor an der Universität Leipzig, bezeichnete sich selbst als „Philosophus et Astronomus" 7 5 und deutete das Erscheinen des 1618 erschienenen Kometen in einer 1619 herausgegebenen Schrift so, daß das „aureum seculum" bald anbrechen werde. 76 Die Voraussagen Nagels in der Widmung der Schrift an den Administrator Christian Wilhelm von Magdeburg sollten sich bald auf schreckliche Weise bewahrheiten, wenn auch 1619 angesichts der politischen Konstellationen in Europa nur wenige Sehergaben dazu nötig waren: der Komet „bringe

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In dem von Heller aus den Lübecker Ministerial-Akten wiedergegebenen Bericht über das „Colloquium" wird noch ausführlicher dargelegt, welche Vorstellungen Bannier von Geburt und Vergehen solcher biblischer Gestalten wie Abraham, Ismael, Isaak, Moses und Josua hatte. Die „allegorische" Auffassung Banniers vom Alten Testament tritt ζ. B. in folgender Auslegung zutage:, Josua ist der Jüngling, welcher in der Hütte blieb, wenn der Herr mit Moses redete, und bedeutet einen fleißigen Hörer des innerlichen Wortes, das Gott in die Herzen spricht." Ebd., S. 59 f.

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Vgl. Roland Haase, Das Problem des Chiliasmus und der Dreißigjährige Krieg. Inaugural-Dissertation, Leipzig 1933, S. 93. Stellae prodigiosae seu cometae per oculum triplicem observatio & explicatio. Das ist: Des newen und Wunder Sterns im October/November und December 1618/warhafftige Deutung und Außlegung per Magiam insignem, der gleichen zuvor nicht gesehen: Allen Menschen auff Erden zur guten Nachrichtung und Warnung fürgestellet Durch Paulum Nagelium L.M. Theologum vnd Astrologum, ec. In Verlegung des Autoris. Im Jahr 1619 (Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle, Sign. 54 D 11. Die Schrift ist angebunden an: Disputatio Theologica. De Consensu Rationis Humanae cum Mysteriis Diviniis . . . sue praesidio Balthasaris Mentzeri. Glessen M D C X V I I I ) ; vgl. auch Haase, S. 94.

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eines grossen und vornehmen Herrens verderben oder tödtlichen abgang; er bringe Krieg und Blutvergiessung / oder Pestilentz vnnd sterbens gefahr; thewre zeit / hunger vnd kummer". Der Komet bedeute „Siegel und Posaunen in apocalypsi", man könne „das Thier / vnnd den grossen Antichristen erkennen / so wohl die Babylonische Hure mit dem Vergüldeten Kelch". 77 In einer anderen apokalyptischen Schrift befand Paul Nagel, daß die Endzeit bereits angebrochen sei: „Und werden seyn in der letzten Zeit grewliche Spötter / die von der Zukunfft des H E R R E N nichts halten / sondern die Frommen und Gerechten / die die Erscheinung des H E R R E N lieb haben / verspotten / plagen und verfolgen werden. Solchs alles befinden wir jetzt / daß es also hergehe / und daß kein Gold / kein Licht / kein Recht / keine Liebe noch Glaube / sondern eine grewliche Finsternüß fürhanden / do regieren Lügen und Ungerechtigkeit / Schinderey / Betrügerey / Stoltz / Hoffarth / Fressen / Sauffen / Unzucht / Hurerey und Ehebruch / Hadder / Zanck / Zwietracht / ec." 78 Bannier war 1625 ebenfalls von Endzeitstimmung erfaßt und glaubte an den Anbruch des „Tausendjährigen Reiches", wenn auch - da „tausend Jahr wie ein Tag" vor Gott seien angesichts dieser Aufhebung der „menschlichen" Zeit die „menschlichen" Berechnungen Nagels in diesem Fall noch nicht zu einer genauen Vorhersage führten. Ebenso werde sich, so Bannier, alles erfüllen, was die Propheten von Münster vor mehr als hundert Jahren geweissagt hätten, die Täufer der Jahre 1534/35, „den 100 Jahr vor Gott / als keine Zeit zu achten." „11. Lutherum hält er hoch / als einen fürtrefflichen Propheten / aber seine Teutsche Bibel sey nicht richtig / habe viele Mängel / welche er aus dem Novo Testamento Erasmi beweisen wolte. Wenn man aber eine rechte Lutherische Bibel haben wolte / so sey die Straßburgische edition An. 1530 die beste . . . " Erasmus von Rotterdam hatte 1516 das Neue Testament in griechischer Sprache erneut herausgegeben und es zugleich in lateinischer Ubersetzung erscheinen lassen. Wenn Johann Bannier die Ausgabe des Erasmus heranziehen wollte, um Fehler der Lutherschen Übertragung nachzuweisen, mußte er doch über einige Kenntnisse des Lateinischen verfügt haben. In welche Richtung die Kritik Banniers an Luthers Bibel-Übersetzung zielte, läßt sich aus den Andeutungen über die Straßburger Bibelausgabe entnehmen. 1527 veröffentlichten die Täufer Ludwig Hetzer (+ 1529) und Hans Denck (+ 1527) in Worms ihre Übertragung der Texte der biblischen Propheten, und im gleichen Jahr der Züricher Theologe Leo Jud die Apokryphen. In Straßburg gab Wolfgang Köpfel 1529/30 eine aus Luthers Übertragung und den erwähnten Propheten- und Apokryphenübersetzungen kombinierte Bibel heraus, auf die Johann Bannier anspielte. Dem Havelberger Weigelianer war offenbar an den ursprünglichen Übersetzungen der beiden Täufer und Leo Juds gelegen, in denen die apokalyptischen Visionen enthalten waren, die ihn besonders faszinierten. 7 ' 77 78

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Ebd., Bi, S. 5. Tabula Aurea M. Pauli Nageiii Lips. Mathematici. Darinnen er den Andern Theil seiner PHILOSOPHIAE NOVAE proponiren und fürstellen thut./Wird auch zur Erklerung derselben gehandelt de Triplici Auro Salomonis, und wird uberlegt die/Zahl des Thiers/und entdeckt derselben Geheimniß/der gleichen zuvor nicht gesehen/ec. Allen Liebhabern der Göttlichen Geheimnüssen/also und auff diese weise zum besten fürgestellet und an Tag gegeben. Anno MDCXXIV (unpaginiert. Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle, Sign. 57 L 13. Die Schrift ist angebunden an: Confessio, sive Declaratio, Sententiae Pastorum, qui in foederato Belgio REMONSTRANTES vocantur/Super praecipuis articulis Religionis Christianae Anno 1622). Vgl. Hans Volz, Martin Luthers deutsche Bibel. Entstehung und Geschichte der Lutherbibel, Hamburg 1978, S. 9, 113, 204; vgl. auch Hermann Gelhaus, Der Streit um Luthers Bibelverdeutschung im 16. und 17. Jahrhundert. Mit der Identifizierung Friedrich Traubs, Tübingen 1989, S. 18 f., 21. (= Reihe Gemanistische Linguistik 89). Ausführliche textologische Vergleiche der älteren Teile der Straßburger Bibel von 1529/30 und der späteren Luther-Gesamtbibel stehen noch aus.

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Schließlich hegte Bannier noch Gedanken von der Beschaffenheit der Welt, die erstaunlich modern anmuten. Alles sei aus Gegensätzen erschaffen! Doch wurzelten derartige Auffassungen in der mittelalterlichen Astrologie: „12. Sonst hatte er von den Creaturen mancherley seltzsame Gedancken / als / daß alles aus contrariis erschaffen / welches kundt wäre aus dem hefftigen Streit / den Sonn / und Mond wieder einander führen / dann sobalde die Sonne ihre Strahlen in den Mond schiesse / entstehe das grausame Blitzen / und Donnern / auch haben die Himmel ihre contrarietät / wie an ihrem Krachen abzunehmen / solches Krachen / obs schon niemand gestehen wolle / daß ers höre / so könne er es doch gar eigentlich hören." So war für Johann Bannier, den Schneider aus Havelberg, das Universum von einem beängstigenden Krachen und Blitzen erfüllt, wie auch auf Erden, gerade in Norddeutschland in jenem Jahre 1625, der Boden unter dem Marschtritt der Söldnerheere und dem Hufschlag der Pferde bebte und die Kanonenschlünde Feuer spien. Einem Wohlmeinenden mochte der durch Hunnius Verhörte wohl als kranker Mensch erscheinen. Die Geistlichkeit kam aber schließlich zu dem Schluß: „Der Mensch wolte weder den klahren Buchstaben der heiligen Schrifft / noch die daraus gezogene argumenta gelten lassen / sondern bestünde lediglich auf die innerliche Salbung / und des Geistes." 80 Da die Heilige Schrift entsprechend der lutherischen Lehre selbst wirke und es nicht der Berufung auf die Autorität von Kirchenkonzilen bedürfe, habe sich Bannier wissentlich außerhalb der Gemeinde gestellt. Auch in einem Brief an Hunnius gab Bannier nicht klein bei: „Ich habe lange Zeit Predigt gehöret / aber ohne alle Frucht / aber da mich der Geist hat angefangen zu lehren / bin ich ein ander Mann worden." 81 Die Lübecker geistliche und weltliche Obrigkeit meinte, daß es sich bei ihm um einen immerhin in der Bibel belesenen, jedoch verstockten und kaum zu bekehrenden Gegner handelte, dessen Entfernung aus der Stadt geboten schien.82 Bezeichnend sind die Worte, mit denen ihn Hunnius entließ: ,Johann Bannier, man hat Euch also befunden, daß Ihr die Auslegung der heiligen Schrift aus Eurer göttlichen Offenbarung wollt suchen, welches ein ungewisses Principium ist, dadurch der Teufel den Grund der Seligkeit will zweifelhaftig machen; wir hätten andere Antwort von Euch verhofft, bitten und vermahnen Euch, daß Ihr Eure Seligkeit wollet in Acht haben und zum Grunde der Seligkeit die Schrift allein behalten und andere Auslegung fliehen; wir wollen aus christlicher Liebe Eure Bekehrung suchen, und protestiren, daß wir am jüngsten Tage wollen entschuldigt sein, daß wir Euch gerne auf den rechten Weg haben führen mögen, welches nicht zu erhalten ist gewesen; mittlerweile haben wir thun müssen, was unserer Kirchen Nothdurft erfordert und vermahnen Euch, daß Ihr Euch wollet stille halten, bis Ihr nach weiterer Unterredung anderen Bescheid bekommt, wir wollen thun, was im Gewissen wird zu verantworten sein." 83 Am 15. Januar 1625 wurde Bannier in der Kanzlei des Lübecker Rathauses im Beisein des Hunnius der Befehl des Rates verkündet, die Stadt innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Als ein „beständiger Zeuge der Wahrheit" habe Bannier, so Friedrich Breckling, die falschen Geistlichen aus Gottes Wort davon überzeugt, daß sie „nicht aus Gott seyn könten" und alle Menschen zum Abendmahl des Lamms eingeladen. Eine Schrift Banniers hierüber befand sich im Besitz Brecklings. 84 Allerdings zeigten sich die Geistlichen in Wirklichkeit nicht von den Worten Banniers überzeugt, sondern suchten ihn ihrerseits, 80 81 82 83 84

Zit. in: Starck, S. 760. EBd. S. 943. Vgl. Lübeckische Geschichte. Hg. Antjekathrin Graßmann, Lübeck Zit. in: Heller, S. 60 f. Arnold, Theil IV, Section III, S. 1094.

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1989, S. 484.

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angetan mit der ganzen Macht ihres Amtes und der Unterstützung durch die weltliche Obrigkeit sicher, zum Widerruf zu drängen. Colberg berichtet, ein „Weigelianischer Eyferer", der ihm mehrere Schriften Banniers überreichte, habe ihm mitgeteilt, der Bannier sei in Schweden „als ein Auffrührer / und Stiffter innerlicher Unruhe" gefangen gesetzt und enthauptet worden. 85 Panthaleon Trappe und Johann Bannier waren Laien. Sie kannten beide die Bibel und waren von Johann Arndt beeindruckt. Über ihren Bildungsgang kann wenig ausgesagt werden. Doch zeigt die Wortwahl Panthaleon Trappes, daß diesem die zur Bibelauslegung nötige Terminologie nicht fremd war, und Johann Bannier hatte angegeben, daß er mit einer lateinischen Bibelfassung umgehen könne. Wenn auch aus den Äußerungen Trappes und Banniers spürbar ist, wie sehr das Kriegserlebnis das Weltbild der beiden „Weigelianer" prägte, so sollte ein Blick auf die Zeit sowohl vor als auch nach dem Dreißigjährigen Kriege relativierend wirken. Das konkrete Kriegsgeschehen des Gemetzels, das zum Zeitpunkt der Drucklegung der umfangreichen „Erklärung" Panthaleon Trappes 1637 bereits fast zwanzig Jahre währte, kommt dort nur am Rande vor. Hans-Martin Barth warnte, „daß die ersten Klagen über beginnenden Indifferentismus und Atheismus nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte vor dem Beginn des 30jährigen Krieges geäußert und gedruckt worden sind. Der Krieg hat nur Tendenzen forciert und radikalisiert, die latent schon lange vorher vorhanden waren." 86 Der Dreißigjährige Krieg war Anlaß zu Kirchenunionsplänen, denn einige irenisch gesinnte Persönlichkeiten hatten erkannt, wie widersinnig eine Berufung der jeweiligen Kriegsparteien auf die Vollstreckung eines angeblich göttlichen Willens war. Karl Holl kam während des ersten Weltkrieges zu dem Schluß: „Der Krieg ist immer eine einzigartige Gelegenheit für die Kirche, mit den Laien, namentlich auch mit den kirchenflüchtigen Männern, eine Berührung herzustellen." 87 Wie diese „Berührung" ausfallen konnte, zeigt allerdings das Verhör des Johann Bannier durch Nikolaus Hunnius und seine Amtskollegen. Die Forderung Panthaleon Trappes nach einer innerlichen Prüfung und nach dem „inneren Gottesdienst" wies in die Zukunft und bereitete den Boden für den Pietismus vor. Breckling, der Arnold Informationen für dessen „Unpartheyische Kirchen-Historie" lieferte, war ein Bindeglied zu den späteren Generationen der Pietisten. Trappes Havelberger Landsmann Johann Bannier scheint mehr als Trappe in einer langen häretischen Tradition zu stehen, die bis in frühchristliche Zeiten und in das Mittelalter zurückreichte. Bannier knüpfte an die Gedankenwelt der Wiedertäufer an. Von Trappe, aber auch von Valentin Weigel selbst, unterschied ihn ein ausgeprägter Chiliasmus. Die beiden Havelberger „Weigelianer" sahen sich genötigt, ihre Ansichten zu verteidigen. Es ist nicht bekannt, in welcher Form der - von Arnold bezeugte - direkte Druck der lutheranischen Geistlichkeit auf Trappe erfolgte, während die Auseinandersetzung Banniers mit Hunnius gut dokumentiert ist. Trappes Kritik an der Obrigkeit wurde durch den Hinweis auf die Sündhaftigkeit aller Menschen, des gesamten Volkes, wieder abgeschwächt. Wenn er auch die gottesfürchtigen von den gottlosen Menschen scheiden wollte, so sah er sich doch nicht als ein „Werkzeug Gottes" an, diese Scheidung in der Wirklich-

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Colberg, S. 229. Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971, S. 112 f. (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 26); vgl. auch Ernst Koch, Das Kriegsproblem in der spiritualistischen Gesamtanschauung Christian Hoburgs, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 46 (1928), S. 246-267. Karl Holl, Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, Tübingen 1917, S. 128

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keit vorzunehmen, sondern er rief, in ähnlicher Weise wie später die Pietisten, zur Selbstprüfung auf. Johann Bannier besaß ein großes Sendungsbewußtsejn. Er wurde von einer inneren Stimme getrieben, seine Ansichten über Christus, die Heilige Schrift, die Menschen und das Universum zu äußern, auch wenn er dadurch seine Lage verschlechterte und immer neue Verfolgungen auf sich zog. Die unterschiedliche soziale Situation der beiden Havelberger wirkte auf die Art und Weise ein, wie sie sich artikulierten und wie man ihnen begegnete. Wenn auch über den bisherigen Lebensweg Panthaleon Trappes noch weniger bekannt ist als über den des Schneiders Bannier, so kann doch behauptet werden, daß der mehrfach bestätigte Havelberger Bürgermeister eine festgefügte Stellung in der sozialen Hierarchie der Stadt erlangt hatte. Bannier mußte hingegen als Schneider und als Flüchtling viele Jahre ein Wanderleben führen. Der Anwurf Colbergs, Bannier habe eine „Schneider-Theologie" vertreten, sollte stigmatisierend wirken und bei den Gebildeten hochmütigen Spott hervorrufen. Gottfried Arnold blieb - wie in vielen anderen Fällen der Bewertung nonkonformistischer Denker - bis zur Mitte des 19. J h . in seinem Bestreben allein, die beiden Havelberger mit ihren unterschiedlichen Lebensläufen und Auffassungen gleichermaßen als „Zeugen der Wahrheit" anzusehen. Sie waren für ihn Zeugen des Verfalls der Kirche. Während der streitbare Pommeraner Ehregott Daniel Colberg mit der Anführung möglichst vieler widerlegter Häretiker den Triumph der Kirche über die Nachfolger der antiken heidnischen Philosophie größer erscheinen lassen wollte, suchte Johann Georg Walch in der Zeit der Frühaufklärung zwischen harmloseren und verstockten Nonkonformisten zu differenzieren. Friedrich August Tholuck bemühte sich um eine Integration des Kirchenkritikers Panthaleon Trappe in das Bild von den protestantischen Reformbestrebungen. Der Havelberger Bürgermeister galt Tholuck als „Lebenszeuge" des Luthertums in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in der die allgemeine sittliche Verrohung auch eine Reform der Kirche dringlich erscheinen ließ und Reformer, wie in Thüringen Johann Matthäus Meyfart und Herzog Ernst von Sachsen-Gotha, auf den Plan rief. 88 Den lutherischen Autoren der zweiten Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts erschien Trappe als Kritiker der Kirche von innen. Sie wußten zuwenig darüber, ob ihn sein Verständnis für den Separatismus auch selbst vollständig von seiner Kirche trennte. Im Falle Johann Banniers wurden solche Integrationsversuche nicht unternommen. Zu absonderlich und „heidnisch" lasen sich seine Ansichten, die in den Verhörsprotokollen und Widerlegungsschriften seiner Gegner festgehalten waren. Gottfried Arnold hatte durch den Abdruck einer Schrift Trappes in der „Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie" immerhin erreicht, daß sich die Nachwelt mit seinen Auffassungen anhand eines weitgehend authentischen Textes auseinandersetzen konnte. Allenfalls das traurige Schicksal Johann Banniers, der als Häretiker zum Tode verurteilt und enthauptet wurde, konnte bei toleranten Menschen Mitleid erregen. Selbst im Zeitalter der Glaubenskämpfe, die die mächtepolitischen Auseinandersetzungen der Zeit des Dreißigjährigen Krieges motivierten und begleiteten, war sicher ein solches Märtyrerschicksal ungewöhnlich, denn die „Zeugen der Wahrheit", auf die Friedrich Breckling und Gottfried Arnold hinwiesen, mußten zu jener Zeit - zumindest im überwiegend lutheranischen norddeutschen und skandinavischen Raum - nur in Ausnahmefällen ihre nonkonformistischen Ansichten mit dem Tode büßen. Johann Bannier hatte Auffassungen

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Vgl. Hans Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924.

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vertreten, die auch die weltliche Obrigkeit zutiefst beunruhigte, so daß er schließlich als „Aufrührer" und Störer der öffentlichen Ordnung verurteilt wurde. August Israel meinte, daß die Namen der „Weigelianer", die Johann Georg Walch in seiner Übersicht über die „Fanaticis" zusammengestellt hatte, „höchst unbedeutend" 8 9 gewesen seien. Auch Wilhelm Koepp verweist auf „kleinere Geister, für die Arndt eine Hinführung zur Schwärmerei, eine Mneduktion zu Weigel wurde", und führt in diesem Falle Panthaleon Trappe an. 90 . Allerdings sollte nach den Maßstäben gefragt werden, nach denen ein Denker der ersten Hälfte des 17. Jh. als „bedeutend" eingestuft werden kann. Valentin Weigel und Johann Arndt waren, wie Analysen ihrer geistigen Quellen zeigen, tief in die theologische und philosophische Tradition eingedrungen und hatten ein auch vom Umfang her gewichtiges Werk hinterlassen. Auch die Ansichten einiger Gleichgesinnter Trappes, Joachim Betkes 91 , Friedrich Ludwig Gifftheils und Christian Hoburgs, lassen sich anhand ihrer nachgelassenen Werke rekonstruieren. Martin Schmidt meinte, die kirchenkritische Hauptschrift des Christian Hoburg (1601-1675) „Spiegel der Misbräuche beym Predig-Ampt im heutigen Christenthumb/und wie selbige gründlich und heilsam zu reformiren" von 1644 sei „der Gipfel in der Anklageliteratur jener Epoche" gewesen. 92 Traditionelle Philosophie- oder Theologiegeschichtsschreibung sah oft ihre Hauptaufgabe in der Rekonstruktion von „Hauptlinien" des Denkens. Wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge blieben dabei mitunter unberücksichtigt. Siegfried Wollgast forderte mit Recht eine Würdigung der „Vergessenen und Verkannten", zu denen auch Panthaleon Trappe und Johann Bannier gehörten. In der behandelten Zeit des Dreißigjährigen Krieges dominierten „nicht die hohen Gipfel" des Denkens, mit denen sich die Philosophiehistoriker beschäftigten. 93 Die beiden Havelberger nahmen gedanklich manches vorweg, das von den radikalen Aufklärern der zweiten Hälfte des 18. Jh. wieder aufgegriffen wurde, denen immer das besondere Augenmerk des Jubilars galt. Mit den Betrachtungen über die beiden Havelberger „Weigelianer" sollte schließlich die weitere Erforschung wirkungsgeschichtlicher Räume angeregt werden, wie sie Günter Mühlpfordt mit seinen Untersuchungen über zahlreiche Geschichtslandschaften der frühen Neuzeit, wie das „mitteldeutsche Universitätsviereck" oder die Oberlausitz, beispielhaft demonstriert hat.

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Israel, S . 3 1 . Koepp, S. 139. Vgl. Margarete Bornemann, Der mystische Spiritualist Joachim Betke ( 1 6 0 1 - 1 6 6 3 ) und seine Theologie. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Pietismus. Inaugural-Dissertation, Berlin 1958. Sie verzeichnet auf S. 201 f. sieben Schriften des in Linum bei Nauen (Mark Brandenburg) unscheinbar als Pfarrer wirkenden Betke. Martin Schmidt, Christian Hoburgs Begriff der „mystischen Theologie", in: Ders., Wiedergeburt und neuer Mensch (wie A n m . 30), S. 51. Siegfried Wollgast, Vergessene und Verkannte. Zur Philosophie und Geistesentwicklung in Deutschland zwischen Reformation und Frühaufklärung, Berlin 1993, S. 7.

ULRICH BUBENHEIMER, HEIDELBERG

Aspekte der Karlstadtrezeption von der Reformation bis zum Pietismus im Spiegel der Schriften Karlstadts zur Gelassenheit

Fragestellungen und Forschungsstand Die Geschichte der Karlstadtrezeption ist ein weitgehend unerforschtes Feld. Bekannt ist die negative Karlstadtrezeption im Bereich des Luthertums, die eine Form der polemischen Auseinandersetzung mit Karlstadt und seinen Anhängern war. Weder diese noch das positivere Karlstadtbild der reformierten Tradition sind Gegenstand dieser Untersuchung1. Auch die zeitgenössische Rezeption Karlstadts im sogenannten radikalen Flügel der Reformation bleibt hier am Rande. Ich beschränke mich auf wenig bekannte Aspekte positiver Karlstadtrezeption in der Einflußsphäre Luthers und dem Machtbereich des Luthertums, eine Karlstadtrezeption, die quer zu dem offiziell herrschenden negativen Karlstadtbild stand. Paul Wernle2 entdeckte im Jahr 1901, daß eine von Karlstadts größeren Schriften, nämlich der Traktat Was gesagt ist: sich gelassen, und was das Wort Gelassenheit bedeut, und wo es in Heiliger Geschrift begriffen im 17. Jh. im Druck verbreitet wurde. Aus dieser Beobachtung zog er folgende Schlußfolgerung: „Dass aber unter jener mystischen und praktisch religiösen Strömung, die der lutherischen Schultheologie im 16. und 17. Jh. zur Seite geht, auch Karlstadts Mystik von Bedeutung war, darf nun als sicher behauptet werden."* Außer der Miszelle Wernles gibt es zu den Fragen, ob Karlstadt im Bereich des Luthertums über seine Schriften in der zweiten Hälfte des 16. Jh. und im 17. Jh. eine historisch-empirisch belegbare Nachwirkung hatte und die religiöse Entwicklung von der Reformation zum Pietismus mitbeeinflußt haben könnte, noch eine kurze Materialsammlung Hermann Barges (1879-1941) in einem wirkungsgeschichtlichen Exkurs zu seiner Karlstadtbiographie aus dem Jahr 19054. Erich Hertzsch (1902-1995) hat 1933 durch einen systematischphänomenologischen Vergleich zwischen Karlstadt und pietistischen Autoren die religiöse Verwandtschaft zwischen beiden herausgearbeitet5, die Frage nach möglichen konkreten historischen Verbindungen jedoch nicht verfolgt. Ein Ziel meiner Arbeit ist es, weitere Quellen zur Geschichte der Karlstadtrezeption von der Reformation bis zum Pietismus6 vorzustellen und schon bekannte Quellen im Rahmen dieser erweiterten Quellenbasis neu zu befragen. Bei der Suche nach den Quellen habe ich drei mögliche Wege literarischer Vermittlung von Karlstadttexten berücksichtigt: erstens den unmittelbaren Rückgriff auf die frühen Karlstadtdrucke aus der Zeit Karlstadts, zwei' Dazu Hermann Barge: Andreas Bodenstein von Karlstadt. II. Teil: Karlstadt als Vorkämpfer des laienchristlichen Puritanismus, Leipzig 1905, 519-522 („Karlstadts Fortleben bei Reformierten und Lutheranern"). 2 [Paul] Wernle: Ein Traktat Karlstadts unter dem Namen Valentin Weigels, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 24 (1903) S. 319-320. 3 Ebd. 320. 4 Bei Barge 1905, 2, 522 finden sich Bemerkungen zu dem „Pietisten Weigel" und zu Gottfried Arnold. 5 Erich Hertzsch: Karlstadt und seine Bedeutung für das Luthertum. Gotha 1932. 6 Zusammenfassend dazu Ulrich Bubenheimer: Karlstadt, Andreas Rudolff Bodenstein von (1486-1541), in: Theologische Realenzyklopädie 17, 1988, 649-657; hier 654 f.

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tens den späteren Nachdruck von Karlstadttexten und drittens deren handschriftliche Verbreitung. Den Kern meines Referats bildet eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zu der eingangs genannten Schrift Karlstadts über die Gelassenheit: Was gesagt ist: sich gelassen, und was das Wort Gelassenheit bedeut, und wo es in Heiliger Geschrift begriffen. Diese Schrift erschien 1523 in zwei Ausgaben und wurde später, wie Paul Wernle als erster bemerkte, im 17. J h . mehrfach nachgedruckt. Der Nachdruck einer Karlstadtschrift im 17. J h . ist ein einmaliger Vorgang in der Rezeptionsgeschichte der Schriften Karlstadts. Deshalb habe ich diese Schrift zum Ausgangspunkt rezeptionsgeschichtlicher Forschungen gemacht. In diesem Zusammenhang beschäftige ich mich allerdings nicht nur mit der späteren Wirkung jenes Traktats Karlstadts über die Gelassenheit, sondern auch mit dessen Entstehung. Zu diesem Vorgehen veranlaßte mich die Beobachtung, daß die Abfassung jenes Traktats bereits eine Reaktion Karlstadts auf die Rezeption früher von ihm publizierter Schriften ist. Ich will so den Versuch machen, schon Karlstadts Schriftstellerei in die Geschichte der Rezeption seiner Schriften mit einzubeziehen. Eine besonderes Augenmerk will ich auf den jeweiligen Rezeptionskontext legen: In welchem religiösen Kontext spielt sich die Karlstadtrezeption jeweils ab? Diese Frage operationalisiere ich hier in Richtung auf den literarischen Rezeptionskontext, indem ich frage: In welchem literarischen Kontext, d. h. in Verbindung mit welchem weiteren Schrifttum, wurden Karlstadtschriften jeweils rezipiert?

Karlstadts Gelassenheitstraktat von 1523 und seine Entstehung im Kontext der frühen Karlstadtrezeption Im Jahre 1523 erschien ein Traktat Karlstadts über die Gelassenheit mit folgendem Titel text: was gesagt ist/ Sich || gelassen/ vnd was das wort || gelassenhait bedeüt/ vnd || wa es in hailiger ge= || schrifft begriffen. || f t t ·

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Abb. 3: Erste Seite der Handschrift „Andreas Karolstadt de sacramento". Cod. Heimst. 778, Bl. 66 r .

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d. h. „Nummer 16". Diese Numerierung weist die Handschrift als Stück 16 eines einstigen Sammelbandes aus, der mehrere Handschriften enthielt. Dieser Sammelband ist nicht der Cod. Heimst. 778, in den der Karlstadttext heute als Stück 6 eingebunden ist. Doch kennen wir die Zusammensetzung eines älteren Sammelbandes, in dem die Karlstadtabschrift einst eingebunden war. Wilhelm Ernst Tentzel (1659-1707) hat ihn 1692 aus Anlaß einer Verkaufsaktion beschrieben 80 . Das von Tentzel gebotene Inhaltsverzeichnis jenes Sammelbandes bietet unseren Text mit dem Titel „Andr. Carolstadt de Sacramento Coenae 1524" als 16. Stück. Das Konvolut enthielt nach Tentzel 26 Texte unterschiedlicher Autoren und Themen. Der Sammler dieser Texte hatte bevorzugt heterodoxe mystische und esoterische Literatur zusammengetragen. Den größten Anteil bildeten 9 Texte des Görlitzer Mystikers Jakob Böhme (1575-1624), darunter Autographe. Ferner sind Weigeliana (2 Stück)81, der Spiritualist Julius Sperber (1 Stück), eine Rosenkreuzerschrift, kabbalistische Literatur (2 Stück), Visionsliteratur (1 Stück), einige Anonyma und anderes vertreten. Das Abfassungsdatum von „Susannen Rügerin Visiones zu Nürnberg 1630." (Stück Nr. 12) ergibt als terminus post quem für die Zusammenstellung des Sammelbandes das Jahr 1630. Ich vermute, daß die Sammlung nicht viel später gebunden wurde, doch ist ein sicherer terminus ad quem mit Tentzels Beschreibung der Handschrift im Jahre 1692 gegeben. Der literarische Rezeptionskontext von Karlstadts Abendmahlstraktat ist also im Lichte der Uberlieferungsgeschichte der Handschrift zunächst „heterodoxe Literatur verschiedener Herkunft". Läßt sich in einem zweiten Schritt genauer bestimmen, aus welcher heterodoxen Richtung unsere Abschrift stammt? Man kann versuchen, diese Frage über die dem Karlstadttext hinzugefügten Vor- und Randbemerkungen zu klären. Auf der ersten Seite der Handschrift, einem Vortitelblatt, findet sich folgende Notiz von unbekannter Hand, die mit derjenigen des Abschreibers des Karlstadttextes nicht identisch ist: „Prieffe es nach dem Lesen. Was etzliche gutte Puncten behaltte, das vbrige was zufast nach art Caluini Welches ich zue [?] dem Cristlichen leser in sein Vrtheil inneres Priefen vnd Zeugnus stelle, ob ers nach ahrt S[ancti] P[auli] dem reinen alles rein behaltten wolle; die Liebe J[ES]V CH[RIST]I in vnd mit vns allen Amen, bis Wier in der Person Corporis Clarifici zu ihme kommen. Amen". Die Formulierung „in der Person Corporis Clarifici" (in der Person des verklärten Leibes) könnte auf die Lehre Kaspar Schwenckfelds (1489-1561) vom verklärten Leib Christi zurückgehen. Zum Schwenckfeldianismus könnte auch die zum Ausdruck kommende Toleranz gegenüber anderen religiösen Richtungen passen, hier konkret gegenüber Karlstadt und Johannes Calvin (1509-1564). Sie werden nicht als heterodox abgestempelt, sondern dem Leser wird ein eigenes Urteil zugemutet gemäß dem Wort „Prüfet alles und das gute behaltet!" Betrachtet man die Unterstreichungen, Anstreichungen und Randnotizen, so entdeckt man das Interesse, das dieser Leser an Karlstadts Abendmahlsschrift hatte: Es sind nicht eigentlich die Besonderheiten von Karlstadts Abendmahlslehre. Diese sieht der Glossator in der Nähe Calvins und überläßt sie dem Urteil des Lesers. Der Glossator hebt nahezu jede Stelle heraus, die ihn in seinem spiritualistischen Offenbarungsverständnis bestätigt. Die erste Unterstreichung betrifft Karlstadts Forderung, der Christ solle „auf

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[Wilhelm Ernst Tentzel]: Theologica Manuscripta Summa diligentia multisque sumtibus circa finem defluxi et principium currentis saeculi a Ν . Ν . hinc inde collecta, in: Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde von Allerhand Bu(e)chern und andern annehmlichen Geschichten. . . . [Leipzig] 1692, 258-274, dazu noch 274 f. Unser Sammelband ist hier S. 268-270 als Codex F beschrieben. Nr. 14: „Anonymi Vom Gesetz und Willen Gottes." - Nr. 21: „Valentin. Weigel. Gnoti Seauton."

Aspekte der Karlstadtrezeption

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sein Innerliches gezeugnus des gaistes achtung geben" 8 2 . In diesem Sinne wird die lutherische Lehre von dem ans äußere Wort gebundenen Glauben, die Karlstadt kritisiert, vom Glossator als „Maulglaub" abqualifiziert 83 . Entsprechend der Bedeutung des inneren H ö rens auf den Geist Gottes tritt die Bedeutung des Abendmahls zurück. Der Glossator schreibt: „Ergo, wann das Sac[rament] zu 1000 malen gebraucht wurdt ehe du Christum in dir erkennest vnd kommen siehest, so ist es eytel, leer vnd ein tod ding" 84 . Die aufgezählten Auffassungen des Glossators haben nun einerseits Parallelen bei Schwenckfeld. Andererseits ist zu bedenken daß der Weigelianismus, in den Texten zum Abendmahl besonders deutlich erkennbar, von Schwenckfeld beeinflußt ist. Da der alte Sammelband, in dem sich die Abschrift des Karlstadttraktats einst befand, keine schwenckfeldianischen Texte, jedoch Weigeliana enthielt, möchte ich als Rezeptionskontext hypothetisch solche Kreise annehmen, in denen Schwenckfeld- und Weigelrezeption zusammengeflossen waren.

Drei pietistische Ausgaben von Karlstadts Gelassenheitstraktat aus den Jahren 1692, 1693 und 1698 Am Ende des 17.Jahrhunderts erlebte Karlstadts Gelassenheitstraktat drei weitere Nachdrucke. Dem ersten Nachdruck von 1692 liegt die pseudoweigelianische Ausgabe von 1618 zugrunde. D o c h wurde die Schrift anonym ohne einen Verfassernamen veröffentlicht: Kunzer || doch Gru(e)ndlicher || TRACTAT || Von der Wahren || Gelassenheit || Was dieselbe sey und worzu || sie nu(e)tze/ || allen Kindern G O T T E S || zu Stärckung und Wachsthum || Am || Innern Menschen/ ||