Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Vormoderne: Konzepte und Analysen 9783110695397, 9783110695014

The essentialization and biologization of gender have enjoyed a recent upsurge in popularity. Flying in the face of 40 y

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German Pages 320 Year 2020

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Inhalt
Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Frühen Neuzeit
Geschlechtergefühle?
Geschlechterwissen in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern
„Frauen sind überall Frauen.“
„Damit der Mensch nicht in der Eiszone des bürgerlichen Lebens erstarre“?
Produktive Polarisierung
Geschlechtliche Arbeitsteilung und die Kernfamilie
„Frauenarbeit“ 1903 oder: Feminismus im Modus der Anschaulichkeit
Von Frauen und Vögeln
Die Organisation von Geschlechtern und das Geschlecht von Organisationen
„Mit zwölf Jahren konnte sie noch kein Hemd bügeln.“
Die Autorinnen und Autoren
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Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Vormoderne: Konzepte und Analysen
 9783110695397, 9783110695014

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Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Frühen Neuzeit

Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)

beiheft 79 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin

Muriel González Athenas, Falko Schnicke (Hrsg.)

Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Frühen Neuzeit Konzepte und Analysen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Control Number: 2020934068

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Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Franz X. Stückle Druck und Verlag e.K., Ettenheim isbn 978-3-11-069501-4 e-isbn (pdf) 978-3-11-069539-7 e-isbn (epub) 978-3-11-069551-9

Inhalt

Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Frühen Neuzeit. Begriffe, Konzepte und historische Forschungsperspektiven // Muriel González Athenas, Falko Schnicke

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Geschlechtergefühle? Uterusprolaps, Pessare und Ekel in der Frühen Neuzeit // Sarah-Maria Schober Geschlechterwissen in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern // Eva Marie Lehner „Frauen sind überall Frauen.“ Versuch einer alternativen Antwort auf eine 226 Jahre alte Frage // Annika Raapke „Damit der Mensch nicht in der Eiszone des bürgerlichen Lebens erstarre“? Bewegung, Polarisierung und Verfestigung der Geschlechterdichotomien in schweizerischen Zeitschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts // Sophie Ruppel

_____ 121

Produktive Polarisierung. Medizinisches Geschlechterwissen als Dynamisierungsfaktor in der Frauenbildungsfrage des späten 19. Jahrhunderts // Andreas Neumann

_____ 149

Geschlechtliche Arbeitsteilung und die Kernfamilie. Ökonomie in Zeugung und Vererbung Ende des 19. Jahrhunderts // Bettina Bock von Wülfingen

_____ 183

„Frauenarbeit“ 1903 oder: Feminismus im Modus der Anschaulichkeit // Johanna Gehmacher

_____ 215

Von Frauen und Vögeln. Zur Wissensgeschichte des Nestbauinstinkts // Lisa Malich

_____ 239

Die Organisation von Geschlechtern und das Geschlecht von Organisationen. Eine zeitgeschichtliche Perspektive auf NGOs // Claudia Kemper

_____ 269

„Mit zwölf Jahren konnte sie noch kein Hemd bügeln.“ Zur erneuten Popularisierung von Geschlechterwissen in der humangenetischen Beratung der 1970er und 1980er Jahre // Britta-Marie Schenk Die Autorinnen und Autoren

_____ 295 _____ 319

Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Frühen Neuzeit Begriffe, Konzepte und historische Forschungsperspektiven von Muriel González Athenas und Falko Schnicke

Im Anfang war die Popularisierung. Im Anfang der modernen Geschlechtergeschichte war die Popularisierung – und zwar in forschungshistorischer wie sachgeschichtlicher Hinsicht: Bereits in Karin Hausens 1976 erschienenem, mehrfach wieder abgedrucktem und übersetztem Aufsatz zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere 1, einem Grundlagentext der historischen Geschlechterforschung 2, wird die Herausbildung der polaren bürgerlichen Geschlechterordnung im 19.Jahrhundert als Ergebnis diverser Popularisierungen gedeutet. Ein nicht unwesentlicher Teil

1 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart 1976, 363–393. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs-und Familienleben, in: Heidi Rosenbaum (Hrsg.), Seminar Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt am Main 1978, 161–214. Karin Hausen, Familiy and Role-Division. The Polarization of Sexual Stereotypes in the Nineteenth Century. An Aspect of Dissociation of Work and Family Life, in: Richard Evans/W.R. Lee (Eds.), Social History of the Family in Nineteenth and Twentieth Centuries Germany. London 1981, 51–83. Die raschen Nachdrucke wertet Hausen in ihrer kritischen Reflektion des eigenen Werkes als maßgeblich für die positive Rezeption des Aufsatzes. Vgl. Karin Hausen, Der Aufsatz über die „Geschlechtscharaktere“ und seine Rezeption, in: Dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Göttingen 2012, 83–105, hier 90f. 2 Diese Einschätzung gilt weit über die Geschichtswissenschaft hinaus auch für die soziologische oder literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung. So hat etwa Angelika Wetterer Hausens Aufsatz als „klassisch“ beschrieben (eine Qualifizierung, die häufig auftaucht) und Ulrike Vogels ihn in ihren Band unter der Rubrik „Erste Entwürfe zur Beziehung der Geschlechter in der Frauen- und Geschlechterforschung“ aufgenommen. Angelika Wetterer, Konstruktion von Geschlecht. Reproduktionsweise der Zweigeschlechtlichkeit, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3. erw.Aufl. Wiesbaden 2010, 126–136, hier 131. Ulrike Vogel (Hrsg.), Meilensteine der Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden 2007. Franziska Schößler bestreitet in ihrer Einführung das Kapitel zur bürgerlichen Geschlechterordnung allein mit Hausens Text. Vgl. Franziska Schößler, Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008, 26ff. Gegenbeispiele an Anthologien, die Hausens Text nicht aufgenommen oder diskutiert haben, finden sich allerdings auch. Vgl. etwa Franziska Bergmann/ Franziska Schößler/Bettina Schreck (Hrsg.), Gender Studies. Bielefeld 2012. Martina Löw/Bettina Mathes (Hrsg.), Schlüsselwerke der Geschlechterforschung. Wiesbaden 2005.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-001

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der geschlechtergeschichtlichen Forschung ist von dieser Perspektive geprägt worden und verfolgt seitdem Fragen nach den Trägergruppen dieser Popularisierung der Essentialisierung von Geschlechterwissen, nach der konkreten historisch-spezifischen Ausgestaltung sowie nach Faktoren ihrer Beförderung oder Hemmung, aber auch nach beobachtbaren Alternativen. Damit konnte ein differenziertes Bild über die Entstehung und Verbreitung des bürgerlichen Geschlechtermodells und der daraus resultierenden Praktiken vom 18. bis ins 21.Jahrhundert erarbeitet werden.

I. Geschlechtscharaktere als Praxis Karin Hausen hatte sich 1976, im Jahr der ersten Frauensommeruniversität an der FU Berlin, die Frage gestellt, wie und von wem die „Geschlechtscharaktere“ definiert

wurden und welche gesellschaftliche Wirkung sie entfalteten. Als Geschlechtscharaktere definierte sie das physiologisch-psychologische Wissen des 18. bis 20.Jahrhunderts über das „Wesen“ von Männern und Frauen, ein Wissen über die „Natur“ der Geschlechter. 3 Ihre Antwort auf die Frage, wie dieses essentialistische Konzept von Geschlecht entstanden sei, präsentierte sie als eine historisch dreistufige Abfolge, in der im Übergang von der Vormoderne zur Moderne als Reaktion auf die Ablösung des „Ganzen Hauses“ durch die bürgerliche Familie zunächst die bildungsbürgerliche Enzyklopädik die Vorstellung polarer und komplementärer Geschlechtscharaktere am Ende des 18.Jahrhunderts „‚erfunden‘“ hätte. 4 Diese sei danach im Laufe des 19.Jahrhunderts durch medizinische, anthropologische, psychologische und psychoanalytische Argumente fundiert worden. Und schließlich seien „[d]ie Vorstellungen von dem eigentlichen Wesen der Geschlechter […] zugleich offenbar so erfolgreich popularisiert [worden], daß immer größere Kreise der Bevölkerung sie bis weit ins 20.Jahrhundert hinein als Maßstab […] akzeptierten.“ 5 Popularisierung, die Hausen als „Prägung, Durchsetzung und Verallgemeinerung gesellschaftlicher Normen“ fasste 6, fand demnach vom zweiten zum dritten Schritt statt.

3 Vgl. Hausen, Polarisierung (1976) (wie Anm.1), 363. 4 Ebd.369 (Zitat) u. 370–375. 5 Ebd.369. 6 Ebd.390.

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Obwohl die Geschlechtscharaktere vor allem für das Bürgertum bedeutend waren, seien auch Arbeiterinnen durch „psychologische und praktische Ausbildung“ auf ihre Aufgabe als Gattin, Mutter und Hausfrau vorbereitet und die Idee der Geschlechtscharaktere so „popularisier[t]“ worden. 7 Popularisierung meinte in der sozialen Praxis die Verbreitung durch Anleitung von Erwachsenen, Training und Schulung, über die diskursives Wissen in alltägliches Handeln übersetzt werden sollte. Prägender für die Durchsetzung des bürgerlichen Geschlechtermodells war allerdings der Beamtenhaushalt, in dem zwischen Familienleben und Berufswelt unterschieden werden konnte. Während Frauen Haushalt und Kinder zugeschrieben wurden, waren Männer in der Erwerbsarbeit verortet. Die sie darauf vorbereitenden staatlichen Bildungseinrichtungen von Lateinschulen bis Universitäten standen nur Männern offen, so dass Frauen von Hauslehrern „nach dem Vorbild der Mutter ausgebildet“ wurden 8, oder auf Töchterschulen von abstrakten und formalisierten Inhalten ferngehalten werden sollten. Aus dieser Situation hätten sich „anerzogene Wesensunterschiede“ ergeben 9: „Wenn im Laufe des 19.Jahrhunderts die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ im Bürgertum eine immer größere Verbreitung fand, so ist die Ursache hierfür nicht allein in den immer deutlicher ausgeprägten Unterschieden der häuslichen und außerhäuslichen Arbeitsbereiche zu suchen. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, ist der Umstand, daß gleichzeitig auch die Bildungspolitik darauf hinwirkte, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu vertiefen. Alles was zunächst offenbar unbewußt und planlos als verschiedenartige Verhaltensweisen von Mann und Frau zustandegekommen war, wird seit dem späten 18.Jahrhundert immer bewusster als Bildungsziel proklamiert.“ 10

Wieder wird Popularisierung als die Implementierung normativen Wissens über Geschlecht in Praktiken der Lebensführung und Arbeitsteilung sowie die familiäre und institutionelle Sozialisation verstanden, die so wirkmächtig geworden ist, dass sie das 19. und 20.Jahrhundert wesentlich geprägt hat.

7 Ebd.383. 8 Ebd.385. 9 Ebd.386. 10 Ebd.387f.

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II. Praktiken, Umformungen, Paradoxien – Zur Fragestellung des Bandes Hausen konnte sich in ihrem Text noch nicht auf die neuere Popularisierungsforschung stützen, weil diese selbst erst seit den 1970er Jahren in der Entstehung begriffen war. 11 Ohne das zu explizieren, legte sie in ihrer Analyse aber ein Verständnis von Popularisierung zugrunde, das diese nicht pejorativ als eindimensionale Simplifizierung auffasste, sondern stattdessen nach der Neuschöpfung und Umformung bestehender Wissensbestände fragte. Zudem nahm sie nicht nur textgebundene Rezeptionen in den Blick, sondern fragte auch nach Auswirkungen auf unterschiedliche Formen sozialer Praxis und argumentierte mit einer Popularisierung durch konkretes Handeln im Kontext sozialer Interaktionen. Genau das ist die Pointe der neueren Popularisierungsforschung: Sie will, so Andreas Daum, die „eigene[n] Wissenstransformationen und -entwürfe“ popularisierten Wissens ernst nehmen, die im hierarchischen Modell von seriösem, akademischem Wissen auf der einen Seite und trivialem, populärem oder gar vulgärem Wissen auf der anderen unsichtbar bleiben. 12 Das vorliegende Sonderheft greift diese Perspektive auf und diskutiert die alte Frage nach den Popularisierungen der Essentialisierungen von Geschlecht neu. Zwar konnte unser Bild moderner und vormoderner Geschlechtervorstellungen bereits erheblich differenziert werden, indem die Alltagsbedeutungen von Geschlecht entschlüsselt und entsprechende Praktiken verfolgt wurden, die Geschlechterwissen zu handlungsleitender Relevanz verhalfen. Gleichzeitig ist über solche Praktiken noch immer zu wenig bekannt und damit zu den Modi, in denen historischen Akteuren Wissen um Geschlecht konkret begegnete und in denen sie Geschlecht aktiv gestalten konnten. Die bisherige sozial- und kulturhistorische Forschung kann etwa nicht hinreichend erklären, durch welche Praktiken essentialistisches Wissen um Geschlecht popularisiert wurde oder in welchem Verhältnis Popularisierungen durch Praktiken zu jenen durch normative Wissenssetzungen stehen. Weiterfüh-

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Vgl. dazu den kurzen Abriss bei Carsten Kretschmann, Einleitung. Wissenschaftspopularisierung – ein

altes, neues Forschungsfeld, in: Ders. (Hrsg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin 2003, 7–21, hier 9–12. 12

Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19.Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissen-

schaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit. 1848–1914. 2. erg.Aufl. München 2002, 26.

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rende Analysen der Mechanismen und Funktionsweisen von Popularisierung wissenschaftlichen Wissens sind für eine kritische Geschlechterforschung deshalb unabdingbar. Die Wissensgeschichte und neuere Wissenschaftsgeschichte haben entscheidend dazu beigetragen, einen bottom-up-Ansatz zu entwickeln, der nicht nur nach der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens fragte, sondern nach Rückwirkungen und Umformungen, nach Adaptionen, Rekontextualisierungen und Paradoxien in seiner Popularisierung. Hier setzt das Sonderheft an und liefert Beiträge, die u.a. danach fragen, inwiefern Wissensdiskurse über Geschlechterzuschreibungen affirmativ wirken oder Transformation auslösen können. Sie fragen danach, welche Diskurse, welche Praktiken und welche Medien Zweigeschlechtlichkeit und Geschlecht als nicht-konsistente Kategorie befördert haben. Insgesamt greift der vorliegende Band damit aktuelle Forschungsfragen der Geschlechtergeschichte wie der Wissensgeschichte auf und dekonstruiert das bürgerliche Geschlechtermodell durch Eröffnung weiterer Perspektiven und Quellenarten erneut. Über die naturwissenschaftlichen Vorannahmen hinaus werden besonders die sozialen Praktiken, die Geschlechterdifferenzen in Gesellschaften einschreiben, und die daran beteiligten Akteure/innen in produktiver Kombination untersucht. Gefragt wird deshalb nach historischen Mechanismen der Popularisierung von Geschlechtermodellen, wobei die Beiträge innovative Antworten liefern. Sie zeigen an unterschiedlichen historischen Konstellationen, wie persistent Vorstellungen über Geschlecht vom Mittelalter bis ins 21.Jahrhundert gewesen sind, wie Wissen um Geschlecht die Grenzen selbst entfernter Wissensgebiete durchdrang und wie stark Popularisierungen von Geschlechterwissen von spezifischen Medien und ihren jeweiligen Kontexten abhingen. Das Anliegen dieses Bandes ist es zum einen, den Untersuchungszeitraum, der sich bisher hauptsächlich auf das 19. und 20.Jahrhundert konzentriert hat, um die Vormoderne zu erweitern, und zum anderen, die Untersuchungen zu Popularisierungen von Essentialisierungen der Geschlechtermodelle weiter voranzutreiben. Evident ist, dass die populärwissenschaftliche Literatur auf eine Tradition zurückblickt, die nicht erst mit dem naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel des 17. und 18.Jahrhunderts einsetzt. Als die europäischen Staaten anfingen, stärker auf die überseeische Welt auszugreifen und sich in Europa gleichzeitig ein Strukturwandel der Öffentlichkeit vollzog, weiteten sich auch die Formen der Popularisierung wissenschaftlicher Kenntnisse aus. Allmählich traten sie aus dem Zirkel der

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privilegierten Bevölkerungsschichten und Gelehrtenkreise heraus. Die Vermittlungsformen änderten und pluralisierten sich, je nach Interessen und gesellschaftlichen Bereichen. Seit dem 18.Jahrhundert dienten dazu öffentliche Vorträge, Vorlesungen, (Wander-)Ausstellungen und Museen mit Anschauungsmaterial aus Technik und Naturkunde, sowie zoologische und botanische Exponate, naturkundliche Sammlungen der Universitäten oder privater Sammler wie Kuriositätenkabinette usw. Daher sind hier besonders konzeptionelle Überlegungen von Interesse, die Popularisierungsprozesse auf Ursachen und Folgen sozialen Wandels beziehen und soziale Praktiken als Formen der Popularisierung berücksichtigen. Perspektiven, welche die Wissenschaftsverbreitung als Motor für eine Rationalisierung vieler Lebensbereiche deuten, die den Prozess der Modernisierung und Demokratisierung fördern, sind „Erfolgsmodelle“, die wenig zielführend für die Analyse für gesellschaftlichen Wandel und für Fragen nach Machtverteilung und gesellschaftlichen Asymmetrien sind. Weiterführend sind Forschungen, die mit der These arbeiten, dass gesellschaftliche Krisensituationen die Nachfrage nach popularisiertem Wissen erhöhen. Eben diesen Zusammenhang untersuchen die vorliegenden Beiträge, wenn sie nach den Essentialisierungen von Geschlecht fragen. Popularisiertes Wissen ist zwar immer von historischen, medialen und politischen Umständen abhängig, doch die Dringlichkeit der Wissenspartizipation seitens der Öffentlichkeit tritt besonders in Momenten beschleunigten sozialen Wandels hervor. In dieser Struktur ist auch die Parallele zu aktuellen Bestrebungen der Popularisierung oder Wiederaufnahme in gesellschaftlichen Debatten um Geschlecht von essentialisierenden Geschlechtermodellen zu betrachten und zu bewerten. Wissenspopularisierungen entspringen den jeweils gegenwärtigen Bedürfnissen, sind Lösungen auf aktuell ungeklärte oder ungewollte Fragen und stellen monokausale Antworten auf komplexe gesellschaftliche Situationen zur Verfügung. Sie versprechen Routinen und einfache Lösungen auf gesellschaftliche Krisen und Herausforderungen. Je nach historischem und politischen Kontext können sie für bestimmte gesellschaftliche Gruppen stabilisierend wirken, sie können als Mittel der Sozialkontrolle fungieren, aber auch neue Kräfte freisetzen und emanzipatorisch wirken. Die unterschiedlichen Funktionen von populärwissenschaftlichen Bestrebungen können „mit dem Rückgriff auf eine angebliche höhere Instanz des Wissens […] einer zunehmenden gesellschaftlichen Verunsicherung“ entgegenwirken, so Sigrid Schmitz und Christian Schmieder in ihrer Einleitung zum wegwei-

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senden Sammelband über die Popularisierung von Geschlecht in den Naturwissenschaften. 13 Will man das komplexe Phänomen der Popularisierungen von Essentialisierungen der Geschlechtermodelle in seiner Breite in den Blick nehmen, bedarf es also einer möglichst weiten Begriffsbestimmung. Diese darf weder bestimmte Wissensinhalte noch einzelne Medien oder gesellschaftliche Gruppen per se ausschließen. Bestimmend sind hier daher folgende Fragen, die die Beiträge an die Quellen und ihre unterschiedlichen Gegenstände stellen: Wie werden essentialistische Geschlechtermodelle popularisiert? Welche Popularisierungsmodelle werden verfolgt? Welcher Bilder, Medien oder auch Axiome und Epistemologien bedienen sich die Forschung, politische Institutionen oder Gelehrte, um Geschlechtermodelle zu popularisieren? An welche gesellschaftlichen Voraussetzungen sind die Wissensbestände gebunden und bedingen daher ebenfalls die Form der Popularisierung? Welche Wissensarten und Medien eignen sich besonders für den Popularisierungsprozess? Einführend sollen hier dafür zunächst die Begriffe und Konzepte des Geschlechterwissens (III.) und der Popularisierung (IV.) diskutiert werden. Das geschieht in kritischer Absicht, um historische Perspektiven für den vorliegenden Band zu erschließen. Am Ende werden die Beiträge kurz in aktuelle Bezüge eingeordnet (V.).

III. Geschlechterwissen als historisch plurales Wissen Wissen um Geschlecht basiert zwar auf biologischen, anthropologischen und medizinischen Annahmen und als ‚Fakten‘ verobjektivierten Beobachtungen, aber Geschlechterwissen ist breiter in Gesellschaften verankert, als diese naturwissenschaftliche Basis suggeriert. 14 Auch in anderen Bereichen ist Wissen um Geschlecht

13 Sigrid Schmitz/Christian Schmieder, Popularisierungen. Zwischen Naturwissenschaften, Medien und Gesellschaft, in: Smilla Ebeling/Sigrid Schmitz (Hrsg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Wiesbaden 2006, 363–378. 14 Diese Feststellung widerspricht nicht dem Grundkonsens der interdisziplinären Geschlechterforschung, dass Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit sozial konstruierte Kategorien sind. Entgegen der „Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit“ (Carol Hagemann-White), die eine natürlich gegebene Zweigeschlechtlichkeit annimmt, geht die konstruktivistische Geschlechterforschung von sozial hergestellten Geschlechtern aus, die durch institutionalisierte Objektivierungen und interaktives Handeln konstant re-

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relevant und zum Teil prägend geworden. Pierre Bourdieu hat Geschlechterwissen in einem anthropologischen Zugang deshalb als „unbewußt[e] Wahrnehmungsund Bewertungsschemata“ 15 beschrieben, die den gesamten Kosmos menschlicher Gesellschaften umfassen und dabei nicht nur Kultur/Natur auf der Linie männlich/ weiblich trennen, sondern auch Jahreszeiten (Sommer/Winter), Himmelsrichtungen (Süden/Norden), Temperaturen (warm/kalt) und räumliche Positionen (oben/ unten, draußen/drinnen). 16 Stärker historisch hat – um nur einige Beispiele zu nennen – Claudia Honegger argumentiert, die den Hexenwahn zwischen Mittelalter und Aufklärung 1978 als „Deutungsmuster“ für die soziale Positionierung von Frauen innerhalb patriarchaler Gesellschaften interpretierte, „das Natur und Gesellschaft umspannte“ 17 und die „andere Seite der okzidentalen Rationalisierung“ bedeutete. 18 Ähnlich argumentierte Karin Hausen, die 1993 die Entstehung der modernen Arbeitsteilung des Industriekapitalismus untersuchte und dabei eine „komplexe Verschränkung zwischen Geschlechter-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ festgestellt hatte. 19 Geschlechterwissen ist mithin ein vielfältiges und politi-

produziert werden. Der Begriff der Reproduktion verweist darauf, dass es nicht um einmalige, abgeschlossene, sondern konstante und wiederholende gesellschaftliche Hervorbringungen von Geschlecht geht. Vgl. Andreas Heilmann u.a., Männlichkeit als Reproduktionsbedürftigkeit, in: Andreas Heilmann u.a. (Hrsg.), Männlichkeit und Reproduktion. Zum gesellschaftlichen Ort historischer und aktueller Männlichkeitsproduktionen. Wiesbaden 2015, 9–23, hier 10. Dabei wird der „Körper nicht als Basis, sondern als ‚Effekt‘ sozialer Praxis“ verstanden. Stefan Hirschauer, Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 18, 1989, 100–118, hier 101. Das Konzept des „doing gender“ setzt an diesem performativen Verständnis an und betont die routinierte, allgegenwärtige Produktion und Reproduktion von Geschlecht. Doing gender als „understanding of gender as a routine, methodical, and recurring accomplishment […] involves a complex of socially guided perceptual, interactional, and micropolitical activities that cast particular pursuits as expressions of masculine and feminine ‚natures‘“. Canadance West/Don H. Zimmerman, Doing Gender, in: Gender and Society 1, 1987, 125–151, hier 126. 15

Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft. Übers. von Jürgen Bolder. Frankfurt am Main 2005, 14.

16

Vgl. ebd.24, wo Bourdieu seine wesentlich durch die Beobachtung der Kabylen gewonnenen Thesen

in einer komplexen Grafik zusammenfasst. Sie kennt auch Zwischenstufen, die einen transitorischen Raum beschreiben, der zwischen den Geschlechtern situiert ist. So wird das Hinaustreten als Zwischenposition zwischen den Geschlechtern eingestuft, ebenso wie Frühling und Herbst oder Westen und Osten. 17

Claudia Honegger, Die Hexen der Neuzeit. Analysen zur Anderen Seite der okzidentalen Rationalisie-

rung, in: Dies. (Hrsg.), Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines Deutungsmusters. Frankfurt am Main 1978, 21–151, hier 33. 18

Ebd.21.

19

Karin Hausen, Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay, in: Dies. (Hrsg.), Geschlechterhi-

erarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen. Göttingen 1993, 40–67, hier 42.

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sches Wissen 20, das historische und gegenwärtige Gesellschaften durchzieht und prägt. 1. Geschlechterwissen als wissenssoziologischer Begriff Geschlechterwissen ist als Begriff und Konzept in diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig. Gemeint sind damit zum einen ein Metawissen über jene Vorannahmen, die gegenwärtige und historische Akteure alltäglich in der (unwillkürlichen) Reproduktion der Geschlechterordnung voraus- und eingesetzt haben, um sozial akzeptiert zu handeln, sowie zum anderen jene Erkenntnisse der Wissenschaften, die sich mit dieser Reproduktion von Axiomen gegenwärtig oder historisch beschäftigt haben. 21 Als Begriff konkurriert Geschlechterwissen hier mit ähnlichen, aber spezifischeren Verwendungen, wie Stefan Hirschauers Formulierung von der „Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem“, das Heteronormativität beschreiben will 22 oder „Gender@Wissen“, einem Neologismus, mit dem Christina von Braun und Inge Stephan die geschlechtliche Kodierung der Wissenschaften einzufangen such-

20 Politisch sind Geschlechterzuschreibungen, weil über sie – wie die zitierten Beispiele verdeutlichen – Machtansprüche, Machtbeziehungen und Ungleichheit hergestellt, legitimiert, aber auch kritisiert werden können. Grundlegend hat Joan W. Scott das in ihrem bekannten Artikel formuliert: „Attention to gender is often not explicit, but it is nonetheless a crucial part of the organization of equality or inequality. Hierarchical structures rely on generalized understandings of the so-called natural relationship between male and female. […] Gender is one of the recurrent references by which political power has been conceived, legitimized, and criticized. It refers to but also establishes the meaning of the male/female opposition. To vindicate political power, the reference must seem sure and fixed, outside human construction, part of the natural or divine order. In that way, the binary opposition and the social process of gender relationships both become part of the meaning of power itself; to question or alter any aspect threatens the entire system.“ Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: AHR 91, 1986, 1053–1075, hier 1073. Als ein Beispiel wie Geschlecht zur Kritik von Herrschaft eingesetzt werden konnte, sei auf die öffentlichen Reaktionen auf Katharina die Große verwiesen. Vgl. Ruth Dawson, Geschlecht, Sexualität, Legitimation. Claude-Carloman de Rulhiére über Katharina die Große, in: Christian Klein/Falko Schnicke (Hrsg.), Legitimationsmechanismen des Biographischen. Kontexte – Akteure – Techniken – Grenzen. Bern 2016, 117–133. 21 Vgl. grundlegend zu dieser Perspektive – aber ohne Berücksichtigung der geschichtlichen Dimension – Angelika Wetterer, Geschlechterwissen. Zur Geschichte eines neuen Begriffs, in: Dies. (Hrsg.), Geschlechterwissen und soziale Praxis. Theoretische Zugänge – empirische Erträge. Königstein/Ts. 2008, 13–36, hier 16f. 22 Stefan Hirschauer, Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, in: Christiane Eifert u.a. (Hrsg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel. Frankfurt am Main 1996, 240–256.

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ten. 23 Konzeptioneller eingeführt wurde der Begriff des Geschlechterwissens durch die Soziologie. Irene Dölling definierte ihn 2005, um ihn aus einem umgangssprachlichen Verständnis mit reifizierendem Bezug zu Geschlecht zu lösen und als Analysebegriff produktiv zu machen. Im Anschluss an die soziologische Biographieforschung verstand Dölling unter „(individuellem) ‚Geschlechter-Wissen‘ zunächst einmal ganz allgemein den biographisch aufgeschichteten, sich aus verschiedenen Wissensformen zusammensetzenden und strukturierten Vorrat an Deutungsmustern und an Fakten- und/oder Zusammenhangs-Wissen, mit dem die Geschlechterdifferenz wahrgenommen, bewertet, legitimiert, begründet bzw. als selbstverständliche, quasi ‚natürliche‘ Tatsache wahrgenommen wird. Auf diesen Wissensvorrat greifen Individuen zurück, wenn sie in konkreten Kontexten und Situationen ‚Geschlecht‘ gemäß den Regeln des zweigeschlechtlichen Klassifizierens ‚strategisch‘ (Bourdieu) einsetzen, um z.B. (alte und neue) Anforderungen an und Leistungskriterien für Verwaltungshandeln zu plausibilisieren, um eigene Ansprüche zu wahren und fremde abzuwehren oder die (unterlegene) Position in der hierarchischen Arbeitsorganisation als ‚normativ und sachlich korrekt‘ (Nollmann) zu deuten.“ 24

In Rechnung gestellt wurde dabei, dass es verschiedene Wissensformen gibt und Geschlechterwissen nicht nur reflektierte Wissensbestände umfasst, sondern auch unbewusste, „quasi ‚natürliche‘ Einstellungen“. 25 Grundlegend für Döllings Definition war die Annahme, dass Geschlechterwissen in zwei Formen, einer objektiven und einer subjektiven Form, vorläge. Als objektives Geschlechterwissen galten erstens ein Alltags- und Erfahrungswissen, das vor-reflektiert eingesetzt werde, zweitens institutionell in den Religionen, der Wissenschaft, dem Recht u.ä. hervorgebrachtes Geschlechterwissen, das auch als „Expertenwissen“ bezeichnet wird 26, und drittens ein über Medien und soziale Verbände popularisiertes Wissen. 27 Zwischen den unterschiedlichen Formen wurde ein (hierarchisch-diffundierender) Austausch

23

Vgl. Christina von Braun/Inge Stephan (Hrsg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien.

2.Aufl. Köln 2009. 24

Irene Dölling, „Geschlechter-Wissen“ – ein nützlicher Begriff für die „verstehende“ Analyse von Verge-

schlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 23, 2005, 44–62, hier 49f.

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25

Ebd.50.

26

Ebd.51.

27

Ebd.

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angenommen 28, denn das popularisierte Geschlechterwissen galt als „Vermittler zwischen Alltags- und Expertenwissen“. 29 In subjektives Wissen überführt werde dieses objektive Geschlechterwissen durch seine Aneignung, die Individuen abhängig von ihrer historisch bedingten sozialen Lage unterschiedlich offenstehe und über Zugang zu diesem Wissen und Handlungskompetenzen entscheide. 30 In Anschluss daran hat Angelika Wetterer den Begriff des Geschlechterwissens in einem an der Universität Graz durchgeführten Forschungsprojekt wissenssoziologisch befragt und in drei Idealtypen zerlegt, die sich in ihren Bezugsgruppen, ihren Wissensformen und den damit zusammenhängenden Praxen unterscheiden 31: Der Begriff umfasse erstens „Alltagswissen und alltagsweltliches Geschlechterwissen“, das als „inkohärentes und plurales Erfahrungswissen“ beschrieben wird, das – in Anlehnung an Bourdieu – aus „im ‚doing‘ angeeigneten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ besteht. 32 Entscheidend ist, dass das Alltagswissen „vorreflexiv gewonnenes Wissen“ darstellt 33, weshalb es dem kritischen Zugriff als selbstevident und handlungsimmanent entzogen ist. 34 Zum zweiten umfasse Geschlechterwissen das „Wissen des wohlinformierten Bürgers und der Gender-Expertinnen (sic!)“ 35, die als Wissensarbeiter/innen der institutionalisierten Frauen- und Gleichstellungspolitik definiert sind. Ihr Wissen zeichne sich durch eine „reflexive Distanz“ und situative Optionalität aus. Es stelle ein „praxis- und anwendungsorientiertes Wissen [dar], das eine vermittelnde Stellung zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen einnimmt“. 36 Expert/innenwissen wird besonders in der

28 Eine solche Perspektive sieht die neuere Popularisierungsforschung kritisch, weil sie Popularisierung lediglich als einseitige Trivialisierung in einem Top-down-Modell begreift und damit die Eigenleistungen und Neukreationen durch Popularisierungsprozesse vernachlässigt. Vgl. Kretschmann, Einleitung (wie Anm.11), 9. 29 Dölling, „Geschlechter-Wissen“ (wie Anm.24), 51. 30 Ebd.51f. 31 Angelika Wetterer, Geschlechterwissen & soziale Praxis. Grundzüge einer wissenssoziologischen Typologie des Geschlechterwissens, in: Dies. (Hrsg.), Geschlechterwissen (wie Anm.21), 39–63, hier 42. 32 Ebd.50. 33 Ebd. 34 Ebd.51. 35 Ebd.52. Ob es sich bei diesen Benennungen um Ironie handeln soll, ist nicht ersichtlich. In jedem Fall sind sie uneindeutig und stellen erstaunlich unreflektierte Verwendungen von Geschlechterzuschreibungen der einzelnen Rollen dar, die das Verständnis des Textes nicht fördern. Es ist davon auszugehen, dass auch Bürgerinnen wohlinformiert und Männer Gender-Experten sein können. 36 Ebd.

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Bildung und Beratung angewandt und muss gegenüber Kund/innen und Klient/innen passgenau sein. Drittens existieren nach Wetterer schließlich „wissenschaftliches Wissen und feministische Theorie“. 37 Sie werden als „handlungsentlastetes systematisches Wissen“ charakterisiert, wobei Wetterer einschränkt, dass die Zuschreibung der Handlungsentlastung idealtypisch sei, denn Wissenschaften folgten ihren eigenen Praktiken der Produktion und Legitimation: „Auch wissenschaftliches Wissen ist […] intersubjektiv geteiltes Wissen und muss durch das Nadelöhr der Validierung, um zu wissenschaftlichem Wissen zu werden“. 38 Zwischen den drei Formen bestehe eine spannungsreiche Verbindung, vor allem zwischen dem Alltags- und dem wissenschaftlichen Wissen, weil „Geschlechterforscherinnen (sic!) [… mit] den Frauen und Männern auf der Straße“ nur schwer ins Gespräch kämen. Wetterer spricht in diesem Zusammenhang von „Dialogschwierigkeiten“. 39 Während sie also eine Vermittlung zwischen den jeweils benachbarten Typen annimmt (also zwischen dem Alltags- und dem Expert/innen-Wissen sowie zwischen diesem und dem wissenschaftlichen Wissen), geht sie nicht von einer direkten Popularisierung wissenschaftlichen Wissens in Alltagswissen aus. 2. Zur Historizität von Geschlechterwissen Was den beiden Typologien von Dölling und Wetterer fehlt, ist die historische Tiefenschärfe, die die geschichtliche Dimension der erwähnten Institutionen und Prozesse miteinbezieht. Entwickelt für die Analyse der Gegenwartsgesellschaften ist ihnen das nicht zum Vorwurf zu machen. 40 Für eine historische Analyse muss aller-

37

Ebd.55. Es ist nicht unproblematisch, wissenschaftliches Wissen und feministische Theorie vorbe-

haltlos in eins zusetzen – nicht zuletzt deshalb, weil sich feministische Theorie historisch und epistemologisch wesentlich als Wissenschaftskritik verstanden hat. Vgl. dazu grundlegend Delia Schindler, Grundlagen konstruktivistischen Denkens und ihre Konsequenzen für die Empirie, in: Cilja Harders u.a. (Hrsg.), Forschungsfeld Politik. Geschlechtskategoriale Einführung in die Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2005, 101–126, und das Forschungsprogramm des Berliner Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“, https://www.gender.hu-berlin.de/de/graduiertenkolleg (26.03.2018). 38

Wetterer, Geschlechterwissen (wie Anm. 31),55.

39

Ebd.56.

40

Ansätze einer Historisierung sind gleichwohl auszumachen. Dölling spricht etwa von den Erfahrun-

gen, die Individuen machen und beruft sich auf „Erfahrungsstrukturen“, die „längst vor unserer Zeit zustande gekommen sind“. Dölling, „Geschlechter-Wissen“ (wie Anm.24), 49. Sie bleiben aber auf der Ebene des Individuums und nehmen größere soziale Strukturen nicht gleichermaßen als Ergebnisse historischer Entwicklungen in den Blick.

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dings die Geschichte der erwähnten Institutionen und die Entwicklung der angesprochenen Prozesse berücksichtigt werden. Schon die Öffentlichkeit, von der die Modelle als Voraussetzung der veranschlagten Popularisierung (oder Vermittlung) implizit ausgehen, ist ein historisches Produkt. 41 Gleiches gilt auch für die Wissenschaften, die in Form der Naturwissenschaften erst seit dem 17., in Form der Geisteswissenschaften seit dem späten 18. und in Form der Sozial- und Technikwissenschaften seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts entstanden sind. Wenn die (modernen) Wissenschaften als Koproduzenten von Geschlechterwissen angesehen werden, was sicher richtig ist 42, kann das mithin nur für die historischen Epochen von der Aufklärung bis heute gelten, während für Mittelalter und Frühe Neuzeit andere Agenten untersucht werden müssen. Die Religionen – die angesichts der historischen Bedeutung der Multikonfessionalität im Plural wahrzunehmen sind 43 – könnten dafür ein Beispiel sein. Und mit Bezug auf die Geschlechter- und Körpervorstellungen religiöser Gemeinden liegen zu diesem Komplex auch bedeutende Arbeiten aus der Geschichts- und Kulturwissenschaft sowie den Theologien für den Zeitraum vor, in dem die modernen Wissenschaften noch nicht existierten oder erst ihre unterschiedlich verlaufenden Etablierungsphasen bzw. Konsolidierungen durchliefen. 44 Allerdings ist auch ihr Einfluss, ihre Wirkmacht zwischen Früher

41 Grundlegend dazu Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962, sowie Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18.Jahrhunderts. Göttingen 1992. 42 Vgl. u.a. Karin Hausen/Helga Nowotny (Hrsg.), Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt am Main 1986; Londa Schiebinger, The Mind Has No Sex? Women in the Origins of Modern Science. Cambridge, Mass. 1989; Theresa Wobbe (Hrsg.), Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17.Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2000; Sandra Beaufaÿs, Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft. Bielefeld 2003; Ulrike Auga u.a. (Hrsg.), Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20.Jahrhundert. Frankfurt am Main 2010; Levke Harders, American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht. Stuttgart 2013; Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900. Göttingen 2015. 43 Vgl. Olaf Blaschke (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970. Göttingen 2002. Franz Brendle, Das konfessionelle Zeitalter. 2. überarb.Aufl. Berlin 2015. Toby Huff, The Rise of Early Modern Science. Islam, China, and The West. Cambridge 2003. 44 Vgl. etwa Caroline Walker Bynum, Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion. New York 1991. Natalie Zemon Davis, Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian. Berlin 1996. Kirsten E. Kvam u.a. (Eds.), Eve and Adam. Jewish, Christian, and Muslim Readings on Genesis and Gender. Bloomington 1999. Stefanie Schüler-Springorum/Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Deutsch-Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert.

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Neuzeit und Zeitgeschichte geschichtlichen Konjunkturen unterworfen, die in einer Analyse von Geschlechterwissen zu reflektieren sind. Gerade in historischer Perspektive wird somit deutlich, wie geschichtlich und gesellschaftlich bedingt, wie veränderbar, und demzufolge nicht natürlich ableitbar Geschlechterwissen war – und bis heute ist. Hinzu kommt, dass auch Geschlecht und Geschlechterverhältnisse selbst nicht als ahistorisches Wissen existieren. Vielmehr sind sie als Produkte historischer Prozesse aufzufassen. So hat Heide Wunder gezeigt, dass frühneuzeitliche Geschlechterbeziehungen durch die Institution des Ehe- und Arbeitspaares, in der die Verantwortung für Familie und Produktion in Haushalt und Betrieb gemeinsam getragen wurde, eine Trennung in weibliche und männliche Sphären (Innen/Außen) oder eine Trennung der Arbeitsleistungen in Produktion und Reproduktion nicht kannten. 45 In diesem Modell, das Wunder an Untersuchungen zu Bürger-, Handwerksund Bauernhaushalten entwickelt hat, war Weiblichkeit nicht als Negation und in Abhängigkeit von Männlichkeit, sondern durch Arbeit bzw. Wirtschaften definiert. 46 Abgeleitet wurden diese Geschlechtervorstellungen von frühmodernem wirtschaftlichen Wissen und von vorkapitalistischem Wissen um lokale Produktionsregime. Wunder hat das als „Familiarisierung von Arbeiten und Leben“ beschrieben, denn seit dem 11. und 12.Jahrhundert hätte sich die bäuerliche und gewerbliche Produktion von den herrschaftlichen Großhaushalten in kleinere Haushalte und Familienverbände verlagert und eine Arbeitsteilung zwischen der Lohnarbeit professioneller und ungelernter Arbeiter/innen etabliert. 47 Beides habe Göttingen 2006. Christina von Braun, Glauben, Wissen und Geschlecht in den drei Religionen des Buches. Wien 2009. Laurence Lux-Sterritt (Ed.), Gender, Catholicism and Spirituality. Women and the Roman Catholic Church in Britain and Europe, 1200–1900. Basingstoke 2011. Ute E. Eisen u.a. (Hrsg.), Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Christentum und Islam. Tübingen 2013. Claudia Ulbrich, Verflochtene Geschichte(n). Ausgewählte Aufsätze zu Geschlecht, Macht und Religion in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Andrea Griesebner u.a. Köln 2014. Kirsten Rüther u.a., Gender and Conversion Narratives in the Nineteenth Century. German Mission at Home and Abroad. Farnham 2015. 45

Vgl. Heide Wunder, „Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert.“ Zur geschlechterspezifischen Teilung und Be-

wertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit, in: Hausen (Hrsg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung (wie Anm.19), 19–39, hier 24. 46

Zum Konzept des Arbeitspaares Heide Wunder, Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbezie-

hungen im 15. und 16.Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Dies./Christina Vanja (Hrsg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Frankfurt am Main 1991, S. 12–26, hier 20–26. Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond.“ Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, 96–109. 47

20

Ebd.96.

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Rückwirkungen auf die Beziehung der Geschlechter gehabt: „Die innerbetriebliche und die innerfamiliale Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen folgte nicht strikt der Zuweisung von häuslichen Arbeiten an die Ehefrau und von gewerblicher – für den Markt bestimmter – Produktion an den Ehemann. […] Das Problem wurde anders gelöst, nämlich durch die Arbeitsteilung innerhalb der Geschlechter: Schwere körperliche Arbeiten wurden vielfach von den (unverheirateten) Mägden oder Tagelöhnerinnen verrichtet, während die Ehefrau die mehr organisatorischen Aufgaben und das Kochen übernahm“. 48 Die Arbeitsteilung strukturierte sich also entlang von Praktiken und Erfahrungswissen, die das Geschlechterverhältnis in den Alltag übersetzten. Umgekehrt ging das Wissen um Geschlecht nicht vollständig in den Routinen des Wirtschaftens auf. In der ständischen Gesellschaft ergaben sich damit andere Lebenschancen für Frauen als in der kapitalistisch-bürgerlichen Klassengesellschaft der Hochmoderne: „Die Mehrpoligkeit eröffnete Handlungsspielräume, und es bleibt im Einzelnen zu klären, was jeweils über die Nutzung von Geschlechterstereotypen und Geschlechterordnungen verhandelt wurde, so dass sie für Institutionen und einzelne von solcher Bedeutung waren.“ 49 Neuere Forschungen konnten zeigen, dass sich diese Vorstellungen nicht nur auf Ehepaare bezogen, sondern für einen erweiterten Kreis an Familienmitgliedern Gültigkeit beanspruchen konnten; auch setzten sie nicht auf dem späteren Ideal der romantischen Liebespaar-Beziehung auf, die nämlich vielmehr als vertragsgleiche Arbeitsgemeinschaft konzipiert war. 50 Vor diesem Hintergrund ist das bis in unsere Gegenwart prägende und aktuelle öffentliche Debatten bestimmende 51 bipolare, komplementäre Geschlechtermodell keineswegs universell, sondern erst um 1800 entstanden, wie Karin Hausen in der Analyse diverser bürgerlicher Enzyklopädien ausgeführt hat. Es ist selbst Ergebnis und Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels vom „Ganzen Haus“ zur bürgerlichen Familie und be-

48 Ebd.102f. 49 Heide Wunder, Normen und Institutionen der Geschlechterordnung am Beginn der Frühen Neuzeit, in: Dies./Gisela Engel (Hrsg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Königstein/Ts. 1998, 57–78, hier 64. 50 Vgl. dazu Muriel González Athenas, Kölner Zunfthandwerkerinnen 1650–1750. Arbeit und Geschlecht. Kassel 2014. 51 Vgl. als gegenwärtige pseudowissenschaftliche Polemiken etwa Axel Meyer, Adams Apfel und Evas Erbe. Wie die Gene unser Leben bestimmen und warum Frauen anders sind als Männer. München 2015; Ulrich Kutschera, Das Gender-Paradoxon. Mann und Frau als evolierte Menschentypen. Berlin 2016.

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deutete eine qualitative und quantitative Verschiebung. Hausen betont für die Entwicklung im 19.Jahrhundert, ähnlich wie Wetterer, dass die Hervorbringung der sozial erwünschten Geschlechterordnung zwischen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auf der einen Seite und der marktorientierten Wirtschaftsentwicklung auf der anderen Seite im Sinne des doing gender immer wieder neu hergestellt werden musste. 52 Im Rahmen dieser Verschiebung wurden anders als in der Frühen Neuzeit heteronormative Geschlechtscharaktere definiert, die die gesamte Person umfassten und als Begründung nicht auf gesellschaftliche Aufgaben abhoben, sondern – basierend auf der Zunahme medizinisch-anatomischen Wissens seit der Aufklärung – die vermeintlich objektive biologische Natur des Menschen zum Maßstab machten: „Neuartig ist an der Bestimmung der ‚Geschlechtscharaktere‘ also […] der Wechsel des für die Aussagen über den Mann und die Frau gewählten Bezugssystems. Seit dem ausgehenden 18.Jahrhundert treten an die Stelle der Standesdefinitionen Charaktereigenschaften. Damit aber wird ein partikulares durch ein universelles Zuordnungsprinzip ersetzt: statt des Hausvaters und der Hausmutter wird jetzt das gesamte männliche und weibliche Geschlecht und statt der aus dem Hausstand abgeleiteten Pflichten werden jetzt allgemeine Eigenschaften der Person angesprochen.“ 53

Die Grundlegung dieses Geschlechterwissens in den biologisch-medizinischen Wissenschaften vom Menschen hat die Forschung früh beschäftigt, wobei besonders die seit dem späten 18.Jahrhundert zur Universalwissenschaft aufgestiegene Anthropologie im Mittelpunkt stand 54: Ende der 1980er Jahre beschrieb Londa Schiebinger, dass 1759 bei Jean-Joseph Sue zum ersten Mal ein weibliches Skelett in ein Anatomielehrbuch Eingang gefunden habe (gezeichnet von Marie-GenevièveCharlotte Thiroux d’Arconville), womit die historisch entwickelte Überzeugung verbunden gewesen sei, dass die männliche Anatomie nicht für beide Geschlechter

52

Hausen, Wirtschaften (wie Anm.19), 40–70, hier 42.

53

Hausen, Polarisierung (1976) (wie Anm. 1), 370.

54

Auch Disziplinen wie die Gerichtsmedizin trugen seit der Spätaufklärung zur Konstruktion ge-

schlechtspolarer Körper und mentaler Grundstrukturen bei. Aufgrund der zunehmenden Leichensektionen entfernte diese sich immer weiter von der Sprache der antiken Säftelehre, blieb ihr gedanklich jedoch weiter verpflichtet – ein weiterer Aspekt, der veranschaulicht, wie sehr hegemoniale Deutungsmuster immer selbst das Produkt langwieriger Aushandlungs- und Konstruktionsverfahren darstellen. Vgl. dazu umfassend Maren Lorenz, Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung. Hamburg 1999.

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aussagefähig sei. 55 Anfang der 1990er Jahre stellte Thomas Laqueur dann die These auf, dass sich die bis ins 17.Jahrhundert relevante Vorstellung des von Aristoteles abgeleiteten Eingeschlechtermodells („one-sex model“) 56 als Ergebnis der Ausdifferenzierung und Uminterpretation anatomischen Wissens in ein polares Zweigeschlechtermodell verwandelt habe: „Sometime in the eighteenth century, sex as we know it was invented. The reproductive organs went from being paradigmatic sites for displaying hierarchy, resonant throughout the cosmos, to being the foundation of incommensurable difference.“ 57 In der Folge, so seine Deutung, sei es zur Annahme gekommen, die Unterschiede der Geschlechter wären im Körper essentialisiert und über ihn begründbar. Claudia Honegger belegte nur kurz danach an einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen, dass sich – entgegen vorheriger Praxis – zwischen 1800 und 1850 die immer dominanter werdende Vorstellung einer weiblichen Sonderanthropologie verselbstständigt und in naturphilosophischen Abhandlungen und psycho-physiologisch argumentierenden Schriften bald als wissenschaftlich abgesichert gegolten habe. 58 Alle drei Ansätze (Schiebinger, Laqueur und Honegger) blieben in der historischen Geschlechterforschung nicht unwidersprochen, was erneut auf den Aushandlungscharakter auch wissenschaftlichen Wissens verweist: Als zu starr und zu homogenisierend wurden die Untersuchungsmethoden und die Quellenanalysen erneut einer Prüfung unterzogen und im Ergebnis differenziert. Michael Stolberg konnte etwa nachweisen, dass die ersten explizit als weiblich markierten Skelette und deutlich akzentuierten weiblichen Geschlechtsorgane, anders als Schiebinger

55 Vgl. Londa Schiebinger, Skeletons in the Closet. The First Illustrations of the Female Skeleton in Eighteenth-Century Anatomy, in: Representations 14, 1986, 42–82. 56 Das „one-sex model“ bedeutet nicht, dass die Geschlechter nicht auch schon vor dem 18.Jahrhundert unterschiedlich wahrgenommen wurden. Vielmehr hebt Laqueur mit dieser Bezeichnung darauf ab, dass ihr Unterschied bis zu dieser Wende nicht anatomisch, sondern sozial gedacht wurde: „For thousands of years it had been a commonplace that women had the same genitals as men except that, as Memesius, bishop of Emesa in the fourth century, put it: ‚theirs are inside the body and not outside it‘. […] In this world the vagina is imagined as an interior penis, the labia as foreskin, the uterus as scrotum, and the ovaries as testicals.“ Thomas Laqueur, Making Sex. Body and Gender From the Greeks to Freud. Cambridge, Mass. 1990, 4. 57 Ebd.149. 58 Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt am Main 1991, 107–212. Siehe auch die umfassenden Ausführungen mit naturwissenschaftlichem Fokus bei Heinz-Jürgen Voß, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld 2010.

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und Laqueur gefunden hatten, bereits um 1600 bekannt waren und, neben sozialen Aspekten, aus einer gewandelten medizinischen Praxis im Speziellen und neuer Formen der Wissensgewinnung im Allgemeinen resultierten: „[T]he new sixteenth- and early seventeenth-century anatomy of sexual difference, I would suggest, emerged from various developments within and outside medical theory and practice. These included a growing preference for empirical observation and discovery, the blending of Galenic teleology with pious belief in the value and purpose of every creature, the gradual shift from more humoral to more solid conceptions of the body, and the ‚gynaecologists’‘ professional interests in ‚difference‘, as well as changing notions of woman within the urban upper classes among whom the physicians moved and whose support they sought.“ 59

Heinz-Jürgen Voß kommentierte die berechtigte Kritik an zu eindeutigen historischen Verlaufsmodellen mit einem Plädoyer für einen offeneren Blick: „Begriffliche Zuspitzungen und starre Abgrenzungen behindern, wo sie nicht wirklich berechtigt sind, die unverstellte Untersuchung von Kontinuitäten und Wandel in naturphilosophischen bzw. biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien und deren Anteil an der spezifischen gesellschaftlichen Herstellung von Geschlecht.“ 60 Hausen, um zu ihrem Beitrag zurückzukehren, wies ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei den Zuordnungen, die sie erarbeitet hatte, um normative Setzungen handelte, die jedoch nicht mit der historischen Praxis gleichgesetzt werden dürfen. 61 Zudem stellte sie klar, dass solche Positionen im Bürgertum ausgeprägt und erst im Laufe des 19.Jahrhunderts in die Arbeiterschaft hineingetragen wurden 62, wobei die bürgerliche Geschlechterordnung „im Laufe eines durch erhebliche gesellschaftliche Strukturveränderungen gekennzeichneten Jahrhunderts an Attraktivität eher gewann als verlor“ 63 und weit bis ins 20.Jahrhundert hinein wirksam blieb. 64 Obwohl Hausens nunmehr über 40 Jahre alte These noch immer nicht über-

59

Vgl. Michael Stolberg, A Woman Down to Her Bones. The Anatomy of Sexual Difference in the Six-

teenth and Early Seventeenth Centuries, in: Isis 94, 2003, 274–299, hier 299. Eine Rezeptionsübersicht zu Honegger bietet Walburga Hoff, Claudia Honegger. Die Ordnung der Geschlechter, in: Löw/Mathes (Hrsg.), Schlüsselwerke (wie Anm. 2), 267–282. 60

24

Voß, Making Sex Revisited (wie Anm.58), 12.

61

Vgl. Hausen, Polarisierung (1976) (wie Anm.1), 382–390.

62

Ebd.382f.

63

Ebd.381.

64

Ebd.392f.

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holt ist 65, ist gerade deren Datierung bezweifelt worden: Während die Forschung für das spätere 19. und 20.Jahrhundert nachweisen konnte, dass die Orientierung an dem von Hausen beschriebenen Modell in allen Erschütterungen der Geschlechterordnung relevant geblieben ist – sei es im Rahmen der öffentlichen Diskussion von Homosexualität in Kaiserreich und Weimarer Republik 66 oder im Rahmen des Harden-Eulenburg-Skandals der frühen 1900er Jahre 67, sei es im Zuge der Krise der Männlichkeit, die durch verwundete, arbeitsunfähige und prothesenbedürftige Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg hervorgerufen wurde 68 und zu einer „Inszenierung traditioneller Männlichkeit“ führte 69, sei es in der Diskussion um die Langlebigkeit von Geschlechterbildern auch über die Umbrüche zwischen der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik hinweg 70– wird gerade das untere Ende ihrer Periodisierung in Frage gestellt. So hat Brita Rang kritisiert, dass nicht erst um 1800 duale Geschlechterzuordnungen zu finden, sondern diese schon viel älter seien. Dafür verwies sie auf die antike, durch Antikenrezeption über Jahrhunderte tradierte Kontrastierung von Männern und Frauen und sprach von einer „langen Geschichte“, die Hausen ausgeblendet habe. 71 Paul Münch hat diese Kritik mit ähnlichen Argumenten aufgenommen. 72 Mit dem Argument, die Exis-

65 Vgl. die Darstellung der Rezeptionsgeschichte durch Hausen selbst: Hausen, Aufsatz (wie Anm. 1). 66 Vgl. Martin Lücke, Männlichkeit in Unordnung. Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik. Frankfurt am Main 2008. 67 Vgl. Claudia Bruns, Skandale im Beraterkreis um Kaiser Wilhelm II. Die homosexuelle „Verbündelung“ der „Liebenberger Tafelrunde“ als Politikum, in: Susanne zur Nieden (Hrsg.), Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900–1945. Frankfurt am Main/New York 2005, 52–80. Norman Dormeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs. Frankfurt am Main 2010. 68 Vgl. Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923. Paderborn 2008. 69 René Schilling, „Kriegshelden“. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945. Paderborn 2002, hier 311. 70 Merith Niehuss, Familie und Geschlechterbeziehungen von der Zwischenkriegszeit bis in die Nachkriegszeit, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2006, 147–165. 71 Brita Rang, Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19.Jahrhundert, in: Jutta Dalhoff u.a. (Hrsg.), Frauenmacht in der Geschichte. Beiträge des Historikertreffens 1985 zur Frauengeschichtsforschung. Düsseldorf 1986, 194–204, hier 195. 72 Paul Münch, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Text und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“. München 1984, 33.

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tenz des antiken Diskursstranges habe die von Karin Hausen beschriebene Zäsur nicht relativiert, hat Wunder diese Einwände plausibel zurückgewiesen. 73 Außerdem, so Wunder weiter, gehe es in der Frühen Neuzeit nicht um eine Differenzierung der Geschlechter an sich, sondern um eine Differenzierung der Geschlechter in den engen Kontexten ihrer Beziehungen zu Gott, zur Vernunft oder im Recht. 74 Hinzu kommt, dass die Kritik Rangs und Münchs die neue Qualität der Geschlechterpolarität übersieht. Erst basierend auf in Antike und Renaissance noch nicht zugänglichen biologisch-anatomischen Techniken, die von der Anthropologie und später der Gynäkologie seit Mitte des 18.Jahrhunderts in neuer Weise weiteres, nun konform dichotom gedeutetes Geschlechterwissen akkumulierten 75, konnte die „Natur“ zur wirkmächtigen Instanz der Geschlechterordnung aufsteigen. 3. Geschlechterwissen als Wissen im Plural: Drei forschungsleitende Prinzipien Trotz aller Einwände und nötigen historischen Tiefenschärfung sind die Definitionen von Dölling und Wetterer insofern für die Geschichtswissenschaft von Interesse, als sie daran erinnern, dass Geschlechterwissen plural zu denken ist und in verschiedenen Formen vorliegt, letztlich also mehrdimensional konzipiert werden muss. Die neuere Wissensgeschichte, die sich in den letzten Jahren zu einem interdisziplinären Forschungsfeld hoher Dynamik entwickelt hat 76, hat ohnehin darauf hingewiesen, dass Wissen nur im Plural zu denken ist: „There are only histories, in the plural, of knowledges, also in the plural.“ 77 Um das für die historische Analyse von Geschlechterwissen umzusetzen, sind die folgenden drei forschungsleitenden Prinzipien zentral, denen alle Beiträge des vorliegenden Heftes verpflichtet sind: weiter Wissensbegriff, Unabgeschlossenheit und kein objektiver Wahrheitsanspruch. Erstens muss Geschlechterwissen auf der Basis eines weiten Wissensbegriffes definiert werden, der nicht nur lexikalische Kennt73

Wunder, Er ist die Sonn’ (wie Anm.46), 267.

74

Ebd.

75

Vgl. Ludmilla Jordanova, Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eight-

eenth and Twentieth Centuries. Madison, Wisc. 1989; Honegger, Die Ordnung der Geschlechter (wie Anm. 58). 76

Vgl. als einführende Überblicke Albert Schirrmeister, Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit. Litera-

turbericht zu Praktiken, Ordnungen, Denkformen, Institutionen und Personen des Wissens, in: Frühneuzeit-Info 15, 2004, 66–78; Achim Landwehr, Wissensgeschichte, in: Reiner Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2018, 801–813. 77

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Peter Burke, What is the History of Knowlegde? Cambridge, Mass. 2016, 7.

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nisse, sondern auch Meta- und Verfahrenswissen einschließt. Aktuelle Zugänge betonen explizit eine Erweiterung um sprachliches, semiotisches, methodisches oder praktisches Wissen, das verschiedene Wissensbestände gleichzeitig durchzieht, sich nicht klar abgrenzen lässt und auch die Formen des Wissenserwerbs, des Wissenhabens und des Wissenanwendens einschließt. In diesem Sinne definiert etwa Ralf Klausnitzer Wissen in einem breiten Verständnis: „Wissen ist jedoch mehr als die (sich stetig verändernde) Summe gespeicherter und wieder abrufbarer ‚Erkenntnisse‘, sondern zugleich immer auch ein ‚Prozess‘, in dem sich Identitäten bilden und abgrenzen sowie unterschiedliche Erkenntnissysteme entwickeln und ausdifferenzieren – und zwar in synchronem Nebeneinander wie im diachronen Nacheinander. In diesem weiten Sinne umfasst Wissen also Alltagskenntnisse und Produkte der epistemologisch begründeten Wissenschaften ebenso wie die implizit regulierten Praktiken (tacit knowlegde) und expliziten Regeln institutionalisierter und sich selbst reflektierender sozialer Systeme.“ 78

Auch Birgit Neumann spricht von Wissen als „Kenntnisse“ und als „kulturell mögliche Denk-, Orientierungs- und Handlungsmuster“, die sich „in wissenschaftlichen Abhandlungen ebenso [finden] wie in Praktiken des Alltags und Aberglaubens, in Riten und Ritualen ebenso wie in kanonischen Texten“. 79 Daran angelehnt darf Geschlechterwissen nicht nur verstanden werden als (wechselndes) medizinischanatomisch/psychologisches Wissen darüber, wie Männer und Frauen konzipiert waren und werden, wiewohl das eine wichtige und legitime Frage bleibt. Eine komplexe historische Analyse muss vielmehr auch berücksichtigen, wer wie und mit welchen Konsequenzen über Geschlecht urteilen konnte und durfte, wie und wo über Geschlecht gesprochen werden konnte und in welcher Form. Damit kommen diverse Techniken, Orte und Akteure in den Blick, über die und mit denen Wissen über Geschlecht hergestellt wurde. Sie schließen beispielsweise normative und Gebrauchstexte ebenso ein wie Alltagspraktiken. Hinsichtlich der Akteure spannt sich ein Panorama an Beteiligten auf, das über die Logik von Produzent/innen und Rezipient/innen hinausgeht (die ohnehin zu oppositionell gedacht ist) 80,

78 Ralf Klausnitzer, Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin u. New York 2008, 12f. 79 Birgit Neumann, Kulturelles Wissen und Literatur, in: Marion Gymnich u.a. (Hrsg.), Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier 2006, 29–51, hier 43. 80 Die neue Konsumsoziologie und -geschichte verbindet beide Rollen und spricht vom Prosumer, der

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weil sie nicht nur intentionale und bewusste Handlungen umfasst, sondern auch Routine- und repetitive Aktionen berücksichtigt. Zweitens mahnen die Arbeiten der neueren Wissensgeschichte aus vor allem der Geschichts- und Literaturwissenschaft dazu, die verschiedenen Kontexte, in denen Wissen relevant ist, nicht als abgeschlossene Einheiten zu konzipieren. So haben, angelehnt an die Zwei-Kulturen-Debatte, der angeblichen Diametralität von kulturund naturwissenschaftlichen Denkweisen und Methoden (C.P. Snow 1959 und kritisch dazu F.R. Leavis 1962) 81, ältere Studien etwa (meist naturwissenschaftliches) Wissen und Literatur als ursprünglich getrennte Sphären gedacht, die sich thematisch berühren konnten. Vereinfacht formuliert, gingen sie dabei von einem normativen Wissensverständnis aus, das Wissenschaft generalisierend am Modell naturwissenschaftlicher Experimentalforschung ausrichtete und die sich historisch wandelbaren Wissenschaftsverständnisse oder andere Disziplinkulturen außer Acht ließ. Literatur auf der anderen Seite wurde als bildreich und imaginär festgelegt sowie als Agent einer Humanitätsidee installiert, die als antagonistisch zur Wissenschaft galt. 82 Solche und ähnlich angelegten, dichotomen Konzeptionen blieben bis weit in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts hinein gültig und wurden erst nach und nach durch weniger essentialistische Kategorien ersetzt, die nicht mehr nur eine simple Aufnahme oder Aneignung von Wissen aus Bereich A (z.B. Wissenschaft) in Bereich B (z.B. Literatur) unterstellten. 83 Auch für die historische Analyse von Geschlechterwissen sollte damit von nicht einem Wissen ausgegangen werden, das in den Wissenschaften, in der Literatur, im Justizsystem etc. lediglich sporadisch eine Rolle spielt, während diese Kontexte ansonsten, um eine medizinische Metapher zu wählen, immun dagegen sind. Auszugehen ist vielmehr davon, dass das Wissen der genannten Bereiche das zu untersuchende Geschlechterwissen selbst ist: Die Frage „producer“ und „consumer“ in Personalunion ist. Diese Idee könnte sich auch für Geschlechtergeschichte als vielversprechend erweisen. Sie stammt von Alvin Toffler und ist inzwischen breit rezipiert worden. Vgl. Alvin Toffler, The Third Wave. New York 1980. Birgit Blättel-Mink/Kai-Uwe Hellmann (Hrsg.), Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden 2010. 81 Siehe dazu aktuell: Frank A. J. L. James, Introduction. Some Significances of the Two Cultures Debate, in: Interdisciplinary Science Reviews 41, 2011, 107–117, sowie die weiteren Beiträge im gleichnamigen Themenheft. 82

Vgl. etwa Douglas Bush, Science and English Poetry. A Historical Sketch. London 1949.

83

Vgl. Yvonne Wübben, Forschungsskizze. Literatur und Wissen nach 1945, in: Roland Borgards u.a.

(Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart u. Weimar 2013, 5–16, hier 6.

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der historischen Forschung ist dann nicht, ob Geschlechterwissen in den jeweiligen Kontexten relevant gemacht worden ist, sondern wie es dort durch wen und in welcher Form relevant ist, d.h. wie es in die spezifischen Wissensproduktionen, -anwendungen und -vermittlungen in den Wissenschaften, der Literatur, des Justizsystems etc. eingebunden ist und sie bestimmt. Diese Perspektive geht, wie das Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der Humboldt-Universität zu Berlin in seiner Selbstdarstellung formuliert hat, von einer grundsätzlichen „Interrelation von Geschlechter- und Wissensordnung“ aus, in der die Kategorie Geschlecht ein „epistemologische[s] Fundamen[t] des [abendländischen] Wissens“ ist. 84 In diesem Sinne kommt es nicht bloß in den Wissenschaften vor, wird nicht nur gleichsam passiv angewendet, sondern die Wissenschaft stellt einen zentralen Koproduzenten gesellschaftlichen Geschlechterwissens dar, weil ihr Wissen Geschlechterwissen ist. 85 Drittens muss Geschlechterwissen als Wissen ohne absoluten Wahrheitsanspruch verstanden werden. Das heißt nicht, dass es nicht akzeptiert werden müsste, und auch nicht, dass es kein normatives Geschlechterwissen gäbe, sondern meint den Umstand, dass Wissen dann wahr ist, wenn es für eine bestimmte Gruppe von historischen Akteuren wahr gewesen ist. Die Frage, ob Wissen wahr sein muss, um als Wissen gelten zu können, ist zwar ein immer wieder traktiertes Thema der Wissensgeschichte 86, geht aber von einer unproduktiven Perspektive aus. Statt retrospektiv einen (wie auch immer gearteten) objektiven Maßstab an historische Wissensbestände anzulegen und sie so nachträglich zu evaluieren, plädiert die Wissenssoziologie schon seit den 1930er Jahren dafür, Wissen als gegeben und gesellschaftlich fundiert anzunehmen. 87 Das hat, wie Achim Landwehr ausführt, zur Konsequenz, dass „all das als Wissen zu gelten hat, was für sich selbst in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen und in einem bestimmten historischen Zeitraum den Wissensstatus reklamieren kann“ 88, ungeachtet späterer eventuell abweichender

84

Forschungsschwerpunkte, https://www.gender.hu-berlin.de/de/graduiertenkolleg/das-kolleg/for-

schungsschwerpunkte (26.03.2018). 85 Vgl. Schnicke, Die männliche Disziplin (wie Anm.42), 251: Vergeschlechtlichte Analogien und Metaphern in der Geschichtswissenschaft des 19.Jahrhunderts „erweisen sich […] als Orte, an denen Männlichkeit und Wissenschaftlichkeit koproduziert wurden und beide in einer wechselseitig produktiven Beziehung standen.“ 86 Vgl. Wübben, Forschungsskizze (wie Anm.83), 5. 87 Vgl. Sabine Maasen, Wissenssoziologie. 3.Aufl. Bielefeld 2009, 18–30. 88 Landwehr, Wissensgeschichte (wie Anm.76), 802.

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Bewertungen. Das schließt umstrittenes Wissen oder Kämpfe um Deutungshoheit nicht aus; im Gegenteil, denn in solchen Auseinandersetzungen wurde um Wissen gerungen, das so relevant war, dass es verteidigt oder angezweifelt werden musste. Wenn es so ist, dass bestimmte „Machtformen immer Wissensbestände hervorbringen“ 89 und Wissen um Geschlecht gleichzeitig immer mit Fragen nach Macht, Hierarchien, Bedeutungen, räumlichen und sozialen Zuordnungen verbunden ist 90, ist historisches Geschlechterwissen stets für die Akteure, Gruppen und Gesellschaften, in denen es akzeptiert ist, gültig – unabhängig davon, ob es aus retrospektiver Sicht als objektiv wahr bewertet wird oder nicht. Vor diesem Hintergrund ist Geschlechterwissen insofern relativ als es für die Akteure gültig ist, die es als wahr anerkennen (und die historische Rekonstruktion hat die nicht unwesentliche Aufgabe, diese Relation in ihren Brüchen und Widersprüchen zu belegen), und es ist insofern normativ, als es zeitgenössisch als normativ anerkannt worden ist. Das macht die Kontexte von Geschlechterwissen so zentral, weil sie helfen, die Perspektive der historischen Akteure zu analysieren, um sie ihn ihren Voraussetzungen, Mitteln und Folgen abschätzen zu können, ohne der Frage nachgehen zu müssen, welches die vermeintlich richtige Perspektive gewesen sei. 91

IV. Popularisierung als problematischer Begriff Bislang hat sich die Erforschung der Popularisierung fast völlig der Wissens- und Wissenschaftspopularisierung des 19. und 20.Jahrhunderts oder den Naturwissenschaften gewidmet. 92 Das ist insofern nicht verwunderlich, als Popularisierung lange als gleichbedeutend mit Wissenschaftspopularisierung verstanden wurde und

89

Ebd.803.

90

Das ist die grundlegende These bei Bourdieu, Die männliche Herrschaft (wie Anm.15).

91

Vgl. dazu Donna Haraway, Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege

of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14, 1988, 575–599; Claus Zittel, Einleitung. Wissen und soziale Konstruktion in Kultur, Wissenschaft und Geschichte, in: Ders. (Hrsg.), Wissen und soziale Konstruktion. Berlin 2002, 7–11. 92

Daum, Wissenschaftspopularisierung (wie Anm.12); Angela Schwarz, Der Schlüssel zur modernen

Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914). (VSWG, Beihefte 153.) Stuttgart 1999; Constantin Goschler (Hrsg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin (1870–1930), Stuttgart 2000; Gudrun Wolfschmidt (Hrsg.), Popularisierung der Naturwissenschaften. Berlin 2002. Eine Ausnahme: Kretschmann (Hrsg.), Wissenspopularisierung, (wie Anm.11).

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die Begriffe Popularität und Wissenschaft im Deutschen tatsächlich erst im Laufe des 19.Jahrhunderts in Beziehung gesetzt wurden. Die etymologische und semantische Entwicklung des Begriffs bestimmte die ersten Ansätze der Popularisierungsforschung und erschwerte gleichzeitig eine Emanzipation von dieser Denkweise. 93 Ein Blick auf die Entwicklung der historischen Semantik kann auch hier hilfreich sein: Das englische Adjektiv „popular“ etwa, dessen moderne Bedeutung sich im Wesentlichen seit dem 16.Jahrhundert entwickelt hat, wurde unterschiedlich verwendet. Das „Oxford English Dictionary“ unterscheidet zwischen neun Semantiken, die zum Teil in weitere Subbedeutungen unterteilt sind: So konnte „popular“ im juristischen Diskurs sowohl etwas bezeichnen, das von niederem Rang war, als auch etwas, das dem Volk angemessen schien, zum Volk gehörte oder etwas, das das Volk schätzte. Zudem konnte es auch etwas Vulgäres, Minderwertiges meinen. 94 Erst die siebte Bedeutung wird mit „[p]revalent or current among, or accepted by, the people generally; common, general“ angegeben und seit frühen 17.Jahrhundert mit starkem Bezug zu Krankheiten nachgewiesen. 95 Belege für ein Verständnis von populärem Wissen im heutigen Sinne werden ab dem letzten Fünftel des 19.Jahrhunderts angeführt, wobei es sich um Varianten der Übersetzung des deutschen Begriffes der Volksetymologie als „popular etymology“ handelt. 96 Im Deutschen gab es ebenfalls unterschiedliche Bedeutungen, „populär“ wurde aber seit 1850 durchgehend synonym für Volksmäßigkeit oder Gemeinverständlichkeit genutzt: „[D]em größten Haufen, den niedern Classen der Glieder eines Staats verständlich, allgemein verständlich, gemeinverständlich. Ein populärer Vortrag. Ein populärer Schriftsteller. Auch für: den niedern Classen der Weltbürger nützlich, haben es einige einführen wollen, als wenn wir nicht schon das gute, eben das sagende deutsche Wort gemeinnützig hätten. Bey andern bedeutet es, der Art zu denken, und sich auszudrücken des großen Haufens gemäß, und da gibt es neuere populäre Schriftsteller dieser Art, welche so populär schreiben, daß sie darüber nur gar zu oft in das pöbelhafte gerathen.“ 97

93 Schwarz, Schlüssel (wie Anm.92), 89–95. 94 Vgl. J.A. Simpson/E.S.C. Weiner (Bearb.), The Oxford English Dictionary. Bd. 12. 2.Aufl. Oxford 1991, 124. 95 Ebd.125. 96 Ebd. 97 Vgl. Johann Georg Krünitz, Art.Populär, in: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft. Bd. 115. Berlin 1810, 120.

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Schon diese kurzen Schlaglichter der historischen Verwendung des Begriffs verdeutlichen die Probleme für eine analytische Verwendung des Begriffs. So erscheinen die Allgemeinverständlichkeit, die Tendenz zur Vereinfachung und der Adressatenbezug als Haupteigenschaften des Populären. In der älteren Forschung spiegelte sich das darin, dass sie Popularisierung in der Regel als eine Form hierarchischen Wissenstransfers verstand. 1. Grenzen des diffusionistischen Modells von Popularisierung Dieses als diffusionistischer Ansatz 98 bezeichnete Vorgehen verstand Popularisierung als einen hierarchischen und einseitigen und dabei an Qualität abnehmenden Kommunikationsvorgang von den Wissensproduzenten hin zu den Wissensrezipienten. Die Wissensproduzenten werden dabei als exklusive, nach außen abgeschlossene, homogene und gut organisierte Gruppe von Experten interpretiert. Hier wird das Wissen nach eigenen, besonderen, d.h. oft wissenschaftlichen Regeln erzeugt, die für die Wissensrezipienten nicht nachvollziehbar sind. Von der Wissensproduktion sind die Wissensrezipienten dieser Vorstellung gemäß demnach komplett ausgeschlossen. In diesem Kommunikationsmodell besteht ein hierarchisches Wissensgefälle, da die Wissensproduzenten durch ihre Vermittlung Wissen entsprechend vereinfachen, und es daher nie vollständig aufbereitet, nie in seiner ganzen inhaltlichen Breite popularisiert wird. Zudem beschränkt sich dieses Verständnis von Popularisierung auf die reine Weitergabe von Wissen, wobei Rückkopplungen oder sonstige Wechselwirkungen zwischen Wissensproduzenten und Wissensrezipienten nicht mitgedacht werden. Solche Vorstellungen begünstigten Werturteile, die die Popularisierung vornehmlich als Trivialisierung bewerten. 99 Im Gegensatz dazu wurden die Geschlechterrollen seit dem 17.Jahrhundert durch populäre Texte, Lexika, Traktate, Pamphlete, Flugschriften und im 19.Jahrhundert durch Zeitschriften und Vorträge etc. diskutiert und meist durch ihre vermeintlich natürlich-verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten und in Abhängigkeit von ihrer biologischen Funktion für die Reproduktion festgeschrieben. 100 Ge-

98

Daum, Wissenschaftspopularisierung (wie Anm.12), 27.

99

Kretschmann, Einleitung (wie Anm.11), 9.

100 Londa Schiebinger, Der Unterschied geht tiefer. Die wissenschaftliche Suche nach dem Unterschied zwischen den Geschlechtern, in: Dies. (Hrsg.), Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart 1993, 267–298.

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nutzt wurden dafür zeitgenössische Argumente aus wissenschaftlichen Theorien und Befunden. 101 Traditionell wurden diese historischen Einschreibungsprozesse in einem linearen, hierarchischen Modell der Aufklärung von oben nach unten wie im diffusionistischen Ansatz beschrieben. 102 Diese implizite klare Trennung in innerwissenschaftliche Prozesse der Wissensproduktion und in Wissensvermittlungsprozesse nach außen in die Gesellschaft legen Gesellschaft oder Laienöffentlichkeit auf eine passive, unwissende und auch politisch wie gesellschaftlich unwirksame Rolle fest. Generell ist die Vorstellung eines wissenschaftlichen Systems oder einer Gelehrtenkultur, die hermetisch abgeschlossen und selbstgenügsam agiert hätte, mit dem Wissen über die Angewiesenheit auf gesellschaftliche Ressourcen (Finanzierung, Akzeptanz oder wissenschaftlichen Nachwuchs) fraglich. Zu dieser Frage haben sich früh feministische Analysen von Seiten der Naturwissenschaften zur Erkenntnistheorie, Methodologie und zur Objektivitätskritik einwendend geäußert. 103 Sie haben die Konstruktionsprozesse in der Generierung vermeintlicher wissenschaftlicher Tatsachen analysiert und dekonstruiert. Bereits der Mikrobiologe Ludwik Fleck hatte 1935 die rigide Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft aufgelöst, indem er Konstruktionen und Aushandlungen sowie Bedeutungsproduktionen als kollektive Prozesse der sozialen Interaktion und Kommunikation innerhalb der Wissenschaften herausstellte. 104 2. Zum interaktionistischen Modell von Popularisierung: Chancen und offene Fragen Ein anderer Ansatz, der den Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften, den Medien und der Gesellschaft Rechnung trägt, ist das interaktionistische Modell der Popularisierungsforschung. 105 Dieser Ansatz, auch expositorische Wissenschaft genannt, definiert sich als die Zusammenfassung aller Instrumente zur Kommuni101 Vgl. auch Honegger, Die Ordnung der Geschlechter (wie Anm.58); Voß, Making Sex Revisited (wie Anm.58). 102 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990. 103 Sandra Harding, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. Hamburg 1990; Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main/New York 1995. 104 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstilen und Denkkollektiven. Frankfurt am Main 1980 (zuerst 1935). 105 Vgl. Terry Shinn/Richard Whitley, Expository Science. Forms and Functions of Popularisation. Dordrecht 1985. Vgl. zu Medien: Stefanie Samida (Hrsg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wis-

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kation von Ergebnissen und Ideen innerhalb einer großen Menge an Initiatoren und Öffentlichkeit. Er umfasst also alle Formen wissenschaftlicher Kommunikation. Diese Perspektive gibt die Vorstellung einer scharfen Trennung zwischen den Zielen und Techniken der Wissenschaftspopularisierung auf der einen Seite und der internen Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse in der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf der anderen auf. Popularisierung stellt hier vielmehr nur einen Teil der allgemeinen wissenschaftlichen Kommunikation dar. Wissensproduzenten, Popularisatoren und Wissensrezipienten stehen dabei in einem ständigen Austausch und gegenseitiger Wechselwirkung. Die scientific community besteht aus einer Vielzahl an unterschiedlich organisierten sozialen Strukturen, die untereinander und mit Gruppierungen außerhalb des Bereiches institutionalisierter Wissenschaft in Kontakt, Austausch und gegenseitiger Wechselwirkung stehen. Der interaktionistische Ansatz geht davon aus, dass vermeintlich objektive Fakten soziale Konstruktionen sind, die der Neuinterpretation und Veränderung unterliegen und die aus der Kommunikation und aus Vereinbarungen von Wissenschaftler/innen untereinander entstehen, d.h. historisch variabel sind. Die wissenschaftsinterne Kommunikation ist bereits eine Form der Popularisierung und somit ein immanenter Teil des kognitiven Prozesses der Wissensproduktion. Die Transformation von Wissen aus seinem Entstehungskontext in einen anderen, also in weitere Kontexte außerhalb der Wissenschaft, ist nach dem interaktionistischen Model der zentrale Prozess der Popularisierung. Diese Transformationsprozesse verändern gleichzeitig den Charakter des Wissens. Daher wird der Begriff der Popularisierung als zu eng angesehen und durch den Begriff der expositorischen Wissenschaft (expository science) ersetzt. 106 Dabei wird die Funktion der Popularisierung hier pluralistisch gedacht, denn alle drei beteiligten Gruppen (Wissensproduzenten, Wissenspopularisatoren, Wissensrezipienten) können unterschiedliche Intentionen verfolgen, die sich erfüllen oder nicht. Beispielsweise können Wissensproduzenten in Richtung einer Wissenspopularisierung wirken, um das eigene Forschungsfeld zu etablieren, das persönliche Sozialprestige innerhalb der Forschungsgemeinschaft oder in der Öffentlichkeit zu erhöhen, um Ressourcen für die Forschung zu sichern oder neu zu erschließen. Letzteres gilt besonders für die Kommunikation mit Mili-

sen im 19.Jahrhundert. Bielefeld 2011. Die Beiträge sind aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven geschrieben und verstehen die Inszenierungen von Wissenschaften als Performances oder Kulturpraktiken. 106 Kretschmann, Einleitung (wie Anm.11), 9.

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tär, Wirtschaft und Politik. Analog dazu nutzen Wissensrezipienten bestimmtes Wissen gezielt, um etwa in sozialen Bewegungen die eigene Weltanschauung zu stützen. 107 Bei der expository science wird von folgenden Medienformaten ausgegangen: wissenschaftliche Beiträge in Fachpublikationen und Massenmedien, Präsentationen vor Firmen, Militärs und Politikern, Vorträge und Vorlesungen, wissenschaftliche Seminare und Übungen an Universitäten etc. Es handelt sich demzufolge um anerkannte Formen der Wissensvermittlung mit der allgemeinen Zweckbestimmung der Wissensvermittlung. Angela Schwarz beispielsweise geht von einer Arbeitsdefinition aus, die zunächst Popularisierung im 19.Jahrhundert als Versuch ansieht, wissenschaftliche Kenntnisse über den Kreis der Wissenschaftler hinaus bekannt zu machen. 108 Popularisierung umfasst dabei Formen und Inhalte des Vermittlungsprozesses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit und die Verbreitung wissenschaftlicher Thesen und Erkenntnisse in allgemeinverständlicher Form an ein differenziertes Publikum. Das Problem dieses Modells ist, dass es sich an der Dichotomie zwischen Produzenten und Rezipienten orientiert und außerdem an klassischen Medien der Wissensvermittlung in populärwissenschaftlicher Literatur. Ein Ansatz, der die Polarität zwischen Wissenschaft und Publikum abschwächen möchte, ist der von Andreas Daum. Dieser orientiert sich an der Wissenschaftspopularisierung des 19.Jahrhunderts und verortet sie zwischen spezialisierter Wissenschaft und nichtspezialisiertem Publikum. Auch in diesem Konzept wird an der Vorstellung festgehalten, dass Popularisierung eine Form der Kommunikation zwischen Wissensproduzenten und Wissensrezipienten sei. 109 Eine weitere Begriffsbestimmung nimmt Arne Schirrmacher vor, der die These formuliert, dass um 1900 eine grundlegende Veränderung im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit stattfand. 110 In deren Folge wurde der im 19.Jahrhundert gebräuchliche Modus der Wissenschaftspopularisierung durch eine bis ca. 1960 dauernde Phase der Wissenschaftsvermittlung ersetzt. Anzeichen dafür sind die Veränderungen der Ziele, Formen und Verkaufspreise wissenschaftsvermitteln-

107 Ebd.18. 108 Schwarz, Schlüssel (wie Anm.92), 46. 109 Daum: Wissenschaftspopularisierung (wie Anm. 12), 110 Arne Schirrmacher, Nach der Popularisierung. Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20.Jahrhundert, in: GG 34 (2008), 73–95.

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der Literatur und eine abnehmende Verwendung des Begriffes Popularisierung. Für Schirrmacher ist Wissenschaftspopularisierung ein Begriff, welcher der liberalen Bürgerwelt des 19.Jahrhunderts verhaftet bleibt und vor allem eine attraktive Darreichung von Inhalten und Ergebnissen der Wissenschaft als Gegenstand der Vermittlung beinhaltet. Wissenschaftsvermittlung meint dagegen, dass auch der Produktionsprozess der Wissenschaft und deren Normen nachvollziehbar gemacht werden. Er begreift den Vermittlungsprozess auch als eine Austauschbeziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, bei der es um gegenseitige Inanspruchnahme von Ressourcen geht. Die Darstellung von Wissen wird dabei als Form der Öffentlichkeitsökonomie und Öffentlichkeitspolitik der Wissenschaft verstanden, ihrer Möglichkeiten, Glaubwürdigkeit, Legitimität, Autonomie sowie der Fähigkeit, finanzielle und personelle Ressourcen zu generieren. Ausgehend von Fleck nimmt Schirrmacher drei Abstufungen innerhalb der Wissenschaft vor: Zunächst sind die Fachwissenschaften zu nennen (Kommunikation zwischen den Fachdisziplinen in den Fachorganen). Außerhalb des engeren Forschungsgebietes (Kommunikation in Handbüchern, Überblicksartikeln, Monographien) liegt die nächste Abstufung. Anschließend folgt die Fachöffentlichkeit auf Tagungen, in Akademien, Ausbildungsinstitutionen, Forschungseinrichtungen und wissenschaftlichen Gesellschaften. Den drei fachlichen Stufen werden drei Stufen der nichtfachlichen Öffentlichkeit gegenübergestellt: gebildetes/interessiertes Publikum, gelegentlich interessiertes Publikum (z.B. Publika von Museen), schließlich die breite Öffentlichkeit (Sensationalisierung). Ziel dieses Popularisierungsmodells ist es, die verschiedenen Vermittlungsdiskurse von Wissen zu identifizieren, ihre Zielrichtungen und zugleich die Rückwirkungsdiskurse der einzelnen Öffentlichkeit auf die Wissenschaften zu ermitteln. Problematisch ist, dass dieses Konzept nur auf schriftliche Quellen ausgelegt ist und auf den Zeitraum des 20.Jahrhunderts beschränkt bleibt. Auch hier drängt sich zudem die Frage nach der Reziprozität auf: Übt nur die Fachöffentlichkeit Einfluss auf Wissenschaft aus oder lassen sich darüber hinaus auch andere Konstellationen denken? 3. Vormoderne Popularisierungen und offene Definition: Erweiterungen und Potenziale für die Forschung Alle bislang erwähnten Ansätze orientieren sich am akademischen Erkenntnisprozess und erachten Mechanismen der Popularisierung erst ab dem 19.Jahrhundert als wirksam. Unberücksichtigt bleibt dabei die Perspektive der Wissensverbrei-

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tung in der Vormoderne. Carsten Kretschmann plädiert in seinem Sammelband zur Wissenspopularisierung für eine breite Begriffsbestimmung und lehnt die diffusionistische Vorstellung, Popularisierung als bloßen Vereinfachungsvorgang und ihr Produkt als ein bloßes Derivat des Ausgangswissens zu begreifen, ab. 111 Er schlägt fünf Kriterien der Popularisierung vor, um den Begriff auch auf andere Jahrhunderte als das 19. und 20. übertragen zu können: (1) die Existenz eines deutlich markierten Wissensgefälles zwischen Rezipienten und Produzenten von Wissen, (2) eine größere Zahl an Wissensrezipienten als an Wissensproduzenten, (3) eine ausreichend große Zahl an Wissensrezipienten, die eine Bezeichnung als populus rechtfertig, (4) die Annahme, dass sowohl die Wissensrezipienten als auch die Wissensproduzenten intentional handeln, und schließlich (5) die Annahme, dass das in Popularisierungsprozessen aufbereitete Wissen sich potentiell breitenwirksamer und multiplikativer Medien bedient. Zu kritisieren ist an diesem Modell zum einen die Unbestimmtheit der Mengenverhältnisse: Was sind ausreichende Mengen? Zudem kann man die vermeintliche Intentionalität in Zweifel ziehen, denn kann Popularisierung nicht auch zufällig ablaufen? Eine weitere Frage, die sich stellt ist, welche Maßstäbe es für den Bezug zu populus gibt. Beziehen die genannten Forschungen bewusst die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Popularisierung in ihre Betrachtungen mit ein, so begrenzen andere Ansätze wiederum den Wirkungsradius. Um eine spezielle Form von popular science zu bezeichnen und den Wirkungskreis präziser bezeichnen zu können, wurde die Vorstellung einer public science in die Analyse eingebracht, die die Leitinstanzen von Öffentlichkeit, Politik, Forschungsinstitutionen und Eliten eng verbindet. 112 Andere wiederum machen den Durchbruch der Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert an den aufstrebenden Naturwissenschaften und ihren spezifischen Interessen fest. 113 Für den vorliegenden Band sind jedoch die Sichtweisen auf Popularisierung informativ, die Popularisatoren nicht nur als Multiplikatoren eines elitären, abgeschlossenen Wissens betrachten, sondern sie beispielsweise als Konstruktoren einer low scientific culture auftreten lassen. 114

111 Kretschmann, Einleitung (wie Anm.11), 14f. 112 Vgl. Goschler (Hrsg.), Wissenschaft (wie Anmn. 92). 113 Vgl. Wolfschmidt (Hrsg.), Popularisierung der Naturwissenschaften (wie Anmn. 92). 114 Beispielsweise Susann Sheets-Pyenson, Low Scientific Culture in London and Paris. 1820–1875. Ann Arbor, Mich. 1976.

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Auf wechselseitige Transferprozesse und Einflussnahmen bezogen ist ein 2006 publizierter Sammelband von Smilla Ebeling und Sigrid Schmitz. 115 Er greift die Wechselwirkungen von Geschlechterforschung und Naturwissenschaften auf und stellt einige Regeln zur Popularisierung der Naturalisierung von Geschlechterdifferenzen vor. Die Autorinnen gehen dabei bis auf die 1990er Jahre zurück und benennen zum einen die ständige Wiederholung und zum anderen die wiedererkennbar gleichen Vermittlungsstrategien. Dazu gehören Medien wie Wissenschaftsjournale, Wochenjournale, Nachrichtenmagazine, Wochenzeitungen, Populärbücher und Fernsehdokumentationen. Wissenschaftliche Befunde würden in diesen reduziert und vereinfacht aber auch vereinheitlicht. 116 Diese Art der Homogenisierung von Wissen über Geschlecht, wie auch die beständige Wiederholung von naturalisierenden Argumentationen gekoppelt mit dem Anspruch, biologische und soziale „Wahrheit“ zu sprechen, entwickeln eine starke gesellschaftliche Wirkmacht. Deterministische Argumentationsmuster wie auch Metaphern und Analogien aus dem Tierreich unterstützen den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen. Hinzu kommt eine gewisse Ahistorizität, die gepaart mit einer Kulturblindheit und evolutionistischer Manier die Behauptung von Geschlechterwissen zeitlos und quasi natürlich erscheinen lassen. Die Visualisierung und Animation, so wird von den Autor/innen konstatiert, nähme zu und gewinne an Bedeutung. Doch auch für die Zeiten vor Fernsehen und Twitter können diese Thesen und Beobachtungen verfolgt werden. Dieser Ansatz wird im vorliegenden Band über Epochen und thematische Grenzen hinweg verfolgt. Die Stärke dieses Vorgehens liegt gerade darin, keine Definition von Popularisierung vorzugeben, sondern ihre Funktions- und Wirkungsweisen anhand verschiedener Praktiken und Prozesse aufzudecken. Das geht mit der Schwierigkeit einher, dass „eine einheitliche, allgemeinverbindliche Popularisierungsdefinition […] folglich nicht in Sicht [ist], Begriffe und Methoden variieren vielmehr in mitunter irritierender Weise.“ 117

115 Ebeling/Schmitz (Hrsg.), Geschlechterforschung (wie Anm.13). 116 Schmitz/Schmieder, Popularisierungen (wie Anm.13), 370. 117 Kretschmann, Einleitung (wie Anm.11), 12.

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V. Aktuelle Bezüge und Dank Mit Essentialisierungen hat sich die Geschlechtergeschichte, wie dargestellt, schon früh befasst. Gerade weil die von der neuen Frauenbewegung ausgehende Geschlechterforschung in Europa wie den USA aber von Anfang an als Gesellschaftskritik gedacht war, fordern die aktuellen Entwicklungen sie neu heraus, über ihre Konzeptualisierungen und Diskurse in historischer Perspektive neu nachzudenken: Mit verschärften Abtreibungsregelungen in Italien und Polen 118, der Transsexuellen-Entscheidung Donald Trumps in den USA 119, der Anti-Homosexuellen-Politik vieler ehemaliger Staaten in Osteuropa 120, der Anti-Gleichstellungspolitik von UKIP 121 und dem Re-Framing der verantwortungsvollen Politikerin als Mutter in

Vereinigten Königreich 122, der Re-Traditionalisierung der Familie durch die AfDProgrammatik in Deutschland 123, aber auch mit der Rückkehr überkommen geglaubter Geschlechterstereotype in Werbung und Unterhaltung 124, um nur einige gegenwärtige Beispiele zu nennen, wird die Naturalisierung und Biologisierung von

118 Vgl. Jens Mattern, Schwangerschaftsabbruch. Polen gehen in Massen auf die Straße gegen ein neues Abtreibungsgesetz, in: Die Welt, 23.03.2018, https://www.welt.de/politik/ausland/article174860387/ Schwangerschaftsabbruch-Polen-gehen-in-Massen-auf-die-Strasse-gegen-ein-neues-Abtreibungsgesetz.html (10.05.2018). Andrea Spalinger, Viele Italienierinnen machen bei der Abtreibung schlimme Erfahrungen, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.03.2017, https://www.nzz.ch/international/abtreibungen-in-italienkein-verstaendnis-fuer-frauen-die-abtreiben-ld.153421 (10.05.2018). 119 Vgl. Helene Cooper/Thomas Gibbons-Neff, Trump Approves New Limits on Transgender Troops in the Military, in: The New York Times, 24.03.2018, https://www.nytimes.com/2018/03/24/us/politics/trumptransgender-military.html (10.05.2018). 120 Vgl. Johann Osel, Homosexuelle in Osteuropa. „Nicht von Gott gewollt”, in: Süddeutsche Zeitung, 15.05.2010,

http://www.sueddeutsche.de/politik/homosexuelle-in-osteuropa-nicht-von-gott-gewollt-

1.374720 (10.05.2018). Barbara Oertel/William Totok/Martin Reichert, Homosexuellenrechte in Osteuropa. Angst vor dem Satan, in: Die Tageszeitung, 08.02.2015, http://www.taz.de/!5020993/ (10.05.2018). 121 Vgl. Lydia Smith, LGBT-Equality has Gone „too Far”, Says new Ukip Leader Henry Bolton, in: The Independent, 30.09.2017, https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/lgbt-right-transgender-equalitytoo-far-ukip-leader-henry-bolton-a7975481.html (10.05.2018). 122 Vgl. Steven Swinford/Tim Ross, Andrea Leadsom Opens up Motherhood Row with Tory Leadership Rival Theresa May, in: The Telegraph, 09.07.2016, https://www.telegraph.co.uk/news/2016/07/08/andrealeadsom-opens-up-motherhood-row-with-tory-leadership-riva/ (10.05.2018). 123 Stephan Hebel, Rechte Familienpolitik. Deutsche Frauen, deutsche Kinder, in: Frankfurter Rundschau, 07.03.2017, http://www.fr.de/politik/gender/feminismus/rechte-familienpolitik-deutsche-frauendeutsche-kinder-a-1111042 (10.05.2018). 124 Vgl. Muriel González Athenas, 6 Mütter. Tänzer, Unternehmer, Schauspieler, Sportler, in: blog feministische Studien, 23.12.2016, http://blog.feministische-studien.de/author/muriel-gonzales/ (10.05.2018).

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Geschlecht unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aktuell neu verhandelt. Daneben hat sich in den letzten Jahren unter dem Argument der „Gleichberechtigung“ eine so genannte „Anti-Genderismus“-Debatte in der politischen Diskussion konsolidiert, die in häufig aggressivem Ton reaktionäre Positionen artikuliert, nach denen das Geschlecht eines Menschen einzig biologisch bestimmt sei und nicht zu hinterfragende, als „natürlich“ und „gesund“ ausgegebene, meist traditionell-hierarchische Lebensweisen legitimiere – wenn nicht sogar einfordere. Geschlechterverhältnisse, so scheint es, sind in aktuellen Debatten wieder zu einer Arena geworden, in der sich politisches Kapital erwirtschaften lässt, was sich – auch im Westen – in konkrete politische Praktiken niederschlägt. All diese Schlaglichter zeigen, dass die Verständnisse von Geschlecht und ihre Erforschung gegenwärtig instrumentalisiert werden, um als links oder liberal wahrgenommene Positionen zu delegitimieren. Wiederkehrende Topoi sind dabei die Natur und die immer wieder bemühte natürliche Ordnung. „Unterstellt wird“, so Sabine Hark und Paula-Irene Villa in ihrem 2015 erschienen Band „Anti-Genderismus“, „Gender stehe für eine nicht-natürliche, damit also post-essentialistische Fassung von Geschlecht (und Sexualität)“. 125 Diese Fassung steht in den Augen der Kritiker einem Familienmodell entgegen, das als traditionell bezeichnet wird. Darin kommen heterosexuellen Frauen und Männern, mit denen das Spektrum an legitimen Geschlechteridentitäten erschöpft ist und die eindeutig als solche zu identifizieren sind, aufgrund ihrer biologisch bedingten Unterschiede, unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen zu. Diese unterschiedlichen Funktionen werden als unhintergehbare körperliche Fakten ausgegeben. Sie erinnern dabei an die Ausdifferenzierung der Geschlechtscharaktere um 1800, verschränken sich aktuell aber neu, wie Jasmin Siri argumentiert, mit rechten, bürgerlich-konservativen Rhetoriken. 126 Sie dienten dazu, Identität in einer unübersichtlich werdenden Welt zu stiften, wofür soziale Komplexität reduziert und die Anerkennung sexueller Vielfalt abgewehrt werde. Die historischen Dimensionen dieser Fragen wurde auf der Tagung „Historische

125 Sabine Hark/Paula-Irene Villa, „Anti-Genderismus“ – Warum dieses Buch? In: Dies. (Hrsg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld 2015, 7–13, hier 7. 126 Jasmin Siri, Paradoxien konservativen Protests. Das Beispiel der Bewegungen gegen Gleichstellung in der BRD, in: Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hrsg.), Anti-Genderismus (wie Anm.125), 239–256.

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Perspektiven auf die Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht“, die vom 06. bis 07.Juli 2017 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand, diskutiert. 127 Sie wurde für den „Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung“ (AKHFG) veranstaltet und von ihm finanziert. Wir danken allen Beteiligten sehr herzlich für ihre Mitwirkung und besonders Maren Lorenz (Bochum), mit der wir die Konferenz gemeinsam konzipiert und organisiert haben. Den Beiträger/innen des vorliegenden Bandes danken wir für ihre Mitarbeit an dieser Publikation.

127 Vgl. das Tagungsprogramm unter https://www.hsozkult.de/event/id/termine-34407 (10.05.2018).

M . GONZÁLEZ ATHENAS

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Geschlechtergefühle? Uterusprolaps, Pessare und Ekel in der Frühen Neuzeit von Sarah-Maria Schober

Dezember 1554, ein Friedhof in Montpellier, Südfrankreich: Gemeinsam mit seinen Studienkollegen hat sich der junge Student Felix Platter im Schutz der Dunkelheit zu den Gräbern geschlichen, um eine am Vortag bestattete Leiche auszugraben. Alle packen fleißig mit an, denn Eile ist geboten, um den Körper unbemerkt von seiner Ruhestätte in die Stadt zu verbringen. Es gelingt, den Torwächter auszutricksen, die Leiche in einem nahe der Stadtmauer gelegenen Haus zu verstecken und sie dort zu anatomisieren. Erst in der Sicherheit des Hauses bemerken die Studenten, dass sie einen Frauenkörper – und zwar einen reichlich deformierten – ausgescharrt haben: „[A]lß wir die lilachen [Leintücher] […] öfneten, war es ein wib, hatt krume fies von natur, so inwerdts ein anderen ansachen. Die anatomierten wir und fanden under andrem auch etlich oderen alß vasorum spermaticorum [Eileiter], die nit nitsich schlecht, sunder auch krum und by sitz giengen. Sy hatt ein bligenen ring an, dorab mir, wil ich sy haßen von natur, seer unlustet.“ 1

Die Beschreibung des anatomischen Befunds bleibt in dem Bericht über den Leichenraub in Platters Lebensbeschreibung im Gegensatz zu der Ausführlichkeit, mit der er die Begleitumstände schildert, überraschend knapp. Umso mehr sticht ins Auge, worauf der spätere Basler Stadtarzt den Fokus legt: die Weiblichkeit der Leiche und seinen Ekel angesichts der deformierten Eileitern und des „bligenen rings“, den die Frau in ihrem Körper trug und angesichts dessen es dem Studenten „seer unlustet“. 2

1 Felix Platter, Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567. Hrsg. v. Valentin Lötscher. Basel/Stuttgart 1976, 210. 2 Eine zu meiner Argumentation alternative, psychoanalytische Deutung von Platters Ringphobie, beruhend auf Platters angeblicher Kastrationsangst und frühkindlichen Erfahrungen, schlagen vor: Hans Christoffel, Psychiatrie und Psychologie bei Felix Platter (1536–1614), in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 127, 1954, 213–227, 224f.; Ralph Frenken, Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17.Jahrhundert. Psychohistorische Rekonstruktionen. Kiel 1999; ders., „Da fing ich an zu erinnern…“. Die Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung in den frühesten deutschen Autobiographien (1200–1700). Gießen 2003; Casimir Bumiller, Die „Selbstanalyse“ des Arztes Felix Platter, in: Ralph Frenken (Hrsg.), Die Psychohistorie

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-002

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Bei diesem metallenen Ring handelte es sich um ein Pessar. Pessare sind Objekte, die seit Jahrtausenden zur Stabilisation des Uterus in die Vagina eingeführt werden. Zum Einsatz kommen Pessare vor allem bei einer Absenkung und einem sogenannten „Vorfall“ des Uterus, einem extrem schmerzhaften Befund, der heutzutage meist operativ, in manchen Fällen jedoch nach wie vor mit Pessaren behandelt wird. 3 Uterusprolapse, wie die Ausstülpungen der Gebärmutter aus der Vagina mit dem Fachterminus benannt werden, sind eine der häufigsten gynäkologischen Erkrankungen überhaupt. Die Wahrscheinlichkeit, an einem Prolaps zu erkranken, steigt zudem frappant mit der Anzahl vaginaler Geburten – und zwar auf bis zu 30 Prozent. 4 In Zeiten höherer Geburtenraten und fehlender Kaiserschnitte wie in der Frühen Neuzeit ist also mit im Vergleich zum 21.Jahrhundert noch deutlich höheren Fallzahlen zu rechnen. Die Häufigkeit von Uterusprolapsen lässt sich an Äußerungen von Medizinern aus den geburtenstarken Jahren des 20.Jahrhundert besonders gut illustrieren. Der Gynäkologe H.J. Drew Smythe führte beispielsweise 1949 in einem anekdotischen, die Schmerzhaftigkeit der Erkrankung für die Betroffenen überspielenden Ton Beobachtungen aus der Anfangszeit seiner Praxiserfahrungen zu Beginn des 20.Jahrhunderts an: „Pessary treatment of prolapse was in its heyday when gynaecology first became a speciality. Some of you will remember early gynaecological outpatients – queues of women lining up waiting to have their pessaries removed, cleaned and replaced, or a new one inserted. Students came down an hour before the honorary, and this time was spent in changing ‚rings‘.“ 5

Smythe ist trotz seines nostalgischen Zungenschlags erkennbar erleichtert, dass

des Erlebens. Kiel 2000, 303–324. Anderswo habe ich außerdem besprochen, wie sehr Platter die allmähliche Überwindung seines Ekel auch zur Aufmerksamkeitsgenerierung und Rollenfindung als Anatom produktiv machte, vgl. Sarah-Maria Schober, Gesellschaft im Exzess. Mediziner in Basel um 1600. Frankfurt am Main 2019, 299–306. 3 Vgl. auch mit einigen Überlegungen zu den Vorteilen der Pessarbehandlung gegenüber der operativen Behandlung Babet H.C. Lamers/Bart M.W. Broekman/Alfredo L. Milani, Pessary Treatment for Pelvic Organ Prolapse and Health-Related Quality of Life. A Review, in: International Urogynecology Journal 22, 2011, 637–644. 4 Sheetle M. Shah/Abdul H. Sultan/Ranee Thakar, The History and Evolution of Pessaries for Pelvic Organ Prolapse, in: International Urogynecology Journal 17, 2006, 170–175, hier 170. 5 H.J. Drew Smythe, Obstetrics and Gynaecology Old and New, in: The Bristol Medico-Chirurgical Journal, 66, 1949, Nr.237, 1–6.

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diese massenhafte Betreuungsnotwendigkeit von Prolapspatientinnen mittlerweile angesichts der Durchsetzung operativer Methoden der Vergangenheit angehörte. In dieser Erleichterung klingen auch Vorbehalte gegenüber Pessaren an. Ganz deutlich zum Ausdruck kommen diese jedoch in einem anderen Beispiel: Charles D. Meigs „Letters to his Class“ aus dem Jahr 1848. Meigs akzeptiert hier zwar den Einsatz von Pessaren, wenn diese nötig seien, allerdings formuliert er eindringlich seine eigene negative Einstellung und die Bedenken seiner Kollegen und Studenten gegenüber dem medizinischen Hilfsmittel: „I wish you to be aware that pessaries are very ancient remedies; and that when weak people and quacks shall pretend to scorn them, you may not be disquieted on that account, and make yourself ridiculous also by scoffing at a necessary evil; for you will find some, even among the Doctors, who think that a pessary is an incarnate demon, which ought to be laid in the Red Sea, with all its supporters and partisans […]. I detest the pessary, as a disagreeable and disgusting thing, whether to order or to wear. I will never employ one except where a conscientious regard to the sanctity of the interests committed to my care seem to render it indisposable.“ 6

Sehr deutlich wird hier der schon fast dämonische Pessar, „as a disagreeable and disgusting thing“ zum Auslöser von Ekel und Furcht. Die Gründe für diese emotionale Belegung werden jedoch nicht aufgeführt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Annahme liegt daher nahe, dass die emotionale Verknüpfung kulturell tief verankert war. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, dieser kulturellen Verknüpfung nachzuspüren, ihre Grundlagen aufzuschlüsseln und einige ihrer möglichen Entstehungskontexte vorzustellen. Dabei konzentriere ich mich auf eine Reihe emotional wirkmächtiger Hintergründe von Uterusprolapsen und Pessaren, die in der Frühen Neuzeit, vor allem im 16. und 17.Jahrhundert, ihre Wurzeln haben. An diesem Beispiel möchte ich argumentieren, dass die emotionale Besetzung von körperlichen Unterschieden geschlechtliche Essentialisierungsprozesse mitbestimmte und beförderte. Anders ausgedrückt besagt die These, dass die „Essenz“ dezidiert „weiblicher“ Körper zu einem erheblichen Teil in deren kulturell bedingter emotionaler Wahrnehmung liegt. Dabei argumentiere ich, dass sich Enstehung, Verbreitung, Ge-

6 Charles Delucena Meigs, Females and Their Diseases. A Series of Letters to His Class. Philadelphia 1848, 143f.

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neralisierung und Homogenisierung dieser emotional verstärkten Essentialisierung – also Wissenspopularisierung in einer unhierarchisierend breiten Definition – in komplexen Transferprozessen zwischen unterschiedlichen AkteurInnen (Patientinnen, Ärzten, Hebammen, Chirurgen) lokalisieren und nachvollziehen lassen. Die Beschäftigung mit dem Uterusprolaps zeigt außerdem auf, dass Geschlechterdifferenzen in der frühneuzeitlichen Medizin nicht nur an der Beschaffenheit von gesunden Idealkörpern in der florierenden Anatomie diskutiert, sondern auch und gerade über gegenderte Emotionsregime im konkreten Umgang mit erkrankten Körpern verhandelt wurden. 7 Der Blick auf den Uterusprolaps ermöglicht so eine Analyse frühneuzeitlicher Essentialisierung, die Körper- und Geschlechterwissen als komplexe Produkte auch emotionaler, sinnlicher und materieller Praktiken versteht. 8 Der Titel des Beitrags „Geschlechtergefühle“ greift dabei die Tatsache auf, dass westliche Gesellschaften Gefühle häufig geschlechtlich markierten und nach wie vor markieren. Die Existenz derartiger „Geschlechtergefühle“ wird zwar einschließlich ihrer Ausprägungen und Folgen oft konstatiert, aber noch nicht in ausreichendem Maß in ihren Ursprüngen erforscht. 9

I. Mutterbruch und ignorante Hebammen – AkteurInnen, Wissen, Unsicherheit Der Vorfall der Gebärmutter wird bereits in Texten aus dem alten Ägypten diskutiert. 10 Die ältesten bekannten Pessaranwendungen stammen aus dem alten Indien,

7 Geschlechtliche Unterschiede waren ein zentrales Interesse der Anatomen des 16.Jahrhunderts, vgl. z. B. Katharine Park, Secrets of Women. Gender, Generation and the Origins of Human Dissection. New York 2006; Michael Stolberg, A Woman Down to her Bones. The Anatomy of Sexual Difference in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: Isis 94, 2003, 274–299. 8 Damit nehme ich aktuelle Forderungen auf, die jeweils individuell intensiv beforschten Bereiche der materiellen Kulturforschung und der Emotionsgeschichte mit der Geschlechtergeschichte stärker zu verbinden. Vgl. für dieses Anliegen z.B. Jacqueline van Gent/Raisa Maria Tovio (Eds.), Gender, Material Culture and Emotions in Scandinavian History. (Themenheft: Scandinavian Journal of History, Bd. 41, Nr.3.) Abingdon 2016. 9 Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln/Weimar/Wien 2000, 7–20, hier 9. 10

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Vgl. zur – insgesamt nur wenig erforschten – Geschichte von Prolapsen und Pessaren im Überblick

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dem antiken Griechenland und Rom – außerdem deutet vieles darauf hin, dass es sich bei in eisenzeitlichen Gräbern gefundenen Tonringen um Pessare handelt. 11 Hippokrates riet dazu, den Uterus mit halben, in die Vagina eingeführten und essiggetränkten Granatäpfeln zurückzuhalten. Weitere, immer wieder beschriebene Behandlungsmethoden sehen das Zusammenbinden der Beine und die Lagerung der Patientin mit erhöht positionierten Beinen vor sowie die Beräucherung der Gebärmutter mit schlechten Gerüchen. Im 16.Jahrhundert waren diese Ansätze nach wie vor bekannt. Allerdings fiel ihre Durchführung nicht in den Zuständigkeitsbereich akademisch ausgebildeter Mediziner. Stattdessen wandten sich die betroffenen Frauen in der Regel an Hebammen und Wundärzte. Dies entsprach der traditionellen Arbeitsteilung, die den Medizinern die Diagnose und Behandlung der inneren Krankheiten und das Wissen über Zusammenhänge und Funktionsweisen des Körpers zuschrieb. Tätigkeiten, die den konkreten Kontakt zum Körper – angreifen, aufschneiden, zurechtlegen – umfassten, fielen primär in die Zuständigkeit der nicht universitär ausgebildeten KollegInnen. Die wohl ausführlichste bildliche Darstellung von Prolapsen und ihrer Behandlung im 16.Jahrhundert findet sich entsprechend in dem bis zum 20.Jahrhundert unveröffentlicht gebliebenen Manuskript des Lindauer „Schnitt- und Augenarztes“ Caspar Stromayr von 1559. 12 Die Schilderungen zum Prolaps sind hier eingebettet in eine ausführliche Besprechung von Leistenbrüchen. In Analogie gesetzt zu dem mit der verblüffenden Menge von insgesamt 126 Abbildungen sichtlich dominierenden Thema der Hernien, begegnet der als „Mutterbruch“ 13 bezeichnete Prolaps lediglich als eine weibliche Spielart des typischen Aufgabenbereichs eines frühneu-

Shah/Sultan/Thakar, The History and Evolution of Pessaries (wie Anm.4); Reeba Oliver/Ranee Thakar/Abdul H. Sultan, The History and Usage of the Vaginal Pessary. A Review, in: European Journal of Obstetrics and Gynaecology and Reproductive Biology 156, 2011, 125–130. 11 Diane Scherzler, Der tönerne Ring vom Viesenhäuser Hof. Ein Hinweis auf medizinische Versorgung in der Vorrömischen Eisenzeit? In: Fundberichte aus Baden-Württemberg 22 (1998), 237–294. 12 Caspar Stromayr, Die Handschrift des Schnitt- und Augenarztes Caspar Stromayr in Lindau am Bodensee. In der Lindauer Handschrift (P. I. 46) vom 4.Juli 1559 (Practica copiosa von dem rechten Grundt dess Bruch Schnidts). Hrsg. Walter von Brunn. Berlin 1925. 13 Um 1800 wurde dagegen unter Mutterbruch nur noch ein Darmbruch durch die Vagina verstanden, von dem der Vorfall der Gebärmutter nun klar unterschieden wurde, vgl. – auch zu den Definitionsproblemen – Lemma „Mutterbruch“, in: Johann Georg Krünitz, Ökonomisch-technologische Enzyklopädie. Bd. 99. Berlin 1805, 249–273, zur Unterscheidung 253.

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zeitlichen Chirurgen und wird auf nur sehr wenigen Textseiten und in sieben Abbildungen abgehandelt. Geschlechtliche Unterschiede werden hier also weniger hergestellt als vielmehr aufgehoben. 14 Der Vorfall des Uterus, der in der Tat allein Frauen betrifft, wird als Variante eines primär männlichen Krankheitsbildes eingeordnet und beschrieben. 15 Dennoch gibt es selbst in dieser Quelle Unterschiede in der Darstellung, die zwar nicht im Zentrum stehen, aber einige für die langfristige emotionale Essentialisierung wichtige Aspekte bereits andeuten. Im Gegensatz zu den Abbildungen zum männlichen Leistenbruch, die die Patienten fast ausnahmslos komplett nackt darstellen, sind von den insgesamt sieben abgebildeten erkrankten Frauen sechs teils bis zu ihren Schuhen bekleidet und heben lediglich ihre Röcke, um eine Einsichtnahme zu ermöglichen (Abb.1). Die einzige unbekleidet präsentierte Frauendarstellung bildet zudem einen tatsächlichen Leistenbruch bei einer Frau und eben gerade keinen Gebärmuttervorfall ab. 16 Außerdem zeigt nur eine einzige Abbildung einen direkten Körperkontakt zwischen dem behandelnden Chirurgen Stromayr und der Patientin (Abb.2). Diese veranschaulicht die manuelle Zurücklegung des Uterus in den Körper. Der Körperkontakt ist hier also unabdingbar. In den Darstellungen des männlichen Leistenbruchs aber greift Stromayr deutlich öfter, direkter und nicht nur zur Demonstration der Therapie ein. Die Platzierung seiner Hände auf und neben den Brüchen und Genitalien dient bei den Darstellungen von Männern auch dazu, den jeweiligen Fokus des Bildes zu unterstreichen (Abb.3). Als dritter Unterschied kommt in einer der Abbildungen, auf der die Patientin

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Vorstellungen, nach denen sich die Geschlechter organisch nicht oder kaum voneinander unterschie-

den (Laqueurs berühmtes „one sex model“), waren im 16.Jahrhundert ebenso verbreitet wie die intensive Beschäftigung mit körperlichen Unterschieden. Vgl. Thomas W. Laqueur, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge, Mass. 1990; Helen King, The One-Sex Body on Trial. The Classical and Early Modern Evidence. Farnham/Burlington 2013; Patricia Simons, The Sex of Men in Premodern Europe. A Cultural History. Cambridge 2011; Londa Schiebinger, Skelettestreit, in: Isis 94, 2003, 307–313; Stolberg, A Woman Down to her Bones (vgl. Anm.7). 15

Derartige Analogiesetzungen zwischen den Geschlechtern waren nicht ungewöhnlich, wie insbeson-

dere Gianna Pomatas Untersuchung männlicher Menstruationsvorstellungen aufzeigt, vgl. Gianna Pomata, Menstruating Men. Similarity and Difference of the Sexes in Early Modern Medicine, in: Valeria Finucci/ Kevin Brownlee (Eds.), Generation and Degeneration. Tropes of Reproduction in Literature and History from Antiquity to Early Modern Europe. Durham/London 2001, 109–152. 16

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Stromayr, Handschrift (wie Anm.12), 257.

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Abb.1: Stromayr, Handschrift (wie Anm. 12), 330.

mit weit gespreizten Beinen und zurückgelegten Röcken Einsicht in ihr Körperinneres gewährt und so die Lage des Pessars zu erkennen gibt, als dritte Figur eine weitere Frau, wohl eine Hebamme, hinzu (Abb.4). Während auch die anderen Abbildungen mitunter pflegende Frauenfiguren im Hintergrund zeigen, ist die Hebamme auf dieser Abbildung in den Vordergrund gerückt und befindet sich auf gleicher Ebene mit Stromayr. Auf den beiden Seiten des

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Abb.2: Stromayr, Handschrift (wie Anm. 12), 332.

Krankenbettes platziert weisen die Zeigefinger von Hebamme und Chirurg auf die jeweils andere Person und scheinen so die Frage der Zuständigkeit zu verhandeln. Das Ergebnis dieser Aushandlung steht nicht fest, allerdings deutet die kniende Haltung der Hebamme und ihr Körperkontakt mit der Patientin darauf hin, dass sie hier die handelnde Person ist, während Stromayr vor allem beratend tätig zu sein scheint. Diese Beobachtungen lassen zwei Schlussfolgerungen zu. Erstens: Während der

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Abb.3: Stromayr, Handschrift (wie Anm. 12), 204.

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Abb.4: Stromayr, Handschrift (wie Anm. 12), 334.

Uterusprolaps in Stromayrs Manuskript klar als eine Form des Bruchleidens beschrieben wird, womit die aus heutiger Perspektive deutliche Geschlechtsmarkierung der Erkrankung weitgehend aufgehoben wird, zeigen die Abbildungen unterschwellig auch erkennbare Unterschiede auf. Die im Gegensatz zu den komplett nackt gezeigten männlichen Patienten fast vollständige Bekleidung der Patientinnen, das die Transgressivität der Untersuchung betonende Heben der Röcke und die

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sichtbare Zurückhaltung Stromayrs, der seine Distanz zu den Frauen wahrt, unterstreichen die emotionale Besetzung des Prolapses mit Scham und Unsicherheit. 17 Ekel und Furcht begegnen hier zwar nicht, doch lassen sich diese als enge Verwandte und häufige Begleiterscheinungen der beiden gezeigten Emotionen verstehen. 18 Zweitens verweist die Abbildung mit der Hebamme auf die komplexe Situation der Verteilung von Zuständigkeiten in der frühneuzeitlichen Frauenheilkunde, die traditionell von Frauen ausgeführt wurde. Bereits seit dem 16.Jahrhundert ergaben sich hier frappante Verschiebungen. Trotz der möglichen gesellschaftlichen Brisanz der direkten Behandlung der „heimlichen Orte“ des weiblichen Körpers drangen männliche Akteure, Chirurgen wie Mediziner, mit mehr und mehr Nachdruck in dieses Gebiet vor, und versuchten, es zusehends zu dominieren. 19 Im Falle des Prolapses wird dies zum Beispiel daran deutlich, dass ständig und durchaus polemisch als einer der angeblich sehr häufigen Gründe für einen Vorfall das zu starke Ziehen von als extrem inkompetent geschilderten Hebammen an der Nabelschnur angeführt wurde. Dieser Vorwurf lagerte sich dem Thema letztlich so stark an, dass er selbst vonseiten der Hebammen, durchaus mit warnendem Unterton, vorgebracht wurde. 20 Insgesamt wuchs das Interesse der akademischen Medizin an weiblichen Körpern und gynäkologischen Krankheitsbildern enorm. 21 Der Uterusprolaps zum Bei-

17 Leistenbrüche waren auch für Männer mit Scham verbunden. Michael Stolberg erklärt das – neben der generellen Schambesetzung der Genitalregion – mit der „Auflösung der Körpergrenzen“ und dem entsprechenden „Kontrollverlust“, eine Argumentation, die, wie ich weiter unten kurz schildere, auch für Ekelreaktionen immer wieder in Anschlag gebracht wird, Michael Stolberg, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2003, 72f. 18 Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Ekel und seinen „Nachbaremotionen“ vgl. William I. Miller, The Anatomy of Disgust. Cambridge, Mass. 1997, 24–37. Miller bespricht hier unter anderem auch Angst und Scham sowie das mit der Unsicherheit verwandte „Unheimliche“. Zur Verbindung von Angst und Ekel vgl. auch Martha C. Nussbaum, The Monarchy of Fear. A Philosopher Looks at our Political Crisis. Oxford 2018. Zur Scham siehe Ute Frevert, Vergängliche Gefühle. Göttingen 2013. 19 Zur Brisanz vgl. Schober, Gesellschaft im Exzess (wie Anm.2), 190–194. 20 Jane Sharp, The Midwives Book. Or the Whole Art of Midwifry Discovered. Ed. Elaine Hobby. New York/Oxford 1999, 180: „[U]nskilful Midwives often make it so“; Louise Bourgeois, Midwife to the Queen of France. Diverse Observations. Translated by Stephanie O’Hara. Ed. Alison Klairmont Lingo. Toronto 2017, 165: „In other cases, it is the fault of an incapable midwife […] the loosening of the womb is due to her ignorance.“ 21 Vgl. zu diesem längeren, im Spätmittelalter einsetzenden Prozess etwa Monica H. Green, Making Women’s Medicine Masculine. The Rise of Male Authority in Pre-Modern Gynaecology. Oxford 2008; Park,

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spiel avancierte im 16. und 17.Jahrhundert zu einem immer wieder behandelten Thema in der medizinischen Literatur. Insbesondere Fallgeschichten trugen zu einem starken Anstieg des schriftlich verfügbaren Wissens bei. 22 Das starke Interesse spiegelt sich auch darin, dass mehrere universitäre Dissertationsthesen zu Uterusprolapsen überliefert sind. 23 Die ausführlichsten und informiertesten Schilderungen verdanken wir jedoch den für ihre Publikationen bekannten Chirurgen der Zeit: Ambroise Paré, Wilhelm Fabry und Jacob Rueff. 24 Und auch Hebammen wie Louise Bourgeois und Jane Sharp nahmen den Prolaps als wichtiges Thema in ihre volkssprachlichen Veröffentlichungen auf und stellten somit ihr Wissen einem breiteren Publikum zur Verfügung. 25 Dagegen gibt es kaum Hinweise dazu, wie die Patientinnen selbst mit ihrer Erkrankung umgingen und über welches Wissen sie verfügten. Mitunter wird zum Beispiel darauf hingewiesen, dass Patientinnen zunächst versuchten, den Uterus eigenhändig zurückzulegen, oder dass sie bereits selbst einen Prolaps diagnostiziert hatten – allerdings wissen wir auch das lediglich aus den medizinischen Quellen und somit aus Sicht der Behandelnden. 26 Das bedeutet jedoch keineswegs, dass diese Akteurinnen lediglich als Rezipientinnen des anderswo – nämlich in den gedruckten Texten der Chirurgen und Mediziner – hergestellten Wissens fungierten. Vielmehr flossen Ideen, Vorstellungen und Emotionen von Patientinnen, Chirurgen, Hebammen und Ärzten ineinander und wirkten zusammen an der langfristigen Ausprägung kultureller Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse der Erkrankung.

Secrets of Women (wie Anm.7); Dominique Brancher, Équivoques de la pudeur. Fabrique d’une passion à la Renaissance. Genf 2015, 265–301. 22

Etwa Johann Schenck von Graffenberg, Observationum medicarum rariorum libri VII. Frankfurt 1665,

641f.; Frederic Ruysch, Practical Observations in Surgery and Midwifry. Now First Translated from the Latin into English by a Physician. London 1751. 23

Allein schon beispielsweise an den Universitäten Jena und Basel: Christian Wilhelm Förster, Dissertatio

medica inauguralis de procidentia uteri. Jena 1684; Johann Jacob Karges, Disputatio medica inauguralis de procidentia uteri. Jena 1730; Friedrich Günther Kircheim, Disputatio medica inauguralis de procidentia uteri. Basel 1675; Johann Hagendornn, De procidentia uteri disputatio. Basel 1624. 24

Ambroise Paré, Oeuvres complètes. Ed. Joseph-François Malgaigne. Bd. 2. Paris 1840, 739–747; Wilhelm

Fabry, Deß Weitberühmten Guilhelmi Fabricii Hildani […] Gantzes Werck. Auß dem Lateinischen in das Teutsche übersetzt durch Friderich Greiffen (etc.). Hanau 1652, passim; Jacob Rueff, Ein schön lustig Trostbüchle von den Empfengknussen und Geburten der Menschen. Zürich 1554, 127v–133v. 25

Sharp, The Midwives Book (wie Anm.20), 180–185; Bourgeois, Midwife (wie Anm.20), 165ff.

26

Z.B. Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 747; Johann Storch, Quinque Partitum Practicum. Oder

Eine in fünff Classen eingetheilte Praxis Casualis Medica. Grießbach 1740, 159.

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Versuche, die traditionelle Trias der Popularisierungsforschung – WissensproduzentInnen, WissenspopularisatorInnen, WissensrezipientInnen 27 – für das Wissen zum Uterusprolaps und dessen emotionsbesetzter Essentialisierungswirkung zu identifizieren, sind deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt. Stattdessen lässt sich an diesem Beispiel ein Popularisierungsmodell zur Anwendung bringen, dass die Kritik an der dem traditionellen diffusionistische Konzept zugrundeliegenden Top-down-Perspektive insofern weiterführt 28, als es die Enstehung, Ausbreitung und Homogenisierung von Wissen als Produkt wechselwirkender kommunikativer Prozesse aller beteiligten AkteurInnen versteht. Konsequent weitergedacht macht dabei die Wechselwirkung der Interaktionen auch die Zuteilung von Senderund Empfängerrollen obsolet. Auch wenn das frühneuzeitliche Wissen zum Uterusprolaps der Historikerin und dem Historiker quellenbedingt gerade für diese derart emotionsbesetzte und verschwiegene Angelegenheit fast ausschliesslich in den Texten eines Bruchteils der medizinischen Anbieter begegnet, ermöglicht es gerade diese Neujustierung des traditionellen Popularisierungsansatzes die Perspektive zu drehen. Was sich nämlich, wenn auch oft nur zwischen den Zeilen, deutlich abzeichnet, ist, wie sehr frühneuzeitliche Mediziner auf diesem Gebiet neben dem Wissen, das sie aus der vornehmlich antiken Literatur generierten, auf die Zusammenarbeit mit anderen AkteurInnen und die Rezeption von deren Wissen angewiesen waren. Sichtbar werden dabei neben den wiederkehrenden Schilderungen der Zusammenarbeit am Krankenbett auf den ersten Blick überraschende Wissenstransfers. Der Basler Anatom Caspar Bauhin (1560–1624) beispielsweise tauschte sich nicht nur mit seinem Bruder, dem Mömpelgarder Arzt Johann Bauhin, über das Thema aus und rezipierte die Schriften von Chirurgen, sondern wurde auch von seiner Schwiegermutter, Sabina Vogelmann, bezüglich der Form von Pessaren beraten. 29 Die Ausführungen frühneuzeitlicher Mediziner zum Uterusprolaps sind verglichen mit denjenigen der Wundärzte in der Regel kurz, unspektakulär und repetitiv. Darin spiegelt sich nicht nur die Abhängigkeit des Wissens der Mediziner von dem Wissen anderer, sondern auch die erstaunlich konstante Zurückhaltung und Unsicherheit, mit der viele von ihnen offensichtlich agierten. Obwohl sie durchaus den

27 Vgl. Muriel González Athenas und Falko Schnicke in der Einleitung dieses Beihefts, S. 32–35. 28 Ebd. 29 Caspar Bauhin, Hysterotomotokia Francisci Rousseti. Basel 1588, 217–220.

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Anspruch besaßen, die Krankheit zu erklären und zu behandeln, zeigen insbesondere Fallberichte deutlich auf, dass auch noch am Ende der Frühen Neuzeit in aller Regel Hebammen und Wundärzte diejenigen waren, die bei einem Uterusprolaps tatsächlich Hand anlegten und damit wohl die Vorstellungen der betroffenen Frauen stärker und direkter beeinflussten als die Schriften der Mediziner. 30

II. Urin, Exkrement und Rauch – Sinnlichkeit der Prolapsbehandlung Besonders ausführlich beschäftigte sich Ambroise Paré in seinem „De la génération de l’homme“ von 1573 mit dem Uterusprolaps. 31 Die Ausführungen des französischen Chirurgen erwiesen sich auch unter Medizinern als sehr einflussreich. Caspar Bauhin beispielsweise verwendete Parés Abbildung eines ovalen Pessars zur Illustration seiner Textpassage zu Pessaren. 32 Paré schilderte zunächst verschiedene mögliche Ursachen eines Prolaps – Kinderreichtum, den erwähnten Fehler der Hebamme oder auch schweres Heben und Stürze –, bevor er sich ausführlich den Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung widmete und mit mehreren anschaulich geschilderten Fallberichten schloss. Erschwert werde die Heilung, so eine der Überlegungen Parés, wenn der Uterus weit aus dem Körper heraus vorgefallen ist. Bereits nach kurzer Zeit entzünde sich in diesem Fall nämlich das Gewebe aufgrund der Reibung der Schenkel, des Ausgesetzt-

30

Etwa Lorenz Heister, A General System of Surgery. Translated into English. London 1750, 235f. Sogar

der selbstbewusst andere medizinische Anbieter wegen ihres Unwissens scharf kritisierende Frederik Ruysch, der sich ohnehin als früherer Apotheker mehr als die meisten seiner Kollegen zwischen den Professionen bewegte, zog bei der Behandlung von Prolapsen ganz selbstverständlich Chirurgen hinzu, Ruysch, Practical Observations (wie Anm.22), 4, 35, 63. Felix Platter beauftragte eine Hebamme mit der Zurücklegung eines Prolapses – nicht jedoch ohne die entsprechende Textpassage dafür zu nutzen, deren Überforderung mit der Aufgabe zu kommentieren und deutlich zu machen, dass er ihr genaue Instruktionen zum Vorgehen geben musste, Felix Platter, Observationum in hominis affectibus plerisque, corpori & animo, functionum laesione, dolore, aliave molestia & vitio incommodantibus, libri tres. Basel 1614, 715ff. 31

Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 739–747.

32

Bauhin, Hysterotomotokia (wie Anm.29), 217f. Ausführlich zu den verschiedenen Formen von Pessa-

ren in der Frühen Neuzeit vgl. die eingehende Anmerkung des Herausgebers von Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 741–744.

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seins an der kalten Luft, vor allem aber wegen des steten Kontakts mit Urin und Fäkalien: „Si elle est fort descendue entre les cuisses, elle ne peut estre reduite, et se corrompt par l’air ambient, et s’ulcere et putrefie par le continuel attouchement de l’urine et matière fecale, et aussi par la compression et contusion du fray des cuisses.“ 33

Der Prolaps wird hier auf eingängig markante Weise zum Ekelobjekt: Nicht nur, dass der weit zwischen die Schenkel vorgefallene Uterus das Innerste des Körpers nach außen kehrt und damit die versichernd-befriedigende Grenzsetzung zwischen Ich und Umwelt, Selbstbeherrschung und Handlungsmacht der Materie und letztlich zwischen Leben und Tod verwischt – die verrutschte Körpermasse selbst ulzeriert und verwest. 34 Ausgelöst wird dieser Verfallsprozess, so Paré bildlich, in erster Linie von dem kontinuierlichen Kontakt mit Urin und Exkrementen. Ekel ist – auch wenn es intuitiv so scheint – nicht von Natur aus an bestimmte Objekte gebunden. 35 Da Ekel individuell und kulturell erlernt wird, handelt es sich bei ekelhaften Objekten um gesellschaftliche Zuschreibungen. Allerdings sind, wie Ekeltheoretiker an verschiedenen Beispielen herausgearbeitet haben, manche dieser kulturellen Verbindungen bemerkenswert stabil. 36 Diese stabilen Verbindungen bilden die Basis, auf der die meisten weiteren Ekelprojektionen aufbauen. 37 Als besonders wirkmächtiger und äußerst stabiler Auslöser der Emotion erweist sich der menschliche Leichnam, laut Winfried Menninghaus „die Chiffre des Ekels“. 38 Ekel entspringt, denkt man diese Verknüpfung zu Ende, also zu einem gro-

33 Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 740. 34 Verwesungsprozesse von Prolapsen werden auch in anderen Quellen beschrieben. Besonders eindrücklich von dem dänischen Priester und ehemaligen Medizinstudenten Niels Michelsen, der in einem Abschnitt über den Uterusprolaps bemerkt, dass ein sich rötender verrottender Prolaps gefahrlos einfach abgeschnitten werden könne, Niels Michelsen, Medicin eller Læge-boog. Aalborg 1640, 189. Ich danke Mette Ahlefeldt-Laurvig herzlich für diesen Hinweis. 35 Paul Rozin/April E. Fallon, A Perspective on Disgust, in: Psychological Review 94, 1987, 23–41. 36 Diese stabilen Ekelobjekte werden häufig als „primäre“ Ekelerreger beschrieben, vgl. Rozin/Fallon, Disgust (wie Anm.35); Donald Lateiner/Dimos Spatharas, Introduction. Ancient and Modern Modes of Understanding and Manipulating Disgust, in: Dies. (Eds.), The Ancient Emotion of Disgust. New York 2017, 1–42. 37 Vgl. am Beispiel der Homosexualität im 20.Jahrhundert besonders eindrücklich Martha C. Nussbaum, From Disgust to Humanity. Sexual Orientation and Constitutional Law. New York 2010. 38 Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999, 7.

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ßen Teil aus der Furcht vor dem eigenen Tod. William Miller erweitert diese Überlegung in seiner Metapher der primär ekelerregenden „Lebenssuppe“, der alles angehöre, was dem Zyklus von Leben, Tod und Regeneration entstamme. 39 Die Erregung von Ekel beruht demnach auf körperlichen Zerfalls- und Verwesungsprozessen – Aspekten, die Parés Passage klar betont. Eine andere Erklärung für Ekel, die insbesondere von Mary Douglas und Julia Kristeva vorgeschlagen wurde, sieht Ekel dadurch bedingt, dass wichtige Grenzsetzungen überschritten werden, Dinge außerhalb ihrer Ordnung und ihres angestammten Platzes geraten oder das Individuum die Sicherheit seiner individuellen Beschränkung verliert. 40 Diese Übertretung ist beim Uterusprolaps ebenfalls gegeben. Urin und Exkremente sind selbst ekelhafte Marker von Überschreitung und erinnern zugleich an die Vergänglichkeit des Körpers und die degeneriert-regenerierende „Lebenssuppe“, auf die menschliches Leben stets angewiesen bleibt. Und dieser Ekel ist übertragbar. Der Kontakt mit unreinen Exkrementen diente in der Frühen Neuzeit, beispielsweise in Satiren oder Verleumdungen, häufig dazu, Ekel auf weitere Objekte zu transferieren. 41 Auch im Fall des Prolaps verstärkte der „kontinuierliche Kontakt“ mit den Körperflüssigkeiten, der nicht nur von Paré beschrieben wird, das Ekelpotenzial der Erkrankung erheblich. 42 Paré thematisierte die Verbindung von Prolaps und Exkrement auch einige Absätze später nochmals ausführlich. Zum Zurücklegen des Vorfalls war nämlich, wie der Chirurg anschaulich schilderte, die Leerung des Darms mit Klistieren nötig – und zwar, um Platz für den Uterus zu schaffen. Eine weitere – ekelbasierte – Behandlungsmöglichkeit bestünde außerdem darin, die Patientin zum Erbrechen zu bringen, da die damit einhergehenden Konvulsionen, den Uterus regelrecht nach oben zögen. 43

39

Miller, The Anatomy of Disgust (wie Anm.18), 18.

40

Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. With a New

Preface by the Author. London 2002; Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris 1980. 41

Vgl. beispielsweise die prominente Rolle von Exkrementen in frühneuzeitlichen „house scornings“,

Elizabeth S. Cohen, Honor and Gender in the Streets of Early Modern Rome, in: The Journal of Interdisciplinary History 22, 1992, 597–625. 42

Etwa auch Johann Storch, Siebender und Achter Medicinischer Jahr-Gang oder Observationes Clinicae.

Leipzig 1735, 206, 532. 43

58

Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 744.

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Dabei war es jedoch wichtig, dass dieses Erbrechen nicht von durch die Nase eingeatmeten schlechten Gerüchen ausgelöst wurde. Der Uterus reagierte nämlich, so die landläufige, von den antiken Autoritäten übernommene Meinung, auf Aromen. 44 Schlechte Gerüche wirkten, so die Überlegung, auf ihn abstoßend, hatten also eine für die Heilung eines Vorfalls gegenteilige Wirkung. 45 Diese Vorstellung bot allerdings auch die Grundlage dafür, Prolapse sowie das gefürchtete „Aufsteigen“ der Gebärmutter mit Gerüchen zu behandeln. Bei dem letzteren, heute nicht mehr bekannten, damals jedoch gefürchteten Krankheitsbild, der sogenannten suffocatio des Uterus, erfolgte eine Beräucherung mit angenehmen Gerüchen durch die Vagina, während ekelhafter Rauch, beispielsweise von verbrennenden Haaren, durch die Nase appliziert wurde. Beim Prolaps änderte sich lediglich die Richtung: Hier wurde von „unten“ mit schlechten Gerüchen beräuchert, während durch die Nase gute Gerüche einzuatmen waren, um die Gebärmutter wieder an den rechten Platz zu rücken. Ein Uterusprolaps war also bereits deswegen, weil er mit schlecht riechendem Rauchwerk behandelt wurde, eng an ekelhafte Gerüche gebunden. Kein Wunder stank er in den Wahrnehmungen der ZeitgenossInnen. 46 Ausgelöst wurden die unangenehmen Ausdünstungen eines Prolaps nicht nur von den Verwesungsprozessen der vorgefallenen Materie und ihrem Kontakt zu Exkrementen, sondern auch durch das wichtigste Behandlungsmittel: Pessare. Insbesondere die häufig verwendeten preiswerten Varianten aus Holz oder Kork waren anfällig dafür, Gestank zu entwickeln: „Those made of wood and cork become rotten, and convey such a stench wherever the patients go, that people can hardly support the odour which exhales from their bodies.“ 47 Die GynäkologInnen Babet Lamers, Bart Broekman und Alfredo Milani betonen aus der Perspektive des 21.Jahrhunderts, dass Pessare regelmäßig herauszunehmen und zu reinigen seien, da ansonsten die Gefahr von Nebenwirkungen bestehe. Unter

44 So Laurence Totelin, Smell as Sin and Cure in Ancient Medicine, in: Mark Bradley (Ed.), Smell and the Ancient Senses. London/New York 2015, 17–29, hier 26–29. 45 Jennifer Evans, Female Barrenness, Bodily Access and Aromatic Treatments in Seventeenth-Century England, in: Historical Research 87, 2014, Nr.237, 423–443. 46 Etwa Rueff, Trostbüchle (wie Anm.24), 129v: „als denn fliessend staetigs on vnderlaß in soelichen alten praesten von der baermuoter stinckende / erfülte vnd überflüssige füchtigkeit.“ 47 George Arnaud, A Dissertation on Hernias and Ruptures in Two Parts. Translated from the Original Manuscript, under the Inspection of the Author. London 1748, 237.

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anderem führten ungewechselte Pessare zu durchdringend schlechten, fauligen Gerüchen aus der Vagina. 48 Wenn frühneuzeitliche Quellen darauf eingehen, dass es möglich sein müsse, Pessare herauszunehmen, dann allerdings nicht mit der Begründung, dass dies zum Zweck der Reinigung nötig sei. 49 Zwar verfügen die meisten der in frühneuzeitlichen Abhandlungen abgebildeten Exemplare über eine Schnur, mit der das Pessar leicht herausgezogen werden konnte, dies diente aber dazu, Geschlechtsverkehr zu ermöglichen, nicht das Pessar zu reinigen. Faule Gerüche waren also, selbst wenn der Prolaps erfolgreich zurückgelegt worden war und durch einen Pessar am Platz gehalten wurde, eine wohl stete Begleiterscheinung der Erkrankung.

III. Geruch der Unfruchtbarkeit – Hexen, Hermaphroditen und frustrierte Ehemänner Faule Gerüche waren in der Frühen Neuzeit gefürchtet. Sie galten als ansteckend, verdorben und, da sie an Verwesung, Tod, Sünde und Körperlichkeit erinnerten, überdies als Symbol des Teufels. Eine Figur stank in der Imagination der ZeitgenossInnen besonders ekelerregend: die Hexe. 50 Dass ein faulig riechender Uterusprolaps eine Frau zur Hexe machte, wäre allerdings zu weit gegriffen – dennoch überraschen die Geruchsparallelen. Constance Classen versteht den „foul odour“ der Hexe nämlich gerade als eine Intensivierung des frühneuzeitlich imaginierten Gestanks „korrupter Weiblichkeit“. 51 Diese wurde, so die vorherrschende Meinung, durch die reinigende – und gleichfalls stinkende – Menstruation ausgeschieden. 52 Als ein Grund für Uterusprolapse galt jedoch auch, dass die Menses nicht richtig abflossen,

48

Lamers/Broekman/Milani, Pessary Treatment (wie Anm.3), 642.

49

Stromayr, Handschrift (wie Anm.12), 94: „Merckh aber wann soliche Frawen so Bruch oder Muetter

Kuglen bey Inen haben das sy mit kaine Mannen nichts mügen schaffen Inn den Eelichen werckhen / sy nemen dann die selbigen Kuglen Zuuor heraus […] Wa aber soliche Bresthafftige Frawen kaine Mann haben so bleiben die Kugeln Ir Lebenlang bey In“. Vgl. auch Fabry, Gantzes Werck (wie Anm.24), 442. 50

Annick Guérer, Scent. The Mysterious and Essential Powers of Smell. London 1993, 3–6.

51

Constance Classen, The Color of Angels. Cosmology, Gender and the Aesthetic Imagination. New York

1998, 80. 52

Vgl. Alain Corbin, The Foul and the Fragrant. Odor and the French Social Imagination. Cambridge,

Mass. 1986, 44ff.

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im Körper verblieben und so die Gebärmutter nach unten drückten: „Innerliche vrsach solcher Kranckheit / ist vnmässige verhaltung Weiblicher reinigung / darvon die Bärmutter etwan beschwäret / daß sie vndersich hinab geruckt wirdt.“ 53 Im Fall der Hexe symbolisierte die ausbleibende Menstruation Unfruchtbarkeit: Zum einen wurden überproportional viele postmenopausale Frauen der Hexerei angeklagt 54, zum anderen wurde ihnen häufig vorgeworfen, die Fruchtbarkeit von Menschen, Tieren oder auch Feldfrüchten zu korrumpieren. 55 Daneben pervertierten die hoch sexualisierten Bilder des Hexensabbat und des Verkehrs mit dem Teufel in den Vorstellungen der Zeit die Fruchtbarkeit ehelichen Geschlechtsverkehrs in ihr unfruchtbar-illegitimes Gegenteil. Hatte Unfruchtbarkeit also selbst den faulschweflig-höllischen Geruch der Hexe angenommen? Oder befiel der Gestank der Hexe hinterrücks unfruchtbare Frauen? Bemerkenswert ist auf jeden Fall, dass auch das Krankheitsbild des faulig riechenden Uterusprolapses eng mit der in der Frühen Neuzeit zutiefst problematischen Unfruchtbarkeit verbunden war. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass der Zürcher Wundarzt Jacob Rueff die „verrückung der Baermutter“ ganz selbstverständlich in das Buch seines „Trostbüchles“ einordnete, das „vnfruchtbarkeit Manns vnd Weibs“ behandelte. 56 Zudem waren Pessare, die trotz aller Räucherungen wichtigste Heilmethode bei einem Prolaps, moralisch in dieser Hinsicht vorbelastet. Gleichnamige Hilfsmittel wurden nämlich auch zur Verhütung eingesetzt und konnten damit die Empfängnis sogar aktiv verhindern. 57 Und auch im hippokratischen Eid fanden Pessare Erwähnung. Die entsprechende, schwer zu deutende Textstelle, die wohl den Einsatz von Pessaren zu Abtreibungszwecken verbot, stand in der Frühen Neuzeit als pars pro toto für jegliche Abtreibungsmöglichkeiten, derer sich ein Arzt keinesfalls bedienen durfte. 58 Langfristig führte die Erwähnung im Eid wohl sogar dazu, dass Medi53 Rueff, Trostbüchle (wie Anm.24), 128v. 54 Vgl. Lyndal Roper, Witch Craze. Terror and Fantasy in Baroque Germany. New Haven/London 2004, 160. 55 Der typische Schadenzauber der Hexe galt als „Pervertierung von Heil- und Fruchtbarkeitszauber“ und beschwor daher Unfruchtbarkeit und Impotenz, vgl. Ingrid Ahrendt-Schulte, Hexenprozesse, in: Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, 199–220, hier 200. 56 Rueff, Trostbüchle (wie Anm.24), 127v–133v. 57 Robert Jütte, Contraception. A History. Cambridge 2008, 46f., 74, 77. 58 Steven H. Miles, The Hippocratic Oath and the Ethics of Medicine. Oxford 2005, 81–94.

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Abb.5: Ambroise Paré, Pessaire pour tenir le col de la matrice ouvert, Wellcome Collection, L0074833.

ziner zwischen den Objekten und den als „unlauter“ empfundenen Abtreibungen überhaupt eine Parallele zogen und den Pessaren zumindest mit Unsicherheit und Unbehagen, mitunter aber gar mit Ekel begegneten. Die große „Unlust“, die der junge Platter angesichts eines Gebärmutterringes empfand, kam also nicht von ungefähr. Verstärkt wurde sie möglicherweise durch eine weitere Komponente. Pessare werden je nach Schwere der Erkrankung, nach Breite der Vagina oder auch nach Vorlieben und Kenntnisstand des Arztes bis heute in vielen verschiedenen Formen angefertigt und getragen. Vor allem im und seit dem 16.Jahrhundert hat sich ihre Gestalt von der einfachen Kugel, die Stromayr empfahl, und den Ringformen, die Platter beschrieb, deutlich in die Länge gezogen. Eine besonders auffällige Abbildung stammt erneut von Ambroise Paré (Abb.5). Anstelle eines Pessars, der zur Korrektur eines Uterusprolaps benutzt wurde, zeigt diese eine Apparatur, die in die Vagina eingeführt dazu dienen sollte, bei einer vermeintlich aufgestiegenen Gebärmutter gute Gerüche direkt ins Körperinnere zu leiten. 59 Gleichzeitig konnte

59

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Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 756–761.

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Abb.6: Albertus Haller (Hrsg.), Disputationes chirurgicae selectae, 3. Bd, Lausanne 1755, Tabula 23, Universitätsbibliothek Basel, Lp II 11.

dasselbe Hilfsmittel aber auch für die Beräucherung mit schlechten Gerüchen im Falle eines nur wenig ausgeprägten oder bereits zurückgelegten Prolapses verwendet werden. Dass sich diese Apparatur und auch andere gebräuchliche Pessarformen, wie sie beispielsweise eine Abbildung zu einer von dem Schweizer Arzt Albrecht Haller edierten Disputation aus dem 18.Jahrhundert zeigt (Abb.6), deutlich an die Form eines Penis anlehnten, entging auch den Zeitgenossen nicht. Für derartige Pessarmodelle gab es spätestens seit dem frühen 19.Jahrhundert einen eigenen – auf die Dauererektion des griechischen Fruchtbarkeitsgottes Priapos verweisenden – Namen:

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pessaires Priapisques. 60 Traten Pessare also in der Wahrnehmung der Zeitgenossen in Konkurrenz zum männlichen Genital? Eindeutig beweisen lässt sich diese Vermutung zwar nicht. Allerdings lassen die Quellen doch immer wieder erkennen, dass ihren Autoren zumindest die aristotelische Vorstellung vertraut war, der zufolge ein Prolaps eine Reaktion auf die – unerfüllte oder auch exzessive – Lust einer Frau sei, selbst wenn sie dieser Idee mit Zweifeln begegnete. 61 Während zwar einige frühneuzeitliche Fallberichte deutlich machten, dass das Austragen einer Schwangerschaft und sogar eine Geburt mit einem Prolaps durchaus möglich seien, war Geschlechtsverkehr bei einem akuten Vorfall der Gebärmutter ausgeschlossen. Und diese akute unfruchtbare Phase konnte durchaus eine Weile anhalten: Felix Platter zitiert den Fall einer jungen Frau, die zwei Jahre lang an einem Prolaps in Größe eines „Straußeneis“ litt. 62 Während dieser Zeit „versuchte sie vergeblich Vieles“. Schließlich wandte sich der frustrierte Ehemann an Platter – und zwar, weil ihn „die Trennung von ihr anekelte“. 63 Der fehlende Geschlechtsverkehr wird hier also nicht nur mit der starken Ekelempfindung vonseiten des Ehemannes unterstrichen, sondern ist zudem der Anlass dafür, nun „endlich“ auch einen Arzt hinzuziehen. Bei den in frühneuzeitlichen Quellen beschriebenen Fällen handelt es sich überwiegend um schwere Prolapse, bei denen sich der Uterus also nicht nur in die Vagina abgesenkt hatte, sondern tatsächlich weit aus dem Körper der betroffenen Frauen hervorgetreten war. Dieses Bild rief aus zeitgenössischer Sicht eine weitere erstaunliche Assoziation auf: Bekanntlich ist Ambroise Paré auch einer der Kronzeugen von Thomas Laqueurs Vorstellung eines frühneuzeitlichen one sex models, also der Theorie, dass die frühneuzeitliche Körperkonzeption keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern kannte, da sie letztere lediglich als Inversion des männlichen Körpers betrachtet habe 64: Vagina entspricht Penis, Eierstöcke den 60

Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 742, Anmerkung des Herausgebers.

61

Sehr distanziert: Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 740. Dem Zweifel entsprechend folgt Johann

Storch auch der Meinung seiner Patientin nicht, die glaubt, dass ihr Vorfall durch häufigen Geschlechtsverkehr bedingt sei, Storch, Quinque Partitum Practicum (wie Anm.26), 181f. 62

Die Metapher des Straußeneis übernimmt Platter hier, wie viele seiner Kollegen, von dem antiken

Arzt Aetius, z.B. Paré, Oeuvres complètes (wie Anm.24), 739. Vgl. King, The One-Sex Body (wie Anm.14), 122. 63

Platter, Observationum (wie Anm.30), 715: „illam fastidebat separata“. Übersetzung: Typoskript Gün-

ther Goldschmidt, Nachlass Buess, Universitätsbibliothek Basel, ohne Signatur, Buch 3, 144f. 64

64

Laqueur, Making Sex (wie Anm.14).

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Hoden und so weiter. Und in der Tat: Paré führte mehrere Fälle von spontanen Geschlechtsumwandlungen auf, die das Modell Laqueurs stützen. In einem davon schilderte er beispielsweise, wie sich bei einem vermeintlichen Mädchen durch einen Sprung über einen Graben (ein in den zeitgenössischen Erzählungen auch typischer Auslöser für einen Gebärmuttervorfall!) die Geschlechtsteile im Inneren gelöst hatten, diese nach außen kippten und sie somit „zu einem Knaben oder manne worden“ war. 65 Das bedeutet nun allerdings keineswegs, dass eine Frau mit Uterusprolaps plötzlich als Mann oder Hermaphrodit und mit den entsprechenden zeitgenössisch hoch problematischen emotionalen Komplexen aus Furcht und Faszination betrachtet wurde. 66 Wenn Uterusprolapse in frühneuzeitlichen medizinischen Texten mitunter mit Hodensäcken oder Penissen verglichen wurden, geschah das lediglich, um die visuellen Eigenschaften der Erkrankung für die Leser anschaulich zu beschreiben: „da [der Prolaps] vnderweilen siehet wie das Mannliche Glid“. 67 Allerdings teilen die Phänomene Hermaphroditismus und Uterusprolaps durchaus einige zeitgenössische Bedeutungskontexte. Zeigen lässt sich das an der Geschichte von Phaetousa, einer Frau, die laut dem hippokratischen Corpus nach der Geburt mehrerer Kinder und der Exilierung ihres Mannes aufhörte zu menstruieren. Stattdessen entwickelte sie Bartwuchs, bekam verstärkte Körperbehaarung und eine rauere Stimme – kurz: Sie nahm männliche Züge an. Seit dem 16.Jahrhundert fand Phaetousa, obwohl die Vorlage hierfür keinerlei Hinweise lieferte, mitunter in medizinischen Kapiteln zu Uterusprolapsen Erwähnung. 68 Außerdem gab es entsprechende Fälle, deren Narrativ sich dem Krankheitsbild langfristig anlagerte. 1686 kam es in Toulouse zu einer folgenschweren Verwechslung: Margaret Malaure, eine junge Magd, wurde als überwiegend männlicher Hermaphrodit entlarvt. 69 Sie wurde verurteilt und musste ihr Leben radikal umstellen, 65 Ambroise Paré, Wundt-Artzney oder Artzney-Spiegell. Frankfurt am Main 1601, 1060–1061, hier 1061. 66 Zu den Emotionen im zeitgenössischen Hermaphroditismusdiskurs vgl. Ruth Gilbert, Early Modern Hermaphrodites. Sex and Other Stories. Basingstoke/New York 2002; Kathleen P. Long, Hermaphrodites in Renaissance Europe. Aldershot 2006; Sarah-Maria Schober, Hermaphrodites in Basel? Figures of Ambiguity and the Early Modern Physician, in: Susanna Burghartz/Lucas Burkart/Christine Göttler (Eds.), Sites of Mediation. Connected Histories of Places, Processes and Objects in Europe and Beyond, 1450–1650. Leiden 2016, 297–325. 67 Fabry, Gantzes Werck (wie Anm.24), 1168; King, The One-Sex Body (wie Anm.14), 124. 68 King, The One-Sex Body (wie Anm.14), 19–23, 120–125. 69 Joseph Harris, Hidden Agendas. Cross-Dressing in 17th-Century France. Tübingen 2005, 35f.

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Männerkleidung tragen und den Namen „Arnaud“ annehmen. Erst einige Jahre später identifizierte der Pariser Arzt Barthélemy Saviard den vermeintlichen Penis als einen vorgefallenen Uterus und heilte die Frau, die sich nun bereits einige Jahre damit durchgeschlagen hatte, Neugierige ihren vermeintlich hermaphroditischen Körper beschauen zu lassen. Die Geschichte Malaures wurde in der gerichtsmedizinischen Literatur des 19. Jahrhunderts häufig zitiert und galt hier nach wie vor als keinesfalls abwegig. 70 Dass ein Uterusprolaps einem Penis ähnele und daher einer der Gründe für vermeintlichen Hermaphroditismus sei, war im Gegenteil zu feststehendem Wissen geworden, das keiner weiteren Erklärungen bedurfte. Andere Geschichten folgten demselben Muster: Everard Home, britischer Arzt und Mitglied der Royal Society, nennt Uterusprolapse 1833 nicht nur als eine mögliche Ursache falschen Hermaphroditismus’, sondern schildert seinerseits den Fall einer Frau, die viel Geld damit verdient habe, ihren Uterusprolaps in London auszustellen. Verstärkt wurde ihr Erfolg dadurch, dass sie vorgegeben hatte, „the powers of a male“ zu besitzen. 71 Die falsche Hermaphroditin wurde jedoch überführt und musste England verlassen. Ihr Fall – und vor allem die Tatsache, dass dieser in der medizinischen Literatur mit der 200 Jahre älteren Geschichte Malaures verknüpft wurde 72 – zeigt jedoch auf, wie langfristig emotional wirksame Narrative ein Krankheitsbild beeinflussen konnten. Die Autoren im 19. und 20.Jahrhundert, für die Prolapse und Pessare etwas unhinterfragt „Ekelhaftes“ waren, übernahmen ihr Wissen und in dessen Schlepptau auch einige der emotionalen Kontexte dieses Wissens aus den Texten, die sie lasen. Und diese Texte stammten zumindest in Teilen aus der Frühen Neuzeit oder beruhten ihrerseits auf Literatur und Vorstellungen aus dieser Zeit. Zwar traten nun auch weitere gesellschaftliche Entwicklungen hinzu, die insbesondere die Scham der betroffenen Frauen weiter stärkte und die hier nicht besprochen werden können. Frühneuzeitliche Kontexte, die unter anderem auf der Unsicherheit von Zuständigkeiten bei der besonders angreifend–„sinnlichen“ Behandlung beruhten, dem Schreckgespenst der Unfruchtbarkeit, schlechten Gerüchen, der Unmoral von Verhütung und Abtreibung oder gar der Vorstellung, dass das Einführen von Pessa-

70

William Augustus Guy, Principles of Forensic Medicine. New York 1845, 45; Theodric Romeyn Beck/John

Brodhead Beck, Elements of Medical Jurisprudence. Bd. 1, 12.Aufl. Philadelphia 1863, 178.

66

71

Vgl. King, The One-Sex Body (wie Anm.14), 124f.

72

Guy, Principles (wie Anm.70), 46; Beck/Beck, Elements (wie Anm.70), 178.

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ren in penisähnlicher Form sexuelle Konkurrenz bedeutete, entfalteten aber nach wie vor, wenn auch wohl unterbewusst, emotionale Wirkkraft. Möglicherweise tun sie das noch immer. Betroffene Frauen berichten häufig davon, wie sich ihr Leiden durch die starke Scham, die der Uterusprolaps auslöste, enorm verstärkte. 73 Diese heute oftmals als „natürlich“ erfahrene Scham beeinträchtigt oder verunmöglicht in vielen Fällen den Austausch mit anderen. Deuten lässt sie sich als Produkt langfristiger und vielfältiger kultureller Prozesse. Einerseits steht sie im Kontext der generellen Schambesetzung weiblicher Körperteile, die etwa in der inzwischen viel besprochenen Sprachlosigkeit von Frauen gegenüber ihren eigenen Genitalien Ausdruck wie einen Auslöser findet. 74 Ein weiterer Hintergrund dieser langfristig spürbaren emotionalen Essentialisierung von Geschlechtlichkeit ist daneben, wie dieser Beitrag aufzuzeigen suchte, auch in einem hoch emotionalen, verblüffend weitreichenden Geflecht von sowohl materiell-sinnlichen wie diskursiven Komplexen rund um Prolapse und Pessare zu finden. Einige Aspekte des Geflechts prägten sich in der Frühen Neuzeit aus, in Quellen, die sowohl das seit dem 16.Jahrhundert neu erwachte Interesse der frühneuzeitlichen Mediziner an geschlechtlichen Unterschieden wie die Auswirkungen der Wissenstransfers spiegeln. Die Scham der Betroffenen ist, in Teilen, auch Kehrbild der unter anderem mit diesen Prozessen einhergegangenen Furcht, Verunsicherung und des Ekels, dessen Existenz bereits im 16.Jahrhundert die eingangs zitierte Passage aus Platters Tagebuch nahelegt.

73 Für einen ausführlichen Bericht über ihre eigene Erkrankung und deren psychische Begleiterscheinungen vgl. Julia F. Kaye, Holding the Ball. How I Survived Pelvic Organ Prolapse – Without Surgery. Cardiff 2014. 74 Vgl. etwa Satu Heiland, Visualisierung und Rhetorisierung von Geschlecht. Strategien zur Inszenierung weiblicher Sexualität im Märe. Berlin 2015, 23–60; Mithu M. Sanyal, Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Berlin 2009.

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Geschlechterwissen in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern von Eva Marie Lehner

Am 13.Dezember 2018 beschloss der Deutsche Bundestag die Einführung einer dritten Geschlechtsoption im Personenstandsregister. 1 Neben „männlich“ und „weiblich“ kann im Geburtenregister seither auch der Eintrag „divers“ vorgenommen werden. Dieser Entscheidung gingen mehrere Jahre Diskussionen und Gerichtsprozesse voraus, auch ist der Entschluss des Bundestags keinesfalls unumstritten. 2 Mit dieser sogenannten dritten Option wird die für rechtliche Personen bis dato unumgängliche Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt. Die Annahme, dass es zwei Geschlechter gibt und jeder Mensch auf Grund seiner biologisch-körperlichen Merkmale objektiv entweder dem einen (weiblichen) oder dem anderen (männlichen) Geschlecht zugeordnet werden kann, prägte lange die allgemeinen Vorstellungen von Geschlecht. Dass diese geschlechtliche Zuordnung eindeutig ist und ein Leben lang beibehalten wird, ist Teil des Alltagswissens vieler Menschen, aber auch Teil des (natur-)wissenschaftlichen Verständnisses und war Teil des deutschen Rechtssystems. Die dritte Geschlechtsoption ändert dies zumindest auf der Ebene des Personenstands. Historisch gesehen ist diese dritte Option nicht ganz neu. Im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 gab es mit dem sogenannten „Zwitterparagrafen“ ebenso eine dritte Möglichkeit. Darin war geregelt, dass Eltern bei der Geburt eines Kindes ohne eindeutige Geschlechtszuordnung vorübergehend eine Art Erziehungsgeschlecht wählen, bis das Kind mit Erreichen des 18. Lebensjahres das Geschlecht

1 Pressemitteilung des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) vom 14.12.2018: Zusätzliche Geschlechtsbezeichnung „divers“ für Intersexuelle eingeführt. Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben, online verfügbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2018/12/drittes-geschlecht.html (abgerufen am 12.05.2020). 2 Siehe etwa Fabian Goldmann, Mann und Frau waren nie die Einzigen, in: Zeit online 1.Januar 2019, http://www.zeit.de/kultur/2018–12/drittes-geschlecht-rechtliche-anerkennung-mann-frau-vielfalt-akzeptanz (abgerufen am 05.01.2019).

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-003

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(weiblich oder männlich) selbst festlegen konnte. 3 Wenn die Rechte einer anderen Person von dieser selbst vorgenommenen Geschlechtszuordnung betroffen waren, wurde eine Untersuchung von einem Sachverständigen angeordnet, der die geschlechtliche Zuordnung dann gegebenenfalls auch gegen den Willen der Person und der Eltern festsetzen konnte. 4 Erst mit den staatlich geführten Personenstandsverzeichnissen seit Ende des 19.Jahrhunderts und der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 verschwand diese Übergangsmöglichkeit wieder für über 100 Jahre aus dem deutschen Rechtssystem. Vom 16. bis ins frühe 19.Jahrhundert wurden in Kirchenbüchern Taufen, Eheschließungen und Bestattungen von Gemeindemitgliedern verzeichnet und dabei gleichzeitig personenbezogene Daten – dazu gehörte auch das Geschlecht – schriftlich erfasst und dokumentiert. 5 Zudem waren diese kirchlichen Einträge rechtsgültige Nachweise über den Personenstand und fanden beispielsweise bei Erbstreitigkeiten oder bei einer Wiederverheiratung, wenn der Tod des vorherigen Ehepartners nachgewiesen werden musste, Verwendung. Mit der Einführung von Kirchenbüchern im 16.Jahrhundert begann eine lange Geschichte der Erfassung, Festlegung und schriftlichen Dokumentation des Geschlechts einer Person direkt nach der Geburt. Ob sich die lange Geschichte der offiziellen und systematischen Erfassung des Geschlechts eines Kindes als eine Geschichte der Durchsetzung und Implementierung eines essentialisierenden Verständnisses von Geschlecht und von binärer Zweigeschlechtlichkeit schreiben lässt, wird auf den folgenden Seiten diskutiert. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, welches Geschlechterwissen in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern dokumentiert und dauerhaft verfügbar gemacht wurde. Zunächst wird es dabei um die Popularisierung von Wissen anhand von Kirchenbüchern gehen. Anschließend wird aufgezeigt, wie neugeborenen Kindern in Taufeinträgen ein Geschlecht zugewiesen wurde und dass die Kategorie Ge3 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794), Erster Theil, Erster Titel. Von Personen und deren Rechten überhaupt, §§ 19–23. 4 Vgl. Konstanze Plett, Intersexuelle – gefangen zwischen Recht und Medizin, in: Frauke Koher/Katharina Pühl (Hrsg.), Gewalt und Geschlecht. Konstruktionen, Positionen, Praxen. Opladen 2003, 21–41, hier 26f. 5 Im Mittelalter gab es diese Verzeichnungspraktiken zwar vereinzelt, diese wurden aber nicht systematisch verordnet und noch wenig umgesetzt. Damit blieb auch eine systematische Erfassung des Geschlechts von Neugeborenen aus. Christof Rolker kommt in einem Aufsatz zum Thema Geschlechtswechsel und Hermaphroditismus im Spätmittelalter zu dem Befund, dass anatomisch eindeutige Körper für die Zuweisung zu einem sozialen Geschlecht nicht zwingend nötig waren. Christof Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau. Körper, Sexualität und Geschlecht im Spätmittelalter, in: HZ 297, 2013, 593–620.

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schlecht in Kirchenbüchern immer relational verwendet wurde. Anhand des Verzeichnens von Geschlechtswechseln und Ambiguitäten wird herausgearbeitet, welches Geschlechterwissen in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern Verwendung fand, um in einem Fazit die Frage zu diskutieren, ob sich dieses Geschlechterwissen als essentialisierendes Geschlechterwissen verstehen lässt.

I. Kirchenbücher und die Popularisierung von Wissen Frühneuzeitliche Kirchenbücher konnten zu einer Popularisierung von Wissen in Form von personenbezogenen Daten und damit auch von Geschlechterwissen beitragen. Popularisierung wird hierbei, wie in der Einleitung zu diesem Heft vorgeschlagen, nicht als Vereinfachung und Implementierung von normativem Wissen verstanden, sondern als Interaktion, in der Wissen angeeignet, umgedeutet und neu bewertet werden konnte. In diese Prozesse der Popularisierung wird Wissen nicht als eine vorgängige Größe eingespeist, sondern lässt sich als etwas sozial Produziertes und Prozesshaftes, Bewegliches beschreiben, das zwischen Personen, Gruppen und Institutionen zirkulieren und sich je nach Kontext auch wandeln konnte. 6 Einzelne Personen, aber auch Gemeinschaften generierten und nutzten Wissen im Umgang miteinander und abhängig von ihrer spezifischen Umwelt. Im Folgenden sollen mögliche Bedingungen, Funktions- und Wirkungsweisen der Popularisierung von Wissen anhand der Praktik des Verzeichnens von personenbezogenen Daten in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern herausgearbeitet werden. Die kirchenrechtlichen Vorgaben zur Führung von Kirchenbüchern fielen im 16. Jahrhundert auf evangelischer und katholischer Seite relativ schlicht aus. 7 Die

6 Siehe zur Wissensgeschichte: Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? In: IASL 36, 2011, 159–172; zur Zirkulation von Wissen: Johan Östling/David Larsson Heidenblad/Erling Sandmo/Anna Nilsson Hammar/ Kari H. Nordberg, The History of Knowledge and the Circulation of Knowledge. Introduction, in: Dies. (Eds.), Circulation of Knowledge. Explorations in the History of Knowledge. Lund 2018, 9–33. 7 Die Brandenburg-Nürnberger Ordnung von 1533 war die erste protestantische Kirchenordnung, die das Führen von Kirchenbüchern vorschrieb: KirchenOrdnung, In/meiner gnedigen herrn der marg-/grauen zu Brandenburg Und eins/erbern Rat der Stat Nürm-/berg Oberkeyt und gepieten, wie/man sich bayde mit der/Leer und Ceremo/nien halten/solle. MDXXXIII. Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI.Jahrhunderts. (Bd. 11, Teil I.) Tübingen 1961, 140–205. Mit den Bestimmungen des Konzils von Trient (1563), das in seiner 24. Sitzung zur Ehe das Führen von Kirchenbüchern veranlasste, wurde dies auch in katholischen Territorien offizielle Pflicht: Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der ökumenischen Kon-

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kirchlichen Amtsträger sollten alle getauften, verehelichten und verstorbenen Gemeindemitglieder verzeichnen. Wie genau die Daten in den Registern dabei angeordnet werden sollten, oblag den jeweiligen Pfarrern, war oft den lokalen Umständen und der Größe der Kirchengemeinde geschuldet und variierte von Kirchenbuch zu Kirchenbuch. In kleineren Gemeinden waren es meistens die Pfarrer selbst, welche die Einträge vornahmen. In größeren Gemeinden konnten es auch deren Vertreter, beispielsweise Diakone oder Küster, sein, die für das Führen von Kirchenbüchern zuständig waren. Welche Daten dabei erfasst und wie diese Informationen im Kirchenbuch verzeichnet wurden, soll exemplarisch an drei Beispielen gezeigt werden. Taufeinträge sollten das Datum der Taufe, den Namen des Täuflings sowie die Namen der Eltern beinhalten. In den Taufeinträgen aus dem evangelisch-reformierten Kirchenbuch aus Zweibrücken von 1564 wurden zusätzlich die Namen der Taufpaten angegeben: „1. Johannes, Hanß Messerschmids son, ist den 15 Marty getaupft worden: compater [Taufpate, E.L.] Hans Milbach im Spital.“ 8 Kirchenbücher wurden als konfessionelle Register angelegt und verzeichneten neue Gemeindemitglieder. Die Taufe stiftete die Gotteskindschaft und war Aufnahmeritual, mit dem der Täufling in die Gemeinschaft der ChristInnen und die konfessionell bestimmte Gemeinde vor Ort integriert wurde. 9 Der Vater wurde deshalb an präsenter Stelle im Taufeintrag erwähnt, weil das Kind in der Frühen Neuzeit per Geburt der patria potestas, der väterlichen Gewalt und der väterlichen Fürsorge unterstellt war. 10 Mütter wurden hingegen in Taufeinträgen nur selten genannt und meistens dann, wenn es sich um die Taufe eines unehelich geborenen Kindes handelte. Das lässt sich darauf zurückführen, dass unehelich geborene Kinder rechtlich gesehen nur mit der Mutter und deren Familie verwandt waren und nicht automatisch mit ihrem Vater, was

zilien, Bd. 3: Konzilien der Neuzeit. Paderborn 2002, 756f. In vielen Orten erfolgte die Umsetzung dieser Vorschrift allerdings zögerlich und setzte erst ab der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts ein. 8 Stadtarchiv Zweibrücken (Lutherisch-reformiertes Kirchenbuch Zweibrücken 1564–1607) Signatur KB 1, Taufeintrag N. 1, 1564. 9 Siehe zur Gotteskindschaft und der Relation von Geschlecht, Alter und Emotionen: Claudia Jarzebowski, Gotteskinder. Einige Überlegungen zu Alter, Geschlecht und Emotionen in der europäischen Geschichte der Kindheit, 1450–1800, in: Troja. Jahrbuch für Renaissancemusik 2013, 27–53; dies., „(…) das rechte Maß“ – Trauer um Kinder, in: Dies. (Hrsg.), Kindheit und Emotion. Kinder und ihre Lebenswelten in der europäischen Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2018, 71–162, hier 156–162. 10

Zur rechtlichen Stellung von ehelichen und unehelichen Kindern: Helmut Coing, Europäisches Privat-

recht, Bd 1: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800). München 1985, 246–260, hier 247–250.

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auch deren Erbfähigkeit einschränkte. 11 Mit der Patenschaft wurde eine Form der spirituellen Verwandtschaft gestiftet, der Täufling konnte damit in ein soziales Netzwerk eingebunden werden. Die beziehungsstiftende Funktion der Taufe als zweite Geburt im christlichen Glauben wird in den Taufeinträgen deutlich, weil darin die Beziehungen zu Gott, zu den Eltern (Vater oder Mutter) und den Paten abgebildet wurden. In Eheregistern sollten analog dazu die Namen der Eheleute und das Datum der Trauung dokumentiert werden. In katholischen Kirchenbüchern, wie in dem aus Altomünster, wurden die Einträge oft auf Latein verfasst: „40. Stephanus Rieger viduus de inferiori Zeitlbach, et Anna Filia Jörgen Pauers de Holtzhausen parochiae Ärmbach contraxerunt catholice matrimonium, celebraveruntque publice primum diem in domo Frantzen Gaillens hospitis in Altomünster. Anno 79 et fer 3a Rogationum. Testes Sponsi Hans Rieger de Pipinsried et Michael Schmetz de Helkerzausen. Testes Sponsae Ans Päll de Holtzhausen et Marcus Müler de Ärnbach [Randnotiz:] Spons posess Sponsa 220f.“ 12

Der Eheeintrag aus dem Jahr 1579 zeigt, dass dabei auch diverse zusätzliche Angaben gemacht werden konnten. So erfährt man aus diesem Eintrag, dass der Bräutigam Stephan Rieger hieß, Witwer war und aus Unterzeitlbach kam. Die Braut Anna wird als Tochter von Jörg Pauer und damit über ihren Vater identifizierbar gemacht. Ihr Vater wurde als pater familias, als Hausvorsteher, mit abgebildet und damit auch Annas Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsfamilie. Diese kam aus Holzhausen, das zur Kirchengemeinde Arnbach gehörte. Betont wird, dass nach katholischem Ritus getraut wurde und die Trauung öffentlich stattfand. Zudem sind die Trauzeugen genannt sowie das eingebrachte Vermögen („Spons posess Sponsa 220f“) und das Gasthaus („in domo Frantzen Gaillens hospitis in Altomünster“), in dem die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfanden. 13 Die schriftliche Dokumentation der kirchlichen Trauungen ermöglichte eine

11 Karin Gottschalk, Niemandes Kind? Illegitimität, Blutsverwandtschaft und Zugehörigkeit im vormodernen Recht, in: WerkstattGeschichte 51, 2009, 23–42. 12 Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising AEM, (Trauungsbuch der Pfarrei Altomünster, 1576–1618), Signatur: Matrikeln 249, 14–15. 13 Siehe hierzu auch: Peter Pfister (Hrsg.), Pfarrmatrikeln im Erzbistum München und Freising. Geschichte – Archivierung – Auswertung. (Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising, Bd. 19.) Regensburg 2015, 229–232.

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Bürokratisierung der Ehe und förderte die Durchsetzung der kirchlichen Trauung als einzig gültige und rechtmäßige Form der Eheschließung. Damit einher ging die Unterscheidung zwischen ehelichen und vor- oder unehelichen sexuellen Beziehungen und dadurch auch zwischen legitimen und illegitimen Nachfahren. Dieses neue Ordnungsmodell wurde unter anderem über die Ehre der Frau verhandelt, die sehr viel stärker an deren Status (ledig, verheiratet, verwitwet) und ihre Sexualität geknüpft war, als das bei Männern der Fall war. Damit wurde über die Ehe auch die Geschlechterordnung neu verhandelt und ausgerichtet. 14 In den Sterberegistern sollten die Namen der verstorbenen Personen und das Datum des Begräbnisses oder des Todes angegeben werden. In manchen Fällen machten die Pfarrer auch Angaben zur Todesursache, wie in den Sterbeeinträgen aus dem evangelischen Sterbebuch aus Nürnberg von 1578: „Januarius. 4. Kunigund Cumrar Prechelein Frau schloß machers in der Carthäußer gassen, ist mit dem kindlein todt blieben […] 11. Hanns Peck von wasser […] ist auffm Pflaster zu tod gefallen.“ 15 Gerade das Verzeichnen verstorbener Personen ermöglichte es den Pfarrern, zusätzliche personenbezogene Daten ins Kirchenbuch zu integrieren. So erfährt man nicht nur, dass Kunigund schwanger war, als sie verstarb, sie wird zudem über ihren Ehemann, Cumrar Prechelein, genauer bestimmbar gemacht. Dass dieser Schlossmacher war, gibt Auskunft über den sozio-ökonomischen Status des Ehepaars. Neben dem Datum und dem Namen wurden soziale Zuordnungen und erneut die Geschlechterordnung abgebildet. Man kann in Sterbeeinträgen aber auch etwas über das Alter, den Herkunfts- oder Wohnort und verwandtschaftliche Beziehungen erfahren. Besonders ehrenhaftes Verhalten konnte ebenso wie deviantes Verhalten ausführlich narrativiert werden. Neben Unfällen, wie dem tödlichen Sturz von Hans Peck, konnten auch gewaltvolle Tode, Morde oder Hinrichtungen verzeichnet sein. Massenhaftes Sterben während einer Epidemie oder im Kontext von Kriegen waren eine Herausforderung für Pfarrer und Kirchengemeinden. Auch solche existenziellen Unsicherheiten fanden in Kirchenbüchern ihren Niederschlag. Durch die Praxis des Verzeichnens von kirchlichen Amtshandlungen und von Angaben zu den Personen, entwickelten sich Standards, die sich auch unabhängig

14

Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der

Frühen Neuzeit. Paderborn/München/Wien/Zürich 1999. 15

Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern LAELKB (Nürnberg St. Lo-

renz, Sterbebuch/Totenbuch 1578–1592), Signatur: L 77, Sterbeeinträge 1578, N. 4 und 11.

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vom Verfasser durchsetzen konnten. Dazu gehörte die Erfassung personenbezogener Daten, wie das Geschlecht, der Name und die kirchlichen Akte (Taufe, Ehe, Tod), aber auch Zugehörigkeiten zur Religion, zu sozialen Gruppen und Familien, der rechtliche Status einer Person sowie Kategorien, die der Identifizierung dienten, mittels derer Personen im Kirchenbuch findbar gemacht werden konnten. Das chronologische Verzeichnen der Daten und das Anlegen von alphabetisierten Registern am Ende der Bücher setzten sich als Standards durch. Damit war es möglich, Einträge zu einzelnen Personen zu suchen und nachzuschlagen. Diese Formen der Standardisierung hingen mit dem Gebrauch der kirchlichen Register innerhalb der Gemeindeverwaltung zusammen. Erst im späten 18. und zu Beginn des 19.Jahrhunderts wurden gedruckte Formulare vorgegeben, die die erfassten Informationen in bestimmter Weise vorstrukturierten und reglementierten, um diese dadurch besser für obrigkeitliche Interessen nutzbar zu machen. Im Laufe dieses Prozesses nahmen die Zusatzinformationen und individuellen sowie lokalen Besonderheiten der Registerführung ab. Landesherrliche Vorschriften zur Kirchenbuchführung in Preußen (1794) und in Bayern (1803) beschlossen die Einführung einheitlicher und vorgedruckter Formulare, zudem mussten zusätzlich zu den kirchlichen Registern Zweitschriften angefertigt und an staatliche Stellen abgegeben werden. 16 Kirchenbücher waren ab dem 16.Jahrhundert in dauerhaftem, mitunter täglichem Gebrauch der kirchlichen Verwaltung, sie wurden beschrieben oder Informationen darin nachgetragen und nachgeschlagen. Beim Verzeichnen der Taufen, Ehen und Sterbefälle waren die Pfarrer auf die Berichte der verzeichneten Personen und anderer Gemeindemitglieder angewiesen. Interaktion und Kommunikation zwischen dem kirchlichen Personal und den Gemeindemitgliedern war demnach eine Voraussetzung für die Einträge in Kirchenbüchern. 17 Unter Umständen konnten die Verzeichneten sogar Einfluss auf die Einträge nehmen. Das konnte der Fall sein, wenn Frauen sich an den Pfarrer wandten, um eine Beziehung, ein Eheversprechen oder eine Ehe anzuzeigen und diese schriftlich im Kirchenbuch dokumentie-

16 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Teil II, Titel 11, §§ 481–505; Churbaierisches Regierungsblatt (später: Königlich Baierisches Regierungsblatt), VI. Stück. München. Mittwoch den 9.Februar 1803, 73–80. 17 Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1997, 33–45.

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ren zu lassen. In den meisten Fällen werden sie zumindest gewusst haben, dass das, was sie dem Pfarrer über ihr Leben erzählten, verschriftlich werden konnte und damit nachlesbar war. 18 Auch wurden Angaben zu Taufen oder Eheschließung aus den Kirchenbüchern abgeschrieben und mitgenommen, um diese „Ehezettel“ und „Geburtsbriefe“ andernorts beim Kirchenpersonal vorzulegen. Genauso gut konnten diese Formen der schriftlichen Dokumentation aber auch vom kirchlichen Personal eingefordert werden oder die Pfarrer untereinander Berichte und Auskünfte austauschen. Die Erzählungen der Verzeichneten wurden vom Pfarrer aber nicht nur aufgeschrieben und gesammelt, sondern konnten von diesem auch umgedeutet, verändert, ausgeschmückt und mit anderen Daten verknüpft werden. Die kirchlichen Register ermöglichten es, dass Informationen zu einem späteren Zeitpunkt nachgeschlagen, abgeändert und nachgetragen werden konnten. Gerade weil in Kirchenbüchern nicht nur Angaben zu den Sakramenten und kirchlichen Akten gemacht wurden, sondern auch zu den Menschen und Geschehnissen vor Ort, waren sie ein Instrument zur Erinnerungsarbeit für die darin verzeichneten Kirchengemeinden. 19 Formen der Popularisierung von Wissen lassen sich mit Kirchenbüchern und Kirchenbucheinträgen vor allem dann ausmachen, wenn man die Praktiken der Interaktion mitbedenkt, die nötig waren, damit Wissen in Kirchenbüchern Eingang finden, narrativiert und neu bewertet werden konnte. Gerade weil in Kirchenbüchern Informationen nicht nur gesammelt, sondern auch systematisiert, kategorisiert und verfügbar gemacht wurde, konnten diese zu einer Popularisierung von bestimmtem Wissen, vor allem von Wissen über Personen beitragen. Frühneuzeitliche Kirchenbücher waren insofern ein Medium der Popularisierung von Wissen, als hierin elementares Wissen über Personen generiert, gesammelt, dauerhaft fixiert, standardisiert und zugänglich gemacht wurde. Die Praxis des Verzeichnens war im 16. und 17.Jahrhundert auch ein Entwickeln und Ausprobieren, aus dem sich durch die Wiederholung Kategorien herausbildeten und standardisierten. Eine dieser Kategorien war Geschlecht. 18

Adam Smyth beschreibt dies für die Kirchenbücher im frühneuzeitlichen England. Diese wurden öf-

fentlich verlesen. Das verstärkte den Prozess der Popularisierung: Adam Smyth, Autobiography in Early Modern England. Cambridge 2010, 159–208, bes. 159. 19

Stefan Dornheim, Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen

Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion. (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 40.) Leipzig 2013, 137.

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II. Geschlecht in Kirchenbüchern In Kirchenbüchern wurden, anders als beispielsweise in Bürgerlisten oder Listen, in denen die Hausvorsteher einer Stadt verzeichnet wurden, alle Kinder, Frauen und Männer einer Gemeinde unabhängig von ihrem sozialen oder rechtlichen Status verzeichnet. Ausgenommen waren Jüdinnen und Juden, die vor allem bei einer Konversion oder Zwangstaufe in Kirchenbüchern verzeichnet wurden. 20 Für eine nach Ständen und Geschlechtern hierarchisierte Gesellschaft war dies zunächst einmal ungewöhnlich. Beim Verzeichnen mussten Kategorien gefunden oder entwickelt werden, um zwischen den einzelnen verzeichneten Gemeindemitgliedern differenzieren zu können. Die inkludierende Verzeichnungspraktik führte gleichzeitig dazu, dass in den Einträgen zwischen verschiedenen Personengruppen und Personen unterschieden wurde. Geschlecht spielte dabei als Kategorie eine wichtige Rolle. 1. Geschlechtszuweisung in Taufeinträgen Auch schon vor dem 16.Jahrhundert wurden Kinder geboren und ihnen wurde ein Geschlecht zugewiesen. Neu war seit dem 16.Jahrhundert, dass diese Zuweisung zu einem Geschlecht schriftlich verzeichnet wurde und damit dauerhaft nachschlagbar war. Die schriftliche Dokumentation im Kirchenbuch war Teil eines Prozesses der Wissensgenerierung und -zirkulation, in dem die Zuweisung zu einem Geschlecht vorgenommen, verschriftlich und damit vereindeutigt wurde. Dieser Prozess begann meist mit der Hebamme, die das Geschlecht des Neugeborenen nach eigener Einschätzung und Erfahrung festlegte. Die Eltern, der Vater oder die Patin bzw. der Pate machten das Geschlecht mit der Vergabe eines männlichen oder weiblichen Namens verbindlich. Durch das kirchliche Ritual der Taufe wurde es mit dem Taufnamen öffentlich gemacht. Mit der christlichen Taufe wurde ein individualisierter Name inklusive eines Geschlechts festgelegt. In der Regel waren demnach an der Geschlechtszuweisung eine Hebamme, die Eltern und der Pfarrer beteiligt und in der Regel änderte sich an dieser Zuweisung im Laufe des Lebens einer Person nichts. Dennoch gab es Ausnahmen: Felix Platter, ein bekannter Mediziner und Arzt

20 Siehe zur Taufe jüdischer Kinder und deren Einträge in Kirchenbüchern: Annekathrin Helbig, Konversion, Kindheit und Jugend – Taufen jüdischer Kinder im 18.Jahrhundert, in: WerkstattGeschichte 63, 2013, 45–60.

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ging in seiner Schrift „Observatio“ (1614), in der er verschiedene Krankheitsbeobachtungen festhielt, auch auf die Geburt, Taufe und die Anzeige des Geschlechts eines Kindes ein 21: „Ein eben geborenes Kind in einem Gau des Basler Landes wurde für ein Mädchen gehalten und getauft, weil das membrum genitale [Geschlechtsteil, E.L.] nicht genau inspiciert [untersucht, E.L.] worden war, es erhielt den Namen Anna.“ 22

Das neugeborene Kind wurde für ein Mädchen gehalten und auf den Namen Anna getauft, wuchs als Mädchen heran, wurde als solches erzogen und wahrgenommen. Im Erwachsenenalter ging Anna eine Beziehung mit einer verheirateten Frau ein. Deren Ehemann zeigte Anna daraufhin wegen sexuellen Fehlverhaltens vor dem Ehegericht an. In diesem gerichtlichen Kontext wurde das Geschlecht von Anna durch Mediziner, einer davon war Felix Platter, untersucht. Die Ärzte kamen zu dem Ergebnis, dass Anna keine Frau, sondern ein Mann sei. 23 Für die Frage nach der Geschlechtszuweisung in Kirchenbüchern sind die Ausführungen von Platter deshalb von Interesse, weil dieser Hinweise darauf gibt, wie die Angaben zum Geschlecht eines Kindes ins Kirchenbuch kamen. Das Kind wurde laut Platter fälschlicherweise auf den Namen Anna getauft, weil sein „membrum genitale“, also die Geschlechtsteile, nicht genau untersucht worden waren. Demnach ist davon auszugehen, dass in der Frühen Neuzeit bei der Festlegung des Geschlechts eines Neugeborenen nicht der medizinische Befund eines Arztes, sondern das Erfahrungswissen einer Hebamme herangezogenen wurde. Die Bestimmung des Geschlechts anhand körperlicher Merkmale durch studierte medizinische Experten konnte aber, wie im Fall von Anna, im Kontext eines gerichtlichen Strafverfahrens wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen im 17.Jahrhundert durchaus

21

Siehe zu Platters Krankheitsbeobachtungen in seiner Schrift auch: Katharina Huber, Felix Platters „Ob-

servationes“. Studien zum frühneuzeitlichen Gesundheitswesen in Basel. Basel 2003. 22

Felix Platter, Observationum in hominis affectibus plerisque, corpori & animo, functionum laesione,

dolore, aliave molestia & vitio incommodantibus, libri tres. Basel: Ludwig König, Konrad von Waldkirch 1614, hier 550f. Diese und weitere Quellen zu Anna Jakob Bürgin wurden von Sarah-Maria Schober dankenswerterweise in Übersetzung online ediert und sind abrufbar unter: Sarah-Maria Schober, Ein Hermaphrodit in Basel? Quellen zu Anna Jakob Bürgin, in: Männlich-weiblich-zwischen, 04/12/2016, https://intersex.hypotheses.org/4653. Lizenz: CC BY-SA 4.0 (aufgerufen am 04.02.2019). 23

Siehe zum medizinischen Wissen und Ambiguität: Sarah-Maria Schober, Hermaphrodites in Basel? Fi-

gures of Ambiguity and the Early Modern Physician, in: Susanna Burghartz/Lucas Burkart/Christine Göttler (Eds.), Sites of Mediation. European Entanglement 1450–1650. Leiden 2016, 297–325.

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angewandt werden. 24 Das Erfahrungswissen der Hebammen und anderer Frauen, die bei der Geburt eines Kindes anwesend waren, bezog sich sicherlich auch auf den Körper der neugeborenen Kinder, um eine geschlechtliche Zuordnung vorzunehmen, wird aber von Platter von medizinischen Untersuchungen und dem Wissen der Ärzte unterschieden. In der Regel wurden Neugeborene zeitnah nach der Geburt meist vom Vater, manchmal aber auch von der Hebamme oder bei der Geburt assistierenden Frauen zum Pfarrer in die Kirche gebracht. Dieser sollte zunächst erfragen, wer die Eltern waren und welchen Namen das Kind bekommen sollte. 25 Mit der Vergabe eines christlichen (Vor-)Namens bei der Taufe wurde dem Kind ein Geschlecht zugewiesen 26, das durch die Eintragung im Kirchenbuch schriftlich und dauerhaft fixiert wurde. Diese Angaben wurden damit als Teil des Personenstandes festgesetzt und können bis heute nachgeschlagen werden. Im evangelischen Kirchenbuch aus Kulmbach wurden Kinder ab 1533 wie Katharina dokumentiert: „Contz Mulner, kindt Katharina, Gevatter Katharina Kentz Dorferin am Johanden Tag des Mertzen.“ 27 Im evangelisch-lutherischen und später reformierten Kirchenbuch aus Zweibrücken in Rheinlandpfalz lesen sich die Taufeinträge ab 1564 wie der von Johannes: „1. Johannes, Hanß Messerschmids son, ist den 15 Marty getaupft worden: compater [Taufpate, E.L.] Hans Milbach im Spital. Mehserschmied Joh.“ 28 Unehelich geborene Kinder wurden oft wie Anna 1589 im katholischen Kirchenbuch aus Mühldorf am Inn verzeichnet: „Den 16 [Januar] war ein ledigen dirnen bey dem jungen Zuchelmayer ein Tochter heißt Anna.“ 29 Diese

24 Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen konnten in der Frühen Neuzeit unter dem Sammelbegriff „Sodomie“ strafrechtlich verfolgt werden. 25 KirchenOrdnung 1533: Sehling, Die evangelischen Kirchenordnungen, 178 (wie Anm.7). 26 Siehe zur Namensgebung im Mittelalter: Christof Rolker, Patenschaft und Namengebung im späten Mittelalter, in: Ders./Gabriela Signori (Hrsg.), Konkurrierende Zugehörigkeit(en). Praktiken der Namengebung im europäischen Vergleich. Konstanz 2011, 17–38; Ders., „Ich, Anna Hartzerin, genannt von Maegelsperg …“. Namensführung und weibliche Identität in der spätmittelalterlichen Stadt, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 20, 2009, 17–34. 27 LAELKB (Evangelisches Kirchenbuch Kulmbach St. Petri 1533–1599), Signatur: 51–1, Taufeintrag 1533. 28 Nachträglich wurden am Rand die Namen der Väter der Täuflinge noch einmal wiederholt: Stadtarchiv Zweibrücken (Lutherisch-reformiertes Kirchenbuch Zweibrücken 1564–1607), Signatur: KB 01/1, Taufeintrag N. 2 1564. 29 AEM, (Mischband der Pfarrei Mühldorf a. Inn, Taufen 1587–1589, 1598–1602, Trauungen 1587–1590,

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drei Beispiele zeigen, dass die Täuflinge in erster Linie über die Kategorie „Kind“ und ihre Beziehungen zu ihren Eltern ins Kirchenbuch eingeschrieben wurden. Ehelich geborene Kinder wurden in Relation zu ihren Vätern, unehelich geborene Kinder in Relation zu ihren Müttern dokumentiert, womit gleichzeitig deren rechtliche verwandtschaftliche Beziehungen abgebildet wurden: Katharina ist als Kind von Contz Mulner, Johannes als Sohn von Hanß Messerschmid und Anna als Tochter einer ledigen Frau verzeichnet. Dabei wurde ihnen ein Geschlecht zugewiesen. Im Kirchenbuch finden sich nicht die Angaben „weiblich“ oder „männlich“ (oder „divers“), sondern die Vergabe eines männlichen oder weiblichen Vornamens und evtl. die Zusätze „Sohn“ oder „Tochter“, „Junge“ oder „Mädchen“, sie konnten aber auch schlichtweg als „Kind“ verzeichnet sein. In einzelnen Einträgen aus Kirchenbüchern bleiben die Kinder auch ohne eine geschlechtliche Zuweisung. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Kinder mit uneindeutigen geschlechtlichen Merkmalen, sondern um Kinder, die ohne Namen blieben und das meist deshalb, weil sie bereits vor ihrer Taufe verstorben waren. Ungetaufte Kinder wurden nicht in allen Kirchenbüchern verzeichnet und wenn sie verzeichnet wurden, fanden die Pfarrer dafür verschiedene Verzeichnungspraktiken. Sie wurden als „ein kleins“ schriftlich registriert oder nur als Strich gezählt. 30 Sie konnten aber auch wie die beiden namenlosen Kinder am 17.Dezember 1622 im reformierten Kirchenbuch aus Zweibrücken verzeichnet werden: „17. December NN [ohne Namen] ein kind von Dalfeld burtig, auf der Mauren tod funden, und des 18tb […] begraben worden. Eodem N.N. eines Soldaten kind.“ 31 2. Geschlecht als relationale Kategorie im Kirchenbuch Geschlecht wurde in Taufeinträgen immer in Beziehung zu anderen Kategorien verzeichnet. Kindheit ist eine dieser Kategorien, die in den bisherigen Beispielen bereits verhandelt wurde, wenn Täuflinge als „Töchterlein“ oder „Knäblein“ verzeichnet wurden. Auch die eheliche oder uneheliche Geburt wurde dokumentiert. Reli-

1598–1601, Sterbefälle 1587–1589, 1598–1602), Signatur: Matrikeln 4460, Taufeintrag vom 16.Januar 1589, 18. 30 LAELKB (Evangelisches Sterbebuch Nürnberg St. Lorenz 1547–1578), Signatur: L 76, Sterbeeintrag ohne Nummer von Oktober 1559; LAELKB (Evangelisches Kirchenbuch Kulmbach St. Petri 1533–1599), Signatur: 51–1, Strichliste zu ungetauft verstorbenen Kindern zwischen 1568 und 1571. 31

Zentralarchiv der evangelischen Kirche der Pfalz in Speyer, (lutherisch-reformiertes Kirchenbuch

Zweibrücken 1607–1662), Signatur: 02/1, Sterbeeintrag vom 17.12.1622.

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gion und Herkunft sind weitere Kategorien, die zusammen mit dem Geschlecht in Kirchenbüchern registriert wurden, um die verzeichneten Kinder genauer bestimmbar zu machen. Ein Beispiel dafür sind die Taufeinträge von kriegsgefangenen Kindern aus dem Osmanischen Reich, die vor allem am Ende des 17. Jahrhunderts in Kirchenbüchern aus süddeutschen Kirchengemeinden verzeichnet wurden. 32 Kurfürst Maximilian II. Emanuel verbündete sich mit dem römisch-deutschen König und Habsburger Kaiser Leopold I. für eine Militäroffensive gegen das Osmanische Reich („Großer Türkenkrieg“, 1683–1699). 33 Im Laufe dieser Feldzüge wurden Kinder, Frauen und Männer in christliche Kriegsgefangenschaft genommen und teilweise ins Heilige Römische Reich deutscher Nation verschleppt. 34 Die Gefangenen konnten zu unfreier Arbeit abbestellt, verkauft oder verschenkt werden, aber auch Posten in Haushalten oder am Hof zugewiesen bekommen. 35 Nicht alle, aber einige von ihnen konvertierten und wurden getauft. Die kriegsgefangenen Kinder wurden oft ohne ihr Eltern mitgenommen oder von diesen getrennt. In den meisten Fällen wurden sie anschließend von christlichen Familien adoptiert, christlich getauft und erzogen. 36 In den katholischen Kirchenbüchern aus München wurden einige dieser Kinder verzeichnet: „[E]in Türkhenkhündt. Escha ein türkhisches Magdlein von türkhischen Eltern in Khriechisch-Weissenburg [Belgrad, E.L.] gebohrn und gefangen ist von mir in Hauss ob vitae periculum [der Lebensgefahr, E.L.] getaufft, von Frauen

32 Siehe zur Konversion und zu Zwangstaufen von Kriegsgefangenen aus dem Osmanischen Reich: Manja Quakatz, „Gebürtig aus der Türckey“. Zu Konversion und Zwangstaufe osmanischer Muslime im Alten Reich um 1700, in: Barbara Schmidt-Haberkamp (Hrsg.), Europa und die Türkei im 18.Jahrhundert/Europe and Turkey in the 18th Century. Göttingen 2011, 417–430; Manja Quakatz, „… denen Sclaven gleich gehalten werden“. Muslimisch-osmanische Kriegsgefangene im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1683–1699), in: WerkstattGeschichte 66/67, 2015, 97–118. 33 Ekkehard Eickhoff, Venedig, Wien und die Osmanen. Umbruch in Südosteuropa 1645–1700. Stuttgart 1988; Klaus-Peter Matschke, Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege. Düsseldorf/ Zürich 2004. 34 Markus Friedrich, „Türken“ im Alten Reich. Zur Aufnahme und Konversion von Muslimen im deutschen Sprachraum (16.–18.Jahrhundert), in: HZ 294, 2012, 329–360. 35 Siehe hierzu Markus Friedrich, Türkentaufen. Zur theologischen Problematik und geistlichen Deutung der Konversion von Muslimen im Alten Reich, in: Ders./Alexander Schunka (Hrsg.), Orientbegegnungen deutscher Protestanten in der Frühen Neuzeit. (Zeitsprünge Sonderh.) Frankfurt am Main 2012, 49–53. Dabei kam es auch zum Verkauf von kriegsgefangenen Männern gegen Lösegeld und als Galeerenruderer, siehe Quakatz, „Sclaven“ (wie Anm.32), 98. 36 Quakatz, „Sclaven“ (wie Anm.32), 99f., 103.

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Catharina Holzmillerin Hofwagnerin aus der hey. [heiligen, E.L.] Tauff gehebt, und Anna Maria genenth worden.“ 37

In diesem Taufeintrag vom 16.November 1688 wurde ein Kind dokumentiert, welches wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung vom Pfarrer zu Hause getauft wurde. Das Geschlecht wurde zusammen mit der Herkunft über den Zusatz „türkhisches Magdlein“ registriert. Damit integrierte der Pfarrer die religiöse, ethnische und geografische Herkunft des Kindes mit der Zuweisung zu einem Geschlecht. Das ist insofern relevant, weil der Status von Kriegsgefangenen von ihrer sozialen Herkunft, dem Alter und ihrem Geschlecht abhängig war. 38 Zwar erfährt man in dem Eintrag, dass das Mädchen in Belgrad geboren wurde und ihre Eltern aus dem Osmanischen Reichen waren, genaue oder personifizierende Angaben zu diesen fehlen allerdings. Die Klassifizierung als „türkhisch“ wurde hier synonym mit muslimisch bzw. heidnisch oder nicht-christlich verwendet und wurde drei Mal in den Taufeintrag des Mädchens eingeschrieben. Escha wird nicht, wie die anderen (ehelich geborenen) Kinder unter der Überschrift „Nomen patris“ mit dem Namen ihres Vaters und damit mit ihrer Herkunftsfamilie verzeichnet, sondern als „Türkhenkhündt“ ausgezeichnet. Anstatt einer konreten Familie und konkreten Personen wird Escha mit dem Zusatz „türkisch“ indirekt einer Religion, dem Islam, zugeordnet. Als einzige konkrete Bezugsperson wird ihre Taufpatin angegeben. Diese war Catharina Holzmillerin, die Frau eines Wagners am Hof in München. Mit der Taufe einher ging zudem die Zuweisung eines christlichen Namens, in diesem Fall: Anna Maria. Zwei Namen, Escha und Anna Maria wurden im Eintrag verzeichnet und mit dem doppelten Namen auch die doppelte Zugehörigkeit des Mädchens. Nicht nur religiös-ethnische Zugehörigkeiten, sondern auch der eheliche oder uneheliche Status der Eltern wurde im Taufeintrag des Kindes mitdokumentiert: „[D]en 30 [Dezember] hat die hebamme ein kind getaufft, welches in der unehe mit einander gezeuget haben, Hans Kern von Binham Culmbach ein Büttnersgesell, und Maria, Wolffschallers stieftochter alhie. Und ist das kind nach des gevattern name welcher gewesen ist, Nicolaus Eyban noch ein breutigam,

trikeln 9269, Taufeintrag vom 16.November 1688, Nr.8, 131. Transkription des Eintrags in: Peter Pfister (Hrsg.), Münchner Kindl. Ungewöhnliche Lebensläufe aus dem alten München im Spiegel der Pfarrmatrikeln. (Ausstellung zum Tag der Archive am 1.März 2008, Bd. 8: Münchner Kindl. Ungewöhnliche Lebensläufe aus dem alten München im Spiegel der Pfarrmatrikeln.) München 2008, 13–17, bes. 15f.

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AEM (München,Taufbuch der Pfarrei München – Zu Unserer Lieben Frau 1684–1698), Signatur: Ma-

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Quakatz, „Sclaven“ (wie Anm.32), 99.

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auch Nicolaus genennet worden. [Randnotiz:] Nothus [unehelich, E.L.] [Nachtrag:] diese Maria, ist hernach an ein leineweber verhairath, Anno den 1591, den febra.“ 39

Im zitierten evangelisch-lutherischen Taufeintrag aus der Kirchengemeinde Sulzbach von 1585 wurden nicht nur der Name des Kindes und die Zuweisung zu einem Geschlecht verzeichnet, sondern auch die „Unehe“ der Eltern bei der Geburt, die Einfluss auf den rechtlichen Status des Kindes und dessen verwandtschaftliche Beziehungen hatte. Interessant ist an diesem Eintrag, dass die sechs Jahre später stattfindende Eheschließung der Mutter, Maria Wolffschaller, mit einem Leinweber, dem Taufeintrag ihres unehelichen Kindes nachträglich hinzugefügt wurde. Damit wurde auch der uneheliche Status von Nicolaus über diese Ehe der Mutter aufgewertet. Eine uneheliche Geburt konnte in der Frühen Neuzeit zu geminderten Chancen auf dem Heirats- und Arbeitsmarkt führen. Zugang zu den Handwerkszünften hatten in Sulzbach nur junge Männer, die ihre eheliche Geburt nachweisen konnten. 40 Inwiefern die spätere Eheschließung von Maria sich auf die Handlungsmöglichkeiten ihres Sohnes auswirkten, ist schwer zu beurteilen. Der Taufeintrag zeigt jedoch, wie Kirchenbücher nachträglich ergänzt und verbessert wurden, das darin dokumentierte Wissen über die verzeichneten Personen aktualisiert und an neue Entwicklungen angepasst werden konnte. Neben Religion und Ehelichkeit wurde auch der soziale Stand eines Kindes verzeichnet, denn dieser Kategorie kam in der frühneuzeitlichen Gesellschaft ähnlich wie Geschlecht eine strukturierende Funktion zu. Das erste Kind von Henriette Adelheid von Savoyen, der Ehefrau des bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria, war ein Mädchen, das zweite Kind eine Fehlgeburt. Am 11.Juli 1662 kam ein Sohn und Thronfolger zur Welt, der noch am selben Tag auf den Namen Maximilian Maria Emanuel getauft wurde: „11.Julius 1662. Ferd Maria Elector. Maria Adelheidis ux nata Regia Principissa Savoyiae Max Maria Emanuel baptizatus in Aula.“ 41 Der spä-

39 Pfarrarchiv der Christuskirche Sulzbach--Rosenberg (Sulzbach: Taufen, Ehen und Bestattungen 1569– 1597), Signatur: KB 2, Taufeintrag 1585, fol. 211, Blatt 121, N. 118 (seit 2015 wird das Kirchenbuch im Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern aufbewahrt, Signatur: 9.5.0001 – 505 – KB 2 – unverzeichnet). 40 Siehe zu den Geburtsbriefen, mit denen eine eheliche Geburt bei der Zulassung zu einer Zunft nachgewiesen wurde: Ratsprotokolle der Stadt Sulzbach von 1576, Stadtarchiv Sulzbach-Rosenberg, B 9: Ratsbuch (Ratsprotokolle), 1572–1578, Nummer 159, bspw. 500, 504, 510. 41 Dt. „Ferdinand Maria Kurfürst. Maria Adelheid, dessen Ehefrau, geborene königliche Prinzessin von

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tere Kurfürst Maximilian II. Emanuel wurde unter allen anderen Münchner Täuflingen im kirchlichen Register verzeichnet. Der Taufeintrag zeigt keine auffälligen Differenzierungen, obwohl das Geschlecht des Kurprinzen eine besondere Rolle spielte, weil daran die Nachfolgerechte geknüpft waren. Über die Nennung der Mutter und den Zusatz „nata Regia Principissa Savoyiae“ wurde der Anspruch auf die Königswürde im Taufeintrag von Maximilian mitverzeichnet. In Kirchenbüchern wurden Kinder von Brauknechten, Bürgerstöchtern, Fleischhackern, Bierbrauern, Heftelmacherinnen, Seilern, Goldschmieden, Hausfrauen, Ratsherrn, Tagelöhnerinnen, Fürstinnen usw. verzeichnet. Katholisch, evangelisch oder reformiert getaufte Kinder, Kinder von nicht-christlicher Eltern, die getauft, zwangsgetauft oder notgetauft wurden und Kinder, deren Eltern nicht verheiratet waren, alle bekamen einen Eintrag im Kirchenbuch und wurden in der Regel als Jungen oder Mädchen, Töchter oder Söhne, mit weiblichen oder männlichen Namen dokumentiert. Damit wurde die Heterogenität frühneuzeitlicher Gesellschaften in diesen Registern abgebildet, zugleich wird Geschlecht dabei als relational zu anderen sozialen Kategorien fassbar. Deutlich wird die Relationalität von Geschlecht im Kirchenbuch auch in den Bilanzen, die teilweise am Jahresende zu Sterberegistern geführt wurden (Abb.1). Darin wurde nach Geschlecht, Alter, Status (ledig, verheiratet, verwitwet) und Stand sortiert und gezählt. Unterschieden wurde zwischen adeligen Männern und Frauen, verheirateten Männern und Frauen, Witwer und Witwen, ledigen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen sowie ungetauft verstorbenen Kindern („Abortus“). In den Auflistungen der verstorbenen Gemeindemitglieder wurden alle Personen nach Geschlecht und gleichzeitig nach weiteren Kriterien, wie Alter, Stand und Status sortiert. Die Register zeigen anschaulich, dass die geschlechtliche Zuordnung an der Taufe und damit an der zweiten Geburt, der Geburt im christlichen Glauben hing. Ungetauft verstorbene Kinder wurden nicht unter die getauften Jungen und Mädchen gerechnet, sondern bekamen eine eigene und nicht nach Geschlecht aufgefächerte Kategorie. Sie wurden in der Regel geschlechtslos in Kirchenbüchern verzeichnet.

Savoyen. Maximilian Maria Emanuel, getauft am Hof.“ AEM (Taufbuch der Pfarrei München – Zu Unserer Lieben Frau, 1652–1663), Signatur: Matrikeln 9265, fol. 245r, abgedruckt mit deutscher Übersetzung in: Pfister, Pfarrmatrikeln Erzbistum München (wie Anm.13), 196.

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Abb.1: Sterbeeinträge aus dem evangelisch-lutherischen Kirchenbuch aus Sulzbach, Pfarrarchiv der Christuskirche Sulzbach-Rosenberg, Kirchenbuch 6, die letzte Seite der Sterbeeinträge aus dem Jahr 1605 mit einer Zusammenstellung am Ende, in der alle Verstorbenen nach Geschlecht, Alter, Status, Stand und Vollzug oder Nichtvollzug der Taufe gezählt wurden, eigenes Foto (Seit 2015 wird das Kirchenbuch in Nürnberg im Landesarchiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern aufbewahrt, Signatur: 9.5.0001 – 505 – KB 6 – unverzeichnet).

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Kinder wurden nie nur als Jungen oder Mädchen, sondern beispielsweise wie Escha gleichzeitig über ihre Herkunft und Religion verzeichnet. Diese zugewiesenen Kategorien konnten exotisierende Funktion haben, weil Escha damit anstatt über eine konkrete Familie oder einen Hausvorsteher (pater familias) vor allem über ihre „türkische“ Herkunft dokumentiert wurde. Nicolaus wurde nicht nur als Junge, sondern gleichzeitig als uneheliches Kind seiner Mutter verzeichnet. Damit wurden ihm andere verwandtschaftliche Beziehungen und ein bestimmter erbrechtlicher Status zugewiesen, der Einfluss auf seine berufliche Zukunft und seine Heiratsmöglichkeiten haben konnte. Und auch Maximilian ist im Taufbuch nicht nur Junge, an sein Geschlecht waren Herrschaftsrechte und Macht, nämlich die Thronfolge geknüpft. In Kirchenbüchern wurden Differenzierungen innerhalb der erfassten Gemeinde vorgenommen und Beziehungen oder auch Abhängigkeiten bzw. Hierarchien zwischen den verzeichneten Personen abgebildet. 42 Geschlecht wird dabei als relationale Zugehörigkeit sichtbar und nie allein, sondern mit anderen Kategorien verschränkt verzeichnet. 3. Geschlechtswechsel und Ambiguitäten in Kirchenbüchern Die Einträge aus Kirchenbüchern offenbaren ein Geschlechterwissen, das Zweigeschlechtlichkeit, die Unterscheidung in ein weibliches und ein männliches Geschlecht bereits kurz nach der Geburt für jeden Säugling langfristig und eindeutig im jeweiligen Taufeintrag festschrieb. Allerdings war dieses Wissen weniger an den Körper und ein eindeutiges körperliches Geschlecht gebunden, sondern wurde dem Kind mit der Taufe, dem Namen und dem Eintrag im Kirchenbuch zugewiesen. Was aber passierte, wenn diese Zuweisung des Geschlechts gewechselt wurde oder nicht mit späteren Befunden von Ärzten und den körperlichen geschlechtlichen Merkma42

Andrea Griesebner, Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen

aus der Perspektive der Frühen Neuzeit, in: Veronika Aegerter (Hrsg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. (Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998.) Zürich 1999, 129–137; Claudia Ulbrich, Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung, in: Marian Füssel/Thomas Weller (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung. (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 15/1.) Frankfurt am Main 2011, 85–104. S. aktuell zu dem Ansatz der Intersektionalität in der Frühneuzeitforschung: Matthias Bähr/Florian Kühnel (Hrsg.), Verschränkte Ungleichheit. Praktiken der Intersektionalität in der Frühen Neuzeit. (ZHF, Beih. 56.) Berlin 2018; Mareike Böth/Susanne Schul/Michael Mecklenburg (Hrsg.), Abenteuerliche „Überkreuzungen“. Vormoderne intersektional. Göttingen 2017.

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len zusammenpasste, wie das im bereits vorgestellten Beispiel von Anna Bürgin (Basel 1609) der Fall war? Sie wurde als Mädchen getauft und erzogen, im Erwachsenenalter wurde ihr von medizinischen Experten ein männliches Geschlecht attestiert. Die städtische Obrigkeit reagierte auf den medizinischen Befund wie folgt: Für das Vergehen, sich fälschlicherweise als Frau ausgegeben zu haben, wurden ein Stadtverweis, das Tragen von Männerkleidern und das Abschneiden der Haare angeordnet. Ihr äußeres Erscheinungsbild sollte dem körperlichen Geschlecht, das die Ärzte eindeutig als männlich identifiziert hatten, angepasst werden. Interessanterweise bekam Anna nun einen „aus beiden Geschlechtern gemischten Namen“ 43, sie wurde Anna Jakob (Jockli) genannt und in den städtischen Dokumenten als „Knaben mägdtlin“ beschrieben. 44 Sie behielt ihren weiblichen Taufnamen, der ähnlich wie die Taufe selbst nicht einfach aufgehoben oder rückgängig gemacht werden konnte. Zusätzlich dazu erhielt sie einen männlichen Namen. Fast 120 Jahre später musste ein Wechsel des Geschlechtes nicht mehr so glimpflich ausgehen wie in diesem Fall. Catharina Margaretha Linck wurde ebenfalls als Mädchen getauft und erzogen. Im Alter von ungefähr 15 Jahren tauschte sie ihre Frauenkleidung gegen Männerkleidung. Anfang des 18.Jahrhunderts heiratete sie als Anastasius Lagrantius Rosenstengel eine Frau namens Catharina Margaretha Mühlhahn in Halberstadt. Für diese Vergehen – das Ausgeben als Mann, das Tragen von Männerkleidern, ihre sexuellen Beziehungen zu Frauen („Sodomie“) und die Eheschließung – wurde sie von Friedrich Wilhelm I. zum Tode verurteilt. Auch Linck wurde während des gerichtlichen Prozesses von Ärzten und Hebammen untersucht und diese sollten anhand der Beschaffenheit ihrer körperlichen Merkmale ihr Geschlecht eindeutig bestimmen. 45 Der lutherische Pfarrer in Halberstadt, Israel

43 Platter, Observationum (wie Anm.22). 44 Urfehdenbuch April 1609 (Staatsarchiv Basel-Stadt Ratsbücher O 13); Ediert Schober, Ein Hermaphrodit in Basel (wie Anm.22), 04/12/2016, https://intersex.hypotheses.org/4653. Lizenz: CC BY-SA 4.0 (abgerufen am: 04.02.2019). 45 Eine Biografie zu Catharina Margaretha Linck hat Angela Steidele zusammen mit einer Quellenedition herausgegeben: Angela Steidele, In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation. Köln/Weimar/Wien 2004, hier 28–29; zu „Sodomie“ und sexueller Diversität in der Frühen Neuzeit auch: Eva Marie Lehner, „Nach der Hochzeit hätten Sie zusammen als vermeinte Eheleute gelebt, wären zusammen zu Tisch und Bett gegangen“. Sexuelle Diversität in der Frühen Neuzeit?, in: Moritz Florin/Victoria Gutsche/Natalie Krentz (Hrsg.), Diversität historisch. Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel. Bielefeld 2018, 55–78.

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Clauder, hatte das Ehepaar Rosenstengel 1717 getraut und die Ehe im Kirchenbuch verzeichnet. Vermutlich hatte er auch den Gerichtsprozess gegen Linck verfolgt und war bei der öffentlichen Hinrichtung in Halberstadt anwesend. Zumindest hatte er sich von Geschehnissen berichten lassen, denn er nahm am Rand des Eheeintrags Bezug darauf, indem er dort folgendes ergänzte: „NB. Dieser benahmte Kerl [Anastasius Lagrantius Rosenstengel] ist eine recht Gottloses Weibstück gewesen so viel himmelschreyende Sünden und Sodomitereyen begangen. Davor sich auch die Heyden entsetzen möchten. Ihre begangene boßhafftigen Sünden müßen unserer jugend kein Aergerniß zugeben, gantz geheim unter suchet worden. Anno 1721 im October wurde sie auf öffentlichen Marckt decoliret, deßen Weib sitzt noch gefangen.“ 46

Zwar wurde der „falsche“ Eheeintrag nicht aus dem Kirchenbuch gestrichen, aber der Pfarrer ging darin auf die „himmelschreyende“ Sündhaftigkeit der Tat und das gerichtliche Urteil nachträglich ein, ergänzte dies. Als Allererstes wurde in diesem nachträglichen Zusatz im Kirchenbuch das Geschlecht „richtig“ gestellt: ein „recht Gottloses Weibstück“. Die beiden Beispiele zeigen einen unterschiedlichen Umgang mit Geschlechtswechsel und Ambiguitäten in Bezug auf Geschlecht, was auf ein verändertes Wissen in Bezug auf Geschlecht im Laufe der Frühen Neuzeit hindeutet. Im Zusammenhang mit den vorherigen Beispielen aus Kirchenbüchern wird die Zuschreibung des Geschlechts als Prozess, als Wissensvermittlung und Festschreibung von Wissen sichtbar, woran mehrere Personen beteiligt waren. Dieser Prozess begann mit der Geburt und der Bestimmung des Geschlechts durch die Hebamme und der Namenswahl der Eltern, dazu gehörte anschließend die öffentliche Taufe unter Vergabe des Taufnamens durch den Pfarrer. Der Eintrag im Kirchenbuch fixierte diesen Prozess der Geschlechtszuweisung zum ersten Mal für alle verzeichneten Täuflinge schriftlich. Aber damit musste dieser Prozess nicht zwangsläufig abgeschlossen sein. Die Taufe konnte als Sakrament und damit auch der Taufname nicht rückgängig gemacht werden. Allerdings konnte der Name, wie im Fall von Anna Jakob, zu einem gemischtgeschlechtlichen Doppelnamen erweitert werden. Trotz der Untersuchungen durch einen Arzt und der eindeutigen Bestimmung des Geschlechts über den Körper, gab es zu Beginn des 17.Jahrhunderts die Möglichkeit in den offiziellen städtischen Dokumenten einen doppelten Namen und beide Geschlechter oder Zugehö-

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Steidele, In Männerkleidern, 134 (wie Anm.45).

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rigkeiten abzubilden. Das Geschlecht, das im Kirchenbuch festgeschrieben wurde, konnte wie auch das Beispiel von Catharina Margaretha Linck bzw. Anastasius Lagrantinus Rosenstengel zeigt, gewechselt werden. In diesem Beispiel aus dem frühen 18.Jahrhundert wurde der Wechsel des Geschlechts allerdings nachträglich im Kirchenbuch geändert und „richtiggestellt“. Der „Kerl“ durch ein „Weibstück“ korrigiert. Gelöscht wurde dieses Wissen um beide Geschlechter und den Geschlechtswechsel aber auch aus diesem offiziellen Eintrag im Kirchenbuch nicht.

III. Fazit: Geschlecht als Praxis Das Neuartige an frühneuzeitlichen Kirchenbüchern in Bezug auf Geschlechterwissen waren die Möglichkeit und das Erfordernis, das Geschlecht eines jeden Kindes direkt nach der Geburt bestimmen, anzeigen und schriftlich aufzeichnen zu müssen. Das Geschlecht wurde dem Kind erst mit der Taufe und dem Namen zugewiesen und nicht unmittelbar über den Körper bestimmt. Dabei ist die Zuweisung zu einem weiblichen oder männlichen Geschlecht bereits im Taufeintrag und damit von Anfang an mit anderen Kategorien verknüpft und erhält darüber ihre je spezifische Bedeutung. Maximilian Maria Emanuel wurde eben nicht als Junge, sondern als Thronfolger verzeichnet. Dafür spielte sein Geschlecht wiederum eine ausschlaggebende Rolle. Nicolaus wurde nicht in erster Linie als Junge, sondern als uneheliches Kind seiner Mutter verzeichnet. Und auch Margareta und Katharina wurden im Kirchenbuch als Töchter ihrer Väter, Escha Anna Maria als „türckisches Mädchen“ mit doppeltem Namen und doppelter Zugehörigkeit dokumentiert. Kinder wurden in frühneuzeitlichen Taufeinträgen in Beziehungen abgebildet: in Beziehung zu den Eltern, ihrer Herkunft, den Paten, dem Pfarrer, einer Religion, Gott usw. Innerhalb dieser Beziehungen konnte dem Namen und dem Geschlecht eine spezifische Bedeutung zukommen – oder aber auch nicht. Damit lässt sich auch das Geschlechterwissen nur in Bezug zu anderen Kategorien, wie Alter, Ehe, Ehre, Sexualität, Stand, Status, Religion, Seelenheil und verschiedenen Herrschafts- und Machtbeziehungen analysieren. 47

47 Siehe zur Analyse von Geschlecht in Relation zu anderen Machtbeziehungen in der Frühen Neuzeit etwa Claudia Ulbrich, Shulamith und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18.Jahrhunderts. (Aschkenas, Beih. 4.) Köln/Wien/Weimar 1999.

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Bei genauerer Betrachtung des Prozesses der Zuweisung zu einem Geschlecht im Kirchenbucheintrag zeigt sich, dass sich diese Form der Generierung von Geschlechterwissen als Prozess und Interaktion verstehen lässt, woran verschiedene Personen, Gruppen und Institutionen beteiligt waren und unterschiedliche soziale Kontexte eine Rolle spielten. Der Prozess der Zuweisung und Fixierung des Geschlechts begann mit der Geburt des Kindes, die Geschlechtsbestimmung erfolgte dabei vermutlich meist durch die Hebamme und die Festlegungen auf einen Namen durch die Eltern oder den Paten, die Patin. In der Kirche wurde das Kind öffentlich auf einen weiblichen oder männlichen Namen getauft, mit dem Eintrag ins Kirchenbuch wurde dieser dauerhaft festgeschrieben und war Teil der Bestimmung einer Person innerhalb der kirchlichen Gemeindeverwaltung. Dieser Prozess der Zuweisung des Geschlechtes war mit dem Eintrag im Kirchenbuch in den meisten Fällen, aber keineswegs immer, abgeschlossen. Geschlechtswechsel kamen (aus unterschiedlichen Gründen) auch in der Frühen Neuzeit vor. Die Reaktionen weltlicher und kirchlicher Obrigkeiten auf Geschlechtswechsel fielen unterschiedlich aus: Das Beispiel von Anna Jakob Bürgin Anfang des 17.Jahrhunderts zeigt, dass ein Wechsel des Geschlechts und ein doppelter Name von der Obrigkeit angeordnet werden konnten. Dieser doppelte Name bestand aus ihrem weiblichen Taufnamen und einem zusätzlichen männlichen Namen und repräsentierte damit beide Geschlechter. Für Catharina Margaretha Linck endete der eigenmächtige Wechsel zu Anastasius Lagrantinus Rosenstengel 1721 mit dem Tod. Im Kirchenbuch wurde der Geschlechtswechsel nachträglich im Eheeintrag ergänzt. Was bedeutet dies für die Essentialisierung von Geschlechterwissen in Kirchenbüchern im Verlauf der Frühen Neuzeit? Der Körper scheint bei der Festlegung des Geschlechts im Kirchenbuch eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, auch lässt sich keine Form der Biologisierung von Geschlecht in den Einträgen finden. Dies scheint auf anderen Wissensfeldern, wie der Medizin und der Justiz eine größere Rolle gespielt zu haben, wenn gleich die Kirchenbücher nicht unberührt von diesen Wissensfelder blieben, wie etwa die nachträgliche Integration des Gerichtsprozesses gegen Linck in deren Eheeintrag durch den Pfarrer zeigt. 48

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Michel Foucault sieht in der Trias aus biologischer Sexualforschung, juristischer Bestimmung des In-

dividuums und den Formen der administrativen Kontrolle durch staatlich geführte Personenstandsregister im 18.Jahrhundert (dies gilt für Frankreich, in Deutschland wurden die Daten aus Kirchenbüchern erst im 19.Jahrhundert in staatliche Institutionen überführt) die Grundlage für die Durchsetzung einer binä-

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Ein genauer Blick in einzelne Kirchenbucheinträge macht deutlich, dass frühneuzeitliche Verzeichnungspraktiken in Kirchenbüchern personenbezogene Daten erfassten und dabei Kategorien, u.a. auch die Kategorie Geschlecht, festschrieben. Interessanterweise werden dabei aber auch Ambiguitäten sichtbar, wenn Personen sich nicht eindeutig nur einer bestimmten Kategorie zuordnen ließen. Das Nichtauflösbare bleibt trotz aller Bestrebungen nach Eindeutigkeit bestehen. Die Vergabe doppelter Namen ermöglichte es beispielsweise verschiedene, sich vielleicht sogar gegenseitig ausschließende Zugehörigkeiten zusammen zu verzeichnen, wie Escha Anna Marie und Anna Jackob zeigen. Auch im Eheeintrag der Rosenstengels korrigierte der Pfarrer zwar nachträglich das Geschlecht des Ehemanns, machte aus ihm ein „Weibstück“. Dadurch wurde aber gleichzeitig der Eheeintrag mehrdeutig und blieb in dieser Uneindeutigkeit im Kirchenbuch erhalten, wurde nicht gelöscht. Das Ringen um eindeutige Kategorien schaffte immer auch einen nicht eindeutig zuzuordnenden Rest, der in den Einträgen sichtbar wird.

Dieser Aufsatz greift Quellen und Befunde eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes an der Universität Duisburg-Essen auf. In diesem Dissertationsprojekt untersuche ich verschieden konfessionelle Kirchenbücher aus dem 16. und 17.Jahrhundert aus süddeutschen Gemeinden. Ziel ist es, quellenbasiert herauszuarbeiten, wie am Beginn der Neuzeit elementares Wissen über die erfassten Personen und Gemeinden nicht nur verzeichnet, sondern auch hergestellt, dauerhaft fixiert und nachlesbar gemacht wurde. Für Anregungen und Diskussionen zu diesem Beitrag danke ich v.a. Claudia Jarzebowski, Julia Holzmann, Manuel Grötsch, Claudia Berger und den HerausgeberInnen des Sammelbandes.

ren Zweigeschlechtlichkeit, die „jedem ein Geschlecht, und nur ein einziges“ zugestand: Michel Foucault, Das wahre Geschlecht, in: Wolfgang Schäfer/Joseph Vogel (Hrsg.), Herculin Barbin. Michel Foucault. Über Hermaphroditismus. Frankfurt am Main 1998, 7–18, hier 8f.

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„Frauen sind überall Frauen.“ Versuch einer alternativen Antwort auf eine 226 Jahre alte Frage von Annika Raapke

Am 19.März des Jahres 1793, im Jahr 2 der Französischen Republik, formulierte ein „Bürger“ namens Robillard, zu diesem Zeitpunkt wohnhaft in Pointe à Pître auf Guadeloupe, eine Antwort auf eine Frage, die er in einem Brief von der „Bürgerin Conard“ aus Rouen erhalten hatte. „Citoyenne“, schrieb Robillard, „in einem Ihrer Briefe fragen Sie mich, was die Beschäftigungen der Kreolinnen sind. Frauen sind überall Frauen, und hier noch mehr als anderswo. Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich Ihnen diese Wahrheit sage, ich spreche als Republikaner zu Ihnen.“ 1 „Frauen sind überall Frauen“ ist eine verblüffende und wenig zufriedenstellende Antwort auf die nicht unberechtigte Frage danach, was Kreolinnen – technisch gesehen die Gesamtheit der in der Kolonie geborenen Frauen, in der zeitgenössischen Sprachpraxis jedoch vor allem weiße Frauen kolonialer Geburt – den ganzen Tag mit sich anfingen. Um jedoch den ansonsten unbekannten Robillard etwas zu entlasten, muss hier eingeräumt werden, dass auch die aktuelle Geschichtsforschung zu den französischen Karibikkolonien des 18.Jahrhunderts, meine eigene eingerechnet, vermutlich einige Schwierigkeiten hätte, diese Frage konkret und ohne Rekurs auf unklare Kategorien zu beantworten. Woran liegt das? Inwiefern stehen die historische Darstellung und geschichtswissenschaftliche Adressierung weißer Frauen im Kolonialgefüge der französischen Karibik der Klärung einer vermeintlich so simplen Frage entgegen? Der vorliegende Artikel nimmt sich dieser Problematik sowohl aus historischer als auch – begrenzt – aus historiographischer Perspektive an. Er untersucht zunächst populäre historische Darstellungen weißer Frauen, die nicht nur unter ZeitgenossInnen wirkmäch-

1 Alle folgenden Briefzitate stammen aus The National Archives, Kew, Public Record Office, High Court of Admiralty (HCA) Collection und wurden von der Verfasserin aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. HCA 30/396, Robillard, Pointe à Pître, Guadeloupe, an Mme Conard, Rouen. 19.März 1793. „Vous me demandez dans une de vos Lettres quelles sont les occupations des Creolles, les femmes sont femmes partout, et encore plus ici qu’ailleurs. Ne me veuillez pas de Mal de vous dire cette vérité, je parle en Républicain.“

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-004

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tig waren, sondern bisher auch hauptsächlich für die – seltenen – Auseinandersetzungen mit weißen Frauen in den französischen Karibikkolonien herangezogen wurden, analysiert die Kontexte und Praktiken ihrer Popularisierung sowie die in ihnen vorgenommenen Kategorisierungen und Positionierungen und erklärt so letztendlich, inwiefern diese Texte ganz und gar ungeeignet sind, um Mme Conards Frage zufriedenstellend zu beantworten. In einem zweiten Schritt werden diese wirkmächtigen Texte mit einem ungewöhnlichen Herausforderer konfrontiert: mit Brieferzählungen, in denen Kolonialistinnen sich selbst bzw. ihre Selbstverständnisse entwarfen, samt ihren eigenen Positionierungen innerhalb des kolonialen Sozialgefüges. Weiterhin problematisiert der Artikel bisherige historiographische Beschäftigung mit weißen Kolonistinnen in den französischen Karibikkolonien des 18. Jahrhunderts und möchte den Blick auf neue bzw. andere (Inter)aktionen, Kolonialpraktiken und Machtgefüge richten. Es sei hier bemerkt, dass der Begriff der Kolonistin keine moderne Setzung ist, sondern eine zeitgenössische Selbstbeschreibung – und für den gesamten Text sei hier generell vor der Erwartung gewarnt, Menschen müssten für sie aus heutiger Perspektive augenscheinlich negative Zuschreibungen doch notwendig zurückweisen; eine Annahme, die sowohl ahistorisch als auch für die Analyse von Machtverhältnissen und Sprechpositionen unproduktiv ist. Um sowohl die Unterschiedlichkeit des Quellenmaterials als auch die Komplexität der aufgeworfenen Problematik methodologisch handhabbar zu machen, wird eine intersektionale Analyse vorgenommen. Intersektionalität als Analysevorzeichen, also ganz grundlegend die Annahme, dass sich unterschiedliche soziokulturelle und soziostrukturelle Differenzkategorien situativ und wirkmächtig kreuzen und verschränken 2, erlaubt – so Sumi Cho, Leslie McCall und die Urheberin des Begriffes Kimberlé Crenshaw – „open-ended investigations of the overlapping and conflicting dynamics of race, gender […] and other inequalities.“ 3 In über zwei Jahrzehn-

2 Siehe etwa Florian Kühnel, Chamäleon oder Chimäre? Rollen und Intersektionen des frühneuzeitlichen Gesandten, in: Saeculum 68, 161–190, hier 167; sowie Falko Schnicke, Doppelstruktur des Hegemonialen. Intersektionale Perspektiven auf die historiographische Differenzproduktion des 19.Jahrhunderts, in: Ders./ Ann-Kristin Düber (Hrsg.), Perspektive – Medium – Macht. Zur kulturellen Codierung neuzeitlicher Geschlechterdispositionen. Würzburg 2010, 27–48, hier 28ff.; und Vera Kallenberg/Johanna M. Müller/Jennifer Meyer, Introduction. Intersectionality as a Critical Perspective for the Humanities, in: Dies. (Hrsg.), Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Wiesbaden 2013, 15–35, hier 18ff. 3 Sumi Cho/Kimberlé Crenshaw/Leslie McCall, Toward a Field of Intersectionality Studies. Theory, Applications, and Praxis, in: Signs 38, 2013, S. 785–810, 788.

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ten intensiver interdisziplinärer Forschung wurde eine Vielzahl sozialer Differenzkategorien und -achsen analytisch berücksichtigt und in ihren Auswirkungen sichtbar gemacht. 4 Bedingt durch die Ausgangsfrage nach weißen Frauen in den französischen Karibikkolonien setzt dieser Artikel zunächst race und gender als zentrale Analysekategorien (und führt so paradoxerweise die hier problematisierte Situation erst einmal fort); im Verlauf des Textes wird jedoch vor allem – und im Sinne eines von John Garrigus und Trevor Burnard formulierten Desiderats 5 – class als dritte relevante Kategorie eingeführt. Konkret orientiert sich die hier gewählte intersektionale Perspektive an Leslie McCalls intracategorial complexity-Ansatz. 6 Sehr knapp gefasst dient dieser Ansatz dazu, jeweils eine einzelne Kategorienverschränkung, etwa race/gender oder gender/class, aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu untersuchen. Dieser „prototypical approach“ 7 der Intersektionalitätsforschung unternimmt die Dekonstruktion der Meistererzählungen von Identitätszuweisungen für bestimmte soziale Gruppen durch die Konfrontation mit individuellen Narrativen von Mitgliedern eben jener Gruppen. Damit eignet er sich für die Analyse der hier untersuchten Fremd- und Selbstdarstellungen. Welche kategorial verorteten Eigenschaften wurden weißen Frauen innerhalb der hier als konstitutiv für die Meistererzählungen identifizierten Texte zugeschrieben? Welche Funktion erfüllten sie in den von den jeweiligen Autoren entwickelten gesamtgesellschaftlichen Repräsentationen? Wieso wurden eben diese Erzählungen so „meisterhaft“, weshalb gelang ihre Popularisierung? Wie verorteten die betroffenen Individuen, deren Brieferzählungen hier vorliegen, sich hingegen selbst innerhalb des sozialen Gefüges? Das hier zugrundeliegende Verständnis von Popularisierung orientiert sich nicht zuvorderst daran, inwiefern die besprochenen Texte „viele zugleich addressierten und potentiell der ganzen Bevölkerung, statt nur den Gebildeten zugänglich waren“ 8, obwohl sie in der Tat eine große Leserschaft erreichten und unter diesen Gesichtspunkten 4 Siehe etwa Matthias Bähr/Florian Kühnel, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Verschränkte Ungleichheit. Praktiken der Intersektionalität in der Frühen Neuzeit. (ZHF, Beih. 56.) Berlin 2018, 9–38, vgl. auch die weiteren Beiträge in diesem Band. 5 Trevor Burnard/John Garrigus, The Plantation Machine. Atlantic Capitalism in French Saint-Domingue and British Jamaica. Philadelphia 2016, 72. 6 Leslie McCall, The Complexity of Intersectionality, in: Signs, 30, 2005, 1771–1800, hier 1780ff. Ich danke Merle Weßel ganz herzlich für ihre kritischen Anmerkungen und Hinweise. 7 McCall, The Complexity of Intersectionality (wie Anm.6), 1781. 8 Jens Ruchatz, Der Ort des Populären, in: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hrsg.), Popularisierung und Popularität. Köln 2005, 139–145, hier 139.

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untersucht werden könnten. Dieser Artikel interessiert sich aber vor allem für den wissensgenerierenden Einfluss dieser Texte. So basiert das Popularisierungsverständnis hier vor allem auf der durch die historische Perspektive ermöglichten Identifikation von Wirkmächtigkeit sowohl unter ZeitgenossInnen als auch in der Historiographie. Es geht davon aus, dass es den hier untersuchten Autoren gelang, mit ihren Darstellungen innerhalb eines bestimmten privilegierten Adressatenkreises „ausgestattet mit entsprechenden Mitteln der Macht […] das allen Gemeinsame zu addressieren und so auch stellvertretend für alle zu sprechen“ 9, und so Wissen über weiße Weiblichkeiten mitzukonstituieren. Dieser durch diverse, im Folgenden zu besprechende Faktoren begünstigte Erfolg fand seine Verlängerung in der vielfältigen Überlieferung der Texte und ihrer intensiven Rezeption durch HistorikerInnen. Das Popularisierungsverständnis hängt entsprechend eng zusammen mit dem hier relevanten Wissensbegriff. Wissen, so wird vorausgesetzt, ist nicht „universell“, sondern wird in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern in unterschiedlichen (diskursiven) Praktiken hervorgebracht, so dass stets diverse Formen von Wissen über einen bestimmten Gegenstand koexistieren. Faktoren wie SprecherInnenpositionen, materielle Arrangements oder verfügbare Praktikenbündel begünstigen die Hegemonialisierung bestimmter Wissensbestände gegenüber anderen. 10 Nach all diesem theoretischen, methodologischen und empirischen Aufwand steht am Ende hoffentlich, und mit einer Verspätung von über zweihundert Jahren, eine akzeptable Antwort für Mme Conard und ihre harmlose Frage danach, womit die Kolonistinnen der französischen Karibik eigentlich ihre Tage füllten.

9 Hedwig Pompe, Popularisierung/Popularität. Eine Projektbeschreibung, in: Blaseio/Pompe/Ruchatz (Hrsg.), Popularisierung und Popularität (wie Anm.8), 13–20, hier 14. 10

Somit macht dieser Wissensbegriff gleichermaßen Anleihen bei den Wissenskonzepten Michel Fou-

caults und Pierre Bourdieus. Zur Einführung: Laura Kajetzke, Wissen im Diskurs. Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault. Wiesbaden 2008.

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I. Material, Forschungslücken und historiographische Annäherungsschwierigkeiten Wie im Folgenden genauer erläutert wird, werden hier zwei sehr prominente „Standardquellen“ aus dem Bereich der französischen Karibikkolonialforschung als prägend für die Meistererzählungen verstanden: Médéric Louis-Elie Moreau de Saint-Mérys (1750–1819) „Description topographique, physique, civile“ der Kolonie Saint-Domingue, verfasst ab 1789 und veröffentlicht 1797 aus dem nordamerikanischen Exil, und Jean-Baptiste Thibault de Chanvalons (1723–1788) „Voyage à la Martinique“, veröffentlicht in Frankreich im Jahr 1763. 11 Die im nächsten Untersuchungsschritt verwendeten Briefe umspannen den Zeitraum 1756–1793 und stammen allesamt aus den Kapergutbeständen des britischen High Court of Admiralty. Dies bedeutet, dass sie auf ihrer Reise aus der Karibik nach Frankreich als Teil einer kriegsbedingten Kaperung abgefangen, dann zu Beweiszwecken in die Archive des Admiralitätsgerichtshofs überführt wurden und in diesem Überlieferungszusammenhang bis heute unselektiert überdauern. Die Briefe, die hier herangezogen werden, stammen sowohl von Kreolinnen als auch von in Frankreich geborenen Kolonialfrauen. Im Folgenden wird zumeist der Begriff „weiße Kolonistin“ gebraucht, der beide Herkunftssituationen einschließt. Der Grund hierfür ist, dass die essentialistische, bisweilen gar biologistische Setzung „Kreolin“ vs. „Französin“ in zeitgenössischen Dokumenten – nicht nur in Briefen, sondern gerade auch in den so dauerhaft wirkmächtigen Abhandlungen, die im Folgenden besprochen werden – zwar vorgenommen, aber nur sehr inkonsequent umgesetzt wurde. Es überwog immer wieder der Bedarf, entsprechend der zeitgenössisch zunehmend relevant gemachten rassistischen Kategorisierungen weiße von schwarzen Frauen und vor allem von den notorischen Mulâtresses, women of colour, abzugrenzen (wie im Folgenden ausführlicher besprochen wird), und so wurde in vielen kolonialen Texten oft vor allem von „Blanches“ geschrieben. Zudem überschneiden sich die Merkmale, die Kreolinnen und Französinnen zugeschrieben wurden, häufig so sehr, dass die Unterschiede vor allem im Auge des Betrachters und in der situativen Anforderung gelegen haben müssen. Die situative Verwendung dieser Marker verdient eine eigene Untersuchung, die hier leider nicht geleistet wer11 Für das 17. und sehr frühe 18.Jahrhundert wären die Texte der Pères Jean-Baptiste Labat und Jean-Baptiste du Tertre als ähnlich kanonisch zu behandeln.

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den kann; eine weitere zu schließende Lücke, denn weiße Frauen in den französischen Karibikkolonien, ob nun Kreolinnen oder in Frankreich geboren, haben generell eher wenig geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Historiographie der letzten Jahrzehnte hat zu Recht und in vielen brillanten Publikationen den Fokus auf die Rekonstruktion der durch das koloniale Archiv 12 in die Obskurität verbannten Lebenswelten versklavter und freier schwarzer und „of colour“-Frauen in der französischen Karibik gelegt; häufig im Verhältnis zu und in Abgrenzung von den weißen Männern, die doch scheinbar so offensichtlich die Sozialgefüge der Kolonien dominierten. 13 Weiße Frauen jedoch erscheinen bisher vorwiegend als Ehefrauen, Töchter oder Schwestern weißer Männer – bisweilen tauchen sie auf als die unattraktiven Gegenfolien zur exotisierten und hypersexualisierten Repräsentation der „Black Venus“ oder der „Mulatta Concubine“, die Saidiya Hartman, Lisa Ze Winters und Doris Garraway so überzeugend dekonstruiert haben. 14 Zwar hat Garraway im Kontext ihrer Arbeit zur „Libertine Colony“ Darstellungen wie die Moreau de Saint-Mérys auch im Hinblick auf weiße Frauen kritisch hinterfragt; ebenso wie Bernhard Moitt und Tracey Rizzo 15 in ihren Untersuchungen von Gerichtsakten und „Causes Célèbres“. Allerdings kamen in diesen Texten so gut wie keine Kolonistinnen selbst zu Wort, und wenn, dann nur in durch nachträgliche Sprachfilter gelaufenen und von Männern vollzogenen Editions- bzw. Publikationspraktiken. Ansonsten widmet sich Trevor Burnards und John Garrigus’ Vergleich der Plantagenwesen von Jamaica und Saint-Domingue auf einigen Seiten der problematischen historischen Darstellung weißer Frauen durch unter anderem jene Autoren, die auch hier im Fokus stehen, und wirft einige interessante Fragen auf, die im Folgenden von Bedeutung sein werden. 16 Insgesamt sind somit bis dato eher spärliche Auseinandersetzungen mit weißen

12

Hier gebraucht mit Bezug auf Marisa J. Fuentes, Dispossessed Lives. Enslaved Women, Violence, and

the Archive. Philadelphia, Pa. 2016. 13

Siehe etwa die Arbeiten von Doris Garraway, Myriam Cottias oder Lisa Ze Winter.

14

Lisa Ze Winters, The Mulatta Concubine. Terror, Intimacy, Freedom, and Desire in the Black Transat-

lantic, Athens, Ga. 2016; Saidiya Hartman, Venus in Two Acts, in: Small Axe 26 (12,2), 2008, 1–14; Doris Garraway, The Libertine Colony. Creolization in the Early French Caribbean. Durham 2005. 15

Garraway, Libertine Colony (wie Anm.14); Bernard Moitt, Women and Slavery in the French Antilles,

1635–1848. Bloomington, Ind. 2001; Tracey Rizzo, „A Lascivious Climate“. Representations of Colonial Subjectivity in the Causes Célèbres of Eighteenth-Century France, in: The Journal of Caribbean History 34, 2000, 157–177. 16

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Burnard/Garrigus, The Plantation Machine (wie Anm.5), 70ff.

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Frauen in den Karibikkolonien erfolgt. Dabei liegt nahe, dass sich das französische Kolonialgefüge der Karibik über einen Fokus auf Kolonistinnen noch einmal anders ausleuchten ließe – für die indische und südasiatische Kolonialforschung haben Arbeiten etwa von Kumari Jayawardena oder auch Margaret MacMillan wichtige Erkenntnisse geliefert. 17 Für die US-amerikanische Sklaverei ist im Frühjahr 2019 Stephanie E. Jones-Rogers’ Monographie erschienen 18, die einen verwandten Ansatz verfolgt und nachzeichnet, wie sehr die Rolle weißer Frauen in der Aufrechterhaltung und täglichen Praxis der Versklavung bis dato unterschätzt wurde. Ein aus Sicht dieses Artikels zentrales Problem des wissenschaftlichen Umgangs mit weißen Frauen in den Karibikkolonien besteht in der Quellenlage und -auswahl, aber auch immer wieder in der Auslegung der gewählten Texte. Entweder in Ermangelung anderen Materials oder dank der scheinbaren Attraktivität und Verfügbarkeit bekannter Werke werden immer wieder dieselben Autoren zu Rate gezogen; dieselben Textstellen genutzt, um „die weiße Frau“ zu beschreiben. Für den französischen Forschungskontext sind dies die genannten Texte Thibault de Chanvalons und Moreau de Saint-Mérys; insbesondere Letzterer wird so häufig genutzt, dass es sich für einen Überblick fast anbieten würde, jene Werke zu listen, die ihn nicht zitieren. Auch ich selbst greife immer wieder auf diese beiden Autoren zurück, nicht nur aufgrund der Ausführlichkeit und Anschaulichkeit ihrer Beschreibungen, die Referenzen zu einem immensen Themenspektrum bieten, sondern auch, weil ihre beständige Verwendung innerhalb der Forschungslandschaft „praktisch“ Praxis geworden ist. Für den englischen Forschungskontext gehören etwa die Beschreibungen Edward Longs zu diesem „Karibikkanon“, und an ihrem Beispiel wird hier kurz demonstriert, inwiefern auch in der Auslegung dieser Texte immer wieder Pfade beschritten werden, die ebenso heikel wie aufschlussreich sind. Man siehe etwa, wie Gad Heumans eigentlich empfehlenswerte einführende Karibikgeschichte die folgende Zitatstelle Edward Longs bespricht: „White women began to speak like their black slaves and also to behave like them. For example, Edward Long complained about the appearance of ‚a very fine young woman, awkwardly dangling her arms, with the air of a Negroe17 Kumari Jayawardena, The White Woman’s Other Burden. Western Women and South Asia During British Rule. London 1995; Margaret MacMillan, Women of the Raj. The Mothers, Wives, and Daughters of the British Empire in India. New York 1988. 18 Stephanie E. Jones-Rogers, They were Her Property. White Women as Slaveholders in the American South. New Haven, Cn. 2019.

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servant lolling almost the whole day upon beds or settees, her head muffled up with two or three handkerchiefs, her dress loose and without stays. At noon, we find her employed in gobbling pepperpot, seated on the floor, with her sable hand-maids around her.’” 19

Hier will Heuman grundsätzlich die Möglichkeit einer Gegenseitigkeit (des Austauschs, der Beeinflussung, der Nachahmung) zwischen versklavten Männern und Frauen und weißen Sklavenhalterinnen aufzeigen. Bei aller Gebotenheit dieser Unternehmung ist es jedoch mehr als problematisch, dieses historische Zitat tatsächlich für bare Münze zu nehmen. Die groteske Karikatur der schwarzen Bediensteten und die inhärente Paradoxie, in der die Gleichsetzung mit der versklavten schwarzen Frau sich zentral im faulen Herumliegen äußert, sollten ein unhinterfragtes Übernehmen der Aussage eigentlich ausschließen; stattdessen entgehen hier diverse zeitgenössische rassistische Stereotype nicht nur der historiographischen Aufschlüsselung, sondern werden im Interesse eines prinzipiell begrüßenswerten Ziels sogar reproduziert. Da Heuman sich hier eigentlich dem wichtigen und angebrachten Unterfangen widmet, die Rolle von weißen Frauen in der urbanen Sklaverei in den Karibikkolonien aufzuzeigen, in der Sklavenhalterinnen und versklavte Frauen und Männer oft eng zusammenarbeiteten, scheint die Auswahl dieses Zitats besonders problematisch. Heumans Beispiel steht für zahlreiche Fälle, in denen im 18. Jahrhundert popularisierte Konzepte „weißer Karibikkolonistinnen“ erstaunlich unkritisch und „unhistorisiert“ übernommen wurden. Nun kommen aber endlich die konkreten Inhalte jener historischen Konzepte zur Sprache.

II. Natürlich privilegiert Zwischen 1789 und 1797 verfasste Médéric Louis-Elie Moreau de Saint-Méry seine umfangreichen Beschreibungen der Kolonie Saint-Domingue. Ihr Zweck war vor allem die Darlegung und Etablierung eines ungemein detaillierten, verschachtelten Rassenkonzeptes. Innerhalb dieser in ihrer Akribie geradezu fetischistisch anmutenden Aufschlüsselung einer kolonialen „Haut-Aristokratie“ 20 erfuhren die wei-

19

Gad Heuman, The Caribbean. A Brief History. 3.Aufl. London u. New York 2019, 60.

20

Zu Begriff und Konzept siehe Florence Gauthier, L’Aristocratie de l’épiderme. Le combat de la société des

Citoyens de Couleur, 1789–1791. Paris 2007.

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ßen Frauen der Kolonien eine erstaunlich undifferenzierte Behandlung. „Blanches“ und „Créoles“ wurden, wie bereits erwähnt, nur gelegentlich und höchst inkonsequent voneinander abgegrenzt. So etwa in den folgenden Passagen, in denen Moreau de Saint-Méry darlegte, was bereits eine Generation des Lebens in der Karibik bei den weißen Frauen anrichtete: „[E]ine Vorliebe, die stärker zu sein scheint als sie selbst, bringt [sie dazu], gesunde Nahrung abzulehnen & das gesalzene Fleisch aus Europa oder die örtlichen Gerichte zu bevorzugen, bizarr zubereitet und bekannt unter Namen, die sogar noch bizarrer sind. Reines Wasser ist ihr gewohntes Getränk, doch manchmal ziehen sie eine Limonade vor, die aus Sirup & Zitronensaft gemacht wird. Die Kreolinnen essen nicht zu den Mahlzeiten, sondern unregelmäßig, wann immer sie die Begehren eines Appetits verspüren […] langes Schlafen, die Tatenlosigkeit, in der sie leben, das Fehlen jeglichen Regimes, schlecht gewählte Nahrung, lebhafte Leidenschaften, die beinahe immer aktiv sind, dies sind die Quellen der Gefahren, welche die kreolische Frau bedrohen & die Auslöser, die ihre Reize so schnell verblühen lassen: so schillernd wie Blüten, teilen sie auch deren Lebensdauer.“ 21

Ungezügelte, unangemessene (weil karibische, möglicherweise sogar afro-karibische) Essenspraktiken, ein Mangel an Disziplin und komplette Tatenlosigkeit: Moreau de Saint-Mérys Darstellung weist nicht nur Ähnlichkeiten zum obigen LongZitat auf, sondern erinnert geradezu an zeitgenössische Karikaturen von Schoßhunden als bizarren „imported luxury goods with little practical utility or necessity.“ 22 Zwar waren die Kreolinnen technisch betrachtet nicht „importiert“, doch ihre „practical utility or necessity“ jenseits einer durch die Anforderungen einer rassistisch

21 Louis-Élie Moreau de Saint Méry, Description topographique, physique, civile, politique et historique de la partie française de l’isle Saint-Domingue avec des observations générales sur sa population […]. Philadelphia 1797, 21: „Les Créoles sont très-sobres. Le Chocolat, les sucreries, le café au lait surtout, voilà leur nourriture. Mais un goût qui semble plus fort qu’elles, les porte encore à refuser les alimens sains & à leur préférer les salaisons apportées d’Europe ou des mets du pays, bisarrement préparés & connus sous des noms plus bisarres encore. L’eau pure est leur boisson ordinaire, mais elles luis préfèrent par fois une limonade composée de sirop & de jus de citron. Les Créoles ne mangent guères aux heures du repas, mais indistinctement, lorsqu’elles éprouvent les désirs d’un appétit […]. Un sommeil trop prolongé, l’inaction dans laquelle elles vivent, des écarts de régime de toute espece, des alimens mal choisis, des passions vives presque toujours en jeu; telles sont les sources des maux qui menacent les femmes Créoles, & les causes qui flétrissent sitôt leurs charmes: brillantes comme les fleurs, elles n’en ont aussi que la durée“. 22 Theresa Braunschneider, The Lady and the Lapdog. Mixed Ethnicity in Constantinople, Fashionable Pets in Britain, in: Frank Palmieri (Ed.), Humans and other Animals in Eighteenth-Century British Culture.

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motivierten kolonialen Bevölkerungspolitik bedingten reproduktiven Notwendigkeit wurde durch derartige Darstellungen durchaus infrage gestellt. 23 Insbesondere, da in der Darstellung der Autoren selbst dieser letzte Aspekt nur begrenzt innerhalb der Möglichkeiten der Frauen lag, betonten doch sowohl Moreau de Saint-Méry als auch Thibault de Chanvalon die reproduktive Schwäche, die aus dem Zusammenspiel ungesunder Praktiken und körperlicher Auswirkungen des Klimas resultierte. 24 Nicht nur bei Moreau de Saint-Mérys „Description topographique, physique, civile“ der Kolonie Saint-Domingue, auch in Thibault de Chanvalons gut dreißig Jahre älterem und eher im wissenschaftlichen denn im politischen Forum anzusiedelndem „Voyage à la Martinique“ 25, erschien die weiße Kolonistin sowohl defizitär gegenüber weißen Frauen in Frankreich als auch – hauptsächlich hinsichtlich ihrer sexuellen Attraktivität und Verfügbarkeit – gegenüber women of colour in der Karibik. Die beständige Not weißer Kolonialisten, die sexuelle Begierde nach der woman of colour zu rechtfertigen, unterlag zentral den hier besprochenen Texten. Hier lassen sich Parallelen zum Konzept der „Verkafferung” erkennen, das in den europäischen Kolonialherrschaften auf dem afrikanischen Kontinent im Laufe des 19.Jahrhunderts zunehmend problematisiert wurde. 26 „Narrative representations of the mulatto woman grappled ultimately with the problem of rationalizing her attractions in terms of necessity (there are not enough white women) and desire (she is preferred to white women)“ 27, so Doris Garraway. Dieses „grappling” informierte notwendigerweise auch die Darstellung der weißen Frauen, die dennoch laut Garraway „the Representation, Hybridity, Ethics. Aldershot 2006, 31–48, hier 40. Siehe auch Stephanie Howard-Smith, Mad Dogs, Sad Dogs and the „War against Curs“ in London in 1760, in: Journal for Eighteenth-Century Studies 42, 2019, 101–118. 23

Siehe auch Burnard/Garrigus, The Plantation Machine (wie Anm.5), 72.

24

Siehe Annika Raapke, Dieses verfluchte Land. Europäische Körper in Brieferzählungen aus der Karibik,

1744–1826. Bielefeld 2019. 25

Jean Baptiste Thibault de Chanvalon, Voyage à la Martinique, contenant diverses observations sur la phy-

sique, l’histoire naturelle, l’agriculture, les mœurs et les usages de cette isle. Paris 1763. 26

„Verkafferung“, grundlegend die von europäischer Seite diagnostizierte und als gefährlich wahrge-

nommene Annäherung des weißen Kolonialisten an die Lebensweise des schwarzen Kolonisierten, wurde vor allem im Zusammenhang mit sexuellen Beziehungen weißer Männer zu schwarzen und of-colourFrauen relevant gemacht. Siehe beispielsweise Katharina Walgenbach, Emanzipation als koloniale Fiktion. Zur sozialen Position weißer Frauen in den deutschen Kolonien, in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 16, 2013, Nr.2, 47–67. 27

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Garraway, Libertine Colony (wie Anm.14), 230.

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protected domain of white colonial patriarchy“ 28 blieben – schwach und verwöhnt, kurzfristig begehrenswert, reproduktiv limitiert. Moreau de Saint-Méry zufolge waren diese weißen Frauen „[s]chwach in der Konstitution & weil man den Moment der Mutterschaft zu sehr beschleunigt hat; schwach, weil sie ihren Magen zerstören & weil das Klima & möglicherweise erbliche Laster die Nerven sehr reizbar gemacht haben.“ 29 Die „schillernden Blüten“ konnten „ihren Kindern nur das Leben schenken“ 30, sie jedoch aufgrund ihrer eigenen Disziplinlosigkeit und Schwäche nicht versorgen. Hierfür waren sie „gezwungen, einer Sklavin das Opfer ihres Blutes zu erbitten […] die man als Preis dieses Dienstes fast immer freilässt.“ 31 Der extrem reduzierte Blickwinkel, der die Kolonistinnen jenseits des Plantagenkomplexes ausklammert, begünstigt die Darstellung der weißen Kolonialfrauen als defizitär und schwächlich. Zu diesen Defiziten gesellte sich ein Mangel an Bildung und Erziehung, sowie an Ehrgeiz, eben diesem Mangel Abhilfe zu schaffen. Chanvalon schrieb: „Die Amerikanerinnen vereinen mit einer extremen Trägheit Lebhaftigkeit und Ungeduld […] ihr Herz ist für die Liebe gemacht […] doch zu seinen Triumphen kann es nicht den über die Trägheit zählen.“ 32 Moreau de Saint-Méry betonte zwar die guten Instinkte der Kolonistinnen, relativ dazu betrachtet, dass sie „überhaupt keine Erziehung“ 33 erhielten. Doch Chanvalon führte weiter aus: „Der Mangel an Willen & Nachahmung, der eine Folge ihrer Nonchalance ist, lässt sie ihre Begabungen vernachlässigen, & jene Übungen, die zur Bildung gehören. Nur der Tanz kann diese Trägheit überkommen, in jedem Alter & trotz der Hitze des Klimas. Dieser Ertüchtigung scheint sie niemals zu ermüden. Man könnte glauben, es sei die lebhafteste ihrer Vergnügungen, oder die einzige, die sie verspüren.“ 34

28 Ebd.266. 29 Moreau de Saint-Méry, Description (wie Anm.21), 21. „Faibles par constitution & parce qu’on a hâté le moment de la maternité, faibles parce qu’elles détruisent leur estomac & que le climat & peut-être des vices héréditaires ont rendu le genre nerveux très-irritable.“ 30 Ebd.25. 31 Ebd. 32 Chanvalon, Voyage à la Martinique (wie Anm.25), 35f. „Les Américaines réunissent, à une extrême indolence, la vivacité & l’impatience […] Leur cœur est fait pour l’amour […] mais parmi ses triomphes, il ne peut pas compter celui de leur indolence.“ 33 Moreau de Saint-Méry, Description (wie Anm.21), 25. 34 Chanvalon, Voyage à la Martinique (wie Anm.25), 38. „Le défaut de volonté & d’émulation, qui est une suite de leur nonchalance, leur fait négliger les talens & les exercices attachés à l’éducation. La danse seule

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Moreau de Saint-Mérys Kolonialistinnen schliefen in den Tag hinein und verblieben ansonsten quasi betätigungslos; Chanvalons Kolonistinnen konnten sich nur zum Tanzen aufraffen, ansonsten siegte die Trägheit. Die hier entworfenen Frauen waren somit konzeptuell die Antithese jeglicher Ertüchtigung, die nicht rein vergnügungsorientiert war, wie auch ihr sonstiges Leben nur aus impulsgesteuerter Lustbarkeit bestand. In den hier vorgestellten Texten bedingten die verschlungenen race- und genderZuschreibungen implizit die sozioökonomische Lebenssituation der Frauen. Ihre körperliche Verfassung, Auswirkung und Ausdruck der Überkreuzung von Weiblichkeit und whiteness, war entsprechend der vertrauten zeitgenössischen Diskursverläufe beider Kategorien, eine Verwebung von „Natur“ und „Kultur“ oder von Biologismen und (repräsentierter) Alltagspraxis. Bemerkenswert ist, dass in den Darstellungen Moreau de Saint-Mérys und Chanvalons nur race und gender als Kategorien explizit gemacht werden, um einen dekadenten, faulen, untätigen, impulsgesteuerten Lebenswandel zu entwerfen, der von immensem ökonomischem Privileg geprägt sein musste. Diesen Umstand kommentieren auch John Garrigus und Trevor Burnard: „They tended to describe women’s differences in terms of race rather than social class, a tendency that has been replicated by most modern historians.“ 35 Diese Reduktion der Differenzlinien kann kaum anders als intendiert gedacht werden, waren doch die class-Differenzen innerhalb der weißen und of colourBevölkerung und ihr eskalatives Zusammenspiel mit immer rassistischerer Politik und Gesetzgebung ein zentraler Aspekt des kolonialen Alltags in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts. 36 Eine gebildete, politisch aktive und ökonomisch mächtige of colour-Elite beanspruchte die Ausweitung ihrer politischen und juristischen Rechte und kollidierte einerseits mit der reichen weißen Pflanzerklasse, andererseits mit den „petits blancs“, den kleinen Weißen, die wiederum aus race/class-Verschränkun-

peut vaincre cette indolence, à tout âge, & malgré la chaleur du climat. Cet exercice paroit ne les fatiguer jamais. On croiroit que c’est le plus vif de leurs plaisirs, ou le seul auquel elles soient sensibles.“ 35

Burnard/Garrigus, The Plantation Machine (wie Anm.5), S. 72.

36

Siehe etwa John Garrigus, Before Haiti. Race and Citizenship in French Saint-Domingue. New York

2006; ders., Vincent Ogé Jeune (1757–91), Social Class and Free Colored Mobilization on the Eve of the Haitian Revolution, in: The Americas 68, 2011, 33–62 ; Abel Alexis Louis, Les Libres de couleur en Martinique. Tome 1. Des origines à la veille de la Révolution Française 1635–1788. Paris 2012; Laurent Dubois, Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution. Cambridge, Mass. 2004.

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gen Privilegsansprüche ableiteten, um die sie sich betrogen sahen. 37 Diesbezügliche Debatten verlegten sich intensiv auch ins prä- und frührevolutionäre Paris, wo Akteure wie Moreau de Saint-Méry sich machtvoll Gehör verschaffen konnten. In der Tat wurden Vorläufer der später veröffentlichten „Description“ bereits am 18.Oktober 1789 als „Détails les plus propres à faire de l’état de la colonie“ der Nationalversammlung vorgestellt. In diesem Kontext passte eine Naturalisierung des weißen Privilegs durch die Inbezugsetzung der „Naturkategorien“ gender und race bei der ohnehin als „naturnäher“ geltenden Frau bestens in ein Argumentationskonzept, das die Kategorie class mit möglichst großer Selbstverständlichkeit jenseits von Faktoren wie Kapital ansiedeln musste. Die weiße Frau in der Kolonie war der ultimative Ausdruck naturalisierten Privilegs; defizitär, aber in der „natürlichen“ Ordnung der Kolonie dennoch an ihrem rechtmäßigen Ort; in ihren Mängeln harmonisch ergänzt durch die „Mulatta Concubine“ und die reproduktiv überlegene versklavte schwarze Frau: Ein race/gender-Fächer zur besten Nutzung durch den weißen Kolonialmann. Jedoch keine Basis, um Mme Conards Frage zu beantworten, bleiben sämtliche besprochenen Frauen doch hoffnungslos im Bereich des Karikaturhaften.

III. Positionierungen und Popularisierungen Sowohl Chanvalons „Voyage“ als auch insbesondere Moreau de Saint-Mérys „Description“ waren und bleiben wirkmächtig in europäischen Wissensformationen. Weshalb konnten diese Repräsentationen sich so dauerhaft durchsetzen bzw. warum fand etwa Moreau de Saint-Méry soviel Gehör? Chanvalon und Moreau de Saint-Méry waren beide gebürtige Martiniquaisen – Saint-Méry lebte als Erwachsener eine Zeitlang in Saint-Domingue; Chanvalon verbrachte ebenfalls Teile seines Erwachsenenlebens in den Karibikkolonien. Als gebürtige Kreolen schrieben beide aus einer Position, die aus intersektionaler Perspektive zu untersuchen ebenfalls interessant wäre. Hier jedoch ist vor allem wichtig, dass beide Männer politisch und wissenschaftlich aktiv waren; Teil der „Öffentlichkeit“, die Tracey Rizzo (mit Bezug auf Roger Chartier) als „masculine-identified and bourgeois [and] made up of en-

37 Garrigus, Before Haiti (wie Anm.36); Garrigus, Vincent Ogé (wie Anm.36); Louis, Les Libres de Couleur (wie Anm.36).

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lightened individuals“ 38 definiert. Chanvalon war Kolonialpolitiker und Botaniker, seine Beschreibungen Martiniques wurden an der Akademie der Wissenschaften in Paris rezipiert. Er genoss politischen und kulturellen Einfluss, bis seine Rolle in der Katastrophe von Kourou 1763 ihn in einen massiven Skandal verwickelte. Moreau de Saint-Méry hatte nicht mit derartigen Reputationseinbußen zu kämpfen. Er war „a prominent figure of the colonial Enlightenment […] [his] rise in the colonies was concomitant with his growing notoriety in the French political and cultural scene.” 39 Er wurde zu einer bekannten politischen Figur im vor- und frührevolutionären Paris; ein überzeugter Rassentheoretiker und Gegner aller Versuche, die Rechtssituation der schwarzen und of colour-Bevölkerung zu verbessern. Seine drohende Verhaftung im Rahmen der Terreur unterbrach seine politischen Aktivitäten in Frankreich und er verbrachte einige Jahre im amerikanischen Exil, bevor er zurückkehrte. Beide Männer hatten also nicht nur Zugang zu, sondern waren aktive Mitspieler in diskursiv machtvollen Arrangements. „Intersektionalität hängt offenbar aufs engste mit Repräsentativität zusammen“ 40, so Tim Neu, und in der Tat ist davon auszugehen, dass es Thibault de Chanvalon und vor allem Moreau de Saint-Méry gelang, ihre verschränkten Festschreibungen von Geschlecht und race in den französischen Karibikkolonien so erfolgreich zu popularisieren, weil sie in der Lage waren, aus einer dank diversen Kategorienverschränkungen (männlich, weiß, weder jung noch alt, wohlhabend, gebildet, politisch vernetzt usf.) privilegierten, mächtigen Position zu einem Publikum zu sprechen, das ähnlich positioniert war und sie als sinnstiftende Repräsentanten des kolonialen „Ganzen“ anerkannte. 41 Die Ähnlichkeit der sozialen Position von Autoren und Publikum kann insbesondere deshalb als popularisierungsbegünstigender Faktor gewertet werden, weil die entsprechende Anerkennbarkeit und Addressierbarkeit der Autoren und ihrer Bot-

38

Tracey Rizzo, A Certain Emancipation of Women. Gender, Citizenship, and the Causes Célèbres of

Eighteenth-Century France. Cranbury 2004, 83. 39

Doris Garraway, Race, Reproduction, and Family Romance in Moreau de Saint-Méry’s Description […]

de la partie française de l’isle de Saint Domingue, in: Eighteenth-Century Studies, 38, 2005, 227–246, hier 228. 40

Tim Neu, junk frauenbilt oder frome furstin und mutter? Geschlecht, Macht und Markiertheit im

16. Jahrhundert, in: Bähr/Florian (Hrsg.), Verschränkte Ungleichheit (wie Anm.4), 276–302, hier 286. 41

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Neu, junk (wie Anm.40), 286ff.

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schaft im Publikum in erheblichem Maße dazu beigetragen haben wird, das Publikum zu „universalisieren“. 42 Hier besteht wie so oft die Gefahr, aus der Rückschau, im Wissen um die überdauernde Wirkmacht der Repräsentationen, nur jene Faktoren einzubeziehen, die diese erklären können. In der Tat hätte etwa der oben erwähnte Aspekt der Kreolität der Autoren einen potenziellen Kontingenzfaktor in der Etablierung einer hegemonialen Position der hier besprochenen Repräsentationen darstellen können. Was wäre beispielsweise gewesen, wenn ein ansonsten ähnlich positionierter, aber eben nicht kreolischer Autor die Darstellungen herausgefordert hätte? Dies sei hier nur angemerkt, um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass unter den gegebenen Intersektionsbedingungen gar kein anderes historisches Ergebnis hätte erwartet werden können. Die bisherigen Erklärungsversuche beziehen sich hauptsächlich auf die Position der Autoren innerhalb machtrelevanter zeitgenössischer Öffentlichkeiten, aber auch die Textgattungen und die dazugehörige Schreib- und Publikationspraxis sind hier von Bedeutung. Moreau de Saint-Méry und Thibault de Chanvalon schrieben sich mit ihren Texten bewusst in das Feld der öffentlichen (hier im obigen Sinne gebraucht) Wissensproduktion ein und erhoben in den dazugehörigen Praktiken Anspruch auf Autorität: Sie sammelten vorbereitend Beobachtungen, Texte, Zahlen und „Fakten“ und verarbeiteten diese Sammlungen dann in langen, mit Anmerkungen und Zitaten versehenen Manuskripten, die schließlich in den Druck gegeben und verbreitet wurden. Die intendierte Leserschaft war eben jene männlich-bourgeoise „Öffentlichkeit“, der die Autoren selbst auch angehörten. Sowohl bei Thibault de Chanvalon, als auch bei Moreau de Saint-Méry geschah die Niederschrift einige Jahre nach der Sammlung/Beobachtung, so dass ein signifikanter Mittelbarkeitsaspekt hinzukommt. Im Fall von Moreau de Saint-Méry führte dies zu der besonders paradoxen Situation, dass die von ihm beschriebene Kolonie zum Zeitpunkt der Publikation (1797) bereits seit mehreren Jahren nicht mehr so bestand, wie er sie erlebt, und erst recht nicht, wie er sie repräsentiert hatte 43: Die Revolution der Männer und Frauen, deren Versklavung Moreau de Saint-Méry so befürwortete, hatte das brutale Kolonialregime von Saint-Domingue gestürzt.

42 Urs Stäheli, Das Populäre als Unterscheidung. Eine theoretische Skizze, in: Blaseio/Pompe/Ruchatz (Hrsg.), Popularisierung und Popularität (wie Anm.8), 146–167, hier 157. 43 Siehe auch Garraway, Race, Reproduction, and Family Romance (wie Anm.39).

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An dieser historischen Bruchstelle setzt auch dieser Artikel eine Zäsur. Der Blick wird umgelenkt von den machtvollen Erzählungen, die master narratives weißer Kolonialweiblichkeit intensiv geprägt haben, hin zu den Individualnarrativen der bisher nur fremdbeschriebenen Kolonistinnen. Diese Brieferzählungen könnten sich in ihrer Entstehungs- und „Publikations“-praxis kaum stärker von den hier bisher besprochenen Texten unterscheiden. Zwar gab es auch hier bisweilen zeitliche Lücken und Verschiebungen, und manche Briefthemen widmeten sich Erlebnissen im Leben ihrer Verfasserinnen, die zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits einige Zeit zurücklagen. Derartige Verzögerungen begründeten sich jedoch in den meisten Fällen nicht dadurch, dass die Verfasserinnen Zeit und Muße benötigten, um das „gesammelte Material“ zu bearbeiten und publikationsfertig zu machen, sondern durch ganz praktische Faktoren: Ein Schiff legte ab gen Europa und konnte Briefe mitnehmen 44, oder ein/e Bekannte/r reiste selbst in die Heimat und war bereit, den Brieftransport zu übernehmen. Die Brieferzählungen, die so ihren Weg (mehr oder weniger erfolgreich) über den Atlantik nahmen, waren, je nach Schreibkompetenz ihrer Verfasserinnen, unmittelbar und stark „individualisiert“ 45 in dem Sinne, dass sie sich gezielt an eine spezifische, den Schreiberinnen persönlich bekannte Leserschaft richteten. 46 Die meisten Briefe wurden mit aller Wahrscheinlichkeit von den Absenderinnen selbst verfasst und nur in seltenen Fällen diktiert. Die Kolonistin Mme Lambert aus Saint Domingue betonte gegenüber ihrer Schwester in Bordeaux 1793, wie wichtig es war, Briefe selbst zu schreiben, um sich möglichst vertraulich austauschen zu können. 47 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die intendierte Leserschaft notwendigerweise aus einer einzelnen Person bestand; die historische Briefforschung hat sich ausführlich mit der einigermaßen öffentlichen Natur von Briefen innerhalb von Familien- und Bekanntenkreisen auseinandergesetzt. Briefe wurden herumgereicht, ausgetauscht, vorgelesen – ein Aspekt, der verdeutlicht,

44

Etwa Lucas Haasis, Papier, das nötigt und Zeit, die drängt übereilt. Zur Materialität und Zeitlichkeit

von Briefpraxis im 18.Jahrhundert und ihrer Handhabe, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 2015, 305–319. 45

Der Begriff soll hier die Spezifizierung des Briefinhaltes im Hinblick auf die Leserschaft einfangen. Es

geht nicht um die Einführung eines starken Individuums- oder Ich-Begriffes im Verständnis des 21.Jahrhunderts, mit Verweis auf u.a. Dror Wahrman,The Making of the Modern Self. Identity and Culture in Eighteenth-Century England. New Haven, Cn. 2004.

108

46

Siehe auch Raapke, Dieses verfluchte Land (wie Anm.24).

47

HCA 30/394, Mme Lambert, Les Cayes, an ihre Schwester in Bordeaux, 12.März 1793.

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weshalb eine Untersuchung von Briefen als Publikationsform relevant ist. Die in den Briefen vermittelten Konzepte weißer Kolonialweiblichkeit waren Teil ganz anderer Praktiken und Vollzüge der Wissensbildung als die Texte der oben genannten Autoren. Zwar waren die Briefe nicht weniger narrativ überformt, gefärbt, parteiisch oder „unwahr“, aber anders als die Druckwerke konnten sie in ihren Leserschaften trotz dieser einschränkenden Faktoren das Moment der persönlichen Erfahrung beanspruchen. Während die Texte Moreau de Saint-Mérys und Chanvalons ihre Autorität aus dem Postulat einer Belegbarkeit und potenziellen Überprüfbarkeit zogen, aus der Seriosität des gedruckten Wortes, der zeitgenössischen Gewichtigkeit einer männlichen Autorschaft und der öffentlichen Verortung, konnten die Briefe geteilte Erfahrungsräume aufrufen und auf Kenntnis der Person der Schreiberin setzen (ein Aspekt, der die Wirkmacht des Briefes als Konzeptvermittler bisweilen auch eingeschränkt haben wird). Briefe weißer Kolonistinnen transportierten Konzepte weißer kolonialer Weiblichkeit in eine spezifische europäische Publikationssphäre, nämlich die einer nichtöffentlichen Öffentlichkeit, die nicht vorrangig bourgeois, und vor allem nicht männlich 48, sondern indirekt und dabei doch wesentlich direkter in ihren Praktiken war: dem Weiterreichen von Briefen, den Gesprächen in der Küche und beim Kaffee, auf der Straße und in Geschäften; dem Involvieren von Verwandten, Freunden und Bekannten. Schon die oft seitenlangen Grußaufträge am Ende eines Briefes weisen auf das Verbreitungspotenzial der Briefinhalte hin (ganz abgesehen vom alltäglichen Austausch und Klatsch), und damit auch auf die potenzielle Verbreitung eines alternativen Wissens über das Leben der weißen Frauen in den Karibikkolonien. Allerdings ist hier einschränkend anzumerken, dass es sich hierbei in den meisten Fällen um Einzelfall-Wissen gehandelt haben wird, das als „Ausnahme“ friedlich mit den machtvolleren Darstellungen der faulen, dekadenten, undisziplinierten, schwachen Kolonistin koexistieren konnte. Die in den Kapergutbeständen des britischen High Court of Admirality gelagerten Briefe weißer Frauen aus der französischen Karibik kommunizieren Selbstkonzepte der Verfasserinnen, die den Ausführungen der oben zitierten Autoren deutlich entgegenstehen, unter anderem indem sie Differenzkategorien anders aufrufen und vor allem gewichten. Im Gegensatz zu Moreau de Saint-Méry und Chanvalon ist für die Frauen vor allem die Verschränkung von race und class und die Praktiken, in 48 Tracey Rizzo zufolge würde hier die Unterscheidung verlaufen zwischen „the public“ und „the people“. Rizzo, A Certain Emancipation (wie Anm.38), 83.

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denen die entsprechenden Differenzen vollzogen und sichtbar werden, der zentrale kategoriale Faktor, in dem Selbstpositionierung stattfindet. Thematisch ging es bei Moreau de Saint-Méry und Chanvalon vor allem um die Untätigkeit, Inkompetenz, mangelnde Disziplin und körperliche Schwäche weißer Frauen. In den Briefen wird dieses Bild umgekehrt – hier präsentieren sich weiße Frauen als aktiv, diszipliniert, körperlich fähig und kompetent. Im Folgenden werden drei solche Frauen anhand ihrer Brieferzählungen vorgestellt: Eine namentlich nicht endgültig identifizierte Kreolin 49, die gemeinsam mit drei anderen Frauen auf Martinique ein Modegeschäft betrieb, sowie zwei in Frankreich geborene Frauen – die bereits erwähnte Mme Lambert, die mit ihrem Ehemann in Saint Domingue lebte, und die Witwe Thomas, die auf Martinique als Kolonialhändlerin tätig war. Die drei Frauen stammen aus unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten: Die kreolische Modehändlerin war unverheiratet und gehörte zu einem Familienverbund der auf Martinique kolonialpolitisch einflussreichen provençalischen Familie Émerigon und der wohlhabenden kreolischen Händlerfamilie Ruste de Rezeville 50, besaß also einen komfortablen und (relativ) sicheren Hintergrund. Mme Lambert und ihr Ehemann René hatten es geschafft, sich in der Kolonie komfortabel zu situieren (ein wichtiger Faktor in ihrem Brief) und auch Mme Thomas musste nicht ums finanzielle Überleben kämpfen, war aber darauf angewiesen, dass ihre Geschäfte gut gingen.

IV. Die Damen vom Modeladen Wer sich im Januar 1781 in St. Pierre, der Hauptstadt der französischen Karibikkolonie Martinique unterhalb des Vulkans Mont Pélé, befand und Lust auf einen kleinen Einkaufsausflug verspürte, konnte sich im Geschäft von Marie Rose Patrice Ruste de Rezeville, genannt Manon, mit den neuesten Mode-, Dekor – und Schneidereiimporten aus der Metropole ausstatten. Die Inhaberin war zu diesem Zeitpunkt

49

Aufgrund des Überlieferungszufalls, der die HCA-Kapergutbestände charakterisiert, liegen nur in sel-

tenen Fällen weitere personenbezogene Informationen zu den BriefschreiberInnen vor. Zum aktuellen Zeitpunkt können daher leider keine gesicherten Lebensdaten für die Autorinnen zur Verfügung gestellt werden. 50

Siehe etwa Bernadette Rossignol/Philippe Rossignol, Ruste de Rezeville. Frères, négociants, et la demande

de liberté de Julien, in: Généalogie et Histoire de la Caraïbe 242, 2010, 6540–6545.

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nicht selbst anwesend, sie lebte mit ihrem Ehemann (der als Investor am Geschäft beteiligt war) und ihren Kindern in St. Eustache. Kundinnen und Kunden wurden stattdessen von drei anderen Damen bedient: Manons Schwester – möglicherweise, allerdings nicht gesichert – Marie Françoise Émerigon 51, sowie zwei weiteren jungen Frauen namens Alix und Marianne. Marianne könnte eine weitere Schwester von Manon und Marie Françoise gewesen sein. Zu Alix’ Hintergrund ist nichts bekannt; lediglich, dass sie im Laden mitarbeitete – es ist gut möglich, dass sie eine junge Frau of colour war. Am 30.Januar 1781 schrieb Marie Françoise an Manon, um sie über ein paar organisatorische Veränderungen im Geschäft in Kenntnis zu setzen: „Gemeinsam haben wir die Aufgaben aufgeteilt, Marianne führt das Buch über Indiennes, Baumwoll-Mouchoirs und andere ähnliche Artikel, und ich die quincaillerie 52, dies führt dazu, dass alles besser geht, und dass wir die Arbeit teilen werden, die zu groß für eine Person geworden war, gegenwärtig wird alles erledigt, ohne dass wir es merken.“ 53

Wie bereits oben angesprochen waren Manon und Marie Françoise in keiner Weise durch ihre ökonomischen oder sozialen Umstände dazu gezwungen zu arbeiten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie ihr Geschäft nicht aus Notwendigkeit führten, sondern weil sie es wollten. In ihrem Brief bedankte sich Marie Françoise unter anderem für das Lob, das Manon und ihr Ehemann ihr für ihre gute Arbeit ausgesprochen hatten: „Sie loben diesen Zustand der Waren so sehr, dass ich, wäre ich nur ein klein wenig eitel, glauben würde, dass ich Wunder gewirkt hätte, und dass es

51 Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts wanderten zwei Brüder der Émerigon-Familie nach Martinique aus und machten dort Karriere in der Kolonialverwaltung. Der Vater von Marie Rose Patrice Émerigon, Charles Pierre Marie Émerigon, war Conseiller du Roi. Er hatte diverse Töchter und Nichten, für deren Zuordnung es einer intensiven Recherche in den Kolonialarchiven, möglicherweise auch in den Kirchenbüchern von Martinique bedürfen würde. Auf Basis bereits existierender genealogischer Forschungen wird hier davon ausgegangen, dass es sich um Marie Françoise Émerigon handelt, dies ist allerdings nicht gesichert und wird möglicherweise im Laufe der weiteren Forschung zu diesem Thema widerlegt. 52 Das Geschäft führte offensichtlich keine Eisenwaren, es ist daher anzunehmen (und im weiteren Briefverlauf bestätigt), dass Marie Françoise sich um die Geldangelegenheiten des Unternehmens kümmerte. 53 HCA 30/345, Marie Françoise Émerigon (?), St Pierre de la Martinique, an Marie Rose Patrice de Rezeville, St Eustache, 30.Januar 1781. „Ensemble nous avons partagées la besogne, Marianne tient le livre des Indiennes, Mouchoirs coton et autres articles semblables, et mois la quincaillerie cela fait que tout va mieux, et que nous partagerons louvrage qui etoit devenue trop considerable pour une seule personne, apresent tout se fait sans nous en apercevoir.“

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nicht möglich sei, meinesgleichen zu finden.” 54 Offenbar war Marie Françoise stolz auf die Leistungen, die sie im Geschäft der Schwester erbracht hatte, und freute sich über die Anerkennung, die sie für ihre kompetente Arbeit erhalten hatte. Ihr langer, detaillierter Brief weist darauf hin, wie intensiv das alltägliche Leben der drei Frauen mit dem kleinen Betrieb verwoben war: Im Geschäft wurde verkauft, gerechnet und Ware dekoriert, aber auch Rezepte ausgetauscht und geklatscht – etwa über einen Mann, den die Frauen „Monsieur Grande Maison“ getauft hatten, und über die Brüder Hurlotin, „cavaliers fort bien“, deren „Geschwätz überhaupt nicht störend“ 55 war. Die Frauen fochten interne Konflikte aus und verhandelten Hierarchien innerhalb der Geschäftsorganisation. Zudem schien Marie Françoise keinerlei Schwierigkeiten damit zu haben, Entscheidungen zu kritisieren oder zu revidieren, die Manon getroffen hatte, sofern sie ihr problematisch erschienen, und ebenso führte sie souverän die Finanzen des kleinen Betriebs: „Was Geld anbetrifft, habe ich noch etwas über 3000 livres [coloniales], ich werde sie so verwenden, wie Sie es für richtig halten; ich habe außerdem 40 kleine Écus und 4 von 6 livres [tournois], die mir als Bezahlung überantwortet wurden; sagen Sie mir, ob Sie sie haben möchten.“ 56

Im Briefnarrativ positionierte sich Marie Françoise mittels der darin theoretisierten 57 Praktiken als weißes, weibliches Mitglied der wirtschaftlichen Kolonialelite jenseits des Plantagenkomplexes. Die zu diesem Zweck in der und durch die briefliche Repräsentation vollzogenen Praktiken sahen jedoch völlig anders aus als bei Moreau de Saint-Méry oder Chanvalon. Bei Marie Françoise wurde die verschränkte Positionierung sichtbar durch beständige, weitgehend selbstbestimmte und selbstbewusste Betätigung; durch den souveränen Umgang mit Kapital, das unter anderem von einer prominenten weißen sklavInnenhaltenden Kolonialfamilie inves-

54

Ebd.„Vous faites tant deloge de cet etat de marchandise que si jetois tout soit peu vaine je croirois avoir

fait des merveilles, et qu’il ne seroit plus possible de trouver mon pareil.“ 55

Ebd.„[C]avaliers […] fort bien dont le babil nincomode guere.“

56

Ebd.

57

Praktiken, die außerhalb einer Schreibsituation vollzogen, aber zuvor oder nachträglich innerhalb

einer Brieferzählung berichtet wurden, hat Daniel Teysseire als „pratiques théorisées“ bezeichnet, wobei die „Theoretisierung“ in der Beschreibung, Rekapitulierung oder Antizipierung eines doings oder sayings mithilfe des geschriebenen Wortes liegt. Daniel Teysseire, Qu’est-ce qu’un médecin des lumières? Portraits et discours croisés de quelques contemporains de Tissot, in: Vincent Barras/Micheline Louis-Courvoisier (Eds.), La Médecine des Lumières. Tout autour de Tissot. Genf 2001, 223–244, hier 224. Siehe auch Raapke, Dieses verfluchte Land (wie Anm.24), 34.

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tiert worden war (den Ruste de Rezevilles); durch die Verwaltung kolonialen Besitzes und die aktive Mitgestaltung des Soziallebens der weißen Kolonialeliten. Marie Françoise und ihre Schwester(n) zeigen, inwiefern die Verschränkung von race und class in den französischen Karibikkolonien des 18.Jahrhunderts die Möglichkeiten von gender bedingte. Junge, unverheiratete Frauen wie Marie Françoise konnten gleichsam zum Vergnügen Geschäfte führen, nicht unerhebliche Geldsummen bewegen und frei „cavaliers fort bien“ unterhalten, denn sie waren weiß und gehörten der kolonialen Elite an. Die Selbstverständlichkeit der elitären class-Zugehörigkeit, die aus Marie Françoises Brief spricht, wurde von der nächsten Briefschreiberin, Mme Lambert, nicht geteilt. Umso wichtiger war es offenbar für sie, sich entsprechend zu positionieren.

V. Das Ärgernis eines patriotischen Nichtsnutzes Mme Lambert schrieb 1793, inmitten der Revolution von Saint Domingue, an ihre Schwester Mademoiselle Fauque in Bordeaux. Anders als Marie Françoise, die offenbar (ganz im Widerspruch zu Moreau de Saint-Mérys Beobachtungen) als Kreolin eine hervorragende Erziehung genossen hatte, führte Mme Lambert keine besonders sichere Feder. Trotzdem ist der Brief lang, voller Ausrufe und – um es anachronistisch auszudrücken – „konzeptionell mündlich“. Mme Lambert schrieb ihrer Schwester unter anderem, um diese darüber zu informieren, dass der gemeinsame Bruder nun ebenfalls in der Kolonie eingetroffen war. Allerdings hatte der Neuankömmling den Lamberts bis zum Schreibzeitpunkt wenig Freude bereitet, wie die Brieferzählung zeigt. “Unser lieber Bruder, der, wie Du weißt, nicht gerade das Pulver erfunden hat“, begann Mme Lambert ohne Umschweife, „wollte unbedingt seine Tapferkeit und seinen Patriotismus zeigen […] der große Angriff hat stattgefunden und unser Bruder war dort, gegen unseren Willen, wir haben ihm gesagt, dass er nicht hingehen darf, was haben Sie davon, wäre es nicht besser, zu arbeiten als hinzugehen und sich einen Arm oder ein Bein brechen zu lassen oder sich umbringen zu lassen, er hat uns geantwortet, dass seit man ihm von diesem Tata berichtet hat, dass es ihm unmöglich wäre zu arbeiten [sic!].“

Dieses „Tata“ bezeichnet wohlgemerkt den Kampf der weißen Kolonisten gegen die revoltierende schwarze und of colour-Bevölkerung. 1793 befand sich Saint Do-

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mingue praktisch im Kriegszustand. Briefe von ZeitgenossInnen Mme Lamberts verhandelten die Revolution in schärfsten rassenideologischen und kriegerischen Begriffen; die Durchsetzungskraft insbesondere der versklavten Bevölkerung erschütterte die Kolonialmächte in Europa und den Amerikas, doch für Mme Lambert aus Les Cayes war es vor allem ein Tata, in dem Man(n) sich leicht einen Arm oder ein Bein brechen lassen konnte. Das heißt nicht, dass Mme Lambert nicht um ihr Leben fürchtete – der Brief begann ominös mit den Worten „Wir leben noch“ –, doch im Falle ihres Bruders war der Umstand, dass dieser sich konsequent zu arbeiten weigerte, offensichtlich ein Ärgernis, das die Revolution überwog. Wie Mme Lambert ihrer Schwester weiter erklärte: „[S]eit seiner Ankunft denkt er, dass sein Glück gemacht ist und arbeitet überhaupt nicht, er ist ein fainéant in jeder Hinsicht; stell Dir vor, meine Schwester, dass, weil er bei seiner Ankunft zu dreieinhalb Vierteln nackt war, wir ihn von Kopf bis Fuß ausgestattet haben; René hat ihm seine Schuhschnallen geschenkt, eine Uhr, die uns gehört hat, seinen kleinen möblierten Raum & einen kleinen nègre, um ihn in seinem Zimmer zu bedienen; übermäßig gut gekleidet, nicht wie ein kleiner seigneur, denn von denen spricht man nicht mehr, aber wie ein gutsituierter Republikaner. Ich denke, dass all dies ihm solchen Hochmut verschafft hat, dass es ihn vom Arbeiten abhält, schön für ihn.” 58

In der Beschreibung dessen, was sie und ihr Ehemann ihrem Bruder ermöglichten, positionierte Mme Lambert sich vor allem selbst: eine gutsituierte, weiße Republikanerin, die über Statussymbole verfügte und koloniale Machtpraktiken vollzog, indem sie sich von versklavten Menschen bedienen ließ. Bemerkenswert ist jedoch das nachhaltige Insistieren auf Arbeit. Anders als für ihren Bruder, dessen diesbezügliche Erwartungen aus der Brieferzählung deutlich werden, war für Mme Lambert 58

HCA 30/394, Mme Lambert, Les Cayes, an ihre Schwester in Bordeaux, 12.März 1793. „Notre cher frere

qui come tu set na pa ienvanté la poudre a vouslu apcoluman faire voir sa bravour et cont patriotisme […] la grande ataque se fait en fien notre frere iaété malgre notre volonté nous lui dixion fauque nia lê pas quesquil vous en reviendra veadre til pa mieu travalle que dale vous faire casé uns bras ou une gambe ous vous faire tuê il nous fit parreponce ce que depui que lon avet parlê de ce ta ta que quil lui etet ien posible de travalle. […] depui con arivee il croit ca fortune faite en ne point travaillan cet uns fainian de dan la force du terme figure toi ma seur qua con arrivée etant au troi car êdemi nus nou lavon abillê de pies a la taite Rene lui a fait cado de ce boucle de coulie une montre anou ca petite chambre garnie & une petite naigre pour le cervir de dan ca chambre abilê cuperieurement bient non pa come uns petit caigneur paque ons nan par le plu mai come un republicain bien a con aixe je mimagine que tout ca la lui a doné tant dorgul que cet ca quill en paiche de travalle tenpi pour lui.“

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ein Leben im karibischen Wohlstand offenbar kein Privileg, das im kolonialen Kontext ganz automatisch aus der Verschränkung weiß/männlich erwuchs. Die class-position war für Mme Lambert anscheinend etwas, das durch eigene Arbeit beeinflusst bzw. verbessert werden musste. Das Zusammenspiel mit gender ist hier interessant: Mme Lambert beschreibt die maskulin konnotierten Utensilien, mit denen ihr Ehemann und sie den faulen Neuankömmling ausstatteten: die Uhr, die Schuhschnallen, die eigene Unterkunft, den Dienstboten. Es liegt nahe, dass das Ehepaar Lambert davon ausging, der Bruder würde der impliziten Aufforderung nachkommen und sich entsprechend „maskulin“ verhalten, und zwar – wie der Brief vermuten lässt – durch das Aufnehmen einer Arbeit. Die Verteidigung des 1793 massiv rassenbasierten Koloniallebens von Saint Domingue in der Bekämpfung der Revolution war kein angemessener Ersatz für das Arbeiten, offenbar auch keine angemessene Maskulinitätsperformance und somit keine Rechtfertigung für ein Leben im fremdfinanzierten Wohlstand. Es steht zu vermuten, dass die Lamberts ihre eigene Gutsituiertheit entsprechend hart erwirtschaftet hatten und erst dadurch in eine Lage gekommen waren, in der sich die Verschränkung ihrer race-, class- und gender-Position in Privilegien auswirkte. Aus dieser Position der wohlhabenden weißen Frau heraus konnte Mme Lambert ihren Bruder harsch für seine schiefliegenden Prioritäten kritisieren.

VI. „Opfer […], von denen er mich profitieren lässt“ Ein Mann, dem es nicht mehr gelungen war, selbst eine solche Position zu erreichen, war der verstorbene Ehemann der Witwe Thomas. Aus den zwei Briefen, die sie im November 1778 aus Martinique an ihre Mutter und ihren Bruder schrieb, entnimmt man, dass Mme Thomas die Geschäfte ihres Mannes übernommen hatte, als dieser erkrankt war, und sie seitdem weiterführte. Die Briefe weisen zudem darauf hin, dass eine Verwandte der Familie mit dem Spitznamen Sésé in dieser Zeit die Pflege von Mme Thomas’ Ehemann übernommen hatte – Mme Thomas hatte die sozialreproduktive Arbeit ausgelagert und stattdessen direkt die „Breadwinner“-Rolle übernommen. 59 Trotz Sésés von Mme Thomas gepriesener Fürsorge erlag M. Tho-

59 Siehe Maria Ågren, Making her Turn Around. The Verb-Oriented Method, the Two-Supporter-Model,

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mas seiner Krankheit und das Geschäft blieb in der Hand seiner Witwe. Sechs Wochen vor Abfassung der Briefe starben zudem zwei der drei Kinder der Familie Thomas innerhalb von vier Tagen, ein vierjähriger Junge und ein kleines Mädchen, Louise, die bald ein Jahr alt geworden wäre. Somit blieb Mme Thomas nur noch ihre zehnjährige Tochter Reinette, die zur Erziehung und Ausbildung bei der Großmutter in Frankreich untergebracht war. Mme Thomas war somit praktisch alleine in der Kolonie und zeigte sich in ihren Briefen eisern entschlossen, das meiste aus ihren Geschäften herauszuholen, um mit dem so angesammelten Vermögen zurück nach Frankreich reisen und dort bei ihrer verbliebenen Familie leben zu können. Ihre Briefe zeigen, dass sie aktiv damit beschäftigt war, neue Einkommensquellen aufzutun. Unter anderem investierte Mme Thomas – aus ihrer Sicht sehr erfolgreich – in einen Mann, der kürzlich aus Frankreich eingetroffen war, einen M. Cabarrès: „M. Cabarrès ist seit vier Monaten hier, wie ich Ihnen berichtet habe. Er wäre dort geblieben und er wäre vielleicht tot [M. Cabarrès war als engagé, als Vertragsknecht, in die Karibik gereist 60] wenn ich mich nicht mit ihm ins Benehmen gesetzt hätte, damit er seine Angelegenheiten beendet; seine Unvernunft eine so unnütze Reise zu unternehmen hat ihn in die Lage versetzt, dass er nicht mehr fortgehen konnte, da er sich für eine Schuld engagiert hatte, die er begleichen musste, von der ich ihn entbunden habe.“ 61

Mme Thomas war also zur Tat geschritten, um einen Bekannten aus Frankreich aus einer unangenehmen Indentur auszulösen – allerdings mit dem klaren Ziel, die daraus resultierende Verpflichtung so gut wie möglich auszunutzen: „[D]ie Unannehmlichkeit, hier sein zu müssen, bringt ihn dazu, Opfer zu bringen, von denen er

and the Focus on Practice, in: Early Modern Women. An Interdisciplinary Journal, 13, 2018, 144–152, hier 150. 60

„Engagés“ waren Vertragsknechte; EuropäerInnen, die sich gegen Bezahlung der Überfahrt sowie Kost

und Logis dazu verpflichteten, mehrere Jahre (üblicherweise 36 Monate) ohne Entgelt in den Kolonien Arbeit zu leisten. Die Zustände, unter denen sie arbeiteten, hingen stark von ihren „Mietern“ ab, waren aber laut Bernard Moitt „often adverse.“ Die Zahl der „Engagés“ nahm im 18.Jahrhundert stark ab. Laut Moitt waren versklavte Menschen „a better investment than the engagés whose contracts were temporary, whereas the condition of slavery lasted a lifetime in most cases.” Beide Zitate: Moitt, Women and Slavery (wie Anm.15), 9. 61

HCA 30/302, Mme Thomas, St Pierre de la Martinique, an ihre Mutter in Frankreich, 7.November 1778.

„Mr. Cabarres est ici depui quatre mois comme je vous les ay marqué, il y’auroit resté et iseroit peutestre mort si je ne mestoit point employé pour lui faire finir ses affaires, L’inprudance quil a eu de faire un voyage ausi inuttile, L’avoit mis dans le Case de ne pouvoir sen aller, etant engagé ici pr. Une dette, quil faloit aquiter, et de laquelle je le dégagé.“

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mich profitieren lässt, und die mein kleines Vermögen vergrößern werden.“ 62 Mme Thomas hatte hier offenbar die Gelegenheit einer „Umschuldung“ erkannt und genutzt. Eine finanzielle Schuld hatte Cabarrès gezwungen, für seinen vorherigen „Mieter“ zu arbeiten; Verpflichtung und Ehre banden ihn nun an Mme Thomas. Die Person, die jedoch am direktesten und buchstäblich von Mme Thomas „geeignet“ wurde, war ein versklavtes Mädchen bzw. eine junge Frau, die im Rahmen von Mme Thomas’ Geschäftstätigkeiten in St. Pierre für sie arbeiten musste. Mme Thomas nannte sie „ma négresse marchande“ 63 – offenbar arbeitete das Mädchen als Händlerin bzw. Verkäuferin, und sie war so tüchtig und kompetent, dass Mme Thomas kaum auf sie verzichten konnte, zumindest innerhalb der brieflichen Darstellung. Ihr Bruder hatte ihr eine Pacotille, eine Sammlung loser Gemischtwaren aus Europa, zum freien Verkauf in der Kolonie zukommen lassen und Mme Thomas schrieb: „Die Pacotille, die ich in den Händen halte, geht recht langsam, sie wäre fortgeschrittener [im Abverkauf] wenn meine négresse Händlerin, die kleine Sainte, nicht zwei Monate lang krank gewesen wäre.“ 64 Der Umstand, dass Sainte enorm tüchtig war, ließ sie in Mme Thomas’ Augen nicht weniger als Teil des Geschäftsinventars erscheinen. Ganz im Gegenteil, stadtbasierte Frauen wie die Witwe Thomas oder auch Marie Françoise Émerigon operierten in gänzlich anderen physischen und sozialen Räumen als die aus den Texten Moreau de Saint Mérys bekannten dekadenten Plantagenherrinnen. Sie praktizierten „städtische“ Formen der Sklaverei, die oftmals ein enges Zusammenarbeiten mit den Männern und Frauen bedeuteten, deren Versklavung sie fortsetzten. Während diese Arbeiten oft weniger unmittelbar gefährlich gewesen sein mögen als die grausame Knochenarbeit insbesondere auf den Zuckerplantagen 65, war das System doch nicht weniger brutal und entmensch-

62 Ebd.„[L]’ennui de rester ici le determine a faire des sacrifices dont il me fait profiter et qui augmenteront ma petite fortune.“ 63 Der Begriff der „négresse“ wird bewusst nicht übersetzt oder verändert aufgrund seiner spezifischen historischen und kulturellen Bedeutung im französischen Kolonialgefüge. Siehe etwa Serge Daget, Les mots esclave, nègre, Noir, et les jugements de valeur sur la traite négrière dans la littérature abolitionniste française de 1770 à 1845, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos 2009, http://journals.openedition.org/nuevomundo/58128 (29.April 2019); s. auch Andrew S. Curran, The Anatomy of Blackness. Science and Slavery in an Age of Enlightenment. Baltimore, Md. 2013. 64 HCA 30/302, Witwe Thomas, St Pierre de la Martinique, an ihren Bruder in Frankreich, 7.November 1778. „La pacotille que jay entre les mains va aces lentement, elle seroit plus avencé si ma negresse marchande, la petite Sainte, n’avoit pas été bien malade pendant deux mois.“ 65 Ein detailliertes und einzigartiges Bild der Arbeitsabläufe und Bedingungen auf den Zuckerplantagen

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lichend – so zeigt Anne Pérotin-Dumons „La ville aux îles, la ville dans l’île“ beispielsweise auf, dass gut ausgebildete versklavte Menschen in Städten regelmäßig von ihren Besitzenden an durchreisende Europäer und Europäerinnen vermietet wurden. 66 Die Macht der städtischen Kolonistinnen über ihre versklavten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war genauso absolut wie auf der Plantage und die Erniedrigung der versklavten Personen ebenso konsequent, trotz der großen Proximität, der Kompetenz und des „Zusammenarbeits“-Aspektes. Für Mme Thomas war Sainte vor allem ein wichtiges Wirtschaftsgut, und als die junge Frau erkrankte, wurde Mme Thomas erneut aktiv und unternahm alles, was in ihrer Macht stand, um sie für sich zu „erhalten“: „Sie war vergiftet worden 67 und ich habe gedacht, dass ich sie verlieren würde, nachdem ich alle Heilmittel der Medizin erschöpft hatte; ich habe mich entschieden, ihr ein Gegengift aus Saft unterschiedlicher Kräuter zu verabreichen und sie hat sich innerhalb von acht Tagen erholt […] ich wäre recht verärgert gewesen, sie zu verlieren.“ 68

Mme Thomas setzte sich auch hier durch. Nicht willens, das „Ärgernis“ von Saintes Tod zu akzeptieren, besiegte sie triumphal den „vergifteten“ Körper, als bereits alle medizinischen Möglichkeiten erschöpft waren. Saintes eigene Erfahrung der erschreckenden Krankheitssituation oder ihre Reaktion auf ihre Genesung spielten offenbar keine Rolle für Mme Thomas, zumindest nicht in der epistolären Selbstdarstellung – das wichtige Wirtschaftsgut Sainte war gerettet und sicherlich bald wieder in der Lage, die Pacotille zu verkaufen. In Mme Thomas’ Narrativ vollziehen sich Weißsein, Weiblichkeit und koloniale liefert Laurent Dubois, Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution. Cambridge, Mass./ London 2004, 45ff. 66

Anne Pérotin-Dumon, La ville aux îles, la ville dans l’île. Basse-Terre et Pointe-à-Pitre, Guadeloupe, 1650–

1820. Paris 2000, 658. 67

Die Angst der weißen KolonistInnen vor Vergiftung entweder ihrer selbst, ihrer versklavten Men-

schen, ihrer Pflanzen oder ihrer Tiere durch die eigenen oder andere Sklaven oder durch freie schwarze KoloniebewohnerInnen zieht sich motivhaft durch beinahe das ganze 18.Jahrhundert. In den französischen Kolonien kam es immer wieder zu Massenpaniken mit entsprechenden Bluttaten von Seiten der KolonistInnen. S. Caroline Oudin-Bastide, L’effroi et la terreur. Esclavage, Poison et Sorcellerie aux Antilles. Paris 2013. 68

HCA 30/302, Witwe Thomas, St Pierre de la Martinique, an ihren Bruder in Frankreich, 7.November

1778. „Elle avoit été enpoisonné et j’ai pencé la perdre, apres avoir epuisé toute les drogue de la medesine, je m’avize de lui faire prandre un Contre Poison compozé de jus de diferentes herbes, et au bout de huit jours elle c’est rétablie […] j’aurais été bien fachée de la Perdre.“

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class-Zugehörigkeit in diversen, wiederum in sich verschränkten Praktikenbündeln. So erledigte Mme Thomas die Pflege ihres Mannes nicht selbst, da sie sich um die Geschäfte kümmern musste; die Betreuung der erkrankten Sainte jedoch fiel unter das Geschäftliche und wurde so von Mme Thomas übernommen. Als Witwe nahm Mme Thomas zeitgenössisch eine einerseits rechtlich ermächtigte, andererseits sozial verdächtige Position ein; allerdings legt ihr Briefnarrativ nahe, dass für sie – ähnlich wie für Marie Françoise Émerigon – die gender-Position der race/class-Verschränkung folgte bzw. durch sie neu abgesteckt werden konnte. Es ist verlockend, hier umgekehrt gender als die dominante Kategorie zu betrachten und davon auszugehen, dass sich Mme Thomas’ Position durch den Witwenstatus drastisch geändert hat. Da der Brief diesbezüglich jedoch nichts sagt, und die Verhältnisse innerhalb der Thomas-Ehe unbekannt sind, liefe das Gefahr, gender erneut als zentrale Kategorie eines Frauenlebens festzuschreiben, und das ausgerechnet über den Familienstand. Interessanter ist hier der Umstand, dass es Mme Thomas möglich (und offenbar auch wichtig) war, sich innerhalb ihres Narrativs unter anderem dadurch zu positionieren, dass sie einen weißen Mann erfolgreich in eine Abhängigkeitssituation gebracht hatte, von der sie profitieren konnte. Während Saintes erzwungene Abhängigkeit und Ausbeutung aufgrund ihrer race/class/gender-Position innerhalb des Kolonialgefüges für Mme Thomas nichts Bemerkenswertes waren, konnte sie M. Cabarrès’ erfolgreiche Vereinnahmung, wiederum aufgrund seiner eigenen intersektionalen Verortung, als Triumph für sich verbuchen.

VII. Ausblick und der Versuch einer Antwort Die Individualnarrative der hier vorgestellten Briefschreiberinnen weisen die Fremdzuschreibungen der wirkmächtigen männlichen Erzählungen klar zurück. Die verschränkte weiße Weiblichkeit, die Moreau de Saint-Méry und Chanvalon für die französischen Karibikkolonien entwarfen, ist in den Briefen nicht aufzufinden. Chanvalon und Moreau de Saint-Méry imaginierten „ordinary white women, who were regarded as constant and affectionate but also as inordinately lazy and smallminded.” 69 Die Position, aus der beide Autoren für „die Öffentlichkeit“ schrieben,

69 Burnard/Garrigus, The Plantation Machine (wie Anm. 5),70f.

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war eine Verschränkung diverser Differenzkategorien, die in den zeitgenössischen Arrangements alle für sich Privileg begünstigten und in ihrer Überkreuzung immenses Privileg hervorbrachten. Dies erlaubte es den Autoren, ein ähnlich positioniertes Publikum erfolgreich zu „universalisieren“ 70 und für es zu sprechen – und damit ihr Konzept weißer Weiblichkeit Die Selbstentwürfe der Frauen hingegen wurden aus anderen Situationen heraus und in sehr verschiedenen Entstehungszusammenhängen verfasst und zeichnen ein gänzlich anderes Bild weißer Kolonialweiblichkeit, mit einem deutlichen Fokus auf die eigene sozioökonomischen Position und die oft exploitativen wirtschaftlichen Aktivitäten, die diese Position ermöglichten. Die Analyse von Selbstaussagen dieser bis heute vor allem fremddefinierten sozialen Gruppe gibt Einblick in miteinander verbundenen Praktiken kolonialer Ausbeutung, in fluide oder rigide Verständnisse von rassischem Privileg, und vor allem zeigt sie ein immenses Maß an Betätigung. Allein die drei hier vorgestellten Beispiele und ihre unterschiedlichen Gewichtungen sozialer Differenzkategorien unterstützen zudem die Gebotenheit des von Matthias Bähr und Florian Kühnel für intersektionale Geschichtsforschung vorgeschlagenen Fokus auf „variable interkategoriale Konstellationen, wie auch die plurale ‚interne Architektur‘ verschiedener Differenzkategorien, die bereits als heterogen strukturiert gedacht werden müssen.“ 71 Hier bieten die in den HCA-Beständen überlieferten Selbstaussagen der Kolonistinnen noch reichlich Untersuchungsmaterial. Was also machen Kreolinnen? Sie arbeiten, sie erwirtschaften Geld, sie tratschen über Monsieur Grande Maison. Sie verfolgen ihre Interessen und Ziele, sie unterdrücken, unterwerfen und beuten aus, sie verhandeln um Macht und Einfluss, sie setzen Prioritäten. Frauen sind schließlich überall Frauen.

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70

Stäheli, Das Populäre (wie Anm.42), 157.

71

Bähr/Kühnel, Einleitung (wie Anm.4), 16.

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„Damit der Mensch nicht in der Eiszone des bürgerlichen Lebens erstarre“? Bewegung, Polarisierung und Verfestigung der Geschlechterdichotomien in schweizerischen Zeitschriften des 18. und frühen 19.Jahrhunderts von Sophie Ruppel

Das Titelzitat aus dem Jahre 1846 verweist mit dem Ausdruck „Eiszone des bürgerlichen Lebens“ 1 auf den oft auch als „das feindliche Leben“ 2 bezeichneten Raum der Erwerbsarbeit, der Öffentlichkeit und der Politik, der seit Ende des 18.Jahrhunderts weitgehend dem Mann zugeordnet wurde. Der „Mensch“ – hier gleichgesetzt mit dem Mann – droht hier gleichsam zu erfrieren, bewegungslos zu werden, könnte er nicht durch die stete Rückkehr in die Sphäre der Familie zu Regeneration und Kraft für die berufliche Tätigkeit finden. Der ‚Beruf’ der Frau dagegen wurde in der dreifachen Bestimmung als Gattin, Mutter und Hausfrau gesehen; dieser diente der Bereitstellung jenes Rekreationsraums. Aber wer oder was erstarrt eigentlich hier? Der Mensch? Der Mann? Die Frau? Die Geschlechterrollen? Karin Hausen hat die Herausbildung der „Geschlechtscharaktere“ bekanntlich ins Zentrum geschlechtergeschichtlicher Forschung gerückt. 3 Begrüßenswerterweise tauchen diese Erkenntnisse zur Polarisierung der bürgerlichen Geschlechterrollen heute – bis in Schulbücher hinein – zunehmend auch im breiteren Diskurs auf und wurden nicht nur in der historischen Wissenschaft (und insbesondere in der Frühneuzeitforschung) rezipiert. 4 Wenn Historiker und Historikerinnen heute von dieser Essentialisierung der Ka-

1 E. Looser (Hrsg.), Penelope. Zeitschrift zur Belehrung und Unterhaltung für das weibliche Geschlecht. Langenthal, 1. Lieferung Juli 1846, 1. 2 So die bekannte schillersche Diktion im „Lied der Glocke“ (1799, Vs. 106/107). 3 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 363–393. 4 Wirkungsreich u.a. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt am Main/New York 1991. Londa Schiebinger, The Mind has No Sex? Women in the Origins of Modern Science. Cambridge, Mass. 1989.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-005

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tegorie Geschlecht am Übergang zur Moderne ausgehen, bleibt aber zu fragen, wann dieser Prozess eigentlich genau einsetzte, in welchen konkreten Wissenspraktiken er sich manifestierte, wie Akteure und Akteurinnen in diesen eingebunden waren und wie dieses Wissen über die „Natur“ von Mann und Frau zirkulierte bzw. sedimentiert wurde. 5 Wenn davon ausgegangen wird, dass Popularisierung vielfach nicht als Topdown-Prozess verstanden werden kann, sondern die Fragen nach dem Ineinandergreifen von Wissenssphären und nach der Zirkulation von Wissen in den Blick genommen werden müssen 6, schließt sich die Frage nach den konkreten Formen der Zirkulation des Wissens über die Geschlechter an. Insbesondere gilt dies auch für die Zeit der Aufklärung und den „dialogischen Charakter der Wissensvermittlung“ 7 dieser Zeit. Der folgende Beitrag will zur Erhellung der Zirkulation von Geschlechterwissen im Hinblick auf die sich seit Mitte des 18.Jahrhunderts entfaltende Zeitschriftenliteratur beitragen. Inwiefern lassen sich Praktiken der Geschlechterpolarisierung dingfest machen? In welcher Weise werden in den an Frauen gerichteten Zeitschriften dichotomisch gedachte Geschlechtermodelle konkret vermittelt? Nicht selten erscheint ja die Geschlechterpolarisierung als Paradox, als nicht eingelöster Gleichheitsanspruch und als „Schattenseite“ der Aufklärung – auch wenn diese heute als vielstimmig und eben nicht ausschließlich als mit modernen Ideen verbunden wahrgenommen wird. 8 Aber inwieweit ist die Geschlechterpolarisierung überhaupt mit der Aufklärung verknüpft? Anhand der (spät-)aufklärerischen Zeitschriftenkultur des deutschsprachigen schweizerischen Publikationsraums des 18. und frühen 19.Jahrhunderts lassen sich Vermutungen formulieren, wie und warum sich mit dem Abflauen aufklärerischer Werte die Geschlechterdichotomien in den Journalen im 19.Jahrhundert massiv verstärkten. 5 Siehe die Ausführungen in der Einleitung zu diesem Band. 6 Siehe insbesondere Andreas Daum, Wissenspopularisierung im 19.Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. München 1998; ders., Varieties of Popular Science and the Transformations of Public Knowledge. Some Historical Reflections, in: Isis 100, 2009, 319–332. 7 Silvia Serena Tschopp, Popularisierung gelehrten Wissens im 18.Jahrhundert. Institutionen und Medien, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2004, 469–490, hier 474. 8 Andreas Pečar/Damien Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt am Main/New York 2015.

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In einem ersten Schritt sollen dabei (Frauen-)Zeitschriften und ihre Inhalte vorgestellt werden, in einem zweiten wird nach den Praktiken der Polarisierung in diesen Zeitschriften gefragt. Wenn hier in der Analyse dabei schweizerische Zeitschriften in den Blick genommen werden, so weniger aus dem Grund, dass diese in ihrer Zeit von den anderen deutschsprachigen und europäischen Zeitschriften abgrenzbar wären – was nicht der Fall ist –, sondern allein aus dem forschungsrelevanten Befund, dass die deutschsprachige schweizerische Zeitschriftenkultur des 18. und frühen 19.Jahrhunderts als wenig erforscht gelten kann. 9 Drei Beispiele sollen dabei stichprobenhaft im Hinblick auf Praktiken der Geschlechterpolarisierung in der Zeitschriftenliteratur befragt werden: die „Discourse der Mahlern“ von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger aus der Frühzeit der Entstehung der Zeitschriftenliteratur, die „Monatschrift für Helveziens Töchter“ von Leonard Meister, die in Zürich 1793 erschien, und das Frauenmagazin „Penelope“ von E. Looser aus Langenthal aus den Jahren 1846–1847.

I. Zeitschriften von und für Frauen, die vielfältigen Verbindungen im europäischen Raum und Beispiele aus der Schweiz Die im 18.Jahrhundert entstehenden und sich extrem schnell entwickelnden Zeitschriften stellen das Medium der Aufklärung schlechthin dar. Sie bilden zwischen 1750 und 1850 einen zentralen Kommunikationsraum für die Diskussion von Wissensinhalten und für die Vermittlung von Normen. Trotz der zentralen Funktion der Zeitschriften für die Wissensgeschichte der Aufklärung und der Sattelzeit istdie Nutzung der frühen Periodika als Quellen noch immer nicht umfassend 10,

9 Zur schweizerischen Zeitschriftenkultur s. Carl Ludwig Lang, Die Zeitschriften der deutschen Schweiz bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798. Leipzig 1939. Hans-Peter Marti/Emil Erne, Index der deutsch- und lateinsprachigen Schweizer Zeitschriften von den Anfängen bis 1750. Basel 1998. Karl Weber, Die Entwicklung der politischen Presse in der Schweiz, in: Verein der Schweizer Presse. Festschrift zum 560-jährigen Jubiläum. Luzern 1933, 7–106. Wenn die schweizerische Zeitschriftenliteratur der Aufklärungszeit in jüngerer Zeit untersucht wurde, dann eher im französischsprachigen Raum, etwa Séverine Huguenin/Thimothée Léchot (Eds.), Lectures du Journal helvétique, 1732–1782. Genf 2016. Oder im Zusammenhang mit der Volksaufklärung Holger Böning, Heinrich Zschokke und sein „Aufrichtiger und wohlerfahrender Schweizerbote“. Die Volksaufklärung in der Schweiz. Bern 1983. 10 Van Hoorn spricht 2014 noch vom „unterschätzten Textkorpus“, vgl. Tanja van Hoorn, Gattungen,

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was möglicherweise auch der Quellenlage und der verwirrenden Vielfalt der in dieser Zeit oft kurzlebigen und in vielen Fällen auch nur regional bedeutenden Journale geschuldet ist. Gerade sie sind es aber, die den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ 11 und damit die Diskursivierung auch der Geschlechterrollen in vielfacher Weise tragen, denn, wie Claire Gantet und Flemming Schock im Vorwort des Sammelbandes „Zeitschriften, Journalismus und gelehrte Kommunikation im 18.Jahrhundert“ schreiben, „die Periodika und Praktiken des entstehenden Journalismus machten Wissen zu einem erheblich beschleunigten, diskursiven, verstreuten und prinzipiell öffentlichen Prozess.“ 12 Zeitschriften bieten sich also für eine wissensgeschichtlich ausgerichtete, geschlechtergeschichtliche Analyse an, wenn (Geschlechter-)Wissen als relatives, sich wandelndes und zirkulierendes Phänomen gefasst wird. Bezeichnenderweise hat die frühneuzeitliche Frauengeschichte die Zeitschriften schon früh in den Blick genommen. Ulrike Weckels 1998 publizierte Studie stellt in dieser Hinsicht für den deutschsprachigen Raum einen Meilenstein dar. 13 Weckel hat nicht nur Kontexte weiblichen Schaffens, Publikum und Inhalte analysiert, sondern vor allem auch frühe Journalistinnen wie Ernestine Hofmann (1752/53–1789), Charlotte Hezel (1755–1817), Sophie von La Roche (1730–1807), Caroline Friederike von Kamiensky (1755–1813) oder Marianne Ehrmann (1758–1795) zu ihrer heutigen Bekanntheit verholfen. Dass Weckels Interesse dabei durchaus auch in einem größeren Kontext der Suche nach den aus der Historiographie verschwundenen Frauen verwurzelt war, zeigt sich darin, dass fast zeitgleich Helga Neumann ein Werk zu den Protagonistinnen des deutschen Zeitschriftenwesens im ausgehenden

Nachbarschaften, Profile. Textsorten und Platzierungen periodischer Naturaufklärung, in: Dies./Alexander Košenina (Hrsg.), Naturkunde im Wochentakt. Zeitschriftenwissen in der Aufklärung. Bern u.a. 2014, 9. S. auchHolger Böning, Weltaneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, in: Johannes Burkhardt/Christiane Werkstetter (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. (HZ 42, Beih. 41.) München 2005, 105–134. 11

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürger-

lichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1962. 12

Claire Gantet/Flemming Schock, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Zeitschriften, Journalismus und gelehrte

Kommunikation im 18.Jahrhundert. Bremen 2014, VII. 13

Ulrike Weckel, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften

im späten 18.Jahrhundert und ihr Publikum. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 61.) Tübingen 1998.

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18.Jahrhundert verfasst hat. 14 Neumann ging allerdings im Hinblick auf die schreibenden Frauen von „Ausnahmefällen“ aus, die in ihrer Zeit als „Kuriositäten“ gegolten hätten 15, was heute nicht mehr ganz so eingeschätzt wird 16, denn im Gefolge dieser Arbeiten sind viele weitere Aufsätze zu den frühen Journalistinnen entstanden 17 und neuerdings erfährt das Thema auch aus einer europäischen Perspektive wieder vermehrt Interesse. Für Großbritannien etwa ist 2018 in der Reihe „The Edinburgh History of Women’s Periodical Culture in Britain“ ein Band zum langen 18.Jahrhundert erschienen. 18 Dennoch scheint es fast, als sei mit der Wende zur Geschlechtergeschichte diese Suche nach den schreibenden Frauen der Frühen Neuzeit (und Sattelzeit) auch teilweise abgebrochen worden. Zu bedenken ist auch: Zum einen arbeiteten Frauen oft gemeinsam mit Ehemännern und Verwandten an den Publikationen und tauchen daher oft namentlich nicht auf. Sie fungierten oft nicht als zentrale Herausgeberinnen, sondern als Beiträgerinnen oder als Übersetzerinnen der aus ausländischen Journalen übernommenen Artikel, als Illustratorinnen, indem sie die der Zeitschrift beigegebenen Kupfer produzierten oder als Korrektorinnen usw. Sie agierten vielfach auf der „Hinterbühne“. 19 Insbesondere die Rolle der Frauen als Übersetzerinnen und damit als Agentinnen des europäischen Kulturtransfers in den Zeitschriften ist noch kaum aufgearbeitet. 20 Zum anderen tauchen in vielen Fällen die Namen der Herausgeber (und Herausgeberinnen) auf den Titelblättern der Zeitschriften generell nicht auf. Ist keine weitere Überlieferungsgeschichte vorhanden, sind die Texte tatsächlich nur schwer

14 Helga Neumann, Zwischen Emanzipation und Anpassung. Protagonistinnen des deutschen Zeitschriftenwesens im ausgehenden 18.Jahrhundert (1779–1795). Würzburg 1999. 15 Ebd.11. 16 Neumann etwa spricht von zwölf Journalen aus weiblicher Hand, vier davon seien verschollen. 17 Meist dann zu einzelnen Personen, beispielsweise Brigitte Scherbacher-Posé, Die Entstehung einer weiblichen Öffentlichkeit im 18.Jahrhundert. Sophie von La Roche als „Journalistin“, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 2 (2000), 24–51. 18 Jennie Batchelor/Manushag N. Powell (Eds.), Women’s Periodicals and Print Culture in Britain 1690– 1820. The Long Eighteenth Century. (The Edinburgh History of Women’s Periodical Culture in Britain, Vol.1.) Edinburgh 2018. 19 Dies ist analog zu sehen zu den Aktivtäten der Frauen in der Wissenschaft dieser Zeit, s. Theresa Wobbe (Hrsg.), Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17.Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2003. 20 Sehr aufschlussreich hierzu ist der Sammelband von Brunhilde Wehinger/Hilary Brown (Hrsg.), Übersetzungskultur im 18.Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Saarbrücken 2008.

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genau zuzuordnen. Zudem ist gerade in der Frühzeit des Mediums, in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts, das Spiel mit in den Zeitschriften sprechenden Herausgeberfiguren prominent, das heißt eine Gruppe fiktiver Figuren zeichnet verantwortlich für das Journal (wobei das Geschlecht wechseln kann). Wie etwa in den englischen Vorbildern diskutieren so auch in den deutschsprachigen Magazinen fiktive Sprecher und Sprecherinnen über die Werte und Vorstellungen bürgerlichen Lebens – wie etwa die „Vernünfftigen Tadlerinnen“ Johann Christoph Gottscheds oder auch die Gruppe der „Mahler“ und „Mahlerinnen“, in den von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger 1721 bis 1723 in Zürich herausgegebenen „Discoursen der Mahlern“. Es wird also einerseits weibliche Verfasserschaft vorgetäuscht, andererseits wird Verfasserschaft verschleiert. Frauen publizierten auch unter Pseudonymen. 21 Frauen als Schreibende sind aber mitnichten ausgeschlossen, nicht zuletzt auch durch die grundlegende Struktur, dass fast alle Herausgeber und Herausgeberinnen von Zeitschriften um 1800 ihr Publikum in den Vorreden aufforderten, Anfragen, Beiträge und Wissenswertes einzusenden. Die Nähe zur Leserschaft besteht de facto und fiktiv, wenn etwa, wie in Sophie von La Roches „Pomona“, auf Briefe der Leserinnen geantwortet wird. Ist somit in vielen Fällen kaum zu klären, wer spricht, so ist möglicherweise die dazugehörige Perspektive, wer liest, nicht minder schwer zu beantworten. Letzteres lässt sich wohl, abgesehen von Einzelzeugnissen für das 18.Jahrhundert bisher nur vage mit dem Hinweis auf weitgehend städtische Bildungseliten beantworten 22, wobei angenommen werden kann, das der Anteil von Frauen am Lesepublikum im 18.Jahrhundert erheblich zunahm. 23 Ist also nicht immer klar umrissen, wer schreibt und wer liest, so ist vielleicht das Augenmerk mehr darauf zu richten, was rezipiert wird und wie in diesen Texten möglicherweise Geschlecht gefasst wird bzw. wie Schreiberinnen und Schreiber an der Polarisierung der Geschlechtscharaktere mitwirkten.

21

Dorothea Gürnth beispielsweise publizierte teilweise unter dem Pseydonym „Amalie“, ihr umfangrei-

ches Werk ist unbearbeitet. 22

Siehe Weckel, Häuslichkeit und Öffentlichkeit (wie Anm.13), 310ff.

23

Ursula Becher, Lektürepräferenzen und Lesepraktiken von Frauen im 18.Jahrhundert, in: Aufklärung

6, 1992, 27–42. Von einer Zunahme insbesondere des weiblichen Lesepublikums im 18.Jahrhundert geht auch Wittmann aus, Reinhard Wittmann, Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18.Jahrhunderts? In: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt am Main/New York 1999, 431f.

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Die Öffentlichkeit der Journale im europäischen Raum ist dabei eine vernetzte Öffentlichkeit. So werden in den deutschsprachigen Magazinen zahllose Texte aus ausländischen Magazinen zusammengetragen und kompiliert, rezensiert oder in Auszügen abgedruckt. Dies gilt sowohl für den Wiederabdruck aus gleichsprachigen Journalen aus anderen Regionen als auch für die Übersetzung aus anderen Sprachen. Ein beeindruckendes Beispiel aus der Schweiz ist das umfassende Werk „Journal Littéraire de Lausanne: Ouvrage Périodique“, das in Lausanne zwischen 1794 und 1798 monatlich erschien und unzählige Werkauszüge, Rezensionen und kleinere literarische Texte aus dem deutschen, englischen, französischen und italienischen Sprachraum den französisch sprechenden Schweizern und Schweizerinnen zugänglich machte. Auch hier ist im Werk selbst heute zwar keine Herausgeberin auffindbar, sowohl Sylvie Le Moël wie auch das Historische Lexikon der Schweiz schreiben die Herausgeberschaft aber Marie–Elisabeth de Polier zu, die in eine ganze Reihe von Übersetzerinnen einzuordnen ist, die rege am Lausanner Salonleben teilnahmen. 24 Ebenso übernahmen Frauen aus verschiedenen Sprachräumen nicht nur übersetzerische Tätigkeiten, ihre Schriften wurden auch im Ausland wahrgenommen bzw. wiederum ihrerseits übersetzt, wie Alessa Johns in Bezug auf Anna Luisa Karsch, Sophie von La Roche, Benedikte Naubert oder Johanna Schopenhauer kürzlich dargelegt hat. 25 Marianne Ehrmann etablierte in ihrem Journal „Die Einsiedlerin aus den Alpen“ dabei geradezu einen auf Frauenfiguren aufbauenden Wissenskreis: Zum einen erläutert sie ihre Titelwahl insofern, als sie darauf verweist, die Bekanntschaft einer weisen Einsiedlerin gemacht zu haben 26, deren Rat sie für ihre Zeitschrift einhole, zum anderen publizierte sie Fremdbeiträge der Leserinnen. Dass hier zudem vermutlich Aspekte des vormodernen „Arbeitspaars“ 27 eine Rolle spielten, zeigt sich da-

24 Sylvie Le Moël, Zwischen Belletristik und Buchmarkt. Die Übersetzungstätigkeit von Isabelle de Montlieu (1751–1832), in: Wehinger/Brown (Hrsg.), Übersetzungskultur (wie Anm.20), 121–140, hier 128. S. auch: Toni Cetta, Art.Polier, Marie-Elisabeth, in: Historisches Lexikon der Schweiz. http://www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D41614.php (3.4.2019). 25 Alessa Johns, German Women’s Writing in British Magazines, 1760–1820, in: Batchelor/Powell (Eds.), Women’s Periodicals (wie Anm. 18), 190–204. 26 Marianne Ehrmann, Die Einsiedlerinn aus den Alpen. Erstes Bändchen. Zürich 1793, Vorrede 8f. 27 Diesen Begriff hat Heide Wunder geprägt, Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, bes. 264–267.

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rin, dass ihr späterer Ehemann, Theophil Friedrich Ehrmann, als Übersetzer und Herausgeber von Reiseberichten wirkte 28 und 1787 selbst eine „Frauenzimmer-Zeitung“ publizierte. 29 Offensichtlich unterliegen zudem die Frauenzeitschriften sodann im beginnenden 19.Jahrhundert einer weiteren fortschreitenden Differenzierung. Es bilden sich Unterkategorien aus: Journale, die sich speziell den Fragen der Erziehung widmen wie „Die Erzieherin“ 30, die in Zürich ab 1845 publiziert wurde, oder auch beispielsweise auf Mode spezialisierte Journale, die nur noch sehr geringfügige Anteile an anderen Textarten enthalten wie etwa die „Damen-Zeitung“ 31, die in den 1840er Jahren wöchentlich in Zürich erschien und mit Kupfern der neuesten Schnitte, Hutmoden etc. ausgestattet war. Auch innerhalb der Frauenmagazine bildeten sich so Schwerpunkte aus. Die „Frauenzeitung“ von Louise Marezoll, die 1838–1839 erschien und zwar nicht in der Schweiz gedruckt wurde, aber beispielsweise in der Basler Lesegesellschaft zugänglich war 32, legte etwa besonderen Wert auf Musikalisches. An ihrer Zeitschrift waren laut ihrer eigenen Aussage 15 Schriftstellerinnen beteiligt, die auch namentlich genannt werden. 33 Im weitesten Sinne sind zu diesem Umfeld zudem auch Journale zu rechnen, die für die ganze Familie publiziert wurden. Zu nennen sind etwa das „Bürger=Journal oder kleine Familienbibliothek für Schweizer“ 34, dessen Ausgaben in Bern ab 1790 erhältlich waren und alle Belange von aufklärerischen Tugendlehren (auch im Hinblick auf die Frauen) bis zu Vorsichtsmaßnahmen gegen Diebesbanden enthielt, oder auch, 1835 herausgegeben, „Der pädagogische Beobachter“. 35 Ebenso wie Familien- und Bürgerjournale oder Frauenmagazine aus weiblicher Hand finden sich für den schweizerischen Raum aber von Männern verantwortete

28

Neumann, Emanzipation (wie Anm.14), 83ff.

29

Frauenzimmer-Zeitung. Ein historisch-moralisches Unterhaltungsjournal für das schöne Geschlecht.

Kempten 1787. 30

Die Erzieherin. Eine Zeitschrift über weibliche Erziehung […]. 1 (1845)–6 (1850), gedruckt in Zürich.

31

Damen=Zeitung. Eine Auswahl des Neuesten aus der schönen Literatur und Mode. Zürich 1844–1846.

32

Louise Marezoll, Frauenzeitung. Ein Unterhaltungsblatt für und von Frauen.Januar bis Juni. Leipzig,

1838. Diese Magazine tragen in den Exemplaren der Universitätsbibliothek Basel den Stempel der Basler Lesegesellschaft. 33

Marezoll, Frauenzeitung (wie Anm.32).Januar 1838, Nr.1, Aussage laut Vorrede, S. 1.

34

Bürger=Journal oder kleine Familienbibliothek für Schweizer. Bern 1790–1792.

35

Der pädagogische Beobachter für Eltern, Lehrer und Schulvorsteher. Zürich 1835–1840 (erschien wö-

chentlich).

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Journale, die sich explizit an Frauen richteten. Frauenmagazine aus männlicher Feder erschienen auch andernorts. Joachim Kirchner etwa erwähnt das in Leipzig publizierte „Journal für deutsche Frauen“ von Christoph Wieland, Johann Friedrich Rochlitz und Johann Gottfried Seume oder die in Berlin erschienene Monatsschrift „Irene“ von Gerhard Anton von Halem. In Süddeutschland erschienen 1792–1793 die „Unterhaltungen in Abendstunden, Vaterlands Töchtern geweiht“, in Halle das „Museum für das weibliche Geschlecht“, in Tübingen die Quartalsschrift „Flora, Teutschlands Töchtern geweiht von Freunden und Freundinnen des schönen Geschlechts“, die 1793–1803 bestand, usw. 36 Eines der langlebigsten Magazine ist dabei wohl das „Magazin für Frauenzimmer“ von David Christoph Seybold, das seit 1782 erschien. Nimmt man die geschlechtergeschichtliche Wende ernst, so sind diese von Männern geschriebenen Frauenzeitschriften für die Fragen der Polarisierung mindestens ebenso relevant wie diejenigen aus weiblicher Hand. Auch sie bilden einen großen Teil des Diskurses über die den Frauen zugeschriebenen Rollen ab und fungieren als den Kontext – sowohl für Leserinnen wie Schreiberinnen dieser Zeit. Untersucht wurden diese Quellen bisher kaum.

II. Praktiken der Polarisierung? Im Folgenden werden drei Zeitschriftenbeispiele – „Die Discourse der Mahlern“ von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger (frühes 18.Jahrhundert), die „Monatschrift für Helveziens Töchter“ von Leonard Meister (spätes 18.Jahrhundert) und das Frauenmagazin „Penelope“ von E. Looser (Mitte 19.Jahrhundert) auf die Frage hin untersucht, inwiefern sich Praktiken der Polarisierung hier zeigen. 1. Die „Mahlerinnen“ diskutieren In Zürich, das im 18.Jahrhundert zu einem Sammelpunkt literarischen Lebens wurde, gaben die weithin bekannten Aufklärer Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) eine der ersten moralischen Wochenschriften der Schweiz heraus. Unter dem Titel „Die Discourse der Mahlern“ publi36 Joachim Kirchner, Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme. (Teil I: Von den Anfängen bis zum Zeitalter der Romantik.) Wiesbaden 1958, 265ff.

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zierten sie 1721 bis 1723 Abhandlungen zu verschiedensten Themen des sittlichen Lebens sowie der Kunst und Literatur. Als Verfasser der Aufsätze zeichneten am Ende der Abhandlungen jeweils berühmte Künstler, die „Mahler“, wobei Namen wie Holbein, Dürer oder Rubens genutzt wurden. Diese „Mahler“ also, fiktive Künstlerfiguren, besprachen hier Themen der Moral, der Literatur und des Alltags. Bodmer und Breitinger gelang es, Zürich, das „Limmat-Athen“ 37, zu einem Knotenpunkt des literarischen Europa zu machen – verbunden wohl mit dem im 18.Jahrhundert aufblühenden Philhelvetismus, in dessen Gefolge die Schweiz zu dem Reiseland des 18. Jahrhunderts schlechthin avancierte. In Bodmers Haus gingen die Literaten ein und aus: Friedrich Gottlieb Klopstock, Christoph Martin Wieland, Ewald von Kleist, Johann Wolfgang von Goethe oder Wilhelm Heinse. 38 Dabei waren für Bodmer und Breitinger aber nicht nur die anderen deutschsprachigen Literaturen von Interesse, sondern ebenso die in Frankreich und England erschienenen Publikationen. Die 1721 bis 1723 publizierten „Discourse der Mahlern“ etwa folgten explizit einem englischen Vorbild, nämlich dem von Joseph Addison in England herausgegebenen „Spectator“. Wie im englischen „Zuschauer“, der in der Vorrede direkt als Vorbild genannt wird, erscheint hier bei den „Discoursen der Mahlern“ eine fiktive Frauenredaktion, betitelt mit „die Mahlerinnen“. Diese fiktiven „Mahlerinnen“ ergreifen in den zwischen 1721 und 1723 publizierten Heften immer wieder das Wort und vertreten in Ansprachen an die „Herren Männer“ Argumente, die den Texten der Querelles des Femmes ähneln. Sie prangern beispielsweise Vorurteile gegen Frauen an, wenn sie im IV. Discours klagen: „Ihr habet euch seit langer Zeit eines gewissen Rechtes über unser Geschlecht angemasset. […] Die Natur selbst habe dem weiblichen Geschlecht einen niedrigern Rang gegeben, und euch um einen Grad über selbiges erhoben; Ihr habet diesem ungerechten Wahn einen Schein und eine Farbe zu geben, allerley Schwachheiten dem Frauenvolck als eigen zugemessen, welche doch allein der einen und der andern particular sind, und welchen die Manns=Personen nicht weniger unterworfen sind. […] da ihr unser Geschlecht lange Zeit mehr

37

Anett Lütteken/Barbara Mahlmann-Bauer, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Johann Jakob Bodmer und Jo-

hann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, 11–24. 38

Michael Böhler, Art.Johann Jakob Bodmer, in: Historisches Lexikon der Schweiz: http://www.hls-dhs-

dss.ch/textes/d/D11575.php (3.4.2019); Michael Böhler, Art.Johann Jakob Breitinger, in: Historisches Lexikon der Schweiz: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11613.php (3.4.2019).

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nach eurer abgeschmackten Fantasie, als nach der Natur abgeschildert, oder vielmehr defigurirt habet.“ 39

Man habe also Vorurteile gegenüber dem weiblichen Geschlecht geschürt. Nun habe sich die „Societät“ der Mahlerinnen gegründet, um gegen diese Vorurteile zu kämpfen. Die Ansprache endet mit einem radikalen Bild der Umkehrung, wenn es am Schluss heißt: „Ihr habet Weiber gemahlet, welche von Männern zu Boden geworfen worden: Wir wollen Männer abbilden, welche von Weibern hingelegt worden. Indessen sind wir der Zurückkunfft euers Verstandes erwartend, der uns Recht wiederfahren und entmüßigen wird.“ 40

Tatsächlich erfolgt auch sofort die Zustimmung eines „Mahlers“ mit Namen Holbein, der in einer Nachschrift bemerkt: „Ich glaube an meinem Ort […] so wenig, daß das Vorurtheil der Männern von der kahlen Schwatzhafftigkeit der Weibs=Personen Fundament habe, daß ich im Gegentheil das weibliche Geschlecht für fähiger erkenne, die wahre Eloquentz zu studiren, als das männliche. […] was mich verbindet, im Ernste vorzuschlagen, was Herr Reichhard Steele nur Scherz=Weise eingerathen hat, daß die Universitäten dem Frauenzimmer den Catheder der Eloquentz einräumen.“ 41

Argumente für die Fähigkeit zur Eloquenz sind dabei eine „kultiviertere“ Imagination, das empfindsame Gemüt und die stärkeren Passionen der Frauen. So kommen zwar durchaus auch geschlechterdifferente Zuschreibungen im Kommentar des „Mahlers“ zum Tragen, die aber nicht zum Ausschluss aus der „Eloquentz“ (und dem Schreiben) führen, sondern im Gegenteil positiv gewertet werden (wobei sich der Autor mit dem Bezug auf Richard Steele erneut auf den englischen „Spectator“ bezieht). In einem anderen „Diskurs“, im vierten Teil, werden das Bücherlesen und die Gelehrsamkeit diskutiert: Hier geht es darum, dass mancherorts von Männern erklärt werde, dass verheiratete Frauen sich des Lesens enthalten sollten. Auch hier werden die Männer direkt angesprochen: „Ihr Herren Mahler! Euer Geschlecht ist bißher sorgfältig gewesen, uns die Mittel zu entziehen, durch welche wir eine Erfahrenheit der menschlichen

39 J.J. Bodmer/J.J. Breitinger, Die Discourse der Mahlern. Dritter Teil, IV. Discours. Zürich 1722, 30f. 40 Ebd.31. 41 Ebd.31f.

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Sachen bekommen könnten. Die Mode ist eingeführt, daß man auf den Akademien nur in der Lateinischen Sprache lieset; die meisten Bücher sind in eben derselben geschrieben; und man hat unsern Eltern die Maxime beygebracht, die Wissenschaften seyen den Leuten unsers Geschlechts schädlich, sie machen uns ruhmräthig und lächerlich, sie halten uns ab von den nöthigen Geschäfften; denn wir seyen allein gebohren, daß wir unsern künfftigen Männern Geld zehlen, wäschen, flicken, bey ihnen schlaffen, und daß wir von der Gestalt einer Juppe urtheilen. Einiche verfahren so unbillich, daß sie uns in offentlichen Schrifften untüchtig zum Heyrathen erklären, wenn wir durch Lesung guter Bücher suchen verständig zu werden.“ 42

Insbesondere der Ausschluss der Frauen aus dem wissenschaftlichen Diskurs wird so kritisiert – was mit dem fehlenden Lateinunterricht zusammenhänge. Allerdings wird hier Gelehrsamkeit auch nicht nur positiv konnotiert, denn diese wird auch mit Pedanterie und „unnützem Wissen“ verbunden, wenn es heißt: „Wir geben zwar zu, daß ein Gelehrter, wie diß Wort heut zu Tag gebraucht wird, und ein Pedant nahe miteinander verwandt seyen. Aber unser Absehen ist nicht, daß wir aus den Büchern eine weitläufftige Wissenschafft unnützlicher Sachen sammeln; wir wollen daraus angenehme Freundinnen, kluge Ehe=Weiber, und gute Müttern werden. Wir geben ferner zu bedencken, daß ein pedantisches Frauenzimmer zwar lächerlich genug ist, aber doch nicht lächerlicher als ein pedantischer Mann.“ 43

Reine Gelehrsamkeit, „unnützes“ Wissen ist also für beide Geschlechter nicht positiv konnotiert. Dagegen wird aber generell beharrt auf den Fähigkeiten der Frauen, die gleichen Tätigkeiten auszuüben wie die Männer: „[W]ir werden gezwungen unser Leben mit sclavischen Bemühungen zu verzehren, weil die Männer uns alle Gelegenheit abschneiden, einem Menschen anständigere Geschäffte zu übernehmen.“ 44 Und der kommentierende „Mahler Dürer“, der im Anhang eine entsprechende Leseliste, eine „Bibliothek der Damen“, publiziert (die sowohl Romane als auch Schriften von Locke oder antike Autoren umfasst), bestätigt: „Wir haben bereits in etlichen Discoursen zu verstehen gegeben, daß wir das schönere Geschlecht

42

Die Mahler. Oder Discourse Von den Sitten Der Menschen. Der vierdte und letzte Theil. Zürich (Bod-

merische Druckerey) 1723, XV. Discours, 101f.

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43

Ebd 102.

44

Ebd.

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so tüchtig befinden, als immer Männer sind, die wichtigsten Geschäffte zu führen.“ 45 Das Gleichheitspostulat scheint also hier handlungsleitend zu sein. Dieses von kämpferischen Frauenstimmen durchzogene Werk wird in überarbeiteter Form allerdings 1746 unter dem Titel „Der Mahler der Sitten“ erneut in zwei Bänden publiziert. Hier ist nun Folgendes auffällig: Die „Mahlerinnen“ als Gruppe von Sprecherinnen sucht man nun vergeblich. In manchen Aufsätzen werden die ehemaligen Inhalte als Streitgespräch zwischen verschiedenen Einzelfiguren abgehandelt. So wird zum Beispiel nicht allgemein beschrieben, dass man den Frauen die Wissenschaften vorenthalte, sondern es wird nur noch von einer bestimmten Frau namens Orilla berichtet, die sich hierüber beklagt habe. 46 Formulierungen wie die Frauen seien gezwungen, ihr Leben mit „sclavischen Bemühungen zu verzehren“, fallen nicht mehr. Der „Gelehrte“ wird zwar auch noch mit dem Pendant verglichen und Orilla betont ebenso, es sei nicht ihre Meinung „daß wir triefende Augen, blasse Wangen, […] mürrisches Wesen und Kalmäulerey erstudieren wollen“ 47, sondern es gehe um „geistreiche und angenehme Freundinnen, Bräute und Ehefrauen“ 48. Was aber darauf folgt, ist dann keine Erklärung mehr über die grundlegende Fähigkeit der Frauen zu allen wichtigen Geschäften, sondern die Verzichtserklärung auf öffentliche Geschäfte, wenn Orilla ausführt: „Sie (die Männer, A.d.V.) fürchten vielleicht, wenn wir es in der Wissenschaft der menschlichen Händel auf einen gewissen Grad gebracht hätten; so würden wir Ansprache auf offentliche und obrigkeitliche Aemter und Bedienungen machen, wir würden fordern, daß die Männer uns an den Geschäften, die den Staat und die Gerichte betreffen, Antheil geben, und uns zu ihnen in die Raths= und Gerichts=Säle aufnehmen sollten. Wenn sie diese Furcht hegen, so wollen wir ihnen alle Sicherheit geben, so sie verlangen können, daß wir uns dieser Vorrechte der Regierung auf ewig begeben. Wir sind damit vergnügt, daß wir über die Hertzen herrschen, unser Ehrgeitz erstrecket sich nicht weitern.“ 49

Hier wird also postuliert, dass die Frauen keine Ansprüche auf eine Mitwirkung

45 Ebd.102f. 46 Der Mahler der Sitten. Von neuem übersehen und starck vermehret […]. Zürich 1746, Band II, 76. Stück, 271ff. 47 Ebd.272f. 48 Ebd.273f. 49 Ebd.

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in politischen Ämtern oder in der Geschäftswelt erheben. Und dies wird jetzt mit mangelnden Fähigkeiten erklärt: „Wir wissen, daß es uns an der Kunst mangelt, uns zu verstellen, daß wir zu aufrichtig, zu offenherzig, und ausser Stande sind, unsere Gedanken lange zu verbergen. Wir sind zu empfindlich, als daß wir uns bey allem, was mit absonderlichem Nuzen des Herren, der uns in seinen Geschäften verschickete, keine genaue Verbindung hat, gleichgültig aufführen könnten.“ 50

Folglich muss auch in der nun ebenso angehängten Literaturliste nichts beachtet werden, was das politische und öffentliche Leben betrifft, wobei der Verfasser nun den Terminus des Geschlechtscharakters aufruft: „Nachdem die Ansprache des Frauenzimmers auf die Wissenschaft sich nicht über das Maaß und den Charakter ihres Geschlechtes erstrecket, welcher in seinem Grunde, und nach der Uebung aller Nationen eine gewisse Eingezogenheit und Einsamkeit erfordert, die sie von der Besorgung öffentlicher Aemter und Geschäfte entfernet, so habe ich ihnen etliche Hundert solcher Bücher ersparen können, welche die Staats= und Regierungs=Wissenschaft […] den Mannspersonen nöthig machet.“ 51

Geht hier Bodmer mit der Zeit? Hat sich der Diskurs hier schon gewandelt? Wann genau taucht der Begriff des „Geschlechtscharakters“ erstmalig auf? Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Text von 1746 die Aussagen in abgeschwächter Form wiedergibt und die Frage der Fähigkeit mit in den Blick kommt. Der Anspruch auf gleiche Teilhabe in der öffentlichen und beruflichen Sphäre wird nicht mehr postuliert. 2. Soll man über die Aufklärung seufzen? Leonard Meister und seine „Monatschrift für Helveziens Töchter“ Da sich in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts die Genres der Zeitschriften aufspalten, kann aus der Spätzeit des 18.Jahrhunderts ein explizit für Frauen geschriebenes Beispiel betrachtet werden. In Zürich erschien im Jahr 1793 die „Monatschrift für Helveziens Töchter“ von Leonard Meister, ein Beispiel eines für „Helvetierinnen“ publizierten Journals. Das Magazin erschien alle vier Wochen bei Johann Kaspar Näf in Zürich und stellt eines der Werke des seinerzeit bekannten Polyhistors Leonard Meister dar. Leonard Meister (1741–1811), zunächst als Haus-

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50

Ebd.274.

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Ebd.278.

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lehrer, dann als Professor für Geographie und Geschichte tätig, ein in der Helvetik aktiver Staatsmann und späterer Pfarrer, war in aufklärerischen Kreisen eine weithin bekannte Persönlichkeit. Seine Briefwechsel und Kontakte in der Schweiz und nach Deutschland zeugen hiervon. 52 Er verfasste nicht nur vielfältige Journale, sondern auch Sittenlehren, Reisebeschreibungen, Abhandlungen zur helvetischen Geschichte und literarische Texte. Seine „Monatschrift für Helveziens Töchter“ stellt somit ein Werk unter vielen dar. Bereits im Vorwort kündigte er auch an, dass es sich um einen Versuch handle und er dieses Magazin nur weiterführen wolle, solange sich „eine hinreichende Zahl Pränumeranten“, also Abonnenten, finde. 53 Dies war offensichtlich über das Jahr 1793 hinaus nicht der Fall, weshalb die Zeitschrift dann wieder eingestellt wurde. Was war das Ziel dieser Zeitschrift? Die explizite Absicht Meisters war es, dem „lesesüchtigen“ weiblichen Publikum einen „guten“ Lesestoff zu bieten, wie er in der Vorrede erläutert: „Umsonst, daß wir über die weibliche Lesesucht schreien, lieber denken wir auf bessere Richtung derselben!“ 54 Dabei wird sofort auch der männliche Part bedacht, denn: „Gleich wenig unterhaltend ist die Tischgenoßin oder Lebensgefährtinn, wenn sie gar nichts liest, und wenn sie nichts liest als eitle Romane.“ 55 Die Lektüre dient also der Bildung der Gattin, um dem Ehemann ein adäquates Gegenüber zu schaffen, eine Vorstellung, die zunächst durchaus in eine geschlechterpolarisierte Rollenaufteilung zu passen scheint. Auch soll über das Lesen die Hausarbeit keineswegs vernachlässigt werden, wie es in einer Abhandlung über „Aufklärung“ an anderer Stelle heißt: „Behüte, behüte, daß mein Blatt die holde Tochter auch nur ein Stündgen von den häuslichen Geschäften abziehen sollte.“ Doch fährt er mit einer Suggestivfrage im gleichen Satz fort: „[A]ber füllen denn diese vom Morgen bis zum Abend jeden Augenblick aus?“ 56 Beachtenswert ist dabei, dass der Wert der familiären Gemeinschaft und des gemeinschaftlichen Lesens betont werden, denn auch der Hausvater soll möglichst in der häuslichen Geselligkeit sein Glück finden:

52 Leonard Meister findet sich auch in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Breitinger, Art.Meister, Leonard, in: Allgemeine Deutsche Biographie 21, 1885, 261–263. 53 Leonard Meister, Monatschrift für Helveziens Töchter. Erstes Stück, Maimonat 1793, vorgeschaltete Vorrede, 4. 54 Ebd.3. 55 Ebd. 56 Ebd.38f.

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„Aus Mangel an Unterhaltung schleichen wir aus dem Schooß der Familie, von der Seite der Gattin und Tochter, und gleichwohl könnten wir nirgends glücklicher leben, als in dem häuslichen Schooße. Wozu unaufhörlich auswärts Besuche, Geschäfte und Spiele?“ 57

Vielmehr soll gemeinsam gelesen werden: „Den wolfeilsten sowol als den besten Zeitvertreib verschaft uns Lektüre, vorzüglich gemeinschaftliche Lektüre […] Beytrag dazu soll die Monatschrift liefern.“ 58 Was bietet Meister nun für dieses von ihm geforderte, gemeinschaftliche, familiäre Lesen an? Seine Zeitschrift besteht aus einer Mischung von Literarischem, Sachinformationen und Reflexionen über Tugenden. Abhandlungen zur Reinlichkeit, die als bürgerliche Grundtugend behandelt wird, finden sich ebenso wie Geschichten zu „weiblichem Heroismus“ oder zu bekannten weiblichen Persönlichkeiten. Neben Ausführungen über die „Seelenlehre“ oder zur „Aufklärung“ stehen Überlegungen zum Kartenspiel; kleine Geschichten und Gedichte wechseln sich ab mit Ortsbeschreibungen und Beschreibungen von Naturschauspielen wie etwa einem Sonnenaufgang auf einer Anhöhe bei Zürich. Sachinformationen erläutern etwa das Schusterhandwerk genauso wie grammatikalische Probleme und Fragen des „guten Tons“. Die Flüsse, Seen und Gebirge der Schweiz werden beschrieben oder die Einteilung der Kantone wird erläutert ebenso wie Wissenswertes über die Gletscher und geographische beziehungsweise geologische Fragen. Alle diese Themen sind Meisters Einschätzung nach offensichtlich auch für Frauen relevant. Als Aufklärer vertritt er dabei einen Aufklärungsbegriff, der indes an einer ständischen Gesellschaft nicht rüttelt (wie viele andere auch, etwa schon Moses Mendelssohn, in seiner Antwort auf die berühmte Frage „Was ist Aufklärung“) 59. In einem Aufsatz „Soll man über die Aufklärung seufzen, oder ihrer sich freuen?“ begrüßt er diese mit dem Verweis auf die durch die Naturwissenschaften neu möglich gewordenen Errungenschaften in Schifffahrt und Handel, die Luxus und Wohlstand gebracht hätten. Die ständische Hierarchie aber bleibt erhalten: „Ich dächte, wir theilten jedem das gehörige Licht zu. Jedem aber für seinen Platz, sein Geschäft; jedem unter höherer Aufsicht. Wo man es so hält, da be-

57

Ebd.3.

58

Ebd.3f.

59

Moses Mendelssohn, Über die Frage: was heißt aufklären? In: Ehrhard Bahr (Hrsg.), Was ist Aufklärung?

Thesen und Definitionen. Stuttgart 1974, 3ff.

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merke ich nicht, daß sich darum der Bediente oder die Magd aus der Küche hinzudrängen, um zwischen den Herren und Damen, die so ängstlich gegen Aufklärung schreien, Platz bey der Tafel zunemen.“ 60

Aufklärung als „geistige Anstrengung“ im Sinne der Gelehrsamkeit des Gelehrtenstandes scheint sich dabei wiederum für Frauen nicht zu eignen, wenn er erläutert: „[I]ch schrecke sonderheitlich das schöne Geschlecht ab. Eben sein zärterer Bau, seine feinere Empfindlichkeit, reizbarere und Imaginazion sind es, welche ihm jedes ernsthaftere anhaltende Nachdenken zur Last machen.“ 61 Gelehrsamkeit erscheint als körperliche Anstrengung. Inwieweit hier eventuell auch der frühneuzeitliche Diskurs über die schadhafte und krankmachende Tätigkeit der Gelehrten und die Gebrechen des Gelehrtenstandes mitschwingen (und wie er in den „Discoursen“ auch anklingt) 62, muss offen bleiben. Die Bildung der Gattin dagegen ist erstrebenswert, da diese ihr wiederum Liebe und Achtung der männlichen Mitglieder der Familie einbringt: „O vor allem strebt sie nach der Achtung und Liebe des Vaters, des Freundes, des Gatten. Und wie gewinnt sie die Liebe von diesen? Gewiß nicht weder als Zierpuppe noch als Tänzerin oder Tonkünstlerin, gewiß weit eher als geistreiche Gesellschafterin, als weise Lebensgefährtin.“ 63

In diesem Sinne ist auch für die Frau „Aufklärung“ zentral – allerdings als Aufklärung am ihr zugewiesenen Platz: „Es ist ihr nicht genug, daß sie überhaupt sich aufklärt; sie klärt sich über ihre eigenen Verhältnisse auf, über ihre häusliche Lage, über ihre eigenen sowol, als über die Tugenden und Fehler der Hausgenossen, über die Erhöhung von jenen und die Verringerung von diesen.“ 64

Die Aufklärung wird hier als familiäres und auf die Familie bezogenes Anliegen gedacht – eine Aufklärung der Familie als Gesamtes. In einem inszenierten Streitgespräch über die „häusliche Ordnung“ wird allerdings die Aufgabenteilung zwischen den Eheleuten klar zum Ausdruck gebracht, wenn es heißt: „Die eine Hälfte besorgt

60 „Ueber Aufklärung“, in: Meister, Monatschrift (wie Anm.53). Erstes Stück, 26. 61 „Ausbildung und Aufklärung“, in: Meister, Monatschrift (wie Anm.53), 36 (in der vorliegenden zusammengebundenen Ausgabe liegen keine Angaben zu Stück bzw. Heft vor). 62 Vielfach diskutiert wurden Tissots Ausführungen zu Krankheiten der Gelehrten: Samuel Auguste Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, Leipzig, 1769. 63 „Ueber Aufklärung“, in: Meister, Monatschrift (wie Anm.53), keine Heftangabe, 37. 64 „Ueber Aufklärung“, in: ebd.39.

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das Innere des Hauses, die andere Hälfte die äussern Angelegenheiten.“ 65 Und der guten Gattin werden folgende Worte in den Mund gelegt: „Du thust mir Unrecht, sprach sie, wenn du glaubst, daß ich meinen Beruf für eine Bürde ansehe. So wie es in der Natur liegt, daß die Mutter nicht ihre Kinder verwahrlose, eben so natürlich ist es, daß sie auch das Hauswesen nicht vernachläßige.“ 66

Hier taucht der Begriff der „natürlichen“ Bestimmung als Hausmutter also durchaus auf. Der zentrale Terminus ist aber dennoch weniger das wohlbestellte Hauswesen, als vielmehr Tugend und Bildung im Haus. Alle „Putzsucht“ im Sinne des Kleiderschmucks und der Dekoration etwa lehnt Meister ab, ebenso wie eine Übertreibung der Reinlichkeit. Zwar sei Reinlichkeit ein Teil der Tugendhaftigkeit, deshalb solle man aber nicht die Mädchen „wie eine Puppe im Schrank verschliessen“. 67 Tugendvolle Reinlichkeit steht aber mit einer tugendhaften Seele in Verbindung, da hier von einer Spiegelung und einem Gleichklang von Innerem und Äußerem ausgegangen wird: „Wenn überhaupt unser Aeusseres mit unserm Innern in dem genauesten Verhältnisse steht, so steht in solchem Verhältnisse wol auch die äussere Reinlichkeit mit der innern Reinheit der Seele.“ 68 Wahre Schönheit sei innere Schönheit: „Wie viel hingegen gewinnt nicht ein schönes Gesicht, wie viel verliert nicht selbst ein häßliches von seiner Häßlichkeit, wenn unter demselben eine schöne Seele hervorblickt?“ 69 Dies betrifft dabei beide Geschlechter, denn auch für das männliche Pendant gilt: „Sein rechtschaffenes Herz ist sein Adel; seine Kenntnisse sind sein Reichthum; seine Talente sein Ordensstern.“ 70 Neben der Tugendhaftigkeit geht es dabei immer wieder um Bildung als höchsten Wert und als Weg zur Tugendhaftigkeit bzw. zur „schönen Seele“. Alles andere ist nachgeordnet, wenn Meister der Leserin rät: „[V]ielleicht bemerkst du, daß die Anstrengung des Geistes der Schönheit weit weniger nachtheilig ist als Langweil und Ueberdruß […] Dagegen wende ich

65

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„Häusliche Ordnung“ in: ebd.107.

66

„Häusliche Ordnung“ in: ebd.109.

67

„Reinlichkeit“, in: ebd.113.

68

„Reinlichkeit“, in: ebd.115.

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„Beförderungsmittel der Schönheit“, in: ebd.132.

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„Der Mann von Welt“, in: ebd.141.

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nichts ein, daß du für den Kopfpuz besorgt bist, nur setz darüber den Kopf selbst nicht aus dem Auge.“ 71

Zwar rät er den Frauen also nicht zu „Gelehrsamkeit“ im Sinne des Betreibens von Philsosophie und Wissenschaft, wohl aber zur Entwicklung von eigener Urteilsfähigkeit, wie es dem aufklärerischen Gebot entspricht, wenn er schreibt: „[G]ewöhne Dich an Selbstunterhaltung; gewöhne dich nicht blos ans Lesen, sondern ans Denken!“ 72 Analysiert man den Gesamtkorpus, so lässt sich zwar nicht behaupten, dass Geschlechterstereotype in Meisters Frauenzeitschrift überhaupt keine Rolle spielen, es lässt sich aber feststellen, dass die aufklärerische Tugend- und Bildungsgebote und die gemeinsame familiäre Auseinandersetzung mit den verschiedensten Wissensgebieten bestimmend sind. Vergleicht man dies nun etwa mit Sophie von La Roches Vorstellungen, wie sie in ihrer Zeitschrift „Pomona“ formuliert werden, so fällt auf, dass die Äußerungen weitgehend übereinstimmen. Auch La Roche betont immer wieder, dass bei allem Bücherstudium und dem steten Bemühen um Bildung die häuslichen Pflichten nicht zu vernachlässigen seien. 73 Im fiktiven Briefwechsel mit „Lina“ schreibt sie beispielsweise in einer Antwort auf den Brief einer Leserin: „Hier muss ich den lieben Leserinnen von Pomona wiederholen, daß ich meine Lina nicht gelehrt haben will.“ 74 Nichtsdestotrotz ergießt sich eine Tirade von Bildungsvorschlägen und Buchempfehlungen auf ihre Leserinnen. Auch wenn sie den Gelehrtenstand für Frauen also nicht propagierte, so weiß sie den „Werth der Kenntnisse des Verstandes“, wie sie schreibt 75, zweifelsohne zu schätzen, keineswegs erscheint dieser als im weiblichen Geschlecht nicht vorhanden. Vielmehr resultiert der zu behebende weibliche Bildungsmangel aus der fehlenden Übung und den verschiedensten Umständen, wie etwa dem fehlenden Zugang zu Bibliotheken oder der Aufgabenfülle im Haushalt. Sind hier also „die bürgerlichen Frauen“ eine vom „bürgerlichen Mann“ abgrenzbare Gruppe? Gerade in der Aufklärung des 18.Jahrhunderts agieren die aufgeklär-

71 „Ausbildung und Aufklärung“, in: ebd.38. 72 „Ausbildung und Aufklärung“, in: ebd.37. 73 Sophie von La Roche, Pomona, beispielsweise in Heft 3; März 1783. 74 Sophie von La Roche, Pomona, 1783, Heft 1, 25. 75 Madame L.R., „Mein Glüke“, in: Magazin für Frauenzimmer 1, 1792, 96f.

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ten Frauen und Männer innerhalb der aufklärerisch-bürgerlichen Geselligkeit im Kommunikationsprozess vielfach gemeinsam mit ihren männlichen Gesprächspartnern, worauf schon Ulrike Weckel und Claudia Opitz hingewiesen haben. 76 Ist möglicherweise die Annahme einer unüberwindbaren Geschlechterdifferenz im 18.Jahrhundert schon eine aus der späteren Geschlechterpolarisierung rückprojizierte Prämisse und hier die Geschlechtertrennung möglicherweise noch weniger vollzogen als im 19.Jahrhundert?

III. Penelope und Penelope Ein drittes Beispiel, das den Wandel im Sinne einer zunehmenden Festschreibung und Umschreibung von Geschlechtszuschreibungen nahelegt, sind zwei Magazine mit dem gleichlautenden Titel „Penelope“ zu Beginn des 19.Jahrhunderts und in der Mitte des 19.Jahrhunderts. Ab 1811 bis 1848 erschien in Leipzig ein auch in der Schweiz bekannter jährlicher Taschenkalender mit dem Titel „Penelope – Taschenbuch der Häuslichkeit und Eintracht gewidmet“. Zwar handelte es sich nicht um ein monatlich erscheinendes Periodikum, sondern um ein jährlich erscheinendes, der Charakter des Taschenkalenders verliert sich aber ab Mitte der 1820er Jahre. In den ersten Bändchen finden sich noch Spalten zur Notation monatlicher Einnahmen und Ausgaben, später bestehen die Inhalte nur noch aus Gedichten, biographischen Skizzen, Sagen, Legenden und Reisebeschreibungen. Pragmatisches findet sich wenig, abgesehen von einigen Stick-, Strick- und Häkelmustern, die den Bänden angehängt sind. Als Herausgeber wird in den Bibliothekskatalogen Theodor Hell genannt (ein Pseudonym für Karl Gottfried Theodor Winkler), ein Literat, Theaterintendant, Archivsekretär und Übersetzer. 77 Die abgedruckten, weitgehend literarischen Werke stammen von männlichen wie weiblichen Verfasserinnen. Vielfach enthielt die Reihe auch Kupferstiche berühmter weiblicher Personen. Äußerlich war sie ansprechend in teilweise pastellfarbene Umschläge gebunden. 1846 erschien in der Schweiz wiederum eine zweite Zeitschrift dieses Namens,

76

Claudia Opitz/Ulrike Weckel, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Ordnung, Politik und Geselligkeit der Ge-

schlechter im 18.Jahrhundert. Göttingen 1998, 7–21. 77

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Joseph Kürschner, Art.Hell, Theodor, in: Allgemeine Deutsche Biographie 11 (1880), S. 693–694.

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herausgegeben von E. Looser in Langenthal in der Druckerei Gyr. Looser war vermutlich ein Vorsteher einer Erziehungsanstalt in Fürstenau in Graubünden. Weiter ist über ihn nichts bekannt. Das Heft erschien monatlich und war für sechs Schweizerfranken laut eigener Aussage in allen Postämtern und Buchhandlungen der Schweiz erhältlich. 78 Inwieweit der Herausgeber dieser „Penelope. Zeitschrift zur Belehrung und Unterhaltung für das weibliche Geschlecht“ mit der vorangegangenen Namensvetterin bekannt war, muss bis dato offen bleiben. Den Vergleich rechtfertigt also zunächst nur der beiderseitige Bezug zur Penelope-Figur, dem Abbild der treuen Ehefrau: Denn Penelope, Ehefrau des Odysseus, wehrt während seiner langen Irrfahren die Freier ab, indem sie vorgibt, am Totentuch für den Schwiegervater zu weben, wobei sie nachts den tagsüber gewebten Teil wieder auftrennt. So ist also bei beiden Publikationen der Bezug zur berühmten Figur der liebenden Ehefrau vorhanden – die Inhalte der Publikationen unterscheiden sich aber grundsätzlich in dem, was den Ehefrauen, dem Zielpublikum angeraten und dargeboten wird. Während die erste Penelope-Reihe dem Praktischen und Fragen der Erziehung offensichtlich wenig Platz einräumte – bis auf die Möglichkeit, Ein- und Ausgaben zu notieren, oder die seltenen Handarbeitsmuster – und insbesondere Literarisches aus männlicher und weiblicher Feder präsentierte, sprechen die Inhalte dieser zweiten Penelope-Reihe gegen Mitte des 19.Jahrhunderts eine vollkommen andere Sprache. Zwar gibt es auch hier noch Unterhaltendes – Sagen, Rätsel, Erzählungen etc. –, der vorwiegende Teil der Artikel aber handelt von der Erziehung und den praktischen Anforderungen der Haushaltsführung. Es finden sich Artikel etwa über Mittel gegen Fliegen, Artikel über Kinderkrankheiten, über die Mästung des Geflügels, über das schmackhafte Kochen bis hin zu passender Kleidung oder auch zur Einrichtung des schmuckvollen Fenstergartens, das heißt der Einrichtung mit Zimmerpflanzen. 79 Ihr Anliegen ist explizit die Erziehung der Frauen zur dreifachen, „naturgegebenen“ Bestimmung als Hausfrau, Gattin und Mutter. Diese „natürliche“ Bestimmung der Frauen wird schon in der Einleitung beschworen:

78 Siehe erstes Heft: E. Looser (Hrsg.), Penelope. Zeitschrift zur Belehrung und Unterhaltung für das weibliche Geschlecht. Langenthal. 1. Lieferung, Juli 1846, 5. 79 Diese Zusammenstellung bezieht sich auf die Artikeltitel der Jahrgänge 1846 und 1847. Die Hefte selbst enthalten keine Inhaltsübersichten, eine Inhaltsübersicht ist auffindbar in der digitalen Ausgabe bei der schweizerischen Zeitschriftendatenbank e-periodica (www.e-periodica.ch; Stand 9.11.2019).

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„Das Weib ist vom Schöpfer nicht bloß dazu bestimmt, die Kinder, diese Hülfe bedürfenden Wesen in die schirmenden Arme der Liebe aufzunehmen, sie zu pflegen, ihre ersten Schritte zu leiten, ihnen Schutz und Beistand und späterhin Lehrerin und Vorbild zu sein, sondern auch dazu, den Jüngling und Mann durch Liebe zu beglücken und einen erheiternden, bildenden, veredelnden Einfluß auf das männliche Geschlecht auszuüben – das ewige Feuer der Humanität im Heiligthum eines zarten, reinen Herzens zu bewahren.“ 80

Haus und Familie werden so dem feindlichen und gefahrvollen öffentlichen Leben entgegengesetzt, denn die Frau soll „im Innern des Hauses den stillen Gottesdienst der Unschuld und Tugend verwalten, damit der Mensch nicht in der Eiszone des bürgerlichen Lebens erstarre und die äußern Stürme nicht auch das innere feste Glück des Lebens umstürzen. Die Frauen sollen Honig in den bittern Kelch des Schicksals träufeln, das Unebene und Schneidende des Lebens ebenen und glätten, das feindliche Streben des Mannes auf das Gute und Rechte hinlenken.“ 81

Durch Erziehung und Anleitung will der Herausgeber dazu beitragen, dass die Frauen die Anlagen, die „die Natur in ihre Seele gelegt hat“ 82, entwickeln. Die Natur wird dabei mehrfach genannt: „Die Natur hat dem Weibe nicht nur die angedeutete Würde verliehen und die bezeichnete hohe Bestimmung angewiesen, sondern es auch, dieser Bestimmung gemäß mit eigenthümlichen Anlagen und Kräften ausgestattet.“ 83 Folgerichtig sind die Inhalte der Zeitschrift folgendermaßen umrissen: „Das Weib im Allgemeinen, seine Würde, seine Bestimmung, seine Rechte und Pflichten. […] Das Kind und was zu seiner naturgemäßen Erziehung und Bildung bis zu seinem Eintritt ins jungfräuliche Alter im Allgemeinen nöthig ist und was im Besondern nach Verschiedenheit des weiblichen Wesens. […] Die Jungfrau, ihre Selbstentwicklung und das Einwirken der Eltern […]. Die Gattin, Mutter und Hausfrau […], alle Gegenstände des weiblichen Berufslebens.“ 84

Das polare Geschlechtermodell wird hier als naturgegeben vorausgesetzt. Argumentativ wird in der Folge insbesondere auf eine Überhöhung der Mutter und Erzieherin als Heilsbringerin im Familienleben gesetzt:

142

80

Looser, Penelope (wie Anm.78), Juli 1846, 1.

81

Ebd.

82

Ebd.

83

Ebd.2.

84

Ebd.3.

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„Die Erziehung des Menschengeschlechts, diese Himmelsaufgabe der Frauenwelt, ist das Erste, was Penelope’s Aufmerksamkeit auf sich zieht. […] Schon in der Wiege wird der edle Saame erstickt oder entwickelt, je nachdem der Sonnenstrahl der Mutterliebe erwärmend und erquickend darauf fällt oder der kalte Frost der Herzlosigkeit den schwachen Erdenwurm im ersten Aufkeimen vernichtet.“ 85

Das Weibliche wird so imaginiert als das Warme, das Helle, die rettende Zuflucht oder gar als das Belebende und mit dem Himmel, dem Göttlichen verbunden. Denn die Natur habe dies in ihre Seele gelegt, „jenen unsichtbaren Zauber, welcher Todtes belebt und Dürres befruchtet.“ 86 Klar setzt der Herausgeber sich dabei von jeglichen politischen Frauenbewegungen ab: „Penelope will nicht mit stolzen Phrasen die ‚Emancipation’ der Frauen oder das ‚Recht der Weiber’ proklamiren.“ 87 Überschreitungen der Geschlechtergrenzen sind nicht erstrebenswert: So wolle man die Frau nicht zum Ratsherrn oder zum Scharfschützen erziehen, die Zeitschrift Penelope liebe die „Mannsweiber“ ebensowenig wie die „weibischen Männer“. Dagegen werden aber ständische Differenzkategorien abgelehnt, denn: „Penelope als R e p u b l i k a n e r i n, kennt keinen Unterschied der Stände. Zwar ist sie nicht so thöricht, die Zufälligkeiten des Schicksals in Reichthum und Armuth, Herrschaft und Dienstbarkeit mit einigen Federstrichen wegzaubern zu wollen, aber sie liebt es sehr, wenn die vornehme Dame die menschliche Würde selbst im armen Kindermädchen ehrt und nährt.“ 88

Während sich also der Abstand zwischen Frauen und Männern vergrößert, verkleinert sich der Abstand zwischen den Frauen aus verschiedenen Ständen, sie werden zur „Gruppe“. Die gottgewollte, natürliche Ordnung qua Geburt in einer adligen, bürgerlichen, bäuerlichen Familie weicht der gottgegebenen, natürlichen Geschlechterordnung. Dies kann nun ohne Weiteres auch mit „männlichem“ (und „weiblichem“) Patriotismus verbunden werden: „Wer von der Geliebten wie Stauffacher von seiner Gemahlin, zur Rettung der Freiheit begeistert wird, wem ein theures Weib selbst die Waffen in die Hand drückt, um gegen die Tyranney zu kämpfen […] wer sollte dann noch zögern,

85 Ebd. 86 Ebd.1f. 87 Ebd.3. 88 Ebd.4.

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begeistert auszuziehen zum Sieg oder Tod für Gott und Vaterland, für Weib und Kind, Geliebte und Freunde?“ 89

Politik und Krieg werden dabei ausschließlich dem Maskulinen zugeordnet. Auch der Journalismus wird dem Männlichen zugeschrieben, wenn es auch Ausnahmen gäbe und zu manchen Fragen der Familie ja der weibliche Erfahrungsschatz beitragen könne. 90 Die Zuordnung weiterer Tätigkeiten lässt sich unschwer an den Artikelthemen ablesen: Sie umfassen Handarbeiten, den Umgang mit Haushaltsgegenständen, Küchenfragen oder die Kleintierhaltung. Ärztliche Ratschläge bemängeln allerdings nun dabei gelegentlich die Beschäftigung der Mädchen mit Handarbeiten und befürworten körperliche Ertüchtigung im Sinne eine Volksgesundheit, wie etwa das Turnen und Schwimmen. Übermäßiges Lesen aber sei abzulehnen, denn: „Selbst die vorsichtigste Wahl der Bücher vorausgesetzt, so ist doch Niemand im Stande zu ermessen, was alles in dieser Zeit den sich erschließenden Geist des Mädchens aufzuregen, seine Phantasie zu erhitzen und so die Entwickelung durch Entziehung der nöthigen Ruhe zu hemmen im Stande ist.“ 91

In dieser Argumentation macht Lesen regelrecht krank. 92 Auch die politische Terminologie hält Einzug – das Haus wird zum Herrschaftsraum der Frau: „Die Frau im Hause kann man mit recht als die Sonne betrachten, von der die belebenden Strahlen, von der Licht und Wärme ausgehen. Sie steht im Mittelpunkte des Hauswesens, sie bestimmt die Zeit, den Tag und die Nacht, die innere Oekonomie, die Thätigkeit dieser Schöpfung im Kleinen. […] Ist der Mann der Herr und König im weitern Bereiche, so ist die Frau Herrscherin im engern Bereiche.“ 93

Die Wortwahl mutet heute dabei wunderlich an, wenn es sogar heißt: „Die Herrschaft der Hausfrau ist ursprünglich patriarchalisch und mit dem Ansehen und der Wirksamkeit der Mutter gleichbedeutend.“ 94 Männliche und weibliche „Herr-

89

Ebd.

90

Ebd.5.

91

„Einige Worte über Mädchenerziehung, vom ärztlichen Standpunkte aus“, in: Looser, Penelope (wie

Anm.78). 6. Lieferung, Dezember 1846, 151.

144

92

Mädchenerziehung, Looser, Penelope (wie Anm.78). 6. Lieferung 1846, 150.

93

L., „Die Frau im Hause“, in: Looser, Penelope (wie Anm.78). 7. Lieferung, Januar 1847, 173.

94

Ebd.174.

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schaftsbereiche“ werden dabei getrennt. Der ungeordnete Haushalt wiederum, der schlecht geführte Haushalt, in dem ungezogene Kinder, schlecht geführte Dienstboten usw. anzutreffen sind, werden zum Schreckbild. Denn der ungeordnete Haushalt gleiche der Verfassungslosigkeit und der Tyrannei. 95 Die Aufgabe der Hausfrau liegt für den Verfasser dabei allein im Wohlbefinden der Umgebung: „Menschen, welche sich auf den Werth solcher Hausfrauen verstehen, werden übrigens ihre freudige Anerkennung auf andere Weise, als durch Lobeserhebungen, auszudrücken wissen. Und wollt Ihr wissen wie? Durch den Genuß alles Dargebotenen; durch die Freude, es anzunehmen, durch das Eingehen in die Harmonie des Ganzen, durch die rege Theilnahme an der Unterhaltung, durch alle jene Zeichen, wodurch wir zu erkennen geben, daß es uns wohl sei und wir uns einem beglückenden Gefühle gänzlich überlassen.“ 96

Insofern lässt sich die Mädchenerziehung auf eine Maxime reduzieren: „Alle Vorschriften und Lehren, welche eine Mutter ihrem Kinde mit auf den Weg gibt, müssen dem Einen Gesetze sich unterordnen: ‚Werde Deinem Gatten ein wohlthuender Engel; Deine innere Harmonie ströme auf Deine Umgebungen aus‘.“ 97

IV. Fazit Die hier analysierten Quellen lassen kein abschließendes Urteil über einen geradlinig verlaufenden Prozess der Polarisierung der Geschlechtscharaktere zu. Aber sie legen nahe, dass es sich möglicherweise um einen Prozess handelt, der sich im 19. Jahrhundert aufgrund eines Wertewandels beschleunigt. Zwar finden sich auch im 18.Jahrhundert Veränderungen wie etwa die Abschwächung der weiblichen Stimmen in den Texten Bodmers. Dennoch bleibt in der – wenn auch vielstimmigen – Aufklärung bis zum Ende des 18.Jahrhunderts insbesondere die Bildung des und der Einzelnen als angestrebter, hoher Wert bestehen. Dieses aufklärerische Bildungspostulat ist weitgehend geschlechterübergreifend konzipiert – Leonard Meisters

95 Ebd.179. 96 Ebd.178f. 97 Ebd.179.

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„Monatschrift für Helveziens Töchter“ unterscheidet sich hierin nur unwesentlich von den von Frauen publizierten Journalen am Ende des 18.Jahrhunderts. Es soll also nicht abgestritten werden, dass Geschlechterdifferenzen auch im 18. Jahrhundert existierten, es ist aber fraglich, ob nicht gerade hier aufgrund der Etablierung neuer Medien und neuer Publikationsformen in der entstehenden Zeitschriftenkultur Dynamiken und offene Formate entstanden, die es Frauen sogar in besonderer Weise ermöglichten mitzuarbeiten. Manche konnten vielleicht gerade hier das Wort ergreifen, weil die Zeitschriften weniger den Gelehrtenstand anvisierten, sondern sich an ein breiteres Bildungspublikum richteten. Wissen konnte und sollte hier in volkssprachlicher Form diesem Bildungspublikum zugänglich gemacht werden. Die Wissensvermittlung der Zeitschriften war dabei zunächst ein weitgehend auf die aufklärerisch-intellektuellen Kreise zugeschnittenes Medium und passte sich damit ein in eine Gesellschaftsform, die in ihren Strukturen noch weitgehend ständisch strukturiert war. Sie war das Medium der gebildeten Stände schlechthin. Somit war aber die Zugehörigkeit zu den aufklärerisch-bürgerlichen Bildungsschichten des späten 18.Jahrhunderts möglicherweise ein wesentlich stärkerer Differenz generierender Faktor als Geschlecht. Diese ständische Differenzierung der Gesellschaft verliert jedoch im 19.Jahrhundert zunehmend ihre Gültigkeit und wird, so lässt sich vermuten, von der an die „Natur“ gekoppelten Geschlechterdifferenz überlagert. Denn die zielgebenden Werte wandeln sich: In der 1846 erscheinenden „Penelope“ gelten nicht mehr Aufklärung oder Bildung und Selbstvervollkommnung des Einzelnen (und damit auch der gebildeten Frauen) als von allen Menschen anzustrebende höchste Errungenschaft. „Aufklärung“ taucht als Terminus schlicht nicht mehr auf. Vielmehr tritt nun das „Staatswesen“ in den Vordergrund, die Erziehung des gesunden Nachwuchses für den Staatskörper. Diese fußt auf der geschlechterpolar organisierten Familie. Gleichzeitig wird dabei Mutterschaft überhöht und quasi sakralisiert, indem die von der Mutter geführte Sphäre der Familie mit Begrifflichkeiten des Heiligen verbunden wird. Aber nicht nur der religiöse Kontext wird evoziert, sondern auch der weltliche, indem die Familie als von der Frau geleitete, kleinste Zelle des Staatswesens erscheint. Ihr Herrschaftsbereich wird vom Herrschaftsbereich des männlichen Staatsbürgers geschieden. Zementiert wird die Differenz über die ‚Natur’ der Frau, ihre Aufgabe ist dabei unhintergehbar und unverrückbar. Anders gesagt: Frauen wie Sophie von La Roche am Ende des 18.Jahrhunderts

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(und viele andere, die namentlich kaum bekannt sind) hatten möglicherweise gerade in den damals „neuen Medien“ Möglichkeiten innerhalb der aufklärerisch-geselligen Kommunikation am intellektuellen Leben ihrer Zeit teilzunehmen. La Roche wusste sich vermutlich im Rahmen der aufklärerisch-gebildeten Schicht innerhalb einer Bewegung und innerhalb eines sozialen Zusammenhangs, der sich Idealen verschrieben hatte, die Frauen wie Männern der gebildeten Schicht weitgehend gleichartige Ziele, Bildungsziele, vermittelte. Ihre Verankerung in den aufklärerischen Freundschaftsnetzen, ihre vielfältigen Kontakte zu männlichen Aufklärern (von denen Wieland zweifelsohne ihr wichtigster Partner war) veranschaulichen dies zur Genüge. Vielschreiber wie Leonard Meister lassen sich einem ähnlichen Diskurs zuordnen. In Zeitschriften wie der ab 1846 erscheinenden „Penelope“ dagegen bestimmt eine nicht mehr dem Verstand zuneigende ‚Natur’ die Frauen, die nun als weitgehend vom intellektuellen Leben ausgeschlossene Gruppe erscheinen. Es geht nicht mehr um eine gebildete Konversation und eine gemeinsame aufklärerische Geselligkeit der Geschlechter, sondern um getrennte Herrschaftsbereiche. Was vorher in Bewegung war, erstarrt durch den Verweis auf eine „Naturgegebenheit“. Die Journalistinnen der frühen Frauenbewegung in der Mitte des 19.Jahrhunderts – Publizistinnen wie Mathilde Franziska Anneke, Louise Aston, Louise Dittmar oder Louise Otto 98 – mussten den Kampf um Bildung wohl in ganz anderer Weise erneut journalistisch aufnehmen als jene, die noch in den Sozialstrukturen des späten 18.Jahrhunderts schrieben.

98 Ulla Wischermann, Frauenpublizistik und Journalismus. Vom Vormärz bis zur Revolution von 1848. Weinheim 1998.

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Produktive Polarisierung Medizinisches Geschlechterwissen als Dynamisierungsfaktor in der Frauenbildungsfrage des späten 19.Jahrhunderts von Andreas Neumann

In den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens sei der deutschen Frauenbewegung kaum mit „biologischen Gründen“ begegnet worden – so Agnes von Zahn-Harnack in ihrer 1928 veröffentlichten Geschichte der Frauenbewegung. Erst mit einer 1872 erschienen Schrift des Münchner Anatomen Theodor von Bischoff sei eine solche „Beweisführung“ aufgetaucht, die sich fortan bei Gegnern der Frauenbewegung „in feinerer oder gröberer Form“ finden lasse. 1 Tatsächlich handelt es sich bei Bischoffs Essay um den Archetyp der auf biologistischer Grundlage gegen die bürgerliche Frauenbewegung gerichteten Pamphletliteratur. 2 Er betrachtete die Schädel- und Hirnbildung als charakteristisch für die geistigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, doch das ist nicht einmal typisch für dieses Genre. Typisch ist vielmehr die biologistische Unterfütterung bereits alltagsweltlich popularisierter Vorstellungen über die geistige, körperliche und moralische Essenz der Geschlechter, welche sich durch den sozialen Wandel und die darauf reagierende Frauenbewegung als zunehmend brüchig erwies. Wie Zahn-Harnack weiter ausführt, muss diese Form der Gegnerschaft als eine Wellenbewegung betrachtet werden, die „jahrelang in einer gewissen Ebene bleibt“, „sich dazwischen zu einer gewaltigen Brandung“ erhebt, „um dann wieder für einige Zeit abzuebben“. 3 Die „Brandung“ ereignete sich immer dann, wenn die Frauenbewegung mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit trat. Der Perspektive dieses Beiheftes entsprechend wird Wissenspopularisierung als ein Resultat von Bedürfnissen begriffen, die zeitgenössisch einfache Antworten auf komplexe gesellschaftliche Situationen ermöglichte. 4 Dementsprechend lautet die

1 Agnes Zahn-Harnack, Die Frauenbewegung. Geschichte, Probleme, Ziele. Berlin 1928, 152. 2 Theodor L.W. Bischoff, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen. München 1872. 3 Zahn-Harnack, Die Frauenbewegung (wie Anm.1), 152. 4 Vgl. die Einleitung des Beiheftes von Muriel González Athenas und Falko Schnicke.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-006

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These des vorliegenden Beitrages wie folgt: Die Popularisierung eines biologistisch unterfütterten Geschlechterwissens wurzelte in einer Krise des Alltagswissens über die vermeintliche Normalität der Geschlechterordnung. Der beschleunigte gesellschaftliche Strukturwandel, der Deutschland von einem ländlich geprägten Agrarstaat zu einem urbanisierten Industriestaat werden ließ, löste diese Krise aus: Im Zuge dieses sozialen Wandels dynamisierten sich die Geschlechterbeziehungen; es veränderten sich sowohl Familienbeziehungen als auch Lebensentwürfe von Männern und Frauen. Das in diesem Beitrag thematisierte medizinische Spezialwissen sollte die Krise eindämmen und der sozialen Kontrolle über die überkommene Stellung der Geschlechter neue Legitimität verleihen. Dieses Wissen wirkte sowohl nach „innen“, um den Professionalisierungsprozess des Arztberufes mit seinen berufsständischen Abgrenzungsbedürfnissen gegen die neue „Konkurrenz“ durch Frauen abzusichern 5; es wirkte jedoch auch nach „außen“, um das Bedürfnis nach einer neuen gesellschaftlichen Stellung bürgerlicher Frauen als „naturwidrig“ zurückzuweisen. Im Folgenden dient das Attribut „orthodox“ dazu, die Anhänger eines rigiden Geschlechtermodells unter den Medizinern in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zu bezeichnen. 6 Bereits Fritz K. Ringer nutzte dieses Adjektiv zur Klassifizierung einer Gruppe von geisteswissenschaftlichen Hochschullehren, die inneruniversitären Veränderungsprozessen mit einer kulturpessimistischen Abwehrhaltung begegneten. Gleichwohl ist Ringers Klassifizierung in „Orthodoxe“ und „Moderne“ zu simplifizierend, um die komplexe Gemengelage in der Frauenbildungsfrage zu erfassen. Denn während orthodoxe Mediziner eine fundamentaloppositionelle Haltung gegenüber jedweder Veränderung der Geschlechterverhältnisse einnahmen, gab es neben radikal-modernen bzw. fortschrittlichen Akteuren durchaus auch konservative Mediziner, die im Gegensatz zu ihren reaktionär-orthodoxen Kollegen zu graduellen Reformen bereit waren. Im Falle der Forderung nach „weiblichen Ärzten“ 7 lassen sich neben der bereits

5 Zur Professionalisierung des Arztberufes vgl. Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19.Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.68.) Göttingen 1985, 17f. 6 Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933. Stuttgart 1983, 121. 7 Es war üblich, von „weiblichen Ärzten“ anstelle von Ärztinnen zu sprechen: Die Verbindung aus geschlechtsspezifischem Adjektiv und männlicher Berufsbezeichnung findet sich sowohl in frühen deutsch-

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erwähnten Abwehrschrift Bischoffs weitere durch orthodoxe Mediziner ausgelöste „Brandungszeiten“ im Sinne Zahn-Harnacks ausmachen, wobei die Wellenfrequenz mit der Wahrscheinlichkeit eines Erfolges dieser Forderungen stetig zunahm: Mit der ersten von Bischoff ausgelösten Welle vergleichbar sind vier Publikationsereignisse aus den Jahren 1889, 1895, 1898 und 1899; bei den Autoren handelt es sich erstens um den Berliner Anatomen Wilhelm Waldeyer (1836–1921), Mitglied der Leopoldina sowie der preußischen Akademie der Wissenschaften; zweitens um den Wiener Chirurgen Eduard Albert (1841–1900), seines Zeichens Hofrat, Ritterkreuzträger und Herausgeber einflussreicher Fachzeitschriften; drittens den Pharmakologen Franz Penzoldt (1849–1927), Direktor des pharmakologisch-poliklinischen Instituts sowie späterer Ehrenbürger der Stadt Erlangen; viertens um den Gynäkologen Max Runge (1849–1909), Medizinalrat und Mitglied der Leopoldina. 8 In allen fünf aufgeführten Fällen waren es einflussreiche Professoren auf der Position eines Ordinarius, die mit ihrer strikt ablehnenden Haltung in Sachen akademischer Frauenbildung ein breites Medienecho auslösten und damit den Fragekreis der „Frauenfrage“ um den einer „Ärztinnenfrage“ erweiterten. In der medizin- bzw. geschlechtergeschichtlichen Forschung sind diese Interventionen bereits bekannt – insbesondere die Schrift Bischoffs lässt sich als eine Basisquelle bezeichnen. 9 Bislang sind der innere Zusammenhang sowie die Folgen dieser sprachigen Schriften zum Thema als auch während des Höhepunktes der Auseinandersetzung in den 1890er Jahren. Vgl. u.a. Emil Weilshäuser, Weibliche Ärzte für Frauen, Mädchen und Kinder. Ein Wort zur Beherzigung für alle wahren Freunde des socialen Fortschritts. (Gesundheit, Wohlstand und Glück: eine Familien-Bibliothek für Stadt und Land, Bd.5.) Berlin 1868; Sidonie Binder, Weibliche Ärzte. Eine Studie. Stuttgart 1892. 8 Wilhelm Waldeyer, Das Studium der Medicin und die Frauen, in: Tageblatt der 61. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln, vom 18. bis 23.September, 1888: wissenschaftlicher Teil. Köln 1889, 31–44; Eduard Albert, Die Frauen und das Studium der Medicin. Wien 1895; Franz Penzoldt, Das Medizinstudium der Frauen. Referat auf dem XXVI. Deutschen Aerztetag zu Wiesbaden. Leipzig 1898; Max Runge, Männliche und weibliche Frauenheilkunde. Festrede im Namen der Georg-August-Universität zur akademischen Vertheilung am V.Juni 1899. Göttingen 1899. Ein Zusammenhang zwischen den Standpunkten dieser vier Professoren war bereits von Bäumer festgestellt worden: Vgl. Gertrud Bäumer, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, in: Helene Lange/Gertrud Bäumer (Hrsg.), Handbuch der Frauenbewegung. Teil 1: Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern. Berlin 1901, 1–166, hier 99. 9 Vgl. u.a. Dorothea Götze, Der publizistische Kampf um die höhere Frauenbildung in Deutschland von den Anfängen bis zur Zulassung der Frau zum Hochschulstudium. Diss. phil. München 1957, 230; James C. Albisetti, The Fight for Female Physician in Imperial Germany, in: CEH 15, 1982, 99–123, hier 103f.; Thomas Neville Bonner, To the Ends of the Earth. Women’s Search for Education in Medicine. Cambridge, Mass. 1992, 105–111; Edith Glaser, „Sind Frauen studierfähig?“ Vorurteile gegen das Frauenstudium, in: Elke Klei-

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Schriften jedoch kaum betrachten worden: Denn obwohl mit der Intention einer Zurückweisung von Frauen vom medizinischen Studium und Beruf verfasst, mobilisierten diese „Wellenbewegungen“ der orthodoxen Mediziner gerade die Reihen der Befürworter. Es handelte sich deshalb um eine produktive Polarisierung in der Auseinandersetzung, weil jede Schrift zur Sicherung etablierter Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Lebensmodellen eine Vielzahl gegensätzlicher Stimmen aktivierte; anstelle einer Stabilisation und einer damit einhergehenden Eindämmung der Legitimationskrise des alltagsweltlichen Geschlechterwissens geschah eine dynamisierte Transformation, welche die Krise weiter verschärfte und schließlich zu einem graduell veränderten Geschlechterwissen führte. Das Verhalten der Medizinprofessoren war eine Reaktion auf die vielfältigen Veränderungserfahrungen in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Die sich mit den Veränderungsprozessen stellende „soziale Frage“ wirkte sich für Frauen aufgrund niedrigerer Löhne und begrenzter Erwerbsarbeitsfelder gravierender aus als für arbeitende Männer, deren Einkommens- und Arbeitsverhältnisse sich bis zum Ende des 19.Jahrhunderts langsam verbesserten. 10 Für bürgerliche Frauen der „gebildeten Klassen“ besaß wiederum die „soziale Frage“ ganz andere Bedeutung als für die „arbeitenden Klassen“, zu denen die Mehrheit der Bevölkerung zählte und die weder über akademische Bildung noch über genug ökonomische Selbstständigkeit verfügte, um am System der Bürgerlichkeit kulturell und sozial zu partizipieren. 11 Denn

nau/Claudia Opitz (Hrsg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Bd. 2. Frankfurt am Main 1996, 299–309, hier 300–303; Karin Schmersahl, Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19.Jahrhunderts. Opladen 1998, 305; Ute Planert Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.124.) Göttingen 1998, 79; Sabine Mahncke, Frauen machen Geschichte. Der Kampf von Frauen um die Zulassung zum Studium der Medizin im Deutschen Reich 1870–1910. Hamburg 1998, 70ff.; Patricia M. Mazón, Gender and the Modern Research University. The Admission of Women to German Higher Education, 1865–1914. Stanford 2003, 89–95; Heinz-Jürgen Voß, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld 2010, 175ff. 10

Vgl. Hartmut Kaelble, Industrialisierung und soziale Ungleichheit: Europa im 19.Jahrhundert. Eine Bi-

lanz. Göttingen 1983, 220f. 11

Zur analytischen Bestimmung von „Bürgertum“ sowohl als einem spezifischen Kulturmuster als

auch einer sozialen Lebensform vgl. Manfred Hettling, Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs. (Bürgertum; Bd.18.) Göttingen 2000, 319–339, hier 322f. Zu den damals weit verbreiteten Bezeichnungen „gebildete“ bzw. „arbeitende Klassen“ vgl. exemplarisch Heinrich Herkner, Das Frauenstudium der Nationalökonomie, in: Archiv für soziale Gesetzgebung 13, 1899, 217–254, hier 229, 237.

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bürgerliche Frauen verlangten nach „standesgemäßen“ Erwerbsmöglichkeiten, die nicht zuletzt die unverheirateten „höheren Töchter“ des bürgerlichen Hauses vor den „Abgründen“ proletarischer Frauenarbeit schützen sollte – galt doch die arbeitende Frau in niederer Anstellung als bereits mit einem Bein in der Prostitution stehend. 12 Das Verlangen nach ökonomischer Selbstständigkeit auf einem standesgemäßen Niveau befand sich ebenso wie die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für Frauen aus den „arbeitenden Klassen“ von Beginn an auf der Agenda organisierter Frauenrechtlerinnen. Anders als diese betrachteten die Gegner der Frauenbewegung die Forderungen nach Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten für Frauen bereits als ein Symptom der sozialen Frage, weshalb von ihr keine Lösung, sondern lediglich eine Verschärfung der Problemlage zu erwarten sei. 13 Mit ihrer einseitigen Betonung der wirtschaftlichen Problemlage negierten die Gegner zugleich die eng mit der Forderung nach ökonomischer Selbstständigkeit verbundenen Forderung nach politischer Mündigkeit, welche sich als logische Konsequenz der bürgerlichen Zielutopie einer zunehmend auf Leistung und Besitz begründeten Gesellschaftsordnung ergab. 14 Explizit forderten die Frauen der Frauenbewegung soziale Rechte, implizit war es im Licht eines solchen bürgerlichen Selbstverständnisses immer auch ein politischer Befreiungskampf. 15 Denn wenn Frauen am Erwerbsleben teilnehmen und dabei die gleichen Steuern zahlen wie Männer, gäbe es

12 Vgl. Karin Walser, Prostitutionsverdacht und Geschlechterforschung. Das Beispiel der Dienstmädchen um 1900, in: GG 11, 1985, 99–111, hier 101. 13 Dieser Topos eines in die Proletarisierung führenden Teufelskreises durch weibliche Erwerbsarbeit fand weite Verbreitung: „Wird durch weibliche Aerzte die Existenz nicht weniger männlicher bedeutend verschlechtert oder gar vernichtet, so werden abermals Weiber, und zwar solche aus dem Kreise männlicher Aerzte, in die traurige Lage versetzt, sich einem männlichen Berufe zu wenden zu müssen. Durch die Weiber, die den ärztlichen Beruf ergriffen, werden noch mehr Weiber zu gleichem gedrängt, der Circulus vitiosus wird daher immer größer.“ Ludwig Kleinwächter, Zur Frage des Studiums der Medizin des Weibes. Berlin 1896, 32. 14 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Die Zielutopie der „Bürgerlichen Gesellschaft“ und die „Zivilgesellschaft“ heute, in: Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd.18.) Göttingen 2000, 85–92, hier 87f. 15 Zum Zusammenhang zwischen zivilen, sozialen und politischen Rechten vgl. Thomas Humphrey Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. (Theorie und Gesellschaft, Bd. 22.) Frankfurt am Main 1992, 40f., 52–65. Marshall orientiert sich am männlichen Staatsbürger; eine Analyse der Situation von Frauen fehlt hingegen.

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keinen Grund ihnen politische Rechte vorzuenthalten. 16 Dabei handelte es sich um die klassische Gedankenfigur bürgerlicher Freiheitsideale: no taxation without representation. Die orthodoxen Mediziner mobilisierten das ganze Arsenal des Geschlechterwissens, um den Status quo eines bereits populären Weiblichkeitsideals aufrechtzuerhalten, das den Platz bürgerlicher Frauen in der häuslichen Wirkungssphäre verortete 17: „Die Frau“ musste ein „Naturwesen“ bleiben, um dem von wirtschaftlicher Not geplagten, männlichen „Culturwesen“ einen unbefleckten Rückzugsraum am heimischen Herd zu sichern 18; sie war das Bollwerk gegen die blinde und kritiklose „Anbetung des Erfolgs“ 19; denn dieser wirtschaftliche Erfolg drohe die bislang auf rein historischer und damit brüchiger Grundlage für Normen und Werte zu untergraben 20; die „Sucht nach Höheren“ treibe die Gesellschaftsklassen an und führe auch bei den Frauen dazu, ihre gesellschaftliche Stellung zu vergessen 21; das Aufbegehren gegen die „natürliche Ordnung“ treibe Europa geradewegs zu einer „inneren Amerikanisierung“, als dessen Zeichen die verweiblichende Zivilisationskrankheit der Nervosität galt. 22 Eine Änderung traditioneller Geschlechterrollen musste als ein Experiment „am lebenden Körper“ erscheinen. 23 Gegen das Gefühl einer Gefährdung des trotz aller Gesellschaftsprobleme erreichten Fortschrittes setzten die Mediziner die in ihren Augen rein rationale Naturwissenschaft: Hier suchten sie die neue Grundlage, die zwischen einem pathologischen und gesunden Fortschreiten der Menschheit entschied. Mit Waldeyers Worten ausgedrückt: „Jede Frage darf man heutzutage getrost behaupten, hat auch ihre streng naturwissenschaftliche Seite und kann ohne gewissenhafte Beachtung der Letzteren nicht gelöst werden.“ 24

16

Vgl. Hedwig Henrich-Wilhelmi, Das Recht der Frauen zum Studium und ihre Befähigung für alle Berufs-

Arten. München 1892, 31. 17

Vgl. Karin Hausen, Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay, in: Theresa Wobbe (Hrsg.),

Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17.Jahrhundert bis zur Gegenwart. (Forschungsberichte, Bd.12.) Bielefeld 2003, 83–108, hier 95.

154

18

Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 8.

19

Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 2.

20

Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 31.

21

Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 8.

22

Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 20; vgl. dazu Schmersahl, Medizin und Geschlecht (wie Anm.9), 265.

23

Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 12.

24

Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 31.

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Anhand dieser gesellschaftlichen Pathologiediagnose lässt sich bereits erahnen, dass es sich beim Geschlechterwissen der fünf genannten Professoren nicht allein um medizinisches Spezialwissen handelte. Vielmehr ist, wie bereits oben in der These formuliert, von einem Wechselwirkungsprozess zwischen bereits populärem, alltagsweltlichen Geschlechterwissen und medizinischem Spezialwissen auszugehen. Im weiteren Verlauf des Beitrages wird zunächst nach den konkreten Anlässen gefragt, welche die Beiträge der Medizinprofessoren motivierten. Nach dieser Kontextualisierung lassen sich die von ihnen angeführten Aussagen über die Geschlechterverhältnisse in den Blick nehmen und auf ihre Bezüge zum Alltags- sowie medizinischen Spezialwissen hin untersuchen. In einem dritten Schritt wird deutlich gemacht, wie fragil und umkämpft dieses Wissen war, denn die Kritik an den Aussagen der Mediziner sorgte für eine graduelle Transformation vermeintlich ewiger Gewissheiten, an deren Ende schließlich zwischen 1900 und 1909 der Einzug von Frauen in die Sphäre akademischer Bildungs- und Berufstätigkeit im Deutschen Kaiserreich gelang – wenngleich neue Grenzen dafür sorgten, dass der Eintritt in diese Sphäre noch für lange Zeit ein Sonderweg für weibliche „Ausnahmeexistenzen“ bleiben sollte.

I. Interventionsanlässe: Die schleichende Erosion der Geschlechterordnung Bischoffs Wortmeldung aus dem Jahr 1872 lässt sich zunächst nur indirekt auf das Wirken der Frauenbewegung zurückführen: Organisiert fand sich diese in Deutschland erst seit 1865 mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF). Zwar stand im ersten Paragrafen der Vereinsstatuten des ADF das Ziel zu einer Erhöhung der „Bildung des weiblichen Geschlechts“, jedoch glaubten die Akteurinnen nicht, eine Petition zur Öffnung wissenschaftlicher Bildung könne bereits erfolgreich sein 25; sie stellten daraufhin dieses Ziel zurück und widmeten sich der Förderung nicht-akademischer Berufsausbildung, die dringlicher und weitaus erfolgversprechender schien. Um das „Recht auf Arbeit“ durchzusetzen, richtete der ADF 1867 eine Petition an den norddeutschen Reichstag. Der Bundesrat zog darauf25 Louise Otto-Peters, Das erste Vierteljahrhundert des Allgemeinen deutschen Frauenvereins: gegründet am 18.Oktober 1865 in Leipzig. Leipzig 1890, 10.

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hin einen Teil der Petition mit positivem Effekt in Erwägung: Folglich diskriminierte die neu geschaffene norddeutsche Gewerbeordnung von 1869, welche kurze Zeit darauf auch im Deutschen Reich gelten sollte, bei der gewerblichen Freizügigkeit nicht zwischen den Geschlechtern. 26 Selbst der sich ebenfalls gegen die akademischen Bildungsbestrebungen von Frauen aussprechende Historiker und Archivar Heinrich von Sybel bemerkte 1870 anerkennend, dass die volle Gewerbefreiheit für unverheiratete Frauen „das einzige, aber auch äußerst dankenswerthe Verdienst der modernen Agitation“ der Frauenbewegung darstelle. 27 Bischoff fühlte sich durch die neue Gewerbeordnung zum Handwerker herabgewürdigt, denn die Ausübung ärztlicher Tätigkeiten war nun nicht länger staatlich protegiert 28; aus der Logik einer berufsständischen Interessenpolitik war dies ein Skandal, fielen doch die anderen akademischen Berufe, allen voran die mit dem höchsten Sozialprestige ausgestattete Jurisprudenz, nicht unter die freien Gewerbe. 29 Der im § 29 geregelte Schutz des Titels „Arzt“, den nur tragen durfte, wer den Bedingungen zur Erteilung einer Approbation genügte, konnte seinen Zorn kaum schmälern. Dies und die sich überschlagenden Berichte von studierenden Frauen der Medizin im Ausland brachten ihn schließlich dazu, die Stimme zu erheben. Die von den Zeitungen kommentierten wachsenden Studentinnenzahlen sowie die Äußerungen zweier Kollegen aus Zürich und Edinburgh, wonach es in ihren Vorlesungen zu keinen Problemen mit den neuen Studentinnen gekommen sei, boten ihm den konkreten Anlass zur Widerrede. Als „Hauptsitz des Unwesens“ machte er sogleich die Universität Zürich aus. 30 Zahlreiche Tageszeitungen berichteten bereits

26

Vgl. §11 der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, in: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen

Bundes, Bd.1869, Nr.26, 245–282, hier 247; vgl. auch Bäumer, Geschichte der Frauenbewegung (wie Anm. 8), 53f. 27

Heinrich von Sybel, Über die Emancipation der Frauen. Vortrag gehalten zu Bonn am 12.Februar 1870.

Bonn 1870, 18. 28

Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 2, 10, 24.

29

Unter Ärzten war die Gewerbeordnung anfänglich umstritten, denn die Gewerbefreiheit ermöglichte

zwar eine Ausweitung kurpfuschender Konkurrenz, bot ihnen jedoch auch Schutz vor staatlichen Schikanen. Erst am Ende der 1870er Jahre siegte die von Bischoff vertretene Position, welche eine Ausweitung staatlicher Protektion im Sinne einer berufsständischen Interessenpolitik verfolgte. Vgl. Huerkamp, Aufstieg der Ärzte (wie Anm.5), 254–261. 30

Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 24; zum Prozess der Etablierung des Frauenstudiums in Zürich zwi-

schen 1864 und 1867 vgl. Schweizerischer Verband der Akademikerinnen (Hrsg.), Das Frauenstudium an den Schweizer Hochschulen. Zürich 1928, 20f.; die Etablierung aus biografischer Sicht schildern Franziska Rog-

156

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1867 über die erste erfolgreiche Promotion einer Medizinerin an der noch jungen und mit dem liberalen Geist der Exilanten von 1848 beseelten Universität. 31 Dem Weg Nadežda Suslovas zur Promotion folgten bis 1871 drei weitere Frauen – währenddessen befanden sich unter den Studentinnen bereits eine Deutsche und eine Österreicherin. Die Bischoff als Informationsquelle zur Verfügung stehenden bayrischen Gazetten verfolgten dieses Treiben mit regem Interesse. 32 Kurz bevor Bischoff schließlich zur Feder griff, war es die US-Amerikanerin Susan Dimock, welche von der medizinischen Fakultät zur Doktorin der Medizin und Chirurgie promoviert worden war. 33 Der Anlass für Waldeyer in die Fußstapfen seines 1882 verstorbenen Kollegen Bischoff zu treten, war zunächst dem seines Vorgängers recht ähnlich: Wie bereits bei Bischoff beflügelten die Nachrichten aus England, Nordamerika, Russland und nicht zuletzt der Schweiz die Befürchtungen, dass die Zulassung von Frauen auch in Deutschland künftig möglich sein würde. 34 Die deutschsprachige Züricher Universität war zudem eine „Einstiegsuniversität“, in der so mancher deutsche Fachkollege seine Karriere begann und dort in Kontakt mit den unerwünschten Experimenten trat. 35 Waldeyer selbst hatte 1874 in seiner Straßburger Zeit die Studienanfragen von russischen Medizinstudentinnen aus Zürich erlebt 36; diese hatten zuvor aufgrund eines Erlasses des Zaren die Züricher Universität verlassen müssen, weil ihnen allerhand Umtriebe vorgeworfen worden waren. 37 Neben diesen im Ausland geschehenen Ereignissen ging nun der Hauptanlass direkt von den Bestrebungen der Frauenbewegung aus: Nach Bekanntwerden der

ger, Monika Bankowski, Ganz Europa blickt auf uns! Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Baden 2010. 31 Vgl. u.a. Allgemeine Zeitung Augsburg 31.12.1867, 3828. 32 Vgl. u.a. Münchener Bote 06.05.1870, 469; ebd.13.09.1871, 957; Süddeutscher Telegraph 28.05.1870, 6 f.; ebd.29.12.1871, 3. 33 Auch in diesem Fall berichteten die bayrischen Zeitungen. Vgl. u.a. Ingolstädter Tageblatt 14.11.1871, 1059; Bamberger Neueste Nachrichten 10.11.1871, 3. 34 Vgl. Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 35. 35 Vgl. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19.Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.121.) Göttingen 1997, 181f. 36 Vgl. Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 36. 37 Vgl. Petr Lavrovič Lavrov, Die Verläumdung der in Zürich studirenden russischen Frauen durch die russische Regierung. Zürich 1873.

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Krankheit des Kronprinzen Friedrich Wilhelm begann ab Herbst 1887 eine regelrechte Petitionskampagne zur Öffnung höherer Bildungswege für Frauen. Es galt, die ihnen noch verbleibende Chance zu nutzen, hatte doch die Kronprinzessin Victoria sich bereits gemeinsam mit ihrer 1878 verstorbenen Schwester Alice von Hessen-Darmstadt für Frauenbildung engagiert. 38 Im Oktober 1887 reichten Helene Lange gemeinsam mit Minna Cauer, Helene Schrader sowie drei weiteren Berliner Frauen eine Petition beim preußischen Unterrichtsministerium sowie dem Abgeordnetenhaus ein. Ihre Forderung nach einer wissenschaftlichen Ausbildung von Lehrerinnen für Oberklassen in gesonderten Anstalten lässt sich bereits als einen vorsichtigen Schritt in Richtung einer Universitätsöffnung deuten – denn bei Männern ging der Weg einer solchen wissenschaftlichen Ausbildung über die Philosophische Fakultät und endete mit dem Staatsexamen „pro facultate docendi“. 39 Wenige Monate später erschien eine von Mathilde Weber verfasste Broschüre unter dem Titel „Ärztinnen für Frauenkrankheiten. Eine ethische und sanitäre Notwendigkeit“. Weber forderte darin eine Ausbildung von Frauenärztinnen und argumentierte dabei mit ihrem weiblichen Geschlechtscharakter und einem als „natürlich“ bezeichneten „weiblichen Schamgefühl“, das Frauen vom Gang zu einem Arzt abhalte, so dass diese gefährlichen Krankheiten verschleppen würden. Die Schrift erreichte binnen eines Jahres bereits drei Auflagen und griff direkt die ablehnenden Thesen Bischoffs auf, um sie mit den Gegenmeinungen medizinischer Autoritäten zu konfrontieren 40: Am bedeutsamsten dürfte hierbei der Wiener Anatom Carl Bernhard Brühl gewirkt haben, der bereits 1879 mit einer detaillierten 128-seitigen Abhandlung samt anatomischer Abbildungen auf die Hirngewichts-Thesen seines Münchner Kollegen reagiert und dessen Schrift als „moralische Missethat“ bezeichnet hatte. 41 Webers Broschüre erwies sich als derart erfolgreich, dass der ADF diese im Frühjahr 1889 seiner an alle Unterrichtsministerien und Abgeordnetenhäuser 38

Beide traten als Schirmherrinnen sogenannter „Victoria“- bzw. „Alice-Lycéen“ auf, welche es bürger-

lichen Frauen ermöglichten, eine über die üblichen Bildungsinhalte höherer Mädchenschulen hinausgehende Fortbildung zu erhalten – wenngleich ohne dabei verwertbare Bildungspatente auszustellen. Vgl. James C. Albisetti, Mädchen- und Frauenbildung im 19.Jahrhundert. Bad Heilbrunn 2007, 40–43, 171, 180; Mazón, Gender (wie Anm.9), 78. 39

Vgl. Baumgarten, Professoren und Universitäten (wie Anm.35), 14.

40

Vgl. Mathilde Weber, Ärztinnen für Frauenkrankheiten. Eine ethische und sanitäre Notwendigkeit.

Mit einem Anhang: Ein Besuch in Zürich bei den weiblichen Studenten der Medizin. 5.Aufl. Berlin 1893, 21f., 24, 28. 41

158

Carl Bernhard Brühl, Einiges über das Gehirn der Wirbelthiere mit besonderer Berücksichtigung jenes

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der deutschen Einzelstaaten gerichteten Petition zur Zulassung von Frauen „zu dem ärztlichen und dem wissenschaftlichen Lehrberufe durch Freigebung und Beförderung der dahin einschlagenden Studien“ beilegte. 42 Vor diesem Hintergrund ergriff Waldeyer im September 1888 auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln das Wort, um Frauen aufgrund ihrer „natürlichen Organisation“ als für den von ihnen eingeforderten Arztberuf unfähig zu klassifizieren. Zwar erfolgte die Begründung in etwas abgewandelter Form als bei seinem Vorgänger Bischoff – nun war es nicht mehr das Hirngewicht, sondern es wären die Hirnwindungen, die Frauen von Männern unterscheiden würden –, das Resultat war jedoch dasselbe: Auch Waldeyer betrachtete Frauen allenfalls zu medizinischen Hilfsdiensten befähigt. 43 Indes begannen nun auch im benachbarten Österreich die Bestrebungen für eine Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium. Insbesondere der 1893 gegründete Allgemeine Österreichische Frauenverein machte das „Frauenstudium“ zu seinem Thema, nachdem der Verein für erweiterte Frauenbildung bereits seit einigen Jahren für die Etablierung von Mädchengymnasien gestritten hatte. 44 Im gleichen Jahr forderte eine durch die Petitionen der Frauenvereine ausgelöste Resolution im Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrates die Regierung dazu auf, Gutachten der philosophischen und medizinischen Fakultäten zur Frage einer möglichen Zulassung von Frauen zum Studium einzuholen. In der zugehörigen parlamentarischen Debatte im Februar 1893 machte der jungtschechische Abgeordnete Graf Kaunitz unter Beifall darauf aufmerksam, dass insbesondere die medizinischen Fakultäten zu öffnen seien, da die Behörden in Bosnien nach weiblichen Kreisärzten zur Behandlung muslimischer Frauen verlangen würden. Die bislang dort tätige Ärztin Anna Bayer hatte ihre Studien im schweizerischen Bern absolvieren müssen. Zudem bezog sich Kaunitz auf einen ausstehenden Antrag des freisinnigen Abgeordneten und Vizepräsidenten des deutschen Reichstages Karl Baumbach, der eine Zulassung

der Frau. Vortrag, gehalten am 6. und 13.März 1879. Wien 1879, 6; vgl. auch Carl Bernhard Brühl, Frauenhirn, Frauenseele, Frauenrecht, in: Auf der Höhe 2/16, 1883, 31–80. 42 Vorstand des ADF: Petition des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, in: Neue Bahnen 24/9, 1889, 65–66. 43 Vgl. Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 43. 44 Vgl. Harriet Anderson: Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de Siècle Wiens. Wien 1994, 98.

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von Frauen zur ärztlichen Approbation anstrebte – dies zeigt, wie eng die Zulassungsdebatten in Deutschland und Österreich miteinander verwoben waren. 45 In seinem amtlichen Votum für die medizinische Fakultät der Wiener Universität äußerte sich Albert deutlich negativ. Ende Juli 1895 entschloss er sich schließlich mit seiner Meinung zur Ärztinnenfrage an die Öffentlichkeit zu treten und schloss mit den pathetischen Worten „Gott schütze Jeden vor dieser Unheilsarmee!“ 46 Neben dem erwähnten Gutachten, welche durch die „zahllosen Petitionen“ für das Frauenstudium ausgelöst worden waren, veranlassten ihn wie bereits bei Bischoff und Waldeyer die Ereignisse im Ausland dazu, in die Öffentlichkeit zu treten 47: „Durch alle Blätter Europas geht auf einmal die Nachricht, Fräulein X, die Tochter des bekannten Y, sei auf der Universität in Zürich zum Doctor der gesammten Heilkunde promovirt worden“, heißt es erbost bei Albert. 48 Zudem registrierte er die Bemühungen in St. Petersburg zur Eröffnung einer Medizinischen Fakultät für Frauen, welche an die in den 1880er Jahren aus politischen Gründen geschlossene Medizinisch-Chirurgische Akademie anschloss, die seit 1872 Ärztinnen ausgebildet hatte. 49 Albert verwies auf die hohe Rate an Analphabeten unter Männern in Russland und brachte somit einer Hebung weiblicher Bildung sein Unverständnis entgegen. 50 Großbritannien und Irland brachte er als Negativbeispiele in Stellung, denn dort gäbe es Hochschulen für Frauen und dennoch hätten es nur wenige zur Ärztin gebracht – einer Einschätzung, der schon bald in den Kritiken an Albert vehement widersprochen wurde. 51 Zudem stützte er sich auf seine Kollegen Hermann Fehling in Basel sowie Zygmunt Laskowski und Carl Vogt in Genf, die zwar keine orthodoxen Positionen vertraten, im Grunde das „Frauenstudium“ sogar befürworteten, jedoch auch den Schweizer Absolventinnen eine mangelnde Leistungsfähigkeit bzw. Studieninteresse bescheinigten. 52

45

Vgl. Wiener Zeitung 03.02.1893, 2; Die Presse 04.02.1893, 2; Carl Baumbach, Frauen als Ärzte. Rede des

Abgeordneten Dr. Baumbach (Berlin) in der Reichstagssitzung vom 23. Febr. 1893. Berlin 1893. 46

Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 38.

47

Ebd.22.

48

Ebd.23.

49

Vgl. Rosa Kerschbaumer, Prof. Albert und die weiblichen Aerzte, in: Neue Revue 6, 1895, 1381–1390,

hier 1383. 50

Vgl. Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 24.

51

Vgl. ebd.28; vgl. u.a. Ernst Moriz Kronfeld, Die Frauen und die Medicin. Professor Albert zur Antwort.

Zugleich eine Darstellung der ganzen Frage. Wien 1895, 7; Kerschbaumer, Prof. Albert (wie Anm.49), 1386. 52

160

Vgl. Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 24ff.; Hermann Fehling, Die Bestimmung der Frau. Ihre Stellung

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In diese Wunde stieß auch Penzoldt, der sich für seinen Vortrag auf dem deutschen Ärztetag zu Wiesbaden am 29.Juni 1898 eigens bei seinen schweizerischen Kollegen erkundigt hatte. Der Andrang von Frauen in sämtlichen europäischen Staaten zum Medizinstudium sei gering und zumeist handele es sich bei ihnen auch noch um Ausländerinnen. 53 Derlei Behauptungen, die sich auch in einer 1897 von Arthur Kirchhoff herausgegeben Gutachtensammlung zum „Frauenstudium“ unter anderem durch die Mediziner Wilhelm His, Victor Birch-Hirschfeld und Wilhelm Alexander Freund fanden, blieben dank der Gegenstimmen von Eliza Ichenhäuser, einer Berliner Journalistin, sowie Karl Bernhard Lehmann, Direktor des hygienischen Instituts in Würzburg, nicht unwidersprochen. 54 Den direkten Anlass für seine Rede erhielt Penzoldt jedoch durch eine Erklärung des Staatssekretärs des Innern Graf von Posadowsky im Reichstag am 21.Januar 1898. Dieser hatte im Rahmen einer von Prinz zu Schonaich-Carolath eröffneten Debatte über das „Frauenstudium“ erklärt, „daß man sich gegen diese Frage nicht mehr absolut ablehnend verhalten könne“. Preußen lasse bereits Frauen zu Abiturprüfungen sowie als Gasthörerinnen zu und der preußische Kultusminister sei durchaus unter Abstimmung mit Rektoren und Kuratoren bereit, die Frauen zum medizinischen Studium zuzulassen. Es sei nun nur noch eine Sache des Reichskanzlers unter Abstimmung mit den Regierungen der Einzelstaaten, das Recht auf Approbation auch für Frauen zugänglich zu machen. 55 Tatsächlich erlangten bereits im Jahr 1896 die ersten sechs Absolventinnen der von Lange in Berlin geleiteten Gymnasialkurse ihre Maturitätszeugnisse und noch im selben Jahr durften sie an der Berliner Universität als Gasthörerinnen

zu Familie und Beruf. Rektoratsrede gehalten am Jahresfeste der Univ. Basel, den 12. Nov. 1891. Stuttgart 1892, 27f.; Karl Vogt, Zur Frage des Frauen-Studiums, in: Medicinisches Correspondenzblatt des Württembergischen Ärztlichen Vereins 64, 1894, 51–53. 53 Vgl. Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 10. 54 Während Birch-Hirschfeld sich gänzlich ablehnend äußerte, waren Freund und His trotz ihrer Bedenken vorsichtig befürwortend. Vgl. Arthur Kirchhoff (Hrsg.), Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe. Berlin 1897, 37f., 62, 106; Eliza Ichenhäuser, Die Ausnahmestellung Deutschlands in Sachen des Frauenstudiums. Berlin 1897, 31f.; Karl Bernhard Lehmann, Das Frauenstudium. Wien 1899, 7f. 55 O.V., 21.Januar 1898. 22. Sitzung, Fortsetzung der zweiten Berathung des Reichshaushaltsetats für das Rechnungsjahr 1898, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX. Legislaturperiode, V. Session 1897/98, Erster Band. Bd. 159. Berlin 1898, 553–578, hier 561.

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an Vorlesungen teilnehmen. 56 Die Mediziner konnten also das Thema nicht mehr umgehen und setzten das „Frauenstudium“ auf die Tagesordnung ihres nächsten Ärztetages, der als Organ des Ärztevereinsbundes bereits seit 1873 bestand und auf dem jährlich Standesfragen erörtert wurden. 57 Der Geschäftsausschuss ernannte Penzoldt zum Referenten in der Sache – sein Vortrag erschien wenig später im Druck. 58 Schließlich sah sich am 5.Juni 1899, nur einen Monat nach dem Bundesratsbeschluss zur Approbationszulassung von Frauen, der Gynäkologe Runge, zu dieser Zeit amtierender Prorektor der Göttinger Universität, dazu veranlasst, während einer akademischen Preisverleihung gegen seine künftigen Kolleginnen unter dem Titel „Männliche und weibliche Frauenheilkunde“ zu polemisieren. Die „Frau“ sei „Lieblingsgegenstand der öffentlichen Debatte geworden“ und er fühle sich deshalb berechtigt, das Wort zu ergreifen, denn die „Fürsorge für die Frau“ sei der Gegenstand seiner „Specialwissenschaft“. Für Runge habe die Gynäkologie in jüngster Zeit zwar einen problematischen Grad an „Popularisirung“ (sic) in „allen Klassen der Bevölkerung und beiden Geschlechtern“ erfahren, doch mache er sich nun diese Freiheit zunutze, um öffentlich über derlei Themen zu sprechen. 59 Weil es zunehmend schwerer wurde, die Sonderstellung Deutschlands unter den übrigen „Kulturnationen“ zu begründen, trugen auch dieses Mal die Vorgänge im Ausland zur Intervention bei: In seiner Philippika tadelte Runge die Presse, die eingehend über Doktorinnen in Amerika und Russland berichten und von der „pflichtgetreuen Arbeit der Männer“ schweigen würde, weil sie in ihrem Urteil lediglich einem „sensationsbedürftigen Publicum“ Rechnung trage. Die ausländischen Verhältnisse seien zudem nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragbar. 60 Es war nicht das erste Mal, dass Runge öffentlich über vermeintliche Geschlechtseigenschaften von Frauen sprach, die über den Umweg der Naturalisierung dazu dienen sollten, ihre gesellschaftliche Stellung zu zementieren: Bereits ein Jahr zuvor hatte er eine Broschüre unter dem Titel „Das Weib in seiner geschlechtlichen Eigenart“ veröffentlicht; die Schrift, welche als Vortrag unter Dozenten der medizinischen und naturwissenschaftlichen Fakul56

Vgl. Ichenhäuser, Die Ausnahmestellung Deutschlands (wie Anm.54), 1; allgemein zu den ersten

medizinischen Gasthörerinnen in Preußen vgl. Mahncke, Frauen machen Geschichte (wie Anm.9), 104f.

162

57

Vgl. Huerkamp, Aufstieg der Ärzte (wie Anm.5), 111, 249.

58

Vgl. Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 6, 22.

59

Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 3.

60

Ebd.16.

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tät in Göttingen entstanden war, verbreitete sich vor allem außerhalb des Fachpublikums und erreichte binnen eines Jahres bereits drei Auflagen. 61

II. Krise: Stabilisationsversuche populären Geschlechterwissens Nachdem nun die Akteure sowie der Kontext ihrer Wortmeldungen bekannt sind, stellt sich die Frage nach den Aussagen über den weiblichen Geschlechtscharakter sowie deren Bezügen zu bereits popularisierten Wissensbeständen. Da die Aussagen als Teile eines spezifischen Diskurses begriffen werden, der dazu diente, Frauen aus dem akademischen Feld medizinischer Profession auszugrenzen und sie auf ihre etablierten Subjektpositionen in Krankenpflege, Häuslichkeit und Familie zu verweisen, liegt der Fokus auf den Gemeinsamkeiten zwischen den erwähnten Publikationen. In den Aussagen der Mediziner zeigt sich eine spezifische Geschichtsphilosophie: Das gesellschaftliche Sein betrachteten sie als ein „Experiment der Jahrtausende“ und als solches legitimierte es das Sollen. Die Essenz ging immer schon der menschlichen Existenz voraus. 62 Im Geschichtsverlauf sahen sie dieselben chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeiten wirken, wie in ihren medizinischen Studienobjekten. Das Studium der ganzen Natur sollte zu einer festen Erkenntnisbasis über den Menschen führen. 63 Sie mussten somit Teile der menschlichen Geschichte naturalisieren, um in dieser Geschichte die Grundlagen ihrer Schlussfolgerungen finden zu können. Wenngleich der Mensch als das Endglied organischen Lebens galt, so geschah die Ableitung menschlicher Eigenschaften dennoch auf Grundlage von Lebewesen niederer Stufe. Evolutionslehre verband sich mit Kulturgeschichte. Jede höhere Kulturstufe beruhe auf einer zweigeschlechtlichen Arbeitsteilung im Sinne von sich ausdifferenzierenden Organen. 64 Die „Struktur der Menschheit“ sei geprägt durch das „Menschenpaar“. Mann und Frau würden sich wie ein „zweiatomiges Mo-

61 Max Runge, Das Weib in seiner geschlechtlichen Eigenart. Nach einem in Göttingen gehaltenen Vortrage. 3.Aufl. Berlin 1898. 62 Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 40. 63 Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 5. 64 Vgl. Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 42.

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lekül“ oder wie die rechte und linke Hand eines gemeinsamen Körpers verhalten. 65 Der Mann sei „Culturthier“ und seine Aufgabe bestünde darin, die Kultur evolutionär weiter zu entwickeln, während den Frauen die prozesshafte Reproduktion der natürlichen Ordnung oblag. 66 Beweise sahen sie in Völkern vermeintlich niederer Kulturstufe: Dort finde sich die Frauenheilkunde noch in den Händen des weiblichen Geschlechts und in diesen Händen sei jede Weiterentwicklung unmöglich. Je größer der Einfluss des Mannes werde, desto größer die Fortschritte. 67 Die so konstruierte Geschichte der Medizin erfährt durch die Mediziner eine Umkehrung: Der Kampf der Frauen um Zulassung zur Heilkunde sei illegitim, denn die Männer hätten sich ihren Platz als Mediziner von den Frauen erst erstreiten müssen, da Frauen über Jahrhunderte hinweg die Heilkunst allen voran die Geburtshilfe dominierten und damit zum Stillstand gebracht hätten. Der Ausschluss von Frauen erscheint als gerechtfertigter Endpunkt einer langen Geschichte der Unterdrückung männlicher Schaffenskraft. Erst der Mann habe die falsche Schamhaftigkeit der Frauen, die Weber als Hauptargument für Frauenärztinnen angeführt hatte, durch medizinische Aufklärung überwinden können: Er entlarvte sie als Prüderie. 68 Zugleich diente der geschichtliche Sieg des Stärkeren als Beweis männlicher Überlegenheit. Dabei war es wichtig, diese Überlegenheit nicht nur auf physische Körperkräfte zurückzuführen, sondern sie zu einem Sieg des Geistes über den Körper zu machen. 69 Um die These eines weiblichen Unvermögens zu schöpferischem Denken zu beweisen, dienten allerhand geschichtliche Beispiele: Herrscherinnen hätten in der Vergangenheit „ungehinderten Zutritt“ zu höchsten Stellungen gehabt 70; die Ausübung der Medizin habe Frauen in „ältester Zeit“ freigestanden 71; Versuche zur Frauenbildung seien etwa in der Renaissance bereits mit wenig Erfolg erprobt worden 72; das alles beweise, dass es „keine äusseren Gründe“ – etwa die Erziehung zur Weiblichkeit – gegebenen haben kann, sondern die gesellschaftliche

164

65

Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 8; Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 43.

66

Kronfeld, Die Frauen (wie Anm.51), 15.

67

Vgl. Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 4.

68

Vgl. Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 15; Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 7.

69

Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 42.

70

Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 32.

71

Ebd.37.

72

Vgl. Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 18f.

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Aufgabe tief in der „natürlichen Organisation des Weibes“ verwurzelt sei 73: „Es liegt also nicht an der Gelegenheit productiv zu sein, sondern am Weibe selbst.“ 74 Das Aufbegehren gegen die daraus resultierende Ordnung implizierte eine Undankbarkeit gegenüber der „männlichen Schaffenskraft“: Männer seien von Frauen nie begriffen worden. 75 Für die Anhänger eines orthodoxen Geschlechterwissens waren Frauen kindliche Wesen, die den mathematischen, technischen und rationalen Errungenschaften der Männer indifferent gegenüberstanden und den wissenschaftlichen Fortschritt in dessen Kern bedrohten – eine weit verbreitete Argumentationsstruktur zur Abwehr des Frauenstudiums, die sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts nicht nur bei Medizinern, sondern als Zuschreibung einer „antiwissenschaftlichen Weiblichkeit“ auch bei Historikern finden lässt. 76 Mit dieser evolutionären Geschichtsphilosophie fanden sie ihre eigene Lösung auf das historistische Grunddilemma, welches die Geisteswissenschaftler ihrer Zeit plagte: Die Relativität menschlicher Werte angesichts geschichtlichen Wandels. Das immanente Bewegungsprinzip des Geschichtsverlaufs bestand auch bei ihnen aus einem teleologischen Erbe idealistischer Philosophie. Hierbei handelte es sich um die Entwicklung der sittlichen Mächte vermittelt über die großen Persönlichkeiten ihrer Zeit. Der Unterschied zu ihren geisteswissenschaftlichen Kollegen bestand jedoch darin, dass das Grundprinzip dieses Wandels auf den natürlichen Eigenschaften des Mannes beruhte, während das Reich der Geschichte vonseiten der Geisteswissenschaftler in deutlicher Abgrenzung zur Natur gedacht worden ist – wenngleich es ebenso eindeutig männlich gedacht wurde. 77 Nun handelt es sich bei der Feststellung einer Herrschaftsfunktion mittels polarisierter Geschlechtscharaktere um keine neue Feststellung; ebenso ist die Tatsache einer Zunahme der Attraktivität derartiger geschlechtsspezifischer Vorstellungen angesichts tief greifender gesellschaftlicher Strukturveränderungen bereits frühzeitig von Karin Hausen erkannt worden. 78 Vor allem die wirtschaftliche Entwicklung

73 Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 39. 74 Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 11. 75 Vgl. Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 4. 76 Vgl. Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900. Göttingen 2015, 74, 94, 109ff. 77 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. 2.Aufl. Düsseldorf 1972, 7, 16. 78 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation

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führte in den Problembestimmungen der Mediziner zu krisenhaften Störungen der natürlichen Ordnung. Bei dem von ihnen zum Ausdruck gebrachten Geschlechterwissen als Reaktion auf diese Krise handelte es sich um den damals geläufigen und weithin popularisierten Kanon komplementärer Eigenschaften, wie sie durch die Frauen- und Geschlechterforschung der letzten Jahrzehnte eingehend thematisiert worden sind – sie hier nochmals aufzuführen, mag beinahe trivial erscheinen: Aufseiten der Frauen verorteten die Mediziner eine reich veranlagte Psyche, die sich durch Intuition und Gefühl auszeichne. 79 Frauen sollten die häusliche Welt als einen lebenswerten Raum gestalten und bereichern. Die ihnen unterstellte Irrationalität und Rezeptivität begründete somit ihre passive Lebensform. Ohne schöpferisches Denkvermögen wären sie für die aktive Gestaltung der Welt unnütz. 80 Ursache des Übergewichts von Gefühl und Irrationalität sei ihre stärkere Betonung des Subjektiven als einer Notwendigkeit zum Erfüllen ihrer Mutterrolle. 81 Frauen sollten durch ihr subjektives Einfühlungsvermögen den männlichen Genius ihrer Söhne heranziehen sowie den Töchtern ein Vorbild sein. Gelobt wurden ihr Fleiß, ihr gutes Gedächtnis sowie die Begabung zur Detailarbeit. 82 Dies mache sie zu idealen Unterstützerinnen des Mannes. Dieser wiederum komme der Schutzbedürftigkeit von Frauen entgegen, deren körperliche Konstitution ihnen aufgrund von Menstruation, Klimakterium sowie Gebärfähigkeit als geradezu krankhaft galt. 83 Fast unnötig zu erwähnen, ist das die männlichen Eigenschaften eine entgegengesetzte Stoßrichtung aufwiesen: Der Mann sei aktiv handelnder und darüber hinaus „muthig, kühn, heftig, trotzig, rauh, verschlossen“. 84 Biologische Begründungen dieser geistigen Eigenschaften erfolgten auf verschiedene Weise: Wie bereits erwähnt geschah dies bei Bischoff über die Schädelgröße

von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. (Industrielle Welt, Bd.21.) Stuttgart 1976, 363–393, hier 375, 381. 79

Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 20; Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 40; Albert, Die Frauen

(wie Anm.8), 11. 80

Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 25; Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 11; Penzoldt, Das Medizin-

studium (wie Anm.8), 13; Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 11. 81

Vgl. Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 15.

82

Vgl. Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 16; Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 19; Penzoldt, Das Medi-

zinstudium (wie Anm.8), 13; Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 10, 16. 83

Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 38; Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 14; Runge,

Frauenheilkunde (wie Anm.8), 3f. 84

166

Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 19.

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bzw. das Hirngewicht und bei Waldeyer über die Struktur der grauen Substanz sowie die Hirnwindungen. Albert hingegen wollte sich auf derartige Quantifizierungen nicht festlegen und betonte die verschiedenartige Qualität des Zentralnervensystems – weil ihm empirische Daten fehlten und wegen noch zu ungenauer Messtechnik auch nicht zu bekommen waren, betrieb er geradezu metaphysische Spekulationen: So verglich er männliche und weibliche Gehirne mit der verschiedenartigen Qualität magnetischer und unmagnetischer Hufeisen, die zwar von außen identisch seien und dennoch verschiedene Eigenschaften aufweisen. 85 Auch Penzoldt wollte sich auf überprüfbare Aussagen nicht einlassen und konstatierte lediglich, dass die andersartigen geistigen Fähigkeiten der Geschlechter „ziemlich allgemein anerkannt“ seien – ein Indiz für die Reziprozität zwischen einer bereits erfolgten alltagsweltlichen Popularisierung und den geschlechterpolitischen Prämissen der orthodoxen Mediziner. 86 Die idealtypischen Anforderungen an den Arztberuf banden sich an vermeintlich männliche Eigenschaften: Es bedürfe eines Schöpfergeistes sowie körperlicher Kraft. Die Medizin sei kein erlernbares Handwerk, sondern eine Heilkunst 87; nicht das schablonenmäßige Anwenden des Gelernten zeichne einen guten Arzt aus, sondern sein produktives Vermögen zum Erkennen der Krankheit, dies grenze ihn zur bloßen Krankenpflege hin ab 88; die Kunst bestehe darin, angesichts sich graduell verschiedenartig zeigender Krankheiten individualisieren zu können. 89 Der Arzt wird als ein Held beschrieben, der seinem Berufsethos folgend sich Tag und Nacht bei jedem Wetter hinausbegibt, um dort den gefährlichen Krankheiten der Welt zu begegnen. 90 Die feste Persönlichkeit des Arztes schaffe Vertrauen; er sollte Kämpfer

85 Vgl. Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 10. 86 Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 13. 87 Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 29–32. 88 Vgl. Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 13. 89 Vgl. Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 13. 90 Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 21. Derartig heroische Schilderungen der ärztlichen Arbeit als körperlich extrem fordernde Tätigkeit waren typisch: Vgl. u.a. Wilhelm Zehender, Ueber den Beruf der Frauen zum Studium und zur praktischen Ausübung der Heilwissenschaft. Vortrag gehalten am 15.Februar 1875 in der Aula der Universität Rostock. Rostock 1875, 9f.; E. Kattner, Zur Aerztinnenfrage. Warum verlangen wir weibliche Frauen-Aerzte? Tübingen 1891, 17; Peter Müller, Ueber die Zulassung der Frauen zum Studium der Medizin. Aus einem Cyklus von populär-wissenschaftlichen, vom Lehrkörper der Berner Hochschule gehaltenen Vorträgen. (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, Bd.195.) Hamburg 1894, 18f. Auch bei anderen akademischen Berufsgruppen lässt sich eine derartige Verknüpfung zwischen

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sein „gegen grausames Walten der Natur“. 91 Die Wissenschaft der Medizin wird als geschlechtslos bezeichnet 92; da Frauen unter den Prämissen der orthodoxen Mediziner an ihre geschlechtsspezifische Bestimmung gebunden waren, konnten sie zu einem solchen wissenschaftlichen Standpunkt nicht fähig sein: Die geschlechtslose, objektive und neutrale Universalität der Wissenschaft musste somit männlich sein. Um jede Irritation durch ausländische Verhältnisse abzuweisen, standen die Geschlechtscharaktere der Frau in Verbindung mit einem nationalisierten Weiblichkeitsideal, wie Penzoldt verdeutlichte: „Selbst auf die Gefahr, als Schwärmer zu gelten, ich für meine Person möchte der deutschen Frau, wie wir sie verehren, die seelischen Aufregungen des ärztlichen Berufs und die nahe Berührung mit dem ekelsten Schmutz des Lebens […] sehr gern erspart sehen. “ 93

Dies mag paradox erscheinen, da die weiblichen Eigenschaften als natürlich und zeitlos betrachtet worden sind, doch erhält dieses Weltbild dadurch Konsistenz, dass die moderne Gesellschaftsentwicklung als pathologisch und degenerativ betrachtet worden ist: Die emanzipierte Frau war somit ein widernatürliches Monster der Moderne und die viel zitierte „ewige Weiblichkeit“ glich einer bedrohten Heiligen – bedroht davor „beschmutzt“, „verschlammt“ und „beschädigt“ zu werden. 94 Da zumindest eine ökonomische Problemlage im Sinne der sozialen Frage anerkannt worden ist, kamen die Mediziner nicht umhin, Lösungskonzepte vorzuschlagen, um den sozialen Wandel in gewünschte Bahnen zu kanalisieren. Unverheiratet bleibende Frauen könnten bei Verbesserung der Ausbildung statt Ärztinnen durchaus Hebammen oder Krankenpflegerinnen werden – dies käme ihrer pflegenden Mutterrolle am nächsten. 95 Eine Ausweitung weiblicher Erwerbsarbeit würde die materielle Notlage verschärfen: Weit verbreitet war die Angst vor dem Fall der Löh-

Wissenschaft und körperlicher Arbeit finden. So nutzte der Historiker Leopold von Ranke Bergbaumetaphern, um die körperlichen Unwägbarkeiten der Archivarbeit zu beschreiben. Vgl. Schnicke, Männliche Disziplin (wie Anm.76), 300f. 91

Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 14.

92

Vgl. Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 15.

93

Ebd.18.

94

Carl Leopold Sundbeck, Studentinnen, in: Akademische Blätter 6/4, 1891, 36–37, hier 37; Anonym (von

einem älteren Arzte, Dr. B.), Zum Frauenstudium, in: Ärztliche Mitteilungen aus und für Baden 46, 1892, 109– 111, 118–119, hier 117; Georg Lewin, in: Kirchhoff (Hrsg.), Die akademische Frau (wie Anm.54), 73. 95

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Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 44; Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 34.

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ne durch diese Art der „Schmutzkonkurrenz“. 96 Als handelnder Akteur sollte der Staat in Aktion treten: Er habe unberechtigte Gleichberechtigungsforderungen zurückzuweisen. 97 Gleichzeitig sollte er als Sicherungsinstanz des ärztlichen Standes wirken – Albert ging gar so weit, eine Verstaatlichung des ärztlichen Standes ins Spiel zu bringen, um die Ärzte vom „Kampf ums Dasein“ hinein in den sicheren Hafen des Beamtentums zu bringen –, auf dieser Grundlage sei sogar die Konkurrenz durch Ärztinnen denkbar, wenngleich bei geringerer Besoldung. 98 Da die Familie als kleinste Funktionseinheit des Staates galt, musste es als ureigenstes Interesse dieses Staates erscheinen, die natürliche Frauenrolle abzusichern und abweichende Lebensentwürfe durch keinerlei Zugeständnisse zu begünstigen: Als derlei Zugeständnisse galten bereits staatlich finanzierte Mädchengymnasien. 99 Als im Verlauf der 1890er Jahre immer mehr absehbar war, dass eine Fundamentalopposition gegen die Bestrebungen der Frauenbewegung kaum länger erfolgreich sein konnte, begannen selbst orthodoxe Mediziner umzuschwenken. Wenn sich eine Zulassung nicht vermeiden lasse, dann sollten alle anderen Fakultäten ebenso geöffnet werden, um den Nachfragedruck zu verteilen. 100 Als exemplarisch für diesen strategischen Einstellungswandel lässt sich die Entwicklung Waldeyers anführen: Hatte er noch 1888 eine akademische Frauenbildung kategorisch abgelehnt, änderte er 1896 bei einem Vortrag im Rahmen des Berliner Vereines „Frauenwohl“ seine Abwehrstrategie und sprach sich für die Gründung von Frauenuniversitäten nach dem Prinzip eines spezifisch weiblichen Denk- und Auffassungsvermögens aus. 101 Diese Position erneuerte er 1898 in seiner Rektoratsrede „Ueber Aufgaben und Stellung unserer Universitäten“. 102 Die Gründung eigener Frauen-

96 In Teilen übernahmen selbst Frauenrechtlerinnen diesen Topos und plädierten für geschlechtsspezifische Erwerbsarbeitsfelder wie etwa die christlich-konservative Elisabeth Gnauck-Kühne, Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende. Statistische Studie zur Frauenfrage. Berlin 1904, 130. 97 Vgl. Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 8. 98 Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 27f. 99 Vgl. ebd.36. 100 Vgl. Max Flesch, Der deutsche Aerztetag und das Medizinal-Studium der Frau, in: Die Frauenbewegung 4, 1898, 21, 217–219, 229–230, hier 229f. 101 Vgl. Anna Pappritz, Frauenstudium. Randbemerkungen zu den beiden Rektoratsreden (von W. Waldeyer u. G. Schmoller) am 15. Okt. 1898, in: Die Frauenbewegung 4, 1898, 228–229, hier 228. 102 Vgl. Wilhelm Waldeyer, Ueber Aufgaben und Stellung unserer Universitäten seit der Neugründung des deutschen Reiches. Rede zum Antritt des Rektorats der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin gehalten in der Aula am 15.Oktober 1898. Berlin 1898, 17.

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universitäten galt als wünschenswert, da es hier weniger zu peinlichen Situationen angesichts heikler medizinischer Themen kommen konnte: Insbesondere die Scientia sexualis erweckte regelrecht den Eindruck einer die Sittlichkeit der Frauen gefährdenden Geheimlehre. Zudem müsse jede Zulassung unter den gleichen Bedingungen erfolgen, die auch für Männer galten – darauf einigte sich schließlich der Ärztetag von 1898, angeregt durch die Ergänzungsthesen zweier Breslauer Ärzte. 103 Auf dem Grundsatz einer Analogie von Rechten und Pflichten basierten auch die Forderungen der Frauenbewegung, um jeden Vorwurf der ungerechten Begünstigung im Vorfeld zu entkräften – allerdings musste, aus heutiger Sicht beurteilt, genau diese vermeintliche Parität von Rechten und Pflichten vor dem Hintergrund einer staatlich protegierten Knabenbildung zu einer strukturellen Benachteiligung von Frauen führen, da es aufgrund fehlender Mädchengymnasien kaum Möglichkeiten gab, diese Bedingungen tatsächlich zu erreichen. 104 Die beschriebenen Aussageformationen entstammten keineswegs einem rein medizinischen Spezialdiskurs. Wie im interaktionistischen Modell von Popularisierung beschrieben, wonach Spezialdiskurse sowohl wissenschaftsintern in einem breiten Kommunikationszusammenhang stehen als auch an Bereiche außerhalb der institutionalisierten Wissenschaft rückgebunden sind, geschah ein vielfältiger Austausch: So nutzte Albert kulturwissenschaftliche, philosophische und sogar künstlerische Quellen. Für ihn hatte die Wissenschaft noch keine „Psychologie der Frau“ geliefert und deshalb bediente er sich der Kunst, die ein „Seelenmaler aller Zeiten“ sei, sowie des Alltagswissens „aller Völker der Welt“. 105 Unter den Schriftstellerinnen der Zeit fand sich Laura Marholm, die in ihrem „Buch der Frauen“ gegen die Frauenbewegung Front machte und damit an prominenter Stelle den Medizinern argumentativ zur Seite sprang. 106 Umfassend bezieht sich Albert auf den Schriftsteller Bogumil Goltz, der in seiner „Naturgeschichte und Charakteristik der Frauen“ 1858 in Anlehnung an die anthropologischen Schriften der Spätaufklärungszeit den Mann zum Kultur- und die Frau zum Naturwesen stilisierte. 107 Auch der Schwedi-

103 Vgl. Helene Friederike Stelzner, Frauenuniversitäten? In: Der Türmer 1, 1899, 112–123, hier 114. 104 Resultat war eine hohe soziale Auslese unter den ersten Studentinnengenerationen, die mehr noch als ihre männlichen Kommilitonen aus den finanziell besser gestellten Kreisen der Bevölkerung kamen. 105 Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 14f. 106 Vgl. ebd.4f.; Runge, Das Weib (wie Anm.61), 17f.; vgl. auch Hedwig Dohm, Die Ritter der mater dolorosa, in: Die Frauenbewegung 3, 1897, 33–36, 45–48, hier 47. 107 Vgl. Albert, Die Frauen (wie Anm.8), 12ff.

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sche Schriftsteller August Strindberg wurde mit seinen Aussagen zur geringen Abstraktionsfähigkeit von Frauen paraphrasiert. 108 Wie viele Gegner der Frauenbewegung bezogen sich Albert, Penzoldt und Runge auf den damals populären Philosophen Eduard von Hartmann, der bereits in seinem Hauptwerk der „Philosophie des Unbewussten“ seinen naturalisierenden Anschauungen über die Geschlechtscharaktere unverblümten Ausdruck verliehen hatte. In seinem 1896 erschienenen Aufsatz zur „Jungfernfrage“, die für Hartmann den wichtigsten Teil der Frauenfrage ausmachte, da die größten Probleme für Frauen der bürgerlichen Klassen aus dem Umstand ihrer Ehelosigkeit entstünden. Somit appellierte er an die staatsbürgerlichen Pflichten der Männer zur Heirat, um damit dem sozialen Problem der unverheirateten Frauen den Stachel zu ziehen. 109 Was naturwissenschaftliche Bezüge angeht, so knüpfte Bischoff direkt an die anthropologischen Abhandlungen des ausgehenden 18.Jahrhunderts an, indem er auf Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ verwies, dessen normative Spekulation über die Implikationen der Geschlechtsunterschiede bereits zu dessen Lebzeiten zu einem Resultat empirischen Wissen erhoben worden waren. 110 Implizit sind derlei ideengeschichtliche Spuren bei allen fünf Medizinern auffindbar. Als wissenschaftliche Hauptquelle dienten Bischoff die Arbeiten des Naturforschers Samuel Thomas von Sömmerring, dessen im letzten Viertel des 18.Jahrhunderts entstandene (neuro-)anatomische Werke für Jahrzehnte Handbuchcharakter besaßen. Sömmerring vertrat die These einer umgekehrten Proportionalität zwischen Gehirnund Nervengröße. Seine Aussagen zur Geschlechtsspezifik der Nerven bei Männern und Frauen galten jedoch in den 1870er Jahren als kaum mehr empirisch stichhaltig. 111 Zudem lieferten Bischoff die Schriften des Statistikers Adolphe Quetelet wei-

108 Vgl. ebd.11. 109 Vgl. ebd., 26; Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 7; vgl. auch Runge, Das Weib (wie Anm.61), 25; der genannte Aufsatz war Teil eines breiteren Essays unter dem Titel „Tagesfragen“, in dem Hartmann u.a. die Demokratie als eine Bedrohung deutscher Kultur bezeichnete. Vgl. Eduard von Hartmann, Tagesfragen. Leipzig 1896, 120. 110 Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 20; zur Rezeption Kants vgl. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850. Frankfurt am Main/ New York 1991, 182–192. 111 Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 15f., 19, 47, 51, 55; Brühl, Über das Gehirn (wie Anm.41), 44; Franz Dumont, Sömmerring, Samuel Thomas von, in: Neue Deutsche Biographie 24, 2010, 532–533; zur medizingeschichtlichen Einordnung Sömmerrings vgl. Londa Schiebinger, Schöne Geister. Frauen in den

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teres empirisches Material für seine Behauptungen zum Hirngewicht. 112 Gemeinsamer Bezugspunkt von Bischoff und Waldeyer war die 1877 veröffentlichte Arbeit des Bischoff-Schülers Nikolaus Rüdinger, der bereits bei Neugeborenen und Kleinkindern einen Geschlechtsunterschied in den Windungen des Großhirns ausgemacht haben wollte – insbesondere bei Stirn- und Scheitellappen zeige sich bei Mädchen ein verlangsamtes Wachstum. 113 Dies schien eine ältere Arbeit des Jenaer Anatomen Emil Huschke zu bestätigen, der wie Waldeyer berichtet, den „Scheitellappen beim Manne für eine bevorzugte Hirnpartie“ gehalten hatte. 114 Penzoldt nutzte für seinen Vortrag auf dem Ärztetag ein breites Spektrum der medizinischen Literatur zur Ärztinnenfrage, das nach Waldeyers Einlassung erschienen war; auch in diesen Schriften findet sich ein zirkulärer Kurzschluss zwischen Evolutionstheorie und Kulturgeschichte 115: Laut des Baseler Gynäkologen Hermann Fehling würden die Unterschiede der Geschlechtsentwicklung bereits in frühester embryonaler Entwicklungsphase beginnen – diese könne so manche Mutter auch empfinden. 116 Der Königsberger Gynäkologe Rudolf Dohrn betonte abermals die mangelhafte Entwicklung der Geburtshilfe durch den Einfluss von Frauen, zu-

Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart 1993, 268–297; Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt am Main 2000, 63–87; Frank Stahnisch, Über die neuronale Natur des Weiblichen – Szientismus und Geschlechterdifferenz in der anatomischen Hirnforschung (1760–1850), in: Johanna Bleker/Florian Steger (Hrsg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen. (Geschichte und Philosophie der Medizin, Bd. 1.) Stuttgart 2005, 197–224, hier 208–212. 112 Vgl. Bischoff, Das Studium (wie Anm.2), 18, 53, 58f. Außerdem bezieht er sich auf die Arbeiten zu geschlechtsspezifischen Schädelunterschieden von Hermann Welker (Halle) und Alexander Ecker (Freiburg). Vgl. ebd.15. Zur zeitgenössischen Kritik an diesen Arbeiten vgl. Brühl, Frauenhirn (wie Anm.41), 86; Brühl, Über das Gehirn (wie Anm.41), 71. 113 Vgl. Theodor L.W. Bischoff, Die Zulassung von Frauen zum Universitäts-Studium, in: Alma Mater 2, 1877, 409–412, hier 411; Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 40; Nikolaus Rüdinger, Vorläufige Mittheilungen über die Unterschiede der Grosshirnwindungen nach dem Geschlecht beim Foetus und Neugeborenen mit Berücksichtigung der angeborenen Brachycephalie und Dolichocephalie, in: Beiträge zur Anthropologie und Urgeschichte Bayerns 1, 1877, 286–307. 114 Vgl. Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 40; Emil Huschke, Schaedel, Hirn und Seele des Menschen und der Thiere nach Alter, Geschlecht und Raçe. Dargestellt nach neuen Methoden und Untersuchungen. Jena 1854, 154; zur medizingeschichtlichen Kontextualisierung der Arbeiten Huschkes vgl. auch Stahnisch, Neuronale Natur (wie Anm.111), 197–224, hier 219–222. 115 Für eine Liste genutzter Veröffentlichungen vgl. Penzoldt, Das Medizinstudium (wie Anm.8), 25. 116 Vgl. Fehling, Bestimmung der Frau (wie Anm.52), 12.

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dem fehle ihnen die körperliche Kraft zur Ausführung größerer Operationen. 117 Der Wiener Psychiater Wilhelm Svetlin argumentierte streng sozialdarwinistisch und knüpfte die geistige Entwicklungsfähigkeit des weiblichen Individuums an den Stand der Entwicklung aller Frauen einer Gattung. Nach seiner Argumentation dürften sich die Universitäten nur langsam und nur in dem Maße öffnen, wie die Erziehung und die evolutionäre Entwicklung der Frauen sich zum Positiven ändern würden. Vor allem die Medizin sei für Frauen dabei der letzte zu gehende Schritt. Wie viele andere Mediziner vor ihm betonte er, dass eine zu frühzeitige Öffnung neuer Lebensbereiche den Frauen zuallererst selbst schaden würde. 118 Ebenso befürchtete der Berliner Sanitätsrat Leopold Henius die Vererbung einer gestörten Gesundheit auf spätere Generationen, wenn durch akademische Bildung geschädigte Frauen Kinder bekämen. 119 Um den Topos einer Relativierung der Frauenunterdrückung in geschichtlicher Zeit sowie die weibliche Unfähigkeit zum kulturellen Fortschritt zu belegen, dienten die Arbeiten des Gynäkologen Caspar von Siebold zur „Geschichte der Geburtshilfe“ sowie des Anthropologen und Gynäkologen Hermann Heinrich Ploss zum „Weib in der Natur- und Völkerkunde“. 120 Männliche Fortschrittshelden kontrastierten dabei die weibliche Erfolglosigkeit: Runge und Fehling präsentieren diesbezüglich die Bezwinger des Kindbettfiebers Ignaz Philipp Semmelweis und Joseph Lister, welche maßgeblich an der Entwicklung einer antiseptischen Chirurgie beteiligten waren. 121

117 Vgl. Rudolf Dohrn, Ueber das Studium der Frauen, in: Medicinisches Correspondenzblatt des Württembergischen Ärztlichen Vereins 63, 1893, 149–150. 118 Vgl. Wilhelm Svetlin, Die Frauenfrage und der ärztliche Beruf. Leipzig 1895, 12, 45. 119 Vgl. Leopold Henius, Ueber die Zulassung der Frauen zum Studium der Medicin, in: Deutsche Medicinische Wochenschrift 21, 1895, 613–615, hier 613. 120 Vgl. Waldeyer, Das Studium (wie Anm.8), 37, 39; Runge, Das Weib (wie Anm.61), 10; Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 16. 121 Vgl. Runge, Frauenheilkunde (wie Anm.8), 14; Fehling, Bestimmung der Frau (wie Anm.52), 10.

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III. Kritik: Produktive Polarisierung und die dynamische Stabilisierung des Geschlechterwissens Im dritten Teil des Beitrages gilt es, die Folgen der fünf beschriebenen Interventionen auf ihre Dynamisierungs- und Transformationsimpulse hin zu analysieren. Hierzu erfolgt eine chronologische Betrachtung der kritischen Reaktionen. Bischoffs Essay aus dem Jahr 1872 markierte einen ersten Höhepunkt in der akademischen Frauenbildungsfrage. Zwar hatte es bereits 1871 eine ablehnende Schrift des Königsberger Theologieprofessors Hermann Jacoby gegeben, doch blieb diese ohne nennenswerte Resonanz. 122 Bischoff hingegen sorgte für eine Ausweitung der publizistischen Kampfzone: Angestachelt durch seine Abwehrschrift fühlte sich der Züricher Nationalökonom Carl Victor Böhmert in der Augsburger Allgemeinen Zeitung zunächst als Anonymus dazu veranlasst zu intervenieren – bereits zuvor war dieser mehrfach als Verfechter des „Frauenstudiums“ publizistisch in Erscheinung getreten. 123 Auch der Züricher Physiologe Ludimar Hermann wies in einem Artikel in der Neuen Züricher Zeitung auf Schwächen der Bischoffschen Schrift hin: So korrigierte er dessen Thesen zum Hirngewicht, stimmte jedoch gleichsam der Forderung einer Geschlechtertrennung in Bildungsangelegenheiten weitgehend zu. 124 Daraufhin verteidigte Bischoff vehement seine Thesen gegen Böhmert und Hermann in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. 125 Katharina Gundling, Tochter des Schriftstellers und Korrespondenten der Allgemeinen Zeitung Julius Gundling, die zu dieser Zeit in Zürich studierte und kurz darauf als eine der ersten Hörerinnen nach Prag wechselte, korrigierte Bischoff in einem knappen Artikel, indem sie auf erfolgreiche Medizinerinnen des 18.Jahrhunderts hinwies. 126 Die Debatte in der Augs-

122 Vgl. Hermann Jacoby, Grenzen der weiblichen Bildung. Gütersloh 1871. 123 Vgl. Carl Victor Böhmert, Das Frauenstudium mit besonderer Rücksicht auf das Studium der Medicin, in: Allgemeine Zeitung Augsburg 23.07.1872, 25.07.–26.07.1872, 3149–3151, 3182–3183, 3198–3200; vgl. auch ders., Das Studium der Frauen an der Universität Zürich, in: Der Frauenanwalt 1, 1870, 16–25; ders., Die zweite Doctorpromotion einer Dame in Zürich, in: Der Frauenanwalt 1, 1870, 56–62; ders., Das Studium der Frauen in Zürich und Edinburgh, in: Der Frauenanwalt 2, 1871, 309–313; ders., Das Studium der Frauen in Zürich und Edinburgh, in: NZZ 18.01.1872. 124 Separatdruck des Artikels vgl. Ludimar Hermann, Das Frauenstudium und die Interessen der Hochschule Zürich. Zürich 1872, 8, 11. 125 Vgl. Theodor L.W. Bischoff, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen, in: Allgemeine Zeitung Augsburg 20.08.–21.08.1872 3567–3568, 3584–3585. 126 Vgl. Katharina Gundling, Noch einmal das Frauenstudium, in: Allgemeine Zeitung Augsburg

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burger Allgemeinen Zeitung schloss der national-liberale Politiker und Jurist Friedrich Oetker mit seiner vorsichtigen Kritik an Bischoff und sah zumindest im Bereich von Frauen- und Kinderärztinnen eine Notwendigkeit weiblicher Ärzte. 127 Lediglich der Rostocker Ophthalmologe Wilhelm von Zehender sprang Bischoff zur Seite, wenngleich auch sein Urteil ambivalent blieb: So stimmte er zwar den Thesen zum Hirngewicht weitgehend zu, zog daraus jedoch nicht so weitreichende Konsequenzen – er lobte die feinen Sinnesorgane und große Gedächtnisstärke von Frauen, lediglich das mathematische Denken fehle ihnen zum medizinischen Talent. 128 Im Jahr 1877 bemüßigte sich Bischoff abermals, sich zur Frage zu äußern – diesmal in der Wiener Hochschulzeitschrift „Alma Mater“. Erneut erntete er Kritik. Diesmal war es der Züricher Anatomieprofessor Georg Hermann von Meyer, der „das Frauenstudium“ gegen „unbillige Angriffe in Schutz nahm“. 129 Die bereits erwähnten Arbeiten Brühls taten ihr übriges, um auch auf streng wissenschaftlichem Gebiet die Thesen Bischoffs als unhaltbar zu entlarven. Damit lässt sich als Resultat dieser ersten Auseinandersetzung konstatieren, dass die Kritik an Bischoff deutlich überwog. Auch zeitgenössische Einschätzungen zur ersten Debattenwelle bezeichneten deren Ausgang als eher günstig für die Ziele der Frauen. 130 Noch bevor der Vortrag Waldeyers 1889 in Druck ging, begann die zweite Welle der Auseinandersetzung, denn die Presse berichtete lebhaft über seine Thesen. Die Forderungen der Frauenbewegung waren damit nicht aus der Welt, vielmehr erreichte die Frauenbildungsfrage eine bislang kaum gekannte Öffentlichkeit. Mehr noch, seit März 1888 trat eine Vereinigung neuen Typs in Erscheinung, die in ihren Forderungen weitaus kompromissloser auftrat als die sich vorsichtig vorantastenden Aktivistinnen der „älteren Richtung“ des ADF. 131 In der ernestinischen Klassikerstadt Weimar hatte sich bereits im Februar 1888 das Gründungskomitee des Frauenvereins Reform konstituiert, in dessen Reihen sich als „radikal“ bekannte 05.11.1872, 4728; auch sie betätigte sich bereits zuvor als Agitatorin. Vgl. Katharina Gundling, Die weiblichen Studenten in Zürich, in: Der Bazar. Illustrirte Damen-Zeitung 17, 1871, 262. 127 Vgl. Fr. Oetker, Der ärztliche Beruf der Frauen, in: Allgemeine Zeitung Augsburg 07.10.1873, 4249– 4261. 128 Zehender, Ueber den Beruf (wie Anm.90). 129 Vgl. Bischoff, Zulassung von Frauen (wie Anm.113); Georg Hermann von Meyer, Zur Frage der Zulässigkeit der Frauen zu den Universitäts-Studien, in: Alma Mater 3, 1878, 63–64. 130 Vgl. Anonymus, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen, in: Das Vaterland 17.12.1872. 131 Bäumer, Geschichte der Frauenbewegung (wie Anm.8), 155.

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Frauenrechtlerinnen überregional assoziierten 132: Unter ihnen fanden sich u.a. die bereits 1874 eloquent gegen Bischoff argumentierende Berlinerin Hedwig Dohm, die für rechtliche Gleichheit eintretende Wienerin Irma von Troll-Borostyáni sowie die in Zürich lebende Schriftstellerin Julia Engell-Günther unter dem Vorsitz von Hedwig Kettler, die sich in Anlehnung an die Jungfrau von Orleans „Johanna“ nannte. 133 Kurze Zeit nach Waldeyers Vortrag überreichten sie den Unterrichtsministerien in Preußen, Bayern und Württemberg eine Petition, die weit über das vom ADF geforderte Maß hinausging und die „Zulassung des weiblichen Geschlechts zum Maturitätsexamen an Gymnasien und Realgymnasien und zum Studium auf Universitäten und Hochschulen“ verlangte. 134 Die „Bischofischen Gespenster“ 135 schienen Form anzunehmen, die von Waldeyer gefürchtete Frauenemanzipation schritt zum vermeintlichen Schaden von Familie und Vaterland voran. Dementsprechend vehement war die Kritik auf seinen Vortrag. Die verdiente Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Lina Morgenstern argumentierte in ihrer Kritik an Waldeyer auf Grundlage einer rechtlichen Gleichberechtigung der Geschlechter; dabei gab sie jedoch die Vorstellung einer komplementären Sphärentrennung nicht auf: Vor allem die durch Begabung und einem ehelosen Schicksal dazu berufenen Ausnahmefrauen, sollten ihren Weg an die Universitäten finden. 136 Damit entsprach sie einer weitverbreiteten Ansicht, der selbst konservative Kräfte etwas abgewinnen konnten und auf deren Grundlage sich schließlich ein Durchbruch in der Auseinandersetzung erzielen ließ. Unter den Medizinern fand Waldeyer mit dem in München lehrenden Franz von Winkel seinen schärfsten Widersacher: In einem Artikel in den Münchner Neuesten Nachrichten schilderte er die Situation von Frauen in Paris, die dort

132 Der zunächst von Gegnern auch in den eigenen Reihen der Frauenbewegung genutzte Begriff „radikal“ setzte sich zunehmend als Eigenbezeichnung durch. Vgl. Anonymus, Radikal, in: Die Frauenbewegung 8, 1899, 706; Julius Duboc, Fünfzig Jahre Frauenfrage in Deutschland. Geschichte und Kritik. Leipzig 1896, 94. 133 Dohm erklärte Bischoff zu ihrem „Hauptgegner“ vgl. Hedwig Dohm, Die wissenschaftliche Emancipation der Frau. Berlin 1874, 9; zur Zusammensetzung des Vereins vgl. W. Grimm, Deutsche Frauen vor dem Parlament. Der Verein „Frauenbildungs-Reform“ in Weimar und seine Petitionen an den deutschen Reichstag und an die Landtage der deutschen Einzelstaaten. (Bibliothek der Frauenfrage.) Weimar 1893, 7 ff. 134 Vgl. ebd.31f. 135 Weber, Ärztinnen für Frauenkrankheiten (wie Anm.40), 51. 136 Vgl. Lina Morgenstern, Ein offenes Wort über das medizinische Studium der Frauen an Herrn Prof. Dr. W. Waldeyer. Berlin 1888, 5, 7, 14.

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viel weniger Einschränkungen unterlägen – zudem gäbe es dort bereits einige Beispiele hervorragender Arbeiten von Medizinerinnen. Winkel zeigte sich sehr aufgeschlossen gegenüber der politischen Frauen- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, was ihn als fortschrittlich-liberalen Geist auswies. Ihm entgegen stand der

Wiener Oberarzt Adolf Kronfeld, der Waldeyer in einem Artikel in der Wiener Medizinischen Wochenschrift weitgehend zustimmte. 137 Einige Jahre später äußerte sich der Prager Philologe Moritz Winternitz auf Waldeyers Rektoratsrede von 1898, in dem dieser auf den Standpunkt von Frauenuniversitäten eingelenkt war: Winternitz schilderte seine etwa zehnjährigen Erfahrungen mit Frauen an englischen Universitäten und trat für Koedukation und eine gleichberechtigte Zulassung von Frauen ein; dabei wies er die Notwendigkeit von Frauenuniversitäten zurück – eine Position, die sich bereits weitgehend durchgesetzt hatte, da niemand die Finanzierung derartiger Universitäten zu übernehmen bereit war und aufgrund der Ausnahme-These ohnehin mit keinem größeren Andrang von Studentinnen gerechnet wurde. 138 Waldeyer hatte mit seinem Vortrag Öl in das zunächst noch schwelende Feuer der Zulassungsdebatte gegossen und trieb die produktive Polarisierung voran. Im Falle Alberts sollte es 1895 kaum anders sein: Seine Intervention erweiterte das öffentliche Bewusstsein zur akademischen Frauenbildungsfrage, wie die österreichische Frauenrechtlerin Marianne Hainisch wenige Jahre später konstatierte: „Auch wurde die Streitfrage wochenlang zum Gesprächsthema in Kreisen, die sich bis dahin nicht für die Frauenbestrebungen interessiert hatten, sodass in den letzten 25 Jahren nichts so sehr die Frauenbewegung gefördert hat, als die Aussprache tiefster Missachtung, die der Essay des Gelehrten enthielt.“ 139

Das Neue Wiener Journal entschloss sich zu einer Enquete, von den 26 befragten Gelehrten – darunter zwei Frauen und neun Mediziner – äußerten sich 20 überwiegend positiv zum „Frauenstudium“. 140 In einem Begleitartikel hieß es triumphierend:

137 Vgl. Adolf Kronfeld, Die Aerztin, in: Wiener medizinische Wochenschrift 39, 1889, 1103–1106. 138 Zum Plan einer Gründung von Frauenhochschulen mit beschränktem Lehrangebot vgl. Christlieb Gotthold Hottinger, Eine Frauenhochschule: zunächst für Bibliotheks-, Museums-, Zeitungswesen. SüdendeBerlin 1899. 139 Marianne Hainisch, Die Geschichte der Frauenbewegung in Österreich, in: Lange/Bäumer (Hrsg.), Handbuch der Frauenbewegung (wie Anm.8), 167–188, hier 176. 140 Vgl. Anonymus, Männer über das Frauenstudium. Eine Umfrage des „Neuen Wiener Journal“, in: Neues Wiener Journal 10.–15.10.1895.

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„Auf, auf Ihr Männer! Vertheidigt die Schwachen, sorgt, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit auch der Frau gegenüber zur Geltung kommen. Und mit Genugthuung können wir hervorheben, daß unser Appell nicht wirkungslos verhallt ist. Dem Herrn Hofrath Albert sind Gegner erwachsen, die er wird gelten lassen müssen.“ 141

Unter diesen Gegnern fand sich der Budapester Ophthalmologe Wilhelm Goldzieher, der in einem Artikel des Pester Lloyd das Recht des Individuums zur Entfaltung seiner Begabung gegen die verallgemeinernden Angriffe Alberts verteidigte. Auch er betonte dabei explizit die Ausnahmetalente unter den Frauen. 142 Auch die erste Augenärztin Österreichs Rosa Kerschbaumer, die in Zürich und Bern studiert hatte, betrachtete die Angelegenheit als eine bürgerliche Rechtsfrage und wies damit die Reduktion des Problems auf eine soziale Frage zurück. Ihr war es besonders wichtig, die Behauptungen Alberts bezüglich des Frauenstudiums in ihrem Heimatland Russland zu korrigieren. 143 Angestachelt durch Alberts Behauptung, Frauen hätte in der Kulturgeschichte der Menschheit niemals einen Fortschrittsbeitrag geleistet, führte der Zoologe Ernst Moritz Kronfeld reichhaltige Gegenbeispiele erfolgreicher Frauen als Erfinderinnen und Ärztinnen an – dabei postulierte er zwar eine Verschiedenartigkeit der Geisteskräfte von Männern und Frauen, unterstrich jedoch trotz dieser Differenzen das gleiche Maß an Leistungsfähigkeit auf geistigem Gebiet. 144 Der Direktor des Wiener Pädagogiums Emanuel Hannak, der „den Ruf eines der vielseitigsten und tüchtigsten Pädagogen Deutschösterreichs“ genoss, zeigte sich in seiner kritischen Replik auf Albert offen für Koedukation und unterstrich dabei die Entwicklungsfähigkeit des weiblichen Verstandesvermögens, wenn dieses nicht länger durch falsche Erziehung vor seiner Entfaltung gehindert werde. 145 Zudem äußerte sich der Wiener Rechtssoziologie Eugen Ehrlich ganz ähnlich wie Goldzieher und appellierte an eine aristotelische Gerechtigkeitsverpflichtung, die es notwendig mache, vorhandene Begabung nutzen zu dürfen – dabei hatte auch er begabte Ausnahmefrauen im Auge und glaubte, dass der Durchschnitt von

141 Anonymus, Professor Albert gegen die Frauen, in: Neues Wiener Journal 10.10.1895. 142 Vgl. Wilhelm Goldzieher, Sollen Frauen zum Studium der Medizin zugelassen werden? In: Pester Lloyd 20.10.1895, 5–6. 143 Vgl. Kerschbaumer, Prof. Albert (wie Anm.49). 144 Vgl. Kronfeld, Die Frauen (wie Anm.51). 145 Vgl. Emanuel Hannak, Prof. E. Alberts Essay „Die Frauen und das Studium der Medicin“, krititisch beleuchtet. Wien 1895; Sander, Hannak, Emanuel, in: Allgemeine Deutsche Biographie 50 (1905), 555–556.

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Frauen an die Leistungen der Männer kaum heranreiche, wenngleich dies allein jedoch kein Grund sei, sie von höheren Studien auszuschließen. 146 Einzig der als Chronist der Debatte auftretende Philologe Adolph Phillipi konnte Alberts Thesen etwas abgewinnen: Er schien besonders die Angriffe von „nicht-Ärzten“ abwehren zu wollen und behauptete eine stumme Mehrheit unter den Medizinern, die Albert insgeheim zustimmen würden. 147 Ob vorhanden oder nicht, die Unterstützer Alberts äußerten sich weitgehend nicht, sodass sich die Stimmung deutlich zugunsten der Fraueninteressen verschieben konnte. Abermals hatte eine polemische Zuspitzung dafür gesorgt, dass es zu einer produktiven Umwandlung des Diskurses kam, was zwar die Polarisierung vorantrieb, dabei jedoch die reaktionären Gegner erweiterter Frauenbildung zunehmend isoliert zurückließ. Hierbei wird deutlich, welche wichtige Rolle der breiteren Öffentlichkeit beim Popularisierungsprozess zukam. Denn im Gegensatz zum hierarchischen Modell des diffusionistischen Ansatzes, der Wissenschaftspopularisierung als passives Top-down-Verhältnis auffasst, muss die Öffentlichkeit als eine aktive Arena im Kampf zur Etablierung gültigen Wissens begriffen werden. Als entscheidend für die hier beschriebenen Umwandlungsprozesse des Geschlechterwissens erwies sich die Definitionsmacht über die Stimmung der öffentlichen Meinung. Um diese Definitionsmacht zu erlangen, interpretierten die Akteurinnen und Akteure jeden Angriff als eine indirekte Bestätigung der eigenen Ziele. Diese Taktik machte sich der Mädchenschuldirektor Richard Wulckow zunutze und charakterisierte Penzoldts Vortrag auf dem Ärztetag von 1898 als eine positive Entwicklung: Der dort vorgebrachte Standpunkt sei so offensichtlich durch Konkurrenzfurcht bestimmt, dass dies den Zielen der Frauenbewegung in der Öffentlichkeit nur dienlich sein könne. 148 Unter den Medizinern war es abermals ein Züricher Kollege, der als Kritiker in Erscheinung trat. Der Physiologe Rudolf Höber appellierte an das Gerechtigkeitsgefühl der deutschen Öffentlichkeit – gleichwohl könne er es nicht begreifen, wie Professor Penzoldt behaupten könne, dass es das Ziel sei, ebenso viele Ärztinnen wie Ärzte auszubilden. Erneut fungierte die These des weiblichen Ausnahmetalents als Mediator in der Debatte: Auf diese Weise blieb das Häuslichkeits- und Mutter-

146 Vgl. Eugen Ehrlich, Zur Frage des Frauenstudiums, in: Deutsche Worte 15, 1895, 703–712, hier 705f. 147 Vgl. Adolph Philippi, Ueber Frauenstudium, insbesondere Medizin, in: Akademische Revue 2, 1896, 321–331. 148 Vgl. Richard Wulckow, Der Aerztetag und die Aerztinnen, in: Die Gegenwart 54/29, 1898, 35–37.

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schaftsideal unangetastet und den Gegnern war Wind aus den Segeln genommen. 149 Auf universeller Grundlage argumentierte hingegen der freiberufliche Arzt Max Flesch im Organ des radikalen Flügels der deutschen Frauenbewegung: Er glaubte nicht an eine spezielle Begabung von Frauen im Bereich der Kinder- und Frauenheilkunde und sprach sich im Sinne der Gerechtigkeit für eine vollständige Gleichheit aus, was die Schaffung von Mädchengymnasien und die Zulassung zu allen Fakultäten einschloss. 150 Die Züricher Studentin der Medizin Helene Friderike Stelzner verdeutlichte in ihrer Kritik an Albert, dass es auf Grundlage der von ihr gemachten Erfahrungen keine Bedenken eines koedukativen Studiums gäbe – ein deutliches Statement gegen gesonderte Frauenuniversitäten. 151 Der freiberufliche Arzt Alexander Frankenburger vertrat die einsame Stimme ärztlicher Standespolitik in der immer hoffnungsloseren Abwehr einer angeblich „weiblichen Konkurrenz“: In seinem Artikel offenbarte sich, dass die Forderung des Ärztetages nach einer Öffnung aller Fakultäten lediglich ein Rückzugsgefecht war, weil sich eine orthodoxe, gänzlich ablehnende Linie nicht mehr halten ließ. 152 Indes prasselten die gewichtigen Argumente der Frauenrechtlerinnen auf Penzoldt und den Ärztetag ein, unter den Stimmen befanden sich die bekanntesten Akteurinnen der Bewegung im deutschsprachigen Raum, darunter Auguste Schmidt und Auguste Fickert. 153 Die Lehrerin Clementine Braunmühl zerlegte Penzoldts Vortrag detailreich Argument für Argument: Ihre normative Grundlage war das Menschenrecht zur freien Entfaltung individueller Anlagen. Dies griff die Vorstellungen vom eigentlichen Beruf der Frau nicht an, solange nur den begabten Ausnahmen freie Bahn gelassen würde, denn es werde „doch stets nur ein kleiner Prozentsatz der studirenden Frauen von diesem Zugeständnis Gebrauch machen, da die Ehe immer der erste und natürlichste Beruf der Frau bleiben wird.“ 154

149 Vgl. Rudolf Höber: Das Medizinstudium der Frauen, in: Die Zukunft 1, 1899, 422–427, hier 423. 150 Vgl. Flesch, Der deutsche Aerztetag (wie Anm.100). 151 Vgl. Stelzner, Frauenuniversitäten (wie Anm.103). 152 Vgl. Alexander Frankenburger, Medizinstudium der Frauen, in: Bayerisches ärztliches Correspondenzblatt 3, 1899, 11, 98, 109–110, hier: 98, 109f. 153 Vgl. Auguste Schmidt, Die deutschen Universitaeten und das Frauenstudium, in: Neue Bahnen 33, 1898, 251–253; Auguste Fickert, Das Medicinstudium der Frauen, in: Wiener klinische Rundschau 13, 1899, 241–243; Sidonie Binder, Das Frauenstudium und der Reichstag, in: Der Frauenberuf 1, 1898, 185–187; dies., Zum Wiesbadener Ärztetag, in: Die Frau 5, 1898, 705–712; dies., Das Frauenstudium, in: Frauenberuf 1, 1898, 323–324. 154 Clementine Braunmühl, Besprechung des Referates über das Medizinstudium der Frauen auf dem 26.

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Als Runge im Juni 1899 mit seinem Machwerk an die Öffentlichkeit trat, waren die wichtigsten Weichen zur Etablierung von Ärztinnen in Deutschland bereits mit der Bekanntmachung des Reichskanzlers über die Beschlüsse des Reichsrates vom 20.April 1899 gestellt. Seine Abwehrschrift erreichte weit weniger Adressatinnen und Adressaten als der von ihm ein Jahr zuvor veröffentlichte Rundumschlag gegen die Frauenemanzipation. Dennoch sahen sich der junge Germanist Heinrich Meyer, der Kaufmann und Politiker Bernhard Brons sowie der sozialdemokratische Doktorand Fritz Brupbacher dazu veranlasst, Einspruch zu erheben. 155 In allen fünf Fällen der beschriebenen Abwehrschriften nutzten die orthodoxen Mediziner eine bereits weitgehend erfolgte alltagsweltliche Popularisierung des Geschlechterwissens zur Aufrechterhaltung bestehender Ordnung. Jedoch waren ihre Interventionen bereits Zeichen einer sich zuspitzenden Krise dieser Ordnung. Die Lösung dieser Krise hatte keine revolutionäre Umgestaltung des Geschlechterverhältnisses zur Folge, wie sie radikale Kreise der Frauenbewegung als einen tief greifenden Kulturwandel anstrebten. 156 Die sich im Prozess einer produktiven Polarisierung dynamisierende Transformation des Geschlechterwissens verschob lediglich bestehende Grenzen: Zwar sorgte diese Verschiebung dafür, dass Frauen in das akademische Feld als Gymnasiastinnen und Studentinnen allmählich eintreten durften, doch blieben ihre Handlungsspielräume dort aufgrund unangefochtener Vorstellungen über Häuslichkeit und Mutterschaft sowie an diese Vorstellungen gekoppelte spezifische Frauenerwerbsarbeit begrenzt. Aufgrund dieser Vorurteilsmuster bestand kaum die Chance einer akademischen Karriere. Lediglich einigen wenigen „Ausnahmefrauen“ wurde zugestanden, in den inneren Kreis des akademischen Feldes als Privatdozentinnen und Professorinnen einzudringen – wenngleich

Deutschen Ärztetag zu Wiesbaden den 28. und 29.Juni 1898. Vortrag gehalten im Verein zur Gründung eines Mädchengymnasiums in München. (Mädchen-Gymnasium in München, Bd.4.) München 1899, 18. 155 Vgl. Heinrich Meyer, Prof. Runge und die Frauen, in: Die Frau 6, 1899, 710–716; Bernhard Brons, Die Frauenfrage in Göttingen, in: Allgemeine Deutsche Universitätszeitung 14/4, 1900, 35–36; Fritz Brupbacher, Geburtshelfer Runge und die Frauen-Emancipation. Eine Erwiderung. Zürich 1899. Dem in Zürich lebenden Brupbacher wurde wegen seines harschen Tones gegen Runge gar die Promotion verweigert, was seiner Karriere als erfolgreichem Sexualreformer jedoch keinen Abbruch tat. 156 Vgl. u.a. Irma Troll-Borostyáni, Die Gleichstellung der Geschlechter und die Reform der Jugend-Erziehung. Zürich 1888; Rosa Mayreder, Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays. Jena 1905; Käthe Schirmacher, Das Rätsel: Weib. Eine Abrechnung. Weimar 1911.

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hierfür noch die Schranken im Habilitationsrecht fallen mussten, was erst im Zuge der Weimarer Verfassung gelang. 157 Die Angst vor einer Kulturveränderung einer im Kern als „männlich“ begriffenen Universität, welche die orthodoxen Mediziner zu ihren Interventionen veranlasste, war demnach rückblickend betrachtet völlig unbegründet: Zwar scheiterten die orthodoxen Mediziner an einer biologistischen Zementierung des alltagsweltlichen Geschlechterwissens, mit ihren Interventionen verschärften sie sogar die Krise der Geschlechterordnung, die sich im akademischen Bereich erst mit der formalrechtlichen Zulassung von Studentinnen entspannte; doch führte diese Zulassung lediglich zu einer dynamischen Stabilisierung, welche das etablierte Geschlechterverhältnis im akademischen Betrieb nur graduell veränderte. Im Sinne der soziologischen Analyse Angelika Wetterers lässt sich dieser Prozess als Übergang von einer äußeren Grenzziehung mittels Gesetzen zu einer inneren Grenzziehung durch die Beibehaltung ausschließender Kulturpraktiken begreifen. 158 Mit ihrer lautstarken Fundamentalopposition gegen den gesellschaftlichen Wandel ließen die orthodoxen Mediziner selbst konservative Reformen als einen Fortschritt erscheinen. Darin liegt der tiefere Erfolg dieser an der Oberfläche gescheiterten Popularisierung eines mit medizinischem Spezialwissen unterfütterten alltagsweltlichen Geschlechterwissens. Die tatsächliche Transformation des alltagsweltlich verbreiteten Geschlechterwissens blieb begrenzt, ebenso wie die gesellschaftlichen Öffnungsprozesse, sei es in akademischen Berufskarrieren, politischen Rechten oder den Bestrebungen zur Sexualreform. 159

157 Vgl. Annette Vogt, Wissenschaftlerinnen an deutschen Universitäten (1900–1945). Von der Ausnahme zur Normalität? In: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21.Jahrhundert. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd.7.) Basel 2007, 707–730, hier 714f. 158 Vgl. Angelika Wetterer, Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. „Gender at Work“ in theoretischer und historischer Perspektive. (Theorie und Methode: Sozialwissenschaften.) Konstanz 2002, 435-–95. 159 Vgl. Planert, Antifeminismus im Kaiserreich (wie Anm.9), 81.

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Geschlechtliche Arbeitsteilung und die Kernfamilie Ökonomie in Zeugung und Vererbung Ende des 19. Jahrhunderts von Bettina Bock von Wülfingen

I. Einführung „Biology has evidently borrowed the terms ‘heredity’ and ‘inheritance’ from every-day language, in which the meaning of these words is the ‘transmission’ of money or things, rights or duties […] from one person to another or to some others: the ‘heirs’ or ‘inheritors’. The transmission of properties […] has been regarded as the essential point in the discussion of heredity in biology as in jurisprudence.“ 1

Was hat Vererben mit dem Verständnis der bürgerlichen Kernfamilie als natürlicher Einheit zu tun? Davon erzählt dieser Beitrag. 2 Und kaum jemand könnte einschlägiger sein, das Zusammentreffen von Vererbung und Jurisprudenz in der Biologie zu beschreiben, als der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen, der später auch als einer der Gründer der Genetik bezeichnet werden sollte. Was folgt, wenn man dieses Zitat Johannsens beim Wort nimmt? Ähnlich wie Sigrid Weigel, Stefan Willer und Bernhard Jussen in „Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur“ 3, startet dieser Beitrag mit der Prämisse, dass sich der Gebrauch dieses Begriffs Erbe – bzw. in diesem Fall „Vererbung“ – besser verstehen lässt, wenn man davon ausgeht, dass er nicht zufällig gewählt wurde – wenn also, wie ich zuspitzen möchte, die jeweiligen Assoziationen in Kauf genommen werden, wenn nicht sogar gewünscht sind. Zugleich sind die Bedeutungen von Begriffen kontextabhängig – was

1 Wilhelm Johannsen, The Genotype Conception of Heredity, in: The American Naturalist, 45 (531), 1911, 129. 2 Längere Ausführungen hierzu finden sich in Bettina Bock von Wülfingen, Die Kernfamilie unter dem Mikroskop. Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Eizelle – eine intime Beziehung, 1870–1900. Berlin 2020. 3 Stefan Willer/Siegrid Weigel/Bernhard Jussen, Erbe, Erbschaft, Vererbung (Kap. 1), in: Dies. (Hrsg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, Berlin 2013, 7–36.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-007

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also unter Vererbung im Recht zu verstehen ist, hängt von seinem jeweilig historisch gebundenen Verständnis in dem entsprechenden Rechtsraum ab. Wie und wo wurde in biologischen Darstellungen „inheritance“ (so der entsprechende biologische Begriff im Englischen), „hérédité“ (wie es im Französischen heißt) oder „Vererbung“ als solche beschrieben, bevor dieser Begriff als Fachterminus Allgemeingut in der Biologie wurde, also zwischen den ersten Erwähnungen der Erbe übertragenden materiellen Partikel in den 1880er Jahren und 1900, als Mendels Beschreibungen seiner Vererbungsexperimente breiten Anklang fanden? Der folgenden Erzählung sei zu Beginn vorausgeschickt, dass fast sämtliche Artikel, die um und nach 1900 in verschiedenen Sprachen als Meilensteine der Vererbungsforschung gefeiert und zitiert wurden, aus dem deutschen Sprachraum stammen. Entsprechend wäre es also das deutsche Vererbungsrecht zu der Zeit, zu dem hier Bezug besteht. Es stellte sich also die Frage: Was war das historische Ereignis im Kaiserreich, das den Hintergrund für die biologischen Vererbungsstudien ausmachte? Dieser Beitrag schlägt vor, dass es für deutschsprachige Autoren, die über biologische Zeugung und Weitergabe von Eigenschaften schrieben, nahelag, sich vom Erbrecht inspirieren zu lassen. Denn zur gleichen Zeit, da die Vererbung materieller Güter zum zentralen Forschungsgegenstand in der deutschsprachigen Zeugungs- und Reproduktionsforschung avancierte, arbeitete man zwischen 1873 und 1900 auch an der ersten bürgerlichen Gesetzgebung des nach dem Deutsch-Französischen Krieg gegründeten Deutschen Kaiserreichs, dem Bürgerlichen Gesetzbuch des Deutschen Reiches (BGB). Ein im ganzen Kaiserreich geltendes Bürgerliches Recht zu schaffen, war ebenso maßgeblicher Teil der Nationsgründung wie die umfangreiche zentrale Förderung naturwissenschaftlicher Labore seit Anfang der 1870er Jahre. In der Öffentlichkeit waren die entsprechenden Entwürfe rechtlicher Änderungen in aller Munde, in allen Sektoren des Kaiserreichs, in Arbeitervereinen, Gewerkschaften, den Frauenverbänden und unter Grundeigentümern wurde Erbschaft und Familienrecht ausgiebig diskutiert ebenso wie in den Zeitungen von großer Auflage, den „Neuesten Mitteilungen“ und der „Provinzial-Correspondenz“. Mit dem BGB waren gerade auch vor dem Hintergrund wachsender Armut und dem Druck zur sozialen Befriedung im Land ebenfalls Fragen der Vererbung und Reproduktion sowie zusätzlich solche der privaten Kapital- und Hauswirtschaft zu klären. In dieser Zeit entstand gemeinsam in Recht und Biologie die verkleinerte bürgerliche Kernfamilie als natürliche Einheit. Dabei wurde übereinstimmend mit ökonomischer Arbeitsteilung und ge-

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schlechtlicher Konnotation der Bereich der Verwaltung des Kapitals und des Produktiven vom damals als nicht zum Ökonomischen gehörigen Reproduktionsbereich (Familienarbeit/Zellplasma) getrennt. Wurde für die Biologie diese Asymmetrie schon von Helga Satzinger beschrieben (s. Abschnitt III), ist der Inhalt hier anders gelagert: Im Fokus des Beitrages steht die Überkreuzung dieser Zellforschung mit den juristischen Veränderungen vor allem im Erb- und Familienrecht. Dieser Artikel vergleicht biologische Studien mit den zeitgenössischen juridischen Rechtsentwürfen und Kommentaren. Prominente Figuren sind im vorliegenden Text der Biologe Oscar Hertwig und die Juristen Levin Goldtschmidt und Otto Gierke. Die folgenden Ausführungen zeichnen also in einer interdisziplinären Begriffsgeschichte 4 die Entwicklung der Verflechtung von Vererbung und Kernfamilie in Zellbiologie und Recht in der neu entstehenden bürgerlichen Ordnung im Wilhelminischen Reich nach. Popularisierung bezieht sich hier auf diese Verflechtungsgeschichte 5: Der biologische Begriff der Vererbung wäre nicht derselbe ohne die Referenz auf das Recht und all die (u.a. ökonomischen) Assoziationen, die sie mit sich bringt, während auch der rechtliche Begriff der Vererbung ohne die gleichzeitige Unterstützung durch die Biologie nicht derselbe wäre. Indem Vererbung einen Begriff aus dem (rechtlichen) Lebensalltag der Leute darstellte und seit den späten 1870er Jahren auf ein Phänomen übertragen wurde, das ansonsten nur einem engen Kreis fachkundiger Naturwissenschaftler vertraut war, konnte diese komplexe biologische Vererbung popularisiert und die rechtliche Vererbung zugleich im neuen

4 Begriffsgeschichte meint die Untersuchung von diachronen und interdisziplinär synchronen Überschneidungen und Veränderungen von Bedeutungen; von Knotenpunkten im diachronen Bedeutungswandel einzelner Worte, Kristallisationen sprachlicher Bedeutungen, s. Ernst Müller/Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Berlin, 2016, 18. Stets geht es darum, mit Reinhart Koselleck gesprochen, die „Eindrücke der Erfahrung von historischem Wandel“ zu verfolgen, Javiér Fernández Sebastián/Juan Francisco Fuentes, Conceptual History, Memory, and Identity, in: Contributions to the History of Concepts 2, 2006, 99–127, hier 120. Eine Begriffsgeschichte, die Übertragungen zwischen verschiedenen, insbesondere naturwissenschaftlichen Disziplinen in den Blick nimmt, bezieht ihren Anstoß von Ludwik Fleck und George Canguilhelm und verwandelt sich historischer Diskursanalyse an, Ernst Müller/Falko Schmieder, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Berlin 2008, XI–XXIII. 5 Solche Verflechtungsforschungen erweitern den bisherigen Stand der jüngeren Popularisierungsforschung, vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19.Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit. 1848–1914. 2. erg.Aufl. München 2002, 243ff., s. auch Bettina Bock von Wülfingen, Metaphor and the Popularization of Contested Technologies, in: Anke Beger/Thomas Smith (Eds.), How Metaphors Guide, Teach and Popularize Science. Amsterdam 2020, 113– 139.

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Konzept der Kleinfamilie naturwissenschaftlich geadelt und damit scheinbar naturgewollt und unumstößlich werden. Es ist die Beziehung zwischen diesen Konzepten, die Beziehung innerhalb ihrer Konstituenten und die gegenseitige Affirmation der beiden diskursiven Felder, die das spätmoderne (deutsche) Konzept der Vererbung entstehen ließen. Im Zentrum dieser Ausführung stehen die „Anlagen“ und das „Vermögen“, das das Erbmaterial darstellt, die verschiedenen ökonomischen Termini, in denen es gefasst wird, sowie die Regeln seiner Weitergabe und seiner Regierung durch den männlichen Zeuger in einem arbeitsteiligen (Zell-)Haushalt. Diese Begriffsgeschichte legt nahe, dass deutschsprachige Zeugungsforscher auf der Suche nach „Modellen“ (so der Wissenschaftshistoriker Silvan Schweber zu den Begriffsübertragungen durch Darwin) 6 bzw. nach „Analogien“ (so Jonathan Hodge ebenfalls über Darwin) 7 sich zunächst des Rechts und der Ökonomie bedienten und umgekehrt die Autoren des BGB ihre Entscheidungen naturwissenschaftlich zu fundieren suchten. Dabei tauchten auf beiden Seiten zugleich Vorstellungen vom Staat als Organismus auf – dies wird am Schluss näher ausgeführt. Bei der Anlage und dem Vermögen als Modell handelt es sich um ein begriffliches Cluster 8, das die angehörigen Begriffe der Finanzwirtschaft aufruft. Nachdem im folgenden Abschnitt anhand des Forschungsstandes zunächst die relevanten ökonomischen Konzepte und die Überschneidungen zwischen Vererbung und Zeugung im Recht und in der Naturforschung eingeführt werden, stellt der dritte Abschnitt dar, was überhaupt die erblichen Güter waren, um die es bei der biologischen Vererbung vor 1900 ging, und welche Rolle die Vererbung von Gütern im gesellschaftlichen Sinne im Zellkern spielte. Von welcher Art Kapital war die Rede, wenn mit dem Zellkern etwas vererbt wurde, und welchem Wandel war es unterworfen? Letzterer war verwoben mit sexueller Fortpflanzung und Vorstellungen

6 Silvan S. Schweber, Darwin and the Political Economists, in: Journal of the History of Biology, 13, 1980, 195–289. 7 M. Jonathan S. Hodge, Capitalist Contexts for Darwinian Theory. Land, Finance, Industry and Empire, in: Journal of the History of Biology, 42, 2009, 399–416. 8 Nach der Kritik einer lexikographischen Begriffsgeschichte führt die Dezentrierung des Begriffs – mit Ernst Müller und Falko Schmieder – zur Darstellung historisch sich wandelnder „Konstellationen mehrerer, wechselseitig voneinander abhängiger Begriffe“ hin zur Untersuchung „begrifflicher Netzwerke und Clusterbildungen“, Müller/Schmieder, Einleitung (wie Anm.4), XI; vgl. auch Müller/Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik (wie Anm.4).

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von Optimierung und Profit: Mit der Entdeckung, dass beide Elternteile (und nicht nur die weibliche Keimzelle) materiell zu den Nachkommen beitragen, verdrängte dieses neue Konzept die bis dahin vorherrschende Vorstellung von angehäuftem Material, das den Nachkommen zugute kommt. Der vierte Abschnitt fokussiert sich darauf, wie mit der sexuellen Reproduktion eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den Haushalt der biologischen Zelle eingeführt wurde, die den Debattenverläufen um die Regelung von Erbrecht und Familienrecht im sich neu entwickelnden BGB nach 1871 entsprach. Hierauf hebt der fünfte Abschnitt ab, der kurz die Hinter-

gründe zum ersten BGB-Entwurf erläutert und darlegt, welcher Art die begrifflichen Übertragungen zwischen Recht und Biologie waren. Abschließend wird der Kontakt zwischen Recht und Biologie über die Begriffsgeschichte hinaus anhand zweier Schlüsselfiguren aufgezeigt, die sich in der so genannten Berliner Universität, der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität, als Rektoren die Klinke – und damit auch Konzepte zu nationalen Problemstellungen – in die Hand drückten. Es scheint zunächst nahezuliegen, ökonomische Termini im Zusammenhang mit Vererbung in biologischen Texten als Metaphern, also als Eintragungen aus einem „fremden“ Feld zu bezeichnen. 9 Bei der Verwendung von Begriffen der Ökonomie, die in der Biologie nach 1870 Aufbruch und Liberalismus andeuteten, handelte es sich tatsächlich um Übertragungen, da sie in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in der Ökonomie wissenschaftlich wie auch im sozialen Alltag viel geläufiger waren als jenseits des wirtschaftlichen Bedeutungskontextes. 10 In der Wissenschaftsgeschichte wurde in Bezug auf Charles Darwin gezeigt, dass gerade die Verwendung ökonomischer Begriffe der Popularisierung der entsprechenden biologischen Konzepte diente, da insbesondere breit rezipierte Ökonomen etwa die Entwicklungen von Firmen evolutionstheoretisch erklärten. 11 Allerdings verrät ein weiter reichender historischer Blick, wie im Folgenden nach

9 Dieter Teichert, Haben naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte? Anmerkungen zum Zusammenhang von Metaphorologie und Begriffsgeschichte bei Hans Blumenberg, in: Müller/Schmieder (Hrsg.), Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften (wie Anm. 4), 97–116. 10 Trevor Barnes, Reading the Texts of Theoretical Economic Geography. The Role of Physical and Biological Metaphors, in: Trevor Barnes/James S. Duncan (Eds.), Writing Worlds. Discourse, Text and Metaphor in the Representation of Landscape. London 1992, 118–135. 11 Silvan Schweber, Darwin and the Political Economists. Divergence of Character, Journal of the History of Biology 13, 1980, 189–195; vgl. zur popularisierenden Verwendung von Metaphern in der Gegenwart Bettina Bock von Wülfingen, Metaphor and the Popularization (wie Anm.5).

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einer Übersicht über die Geschichte des Erbes kurz angedeutet wird, dass die Beschreibung biologischer Vererbungsvorgänge mit Begriffen der Ökonomie der Biologie näher liegt, als die Rede von ökonomischen „Metaphern“ vermuten lässt. Daher soll im Folgenden etwas vorsichtiger von „Übertragungen“ die Rede sein.

II. Der Komplex Ökonomie, Vererbung und Zeugung vor 1870 Während Wissenschaftsgeschichte und Philosophie sich bis vor einigen Jahren der Semantik der Vererbung in der Biologie noch kaum angenommen hatten 12, trägt ein Sammelband von Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen von 2013 zu einem umfassenderen Verständnis der Verschränkung von Vererbungskonzepten im Biologischen und Rechtlichen bei. 13 Sie machen mit den bürgerlichen Umwälzungen im Europa um 1800 einen Übergang von vormodernen zu modernen Konzepten der Vererbung aus: Der Begriff des Erbes lässt sich zunächst nach frühneuzeitlichen Wörterbucheinträgen von „erw“ ableiten, womit einerseits „Acker“ oder „Erde“ gemeint sind 14, was andererseits jenes einschließt, was darauf bestellt und „erwirtschaftet“ wird, sowie schließlich auch das bezeichnet, was man durch einen Nachlass „erwirbt“. Stets finden sich zumindest im Deutschsprachigen auch religiöse Bezüge zur Erde als Acker Gottes. Das Vererben im Sinne eines Übertragens nach dem Tod schien einer „religiösen Jenseitsökonomie“ zu folgen, die sich aber in den Lexikoneinträgen zu „Erbschaft“ im 19.Jahrhundert verlor. Stattdessen verbreitete sich zunehmend das Wissen um sexuelle Reproduktion, in der die Ähnlichkeit zwischen Erblassern und Kindern an materiellen Trägern festgemacht wurde. 15 Zugleich stellte der Code Napoléon und das Allgemeine Landrecht für die Preu-

12

So noch im Jahr 2007 die Diagnose in Staffan Müller-Wille/Hans-Jörg Rheinberger, Heredity – the For-

mation of an Epistemic Space, in: Dies. (Eds.), Heredity Produced. At the Crossroads of Biology, Politics, and Culture, 1500–1870. Cambridge 2007, 3–34. 13

Willer/Weigel/Jussen, Erbe (wie Anm.3).

14

Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 1,

A–E, 2.Aufl. Leipzig 1793. 15

Das Erbe wanderte aus der Jurisprudenz bereits im 18.Jahrhundert in die Naturforschung ein, s. Hans-

Jörg Rheinberger, Begriffsgeschichte epistemischer Objekte, in: Müller/Schmieder (Hrsg.), Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften (wie Anm.4), 1–9.

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ßischen Staaten seit 1794 das zuvor übliche testamentarische Erben, das oft von kirchlichen Fachleuten geregelt wurde, in Frage; in jenen Ländern, in denen diese Regelungen Gültigkeit besaßen, wurde das Pflichterben zu gleichen Teilen unter den Kindern eingeführt. Die Moderne ließ das Erbe als „verbindliche Institution“ zu einer „individuellen Verfügungsmasse“ werden 16, wobei das Erbgut als zuvor etwas Körperfremdes zunächst in dessen Inneres

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und daraufhin auch in den Zellkern

wanderte. Darüber hinaus zeigte der Wissenschaftshistoriker Frederick Churchill, dass die naturwissenschaftlichen Konzepte der Fortpflanzung in der Zeit zwischen 1850 und 1880 mit ökonomischen Begriffen wie „Menge“, „Überschuss“ oder „Wachstum“ gespickt waren. 18 Er führte aus, wie die Entwicklung von diesem Paradigma sich zur Idee des qualitativen Wandels (der Optimierung oder Optimalisierung) 19 über Generationen verschob, wovon im dritten Abschnitt die Rede sein wird. Im Zuge dessen wurde zunehmend der Begriff der „heredity“ mit „inheritance“ ersetzt, und in deutschsprachigen Texten tauchte neben „Zeugung“ und „Generation“ der Begriff der „Vererbung“ auf. Im Englischen wie im Deutschen wurde „vererben“ dann auch als Verb verwendet – und demgegenüber vermehrt der Begriff Reproduktion. Bisher wurden Analogien oder Zusammenhänge zwischen sozialen Erbregelungen und Konzepten des Erbes in der Natur in drei weiteren Studien explizit verhandelt. Gegenstand war dabei weniger das Erbrecht und die biologische Vererbung, sondern vielmehr der Nachweis von Vater- und Mutterschaft im 18.Jahrhundert 20 sowie die Liebesheirat im Zusammenhang mit dem Erben von Land. 21 Der Begriff der Reproduktion betont die Wiederhervorbringung des Gleichen – eine Perspektive, in der

16 Willer/Weigel/Jussen, Erbe (wie Anm.3), 17. 17 Ebd.18f. Vgl. auch Bettina Bock von Wülfingen, Freud’s „Core of our Being“ between Cytology and Psychoanalysis, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 3, 2013, 226–244; Bettina Bock von Wülfingen, Die Krise des Individuums und seine Heilung durch Vererbung, in: Ulrike Auga et al. (Hrsg.), Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen. Bielefeld 2011, 131–144. 18 Frederick B. Churchill, From Heredity Theory to Vererbung – the Transmission Problem, 1850–1915, in: Isis 78, 1987, 337–364. 19 Schweber, Darwin (wie Anm.6). 20 Sara Paulson Eigen, A Mother’s Love, a Father’s Line: Law, Medicine and the Eighteenth-Century Fictions of Patrilineal Genealogy, in: Kilian Heck/Bernhard Jahn (Hrsg.), Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 2000, 87–107. 21 David Warren Sabean, From Clan to Kindred. Kinship and the Circulation of Property in Premodern and Modern Europe, in: Müller-Wille/Rheinberger (Hrsg.), Heredity Produced (wie Anm.12), 37–60.

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Alain Pottage Parallelentwicklungen zwischen frühen Ideen zum Urheberrecht als „industrielle[m] Simulacrum“ für Konzepte der biologischen Vererbung seit der frühen Neuzeit diskutiert. 22 Spätestens seit 1844 verband Darwin Diversität, in der die „natural selection“ ihr „struggle for existence“ betrieb 23, mit sexueller Fortpflanzung. 24 Die Verbindung von beiden blieb jedoch bis 1875 ungeklärt, als nämlich festgestellt wurde, dass bei der Zeugung männliche und weibliche Vererbungssubstanzen zu gleichen Teilen zum neuen Embryo beitragen. 25 Die Wissenschaftshistorikerin Helga Satzinger wies darauf hin, dass in diesem Moment die Gleichheit der Geschlechter hätte herausgestellt werden können. 26 Stattdessen, so weist sie anhand der Arbeiten des Biologen Theodor Boveri aus den 1880er bis 1910er Jahren nach, fand die geschlechtliche Arbeitsteilung nun auch in die Zelle Eingang, wonach das weiblich konnotierte, da überwiegend von der Eizelle stammende Zellplasma die nährende Rolle einnahm, während der in Analogie zum Spermium männlich konnotierte Zellkern organisierte und (ver-)waltete. Dabei spiegelten die Vorgänge in der Zelle Satzinger zufolge die Arbeitsverhältnisse im Labor und im Haushalt der Boveris.

22

Alain Pottage, Clonal Patents: A Convergence of Heredity and Invention, in: Staffan Müller-Wille/

Christina Brandt (Eds.), Heredity Explored. Between Public Domain and Experimental Science, 1850–1930. Cambridge 2016, 265–282. 23

Falko Schmieder, On the Beginnings and Early Discussion of the Metaphor Survival of the Fittest, in:

Contributions to the History of Concepts, 6 (2), 2011, 53–68. 24

Schweber, Darwin (wie Anm.6), 286.

25

Bettina Bock von Wülfingen, Economies and the Cell. Conception and Heredity around 1900 and 2000.

Habilitationsschrift Humboldt-Universität zu Berlin 2011; Florence Vienne, Eggs and Sperm as Germ Cells, in: Nick Hopwood/Rebecca Flemming/Lauren Kassell (Eds.), Reproduction. Antiquity to the Present Day. Cambridge 2018, 413–426; Helga Satzinger, Differenz und Vererbung. Geschlechterordnung in der Genetik und Hormonforschung 1890–1950. Köln 2009. 26

Satzinger, Differenz und Vererbung (wie Anm.25); dies., The Politics of Gender Concepts in Genetics

and Hormone Research in Germany, 1900–1940, in: Gender & History 24, 2012, 735–754. S. auch Erna Lesky für die Antike und Emily Martin zur modernen Zeugungsbiologie: Erna Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Bd. 19.) Mainz 1950; Emily Martin, The Egg and Sperm. How Science has Constructed a Romance Based on Stereotypical Male-Female Roles, in: Signs 16, 1991, 485–501. S. auch Esther Fischer-Homberger, Stammbaum und Nabelschnur. Zur Embryologiegeschichte der Abstammung. William Harveys „De generatione animalium“ von 1651, in: Stefanie Brander et al. (Hrsg.), Geschlechterdifferenz und Macht. Reflexion gesellschaftlicher Prozesse. Freiburg 2001, 39–58; dies., Harvey’s Trouble with the Egg. Sheffield 2001; Thomas Cremer/Christoph Cremer, Rise, Fall and Resurrection of Chromosome Territories. A Historical Perspective, in: European Journal of Histochemistry 50, 2009, 161–176.

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Die Einführung des Begriffs der Reproduktion durch den Naturforscher Buffon Mitte des 19.Jahrhunderts 27 markiert den Beginn der zunehmenden Trennung von Reproduktion und Vererbung in den folgenden Jahrzehnten – begrifflich wurde zwischen Produktion und Reproduktion sowohl als biologischem Gegenstand der Untersuchung 28 als auch in Hinsicht auf Gesellschaft zunehmend unterschieden. Wie die männliche bürgerliche Freiheit, sich per Vertrag in Sold und Lohn zu begeben, in Widerspruch zur Rolle der Frau geriet, die samt Kind in voller Abhängigkeit zum Ehemann stand, in den meisten Fällen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildungswesen besaß und mit vornehmlich reproduktiver Arbeit assoziiert wurde, diskutiert man erst seit den 1970er Jahren in der uns heute vertrauten Breite. 29 Zugleich wurden mit rechtlichen Änderungen umfangreiche Austauschverhältnisse von Tätigkeiten im „Ganzen Haus“ auf das Geschlechterverhältnis in der bürgerlichen Kernfamilie reduziert. 30 Die Geschichte der evolutiv-physiologischen Begründung dieser Verhältnisse wurde besonders von Anne Fausto-Sterling aufbereitet. 31 So wie zu Erbe und Arbeitsteilung im Haushalt lässt sich ebenfalls auf frühere historische Untersuchungen des Komplexes von Ökonomie und Naturforschung zurückgreifen: Wirtschaftliche Begriffe und Prinzipien sind der Naturforschung von der Antike bis in die Moderne wenig fremd. Die Wirtschaftshistorikerin Margaret Schabas sieht die gemeinsame historische Wurzel im oikos, der aristotelischen Hausgemeinschaft. 32 Er basiert auf der Vorstellung, dass die Natur an sich nichts Überflüssiges produziert. 33 Der Botaniker Linné betrachtete die Ökonomie in der für das 18. Jahrhundert typischen Sichtweise, „not as a science of human economic in27 Vienne, Eggs and Sperm (wie Amn. 25); Ludmilla Jordanova, Interrogating the Concept of Reproduction in the Eighteenth Century, in: Faye Ginsburg; Rayna Rapp (Eds.), Conceiving the New World Order. Berkeley 1995, 369–386. 28 Nick Hopwood, The Keywords „Generation“ and „Reproduction“, in: Hopwood/Flemming/Kassell (Eds.), Reproduction (wie Anm.25), 287–304. 29 Ebd.; Sarah Franklin, Feminism and Reproduction, in: Hopwood/Flemming/Kassell (Eds.), Reproduction (wie Anm.25), 627–640. Siehe bereits weit vor den 1970er Jahren Simone de Beauvoir, The Second Sex. New York 1974 (1953). 30 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs-und Familienleben, in: Heidi Rosenbaum (Hrsg.), Seminar Familie und Gesellschaftsstruktur. Frankfurt am Main 1978, 161–214. 31 Anne Fausto-Sterling, Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York 2000; Franklin, Feminism (wie Anm.29). 32 Margaret Schabas, The Natural Origins of Economics. Chicago 2005. 33 Ebd.22ff.

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teraction but as a science of natural products and their ‘use’ for humans” 34; andererseits, so der Wissenschaftshistoriker Müller-Wille, ließen sich zur Zeit Linnés eher die Ökonomen von Botanik und Zoologie inspirieren als umgekehrt. Ökonomie war in der Frühmoderne ein Begriff mehr der Physiologie und der Naturgeschichte als des Handels und Gewerbes. 35 Besonders das ökonomische Denken innerhalb der Evolutionsforschung des 19.Jahrhunderts ist Thema ausgiebiger historischer Analysen. 36 Laut Schabas führte zwar Adam Smith mit seiner Theorie der Politischen Ökonomie Konzepte des menschlichen Besitzes ein 37, doch es war John Stuart Mill, der eine von der biologischen Natur unabhängige Wirtschaftstheorie entwickelte, so dass sich erst in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts disziplinär getrennte Diskurse ausbildeten und somit von einer Übertragung ökonomischer Begriffe – möglicherweise von Metaphern – die Rede sein kann. Verschiedene Autoren haben gezeigt, dass das wachsende Interesse an Statistik in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts auf die Schule der Physiokratie zurückgriff: Nachkommen wurden vermessen, gezählt und als Materialüberschuss oder als Endsumme der gemeinsamen elterlichen Energie beschrieben. 38 Andererseits findet sich neben diesen Arbeiten, die historische Naturbeschreibungen als quasi-ökonomische Studien beschreiben, eine weitreichende Forschung zu den Übertragungen zwischen Ökonomie und Biologie im strikten Sinn der Metaphorologie. Dabei werden für die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts und danach auch zahlreiche metaphorische Transfers von der Biologie in die Ökonomie aufgezeigt 39, unter anderem jener der Reproduktion, den sich Karl Marx aus der Biologie 34

Staffan Müller-Wille, Nature as a Marketplace. The Political Economy of Linnaean Botany, in: History

of Political Economy 35 (Suppl. 1), 2003, 154; Margaret Schabas, Constructing „The Economy”, in: Philosophy of the Social Sciences, 39, 2009, 3–19. 35

Margaret Schabas/Neil De Marchi (Eds.), Oeconomies in the Age of Newton. Durham, N.C. 2003, 3.

36

Siehe etwa Trevor Pearce, „A Great Complication of Circumstances” – Darwin and the Economy of Na-

ture, in: Journal of the History of Biology 43, 2010, 493–528; Robert M. Young, Darwin’s Metaphor. Nature’s Place in Victorian Culture. Cambridge 1985; Schabas, The Natural Origins (wie Anm.32); Adrian Desmond/ James Moore, Darwin. München 1991. 37

Schabas, Constructing (wie Anm.34).

38

Siehe H. Spencer Banzhaf, Productive Nature and the Net Product. Quesnay’s Economies Animal and

Political, in: History of Political Economy 32, 2000, 517–551; Müller-Wille, Nature as a Marketplace (wie Anm.34), 154–172; Stephen F. Gudemann, Physiocracy. A Natural Economics, in: American Ethnologist 7, 1980, 240–248; Karl Polanyi, The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time. Boston 2001 (1944), 139. 39

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Geoffrey M. Hodgson, Decomposition and Growth. Biological Metaphors in Economics from the 1880s

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borgte. 40 Charles Darwin und Richard Wallace verwendeten zusätzlich zum „survival of the fittest“ diverse Metaphern, die sie den Theorien von Thomas Robert Malthus und anderen Ökonomen entnahmen. 41 In Darwins Studien zur Evolution sehen wie Silvan S. Schweber viele, die nach politischen oder sozio-kulturellen Hintergründen der jeweiligen biologischen Theorie suchen, einen Zusammenhang mit der industriellen Revolution. 42 Hodge dagegen sieht in Darwins Vererbungstheorie eine Naturalisierung von Land- und Finanzkapitalismus, vereint mit Industriekapitalismus. 43 Statt Darwins England betrachtet der Wissenschaftshistoriker und -philosoph Phillipp Thurtle die Vererbungsforschung in der Tierzucht in den Vereinigten Staaten um 1900 und arbeitet heraus, dass sich darin das unternehmerische Management der „Neureichen“ niedergeschlagen habe. 44 Christophe Bonneuil wiederum weist der Industrialisierung und der ökonomisch orientierten Technisierung mit ihren Werten Effizienz, Zuverlässigkeit und Fairness eine herausragende Rolle zu, als sich ein Verständnis von biologischer Vererbung in der Tierzucht in Frankreich und Dänemark entwickelte. 45 Im Folgenden wird der Wandel der ökonomischen Theorien der Zeugungsforschung dargestellt und gezeigt, was es ökonomisch bedeutet, wenn sich erbliches Kapital allein im Zellkern konzentriert.

to the 1980s, in: K. Dopfer (Ed.), The Evolutionary Foundations of Economics. Cambridge 2005, 105–50; Joel Mokyr, Evolutionary Biology, Technology Change and Economic History, in: Bulletin of Economic Research 43, 1991, 127–149. 40 Barnes, Reading the Texts of Theoretical Economic Geography (wie Anm.10); Mark Warren, The MarxDarwin Question, in: International Sociology, 2, 1987, 251–269. 41 Philip Mirowski, Natural Images in Economic Thought. Markets Read in Tooth and Claw. Cambridge 1994; Robert M. Young, Darwin’s Metaphor. Nature’s Place in Victorian Culture. Cambridge 1985; Schabas, The Natural Origins (wie Anm.32); Desmond/Moore, Darwin (wie Anm.36). 42 Etwa Schweber, Darwin (wie Anm.6). 43 Hodge, Capitalist Contexts (wie Anm.7). 44 Phillip Thurtle, The Emergence of Genetic Rationality. Space, Time, and Information in American Biological Science, 1870–1920. Seattle 2007. 45 Christophe Bonneuil, Pure Lines as Industrial Simulacra. A Cultural History of Genetics from Darwin to Johannsen, in: Müller-Wille/Brandt (Eds.), Heredity explored (wie Anm.22), 213–242.

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III. Von der Realwirtschaft zur Finanzökonomie (1850er bis 1890er Jahre): Das Kapital zieht in den Zellkern ein Wenn von Vererbung die Rede ist, geht man gewöhnlich davon aus, dass es Dinge gibt, deren Weitergabe lohnenswert ist. Die ökonomischen Konzepte innerhalb der Naturwissenschaften vor den 1870er Jahren handelten von Mengen im Sinne der Realwirtschaft: Sie fanden sich in Vorstellungen von der tierischen und pflanzlichen Ökonomie, von Populationen, in deren Entwicklung und deren Ernährung und in ersten Formulierungen evolutiver Ansätze 46, das heißt in allen Berechnungen von Mengen, Anzahlen und Gewichten von Individuen. Die ökonomischen Vorstellungen in der Zeugungsforschung vor den 1870er Jahren lassen sich exemplarisch an dem mehrere hundert Seiten umfassenden und später vielfach einschlägig zitierten, von dem Zoologen Rudolf Leuckart verfassten Eintrag des Begriffs „Zeugung“ in Wagners „Handwörterbuch der Physiologie“ darstellen. 47 Leuckart beschreibt Zeugung als den Vorgang, mit dem sich eine Population stabil hält und gewissermaßen der Schöpfung gleichkomme. Das Material für die Zeugung der Nachkommen werde aus dem „Überschuss“ des gesamten Körpermaterials gewonnen: „Das Material, von dessen Größe es sich handelt, ist […] ein überschüssiges Product von nutritiven Thätigkeiten. Es ist gewissermaßen Capital, das im Getriebe des individuellen Lebens allmälig erübrigt und für andere Zwecke bestimmt wird. Je günstiger sich das Verhältniß zwischen Erwerb und Verbrauch, die Bilanz zwischen den Einnahmen und Ausgaben gestaltet, desto schneller wird dieser Ueberschuß natürlich herbeigeschafft werden, desto mehr das zurückgelegte Capital in bestimmter Zeit anwachsen.“ 48

Diese Vorstellung einer Ökonomie der Menge als pure Vergrößerung oder Erweiterung war notwendigerweise mit dem Konzept der Zeugung verbunden, damals jedoch noch nicht zwingend als Generierung von etwas Neuem durch die Kombination zweier miteinander verschmelzender Substanzen, sondern als Zuwachs des Gleichen. 46

Trevor Pearce, „A Great Complication of Circumstances” (wie Anm.36).

47

Rudolf Leuckart, Zeugung, in: Rudolph Wagner (Hrsg.), Wagner’s Handwörterbuch der Physiologie.

Bd. 4. Braunschweig 1853. 48

194

Ebd.719.

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Das Eintreten des Spermiums in die Eizelle, also die materielle Verbindung beider Gameten, war zwar schon von einigen Zeitgenossen angesprochen worden, galt jedoch noch nicht als bewiesen. Für Leuckart waren Zeugung und Wachstum lediglich zwei Formen desselben mechanischen Vorgangs. 49 Leuckart befand, dass die asexuelle Vermehrung effektiver sei als die sexuelle Fortpflanzung, bei der „die Ausgaben einer geschlechtlichen Vermehrung vielleicht auf keinerlei Weise bestritten werden könnten.“ 50 Im Zuge der verbreiteten Kontakttheorie nahm auch Leuckart an, dass das Spermium der Eizelle einen Impuls gäbe, der die Entwicklung in Gang brächte. Noch lange vor der Veröffentlichung von Darwins „The Variation of Animals and Plants Under Domestication“ im Jahr 1868, in der Darwin das Konzept von „gemmules“ („Keimchen“) darlegte, vermutete Leuckart schon bestimmte Stoffe, die sich im Blut befänden und sich in verschiedene Organe – oder auch Eizellen und Spermien – entwickeln würden. 51 Noch im Einklang mit einem den reinen Materialüberschuss fokussierenden Wirtschaftskonzept schlug Darwin dann 1868 vor, dass die „Keimchen“ aus einem Überschuss verschiedener Körperorgane ins Blut übergingen 52, von wo aus sie wiederum zu den Organen transportiert würden, die entsprechend Eier oder Spermien aus ihnen produzieren könnten. Die Bezugnahme auf die Wachstumsökonomie als Modell der Fortpflanzung ließ dann nach, als nach 1875 gemeinhin als anerkannt galt, dass sexuelle Reproduktion nicht nur ein Eindringen eines Spermiums in die Eizelle (oder die Verschmelzung von beiden) bedeutete, sondern eine tatsächliche Verschmelzung auch beider Zellkerne beinhaltete. Der Schritt von einer Wachstumsökonomie hin zu einer, wie sie im Weiteren hier genannt werden soll, „Optimierungsökonomie“ 53, ist am besten mit August Weismanns Bezug auf Herbert Spencer beschrieben. In seiner „Theorie der Verer-

49 Ebd.733f. 50 Ebd.966. 51 Ebd. 52 Charles Darwin, The Variation of Animals and Plants Under Domestication. London 1868. 53 Dieser Begriff stammt von mir. Bei Schweber, Darwin (wie Anm.6), 273, findet sich ein ähnlicher: Er spricht davon, Darwin sei von Prozessen der „Optimalisierung“, wie sie mit der Industrialisierung zu beobachten und von Jeremy Bentham eingeführt worden waren, angetan gewesen, ebd.276.

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bung“ 54 benutzt Weismann Spencers Beschreibungen von Darwins „Keimchen“, um seine eigenen Vorstellungen zu vermitteln: „Die Regeneration verloren gegangener Theile […] führt ihn [Spencer] zu der Vorstellung dieser Einheiten, ‚in welchen allen das Vermögen schlummert, sich in die Form dieser Art umzugestalten, gerade wie in den Molekülen eines Salzes die innere Fähigkeit schlummert, nach einem bestimmten System zu krystallisieren‘.“ 55

In dieser Übersetzung Spencers zeichnet sich ab, was später von großer Bedeutung sein würde: das Erbmaterial als Potenzial für die Zukunft. Noch ist es nicht aktiv, sondern „schlummert“. In seiner noch unentwickelten Form stellt es ein „Vermögen“ dar. „Vermögen“ kann sowohl eine bestimmte Fähigkeit als auch einen Besitz bezeichnen wie zum Beispiel Geld auf der Bank. Dieser deutsche Begriff (Spencer selbst nutzte „power“ und „ability“ 56) bringt eine Bedeutungsverschiebung mit sich: von Macht und Fähigkeit hin zu Nachlass, Kapital und Reichtum. Dementsprechend kommt dieser Begriff nahe an das Konzept der „Anlagen“, das im Deutschen breit verwendet und bald von vielen englischsprachigen Autoren unübersetzt als (dann klein geschrieben) „anlagen“ übernommen wurde. Es folgte nun die Frage, wie Organismen auf der Ebene dieser „Keimchen“ oder „Determinanten“ Kosten sparen oder Gewinne erwirtschaften konnten. Die Verbindung zwischen Anlage und Kapital im Zellkern wurde von Nägeli deutlich beschrieben. Nägeli zitierte sich selbst im Jahr 1884, um zu zeigen, dass er dies schon drei Jahrzehnte zuvor, damals allerdings mit wenig Resonanz, festgestellt hatte: „Die Individuen vererben auf ihre Nachkommen die Neigung, ihnen ähnlich zu werden; die Nachkommen sind aber den Eltern nicht vollkommen gleich. Es muss also auch die Neigung zur Veränderung vererbt werden. Es muss, wenn alle Umstände günstig sind, eine Anlage durch eine Reihe von Generationen hindurch sich immer weiter ausbilden können, wie ein Capital zu dem jährlich die Zinsen geschlagen werden, sich vergrössert. Denn jede Generation

54

August Weismann, Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena 1892.

55

Ebd.1.

56

Herbert Spencer, A System of Synthetic Philosophy. Vol.2: Principles of Biology I. New York 1870

(1864), 178.

196

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erbt von der vorhergehenden nicht bloss die Möglichkeit, das Capital zu realisieren, sondern auch die Möglichkeit, demselben die Zinsen hinzuzufügen.“ 57

Nägeli nennt diesen „Träger der erblichen Anlagen” „Idioplasma“. 58 In seiner umfassenden Betrachtung vorangegangener Studien entwickelte er eine eigene Theorie, in der er den Begriff des Kapitals als „Anlage“, die alle möglichen Formen des entwickelten Organismus in sich birgt, weiter ausführte (wohingegen Körperzellen, die keine Gameten sind, dieses „Vermögen“ nicht besitzen). 59 Der Zoologe Oscar Hertwig übernahm die von Nägeli eingeführte Vorstellung vom Erbmaterial als zinsenanreicherndes Vermögen. 60 Diese verband das Kapital innerhalb der (ökonomischen) Maschine (siehe Leuckarts „Getriebe“) mit den folgenden Generationen der (ökonomischen) Natur, also mit der Frage nach Vererbung im Sinne eines evolutiv wirksamen Faktors, der Diversität ermöglicht: „Wie sich ein kleines, gut angelegtes Capital durch Zinsen vermehren und ins Ungemessene vergrössern kann, so wächst auch die in der Artzelle eingeschlossene Erbmasse mit kleinen Anfängen beginnend, indem von Generation zu Generation Eigenschaften, welche im Lebensprocess der Art neu erworben werden, zum überlieferten Stammgut hinzugeschlagen werden.“ 61

So finden wir also in den 1880er und 1890er Jahren einen Wandel von der Ökonomie der Menge und des Wachstums als Form der Realökonomie individueller Körper hin zu einer Bank- oder Finanzökonomie innerhalb der Zellkerne. Während erstere, die Realökonomie, eher der Wirtschaft von Landeigentum und Bauernhöfen entsprach, die bis zur Industrialisierung und Landflucht überwog, ist letztere bezeichnend für die Nationalökonomie und bürgerlicher Hauswirtschaft einer Industrienation. Der Unterschied zwischen den Begrifflichkeiten „Menge“ und „Wachstum“ und jenem im Umfeld der Anlage und des Bankwesens besteht in einer Verschiebung des Fokus – von der Natur und der Kontinuität ihrer Individuen zum Indviduum selbst und seiner Ökonomie oder eher sogar zu seiner Wirtschaftlichkeit. Es ist zugleich

57 Carl Wilhelm von Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. München/ Leipzig 1884, 15. 58 Ebd.21. 59 Ebd.23. 60 Oscar Hertwig, Die Zelle und die Gewebe. Grundzüge der allgemeinen Anatomie und Physiologie. Jena 1893, Kapitel V. 61 Ebd.271f.

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ein Schritt von der klassischen Ökonomie, wie sie bei Adam Smith zu finden ist, in der der Preis primär von den Produktionskosten bestimmt wird (siehe wiederum Leuckarts „Getriebe“), hin zur von William Stanley Jevon geprägten neo-klassischen Ökonomie (1871). 62 Dies beinhaltete den Wechsel von Makro- zu Mikrostrukturen, zur Theorie der Nachfrage und „towards the attitude of the rational agent bent on maximizing utility of profits“. 63 Der Schritt zur Verbindung von Ökonomie, Vererbung und Evolution, der durch diese Verschiebung des Fokus auf das Individuum möglich wurde, ist ein qualitativer, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Die Zeugung wurde zu dem Knotenpunkt, in dem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Naturökonomie, frühe Bevölkerungsstatistiken, Naturgeschichte und erste Konzepte der Evolution zusammentrafen. Der zelluläre Haushalt funktionierte dabei ebenso geschlechterarbeitsteilig wie der neue bürgerlich verkleinerte, im BGB regulierte familiäre Haushalt. Beide Aspekte wurden – dazu mehr am Schluss – in dem von zwei jeweils für Zellbiologie und Bürgerliches Recht einschlägigen zeitgenössischen Autoren vertretenen Konzept des „Staat als Organismus“ miteinander verbunden.

IV. Arbeitsteilung im elterlichen (Zell-)Haushalt In den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts zeigten sich nicht nur Veränderungen der Makroökonomie, auch die Art und Weise des Umgangs mit Privatvermögen und Familienbesitz wurde mit der Einrichtung des bürgerlichen Haushalts neu definiert. Dies betrifft, nachdem Großbritannien und Frankreich diese Umbrüche längst erlebt hatten, vor allen Dingen die deutschen Länder nach deren Vereinigung im Deutsch-Französischen Krieg. 64 Der offensichtliche Bedarf an reichsweiten Regelungen, den dann das BGB erfüllen sollte, brachte grundlegende öffentliche Diskussionen über Vererbungs- und Familiengesetze (und deren Gerechtigkeit) in der Zeit der Erarbeitung des BGB zwischen 1870 und 1900 in Gang. Vor diesem historischen Hintergrund also zog während der 1880er Jahre nicht nur das Kapital in den Zellkern ein, auch die Idee der Arbeitsteilung wurde auf die Zelle angewendet. Die nun – nach

62

198

William Stanley Jevon, The Theory of Political Economy. Düsseldorf 1871.

63

Schabas, The Natural Origins (wie Anm.32), 6.

64

Bock von Wülfingen, Economies and the Cell (wie Anm.25).

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der Beobachtung der Verschmelzung der Zellkerne männlicher und weiblicher Gameten – aufkommende Frage, wie das Kapital in der Zelle verwaltet und an die Individuen der folgenden Generationen verteilt würde, wurde als „Vererbung“ – im Gegensatz zur vorherigen Begriffsverwendung der Zeugung 65 – diskutiert. Und diese Vererbung des zellulären Kapitals wurde sogleich als eine Vererbung konzipiert, die unter allen Kindern gerecht aufgeteilt wurde: Oscar Hertwig schloss aus seinen Untersuchungen eine „gleichwerthige Vertheilung der sich vermehrenden Erbmassen auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen“. 66 Im Folgenden wurden nach der Beobachtung der Vereinigung der Zellkerne 1875 neue Fragen gestellt: Was geschieht mit dem in die neue Einheit investierten Kapital, wenn männliche und weibliche Zellen fusionieren? Wer von den Elternteilen bestimmt danach über das weitere Schicksal der Nachkommen? Dies alles galt es zu beantworten, „wenn wir sehen, wie die Ei- und Samenzellen durch ihre Vereinigung die Grundlage bilden für die Entwicklung eines Organismus, welcher […] die Eigenschaften der zeugenden Eltern […] reproducirt.“ 67 Mit Blick auf eben diese Rolle der Eltern brachte man ab 1875 das Konzept der Arbeitsteilung in Anschlag. Die vom liberalen Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith 68 entwickelte Idee der Arbeitsteilung wurde von dem Zoologen Milne-Edwards 69 und später dann von Charles Darwin 70 und vielen anderen übernommen und auf das Verhältnis zwischen Organismen und Organen übertragen. 71 Dieses Konzept fand während der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts weit verbreitete Anwendung. Als erster wandte Ernst Haeckel die Arbeitsteilung auf Teile der Zelle selbst an, wobei er eine geschlechtliche Zuordnung vornahm, nach der dem Plasma der befruchteten Eizelle die weibliche Rolle des Nährens zukam, während die Aufgabe des männlich konnotierten Zellkerns darin bestand, das Erbmaterial zu sortieren und zu

65 Churchill, From Heredity (wie Anm.18). 66 Hertwig, Die Zelle und die Gewebe (wie Anm.60), 277. 67 Ebd.267. 68 Adam Smith, An Inquiry Into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Chicago 1976 (1776). 69 Henri Milne-Edwards, Introduction à la Zoologie Générale. Paris 1851. 70 Charles Darwin, On the Origin of Species. New York 1989 (1859); Camille Limoge, Milne-Edwards, Darwin, Durkheim and the Division of Labour. A Case Study in Reciprocal Conceptual Exchanges Between the Social and Natural Sciences, in: Boston Studies in the Philosophy of Science 150, 1994, 317–343. 71 Schweber, Darwin (wie Anm.6).

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verteilen. 72 So auch sein sich ansonsten von ihm distanzierender Schüler Oscar Hertwig. Obwohl Hertwig selbst als einer der ersten die Vereinigung der Zellkerne von Eizelle und Spermium im Seeigelei beobachtet und beschrieben hatte, stellte er den Zellkern des Embryos als allein vom Spermium abstammend dar. Er war der Ansicht, dass der „Befruchtungsstoff [das Spermium] zugleich auch als de[r] Vererbungsstoff aufzufassen“ sei 73, dagegen habe „[d]ie weibliche Zelle oder das Ei […] die Aufgabe übernommen, für die Substanzen zu sorgen, welche zur Ernährung und Vermehrung des Zellprotoplasmas […] erforderlich sind.“ 74 Ebenso drehte sich August Weismanns Vererbungstheorie (1892) um die neue Beziehung zwischen den Eltern und um ihre jeweiligen Rollen in Bezug auf das Kind. Er bezeichnete das Vererbungsmaterial Idioplasma oder Keimplasma, das aus sogenannten Iden, seinen Grundeinheiten, bestand: „Die erste Frage, welche […] sich darbietet, ist die, in welcher Weise die beiden von den Eltern herstammenden Keimplasmen sich die Leitung der Ontogenese [Entwicklung des Kindes] theilen, ob mütterliche und väterliche Ide stets gleichzeitig zusammenwirken und zu einer Kraft-Resultante sich verbinden, oder ob etwa stets nur die eine Gruppe aktiv ist und die andere passiv sich verhält.“ 75

Eine Zusammenarbeit zwischen den beiden war scheinbar undenkbar. Weismann schlussfolgerte: „Der Bau des Kindes ist das Resultat des Kampfes sämmtlicher im Keimplasma enthaltener Ide.“ 76 Dem Biologen Josef Müller zufolge, der im gleichen Jahr eine Publikation dazu vorlegte, endete dieser Kampf im Kannibalismus: Müller sah das Ergebnis der Begegnung von Mutter- und Vaterzelle als „Gamophagie“, die später in der Entwicklung des Embryos stattfand. Mit diesem Begriff bezeichnete er den zuvor genannten Kampf zwischen den elterlichen „Tendenzen“. 77 Derjenige, der diesen „Kampf ums Dasein“ gewinne, sei auch derjenige, der „dem entsprechenden fertigen Teil des neuen Wesens den Stempel seiner Vererbungsten-

72

Ernst Haeckel, Ueber Arbeitstheilung in Natur- und Menschenleben. Berlin 1869.

73

Oscar Hertwig, Das Problem der Befruchtung und der Isotropie des Eies, eine Theorie der Vererbung,

in: Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft 18 (11), 1885, 277.

200

74

Ders., Die Zelle und die Gewebe (wie Anm.60), 222f.

75

Weismann, Das Keimplasma (wie Anm.54), 330.

76

Ebd.343.

77

Josef Müller, Ueber Gamophagie. Stuttgart 1892, 26.

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denz auf[drückt]. Das minder kräftige der beiden Elemente […] wird zum blossen Bauund Nährmateriale und als solches […] endlich assimiliert.“ 78 Dieses Modell der geschlechtlichen Arbeitsteilung innerhalb der Zelle, also zwischen den Teilen der Zelle selbst, wurde nicht nur von den schon zitierten Hertwig 79 und Weismann 80 verwendet, sondern auch von anderen deutschsprachigen Autoren wie etwa Nägeli 81, Strasburger 82, Boveri 83 und Driesch 84. Die Besonderheit der biologischen Texte zwischen 1875 und 1885 liegt darin, dass in ihnen das Verständnis der biologischen Vererbung als Prozess der geschlechtlich geteilten Arbeit nicht nur zwischen Elementen, Säften oder Zellen, sondern innerhalb der Zelle Gestalt annimmt, und das Verständnis der Vererbung in der Genetik als Arbeitsteilung zwischen Plasma und Kern für die nächsten Jahrzehnte mit prägt. Wie hier ausgeführt, zeigte sich, dass es sich bei diesem Konzept der geschlechtlichen Arbeitsteilung – zumindest noch gegen Ende des 19.Jahrhunderts – um eine Vorliebe der deutschsprachigen Autoren handelte. Es lag daher in der Analyse nahe, im sozialpolitischen Kontext nach Begründungen für diese Ausnahmesituation zu suchen: Von den Zeitgenossen in anderen Ländern wurde dieses Konzept nicht verwendet, sondern, wie von einigen Embryologen aus den Vereinigten Staaten, sogar explizit abgelehnt, sowohl wegen seines alleinigen Fokus auf den Zellkern in der Frage der Vererbungsmechanismen, statt auf Zellkern und Plasma, als auch wegen des „Anthropomorphismus“ im Modell der Arbeitsteilung. 85

78 Ebd.29. 79 Oscar Hertwig, Beiträge zur Kenntniss der Bildung, Befruchtung und Theilung des thierischen Eies, in: Morphologisches Jahrbuch 1, 1875, 347; ders., Das Problem der Befruchtung (wie in Anm.73), 347, 293, 276 f.; ders., Die Zelle und die Gewebe (wie Anm.60), 222. 80 Weismann, Das Keimplasma (wie Anm.54), 40–51, 593. 81 Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie (wie Anm.57), 13, 24, 51. 82 Eduard Strasburger, Zellbildung und Zelltheilung. Jena 1875, 237; ders., Neue Untersuchungen über den Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen als Grundlage für eine Theorie der Zeugung. Jena 1884, 108, 238. 83 Theodor Boveri, Ein geschlechtlich erzeugter Organismus ohne mütterliche Eigenschaften, in: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in München, 5 (5), 1889, 73–80; ders., Das Problem der Befruchtung. Jena 1902; ders., Ergebnisse über die Konstitution der chromatischen Substanz des Zellkerns. Jena 1904. 84 Hans Driesch, Analytische Theorie der organischen Entwicklung. Leipzig 1894. 85 Etwa Charles Otis Whitman, The Inadequacy of the Cell-Theory of Development, in: Journal of Morphology 8 (1), 1893, 648; Mendelian T.H. Morgan, What are „Factors“ in Explanations? In: American Breeders Association Report 5, 1909, 365–368.

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Zusammengefasst entwickelte sich also von 1875 bis 1885 in deutschsprachigen Texten eine Vorstellung der biologischen Vererbung und der Haushaltung in der Zelle als ein Prozess geschlechtlicher Arbeitsteilung, die schnell allgemein anerkannt war und erst Ende des 20.Jahrhunderts ernsthaft hinterfragt wurde. 86 Der nächste Abschnitt wird zeigen, dass die Besonderheit dieser deutschsprachigen Texte, in denen aus der Wirtschaft entlehnte Begriffe mit dem Konzept der geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Zelle fusionierten, vor dem Hintergrund der in den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts im Deutschen Reich zu beobachtenden gesamtgesellschaftlichen Problematisierung des Familienbegriffs und der Regelungen, die die Vererbung von Besitz unter den Familienmitgliedern betrafen, erklärbar wird.

V. Reichsgründung und BGB als Kontext der Erbschaft in der biologischen Zelle In ihren Texten betonten die Autoren der biologischen Vererbungskonzepte gelegentlich, dass sie es mit ähnlichen Problemen zu tun hatten, wie sie in dem eigentlichen rechtlichen Kontext zu finden waren: Weismann erklärte in seiner „Theorie der Vererbung“ (1892), er schreibe über die „Vererbungssubstanz in der vollen Bedeutung des Wortes, d.h., [über] diejenige Substanz, welche sämmtliche Anlagen für den ganzen Organismus enthält“. 87 Andere verwendeten Begriffe wie „Erbschaft“ 88, „Erbmasse“ 89 oder „Erblasser“ 90 und stellten durch die Bezeichnung von Erben als „Kinder“ 91 einen Bezug zur menschlichen sozialen Welt her.

86

Franklin, Feminism (wie Anm.29); Vienne, Eggs and Sperm (wie Anm.25), 413–426; Satzinger, Differenz

und Vererbung (wie Anm.25); dies., The Politics of Gender (wie Anm.26); Bock von Wülfingen, Economies and the Cell (wie Anm.25); dies., Is there a Turn to Systems Approaches in Life Sciences? In: European Molecular Biology Organisation (EMBO) Reports 10, 2009, 37–42. 87

Weismann, Das Keimplasma (wie Anm.54), 47.

88

Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie (wie Anm.57), 27.

89

Hertwig, Die Zelle und die Gewebe (wie Anm.60), 283.

90

Müller, Gamophagie (wie Anm.77), 26.

91

Motive Familienrecht, Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche

Reich. Bd.4. Familienrecht. Amtliche Ausgabe. Berlin/Leipzig 1888/1896, 686, § 1481.

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Aus der Zeit vor 1900, also bevor Mendels Gesetze neu diskutiert wurden 92, findet sich außerhalb des deutschsprachigen Raumes kein biologischer Text mit einer ähnlichen Besorgnis für Regeln und Wege der materiellen Übertragung von Wesenszügen im Sinne von Vererbung. Worauf bezogen sich dann diese deutschsprachigen Texte, wenn sie Begrifflichkeiten aus dem Erbrecht verwendeten? In Europa und seinen (ehemaligen) Kolonien folgten die Vererbungsregeln zwei grundsätzlich verschiedenen Prinzipien: Zum einen entschied nach dem Common Law wie in England und den USA nur der Erblasser, wer erben würde. Fixe gesetzliche Regeln, nach denen das Erbe zu verteilen sei, waren unbekannt. Diese kamen höchstens zum Tragen, wenn kein Testament vorlag. Im Gegensatz dazu folgte Kontinentaleuropa dem Römischen Recht, so dass in den deutschen Ländern bis 1900 niemand außer dem höheren Adel nach eigenem Ermessen vererben konnte, da die Rechtsordnung vorschrieb, nach welchen Regelungen und zu welchen Anteilen das Erbe verteilt werden sollte. Als die deutschen Länder 1871 im Deutschen Kaiserreich vereint wurden, unterschieden sich Familien-, Ehe-, und Erbrecht in den über zwanzig Königreichen, Herzogtümern und Stadtstaaten. Die Autoren der Endfassung des BGB von 1896 wählten in der Beschreibung der Familienverhältnisse im Familien- und Erbrecht nun dieselben Konzepte, Cluster an Begriffen und Verschränkungen zwischen denselben, wie dies die biologischen Texte bei der Darlegung einer „natürlichen“ Vererbung und Arbeitsteilung auch getan hatten und bezogen sich vielfach auf die jüngste biologische Forschung. Dies zeigte sich zunächst in der Betonung der Zeugung als dem Schlüsselmoment (gegenüber dem der Geburt), an dem fast sämtliche Erbschaftsfragen festgemacht wurden. 93

92 Selbst Mendels Forschung, die Art und Weise, wie er seine Studien und seinen Text über Pflanzenhybride finanzierte, verstärkt den Eindruck, dass mathematische Regeln für die Übertragung von Merkmalen als Vererbung vor 1900 vor allem von denen untersucht wurden, die mit Pflichterbe als allgemeine Regel und der üblichen Praxis der Vererbung nach Römischem Recht vertraut waren: Mendel hatte seine Studien über die Übertragungsregeln in Pflanzen erst abschließen können, nachdem ihm seine Schwester ihren Teil des Erbes von ihrem Vater geschenkt, weil er den eigenen bereits verbraucht hatte, vgl. Franz Weiling, Historical Study. Johann Gregor Mendel 1822–1884, in: American Journal of Medical Genetics 40, 1991, 1–25. 93 Vgl. zum historischen rechtlichen Status des Embryos entsprechend seiner „Beseelung“ Nahyan Fancy, Generation in Medieval Islamic Medicine, in: Hopwood/Flemming/Kassell (Eds.), Reproduction (wie Anm.25), 129–140, sowie Marie-Hélène Congourdeau, Debating the Soul in Late Antiquity, in: Hopwood/ Flemming/Kassell (Eds.), Reproduction (wie Anm.25), 109–121.

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Die Autoren des BGB entschieden sich trotz aller Forderungen, dem Individuum mit dem Testament mehr Autonomie zu gewähren, für das Pflichterbe und maßen dem Testament eine untergeordnete Rolle zu. Das Pflichterbe richtete sich nun nach den Regeln der „Parenthelerbschaft“, die der damaligen Konzeption der biologischen Vererbung wie oben beschrieben ähnlicher war und sich in der Praxis von bisherigen Erbregelungen der deutschen Länder unterschied. Dabei wurden wie in der biologischen Vererbung auch die potenziellen Erben in den Nebenlinien, also etwa Geschwister, Onkel oder andere Verwandte der vererbenden Person, zugunsten von sogenannten „natürlichen Kindern“ vom Erbe ausgeschlossen. Darüber hinaus machten das neue BGB und die Argumentation über seine Institutionalisierung in den „Motiven“ durch den Ausschluss vertraglich oder gewohnheitsmäßig bedingter Verwandtschaftsverhältnisse die sogenannte Blutabstammung zur einzigen rechtsrelevanten Form der Erbverwandtschaft. Wie die biologischen Vererbungskonzepte wurde das Erbrecht im Deutschen Reich als Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses zwischen 1874 und 1900 entwickelt. Der erste Entwurf des Abschnitts des BGB 94, der sich mit dem Erbe befasste, geriet bei seiner Vorstellung in der Öffentlichkeit stark in die Kritik, weil er „römisch“ sei und jeden „Hauches […] deutschen Geistes“ entbehre 95, so jedenfalls der einflussreiche Jurist Otto Gierke, und die Armut und die zunehmenden sozialen Konflikte nicht in Betracht ziehe. 96 Beispielsweise schloss Friedrich Mommsen, der siebzigjährige Autor des ersten Entwurfs, sogenannte uneheliche Kinder vom Erbe aus, wie auch solche, die vor der Eheschließung gezeugt, aber während der Ehe geboren wurden. Dies entschied man, so heißt es in den „Motiven“ zum BGB, der Begründungsschrift zu den einzelnen Paragraphen, um „bestimmte Klassen“ zufrieden zu stellen. 97 Mehrere Teile der zweiten Version berücksichtigten die, so wie es hieß, „Notwendigkeit der sozialen Befriedung“. Angesichts der großen Zahl an vaterlosen Kindern, die zunehmend die Straßen bevölkerten, entsprachen sie damit zumindest teilweise den Forderungen der

94

Motive Erbrecht, Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich.

Bd. 5. Erbrecht. Amtliche Ausgabe. Berlin/Leipzig 1888/1896. 95

Otto Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht. Leipzig 1889, 508.

96

Hans-Georg Mertens, Die Entstehung der Vorschriften des BGB über die gesetzliche Erbfolge und das

Pflichtteilsrecht. Berlin 1970, 11, 18, 24; s. auch Heinz Lieberich, Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte. München 1992. 97

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Motive Erbrecht, Zu dem Entwurfe (wie Anm.94), 359.

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Sozial- und Arbeiterbewegung sowie der Frauenverbände. Denn bisher hatte in den deutschen Ländern überwiegend der Code Napoléon gegolten, dem zufolge bei unehelichen Kindern und Fragen zu deren Unterhalt nach dem Vater nicht zu suchen sei, so dass regelmäßig Kinder gewissermaßen als „Ableger“ der Mutter betrachtet wurden, womit man im Einklang mit den aristotelisch geprägten Zeugungsvorstellungen war. Eine Arbeitsgruppe wurde gebildet, um eine weniger kontroverse Version des BGB zu entwickeln. Sie bestand aus Rechtsexperten, Nationalökonomen und Vertre-

tern weniger weiterer akademischer Berufe und stellte 1896 die zweite Version vor. Nach einigen Änderungen wurde sie zur dritten und 1900 dann zur rechtsgültigen Version. Gemeinsam mit der Privilegierung der Blutsverwandtschaft durch die Betonung von engeren Zeugungsgraden gegenüber dem „Ganzen Haus“ wurden mit dem BGB weitere ältere Institutionen abgeschafft, die allein auf Konvention, Tradition, Absprache oder Vertrag basierten – zugunsten von biologischen oder medizinischen Gutachten. Dies betraf sogar das Lebensende, da der sogenannte „bürgerliche Tod“, bis 1848 übliche Strafe bei Kapitalverbrechen, nicht in das BGB aufgenommen wurde. 98 Auch wurde die bisherige Todeserklärung im Fall des natürlichen Todes hinfällig. Nun genügte die ärztliche Beurkundung des Todes, um die Erbsukzession auszulösen. 99 Es wirkt wenig zufällig, dass die Autoren dieser Endfassung des BGB bei der Begründung von Entscheidungen, die häufig von den bestehenden Gesetzen der Länder abwichen, oft auf die Formulierung zurückgriffen, dass sie in „der Natur der Verhältnisse“ 100 lägen. Auch die Naturalisierung der Elternschaft (den Vater betreffend) wurde für das Erbrecht umgesetzt: „[D]as Gleiche [dass die Bestimmungen über Empfängniszeit greifen] lässt sich hinsichtlich der unehelichen Kinder von der Vorschrift des §1572 erwarten. Aber es genügt nicht, daß die Empfängnißzeit überhaupt zutrifft, sondern es muß auch die Möglichkeit hinzutreten, daß die Erzeugung wirklich vor dem

98 Ebd.3, § 1749. Mit dem Nationalsozialismus wurde der „bürgerliche Tod” als der Status jüdischer Bürger wieder eingeführt (Juristische Wochenschrift 1936, 2537). 99 Motive Erbrecht, Zu dem Entwurfe (wie Anm.94), 3, BGB § 1748. 100 Ebd.359, 362.

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in die Empfängnißzeit fallenden Zeitpunkte des Tods des Erblassers stattgefunden hat.“ 101

Die Tatsache, dass Kinder nicht während oder in der Ehe oder gemeinsam mit der (späteren) Ehefrau gezeugt wurden, wurde unerheblich für die Frage, ob sie Erben werden konnten. Was allein zählte, war, ob der Erblasser das Kind natürlich hätte empfangen können – nach dem Wissen um die natürlichen Prozesse der Empfängnis, wonach Körperkontakt zwischen den potenziellen Eltern stattgefunden haben musste. Wenn es Beweise dafür gab, dass der potenzielle Vater sich während des Zeitraums der möglichen Empfängnis mit der Mutter hätte treffen können, genügte dies. Andere vertragliche Formen der Elternschaft, etwa die Adoption, blieben dabei so gut wie unberücksichtigt. Dagegen war in vielen Ländern des Reichs die Anerkennung noch nicht zur Welt gekommener Bürger als Erben ein tatsächliches Novum: Der sogenannte nasciturus, das „werdende Kind“, wurde in das neue Erbrecht aufgenommen. Wie die Autoren der „Motive“ argumentierten: „Nach § 3 beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen erst mit dessen Geburt; […] [so wird der] nasciturus als nicht existent behandelt. Der Natur der Dinge entspricht es [aber], den nasciturus in Ansehung der Fähigkeit, letztwillig bedacht zu werden, der bereits existierenden physischen Person gleichzustellen.“ 102

Das BGB machte das Erbe damit zu einer Frage nur der Zeugung und somit der Natur. Dies wird noch deutlicher, wenn es um die zentralen Gesetze im Erbrecht geht. Es wurde festgelegt, dass die Erbfolge nach Zeugungsgraden die Erbschaft bestimmen sollte, und zwar nur die Kinder und Kindeskinder betreffend. Die Erbfolge war insbesondere durch die Proportionierung des Pflichtteils bestimmt: „Als gesetzliche Erben sind zunächst zur Erbfolge berufen die Kinder und die weiteren Abkömmlinge des Erblassers, als erste Linie.“ 103 Der Pflichtteil hatte seinen historischen Hintergrund in Konzepten der „natürlichen Gerechtigkeit“, des Naturrechts, dem zufolge jedem „lebenden“ 104 Menschen „natürlich“ – also vermeintlich nicht durch Konvention – unveräußerliche Rechte 101 Ebd.11. 102 Ebd.11, § 1758, meine Hervorhebung. 103 Ebd.358, § 1965. 104 S. oben die Tatsache, dass der Begriff „Leben“ von Konventionen selbst abhängt („ziviler Tod“, versus festgestellter „natürlicher Tod“).

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gewährt wurden. Die Begriffe „Naturrecht“ und „Naturgesetz“ haben ihre Wurzeln im deutschen Humanismus. 105 Das Für und Wider von privater Autonomie und Pflichtteil wurde in den ersten Jahren des Deutschen Reichs diskutiert. Es würde der Sozialpolitik, aber auch der Moral widersprechen, das Testament gegen das Recht auf einen Pflichtteil einzuführen. 106 In allen deutschen Ländern verlief Erbfolge und Pflichtteilung zuvor stets nach einem System, das primär von Blutsverwandtschaft und Ehe ausging, den nächsten Verwandten dabei aber immer mehr Bedeutung beigemaß. Doch gab es Unterschiede. Das Schoßfallrecht beispielsweise gewährte den Eltern und anderen Vorfahren mehr Rechte und ließ die Kinder unberücksichtigt. Im Verhältnis zu den vorigen Rechten hat gerade mit der Art der Gestaltung des Pflichtteils das BGB zu einem Konzept einer kompakteren Familie beigetragen und die Verwandtschaft durch das Parentelsystem in Richtung der Kinder des Erblassers vertikalisiert, was in vielen Ländern neu war 107: Das Parentelsystem galt sowohl für die Universalsukzession (wenn kein Testament bestand) als auch für den Pflichtteil. 108 Gemeinsam mit der Parentele und im Gegensatz zu vielen bestehenden Gesetzen war für das BGB auch entschieden worden, dass alle Kinder, die eine natürlich gleiche Beziehung zum Erblasser haben, gleichberechtigt zu behandeln sind und daher nicht nach Geschlecht oder Alter zu unterscheiden seien: „Die Gleichthteilung nach Köpfen bestimmt der dritte Absatz; es wird also ausgegangen von dem Grundsatze der Gleichberechtigung der Erben. Der Mannesstamm ist nicht bevorzugt, wie in manchen älteren Rechten […].“ 109

Das Vermächtnis des männlichen und weiblichen Ehepartners wurde dabei 105 Christian Wolff, Philosophia Practica Universalis. Hildesheim/New York 1971 (1738). Zur Übersicht zum Zusammenhang von Naturrecht und Naturgesetz siehe Lorraine Daston/Michael Stolleis, Introduction: Nature, Law and Natural Law in Early Modern Europe, in: Dies. (Eds.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy. Farnham 2008, 1–12. Sowohl der Code Napoléon als auch schon das Preußische Allgemeine Landrecht, das vor dem BGB seit 1794 Gültigkeit hatte, waren naturrechtlich geprägt, Willer/Weigel/Jussen, Erbe (wie Anm.3). 106 Motive Erbrecht, Zu dem Entwurfe (wie Anm.94), 72ff., 52ff. (Stellungnahmen Bruns and Meyerburg: so habe es auch die Deutsche Jahrestagung der Rechtsanwälte erklärt). 107 In der Wissenschaftsgeschichte wird dieser Wandel als einer hin zu einem horizontalen Verwandtschaftsmodell beschrieben, vgl. Müller-Wille/Rheinberger, Heredity (wie in Anm.9), 5; Ohad Parnes/Ulrike Vedder/Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt am Main 2008. 108 Motive Erbrecht, Zu dem Entwurfe (wie Anm.94), 353. 109 Ebd.360.

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durch andere Gesetze geschützt, die sich auf Familie und Verwandtschaft bezogen. Nach dem Familienrecht bildete das Ehepaar eine Gütergemeinschaft, durch die beide nun mit dem BGB das Recht auf Erbfolge erwarben. 110 Dabei wurden auch die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern in der Gütergemeinschaft im Familienhaushalt neu definiert. Wenn es auch einige Länder gab, die zuvor hinsichtlich der Rechte der Ehefrau weit liberalere Regelungen hatten, als das BGB für sie nun vorschrieb, war es für die meisten Länder in der Definition der ehelichen Gütergemeinschaft neu und aus dem liberaleren Handelsrecht übernommen, dass die Ehefrau bei Abwesenheit oder Tod des Mannes den Haushalt führen durfte, also das sogenannte Schlüsselrecht erhielt. In Bezug auf die Ehe betonten die Autoren des BGB die Anerkennung sowohl des Vater- als auch des Elternrechts, das also für beide galt 111: „Es ist hier von entscheidender Bedeutung, daß der Entwurf eine elterliche Gewalt, nicht lediglich die väterliche Gewalt kennt“. 112 Dennoch galt es, diese Machtverteilung für jedes Elternteil unterschiedlich zu definieren, da bereits diese Neuerung, Frauen ein Elternrecht zuzusprechen, gegen den Widerstand bestimmter Bevölkerungsgruppen verteidigt werden musste: „Dem Entwurfe liegt nichts ferner, als der Gedanke der sog. Emanzipation der Frauen.“ 113 Das Gesetz würde auf jeden Fall nur ihrer mütterlichen Natur entsprechen. Die mütterliche Sorge wurde nämlich auf die elterliche Pflege eingeschränkt, beispielsweise für den Fall, wenn das Kind krank sei, um dem „Bedürfniß […] der höheren Stände […][und weniger] der niederen Stände“ 114 gerecht zu werden. Schließlich votierte man für das Gesetz, und in den „Motiven“ von 1896 wurde argumentiert, dass „im Falle einer Verschiedenheit der Meinungen zwischen Vater und Mutter der Vater entscheiden soll. Diese Art der Gestaltung, welche die Sorge für die Person des Kindes […] während bestehender Ehe rechtlich nicht nur dem Vater, sondern dem Vater und der Mutter gemeinsam, jedoch unter Berücksichtigung des natürlichen Uebergewichts des Vaters als des Hauptes der Familie, zuweist, entspricht der natürlichen Stellung der Mutter […].“ 115

Der Ehemann und Vater hatte die eheliche Gütergemeinschaft und damit das

110 Ebd. 111 Ebd.358. 112 Ebd.358. 113 Motive Familienrecht, Zu dem Entwurfe (wie Anm.91), 736f. 114 Ebd.737. 115 Ebd.754.

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Einkommen seiner Frau und seiner Kinder zu verwalten und besaß folglich auch das Recht auf „Nießbrauch“, also auf dessen Nutzung. 116 So waren sich das deutsche Recht und die damals aufgekommenen biologischen Vorstellungen von der „Gütergemeinschaft“ in der Familie (an dieser Stelle ist Gütergemeinschaft meine Metapher für die Verhältnisse im Embryo nach der Zeugung, wie sie in den biologischen Texten beschrieben werden) einig in der Rollenverteilung von Vater und Mutter. Die Mutter mochte durchaus den gleichen materiellen Beitrag einbringen und die elterliche Sorge teilen können – die mütterliche Rolle bzw. die des als weiblich verstandenen Zellplasmas jedoch reduzierte sich in beiden Fällen auf das Nähren und Fürsorgen, während die väterlichen Aufgaben bzw. die des männlich konnotierten Zellkerns im Embryo in der Bestimmung der Zukunft und der Verteilung des wirtschaftlichen Vermögens bestanden.

VI. Schnittstellen und Schluss Der Begriffskomplex von Vermögen und Anlage etablierte sich im Zusammenhang mit der biologischen Vererbung an der Überschneidung der theoretischen Formationen Naturökonomie und Recht. Historisch erfolgte dies im Deutschen Reich zum Zeitpunkt der Ausweitung des bürgerlichen Rechts, am Übergang von Realwirtschaft zur auf den Alltag der Bürger sich erstreckenden Finanzwirtschaft und im Moment der Verkleinerung des „Ganzen Hauses“ zur Kernfamilie. 117 Die begriffliche Verschiebung von der Real- zur Finanzwirtschaft – die im Recht des BGB vom Familienvater gehandhabt wurde, während der Frau Heirat, Mutterschaft und Pflege oblag – zeigte wie Jurisprudenz und Biologie gemeinsam im Zuge der zirkulären Naturalisierung eine Selbstverständlichmachung der modernen bürgerlichen Arbeitsteilung installierten. Die Begriffsgeschichte ist nicht an der Suche nach Faktoren oder Vektoren der Übertragung interessiert, sondern daran, über welchen historischen Wandel die Begriffe etwas aussagen. Es ist möglich, über ein rein begriffliches Zusammentreffen von Recht und Biologie hinaus Andeutungen von faktischen Begegnungen zu wagen. 116 Ebd.740ff., 725ff., 760ff. 117 Franklin, Feminism (wie Anm.29); Hausen, Die Polarisierung (wie Anm.30).

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Das BGB, das 1900 in Kraft trat, entsprach mit wenigen Änderungen seiner zweiten Vorlage, die wie die erste reichsweit veröffentlich wurde. Die zweite Kommission, die nach der ersten gescheiterten Vorlage des BGB eingesetzt wurde, arbeitete ab 1890 und präsentierte ihre Ergebnisse 1895. Ihr legte eine bereits zuvor installierte Vorkommission Vorlagen zu den jeweiligen Revisionen vor, die dann mit wenigen Änderungen verabschiedet wurden. Die Vorkommission bestand aus vier hochrangigen Juristen. Ihren Vorsitz hatte der Wirtschaftsjurist Levin Goldtschmidt inne, dessen Bericht über den ersten Gesetzesversuch maßgeblich war. 118 Goldtschmidt hatte wegen der antisemitischen Ausschlüsse und seiner jüdischen Abstammung zunächst das Jurastudium nicht aufnehmen dürfen. Er hatte daher mit einem Medizinstudium begonnen, konnte aber mit Änderung der Gesetzeslage schließlich doch zu Jura wechseln. Die meisten der Kommissionsangehörigen und Kritiker der ersten Fassung waren Professoren der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Dies gilt ebenso für Goldtschmidt, der zudem seit 1875 Reichstagsmitglied war, wie für den bereits oben genannten Juristen und Kritiker der ersten Vorlage, Otto Gierke. Diese Überschneidungen überraschen wenig angesichts der Überschaubarkeit der kleinen bürgerlichen Elite in der Hauptstadt und der staatlichen Finanzierung der Universität. 119 Das Professorium der Friedrich-Wilhelms-Universität bestand in jenen Tagen aus weniger Herren, als in einem preußischen Straßenbahnwagen Platz fanden: Es gab ca. 70 Vollprofessuren, so dass persönliche Begegnungen und Verbindungen über Fachgrenzen hinweg weit üblicher waren als heute. 120 1888 berief die Universität dann auch den oben bereits erwähnten Zoologen Oscar Hertwig für Anatomie. 121 Er trat seine Professur ein Jahr nach Otto Gierke an. Gierke und Hertwig propagierten beide ein in der liberalen Elite breit akzeptiertes Organismuskonzept als Gegenbild zu Mechanizismus, Vitalismus und Individu118 Ulrike Henschel, Vermittler des Rechts. Juristische Verlage von der Spätaufklärung bis in die frühe Nachkriegszeit. Bd. 1. Berlin 2015, 118. 119 Charles McClelland/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1. Berlin 2012; Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945. Cambridge 1993, 30f. 120 Werner Tress, Der Lehrkörper zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, in: McClelland/ Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität (wie Anm.119), 131–208. 121 Während des Zweiten Weltkriegs ist das Wohnhaus der Hertwigs samt Oscar Hertwigs Nachlass einem Brand zum Opfer gefallen, so dass Egodokumente oder andere biographische Handschriften rar sind.

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alismus und wandten es auf den Staat an. 122 Ihr liberales Konzept richtete sich gegen die Aristrokratie. 123 Die deutsche Version des Organizismus hatte ihren Hintergrund im Begriff des Naturrechts, wie es etwa von Christian Wolff verstanden worden war und auch im BGB Eingang fand. Gierke verwendete das Organismuskonzept in autoritärem Sin-

ne, indem er der Gemeinschaft (dem Staat) einen Wert in sich zusprach, für den man gegebenenfalls auch sein Leben hingab: „Und nur aus dem höheren Werte des Ganzen gegenüber dem Teil läßt sich die sittliche Pflicht der Menschen begründen, für das Ganze zu leben und, wenn es sein muß, zu sterben.” 124 Seine Vorstellung darüber, wie naturwissenschaftliches und juristisches Denken und Handeln miteinander zu verbinden seien, stellte er in seiner Antrittsrede als Präsident der FriedrichWilhelms-Universität am 15.Oktober 1902 vor: „Die organische Theorie betrachtet den Staat und die anderen Verbände als soziale Organismen. […] Dafür spricht auch, in umgekehrter Richtung, wenn sie den Einzelorganismus verständlich machen will, den Vergleich mit dem Staat heranzuziehen.” 125 Dabei bezog sich Gierke auf einen Vortrag, den wiederum Hertwig am 27.Januar 1899 gehalten und später als „Lehre vom Organismus“ publiziert hatte: „Ich erinnere daran, daß Kollege Hertwig, als er an dieser Stelle am 27.Januar 1899 seine Rede über die Lehre des Organismus und ihre Beziehung zur Sozialwissenschaft hielt, ausdrücklich mit dem Bekenntnis begann, daß es dem Biologen nahe liege, in dem Staat die höchste Art von Organismus zu erblicken, und mit einer eindringlichen Parallele zwischen natürlichen und sozialen Lebensvorgängen beschloß.“ 126

Oskar Hertwig wiederum folgte Gierke in der Präsidentschaft der Friedrich-Wilhelms-Universität zwischen 1904 und 1905. Auch zu Geschlechterverhältnissen im gesellschaftlichen Kontext äußerte sich Hertwig öffentlich 127, wenn auch lange Zeit nach seinen Publikationen zur biologi-

122 Sandrine Baum, Hans Kelsen and the Case for Democracy. Colchester 2012. 123 Oskar Hartwieg, Tatsachen – und Normarbeit im Rechtsvergleich. Ausgewählte Aufsätze. Tübingen 2003, 6; Weindling, Health (wie Anm.119), 19, 26ff. 124 Otto Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände. Leipzig 1902, 34f. 125 Ebd.13f. 126 Ebd.14. 127 Oscar Hertwig, Der Staat als Organismus. Gedanken zur Entwicklung der Menschheit. Jena 1922.

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schen Zelle, deren Grundgedanken durch sein Lehrbuch „Die Zelle und die Gewebe“ 128 weit bis in das 20.Jahrhundert hinein rezipiert wurden. In dieser Studie wandte sich Hertwig gegen kommunistische und sozialdemokratische Schriften der Zeit. Dabei befasst er sich auch mit Kinder- und Frauenarbeit. Diese würde nur „Lohndrückerei” unterstützen: „Denn das häusliche Leben in der Arbeiterfamilie, die sorgfältige Aufzucht, Pflege und Erziehung der Kinder wurde dadurch auf das schwerste bedroht und außerdem noch durch die Konkurrenz der billigeren Frauen- und Kinderarbeit die Erwerbsmöglichkeit des männlichen Arbeiters eingeschränkt.“ 129

Im Gegensatz zu dem von Helga Satzinger aufgezeigten Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Zelle und den Argumenten Theodor Boveris gegen den Zugang von Frauen zu Universitäten 130, positionierte sich Hertwig spätestens 1905 eindeutig positiv zum Frauenstudium (seine Tochter Paula studierte bereits). 131 In „Der Staat als Organismus“ argumentierte er insofern gegen die Sozialdemokratie, als der Staat nicht von der Arbeiterschaft regiert werden dürfe, da die Arbeiter nicht in der Lage seien zu sparen und ihr Gehalt in Alkohol umsetzen würden. Entsprechend galt das Modell der berufstätigen Frau lediglich für die studierende bürgerliche Ehefrau, nicht aber für den Arbeiterhaushalt. Mit all diesem soll aber nicht behauptet werden, der Zoologe Hertwig habe das Organismus-Konzept in das 20.Jahrhundert und in das deutsche Recht gebracht. Hertwig dient gemeinsam mit dem Juristen Otto Gierke zur Verdeutlichung der interpersonellen Verbindungen zwischen Biologie und Recht, die sich in dem damals kleinen Berlin jeweils ihre Wege bahnten. So wie die geschlechterpolitisch tendenziös gedeuteten Hintergründe der Konzepte von Vererbung und Familienökonomie im Organismuskonzept nahelegen, handelte es sich bei den Übertragungsprozessen nicht um eine Einbahnstraße, sondern um weitläufig interdisziplinäre, auch die Ökonomie einbeziehende Austauschprozesse. Auf diese Weise also nutzten Befürworter des Pflichterbrechts und der geschlechtlichen Arbeitsteilung aus den jeweiligen Disziplinen Argumente aus Natur-

128 Hertwig, Die Zelle und die Gewebe (wie Anm.60). 129 Hertwig, Der Staat als Organismus (wie Anm.127), 142. 130 Satzinger, Differenz und Vererbung (wie Anm.25), 34, 50–58, 111f. 131 Dieses sei eine ohnehin kaum mehr verhinderbare, bereits stattfindende Tatsache. Oscar Hertwig, Das Bildungsbedürfnis und seine Befriedigung durch deutsche Universitäten. Jena 1905, 10; Sybille Gerstengarbe, Paula Hertwig – Genetikerin im 20.Jahrhundert. Eine Spurensuche. Stuttgart 2012.

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recht, Organizismus und Naturforschung, so dass ein Bild der hierarchisch geordneten, reduzierten Familie als kleinster Zelle des Staates entstand. Wie die Entwicklung der Konzepte von Vererbung und Familie in der biologischen Zelle sowie im BGB zeigen, waren diese Themen als Antworten zu der Frage der (Um-)Verteilung

von Besitz und Kapital Ende des 19.Jahrhunderts von äußerster Bedeutung sowohl für das Individuum als auch für den Staat. Nicht nur Ökonomen orientierten sich an Modellen in der Natur – und umgekehrt –, auch die Juristen taten dies.

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„Frauenarbeit“ 1903 oder: Feminismus im Modus der Anschaulichkeit von Johanna Gehmacher

I. Ein Projektionsstück Zu Beginn der Herbstsaison 1903 kündigten mehrere Wiener Zeitungen die „erste Aufführung des neuen Projektionsstückes ‚Frauenarbeit‘ von Frau Dr. Schirmacher (Paris)“ in den Veranstaltungsräumen der Wiener Urania an. 1 Es zeige, so das „Neue Wiener Tagblatt“, „die moderne Betätigung der Frau aller Kulturländer in der Öffentlichkeit und dürfte allgemein das lebhafteste Interesse erwecken.“ 2 Eine Reihe weiterer Aufführungen folgten. War die populäre Präsentation des Textes einer bekannten Frauenrechtlerin 3 zweifelsohne ein Ausdruck der Stärke der transnational vernetzten bürgerlich-liberalen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende 4, so hatte der Erfolg wohl auch mit dem Genre zu tun. Als „Projektionsstück“ bezeichnete man einen Vortrag, zu dem vergrößerte und lichtstarke Bilder projiziert wurden, 1 Wiener Zeitung, 29.9.1903, 8. Für hilfreiche Hinweise bedanke ich mich bei Gabriella Hauch, Elisa Heinrich, Christian H. Stifter und Kerstin Wolff, für kritische Lektüre bin ich Muriel González Athenas und Falko Schnicke verpflichtet. 2 Neues Wiener Tagblatt (Tagesausgabe), 2.10.1903, 7; weitere Ankündigungen: Die Zeit, 13.9.1903, 6; Arbeiter-Zeitung, 13.9.1903, 6; Neue Freie Presse, 13.9.1903, 9; Reichspost, 30.9.1903; Wiener Zeitung, 2.10.1903, 9. 3 Johanna Gehmacher/Elisa Heinrich/Corinna Oesch, Käthe Schirmacher. Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik. Wien/Köln/Weimar 2018. 4 Harriet Anderson, Utopian Feminism. Women’s Movements in „fin-de-siècle” Vienna. New Haven/London 1992; Francisca de Haan u.a. (Eds.), Women’s Activism. Global Perspectives from the 1890s to the Present. New York 2013. Der hier und im Folgenden eingesetzte Begriff des „Transnationalen“ verweist auf einen Zugriff auf historischen Frauenaktivismus, der Transfers, Verflechtungen und Vernetzungen offensiv in den Blick nimmt, ohne einen universalisierenden Anspruch auf eine globale Perspektive zu erheben. Anders als der Begriff „transkulturell“ referiert „transnational“ auf das Konzept der Nation, das einen relevanten Rahmen für hier thematisierte Transfers bildet. Zugleich soll vermieden werden, auf den häufig nationale Identifikation vorantreibenden Begriff des „Internationalen“ zurückzugreifen. Für eine ausführlichere Darstellung und Literaturbelege: Johanna Gehmacher, In/visible Transfers. Translation as a Crucial Practice in Transnational Women’s Movements around 1900, in: German Historical Institute London Bulletin 41, 2019, 2 (https://www.ghil.ac.uk/publications/bulletin/bulletin_41_2/).

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-008

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eine Technologie, die durch die Elektrifizierung einen Aufschwung genommen hatte. Die Wiener Urania konnte mit solchen Vorführungen zu populären Themen ein breites Publikum anziehen. 5 Zumeist handelte es sich um „Repertoirevorträge“, die professionell vorgetragen und mehrmals aufgeführt wurden. Zur Benutzung des neuen Mediums für Anliegen der Frauenbewegung liegen bislang keine detaillierten Forschungen vor. 6 Das hier besprochene Stück, das auch unter den Titeln „Die Frau im öffentlichen Leben“ und „Die Frau im Kampfe ums Dasein“ angekündigt wurde, soll im Folgenden Ausgangspunkt für Fragen sein, die auf Überschneidungsbereiche zielen – von unterschiedlichen Bildungsbewegungen um 1900, von politischen und sozialen Agenden und von Wissenspopularisierung und Spektakel. Exemplarische Quelle dieses Beitrags ist das von Käthe Schirmacher in Kooperation mit der Wiener Urania verfasste Projektionsstück, von dem sowohl der Text als auch die Bebilderung (nahezu) vollständig vorliegen. Die Glasbilder und eine Vortragsfassung mit detaillierten Verweisen auf die einzelnen Bilder sind im Österreichischen Volkshochschularchiv (Wien) 7 unter dem Titel „Die Frau im Kampfe ums Dasein“ archiviert. Kontextuelle Bezüge sind im umfangreichen Nachlass von Käthe Schirmacher 8 dokumentiert. Transnationale Kontexte dieses Ereignisses bilden zum einen die Geschichte der proletarischen und bürgerlich-liberalen Frauenbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg, zum anderen die von England ausgehende Idee

5 Christian H. Stifter, Die Skioptikon-Lichtbildervorträge der Wiener Urania, in: Christian Brandstätter (Hrsg.), Die Welt von gestern in Farbe: Wien. Wien/München 2008, 220f.; ders., „Anschaulichkeit” als Paradigma. Visuelle Erziehung in der frühen Volksbildung, 1900–1938, in: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung 14, 2003, 70f. 6 Paradigmatisch zum Vortragswesen der deutschen Frauenbewegung: Ulla Wischermann, Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke, Gegenöffentlichkeiten, Protestinszenierungen. Königstein i. Taunus 2003; auf einen Lichtbildervortrag zu Königin Luise verweist Birte Förster, Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte des „Idealbilds deutscher Weiblichkeit” 1860–1960. Göttingen, 2011, 195; mit dem Hinweis, dass sich die Frauenbewegung mit dem zweiten visuellen Medium, dem Film, kaum auseinandersetzte, vgl. Heide Schlüpmann, Ein feministischer Blick. Dunkler Kontinent der frühen Jahre, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes /Hans Helmut Prinzler (Hrsg.), Geschichte des deutschen Films. Stuttgart, 2004, 511–24, hier 511. 7 Österreichisches Volkshochschularchiv (VHS-Archiv): Lichtbildersammlung Urania Wien, Schatulle 227: B 1–92 (43), A 4501–4590, V. 69. Vortrag und Bilder sind online abrufbar auf den Seiten des Schirmacherprojektes. https://schirmacherproject.univie.ac.at/kaethe-schirmacher-biografie-materialien/diefrau-im-oeffentlichen-leben-ein-repertoirevortrag-von-kaethe-schirmacher-19031908/. 8 Universitätsbibliothek Rostock: Nachlass Käthe Schirmacher (im Folgenden: NL Sch).

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der university extension 9, die in Österreich in einer breiten Volksbildungsbewegung ihren Ausdruck fand. Methodisch-theoretisch knüpft der Beitrag an Fragestellungen der Wissensgeschichte 10, der Frauen- und Geschlechtergeschichte 11 sowie der Kulturgeschichte des Politischen 12 an. Die Frage nach dem Modus der Vermittlung einer feministischen Weltsicht soll dabei im Mittelpunkt stehen. Wenn hier von Feminismus die Rede ist, so handelt es sich dabei um einen Begriff, der zeitgenössisch noch kaum verwendet wurde. 13 Damit soll zum einen eine Weltanschauung, eine grundlegende Perspektive auf die Welt markiert werden, die über einzelne Forderungen hinausging. Zum anderen ist damit auf eine feministische Praxis der Vermittlung von Bewegungszielen verwiesen, die nicht mehr spezifischen Organisationen zugeordnet werden kann, sondern die eine breite Öffentlichkeit ansprach und der es um die Durchsetzung dieser neuen Sicht auf die Welt, um eine Verschiebung der Grenzen des hegemonialen Diskurses ging. 14 Damit verbanden sich unterschiedliche Strategien der Popularisierung, die an den Bedürfnissen des Publikums orientiert waren. Mit dem Modus der Anschaulichkeit 15 ist dabei sowohl die Illustration von Aussagen durch Bilder bezeichnet als auch eine bildhafte Darstellung, die auf Beispiele setzt, an Vertrautes anknüpft und eher assoziative Übergänge als komplexe Argumentationsstrukturen nutzt. Diese Form der Zirkula-

9 Stuart Marriott, The Popular Universities in Europe, 1890 to 1920: What Was Being Popularized? In: Barry J. Hake/Stuart Marriott (Eds.), Adult Education between Cultures. Encounters and Identities in European Adult Education since 1890. Leeds, 1992, 86–112; Christian H. Stifter, Knowledge, Authority and Power. The Impact of University Extension on Popular Education in Vienna 1890–1910, in: Barry J. Hake/ Tom Steele/Alejandro Tiana (Eds.), Masters, Missionaries and Militants. Studies of Social Movements and Popular Adult Education 1890–1939. Leeds 1996, 158–190. 10 Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36, 2011, 59–72; Daniel Speich Chassé/David Gugerli, Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte, 2012/1, 85–100. 11 Christina Altenstraßer/Gabriella Hauch (Hrsg.), Geschlecht – Wissen – Geschichte. (Themenband der Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21, 2010), 1; Johanna Gehmacher/Maria Mesner (Hrsg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven. Innsbruck/Wien/Bozen 2003. 12 Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28, 2002, 574–606; Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (HZ, Beih. 35.) Berlin 2005. 13 Zur Begriffsgeschichte: Johanna Gehmacher, Frauenfrage – Frauenbewegung. Historisierung als politische Strategie, in: Burcu Dogramaci/Günther Sandner (Hrsg.), Rosa und Anna Schapire. Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900. Berlin, 2017, 82–101, dort weitere Verweise. 14 Grundlegend: Andrea Bührmann, Der Kampf um weibliche Individualität. Zur Transformation moderner Subjektivierungsweisen in Deutschland um 1900. Münster 2004. 15 Stifter, „Anschaulichkeit” (wie Anm.5).

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tion von Wissen schließt nicht nur eine größere Öffentlichkeit mit ein, sondern damit ist auch eine emphatische Vorstellung von unmittelbarer Nutzbarkeit und Wirkung von Wissen zur Veränderung der Gesellschaft verbunden. Auf visueller Ebene beginnt das Projektionsstück am paradigmatischen Ort bürgerlicher Weiblichkeit, im Haushalt, beschworen durch eine kolorierte Druckgrafik des populären zeitgenössischen Malers Alexander von Liezen-Mayer zur rastlos tätigen „züchtige(n) Hausfrau“ in Friedlich Schillers Glocke. Auf der Ebene des Textes setzt Schirmacher schon in den ersten Zeilen auf Widerspruch, wenn sie abwertende Einschätzungen zu „Oberflächlichkeit und Dilettantismus“ von Frauenarbeit kritisiert und die Mühen der Hausarbeit hervorhebt: „Nun gut, die Frau gehört in’s Haus. Was aber tut sie dort, wenn nicht arbeiten ohn’ Unterlass.“ 16 Die kolorierte Fotografie einer „Perserin mit Kindern“ (BU) folgt dazu als weiterer Beleg. 17 Mit diesen beiden Bildern und dem ihnen unterlegten Text ist eine grundlegende Aussage bereits angesprochen: Frauen arbeiten schwer und sie tun das in allen Klassen und überall auf der Welt. Über das Thema der weiblichen Dienstboten kommt Schirmacher auf Fragen der Erwerbsarbeit und der Ausbildung von Frauen zu sprechen und gelangt mit einer Fotografie von Pariser Kinderfrauen zu ihrem zweiten zentralen Punkt, den Rechten von Frauen: „Es scheint, dass die Frau von heute Gelüste nach Freiheit verspürt […], dass sie geregelte Arbeitszeit verlangt, freie Verfügung ihrer Abende, Ausgehen, Hausschlüssel“. 18 Beschreibungen und Bildern unterschiedlichster Arbeitszusammenhänge werden in der Folge Forderungen nach besserer Entlohnung, nach Ausbildung, nach höherer Bildung und nach gleichen politischen Rechten für Frauen gegenübergestellt. Der Vortragstext verbindet Information mit Agitation, die Bilder setzen demgegenüber auf die Lust am visuellen Spektakel. Wer aber spricht hier zu wem? Zwei historische Kontexte sind insbesondere von Bedeutung: die Frauenbewegung und die Erwachsenenbildung.

16

Die Frau im Kampfe ums Dasein. Projektionsvortrag mit 96 Skioptikonbildern von Dr. Käte (sic)

Schirmacher. Paris. VHS-Archiv Wien, Vortragsmanuskript 69, 1, im Folgenden: Schirmacher, Die Frau.

218

17

Das Kürzel „BU” verweist im Folgenden auf die im VHS-Archiv verzeichnete Bildunterschrift.

18

Schirmacher, Die Frau (wie Anm.16), 4f.

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II. Frauenbewegung Die Autorin des Vortragstextes, die 1865 in Danzig geborene Schriftstellerin Käthe Schirmacher, lebte seit 1896 in Paris. Eine der ersten deutschen Frauen, die ein Doktorat erlangt hatte, verdiente sie ihr Leben als Journalistin, Übersetzerin und Vortragsreisende. 19 1903 hoffte sie auf eine Zukunft als Theaterautorin, im Sommer 1903 schrieb sie an dem Stück „Wir“, das sie ein Jahr später in einer Lesung in Berlin aufführen sollte. 20 Zugleich strebte sie eine Position an der Universität an. 21 Als Korrespondentin berichtete Schirmacher in der deutschen, österreichischen und französischen Presse, als Vortragsreisende sammelte sie kontinuierlich in ganz Europa Informationen, die sie andernorts wieder in Präsentationen und Artikeln verwerten konnte. 22 Ihre vielfältigen Zielsetzungen zwischen Theater, Universität und Journalismus lassen sich als ein Hinweis darauf lesen, dass ihr als Frau bei aller Ambition und Begabung keine dieser Karrieren offenstand. Die Themen von Schirmachers Vortrag – Bildung, Erwerbsmöglichkeiten von Frauen, Arbeiterinnenrechte, die soziale Situation von Frauen, ihre Rechte am Arbeitsplatz wie ihre politischen Rechte – waren zentrale Themen der Frauenbewegung(en) um 1900. 23 In der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung zählte Käthe Schirmacher, die in Deutschland den Verband fortschrittlicher Frauenvereine mitbegründet hatte, zur Gruppe der Radikalen, die gleiche Rechte in Bildung und Beruf ebenso forderten wie das Wahlrecht für Frauen. 24 Der Generationenwechsel zeichnete sich auf internationaler Ebene in der Gründung der die International Woman Suffrage Alliance ab, die sich die weltweite Durchsetzung des Frauenwahlrechts zum Ziel setzte. 25 An den Vorgesprächen in den vorangehenden Jahren wie an der

19 Gehmacher/Heinrich/Oesch, Käthe Schirmacher (wie Anm.3), 27 (Gehmacher/Heinrich), 529–537. 20 Nl Sch 922/009 Tagebuch, 21.8.–24.8.1903; Nl Sch 308/004, Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 15.5.1904; Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine 6, 1904, 5, 39 (Ankündigung). 21 Für diesbezügliche Erkundigungen im Frühjahr 1903 an der Sorbonne: Nl Sch 121/014, 018, 019, 020 Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 16.4., 23.5., 13.6. u. 9.7.1903. 22 Johanna Gehmacher, Reisende in Sachen Frauenbewegung. Käthe Schirmacher zwischen Internationalismus und nationaler Identifikation, in: Ariadne 60, 2011, 58–65. 23 Exemplarisch: Angelika Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933. Darmstadt 2006. 24 Else Lüders, Der linke Flügel. Ein Blatt aus der Geschichte der deutschen Frauenbewegung. O.O. 1904. 25 Leila Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement. Princeton, N.J. 1997.

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Gründung des Verbandes war auch Schirmacher beteiligt. 26 Wenn im Vortrag 1903 also das Frauenwahlrecht in verschiedenen Weltregionen visualisiert und ein Porträt von Anita Augspurg 27, einer Mitbegründerin des Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht, gezeigt wurde, so positionierte sich die Autorin damit im radikalen Flügel der deutschen Frauenbewegung 28 und in einem transnationalen Aktionsraum. Komplexer ist die Bezugnahme auf die Arbeiterinnenbewegung mit empathischen Darstellungen des schweren Loses von Arbeiterinnen und Forderungen nach Bildung, Ausbildung, Arbeitsschutz, garantierten Rechten der Arbeitnehmerinnen, Mutterschutz und gerechtem Lohn. 29 Zwar wird die Sozialdemokratie nicht explizit benannt, was wohl dem Neutralitätsprinzip der Erwachsenenbildung geschuldet ist, das einen Verweis auf die Frauenbewegung (die sich diesem Prinzip selbst verpflichtet hatte), nicht aber auf eine politische Partei zuließ. 30 Darüber hinaus verbarg sich dahinter wohl auch das im deutschsprachigen Raum komplizierte Verhältnis zwischen bürgerlich-liberaler Frauenbewegung und Arbeiterinnenbewegung, das von pauschalen Abgrenzungen 31 wie von Kooperationen auf lokaler Ebene gekennzeichnet war. 32 Schirmachers Vortragstext nähert sich diesem Verhältnis mit dem Hinweis auf ein Projekt, das für die Suche nach Versöhnung stand:

26

Gehmacher/Heinrich/Oesch, Käthe Schirmacher (wie Anm.3), 533.

27

Susanne Kinnebrock, Anita Augspurg (1857–1943): Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus

und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie. Herbolzheim 2005. 28

Grundlegend dazu: Anne-Laure Briatte, Bevormundete Staatsbürgerinnen. Die „radikale“ Frauenbewe-

gung im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main u. New York 2020. 29

Zu Schirmachers wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzung mit Frauenarbeit: Geh-

macher/Heinrich/Oesch, Käthe Schirmacher (wie Anm.3), 291–300 (Oesch). Sie maß dem Thema zentrale Bedeutung zu. Vgl. Nl Sch 121/032 Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 25.11.1903: „Vor allem missbilligte Jette meine Statistik über Frauenarbeit. […] Du lieber Gott, in diesen Zahlen ruht die Freiheit eines Geschlechts.“ 30

Die Urania schloß „politische und nationale Zwecke” per Statut aus. Christian H. Stifter, Geistige Stadt-

erweiterung. Eine kurze Geschichte der Wiener Volkshochschulen 1887–2005. Weitra 2006, 42f. 31

Marilyn J. Boxer, Rethinking the Socialist Construction and International Career of the Concept „Bour-

geois Feminism”, in: AHR 112, 2007, 131–158; für eine kritische Einschätzung: Kristina Schulz, Sozialistische Frauenorganisationen, bürgerliche Frauenbewegung und der Erste Weltkrieg. Nationale und internationale Perspektiven, in: HZ 298, 2014, 653–685, hier 656. 32

Christiane Eifert, Der zählebige Topos der „feindlichen Schwestern”. Bürgerliche und proletarische

Frauenbewegung von der Jahrhundertwende bis zur Revolution von 1918/19, in: Bernd Mütter/Uwe Uffelmann (Hrsg.), Emotionen und historisches Lernen. Forschung – Vermittlung – Rezeption. Hannover 1996, 311–324.

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die aus England stammende Settlement-Bewegung, die in der Wiener bürgerlich-liberalen Frauenbewegung eine Reihe von Anhängerinnen hatte. 33 Der schließlich für den Vortrag gewählte Titel „Die Frau im Kampfe ums Dasein“ zitierte überdies – ohne direkte Erwähnung – eine Broschüre der sozialdemokratischen Politikerin Adelheid Popp: „Die Arbeiterin im Kampfe ums Dasein“. 34 Da Schirmacher und Popp mindestens einmal aufeinandertrafen, könnte dieser Bezug durchaus intentional gewesen sein. 35 Ob nun mit Bedacht oder nicht – die Namensparallele verwies auf eine Differenz der Sichtweisen, postulierte der Titel von Schirmachers Vortrag doch, dass nicht nur Proletarierinnen, sondern alle Frauen arbeiten und damit ums Dasein kämpfen mussten. Popp hatte sich ihrerseits gegen eine Nähe zur Frauenbewegung verwahrt: Nicht um Gleichberechtigung ginge es ihr, sondern darum, die Frauen der Sozialdemokratie zu gewinnen. 36 Schirmacher wiederum spricht, anders als Popp, nicht vom Streik als Mittel des Arbeitskampfes, Bildung und Wahlrecht sind die einzigen von ihr benannten Strategien zur Erreichung politischer und sozialer Rechte.

III. Volksbildung Aufführungskontext und Format von Käthe Schirmachers Lichtbildvortrag verweisen auf die university extension, die sich in unterschiedlichen Formaten um die Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert in vielen Industriestaaten ausbreitete. 37 In der 33 Elisabeth Malleier, Das Ottakringer Settlement. Zur Geschichte eines frühen internationalen Sozialprojekts. Wien 2005. 34 Adelheid Popp, Die Arbeiterin im Kampf ums Dasein. Wien 1895; vgl. zur zentralen sozialdemokratischen Politikerin: Gabriella Hauch, Adelheid Popp, geb. Dworak (1869–1939). Bruch-Linien einer sozialdemokratischen Frauen-Karriere (1998), in: Dies. (Hrsg.), Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1938. Innsbruck/Wien/Bozen 2009, 205–223. 35 Bei einem Vortrag von Schirmacher in Wien zu Arbeiterinnenschutz meldete sich die sozialdemokratische Politikerin unterstützend zu Wort. Neues Wiener Tagblatt (Tag), 17.4.1903, 9. Die beiden kannten einander eventuell von der Enquête über Frauenarbeit, bei der Popp Kommissionsmitglied gewesen war und Schirmacher berichtet hatte. Käthe Schirmacher, L’enquête sur le travail des femmes à Vienne, in: La Revue des Femmes Russes et des Femmes Françaises: Organe international de science, art, moral, 1896, 3, 198– 204. 36 Popp, Arbeiterin (wie Anm.34), 1. 37 Marriott, Popular Universities (wie Anm.9); für zeitgenössische Reflexionen dieser transnationalen Bewegung: Käthe Schirmacher, Die Volkshochschule in England und in Frankreich, in: Ethische Kultur.

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von sozialen Gegensätzen gekennzeichneten Reichshauptstadt Wien stand Bildung über basale Grundkenntnis hinaus nur einer kleinen männlichen Elite offen, Analphabetismus war weit verbreitet und von höherer Bildung waren Frauen bis 1897 gänzlich ausgeschlossen. 38 Um 1900 war eine parteienübergreifende Bildungsbewegung entstanden, in der sich liberale Sozialreform, Arbeiterbewegung und Frauenbewegung trafen. Sie war durch die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit und der politischen Neutralität miteinander verbunden 39 – eine Haltung, die vom konservativen katholischen Establishment als Kulturkampf scharf angegriffen wurde. 40 Wichtige Organisationen und Einrichtungen waren der 1887 gegründete Wiener Volksbildungsverein, die 1895 eingerichteten Volkstümlichen Universitätsvorträge, die 1897 gegründete Wiener Urania, sowie das 1901 als Volkshochschule entwickelte Volksheim in Ottakring. 41 Der hierarchisierende Widerspruch zwischen zunehmender Wissensorientierung moderner Gesellschaften und der Beschränkung höherer Bildung auf eine kleine männliche Elite war Ergebnis eines Abschließungsprozesses: Mit der Formalisierung, Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung des Wissens schlossen die Disziplinen Frauen sukzessive kategorisch aus. 42 Nicht zuletzt in Reaktion auf diesen Ausschluss eigneten sich viele Frauen das offene, säkulare Bildungsangebot der Volkshochschulen mit besonderer Emphase an. Sowohl die bürgerlich-liberale als auch die proletarische Frauenbewegung verstanden sich (auch) als Bildungsprojekte. 43 Und so zählten etwa die Volkstümlichen Universitätsvorträge jährlich mehrere

Halbmonatsschrift für ethisch-soziale Reformen, 15, 1907, 10, 75–76; Hertha Siemering, Arbeiterbildungswesen in Wien und Berlin, eine kritische Untersuchung. Karlsruhe 1911. 38

Stifter, Geistige Stadterweiterung (wie Anm.30), 30f.; Waltraud Heindl/Martina Tichy, (Hrsg.), „Durch

Erkenntnis zu Freiheit und Glück…” Frauen an der Universität Wien (ab 1897). Wien 1990; für eine exemplarische Biographie zum Kampf einer Wiener Lehrerin um die Möglichkeit zu studieren: Monika Bernold/ Johanna Gehmacher, Auto/Biographie und Frauenfrage. Tagebücher, Briefwechsel, Politische Schriften von Mathilde Hanzel-Hübner. Wien 2003; grundlegend zum Bildungsausschluss von Frauen in Europa: Juliane Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main u. a. 2013. 39

Marriott, Popular Universities (wie Anm.9), 94.

40

Stifter, Geistige Stadterweiterung (wie Anm.30), 39.

41

Ebd.39, 40–42.

42

Exemplarisch für die Geschichtswissenschaften: Bonnie G. Smith, The Gender of History. Men,

Women, and Historical Practice. Cambridge, Mass.u.a. 1998; Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900. Göttingen 2015. 43

Gabriella Hauch, Arbeit, Recht und Sittlichkeit. Die Frauenbewegung als politische Bewegung 1848 bis

1918 (2006), in: Dies., Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1938. Innsbruck/Wien/Bozen 2009, 30–33;

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Tausend Besucher und Besucherinnen, etwa zur Hälfte Frauen – eine Relation, die auf die anderen Volksbildungseinrichtungen übertragbar ist. 44 Nicht nur als Hörerinnen, sondern auch als Initiatorinnen, Vortragende und Mitarbeiterinnen suchten Vertreterinnen der Frauenbewegung aktiv Einfluss auf die entstehende Volksbildungsbewegung zu nehmen. 45 Frauen wie Männer blieben gleichwohl in der Verteilungslogik des ausschließenden Wissenssystems gefangen, konnten die Volkshochschulen doch keine formalen Abschlüsse gewähren, die Zutritt zu Funktionen und Berufen eröffnet hätten. 46 Eine enge Verbindung zur Frauenbewegung hatte der Wiener Volksbildungsverein, wo sowohl Rosa Mayreder als auch Marianne Hainisch schon in den 1890er Jahren Vorträge hielten. 47 So schlug der dem radikalen Flügel zuzurechnende Allgemeine Österreichische Frauenverein 1902 der Vereinsleitung ein Vortragsprogramm vor, das darauf zielte, „die Propaganda der Frauenbewegung auch in Volkskreise zu tragen“. 48 Auch an der Gründung der Volkshochschule Volksheim 49 waren Vertreterinnen der Frauenbewegung beteiligt. 50 Eine beträchtliche Zahl von Dozentinnen unterrichtete dort 51 und mit der Gaststätte des Vereins abstinenter Frauen im VolkshochGertrud Simon, Hintertreppen zum Elfenbeinturm. Höhere Mädchenbildung in Österreich. Anfänge und Entwicklungen. Ein Beitrag zur Historiographie und Systematik der Erziehungswissenschaften. Wien 1994; Renate Flich, Bildungsbestrebungen und Frauenbewegungen, in: Helmut Rumpler (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. VIII: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Teilbd. 1. Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation. Wien 2006, 941–964; Hintergrund der Organisierung in Bildungsvereinen war allerdings auch das erst 1918 aufgehobene Verbot politischer Betätigung für Frauen. Vgl. dazu: Ursula Floßmann, Die beschränkte Grundrechtssubjektivität der Frau. Ein Beitrag zum österreichischen Gleichheitsdiskurs, in: Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, 293–324, 306. 44 Beispielsweise im Studienjahr 1902/03: 10 689 Besucher und Besucherinnen. Stifter, Geistige Stadterweiterung. (wie Anm.30), 74, 77. Etwas vorsichtiger zum Frauenanteil: Christina Buder, Frauen und Volksbildung in Wien bis 1918, in: VGV-Mitteilungen, 1994, 5, 7–15, hier 14: 30% der Hörer und Hörerinnen, Leser und Leserinnen waren Frauen. 45 Martha Stephanie Braun, Volkshochschulen, in: Dies.u.a. (Hrsg.), Frauenbewegung, Frauenbildung und Frauenarbeit in Österreich. Wien 1930, 203–206, hier 203. 46 Buder, Frauen (wie Anm.44), 11f. 47 Abfrage der Vorträge in der Datenbank des VHS-Archivs. 48 Vereinsnachrichten, in: Neues Frauenleben, April 1902, 18ff. 49 Die Vereinsbehörde hatte den Namen Volkshochschule wegen zu großer Nähe zum Begriff „Universität“ untersagt. 50 So unterzeichnete etwa Rosa Mayreder den Gründungsaufruf, vgl. Stifter, Geistige Stadterweiterung. (wie Anm.30), 44. 51 Braun, Volkshochschulen (wie Anm.45), 205f.

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schulgebäude bestand auch eine organisatorische Zusammenarbeit. 52 Die Volksbildungseinrichtungen gehörten zu den wenigen Orten, die wissenschaftlich gebildeten Frauen ein öffentliches Forum boten. Sie vermittelten eine Vielzahl von Themen, besonders stark vertreten waren sie im Sprachunterricht – ein herausragendes Beispiel hierfür war die aus Birmingham stammende Kunsthistorikerin Amelia Levetus, die im Volksheim Ottakring nicht nur die Englischkurse aufbaute, sondern auch einen John-Ruskin-Club gründete. 53 Auch die Urania, die zugleich konservativste und am wenigsten an Wissenschaft orientierte Volksbildungseinrichtung 54, hatte eine beträchtliche Zahl von weiblichen Dozentinnen, die sowohl wissenschaftliche als auch praktische Themen anboten. 55 Themen der Frauenbewegung sind in den Veranstaltungen aller Volkshochschuleinrichtungen stark präsent, wobei insbesondere die Urania länger auf konventionellere Themen setzte. 56 In unterschiedlichem Ausmaß dürfte allerdings für alle Volksbildungseinrichtungen gegolten haben, was eine Protagonistin rückblickend mit gewisser Bitterkeit festgehalten hat: Da aufgrund der geringen Entgelte kein „Brotneid“ aufkam, funktionierte die Zusammenarbeit zwischen Frauen und Männern gut. 57

52

Vereinsnachrichten, in: Neues Frauenleben, Oktober 1905, 26; vgl. Marie Eugenie delle Grazie, „Volks-

heim”. Wien o.J. (1906), 2. 53

Wilhelm Filla, Miss A.S. Levetus – eine grenzüberschreitende Volksbildnerin. Ein Porträt, in: Spuren-

suche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung 12, 2001, 24–39, hier 29. 54

Die auf Initiative des Niederösterreichischen Gewerbevereins nach Berliner Vorbild gegründete Ura-

nia hatte nicht nur die Unterstützung konservativer Eliten, sie setzte auch weniger auf Wissenschaft denn auf populäre Themen. Sie wurde daher vor dem ersten Weltkrieg von manchen Vertretern nicht als Teil der Volksbildungsbewegung akzeptiert. Wilhelm Filla, Vor 90 Jahren. Gründung der Wiener Urania, in: Die österreichische Volkshochschule 38, 1987, 143, 1–8, hier 4; vgl. auch: Volksbildung im demokratischen Wien. 50 Jahre Wiener Urania 1897–1947. Wien 1947. 55

Braun, Volkshochschulen (wie Anm.45), 204.

56

Abfrage von Vortragstiteln mit dem Wort „Frau” in der Datenbank des VHS-Archivs. Die Einträge stel-

len eine Auswahl dar – so ist etwa Schirmachers Vortrag 1903 nicht zu finden. Vorträge gab es etwa von Doz. Dr. Gertrud Woker über „Die Frau und die Wissenschaft” (1911/12), von Elsa Beer-Angerer über „Haushalt, Biologie des werdenden Menschen (nur für Frauen)” (Brautkurs 1912/13), aber auch von Dr. Helene Stöcker: Die modernen Anschauungen über die Liebe (1912/13). 57

224

Braun, Volkshochschulen (wie Anm.45), 206; vgl. Buder, Frauen (wie Anm.44), 14.

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IV. Spektakel und Unterhaltung Mehr als die anderen Volksbildungseinrichtungen setzte die Urania auf Spektakel und Popularität zur Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dazu wurden in den ersten Jahren „naturwissenschaftliche Dramen“ aufgeführt, nach der Jahrhundertwende waren es vor allem die kostengünstigeren Skioptikon-Vorträge und Filmvorführungen, mit denen man ein breites Publikum anzog. 58 Skioptikon-Apparate breiteten sich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts europaweit in einem Zwischenbereich zwischen Agitation, Unterricht und populärer Unterhaltung aus. 59 Nicht nur fahrende Schausteller nutzten die neue Technik, auch Lehrer und Lehrerinnen propagierten die Projektionstechnik, etablierten Netzwerke zum Austausch von Bildern und drängten auf den Ankauf von Geräten und Bildern und die Elektrifizierung von Schulgebäuden. 60 Die Urania erteilte ihrerseits bald Aufträge für die Erstellung zahlreicher Bilderserien, richtete ein eigenes Kopieratelier und einen Leihverkehr ein. 61 Als 1911 die Ordnung des Bildarchivs in Angriff genommen wurde, waren bereits 500 Serienvorträge im Bestand, darüber hinaus zahlreiche Einzelvorträge. 62 Eine besondere Attraktion stellten kurze Filme dar, die als „lebende Photographien“ oder „Kinematogramme“ zu den Vorträgen angekündigt wurden. 63 Ein markantes Beispiel dafür war ein früheres, ebenfalls von Schirmacher verfasstes Projektions-Stück, „Paris und die Weltausstellung 1900“, in

58 Gustav Adolf Witt, Lichtbild und Lehrfilm in Österreich. Bericht für die Europäische Lehrfilmkonferenz in Basel (8.–12.April 1927), auf Grund von Einzelberichten und amtlichen Erhebungen. Wien u.a. 1927, 21; vgl. Filla, Vor 90 Jahren (wie Anm.54), 4; Stifter, Skioptikon-Lichtbildervorträge (wie Anm.5). 59 Karen Eifler, The Great Gun of the Lantern. Lichtbildereinsatz sozialer Organisationen in Großbritannien (1875–1914). Marburg 2017; Ulrike Hick, Geschichte der optischen Medien. München 1999. 60 Witt, Lichtbild (wie Anm.58), 17ff.; vgl. auch Leopold Glack, Theorie und Praxis des Skioptikons. Wien 1908. 61 Stifter, Skioptikon-Lichtbildervorträge (wie Anm.5), 220. 62 Hans Ankwicz-Kleehoven, Das Lichtbilderarchiv der Wiener Urania, in: Volksbildung im demokratischen Wien. 50 Jahre Wiener Urania 1897–1947. Wien 1947, 27f. 63 Das neue Medium, mit dem anfangs kurze Szenen in Praterbuden vorgeführt wurden, hatte erst 1896 Wien erreicht. Vgl. Christian Dewald/Werner Michael Schwarz, Kino des Übergangs. Zur Archäologie des frühen Kinos im Wiener Prater, in: Dies. (Hrsg.), Prater, Kino, Welt. Der Wiener Prater und die Geschichte des Kinos. Wien 2005, 10–86, hier 13–16. Die Urania integrierte ab 1898 Kinematogramme in ihr Programm. Vgl. Christian Stifter, Die Erziehung des Kinos und die Mission des „Kulturfilms“, in: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung 8, 1997, 3, 54–79, hier 55.

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dem Filmsequenzen, u.a. von dem anlässlich der Ausstellung eingerichteten „rollenden Trottoir“ zu sehen waren. 64 Der Vortrag feierte im Sommer und Herbst 1900 große Erfolge – nach der Uraufführung Ende Juni wurde er Anfang August bereits zum 50. Mal aufgeführt und die Presse berichtete, dass bei den immer ausverkauften Vorstellungen wiederholt „einige hundert Personen vergebens Einlaß“ gesucht hatten. 65 Nicht zuletzt an diesen Erfolg suchten die Organisatoren der Urania wohl anzuknüpfen, wenn sie Schirmacher 1903 erneut mit der Verfassung eines Repertoirevortrags beauftragten. 66 Wenn es gilt, Darstellungsstrategien und Text-Bild-Dynamiken des Projektionsstückes „Frauenarbeit“ zu analysieren, so sind dafür auch die Produktionsbedingungen zu reflektieren. Käthe Schirmacher, die täglich notierte, woran sie arbeitete, hat die Arbeit am Vortrag an drei Tagen im Juli 1903 eingetragen. Zu dieser Zeit hielt sie sich in Paris auf. 67 Sie könnte mögliche Bilder bei einem Wienbesuch im Frühjahr desselben Jahres gesehen haben. Dass entsprechende Vereinbarungen im April 1903 getroffen wurden, als sie mehrere gut besuchte Vorträge in Wien hielt, ist auch deshalb wahrscheinlich, weil die Themen, zu denen sie sprach – Französische Frauenbewegung (in der Urania) 68, Arbeiterinnenschutz (im Sozialpolitischen Verein) 69 und Prostitution (auf Einladung des Vereins Heimat) 70 – in Teilen wieder im Lichtbildvortrag auftauchen. Es ist also denkbar, dass ihre Wiener Auftraggeber auf dieser Basis auch die Zusammenstellung der Bilder durchführten. Der Text legt nahe, dass Schirmacher eine Vorstellung von den Bildern hatte, denn immer wieder geht sie explizit auf Abbildungen ein. Angesichts des technischen Aufwandes der Erstellung der Glasbilder könnte teilweise auch auf ein in der Urania bestehendes Bilderreservoir zurückgegriffen worden sein. Eine Besprechung hebt allerding hervor, dass die „Projektionsbilder […] für dieses soziale Projektionsstück der Wiener Urania eigens

64

Neues Wiener Journal, 14.7.1900, 7. Schirmacher, die bei der Weltausstellung in Paris als Berichter-

statterin tätig war, hatte zu diesem Anlass auch ein populäres Buch über die Stadt Paris veröffentlicht und war daher eine naheliegende Wahl. Vgl. Käthe Schirmacher, Paris, ein Skizzenbuch. Berlin 1900. 65

Neue Freie Presse, 2.8.1900, 7.

66

Dass sich die Urania 1903 in ökonomischen Schwierigkeiten befand, könnte den Wunsch nach einem

ähnlichen Erfolgsstück noch verstärkt haben. Vgl. Filla, Vor 90 Jahren (wie Anm.54), 5. 67

Nl Sch 922/009 Tagebuch, 23.–25.7.1903; Nl Sch 121/021 Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher,

26.7.1903: „Gestern habe ich einen Vortrag ‚Frauenarbeit‘ für die Wiener Urania beendet.“

226

68

Wiener Extrablatt, 8.4.1903, 12.

69

Neues Wiener Tagblatt, 17.4.1903, 9.

70

Neue Freie Presse, 2.4.1903, 8.

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hergestellt“ wurden. 71 Wiewohl die Bilder einen guten Teil der Attraktion der Projektionsvortrage ausmachten, bleibt die Autorschaft des visuellen Teils anonym: Wer die Bilder fotografiert, koloriert und zusammengestellt hat, wird weder in der Ankündigung des Vortrags noch auf dem Vortragsmanuskript benannt. 72 Der Vortragstext war vollständig ausformuliert – da er professionell vorgetragen wurde, konnte auch nur so eine in der Ankündigung ausgewiesene Autorschaft wie die von Käthe Schirmacher glaubhaft gemacht werden. Die Präsentation dürfte etwa eine Stunde gedauert haben, dazu wurden 97 Bilder gezeigt, vor allem Fotografien, aber auch Abbildungen von Druckgrafiken. Der Großteil war koloriert, so dass das Publikum etwa drei farbige Bilder in zwei Minuten sah. Die Zuordnung der Bilder zu den Textstellen ist in das maschinschriftliche Manuskript mit Buntstift eingetragen, was vermuten lässt, dass die genaue Fixierung der Bilderfolge den letzten Arbeitsschritt darstellte. Fast alle Bilder haben kurze, bisweilen beschreibende Bildbezeichnungen, die im Text nicht zitiert werden – sie dienten offenbar der Archivierung, der Pressearbeit 73 und möglicherweise auch der Kommunikation mit den Textautoren und Textautorinnen.

V. Text und Bild Die gezeigten Bilder stellen sowohl inhaltlich als auch ästhetisch sehr unterschiedliche Bezüge her. So wird mit Werken des Historienmalers Alexander von Liezen-Mayer sowie mit der Abbildung einer Mamorstatue („Cornelia, die Mutter der Gracchen“) des französischen Bildhauers Pierre Jules Cavelier ein bildungsbürgerlicher visueller Katalog abgerufen, ohne dass die Künstler im Text benannt werden. Fotografien zeigen Straßenszenen, Arbeitsstätten, Ansichten aus fernen Ländern, Porträts von Berühmtheiten sowie Bildinszenierungen typisierter anonymer Figuren. Eine Reihe von Text-Bild-Dynamiken kam dabei zum Tragen.

71 Reichspost, 9.10.1903, 10. 72 Wiener Urania. Offizielles Organ des Volksbildungs-Institutes „Wiener Urania”, 9.8.1908, 1. 73 Zitierungen von im Vortragstext nicht erwähnten Bildunterschriften (z.B. „Weiblicher Arzt bei der Auskultation”) lassen vermuten, dass den Redaktionen Bilderlisten zur Verfügung standen. Reichspost, 9.10.1903, 10.

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1. Gegensätze und Entwicklungen: Der Vortrag stellt eine Reihe von hausarbeitsnahen Frauenberufen vor und kombiniert in der zugehörigen Bilderserie in spannungsreicher Abwechslung unterschiedliche Räume, Gruppen und Einzelporträts (Köchinnen in der Küche, Wäscherinnen am Fluss) und erzeugt mit dieser Abwechslung Spannung. Der Text setzt hingegen auf Entwicklungen: „Hat sich nicht manch andere Frauentätigkeit auch schon vom Hause gelöst“ 74, kommentiert Schirmacher. Die Dynamik der Veränderung wird durch visuelle Kontrastierung verstärkt – dass die „Hausfrau der Zukunft“ nicht mehr spinnen und weben werde 75, wird mit einem Szenenbild eines Gretchen am Spinnrad illustriert, in dem das Wiener Publikum die Hofschauspielerin Lotte Medelsky in einer Faustinszenierung der vorangegangenen Jahre erkennen konnte. Eine der „weiblichen Hauptindustrien“, so heißt es weiter, sei die „Konfektion von Kleidern und Wäsche“, in der „in allen großen Kulturländern Millionen von Frauen beschäftigt“ seien. 76 In der zugehörigen Bilderfolge werden Klassen- und Ländergrenzen überschritten. Auf eine amerikanische Schneiderinnenschule mit afroamerikanischen Schülerinnen und Pariser Schneiderinnen auf der Straße folgen nicht nur elegante Damen in einem Wiener Probiersalon, sondern auch eine nächtliche Heimarbeiterin, deren systematische Ausbeutung Schirmacher scharf kritisiert. 77 2. Visualisierung von Gleichheit: Eine Folge mit Bildern und Beschreibungen zu Berufen, die für den Aufbruch von Frauen in neue Erwerbsarbeitsbereiche standen (Telefonistinnen, „Tippfräuleins“ (BU), eine Postbeamtin) werden mit Hinweisen auf die Schwere der Arbeit und die gegenüber Männern geringeren Gehälter der Frauen verbunden, oft auch mit bitterer Ironie: „Als das Telephon eingeführt ward, zeigte sich, dass die Frauenstimmen besser vernehmlich sind, dass die Fähigkeiten des inferioren Geschlechts doch auf der Telephonhöhe stehen und die Frauen bei entsprechend inferioren Gehältern, dem Staate nützlicher sein können als der Mann.“ 78

Wo die Fabrikarbeit von Frauen dokumentiert wird – in der Textilindustrie, in Konservenfabriken, im Stahlwerk bei Krupp, auch im Bergbau –, sind immer wieder Frauen und Männer bei der gemeinsamer Arbeit zu sehen. Schirmacher formuliert

228

74

Schirmacher, Die Frau (wie Anm.16), 5.

75

Ebd.7.

76

Ebd.

77

Ebd.8.

78

Ebd.22.

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dazu klassenkämpferisch, wenn sie etwa die „Ausbeutung der Industriearbeiterin durch lange Arbeitsstunden, schlechte sanitäre Verhältnisse, niedrigen Lohn“ 79 hervorhebt. Immer wieder wird aber auch mit Überraschungen und der Infragestellung konventioneller Geschlechterbilder gearbeitet, wenn zum einen Frauen unter Waffen oder weibliche Forschungsreisende oder aber strickende Männer gezeigt werden. Gleichheit wird somit sowohl durch Bilder der Zusammenarbeit von Männern und Frauen als auch durch Darstellungen von Rollenumkehr evoziert. 3. Celebrities und Typen: Von Spannungen durchzogen ist auch der Umgang mit Individualität. Genannt und gezeigt werden zum einen Berühmtheiten – neben den Forschungsreisenden sind das etwa die Malerin Tina Blau oder die Schauspielerin Eleonore Duse, Wissenschaftlerinnen (Karoline Herschel), Aktivistinnen für Frieden, für Frauenrechte (Bertha von Suttner, Anita Augspurg, Marguerite Durand), deren Bekanntheit zugleich genutzt und bestärkt wird. Zum anderen mischen sich unter die Porträtserien typisierte Repräsentantinnen von Gruppen (russische Nonne, Münchner Kellnerin (BU)). Besonders deutlich wird das Spiel von Bekanntheit und Anonymität, Klassengegensatz und klassenübergreifender Gemeinsamkeit im Namen essentialisierter Weiblichkeit im Zusammenhang mit den Künstlerinnen, wenn den großen Stars der Bühne wie Sarah Bernhard nicht nur anonyme Figuren gegenübergestellt, sondern auch die geringen Gagen der „Durchschnitts-Schauspielerin“ oder den „armen Tänzerinnen des Orients“ hervorgehoben werden. 80 4. Exotisierung: Mit den Themen Landwirtschaft, Schifffahrt und Fischerei, so wie mit Krieg und Forschung unternimmt der Vortrag eine „Reise um die Welt“ und verknüpft in wechselnden Bildfolgen geographisch Nahes und Fernes („Tee-Ernte in Japan“ (BU), „Sennerin“ (BU), „Frauen in Palästina, Korn in der Handmühle mahlend“ (BU)). Eine ambivalente Dynamik von Exotisierung, Folklore und Sozialreportage kommt in diesen Abfolgen zum Tragen, mit denen im Text der Verweis auf die Arbeit als verbindende Praxis einhergeht. An anderer Stelle erfährt das visuelle othering auf der textuellen Ebene Verstärkung: „Im kühnen Elefantenritt die Urwälder tropischer Wildnis zu durchmessen, sich in das Herz des dunklen Afrika zu stürzen, […] das scheint Frauen wie Mistress Bird Bishop, einer Engländerin, Mistress Trench Shelden, einer Ameri-

79 Ebd.23. 80 Ebd.18.

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kanerin, Madam Pomerol, einer Französin, Frau Selenko, einer Deutschen, Hochgenuss.“ 81

Die nationale Markierung der Protagonistinnen verstärkt dabei den kolonialen Herrschaftsanspruch noch. Schirmachers Terminologie re/produziert dazu klare Hierarchien, wenn sie von „Naturvölkern“ und „Kulturländern“ spricht. 82 Exotisierung und typisierte Frauenbilder gehen auf visueller Ebene einher mit unterschiedlichen Varianten, die weltweite Bedeutung und Notwendigkeit der Arbeitsleistungen von Frauen herauszustreichen, wenn etwa die Teppichweberinnen in Kurdistan oder Textilarbeiterinnen an Spinnmaschinen gezeigt werden. Schirmachers Thematisierung von Ausbeutung im Kontext europäischer Weltbeherrschung inszeniert allerdings auch in rassisierender Weise Farbkontraste, wenn sie, auf ein populäres Jugendbuch des preußischen Prinzen Heinrich über seine Weltumschiffung 83 anspielend, erklärt, in Amerika seien es schwarze Frauen gewesen, „die für den weissen Fürsten und sein weisses Schiff die Kohlen schuppten.“ 84 5. Transnationale Argumentation für politische Rechte: Ausbildung und wissenschaftliche Bildung sind zentrales Thema im Zusammenhang mit den Gesundheitsberufen: „Es hat in den verschiedensten Kulturländern 30 bis 50 Jahre harten Kampf gekostet, um der Frau auf ihrem eigensten Gebiet, dem der Heilkraft ihre alten Rechte wiederzugewinnen.“ 85 Mit dieser Formulierung ist eine weitere argumentative Strategie des Textes benannt: der Verweis auf Beispiele in anderen Ländern, durch deren Darstellung Verbesserungen im eigenen Land erreicht werden sollen. Der Kampf um die universitäre Ausbildung von Frauen zu Ärztinnen war um 1900 ein wichtiges Thema der deutschsprachigen Frauenbewegungen. 86 Und im Zusammenhang 81

Ebd.27; Die Metapher vom „Herz” des „dunklen Afrika” ist vermutlich eine Referenz auf Joseph Con-

rads 1902 publizierte Novelle „Heart of Darkness” durch die vielbelesene Schirmacher zu interpretieren. Auf ihr Interesse an Afrika deutet auch die Erwähnung von Olive Schreiners „Geschichte einer afrikanischen Farm” (ebd.16); zu Schreiner: Liz Stanley, Imperialism, Labour and the New Woman. Olive Schreiner’s Social Theory. Durham 2002. 82

Schirmacher, Die Frau (wie Anm.16), 13, 22, 28.

83

Des Prinzen Heinrich von Preußen Weltumseglung. Original-Erzählung für die Jugend von C.V. Der-

boeck. 11.Aufl. Leipzig 1900. 84

Schirmacher, Die Frau (wie Anm.16), 25. An dieser Stelle fällt im Vortrag das N-Wort. Zur Geschichte

kolonial geprägten rassistischen Sprachgebrauchs im Deutschen vgl. Susan Arndt/Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. Kerben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster 2001.

230

85

Schirmacher, Die Frau (wie Anm.16), 9f.

86

Zu Ausbildung und Praxis der ersten Ärztinnen vgl. Johanna Bleker, Frauenpraxis. Die Berufsrealität

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mit den Ausbildungsforderungen wird die Frauenbewegung auch explizit Gegenstand des Vortrages: „Seit 50 Jahren haben [die Frauen] […] um die Zulassung zu den Universitäten gekämpft und dieser Kampf um’s Wissen bildet die bisherige Hauptphase der bürgerlichen Frauenbewegung in Europa.“ 87 Das Foto einer Wiener Volksschullehrerin in ihrer Klasse wird hierzu mit einem Abschlussjahrgang eines amerikanischen Frauen-Colleges kontrastiert. Ein weiteres Thema, das Schirmacher mit der Frauenbewegung in Verbindung bringt, ist die Sozialarbeit: Die Kompetenz von Frauen werde an den Rand gedrängt, weil sich diese ohne das Wahlrecht kein Gehör in den Institutionen verschaffen konnten, während den „Engländerinnen und Amerikanerinnen“, die „seit 30 Jahren aktives und passives Wahlrecht in den Armenkommissionen“ hätten, ganz andere Handlungsmöglichkeiten offen standen. 88 Daran schließt sich eine tour d’horizon von Frauenrechtsforderungen von der Französischen Revolution über das Kommunalwahlrecht bis zur Möglichkeit für Frauen in Norwegen und den USA, Stadträtinnen zu werden. 89 Auf der visuellen Ebene wird die Wahlrechtsforderung mit einer Weltkarte unterstützt, auf der Regionen mit kommunalem Wahlrecht für Frauen rot eingefärbt sind. Als Beleg dafür, dass Frauen in gleicher Weise wie Männer zu politischem Denken fähig sind, werden in einer historischen Rückschau berühmte Herrscherinnen von der Königin von Saba bis zu Queen Victoria zitiert. 90 Wie bei den Bildungsforderungen wird auch hier – aus der Logik der Zeit heraus – transnational argumentiert. 6. Recht auf den öffentlichen Raum: Eine Straßenaufnahme vom Festumzug zum 60-jährigen Regierungsjubiläum der britischen Königin in London 1897 kann in eine weitere Dynamik eingeordnet werden: der Wechsel zwischen Außen- und Innenräumen, die das Eingangszitat von der Frau, die ins Haus gehöre, konterkarieren. Straße und Öffentlichkeit werden als legitimer Raum der Frauen behauptet, wo sie als Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Musikerinnen, Kinderfrauen ebenso wie Wäscherinnen ihrer Arbeit nachgehen. Der verbreiteten Abwertung von (unbeglei-

deutscher Ärztinnen bis zum Beginn der Weimarer Republik, in: Trude Maurer (Hrsg.), Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20.Jahrhundert. Göttingen 2010, 236–251. 87 Schirmacher, Die Frau (wie Anm.16), 13f. 88 Ebd.29f. 89 Ebd.31f. 90 Ebd. 33.

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teten) Frauen auf der Straße zu Prostituierten 91 stellt der Vortrag eine Aufzählung von Frauenberufen im öffentlichen Raum entgegen. Allerdings tut sich an dieser Stelle auch eine Kluft zwischen Bildprogramm und Textaussagen auf. Denn während Schirmacher die sexualisierte Ausbeutung von Frauen kritisiert, die „dem Publikum mit seiner Münze noch ein freundliches Lächeln herausgeben“ müssen, bedienen Bilder wie „Japanische Geishas“ (BU) oder „Arabische Tänzerin in Ägypten“ (BU) sexuelle und orientalisierende Schaulust. Ein Hintergrund dafür ist wohl die Koproduktion zwischen einer (anonym bleibenden) Bildredaktion und der Textautorin, die je unterschiedliche Publika ansprachen. Schirmachers Text zielte auf die Popularisierung von im Kontext der Frauenbewegung erarbeiteten Wissensbeständen, während die Urania durch ihre Bildauswahl einen möglichst großen Verkaufserfolg des Stückes anstrebte. Da vergleichbare Lichtbildvorträge zu Frauenbewegungsthemen bislang nicht Gegenstand detaillierter Analysen in der Forschung wurden, ist schwer einzuschätzen, inwieweit hier ein grundsätzlicher Gegensatz im Kontext der Popularisierung feministischer Themen zum Ausdruck kam. 7. Ambivalenzen – Verhandlungen: Die das Projektionsstück durchziehenden Ambivalenzen treten paradigmatisch in einem Bild zutage, das eine leichtbekleidete junge Frau zeigt, die einen Löwen am Ohr krault. Zu sehen ist die Wiener Artistin Mathilde Rupp/Tilly Bébé, die in babyartiger Kleidung mit einer Gruppe von Löwen auftrat. 92 Trotz ihrer zeitgenössischen Berühmtheit bleibt sie im Vortrag namenlos. Sie wird als arbeitende Frau gezeigt, die sich in einem Männerberuf bewährt, doch das Bild aus dem Kontext der Zirkusartistik bedient auch Wünsche nach Sensation und Spektakel. Rupps entblößte Arme und Beine rufen sexuelles Begehren hervor, während ihre Beherrschung des Raubtiers weibliche Souveränität betont. Schirmachers Kommentar stellt eine zusätzliche Bedeutungsebene her, wenn sie formuliert: „[D]ie wilden Bestien des heißen Afrika zu zähmen, reizt sie, wie uns eine moderne Dompteuse zeigt.“ 93 Der damit zum Ausdruck gebrachte imperiale Blick, der auf bereits bekannte koloniale Bildtraditionen der Kartographie zurück greift, wie auch das ihm innewohnende Machtbegehren 94 werden durch eine optische Anspie-

91

Gehmacher/Heinrich/Oesch, Käthe Schirmacher (wie Anm. 3), 345–350.

92

Rupp, Mathilde; Ps. Tilly Bébé (1879–1932), Artistin, in: Österreichisches Biographisches Lexikon

1815–1950. Bd. 9. (Lfg. 44.) Wien 1987, 329 (B. Lang).

232

93

Schirmacher, Die Frau, (wie Anm.16), 27.

94

Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. Londonu. New York 1992.

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lung noch um eine Dimension erweitert: Bei der Kolorierung wurden die Strümpfe der Löwenbändigerin blau gefärbt, so dass sie als Blaustrumpf, also als Geschlechtergrenzen überschreitende Frau auch im sozialen und intellektuellen Sinn wahrgenommen werden konnte. 95 Dass die Herrschaft über gefährliche Tiere auch als Metapher für weibliche Souveränität im Kontext feministischer Forderungen genutzt wurde, das sollte wenige Jahre später das Beispiel der französischen Schauspielerin und Zeitungsherausgeberin Marguerite Durand zeigen, die sich in einem Foto mit einem Löwen abbilden ließ. 96

VI. Rezeption, Wiederholungen Das Projektionsstück erlebte im Herbst 1903 und in den folgenden Jahren eine Reihe von Wiederaufführungen. So fanden im Oktober und November 1903 mehrere Vorstellungen statt 97, zum Teil in Kombination mit Schirmachers früherem Stück „Paris“, im Dezember wurden einmal „lebendige Photographien“ mitangekündigt 98, eine von Schauspielern und Schauspielerinnen des Burgtheaters getragene Vorführung zu wohltätigen Zwecken stellte das Projektionsstück zwischen Theater- und Musikaufführungen explizit in den Kontext von Unterhaltung. 99 Im Februar und März 1905 fanden – unter dem Titel „Frauenarbeit“ – Aufführungen in Prag statt. 100 Eine letzte Wiederaufnahme des Stückes lässt sich für den Mai 1908 in

95 Da der Text das Detail nicht aufgreift, muss offenbleiben, ob die Anspielung intentional war. Zeitgenössische Darstellungen zeigen die Künstlerin in einem blauen Kostüm und schwarzen Strümpfen. 96 Marie Louise Roberts, Acting Up. The Feminist Theatrics of Marguerite Durand, in: French Historical Studies 19, 1996, 1103–1138, hier 1132f. 97 Wiener Zeitung, 2.10.1903, 9; Neue Freie Presse, 3.10.1903, 8; Neues Wiener Tagblatt, 8.10.1903, 10; Reichspost, 9.10.1903, 10; Wiener Zeitung, 18.10.1903, 17; Deutsches Volksblatt 1.11.1903, 8. 98 Das Vaterland, 14.12.1903. 99 Unter der Regie von Ernst Hartmann wurde Schirmachers Text von dem Schauspieler Arnold Korff vorgetragen, in der darauffolgenden Aufführung des Lustspiels „Feuer in der Mädchenschule” (Théodore Barriere, Le Feu au Couvent) traten Hartmann und Korff gemeinsam mit der Schauspielerin Rosa AlbachRetty auf. Ein Quartett, „Die censurirte Schöpfung” und „lebende Photographien” rundeten den Nachmittag ab. Neues Wiener Tagblatt, 4.12.1903, 10; Illustrirtes Wiener Extrablatt, 4.12.1903, 9; Wiener Zeitung, 8.12.1903, 20. 100 Prager Tagblatt, 2.2.1905, 9; 14.2.1905, 21; Prager Tagblatt, 15.2.1902, 7.

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Wien nachweisen – bei dieser Gelegenheit wurden nicht nur „lebende Photographien“ 101, sondern auch der Vortragende (K. Jäger) angekündigt. Auffällig am Presseecho 1903 ist, dass unterschiedlichste Zeitungen und Zeitschriften ankündigten und berichteten – spiegelt das den Grad der Einbindung der Wiener Urania in unterschiedliche Milieus der Stadt, so könnte auch Schirmachers Bekanntheit als Schriftstellerin eine Rolle gespielt haben. Dass der Inhalt als kontrovers betrachtet wurde, darauf deutet ein ausführlicher Bericht im „Deutschen Volksblatt“ nach der Vorpremiere am 2.Oktober 1903 hin: „Fräulein Dr. Käthe Schirmacher in Paris ist eine der eifrigsten Verfechterinnen der Frauenrechte.“ Wiewohl in spöttisch-kritischem Ton gehalten, kündigte der Artikel die Premiere am selben Abend an und machte damit wohl gute Werbung für die Veranstaltung. 102 Auch ein kritischer Kommentar in der katholisch-konservativen „Reichspost“ zielte nicht auf die Autorin, sondern in antisemitischer Weise auf die Bildauswahl der Urania: Erkennbar war offenbar der Firmenname eines als „jüdisch“ apostrophierten Unternehmens gewesen, was in der archivierten Fassung nicht (mehr) der Fall ist. 103 Die Vorpremiere vor geladener Presse diente möglicherweise auch der gezielten Kommunikation bestimmter Inhalte. So war der Huldigung des die Urania unterstützenden Hochadels wohl Genüge getan, nachdem die „Neue Freie Presse“ und die „Reichspost“ ein Porträt der Fürstin Metternich lobend hervorgehoben hatten 104 – Bild und Textstelle wurden in der Folge aus dem Manuskript gekürzt. Eine Reaktion in der Satirezeitschrift „Der Floh“ könnte den Veranstaltern allerdings Sorgen bereitet haben. Dort hieß es: „Weißt du schon, in der Urania gelangt ein Vortrag der berühmten Frauenrechtlerin Dr. Käthe Schirmacher mit Projektionsbildern zur Aufführung. Aha, die Schirmacher, die so heftig gegen die Kontrolle der Prostitution wettert! Dieselbe. Aber es ist ein fauler Zauber, jene Frauenarbeit, welche sie so eifrig studiert hat, wird dort gar nicht gezeigt.“ 105

Der Bezug zur Prostitution wurde von Seiten der Urania vermutlich als problematisch angesehen. Schirmacher hatte dazu im Frühjahr 1903 in Wien gesprochen, die

101 Deutsches Volksblatt, 13.5.1908, 9. 102 Deutsches Volksblatt, 3.10.1903, 9. 103 Die Frau im öffentlichen Leben, in: Reichspost, 9.10.1903, 9. 104 Ebd.; Neue Freie Presse, 3.10.1903, 8. Klementine Metternich war eine der Vizepräsidentinnen des Damenkomitees der Urania. Vgl. Filla, Vor 90 Jahren (wie Anm.54), 7. 105 Frauenarbeit, in: Der Floh, 4.10.1903, 3.

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Gründung einer Wiener Ortsgruppe der Internationalen Abolitionistischen Föderation ging auf ihre Initiative zurück 106, doch im Urania-Vortrag fehlte das Thema. Der Titel „Frauenarbeit“ wurde jedenfalls fallengelassen, die folgenden Ankündigungen fanden unter dem Titel „Die Frau im Kampfe ums Dasein“ statt. Wenn diese Änderung eine von den Veranstaltern initiierte Reaktion auf die Ironisierung des ursprünglichen Titels war, so verbarg sich darin allerdings für das politisch belesene Publikum neuerlich eine Anspielung auf die Prostitution, behandelte doch der damit vermutlich referenzierte Text von Adelheid Popp das Thema Prostitution ausführlich. 107 Dass hier um Grenzen des Sagbaren im Rahmen der spezifischen Öffentlichkeit der Urania gerungen wurde, darauf weist auch Schirmachers Thematisierung einer Reihe von Kontexten, die mit Prostitution verbunden wurden (Schauspiel, Gastgewerbe), ohne diesen Bezug allerdings herzustellen.

VII. Feminismus im Modus der Anschaulichkeit Käthe Schirmachers Lichtbildvortrag von 1903 gilt es, wie ich zu zeigen versucht habe, im Kontext zeitgenössischer Diskurse um Geschlechtscharaktere, aber auch im Rahmen miteinander vernetzter sozialer Bewegungen im Spannungsfeld zwischen Information, Agitation und Unterhaltung zu analysieren. Wenn Feminismus und Anschaulichkeit dabei als analytische Konzepte eingesetzt wurden, so sind damit sowohl spezifische Weltsichten als auch Ensembles von Praktiken der Popularisierung und Aneignung angesprochen, die kooperierten, einander aber auch konterkarierten. Unterschiedliche (selbst ebenfalls nicht homogene) Akteure – die Volksbildungsbewegung, die Frauenbewegung – bestimmten die Ausgestaltung dieses exemplarischen Bild-Text-Ensembles. Ihre Zielsetzungen überschnitten sich partiell – hier Bildungserweiterung, aber auch kommerzielle Interessen, dort die Bestrebung, Inhalte der Frauenbewegung an eine größere Öffentlichkeit zu vermitteln, aber auch der Wunsch, eine spezifische Position innerhalb der Frauenbewegung zu bekräftigen. Damit ging der Entwurf unterschiedlicher (Gegen-)Öffentlichkeiten einher, die durch die je erzeugten Aufmerksamkeiten geschaffen werden

106 Neues Wiener Journal, 10.4.1903, 4 107 Popp, Arbeiterin (wie Anm.34), 8–10.

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sollten. 108 Spannungen zwischen differenten Geschlechterbildern in Text und Bildern können daher als Symptome von Aushandlungsprozessen im hybriden Raum zwischen Volksbildung, Frauenbewegung und Populärkultur gelesen werden, in dem sich unterschiedliche Aneignungshaltungen überschneiden. Das politische Anliegen wird immer wieder durch die Dynamik zwischen Bild und Text durchkreuzt, bieten Bilder doch den Betrachtern und Betrachterinnen immer mehr und anderes an, als das, was der Text benennt. Der Versuch, in Kooperation mit den Visualisierungspraktiken der Urania die hegemoniale Wahrnehmung von Frauenarbeit zu verschieben und Geschlechterstereotype aufzubrechen, war in diesem Fall offenbar nur um den Preis der Anknüpfung an stereotypisierte Frauenbilder möglich. Wenn das neue Stück gleichwohl nicht an den Erfolg von Schirmachers früherem Projektionsvortrag über „Paris und die Weltausstellung“ anschließen konnte, so war dies möglicherweise ebendieser Situierung in einem diskursiven wie sozialen Zwischenraum geschuldet: Wer als Frau öffentlich über die Arbeit von Frauen sprach, konnte schnell mit der Erwartung konfrontiert werden, dass es hierbei wohl um Sexualität gehen müsse, gerade die Vermeidung von Sexualität als Thema war allerdings eine Voraussetzung dafür, dass einige der Bilder sexualisiert und damit in einem populären Kontext attraktiv gemacht werden konnten. Ein breites Publikum anzusprechen, erforderte zudem einen sehr allgemeinen Zugriff, der Anhängerinnen und Unterstützern der Bewegung kaum Neues bringen konnte, andererseits mochte der politisch-agitatorische Text das Vergnügen jener gestört haben, die vor allem der Bilder wegen kamen. Die Auseinandersetzung mit Schirmachers Vortrag verweist auf einen spezifischen Moment in der Entwicklung der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung, die sich in den vorangehenden Jahrzehnten in Vereinen, Publikationsmedien, Sozialund Schulprojekten institutionalisiert, aber letztlich wenig grundlegende politische Erfolge erzielt hatte. Wie die Medienreaktionen auf Schirmachers Projektionsstück von 1903 zeigen, waren die Lager für und gegen die Bewegung längst klar voneinander abgegrenzt und die Bezugnahme auf Frauenrechte zu einem kulturellen Code 109 für die Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Seite geworden. Die Ent-

108 Zum Konzept der (Gegen-)Öffentlichkeiten: Michael Warner, Publics and Counterpublics, in: Public Culture 14, 2002, 49–90. 109 Vgl. zu diesem Konzept: Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: Ders., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20.Jahrhundert. München 1990, 13–37.

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wicklung organisatorischer Alternativen zu den bestehenden Vereinen, wie sie in Neugründungen auf nationaler wie internationaler Ebene zum Ausdruck kam, aber auch die Entwicklung neuer, militanter Taktiken, wie sie insbesondere die britischen Wahlrechtsaktivistinnen bald entwickeln sollten, machte deutlich, dass auch innerhalb der Bewegungen eine strategische Neuorientierung gesucht wurde. Die Popularisierung von feministischen Themen und Perspektiven mit neuen Darstellungsformen und Medien kann daher als ein spezifischer Versuch gesehen werden, den hegemonialen Geschlechterdiskurs zu verschieben und zugleich der Frauenbewegung ein neues Momentum zu verleihen. Dieses Projekt stand freilich in Konkurrenz mit anderen Unterhaltungs- und Wissensangeboten. Auf der Bilderebene könnte sich dabei das konventionelle Bilderinventar von Porträts, typisierten Frauenbildern und Sozialreportage angesichts einer sich nach der Jahrhundertwende rasant ausbreitenden Bildberichterstattung in den Printmedien schnell als veraltet erwiesen haben. Auf der Ebene der Inhalte wiederum gewannen angesichts der Tatsache, dass die Volkshochschulbildung keine formalen Qualifikationen anbieten konnte, spezifische Wissensangebote in ihren Vorträgen und Kursen an Bedeutung. Das war zum einen Wissen um des Wissens willen (etwa aus dem Bereich der Naturwissenschaft), zum anderen erwiesen sich praktische Angebote wie Sprachunterricht als sehr beliebt. Zu letzteren zählten auch die sehr geschätzten Brautkurse, deren emanzipatorisches Potenzial angesichts der rechtlichen und sexuellen Aufklärung, die sie boten, nicht unterschätzt werden sollte. Agitation im Format der Unterhaltung, wie sie Schirmachers Vortrag vermittelte, fiel demgegenüber möglicherweise ab. Gerade weil die Urania ein Unternehmen war, das – jedenfalls vor dem Ersten Weltkrieg – stark am Publikumserfolg orientiert war, ließen sich bei einer (hier nicht zu leistenden) tiefer gehenden Untersuchung ihrer an Frauen gerichteten Programme differenzierte Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen der Verschiebung des hegemonialen Diskurses diskutieren. Die Auseinandersetzung mit Kontexten und dem politisch-sozialen Umfeld des Projektionsstückes „Frauenarbeit“ hat einen offenen Raum zwischen Frauenbewegung, Volksbildung und Arbeiterbewegung sichtbar werden lassen, in den Frauen aktiv intervenierten. In diesem Raum wurden Geschlechterbilder und neue Konzepte von Subjektivität verhandelt, aber auch auf unterschiedlichen medialen Ebenen Ziele der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung und der Arbeiterinnenbewegung popularisiert. Dabei wurde mit transnationalen Strategien um politische Rechte, ökonomische Ressourcen, Bildungs- und Berufszugänge gerungen. Der mit diesen

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Aneignungen verbundenen Überzeugung, dass Wissen auch Zugang zu Ressourcen und Macht eröffnen konnte, stand freilich die Tatsache entgegen, dass die Volksbildung die institutionalisierte Hierarchisierung der Wissenspraktiken nur beschränkt in Frage stellen konnte.

Dieser Aufsatz wurde während meiner Gerda Henkel Gastprofessur 2018/19 in London konzipiert und geschrieben. Für die Möglichkeit zu konzentrierter Arbeit und die anregende und kollegiale Umgebung danke ich der Gerda Henkel Stiftung und dem Deutschen Historischen Institut London.

Von Frauen und Vögeln Zur Wissensgeschichte des Nestbauinstinkts von Lisa Malich

2013 veröffentlichten die Psychologin Marla Anderson und der Psychologe Mel Rutherford eine Studie im Journal „Evolution and Human Behavior“. 1 In dem Artikel beabsichtigen sie, einen Nachweis dafür zu liefern‚ dass auch in der menschlichen Schwangerschaft eine Art „Nestbautrieb“ existiere, den sie, ihrem disziplinären Hintergrund gemäß, als „nesting psychology“ bezeichneten. Hierzu führten sie eine quantitative Erhebung an kanadischen Frauen durch und konstruierten ein „Nesting Questionnaire“, einen Nestbau-Fragebogen, den sie von einer Stichprobe an schwangeren und nicht-schwangeren Frauen ausfüllen ließen. Eigenschaften, deren Ausprägungen sich in der Gruppe der Schwangeren signifikant von der anderen Gruppe unterschieden, erklärten die Forscherinnen in ihrem Artikel zum Nestbauverhalten in der Schwangerschaft. Dieses führten sie auf eine evolutionspsychologische Adaption zurück, die mutmaßlich hormonell vermittelt sei. Anderson und Rutherford betrachteten es als sicheres Indiz für die natürliche Existenz eines Nestbautriebes in der Schwangerschaft, dass das Wissen dazu in populären Diskursen bereits längst verbreitet, das Thema in der Forschung hingegen bislang sträflich vernachlässigt worden sei. Und tatsächlich handelt es sich bei ihrer empirischen Untersuchung um die erste wissenschaftliche Studie zu diesem Phänomen, während der Begriff im Bereich der Ratgeberliteratur und in populären Medien sehr viel stärker verbreitet ist. Heute kommt kaum ein Schwangerschaftsratgeber mehr ohne den Hinweis auf einen „Nestbautrieb“ 2, einen „Nestbauinstinkt“ 3 oder, in englischer Sprache, einen „nest-

1 Marla V. Anderson/Mel D. Rutherford, Evidence of a Nesting Psychology during Human Pregnancy, in: Evolution & Human Behavior 34, 2013, 390–397, 133. 2 Liz Fraser, Ich bin dann mal zwei: Der entspannte Ratgeber für Schwangerschaft und Babyzeit. München 2012, 96. 3 Gabriele Grünebaum/Loay Okko, Meine Schwangerschaft – Tag für Tag: Fundierte Information und wertvoller Rat für jeden Tag der Schwangerschaft. Hannover 2010, 279.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-009

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ing instinct“ 4 aus. Im populären Bereich beschreiben diese Begriffe ein eher loses Konzept: Sein kleinster gemeinsamer Nenner scheint zu sein, dass Frauen während ihrer Schwangerschaft den Drang entwickelten, die Wohnung zu putzen, einzurichten und Vorbereitungen für ihr Baby zu treffen. Meist soll sich der Nestbautrieb zur Mitte oder gegen Ende der Schwangerschaft steigern, oft wird er sogar als Zeichen der kurz bevorstehenden Geburt beschrieben. In meinem Beitrag möchte ich zur Disposition stellen, ob der Nestbautrieb in der Schwangerschaft tatsächlich solch ein kohärentes und überzeitliches Phänomen ist, wie es die oben genannte Studie postuliert und wie es auch der Begriff des Instinkts oder Triebes nahelegt. Ich werde mich mit der Geschichte des Konzepts beschäftigen und dabei den verschiedenen historischen Stationen des Wissens zum Nestbauen folgen. Dadurch soll auch eine Forschungslücke bezüglich dieses Themas geschlossen werden: Denn trotz vielfältiger geschichts- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen zur Schwangerschaft fand bislang noch keine Beschäftigung mit dem Phänomen des sogenannten Nestbautriebs statt. 5 Für die historische Analyse des Nestbauinstinkts in der Schwangerschaft bildet die Studie von Anderson und Rutherford somit einen Ausgangspunkt und ein erstes zeitgeschichtliches Dokument. Dabei stehen zwei Thesen im Vordergrund meiner Untersuchung: Erstens soll gezeigt werden, dass die Idee des Nestbautriebes gerade in der Wechselwirkung von populärer und wissenschaftlicher Sphäre entstand und zirkulierte. Solch eine Perspektive richtet sich gegen einen linearen Popularisierungsbegriff, der zwischen vorgeordnetem, schöpferischem und komplexem wissenschaftlichen Wissen einerseits und nachgeordnetem, rezipierendem und simplifizierendem populärwissenschaftlichen Wissen andererseits trennt. Das Modell einer linearen Popularisierung wurde unter anderem bereits von Andreas Dahm 6, Sigrid Schmitz und Christian

4 Laura Riley, Pregnancy. The Ultimate Week-by-week Pregnancy Guide. Des Moines, Ia. 2006, 198. 5 Es existiert mittlerweile eine Vielzahl an Studien zur Geschichte und kulturellen Formation von Schwangerschaft. Genannt seien hier nur einige zentrale Werke: Jennifer Evans/Ciara Meehan (Eds.), Perceptions of Pregnancy from the Seventeenth to the Twentieth Century. New York 2017; Clare Hanson, A Cultural History of Pregnancy. Pregnancy, Medicine and Culture 1750–2000. London 2004; Caroline Arni, Pränatale Zeiten. Das Ungeborene und die Humanwissenschaften (1800–1950). Basel 2018; Barbara Duden, Disembodying Women. Perspectives on Pregnancy and the Unborn. Cambridge, Mass. 1993; Barbara Duden/Jürgen Schlumbohm/Patrice Veit (Hrsg.), Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20.Jahrhundert. Göttingen 2002; Eva Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln 2000. 6 Andreas Dahm, Geschichte der Psychotherapierichtlinien, in: Psychotherapeut 53, 2008, 397–401.

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Schmieder 7 kritisiert und durch interaktive Konzeptionen ersetzt, wie sie auch Muriel González Athenas und Falko Schnicke im vorliegenden Sammelband vertreten. In Einklang damit geht es beim Nestbautrieb also nicht um ein isoliertes wissenschaftliches Konzept, dass den vermeintlichen akademischen Höhen entkam, um sich in den Niederungen der Alltagsdiskurse zu popularisieren – unter solch einem Vorzeichen wäre die Geschichte mit der Studie von Anderson und Rutherford schließlich schon fast wieder vorbei. Vielmehr möchte ich anhand der Geschichte des Nestbautriebes zeigen, dass sich Geschlechterwissen in der Interaktion zwischen verschiedenen akademischen Disziplinen sowie zwischen wissenschaftlichen und populären Wissenskulturen formiert. Dabei wird normatives Wissen über Geschlecht sowohl in wissenschaftliche Konzepte als auch in Praktiken der alltäglichen Lebensführung implementiert. Zweitens handelt es sich beim Nestbautrieb in der Schwangerschaft um ein essentialistisches Geschlechtskonzept, mit dem bestimmte Verhaltensweisen zu determinierten Folgen der Reproduktion erklärt werden. Diese Essentialisierung – so meine These – war eng mit ihrer Popularisierung verknüpft und reagierte immer wieder auf gesellschaftliche Veränderungen der Geschlechterordnung und dichotomer Arbeitsteilung. Für meine wissens- und begriffsgeschichtliche Analyse des Konzepts Nestbautrieb greife ich auf heterogenes Quellenmaterial in deutscher und englischer Sprache zurück. Die Auswahl erfolgte durch Nachverfolgen von Begrifflichkeiten um den „Nestbau“. Inhaltlich lassen sich die Quellen nach zwei Aspekten differenzieren: Zum einen werden Diskurse einbezogen, die sich vorwiegend mit menschlichem Verhalten und Erleben in Bezug auf Schwangerschaft beschäftigen. Hierzu zählen geburtshilfliche und gynäkologische Lehrbücher sowie populäre Ratgeber, die sich über schwangere Gefühle und psychische Zustände äußern, Studien der Psychiatrie und Psychologie, Zeitschriftenartikel und mediale Darstellungen. Zum anderen wird Wissen zum Nestbautrieb untersucht, das sich schwerpunktmäßig mit tierischem Verhalten beschäftigt. Dabei handelt es sich um Studien aus der Tierpsychologie, den Verhaltenswissenschaften und der Ethologie, ebenso wie um einige populäre Darstellungen der Natur und Tierwelt. Zeitlich reicht meine Analyse bis

7 Sigrid Schmitz/Christian Schmieder, Popularisierungen. Zwischen Naturwissenschaften, Medien und Gesellschaft, in: Smilla Ebeling/Sigrid Schmitz (Hrsg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Wiesbaden 2006, 363–378.

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zur Formation neuzeitlichen Wissens über Schwangerschaft zurück, also bis zum ausgehenden 18.Jahrhundert. Für den untersuchten Zeitraum identifizierte ich fünf distinkte Stationen zum Wissen des Nestbautriebes, die ich im Folgenden ausführe: Die ersten beiden Ausgangsorte befinden sich in wissenschaftlichen wie populären Wissensbeständen zum Nestbautrieb von Tieren, wobei hier zunächst Männchen und später Tierweibchen zentral waren. Dagegen wird der Nestbautrieb schwangerer Frauen erst ab der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts zum Thema. Während sich die dritte Station zu menschlicher Schwangerschaft noch innerhalb wissenschaftlichen und professionellen Wissens bewegt, markiert der vierte Schauplatz eine massive Ausweitung dieses Wissens in populären Diskursen, wohingegen die fünfte Station einen Wiedereintritt des Nestbauinstinkts in der Schwangerschaft in modifizierte wissenschaftliche Diskurse bezeichnet.

I. Das Nest des Vogelmännchens – 19.Jahrhundert Wie begann also die Geschichte des Nestbauens in der menschlichen Schwangerschaft? Zunächst mit einer Leerstelle: In den Quellen aus dem 18. und 19.Jahrhundert wurde ein Phänomen wie der Nestbautrieb mit keiner Silbe erwähnt. Zwar fand sich sehr vereinzelt der Begriff des „Nests“ in geburtshilflicher Literatur. Dieser wurde aber als Analogie zu einem Geburtslager verwendet. So empfahl der Leipziger Mediziner Carl Hennig in seinem Frauenratgeber von 1873, die Schwangere solle sich ein gut stehendes Bett zur Niederkunft vorbereiten, ähnlich wie etwa auch Rehe zum Gebären das Unterholz aufsuchten oder Vögel ein Nest bauten. 8 Und auch das breitere Spektrum an mütterlicher Emotionalität, das heute üblich ist, fehlte bei der Beschreibung Schwangerer in dieser Zeitperiode. 9 Das Fehlen eines Nestbauinstinkts änderte sich auch in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts nicht. Für die menschliche Schwangerschaft schien dieses Phänomen also noch keineswegs zum festen Repertoire der psychischen Erscheinungen zu gehören. Bestimmte Vorläufer fanden sich dagegen in einem anderen Feld:

8 Carl Hennig, Mutter und Kind. Gründliche Belehrungen und Rathschläge während der Schwangerschaft, im Wochenbette und über die physische Erziehung des Kindes. Leipzig 1873, 52. 9 Lisa Malich, Die Gefühle der Schwangeren. Eine Geschichte somatischer Emotionalität (1780–2010). Bielefeld 2017.

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Denn in einer begriffsgeschichtlichen Perspektive beginnt der erste Wissensbestand des Nestbauens nicht beim Menschen, sondern bei den Tieren. Im 19. und frühen 20.Jahrhundert formierten sich die Felder der Tierpsychologie, der vergleichenden Verhaltensforschung und der Verhaltensbiologie. Auch in der Zoologie wurde tierisches Verhalten registriert und detailliert beschrieben, wobei gerade das Nestbauen einen immer beliebteren Beobachtungsgegenstand bildete. Das Interesse an Flora und Fauna war Zeichen einer allgemein ansteigenden Naturwissenschaftlichkeit, die nicht zuletzt von der Erforschung und Verwertbarmachung „fremder“ Natur vor dem Hintergrund des Kolonialismus beeinflusst war. 10 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlagerten sich solche Studien zunehmend auf die heimische Natur. Dabei wurden sie nicht nur zum Gegenstand akademischer zoologischer Forschung, sondern auch zur beliebten Beschäftigung des Bürgertums und zum Bestandteil der gebildeten Öffentlichkeitskultur. 11 Teilweise erfolgten die Tierbeobachtungen auch im Rahmen einer breiteren Heimatkunde, die dazu beitrug, regionale bzw. nationale Identität auszubilden und die teilweise in frühe Naturschutzbewegungen abzweigte. Gerade für die oben genannten disziplinären Felder im Umkreis der Zoologie ist damit der fließende Übergang zwischen Amateur- und Expertentum, zwischen populären und akademischen Praktiken charakteristisch. 12 Besonders gut boten sich Vögel zu ornithologischen Verhaltensstudien an, da sie sich relativ einfach beobachten ließen. In seinem populären Buch „Das Leben der Vögel“ machte Alfred Brehm 1861 diese Mischung aus Laien- und Expertenforschung explizit, als er der Leserschaft riet: „Ich zähle die Beobachtung der Vögel beim Nestbau und Brutgeschäft zu den schönsten Freuden des Forschers und Naturfreundes.“ 13 Einer jener frühen Vogelbeobachter war Constantin Wilhelm Lambert Gloger,

10 Siehe dazu zum Beispiel: Emma C. Spary, Botanical Networks Revisited, in: Regina Dauser/Stefan Hächler/Michael Kempe/Franz Mauelshagen/Martin Stuber (Hrsg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenzennetzen des 18.Jahrhunderts. Berlin 2008, 47–64; Andreas Zangger, Koloniale Schweiz. Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860–1930). Bielefeld 2011. 11 Friedemann Schmoll, Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main 2004. 12 Klaus Taschwer, Von Gänsen und Menschen. Über die Geschichte der Ethologie in Österreich und über ihren Protagonisten Konrad Lorenz, in: Mitchell Ash/Christian H. Stifter (Hrsg.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Wien 2002, 331–351. 13 Alfred Edmund Brehm, Das Leben der Vögel. Dargestellt für Haus und Familie. Glogau 1861, 242.

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der sich zeitlebens in der Sphäre zwischen Forscher und Naturfreund, zwischen akademisch-wissenschaftlichen Institutionen und populärer Gelehrsamkeit bewegte. Nach einem naturwissenschaftlichen Studium arbeitete er zunächst als Lehrer in Breslau und stieg parallel zum Sekretär der Zoologischen Abteilung der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur auf. 1843 zog er nach Berlin, wo er für das Zoologische Museum tätig war und die Schriftleitung des „Journals für Ornithologie“ übernahm. Schon zuvor war der Nestbautrieb von einigen Naturforschern wie dem dänischen Zoologen Friedrich Faber eher en passant dokumentiert worden und als „Trieb“, der vor allem „bey den Vögeln“ aber „nur sporadisch bey den Säugethieren“ gefunden werde, definiert worden. 14 Für Gloger stellte nun der Nestbautrieb von Vögeln einen relevanten und eigenständigen epistemischen Gegenstand dar. Von ihm stammt einer der ersten Aufsätze, die sich schwerpunktmäßig mit dieser Vorstellung beschäftigen – nämlich zum „Nestbau-Trieb mancher unbeweibten Vogel-Männchen“. Darin fasst er den Wissensstand zu diesem „Instincte“ zusammen, welcher unter anderem der bei den Webervögeln, der Beutelmeise oder dem europäischen Zaunschlüpfer bestehe. 15 Das Hauptentstehungsgebiet des Nestbautriebes war also die Vogelkunde. Daneben erfolgten in den Gebieten der Verhaltensforschung und Zoologie später von einigen anderen Autoren auch Beschreibungen des Nestbauinstinkts weiterer Tierarten, insbesondere von Insekten und Fischen. Etwa war über den spezifischen Nestbau von Ameisen 16 oder Stichlingen 17 zu lesen. Doch schon bald war der Nestbautrieb nicht mehr nur ein sich selbst genügender epistemische Gegenstand, den es galt, möglichst akkurat zu erfassen. Er diente nun auch dazu, übergeordnete Zusammenhänge – das Wesen des „Instinkts“ an sich – zu verstehen. Dazu trug niemand anders als der berühmte Privatgelehrte Charles Darwin bei, und zwar in seinem 1859 erstveröffentlichten „On the Origin of Species“: In dem Kapitel zu „Instinct“ (instinct) unterschied er diesen von der „Gewohnheit“ (habit). 18 Anders als diese folge der Instinkt dem Prinzip der Erblichkeit. Als Beispiel

14

Friedrich Faber, Ueber das Leben der hochnordischen Vögel. Leipzig 1826, 129.

15

Constantin Wilhelm Lambert Gloger, Der Nestbau-Trieb mancher unbeweibten Vogel-Männchen, in:

Journal für Ornithologie: Zeitschrift der Deutschen Ornithologen 4, 1854, 375–379, hier 375. 16

Alfred Möller, Die Pilzgärten einiger südamerikanischer Ameisen. Jena 1898.

17

Benno Matthes, Betrachtungen über Wirbelthiere, deren Seelenleben und die Stellung derselben zum

Menschen. Ein Beitrag zur Förderung der Wissenschaft und Humanität. Dresden 1861. 18

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Charles Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Fa-

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für erbliche Instinkte führte Darwin das identische Nestbauverhalten der Vogelmännchen des amerikanischen wie des europäischen Zaunkönigs an. Die Nichtlokalität des Verhaltens führte er auf einen vererblichen Instinkt zurück. In der Nachfolge von Darwins populärem Werk bemühte sich ein Teil des Forschungsfeldes um eine genauere Definition des Instinkts, wobei der Nestbautrieb als beliebtes Erkenntnisinstrument diente. Dazu gehörten etwa der britische Naturforscher und Evolutionstheoretiker Alfred Russel Wallace und, einige Jahrzehnte später, der britische Tierpsychologe Conwy Lloyd Morgan. 19 Beide postulierten, dass das Nestbauverhalten stärker als von Darwin behauptet, von Gewohnheit bzw. Lernen geprägt sei. Gerade gegen Ende des 19.Jahrhundert wurden dabei auch Experimentalsysteme mit Vögeln eingesetzt, in denen man versuchte, deren Nestbauverhalten zu manipulieren, etwa indem sie als Jungvögel von ihren Eltern isoliert wurden, so dass sie das Nestbauen nicht lernen konnten. Das Nestbauen wurde hier so zu einem Schlüsselmoment zeitgenössischer Debatten darüber, ob und inwieweit Instinkte erlernt werden könnten und was ein „echter“ Instinkt sei. Darwins Wahl von Vogelmännchen war keineswegs zufällig. Zwar gingen weder Faber noch Brehm in ihren Büchern zum Vogelleben nennenswert auf Geschlecht ein, wenn sie über das Nestbauen schrieben. Stattdessen widmeten sie viele Seiten einer akribischen Beschreibung und Bewertung der Nester unterschiedlicher Vogelarten – ihrer Form und Beschaffenheit, vor allem aber ihrer Schönheit, Sorgfalt und Kunstfertigkeit. Wurde aber in dieser Periode ein Geschlecht der bauenden Vögel hervorgehoben, so war es stets das männliche. Denn nicht nur Darwin schrieb über männliche Vögel, auch bei den erwähnten Stichlingen ist es das Männchen, das das Nest baut. 20 Und Gloger beschäftigte sich in seinem Themenaufsatz sogar schwerpunktmäßig mit dem Nestbautrieb von Vogelmännchen – wohl auch, weil er den von den Männchen gebauten Nestern die höchste Qualität bescheinigte. Denn ihm gemäß handle es sich hierbei ausschließlich um solche „Gattungen, in deren Instincte die Neigung und Fähigkeit liegt […] ganz besonders künstliche Nester zu bauen.“ 21

voured Races in the Struggle for Life. London 1859, 207–244; Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung. Stuttgart 1860, 217–253. 19 Robert Boakes, From Darwin to Behaviorism. London u. New York 1984. 20 Matthes, Betrachtungen über Wirbelthiere (wie Anm.17). 21 Gloger, Der Nestbau-Trieb (wie Anm.15), 375.

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Schon in dieser Beschreibung finden sich Vorstellungen von Schaffenskraft und Genialität, die in der Kultur des 18. und 19.Jahrhunderts maskulin kodiert waren. Auch in anderen Formulierungen Glogers scheinen Attribute durch, die dem zeitgenössischen männlichen „Geschlechtscharakter“ 22 des Bürgertums entsprachen und die Aktivität, Stärke, Beharrlichkeit und Rationalität beinhalten. So schenkte Gloger den tierischen „Baukünstlern“ viel Bewunderung, indem er beschrieb, dass etwa die männlichen Beutelmeisen durch viel „Mühe“ und „schwierige Arbeit […] wahrhaft künstlerische Bauten“ errichteten. 23 Anderen solcher Arten bescheinigte er „grosse Betriebsamkeit“ oder lobte, wie sie „mit unermüdlichem Fleisse“ und in „schlauer Weise“ ihre Nester bauten. 24 Beim nordamerikanischen Hauszaunkönig macht der Autor seinen Bezugsrahmen der bürgerlichen Menschenwelt ganz explizit: Dieses bemitleidenswerte Vogelmännchen zeige zwar eigentlich viel „Theilnahme für seine Gattin“, für deren künftige Zufriedenheit es seine „Wohnung ohne Beihilfe“ baute. 25 Da bei dieser Vogelart die Paarbildung erst nach dem Nestbau erfolge, sei der Erfolg dieser Mühen bei der anschließenden Weibchen-Suche des Männchens jedoch unsicher, da die Wohnung „seiner Hausfrau […] nicht immer ausreichend zusagt“. 26 Dieses Bild macht deutlich, dass die Vogelwelt – wie der Historiker Friedemann Schmoll erklärt – auch deswegen so beliebt war, weil sie als Projektionsfläche für bürgerliche Werte diente. 27 Entsprechend verrät das Bild viel über die Geschlechterordnung in der zeitgenössischen Menschenwelt. 28 Hier war es der Mann, der mit seinem „Nestbautrieb“ die „Wohnung“ baute und besaß. Die künftige „Hausfrau“ und „Gattin“ war diejenige, die dort einzog (oder nicht). Darin spiegeln sich nicht zuletzt vergeschlechtlichte Vorstellungen von Besitzverhältnissen, die sich unter anderem im Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1896 zeigten. Der Ehemann hatte Entscheidungsgewalt über Wohnort, Wohnung, Kinder und auch über

22

Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von

Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart 1976, 363–393 23

Gloger, Der Nestbau-Trieb (wie Anm.15), 376.

24

Ebd.376ff.

25

Ebd.377.

26

Ebd.

27

Schmoll, Erinnerung an die Natur (wie Anm.11).

28

Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit. Frank-

furt am Main 1986.

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den Besitz der Ehefrau. 29 Im Trennungsfall verblieb all das bei ihm und sie musste gehen. Diese Schilderungen verdeutlichen, dass sie ornithologischen Naturstudien nie im luftleeren Raum wissenschaftlicher Neutralität standen, sondern von sozialen Normen, kulturellem Geschlechterwissen und bürgerlicher Öffentlichkeitskultur geprägt waren. Insgesamt war der Nestbautrieb also ein wiederkehrendes Motiv in wissenschaftlichen und populären Diskursen des 19. und frühen 20.Jahrhunderts – zumindest, wenn es um die Tierwelt ging. Dabei formierte er sich gerade an der Grenze verschiedener Wissensfelder, ob als Gegenstand von populären Beobachtungspraktiken, als Beschreibungsobjekt oder als Erkenntnismittel in der sich ausweitenden Debatte um Instinkte, als Thema der amateurhaften Naturforschung, der Zoologie, sich verbreitender Evolutionstheorie und beginnender Tierpsychologie. In Diskursen zur Menschenwelt wurde das Thema dagegen noch ausgespart. Welche Bedeutung hat dieser frühe Wissensbestand für die weitere Geschichte des Nestbautriebes? Dafür sind drei Punkte von Bedeutung: Erstens handelte es sich bei den beobachteten und untersuchten Tieren primär um Vögel, teilweise auch um Insekten und Fische – dagegen nicht, oder noch kaum, um Säugetiere. Zweitens erfolgte bereits eine teilweise Essentialisierung des Nestbautriebes als Trieb oder Instinkt, der speziesübergreifend wirksam war und körperliche Ursachen hatte. Hinsichtlich des körperlichen Erklärungsmodells standen generell Debatten um Erblichkeit im Vordergrund. Wenn es um spezifisch körperliche Auslöser des Triebes ging, so wurden außerdem mitunter zugrundeliegende nervöse Mechanismen erwähnt. Und drittens wurde das Nestbauverhalten beiden Geschlechtern zugesprochen, wobei häufig der Nestbau durch Männchen im Vordergrund stand.

II. Das Nest des Tierweibchens – 1930er bis 1960er Jahre Die drei Aspekte des Nestbautriebes veränderten sich maßgeblich im zweiten Wissensbestand, der von den 1930er Jahren bis in die 1960er Jahre dominierte. Weiterhin bezog sich der Begriff auf tierisches Verhalten. Das Wissen modifizierte sich

29 Stephan Meder/Arne Duncker/Andrea Czelk, Einleitung. Die Kämpfe um ein neues Ehe- und Familienrecht in der Entstehungsphase des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches, in: Dies. (Hrsg.), Die Rechtsstellung der Frau um 1900. Köln, Wien 2010, 9–34.

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jedoch einerseits durch den Einfluss der aufstrebenden Ethologie – also der artspezifischen tierischen Verhaltensforschung – und andererseits durch die entstehende Endokrinologie – die Lehre der Hormone. Zunächst zur Ethologie, zu deren zentralen Figuren der Instinktforscher Konrad Lorenz gehört. 30 Die Instinkttheorie hatte nach dem Ersten Weltkrieg zwischenzeitlich ihre akademische Reputation verloren, weil einige führenden Psychologen sie als zu verallgemeinernd und als pseudowissenschaftliches Konstrukt zurückgewiesen hatten. 31 Durch Lorenz erlebte die Instinktlehre ein Revival, als er sie Mitte der 1930er Jahre durch sein psychohydraulisches Instinktmodell reformulierte. Für das Modell diente ihm das Nestbauverhalten von verschiedenen Vögeln als wichtiges Anschauungsmaterial. 32 In seinem hydraulischen Modell war der Instinkt als eine Art inneres Reservoir zu denken – das Reservoir steigt durch nervöse und hormonelle Mechanismen langsam an und kann durch einen externen Reiz ausgelöst werden, der jedoch erst eine gewisse Reizschwelle überschreiten muss. Je voller das Reservoir, desto niedriger die Reizschwelle, bis hin zu Leerlaufhandlungen – also etwa Nestbaubewegungen ohne vorhandenen geeigneten Nistplatz – bei einem übervollen Reservoir. Wenn Lorenz in diesem Zusammenhang das Beispiel des Nestbauinstinkts verwendete, so rekurrierte er meist auf Vögel allgemein und betonte in Bezug auf sein Modell weder unterschiedliche Arten noch geschlechtsspezifische Merkmale. Eine spezifische Vogelart bekam durch Lorenz jedoch ganz besondere Aufmerksamkeit und gewann an Popularität, ja wurde geradezu zu einer öffentlichen Berühmtheit: die Graugans, die Lorenz als primäres Studientier diente. In Bezug auf den Nestbau fiel hierbei die Wahl genau auf ein Tier, bei dem eine strikte Geschlechtertrennung beobachtbar ist: In dieser Gattung baut allein das Weibchen das Nest, das Männchen dagegen verteidigt es gegen Angreifer. Nur das Graugansweibchen brütet die Eier aus – und rollt diese mit spezifischen Eirollbewegungen zurück ins Nest, wie Lorenz und sein Kollege Nikolaas Tinbergen in einer breit rezipierten Studie dokumentierten. 33 Und auch einige andere Eigenschaften der Graugans entspre-

30

Richard W. Jr. Burkhardt, Patterns of Behavior. Konrad Lorenz, Niko Tinbergen and the Founding of

Ethology. Chicago 2005. 31

Paul E. Griffiths, Ethology, Sociobiology, and Evolutionary Psychology, in: Sahotra Sarkar/Anya Plu-

tynski (Eds.), A Companion to the Philosophy of Biology. Oxford 2008, 393–414. 32

Etwa Konrad Lorenz, Über den Begriff der Instinkthandlung, in: Folia Biotheoretica 2, 1937, 17–50.

33

Konrad Lorenz/Nikolaas Tinbergen, Taxis und Instinkthandlung in der Eirollbewegung der Graugans,

in: Zeitschrift für Tierpsychologie 2, 1938, 1–29.

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chen wohl der idealtypischen konservativen Geschlechterordnung aus den 1930er Jahren. So wird einem Grauganspaar nachgesagt, lebenslang zusammen zu bleiben – schon Lorenz’ Lehrer, der Zoologe Oskar Heinroth, rühmte die geschlechtliche Treue der Graugänse. 34 Die Wahl des Studientiers Graugans war wohl nicht willkürlich. Lorenz konservative Vorstellungen, rassenhygienische Positionen und seine Nähe zum nationalsozialistischen Regime sind mittlerweile bekannt. 35 Dazu passend spiegelt sich im ethologischen Gegenstand Graugans auch das traditionelle Ehe-Ideal und die im Nationalsozialismus vorangetriebene Trennung der zwei Sphären – der Mann gestaltet das öffentliche Leben und kämpft fürs Vaterland, die Frau hütet das Heim und erzieht die Kinder. Lorenz nahm nicht nur populäre Vorstellungen zu Geschlecht auf, sondern popularisierte seinerseits die eigene Forschung. Schließlich suchte er früh die Öffentlichkeit und seine Popularisierungsstrategien trugen entscheidend zur Institutionalisierung des neuen Fachs Ethologie bei. 36 Schon Mitte der 1930er Jahre nutzte Lorenz Medien und hielt Vorträge in den volkstümlichen Hochschulkursen der Universität zu Wien, wo er seinem Publikum bereits Tier-Mensch-Homologien präsentierte 37, die in seinen wissenschaftlichen Publikationen der Zeit noch fehlten. Vor diesem Hintergrund wurden seine Verhaltensbeschreibungen der Graugans nicht nur innerhalb der Ethologie diskutiert, sondern parallel auch früh in der Populärkultur bekannt. Im Film zur Ethologie der Graugans, den er von 1935 bis 1937 drehte und der 1950 erschien, waren Aufnahmen nestbauender und brütender Graugänse zu sehen. 38 Für die Geschichte des Nestbautriebs haben Lorenz’ Arbeiten zweierlei Bedeutung: Erstens lässt sich hier eine erste Verweiblichung dieses Instinkts feststellen, die ihn Vogelweibchen zuordnet und an „mütterliche“ – an hütende und pflegende – Tätigkeiten koppelt. Und zweitens führte die steigende Popularität ethologischer Werke zu einer Verbreitung des Wissens zum Nestbautriebes.

34 Oskar Heinroth, Beiträge zur Biologie, namentlich Ethologie und Psychologie der Anatiden. Berlin 1910. 35 Benedikt Föger/Klaus Taschwer, Die andere Seite des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus. Wien 2001. 36 Taschwer, Von Gänsen und Menschen (wie Anm.12). 37 Ebd. 38 Konrad Lorenz, Ethologie der Graugans. Göttingen 1950.

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Die Verweiblichung des Triebes – und, noch spezifischer, die Verknüpfung mit Schwangerschaft – wurde durch endokrinologische Forschungssettings intensiviert. Schon Lorenz nannte Hormone als somatische Auslöser für die Instinktmotivation. 1933 erschienen zwei experimentelle Studien, eine des Physiologen Bertold Wiesner und eine der Medizinerin Esther Bogen Tietz. 39 Interessanterweise entstanden beide Studien als eine Art Nebenprodukt von zeitgenössischen Forschungspraktiken und -infrastrukturen. Beide Personen sollten sich in ihrer Forschung nämlich eigentlich primär mit der Weiterentwicklung des frühen medizinischen Schwangerschaftstests beschäftigten. Dabei handelte es sich um einen endokrinologischen Test, der 1927 in Berlin konzipiert wurde und der erstmals eine relativ frühe Schwangerschaft diagnostizieren konnte. Der Test war damals noch ein Bioessay, also eine Untersuchung an lebenden Organismen. 40 Dafür wurde der Urin von Frauen in ausschließlich weibliche Versuchstiere gespritzt. Während in der ursprünglichen Testversion Mäuse zum Einsatz kamen, arbeitete Tietz an der Entwicklung eines Schwangerschaftstests mit Hasen und Wiesner mit Ratten. Wenn eine Schwangerschaft vorlag, sollten sich die tierischen Geschlechtsorgane nach bestimmten Kriterien verändern, was nach deren Tötung durch eine Sektion festgestellt wurde. Mit ihren noch lebenden Versuchstieren machten Tietz und Wiesner Zusatzstudien zu Instinkten. Dafür nutzen sie das bestehende Material – den Schwangerenurin und die vorhandenen Tiere, also weibliche Säugetiere. Sie orientierten sich zudem an den damals gängigen Praktiken der Schwangerschaftsdiagnostik: Sie spritzten den Tieren, wie gewöhnlich, zunächst den Urin schwangerer Frauen. Danach suchten sie nach Verhaltensmodifikationen, zu denen sie (als eine der wenigen Möglichkeiten in dem begrenzten Setting) auch das Nestbauverhalten zählten. Beide postulierten unabhängig voneinander, dass ein Nestbauinstinkt vorlag und dass Geschlechtshormone – und nicht mehr neuronale Mechanismen – als Auslöser zu betrachten seien. Innerhalb dieses Kontextes erschien der Nestbauinstinkt zwangsläufig als rein weibliches Verhalten, das zudem mit der Schwangerschaft verknüpft war. In seinem Buch „Maternal Behavior in the Rat“, das Wiesner

39

Esther Bogen Tietz, The Humoral Excitation of the Nesting Instinct in Rabbits, in: Science 78, 1933, 316;

B.P. Wiesner/N. M. Sheard, Maternal Behavior in the Rat. London 1933. 40

Jesse Olszynko-Gryn, The Demand for Pregnancy Testing. The Aschheim-Zondek Reaction, Diagnostic

Versatility, and Laboratory Services in 1930s Britain, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 47, 2014, 233–247.

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zusammen mit seiner Kollegin Norah Sheard 1933 veröffentlichte, subsumierte er den Trieb zudem unter mütterlichem Verhalten. 41 Das endokrinologische Wissen zum Nestbauinstinkt war also einerseits von den eben beschriebenen Kontingenzen der Testsysteme und der Forschungspraktiken geprägt, und andererseits war es auch von populären Geschlechtsvorstellungen beeinflusst. Denn gerade die endokrinologische Forschung zu den Geschlechtsdrüsensekreten bzw. später den Geschlechtshormonen, war bereits früh mit der Populärkultur verbunden. 42 Dafür gibt es verschiedene Beispiele. Eines bilden die diversen Verjüngungspräparate und -prozeduren auf endokrinologischer Basis, die mehr Schönheit für Frauen und mehr Virilität für die Männer versprachen und die vom Ende des 19.Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre in verschiedenen Formen angeboten wurden. 43 Ein anderes Beispiel sind die spektakulären Tierexperimente, wie sie der Physiologe und Forscher Eugen Steinach ab 1912 im Vivarium des Wiener Praters durchführte. Hier nahm er öffentlichkeitswirksam vermeintliche Geschlechtsumwandlungen von Tieren durch Drüsenverpflanzungen vor, wobei sich auch deren Verhalten den gängigen Geschlechtsrollen gemäß verändern sollte: mehr Aggressivität und Aktivität bei den Männchen, mehr Passivität und Mütterlichkeit bei den Weibchen. 44 Ein dritter Schauplatz der Verflechtung von Geschlechterordnung und Endokrinologie bildet die spezifische Namensgebung von Testosteron, Progesteron und Östrogen sowie das Festhalten am antagonistisch gedachten Begriff der „Geschlechtshormone“. Dieser entsprach zwar spätestens ab den 1930ern nicht mehr allen experimentellen Ergebnissen und endokrinen Wirkmodellen – aber dafür umso mehr dem klassischen Geschlechterdualismus. 45 Die Experimente zum

41 Wiesner/Sheard, Maternal Behavior (wie Anm.39). 42 Heiko Stoff, Hormongeschichten. Wie sie in den Jahren 1928 bis 1954 von den Wissenschaftsjournalisten Walter Finkler und Gerhard Venzmer erzählt wurden, in: Zeitenblicke 7, 2008, http://www.zeitenblicke.de/2008/3/stoff; Chandak Sengoopta, The Most Secret Quintessence of Life. Sex, Glands, and Hormones, 1850–1950. Chicago 2006. 43 Heiko Stoff, Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten neunzehnten Jahrhundert bis ins Dritte Reich. Köln u.a. 2004. 44 Ebd. 45 Helga Satzinger, The Politics of Gender Concepts in Genetics and Hormone Research in Germany, 1900–1940, in: Gender & History 24, 2012, 735–754; Smilla Ebeling, Wenn ich meine Hormone nehme, werde ich zum Tier. Zur Geschichte der „Geschlechtshormone“, in: Sigrid Schmitz/Smilla Ebeling (Hrsg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Wiesbaden 2006, 235–246.

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Nestbautrieb reihten sich so in die endokrinologische Forschung zu Geschlecht ein, die von zeitgenössischen Rollenvorstellungen geprägt war und in der „weibliche“ Hormone mit mütterlichen und pflegenden Verhaltensmustern korrelieren sollten. Geschlechtliche Kodierungen finden sich auch in den sprachlichen Beschreibungen des Nestbauens. Wenngleich es nicht ungefährlich ist, transtemporale Vergleiche zum Schreibstil des 19.Jahrhunderts zu ziehen, so fällt doch auf, dass die Kunstfertigkeit beim Nestbau kein nennenswertes Thema in den Texten mehr darstellte. Tietz etwa beschrieb nur kurz den Nestbauinstinkt von Hasenweibchen als Ausreißen und anschließendes „Aufschütteln“ (fluffing) des Fells zu einem Nest, zudem würde das Fell dann nach der Geburt zum Schutz lose über den Nachwuchs gelegt („loosely piled over the young animal“). 46 Zwar mögen solche Differenzen zu Glogers früheren Heroisierungen des Nestbauens durchaus Resultate eines generell neutraleren akademischen Schreibstils sein ebenso wie Folgen von disziplinären Unterschieden oder schlicht Charakteristika des beschriebenen Gegenstands. Teilweise könnte die Banalisierung des Nestbauens jedoch auch eine Konsequenz der Verweiblichung des Nestbauinstinkts darstellen. Denn mit der Entmännlichung des Triebes, könnte man meinen, verschwand auch die vermeintliche Genialität und arbeitsame Anstrengung der früheren Nestbaukunst. Insgesamt transformierten sich durch Endokrinologie und Ethologie die drei Aspekte des Nestbauinstinkts in dieser Periode folgendermaßen: Erstens verengte sich die Vielfalt der untersuchten Tiere: Weiterhin stand primär der Nestbauinstinkt von Vögeln im Vordergrund, wobei besonders das Verhalten von Gänsen von Interesse war, daneben rückten nun jedoch immer mehr Säugetiere (wie Mäuse, Ratten und Hasen) ins Blickfeld. Zweitens veränderte sich das körperliche Erklärungsmodell des Nestbautriebes: Anstatt nervöser Mechanismen schienen nun Hormone als Auslöser, und zwar oft spezifisch „weibliche“ Geschlechtshormone bzw. „Schwangerschaftshormone“. Und drittens veränderte sich, mit den ersten beiden Punkten verbunden, die geschlechtliche Codierung des Instinkts. Er wurde als eine Eigenschaft weiblicher Tiere feminisiert, die nun insbesondere zum mütterlichen Verhaltensmuster gehörte. In dieser spezifischen Form erfolgte die nächste Stufe der Popularisierung des Nestbauinstinkts.

46

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Bogen Tietz, Humoral Excitation (wie Anm.39), 316.

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III. Das Nest der Schwangeren – die Nachkriegsjahre Ab den 1940er/50er Jahren sprang das Wissen über den Nestbauinstinkt direkt auf die menschliche Schwangerschaft über, womit wir zum dritten Wissensbestand kommen. Denn nun fand das Konzept auch vereinzelt Eingang in Fachliteratur der Psychologie und Medizin. Hier wurde der Begriff des Nestbautriebes oft eher nebenbei als Verhaltensmuster von Frauen erwähnt. Oft diente er als Analogon zur Tierwelt. Als eine der ersten – möglicherweise sogar als die erste – behandelte die Psychoanalytikerin und Medizinerin Helene Deutsch den Trieb in ihrem Werk „Psychologie der Frau“. Das Buch erschien 1954 in deutscher Sprache, nachdem es bereits 1944/1945 wegen ihrer durch den Nationalsozialismus erzwungenen Emigration in die USA als „The Psychology of Women“ veröffentlicht worden war. Hier beschrieb Deutsch die „nestbildende Aktivität“ in der Schwangerschaft, die sie als „Ausdruck des Instinktes“ begriff und mit dem typischen Verhalten des „Tierweibchens“ verglich. 47 Für Deutsch bestand dieser Instinkt im „Bedürfnis, im grossen oder kleinen für das Erwartete zu bauen“, das verschiedene Formen annehmen könne: „Ein neues Haus, ein in Behaglichkeit und Schönheit perfektes Kinderzimmer, eine Babyausstattung oder ein kleines, selbstgestricktes Jäckchen“. 48 Schon früh war auch vom Putzen in der Schwangerschaft die Rede. Etwa erklärte der Gynäkologe und Endokrinologe Gerd Döring auf einem Symposium der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, er habe in einer Verhaltensstudie mit Menschenfrauen festgestellt, dass ein Drittel von ihnen kurz vor Menstruationsbeginn eine erhöhte „Antriebshaftigkeit“ zeigte. 49 Diese, so meinte er weiter, habe er auch bei einigen Schwangeren kurz vor Geburtsbeginn beobachtet, „so daß man von einer Art ‚verkümmerten Nestbautriebes‘ sprechen könnte“. 50 In einem im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz wurde Döring expliziter, worin sich diese Antriebshaftigkeit tatsächlich zeigte: Er halte

47 Helene Deutsch, Psychologie der Frau. Bern 1954, 125, 140. 48 Ebd.125. 49 Gerd K Döring, Über den Einfluß des Genitalcyclus auf die Psyche der Frau, in: Hormone und Psyche. Die Endokrinologie des alternden Menschen – 5. Symposium der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. Berlin 1958, 42–44. 50 Ebd.

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„größere außerplanmäßige Putzaktionen“ von Schwangeren für eine solche „Art verkümmerten Nestbautriebes“. 51 Was führte dazu, dass das Wissen zum Nestbau nun auf die menschliche Schwangerschaft übersprang? Das eine, entscheidende und diskursverändernde Werk war es wohl nicht: Die Analyse der Quellen hat bislang keinen Urtext ergeben, durch dessen Rezeption der Begriff des Nestbautriebes in die Menschenwelt Eingang gefunden hätte. Vielmehr erfolgte der Rekurs auf das Nestbauen in den Quellen lediglich als Feststellung einer beobachteten Tatsache, weder Deutsch noch Döring nennen Referenzliteratur, geben ethologische Artikel oder andere Textbelege an. Zumindest im Fall von Helene Deutsch ist zu vermuten, dass sie mit ethologischen Ideen vertraut war, lebte sie doch bis in die 1930er Jahre wie Lorenz in Wien und bewegte sich wie er in den dortigen akademischen Zirkeln – einschlägige Literatur zitiert sie in ihren Erörterungen des Nestbauens jedoch nicht. Das Fehlen von entsprechenden Zitationen in den Primärquellen macht es für die historische Forschung zwar schwerer, die genaue genealogische Herausbildung des menschlichen Nestbautriebs zu rekonstruieren. Zugleich legt es andererseits aber nahe, dass es sich hierbei um die Aufnahme fachfremden oder populären Wissens handelte – dessen Ursprung entweder für die AutorInnen ohne große Bedeutung war oder das in ihrem soziokulturellen Kontext als so allgemeingültig und naheliegend eingeschätzt wurde, dass es keiner ausführlicheren Referenz bedurfte. Die Möglichkeitsbedingungen für die beginnende Integration des Nestbautriebes in die menschliche Schwangerschaft sind in veränderten populären Wissenskulturen zu suchen, die maßgeblich durch geschlechtliche Praktiken und Arbeitsteilung geprägt waren. Zunächst zu einer begrifflich-diskursiven Bedingung: Eine Rolle spielte, dass sich die Bedeutung des Begriffs „Nest“ damals in zwei Richtungen verändert hatte. Erstens wurde das Nest in der zeitgenössischen Populärkultur zur dominanten Umschreibung für den Raum der Familie und des Privaten – Kinder sollten nun in einem gemütlichen „Nest“ aufwachsen. Die Bedeutungserweiterung des Nests hin zum Heim der menschlichen Familie begann im ausgehenden 19.Jahrhundert und erfolgte maßgeblich in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts. Sie war von vergeschlechtlichten Gestaltungs-, Konsum- und Emotionspraktiken beeinflusst. Schon in Einrichtungsratgebern für die bürgerliche Hausfrau, die sich in der Kaiser51

Gerd K. Döring, Über psychische Veränderungen im Verlauf des Menstruationscyclus, in: Archiv für

Gynäkologie 191, 1958, 146–152, hier 150.

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zeit verbreiteten, war vom „Nest“ zu lesen, das die Frau „zu bauen“ beziehungsweise „mit Aufwand ihres vollen Schmucksinnes reich und eigenartig“ auszustatten hatte – wenngleich hier noch das Nest im Sinne eines Betts, in diesem Fall des Ehebetts, gemeint war. 52 Wie in der früheren geburtshilflichen Literatur steht das Nest hier also für das Lager oder Bett. Der Begriff wird nun aber mit der Forderung einer dekorierenden häuslichen Tätigkeit verbunden, die an die Frau als Gattin gerichtet ist. Parallel dazu entwickelte sich eine andere Verwendung des Begriffs „Nest“: So mahnte etwa der Journalist Karl Stugau die „Hausfrau“ in einem Zeitungsartikel, auf „den Flaum im Nest“ zu achten. Der entstehe nicht durch bloße Pflichttreue, sondern erst, wenn sie sich auch wie eine „liebevolle Gattin“ und „zärtliche Mutter“ verhalte, in deren „Haus […] allen Deinen Familien-Angehörigen wohl ist“. 53 Hier bezeichnet der Nestbau also weibliche Gefühlsarbeit. Im frühen 20.Jahrhundert popularisierte sich die kombinierte Bedeutung des Nests im Sinne eines liebevollen und dekorativ gestalteten Heims für Ehemann und Kinder endgültig. Berühmt sind etwa die Nesthäkchen-Kinderbücher von Else Ury, von denen das erste im Jahr 1913 erschien und in denen das Nest für die bürgerliche Familienidylle steht. Einen ähnlichen Assoziationsraum des Nests legt die 1919 erschienene Kindergedichtsammlung mit dem Titel „Das liebe Nest“ nahe. 54 Durch die Etablierung der Bedeutung vom Nest als Heim für die menschliche Familie, war somit eine Voraussetzung für die Vorstellung eines weiblichen Nestbautriebes geschaffen. Zweitens bekam der Begriff „Nest“ in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts einen Ort im Körperinneren der Frau: Denn in innermedizinischen Diskursen setzte sich in dieser Zeit die Bezeichnung der Nidation, also der Einnistung, durch. Der Begriff wurde zunächst vom britischen Arzt James Hobson Aveling eingeführt, der 1874 in einem gynäkologischen Fachaufsatz postulierte, dass neben der Ovulation und der Menstruation noch ein drittes Stadium, die Nidation – die Einnistung des befruchteten Eis im Uterus – existieren müsste. 55 In seinem Aufsatz verglich Aveling bereits explizit den Aufbau der Uterusschleimhaut mit dem Nest, das Vögel für ihre Eier bauen würden. Aber erst einige Jahrzehnte später mit dem Aufstieg der En52 Zitiert nach Kira Jürjens, Ein weiteres Kleid. Häuslich-Textile Umwelten. Jahrestagung der Gesellschaft fü ? r die Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik (GWMT) 2018. 53 Karl Stugau, Die Pflicht, liebenswürdig zu sein, in: Bohemia 112, 1875, 1–2, hier 1. 54 Paula Dehmel, Das liebe Nest. Gesammelte Kindergedichte. Leipzig 1919. 55 James Hobson Aveling, On Nidation in the Human Female, in: Kansas City Medical Journal 4, 1874, 129– 132.

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dokrinologie und – damit verbunden – des Konzepts des Menstruationszyklus und des hormonellen Phasenmodells der Schwangerschaft verbreitete sich der Begriff der Nidation. Der Uterus mit der aufgebauten Gebärmutterschleimhaut wurde nun zum Nest für den Embryo. In der zweifachen Bedeutung des Nest-Begriffs erschien die Schwangere doppelt als Mutter und als Hausfrau – die ihr inneres wie äußeres Nest von Natur aus strahlend sauber und einladend hielt. Vor diesem Hintergrund ist die Etablierung eines menschlichen Nestbautriebs wohl nur folgerichtig. Entsprechend sprach Helene Deutsch in ihrem Buch, in dem sie auch erstmals den Nestbautrieb der Schwangeren erwähnte, bereits davon, dass endokrine Prozesse dem „Ei ein Nest im mütterlichen Körper“ bauen würden. 56 Zum anderen hatte sich parallel die Vorstellung der Psyche in der Schwangerschaft geändert. Anders als noch im 19.Jahrhundert fanden ab den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts zunehmend auch mütterliche Regungen Eingang in Diskurse zu Schwangerschaft. In einem Ratgeber war nun zum Beispiel vom „Instinkt der Mutterschaft“ der Schwangeren zu lesen 57, ebenso erwähnten einige medizinischen Studien zur Schwangerschaft gelegentlich ein „Mutterschaftsgefühl“ 58 oder einen „Mutterinstinkt“. 59 Das fast gleichzeitige Auftreten des mütterlichen Gefühlsmusters in populären und wissenschaftlichen Schriften lässt vermuten, dass hier keinesfalls die Wissenschaft den Takt vorgab, sondern dass beide Felder vom allgemein wachsenden Mutterkult beeinflusst wurden. Schließlich erfuhr Mütterlichkeit in Kaiserreich und Weimarer Republik einen massiven Popularisierungsschub, der sich bis hin zu einer Art „säkularisierten Mutterreligion“ in der Alltagskultur steigerte. 60 Parallel dazu erfolgte in dieser Phase auch bereits eine beginnende Psychologisierung von Mutterliebe. 61 Dabei wandten sich gerade ab den 1920er Jahren einige psychoanalytische argumentierende Autoren in Ratgebern direkt an eine weibliche Leserschaft, um dieser das vermeintliche Glück der Mutterschaft nahe zu

56

Deutsch, Psychologie der Frau (wie Anm.47), 133.

57

Hans Meyer-Rüegg, Die Frau als Mutter. Stuttgart 1915, 26.

58

P.W. Siegel, Die Freude am zu erwartenden Kind. Ein Beitrag zur Psychologie der Schwangeren, in:

Archiv für Frauenheilkunde und Eugenetik 4, 1919, 187–206, hier 202. 59

A. Mayer, Psychogene Störungen der weiblichen Sexualfunktion, in: Oswald Schwarz (Hrsg.), Psycho-

genese und Psychotherapie körperlicher Symptome. Wien 1925, 295–344. 60

Barbara Vinken, Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos. München 2001, 14.

61

Yvonne Schütze, Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters „Mutterliebe“. Bielefeld

1986.

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bringen. Vor diesem Hintergrund nahmen Beschreibungen von Muttergefühlen immer mehr zu – spätestens ab den 1950ern sollte sich die Schwangere bereits als liebende und zufriedene Mutter fühlen. An diese Mütterlichkeit fand ein Konzept wie das Nestbauen, das nun bereits als mütterliches Verhalten definiert war, leichter Anschluss. Hinzu kam, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Retraditionalisierung von Geschlechterrollen und Arbeitsteilung festzustellen war. Die Geschlechterordnung, die durch Krieg und Nachkriegschaos, durch abwesende Männer und lohnarbeitende Frauen, aus den Fugen geraten war, galt es wieder gerade zu rücken. 62 Bedonders in den USA, in der Bundesrepublik und in Österreich wurde das Idealbild der attraktiven und fleißigen Hausfrau wieder wirkmächtig. Entsprechend basierte beispielsweise auch das 1957 in der Bundesrepublik verabschiedete Gleichstellungsgesetz auf den Prinzipien der Hausfrauenehe. 63 Zu dieser Konstruktion von Weiblichkeit passte der Aufstieg der schwangeren Mutterliebe ebenso wie des dazu gehörenden Nestbautriebes, der dazu beitrug, die traditionelle Festlegung der Frau auf Mutterschaft zu naturalisieren. Allerdings fand der Nestbautrieb in der menschlichen Schwangerschaft in den 1950er Jahren nur in wenigen akademischen Publikationen Erwähnung. Es dauerte noch zwei bis drei Jahrzehnte, bis sich der Nestbautrieb massiv verbreitete. Die Popularisierung in Ratgeberbüchern führte zum vierten – und weitaus umfangreichsten – Wissensbestand.

IV. Der Nestbautrieb der Schwangeren – Popularisierungen ab den 1970er Jahren Es begann zögerlich ab den frühen 1970er Jahren in einigen englischsprachigen Publikationen: Etwa war im Geburtsratgeber der US-amerikanischen Ärztin Mary Jane Hungerford vom „nesting instinct“ in Bezug auf das Einrichten des Kinderzimmers während der Schwangerschaft zu lesen. 64 Auch ein Buch, das Schwangeren gymnastische Übungspraktiken für eine natürliche Geburt nahebrachte, verwende-

62 Ute Gerhardt, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Reinbek 1990. 63 Eva Kolinsky, Women in 20th-Century Germany. A Reader. Manchester 1995, 27–32. 64 Mary Jane Hungerford, Childbirth Education. Springfield 1972, 26.

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te den Begriff „nesting instinct“, um Analogien zwischen weiblichen und tierischen Nestbauverhalten herzustellen 65, ebenso einer der ersten Ratgeber zu Schwangerschaftsyoga. 66 In deutschsprachiger Ratgeberliteratur tauchte der Begriff tendenziell einige Jahre später auf. Zunächst fanden hier konzeptnahe Verhaltensmuster Eingang: Von „Tätigkeitsdrang (großes Reinemachen, Wäsche, Vorratseinkäufe, Besuche!)“ 67 und „Arbeitswut“ 68 war in einigen Ratgebern nun zu lesen. Dann, spätestens ab den 1980ern, wurde auch hier von einem „Nestbauinstinkt“ gesprochen, zu dem vor allem Putzen, Einkaufen und Einrichten gehörten. 69 Die Zeitverzögerung im deutschsprachigen Raum um ca. 10 Jahre legt nahe, dass es sich bei der Verbreitung des Begriffs vom „Nestbauen“ in der Schwangerschaft teilweise um eine Art (Re-)Import aus dem englischsprachigen Raum handelte. Schließlich ist in dieser Phase eine zunehmende Anglophonisierung der deutschen Ratgeberliteratur festzustellen, wurden nun doch einige auflagenstarke Bücher aus Großbritannien und den USA für den deutschen Markt übersetzt. 70 Zu diesen zählte auch ein Ratgeber der englischen Ärztin Miriam Stoppard, der den Begriff des „Nestbauinstinkts“ als einer der ersten erwähnte und der auch in deutschsprachigen Ländern zu hohen Verkaufszahlen führte. Dieser leichten zeitlichen Verschiebungen zum Trotz – ab den 1980er Jahren schien die Vorstellung des Nestbautriebs in populären Darstellungen von Schwangerschaft fest verankert. Erst ab dieser Zeit ist der Nestbauinstinkt also derart verbreitet, dass er für manche BeobachterInnen – etwa die eingangs zitierten EvolutionspsychologInnen – wohl gar nicht mehr aus der Schwangerschaft wegzudenken ist. Die Popularität des Konzepts, so scheint es, trägt zu seinem Verständnis als Naturkonstante bei.

65

Rhondda Evans Hartman, Exercises for True Natural Childbirth. 1975, 4.

66

Nina Shandler/Michael Shandler, Yoga for Pregnancy and Birth. A Guide for Expectant Parents. 1979, 14.

67

Dagmar Liechti-von Brasch/Jürg Bretscher, Gesunde Schwangerschaft – Glückliche Geburt. Zürich/Bad

Homburg 1973, 168. 68

Sabine Weilandt, Klapperstorch & Kullerbauch. 999 praktische & ungewöhnliche Tips für werdende

Mütter und Väter. München, Zürich 1983. 69

Miriam Stoppard, Das große Ravensburger Buch der Schwangerschaft. Ein Ratgeber für werdende Müt-

ter und Väter. Ravensburg 1986, 171. 70

Diese Beobachtung ergibt sich aus der Quellenanalyse von Schwangerschaftsratgebern. Zu allgemei-

nen Modifikationen des Ratgebermarktes siehe Sabine Maasen/Jens Elberfeld/Pascal Eitler/Maik Tändler (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern. Bielefeld 2011.

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Insgesamt ist die popularisierte Form des Nestbauinstinkts von drei Aspekten geprägt, in denen sich die Tendenzen der vorangehenden Wissensbestände verfestigten: Erstens ging es hier nun primär um das Instinktverhalten menschlicher Frauen. Es war aber ein Phänomen der Menschenwelt, das oft mit dem von Tieren verglichen wurde. Dabei stand neben dem weiterhin prominenten Nestbauinstinkt von Vögeln vor allem das Verhalten von Säugetieren im Vordergrund. Zweitens fungierten jetzt Hormone uneingeschränkt als körperliches Erklärungsmodell des Nestbautriebes. Wurden diese spezifiziert, so ging es um weiblich markierte Geschlechtshormone bzw. Schwangerschaftshormone, insbesondere um Progesteron. Und drittens hatte sich die geschlechtliche Codierung des Instinkts endgültig vereindeutigt und stabilisiert. In den Quellen dieser Periode handelt es sich beim Nestbautrieb um feminine Eigenschaften, die Menschenfrauen und Tierweibchen charakterisiert. 1. Der Nestbauinstinkt zwischen Psychologisierung und Hormonisierung Warum verbreitete sich dieses Wissen in dieser Form genau in diesem Zeitraum? Hierbei hatten veränderte Praktiken entscheidenden Einfluss, die stets mit modifizierten Diskursen zu Geschlechterwissen interagierten. Erstens wirkte begünstigend, dass in den 1970er und 1980er Jahren ein allgemeiner Psychoboom stattfand, in dem psychische Prozesse, Gefühle und therapeutische Angebote eine neue Popularität erfuhren. 71 In diesem Rahmen wurde Schwangerschaft nicht nur zunehmend in psychotherapeutische Behandlungspraktiken integriert, sondern auch in der Ratgeberliteratur, die in dieser Zeit boomte, spielten Gefühle und Erfahrungen eine immer größere Rolle. Dabei dienten spezifische Konzepte wie der Nestbauinstinkt zunächst durchaus als Distinktionsmerkmale im immer größer werdenden Markt der Ratgeberliteratur. So war das Konzept Anfang der 1980er Jahre unter der Rubrik „Wußten Sie schon…“ auf dem Klappentext eines Buches zu finden, das damit Werbung für seine vermeintliche Expertise bei neuen, bislang unbekannten psychischen Fakten der Schwangerschaft beweisen wollte. 72 Hinzu kam, dass in dieser Zeit nicht nur die Psyche der Schwangeren relevanter wurde, sondern dass sich auch Körpervorstellungen von Schwangerschaft veränderten.

71 Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren. Göttingen 2016; Sabine Maasen, Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern: Eine Perspektivierung, in: Maasen u.a. (Hrsg.), Das beratene Selbst (wie Anm.70), 7–34. 72 Weilandt, Klapperstorch (wie Anm.68).

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In populären Vorstellungen der Schwangerschaft verbreitete sich ab den 1980er Jahren ein hormonelles Erklärungsmodell für die Schwangerschaft. Diese Hormonisierung war von veränderten Praktiken beeinflusst – der Einführung kommerzieller Stäbchenschnell-Tests, die nun als biochemische Verfahren die Diagnose über den Hormonnachweis verbreiteten. 73 Mit den Hormonen popularisierten sich auch Vorstellungen der Nidation und des uterinen Nests. Oft war nun in der Ratgeberliteratur vom „Nest für den Fötus“ in der Gebärmutter die Rede – und solch eine Idee vom inneren Nest verstärkte wohl auch die des äußeren Nests. Vor allem aber schienen Hormone in populären Darstellungen nun verantwortlich für alles – für embryonale Entwicklung, für Brustwachstum oder eben auch für Stimmungsschwankungen, Muttergefühle und eben den Nestbauinstinkt. Damit erfolgte über die Hormone eine Essentialisierung fast aller Verhaltensweisen schwangerer Frauen. Die Popularisierung des Nestbauinstinkts ist also sowohl in Zusammenhang mit der Hormonisierung als auch der Psychologisierung von Schwangerschaft zu sehen. Doch auch die spezifische Form, welche die Psychologisierung der Schwangerschaft nahm, war für die Verbreitung des Nestbautriebes von Bedeutung. Denn Vorstellungen der schwangeren Psyche waren stark von zeitgenössischen Konzepten von Mütterlichkeit geprägt. Dabei spielte die Attachment Theory bzw. Bindungstheorie eine zentrale Rolle. Die Grundlagen der Theorie veröffentlichte der britische Psychologe John Bowlby 1958, in den Folgejahrzehnten erlangte sie zunehmend Einfluss. 74 Bowlby postulierte, dass Kinder ein instinkthaftes Bedürfnis hätten, sich an Bezugspersonen (hier gedacht als die Mutter) zu binden und diese zu lieben – ebenso wie Mütter einen natürlichen Instinkt besäßen, ihrem Nachwuchs zu lieben und zu umsorgen. Neben psychoanalytischen Theorien und eigenen Erfahrungen in der Kindertherapie war für Bowlbys Argumentation der Vergleich mit der Tierwelt grundlegend. Dieser erfolgte durch den Rekurs auf die Arbeiten eines Wissenschaftlers: Konrad Lorenz. Seine Theorie der Verhaltensprägung von Graugänsen war ein essentieller Bestandteil Bowlbys Theorie des Bindungsbedürfnisses von Kindern. Die Bindungstheorie legitimierte die Übertragung von Lorenz Ethologie auf die menschliche Psyche nun endgültig. Sowieso schon genossen Lorenz’ Arbeiten nach

73

Lisa Malich, Die hormonelle Natur und ihre Technologien: Zur Hormonisierung der Schwangerschaft

im zwanzigsten Jahrhundert, in: L’Homme 25, 2014, 71–86. 74

Marga Vicedo, The Nature and Nurture of Love. From Imprinting to Attachment in Cold War America.

Chicago 2013.

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dem Zweiten Weltkrieg große Popularität – durch ethologisch informierte Fernsehsendungen wie „Rendezvous mit Tier und Mensch“, durch den Nobelpreis, der 1973 an Lorenz und seinen Kollegen Nikolaas Tinbergen verliehen wurde, und vor allem durch Lorenz populäre Tierbücher. 75 1949 erschienen sein Besteller „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“, 1954 wurde Lorenz’ Buch vom „Gänsekind Martina“ veröffentlicht, 1978 das „Jahr der Graugans“ publiziert. Durch die Verknüpfung mit der Bindungstheorie stieg Lorenz Bekanntheit im deutsch- und englischsprachigen Raum noch zusätzlich. Wie die Wissenschaftshistorikerin Marga Vicedo zeigte, gingen die Ethologie von Lorenz und die Psychologie von Bowlby eine Allianz ein, in der sie sich durch Verweise aufeinander gegen Kritik immunisierten und gegenseitig noch bekannter machten. 76 Diese Art der ethologisch geprägten Bindungstheorie beeinflusste die Entwicklungspsychologie maßgeblich und hatte Einfluss auf Praktiken und institutionelle Abläufe – auf Erziehungspraktiken und Regelungen zur Adoption ebenso wie auf Verfahrenswege in Geburtskliniken. Denn auf Geburtsstationen fungierte die Theorie als wirkungsvolles Argument gegen die in der Nachkriegszeit verbreitete medizinische Praxis, Neugeborene von ihren Müttern räumlich zu trennen. 77 Auf diese Weise setzte sich ab den 1970er Jahren der gemeinsame Raum für Mutter und Baby – das sogenannte Rooming-in – durch. 78 Die ethologische Bindungstheorie ging also in dieser Zeit in gerade in modernisierte und reform-orientierte obstetrische Konzepte ein, die Kritik an der aktuellen Schulmedizin übten und teilweise Überschneidungen mit der alternativen Heilkunde der 1970er und 1980er Jahre aufwiesen. Vor diesem Hintergrund ist es wohl wenig erstaunlich, dass der ethologisch geprägte Begriff des Nestbautriebes relativ früh gerade in denjenigen populären Schriften zu Schwangerschaft erschien, die die aktuelle Schulmedizin kritisierten und „natürliche“ Geburtspraktiken und emotional-therapeutische Selbsterfahrung vertraten: von „Exercises for True Natural Childbirth“ 79 über „Yoga for Pregnancy and Birth“ 80 bis hin zum deutschsprachigen und ebenfalls alternativmedizinischen Ratgeber „Gesunde

75 Taschwer, Von Gänsen und Menschen (wie Anm.12). 76 Vicedo, Nature and Nurture (wie Anm.74). 77 Mira Crouch/Lenore Manderson, The Social Life of Bonding Theory, in: Social Science and Medicine 41, 1995, 837–844. 78 Schütze, Die gute Mutter (wie Anm.61). 79 Hartman, Exercises for True Natural Childbirth (wie Anm.65). 80 Shandler/Shandler, Yoga for Pregnancy and Birth (wie Anm.66).

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Schwangerschaft – glückliche Geburt“. 81 Das Zusammenwirken von psychologischer Bindungstheorie, den Vögelgeschichten der Ethologie und alternativmedizinische Geburtspraktiken scheint so als ein entscheidender Katalysator für die Verbreitung des Nestbautriebes. 2. Der Nestbauinstinkt im Kontext steigender Konsummöglichkeiten Doch liest man entsprechende Ratgeber, so fällt auf, dass die nestbauenden Schwangeren trotz ihrer postulierten Nähe zu Natur und Tierwelt überraschend wenig am naturnahen Nestbau interessiert wirkt. Vielmehr scheint das Verhalten der Frauen stark an der menschlichen Konsumkultur orientiert. In vielen populären Beschreibungen äußert sich der Trieb, neben dem Putzen vor allem in konsumorientierten Praktiken, dem Kaufen von Produkten, dem Erwerb einer Baby-Ausstattung, dem Renovieren und Dekorieren des Hauses sowie dem Einrichten und Ausstaffieren eines Kinderzimmers. Schon bei Deutsch spielte ja das „perfekt eingerichtete Kinderzimmer“ und die „Babyausstattung“ beim Nestbauen eine große Rolle. 82 Eine englischsprachige Darstellung des „nesting instincts“ der 1970er Jahre zählte folgende Tätigkeiten dazu: „[R]eadying the home, decorating a room, or buying a crib and layette“. 83 Ähnlich gehörte es im Ratgeber Stoppards zum Nestbautrieb, „zu überprüfen, ob alles für die Ankunft eines Babys fertig ist – das Zimmer, die Kleidung, die Ausrüstung“ und gegebenenfalls fehlende Gegenstände einzukaufen. 84 Eine gewichtige Unterfacette des Nestbauinstinkts schien nun also ein Kaufinstinkt zu sein. Darin spiegeln sich die verbesserten ökonomischen Bedingungen und die aufsteigende Konsumkultur, die in den USA in der Nachkriegszeit und in den meisten westlich-europäischen Ländern spätestens in den 1970er und 1980er Jahren endgültig Fahrt aufnahm. 85 Ab der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts stieg, in Gefolge von Massenproduktion und Wirtschaftsaufschwung, der generelle Lebensstandard: Wohnungseinrichtung, Dekoration und Kleidung wurden zunehmend erschwinglicher. Sie waren nicht mehr Anschaffungen, die es zu überdenken galt und die möglichst fürs ganze Leben reichen sollten, sondern sie konnten relativ kurzentschlos81

Liechti-von Brasch/Bretscher, Gesunde Schwangerschaft (wie Anm.67).

82

Deutsch, Psychologie der Frau (wie Anm.47).

83

Richard C. Simons/Herbert Pardes, Understanding Human Behavior in Health and Illness. Philadelphia,

Penn. 1977, 28.

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84

Stoppard, Das große Ravensburger Buch (wie Anm.69), 165.

85

Roberta Sassatelli, Consumer Culture. History, Theory and Politics. London 2007.

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sen gekauft und, je nach Mode, schnell wieder ausgetauscht werden. Das dekorierte und gepflegte häusliche Nest, war nun nichts mehr, was sich nur mehr das wohlhabende Bürgertum leisten konnte, sondern war für breitere Bevölkerungsschichten erreichbar. In dieser Periode entwickelte sich auch Kindheit verstärkt zu einer ökonomischen Kategorie mit einer ausdifferenzierten Produktpalette und breitem medialen Marketing. 86 Als neue Unterkategorie bildete sich zudem der toddler, also das Kleinkind, als Marktnische heraus. 87 Mit der wachsenden Konsumkultur intensivierte sich der Zugriff auf Mütter und, zunehmend, Schwangere: Sie wurden zur bevorzugten Zielgruppe für Kinder-, Einrichtungs- und Dekorationswaren. Schon während der Schwangerschaft galt es, aus einem ansteigenden Markt an Babyprodukten zu wählen. Strampler, Kinderbettchen, Kuscheltiere, Spieluhren, Nahrungsergänzung, Babybadewannen standen auf der länger werdenden Liste. Diese Liste wurde in Deutschland meist von der Frau selbst abgehakt, in den USA kam noch die seit den 1950er Jahren stärker werdende Tradition der Baby Showers hinzu, bei denen Freundinnen und Verwandte Babyzubehör verschenkten. 88 Diese veränderten Konsumpraktiken lassen sich auch in den Ratgebern beobachten, in denen ab den 1970er Jahren immer differenziertere Produkte vorgestellt, immer durchdachtere Vorbereitungsmöglichkeiten beschrieben werden. Die Popularisierung des Nestbauens vollzog sich also auch durch KonsumPraktiken und ökonomischen Dynamiken – sie ist Resultat eines immer mehr auszustaffierenden Nests. Bei all den Praktiken spielte geschlechtliche Arbeitsteilung eine Rolle. In den 1970er und 1980er Jahren gerieten im Zuge der Frauenbewegung traditionelle Geschlechterrollen und Mutterbilder unter Druck. 89 Feministische Bewegungen kritisierten die Beschränkungen der Frau als Hausfrau und Mutter – und gerade gebildete Frauen lehnten die „Arbeit aus Liebe“ zunehmend ab. 90 Bemuttern, Putzen, Ver86 Gary Cross, Kids’ Stuff. Toys and the Changing World of American Childhood. Cambridge, Mass. 1997. 87 Daniel Thomas Cook, Children as Consumers. History and Historiography, in: Paula S Fass (Ed.), The Routledge History of Childhood in the Western World. London 2013, 283–295. 88 Eileen Fischer/Brenda Gainer, Baby Showers. A Rite of Passage in Transition, in: NA-Advances in Consumer Research 20, 1993, 320–324; Joan Shelley Rubin/Scott E. Casper/Paul S. Boyer, Home, in: Joan Shelley Rubin/Scott E. Casper/Paul S. Boyer (Eds.), The Oxford Encyclopedia of American Cultural and Intellectual History. Oxford 2013, 317. 89 Ute Gerhardt, Frauenbewegung und Feminismus. München 2009; Frevert, Frauen-Geschichte (wie Anm.28). 90 Barbara Duden/Gisela Bock, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im

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sorgen und Kümmern galten nicht mehr überall als unangefochtene weibliche Ideale. Angesichts solch drohender Auflösungserscheinungen änderten sich in der hegemonialen Geschlechterordnung zwar nicht unbedingt weibliche Rollenzuschreibungen, durchaus aber ihre Begründungsmuster. Die Rede von Biologie, Naturwissenschaft und Instinkten wurde lauter. In ihrer Geschichte von Mutterschaft beschreibt Rebecca Jo Plant, dass die Transformation von Mutterliebe in einen psychobiologischen Trieb ein wichtiger Schritt war, um die frühere Idee der moralischen Mutterschaft, die Arbeit, Mühe und Pflicht betonte, zu suspendieren. 91 In der Nachkriegszeit erschien Mutterliebe auch im Gefolge der Bindungstheorie zunehmend als natürliches und müheloses Gefühl. Dadurch erfuhr die traditionelle Frauenrolle zugleich eine Entwertung und eine neue Legitimation. 92 In Bezug auf den Nestbautrieb ist von ähnlichen Mechanismen auszugehen. Schließlich handelt es bei den instinkthaften Verhaltensweisen um traditionelle weibliche Tätigkeitsmuster wie Putzen und Umsorgen. War Hausarbeit schon lange eine weiblich konnotierte Tätigkeit, so intensivierte sich in dieser Zeit die Erwartungen an ihr Ergebnis. Denn in den 1960er und 1970er Jahren stiegen parallel zur Verbreitung von elektrischen Geräten wie Staubsaugern und Waschmaschinen die Sauberkeitsmaßstäbe an. 93 Die „gute Hausfrau“ musste die Zeitersparnis durch die Technologien nutzen, um ihre Reinlichkeit durch ein noch strahlenderes und blitzenderes Nest unter Beweis zu stellen. Auch die Dekoration des Heims ebenso wie die Konsumpraktik des Familieneinkaufs waren klar weiblich konnotiert. 94 Als hormonell begründete Triebe wirkten die Tätigkeiten im Kontext des Nestbauens in der Schwangerschaft nun als unveränderliche Naturkonstanten – gegen die feministische Kritik nichts ausrichten konnte. Mit der Popularisierung des Nestbautriebs ist somit eine Biologisierung und Essentialisierung von Rollenmustern zu beobachten, die als Stabilisierungsmechanismus einer in die Krise geratenen Geschlechterordnung fungieren.

Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur 1. Sommeruniversität für Frauen. Berlin 1977, 118–199. 91 Rebecca Jo Plant, Mom – The Transformation of Motherhood in Modern America. Chicago 2010. 92

Vicedo, Nature and Nurture (wie Anm.74).

93

Marianne Dierks, Karriere! – Kinder, Küche? Zur Reproduktionsarbeit in Familien mit qualifizierten

berufsorientierten Müttern. Wiesbaden 2005. 94

Sassatelli, Consumer Culture (wie Anm.85), Eileen Fischer/Brenda Gaine, I Shop Therefore I Am. The

Role of Shopping in the Social Construction of Women’s Identities, in: Janeen Costa (Ed.), Gender and Consumer Behavior. Salt Lake City, Ut. 1991, 350–357.

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Die eingangs zitierte Studie von Andersen und Rutherford aus dem Jahr 2013 gibt den Hinweis auf den Beginn eines fünften Wissensbestands. Denn die Studie markiert einen wichtigen Transformationspunkt in der Geschichte des Nestbautriebes: den Übertritt – oder Wiedereintritt – dieses Wissens in den Bereich der akademischen Psychologie, hier auf dem Pfad der Evolutionspsychologie. Dabei entstehen Modifikationen. Die Rede ist von einer Nestbaupsychologie statt eines Nestbauinstinkts. Dieses Konzept wird nun durch ein psychologisches Instrument, einen Fragebogen, stabilisiert. Und die quantitativen Forschungspraktiken führten teilweise zu einer inhaltlichen Redefinition des Konzepts. Denn entgegen den Erwartungen der ForscherInnen unterschieden sich in ihrer empirischen Studie schwangere und nicht-schwangere Frauen nicht signifikant in ihrem Putzverhalten. Deswegen erklärten die ForscherInnen nun alle statistisch signifikanten Unterschiede zur Nestbau-Psychologie der Schwangerschaft. Dadurch wurden Organisationsverhalten und soziale Selektivität zentrale Kategorien des Konzepts. Zu letzterer zählten die Forschenden beispielsweise die Neigung Schwangerer, keine weiten Reisen kurz vor der Geburt zu unternehmen (was vielleicht angesichts weitverbreiteter Warnungen vor Flugreisen am Schwangerschaftsende nicht überraschen mag). Zugleich knüpft die Studie an ältere Diskurse und Wissensbestände an: an evolutionäre Narrative, die sich konzeptuell nah am Instinktmodell bewegen‚ an Parallelisierungen zu weiblichen Säugetieren und an Spekulationen über hormonelle Ursachen. Dazu passend betrachten die AutorInnen der Studie das „Human Nesting“, also das menschliche Nestbauen, als rein weibliche Eigenschaft und als Teil mütterlichen Verhaltens.

V. Schlussbemerkungen: Zirkulierende Popularisierung Zusammenfassend konnten fünf distinkte Stationen festgestellt werden, die zum heute verbreiteten Konzept des menschlichen Nestbautriebes geführt haben. Die erste Station bilden die sich formierenden Felder der bürgerlichen Naturbeobachtung und der Verhaltensbiologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hier fungierte das Nestbauverhalten meist männlicher Vögel als zentrales epistemisches Objekt. Die zweite Station stellen die Ethologie und die endokrinologische Tierforschung ab den 1930er Jahren dar. Diese führten das Nestbauen zum einen auf hormonelle Auslöser zurück und definierten es zum anderen als weibliche Eigenschaft. Kurz darauf

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überkreuzten sich die Diskursstränge vom tierischen Nestbauinstinkt und menschlicher Schwangerschaft. So fand das Konzept drittens ab den 1940er Jahren zunächst vereinzelt Eingang in psychoanalytische und psychoendokrinologische Fachliteratur zur weiblichen Psyche. Schließlich erfolgte als vierte Station die finale Konstitution des Nestbauinstinkts in Form seiner Popularisierung. Diese spielte sich in den Schwangerschaftsratgebern ab den 1970er und 1980er Jahren ab, wobei inhaltlich die Tätigkeiten des Putzens, Einrichtens und Konsumierens im Vordergrund standen. Als vorläufig fünfte Station ist ein (Wieder-)Eintritt des Nestbautriebes in die akademische Forschung zu verzeichnen. Wie die historische Untersuchung gezeigt hat, ist der Nestbautrieb kein konsistentes und überzeitliches Konzept. Ebenso wenig ist er Resultat einer unidirektionalen Popularisierung von Wissen aus den Wissenschaften. Vielmehr handelte es sich um eine zirkulierende Vorstellung, die sich in unterschiedlichen Wissenskulturen formierte und für die gerade der populäre Bereich entscheidend war. Für den Popularisierungsprozess waren oft Praktiken im Grenzbereich von populären und akademischen Feldern zentral: die Vogelbeobachtung gebildeter Bürger im 19.Jahrhundert; die Handlungsanweisungen, die Experten Frauen in Bezug auf Einrichtung der Wohnung und emotionale Kinderpflege gaben; die verschiedenen Praktiken der medizinischen Schwangerschaftsdiagnose; alternativheilkundliche Übungen wie Geburts-Yoga und Psycho-Techniken der Psychoanalyse, Pädagogik und Beratung. In all diesen Praxisfeldern entstand und disseminierte Wissen zum Nestbau, zum menschlichen Nest und schließlich zum Nestbautrieb schwangerer Frauen. Dabei fungiert Popularisierung gerade nicht als Mittel der bloßen Verbreitung von Wissen – sondern Popularisierungsmechanismen waren entscheidend an der Produktion und Umformung dieses Wissen beteiligt. Die relevanten Praktiken des Nestbauens waren massiv von Geschlechterrollen und -vorstellungen geprägt, die ein zentrales Ordnungselement der Gesellschaft bilden. So prägte die Geschlechterordnung, wie Nestbaupraktiken bewertet wurden – ob als heroische, männlich kodierte Nestbaukunst oder als triebgesteuertes, von banalen Aufgaben geprägtes und weiblich kodiertes Nisten. Vor allem aber waren veränderte Weiblichkeitsvorstellungen stets an modifizierte Praktiken und Aufgaben geknüpft. Für das Wissen zum Nestbau spielte die Figur der Hausfrau und Mutter, die ab dem ausgehenden 19.Jahrhundert immer mehr in den Mittelpunkt trat, eine entscheidende Rolle. Damit einher gingen typisch weibliche Praktiken – das Einrichten eines gemütlichen Heims, emotionale Arbeit in der Rolle als Gattin und

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Mutter, Putzen, Hausarbeit und familienzentrierter Konsum. An modifizierte Weiblichkeitsvorstellungen waren auch unterschiedliche Ideen der schwangeren Psyche geknüpft. Hierbei ist besonders der Aufstieg der Idee einer liebenden schwangeren Mutter in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts hervorzuheben. All diese Veränderungen von Weiblichkeitsvorstellungen bildeten Vorbedingungen des Wissens zum Nestbautriebes in der Schwangerschaft, der sowohl feminisierte Tätigkeitsfelder als auch Ideen von Mütterlichkeit beinhaltete. Virulent wurde die Idee des Nestbauinstinkts in der Schwangerschaft aber erst ab den 1970er Jahren, in denen sich einerseits die Maßstäbe an weibliche Haushaltstätigkeiten und Konsumpraktiken verschärften. Andererseits führten die feministischen Bewegungen jetzt zu einer Destabilisierung der hegemonialen Geschlechterordnung. Die Verbreitung des Nestbauinstinkts in dieser Zeit kann gerade als Reaktion auf diesen Krisenmoment verstanden werden, da durch sie weibliche Tätigkeitsbereiche essentialisiert und stabilisiert wurden. Trotz der Bedeutung der öffentlichen Sphäre für Geschlechterwissen sind diesbezügliche Popularisierungsprozesse stets von akademischen Feldern mitgeprägt. Schließlich spielten auch beim Nestbauen Forschungspraktiken eine Rolle, die populäre Geschlechtsvorstellungen aufgreifen und akademisieren – sei es Lorenz, der mit der Übertragung der Menschen- auf die Gänsewelt seine Ideen einer traditionellen Geschlechtertrennung naturalisierte, oder sei es die eingangs zitierte Studie, die explizit populäres Wissen zum Nestbauinstinkt aufgreift und akademisiert. Gerade diese Studie verdeutlicht exemplarisch, das referenzielle Zirkulieren zwischen wissenschaftlicher und populärer Sphäre in Bezug auf essentialisiertes Geschlechterwissen. Denn die Studie wurde ihrerseits schon wieder von Ratgeberliteratur aufgegriffen. So fragt ein jüngst erschienener englischsprachiger Schwangerschaftsratgeber in einem Unterkapitel „Is the nesting instinct real?“ 95 Nach einigen Vergleichen mit weiblichen Säugetieren geht das Buch ausführlich auf die Studienergebnisse von Anderson und Rutherford ein, die es als Inbegriff wissenschaftlicher Evidenz inszeniert. Wenig überraschend lautet die Antwort abschließend: „In fact it’s clear that nesting isn’t just real, it’s primal“ 96, woraufhin die evolutionären Ursprünge und hormonellen Ursachen des Nestbautriebes betont werden. Damit begründet zu-

95 Genevieve Howland, The Mama Natural Week-by-Week Guide to Pregnancy and Childbirth. New York, London 2017, 250. 96 Ebd.

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nächst die wissenschaftliche Studie die Existenz des Nestbautriebes mit einem Verweis auf die Ratgeberliteratur – und die Ratgeberliteratur wiederum begründet sie mit einem Verweis auf jene Studie. Der Zirkel der Popularisierung und gegenseitigen Legitimierung scheint geschlossen.

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Die Organisation von Geschlechtern und das Geschlecht von Organisationen Eine zeitgeschichtliche Perspektive auf NGOs von Claudia Kemper

„Die drei grauen Boote rasen mit vierzig Sachen über den Atlantik. In wilden Sätzen schießen sie über die Wellenkämme, so dass die Außenborder aufheulen. Dann wieder tauchen die Flitzer in die Gischt, nur die Köpfe der in Ölzeug gehüllten Männer bleiben sichtbar. Die sechs Männer in den Schlauchbooten kommen von der Sirius. Sie haben jeden Muskel angespannt, denn nach jedem Satz über einen Wellenberg fährt die brettharte Landung in die Knochen. Und Spannung prägt ihre Züge. Spannung und wache Aufmerksamkeit.“ 1

Anfang der 1970er Jahre entstand aus dem in Vancouver angesiedelten „Don’t Make a Wave“-Committee die Organisation Greenpeace, die mit medienwirksamen, gewaltfreien Aktionen den internationalen Umweltschutz nachhaltig beeinflusste. Die Gründungs- und Erfolgsgeschichte dieser NGO gehört mittlerweile zum festen Repertoire der jüngeren Umweltgeschichte, da sie geradezu paradigmatisch für die Handlungsräume und Reichweite zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse steht. 2 Denn es waren keine Umweltfachleute, sondern Juristen, Ingenieure und Journalisten, die sich aus persönlichem Interesse zusammengetan hatten und mit kreativen Aktionen den Grundstein für eine der größten internationalen Nichtregierungsorganisationen legten. Die Gründungsgeschichte von Greenpeace wird in der Regel mit einem Bild von Jim Bohlen, Paul Cote und Irving Stowe unterlegt 3 und erwähnt außerdem Bob Hunter und Ben Metcalfe sowie die Ehefrauen Dorothy Stowe, Marie Bohlen und Dorothy Metcalfe. 4 Die Erzählung geht auf die männlichen Protagonis-

1 Bericht über eine Greenpeace-Aktion gegen Atommülltransporte im Atlantik von 1981. Nikolaus Eckardt, Die Regenbogenkämpfer. Aktion Greenpeace. Baden-Baden 1983, 92. 2 Juliane Riese, Hairy Hippies and Bloody Butchers. The Greenpeace Anti-Whaling Campaign in Norway. New York 2017; Frank Zelko, Greenpeace. Von der Hippiebewegung zum Ökokonzern. Göttingen 2014. 3 Bild auf der Startseite zur Greenpeace-Geschichte. Online unter https://www.greenpeace.de/historie (19.8.2019) 4 Vgl. Angaben unter https://www.greenpeace.de/node/9653 (14.8.2019).

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-010

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ten ein, die „mit ihren Ehefrauen“ in der Bewegung aktiv waren, womit die beteiligten Frauen vor allem durch adverbiale Zuschreibungen sichtbar werden und nicht durch Erwähnung ihrer Kompetenzen und Funktionen für die Organisation. Andere Berichte aus den 1980er Jahre erzählen die gefährlichen Schiffsaktionen der ersten Zeit als abenteuerliche Touren unter widrigsten Bedingungen rein männlicher, geradezu piratenhafter Crews. 5 Angesichts zahlreicher solcher Erinnerungen und männlich dominierter Erzählung über die Gründungsphase von Greenpeace steht nicht nur dieses weitverbreitete Narrativ zur Debatte. Auch weitergehende Fragen sind lohnend zu diskutieren, um hinter die Kulisse des Abenteuerhaften, das den Beginn von Greenpeace markiert, zu blicken. Dazu zählt etwa die Frage nach der Sozialstruktur im kanadischen Vancouver Ende der 1970er und somit die nach dem finanziellen und sozialen Kapital, über das Männer und Frauen verfügten, aber auch welche zeitlichen Ressourcen für das Engagement in einer NGO aufgewendet werden konnten. Auf die Fragen kann im Folgenden zwar nicht eingegangen werden, doch zeigen sie bereits an, welcher Mehrwert in der geschlechterhistorischen Perspektive steckt, die immer mit weiteren Faktoren des Ein- und Ausschlusses verbunden ist. Mittlerweile ist Greenpeace eine gut durchmischte Organisation, in der Frauen sichtbar, und – wenn auch nicht paritätisch – in Führungspositionen vertreten sind. 6 Obschon im öffentlichen, mitunter allzu glatten Bild von NGOs zunehmend die Widersprüchlichkeiten der Organisationsarbeit deutlich werden 7, bleibt doch der Eindruck, dass NGOs wegen ihres normativen Anspruchs auf zivilisatorische Verbesserung in besonderer Weise als prädestiniert angesehen werden, gesellschaftliche Ungleichheiten in ihrer Organisation auszugleichen. Angesichts dieser Spannweite zwischen Image und Bedingungen des Organisierens von NGOs stellt sich umso mehr die Frage, wie NGOs mit Ungleichheiten im Allgemeinen und mit Geschlechterordnungen im Besonderen umgehen. Anders formuliert: Wie lässt sich die Geschichte einer NGO auch aus geschlechterhistorischer Perspektive erzählen

5 Eckardt, Regenbogenkämpfer (wie Anm.1). 6 Im Aufsichtsrat von Greenpeace Deutschland sind zwei von sieben Mitgliedern weiblich, die Geschäftsführung haben zwei Männer und eine Frau inne, das politische Kontaktteam in Berlin setzt sich aus vier Männern und zwei Frauen zusammen, Stand Januar 2019. 7 Monika Krause, Das gute Projekt. Humanitäre Hilfsorganisationen und die Fragmentierung der Vernunft. Hamburg 2017; Patrice McMahon, Das NGO-Spiel. Zur ambivalenten Rolle von Hilfsorganisationen in Postkonfliktländern. Hamburg 2019.

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und welche Zugänge zu Narrativen und Theorien von Gender bietet die Geschichte von NGOs? Das sind die Fragen, die im Folgenden mit der damit verbundenen Forschungsperspektive zunächst begründet und anschließend durch drei Beispiele veranschaulicht werden.

I. Wie kommt das Geschlecht in die Organisation? Über den Zusammenhang von Organisations- und Gesellschaftstheorie Organisationen gehören zu den dominanten Orten der Geschlechterproduktion. 8 Der Befund gilt umso mehr, wenn Organisationen nicht nur als logistische Einheiten gesehen werden, sondern als Praxisformen handlungsleitender Rationalitätsdispositive, die in modernen Gesellschaften einen hohen Stellenwert für ihr Selbstverständnis haben. 9 Prozesse funktionaler Differenzierung, beispielsweise in der Bürokratie, bei der Arbeitsteilung oder der gesellschaftlichen Partizipation, wurden für längere Zeit an zunehmender Organisiertheit und einer wachsenden Zahl an klassischen Organisationen abgelesen. Hier schien sich zudem im Kleinen abzubilden, was die moderne Gesellschaft im Großen ausmachte. 10 Wenn sich nach soziologischer Lesart Gesellschaften anhand konflikthafter oder kooperativer sozialer Interaktionen bestimmen lassen 11, dann waren und sind Organisationen die kennt8 Zum Unterschied systemtheoretischer und poststrukturalistischer Organisationsforschung vgl. Birgit Riegraf, Organisation, Geschlecht, Kontingenz. Die Bedeutung des Poststrukturalismus für die geschlechtersoziologische Organisationsforschung, in: Feministische Studien 28, 2010, 99–108; Ursula Müller/Birgit Riegraf/Sylvia Marlene Wilz, Ein Forschungs- und Lehrgebiet wächst. Einführung in das Thema, in: Dies. (Hrsg.), Geschlecht und Organisation. Wiesbaden 2013, 9–16. Webers Bürokratisierungsmodell prägte die Organisationsforschung nachhaltig, ebenso seine systematische Nicht-Beachtung einer Geschlechterdimension in Organisationen. Bis in die 1980er Jahre dominierten systemtheoretische Modelle nach Talcott Parsons und Niklas Luhmann die Organisationsforschung, zu der Karl Weicks Prozessorientierung eine Alternative anbot. Erhebliche Differenzierung und Integration von Kontexten bei der Analyse von Organisationen kam mit dem Neo-Institutionalismus hinzu. Vgl. Emil Walter-Busch, Organisationstheorien von Weber bis Weick. München 1996; Walter W. Powell/Paul DiMaggio (Eds.), The New Institutionalism in Organizational Analysis. Chicago/London 1991. 9 Michael Bruch/Thomas Lemke/Klaus Türk (Hrsg.), Organisation in der modernen Gesellschaft. Eine historische Einführung. Wiesbaden 2006, 15–18 10 Bruch/Lemke/Türk (Hrsg.), Organisation (wie Anm.9), 21–37. 11 Georg Simmel, Der Streit. Soziologie. Kapitel IV. Leipzig 1908, 247; Lewis A. Coser machte 1956 u.a. in The Functions of Social Conflict Simmels Idee vom integralen Moment des Streits in der US-amerikanischen Soziologie populär.

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lich gemachten Räume deren regelhafter Austragung und Artikulation und der daraus folgenden Machtdispositionen. Wenig überraschend hat vor allem die feministische Organisationsforschung den Blick darauf gelenkt, wie die gesellschaftliche Basiskategorie Geschlecht auch in Organisationen die Machthierarchien, Ein- und Ausschlüsse bestimmt. 12 Gleichstellungspolitische Prämissen gehen von einer unhintergehbaren Verzahnung von Organisation und Gesellschaft aus, womit begründet wird, dass gleichstellungspolitische Maßnahmen nicht nur innerhalb der Betriebe und Unternehmen wirken, sondern auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge rückwirken – sowohl mit ihren ‚Erfolgen‘ als auch ‚Misserfolgen‘. 13 Diese Erkenntnisse sind mittlerweile alt, aber viele Organisationen zeigen sich weiterhin nachhaltig hartnäckig gegenüber tiefgreifenden Gleichstellungspolitiken und der Tatsache, dass der „Gender Cage“ offenbar nicht allein durch quantitative Erfolge zu knacken ist. 14 In staatlichen Organisationen lassen aber auch Beharrungskräfte besonderes Reformpotenzial erkennen, da die Logik des Wohlfahrts- und Rechtsstaates in ihre Entscheidungsabläufe einfließt. Zwar schreiben Behörden, Parlamente oder auch Körperschaften gemäß dem übergreifenden Normenkatalog heteronormative Binarität und geschlechtsspezifische Ungleichheit fest, andererseits bieten gerade diese Einrichtungen Möglichkeitsräume für Emanzipation in besonderer Weise. 15

12

Birgit Riegraf, Geschlecht und Differenz in Organisationen. Von Gleichstellungspolitik und erfolgrei-

chem Organisationslernen, in: WSI Mitteilungen 7, 2008, 400–406. 13

Auch wenn Organisationen wie Unternehmen, Verwaltungen oder Schulen eine Gleichstellungspo-

litik verfolgen, bleiben sie „zentrale ‚Schaltstellen‘ bei der Herstellung oder Relativierung von Geschlechterasymmetrien“, da sie externe Anforderungen nur selektiv wahrnehmen und/oder gesellschaftliche Ungleichheitspraktiken ignorieren. Riegraf, Geschlecht und Differenz (wie Anm.12), 400. 14

Maria Funder/Kristina Walden, Alte Fragen, neue Antworten? Reflexionen zum „Gender Cage“ in Or-

ganisationen – Plädoyer für ein mehrdimensionales Analysemodell, in: Maria Funder (Hrsg.), Neo-Institutionalismus – Revisited. Bilanz und Weiterentwicklungen aus Sicht der Geschlechterforschung. Baden-Baden 2017, 35–69, hier 37. Der Gender Cage der Bundeswehr erklärt sich nicht allein aus einer innerorganisationalen Perspektive („Gendered Fields“), sondern nur im Zusammenhang mit der jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen „Gender Order“. Der Befund mag für die Bundeswehr so eingängig wie banal erscheinen, aber er eröffnet auch die Perspektive auf jene Organisationen, deren organisationale Felder explizit genderneutral ausgerichtet sind und die sich zudem auf einen genderneutralen Kontext beziehen, (wie etwa emanzipatorische NGOs). Ebd.55f. 15

Birgit Sauer, Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten. Online unter https://www.fu-

berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/sauerstaatdemokratie/index.html (19.12.2018).

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Mehr noch als bisher vergegenwärtigt wurde, ragen machtpolitische und ökonomische Strukturen auch in NGOs hinein und bestimmen deren Politik, feministische Debatten und Geschlechterordnungen. 16 Organisationen – das soll deutlich werden – sind weder geschlossene Einheiten, in denen sich die Geschlechter stillschweigend einfinden, noch geraten in ihnen die machtpolitischen Gesetze der Gesellschaft außer Kraft. Im Gegenteil: Organisationen sind soziale Praxisformen, in denen politische und gesellschaftliche Zuschreibungen wirken, wodurch spezifische Geschlechterrollen und -normen auch im Organisationsrahmen reproduziert oder hergestellt werden. Für eine zeithistorische Geschlechterforschung sind deshalb die „historischen, symbolischen und diskursiven Konstitutions- und Repräsentationsweisen von Geschlecht über Organisation“ 17 von besonderem Interesse und somit die Frage, wie sich das Zusammentreffen von Genderrollen und heteronormativen Geschlechterordnungen innerhalb von Organisationen auf die Organisationslogik und das Organisationswissen auswirkt und dies wiederum auf geschlechtsspezifische Konstellationen außerhalb der Organisation rückwirkt. 18 Neben theoretischen Überlegungen gibt es zeithistorische Gründe, Geschlechterund Organisationsgeschichte zusammenzuführen. So zeigt etwa das Gründungsnarrativ von Greenpeace, in dem Frauen tatkräftig und aufgeklärt, aber niemals als Solistinnen auftreten, eindrücklich, wie sich NGO-Narrative in die allgemeine Historiographie einfügen. Denn Organisationsgeschichte generiert einen starken gender bias, wenn nach wohlbekannter historiographischer Tendenz 19 von NGOs als Normalfall die Rede ist und Frauenorganisationen oder Organisationseinheiten, die sich „für die Sache der Frau“ einsetzen, gesondert behandelt und dargestellt wer-

16 Victoria Bernal/Inderpal Grewal (Eds.), Theorizing NGOs. States, Feminisms, and Neoliberalism. Durham 2014, 1. 17 Riegraf, Organisation (wie Anm.8), 105. 18 Im neo-institutionalistischen Sinne lässt sich fragen, wie sich institutionalisierte Elemente in Organisationen spiegeln bzw. von Organisationen intern aktiv übersetzt werden. Vgl. Cristina Besio, Organisation und Gesellschaft. Beiträge der Organisationssoziologie zum Verständnis ihrer Wechselwirkung, in: Maja Apelt/Uwe Wilkesmann (Hrsg.), Zur Zukunft der Organisationssoziologie. Wiesbaden 2015, 157– 172, hier 157. 19 Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick/Anne-Charlotte Trepp (Hrsg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, 15–55.

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den. 20 Daneben fällt der zeithistorische Zusammenhang von Organisierung, NGOs und emanzipativen Bewegungen ins Auge. Verstärkt seit den 1970er Jahren erlebten parallel zu emanzipatorisch auftretenden Bewegungen auch alternative Organisationsformen einen Aufschwung. 21 Organisierten sich Aktivistinnen und Aktivisten zunächst häufig in Kleingruppen, Bürgerinitiativen oder Projekten 22, stellten NGOs für die Umsetzung weiträumiger und langfristiger Ziele eine Möglichkeit dar, nichtstaatlich imprägnierte Politikformen im größeren Stil zu entwickeln und auf Dauer zu stellen. 23 Bis in die 1970er Jahre war die Zahl an NGOs stetig angestiegen, aber nun setzte geradezu ein Boom ein. Bis 1951 hatten die Vereinten Nationen offiziell 188 internationale NGOs registriert, die meisten von ihnen waren humanitär oder religiös ausgerichtet (z.B. Catholic International Union for Social Service, Council of Jewish Organizations oder Friends’ Worlds Committee for Consultation). 24 Ab den 1970er Jahren stieg die Zahl der NGOs deutlich von bis dahin gut 2000 auf über 4600 Mitte der 1980er Jahre an und auch die Themen wurden vielfältiger. 25 Dieser erste

20

Kein Überblickswerk zu sozialen Bewegungen oder NGOs kommt mehr ohne den Hinweis auf die

institutionelle Aufwertung der internationalen Frauenbewegung aus, deren Beginn auf die Frauen-UNKonferenz 1975 in Mexico City datiert wird. Ausführungen hierzu stehen jedoch in keinem erkenntnistheoretischen, geschweige denn konzeptionellen Zusammenhang mit der Historiographie zu anderen Organisationen. Ebenso blind zeigt sich historische Organisationsforschung hinsichtlich class oder race von Organisationen. 21

Karen Garner, Shaping a Global Women’s Agenda. Women’s NGOs and Global Governance, 1925–85.

Manchester u. New York 2010. 22

Für die Friedensbewegung vgl. Christoph Becker-Schaum, Die institutionelle Organisation der Friedens-

bewegung, in: Ders./Philipp Gassert/Martin Klimke/Wilfried Mausbach/ Marianne Zepp (Hrsg.), „Entrüstet Euch!“. Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung. Paderborn 2012, 151–168. Zu den Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Organisationsformen unter den Bedingungen des Kalten Krieges vgl. Matthew Evangelista, Transnational Organizations and the Cold War, in: Melvyn P. Leffler/Odd Arne Westad (Eds.), Cambridge History of the Cold War III: Endings. Cambridge 2010, 400–421. 23

Der Organisationstypus der Non-Governmental Organization war schon seit 1945 durch ein Anerken-

nungsverfahren der Vereinten Nationen auf internationaler Ebene eingeführt und bezog sich auf Organisationen, die nicht durch zwischenstaatliche Verträge zustande gekommen waren. 24

Akira Iriye, Die Entstehung einer transnationalen Welt, in: Ders./Winfried Loth (Hrsg.), Geschichte

der Welt. 1945 bis heute: Die globalisierte Welt. München 2013, 671–825, hier 712. Schon bis Ende des 19. Jahrhunderts wird von über 460 internationalen NGOs ausgegangen. Bob Reinalda, Non-State Actors in the International System of States, in: Ders. (Ed.), The Ashgate Research Companion to Non-State Actors. Farnham 2011, 3–17, hier 12. 25

Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen

Ordnung. Darmstadt 2009, 112.

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Gesamtzahl der internationalen Organisationen 1950–2006. Zusammengestellt anhand von Daten aus dem Yearbook of International Organizations. Bd. 5. München 2007, 241–249, in: McMahon, Das NGO-Spiel (wie Anm.7), 105.

Boom umfasste thematisch ganz unterschiedliche NGOs wie Amnesty International, gegründet 1961, oder Greenpeace, gegründet 1970. Der Organisationstypus war ein effektives Format, um im politischen Feld Sichtbarkeit herzustellen und um Wissen in und für die sozialen Bewegungen – in der Regel verstanden als alternatives Wissen – für die politische Debatte aufzubereiten, zu verbreiten und zu popularisieren. 26 Deshalb gehörten nicht nur AktivistInnen oder PlanerInnen, sondern auch ExpertInnen, die das alternative Wissen legitimierten, zum festen Bestandteil von NGOs. Dieser Typus des „Gegen-Experten“ fand in einer Phase Verbreitung, in der westliche Gesellschaften noch größtes Vertrauen in Expertise, Prognose und Planung setzten. 27 Experten (überwiegend männlich) wie ihre

26 Engelbert Schramm, Die Verwissenschaftlichung der Oppositionsbewegung, in: Prokla: Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 20, 1990, 79, 26–38. 27 Albrecht Weisker, Expertenvertrauen gegen Zukunftsangst. Zur Risikowahrnehmung der Kernenergie, in: Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003, 394–421; Bernd-A. Rusinek, Die Rolle der Experten in der Atompolitik am Beispiel der Deutschen Atomkommission, in: Stefan Fisch/ Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive. Berlin 2004, 189–210. Vgl. auch Wilfried Rudloff, Expertenkommissionen, Masterpläne und Mo-

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oppositionellen bzw. alternativen Gegen-Spieler operierten auf denselben wissenschaftlichen oder fachlichen Grundlagen, aber zogen deutlich unterscheidbare Schlussfolgerungen und unterfütterten entweder regierungsnahe oder alternative politische Forderungen. 28 Die so organisierten und verwissenschaftlichten Oppositionsbewegungen trafen in den 1970er Jahren auf Regierungen, die unter Druck standen und die angesichts globaler ökonomischer Verflechtungen immer weniger ein adäquates Steuerungsmodell zur Anwendung bringen konnten. Der Aufstieg nichtstaatlicher Organisationen lässt sich also nicht allein mit der Kraft ihrer Selbstmobilisierung erklären, sondern er war auch möglich, weil der Staat nach neuen Kommunikations- und Politikformen Ausschau halten musste. 29

II. NGOs in the making and on the stage Als Orte alternativer Wissenspopularisierung trugen NGOs gleichermaßen dazu bei, Geschlechterrollen zu popularisieren. Eine geschlechterhistorische Deutung kann sich deshalb nicht darauf beschränken, die quantitative Geschlechtervertei-

dellprogramme. Die bundesdeutsche Psychiatriereform als Paradefall „verwissenschaftlichter“ Politik? In: AfS 50, 2010, 169–216. 28

Von „divergierenden Orientierungen“, die am Ende der „technokratischen Hochmoderne“ an Bedeu-

tung gewannen, sprechen Uwe Fraunholz/Detlev Fritsche/Anke Woschech, Grenzen der Technikgläubigkeit? Konkurrierende Deutungen von Atomkraft im Übergang von der Technokratischen Hochmoderne zur Reflexiven Moderne, in: Stephan Dreischer/Christoph Lundgreen/Sylka Scholz/Daniel Schulz (Hrsg.), Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 2013, 406–426, hier 407. Zum Verfahren vgl. Wolfgang van den Daele, Objektives Wissen als politische Ressource. Experten und Gegen-Experten im Diskurs, in: Ders. (Hrsg.), Kommunikation und Entscheidung. Politische Funktionen öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren. Berlin 1996, S. 297–326; Bernhard Badura, Gegenexpertise als wissenschaftssoziologisches und wissenschaftspolitisches Problem, in: Soziale Welt 31 (1980), 459–473. 29

Die Terrainverschiebungen setzten Mitte der 1960er Jahre mit verschlechterten Wirtschaftsdaten ein

und mehr noch mit sich verändernden Leitvorstellungen von Staat und Gesellschaft, wozu u.a. die Idee einer „mündigen Gesellschaft“ zählte, die seit dem SPD-Wahlkampf 1965 im Kontrast zur bis dahin von Ludwig Erhard propagierten Vorstellung einer „formierten Gesellschaft“ stand. Bis in die 1970er Jahre entwickelten sich die Begriffe „Demokratisierung“ und „Teilhabe“ zu veritablen Konfliktfeldern, da sie von ganz unterschiedlichen Akteuren vorgetragen und mit unterschiedlichen Interessen verbunden waren. Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982. Berlin 2007, 139–151.

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lung in NGOs zu betrachten. Je vielfältiger und verwobener – also intersektional – die Aspekte und Schnittpunkte gesehen werden, die das Geschlecht einer NGO beeinflussen, desto differenzierter zeigen sich schließlich die Ein- und Ausschlusspraktiken der Organisation. Entsprechend werden im Folgenden drei unterschiedliche Zugänge umrissen und weiterführende Fragen gestellt. Zunächst zeigt das Beispiel der Frauenbewegung, wie Geschlecht nicht nur den Prozess des Organisierens anstieß, sondern zu einer politischen Ausdrucksform geriet. Anschließend bieten die Mechanismen visueller Gendercodes und medialer Botschaften Argumente, um die Wirkmächtigkeit von Geschlechter- und Rassismuskonstruktionen bis in die materielle Arbeit von Hilfsorganisationen aufzuzeigen. 30 Schließlich soll drittens an einer expertisebasierten NGO gezeigt werden, wie Machtordnungen und Eigenpräferenz einer bestimmten Berufsgruppe auch innerhalb der NGO wirkten und eine nur vermeintliche Genderneutralität der Organisation stabilisierten. 1. Repräsentation von Geschlecht Die Forschung zu den politischen Bewegungen der 1960er Jahre hat bislang wenig diskutiert, in welchem Verhältnis diese zur zweiten Welle der Frauenbewegung standen. 31 Es liegt auf der Hand, dass die Frauenbewegung auch in ihrer spezifischen Ausrichtung keine Sonderform der Opposition war, sondern eng verbunden mit allen anderen Bewegungsteilen. Um diese Bewegungsteile insgesamt, aber zugleich differenziert in den Blick zu bekommen, sollte – so der Vorschlag von Belinda Davis – nach dem „Gender of Activism“ gefragt werden. Denn die Bewegungen unterschieden sich nicht nur nominell oder anhand der sozialen Geschlechtsordnung, sondern sie markierten ihre Grenzen auch informell und performativ u.a. mithilfe geschlechtsspezifischer Aspekte. 32 Mit Blick auf die studentische Protestbewegung Ende der 1960er fällt zunächst die Bedeutung sozialer Geschlechtordnungen anhand alltagspraktischer Routinen ins Auge, bestimmten sie doch soziale Interaktionen von Kaffeekochen bis zur politischen Aktion und die damit verbundenen Mar-

30 Annette Geiger (Hrsg.), Wie der Film den Körper schuf – ein Reader zu Gender und Film. Weimar 2006. 31 Aktuell und instruktiv Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. München 2018. Mit regionalem Bezug Hannah Rentschler, „… ob wir nicht alle Feministinnen sind“. Die Arbeitsgemeinschaft Hamburger Frauenorganisationen 1966–1986. Hamburg 2019. 32 Dies und im Folgenden nach Belinda Davis, The Gender of Activism in Grassroots Movements of the 1960s to 1980s, in: Karen Hagemann/Donna Harsch/Friederike Brühöfener (Eds.), Gendering Post-1945 Germany History. Entanglements. New York u. Oxford 2019, 207–228.

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ginalisierungen von Frauen, die in hitzigen Debatten problematisiert wurden. Aber auch auf der politischen Ebene gewann Geschlecht eine erhebliche Bedeutung, indem es nicht nur als Zuschreibung thematisiert, sondern als Instrument der Repräsentation genutzt wurde. Aktivistinnen nutzten zunehmend das Auftreten einer Frau als Frau, um die eigene Gruppe sichtbar zu machen, zu markieren und legitimieren. Trotz ihrer tatsächlichen Durchmischung, waren die Studentenproteste überwiegend männlich repräsentiert. Insofern setzte die in der Entstehung begriffene Frauenbewegung einen gezielten Schritt, um die soziale Zuschreibung „Frau“ zu politisieren und zu einer politischen Handlungsform zu machen. Damit konnte dem „Male Activism“ der schwerpunktmäßig vom SDS geprägten Studentenproteste ein konsistentes „Female Activism“ entgegengestellt werden. Als sich Aktivistinnen im SDS zusammenschlossen, kopierten sie noch zu Beginn die Strategien ihrer männli-

chen Verbündeten. Um dem 1967 neugegründeten Aktionsrat zur Befreiung der Frau (Weiberrat) Gehör zu verschaffen, arbeiteten die Frauen mit klassischen Verlautbarungen oder sie versuchten, in Debatten ähnlich aggressiv aufzutreten wie dominierende Männer des SDS. In solchen Aktionen exponierten sich einzelne Frauen, um bestimmte Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Das brachte ihnen zwar akute Aufmerksamkeit, bedeutete aber keine strukturelle Veränderung. Sie konnten von männlichen Aktivisten ignoriert werden, ohne dass – ähnlich wie in anderen sozialen Bereichen und Situationen der Marginalisierung – auf die Tatsache eingegangen werden musste, dass eine Frau das Wort ergriffen hatte. Das änderte sich erst, als Frauen nicht mehr individuell für sich sprachen, sondern Strategien und Formen entwickelten, mit denen sie als Frauen sprachen. Die effektivste Form dieser politischen Positionseinnahme gelang durch den physischen Zusammenschluss, wenn Frauen in geschlossenen Gruppen auftraten. Deshalb war es ein Novum und eine politische Demonstration, als Helke Sander im September 1968 ihre Rede auf der Delegiertenkonferenz des SDS mit den Worten begann „Liebe Genossinnen, Genossen, ich spreche für den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“. 33 Bevor sie dessen Forderungen nach gleichberechtigter Behandlung frauenpolitischer Themen inner-

33

Rede von Helke Sander (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen) auf der 23. Delegiertenkonferenz des So-

zialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am 13.September 1968 in Frankfurt am Main, https:// www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0022_san&object=abstract&st=&l=de (22.1.2019).

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halb des SDS ausführte, demaskierte sie den männlichen Habitus im SDS: Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern würden zwar festgestellt, aber eine Reflexion ihrer Ungleichbehandlung würden konsequent vermieden: „Wir werden uns nicht mehr damit begnügen, dass den Frauen gestattet wird, auch mal ein Wort zu sagen, das man sich, weil man ein Antiautoritärer ist, anhört, um dann zur Tagesordnung überzugehen. […] Man gewährt zwar den Frauen Redefreiheit, ergründet aber nicht die Ursachen, warum sie sich so schlecht bewähren, warum sie passiv sind, warum sie zwar in der Lage sind, Verbandspolitik mit zu vollziehen, aber nicht dazu in der Lage sind, sie auch mit zu bestimmen.“ 34

Die Frauen veränderten nicht nur ihre inhaltlich bezogene Präsenz im SDS, sondern auch ihr körperliches Auftreten, um ihren organisierten Zusammenschluss als politischen Akt zu demonstrieren: „For the first time, all the female ‚comrades‘ [die Genossinnen] sat together in a corner at the SDS member assembly, and one could observe that the male ‚comrades‘ [die Genossen] quickly perceived this as a demonstration of power. When a woman made a contribution, she was listened to. In addition, she was much more secure of herself, because she knew she had the other women behind her, and because she knew that another would help her in a pinch.” 35

Auch die weitere Organisierung der Frauenbewegung machte deutlich, wie sich das Engagement für Geschlechterfragen unmittelbar auf die politische Form auswirkte, mit der diese Fragen bearbeitet werden sollte. Denn wenn das Geschlecht als eine politische Kategorie verstanden werden sollte, dann konnten Herrschaft und Repräsentation nicht mehr nach traditioneller Weise organisiert und praktiziert werden. Zahlreiche Projekte und Zusammenschlüsse formierten sich in bewusster Abgrenzung zu bestehenden Organisationen, allen voran zum SDS, aber auch zu Gewerkschaften oder Parteien. Vorrangig bildeten sich hier „sichere Räume“, in denen Frauen frei von Einschränkungen oder Gewaltandrohungen agieren wollten. 36 Diese Organisationsformen stellten für die Aktivistinnen aber deutlich mehr als ein funktionales Instrumentarium dar, mit dem etwa Sicherheit geschaffen wurde. Frauenorganisationen waren auch Medium und Materialität eines politischen An-

34 Rede von Helke Sander, 13.September 1968 (wie Anm.33). 35 Davis, Gender of Activism (wie Anm.32), 211. 36 Silke Helling/Kerstin Wolff (Hrsg.), Historische Frauenorte. Engagement in neuen Räumen. Kassel 2012.

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spruchs. Anders ausgedrückt konnte der Anspruch auf Emanzipation, Gleichberechtigung und Gleichstellung auch im Prozess des Organisierens ausgedrückt werden. 37 “In successfully transforming themselves and simultaneously demanding more of others, these activist women, as women, contributed to reworking notions of politics and to opening/to question the forms and practices of politics.” 38

So demonstrierte der Weiberrat nicht allein auf semantischer Ebene einen geschlechtsspezifischen Anspruch. Mit seiner Organisation wurde auch ein genderorientierter Aktivismus verbunden, der Anstoß gab zu Reflexion und politischem Agieren im Namen des Selbst – ein Identitätsimperativ der späten 1960er Jahre. 39 Organisieren und Organisationsformen der Frauenbewegung waren unmittelbar mit der Reflexion der eigenen Praxis verbunden, so dass Frauen ihren Subjektstatus, und damit das eigene Gewordensein, permanent hinterfragten und zu hinterfragen hatten. Das konnte mitunter zu einem überkritischen Selbstbezug führen, trug aber in erster Linie dazu bei, jenes Subjekt Frau zu konstituieren, mit dem sich schließlich nicht mehr nur die frauenbewegte Aktivistin identifizierte, sondern das den Bezug für Aktivismus und Organisation der Frauenbewegung insgesamt bildete. 40 Diese Form der Identitätspolitik war kein Einzelfall, sondern wurde in fast allen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre entwickelt, um Gruppenrepräsentation zu etablieren. 41 Spätestens in den 1980er Jahren offenbarten sich aber auch die problematischen Seiten eines solchen Repräsentationsgedankens. Denn das Subjekt Frau in Gänze repräsentieren zu wollen, homogenisierte die Masse an Frauen, führte zu erneuten Ausschließungen und Herrschaftsformen und unterfütterte jene Ansprüche, „die die Verschiedenartigkeit feministischer Gruppen ebenso planier[t]en

37

Davis, Gender of Activism (wie Anm.32), 212.

38

Ebd.

39

Dieter Rucht, Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Selbst-

verständnis und gesellschaftlicher Kontext, in: Cordia Baumann/Sebastian Gehrig/Nicolas Büchse (Hrsg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren. Heidelberg 2011, 35–60. 40

Davis, Gender of Acitivism (wie Anm.32), 217.

41

Iris Marion Young, Das politische Gemeinwesen und die Gruppendifferenz. Eine Kritik am Ideal des

universalen Staatsbürgerstatus, in: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hrsg.), Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik. Frankfurt am Main 1993, 267–304, zitiert nach Sauer, Staat, Demokratie und Geschlecht (wie Anm.15), 12.

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wie die repräsentativen Institutionen“. 42 Nicht nur steht eine zeithistorische Analyse von Frauenbewegungen westlicher Länder noch aus, es müsste dieser auch gelingen, die ermächtigenden wie entmachtenden Wirkungen ihrer identitätspolitischen Strategien und die Dominanz weißer, bürgerlicher Frauen zu problematisieren. 43 Aktivistische Organisationsformen – soweit wird deutlich –, die sich nominal über eine Geschlechterzuordnung definieren, neigen zu Homogenisierungen und damit zur Herstellung undifferenzierter und populär wirksamer Geschlechterbilder. Auch NGOs, die vorrangig eine gemeinwohlorientierte Ausrichtung angeben (Umweltschutz, Friedenssicherung etc.), neigen zur homogenisierenden Gruppenrepräsentation, denn das jeweilige Gemeinwohlinteresse rückt in den Vordergrund der Organisationsrepräsentation und ordnet Unterschiede unter, die jenseits des Themas liegen. In bestimmten Zusammenhängen wirken solche Homogenisierungstendenzen unmittelbar und mit zuweilen fatalen Auswirkungen, wie im folgenden Abschnitt anhand der Arbeit humanitärer Organisationen diskutiert wird. 2. Das geschlechtsspezifische Handeln von NGOs In den 1970er Jahren trafen zwei Entwicklungen aufeinander, die den humanitären Sektor stark beeinflussten: Zum einen veränderten und verdichteten sich aus Sicht westlicher Regierungen Spielräume und Bedingungen für außenpolitisches Handeln und zum anderen diffundierte der fundamentale neulinke („68er“-)Diskurs in größere politische Zusammenhänge. 44 Die Ideen von Interdependenz und Solidarität verloren ihren rein wissenschaftlichen oder bewegungspolitischen Kontext und wirkten zunehmend auch in konkretes Regierungshandeln hinein. 45 Fast alle westlichen Industrieländer bauten in dieser Zeit ihre Instrumente und Institutionen

42 Jean L. Cohen, Democracy, Difference, and the Right of Privacy, in: Seyla Benhabib (Ed.), Democracy and Difference. Contesting the Boundaries of the Political. Princeton, N.J. 1996, 187–217, hier 187, zitiert nach Sauer, Staat, Demokratie und Geschlecht (wie Anm.15), 12. 43 In diesem Sinne positionieren sich auch intersektionale Ansätze, vgl. Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference. Princeton, N.J. 2011; Vera Kallenberg/Jennifer Meyer/Johanna M. Müller (Hrsg.), Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Wiesbaden 2013. 44 Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern. Göttingen 2014, 435–440. 45 Alexander Friedrich, Vernetzung als Modell gesellschaftlichen Wandels. Zur Begriffsgeschichte einer historischen Problemkonstellation, in: Ariane Leendertz/Wencke Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren. Frankfurt am Main 2016, 35–62.

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der humanitären Hilfe aus, forcierten Entwicklungshilfeprogramme und wandten Menschenrechtsrhetorik an. 46 Zur gleichen Zeit stieg die Zahl an NGOs, die sich mit der Situation im Globalen Süden, mit Menschenrechten im Besonderen und mit generell auf internationale Solidarität ausgerichteten Zielen befassten. Eine ganze Reihe dieser NGOs wurden direkt oder indirekt von staatlicher Seite bei ihrer Arbeit gefördert. 47 Mithilfe von CoFinanzierung und Programmen der zwischenstaatlichen Organisationen stiegen CARE, Catholic Relief Services, Christian Aid, Oxfam, Save the Children, World Vi-

sion und zahlreiche neuere NGOs zu wichtigen Kooperationspartnern für staatliche Außen- und Entwicklungspolitik auf. 48 Sie positionierten sich in der internationalen Politik u.a. mithilfe spezifischer Kommunikationsstrategien, die auch die freiwillige Spendenbereitschaft in den Zivilgesellschaften der Geberländer erhöhten. 49 Um ihre Unabhängigkeit und die Erfüllung eines normativen Auftrags glaubwürdig zu legitimieren und freiwillige Unterstützung zu mobilisieren, kamen Solidaritätsund Mitleidskampagnen selten ohne emotionalisierende Elemente aus. 50 Auffällig häufig arbeiteten solche Kommunikationsstrategien mit tradierten Geschlechterbildern, die an die Sehgewohnheiten des Globalen Nordens beim Blick auf den Süden anknüpften. 51 Noch in den 1960er Jahren dominierten in den Spendenkampagnen Bilder ausgedörrter Landschaften, hungernder Kinder und verhärmter Frauen, sukzessive abgelöst von Bildern, die dem politischen Ziel „Hilfe zur Selbsthilfe“ entsprachen und auf denen die Hilfeempfänger bei Aktivitäten zu sehen waren. 52 Auch wenn sich der zugewiesene Handlungsspielraum der Abgebildeten vergrößerte, 46

Kevin O’Sullivan, A „Global Nervous System“. The Rise and Rise of European Humanitarian NGOs,

1945–1985, in: Marc Frey/Sönke Kunkel/Corinna R. Unger (Eds.), International Organizations and Development, 1945–1990. Basingstoke u.a. 2014, 196–219, hier 198. 47

„The globalization of political models such as co-financing structures and an emphasis on reaching

‚the poorest of the poor‘ and of the emergency relief effort brough NGOs access to the heart of the global humanitarian sector.“ O’Sullivan, A „Global Nervous System“ (wie Anm.46), 198. 48

Bob Reinalda, Routledge History of International Organizations. From 1815 to the Present Day. New

York 2009, 500f. 49

Sigrid Baringhorst, Politik als Kampagne. Zur medialen Erzeugung von Solidarität. Opladen u.a. 1998;

Luc Boltanski, Distant Suffering. Morality, Media and Politics. Cambridge u.a. 1999. 50

Matthias Kuhnert, Humanitäre Kommunikation. Entwicklung und Emotionen bei britischen NGOs

1945–1990. Berlin 2017. 51

Martina Thiele/Tanja Thomas/ Fabian Virchow (Hrsg.), Medien – Krieg – Geschlecht. Affirmationen und

Irritationen sozialer Ordnungen. Wiesbaden 2010. 52

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Kuhnert, Humanitäre Kommunikation (wie Anm.50), 146.

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sollten die Bilder weiterhin Zuwendung und Mitleid erzeugen und sie vertieften weiterhin auch Geschlechterstereotype, rassistische Urteile und die kulturelle Überlegenheitshaltung westlicher Fortschrittsoptimisten. 53 Wenn etwa über Hungersnöte im Globalen Süden berichtet wurde, arbeitete die Bildsprache mit Zuweisungen der Hilflosigkeit, um beim Sehenden im Globalen Norden ebenso Empathie wie ein Gefühl der Sicherheit zu erzeugen. 54 Abgebildet wurden in der Regel schwache Kinder und apathische Frauen, denen jedes Potenzial für Bedrohung oder Distanzüberwindung fehlte. Über diese Zuweisung verblieben Kinder und Frauen in einer statischen, an den Ort gebundenen Opferrolle, so dass ihnen gefahrlos Mitleid entgegengebracht werden konnte. Dem Sehenden im Globalen Norden wurde zugleich ein wohlbekannter Referenzrahmen geboten 55, in dem ihm die Bilder bestätigten und emotional versicherten, essentialistische Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen hätten universale Gültigkeit. 56 Für die 1990er Jahre liegen mittlerweile Analysen vor, die zeigen, wie humanitäre NGO-Arbeit auf diese Effekte aufsattelte. Die Medienberichte und Dokumentatio-

nen zu den Jugoslawienkriegen zeigten oftmals stark binäre Geschlechterbilder, in denen Männer Gewalt ausübten und Frauen auf ihre Opferschaft reduziert wurden, als Zeuginnen oder Traumatisierte auftraten und ihre essentialistische Weiblichkeit sie zu Trägerinnen einer spezifischen, authentischen Friedensfähigkeit machten. 57

53 Anschauliche Beispiele bieten die Bildkampagnen während der Hungersnot in Äthiopien Mitte der 1980er Jahre und die unterschiedlichen Ansätze der britischen NGOs Christian Aid und War and Want sowie ihr Konflikt mit dem Projekt Band Aid. Kuhnert argumentiert emotionshistorisch und analysiert rassistische Elemente, ohne dies mit spezifischen Genderelement zu kombinieren. Kuhnert, Humanitäre Kommunikation (wie Anm.50), 247–261. 54 Über die Möglichkeit, Machtverhältnisse zu analysieren, die sich aus medialen Opferrollen ableiten, vgl. Lilie Chouliaraki, The Spectatorship of Suffering. London 2011, 4–8, 70–96. 55 Lasse Heerten, A wie Auschwitz, B wie Biafra. Der Bürgerkrieg in Nigeria (1967–1970) und die Universalisierung des Holocaust, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 8 (2011), H. 3, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/3–2011/4516 (20.8.2019). 56 Baringhorst, Politik als Kampagne (wie Anm.49), 287. Vgl. auch Wilhelm Berger/Brigitte Hipfl/Kirstin Mertlitsch/Viktorija Ratković (Hrsg.), Kulturelle Dimensionen von Konflikten. Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnizität. Bielefeld 2010. 57 Marijana Erstić, Slavija Kabić, Britta Künkel (Hrsg.), Opfer – Beute – Boten der Humanisierung? Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg. Bielefeld 2012; Torsten Bewernitz, Konstruktionen für den Krieg? Die Darstellung von „Nation“ und „Geschlecht“ während des Kosovo-Konflikts 1999 in deutschen Printmedien. Münster 2010.

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West- und mitteleuropäische Beobachter fügten dem „barbarischen“ Geschehen zudem stark essentialisierende Deutungen bei, in denen Kriegsgewalt kulturalisiert wurde. 58 Zweifellos gehörten Frauen während der Jugoslawienkriege zur größten Gruppe, der systematisch sexualisierte Gewalt angetan wurde. 59 Diese Tatsache wurde jedoch nicht nur zur Legitimation kriegerischer Gewalt herangezogen 60, sondern sie stabilisierte eine nachhaltige, höchst ambivalente Sicht auf die Geschlechterordnungen während und nach den Kriegen auf dem Balkan. Zudem beeinflussten die im Krieg produzierten Sichtbarkeitsverhältnisse unmittelbar auch die Arbeit von NGOs. Als beispielsweise 1993 das Flüchtlingshilfswerk UNHCR in den Jugoslawienkriegen mit humanitärer Hilfe eingriff, ging es zwar

nach der Maßgabe vor, „[o]ur responsibility, as we see it, is to alleviate the suffering of vulnerable groups“, was aber in der praktischen Arbeit zur Evakuierung von hauptsächlich Frauen, Kindern und älteren Menschen führte. 61 So ungenau die Kategorie der „vulnerable group“ im Prinzip angelegt war, so präzise führte sie dazu, dass Männer zwischen 16 und 60 Jahren nicht nur den größten Teil der Kriegstoten ausmachten, sondern auch den geringsten Teil der Geretteten. Sowohl die gewaltorientierte Zuschreibungskategorie Mann/Täter wurde in den Hilfsmaßnahmen integriert, als auch die genderspezifische Deutung der Kategorie „unschuldige Zivilisten“. Hilfsorganisationen agierten hier jedoch nicht unreflektiert, sondern im Wissen um diesen gender bias. 62 Um jedoch die moralische und politische Legitimation ihrer Anwesenheit vor Ort aufrecht zu erhalten, mussten sie oftmals den „kleinsten

58

Wolfgang Höpken, „Gewaltschock Jugoslawien“ – Perzeptionen und Projektionen in Deutschland und

Frankreich, in: Südosteuropa 61, 2013, 478–497. 59

Selmin Çalişkan, Von Bosnien nach Afghanistan – 14 Jahre Arbeit mit kriegstraumatisierten Frauen

und Mädchen, in: Ansgar Klein/Silke Roth (Hrsg.), NGOs im Spannungsfeld von Krisenprävention und Sicherheitspolitik. Wiesbaden 2007, 286–297. 60

Vgl. zum Afghanistan- und Irakkrieg Andrea Nachtigall, „Embedded Feminism“. Frauen(rechte) als Le-

gitimation für militärische Intervention, in: María Cárdenas Alfonso/Andrea Nachtigall/Johannes Nau/ Wolfram Wette (Hrsg.), Nichts als die Wahrheit? Über die Kreativität der Unwahrheit im Kontext von Krieg und Gewalt. Dossier Nr.72 „Wissenschaft und Frieden“ (2013) 1. Online unter: https://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?dossierID=076#c (19.8.2019). 61

R. Charli Carpenter, „Women and Children First“. Gender, Norms, and Humanitarian Evacuation in

the Balkans 1991–95, in: International Organization 57, 2003, 661–694, hier 662. 62

Inwiefern sich der gender bias noch verschärft hat, zeigt die Wahrnehmung von und der Umgang mit

Geflüchteten im Laufe der letzten Jahre, vgl. Ian Bannon/Maria C. Correia (Eds.), The Other Half of Gender. Washington, DC 2006. Online verfügbar bei der World Bank, http://documents.worldbank.org/curated/en/ 673491468313860266/The-other-half-of-gender (22.1.2019).

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gemeinsamen Nenner“ mit den Gewaltparteien eingehen. Offenkundig fungierte die gegenderte Kategorie „unschuldige Zivilisten“ als eine Währung, um vor Ort überhaupt aktiv sein zu können. Zudem machten das UNHCR und andere Hilfsorganisationen die Erfahrung, dass die internationale Aufmerksamkeit von Politik als auch der Medien über dieselbe Achse hergestellt wurde, denn nur die Vereinheitlichung der Opfer unter dem Siegel „unschuldige Zivilisten“ (codiert als weiblich, kindlich) erzeugte bei den Beobachtern eine moralisch eindeutige Reaktion. 63 Das UNHCR, abhängig von Geldzahlungen seiner Mitglieder, musste sich während sei-

nes Engagements während der Jugoslawienkriege an den Normen und Aufmerksamkeitsökonomien der internationalen Gemeinschaft orientieren. Vor diesem Hintergrund stellte seine Rhetorik von den „hilfsbedürftigen Frauen und Kindern“ sowohl einen Spiegel international gültiger Normensprache dar als auch den Grundstock des UNHCR-Images und Mandates: „This rhetoric also fed back into and reproduced the gender beliefs embedded within the civilian immunity norm.“ 64 Da das Flüchtlingswerk der UN die größte und populärste internationale Institution darstellt, die Unversehrtheit und Immunität von Geflüchteten sicherstellen will, wirken sich die gegenderten Arbeitsweisen, in denen „unschuldige Zivilisten“ häufig mit dem weiblichen Geschlecht gleichgesetzt werden, auch auf die Wahrnehmung der Organisation zurück. Im Übergang von der Gewalt- in die Nach-Gewaltsituation wurden gegenderte Ordnungsvorstellungen schließlich auch durch die Arbeit von völkerrechtlichen Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien tradiert. 65 Seine Einrichtung im November 1994 stand nicht nur für den Versuch, die komplizierte Konfliktlage verbindlich regeln zu können, sondern auch für die Durchsetzung eines eigenen Rechtsstatus für Kriegs- und Gewaltopfer. 66 Die starke normative Verankerung von Opfern in Prozessen der transitional justice ist auch die Folge einer expandierenden rationalistischen Weltkultur, die wiederum über internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen weltweit

63 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten. München 2003. 64 Carpenter, „Women and Children First“ (wie Anm.61), 688. 65 Isabelle Delpla/Xavier Bougarel/Jean-Louis Fournel (Hg.), Investigating Srebrenica. Institutions, Facts, Responsibilities. New York u. Oxford 2012. 66 Thorsten Bonacker, Globale Opferschaft. Zum Charisma des Opfers in Transitional Justice-Prozessen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 19, 2012, 5–36.

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verbreitet wurde. 67 Im Wechselverhältnis aus Menschenrechtsexpansion, wissenschaftlicher Erschließung der Trauma-Kategorie und der Aufwertung von (I)NGOs verdichteten sich die Argumente, dem individuellen Opfer zu seinem Recht zu verhelfen. Im Umkehrschluss hieß dies oft auch: Erst wenn das Opfer gelitten und gesprochen hatte und im Prozess der Wiedergutmachung zu verorten war, konnte von einer Befriedung, oft im Sinne einer „Heilung“ der Situation die Rede sein. 68 Opfer – so viel ist klar – erlangen ihren Status durch geschlechtsspezifische Zuschreibungen, die Teil eines komplexen wissens- und machtpolitischen Zusammenhangs sind. 69 Auch in den jugoslawischen Nachfolgestaaten blieb die starke Gleichsetzung von Opferrolle und Frau bestehen und wurde in die Machtpolitik integriert. Denn über den Friedensprozess hinaus verfestigte sich aufs Neue ein spezifisches und hegemonial wirkendes Frauenbild. Auf der einen Seite wurde trotz der normativ aufgeladenen Gleichsetzung Frau/Opfer die spezifische sexuelle Gewalterfahrung von Frauen politisch und gesellschaftlich marginalisiert. 70 Auf der anderen Seite blieb in den jugoslawischen Nachfolgestaaten Frauen der Zugang zur Macht weitgehend verwehrt. Bisherige Forschungen lassen erkennen, dass nationale wie internationale politische Akteure kaum Problembewusstsein für die Situation äußerten und erst die Arbeit zahlreicher Frauen-NGOs die Gleichstellungspolitik voranbrachte. 71 Auf oberster Entscheidungsebene waren es dann aber wieder nur essentialistische Argumente und traditionelle Geschlechterkonstruktionen, die gleichstellungspolitische Maßnahmen legitimieren konnten. Als etwa Serbien ab 2000 endlich die EU-Richtlinien für die Frauenquote in politischen Ämtern umsetzte, wurde dies nicht vorrangig politisch oder rechtlich begründet, sondern normativ, „to establish a more pacified and cooperative atmosphere in future local representative bodies“. 72

67

Bonacker, Globale Operschaft (wie Anm.66), 8

68

Vgl. etwa am Beispiel der südafrikanischen Wahrheitskommission Svenja Goltermann, Opfer. Die

Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Frankfurt am Main 2017, 220–226. 69

Goltermann begreift „die Figur des Opfers konsequent als das Resultat von historisch veränderbaren

Fremd- und Selbstzuschreibungen, die wiederum auf ein spezifisches Wissen Bezug nehmen“. Goltermann, Opfer (wie Anm.68), 24. 70

Vgl. die ethnographische Studie zu Bosnien-Herzegowina von Elissa Helms, Innocence and Victim-

hood. Gender, Nation, and Women’s Activism in Postwar Bosnia-Herzegovina. Madison, Wisc. 2013. 71

Jagoda Rošul-Gajić, Internationale gleichstellungsspezifische Normen und ihre Umsetzung in Trans-

formationsgesellschaften. Kroatien und Bosnien und Herzegowina. Baden-Baden 2016. 72

Bojan Perovic, Gender-Based Violence in Serbia. Media, Stereotypes, and Celebrities, in: Global Huma-

nities – Studies in Histories, Cultures, and Societies 4, 2016, 85–100, hier 86.

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3. Genderneutrale Expertise-NGOs? Im Unterschied zur essentialistischen Fokussierung auf Frauen in Friedensprozessen etablieren die meisten expertisebasierten NGOs ein betont genderneutrales Bild ihrer Organisation. Bei genauerer Betrachtung wirken jedoch jenseits dieses Postulats starke Geschlechterzuschreibungen, wie das Beispiel der Expertiseorganisation International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) zeigt. 73 1980 von einer Handvoll Harvard-Ärzten in Boston gegründet, sollte die IPPNW als Friedensorganisation den blockübergreifenden Dialog mit gleichrangigen Ärzten in der Sowjetunion suchen, in Szene setzen und somit Politikern als Vorbild dienen. Die eingängige Botschaft der Ärzte „Wir werden euch nicht helfen können!“ unterstrich den Anspruch, als neutrale, medizinische Experten in die politische Debatte um das atomare Wettrüsten eingreifen zu wollen. Wie bei vielen Kooperationen zwischen Ost und West stand auch im Fall der IPPNW der wissenschaftliche Austausch zu Beginn der Annäherung und diese Ebene wurde in der Folge auch aus politischen Gründen in den Mittelpunkt gerückt. 74 Es folgten in den nächsten Jahren zahlreiche nationale Sektionsgründungen, meist durch den Zusammenschluss verschiedener lokaler Ärzteinitiativen. Bald gehörte die IPPNW zu den größten internationalen Nichtregierungsorganisationen der Friedensbewegung. Bis 1985 gründeten sich gut 40 nationale Sektionen, in denen etwa 135000 Ärztinnen und Ärzte aktiv waren. 75 Ein Auswahlkriterium und Alleinstellungsmerkmal der IPPNW war die Tatsache, dass nur Ärztinnen und Ärzte Mitglied der Organisation werden konnten. Diese beruflich-sozial vorgegebene Eigengruppenpräferenz 76 entsprang dem Wunsch nach sozial eindeutiger Identifikation der Organisation innerhalb der Friedensbe-

73 Vgl. Claudia Kemper, Medizin gegen den Kalten Krieg. Ärzte in der anti-atomaren Friedensbewegung der 1980er Jahre. Göttingen 2016. 74 Akira Iriye, Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World. Berkeley, Cal. u.a. 2002, 149f. 75 Lawrence Stephen Wittner, Toward Nuclear Abolition. A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present. (The Struggle against the Bomb 3.) Stanford, Cal. 2003, 228. 76 Die Frage, wie einzelne Akteure innerhalb sozialer Systeme ihren Platz einnehmen, ist zentral für sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Konzepte. U.a. stellte der Sozialpsychologe Henrik Tajfel mithilfe verschiedener Gruppenexperimente fest, wie die soziale Identifikation innerhalb einer Gruppe auch auf ganz willkürlichen Kriterien beruhen kann. Entscheidend für die Präferenz einer Eigengruppe ist die Unterscheidbarkeit von einer „Fremdgruppe“. Henrik Tajfel, Differentiation between Social Groups. Studies in the Social Psychology of Intergroup Relations. New York 1978.

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wegung; darüber hinaus sollte die Mitgliederpolitik die Legitimation der NGO in der politischen Diskussion stärken, entkräftete man damit doch den Vorwurf, eine politisch einseitige Organisation zu sein. Im Gegenteil: da nur Ärztinnen und Ärzte aufgenommen wurden, unterstrich die IPPNW ihren Charakter als unparteiische, rein medizinisch argumentierende Organisation. Performativ zeigte sich der Charakter der Eigengruppe, indem ihre Mitglieder medizinische Fachtermini benutzten, das Prinzip der Diagnose anwandten oder Kongresse ganz nach akademischem Stil organisierten. Die Anerkennung der Ärzteprofession verbindet sich generell mit den Aspekten von Professionalität, Verantwortung und Unabhängigkeit, also mit der Annahme, Ärztinnen und Ärzte agierten unparteiisch, weil sie ausnahmslos dem Umgang mit einer akuten Notsituation verpflichtet sind. Eben dieses professionelle Kapital – im Sinne Bourdieus – nutzten die Ärzte der IPPNW, um sich in einem hochpolitischen Feld bewegen zu können. Ihr Argument für eine atomare Abrüstung bezog sich immer auf einen medizinischen Notfall, den es zu vermeiden gelte, weil die Medizin im Falle eines Atomschlages machtlos sei. Unterhalb dieser neutralisierenden, den Egalitätsmythos bestärkenden Oberfläche, formten sich zugleich Ordnungsmuster aus, die spezifische Vorstellungen von Gender transportierten. 77 Denn die Eigengruppenpräferenz wirkte in zwei Richtungen: Die IPPNW-Mitglieder wurden nicht nur nach beruflicher Ähnlichkeit zugelassen und ähnelten sich nach Herkunft, sondern die Mitgliedschaft homogenisierte auch die NGO, da die „Angehörigen der dominierenden Gruppe [der männlichen Ärzteschaft, CK] genau jene Merkmale als Gemeinsamkeit hervorstrichen, die sie von Außenstehenden unterschieden“. 78 Die sozialpsychologischen Mechanismen der Eigengruppenpräferenz ließen sich also nicht auf nur eine Dimension – die medizinische Profession – beschränken. Vielmehr reproduzierte die IPPNW sowohl die Eigengruppe der Ärzteschaft als auch weitere Differenzierungen innerhalb der Ärzteschaft, wie zum Beispiel deren Geschlechterordnung. 79

77

Maria Funder/Florian May, Neo-Institutionalismus: Geschlechtergleichheit als Egalitätsmythos? In:

Maria Funder (Hrsg.), Gender Cage – Revisited. Handbuch zur Organisations- und Geschlechterforschung. Baden-Baden 2014, 195–224. 78

Johanne Hofbauer, Soziale Homogenität und kulturelle Hegemonie. Ausschließung und Organisation

aus Bourdieuscher Perspektive, in: Feministische Studien 28, 2010, 25–39, 29. 79

Maria Funder, Einführung. Neo-Institutionalismus und Geschlechterforschung – Reflexionen über

Schnittstellen, theoretische Konzepte und empirische Befunde, in: Funder (Hrsg.), Neo-Institutionalismus (wie Anm.14), 9–31, hier 13f. Bezüglich der sozialen Ausschließungsmechanismen hegemonialer Männ-

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Das quantitative Verhältnis zwischen Männern und Frauen innerhalb der IPPNW spiegelte in etwa die Realitäten der ärztlichen Branche wider. Zu Beginn der 1980er lag der Anteil der Frauen in der westdeutschen Ärzteschaft bei 25%, in den leitenden Positionen war die Quote erheblich geringer. 80 In dieser Verhältnismäßigkeit setzten sich auch die Gremien der IPPNW (nationale Vorstände, Konferenz-Vorbereitungs-Kommissionen, international boards etc.) zusammen. In der westdeutschen Sektion wurde 1984 die erste Frau in den Vorstand gewählt; der in der Regel elf Personen umfassende Beirat war kontinuierlich zu einem Drittel mit Frauen besetzt. Die Verhältnismäßigkeit der Geschlechter innerhalb der Organisation galt bei allen Beteiligten als wenig kritikwürdig; zumindest thematisierten weder Frauen noch Männer in den ersten Jahren des Bestehens der westdeutschen Sektion der IPPNW die offenkundig ungleiche Gewichtung. Dazu mag der Umstand beigetragen

haben, dass Frauen in der Regel nicht marginalisiert, sondern mit dem Verweis auf ein spezifisches Ärztebild neutralisiert wurden. Im Vordergrund der meisten Debatten stand der Arzt als Funktionsträger, der mit fachlicher Reputation für die Glaubwürdigkeit der Friedenskampagnen bürgte. Frauenpolitische Vorstöße, wie etwa der Antrag auf Einrichtung einer eigenen Ärztinnen-Gruppe innerhalb der westdeutschen Sektion der IPPNW, wurden schon frühzeitig abgelehnt. 81 Ein Antrag drei Jahre später auf Namensänderung der Organisation in „Ärztinnen und Ärzte gegen den Atomkrieg“ stieß auf wenig Resonanz. 82 Weibliche Beiratsmitglieder lehnten die Namensänderung sogar dezidiert ab, weil der falsche Eindruck entstehen könne, in der IPPNW seien gleich viele Frauen wie Männer aktiv. Desillusioniert, aber lichkeit verweist Funder auf Raewyn Connell, Gender, Men and Masculinities, in: Eleonora Barbieri-Masini (Ed.), Quality of Human Resources. Gender and Indigenous Peoples (1). Paris 2009, 140–155. 80 1984 berichtete das Ärzteblatt in leicht alarmistischem Ton: „Weibliche Hochschulabsolventen drängen immer stärker in die Heilberufe, so das Bayerische Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung in einer Mitteilung. 1983 wurden in Bayern 40,6 Prozent mehr Ärztinnen als im Vorjahr approbiert, dagegen aber nur 7,7 Prozent mehr männliche Kollegen.“ Damit gab es 1983 in Bayern 631 Ärztinnen und 1182 Ärzte. Vgl. Deutsches Ärzteblatt A, 82 (27.3.1985) 13, 900. Bis 1995 war der Anteil bundesweit auf 35,5% Prozent 2009 auf gut 42 Prozent gestiegen. Vgl. Erhebung Altersstruktur- und Arztzahlentwicklung: Daten, Fakten, Trends durch Bundesärztekammer 2010, veröffentlicht auf statista, online unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/191835/umfrage/anteil-der-aerztinnen-an-den-berufstaetigen-aerztinnenund-aerzten/ (8.1.2019). 81 Warum es jetzt eine eigene Fraueninitiative in der IPPNW und den Ärzteinitiativen geben soll, in: IPPNW Rundbrief 8, Dezember 1983, 21.

82 Birgit Völker an IPPNW, Sektion Bundesrepublik, 18.11.1985, in: FZH Bestand IPPNW Sektion Bundesrepublik, Altsignatur FZH 16–3A/2.1.7.

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kämpferisch wurde der Vorwurf erhoben, dass für öffentliche Auftritte immer nur „nach einem Mann mit Namen“ geschrien würde, auch wenn qualifizierte Frauen zur Verfügung stünden: „Das, meine lieben Freunde, geht nicht nur unter die Haut. Das tut verdammt weh!“ 83 In der IPPNW fand zwar ein aktivistischer und basisdemokratisch orientierter Anteil der westdeutschen Ärzteschaft zusammen, womit jedoch nicht verhindert wurde, dass zugleich die geschlechtsspezifische Ungleichheit der deutschen Ärzteschaft auch in die NGO einsickerte. Während Ärztinnen als soziale Gruppe keine besondere Aufmerksamkeit erfuhren, wurde sie einzelnen Frauen innerhalb der NGO umso mehr zuteil. Stach eine Frau auf besondere Weise hervor, konnte es passieren, dass sie nicht als Ausweis einer emanzipatorischen Tendenz, sondern als Abweichungen von einer stabilen Geschlechterordnung gesehen und eingeordnet wurden. Das galt nicht nur für die IPPNW, sondern für weite Teile der sozialen Bewegungen.

Helen Caldicott, langjährige Präsidentin der US-amerikanischen Sektion der IPPNW und Pionierin des anti-atomaren Ärzteprotests in Europa, plante 1985 eine

Europareise. Die westdeutschen Ärzte der IPPNW zeigten sich wenig begeistert über diese Aussicht. Ihnen behagten weder die avisierten Inhalte der Caldicott-Tour (u.a. ein Treffen mit deutschen Politikern), noch entsprach die Art und Weise der Vorbereitungen den diplomatisch gesetzten Regeln innerhalb der Organisation. Gerade im Kontakt mit Politikern oder auf öffentlichen Veranstaltungen hatte man sich auf einen besonnenen und sachorientierten Stil geeinigt. Die Kritik am forschen Auftreten Caldicotts war nicht ganz falsch, aber die Deutung ihrer Person gab vor allem Aufschluss über das unter den IPPNW-Ärzten implizit vereinbarte Arzt- und Expertenbild. Caldicotts Vorhaben, so hieß es im Vorstand der westdeutschen IPPNW, sei überdimensioniert und sie selbst „zu emotional und fast etwas manisch“, um der Sache einen Dienst erweisen zu können. 84 Helen Caldicott gehörte zu Beginn der 1980er Jahre zu den furiosen, sogar fundamentalistischen AkteurInnen der Anti-AKWBewegung, eine Einschätzung, die aber ausschließlich von ihren männlichen Zeitgenossen überliefert und immer wieder angeführt – tradiert – wurde. Es fällt auf, dass Caldicott wie andere herausragende weibliche Persönlichkeiten

83

Erika Gocht-Weigmann an Vorstand und Beirat, 18.4.1986, in: FZH Bestand IPPNW Sektion Bundesre-

publik, Altsignatur FZH 16–3A/2.1.7. 84

Ulrich Gottstein an Vorstand und Beirat, 6.5.1985, in: FZH Bestand IPPNW Sektion Bundesrepublik,

Altsignatur FZH 16–3A/2.1.6.

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in den sozialen Bewegungen eine exponierte Stellung einnahm. Ähnlich wie die Heroin der grünen Bewegung Petra Kelly, oder die Initiatorin der FREEZE-Bewegung, Randall Forsberg, trat Caldicott im Wortsinn immer allein „on stage“ auf. 85 Ob bei Reden oder in der visuellen Inszenierung von Büchern und Filmen mit ihr: Die Person Caldicott erscheint meistens in einer für die Friedensbewegung ungewöhnlichen Singularität. Die singuläre Frau spiegelte den Umstand, dass verhältnismäßig wenige Frauen an prominenten Positionen der Friedensbewegung agierten, und wenn, dann nur über einen begrenzten Zeitraum und in der Regel, ohne über eine feste Anhängerschaft zu verfügen, die sie über den Erfolg hinaus tragen konnte. Die prominenten Frauen Caldicott, Kelly und Forsberg galten als charismatisch und eloquent 86, aber auch, so die Überlieferung, als schwierig bis hin zu hysterisch, eben: anders. 87 Im Kern ging es bei den Auseinandersetzungen der IPPNW, wie und mit welchen Mitteln weibliche Prominente als Teil der Organisation aufzutreten hätten, damit auch ein angemessenes Arztbild als Verkörperung eines rationalen, neutralen und am Allgemeinwohl orientierten Selbstverständnisses vermittelt wurde. Die IPPNW knüpfte damit an ein traditionelles Arztbild an, aber konturierte es im Sinne eines zeitgemäßen Expertentums. Das konnte funktionieren, weil seit den 1970er Jahren auch in der deutschen Ärzteschaft progressive Kräfte sichtbar wurden 88 und zudem die alternative Expertenkultur der Neuen Sozialen Bewegungen genutzt werden konnte. Auf dieser Basis brachte die IPPNW „Physicians on Stage“, die moralisch integer und sachlich im Auftreten waren, weiß-bekittelt und auf Augenhöhe sich gemeinsam den „Patienten“ zuwandten. Der IPPNW-Arzt knüpfte an einen bürger-

85 Stephen Hilgartner, Science on Stage. Expert Advice as Public Drama. Stanford, Cal. 2000. 86 Auffallend oft wird weiblichen Führungsfiguren auch die Fähigkeit der Grenzüberschreitung zugeschrieben, mit der sie unterschiedliche Gruppen und Kulturen miteinander verbinden können. Kelly nutzte ihre Erfahrungen und Kontakte in den USA für die grüne Bewegung in der Bundesrepublik. Vgl. zu Forsberg und Caldicott Benjamin Redekop, „Physicians to a dying planet“. Helen Caldicott, Randall Forsberg, and the Anti-Nuclear Weapons Movement of the Early 1980s, in: The Leadership Quarterly 21, 2010, 278–291. 87 Zur Nachhaltigkeit des Anders-Seins von weiblichen Führungskräften vgl. Annette Knaut/Julia Heidler (Hrsg.), Spitzenfrauen. Zur Relevanz von Geschlecht in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Sport. Wiesbaden 2017. 88 Thomas Gerst, Neuaufbau und Konsolidierung. Ärztliche Selbstverwaltung und Interessenvertretung in den drei Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1995, in: Robert Jütte (Hrsg.), Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20.Jahrhundert. Köln 1997, 195–242, hier 239ff.

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lichen Professionshabitus an und grenzte sich als Aktivist zugleich von ihm ab. Mit diesem doppelten Verweis figurierte der IPPNW-Arzt nicht als Halb-Gott in Weiß, der irgendeine Heilung versprach, sondern als rationaler, dialogfähiger Humanist. 89 Die habituelle Zurückweisung einer tradierten Männlichkeit – als Halb-Gott oder patriarchaler Standesvertreter erkennbar –, bedeutete jedoch keineswegs, die Herstellung einer geschlechtsneutralen ärztlichen Figur. Abgesehen davon, dass innerhalb der IPPNW keine egalitäre Geschlechterordnung herrschte, verschoben sich in dem Arztbild, das die Organisation im Ganzen repräsentieren sollte, lediglich die Parameter hegemonialer Männlichkeit. Damit vollzog die IPPNW der 1980er Jahre eine ähnliche Entwicklung wie sie in vielen bewegungsorientierten Zusammenhängen zu beobachten war: Die Infragestellung herkömmlicher Frauen- und Männerbilder gehörte zum Selbstverständnis und veränderte die Rollenbilder, aber nicht unbedingt die wirkungsmächtigen Hegemonien. 90 Der IPPNW-Arzt baute auf das überlieferte und männlich konnotierte Rationalitätsprinzip in Naturwissenschaft und Medizin auf 91 und integrierte zugleich das Primat der Dialogfähigkeit und Allgemeinwohlorientierung. So war das Geschlecht der IPPNW zwar hierarchiekritisch, alternativ und deutlich anders als in standesorientierten Ärzteorganisationen angelegt, aber insgesamt blieb es ein männliches.

89

Über die Verbindung zwischen Attributen der Professionalisierung und Männlichkeitsbildern vgl.

Celia Davies, The Sociology of Professions and the Profession of Gender, in: Sociology: The Journal of the British Sociological Association 30, 1996, 661–678. 90

Über das Phänomen im linksalternativen Milieu vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft.

Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Berlin 2014, 699–717. 91

„Nicht nur der Neo-Institutionalismus auch die Gendered Organization Forschung setzt sich mit vor-

herrschenden Rationalitätsvorstellungen kritisch auseinander und versucht, hinter die Fassaden der scheinbar geschlechtsneutralen, sachlichen und emotionslosen, a-sexuellen bürokratischen Organisation zu blicken. Aus ihrer Sicht weisen Organisationen nicht nur vergeschlechtlichte Substrukturen auf, sondern sie kommt auch zu dem Schluss, dass Rationalität ebenfalls vergeschlechtlicht ist, denn Rationalität wird bis heute vielfach mit Männlichkeit in Verbindung gebracht, während Emotionalität in erster Linie weiblich konnotiert ist.“ Funder, Einführung (wie Anm.79), 17. Auch aus Sicht der Männlichkeitsforschung kennzeichnet Technik- und Naturwissenschaft, die in der Regel staatsnah organisiert ist, eine hegemoniale Männlichkeit, vgl. Peter Döge, Technik, Männlichkeit und Politik. Zum verborgenen Geschlecht staatlicher Forschungs- und Technologiepolitik, in: Michael Meuser/Peter Döge (Hrsg.), Männlichkeit und soziale Ordnung. Neuere Beiträge zur Geschlechterforschung. Opladen 2001, 123–139.

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III. Wie werden Organisation und Geschlecht? Zeitgeschichte und Historiographie brauchen die integrale Perspektive von Geschlechter- und Organisationsforschung. Drei sehr unterschiedliche Beispiele, in denen gleichermaßen unterschiedliche Formen von NGOs im Mittelpunkt standen, zeigen, wie Ordnungen des Organisierens und Ordnungen der Geschlechterzuschreibungen zusammengeführt und dekonstruiert werden können. Ausgehend von Organisationen als Praxisformen mit hoher Rationalitätszuschreibung lässt sich in NGOs eindrücklich nachvollziehen, wie sich Grenzen und Übergänge zwischen Staatlichkeit und Zivilgesellschaft auf verschiedenen Ebenen verschieben und somit ein vermeintliches Außen und Innen von Organisationen obsolet wird. Nicht zuletzt die enge finanzielle und normative Verzahnung staatlicher Institutionen und NGOs wirft Fragen auf, mit welchen Ressourcen und Verweisen letztere ihre Legitimation als politische Akteure herstellen können. NGOs stellen organisatorische Hotspots populärer Geschlechterordnungen und ihrer Infragestellung dar. Denn die für NGOs überlebenswichtige Sichtbarkeit in der politischen Debatte produziert Homogenisierungseffekte, denen unterschiedliche geschlechtsspezifische Ungleichheitspraktiken vorangehen. Ohne die Inhalte und Ziele von NGOs zu diskreditieren, sollte deutlich werden, wie NGOs durch ihre Aktionen und ihre Strukturen Geschlechterungleichheiten (re-)produzieren und popularisieren. Sie können Teil einer innerorganisationalen gezielten Strategie sein oder einer normativ übergreifenden binären Geschlechterordnung, oder sie bilden außerorganisationale Strukturen ab, die durch die Mitglieder auch in die Organisation gelangen. Von genderneutralen Organisationen kann jedenfalls keine Rede sein. Neben den Befunden lässt sich auch die These formulieren, dass Organisationsnarrative aus geschlechterhistorischer Perspektive in der Regel eine dreifache weibliche Figuration bereithalten: Da ist zum einen die Frau als Anhang-von, deren weitere Kompetenzen im Unklaren bleiben; dann begegnet uns die kümmernde Frau, die in der Organisationsgeschichte nach der Phase des zupackenden Anfangs zum Zuge kommt, wenn endlich aufgeräumt und professionalisiert werden muss; und drittens gibt es die singuläre Frau, die prominent auftritt und selten ohne die Zuschreibung ihrer Andersartigkeit auskommt. 92 Diese Beobachtungen sind zu vertie-

92 Auch eine Inspiration bei Kate Manne, Down Girl. Die Logik der Misogynie. Berlin 2019.

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fen, intersektional und mit gleichberechtigtem Blick auf Männlichkeitskonstruktionen. Für den Moment kann festgehalten werden, dass die Popularisierung von Geschlecht in und durch Organisationen nicht nur historisch, sondern auch historiographisch erkenn- und analysierbar ist. Damit stellt der irritierende gender bias der Organisationsgeschichte eine Variante der Nicht-Einheit von Geschichte 93 dar und somit – fast ließe sich sagen: lediglich – eine weitere Herausforderung der Geschlechtergeschichte.

93

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Hausen, Nicht-Einheit (wie Anm.19).

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„Mit zwölf Jahren konnte sie noch kein Hemd bügeln.“ Zur erneuten Popularisierung von Geschlechterwissen in der humangenetischen Beratung der 1970er und 1980er Jahre von Britta-Marie Schenk

Genetische Beratung soll laut einer Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission von 2011 einem Individuum oder einer Familie helfen, „medizinisch-genetische Fakten zu verstehen und ihre Relevanz für das weitere Leben einordnen zu können […], selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und individuell angemessene Verhaltensweisen zu wählen“. 1

Diese Richtlinie stellt das vorläufige Ergebnis einer seit Jahrzehnten geführten medizinethischen Diskussion um die genetische Beratung dar, in der die Autonomie der Klientinnen und Klienten immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. 2 Doch bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass Humangenetikerinnen und Humangenetiker den Ratsuchenden weiterhin in einem Top-down-Prozess medizinisch-genetisches Wissen vermitteln sollen, das erst nach der Wissensvermittlung selbstbestimmte Entscheidungen ermöglicht. Die in dieser Definition angelegte Wissenspopularisierung geht also der autarken Entscheidungsfindung der Ratsuchenden voran. 3 Ich hingegen vertrete in diesem Beitrag die These, dass in den 1970er und 1980er Jahren

1 Gendiagnostik-Kommission (GEKO), Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission (GEKO) über die Anforderungen an die Qualifikation zur und die Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Abs. 2 Nr.2a und § 23 Abs. 2 Nr.3 GenDG. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 54, 2011, 1248– 1256. 2 Vgl. Dieter Birnbacher, Patientenautonomie und ärztliche Ethik am Beispiel der prädiktiven Diagnostik, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2, 1997, 114–115. 3 Ich orientiere mich bei dem Begriff „Wissenspopularisierung“ an der weiten Definition von Carsten Kretschmann, der Popularisierung trotz eines vorhandenen Wissensgefälles nicht als einseitige Wissensvermittlung von Expertinnen und Experten an Laien begreift. Kretschmann sieht in der Wissenspopularisierung einen „kommunikativen Prozess“, in dem die beteiligten Akteure neues wissenschaftliches Wissen konstruieren oder vorhandenes veränderten. Carsten Kretschmann, Einleitung. Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld, in: Ders. (Hrsg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin 2003, 7–21, hier 14f., 21.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-011

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Ratsuchende an dem Prozess der Wissensbildung und -vermittlung beteiligt waren. Ausgehend von der Beobachtung, dass Geschlechtervorstellungen eine zentrale Rolle in der genetischen Beratung spielten 4, frage ich danach, wie essentialistische Geschlechtervorstellungen in dieser wechselseitigen Interaktion zwischen humangenetischen Expertinnen und Experten und Ratsuchenden aufgegriffen und gefestigt wurden. Dafür ist es zunächst wichtig zu wissen, welche Tätigkeitsfelder die genetische Beratung in den 1970er und 1980er Jahren besetzte und welchen Stellenwert dieser Einrichtung von der zeitgenössischen Gesellschaft beigemessen wurde.

I. Humangenetische Beratung als historisches Phänomen und Untersuchungsgegenstand Seit den 1960er Jahren bestimmten Humangenetikerinnen und Humangenetiker in der genetischen Beratung mit Stammbaumaufstellungen und Chromosomenanalysen die Disposition für als vererbbar geltende Krankheiten. Mitte der 1970er Jahre kam als weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld die Pränataldiagnostik hinzu. Genetische Beratungsstellen stellten zudem eine Anlaufstelle für Eltern dar, die bereits ein Kind mit Behinderungen hatten und wissen wollten, ob die Behinderung ihres Kindes vererbbar sei. 5 In einigen Fällen ging es dabei um Kinder mit Trisomie 21, auch unter der Bezeichnung „Down-Syndrom“ bekannt. In anderen Fällen hatten zuvor konsultierte Kinderärzte aufgrund von Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten eine geistige Behinderung diagnostiziert oder vermutet, deren Ursachen jedoch ungeklärt waren. Diagnosestellung und Ursachenerklärung geistiger Behinderungen gehörten also gleichfalls zu den Tätigkeitsfeldern humangenetischer Be4 Das veranschaulichte bereits in den 1990er Jahren: Jennifer Hartog, Paare in der genetischen Beratung, in: Susanne Günthner/Helga Kotthoff (Hrsg.), Die Geschlechter im Gespräch. Kommunikation in Institutionen. Stuttgart 1992, 177–199. 5 Der Terminus „Menschen mit Behinderungen“ ist das vorläufige Ergebnis der Debatte über eine adäquate, nicht-diskriminierende Begrifflichkeit. Er soll ausdrücken, dass „behindert sein“ eine gesellschaftlich bedingte Zuschreibung ist. Unproblematisch ist der Begriff jedoch nicht, denn er löst die Dichotomie von Anderssein und Normalsein nicht auf. Nach wie vor beinhaltet er, dass es einerseits „Menschen“ und andererseits „Menschen mit Behinderungen“ gibt. Um das zu untersuchende Phänomen begrifflich fassen zu können sowie für die bessere Lesbarkeit wird im Folgenden neben dem Begriff „Menschen mit Behinderungen“ bzw. „Kinder mit Behinderungen“ auch von „behinderten Menschen“ respektive „behinderten Kindern“ die Rede sein.

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ratungen. Weniger bekannt ist, dass in der genetischen Beratung in den 1970er und 1980er Jahren auch Sterilisationsempfehlungen vergeben wurden. Diese Empfehlungen betrafen vorwiegend Mädchen und Frauen, denen eine geistige Behinderung attestiert worden war. 6 Die humangenetische Beratung etablierte sich in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren. 7 Humangenetikerinnen und Humangenetiker setzten sich aufgrund neuer technischer Möglichkeiten ebenso für genetische Beratungsstellen ein wie Eltern, die humangenetisches Wissen nachfragten. 8 Die Bundesregierung unterstützte diesen Prozess, indem sie Modellprojekte finanzierte und dafür sorgte, dass die Kosten für die Inanspruchnahme genetischer Beratung ab 1974 von den Krankenkassen übernommen wurden. 9 Dieses Engagement von Akteuren aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zeigt, dass es sich bei der genetischen Beratung um eine Institution an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft handelte. Dennoch ging die sozialwissenschaftliche Forschung lange ausschließlich von einem Top-down-Prozess aus, in dem Humangenetikerinnen und Humangenetiker den Ratsuchenden Expertenwissen über die Risikowahrscheinlichkeit von vererbbaren Krankheiten vermittelten. 10 Dafür sprechen sowohl lange anhaltende eugeni-

6 Vgl. am Hamburger Beispiel: Britta-Marie Schenk, Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1990er Jahre). Frankfurt am Mainu. New York 2016, 215. 7 Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern und den USA institutionalisierte sich die genetische Beratung in der Bundesrepublik spät. Vgl. Anne Cottebrune, Eugenische Konzepte in der westdeutschen Humangenetik, 1945–1980, in: Journal of Modern European History (Themenheft: Eugenics after 1945) 10, 2012, 500–518, hier 513. 8 In Hamburg setzte sich Helmut Ollmetzer, Vater eines Kindes mit Trisomie 21, für die Einrichtung einer Chromosomenberatungsstelle unter der Ägide der Gesundheitsbehörde ein. Registratur der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (Reg. Ges.), 561/02.32, Helmut Ollmetzer an Senator Joachim Seeler vom 25.4.1966, 1. Auch die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“, die größte Organisation für Menschen mit geistigen Behinderungen in der Bundesrepublik, drang in Hamburg auf die Einrichtung einer solchen Stelle: Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 361–5III/856, Denkschrift der Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind, Landesverband Hamburg e.V. an Werner Drexelius vom 3.3.1967, Bl. 23, 3. 9 1972 bewilligte das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit Mittel, um zwei genetische Beratungsstellen einzurichten, eine in Frankfurt am Main und eine in Marburg. Vgl. Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Genetische Beratung. Ein Modellversuch der Bundesregierung in Frankfurt und Marburg. Bonn-Bad Godesberg 1979, 7. Zur Kostenübernahme der Krankenkassen vgl. Udo Sierck/Nati Radtke, Die WohlTäter-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Humangenetischen Beratung. Erw. Neuaufl. Hamburg 1984, 31. 10 Vgl. Anne Waldschmidt, Das Subjekt in der Humangenetik. Expertendiskurse zu Programmatik und

B .- M . SCHENK , „ MIT ZWÖLF JAHREN KONNTE SIE NOCH KEIN HEMD BÜGELN.“

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sche Kontinuitäten als auch der direktive Beratungsstil, der im Untersuchungszeitraum vorherrschte. 11 Direktive Beratung setzt eine paternalistische Beziehung zwischen Ratsuchenden und Beratenden voraus und bedeutet, dass die Klientinnen und Klienten einen Rat erhielten, der auf den Norm- und Wertvorstellungen der beratenden Humangenetikerinnen und Humangenetiker beruhte sowie eine paternalistische Beziehung zwischen Ratsuchenden und Beratenden voraussetzte. 12 Inspiriert durch die kulturwissenschaftliche Wissenschaftsforschung, mehrten sich in den letzten Jahren allerdings die Stimmen derjenigen, die auch humangenetisches Wissen als relationale, interdependente und historisch volatile Größe untersuchten. 13 Dass in einer solchen Beratung „genetisch-statistisches Fachwissen“ auf „alltagsgebundenes, umgangssprachlich faßbares Wissen“ traf, wenn Klientinnen sich dort beispielsweise über das Risiko informierten, an Krebs zu erkranken, arbeitete bereits Silja Samerski heraus. 14 Nach Samerski kommt es deshalb in der genetischen Beratung zu einer „epistemischen Vermischung“ von Alltags- und Expertenwissen, das Missverständnisse auslöse. Dabei setzt sie allerdings voraus, das Expertenwissen existiere bereits ohne Zutun der Klientinnen und werde ihnen dann in einem Topdown-Prozess vermittelt, die „Vermischung“ finde also im Nachhinein statt. Ich hingegen möchte argumentieren, dass es sich stärker um ein interdependentes Verhältnis zwischen Experten und Ratsuchenden handelte, da auch das Expertenwissen selbst von den Ratsuchenden beeinflusst und mitkonstituiert wurde.

Konzeption humangenetischer Beratung 1945–1990. Münster 1996; Daphne Hahn, Modernisierung und Biopolitik. Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945. Frankfurt am Main 2000. 11 Eugenische Kontinuitäten bis in die 1970er Jahre hinein betont: Anne Cottebrune, Von der eugenischen Familienberatung zur genetischen Poliklinik. Vorgeschichte und Ausbau der Heidelberger humangenetischen Beratungsstelle, in: Anne Cottebrune/Wolfgang Eckart (Hrsg.), Das Heidelberger Institut für Humangenetik. Vorgeschichte und Ausbau (1962–2012). Festschrift zum 50jährigen Jubiläum. Heidelberg 2012, 170–206. 12

Vgl. Dorothea Gadzicki, Der Stand des genetisch Möglichen und die Rolle der genetischen Beratung –

jetzt und in Zukunft, in: Thorsten Moos/Jörg Niewöhner/Klaus Tanner (Hrsg.), Genetisches Wissen. Formation und Übersetzungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. St. Ingbert 2011, 47–68, hier 62. 13

Vgl. etwa Dirk Thomaschke, In der Gesellschaft der Gene. Räume und Subjekte der Humangenetik in

Deutschland und Dänemark, 1950–1990. Bielefeld 2014; Pascal Germann, Laboratorien der Vererbung. Rassenforschung und Humangenetik in der Schweiz, 1900–1970. Göttingen 2016. 14

Silja Samerski, Epistemische Vermischung. Zur Gleichsetzung von Person und Risikoprofil in der ge-

netischen Beratung, in: Katharina Liebsch/Ulrike Manz (Hrsg.), Leben mit den Lebenswissenschaften. Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? Bielefeld 2010, 153–168, hier 153.

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Ich problematisiere also am Beispiel der Hamburger „Humangenetischen Untersuchungsstelle der Gesundheitsbehörde Hamburg im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek“, die einen Schwerpunkt auf die Beratung von Eltern legte 15, deren Kindern eine geistige Behinderung attestiert wurde, dass es sich bei dieser Beratung um einen reinen Top-down-Prozess der Wissensvermittlung handelte. Denn die Eltern waren an der Diagnosefindung sowie an den Sterilisationsempfehlungen beteiligt: zum einen, indem sie umfängliche Informationen über die Entwicklungsgeschichte ihrer Kinder für die humangenetischen Gutachten zur Verfügung stellten. Zum anderen traten die Eltern häufig selbst mit dem Wunsch an die leitende Humangenetikerin Marianne Stoeckenius heran, ihre Töchter sterilisieren zu lassen. Beide zur Untersuchung stehenden Praktiken – die Diagnosefindung und die Sterilisationsempfehlung – beruhten auf essentialistischen Geschlechtervorstellungen, die bereits in der Mehrheitsgesellschaft populär waren, von der Humangenetikerin sowie den Eltern in die Beratungsstelle hineingetragen, dort mit genetischem Wissen verbunden und mit z.T. schwerwiegenden Konsequenzen für die Betroffenen erneut popularisiert wurden – so meine These. Essentialistische Geschlechtervorstellungen formten damit also humangenetisches Wissen, indem Alltagswissen in genetische Praktiken und in genetisch-medizinisches Wissen einfloss. Um welche essentialistischen Geschlechtervorstellungen es sich genau handelte, inwiefern und weshalb sie humangenetisches Wissen ergänzten, entsprechenden Praktiken ein Fundament lieferten und dadurch erneut popularisiert wurden, danach fragt dieser Beitrag. Dafür stütze ich mich auf bisher unzugängliche Patientenakten der Hamburger Humangenetischen Beratungsstelle im AK Barmbek, die Gutachten der Humangenetikerin Marianne Stoeckenius enthalten sowie ihre Korrespondenz, die sie mit Kolleginnen und Kollegen und den betroffenen Eltern führte. 16 Im Anschluss an die neuere medizinhistorische Forschung werden Gutachten in diesem Beitrag nicht als „Wahrheitspostulate“ von Expertinnen und Experten aufgefasst. Vielmehr wird auf

15 Elternberatung nahm in den 1970er Jahren in der genetischen Beratung auch über das Hamburger Fallbeispiel hinaus einen immer größeren Stellenwert ein und verdrängte die reine Chromosomenanalyse zusehends. Schenk, Behinderung (wie Anm.6), 184. 16 Die Quellen waren Teil eines unverzeichneten Aktenbestandes der Gesundheitsbehörde Hamburg, den ich für meine Dissertation (Schenk, Behinderung (wie Anm.6)) erstmals auswerten konnte. Mittlerweile hat das Staatsarchiv Hamburg die Akten übernommen. Da die Akten dort aber noch nicht zugänglich sind, werden die Quellen aus diesem Bestand im Folgenden ohne Archivangabe zitiert.

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der einen Seite an die schon ältere Forschungsthese angeknüpft, nach der Gutachten immer auch Machtverhältnisse ausdrücken, die soziale Ungleichheiten legitimieren. Während sich in den genetischen Gutachten ein stark asymmetrisch strukturiertes Machtverhältnis zwischen Gutachterin und Beschriebenen zeigt 17, ist die Beziehung zwischen Gutachterin und den Eltern der Beschriebenen weniger linear und steht von daher im Mittelpunkt des Beitrags. Auf der anderen Seite bietet sich für genetische Gutachten eine praxeologische Perspektive an, wie sie Alexa Geisthövel und Volker Hess vorschlagen. 18 Aus dieser Sicht transportieren Gutachten ein Wissen, das Handlungen ermöglicht und begründet. 19 Um ein solches Wissen handelt es sich in den genetischen Gutachten des Hamburger Beispiels, denn die Diagnose einer geistigen Behinderung, wie sie die Humangenetikerin vornahm, regte ebenso zu weiteren Handlungen an wie die Sterilisationsempfehlung. Der nächste Abschnitt des Aufsatzes widmet sich daher der Diagnosestellung geistiger Behinderungen, den dafür wichtigen geschlechtsspezifischen Entwicklungsnormen und der Rolle der Eltern bei der Diagnosefindung. Dabei ist auch zu fragen, warum die Eltern überhaupt bereit waren, sowohl ihre eigene Krankengeschichte als auch die Entwicklung ihres Kindes der Humangenetikerin detailliert dazulegen. Dies erfordert eine gesellschaftliche Einbettung der Motive der Eltern, die sich meist erst nach einer langen Odyssee von Arztbesuchen bei der Humangenetikerin einfanden. Im dritten Abschnitt geht es um die in der genetischen Beratung vergebenen Sterilisationsempfehlungen, die ich als Reaktion auf die in den 1970er und 1980er Jahren zunehmende sexuelle Liberalisierung auch für behinderte Menschen interpretiere. Warum aber wurde die Sterilisation gerade bei Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen in der genetischen Beratung empfohlen, nicht jedoch bei Jungen und Männern mit der gleichen Diagnose? Dies, so meine These, hing untrennbar mit essentialistischen Geschlechtervorstellungen zusammen. Deshalb fra-

17

Dies liegt schon in der Ausgangssituation begründet: Die meist minderjährigen Menschen, bei denen

eine geistige Behinderungen diagnostiziert wurde, kamen nicht freiwillig oder aus eigenem Antrieb in die Beratung. Zudem schrieb die humangenetische Expertin über die Betroffenen, verwendete Fachvokabular und konstruierte verschiedene Narrative, bei denen die Begutachteten in der Regel kein Mitsprachrecht hatten. 18

Alexa Geisthövel/Volker Hess, Handelndes Wissen. Die Praxis des Gutachtens, in: Dies. (Hrsg.), Medizi-

nisches Gutachten. Geschichte einer neuzeitlichen Praxis. Göttingen 2017, 9–42, hier 16. 19

300

Ebd.31, 33.

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ge ich danach, um welche Geschlechtervorstellungen es sich genau handelte und auf welche geschlechtsspezifischen Begründungen Eltern und Humangenetikerin bei den Sterilisationsempfehlungen zurückgriffen. Im Schlussteil des Artikels führe ich die Ergebnisse zusammen, um nicht nur zu erklären, inwiefern humangenetische Praktiken essentialistische Geschlechtervorstellungen erneut popularisierten, sondern auch um einen Beitrag zur meist vernachlässigten, jedoch jüngst umso nachdrücklicher eingeforderten gesellschaftlichen Einbettung wissenschaftlicher Wissensproduktionen zu leisten. 20

II. Geschlechtervorstellungen in der humangenetischen Diagnose „geistige Behinderung” In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts lagen die Ursachen geistiger Behinderung größtenteils im Dunkeln. 21 Im Gegensatz zur Trisomie 21 waren die meisten geistigen Behinderungen nicht mit humangenetischen Methoden zu ermitteln, weil „weder eine Stoffwechselanomalie noch eine Chromosomenstörung noch eine nachweisbare Hirnläsion oder eine neurologisch faßbare Erkrankung […] die Ursache“ waren. 22 Vor dem Hintergrund dieser Unklarheit ergaben sich Interpretationsspielräume, die psychiatrische Genetikerinnen und Genetiker in den 1970er und 1980er Jahren mit bereits zu Beginn des 20.Jahrhunderts entwickelten Psychosekonzepten füllten, diese aber mithilfe psychologisierender Erklärungen an neuere gesellschaftliche Entwicklungen anschlussfähig machten. 23 Auch Marianne Stoecke-

20 Vgl. Fabian Grütter u.a., Nach dem Wissen. Wissenschaft und Deregulation und Restauration, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 41, 2018, 359–362, hier 360. 21 Noch zu Beginn der 2000er Jahre stellte „geistige Behinderung“ für Molekulargenetiker „das größte ungelöste Problem der medizinischen Genetik“ dar. Vgl. Hans Hilger Ropers, Molekulare Ursachen, URL: https://www.mpg.de/866782/forschungs-Schwerpunkt?c=166386&force_lang=de (22.2.2019). 22 Marianne Stoeckenius/Gisela Barbuceanu, Schwachsinn unklarer Genese. Ein Hauptanliegen humangenetischer Beratung, Untersuchungsergebnisse mit besonderer Berücksichtigung frühkindlicher und kindlicher Psychosen. Stuttgart 1983, 73. 23 Vgl. Edith Zerbin-Rüdin, Eugenik. Teil der Vorsorgemedizin. Die genetische Beratung gewinnt immer mehr an Bedeutung, in: Ärztliche Praxis 25, 1973, 3589 (Sonderdruck aus: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (AMPG), Abt. IX. Rep. 1 Edith Zerbin-Rüdin). Der Psychiater Emil Kraepelin bezog sich bereits um die Jahrhundertwende auf genetische Deutungsmuster, um die Entstehung psychiatrischer Krankheiten zu erklären.

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nius, die Leiterin der Hamburger genetischen Beratungsstelle, erklärte in den meisten Fällen eine geistige Behinderung unklarer Herkunft mit einer „frühkindlichen Psychose“, einer in der frühen Kindheit erlittenen schizophrenen Erkrankung. Um diese retrospektiv zu ermitteln, suchte Stoeckenius u.a. nach Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten in der Geschichte der Betroffenen. Die konkreten Einzelaspekte innerhalb dieser beiden Suchbereiche wählte die Humangenetikerin nach Kriterien aus, die Geschlechtervorstellungen basierten. Eine Geschlechtsspezifik lag vor allem bei den Kriterien Haushalts- und Handarbeitsfertigkeiten sowie Reinlichkeits- und Ordnungserwartungen vor. Dass Stoeckenius es als Zeichen einer frühkindlichen Psychose bewertete, wenn ihre eigenen Erwartungen in den genannten Bereichen nicht erfüllt wurden, zeigt, wie entscheidend Geschlechtervorstellungen für die Diagnosefindung waren. 24 Konkret schrieb die Humangenetikerin etwa über die 12jährige Sabine Baumann 25: „Mit zwölf Jahren könne Sabine immer noch kein Hemd bügeln. Sie hat Schwierigkeiten, sich zu kämmen und wäscht sich nur ungern.“ 26 Ähnliches attestierte sie auch Ulrike Mohn, 15 Jahre: „Sie sei ziemlich ordentlich, wäscht sich aber nicht gerne. […] Allein ohne Anleitung würde sie sich zuhause nicht beschäftigen, auch Handarbeiten, die sie in der Schule mache, brächte sie im Haus nicht zustande, sie könne stundenlang nur dasitzen und ‚gucken‘.“ 27

Wichtig war Stoeckenius auch, dass die Begutachteten von sich aus im Haushalt halfen, ihren Körper pflegten und Ordnung hielten. Die Humangenetikerin legte Wert auf Eigeninitiative, wie folgende in Stoeckenius’ Worten zusammengefasste Beobachtung aus dem Gutachten über die 13jährige Marianne Höger verdeutlicht: „Die Mutter ermahne sie täglich, sich zu kämmen und die Zähne zu putzen, sich sorgfältig zu waschen und die Wäsche zu wechseln, sonst würde sie ganz schnell verkommen und nur noch Musik hören. In ihren Schubladen herrsche Chaos“. 28 In den Ermahnungen der Mutter klingen Erwartungen an, die Marianne offensichtlich nicht erfüllte: Ihren Körper eigeninitiativ zu reinigen und Ordnung zu halten, ge-

24

Die im Folgenden ausgewählten Beispiele stammen aus einem Bestand von ca. 360 Gutachten, in de-

nen Stoeckenius den Beschriebenen eine frühkindliche Psychose attestierte.

302

25

Alle Namen von behandelten oder beratenen Personen sind Pseudonyme.

26

Gutachten vom 4.9.1975.

27

Gutachten vom 1.3.1981.

28

Gutachten vom 17.11.1981.

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lang Marianne nur nach Aufforderung der Mutter. Außerhalb des Gutachtenkontextes klingt es alltäglich, dass 13-Jährige – seien es nun Mädchen oder Jungen – mitunter ermahnt werden müssen, diese Tätigkeiten auszuüben. Im Gutachten aber bildeten nicht eigeninitiativ erfolgte Reinigungs- und Ordnungsaufgaben ein Kriterium für die Behinderungs- und Psychosenzuschreibung. Dafür spricht auch ihre Erwähnung an sich, denn in den Gutachten nahm die stets an Arbeitsüberlastung leidende Humangenetikerin aus Zeitgründen nur Details auf, die einen unmittelbaren Bezug zur Diagnose aufwiesen. 29 Man könnte annehmen, die Zitate transportierten allein Normalitätserwartungen, deren Abweichungen die Diagnose legitimierten. Das ist nicht falsch, kann aber noch differenzierter betrachtet werden, da die in den Gutachten angeführten Normabweichungen eine Geschlechtsspezifik aufwiesen. Denn Stoeckenius integrierte die erwähnten Verhaltensweisen nämlich nur in die Gutachten für Mädchen und junge Frauen. Begutachtete die Humangenetikerin Jungen und Männer, erwähnte sie weder ihre (fehlenden) Fähigkeiten im Haushalt oder beim Handarbeiten noch beim Aufräumen oder in der Körperhygiene (mit Ausnahme des selbstständigen Toilettengangs). Stattdessen finden sich in den Gutachten für Jungen und Männer nur Kriterien wie Aggressivität, destruktives Spielverhalten sowie fehlendes Konzentrationsvermögen. Allerdings stellten diese Indikatoren für die frühkindliche Psychose keineswegs spezifisch dem männlichen Geschlecht zugeschriebene Defizite dar. Bei den weiblichen Begutachteten wendete Stoeckenius diese Kriterien ebenfalls an. 30 Mithin war die Bandbreite kognitiver und praktischer Fähigkeiten, die Mädchen und Frauen erfüllen mussten, wesentlich größer als für Jungen und Männer. Geschlechternormen bedeuteten in den Gutachten aber nicht allein eine Rollenzuweisung, sondern jede nicht erfüllte geschlechtsspezifische Norm bildete ein Mittel zur Pathologisierung, denn je mehr kognitive und praktische Fähigkeiten den Begutachteten abgesprochen wurden, desto eher erhielten sie die Diagnose frühkindliche Psychose. Geschlechternormen spielten also in der Diagnosefindung in der genetischen Beratung eine entscheidende Rolle. Stoeckenius’ Hervorhebung praktischer Fähigkeiten wie Handarbeiten und Haushaltstätigkeiten korrespondierte mit gesellschaftlichen Vorstellungen über

29 Dies postulierte Stoeckenius selbst: Marianne Stoeckenius an Frau Dr. med. Decker vom 23.5.1975. 30 Ausführliche Beispiele zu diesen drei Verhaltensweisen bei beiden Geschlechtern siehe: Schenk, Behinderung (wie Anm.6), 144f.

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die Erwerbstätigkeit und Ausbildung von Frauen und Mädchen mit geistigen Behinderungen. Fertigkeiten in Haushalt und im Handarbeiten galten nicht nur als traditionell weiblich, sondern auch als einfach handhabbar, weshalb sie Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen besonders nahelegt wurden. 31 Auch die größte Elternorganisation für Menschen mit geistigen Behinderungen, die „Lebenshilfe e.V.“, setzte sich im Kontext der praktischen „Bildbarkeit“ für die Förderung von Handarbeit in den Sonderschulen ein. Diese Idee griffen die in den 1960er und 1970er Jahren stark ausgebauten Sonderschulen auf. 32 Unzweifelhaft ist demnach, dass die von Stoeckenius propagierten essentialistischen Geschlechtervorstellungen mit der Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre zu tun hatten, in der gerade Frauen mit geistigen Behinderungen eher praktische Fähigkeiten zugetraut wurden. Lieferten die Begutachteten diese nicht in einem von der Humangenetikerin bestimmten Maße, riskierten sie die Zuschreibung einer psychischen Krankheit, die ihre geistige Behinderung hervorgebracht habe. Hier zeigt sich also das Einwirken öffentlicher Diskurse auf die genetische Beratung, denn die Humangenetikerin griff populäres essentialistisches Geschlechterwissen auf, um ihre wissenschaftliche Diagnose stellen zu können. Fasst man die Gutachten als wissenschaftliche Praktik auf, könnte man sagen, dass mithilfe dieser Praktik essentialistisches Geschlechterwissen erneut popularisiert wurde, indem es mit wissenschaftlichem Wissen zusammengebracht und in Form der Gutachten an die Eltern und den weiterbehandelnden Arzt transportiert wurde. Da auch Stoeckenius in der Lebenshilfe engagiert war, die sich außer aus Eltern auch aus Expertinnen und Experten zusammensetzte, die sich meist beruflich mit behinderten Menschen befassten, liegt es nahe, dass sie mit Diskussionen über die Schwerpunkte in der Ausbildung von Menschen mit geistigen Behinderungen vertraut war. 33 Darüber hinaus erhielt sie ihre Informationen über die Begutachteten in einigen Fällen von deren Lehrerinnen und Lehrern, was ebenfalls darauf hindeu-

31

Das kritisierten in den 1980er Jahren bereits Publikationen aus dem Kontext der Behindertenbewe-

gungen, in denen aber vorwiegend Menschen mit körperlichen Behinderungen organisiert waren. Vgl. etwa Silke Boll u.a., Geschlecht: Behindert. Besonderes Merkmal: Frau. Ein Buch von behinderten Frauen. München 1985. 32

Vgl. Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik. Bielefeld 2009,

202. 33

Vgl. Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen

in Westdeutschland seit 1945. Frankfurt am Main u. New York 2017, 130f.

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tet, dass Stoeckenius einen Einblick in die Unterrichtspraxis von Sonderschulen gewann und auch aus diesem Grund die oben beschriebenen Kriterien in ihre Gutachten aufnahm. In jedem Fall waren in der Behindertenfürsorge und unter Eltern von behinderten Kindern ähnliche geschlechtsstereotype Vorstellungen verbreitet wie in Stoeckenius Gutachten. 34 Neben diesen Einflüssen aus dem weiteren Kontext schilderten vor allem Eltern der Humangenetikerin die Geschichte ihrer Kinder und lieferten damit die Grundlage für ihre Diagnose. 35 Zwar gestaltete die Humangenetikerin die Dramaturgie und die Narration in den Gutachten, aber sie war auf elterliche Mitteilungen angewiesen. Beschwerden der Eltern über fehlerhafte Darstellungen sind nicht überliefert, sehr wohl aber eine Reihe von Dankesbekundungen an Stoeckenius. Ob sie die Eltern die Gutachten immer Korrektur lesen ließ, ist unklar, Stoeckenius schickte sie ihnen aber in jedem Fall zu. Ab und zu forderte die Humangenetikerin die Eltern explizit auf, die Gutachten zu korrigieren. Beispielsweise schrieb sie den Eltern des siebenjährigen Martin Dressler, dem sie eine frühkindliche Psychose attestiert hatte: „Sie würden uns allerdings sehr helfen, wenn Sie alles, was Ihrer Meinung nach unrichtig dargestellt wurde, korrigieren würden.“ 36 In den meisten Fällen ist eine solche Aufforderung nicht überliefert. Dennoch ist es nicht auszuschließen, dass Stoeckenius die Eltern im Beratungsgespräch darum bat, die Gutachten zu ergänzen oder zu korrigieren. Zweifellos aber wirkten die Eltern an der Erzählung mit, die Stoeckenius in ihrem Gutachten verfasste und zwar, indem sie eine klare Diagnose nachfragten und der Humangenetikerin dafür bereitwillig Auskunft über ihre Kinder gaben. Doch warum wandten sich die Eltern an die genetische Beratung und nicht einfach an einen Kinderarzt? Was motivierte sie, die z.T. äußerst delikaten Informationen über ihre Kinder preiszugeben? Weshalb stützten Eltern tradierte Geschlechtervorstellungen? Viele der betroffenen Eltern hatten bereits verschiedenste Ärztinnen und Ärzte, häufig auch Erziehungsberatungsstellen, konsultiert, ohne eine befriedigende Antwort auf ihre Frage nach den Ursachen der geistigen Behinderung zu erhalten 34 Einen ähnlichen Prozess beschreibt das wissenschaftliche Konzept der „mental models“, das davon ausgeht, gesellschaftspolitische Vorstellungen flössen unbewusst in die Forschungspraxis ein. Vgl. Nancy J. Nersessian, The Cognitive Basis of Science. Cambridge, Mass. 2002, 133–153. 35 Dies machte Stoeckenius durch die Verwendung des Konjunktivs in den Gutachten kenntlich – wie in den obigen Zitaten zu erkennen ist. 36 Gutachten vom 10.8.1978, 1.

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und waren nach dieser Odyssee entsprechend mitteilsam. Wie wichtig den Eltern eine genaue Diagnose und eine Anerkennung der Normabweichungen ihrer Kinder war, lässt sich aus publizierten Elternberichten ablesen. Annemarie und Willy Speidel, Eltern einer Tochter mit geistigen Behinderungen, berichteten 1979 etwa: „Die verschiedenen Kinderärzte, die wir seit Heidruns Geburt um Rat fragten, versuchten uns immer wieder zu beruhigen und erklärten uns, daß es ja auch Spätentwickler gebe […]. Trotz dieser Beteuerungen gab mein Mann nicht nach und wollte endlich eine genaue Auskunft über unsere Tochter. So überwies uns ein Kinderarzt in eine Nervenklinik […], allerdings mit wenig Erfolg. Nach einem Gespräch mit dem behandelnden Arzt und nach einer gründlichen Untersuchung unserer Tochter […] gab man uns zu verstehen, daß Heidrun vollkommen gesund, nur wir Eltern hysterisch seien und sie gegen hysterische Eltern nichts tun könnten. Damit die Schlafstörungen und die ›Tics‹, wie es der Arzt nannte, sich bessern würden, verschrieb er Heidrun ein Schlafmittel. Auf unsere Frage, was wir mit unserer mittlerweile vierjährigen Tochter nun anfangen sollten, wußte er auch keinen Rat.“ 37

Ergebnislos verlaufenden Untersuchungen, dem Absprechen einer Behinderung mit dem Hinweis auf eine verzerrte Wahrnehmung der Eltern, dem Kleinreden von Normabweichungen, unspezifischen Medikamenten und ärztlicher Ratlosigkeit begegnete Stoeckenius mit einer klaren Diagnose, die die Anerkennung der Behinderung und der Normabweichungen benötigte. Insofern lag zwischen den Eltern und der Humangenetikerin eine Interessenkonvergenz vor, die dazu beitrug, dass die Eltern der Humangenetikerin alle nötigen Informationen bereitstellten. Außerdem entlastete die humangenetische Diagnose die Eltern, weil nicht sie selbst als normabweichend gezeichnet wurden, sondern ihr Kind. Anders auch als in Erziehungsberatungsstellen, die beim Verhalten der Eltern ansetzten, konzentrierte sich Stoeckenius auf die Normabweichungen des Kindes. Eine genetisch bedingte Krankheit erforderte von den Eltern keine Verhaltensänderung. Da Stoeckenius ihre Diagnose der frühkindlichen Psychose an den Verhaltensweisen festmachte, die die Eltern an ihrem Kind als normabweichend und im Alltag als belastend empfanden, trug sie auch gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung wie etwa der neuen gesellschaftlichen Offenheit für psychologische Erklärun-

37

Annemarie Speidel/Willy Speidel, Heidrun, in: Irina Prekop (Hrsg.), Wir haben ein behindertes Kind.

Stuttgart 1979, 81–87, hier 82f.

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gen, dem sogenannten „Psychoboom“. 38 Auch anderen öffentlich verbreiteten Einstellungen begegnete die Humangenetikerin (unbewusst) mit ihrer Diagnose. Laut der Vorurteilsstudie des Erziehungswissenschaftlers Helmut von Bracken von 1976 teilten 94 Prozent der Befragten die Ansicht, die Eltern seien für die geistige Behinderung ihres Kindes verantwortlich, entweder, weil sie Alkoholiker seien, ihnen die Liebe zu ihrem Kind fehle, sie keine Zeit hätten, sich um ihr Kind zu kümmern, oder sie ihr Kind falsch erzogen hätten. 39 Diese Vorurteile dürften Eltern geistig behinderter Kinder des Öfteren begegnet seien. Stoeckenius hingegen setzte diesen für die Eltern sehr belastenden Annahmen eine Diagnose entgegen, die solchen Vorstellungen widersprach. Vermutlich waren die Eltern auch aus diesem Grund bereit, an der Diagnosefindung mitzuwirken und die Diagnose der frühkindlichen Psychose anzunehmen. Aus der Perspektive der Wissensvermittlung könnte man nun annehmen, dass sich ein für den medizinischen Bereich typischer, allerdings sehr einseitiger Prozess zeigt 40: Wissbegierige und belastete Eltern suchten sich Rat bei der wissenden Humangenetikerin. Berücksichtigt man jedoch die elterliche Mitwirkung an den Gutachten, die die skizzierten Motive plausibilisieren, ergibt sich ein differenzierteres Bild von einer wechselseitigen Beeinflussung. Denn Stoeckenius war auf die Informationen der Eltern angewiesen, um ihre Diagnose stellen zu können. Von daher halfen die Eltern der Humangenetikerin dabei, ihre Erklärung der Ursachen geistiger Behinderungen zu festigen und damit einen Beitrag zu einem ungelösten Forschungsproblem zu liefern. Zwar kursierten in der zeitgenössischen Humangenetik neben Stoeckenius Deutung noch weitere Erklärungsansätze 41, was sie aber nicht daran hinderte, diese Diagnose bis zum Ende ihrer Beratungstätigkeit 1993 weiterhin zu stellen. 42 Für ihre Tätigkeitsphase lieferte die Humangenetikerin also nicht

38 Maik Tändler, „Psychoboom“. Therapeutisierungsprozesse in Westdeutschland in den späten 1960erund 1970er-Jahren, in: Sabine Maasen u.a. (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern. Bielefeld 2011, 59–94. 39 Helmut von Bracken, Vorurteile gegen behinderte Kinder, ihre Familien und Schulen. Berlin 1976, 61f. 40 Arne Schirrmacher weist darauf hin, dass sich das ältere Defizitmodell der Wissenspopularisierung, welches einen einseitigen Prozess der Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen an ein Laienpublikum beinhaltet, vor allem noch im medizinischen Bereich zeige. Arne Schirrmacher, Nach der Popularisierung. Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20.Jahrhundert, in: GG 34, 2008, 73–95, hier 78. 41 Vgl. dazu die zahlreichen Autorinnen und Autoren, mit denen sich Stoeckenius in ihrer Monografie kritisch auseinandersetzt. Stoeckenius/Barbuceanu, Schwachsinn (wie Anm.22), 51–68. 42 Zur Kontroverse um Stoeckenius‘ Sterilisationsempfehlungsvergabe, das ihr 1984 auferlegte Verbot,

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nur den Eltern eine Erklärung, die diese dankbar annahmen, sondern sie konnte sich mithilfe der elterlichen Erzählungen auch als Forscherin ansehen, die ein bisher ungelöstes Rätsel aufklärte. Die Eltern trugen mithin zum Geltungsanspruch der Humangenetikerin bei. Das lag an der Beratungskonstellation, die einen Austausch zwischen Eltern und Humangenetikerin ermöglichte, an der Methode der Elternbefragung sowie an der Bereitschaft der Eltern, detailliert aus dem Leben ihrer Kinder zu berichten. Infolgedessen verband die Humangenetikerin mit Hilfe der Eltern essentialistisches Geschlechterwissen mit humangenetischem Wissen und verlieh ersterem einen wissenschaftlich-medizinischen Status, da die Nichterfüllung geschlechtsspezifischer Rollenerwartungen ein zentrales Kriterium für die Diagnosefindung darstellte. Außerdem bildete das tradierte Geschlechterwissen einen gemeinsamen Bezugspunkt zwischen Eltern und Humangenetikerin. Die Eltern wirkten an der Diagnose mit und forderten sie ein, nahmen dabei aber eher die Rolle vergleichsweise passiver Informationslieferanten ein. Der folgende Abschnitt zeigt hingegen noch stärker, dass die Eltern eigeninitiative Akteure waren, die etwas forderten: nämlich die Sterilisation ihrer Töchter.

III. Geschlechtervorstellungen in den Sterilisationsempfehlungen Bei den Sterilisationsempfehlungen, die Stoeckenius in der genetischen Beratung vergab, tritt der Einfluss bereits populärer Geschlechtervorstellungen noch offensichtlicher zu Tage als bei der Diagnosestellung – sowohl in quantitativerals auch in qualitativer Hinsicht. So empfahl Stoeckenius in den 1970er und 1980er Jahren größtenteils Frauen und Mädchen mit geistigen Behinderungen die Sterilisation, obwohl dieser Eingriff bei Jungen und Männern wesentlich risikoärmer, leichter rückgängig zu machen und unkomplizierter durchzuführen war. Zum einen trugen mehrheitlich nur Eltern von Töchtern mit geistigen Behinderungen Stoeckenius einen Sterilisationswunsch vor, worauf später noch ausführlicher eingegangen wird. Zum anderen ist davon auszugehen, dass Stoeckenius mit der Unausgewogen-

solche Empfehlungen weiterhin abzugeben, sie dies aber dennoch bisweilen tat, und die daraus entstandene bundesweite Debatte über die Sterilisation minderjähriger Mädchen mit geistigen Behinderungen siehe Schenk, Behinderung (wie Anm.6), S. 350–366.

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heit der Sterilisationen zwischen den Geschlechtern vertraut gewesen ist, gehörte diese Verschiedenheit doch in den 1970er und 1980er Jahren bereits zum medizinischen Allgemeinwissen. Eine solche Praxis existierte auch in anderen demokratischen Ländern nach 1945. In Schweden beispielsweise war das Sterilisationsgesetz geschlechtsneutral formuliert, dennoch wurden dort vor allem Frauen sterilisiert. 43 Allerdings hatten viele der in den 1960er und 1970er Jahren sterilisierten schwedischen Frauen bereits einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich und stammten aus schwierigen sozialen Verhältnissen, woraus sich ein Rückgang der eugenischen zugunsten einer sozialmedizinischen Indikation ableiten lässt. Bei Stoeckenius hatten die Betroffenen aber weder bereits einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen noch kamen sie überwiegend aus prekären sozialen Verhältnissen. Doch auch die schwedischen Historiker führen geschlechtsspezifische Faktoren an, um die Sterilisationspraxis zu erklären. Gunnar Broberg und Mattias Tydén weisen darauf hin, dass Frauen mit geistigen Behinderungen ein hemmungsloses Sexualverhalten zugeschrieben wurde und benennen hiermit einen zentrales zeitgenössisches Argument für die schwedische Sterilisationsbefürwortung. 44 Dieses bereits aus der NS-Zwangssterilisationspraxis bekannte Argument taucht in Stoeckenius’ Empfehlungen jedoch nicht auf. Dennoch bediente sich auch die Humangenetikerin geschlechtsspezifischer Argumentationen, die zum einen zwar ebenfalls eine traditionalistische Ausrichtung aufwiesen, zum anderen aber auch anschlussfähig an neuere gesellschaftliche Entwicklungen waren. Eine eher traditionalistische Geschlechtervorstellung, die allen Sterilisationsempfehlungen zugrundelag, stellte die Annahme dar, Frauen und Mädchen seien allein zuständig für die Fortpflanzung. Eine solche Vorstellung formulierte Stoeckenius zwar in ihren Gutachten nicht explizit, aber sie erklärt, weshalb die Humangenetikerin vor allem bei Frauen und Mädchen die Sterilisation empfahl. Die Vorstellung, ausschließlich Frauen und Mädchen seien für die Reproduktion zuständig, war jedoch auch im öffentlichen Diskurs präsent und wurde dort ebenfalls auf

43 Ca. 90 Prozent der zwischen 1930 und 1975 in Schweden Sterilisierten waren weiblichen Geschlechts, wie Gunnar Broberg und Mattias Tydén in ihrer Pionierstudie über die schwedische Sterilisationspraxis herausgearbeitet haben, in der sie sich auf Regierungsakten stützen konnten. Gunnar Broberg/Mattias Tydén, Eugenics in Sweden. Efficient Care, in: Gunnar Broberg/Nils Roll-Hansen (Eds.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland. East Lansing 1996, 77–149, hier 120. 44 Ebd.121ff.

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Frauen und Mädchen mit geistigen Behinderungen übertragen. 45 Allerdings kam es erst im Zusammenwirken mit der Kategorie Behinderung zur Sterilisationsempfehlung, was sich schon allein daran zeigt, dass Stoeckenius nur selten Frauen die Sterilisation empfahl, denen sie keine geistige Behinderung attestiert hatte. Geschah dies doch, verhandelte die Humangenetikerin mit den Frauen direkt und im gegenseitigen Austausch. In keinem Fall aber stellte Stoeckenius minderjährigen nicht-behinderten Mädchen eine Sterilisationsempfehlung aus, während sie den Eltern von Mädchen mit geistigen Behinderungen geradezu nahelegte, die Sterilisation noch vor ihrer Volljährigkeit vorzunehmen: „Schwierig wird es, wenn die Kinder volljährig sind“, denn dann „müssen sie […] selbst der Sterilisation zustimmen und unterschreiben […], sind häufig uneinsichtig oder zur Einsicht unfähig“ und außerdem „werden sie heute von manchen Betreuern in Wohngemeinschaften gegen besseres Wissen der Eltern beeinflußt, sich zu weigern mit den Worten: ‚Das brauchst du doch nicht‘ oder: ‚du bist doch ein freier Mensch – oder?‘“ 46 Selbst volljährige Menschen mit geistigen Behinderungen seien nicht in der Lage, über derart folgenreiche Eingriffe in ihren Körper zu entscheiden. Damit griff die Humangenetikerin ohnehin bestehende Bedenken der Eltern auf, Betreuerinnen und Betreuer könnten ihre Kinder beeinflussen, wenn sie in Einrichtungen lebten oder dort tagsüber untergebracht wurden – verbrachten diese Personen doch manchmal mehr Zeit mit den geistig behinderten Kindern als ihre Eltern. Stoeckenius schlug sich hier klar auf die Seite der Eltern und unterstützte sie in ihrer Entscheidung, ihre minderjährigen Mädchen mit geistigen Behinderungen sterilisieren zu lassen – auch gegen den Willen und/oder ohne das Wissen der Betroffenen. Stoeckenius stand mit dieser Ansicht nicht allein dar, denn sowohl im zeitgenössischen humangenetischen als auch im juristischen Diskurs herrschte eine breite Befürwortung der Sterilisation minderjähriger Mädchen mit geistigen Behinderun-

45

Vgl. beispielsweise die Frage des Interviewers an Edith Zerbin-Rüdin, die psychiatrische Genetikerin

und langjährige Leiterin des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, der sie für die Zeitschrift „Ärztliche Praxis“ 1973 in einem Gespräch über genetische Familienberatung fragte: „Sollte man junge Mädchen, die man als schwachsinnig diagnostiziert hat, sterilisieren?“ AMPG, Abt. IX. Rep. 1 Edith ZerbinRüdin, Sonderdruck von: O.A., Schizophrene sollten auf Kinder verzichten. Genetische Familienberatung – ÄP-Gespräch mit Frau Dr. Zerbin-Rüdin, in: Ärztliche Praxis 25, 1973, Nr.82, 3649–3650, Sonderdruck 3– 8, hier 4. 46

Auszug aus dem Vortragsmanuskript von Marianne Stoeckenius, Sterilisation – Schule Karlshöhe –

Donnerstag, 3.12.1981, abgedruckt in: Sierck/Radtke, WohlTäter-Mafia (wie Anm.9), 115 (Dokument 7).

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gen vor. 47 Eine unklare Rechtslage hatte eine Rechtspraxis hervorgebracht, die trotz einer nach 1945 erfolgten Abkehr von Zwangssterilisationen die Sterilisation von Menschen mit geistigen Behinderungen ohne ihre eigene Einwilligung zuließ. Bis zum ausdrücklich formulierten Verbot der Sterilisation Minderjähriger 1990 regelte in der Bundesrepublik der Paragraph 226a des Strafgesetzbuches die Sterilisation. Letztere war als Körperverletzung verboten, verstieß sie doch gegen die „guten Sitten“. Die „guten Sitten“ stellteneinen nicht näher spezifizierten Rechtsbegriff dar. Bei Menschen, die als nicht-einwilligungsfähig galten, worunter größtenteils Menschen mit geistigen Behinderungen fielen, reichte die Einwilligung Dritter, also der Eltern oder des gesetzlichen Vormundes, die Einwilligung der regionalen Ärztekammer sowie des ausführenden Gynäkologen aus, um die Betroffenen zu sterilisieren. Eine solche Ersatzeinwilligung galt als freiwillige Sterilisation. Eine derartige Rechtslage unterstützte Stoeckenius’ Intention, Sterilisationen bei geistig behinderten Mädchen und Frauen zu empfehlen. Was aber waren ihre eigenen Gründe für die Sterilisationsempfehlungen? Sie lagen auf zwei verschiedenen Ebenen: Zum einen begründete die Humangenetikerin ihre Sterilisationsempfehlungen erbtheoretisch, zum anderen argumentierte sie mit dem Kindeswohl. Beide Argumentationen werden im Gutachten über die die zwölfjährige Vera Moser greifbar, deren geistige Behinderung mit der frühkindlichen Psychose erklärte wurde, die die Begutachtete in ihrer Kindheit erlitten habe: „Eine Sterilisation ist dringend zu empfehlen, da Vera nie ein eigenes Kind selbstständig aufziehen kann, und da sie ein hohes Risiko von ca. 16% für jedes ihrer Kinder hat, auch im Laufe des Lebens eine endogene Psychose zu entwickeln.“ 48 Eine solche erbtheoretische Begründung hatte eine lange Tradition, bereits Ernst Rüdin verwendete in der NS-Zeit die gleiche Prozentzahl um die Vererbungswahrscheinlichkeit für Schizophrenie anzugeben. 49 Der zweite – und an neuere Entwicklungen anschlussfähige bzw. von ihnen inspirierte – von Stoeckenius angesprochene Aspekt betrifft die eigenständige Erzie-

47 Siehe dazu mit ausführlichen Beispielen: Schenk, Behinderung (wie Anm.6), S. 222–229, 242–248. 48 Gutachten vom 24.5.1978. 49 Ernst Rüdin, einer der prominentesten Erbforscher und Autor des Erbgesundheitsgesetzes, entwickelte ein Berechnungssystem für die Erkrankungsrisiken von für als vererbbar angesehenen Krankheiten, u. a. auch für die endogene Psychose, für die er die gleiche Prozentzahl angab wie Stoeckenius. AMPG, Abt. IX. Rep Edith Zerbin-Rüdin, Edith Zerbin-Rüdin, Die Erbbiologie der endogenen Psychosen. Vortrag auf der

Tagung der Leitenden Ärzte und Chefärzte der bayerischen Versorgungsdienststellen vom 7.– 9.10.1964 in Ansbach, Bl. 2f.

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hungsfähigkeit. So bezweifelte die Humangenetikerin Vera Mosers Erziehungsfähigkeit. Hinter dieser Bewertung steckt die Annahme, das betroffene Mädchen sei allein für die Kindererziehung zuständig. Ohne Hilfe ein Kind zu erziehen, traute Stoeckenius der Betroffenen also nicht zu – ein Argument, das nicht nur aufgrund der Behinderung des Mädchens griff, sondern auch angesichts des Alters von Vera Moser. Damit ging die Humangenetikerin auf die Befürchtung der Eltern ein, ihre minderjährige Tochter würde ein Kind zur Welt bringen, das sie nicht allein versorgen und erziehen könne. Hilfe wäre in einer solchen Situation am ehesten von den Eltern zu erwarten, die dann möglicherweise noch für ein zweites Kind zuständig wären. Obendrein stellte Stoeckenius durch die Angabe der Risikowahrscheinlichkeit die Vorstellung in den Raum, die Eltern müssten noch ein weiteres Kind mit geistigen Behinderungen versorgen. Bei wenig älteren, zumindest aber schon volljährigen jungen Frauen, denen sie eine geistige Behinderung attestiert hatte, argumentierte Stoeckenius ähnlich, was darauf schließen lässt, dass es für die Humangenetikerin weniger um eine Altersfrage, sondern um die Behinderung der Betroffenen ging. So schrieb sie über die 19-jährige Rita Laurenz, bei der sie „Debilität“ aufgrund einer frühkindlichen Psychose diagnostiziert hatte: „Die Konsequenz dieser Feststellung [der Diagnose, B.-M.S.] ist natürlich die Sterilisation von Fräulein Laurenz. Denn wenn sie ein Kind hätte, müßte es von Verwandten oder fremden Menschen betreut und erzogen werden, da die leibliche Mutter es aufgrund ihres Soseins, ihrer Passivität dem Leben gegenüber, nicht kann.“ 50

Wie schon bei Vera Moser erkannte Stoeckenius auch Rita Laurenz die Erziehungsfähigkeit ab, die die Humangenetikerin ebenso in der alleinigen Verantwortung der potenziellen Mutter sah. Ähnlich ist zudem, dass Stoeckenius die Eltern, hier etwas weiter gefasst als „Verwandte“, als denkbare Verantwortliche für die Erziehung des Kindes erwähnt. Darüber hinaus rekurrierte Stoeckenius auf das Kindeswohl, indem sie in Aussicht stellte, das betreffende Kind müsse von „fremden Menschen“ erzogen werden. Die Humangenetikerin suggerierte mithin, einem Kind von Rita Laurenz drohe womöglich eine Fremdversorgung und -erziehung, die deutliche Nachteile für das Kind mit sich bringe. Stoeckenius Abheben auf das Kindeswohl lässt sich einerseits in der zunehmenden Psychologisierung des Kindes in 50

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Gutachten vom 29.6.1978, 4f.

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den 1970er Jahren verorten 51, andererseits griff die Humangenetikerin auf tradierte Vorstellungen einer „guten Mutterschaft“ zurück, zu der die selbstständige Versorgung und Erziehung des Kindes gehörte. Diese Vorstellung koppelte Stoeckenius an das Wohl des potenziellen Kindes. Wie schon angeklungen, bediente Stoeckenius hiermit auch elterliche Befürchtungen. Ursula Frack, Mutter eines Mädchens mit geistigen Behinderungen, die einen Bericht über ihre Entscheidung veröffentlichte, ihre minderjährige Tochter Susanne mit Trisomie 21 ohne ihr Wissen und ihre Einwilligung zu sterilisieren, sprach ähnliche Ängste an, wie sie Stoeckenius in ihren Gutachten erwähnte. „Obgleich Susanne sehr selbstständig ist, zuverlässig und ordentlich ist, so bleibt sie doch, trotz aller Förderung, ein geistig-behinderter Mensch und wird der Aufgabe, ein Kind großzuziehen, nicht gerecht.“ 52 Es kann also ein Transfer von Befürchtungen aus der Alltagswelt von Familien mit heranwachsenden geistig behinderten Töchtern in die genetische Beratung konstatiert werden, der entsprechende Diagnosen und Sterilisationen nach sich zog. Die Befürchtungen der Eltern wiesen eine geschlechtsspezifische Komponente auf, zum einen, weil sie sich nur auf Mädchen und Frauen richteten und implizierten, diese Gruppe sei allein zuständig für die Fortpflanzung sowie die Kinderaufzucht und -erziehung, zum anderen, weil sie bestimmte Vorstellungen einer „guten Mutter“ transportierten, der die Betroffenen sowohl aus Sicht der Eltern als auch aus Sicht der Humangenetikerin nicht entsprachen. Essentialistische Geschlechtervorstellungen gingen daher eine Verbindung mit humangenetischem Wissen ein und lieferten die Argumentationsbasis für die Sterilisationsempfehlung. In einigen Fällen ging der Sterilisationswunsch auch von den Eltern aus, vor allem von den Müttern, die hauptverantwortlich für die Erziehung ihrer behinderten Töchter waren. So vermerkte Stoeckenius über die 19-jährige Stefanie Ihrens: „Wegen einer angeborenen erheblichen Debilität möchte die Mutter, daß Stefanie operativ unfruchtbar gemacht wird.“ 53 Oder bei der 17jährigen Elisabeth Wollert: „Sie ist geistig behindert seit ihrer Geburt und geht noch bis 1984 in die Sonderschu51 Vgl. Meike Baader, Childhood and Happiness in German Romanticism. Progressive Education and in the West German Anti-Authoritarian Kinderläden Movement in the Context of 1968, in: Paedagogica Historica 48, 2012, 485–499, hier 498. 52 Ursula Frack, Sollen geistig behinderte Mädchen sterilisiert werden? In: Das behinderte Kind 12, 1982, 3, 7–8, hier 8. 53 Gutachten vom 27.1.1983, 1/2.

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le für Geistigbehinderte. Die Eltern wünschen die Unfruchtbarmachung.“ 54 Wie bereits oben erwähnt, hatten die Eltern eine Reihe von eigenen Motiven, ihre Töchter mit geistigen Behinderungen sterilisieren zu lassen: eine ungewollte Schwangerschaft ihrer Tochter sowie die Angst, für ein weiteres Kind (möglicherweise ebenfalls mit Behinderungen) sorgen zu müssen. Einige Eltern sahen sich auch mit Erwartungshaltungen von Akteuren aus der Behindertenfürsorge konfrontiert, die im Zuge sich liberalisierender Sexualität auf eine Sterilisation drängten. Nicht selten verlangten Leiter vor dem Eintritt in eine Behinderteneinrichtung die Sterilisation von ihren neuen Insassinnen. 55 Ferner drangen auch die Veranstalterinnen und Veranstalter eines Ausflugs der oben erwähnten „Lebenshilfe“ auf die Sterilisation. 56 Ähnliches ist von Lehrerinnen und Lehrern bei Klassenreisen in Sonderschulen zu vermuten, denn den Lehrkräften drohten im Falle einer Schwangerschaft einer der Schülerinnern Regressansprüche. 57 In einer Hamburger Sonderschule war fast die Hälfte der Mädchen sterilisiert. 58 Die Sterilisation dieser Gruppe zielte also nicht nur darauf ab, die Weitergabe von genetischen Dispositionen zu verhindern, sondern sie fungierte auch als eine Form der Sozialkontrolle. Insofern stellten Wissenspopularisierungen in diesem Fall nicht erst das Mittel dar, mithilfe dessen Sozial-

54

Gutachten vom 11.10.1983.

55

Die Humangenetikerin schrieb etwa im Gutachten über die 15-jährige Ulrike Mohn: „Die Mutter soll-

te in diesem Zusammenhang an eine Unterbringung Ulrikes z.B. in einer anthroposophischen Dorfgemeinschaft denken, die gleichzeitig auch Ulrikes Ansprüchen gerecht wird, in einer Gemeinschaft Gleichaltriger zu leben. […] Voraussetzung für eine Eingliederung in eine solche Gemeinschaft ist jedoch die Sterilisation.“ Gutachten vom 1.3.1981. 56

So berichtete Angelika Wiefelspütz, Mutter der 14jährigen geistig behinderten Gloria 1984 in der ARD-

Sendung PANORAMA: Gloria habe als 11-Jährige an „einer Freizeit von der [Hamburger] ‚Lebenshilfe‘“ teilgenommen, auf der „es möglicherweise zu einem sexuellen Kontakt zu einem zwanzigjährigen geistigen Behinderten gekommen“ sei. Von den Betreuungspersonen habe sie erfahren, „das[s] Gloria schwanger sein könnte, was uns natürlich wahnsinnig in Aufregung gebracht hat“. Daraufhin habe die Mutter von der Leiterin der Veranstaltung den Rat erhalten, sie „müßte [sich] überlegen, wenn Gloria noch einmal wieder mit in die Freizeit der ‚Lebenshilfe‘ kommen sollte: Sterilisation.“ Manuskript der ARD-Fernsehsendung PANORAMA vom 2.10.1984. Das Manuskript stammt aus der Materialsammlung der Hamburger Kinder- und

Jugendpsychiaterin Charlotte Köttgen, die in der Sendung befragt wurde. 57

Hans Erich Boenigk/Renate Schernus/Bernward Wolf, Sterilisationsberatung bei geistig Behinderten –

Behinderter, Eltern/Erziehungsberechtigte, Arzt als Gutachter und Operateur, Vormundschaftsgericht, in: Hans-Dieter Hiersche/Günter Hirsch/Toni Graf-Baumann (Hrsg.), Die Sterilisation geistig Behinderter, 2. Einbecker Workshop der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht 20.–21.Juni 1987. Berlin/Heidelberg 1988, 43–47, hier 43. 58

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O.A., Heimliches Wirken, Der Spiegel, 8.10.1984.

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kontrolle ausgeübt wurde – wie Carsten Kretschmann herausgestellt hat. 59 Bereits vorher und außerhalb der Sphäre des wissenschaftlichen Wissens drangen außerwissenschaftliche Akteure auf die Sterilisation als sozialkontrollierendes Instrument. Die Sterilisationsempfehlungen in der genetischen Beratung, in denen soziale Bedürfnisse mit erbtheoretischem Wissen zusammengeführt wurden, fungierte hier lediglich als zusätzliche Legitimation von essentialistischen Geschlechtervorstellungen aus der Mehrheitsgesellschaft. Zentral für die gestiegene Nachfrage nach Sterilisationen in der Behindertenfürsorge und bei den Eltern war das im Zuge von Liberalisierungsprozessen in den 1970er Jahren auch auf Menschen mit Behinderungen übertragene Recht auf Sexualität. Die Grenze solcher Liberalisierungsprozesse lag aber eindeutig bei der Fortpflanzung und Kinderaufzucht. Beide Tätigkeiten wurden ausschließlich mit Frauen und Mädchen assoziiert und die für die Kindererziehung erforderlichen Fähigkeiten den Betroffenen abgesprochen. Diese Geschlechtervorstellungen wurden genau zu dem Zeitpunkt erneut abgerufen, an dem soziale Wandlungsprozesse einsetzten, die eigentlich für mehr Autonomie und Gleichberechtigung auch bei Menschen mit Behinderungen sorgen sollten, bei Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen aber zu einem Anstieg der Sterilisationen ohne ihre Einwilligung und teilweise auch ohne ihr Wissen führte. 60

IV. Fazit: Wissenskonglomerat und bidirektionale Wissenspopularisierung In der genetischen Beratung des Hamburger Fallbeispiels popularisierte nicht allein die Humangenetikerin genetisches Wissen und gab es an die ratsuchenden Eltern geistig behinderter Kinder weiter. Vielmehr zeigen die Diagnosefindung sowie die Sterilisationsempfehlungen einen wechselseitigen Beeinflussungsprozess. Um humangenetisches Wissen überhaupt in Form eines Gutachtens popularisieren bzw. darin die Diagnose „frühkindliche Psychose“ stellen zu können, benötigte Stoeckenius von den Eltern detaillierte Informationen über die Entwicklung der Begut-

59 Kretschmann, Einleitung (wie Anm.3), 14. 60 Vgl. Gero Massenkeil, Analyse von sechzehn geistig behinderten Mädchen und Frauen mit Sterilisation. Düsseldorf 1990.

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achteten. In diesem Fall war das Alltagswissen der Eltern die Ressource, auf die Stoeckenius ihre Diagnose aufbaute und sich so einen Geltungsanspruch verschaffte. 61 Die Eltern wirkten bereitwillig an dieser Ressourcenerstellung mit, da sie ein Interesse an humangenetischem Wissen hatten, bot es ihnen doch eine Erklärung für die unklare Ursache der geistigen Behinderung ihrer Kinder und entlastete die Eltern von zeitgenössisch virulenten Vorwürfen wie falschem (Erziehungs-)Verhalten. Ähnliches gilt für die Sterilisationsempfehlungen, die die Humangenetikerin ausstellte. Zwar musste Stoeckenius die Notwendigkeit einer Sterilisation teilweise den Eltern gegenüber plausibilisieren, wofür sie sowohl auf erbtheoretische Deutungen zurückgriff als auch alltagspraktische und soziale Faktoren nannte, die bei den Eltern auf offene Ohren stießen. In vielen Fällen traten die Eltern aber bereits mit einem Sterilisationswunsch an die genetische Beratung heran. Insofern handelte es sich hier in doppelter Weise um einen bidirektionalen Prozess: Zum einen griff die Humangenetikerin soziale Wandlungsprozesse aus der Gesellschaft auf und verband sie mit ihren erbtheoretischen Zielsetzungen, zum anderen legitimierten Letztere auch die Sterilisationswünsche der Eltern. Doch welche Rolle kam bei dieser bidirektionalen Wissenspopularisierung essentialisierten Geschlechtervorstellungen zu? In der genetischen Beratung verband sich genetisches Wissen mit dem Alltagswissen der Eltern sowie geschlechtsspezifischem Wissen, woraus die Humangenetikerin mit Unterstützung der Eltern Wissen über Behinderung konstruierte. Auf Grundlage dieses Wissenskonglomerates kam es zu bestimmten Praktiken, der Diagnosestellung sowie der Sterilisationsempfehlung. Essentialistische Geschlechtervorstellungen wurden also in Form von humangenetischen Praktiken erneut popularisiert. Folglich lässt sich ein Übersetzungsprozess von Vorstellungen in Praktiken beobachten. Dabei ist zu bedenken, dass Geschlechtervorstellungen immer ex negativo herangezogen wurden, d.h. den von Stoeckenius begutachteten Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen wurde sowohl von der Humangenetikerin als auch von den Eltern unterstellt, in der Gesellschaft virulenten, z.T. sehr traditionellen Geschlechtervorstellungen nicht zu entsprechen. Weder erfüllten die Begutachteten bestimmte, weiblich konnotierte Tätigkeiten in Haushalt und Handarbeit noch wurde ihnen zugetraut, eine „gute“ Mutter zu sein. Erst durch den Rückgriff auf 61

Der Frage nach der Ressourcenbereitstellung im Kontext von Wissenspopularisierungen misst

Schirrmacher zu Recht eine wichtige Bedeutung bei. Vgl. Schirrmacher, Popularisierung (wie Anm.40), 88f.

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essentialistische Geschlechtervorstellungen stellte Stoeckenius den Betroffenen eine entsprechende Diagnose und gab ihnen eine Sterilisationsempfehlung. Insofern diente die erneute Popularisierung bereits populärer essentialistischer Geschlechtervorstellungen in der genetischen Beratung dazu, den Eltern die Ursache der Normabweichung ihres Kindes zu erklären sowie deren Fortpflanzung rigide zu kontrollieren und einzuschränken. Mithin ging es weniger, zumindest aber nicht nur, darum, genetisches Wissen in die Öffentlichkeit zu transportieren, sondern essentialistische Geschlechtervorstellungen erneut zu popularisieren. Genetisches Wissen fungierte eher als Legitimation oder als Transportweg für die Geschlechtervorstellungen, die für die Diagnosestellung und die Sterilisationsempfehlung mindestens ebenso entscheidend waren. Zuletzt möchte ich noch Überlegungen zum Verhältnis von sozialem Wandel und Wissensvermittlung in der genetischen Beratung präsentieren, weil sich bei dem geschilderten Thema gesellschaftliche Entwicklungen als äußerst relevant und einflussreich für die Popularisierung essentialistischer Geschlechtervorstellungen erwiesen haben. Carsten Kretschmann hat herausgestellt, dass sozialer Wandel, genauer gesagt Krisensituationen, „die Notwendigkeit der Wissenspartizipation […] besonders dringlich“ werden lasse. 62 Für das vorliegende Thema waren zwei Wandlungsprozesse relevant: erstens die insgesamt steigende Berücksichtigung von Elterninteressen in Beratungsangeboten bei ebenfalls gestiegenen Erwartungen an elterliche Erziehung sowie die im Zuge des „Psychobooms“ gewachsene Akzeptanz von psychischen Krankheiten – alles zentrale Entwicklungen in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre. Zweitens kursierten neue liberalisierte Sexualitätsvorstellungen, die bei Mädchen und Frauen mit geistigen Behinderungen allerdings restriktive Folgen zeitigten, wie die erhöhte Nachfrage nach Sterilisationen minderjähriger Mädchen zeigt. Allerdings drückten sich diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse weniger in gesamtgesellschaftlichen Krisensituationen aus, sondern sie riefen familiäre Problemlagen hervor. Tradierte Geschlechtervorstellungen boten einen gemeinsamen Bezugsrahmen von Eltern und Expertin. So stellten essentialistische Geschlechtervorstellungen eine Konstante dar, die den beschriebenen gesellschaftlichen Verunsicherungen entgegenwirkten bzw. sowohl für die Eltern als auch für die Human62 Kretschmann, Einleitung (wie Anm.3), 14. Siehe auch: Johannes Fried/Johannes Süßmann (Hrsg.), Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne. München 2001.

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genetikerin einen Halt boten. Insofern wäre in der historischen Forschung zur Wissenspopularisierung zukünftig genauer auszuloten, ob nicht auch Geschlechtervorstellungen einen ähnlich beruhigenden, sozialkontrollierenden Effekt auf Gesellschaften ausübten, wie es der Wissenspopularisierung selbst zugeschrieben wird.

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Die Autorinnen und Autoren

PD Dr. Bettina Bock von Wülfingen, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kulturwissenschaft, Georgenstr. 47, 10177 Berlin, E-Mail: [email protected] a. o. Univ.-Prof. Dr. Johanna Gehmacher, Universität Wien, Institut für Zeitgeschichte, Spitalgasse 2, A-1090 Wien, E-Mail: [email protected] Dr. Muriel González Athenas, Ruhr-Universität Bochum, Historisches Institut, Abteilung Frühe Neuzeit und Geschlechtergeschichte, Universitätsstr. 150, 44801 Bochum, E-Mail: [email protected] PD Dr. Claudia Kemper, Universität Hamburg, Fachbereich Geschichte, Überseering 35/2, 22297 Hamburg, E-Mail: [email protected] Eva Marie Lehner, Universität Duisburg-Essen, Historisches Institut, Abteilung Frühe Neuzeit, Universitätsstr. 12, 45141 Essen, E-Mail: [email protected] J-Prof. Dr. Lisa Malich, Universität zu Lübeck, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Wissensgeschichte der Psychologie und Psychotherapie, Königstrasse 42, 23552 Lübeck, E-Mail: [email protected] Andreas Neumann, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Universitätsarchiv, Universitätsgeschichtliche Forschungsstelle, Bibliotheksplatz 2, Postfach 07737 Jena, E-Mail: [email protected] Dr. Annika Raapke, Universität Oldenburg, Institut für Geschichte, Prize Papers Projekt, Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg, E-Mail: [email protected] PD Dr. Sophie Ruppel, Universität Basel, Departement Geschichte, Hirschgässlein 21, CH-4051 Basel, E-Mail: [email protected] Dr. Britta-Marie Schenk, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Abteilung für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, Leibnizstr. 8, 24118 Kiel, E-Mail: [email protected]

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/ 9783110695397-012

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Dr. Falko Schnicke, Universität Hamburg, Fachbereich Geschichte, Überseering 35, 22297 Hamburg, E-Mail: [email protected] Dr. Sarah-Maria Schober, Universität Zürich, Historisches Seminar, Karl-SchmidStrasse 4, CH-8006 Zürich, E-Mail: [email protected]

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