333 100 4MB
German Pages 490 [496] Year 2001
UR h T O R MT J N D S T R T T K T zum sazialen\il/andeiin Mittelalter tind Frtiirer Neuzeit Stuctrien
Petervon Moos (Hg.)
Der Fehltritt Vergehenund Versehenin der Vormoderne
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DER FEHLTRITT Vergehenund Versehen in der Vormoderne
von herausgegeben
PETER VON MOOS
200r BÖHLAU VERLAGKÖLN \TEIMAR\TIEN
Gedruckt mit freundlicherlJntersrützung desArbeitskreisesGIK, Luzern
Kla zvm )
herzlic
Gerd Altho
Peter Landau, Ger und I Die DeutscheBibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Fehltritt : Vergehenund Versehenin der Vormoderne/ hrsg.von Petervon Moos. Köln; \Teimar; \Wien: Böhlau,2001 (Norm und Struktur; Bd. 15) ISBN 3-412-06101-8 O 2001by BöhlauVerlagGmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, 50668Köln Tel. (022r) 91 39 00, Fax (0221)91 39 An [email protected] Alle Rechtevorbehalten Satz:Thomas Schirren,Tübingen Druck und Bindung: SrraussOffsetdruck GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiemPapier Printed in Germany ISBN 3-412-06101-8
KlausSchreiner zum 70. Geburtstag
herzlich gewidmetvon Gerd Althoff, Heinz Duchhardt, PeterLandau,Gert Melville,\WinfriedSchulze und Petervon Moos
lnhalt
ZumGeleit....
Pn,rn,n voN Moos (Paris Vorwort r Der ArbeitskreisKommunikation ir z Der Fehltrittund c Interaktionskom z.r Zur Heuristikbed zr.r Ordnungund Ord z.r.z Ordnungsbegrif z.r3 Störungsbegriff. z,z Der FehltrittalsEr Diskursgegenst z.z.r Wirkungen,Verar z.z.z DasProblemder R Diskursenüberda 2.3 Anhang z4.r Ehre-und Sünden z4.z Arabische Fehltrin
PrrEnvoN Moos (Paris Einleitung Fehltritt, Fauxpas und an im Mittelalter r Prolegomena zur S r.r Moderneund anti r.2 MittelalterlicheS r.3 Übergänge von de modernen Seman z Fehltrittebei Gesc späteren Mittelalr zr Joinville z.z Chastellain... 2.3 Commynes... 2.4 Komponenten des ModernerFaurpa 3 Bibliographie zum 4
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Inhalt
Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ix
Peter von Moos (Paris)
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2
xi Der Arbeitskreis »Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne« (GIK ) . . . . . . . . . . . xi Der Fehltritt und die Diskurse über menschliche Interaktionskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xii Zur Heuristik bedrohter Integrität in der Vormoderne . . . . xii Ordnung und Ordnungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii Ordnungsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii Störungsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiv Der Fehltritt als Ereignis und als anthropologischer Diskursgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xvi Wirkungen, Verarbeitungen und Vermeidungsstrategien . . xvii Das Problem der Regelbeherrschungs-Kompetenz in den Diskursen über das Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xx Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxiii Ehre- und Sündendiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxiii Arabische Fehltrittbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxiv
Peter von Moos (Paris)
Einleitung Fehltritt, Fauxpas und andere Transgressionen im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 4
Prolegomena zur Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne und antike Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelalterliche Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergänge von der mittelalterlichen zur modernen Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehltritte bei Geschichtsschreibern des späteren Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joinville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chastellain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Commynes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komponenten des mittelalterlichen Fehltritts . . . . . . . . . . . Moderner Fauxpas und mittelalterlicher Fehltritt . . . . . . . Bibliographie zum Fehltritt in Geschichte und Gegenwart .
1 1 3 11 27 33 37 43 53 65 73 90
vi
Inhalt
Bernhard Jussen (Göttingen)
Nicht einmal zwischen den Zeilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3
Eine kurze Bemerkung zum »Fehltritt«in der lateinischen christlichen Literatur des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . »Undichte Stellen im dominanten Schuld- und Sühnediskurs«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abaelard? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97 97 99 105
Guy P. Marchal (Luzern)
Fehltritt und Ritual. Die Königskrönung Friedrichs III. und Herrscherbegegnungen in Frankreich: Eine Recherche . . . . . .
109
Valentin Groebner (Basel)
Regel, Ausnahme, nachträgliche Benennung. Über Geschenke, Fehltritte und ihre Berichterstatter im 15. Jahrhundert . . . . . .
139
Klaus Schreiner (Bielefeld)
Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3
Folgelasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuzeitliche Tendenzen der Positivierung: Von Gottes Strafaktion zur glückbringenden Schuld (felix culpa) . . . . . Vom Akt des Ungehorsams zur selbstverantwortlichen Handlungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151 155 160 166
Alois Hahn (Trier)
Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion . . . . . . .
177
Fehltritt, Peinlichkeit und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiße und kalte Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sündenbekenntnisse in Primitiven Gesellschaften . . . . . . . Geheimnis als Enthüllungsgenerator . . . . . . . . . . . . . . . . . Inszenierung von Unabsichtlichkeit als funktionales Äquivalent für Geheimhaltung bzw. die Vermeidung von Schuldthematisierungen . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177 179 189 191
1 2 3 4 5
6
196 201
Achim Wesjohann (Dresden)
ut … stultus vel fatuus putaretur – ›Fehltritte‹ früher Franziskaner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
vii
Inhalt
Gadi Algazi (Tel Aviv)
Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergeßlichkeit . . . . . . . . . 235 1 2 3 4 5 6
Bemerkungen zu ihrer Rolle in der Herausbildung des Gelehrtenhabitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergeßlichkeit als soziale Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerstreutheit als fragiles Mittel sozialer Distinktion . . . . . Die soziale Organisation gelehrter Vergeßlichkeit . . . . . . . Gelernte Fehltritte und Gelehrtenhabitus . . . . . . . . . . . . . . Die Ambivalenzen gelehrter Zerstreutheit . . . . . . . . . . . . .
235 237 239 240 244 246
Danielle Bohler (Paris)
L’impair ou la faute? La question de la responsabilité . . . . . . . 251 1 2 3
Discerner la limite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L’horizon de l’acte inaccompli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Responsabilité et rétrospection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253 256 259
Rüdiger Schnell (Basel)
Literarische Spielregeln für die Inszenierung und Wertung von Fehltritten. Das Beispiel der ›Mären‹ . . . . . . 265 1 2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4 5
.............................................. .............................................. .............................................. Unabsichtlicher Normverstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Opfer‹ sind für den Fehltritt mitverantwortlich . . . . . . . . . Jedem Menschen kann ein Fehltritt unterlaufen . . . . . . . . . Aufdeckung des Fehltritts eines Anderen würde eigenen Ehrverlust bedeuten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Freundschafts- bzw. Vertrauensverhältnis legt nachsichtige Haltung nahe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ............................................. .............................................
265 268 271 272 284 289 294 300 305 310
Jan-Dirk Müller (München)
Kleine Katastrophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1 2 3 4 5 6
Zum Verhältnis von Fehltritt und Sanktion in der höfischen Literatur des deutschen Mittelalters . . . . . . . . . . Höfischer Code in der ›Krise‹ des höfischen Romans . . . . . Rechtsbruch und Geschmacklosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Frideruns Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Zwischenfall beim Tanz zur säkularen Katastrophe . Mittelalterliche Hofgesellschaft und Fehltritt . . . . . . . . . . .
317 321 326 330 336 340
viii
Inhalt
Werner Röcke (Berlin)
Provokation und Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3
Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman . . . . . . . . . . . . Mimesis der Ehre und Gelächter. Keies notwendiger Affront im Iwein-Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Resignation vor der Gewalt. Das Beispiel von Wolframs ›Parzival‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343 343 347 355
Arnold Angenendt (Münster)
Die Epikie. Im Sinne des Gesetzgebers vom Gesetz abweichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363
.............................................. .............................................. .............................................. ..............................................
363 367 370 375
1 2 3 4
Richard Newhauser (San Antonio)
Zur Zweideutigkeit in der Moraltheologie. Als Tugenden verkleidete Laster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
Gerd Schwerhoff (Dresden)
Fehltritt oder Provokation? Theologisch-rechtliche Deutung und sozialen Praxis der Gotteslästerung im 15. und 16. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Karl-Siegbert Rehberg (Dresden)
Der ›Fehltritt‹ als Heuristik bedrohter Integrität. Über Mikroverletzungen institutioneller Handlungsordnungen . . . .
419
Zur Semantik sozialer Gleichgewichtsstörungen . . . . . . . . Zu Kasuistik und Definition des »Fehltritts« . . . . . . . . . . . Regel und Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verletzbarkeit des Rituellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der säkularisierten »Sünde« bis zum Veränderungssymbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rangverlust und Informalisierung. Oder: die Unsichtbarkeit des allgegenwärtigen ›Fehltritts‹ in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
419 425 429 430
Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
447
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
1 2 3 4 5 6
435
439
Zum Geleit
Als 1996 der „Arbeitskreis für historische Kolloquien »Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne (GIK)« als Stiftung am Historischen Seminar der Universitären Hochschule Luzern eingerichtet wurde, da war dieses Seminar selbst noch eine sehr junge Institution an einer noch jüngeren Geisteswissenschaftlichen Fakultät: Erst 1989 wurde der erste Historische Lehrstuhl besetzt, und die Fakultät wurde erst 1993 eingerichtet. Inzwischen konnte das Historische Seminar sein 10-jähriges Jubiläum feiern und einen beachtlichen Leistungsausweis präsentieren. Von Anfang an hat es betont interdisziplinäre Kolloquien mit internationaler Beteiligung ausgerichtet, wie es die verschiedenen Bände seiner Publikationsreihe »Clio Lucernensis« dokumentieren. Als sich 1996 die Möglichkeit abzeichnete, dass die von Peter von Moos gegründete, in Luzern domizilierte Stiftung am Historischen Seminar untergebracht werden könnte, bedeutete dies eine einmalige Chance, um so mehr, als deren inhaltliche Ausrichtung den in Luzern gepflegten fachlichen Schwerpunkten vollkommen entsprach. Das Historische Seminar Luzern sah und sieht hierin eine einzigartige Bereicherung und Anregung der eigenen Forschung und – indirekt – der Lehre. Daher sei an dieser Stelle Peter von Moos der herzliche Dank für die von ihm ergriffene Initiative ausgesprochen. Jugend darf groß denken und ideale Pläne schmieden. So sei dem noch jungen und kleinen Historischen Seminar Luzern, das immerhin 1999 schon ein europäisch vergleichendes Forschungsprojekt im Rahmen der European Science Foundation lanciert hat, der Traum gestattet, zusammen mit der Stiftung »Arbeitskreis für historische Kolloquien »Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne (GIK)« im Herzen der multikulturellen nach allen Seiten offenen Schweiz ein Ort des Brückenschlags zu werden zwischen den Disziplinen und den Forschungsdiskursen, wie sie in den verschiedenen Kulturkreisen geführt werden. Luzern, im März 2000
Guy P. Marchal
Peter von Moos
Vorwort
1
Der Arbeitskreis »Gesellschaft und individuelle Kommunikation in der Vormoderne« (GIK )
Bei der Gründung des im Geleitwort erwähnten Stiftungsinstituts wurde 1996 in ›Leitideen‹ der generelle thematische Rahmen für die vorgesehenen Kolloquien vorgestellt: die Interdependenz von vorgegebenen sozialen Mustern und individuellem Interaktionsverhalten. Aufgrund der darüber geführten Diskussion seien vorweg einige methodische Hauptaspekte nochmals zusammengefaßt. Überreich ist das derzeitige Angebot an Tagungen und Sammelpublikationen – auch gerade zur mittelalterlich-frühneuzeitlichen Geschichte des kommunikativen Handelns, sozialer Habitualisierungen, Ordnungsleistungen und ähnlicher Phänomene. Die gängigen Formen wissenschaftlicher Kooperation haben sich durchaus bewährt, und es wäre sinnlos, mit »noch mehr von demselben« dazu in Konkurrenz treten zu wollen. Gesucht ist vielmehr eine Alternative, eine Marktlücke im Veranstaltungsbetrieb. Der Kulturwissenschaftler ist normalerweise gezwungen, die contemplatio einsamer Schreibtischarbeit und die disputatio über seine mehr oder weniger fertigen Ergebnisse phasengetrennt zu betreiben. Will er seine Probleme und Hypothesen schon während der Arbeitsphase (nicht nur im akademischen Unterricht) erproben, braucht er ein eigenes Forum. Die Institution GIK wurde gegründet, um einem kommunikativen Bedürfnis entgegenzukommen: neue Einsichten sollen im kleinen Kreise der für ein bestimmtes Thema jeweils zuständigen Forscher intern vermittelt, getestet oder auch erst gewonnen werden können. Die Formel für die angestrebten Werkstattgespräche lautet: weite Thematik – enge Fragestellung. Die Themen müssen einerseits interdisziplinär und international anschließbar sein, damit die verschiedenen Zugänge, Wissenschaftstraditionen, nationalen Spezialsemantiken, ›Paradigmen‹ sich aneinander reiben und Insider-Diskurse der Einzelfächer reflexiv relativiert werden können. Darum ist auch eine epochenübergreifende Vergleichsebene gewählt worden: die Vormoderne als nach oben und unten hin offene Zeitspanne vom 9. zum 18. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Übergangszeit vom Mittel-
xii
Peter von Moos
alter zur Neuzeit. Die Besonderheiten der Epochen werden beim heutigen Forschungsstand weder durch historistische Abschottung noch durch generelle Evolutionsvorgaben erkennbar, sondern in einem von mikrohistorischen Fallstudien gestützten Vergleich unterschiedlicher, sich oft überlagernder Diachronien, die das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, Alterität und Modernität in deren eigenen Kontexten zeigen. Der Einbezug der Gegenwart ist dabei nicht nur zu objektivierenden Vergleichs- bzw. Kontrastierungszwecken unerläßlich, sondern auch zur Reflexion unserer eigenen Erkenntnisinteressen, weshalb der Dialog zwischen historischen und systemwissenschaftlichen Disziplinen beiden Seiten Gewinn verspricht. Um andererseits bloß additiver Interdisziplinarität vorzubeugen und zu verhindern, daß die weitgefaßte Thematik als Aufhänger für abgeschottete Spezialforschungen mißverstanden wird, ist sie auf eine möglichst präzise, unausweichliche Leitfrage hin zu fokussieren, die jeden Teilnehmer mit sanftem Zwang diskussionsbedürftig macht.
2
Der Fehltritt und die Diskurse über menschliche Interaktionskompetenz
2.1
Zur Heuristik bedrohter Integrität in der Vormoderne
Das vorbereitende Werkstattgespräch, das unter obigem Titel vom 2. bis 3. Mai 1997 am ›Wissenschaftskolleg zu Berlin‹ zwischen sechs Vertretern der Soziologie (K.-S. Rehberg), Geschichtswissenschaft (V. Groebner, G.P. Marchal, G. Melville) und Literaturwissenschaft (P. von Moos, W. Röcke) stattfand, hat schon im Experimentierstadium die Durchführbarkeit der genannten Grundsätze gezeigt. Die folgende Zusammenfassung dieser Diskussion bildete die allen Teilnehmern vorliegende Projektskizze für die Haupttagung vom 30. September bis 2. Oktober 1999 in Kastanienbaum bei Luzern.1 Auch wenn nicht alle darin angesprochenen Probleme in der Folge behandelt worden und andere hinzugekommen sind, so dürfte es sich doch lohnen, diese vorstrukturierenden Überlegungen nochmals abzudrucken, damit auch der Leser das gesamte work in progress überblicken und Vergleiche zwischen Plan und Ausführung anstellen kann. 1
Sehr hilfreich waren die ausführlichen Notizen, die Karl-Siegbert Rehberg im Sinne eines »Eigenkonzepts« bald nach dem Berliner Vorgespräch dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hatte. Die Fußnoten sind, wie gelegentliche Verweise auf Beiträge und Diskussionsvoten der Tagung zeigen, erst nachträglich hinzugefügt worden. Ich verweise hier bereits auf die am Ende der nachfolgenden Einleitung gesetzte Bibliographie mit den wichtigsten Arbeiten zum Thema (Abkürzungen nach ›Lexikon des Mittelalters‹).
Vorwort
xiii
2.1.1 Ordnung und Ordnungsstörung Die methodische Anregung zum Thema stammt von Clifford Geertz: Ausnahmen, die erst die Regeln des Verhaltens offensichtlich machen, sind in der Ethnologie als Schlüssel für die Erkenntnis der nicht-expliziten Struktur von Ritualen erfolgreich verwendet worden.2 Das anthropologische Verfahren, aus dem Versagen eines ungeschriebenen Gesetzes, aus nicht ordnungsgemäß funktionierenden Handlungsregeln, aus dem unvorhergesehenen Riß in einem sozialen Integrationssystem auf dessen selbstverständliche Funktionsweise zurückzuschließen, läßt sich auch auf andere sozialwissenschaftliche und insbesondere auf die historischen Disziplinen übertragen, wie dies exemplarisch Robert Darnton gezeigt hat.3 Der Ausgang von diesem methodischen Ansatz bedeutet freilich keine einseitige Festlegung auf die Rekonstruktion unsichtbarer Systeme aus sichtbaren Störungen. Man kann auch die Störung selbst als Ordnungskrise in den Mittelpunkt stellen und sie von den unterschiedlichen Systemfolgen her – anomischer Zusammenbruch, Restabilisierung durch Transformation oder durch Verfestigung – zu beschreiben suchen. Dies bedeutet eine kritische Umkehrung des heute in den Humanwissenschaften vorherrschenden Interesses an sozialen Ordnungen und Regelwerken, das leicht Gefahr läuft, die holistische Vorannahme quasi prästabilierter Harmonien in sogenannt wohlintegrierten Gesellschaften sogar noch am Beispiel manifester Disfunktionalitäten, die spalten und verwirren, stereotyp zu bestätigen.4 Gewiß wäre auch die gegenteilige Perspektive einseitig, wenn die Störungen allein als Destruktionskräfte oder Ordnungsgefährdungen in den Blick kämen. Störungen sind vielmehr beides: Risiken und Chancen für grundsätzlich labile, latent brüchige Systeme. Erst die Fallanalyse kann emprisch Richtung und Verlauf des einzelnen Krisenphänomens bestimmen.
2.1.2 Ordnungsbegriffe Um eine unzweideutige Verwendung der Begriffe zu ermöglichen, wurden im Bereich der Ordnung folgende Bestimmungen vorgeschlagen: Unter Ritualen sind die Geltungsquellen eines durch gemeinsame Wiederholung stabilisierten Alltagsverhaltens zu verstehen, deren Code sich durch Erklärungsunbedürftigkeit auszeichnet, weil sie Normalität beanspruchen. (»So macht man’s 2 3
4
Geertz, Dichte Beschreibung, S. 261–287. Robert Darnton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München/Wien 1989, S. 91–124 (The Great Cat Massacre, London 1984); Ders., Geschichte und Anthropologie, in: Ders., Der Kuß des Lamourette, München 1998, S. 230–257 (The Kiss of Lamourette. Reflections on cultural history, London/ New York 1990, S. 329–253). Zu dieser Versuchung vgl. grundsätzlich Ernest Gellner, Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte, München 1993, S. 29f.; Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Ders., Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, S. 235f.
xiv
Peter von Moos
eben, weil man es immer so gemacht hat.«) Deren Selbstverständlichkeit hat Geertz durch den Begriff des common sense wiedergegeben. Das Hauptmerkmal dieses konventionellen kulturellen Systems besteht darin, daß der common sense leugnet, daß er common sense ist. Er gibt sich als unmittelbare Natur aus.5 – Riten unterscheiden sich von Ritualen durch die Explizitheit und Außeralltäglichkeit ihres Codes: Es sind höher verdichtete, theoretisierbare, durch Praktizierungsvorschriften festgelegte Handlungsabläufe, die, vom religiösen in den weltlich-politischen Bereich übertragen, als Zeremoniell erscheinen. – Schließlich bedeutet Ritualisierung die erstarrte, zwanghafte Form derart fixierter Abläufe.6 – Werden die rituellen Formen des Ordnungsarrangements von den Akteuren interiorisiert, so kann man sie als in Routinen, Konventionen, Bräuchen und Sitten unterschiedlich tief verankerte Habitualisierungen bezeichnen. Diese begriffliche Systematik ist nun gerade im Hinblick auf das Folgende nicht starr schematisch anzuwenden. Denn derselbe Störfall kann sich mit unterschiedlichen Folgen auf alle diese Ordnungskategorien auswirken.
2.1.3 Störungsbegriffe Im Bereich der Störung wurde mit Bedacht der Singular ›Fehltritt‹ als Titelmetapher gewählt: Im engeren Sinn bedeutet diese Entgleisung die unabsichtliche Fehlanwendung einer grundsätzlich akzeptierten und bekannten Regel eines gruppeninternen Codes durch ein zugehöriges Individuum. Der selbstverständliche Verpflichtungsdruck der Regel wird dadurch erst drastisch sichtbar und bewußt. Der Fehltritt ist ein einmaliges, unvorhergesehenes Ereignis, das die Wiederholung oder Fortsetzung eines Rituals auf die Probe stellt, gefährdet oder gar verunmöglicht. Wenn ein Einzelner damit störend auf das ganze Normengeflecht des Kollektivverhaltens einwirkt, zwingt der Vorfall zur Problematisierung und Erklärung des bisher Selbstverständlichen. Einem vorgegebenen Ritus oder Zeremoniell gegenüber verhält sich der Fehltritt, ob zusätzlich sanktioniert oder nicht, vorwiegend stabilisierend und normverstärkend.7 Hier gilt das Prinzip von der regelbestätigenden Ausnahme, das genau besagt, daß die Ausnahme selbst Teil der Regel ist und dieser »zu einer erweiterten und vertieften Form verhilft«.8 Der Fehltritt unterscheidet sich allgemein als kurzfristige soziale Kompetenzschwäche (sei es durch körperlichen Kontrollverlust oder aufgrund intellektueller Fehleinschätzung einer Situation) vom dauerhaften, mehr oder weniger sozialtranszendenten Kompetenzverlust durch Krankheit, Wahnsinn, Körper- oder 5 6 7
Geertz, S. 263, 266: »Gewöhnlich hatte man … einen common sense-Begriff vom common sense: er ist das, was jeder mit gesundem Menschenverstand weiß«. Vgl. Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 14f. zum Unterschied von »Ritual« und »Ritualismus«. Gute Beispiele hierfür finden sich im Beitrag von Guy Marchal in diesem Band.
Vorwort
xv
Sprachfehler, höhere Gewalt und dgl. ebenso wie vom schuldhaften Regelverstoß der Sünde oder des Vergehens, obwohl die Grenzen zwischen Fehltritt, bleibender Defizienz und moralischem Verstoß fließend und kulturell überaus variabel sind. Auch kleine Formfehler können noch heute als Fahrlässigkeiten bewertet werden, und seit dem Freudschen Fehlleistungskonzept gibt es kaum mehr ganz unschuldige Alltagspannen.9 Das Urteil über alkoholisiertes Verhalten hat stets zwischen moralischen und therapeutischen Gesichtspunkten geschwankt. Viele in einer Kultur naturbedingte Fehlleistungen und Gebrechen oder unfreiwillige Delikte gelten in einer anderen als Schuld oder Zeichen der Strafe Gottes. In totalen Institutionen (Klöstern, geschlossenen Anstalten, Disziplinareinrichtungen) gelten alle ereignishaften Abweichungen bis zu den ›unwillkürlichen‹ Körperreaktionen unterschiedslos als Straftaten.10 Die erwähnten Unterscheidungen sind darum geradezu als Parameter der jeweiligen Sozialstruktur und des historischen Wandels relevant. Im weiteren Sinn wird unter Fehltritt (als Synekdoche) die Gesamtheit aller Regelverletzungen subsumiert, unter denen die rituelle Entgleisung nur eine, wenn auch die hier zentral interessierende Erscheinung darstellt. Der Fehltritt stricto sensu kann so in einer Typologie der Störungen von den Übergangsund Kontrastphänomenen her genauer eingegrenzt werden. Darunter fallen Formen der gewollten, bewußten Regelverletzung (kalkulierte Provokation, spielverderbende Verweigerung, gegenkulturelles Verhalten, der vorgetäuschte Fehltritt, substanzzerstörende Wahrung oder Übertreibung der bloßen Form eines Rituals, Erprobung der Tragfähigkeit von Ritualen an der Grenze des Erlaubten) sowie Pannen, Fehlgriffe, Fahrlässigkeit, Fehlanwendungen von Regeln aus Unkenntnis oder Mißverstehen eines (vornehmlich gruppenexternen) Codes (etwa in der Begegnung mit Fremden oder bei der verlegenheitserzeugenden Kollision von Regeln unterschiedlicher Provenienz).11 Der Fehltritt ist, wie schon das Wort zeigt (Schrittfolge in einem festgelegten Bühnenraum), im Wesentlichen an körperliche Präsenz in face-toface-Situationen gebunden.12 Dennoch kann man im übertragenen Sinne 8
9 10
Karl-Siegbert Rehberg, »Ausnahmezustand« und »Außeralltäglichkeit«. Prätentionen der Regellosigkeit. Soziologische Anmerkungen zu einem Scheinwiderspruch, in: Heinz Herbert Mann / Peter Gerlach (Hgg.), Regel und Ausnahme, Festschrift Hans Holländer, Aachen/Leipzig/Paris 1995, S. 11–38. Wolfgang Wieland, Verantwortung, S. 90 betont, daß »jede Ausnahme, sofern sie anerkannt wird, in Wahrheit ein Recht höherer Ordnung postuliert.« Vgl. Dreitzel, Peinliche Situationen, S.148–173; Goffman, Stigma, S. 132f. und passim. Vgl. Hahn, Sakramentale Kontrolle, S. 229–253; Beispiele bei Gougaud, Anciennes coutumes claustrales, S. 41–48 (Anciennes règles relatives à la bonne tenue au choeur); Hans-Jürgen Derda, Vita communis. Studien zur Geschichte einer Lebensform in Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 86–95, 171–178, 202–213, 256–261; vgl. auch unten Anm. 30 und Einleitung, Anm. 81.
xvi
Peter von Moos
auch von ›Fehltritten‹ in sekundären Medien sprechen (etwa in der phasenverschobenen brieflichen Interaktion oder im Umgang mit einem Publikum oder Forum bei Fehlerwartungen hinsichtlich des feed back).13 Alle diese Phänomene des Fehltritts im zweiten Grad sollten jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern zur präziseren Bestimmung des eigentlichen Fehltritts Beachtung finden, weil dieser in jeder kulturellen Transgressions-Kodierung einen eigenen, emprisch-deskriptiv zu bestimmenden Stellenwert einnimmt.
2.2
Der Fehltritt als Ereignis und als anthropologischer Diskursgegenstand
Sowohl auf der individuellen Ebene des einzelnen Akteurs wie auf der kollektiven der reagierenden Gesellschaft ist zu fragen, was der Fehltritt bewirkt und wie mit ihm umgegangen wird. Die praktischen Verarbeitungen dieser Ordnungsstörung beziehen sich explizit oder implizit auf anthropologische Grundannahmen über die Kontrollierbarkeit und Belastbarkeit der psychophysischen Konstitution des Menschen. Die vom Normalmenschen erwartete Fähigkeit, Verhaltensregeln zu beherrschen, wird durch das Verfehlen dieser Rollenerwartung zu einem Problem, möglicherweise sogar zu einer Widerlegung selbstverständlicher Kompetenzzuschreibungen. Was Durkheim vom Verbrechen sagte: daß es jedesmal die Schwierigkeit sichtbar mache, Gesetze zu befolgen und Ordnung aufrecht zu erhalten, und darum ordnungsstabilisierend wirke, gilt mutatis mutandis auch vom Fehltritt.14 Verschiedene, z.T. hoch theoretische Diskurse über Zurechnungsfähigkeit, Verantwortlichkeit, Affekt- und Körperkontrolle sowie Rollenkompetenz in der Geschichte der Jurisprudenz, Theologie, Philosophie und Medizin lassen sich darum auch für die spezifische Interpretation und Bewertung der Unwillkürlichkeit von Fehltritten heranziehen und vergleichen.
11
12 13 14
Eine bunte Mischung solcher ›Fehltritte‹ bietet Brandt, das ain groß gelächter ward. S. 303–332. – Für die Gegenwartsgesellschaft wäre an dieser Stelle auch die aktuelle Diskussion über Mitverantwortung und Zurechnung bei Umweltkatastrophen, unvorhergesehenen ›kollateralen Effekten‹ u. dgl. zu nennen; vgl. z.B. Mathes, Unbeabsichtigte Folgen sozialen Handelns; Hahn, Risiko und Gefahr; Wieland, Verantwortung, S. 8f., 94– 103; Mary Douglas, Risk and Blame. Essays in Cultural Theory, London / New York (1992), 1994; Ulrich Müller-Herold, Verfehlung, Schuld und Scham. Vom sittlichen Versagen in der Wissenschaft, in: Clemens / Schabert, S. 21–54; vgl. auch unten Einleitung, Anm. 242. Vgl. Goffman, Rahmenanalyse. Einige briefliche ›Fehltritte‹ erwähnt Köhn, Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen, S. 322–326. Emile Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 155f. (Les règles de la méthode sociologique, Paris 1897).
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2.2.1 Wirkungen, Verarbeitungen und Vermeidungsstrategien Für den Einzelnen macht es einen wesentlichen Unterschied aus, ob die Regelverletzung unfreiwillig oder gewollt ist. Der eigentliche, unbeabsichtigte Fehltritt erzeugt im Fehlenden Gefühle der Verlegenheit, Peinlichkeit und Scham, deren Intensität durch die kulturelle Zuweisung dieser Defizienz zur menschlichen Natur (Plessners »natürlicher Künstlichkeit«) und zum jeweiligen Status (Rang, Geschlecht, Alter) innerhalb einer zur Naturordnung sozial konstruierten Hierarchie bestimmt wird.15 Lächerlichkeit, Blamage und Gesichtsverlust können zu höchst traumatischen Selbstwerteinbußen im Sinne der Zerstörung des Ich-Ideals,16 zu Verzweiflung, Flucht und Selbstmord führen (im Boden versinken, untertauchen, in einem Kloster verschwinden); sie können aber auch durch Umdeutung zu Überkompensationen in Trotz, Rebellion und Selbstbehauptung zwingen. Die durch Angst (oder auch nur Lampenfieber) antizipierten Schrecken eines Fehltritts sind eines der stärksten Mittel der Sozialkontrolle und des Konformitätsdrucks. Das Individuum fühlt sich dadurch zu verschiedenen, stets prekären Vermeidungsstrategien genötigt, wie Selbstbeherrschung, Verstellung, Unauffälligkeit oder Rückzug in die Innerlichkeit. Ein angesehener, öffentlich sichtbarer Status erfordert aufgrund der potentiellen Fallhöhe größere Wachsamkeit als ein unscheinbarer. Doch kann das Herausragen insofern auch entlastend wirken, als die gesellschaftliche Wahrnehmung des Fehltritts durch Reputation oder ständischen Ehrenvorschuß vorurteilsmäßig getrübt zu werden pflegt. Umgekehrt genießen Unehrliche eine gewisse Fehltritts-Immunität oder Narrenfreiheit.17 In face-to-face-Gemeinschaften mit intensiver peer group- oder Nachbarschafts-Überwachung führt jedoch der niedrige Stand keineswegs zu schichtenspezifischer Entlastung. Bei fehlenden Notausgängen in die Heimlichkeit wächst hier vielmehr die Integritätsbedrohung, da jeder dauernd dem Blick der anderen preisgegeben ist. Signifikant unterscheiden sich auf diesem Gebiet die Geschlechter. Der sprichwörtlich sexuell konnotierte ›Fehltritt‹ zeitigt für die Frau unbeabsichtigte Folgen, die mehr aus sozialen als moralischen Gründen gefürchtet werden, weshalb sogar kriminelle Mittel (z.B. Kindstötung) gegen die existenzgefährdende Bloßstellung eingesetzt werden. Unauffälligkeit (als Demut oder Schamhaftigkeit) wird zu einer weiblichen Primärtugend, wo die persönliche Integrität an einer negativ definierten Ehre, am Nicht-ins-Gerede-Kommen, hängt und die kleinste Formabweichung von der Normalität die destruktive Eigendynamik des Klatschs in Gang setzen kann.18 Abgesehen von den erwähnten generellen Standesaspekten unterliegt der Mann dem Zwang zur 15 16 17
Dreitzel, Peinliche Situationen, S. 149f. Vgl. Piers / Singer, Shame and Guilt, S. 23–43, 59–99. Vgl. unten Einleitung, S. 77ff.
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kämpferischen Ehrenrettung. Ehrverletzungen sind meist keine Fehltritte, sondern beabsichtigte Herausforderungen. Dennoch handelt die gesamte höfische Literatur nicht umsonst so eindringlich von den Gefahren der Lächerlichkeit auf der Bühne des zwischenmännlichen Rangstreits, und dieses ridicule qui tue kann durchaus auch in Unachtsamkeiten und Fehleinschätzungen der Spielsituation liegen (Selbstüberschätzung, Vertrauensseligkeit, »Verliegen«, durchschaute Lügen, mißverstandene Gesten, durch Ignorieren ins Leere laufende Beleidigungen, ungewollte Tabuverletzungen usw.). Für die Gesellschaft ist die Frage weniger vordringlich, ob ein Fehltritt beabsichtigt ist oder nicht; gleichviel welchen Ursprungs (Mißgeschick, Kontrollverlust, Aus-der-Rolle-Fallen, Fehlauslegung des Codes, Provokation) legt er die Fragilität der Integrationsordnung offen und bewirkt im schlimmsten Fall Skandal, Ansteckungsgefahr oder nicht mehr kontrollierbare Kettenreaktionen. Er zwingt darum zur sofortigen Wiederherstellung der Ordnung. Die möglichen Reaktionen auf den Fehltritt19 sind Verleugnung und Übersehen, »als wäre nichts geschehen« (Toleranz als Skandalvermeidung); erzieherische Korrektur im Sozialisationsprozeß; Mitgefühl bzw. »Mitscham« mit dem Pechvogel (es gibt sogar ein Gefühl der Kollektivscham)20; Umdeutung zu einem übernatürlichen Zeichen (Wunder oder Dämonenzauber)21; Positivierung zu einer neuen Regel oder aber unmittelbare Reparatur durch Satisfaktionsforderungen, eigentliche Kriegserklärungen und abschreckende Sanktionen aller Art (von der Stigmatisierung, Bannung und Ausgrenzung im Extremfall bis zur Todesstrafe und Lynchjustiz), deren Verhältnismäßigkeit uns kulturhistorische Rätsel aufgeben kann. Auch auf der kollektiven Ebene erzeugt die Angst vor einem Ritualzusammenbruch durch den Fehltritt prophylaktische Maßnahmen. Verborgene und potentielle Störungen werden z.B. durch Gerücht und Gerede so lange aufgebläht, bis sie als ›Realitäten‹ unterdrückt werden können (propagandistische SkandalKonstruktion). Erfolg oder Mißerfolg solcher Stabilisierungsversuche sind sowohl aus unserer Beobachterperspektive wie aufgrund zeitgenössischer Selbstdeutung zu bewerten, da die grundsätzliche Ambivalenz ritueller Regelsysteme nicht nur dann zu beachten ist, wenn sie in Krisensituationen von den Handelnden bewußt gemacht wird oder expliziter Kritik anheimfällt (die vana vox populi auf der Anklagebank): Stets birgt ein gerade auf Kohäsion, Konformität und Orientierungshilfe angelegter Code latente Spaltungskräfte 18
19 20 21
Vgl. Bergmann, Klatsch, S. 191–212; Péristiany, Honor and Shame; Pitt-Rivers, The Fate of Shechem; Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis; mittelalterliche Beispiele bei Bauer, Die »Gemain Sag«, und Régnier-Bohler, L’honneur des femmes et le regard public, sowie deren Beitrag im vorliegenden Band. Dreitzel, Peinliche Situationen, S. 148f. Ebd., S. 150. Geertz, S. 269f.: der Gedanke an »Hexerei« zur Rettung des common sense.
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in sich, die ein Klima des Mißtrauens, der Verunsicherung, ja der Paranoia erzeugen können. Es wäre bei Ausschluß unbeabsichtigter Nebenfolgen zu erwarten, daß die Kombination individueller und kollektiver Vermeidungsstrategien die Fehltrittsanfälligkeit reduziert. In Wirklichkeit beobachten wir häufig das Gegenteil: Die Bedrohungen verstärken sich sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, weil beiderseits unvereinbare Mittel zur Erreichung desselben Ziels eingesetzt werden. Dem Individuum ist an der Risikobegrenzung durch simulatio/dissimulatio gelegen, der Gesellschaft an der rechtzeitigen Aufdekkung latenter Gefahrenherde. So entsteht eine eskalierende Spirale immer feinerer Mechanismen des Überwachungs- und Neugierverhaltens auf der einen Seite und der Abschirmung oder Mimikry auf der anderen. Ein geschärfter Beobachterblick und deutlichere Lesbarkeit der Körper (Physiognomik) bringen bessere Schauspieler hervor und umgekehrt. Diese Interdependenz von Selbst- und Fremdkontrolle läßt sich mit einem Katz- und Mausspiel vergleichen, in dem die Raffiniertheit der Taktik den Ausgang nur umso unsicherer macht.22 Ob der »Prozeß der Zivilisation« sich aus dieser Dialektik erklären läßt, und ob die Summe der Ordnungsstörungen angesichts des labilen Gleichgewichts sich gegenseitig bedingender Gegenmaßnahmen in der »langen Dauer« konstant bleibt oder zunimmt, ist dabei nicht die Hauptfrage, sondern wie sich die Art des Fehltritts bei solchem Diszipinierungs-Überdruck von Fall zu Fall qualitativ verändert. In Kulturen der Sichtbarkeit (sog. Schamkulturen) und stark »stratifizierten« Gesellschaften ist sowohl die individuelle Integrität wie die kollektive Integration durch Peinlichkeiten und Fehltritte ungleich stärker gefährdet als in unseren funktional differenzierten und »informalisierten« Gesellschaften mit ausgeprägter Subjektivierung der Verantwortlichkeit.23 Dennoch hat es wohl nie, erst recht nicht in der abendländischen Vormoderne, eine reine Schamkultur gegeben.24 Personalistische und intentionsethische Normen der christlichen Wahrhaftigkeits- und Schuldkultur standen grundsätzlich (insbesondere seit dem Hochmittelalter vom Mönchtum her expandierend) antagonistisch zur ständischen Ehre/Scham-Dialektik. Ein Fehltritt vor dem tatsächlichen und verinnerlichten Blick der anderen ist vor dem Auge Gottes (oder dem Über-Ich) entweder ein im Gewissen verantworteter richtiger Schritt oder aber ein schuldhaftes Verhalten. Tertium non datur. Religiöse Normen 22
23 24
Vgl. Hahn, Kann der Körper ehrlich sein?, S. 666–679 und Zagorin, Ways of Lying. Adolph Freiherr von Knigge schreibt dazu: »Habe Dein Gesicht in Deiner Gewalt, daß man nichts darauf geschrieben finde, weder Verwundrung, noch Freude, noch Widerwillen, noch Verdruß. Die Hofleute lesen besser Mienen, als gedruckte Sachen.« (Über den Umgang mit Menschen, III 12, Stuttgart 1991, S. 336). Dreitzel, Peinliche Situationen, S.151f.; zu N. Luhmanns Begrifflichkeit s. Einleitung, unten S. 75, 82. Vgl. Ward, Honor and Shame, S. 1–16 und Einleitung, unten S. 12.
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und soziale Handlungsregeln sind oft im Konflikt gestanden. Moral und Konvention tendieren zur gegenseitigen Entwertung.25 Seit der christlichen Antike gibt es immer wieder Beispiele für die Sprengkraft der Demuts-Forderung gegenüber weltlich oder nur oberflächlich religiös begründeten Gewohnheiten. Die ›religiösen Virtuosen‹ (der Heilige, der Asket, der Ketzer) sind gerade als gesellschaftliche Außenseiter Gesellschaftsveränderer. Was nach der etablierten Ordnung als Fehltritt oder Kompetenzverlust erscheint, kann für das ideale, zu verwirklichende Gottesvolk eine innovative oder reformierende Ordnungsleistung von herausragender charismatischer Sozialkompetenz darstellen, die überkommene Rituale und Ritualisierungen effizient außer Kraft setzt. Das paradoxe Nebeneinander dieser zwei inkommensurablen und dennoch gegeneinander durchlässigen Gesellschaftsordungen verbietet darum von vornherein jede historische Behandlung des Fehltritts, die sich auf verhaltens-und interaktionstheoretische Kriterien beschränken und die möglichen Einbrüche der Religion in die soziale Selbstverständlichkeit ausklammern würde. Franz von Assisi, Ludwig IX. oder John Wyclif setzten sich, gleichviel ob durch Fehltritte oder bewußte Ritualstörungen, jedenfalls durch innengeleitete Indifferenz gegenüber sozialer Normalität dem Lächerlichkeits-Risiko aus und gewannen gerade dadurch ein Prestige, das danach seinerseits (wenn auch nur vorübergehend und in bestimmten Gruppen) die Brüchigkeit der gesamten Rahmenbedingungen für Fehltritte bloßstellte.26
2.2.2 Das Problem der Regelbeherrschungs-Kompetenz in den Diskursen über das Menschenbild Was dem Normalmenschen zugetraut und zugemutet werden kann, ist ein von Moraltheologen, Juristen und Medizinern durch die Zeiten kontrovers diskutiertes, von Dichtern in alteram partem fiktiv radikalisiertes Thema, das weit über die (in diesen Diskursen ohnehin nur randständige) Fehltritts-Beurteilung hinausgreift. Dennoch lassen sich aus den unterschiedlichen Vorstellungen vom Menschenmöglichen in der Rollenkompetenz wesentliche Aufschlüsse für das historische Verständnis von unwillkürlich herbeigeführten Ritualkrisen gewinnen. Von den zwei eingangs genannten Hauptauslösern des Fehltritts steht hier der körperliche Kontrollverlust im Vordergrund; doch auch die intellektuelle Kompetenzschwäche im Umgang mit Handlungsregeln verweist auf anthropologische Vorannahmen über die Wahrscheinlichkeit ritueller Interaktion. Das Mißverstehen und Fehlanwenden von Regeln
25 26
Vgl. Miller, Humiliation, S. 179f., 193f.; Harré, Embarrassment, S. 181–204; Schreiner, Hof und »höfische Lebensführung«, S. 67–140 und Einleitung, unten S. 65. Zu Franziskus s. den Beitrag von Wesjohann in diesem Band, zu Ludwig unten Einleitung, Kap. 2.1.
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setzt deren grundsätzliche Beherrschbarkeit in der »natürlichen Künstlichkeit« voraus. Nur wenige Verhaltensweisen gelten durch alle Zeiten als unbeherrschbare Bedingtheiten der Menschennatur. Das Erröten etwa, das seit dem römischen Recht unentwegt zum untechnischen Indizienbeweis gehört27 und das noch Darwin zum Hauptunterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber den Tieren erklärt hat,28 dürfte ein invarianter Begleiter und Lügendetektor des Fehltritts, ja oft selbst eine Art von Fehltritt sein. Die meisten Regungen, Ausdrucksweisen, Bedürfnisse und deren Unterdrückbarkeitsschwelle unterliegen jedoch in der Geschichte höchst unterschiedlichen Einschätzungen. Variable Kriterien bestimmen, welche psycho-physischen Reaktionen kontrollierbar, welche unkontrollierbar sind, von den Leidenschaften, Trieben, Lastern, über Lachen und Weinen hin zu Leiden, Krankheit und Agonie (etwa bei der Rollenerwartung des »schönen Todes«)29 und noch zu so banalen Erscheinungen wie Husten, Niesen, Spucken und dgl. Daran läßt sich eine ganze soziale Berechenbarkeitsskala ritueller Normalität ablesen,30 in der erwachsene Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder, eingeschränkt Zurechnungsfähige 27 28 29
30
Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 358f. Charles Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872), Chicago 1965; vgl. auch Schneider, Shame, S. 2–15. Vgl. Werner F. Kümmel, Der sanfte und der selige Tod. Verklärung und Wirklichkeit des Sterbens im Spiegel lutherischer Leichenpredigten des 16.–18. Jahrhunderts, in: Rudof Lenz (Hg.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 3, Marburg 1984, S. 199–226. Vgl. Hahn, Kann der Körper ehrlich sein?; Bourdieu, Méditations Pascaliennes, S. 173– 215; Robert Jütte, Der anstößige Körper. Anmerkungen zu einer Semiotik der Nacktheit, in: Klaus Schreiner / Norbert Schnitzler (Hgg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 109–130; Miller, Humiliation, S. 101–112. Unter den von Gougaud angeführten Beispielen strafbarer Körperreaktionen im Chorgebet frühmittelalterlicher Mönche ist das Spucken hinsichtlich der sozialen Bewertungs-Variabilität am interessantesten: Wir sind heute so sozialisiert, daß wir darin kaum mehr einen unwillkürlichen und unbeherrschbaren Reflex sehen und diese Reaktion normalerweise auch mühelos unterdrücken. Noch vor der Jahrhundertmitte fanden sich in öffentlichen Verkehrsmitteln Spuckverbots-Aufschriften, die offensichtlich eine verbreitete Unsitte indizierten. Im Mittelalter, also noch vor dem von Elias dargestellten zivilisatorischen Prozeß der Körperkontrolle, war die für gewöhnliche Menschen vorausgesetzte Unvermeidlichkeit des Spuckens gerade ein Distinktionskriterium des monastischen Asketen, der auch in solchen Kleinigkeiten virtuos den Körper dem auf das Gebet konzentrierten Geist zu unterwerfen versteht. Doch während Mönche des 9. Jhs., die während des Psalmodierens in diesem Punkt dem Höchstleistungsanspruch nicht genügten, noch hart bestraft wurden, galt das Spucken bereits im 14. Jh. entweder als unüberwindliche Bedingtheit auch für Religiosen oder als lächerliche Nebensächlichkeit im monastischen Pflichtenkatalog (s. unten Einleitung, Anm. 81); jedenfalls wurden nun Spucknäpfe im Chor aufgestellt. Zu den Spuckverboten im 19. und 20. Jh. vgl. Krumrey, Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden, S. 213–217.
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(Betrunkene, Tagträumer, Schlafwandler, Liebeskranke, Zornige, periodisch Geistesgestörte) sowie alle Standesstufen der weltlichen und geistlichen Hierarchie ihren eigenen Platz finden. Die funktionale Stellung des Individuums und der Gruppe in dieser Ordnung entscheidet über Peinlichkeit und Skandalträchtigkeit oder aber Harmlosigkeit und Verzeihlichkeit eines Fehltritts.31 Da diese Kriterien jedoch vorwiegend im Kontext einer deontologischen Diskussion über Verantwortlichkeit, Willensfreiheit und biologische Determinierung entwickelt werden, schließt sich die Frage an, ob schuldhaftes Handeln durch die Moraltheorie strenger oder milder bewertet wird als das sozial peinliche durch den Habitus. Die Antwort liegt keineswegs auf der Hand. Viel spricht dafür, daß das Urteil der Gesellschaft über Spielverderber im Ritual gnadenloser ausfällt als das der Experten für Zurechnungsfähigkeit über Sünder und Gesetzesbrecher. Der Wahrheitsanspruch des ›gesunden Menschenverstands‹ ist umfassend: »es gibt keine Religion, die dogmatischer wäre.«32 Die Einwirkung nicht-ritueller Normen auf das Ritual ist (wie oben zur religiösen Dimension gesagt) dennoch nicht auszuschließen, vor allem weil das Regelsystem selbst genügend flexibel sein kann, um solche Fremdbestimmung aufzufangen und in neuen Regeln zu absorbieren. Während der spontane Kontrollverlust sich auf Diskurse über die allgemeine Menschennatur zurückbeziehen läßt, ist die Unfähigkeit zur adäquaten Regelanwendung eher ein Thema der (meist didaktisch idealisierenden) Diskurse über menschliche Höchstleistungen und Elite-Anforderungen, deren Kenntnis und Beherrschung durch die Statusträger – aufgrund der Verwechslung von sozialer Konditionierung und Naturgegebenheit – als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Seit Aristoteles gehen Knechte »von Natur aus« gebückt, Herren »von Natur aus« aufrecht. Natürlicherweise sind derart Adelige auch in die Kunst der strategischen Subtilität, des Fingerspitzengefühls und Takts eingeweiht, deren feine und geheime Regeln der Balancierung von Distanz und Nähe erst durch eine Taktlosigkeit (Tabuverletzung im Gepräch, Mißachtung eines Vortritts, zahlreiche Formen des Zu-nahe-Tretens und dgl.) einigermaßen zu Tage treten. Die Art des Fehltritts indiziert und stabilisiert zugleich den sozialen Distinktionsprozeß, weil sie weniger die Gruppenkohärenz als die Zugehörigkeit oder Dignität des Fehlenden in Frage stellt.
31
32
Vgl. Harré, An Outline of the Social Constructionist Viewpoint, S. 2–14; Fritz, Le discours du fou au moyen âge; Alain Boureau, Satan et le dormeur. Une construction de l’inconscient au Moyen Age, in: Terrains 14 (1991/92), S. 41–61; Ders., La redécouverte de l’autonomie du corps, S. 27–42 und unten Einleitung, S. 77f., 85f. Geertz, S. 276.
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2.3
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Anhang
2.3.1 Ehre- und Sündendiskurs In einem Zwischenbericht vom 14. 3. 1999 wurden die Teilnehmer nochmals an die »enge Problematik des weiten Themas« wie folgt erinnert: Streng genommen ist der Fehltritt ein Phänomen der höfischen Gesellschaft der frühen Neuzeit. Seit dem 17. Jahrhundert galt Lächerlichkeit als »entehrend« oder »tödlich« für standesbewußte Aristokraten und Großbürger. Le ridicule déshonore plus que le déshonneur (La Rochefoucauld).33 Der Einwand, daß der Begriff, auf frühere Zeiten angewandt, einen Anachronismus darstelle, ist durchaus berechtigt. Die Frage jedoch bleibt, ob die Sache selbst nicht älter sei: ein unbeabsichtiger Verstoß gegen sakrosankte (meist unkodifizierte) und akzeptierte Regeln, ein kleiner Lapsus, der die eigene Ehre und das (meist elitäre) gemeinschaftliche Selbstverständnis der Umwelt gefährdet. Die Frage ist selbst dann von historischem Interesse, wenn sie negativ beantwortet werden müßte und in diesem (sehr hypothetischen) Fall zu epochenspezifischen Erklärungen der Leerstelle Anlaß gäbe. Das Thema gehört, wie Bernhard Jussen zutreffend bemerkt hat, eher in den sozialen Ehre- als in den religiösen Sündendiskurs. Dennoch lassen sich die Kategorien, in denen das Phänomen einstmals beschrieben wurde, nicht immer derart diskurstheoretisch auseinanderdividieren. Die Sprache des Hofs oder der Stadt kann Anleihen bei der Sprache der Kirche machen und umgekehrt. Beide haben es mindestens mit einem gemeinsamen Problem zu tun: dem Verhältnis von Unbedachtsamkeit und der mehr oder weniger gravierenden, jedenfalls mit dem geringfügigen Anlaß inkommensurablen Folgelast. Dies setzt freilich voraus, daß Tat und Intention, error und culpa unterschieden werden können und nicht alles im Monopol des greifbaren Faktums untergeht oder auf außermenschliche Kräfte, Gott oder Teufel, zurückgeführt wird, d.h. daß der Mensch selbst in einem gewissen Maß als verantwortlicher Akteur gedacht werden kann. Darum wurde der Begriff des ›Fehltritts im weiteren Sinn‹ eingeführt, der auch die Sünde oder die Gesamtskala zurechnungsfähiger Fehlleistungen (von den läßlichen Sünden zu den Todsünden) umfaßt. Was im Ehrediskurs der Chroniken, Memoiren, Fürstenspiegel oder Verhaltenslehrbücher als Ritualpanne, Gesichtsverlust und Schmach erscheint, figuriert im Sündendiskurs scholastischer Ethik unter Stichworten wie negligentia, imprudentia, stultitia, incuria, evagatio mentis, ignorantia iuris und scandalum. Der erweiterte Begriff dient dazu, die Spezifizität der beiden Diskurse durch Vergleich besser herauszuarbeiten. Eine ähnliche Funktion hat auch ein zweiter uneigentlicher oder scheinbarer ›Fehltritt‹: die Provokation. Sie stellt zwar eine gewollte Regelverletzung 33
Maximes, Nr. 326, Œuvres, Paris 1957, S. 451.
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dar, aber in ihrer Wirkung, der Skandalerregung, versetzt sie die Umstehenden in eine ähnlich peinliche Lage wie der bloße Fehltritt. Unter dem unmittelbaren Störungseindruck sind die Gestörten ohnehin nicht in der Lage, die beiden Verstoßformen genauer zu unterscheiden. Die Sünde und die Provokation sind teils Gegenbegriffe, teils Analogien zum Fehltritt und gerade deshalb von heuristischem Wert zu dessen Bestimmung; doch sollten sie sich in unserem Kontext nicht selbständig machen. Denn das zentrale Fehltritt-Problem ist als ein gewisser Schutz gegen ausufernde Diskussionen über unabsehbare Spezialgebiete gedacht.
2.3.2 Arabische Fehltrittbücher Zur Unterstützung dieser Vorgabe und als Beispielanregung wurde den Teilnehmern folgende Stellungnahme des Arabisten Abdallah Cheikh-Moussa (Paris) zugänglich gemacht:34 Im 11. Jahrhundert schrieb Ghars al-Ni’ma (gestorben 1088) ›Das Buch über die bemerkenswerten Schnitzer gescheiter und hochangesehener Männer und über die Fehltritte der zerstreuten Günstlinge des Glücks‹. Der Autor war Sekretär des abbasidischen Kalifen von Bagdad al-Qâ’im und Historiker. Das Buch enthält 405 unterhaltsame Anekdoten über Fehlhandlungen aller Art, die sich hochgestellte und bisher für klug gehaltene Persönlichkeiten der Geschichte, aber auch irgendwelche Dummköpfe geleistet haben. Das Personal besteht aus (meist nicht-muslimischen) Fürsten, Kanzlern, Gelehrten, Schriftstellern usw. Diese Kompilation stützt sich auf andere Anthologien der vorangehenden drei bis vier Jahrhunderte, in denen regelmäßig auch ein Kapitel über Fehltritte bestimmter sozialer Schichten oder Berufsgruppen vorkommt. Ghars al-Ni`ma ist jedoch der erste, der ein ganzes Werk ausschließlich den Fehltritten gewidmet hat … Erst im 12. Jahrhundert folgt ihm darin ein großer Prediger nach, den man heute ›fundamentalistisch‹ nennen würde: Er verfaßte zwei Werke, eines für Intelligente, ein anderes für Dummköpfe und Zerstreute. Diesen Exempelsammlungen stellte er eine Einleitung voran, in der er ziemlich differenziert die Begriffe ›gesunder Menschenverstand‹, ›Vernunft‹, ›Dummheit‹, ›Nachlässigkeit‹ und ›Zerstreutheit‹ definiert. Seine Perpektive ist eine andere: Er will viel eher die »Verirrungen« all jener aufzeigen, die sich vom graden Weg Gottes abgewandt haben, als mittels lustiger Anekdoten Lebensklugheit lehren.
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Ich danke Abdallah Cheikh-Moussa für diese Mitteilung und für die Bereitschaft, sie verbreiten zu lassen. Sie hätte als Entwurf zu einem Tagungsbeitrag dienen sollen, der dann aus zwingenden Gründen leider nicht zustande kam.
Peter von Moos
Einleitung Fehltritt, Fauxpas und andere Transgressionen im Mittelalter1
Prolegomena zur Semantik
1
Als sozialwissenschaftliches Thema der Gegenwartsgesellschaft ist der Fehltritt äußerst selten,2 als historisches Thema so gut wie noch nie eigens behandelt worden. Dies dürfte an einer berufsspezifischen Abneigung der Historiker gegen anachronistisch anmutende Fragestellungen liegen. Der vorliegende Band geht in der Tat von einem intendierten heuristischen Anachronismus aus, den auf den ersten Blick weder die Quellenlage noch die historische Begrifflichkeit legitimiert, sondern einzig die Neugier auf Unterschiede und Kontraste zwischen den Epochen.3 Selbst ein negatives Ergebnis, die Feststellung, daß das Mittelalter den Fehltritt weder dem Begriff noch der Sache nach gekannt habe, wäre ein Ergebnis, nur schon weil sich damit die ›Modernität‹ der Neuzeit etwas genauer bestimmen ließe. Die Arbeiten dieses Bandes zeigen jedoch auf facettenreiche Weise, daß auf die Frage nach dem mittelalterlichen Fehltritt viele andere Antworten möglich sind als das einfache non liquet radikaler Alteritäts-Historie. Die im Vorwort beschriebene Vorgeschichte der Tagung von 1999 zeigt, daß der theoretische Schwerpunkt zuerst bei der soziologischen Bestimmmung des Fehltritts in unserer Gegenwart lag. Es ging bei der Vorbereitung darum, den Charakter der Unabsichtlichkeit und Peinlichkeit des modernen 1
2
3
Erweiterte Fassung der zur Diskussion gestellten Vorlage. Auf die Tagungsdiskussion und andere Beiträge gehe ich vornehmlich (soweit sie zum Zeitpunkt der Redaktion schon vorlagen) in den Fußnoten ein. Diese Hinweise (gelegentlich auch ›abweichende Meinungen‹) sowie die Zusammenfassungen der Autoren und die Schlußbetrachtungen von Karl-Siegbert Rehberg dürften die in Einleitungen übliche Gesamtübersicht über die vorliegenden Arbeiten erübrigen. – Auflösung der Kurztitel in der nachfolgenden Bibliographie. Am eingehendsten widmet sich dem Gegenwartsthema der kurze Aufsatz von Dreitzel über »peinliche Situationen«. Natürlich zeigt die Bibliographie, daß der Fehltritt als untergeordnete Kategorie in zahlreichen Arbeiten über Zivilität, Interaktion, Ritual u. dgl. Beachtung gefunden hat. Zum methodischen Prinzip s. von Moos, Das Öffentliche, S. 3 ff.
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Phänomens von anderen, namentlich moralisch interpretierbaren Merkmalen abzugrenzen. Den Horizont bildete eine Art Revitalisierung der bereits etwas müde gewordenen Diskussionen über den Zivilisationsprozeß und die Differenzierung von Scham- und Schuldkulturen unter dem spezifischen Aspekt der prekären Balance zwischen integrativer Institutionalität und individueller Ordnungsstörung.4 Historisch-linguistische Fragen der Sozialsemantik kamen – aufgrund divergierender Fehltrittbegriffe der Teilnehmer – erst später in den Blick und führten zu folgender philologischer Vorklärung. Es könnte an sich genügen, die Definition der Projektskizze zugrunde zu legen: unabsichtliche, geringfügige Handlung eines Individuums, die innerhalb einer kommunikativen Situation gegen eine ungeschriebene, allseits akzeptierte Verhaltensregel verstößt und den Interaktionspartnern als peinlich oder kränkend, dem Akteur als beschämend oder rufgefährend erscheint.5 Diese Handlung könnte man im Sinne eines wissenschaftlichen Arbeitsbegriffs ›Fehltritt‹ nennen, gleichviel was dieses Wort umgangssprachlich sonst noch bedeutet oder bedeutet hat. Jeder Historiker muß unentwegt Beschreibungstermini, die sich in keiner seiner Quellen finden, aufgrund stillschweigender Übereinkunft in der scientific community verwenden. Doch, da sich in unserem Fall die unité de doctrine so schwer herstellen ließ, dürfte es sich lohnen, auch den historischen Gründen für die inkohärente Begriffsverwendung nachzugehen. Sucht man in den Wörterbüchern einiger Gegenwartssprachen nach Ausdrücken für den derart definierten Fehltritt, so zeigt sich eine erstaunlich ungleiche Verteilung der verfügbaren Lemmata. In bezug auf diesen Begriff gibt es offenbar synonymenreiche und synonymenarme Sprachen.6 Dies kurz darzustellen, bedeutet keine bloß linguistische Eskapade. Peter Burke hat am Beispiel der frühneuzeitlichen Vielfalt italienischer Wörter für Neckerei und Schabernack (beffa) bemerkt, daß der Wortschatz, insbesondere wenn er unübersetzbare Modewörter einer bestimmten Epoche konserviert, ein untrügliches historisches Indiz für die Kenntnis des damit bezeichneten Phänomens darstellt.7 Der Zusammenhang von Relevanz und le4
5 6
7
Vgl. auch den Schlußbeitrag von Karl-Siegbert Rehberg in diesem Band, der den Fehltritt als Medium der Reflexion über Abweichung und Ordnung ins Zentrum stellt und vor allem das Durkheimsche Paradox der ordnungsstabilisierenden Funktion der Anomie betont (s. Vorwort, Anm. 14). Detailliertere Definitionen oder Beschreibungen geben Hahn und Schnell zu Beginn ihrer Beiträge. Ich verwende den Begriff ›Synonym‹ in extensiverem Sinn als dem üblichen von Bedeutungsgleichheit, da davon auszugehen ist, daß bedeutungsnahe Lexeme niemals exakt dieselbe Bedeutung besitzen. Peter Burke, Grenzen des Komischen im Italien der Frühen Neuzeit, in: Ders., Eleganz und Haltung, S. 107–128, bes. 109ff. Zur Methode sozialgeschichtlicher Sprachforschung s. auch Ders., Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1994, S. 9–29. Den Vergleich deutscher Gegenwartsbegriffe mit romanischen Entsprechungen nützt von philosophischer Seite methodisch vorbildlich Wieland, Verantwortung, S. 1–7, 34–40 am Beispiel von ›Verantwortung‹, ›Zurechung‹, ›Haftung‹ u. dgl.
Einleitung: Fehltritt, Fauxpas und andere Transgressionen im Mittelalter
3
xikalischer Extension ist evident.8 In der Eskimo-Sprache soll es über vierzig Ausdrücke für Schnee geben. Das Arabische kennt zahlreiche Wörter für Pferd oder Kamel. Umgekehrt verweist lexikalische ›Intension‹ auf ein geringes Unterscheidungs-Bedürfnis. Die Indianersprache der Hopi kennt nur ein Wort für alles, was fliegen kann, neben Vögeln auch Insekten, Flugzeuge und Piloten. Aborigenes-Stämme Australiens haben ein einziges Wort für Angst und Scham, weil offenbar eine einzige Angstart, die vor Ehrverlust, bei ihnen den Inbegriff von Angst ausmacht.9 Ebenso verrät der Wortschatz größeres oder geringeres Interesse am Fehltritt sowie eine eher synthetische oder analytische Konzeption dieses Phänomens.
1.1
Moderne und antike Semantik
In allen Gegenwartssprachen finden sich gewiß dieselben Allgemeinbegriffe wie ›Fehler‹, ›Irrtum‹, ›Ungeschick‹, ›Dummheit‹, ›Zerstreutheit‹, deren spezifische Fehltritt-Bedeutung erst aus dem jeweiligen Kontext hervorgeht. (Dies macht im übrigen die gegenseitige Übersetzbarkeit und die Bildung eines übergreifenden wissenschaftlichen Begriffs jenseits der Alltagssprachen möglich.) Suchen wir jedoch nach semantisch präziseren Bezeichnungen, so zeigt sich der größte Reichtum an substantivischen Synonyma für das Gemeinte in der sonst nicht gerade durch lexikalische Vielfalt, sondern durch starke Polysemie und Homonymie ausgezeichneten französischen Sprache.10 Abgesehen von den auch anderswo unspezifischen Begriffen erreur, faute, méprise, sottise, maladresse, étourderie finden wir zuerst den Oberbegriff bévue (von ›doppelt Sehen‹, ›Versehen‹ im buchstäblichen Sinn) für alle Arten unbedachter, fahrlässiger, dummer und peinlicher Fehler, aber auch für halbintentionale Ausrutscher und Verletzungen (was Sainte-Beuve den Spitznamen »Sainte-Bévue« eingetragen hat).11 Es folgt eine ganze Reihe von Entsprechungen wie gaffe 12 und impair 13 im Sinne einer schockierenden Unge8
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Damit ist keine psycholinguistische Rehabilitierung der Sapir-Whorf-Hypothese von der sprachlichen Determiniertheit des Denkens gemeint, sondern die umgekehrte historische Annahme, daß kulturell bestimmte Wahrnehmung- und Erinnerungsmuster sich auf die begriffliche Unterscheidungsfähigkeit auswirken können. Diese und andere Beispiele bei David Crystal, Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache, Frankfurt 1993, S. 14f. und Miller, Humiliation, S. 100f. Alfred Malblanc, Stylistique comparée du français et de l’allemand, Paris 1961, bes. S. 128. Alain Rey, Dictionnaire historique de la langue française, Paris 1998, S. 4110f.: »Méprise grossière due à l’ignorance ou à l’inadvertance«, aus lat. bis und ›vue‹, erstmals 1642; im 17. Jh. anfänglich im Kontext des Schachspiels. Ders. (Hg.), Le grand Robert de la langue française, Paris 1994, s.v. (wurde auch zu allen andern Lemmata herangezogen). Rey (wie Anm. 11), S. 1539. Die Etymologie ist unklar. Nach Bloch / von Wartburg aus einem gotischen gaffòn (greifen) über altprov. gaf (Manövrierstange für Schiffe), nach P. Guiraud aus altprov. gafar (13. Jh.) für das Überqueren einer seichten Furt. Doch die Bedeutung ›Ungeschicklichkeit‹ entwickelt sich erst im 19. Jh. Anm. 13 s. nächste Seite
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schicklichkeit oder einer durch Taktlosigkeit hervorgerufenen Blamage, bourde14 für folgenschwere Dummheit, Schnitzer oder Planungsfehler (das Wort stand anläßlich der Nato-Aktion in Kosowo fast täglich in den Schlagzeilen); daneben die harmloseren oder familiäreren Termini balourdise (Tolpatschigkeit)15, blague (Fehler aus Leichtsinn)16, quiproquo (Verwechlung)17, boulette18, brioche, couak19, dérapage (Ausrutscher)20 u.a.m. Für Schnitzer, Kunstfehler, Sprechfehler oder Freudsche Fehlleistungen, überdies bavure21, lapsus22, perle23, cuir, pataquès24, coquille25 u.a. Das im Deutschen und Englischen als Lehnwort gerade für das unabsichtliche Danebentreten eingebürgerte faux pas (im übertragenen Sinn erstmals 1606) scheint dagegen in dieser Kategorie weniger prominent zu sein als bévue und impair sowie das unübersetzbare pas de clerc (erstmals 1585), das mit einem aristokratischen Nachklang der fernen miles-clericus-Debatte auf die Lächerlichkeit des pedantischen Gelehrten zurückgehen dürfte.26 Synonymenreich sind auf diesem Feld auch die anderen Nachfolgesprachen des Lateinischen einschließlich des Englischen. Die englische Sprache scheint auf den ersten Blick sogar noch reicher an Fehltritt-Bezeichnungen zu sein als 13
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Ebd., S. 2528: aus lat. impar und fr. double impair (1765), wenn jemand in einem bestimmten Zahlenkampfspiel aus Versehen zweimal dieselbe ungrade Zahl zieht. Erst seit 1857 im Sinne von »maladresse choquante«. Ebd., S. 474: unklarer Herkunft (vielleicht von mlat. burdit = er rühmt sich), zuerst für Lügengeschichte und Prahlerei (1180); wahrscheinlich wie bruit onomatopoetisch für ›Lärm machen‹. Die Fehltrittbedeutung erst seit dem 17. Jh. Ebd., S. 310: von beslourd (1460) konnotiert mit Schwere, Schwerfälligkeit. Im Sinne von grobem Fehler seit 1762. Ebd., S. 412: ähnlich wie bourde aus Prahlerei, doch erst im 20. Jh. auf Fehltritt ausgedehnt. Ebd., S. 3048: aus der Apothekersprache für Fahrlässigkeit; im 19. Jh. für Rollenverwechslung in Theater und Interaktion. Ebd., S. 469: Brot- oder Papierkügelchen, übertragen für bévue, sottise (1829). Ebd., S. 526: beide aus der Musikersprache. Ebd., S. 1047: Erst im 20. Jh. aus der Fahrtechnik übertragen (wohl auch unter dem Einfluß desselben Bildes in mehreren anderen Sprachen). Ebd., S. 358: von baver, Speichel fallen lassen (1300); im 17. Jh. allgemein für Kunstfehler wie Kleckse beim Malen; heute bes. für gravierende Irrtümer der Polizei. Ebd., S. 1977: in gelehrten Verbindungen wie lapsus memoriae, lapsus calami (1630?), lapsus linguae (1855). Der absolute Gebrauch ist wie auch in anderen Sprachen erst seit der Psychoanalyse gängig. Zur mlat. Bedeutung s. unten S. 16. Ebd., S. 2667: im 19. Jh. antiphrastische Metonymie für Furz, drolliges Wort und unfreiwillige Komik. Ebd., S. 696, 2602; beide im Sinne eines Sprechfehlers: cuir (1783), vielleicht vom Bild des Enthäutens wie in écorcher un mot; pataquès (1784) wohl onomatopoetisch wie patati, patata. Ebd., S. 890: der Weg von der Muschel (im Sinne von wertlosem Gegenstand) zu Druckfehler (1723) und Flüchtigkeitsfehler ist unklar. Ebd., S. 2593.
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die französische,27 doch liegt dies eher an der üblichen Doppelsedimentierung germanischer und romanischer Wurzeln und am neuzeitlichen Import fremder Modewörter wie faux pas, gaffe und peccadillo. Wenn das hochdifferenzierte Vokabular für Peinlichkeits- und Schamphänomene auf einen besonderen Sinn der Engländer für Phänomene der Höflichkeit, des Takts und deren Gegenteil schließen läßt – man hat vom kulturellen Spezifikum englischer embarrassability gesprochen –,28 so gilt dies doch erst für das 18. und 19. Jahrhundert, während Frankreich auf diesem Gebiet schon zwei Jahrhunderte früher sprachschöpferisch geworden ist. Die erwähnten Synonyma von bévue über impair zu gaffe sind durchweg erst in der Neuzeit heimisch geworden. Die Zeit der Erstnennungen läßt den sozialgeschichtlichen Schluß zu, daß offenbar die Welt der ›höfischen Gesellschaft‹ Frankreichs entscheidend zur Ausprägung eines Worschatzes und einer Wahrnehmung der Peinlichkeit beigetragen hat. In der Bildungswelt de la cour et de la ville wurde das Wort von der ›tödlichen‹ (gesellschaftsunfähig machenden) Lächerlichkeit geprägt. Der Abbé Morvan de Bellegarde verfaßte 1696 sogar einen eigenen Traktat über Fehltritte unter den Titel ›Réflexions sur le ridicule et sur les moyens de l’éviter‹.29 Die Sorge um das richtige Auftreten und die Angst vor dem Danebentreten waren offenbar so verbreitet, daß sich schon Molière darüber lustig machen konnte, indem er den Tanzlehrer im ›Bourgeois gentilhomme‹ sagen ließ: Tous les malheurs des hommes, … les bévues des politiques, tout cela n’est venu que faute de savoir danser.30 27
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Ich danke Richard Newhauser für die Korrektur meiner anfänglichen Annahme, das Englische sei in diesem Fall synonymenärmer als das Französische, durch die Aufstellung folgender alphabetischen Liste mit 40 Synonymen. Sie ist freilich sehr extensiv gefaßt, da sie eine Menge ganz allgemeiner (7, 10, 31, 35, 38), juristisch-moralisch konnotierter (6, 31, 37, 40) und verbaler Ausdrücke (35, 36, 40), Lehnübersetzungen (9, 26, 39) und Lehnwörter (11, 12, 18, 19, 34) sowie Amerikanismen (1, 3) mitenthält: 1. blooper, 2. blunder, 3. boo boo, 4. bungle, 5. clanger, 6. contravention, 7. error, 8. error of judgment, 9. false move, 10. fault, 11. faux pas, 12. gaffe, 13. howler, 14. inaccuracy, 15. indiscretion, 16. impropriety, 17. indelicacy, 18. lapse, 19. lapsus, 20. misbehavior, 21. miscalculation, 22. misconduct, 23. misdemeanor, 24. misdeed, 25. mishap, 26. misstep, 27. mistake, 28. misunderstanding, 29. mix-up, 30. muddle, 31. offense, 32. omission, 33. oversight, 34. peccadillo, 35. slip, 36. slip-up, 37. transgression, 38. wrong, 39. wrong step, 40. wrongdoing. Auch wenn man nach Evans getting wrong (für griechisch akrasia und hamartia) sowie nach Miller, Humiliation, S. 29 glitch und die moderne Metapher misfiring ergänzen könnte, bleiben unter dem Strich als spezifische Ausdrücke vor allem: faux pas, blunder, howler, slip-up und glitch. Miller verzeichnet S. 31 auch umgangssprachliche Bezeichnungen für sozial inkompetente Personen: nerds, dorks, turkeys, nudnicks, painin-the-ass, jerks. Vgl. hierzu Miller, ebd., S. 196 mit Verweis auf Christopher Ricks, Keats and Embarrassement, Oxford 1974, S. 5f.: »One could suggest that English life and literature have had the advantages and disadvantages of embarrassability, and that the French have had the advantages and disadvantages of unembarrassability«. Beetz, Frühmoderne Höflichkeit, S. 137. Anm. 30 s. nächste Seite
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In der Tat dürfte der Tanzboden, die Bühne oder die Manege, ein abgezirkelter, von festen Bewegungvorschriften kontrollierter Raum, den metaphorischen Hintergrund für unseren Begriff bilden. Das Aus-der-Reihe-Tanzen ist der Inbegriff der Verletzung ungeschriebener Verhaltensnormen oder Konventionen.31 Ausgesprochen synonymenarm nimmt sich im Vergleich der Gegenwartssprachen jedoch das Deutsche aus. Es besitzt im Wesentlichen nur ›Fauxpas‹, ›Fehltritt‹, ›Schnitzer‹ (›Patzer‹), ›Entgleisung‹ (›Ausrutscher‹).32 Dornseiff verzeichnet freilich eine erstaunliche Fülle von verbalen metaphorischen Umschreibungen (›ins Fettnäpfchen treten‹, ›sich in die Nesseln setzen‹ oder ›die Finger verbrennen‹, ›auf den Fuß (oder den Schlips) treten‹, ›zu nahe treten‹, ›daneben treten‹ usw.).33 Aber es mangelt auch keineswegs an französischen und englischen Idiomatismen dieser Art. Das Wort ›Fehltritt‹ hat im übrigen heute noch einen weiteren semantischen Radius als das deutsche ›Fauxpas‹. Der ›Große Wahrig‹34 übergeht sogar die hier gemeinte spezifische Bedeutung von Fehltritt und gibt zum Lemma einzig die moralisch getönten Umschreibungen: ›Vergehen‹, ›Verfehlung‹, ›Sünde‹ und den als antiquiert eingestuften Sinn: »gesellschaftlich sanktionierte Liebesbeziehung eines Mädchens, aus der ein uneheliches Kind hervorgegangen ist«, also die gravierendere Entsprechung zu dem männlichen ›Seitensprung‹, der auch bloß durch den Euphemismus ›Kavaliersdelikt‹ wiedergegeben werden kann. Hielte man sich an dieses Wörterbuch, so müßte der für unsere Fragestellung entscheidende Unterschied zwischen irrtümlicher und schuldhafter Fehlleistung durch ›Fauxpas‹ und ›Fehltritt‹ wiedergegeben werden. Dies trifft jedoch keineswegs zu; vielmehr haben wir die Wahl zwischen dem allzu engen, eher bagatellisierenden Wort ›Fauxpas‹ für soziale Inkompetenz vorwiegend in geselligen Situationen und einem überweiten ›Fehltritt‹ für alle möglichen unziemlichen, törichten und sogar unmoralischen Handlungen.35 30
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Akt I 2. Man kann auch die andere klassische Stelle derselben Komödie (II 4) über die plötzliche Entdeckung Monsieur Jourdains, daß er immer schon Prosa gesprochen habe, in diesen Zusammenhang stellen: Der hilflose Aufsteiger, mit dem sich Molière ein Stück weit identifiziert, hatte so viel damit zu tun, die ungeschriebenen, für ihn aber hieroglyphischen Gesetze der Oberschicht zu entziffern, daß er gar nicht mehr merkte, daß einige davon bereits in seiner eigenen Lebenswelt vorkamen. Zur Abgrenzung durch Geheimregeln s. unten S. 43, 80. Vgl. Willems, Rahmen und Habitus, S. 224ff. und Goffman, Rahmenanalyse, S. 409ff. Auch hier wurden noch weitere Begriffe wie ›Versehen‹, ›Fehler‹, ›Ungeschick›, ›Irrtum‹ und dgl. ausgeschieden. Den Aspekt der Peinlichkeit beleuchten die nur dem Deutschen eigenen Wörter ›Blamage‹ und ›Blöße‹. Zu ›Lapsus‹ s. oben Anm. 22. Franz Dornseiff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin 1970 behandelt das Thema in den Gruppen 9, 54 (ungeschickt), 9, 78 (Mißlingen), 12, 28 (Einbildung, Wahn), 16, 28 (Unterlassung) und 16, 54 (Spott). Brockhaus Wahrig, Stuttgart 1984, s.l.
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Ein kurzer Rückblick auf die alten Sprachen zeigt die Sonderstellung des neuzeitlichen Französisch noch deutlicher: Es gibt im Griechischen und Lateinischen nur ein wenig differenziertes Vokabular für den Irrtum (hamartia, sphalma, error), sei er schuldhaft, schicksalhaft oder allzumenschlich.36 Lapsus und vitium können ebenso den bloßen Schnitzer wie die moralische Verirrung, das ›Abirren vom rechten Pfad‹ meinen. Peccatum hat sowohl die Bedeutung einer intentionalen Verfehlung als auch eines bloßen Versehens, insbesondere eines Kunstfehlers und überdies den Sondersinn eines Formfehlers bei einer rituellen Handlung37 (ist jedenfalls weit von der christlichen Einpoligkeit dieses Worts entfernt). Cicero präzisierte den Begriff durch den Vergleich der verzeihlichen Gehemmtheit eines unerfahrenen, an Lampenfieber leidenden Redners mit dem peccatum stultitiae, dem unverzeihlichen Patzer eines Meisters der Redekunst, der den Redner »für immer oder für lange Zeit in den Ruf der Beschränktheit« bringe.38 Am nächsten kommt dem Fehltrittbegriff vielleicht eine bestimmte Verwendung von error, wie sie vornehmlich in der Gerichtsrhetorik der Verteidigung topisch war: »Alle Menschen machen Fehler; so ist das Leben; also ist es nicht erstaunlich, daß solche Dinge geschehen.«39 Die nach diesem Muster verallgemeinerte tolerante Maxime errare humanum est läßt sich etwa auf Ovids Frage beziehen, was ihm die Verbannung eingebrockt habe, ein allzumenschlicher Irrtum, ein Nachlassen der poetischen Fähigkeit oder ein wirkliches Vergehen.40 Das römische Recht kannte eine ähnliche Unterscheidung im Bereich der aequitas-Abwägungen von Schuld und Irrtum. Unbeabsichtigte Straftaten aufgrund von Pech, Fahrlässigkeit und anderen Zufallsergebnissen im Hinblick auf den Schuldgrad wurden unter dem Stichwort imprudentia subsumiert.41 Doch aufs Ganze ge35
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Im theologischen Diskurs ist ein von der Sünde kaum zu unterscheidender ›Fehltritt‹ der Oberbegriff für alle Transgressionsarten. In der Diskussion beleuchtete dies Arnold Angenendt durch die Gegenüberstellung des Sündenfalls, eines »minimalen Fehltritts mit größten Folgen« und der Parabel vom verlorenen Sohne, der einen »großen Fehltritt mit überhaupt keinen Folgen« beging. Zu hamartia s. unten S. 8–11; jedes beliebige Wörterbuch (Georges, Lewis and Short, Gaffiau) genügt, um die folgenden Feststellungen zu belegen, die keinen Anspruch auf lexikalische Vollständigkeit erheben. Zusammenfassend s. Hermann Menge, Lateinische Synoymik, 7. Aufl., Heidelberg 1988, S. 91f. Menge (wie Anm. 36), S. 92: »sehr oft bezeichnet das Wort aber nur ein aus Übereilung begangenes ›Versehen‹ und steht selbst von Fehlern (Schnitzern), die man im Gebrauche von Wörtern macht.« Zum Ritualfehler vgl. Payen, Péché et culpabilité, S. 26ff. De oratore I 119–125 abgeschlossen durch: oratoris peccatum, si quod est animadversum, stultitiae peccatum videtur; stultitia autem excusationem non habet. … cuius autem in dicendo quid reprehensum est, aut aeterna in eo aut certe diuturna valet opinio tarditatis. Ich danke Thomas Schirren für diesen Hinweis. Vgl. Bremer, Hamartia, S. 57f. zu Xenophon; Schwarz, S. 589 zu Seneca d. Ä., Controversia 4, declam. 3. Zum Sprichwort s. unten S. 15f.; vgl. etwa Ex Ponto III 9. Anm. 41 s. nächste Seite
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sehen, suchen wir vergeblich nach einem präzisen antiken Äquivalent für den modernen Fehltritt. Der damit summarisch an antiker und neuzeitlicher Semantik aufgezeigte Kontrast zwischen terminologischer Ungeschiedenheit und Differenzierung von Bedeutungen bildet ein grundsätzliches historisches Problem.42 Die moderne Unterscheidungsfähigkeit läßt sich als Rationalitätsgewinn im Trenndenken, aber auch als Verlust des Sinnes für die Zusammengehörigkeit der bezeichneten Phänomene auslegen; die spachliche Einebnung der Differenzen kann einen eingeschränkten Sprachcode oder gar Wahrnehmungshorizont indizieren, aber auch ein umfassenderes Komplexitätsbewußtsein. Je nach der Wertung, die danach das Interpretationsmuster bildet, fällt unser Alteritätsverständnis aus. Einige schlichte Ergebnisse der historischen Linguistik beleuchten beide Seiten der Medaille. Die Etymologien von deutsch ›Schuld‹ und lateinisch scelus führen auf dieselbe Sanskritwurzel s-chalati zurück, die von den Fachleuten mit ›Fehltritt‹ übersetzt wird, und peccatum (peccare) bezog sich ursprünglich bloß auf das Straucheln eines Pferdes.43 Wir sind in diesem Ursprungsbereich weit entfernt etwa von der jüdisch-christlichen Vorstellung der Ursünde oder der verinnerlichten Schuld im neuzeitlichen Gewissen; die Beispiele erinnern mehr an den Zusammenhang von natürlicher Kontingenz und wahrscheinlicher Fehlleistung, von Schicksal und unvermeidlichem Irrtum.44 Ähnliches gilt von dem in der Gräzistik lange heiß umstrittenen Zentralbegriff hamartia, der durch die aristotelische Tragödientheorie bzw. die Definition des mitleiderregenden Umschlags in die Katastrophe berühmt geworden ist. Nach Jahrhunderten einer Auslegungsgeschichte, die in hamartia einzig moralisierend ›tragische Schuld‹ oder ›sündhafte Verblendung durch Leidenschaften‹ sehen konnte, ist erst im 20. Jahrhundert die spezifische, von Aristoteles in der Poetik ebenso wie in der ›Nikomachischen Ethik‹ gemeinte Bedeutung ›Verfehlen eines Ziels‹ (z.B. beim Bogenschießen), ›folgenschwerer Irrtum‹, ›verhängnisvoller Fehltritt‹ (blunder, some false step 41 42 43 44
Vgl. Helmut Coing, Zum Einfluß der Philosophie des Aristoteles auf die Entwicklung des römischen Rechts, in: ZRGRomAbt 69 (1952), S. 24–59, hier 45–48. Das war ein Brennpunkt der Tagungsdiskussion, namentlich im Zusammenhang mit den Beiträgen von Hahn, Rehberg, Müller und Schnell. Joël Thomas, Umriß einer Geschichte des Schuldgefühls in Rom, in: Clemens / Schabert, S. 191–222, hier 191f. Hierzu erinnerte Alois Hahn in der Diskussion generell an Marcel Mauss’ Begriff des »phénomène social total« als Bestätigung der Luhmannschen Theorie der Moderne von der Gegenseite her. Phänomene, denen wir heute spezifische Bereiche zuweisen, wie Religion, Politik oder Kunst, waren in Gesellschaften, die solche Differenzierungen nicht kannten, entweder die ganze Wirklichkeit oder nichts. Ebenso könnte man annehmen, daß jedes oder kein Fehlverhalten unter die Einheitsbegriffe ›Fehltritt‹ und ›Vergehen‹ fielen; vgl. auch Freud, Über den Gegensinn der Urworte: Wenn man hell und dunkel nicht unterscheiden kann, ist nicht nur entweder alles hell oder dunkel, sondern solche Begriffe enthalten in sich selbst auch ihr eigenes Gegenteil.
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taken in blindness) als ein mehr intellektuelles als moralisches Versagen des Helden präzise herausgearbeitet worden.45 Um die einmalige Trennschärfe der aristotelischen Begrifflichkeit zu erhellen, hat J. M. Bremer die gesamte Begriffsgeschichte von hamartia seit Homer untersucht, mit dem (hier sehr gerafft wiedergegebenen) Ergebnis, daß dieses Wort zuerst als Sammelbegriff für alle Arten des Versagens (metaphorisch gelegentlich auch für Vergehen) diente und später die moralischen Konnotationen (Beleidigung, Verletzung, Sünde, Schuld) zunehmend in den Vordergrund traten, bis letztere seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. dominierten und schließlich wie im Neuen Testament der Septuaginta den ursprünglichen Sinn von Irrtum und Versagen vollständig verdrängten.46 Dieser Befund entspricht einer generellen sprachpsychologischen Neigung kultureller Frühzeiten, moralisch absolut Verwerfliches zu tabuisieren oder euphemistisch zu verhüllen, weil, wie Bremer annimmt, der Mensch nicht als allzu böse erscheinen darf. Die magische Scheu, das Unsägliche durch Nennung heraufzubeschwören, mag diese Tendenz erklären.47 Griechisch kakia bedeutet zuerst ›Häßlichkeit‹, lateinisch crimen ›Entscheidung‹ oder ›Anklage‹;48 scelus, wie gesagt, ›Fehltritt‹ und ›Ungeschick‹, facinus ›Tat‹ (im neutralen Sinn); deutsch ›schlecht‹ liegt zunächst wie ›schlicht‹ in der Nähe von ›einfach‹, ›glatt‹ und ›schmucklos/ 45
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Aristoteles, Poetica 13, 1452 b–1453 a (vgl. auch unten Anm. 101 zur mlat. Übersetzung) und Ethica Nichomachea I 1099 b11ff ; III 1109 b2–1111 b4ff., V 1135 a8–1136 a9 über wissentliche und unwissentliche, freiwillige und unfreiwillige Handlungen; vgl. vor allem Bremer, Hamartia, passim (Zitat S. 63f.); einschränkend Cessi, Erkennen und Handeln …, passim und S. 260–262. Stump / Crossett, Hamartia; vgl. auch O. Hey, Hamartia, in: Philologus 83 (1928), S. 1–18, 137–164; Ruth Padel, Madness in Fifth-Century (B.C.) Athenian Tragedy, in: Heelas / Lock, S. 105–132, hier 113ff. Loening, Zurechnungslehre. Zur Auslegungsgeschichte ist einschränkend zu sagen, daß sie erst eigentlich mit der breiten ›Poetik‹-Rezeption der Renaissance beginnt (zum Mittelalter s. unten S. 25–27) und daß der erste Ansatz zum Verständnis sich nach Bremer, S. 87 bereits bei Lessing (›Hamburger Dramaturgie‹, Nr. 82) findet: »ein Mensch kann sehr gut sein und doch noch mehr als eine Schwäche haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in unabsehbares Unglück stürzt, das uns mit Mitleid und Wehmut erfüllt.« Zu dem im Mittelalter bekannten Unterschied zwischen dem entschuldbaren unfreiwilligen Irrtum (hamartia) und der bloß durch Unwissen über die Umstände bedingten, doch freiwilligen und zurechenbaren Verirrung (akrasia) vgl. die umfassenden Arbeiten von Risto Saarinen. Weakness of the Will, und Evans, Getting it Wrong. Ausführlicher zu diesem Thema: Peter von Moos, Perspektiven der Unabsichtlichkeit, im Ersch. Bremer, S. 57ff.; zur Bibel s. vor allem Num. 15, 22–26. Noch heute wirkt diese Deutung auch außerhalb der Theologie, wo sie ihren Platz hat, nach; Schwarz schreibt im HWP s.l. ›Irrtum‹, Sp. 589: »Hamartia ist ein Wort mit moralischem Akzent für Vergehen, Sünde, Verirrung.« Bremer, S. 25–30. Dafür gibt der von Claude Lévi–Strauss und René Girard ausgehende Beitrag von Alois Hahn in diesem Band überzeugend einige anthropologische und soziologische Gründe. Nach Menge (wie Anm. 36), S. 91 bedeutet crimen »noch bei den Klassikern höchst selten konkret die verbrecherische Tat«.
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unschön‹ (sinnverwandt mit griechisch kakos). ›Missetat‹ entspricht ziemlich genau dem ursprünglichen Sinn von hamartia oder ›Fehltritt‹; die englischen Zusammensetzungen mit mis- weisen in dieselbe Richtung; wrong bedeutet zuerst nur ›krumm‹; französisch méchant bezeichnet anfänglich ›glücklos‹, ›elend‹, und mauvais (malifatius) analog zum griechischen kakomoiros ›unter einem schlechten Fatum‹.49 Alle diese Wörter verschlechtern im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung, um am Ende ganz pejorativ zu werden. Bedingt durch den Ausschluß des verharmlosenden Erstsinns entsteht schließlich ein Bedarf nach differenzierten Neubildungen für einzelne Nuancen der Negativsemantik. Anfängliche Ungeschiedenheit und spätzeitliche Differenzierung der Bedeutungen mag man mit einem zivilisatorischen Fortschritt vom »restringierten« zum »elaborierten« Sprachcode gleichsetzen. Mary Douglas hat indes diese Begriffe ganz wertneutral von der Linguistik auf den anthropologischen Vergleich von Weltauffassungen übertragen und dabei zu bedenken gegeben, daß die Abrenzung von Intentionshaftung gegenüber Tathaftung, der verinnerlichten Sünde gegenüber Ritualverstößen nach dem bloßen ex opere operato-Prinzip nicht notwendig als tieferes Verständnis menschlicher Praxis zu verbuchen ist, sondern auch als eine einseitige Abstraktion sozialer Erfahrung bewertet werden kann.50 Unter dieser Perspektive läßt sich die Grenzverwischung zwischen Unglück und Schuld, Versehen und Vergehen nicht so leicht als Merkmal ›primitiver‹ Mentalität abtun, zeigt sie doch mehr Einsicht in die Unvollkommenheit des Menschen in Natur und Gesellschaft, in die grundsätzliche Unsicherheit allen Handelns angesichts der Unvorhersehbarkeit der Folgen als der nachfolgende Anklage- und Haftungsdiskurs in einer vom selbstverantwortlichen, verbesserungsfähigen Einzelmenschen ausgehenden Schuld- und Perfektibilitätskultur.51 Der vorchristliche Mensch erfährt den Ordnungsverstoß als ein komplexes Ganzes: Er schämt sich vor sich selbst (vor dem Selbstideal) und dem verinnerlichten »relevanten Anderen«, wenn er sich schuldig fühlt, und er empfindet Schuldge49 50
Rey (wie Anm. 11), S. 2169, 2173f. Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 36–57 zur Sprachtheorie Basil Bernsteins und bes. S. 146–151 zum evolutionsgeschichtlichen Vergleich der Weltauffassungen. Man kann dieselbe Kritik auch in den Termini des modernen Pragmatismus formulieren, der die intentionsethische Abstraktion eines vom tatsächlichen Erfolg oder Versagen abgelösten ›besten Willens‹ als idealistisch-subjektivistische Verwässerung der realen Praxis abwertet. Vgl. John Dewey, Human Nature and Conduct (1922), New York 1950, S. 43–57 und Rolf, Normalität, S. 61–70 zu William James: Gut ist eine Handlung, in der sich das Mittel-Zweck-Verhältnis, von subjektivem Aufwand und objektivem Erfolg im Ausgleich befindet. Für James ist Gesinnungsethik eine Flucht davor, aktiv auf praktische Probleme zuzugehen. Auch der Beitrag von Rüdiger Schnell in diesem Band streift diese Thematik mit der Unterscheidung von absoluter »Moral« und lebenskluger »Alltagsmoral« im Bereich der mittelalterlichen Schwankliteratur, die offenbar mehr von der Weisheit des respice finem transportiert, als mittelalterliche Moraltheologen und moderne Germanisten ihr zutrauen.
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fühle schon bei der prospektiven Vorstellung einer beschämenden öffentlichen Situation. Er ist verantwortlich, auch wenn er unschuldig versagt, irrt oder in irgendeiner Weise nicht auf der Höhe seiner Rolle handelt, und er erlebt die soziale Sanktion aufrund bloßer Mißerfolgshaftung gleicherweise als Gesichtsverlust oder Schande und auch als Schuld.52 Das historische und sozialwissenschaftliche Verständnis für die Valenz dieser Ungeschiedenheit läuft im übrigen heute parallel zu den philosophischen Bemühungen, die durch eine lange christliche Gewissenskultur entzweiten Bereiche der »Verantwortungs- und Gesinnungsehtik« (Max Weber) wieder zu jener Einheit zusammenzuführen, die sie im common sense vermeintlich primitiver Gesellschaften schon immer gebildet haben.53
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Mittelalterliche Semantik
Mit den angeführten Etymologien und Sprachevolutionen ist das eigentliche Thema angeschnitten, die bisher von Neuzeit und Antike her eingekreiste Fehltrittsemantik des Mittelalters. Wir könnten es bei der Feststellung belas51
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Vgl. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 21 zum Gegensatz des neuzeitlich christlichen Gewissens und der Ungespaltenheit des homerischen »Selbst«, das jede Unterscheidung zwischen »Vergehen und Versehen« ausschließt. Eine Hauptthese des Beitrags von Alois Hahn in diesem Band besagt, daß die Vermischung von ›Schuld‹ und ›Fehltritt‹ nicht auf ein intellektuelles Defizit zurückgeht, sondern eine anspruchsvolle kulturelle Struktursicherungsleistung darstellt. Auf der Gegenseite zeigt Klaus Schreiner in seinem Beitrag über den Sündenfall als felix culpa den Zusammenhang von Schuld und Perfektibilität. Adams Sturz in die Unvollkommenheit wurde vor allem in der Neuzeit primär als Anlaß zur Vervollkommnung, die Kontingenz als Bedingung des Fortschritts ausgelegt. In diesem Sinn zur Ungeschiedenheit von Schuld und Scham bzw. zu deren Indifferenz gegenüber der modernen Unterscheidung von Innenleitung und Außenleitung (Riesmann), von Intentionsethik und sozialkonformistischer Heteronomie vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 88–101 (im altgriechischen Bereich); Piers / Singer, S. 23–28, 59–66 (in ehtnopsychologischer Sicht). Zur selben Zweideutigkeit noch in der römischen Kultur vgl. Thomas (wie Anm. 43), S. 210ff.: Für Vergil ist schuldig, wer Fehler aus Unwissen oder Schwäche macht, durch Unterlassung, Verblendung, Vergessen der eigenen Würde. Erst im Mittelalter (genauer: im Mittelalter der Kleriker) wird Aeneas schuldig durch Sünde. Dieses Thema ist im übrigen nicht nur rein historisch: Überfährt heute jemand ohne jede Fahrlässigkeit und juristisch haftungsfrei einen Selbstmörder, der sich vor seinen Wagen geworfen hat, wird er trotzdem vor der zuschauenden Menge und in seinem Innern zugleich Scham und Schuld empfinden. Wer einen stupiden oder verletzenden Brief versehentlich nicht abgeschickt hat, wird sich beim Wiederlesen vor sich selbst und vielleicht sogar vor dem intendierten Briefempfänger sowohl schämen wie schuldig fühlen. Zur aktuellen Diskussion über den Antagonismus bzw. die Komplementarität von »utilitaristisch-folgenbasierter« und »letzbegründet-folgenorientierter« Ethik vgl. Wieland, der die getrennten Sphären in ausgewogener Weise als instrumentelle »Ethik der zweiten Linie« und eigentliche oder kategorische Ethik zugleich unterscheidet und wieder miteinander verbindet. Ausführlicher hierzu: von Moos, Perspektiven der Unabsichtlichkeit, im Ersch.
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sen, daß auch hier das Gesetz der allmählichen Ausdifferenzierung moralischer Negativbedeutungen aus ursprünglich universellen, Schicksals-, Irrtums- und Schuldaspekte vermengenden Begriffen gilt. Doch dies träfe nur auf die Volkssprachen zu. Das Spät- und Mittellateinische, die gemeinsame »Vatersprache« des Westens,54 entzieht sich als ein hochkulturelles Spätprodukt solchen Ableitungen aus archaischem Wurzelgrund und muß eher umgekehrt in Kategorien anfänglicher Differenziertheit, sukzessiver Verwilderung und erneuter Verfeinerung beschrieben werden. Vor allem aber ist diese heilige Sprache des Christentums von Anfang an umfassend durch jene Semantik geprägt, die den Endpunkt der heidnisch-antiken Entwicklung darstellt. An Stelle von »Irrung und Wirrung« bildet nun Sünde und Schuld die ursprüngliche Universalkategorie für alle Transgressionsmöglichkeiten. Dies erklärt streckenweise die Gegenläufigkeit der am antiken Modell beobachteten Bewegung. Im Laufe des lateinischen Mittelalters werden Fehltritte, wo nicht durch eigene Begriffe, so doch durch klare Umschreibungen und Kontextualisierungen allmählich aus der Schuldsemantik herausgelöst und moralisch zu Adiaphora neutralisiert, während das volkssprachliche Mittelalter unter dem Druck mehr oder weniger verspäteter Christianisierung eher den umgekehrten Weg von der Irrtums- zur Schuldsemantik geht und somit in einigen Bereichen den antiken Prozeß wiederholt. Die Erzählforschung bezieht diese antikmittelalterliche Parallelentwicklung gern auf das Schema: von der Schamkultur der Heldenepik zur Schuldkultur des Romans. Homer und das Rolandslied lassen sich in der Tat unter dem Gesichtspunkt der frühzeitlichen Fehltritt-hamartia vergleichen, die hellenistischen Aretalogien und der GralsZyklus unter demjenigen spätzeitlicher Schuld und Heilssuche.55 Achilles und Roland müssen in selbstzerstörerischer Weise angreifen, einzig um das Gesicht zu wahren. Apollonius von Tyrus und Parzival irren durch die Welt, um einen seelischen Makel zu verstehen und zu überwinden.56 Diese sehr abstrakten Verlaufsmodelle sind mit einigen Beispielen zu illustrieren, um damit die Frage nach der neuzeitlichen Ausdifferenzierung eines semantischen Eigenbereichs für den ›Fauxpas in guter Gesellschaft‹ jenseits aller religiös-moralischen Konnotationen vorzubereiten. Es versteht sich von selbst, daß die oben erwähnten altlateinischen Fehlleistungsbegriffe im Mittellatein der radikalen christlichen Umbesetzung gehor54 55
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Das inzwischen zum Topos gewordene Bild wurde von Wolfram von den Steinen, Der Kosmos des Mittelalters, 2. Aufl., Bern 1967, S. 114ff. geprägt. Zum Wandel von der Scham- zur Schuldkultur im Mittelalter vgl. unten Kap. 3 sowie Szö férffy, Artuswelt und Gralswelt; Bloch, Medieval French Literature and Law, S. 1ff., 238ff.; Ehrismann, Ehre und Mut, S. 185ff. Zur politischen Voraussetzung der Intentionsethik in der »Zentralgewalt «, s. auch den Beitrag von Hahn in diesem Band und Miller, Humiliation, S. 7ff. Vgl. Williams, S. 79f.; Miller, Humiliation, S. 9f.; Ward, S. 10ff.; Payen, Péché et culpabilité, S. 38ff., Ders., Le motif du repentir, S. 110ff.; Szöférrfy, S. 33ff.
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chen: Im allgemeinen bedeutet nun lapsus Sündenfall, peccatum Sünde, error Irrtum (insbesondere im Sinne von ›Verirrung‹). Für moralisch indifferente Verstöße gegen Interaktions-Regeln fehlt jeder Allgemeinbegriff, nicht nur weil eine solche Kategorie vor dem Ernst der Heilsbotschaft lange irrelevant blieb, sondern auch weil seit dem 12. Jahrhundert die juristischen und theologischen Diskussionen über Zurechnungsfähigkeit ausschließlich in der Begrifflichkeit des Strafrechts oder der Tugend- und Laster-Taxinomie geführt wurden. Der Fehltritt war an sich für die Moraltheologie kein Thema: Er war entweder aufgrund der Unabsichtlichkeit gar keine Sünde oder aufgrund des Unbedachts, der Vernachlässigung zu berücksichtigender Umstände eine verzeihliche, d.h. läßliche Sünde (peccatum veniale).57 Am Ende eines kasuistisch verästelten Traktats über die Schweregrade der Sünde veranschaulicht Johannes Gerson gut die moraltheologische Irrelevanz von Fehltritten und Konventionsverstößen mit einem allegorischen Beispiel, das ein wenig an den in der politischen Vorstellungswelt Frankreichs traumatischen ›Fall‹ Eleonores von Aquitanien erinnert:58 Der Bote des englischen Königs besucht die französische Königin, um sie zum Ehebruch und zur zweiten Heirat mit seinem Herrn zu überreden. Die Königin hat die Wahl zwischen sechs Reaktionen auf das Ansinnen: 1. direkte Abweisung des Boten zu dessen Schande (turpitudo), 2. höfliches Anhören des Boten und widerwillige Annahme eines Teils seiner Geschenke, gefolgt von der Weigerung, 3. freudige Annahme aller Geschenke, aber nur scheinbare Zustimmung, um die Schmeichelei auszukosten, 4. wohlüberlegte Annahme des Antrags, 5. enthusiastisches Eingehen auf das Angebot aus Haß auf den eigenen Ehemann (sicut garcia effrons vel effrenis et stulta femina), 6. überdies noch hartnäckiger Widerstand gegen alle besonnenen Gegenargumente. Es folgt die Auslegung: Jede Versuchung ist ein solcher Teufelsbote, der zur Untreue gegen Gott ver57
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Eine Wegmarke in der Entwicklung der Sündeneinteilung bildet Alans von Lille ›Summa ›Quoniam homines‹‹, in der gegen frühere augustinische (aktuelle Sünden mit der Erbsünde vermischende) Auffassungen neben Todsünden und läßlichen Sünden auch sündhafte und nicht-sündhafte Verfehlungen unterschieden werden (ed. P. Glorieux, in: AHDL 20 [1953–54], S. 113–364, hier 354f.). So sind ohne deliberatio und Konsens oder aus »unbesiegbarer« ignorantia oder impotentia begangene Taten nicht läßliche, sondern überhaupt keine Sünden, weil niemand ohne Willensfreiheit und Vernunft sündigen kann. Läßliche Sünden entstehen aus »besiegbarer Schwäche des Fleisches«. Sie werden e contrario durch die Sünde Adams definiert: Weil der Urvater weder an ignorantia noch an impotentia litt, konnte er auch nicht läßlich sündigen, sondern nur tödlich und criminaliter. Vgl. Maurizio Aliotta, La teologia del peccato in Alano di Lilla, Palermo 1986, S. 128– 40 und von Moos, Attentio sowie unten S. 13 zu einer anderen Interpretation Abaelards. De peccato veniali duplici, ed. L.E. Du Pin, Johannis Gersonii Opera omnia (Antwerpen 1706), repr. Hildesheim 1987, Bd. II, Sp. 479f. und Tractatus de differentia peccatorum venialium et mortalium, ebd., Sp. 485–504, Sp. 502–4: Consideratio XXV et ultima, Generale exemplum declarans quid est peccatum mortale aut veniale.
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führt. Nur die erste Reaktion ist ohne Sünde. Die zweite ist bereits die läßliche Sünde unangebrachter Höflichkeit. Die dritte ist die gefährlichste, weil hier die Eitelkeit zwischen läßlicher und schwerer Sünde schwebt und leicht in letztere umkippt; denn ein böser Wunsch, dem bloß noch die Gelegenheit zur Ausführung fehlt, ist eine Todsünde. Die drei letzten Reaktionen sind Steigerungsmodalitäten des peccatum mortale. Es ist so gut wie unmöglich, diese moralisatio mit irgendeiner Fehltrittsemantik zu verbinden, obwohl wir gerade die einzige für Gerson untadelige Reaktion der abrupten Zurückweisung als grobe Verletzung des höfischen Verhaltenscodes, die zwei folgenden Möglichkeiten als deren mehr oder weniger diplomatisch-formvollendeten Anwendungen empfinden könnten. In der Sündentheologie interessiert der Fehltritt nicht als Auslöser peinlicher Situationen zwischen Menschen, sondern allein als eine je nach der Intention positive oder negative, entlastende oder belastende Begleiterscheinung des Verstoßes gegen das doppelte christliche Liebesgebot. Das Spezifische des Fehltritts geht dabei in einem reichen Katalog von zurechenbaren oder entschuldbaren Schwächen und Fehlern unter (ignorantia, negligentia, imprudentia, inconsideratio, stultitia usw.).59 Immerhin findet sich in den unabsehbaren Erwägungen über Verantwortlichkeit oft der Schlüsselbegriff des öffentlichen Ärgernisses (scandalum), der sich nicht auf eine Sünde, insbesondere nicht auf eine geheime, nur Gott bekannte bezieht, sondern auf ein Akzidens der Sünde: auf die den anderen willentlich oder unwillkürlich durch die bloße Öffentlichkeit eines Tuns gegebene Gelegenheit zur Sünde. Da der Skandal durch schlechtes Beispiel, mangelnde Rücksicht auf menschlichen Unverstand, aber auch durch furchtlose Wahrheitsliebe, d.h. auch aus einer Tugend entstehen kann, bemißt sich der Schuldgrad oder die Nicht-Schuld auch hier einzig an der religiös-ethischen Intention der Gottes-und Nächstenliebe, und diese kann, muß aber keineswegs immer gesellschaftlichen Harmonie- und Ehrvorstellungen entprechen.60 Interessant ist hier die gängige Ableitung dieses Begriffs aus einer dem ›Fehltritt‹ verwandten Bild: Skandalon erklärt sich aus impactio pedis, obex 59
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Vgl. Thomas von Aquin, Summa theol., II–II 46, 54. Zu dem sowohl entlastenden wie erschwerenden Hauptkriterium der Intention vgl. Blomme, La doctrine du péché; Lottin, Psychologie et Morale; von Moos, Attentio, im Ersch.; Pierre Michaud-Quantin, La conscience individuelle et ses droits chez les moralistes de la fin du moyen âge, in: Universalismus und Partikularismus im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 5), Berlin 1968, S. 42–56 sowie den Beitrag von Richard Newhauser in diesem Band. Das Thema wurde akut diskutiert im Zusammenhang mit der extremen augustinischen Auffassung, daß die natürlichen Tugenden der Heiden bloß splendida vitia aufgrund rein menschlicher vana gloria seien bzw. omnis infidelium vita peccatum est (Prosper von Aquitanien). Die Geschichte der zunehmenden Humanisierung dieses ebenso antipolitischen wie antisozialen Axioms seit dem 12. Jh. bis zu dessen aristotelischer Widerlegung durch Thomas von Aquin zeichnet Odon Lottin in seinen ›Etudes de morale. Histoire et doctrine‹, Gembloux 1961, S. 67–149 nach: »Les vertus morales acquises sont-elles de vraies vertus?«
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impingens ad ruinam, d.h. etwa Stolperstein, Fußangel, Gehhindernis, Anstoß zum Straucheln und Hinfallen.61 Möglicherweise verdanken sich das französische faux pas und das deutsche ›Anstoß erregen‹ einer späteren Säkularisierung, einer auf den gesellschaftlichen Umgang eingeschränkten Besetzung dieser Metaphorik, da zwischen beiden Feldern der Aspekt der Sichtbarkeit oder Auffälligkeit das tertium comparationis bildet. Es gibt jedoch auch mittellateinische Sonderdiskurse, die sich der totalen Klammer der moralischen Defizienzsemantik entziehen, und selbst innerhalb der Sündentheologie können Eigenschaften, die eher den Fehltritt als die Sünde auszeichnen – Geringfügigkeit, Unabsichtlichkeit, Ungeschick und dgl. – im Sinne der Toleranz erwogen werden. Der theologische Unterschied von Irrtum aus natürlicher menschlicher Schwäche und haeretica pravitas aus Stolz und Starrsinn weist error einen entlastenden Charakter zu.62 Der Sündenbegriff selbst ist nicht immer resistent gegen Fehltritt-Konnotationen. Wenn die Dichter ihre erotischen Fiktionen als peccata iuvenilia entschuldigen, so richten sie sich mehr am peccatum-Begriff Ovids als an dem der Moraltheologen aus. ›Jugendsünden‹ gelten bis heute meist weniger als Sünden denn als ironisch übertriebene Torheiten und Stümpereien.63 Das antike Sprichwort errare humanum est hat nicht zufällig die mittelalterliche Form peccare humanum est angenommen, oft im Kontext mit dem sinnverwandten Proverb: »Fallen ist keine Schande, aber liegenbleiben.«64 Die paränetische Absicht, an die gefallene heilsbedürftige Menschennatur zu erinnern, hat zweifellos diesen Wandel von error zu peccatum am meisten bestimmt, doch ließ sich die Formel »wir sind allemal nur Menschen und Sünder« auch als Mahnung zur Demut und Toleranz,65 ja sogar schlicht nur als pragmatische Weltweisheit verstehen.66 Selbst lapsus hat kein Bedeutungsmonopol auf den Sündenfall, den menschheitlichen Sturz in die ruina, sondern behält oft den ursprünglichen Sinn des bloßen Ausgleitens bei.67 Ich kenne zwar bisher keine mittelalterliche Stelle, die beide Konnotationen auf die Tat der Ureltern bezieht, doch wäre eine solch doppeldeutige Verbindung von Fehltritt, Sünde und Verhängnis durchaus möglich. Denn Abaelard schreibt (ich zitiere bewußt die gediegene 61 62
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Thomas, ebd., II–II 43; vgl. von Moos, Das Öffentliche, S. 41ff. Zur Abgrenzung der drei Arten von peccatum im Sinne von moralischer, technischer und sozialer Defizienz (naturae, artis, moris) gegen die zurechenbare culpa nach Thomas, Summa theol. I–II 71 vgl. Payen, Péché et culpabilité, S. 34ff. – Zu Irrtum und Häresie vgl. z.B. Abaelard, Theologia Scholarium, Praef. 8, ed. E.M. Buytaert / C. Mews (CChrCM 12), Turnhout 1987, S. 313: Non enim ignorantia hereticum facit, sed magis superbe contentionis obstinatia (sic), mit mehreren patristischen Belegen für diese traditionelle Unterscheidung. Vgl. auch Anm. 64 zur Opposition errare vs. in errore manere. Vgl. Gerald Bond, Iocus amoris. The Poetry of Baudri of Bourgueil and the Formation of the Ovidian Subculture, in: Traditio 42 (1986), S. 145–193, hier 183ff.; Peter von Moos, Hildebert von Lavardin, Stuttgart 1965, S. 7, 159, 238. Anm. 64–67 s. nächste Seite
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Übersetzung von Wolfram von den Steinen)68: »Gleich beim ersten und vielleicht doch bescheidenen Fehltritt der ersten Eltern (modica priorum parentum transgressione), den [Gott] so an den Späteren, noch ehe sie es verdient haben, rächt, hat er zeigen wollen, wie sehr er alle Bosheit verabscheue und welche Strafen er für größere, gar häufige Verschuldungen bereithalte – wenn er dies, was nur einmal mit dem Essen eines einzigen, ersetzbaren Apfels begangen wurde, an den Nachkommen zu strafen nicht säumt.« Der Satz steht in einem höchst subtilen sündentheologischen Kontext: Es geht Abaelard mit dieser pädagogisierenden Deutung des Sündenfalls als Warnung vor aktuellen Sünden darum, Gott von dem Vorwurf grausamer Kleinlichkeit zu entlasten, da er einen geringen Verstoß so hart bestraft habe, daß selbst unschuldige Kinder ohne die Taufe zur ewigen Finsternis verdammt würden. Sehen wir von diesem Argumentationszusammenhang ab,69 so ergibt sich für unsere semantische Erkundung einmal, daß der spezifisch christliche Begriff transgressio, ›Über-Tretung‹ auch den Fehltritt meinen konnte und dies wohl einen weite64
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Da pecccatum und peccare bereits in der Antike auf die menschliche Kontingenz bezogen werden konnten, ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob das mittellateinische Sprichwort eindeutig ›sündigen‹ und nicht bloß klassizistisch ›irren‹ (wie in peccata iuvenilia) meint. Zum Sprichwort vgl. Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi, hg. vom Kuratorium S. Singer, 8 Bde., Berlin 1995–99, unter ›Mensch‹, Bd. VIII, S. 189f.: Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit des Menschen; ›Fall‹, Bd. III, S. 148f.: »Wer nie fiel, stand nie wieder auf« und »Fallen ist keine Schande …«; Schumacher, »… ist menschlich«, bringt zahlreiche moraltheologische Beispiele, aus denen, wie nicht anders zu erwarten, hervorgeht, daß die Möglichkeit, die Sünde als Menschenlos zu rechtfertigen, durch kontrastierende Ergänzungen im Sinne des zweiten Sprichworts, das den Akzent auf die Buße und das Wiederaufstehen legt, eingeschränkt wurde. So etwa (nach Singer, Bd.VIII, S. 190) Augustinus, Sermo 164, 10, 1: Humanum fuit errare, diabolicum est … in errore manere; Otloh von St. Emmeran, Libellus Proverbiorum, MPL 146, Sp. 313B: Humanum est peccare, diabolicum vero est perseverare. Dieselbe Differenz zeigt die in Anm. 62 erwähnte Bestimmung der Häresie als obstinatio oder contumacia im Gegensatz zu ›Irrtum‹. Im theologischen Sündendiskurs ist die Anerkennung der humana infirmitas geradezu ein Grundmotiv aller Seelenführung. Gregor d. Gr. zeigt etwa am Beispiel der überheblichen Tröster Jobs die Arroganz der ihre eigene Menschlichkeit, d.h. Schwäche vergessenden Seelsorger, die hinter allem Unglück stets nur Sünden wittern (Moralia in Job, XXIII 13, 25 und 17, 30, ed. M. Adreaen [CChr 43B], Turnhout 1985, S. 1162f., 1166f.), und verweist auf das positive Beispiel des Apostelfürsten Petrus (Apg. 10, 26), der dem rechtschaffenen, sich vor ihm prosternierenden Cornelius sagte: »Stehe auf, auch ich bin ein Mensch!«(Regula pastoralis II 6, ed. F. Rommel [SC 382], S. 208). Vgl. auch unten Anm. 253. Vgl. unten Kap. 2.3 zu Commynes sowie den Beitrag Schnells in diesem Band (Textgruppe 3) zur »amoralischen« Grundhaltung der schwankhaften Mären im Sinne der Sentenz: nemo sine crimine vivit (Disticha Catonis I 5). Firmin le Ver (Firminus Verris), Dictionarius, Dictionnaire latin-français, ed. B. Merrilees / W. Edward (CChrCM, Lexica latina Medii Aevi 1), Turnhout 1994, s.v., übersetzt lapsus durch trebuchemens. Salimbene de Adam, Cronica, ed. G. Scalia, Bd. I, Bari 1966, S. 111ff. schreibt eine ganze Quaestio über schlechte Witze oder sprachliche Fehltritte, ausgehend von Eccli. 28, 30: vide ne forte labaris in lingua tua et cadas in conspectu inimicorum insidiantium tibi, et sit casus tuus insanabilis in mortem.
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ren etymologischen Hintergrund für die spätere faux pas-Metonymie bildet; zum anderen, daß die Kontrastierung des geringfügigen Fehlers oder corpus delicti mit den katastrophalen Folgen – eine Grundfigur des Fehltritt-Diskurses – bereits im Mittelalter auf den Sündenfall angewandt werden konnte,70 was umgekehrt die Metaphorisierung des Sündenfalls zu einem Bild für andere Arten der Unverhältnismäßigkeit zwischen Leichtsinn und Verhängnis beförderte.71 Nicht jede Erwähnung von Schuld und Sünde ist somit als Beleg für ein rundum kulpabilisiertes Weltbild zu verbuchen. Auch das Mittelalter konnte Versagen auf die konstitutive Unvollkommenheit des Menschen, den Milderungsgrund der Normalität zurückführen.72 Die mittellateinische Transgressionssemantik hat überdies eine technische Seite: 68
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von den Steinen, Kosmos (wie Anm. 54), S. 305; Abaelard, Commentaria in Epistolam Pauli ad Romanos, II 16–19, ed. E. M. Buytaert (CChrCM 9), Turnhout 1969, S. 159ff.; zur Stelle II 19, S. 170 vgl. Rolf Peppermüller, Abaelards Auslegung des Römerbriefs (BGPhMA, NF 10), Münster 1972, S. 105–121; Blomme, S. 123–152 auch zur Verbreitung dieser Sicht in der Abaelardschule trotz deren Verurteilung auf dem Konzil von Sens. (Die Partei Bernhards von Clairvaux warf Abaelard vor, er habe das objektive Heilsgeschehen pelagianisch zu einer instructio für individuelle Moralität banalisiert.) Während die dominante nach-abaelardsche Theologie an Adams Tat gerade den höchsten Bewußtseins- und Verantwortlichkeitsgrad betonte (vgl. oben Anm. 57; von Moos, Attentio), berief sich Abaelard auf eine Briefstelle des Pseudo-Hieronymus, Ep. 13, 6 (in Wirklichkeit von Pelagius), die er ebd. zweimal zitiert (II 16, S. 160 und II 19, S. 170), um die entlastende Unerfahrenheit des Urvaters zu betonen: Adae magis parcendum fuit, qui adhuc novellus erat et nullius ante peccantis et propter peccatum suum morientis retrahebatur exemplo. Tibi vero post tanta documenta, post legem, post prophetas, post evangelia, post apostolos, si delinquere volueris quomodo indulgeri possit ignoro. Zum Thema vgl. allgemein Adriano Prosperi, Scienza e immaginazione teologica nel seicento. Il battesimo e le origini dell’individuo, in: Quaderni storici 100 (1999), S. 173–198. Vgl. auch Evans, Getting it Wrong, S. 55 zu Anselms Deutung Luzifers: »Sin is mistake,« Satan wollte nicht absichtlich in seinen jetzigen Zustand fallen. Er beging vielmehr einen »error of perception«, der darin bestand, daß er den Grad der Gottähnlichkeit, der einem geschaffenen Wesen zusteht, verkannte. Zur Neuzeit vgl. etwa Goethe, ›Die natürliche Tochter‹, IV 2, v. 1916–1922: Wird ein so leicht Vergehn / So hart bestraft? Ein läßlich scheinendes, / Scherzhafter Probe gleichendes Verbot, / Verdammt’s den Übertreter ohne Schonung? / O, so ist’s wahr, was uns der Völker Sagen / Unglaubliches überliefern! Jenes Apfels / Leichtsinnig augenblicklicher Genuß / Hat aller Welt unendlich Weh verschuldet. Analog zu der in vorangehender Anmerkung zitierten Goethestelle verstehe ich das in diesem Band von Jan-Dirk Müller analysierte Beispiel des sog. Spiegelraubs im ›Stricker‹, der »eine Art peccatum originale im dörper-Milieu« darstellt. Der Weg vom theologischen Unverhältnismäßigkeits-Paradigma zum volkssprachlichen Roman dürfte über die Predigt geführt haben, denn die Kontrastierung des Minimalvergehens mit der Maximalstrafe eignet sich wie schon bei Abaelard grundsätzlich gut als rhetorisches Warnmotiv vor aktuellen Sünden. Nach Müllers Ausführungen läßt sich vermuten, daß die FehltrittGeschichte des Strickers auf zweiter Ebene eine Sündenfall-Parallele enthält, die den höfischen Code als eine Transposition elementarer Heilslehren in eine elitäre Interaktionsethik erscheinen läßt. Analoge Beispiele aus der altfranzösischen Literatur bei James-Raoul, La parole empêchée, S. 17–29. Anm. 72 s. nächste Seite
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Wenn Lehrer des Triviums von vitia sprechen, so meinen sie ganz einfach Kunstfehler, nicht Laster. Die Ungeschicklichkeit kann im Zusammenhang mit der ›Kunst der guten Sitten‹ in einen ambivalenten Zwischenbereich von ars und natura fallen. Die mittelalterliche Anstandslehre, deren Anfänge in der Klerikererziehung liegen, verstand sich sowohl als Ethik wie als eine Anleitung zur Dezenz durch Körperbeherrschung. Seit Ambrosius blieben hier die ciceronische Gegenbegriffe honestum et utile das Differenzkriterium zwischen Anstand (mores) und eigentlicher Moral, wobei das Einheits-Postulat der im äußern Auftreten (elegantia, honestas) erscheinenden inneren Tugenden (das moralische utile) lange selbstverständlich war.73 Dennoch lösten sich allmählich die Bereiche voneinander ab, insbesondere aufgrund der Erweiterung klerikaler disciplina auf die Laienethik.74 Martin von Braga rechtfertigte bereits im 6. Jahrhundert seine eher utilitaristische als geistliche ›Formula vitae honestae‹ ausdrücklich als eine auf weltliche Amtsträger zugeschnittene Verhaltenslehre, die er nicht für Vollkommene (Mönche und Kleriker), sondern für Unvollkommene geschrieben habe.75 Fehltritte im weitesten Sinn kommen in dieser Tradition unter dem Kernbegriff der inhonestas durchaus vor. Schon Alkuin lehrte Karl den Großen die Kunst, das Lampenfieber, die Angst vor den inhonesta beim öffentlichen Sprechen, dadurch zu überwinden, daß er privat im inneren Kreis des Hofes (inter suos) die Regeln der Rhetorik einübe, wo er sich vor Kritik nicht zu schämen brauche, damit er danach draußen inter alienos nicht über Fehler zu erröten brauche.76 Hugo von St. Victor schreibt im 12. Jahrhundert im Geiste der Regularkanoniker eine Anstandslehre für Novizen.77 Dabei wendet er sich bewußt gegen die monastische, insbesondere zisterziensische Auffassung, daß einzig die Reinheit des Herzens vor Gott zähle und die Rücksicht auf den Eindruck bei den Mitbrüdern bereits sündhafte Eitelkeit oder Täuschung bedeute. Das von anderen gesehene Verhalten ist ihm sogar wichtiger als das allein von Gott gesehene, da das eine der Gemeinschaft, das andere einzig individueller Perfektion dient. ›Image-Pflege‹ ist Teil aktiver Nächstenliebe und steht darum höher als kontemplative Absonderung.78 Seine hauptsächlich der äußeren Er72
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Zur Entdramatisierung der Sünde vgl. auch den oben S. 13 erwähnten Traktat Gersons über den Unterschied läßlicher und schwerer Sünden sowie dessen Doctrine contre conscience trop scrupuleuse, in: Œuvres complètes, ed. P. Glorieux, Bd. VII, L’œuvre française, Nr. 306, Paris/New York 1966. Es gab Moraltheologen wie Duns Scotus, die damit rechneten, daß viele Gläubige nie in ihrem Leben eine Todsünde begehen; vgl. P.-M. Gy, Les définitions de la confession après le quatrième concile du Latran, in: Jean-Claude Maire Vigueur (Hg.), L’aveu. Antiquité et Moyen âge (Collection de l’Ecole française de Rome 88), Roma 1986, S. 283–296, hier 287. Auch dieser Optimismus gehört zum Mittelalter, so wenig er dominierte. Zur philosophischen Aufwertung der Normalität vgl. Rolf. Vgl. Schmölders, Die Kunst des Gesprächs, S. 16ff.; von Moos, Herzensgeheimnisse, S. 91ff.; Schmitt, La raison des gestes, S. 67ff. und passim. Jaeger, The Origins of Courtliness, S.19ff., 211ff. und passim.
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scheinung geltende Didaxe oszilliert so zwischen Ethik und Ästhetik. Fehltritte erscheinen darin als zu überwindende inhonesta, aus denen durch Training der Fortschritt zur honestas gelernt werden kann. Auch wenn der höhere Standpunkt der caritas zweifellos normativ alle Einzelheiten des Traktats durchdringt, ist nicht immer klar, ob sich virtus und vitium einfach mit Tugend und Laster übersetzen lassen. Wenn der Viktoriner etwa zum ne quid nimis in der Gebärdesprache schreibt:inter vitia contraria medius limes virtus est, so haben die anscheinend ausschließlich moralischen Begriffe eine zweite Bedeutungsebene, auf der sie analog zu Schnitzer und Richtigkeit in der Grammatik fungieren.79 Am interessantesten ist in unserem Zusammenhang jedoch eine Stelle, an der Hugo mit einer Aposiopese das literarische Vergnügen kenntlich macht, Fehltritte um ihrer Lächerlichkeit willen auszumalen, und diesen Spaß zugleich von sich weist. Er zählt eine Reihe auffälliger Haltungen in Gebärde und Mimik als abschreckende Beispiele für die Lehre auf, daß man sich um sein Gesicht kümmern soll, weil auf diesem Spiegel des Charakters Fehler unbeabsichtigt an den Tag treten bzw. sich am wenigsten verbergen lassen. Am 75
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Martini Bracarensis Opera omnia, ed. Cl.W. Barlow, Yale/London 1950, S. 236f. Diese Prologstelle ist nicht zufällig (s. weiter unten) seit dem 12. Jh. aus der breiten Überlieferung dieses Seneca zugeschriebenen Werks verschwunden. Vgl. auch Hans Haselbach, Seneque des IIII vertus. La Formula honestae vitae de Martin de Braga (pseudo-Sénèque) traduite et glosée par Jean Courtecuisse (1403), Bern/Frankfurt 1975. – Bekannt ist die Ausdifferenzierung verschiedener Standesethiken seit dem Hochmittelalter. Dennoch gibt es auch eine Gegenbewegung hin zur Vereinheitlichung christlicher Grundprinzipien, die als Tendenz zur »Monachisierung« der Gesamtgesellschaft bezeichnet worden ist; vgl. Klaus Schreiner, Einleitung zu: Ders. (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen politisch-soziale Zusammenhänge (Schriften des hist. Kollegs 20), München 1992, S. 1–78, hier 30ff. Martins scharfe Trennung von Kleriker- und Laienmoral dürfte seit dem 12. Jh. von geistlichen Autoren zunehmend gemieden worden sein, da der Adel sie selbst vertrat. Heinrich II. rechtfertigt im fiktiven Dialogus des Petrus von Blois (MPL 207, Sp. 978D–979A) seinen Zorn und seine Vergeltungsabsicht als natürliche Moral, da geistliche perfectio ihn nicht binde, wird dann jedoch vom Abt von Bonneval zurechtgewiesen und von der Allgemeingültigkeit des christlichen Vergebungsgebots überzeugt; vgl. dazu Richard E. Barton, »Zealous Anger« and the Renegotiation of Aristocratic Relationships in Eleventh- and Twelfth-Century France, in: Rosenwein, S. 153– 170, hier 160ff.; Michel Senellart, Les arts de gouverner, Du regimen médiéval au concept de gouvernement, Paris 1995, S. 111ff. Siehe auch unten S. 66 zur Überwindung kriegerischer Tugenden und zur Überkreuzung geistlicher und aristokratischer Wertvorstellungen. Alcuin, Disputatio de Rhetorica et virtutibus, ed.W.S. Howell, New York 1965, S. 142. De institutione novitiorum, MPL 176, Sp. 927–854. Vgl. Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother, Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley 1982, S. 40ff. zur Stelle Sp. 927 C. Zur Bedeutung des Werks für die Umgangsformen s. Schmitt, La raison des gestes, S. 173–206; Jaeger, Humanism and Ethics, S. 54ff. De instit. novitiorum, Sp. 943 C; ähnlich auch der peccatum-Begriff, Sp. 942 A (zitiert in Anm. 80).
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Ende dieser Karikatur abstoßender Verhaltensweisen zitiert er die berühmte Eingangspartie der Horazischen ›Ars poetica‹ (v. 1–5) über die zwitterhafte Komposition, die wie das Gemälde eines aus Menschenkopf und diversen Körperteilen von Tieren zusammengesetzten Monstrums kein organisches Ganzes bildet. Aber an Stelle der Pointe (v. 6): spectatum admissi risum teneatis, amici? bricht er – zweifellos in bewußter Korrektur des spottenden Dichters – das Zitat so ab: Sed ne forte satiram potius quam doctrinam edere videamur … modestiae hic quoque oblivisci non debemus. Etiam sic fortassis negligentibus et indisciplinatis quantum ipsi in his erubescere debeant, melius silendo ostendemus. Er widersteht also der Versuchung, eine »Satire« zu schreiben, da die doctrina disciplinae sein Ziel ist, sagt aber mit anderen Worten doch difficile est satiram non scribere. Da niemand ganz gegen derartige Lächerlichkeit gefeit ist, sollen wir, wenn andere sich vor uns lächerlich machen und Grund zum Erröten haben, lieber schweigend darüber hinwegsehen, prudenter dissimulare, und hinter den Symptomen die innere Unordnung zu bessern versuchen. Hugo zeigt also gleichzeitig Lächerlichkeit auf und verbietet das Lachen darüber. 80 Im Unterschied zum Fehltrittbegriff ist der damit oft konnotierte Lächerlichkeitsbegriff mediävistisch keineswegs problematisch, sondern in den verschiedensten Diskursen bis in die Theologie hinein verbreitet. Er sollte einmal (nicht nur unter dem wohlerforschten Aspekt des asketischen Lachverbots) eigens untersucht werden.81 Sed nunc non est his locus. Im spätmittelalterlichen Latein wird die Ambivalenz christlich geprägter Wertbegriffe im Kontext der Geselligkeit vielleicht deshalb noch spürbarer, weil scholastisch gebildete Autoren einer bereits selbständigen volkssprachigen, vorwiegend aristokratisch-höfisch orientierten, aber gerade auch von Stadtbürgern propagierten Verhaltenslehre gegenüberstanden, in der Bewahrung der Ehre und Hut vor Beschämung und Schande oberstes Gebot war. Sie mußten darum die weltlichen Kriterien gewissermaßen in ihr eigenes Idiom zurückübersetzen und in einen theoretisch weiteren und anspruchsvolleren Code integrieren. Dies zeigt sich etwa in dem für Habsburgische Prinzen geschriebenen ›Speculum virtutum moralium‹ Engelberts von Admont.82 In einem Kapitel über das Schamgefühl (verecundia) betont der Erzieher eingangs, dieser Habitus sei keine Tugend, sondern eine »Furcht vor Unrühmlichkeit 80
De instit. novitiorum, Sp. 932 C–D: errores vero alienos … pro tempore student vel modeste corripere, vel prudenter dissimulare (eine Reminiszenz aus Gregor d. Gr. Regula pastoralis II 10, unten Anm. 300). Sp. 941 B–942 D: Ex visu cognoscitur vir. Sp. 941 D: alii caput iactant … ridiculam satis ostentationis formam fingunt. Sp. 942 A: Est enim facies disciplinae speculum, cui tanto maior custodia adhibenda est, quanto minus si quid in ea peccatum fuerit, celari potest. Sp. 942 B–C das Horazzitat, eingeführt durch: Libet in hoc, poeticae illius subsannationis elogio proclamare. Dazu vgl. Franz Quadlbauer, Purpureus pannus. Zum Fortwirken eines horazischen Bildes in Spätantike und lateinischem Mittelalter, in: MJb 15 (1980), S. 1–32.
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wegen einer beschämenden Tat« (pudor, timor ingloriationis de turpi actu).83 Die traditionellen inhonesta sind nun in Anlehung an das deutsche Wort ›Schande‹ zu turpia oder noch präziser zu erubescibilia (Errötungsfaktoren) geworden. Der Hauptgesichtspunkt ist die abstoßende Wirkung eines Verhaltens auf Zuschauer, nicht dessen moralische Qualifikation. In einer Aufzählung solcher »vor den Menschen und nach menschlicher Sitte« besonders beschämender Taten werden darum in einer bunten Mischung Fehltritte, Naivitäten, Dummheiten (a simplicitate et fatuitate), widerliche Anstandsverletzungen (sordida et immunda) und schreckliche Verbrechen (abominabilia crimina) nebeneinader aufgezählt. Auf gleicher Ebene finden sich Fahnenflucht, Schmatzen und Übergeben bei Tisch, schmutzige Geschäfte, Buhlerei mit Dirnen, Leichtsinn und Unbedacht. All dies erzeugt »Befleckung« des eigenen Ansehens.84 Es schadet denen am meisten, die mehr als andere geehrt werden wollen, und läßt die Menschen am meisten vor denjenigen erröten, von denen sie besonders gelobt werden wollen; so blamiert sich der Lehrer vor den Schü81
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Ein für die verbreitete Mittelalterunkenntnis typisches Pauschalurteil findet sich im Artikel ›Das Lächerliche‹ von A. Hügli im HWP, Bd. 5 (1980), Sp. 2: »in der mittelalterlichen Literatur verschwindet das L. als Terminus fast völlig« (mit Verweis auf H. Walther, Proverbia sententiaeque latinitatis Medii Aevi (1866), S. 616f. Mir begegnen laufend Stellen über das ridiculum gerade da, wo man sie am wenigsten sucht, in ernsthaftem philosophisch-theologischem Zusammenhang, vgl. etwa Abaelard, Logica ingredientibus. Super Topica glossae, ed. M. Dal Prà, Pietro Abelardo, Scritti di logica, Firenze 1969, S. 301: Boethius … ridiculosus esse videtur; Gerson, Protokoll des Konzils von Konstanz zur Verurteilung Jean Petits, ed. Du Pin (wie Anm. 58), Bd. V, Sp. 841f. (Votum eines Gegners auf dem Konzil): Nam etsi fides esset iudex omnium possibilium trahi ad articulos fidei, tunc iudicium civile esset superfluum: quia omne peccatum mortale, veniale, actuale esset iudicio fidei condemnandum : imo quod ridiculum est, expuere in Ecclesia esset iudicandum iudicio fidei, quod posset dici quod talis expuens hoc fecit in contemptum Dei. Dies dient als Argument für die Nicht-Zuständigkeit des kirchlichen Gerichts für einen vermeintlichen Tyrannenmord; s. von Moos, Das Öffentliche, S. 46ff. Die Stelle ist im übrigen ein interessanter Beleg für die im 15. Jh. bereits selbstverständliche Unterscheidung von Sünde und Fehltritt, wenn man etwa an die drastischen Strafen frühmittelalterlicher Mönchs-Consuetudines gerade für das Spucken in der Kirche denkt (s. Gougaud, Anciennes coutumes claustrales, S. 41–48 und oben Vorwort, Anm. 10, 30). Weitere mittelalterliche Belege für ridiculum, ridiculosum und derisio unten Anm. 92, 253, 257. Vgl. auch Brandt, das ain groß gelächter ward. Bibliotheca ascetica, ed. Bernhardus Pez, Bd. III (Regensburg 1724), repr. Farnborough 1967. Spec. virtutum, X 28, ebd., Sp. 363f. De verecundia: … adminiculum placidae conversationis. Non est virtus, sed quedam passio laudabilis a virtutis radici veniens et in virtutem tendens et proficiens … patet, quod erubescens amat illud honestum sibi inesse, vel videri inesse, cuius turpe oppositum timet sibi gloriam illius boni aut honesti auferre et ingloriationem sui afferre. Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa theol. II–II, 75, ad 1: est enim erubescentia timor deshonorationis. Ebd., X 29, Sp.364f.; nach Albert d. Gr. ist erubescentia eine besondere Art der Furcht, diejenige vor Gesichtsverlust; vgl. Michaud-Quantin, La psychologie de l’activité chez Albert le Grand, S. 109f.
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lern durch Unwissen, der Feldherr vor den Soldaten durch Feigheit. Beschämung entsteht im übrigen stärker in Anwesenheit anderer als durch den Klatsch Abwesender, und jeder, der auf Ehre hält, errötet allein schon, wenn er Zeuge von turpia seiner Mitmenschen wird.85 Während Thomas von Aquin solche Anerkennungsverhältnisse etwa unter dem Gesichtspunkt der verteilenden Gerechtigkeit, dem suum cuique-Prinzip, noch ausschließlich als Themen von ethisch-religiöser Bedeutung in die ›Summa theologica‹ eingebaut hat, wird hier Peinlichkeit in der Sache ziemlich eigenständig und moraltranszendent behandelt, als humanes von der Ehre- und Schmach-Logik, vom »Lob oder Tadel der Menschen« bestimmtes Kommunikationsphänomen, obwohl die Terminologie durchaus moraltheologisch bleibt.86 In der mittellateinischen Literatur dürfte sich eine auf alltägliche Umgangsformen spezialisierte didaktische Gattung am meisten von der moraltheologischen Begrifflichkeit entfernen, die ars dictaminis. Namentlich in den italienischen Stadtkommunen haben die Lehrer dieser pragmatischen Kunst schriftlicher, sekundär auch mündlicher Interaktion sich mit dem Fehltritt beschäftigt. Er wird hier mit Adjektiven wie ridiculosum, puerile, frivolum, pudorosum oder dem Oberbegriff rusticitas bezeichnet und derart den Idealen curialitas, urbanitas oder civilitas entgegengestellt.87 Daß gerade im stadtbürgerlichen Milieu die aristokratische Distinktionssemantik gepflegt, ja explizit kodifiziert wurde, zeigt eine Orientierungsunsicherheit gegenüber ungeschriebenen Konventionsgesetzen und jene rivalisierende Tendenz, die allen Aufsteigermentalitäten eignet. Boncompagno, der wohl originellste und geistreichste Meister dieser Kunstlehre, läßt durchblicken, was er von bestehenden Rangunterschieden hält: In einem Musterbrief an einen Adeligen verzichtet er ausdrücklich auf das Lob edler Abkunft. Denn Geblütsadel sei »ein gewisses von der Höhe und Pracht der Eltern ausgehendes Lob, das ohne die gleichen Ergebnisse nicht auf die Nachkommen übergeht, ja eher zur Schande 85
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Spec. virtutum, X 30, Sp. 366f. Zu modernen sozialpsychologischen Parallelen vgl. unten Anm. 350; Dreitzel, Peinliche Situationen, S. 148ff. und Pitt-Rivers, S. 5: »That which is an affront if said to his face may not dishonour if said behind his back.« Spec. virtutum, X 29, Sp. 364. Die oben angeführte Aussage, daß die »Furcht vor Schmach« keine Tugend sei, steht in einem leichten Widerpruch zu X 29, Sp. 364: Honestum autem simpliciter est virtus et omnia quae a virtute et maxime illa, quae magis laudantur communiter ab hominibus: ergo turpia erunt omnia contraria virtuti. … et maxime illa, quae magis communiter ab hominibus vituperantur, et per consequens huiusmodi omnia … sunt erubescibilia. Zu Thomas s. unten S. 85. Zur Ars dictaminis als Verhaltensdidaktik vgl. von Moos, Rhetorik, Dialektik und Civilis scientia; Ders, Aspekte der Dialogforschung. Zu den Fehltrittbegriffen s. unten Anm. 88, 92 und etwa noch Boncompagno, Rhetorica novissima, ed. A. Gaudenzi, Bibliotheca iuridica Medii Aevi, Bd. II, Bologna 1892, Sp. 261 a–b: sunt alii qui sine intermissione quasdam auctoritates, sententias generales … repetere ad subsidium dignoscuntur. Hos autem non absque nota pudoris afficit repetitio taediosa. Et est notandum quod huiusmodi subsidia … a viris prudentibus puerilia et frivola repuntantur.
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als zur Ehre gereicht, weil es bei fehlender Tüchtigkeit und Verdiensten mit schmählichen Schritten zur häuslichen Bäuerlichkeit zurückweicht. Wer sich durch schlechte Sitten oder Manieren entadelt, steht als Inbegriff der Tölpelhaftigkeit da und wird, vom Gelächter der Leute degradiert, zum Gespött der ganzen Welt.« Die rusticitas eines Adeligen ist also lächerlicher als die eines rusticus.88 In einer Notula doctrinalis bemerkt Boncompagno anschließend, wenn man die schlechten Sitten studieren wolle, so brauche man nur auf böse Zungen zu achten. »Ich bin immer wieder überrascht, welch unwahrscheinlichen Stoff der Kritik die Gerüchtemacher und Ehrabschneider zu finden wissen.« Eine aus Lastern und Blamagen bunt gemischte Aufzählung von Verstößen gegen das ständische Decorum belegt danach gewissermaßen den soziologischen Quellenwert des Klatsches für infinite materie de pravis moribus.89 Wie eine Obsession durchzieht das Thema Lächerlichkeit diese Verhaltensdidaktik.90 In einer subtilen Abhandlung über Gruß- und Anredeformen geht der Bologneser Rhetoriklehrer etwa auf den pluralis maiestatis ein, den er aus rechtstheoretischen Gründen einzig dem Papst oder dem Kaiser, den höchsten Kollektivpersonen, zugestehen will.91 Nichts aber sei lächerlicher als das modische nos im Munde irgendeines Beliebigen, da er keine Gemeinschaft, sondern nur sich selbst vertrete. Dies sei Windbeutelei, ja Lüge. Doch die Satire besteht nicht nur aus dieser rhetorischen exaggeratio eines Formfehlers zur Sünde, sondern enthält auch eine Pointe über die Selbstbloßstellung durch Aufgeblasenheit: Wer von sich in Wirform sprechen wolle, ohne institutionell eine Mehrheit zu vertreten, dem könne man es nicht verbieten, da schließlich jedermann mit anderen irgend etwas teile. Allen gemein ist in der Tat humanitas et risibilitas. (Ein Spiel mit dem Doppelsinn von risibilitas: 88
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Boncompagno, Boncompagnus, I 9 (De honestis et pravis moribus addiscentium), ed. V. Pini, Testi riguardanti la vita degli studenti a Bologna nel sec. XIII., Bologna 1968, S. 22– 25, 23: Profecto nobilitas prolis est quedam laus ex altitudine ac magnificentia parentum procedens unde non transit absque paribus effectibus in heredes, immo est potius ludibrio quam honori, quia sine virtutibus meritorum usque ad rusticitatis lares pudorosis gressibus retrocedit. Porro ille qui se denobilitat per malam conversationem et morum inhonestate summ[a] ignobilitatis efficitur, unde singulorum irrisionibus deputatur et in fabulam convertitur populorum. Vgl. Daniela Goldin, B come Boncompagno, Padova 1988, S. 51–88. Zur mittelalterlichen Diskussion über wahren und falschen Adel vgl. z.B. Fritz Peter Knapp, Nobilitas Fortunae filia alienata. Der Geblütsadel im Gelehrtenstreit vom 12. bis zum 15. Jh., in: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna (Fortuna vitrea 15), Tübingen 1995, S. 88–109. Boncompagnus, ebd., S. 25. Für moderne Leser wirken die belustigend gemeinten, mit der Schadenfreude spielenden Beispiele in dem Kapitel De miseriis studentium, ebd., S. 43ff. geradezu zynisch. Vgl. auch die berühmte Karikatur des Volksredners in Rhetorica novissima (wie Anm. 87), S. 207 und dazu von Moos, Aspekte der Dialogforschung, S. 75f. Vgl. dazu den gut dokumentierten Beitrag von Lebsanft, Kontinuität und Diskontinuität, über die unterschiedliche regionale Entwicklung der Anrede- und Grußformen.
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Die Fähigkeit zu lachen, nach dem philosophischen Topos das proprium des Menschen, wird zur Fähigkeit, sich lächerlich zu machen.)92 Aus derselben Umwelt stammt der Franziskaner Salimbene da Parma, der Boncompagno übrigens als größten Schelmen – more florentinorum trufator maximus – verherrlicht hat.93 Obwohl theologisch gebildet, weiß auch er, kirchliche Ethik von der Anstandslehre, die Sünde vom Fehltritt (wiederum rusticitas genannt) zu unterscheiden. Sein boshafter Bericht von der Entmachtung des ersten Ordensgenerals Helias und dessen vermeintlichen Untaten beginnt mit dem Hauptvorwurf einer schlechten Kinderstube.94 Er stamme aus niedrigen florentinischen Verhältnissen und sei vor dem Eintritt in den Orden Matratzenmacher gewesen. Als ihn einmal der Podestà einer Stadt besuchen kam, sei er behaglich am Feuer sitzen geblieben, statt den hohen Gast stehend zu begrüßen. Er habe wohl geglaubt, dem Bibelwort zu folgen: »dem Toren erweise keine Ehre«(Prov. 26, 8), aber diese Respektlosigkeit sei als maxima rusticitas, gewissermaßen als ›Superfehltritt‹ erschienen. Aus dem weiteren Kontext wird klar, daß damit ein »Hochmut kommt vor dem Fall« illustriert werden soll. Obwohl Salimbene andere Beispiele derselben Form franziskanischer Konventionsverachtung als religiöse Vollendung gerade in der Demut und Ehrenverachtung zu preisen weiß,95 dient ihm dieser Fall des Sitzenbleibens vor den Großen dieser Welt einzig als Beweis für schlechtes Benehmen. Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Das etwas schizophren anmutende Pendeln zwischen dem höfischen und dem spirituellen Code dürfte eine
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Boncompagno, Tractatus virtutum, Hs. München, Bayerische Staatsbibl., clm 32499,f. 66f., zitiert nach Lebsanft, S. 292f.: Nam si aliquis clericus vel laicus proprie de se pluraliter loqueretur, superbum ipsum reputaret et ridiculosus fieret in curia Romana … Et si subtiliter velimus inspicere, non esset adeo vilis persona que quondam intellectu numero non possit loqui plurali. Nam duo servi glebe possunt de se ipsis dicere »nos« sicut papa et imperator, quia servilis conditio numeri necessitatem non imponit. Sed si servus aliquis vult credere aut excogitare aut connumerare aliquem vel aliquos in suasione, quis ei potest prohiberi? Vellem quidem credere ac excogitare communia sunt omnibus sic humanitas et risibilitas. … Dico ergo firmiter quod quicumque de se vel alio pluraliter loquitur, profert verbum otiosum. … De tali verbo reddituri sumus in die iudicii rationem. Quomodo potest aliquis magis mentiri quam de uno homine dicere »nos«? Sed enim ridiculosum est de uno dicere »nos«. Nam falsus testis non erit impunitus apud deum. Vgl. überdies Boncompagnus, I 9 (wie Anm. 88), S. 22: Scio nempe quod blanditias non diligis venativas, neque inanes applausus, quare dilectioni tue loquor numero singulari … nam qui »vos« dicit, aperte mentitur, et qui de se »nos« ponit, sufflat in suam singularitatis vesicam … Ceterum tantum in diversis mundi partibus huiusmodi adulationis abusus excrevit, quod iam pervenit frivola pluralitatis dignitas usque ad tabernarios et tonsores, immo, quod ridiculosum est, servis domini »vos« dicere assuescunt. Zur Tradition der risibilitas des Menschen seit Aristoteles s. Joachim Suchomski, Delectatio und utilitas. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern/München 1975, S. 10f. Salimbene de Adam, Cronica (wie Anm. 67), S. 109. Ebd., S. 136f.
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sich herausbildende, aber noch keineswegs abgeschlossene Differenzierung der Bereiche anzeigen.96 Rusticitas ist zwar ein Sonderbegriff für Anstandsverletzungen, aber was wir unter Fehltritt verstehen, löst sich in dieser weiten ständischen Kategorie ebenso auf wie in der moraltheologischen der inhonestas oder irreverentia. Aufs Ganze gesehen, verstecken sich also im Mittellateinischen einzelne Aspekte des Fehltritts hinter Polysemien vornehmlich aus dem christlichen Lasterdiskurs, am Rande auch aus dem aristokratischen Standesdiskurs. Das Phänomen als solches wird zwar thematisiert, aber erhält keinen eigenen Namen, und diese Thematisierung steht eher am Ende als am Anfang der Entwicklung. Auch in den mittelalterlichen Volkssprachen gibt es für unseren ›Fehltritt‹ kein isolierbares Wort. In den mir am besten bekannten französischen Texten97 kehren immer wieder die nur kontextuell darauf bezüglichen, ganz allgemeinen Worte faulte, mesfait, gelegentlich die etwas genaueren chétifveté, erreur, folie, légèreté und simplesse wieder. (Ihre spezifische Funktion wird im Folgenden an einigen Beispielen zu illustrieren sein.98) Überdies werden im Altfranzösischen christliche Transgressionsbegriffe semantisch so weit ausgedehnt, daß sie auch Irrtümer, Mißverständnisse und Mißgeschicke einschließen. Pechier bedeutet nicht immer ›sündigen‹ und coulpe nicht immer ›Schuld‹. Bérouls Isolde beteuert, um ihre Verantwortung abzulehnen, es sei 95
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Z.B. ebd., S. 216 von einem heiligen Eremiten, der sich beim Besuch eines hohen Richters nicht erhob und auf die Vorwürfe seiner Verehrer, er schade seiner Reputation, antwortete: taliter feci, ut me fatuum reputaret et ad me visitandum amplius non veniret, und von einem andern, der sich nackt auszog, um vor den Leuten als verrückt zu erscheinen: studiose hoc feci, ut fatuus reputarer, quia cum turba hominum veniebas, qui michi vanam gloriam intulissent. Die Beispiele stehen unter dem Motto: Stultitiam simulare loco prudentia summa est. Im Unterschied zu den von Wesjohann in diesem Band analysierten Beispielen von Franz von Assisi und seinen ungeschickten Nachfolgern geht es hier nicht um eine »naive« Unterstützung der Bußpredigt durch antikonventionelles Handeln, sondern um Rettung einsamer Weltabkehr und Demut durch inszenierte Rüpelhaftigkeit. Immer erröten die Umstehenden, weil sie den Ruf des Heiligen gefährdet wähnen, den er aber gerade neutralisieren will. Elias erscheint als unflätig, der Eremit als ›religiöser Virtuose‹. Beide provozieren, aber nur der erste begeht einen Fehltritt. So paßt der seltsame Frate aus Parma höfische und franziskanische Idealvorstellungen je nach Fall der Situation an. Ähnliche Ambivalenzen zwischen prud’homie und Heiligkeit hat Le Goff, Saint Louis, in der Biographie des heiligen Ludwig festgestellt (unten S. 38) und damit die merkwürdigen Übergänge zwischen den von modernen Diskursspezialisten allzu simpel getrennten Welten der curialitas und der devotio aufgezeigt. Vgl. Carla Casagrande / Silvana Vecchio, Cronaca, morale, predicazione: Salimbene da Parma e Jacopo da Varagine, in: StM 30 (1989), S. 749–696, bes. 761–764, und Dieselben, L’interdizione dei giullari nel vocabolario clericale del XII e XIII secolo, in: Contributo dei giullari alla drammaturgia italiana delle origini (Atti del II Convegno di studi sul Teatro Medievale e Rinascimentale, Viterbo 1977), Roma 1978, 2. Aufl. 1983, S. 207– 258, bes. 243–250: »L’avventura francescana: il predicatore giullare«. Zu den deutschen s. die Beiträge von Müller, Röcke und Schnell in diesem Band. Anm. 98 s. nächste Seite
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péchiez, ein unglücklicher Zufall, gewesen, der sie zum Liebestrank greifen ließ. Es ist einfach Pech, deus et pechiés, wenn ein Held gefangengenommen wird, weil seine Krieger zufällig abwesend sind. (Diese peccatum-Deutung ist übrigens noch im heutigen Italienisch erhalten geblieben: che peccato!). Lancelot empfindet, nachdem er kurz gezögert hat, aus Liebe den entehrenden Karren zu besteigen, ein Unbehagen (coulpe), weil er – ein wenig wie Kafkas K. – nicht recht weiß, welchen Fehler er begangen hat. Jean-Charles Payen, dem ich diese Beispiele verdanke, faßt seine ausführlichen Untersuchungen über die Bearbeitung des Fehlverhaltens in den Chansons de gestes und den frühen Romanen Frankreichs überzeugend mit der Bemerkung zusammen, daß diese Literatur mehr Sinn für Fehler als für Sünden gehabt habe, weil sie in erster Linie die Grenzen der menschlichen Existenz, die finitude, erkunden wollte. Darum fehle ihr ein eigener abstrakter Begriff für das, was in der geistlichen Literatur eindeutig ›Sünde‹ heiße, und darum sei der Inbegriff dieser Epik das schuldlose und doch zu verantwortende Verfehlen eines Ziels, das »tragische Mißverständnis«.99 Wir finden also in einer ganz anderen Welt und doch im ›christlichen Mittelalter‹ Hauptzüge der griechischen hamartiaKonzeption wieder, offenbar, weil die Spätzeit-Moral mit dem Prinzip der Intentionshaftung noch nicht sehr tief in die Schichten einer anthropologisch generalisierbaren Frühzeit-Mentalität eingedrungen ist.100 Dies gilt es deshalb hervorzuheben, weil sich Altphilologen über das völlige Mißverstehen dieses Grundbegriffs im Mittelalter lustig gemacht haben. Der früheste Übersetzer der aristotelischen Poetik, Wilhelm von Moerbeke, hat im 13. Jahrhundert hamartia in der Tat durch peccatum, nicht durch error wiedergegeben.101 Doch abgesehen davon, daß bei ihm peccatum nicht notwendig Sünde bedeutet, da er an anderer Stelle auch poetische Kunstfehler peccata nennt,102 ist dieses philologische Detail relativ belanglos im Verhältnis zur weiteren nar98
99
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Siehe unten Anm. 181, 185, 216; zu simplesse im Ménagier de Paris, I 8, 10 s. den Beitrag von Schnell bei Anm. 64. Robreau, L’honneur et la honte, S. 121–124 stellt in den höfischen Romanen die Häufigkeit von mesfait im Sinne einer Unhöflichkeit, die auch ohne aggressive Absicht als schwere Beleidigung aufgefaßt werden kann (fehlender Gruß, schlechter Empfang eines Gastes, vulgäre Worte vor einem Hochgestellten). Zur Vieldeutigkeit von folie (als Sünde, auch für den Sündenfall, und als Entschuldigungsgrund des intellektuellen Defizits und der Krankheit) s. Fritz, Le discours du fou au Moyen Age, S. 167–71; Laharie, La folie au Moyen Age, S. 7f. Payen, Péché et culpabilité, S. 38–40. In der Diskussion wurde gelegentlich bezweifelt, ob ›Fehltritt‹ etwas mit Mißverständnis und bloßem ›Pech‹ zu tun habe. Nicht nur im tragischen, sondern auch im komischen Sinn (s. den Beitrag von Schnell) gehört ein bestimmtes Maß an Unwissenheit wesentlich zu der hier gemeinten anthropologischen Definition des Fehltritts, vorausgesetzt, auch die wenigen ›undichten Stellen‹ im dominanten Sünden- und Schuld-Diskurs des Mittelalters werden ernst genommen. Interessant sind auch die Beispiele bei Bloch, S. 32, etwa das Rechtssprichwort zur Tathaftung: qui inscienter peccat, scienter emendet, weil nus hom ne doit soffrir painne de sa pensée. Gedankensünden sind nicht justiziabel.
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ratologischen Feststellung, daß die altfranzösischen Epiker in völliger Unkenntnis der aristotelischen Tragödientheorie dem Fehltritt des Helden eine ähnlich handlungstragende Bedeutung eingeräumt haben wie Aristoteles in seiner Beschreibung der Peripetie. In dieser Literatur absorbiert der Fehltritt die Sünde so, wie in der lateinischen, vorwiegend klerikalen Literatur die Sünde den Fehltritt absorbiert. Aber weder in der einen noch in der anderen Sprachwelt wird dieses moralisch-amoralische Begriffsamalgam lexikalisch in seine Bestandteile aufgelöst. Eine solche Trennung setzt eine Gesellschaft voraus, die sich funktional in autonome Bereiche auflöst und für die Bezeichnung abweichenden Verhaltens in der religiösen, ethischen, geselligen oder zweckrationalen Praxis differenzierte Spezialdiskurse bereitstellen kann.103 Eine solche soziale und sprachliche Ausdifferenzierung ist im wesentlichen nicht vor dem 17. Jahrhundert manifest. Allgemeinbegriffe des Mittelalters, nicht nur die der Transgressionssemantik, zerfallen in den verschiedenen nachmittelalterlichen Volkssprachen früher oder später in eine Vielzahl von Sonderbegriffen.104
1.3
Übergänge von der mittelalterlichen zur modernen Semantik
Vor dieser Wende läßt sich jedoch eine Latenzperiode annehmen, in der neue Erfahrungen zwar noch keine Begriffe, wohl aber umständlichere Ausdrucksformen narrativer, metaphorischer oder periphrastischer Art finden und damit einer differenzierten Begrifflichkeit vorarbeiten.105 So dürfte der moderne faux pas u.a. auch durch Bilder und Vergleiche aus der Reitersprache vorbereitet worden sein. Häufig begegnet in Texten des 14. und 15. Jahrhunderts der »schlechte Tritt« oder mespas mit Bezug auf verschiedenste 101
102 103 104
105
Poet. 13, 1452 b–1453 a; De arte poetica Guillelmo de Moerbeke interprete, ed. E. Valmigli, Aristoteles Latinus, Bd. 33, Bruges-Paris 1953, S. 16: Est autem talis qui neque virtute differens et iustitia, neque propter malitiam et pestilentiam transmutans in infortunium, sed propter peccatum aliquod, eorum qui in magna gloria sunt et eufortunio. Bremer nennt S. 66 die Übersetzung »charmingly clumsy«; zu hamartia vgl. auch oben S. 9f. Poet. 1460 b10ff.; vgl. Bremer, S. 66f. Vgl. den Beitrag von Hahn in diesem Band. Vgl. den Beginn von Schnells Beitrag in diesem Band; grundsätzlich auch Freud, Über den Gegensinn der Urworte, S. 231f.; Miller, Humiliation, S. 98ff., 175ff., 192ff. Offenbar hängt diese rein begriffsgeschichtliche Feststellung grundsätzlich mit Luhmanns Axiom von der »funktionalen Ausdifferenzierung« autonomer gesellschaftlicher Bereiche aus der stratifizierten Gesellschaft zusammen, was zu weiteren philologischen Arbeiten über Sozialsemantik anregen könnte. Miller, ebd., S. 12f.: Begriffe und Sachen brauchen sich nicht zu decken. Eine peinliche Situation kann anders dargestellt werden als mit einem eindeutigen Begriff. Auch bei fehlendem spezifischem Vokabular zeigt vor allem die Dichtung einen hervorragenden semantischen Beschreibungsreichtum für Emotionen.
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Mißgriffe, Fehlkalkulationen oder Unfälle, euphemistisch auch auf Vergehen. In dem berühmten Doppelportrait Philipps des Guten von Burgund und Ludwigs VII. von Frankreichs nennt der burgundische Chronist Georges Chastellain106 unter den »Fehlern« (vices) des französischen Königs Mißtrauen, Launenhaftigkeit und Neid. Er zeigt vor allem deren Auswirkung auf die Umwelt. Der Monarch habe es sich zur Gewohnheit gemacht, mit dem Glücksrad Fortunas zu spielen und seine Minister in rascher Folge aufsteigen und fallen zu lassen.107 Er habe derart ein Klima allgemeiner Verunsicherung geschaffen, das seiner Macht in prekärer Weise zugute kam. Es war gefährlich in seiner Nähe zu leben; niemand wußte, wo er stand, bzw. niemand kannte seinen Stand. »Jeder hielt sich fest an dem ihm auferlegten Schritt (se tint ferme chascun en son pas dû), aus Furcht, er könnte unvorbereitet beim ersten schlechten Tritt ertappt werden« (de peur que, du premier mespas qu’il feroit, ne fût pris à pied levé).108 Hier kommen zwar noch unabhängig von moderner Fehltrittsemantik doch einige Merkmale zusammen, die ein Licht auf die spätere Verwendung der Metonymie werfen. Die historische Pointe dieser ironisch gebrochenen Beschreibung eines ja keineswegs auf das Mittelalter beschränkten Regierungsstils liegt in der demotivierenden Wirkung auf die Hofleute. Sie kennen weder ihren Standort noch die Regeln, nach denen sie sich bewegen sollen; sie wissen nur, daß es eine Regie gibt, der sie sich zu unterwerfen haben. Aus Angst vor eigenwilligen oder auch nur spontanen Regungen bleiben sie im Schritt. Vielleicht treten sie sogar am Ort, denn das Bild läßt sich auch im Sinne einer Lähmung persönlicher Initiative auslegen. Chastellain variiert dabei einen herkömmlichen Topos der Hofkritik, dürfte aber bereits den Vorstellungsbereich andeuten, aus dem heraus der Molièresche Tanzmeister später die ganze Lebensführung des honnête homme auf Fehltrittvermeidung reduziert.109 Selbst die Anstandslehren des 16. Jahrhunderts, die sich eigens jener ›kleinen Fehler‹ annehmen, die den Menschen auf gesellschaftlichem Parkett straucheln lassen und die der Aufmerksamkeit leicht entgehen, obwohl sie oft »große Folgen« haben,110 entbehren noch weitgehend eines festen begrifflichen Arsenals für den Fehltritt und ziehen metaphorische Umschreibungen 106 107 108 109 110
Chastellain, Chronique II 43, ed. Kervyn de Lettenhove, Œuvres de Georges Chastellain, Bruxelles 1863–1866, Nachdr. Genève 1971, Bd. II, S. 177–189. Ebd., S. 182f. Ebd., S. 184. Vgl. Claus Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1973, S. 61ff., 104ff. und passim; oben bei Anm. 30. Giovanni Della Casa, Galateo ovvero de’costumi, 30, ed. Carlo Cordié, Opere di Baldassare Castiglione, Giovanni Della Casa, Benvenuto Cellini (La letteratura italiana, Ricciardi, Bd. 27), Milano/ Napoli o.J., S. 368–440, hier 439. Ein Topos dieser Literatur bis zum Freiherrn von Knigge (s. ›Über den Umgang mit Menschen‹ [1796], I 1, hg. von K.-H. Göttert, Stuttgart 1991); vgl. auch unten Anm. 284.
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(u.a. Mückenstiche, das Sonnenlicht verdunkelnde Wolken), verbale Konstruktionen (u.a. ›ausgleiten‹ und ›fallen‹) oder ganz allgemeine negative Oberbegriffe vor:111 geringe Übel, lächerliche Fehler, Unsitten, Torheiten, Narrheiten (sottises), Verirrungen, Unfälle aus Leichtsinn oder Unüberlegtheit. Was jedoch in einer bisher unbekannten Weise zu Tage tritt, ist die sorgsame, ja säuberliche Trennung der religiösen und der interaktionellen Sphäre. Diese Bereinigung läßt sich schwerlich als Säkularisierung deuten, wird sie doch gerade von geistlichen Autoren mit Rücksicht auf die christlichen Voraussetzungen ausdrücklich thematisiert. Der Kardinal Della Casa unterscheidet in seinem ›Galateo‹ unter dem Oberbegriff »mißfallende Untugenden« (vizi sconvenevoli) klar die schweren und die leichten Sünden (peccati), ihm aber geht es einzig um die »Fehltritte« (errori), nicht um Tugenden und Laster, sondern um »Sitten und Unsitten« unter dem Aspekt der passenden oder üblichen »Art«, also der Konvention (acconci e sconci modi).112 Noch deutlicher und mit einer im Mittelalter kaum denkbaren Trennschärfe formuliert Balthasar Gracián im 17. Jahrhundert die Differenz von Religion und Interaktion:113 »Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttlichen, und die göttlichen, als ob es keine menschlichen gebe. Große Meisterregel, die keines Kommentars bedarf.« Die Erklärungsabstinenz dürfte eine diskrete Ironie enthalten, die aktuell anzuwenden scheint, was die Sentenz verkündet: das Schweigen über »göttliche Dinge« im Kontext eines Handbuchs für Hofleute. Für den Jesuiten, der hier einer Losung des Ordensgründers folgt, mag sich der Satz über die Fiktionalität der doppelten Lebenspraxis von selbst verstehen, vielleicht auch für damalige christliche Leser, nicht unbedingt aber mehr für moderne Interpreten. Damit wird die paulinische Regel, in der Welt, nicht von der Welt zu leben, qui utuntur hoc mundo tamquam non utantur (1 Cor. 7, 31), abgewandelt und zugleich von der weltlichen Gegenseite her ergänzt. Wie aus anderen Maximen hervorgeht, steht Graciáns Lehre strategischer Klugheit im zwischenmenschlichen Bereich we111
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Della Casa, (wie Anm. 110), S. 425, 431f., 469 ; vgl. Kapp, Exempelerzählung und Andstandslehre, S. 103 und Hinz, Rhetorische Strtategien des Hofmanns: Boccaccio als Exempelsammlung für Fehlverhalten. Baltasar Gracián, Oráculo manual y arte de prudencia, Nr. 23, ed. M. Arroyo Stephens, Obras completas, Madrid (Bibl. Castro Turner), o. J., Bd. II, S. 201: basta una nube a eclipsar todo un sol. Della Casa (wie Anm. 110), S. 431f.: Ma, perché io non presi a mostrarti i peccati ma gli errori degli uomnini, non dee esser mia presente cura il trattar della natura de’vizii o delle virtù, ma solamente degli acconci e degli sconci modi che noi l’uno con l’altro usiamo … Zu Della Casas sorgsamer Unterscheidung von Lügen und Submissionsformeln, die einzig durch Sprachabnützung entstanden seien und darum von niemandem beim Wort genommen werden, vgl. Beetz, S. 137. Oráculo manual (wie Anm. 111), Nr. 251, S. 286: Hanse de procurar los medios humanos como si non hubiese divinos, y los divinos como si no hubiese humanos; regla de gran maestro, no hay que añadir comento (in Schopenhauers Übersetzung zitiert). Vgl. Balmer, Die europäische Moralistik, S. 78f.
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sentlich unter dem Zeichen dessen, was Foucault den souci de soi genannt hat. Diese Lebenskunst ist Kunst des Kampfes gegen soziale Störungen der persönlichen inneren Freiheit. Der Lern- und Übungsprozeß im Umgang mit Menschen dient der »großen Obhut seiner selbst«, der Kultur des Gewissens (noch gut scholastisch synderesis genannt) und der Sicherung vollkommener Kontemplation.114 Die vielgerühmte sozialpsychologische Beobachtungsgabe Graciáns, die alle Vorgänger in der frühneuzeitlichen Verhaltensdidaktik an Scharfsinn übertrifft,115 dürfte sich nicht zuletzt dieser transzendenten Legitimation verdanken, einer geheimen Zentralprespektive, die Etikette und Konvention durch Instrumentalisierung letztlich ihres normativen Charakters beraubt. Damit aber wird sichtbar, wie private, verinnerlichte Religiosität sich gerade um ihrer Reinheit willen aus den Täuschungen der unvermeidlichen weltlichen Lebensbereiche durch Gegentäuschungen herauszuhalten sucht.116 Im Mittelalter wäre allein schon die Annahme undenkbar gewesen, 114
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Die lezte Maxime des Werks, Nr. 300, würde ohne diesen Hintergrund aufgesetzt wirken: »Mit einem Wort, ein Heiliger sein, damit ist alles auf einmal gesagt.« Vgl. auch Balmer, S. 83f. vor allem zu den Maximen Nr. 6, 93, 96, 286. Hahn, Inszenierung von Unabsichtlichkeit, im Ersch.; Balmer, S. 79 (Vergleich mit Della Casa und Castiglione); Ulrich Schulz-Buschhaus, Innovation und Verstellung bei Gracián, in: Ders., Moralistik und Poetik, Hamburg 1997, S. 99–114, hier S.112f. über die Gabe höherer dissimulatio, die darin besteht, die elementare dissimulatio zu »dissimulieren«. Gerade dieses Motiv zeigt freilich, daß sich Gracián durchaus auf mittelalterliche Vorgänger seiner Verhaltensdidaktik hätte berufen können. So vergleicht Gregor d. Gr. in seiner Regula pastoralis I 11, ed. F. Rommel (SC 382), S. 164, 166 die Kunst der discretio mit der zu großen oder zu kleinen Nase, die nach Lev. 21, 18 zum Priesteramt bzw. zur Seelenführung untauglich mache, und empfiehlt, auf die discretio selbst noch discretio anzuwenden: Sunt nonnulli qui dum aestimari hebetes nolunt, saepe se in quibusdam inquisitionibus plus quam necesse est exercentes, ex nimia subtilitate fallantur. Nasus enim grandis et tortus est discretionis subtilitas immoderata, quae … actionis suae rectitudinem ipsa confundit. Im Umgang mit Selbstgerechten soll die Kritik so dissimuliert werden, daß der Angesprochene gerade noch merkt, daß man dissimulieren will: Nonnulla prudenter dissimulanda sunt, sed quia dissimulantur, indicanda, ut cum delinquens et deprehendi se cognoscit et perpeti, quas in se tacite tolerari considerat, augere culpas erubescat, seque se iudice puniat. Zu einer Variante dieser Stelle bei Hugo von St. Victor s. Anm. 80. Zu Gregor vgl. Anm. 156 und den Beitrag von Newhauser in diesem Band. Balmer, S. 77–83; John W. O’Malley, Die ersten Jesuiten, Würzburg 1995, S. 163– 178 (bes. 173), 289f. Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, 3. Die Sorge um sich, Frankfurt a. M. 1986 (Histoire de la sexualité, 3. Le souci de soi, Paris 1984), S. 70f., 85ff. zum stoischen Erziehungsprogramm, das die Arbeit an sich selbst gerade auch durch die Beobachtung ganz unscheinbarer Fehler empfiehlt. Zur mittelalterlichen und jesuitischen Rezeption vgl. Pierre Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981; Paul Rabbow, Seelenführung, Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954. In den ›Geistlichen Übungen‹ (übs. von P. Knauer, Graz 1983, S. 24–31) empfiehlt Ignatius von Loyola in den Tagesrückblick nicht nur die eigentlichen Sünden, sondern auch menschliche Unzulänglichkeiten aller Art einzuschließen und darüber Buch zu führen, da sie wegen ihrer besonderen Häufigkeit oder ihres besonderen Charakters den Sünden zugrundeliegen können. Zum Begriff der »menschlichen Mittel« vgl. ›Die Satzungen der Gesellschaft Jesu‹, übs. P. Knauer, Frankfurt a. M. 1984, S. 147–162.
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dass es solche von der Religion nicht erfaßte, wertindifferente Bereiche gibt. Die Differenzierung von geselligem Verhalten und ›höherem Standpunkt‹ war auch unter nicht-religiösen Prämissen möglich. Eine säkulare Umdeutung der »Sorge um sich selbst« stellt bereits Montaignes Ideal der Selbstbeobachtung und Rollendistanz dar, das eine radikale Trennung von gesellschaftlicher Funktion und persönlicher Identität voraussetzt: Il faut jouer duement nostre rolle, mais comme rolle d’un personnage emprunté. Du masque … Il n’en faut pas faire une essence réelle, ny de l’estranger le propre … Le Maire et Montaigne ont toujours esté deux … Un honneste homme n’est pas comptable du vice ou sottise de son mestier, et ne doibt pourtant en refuser l’exercice.117 Die höfischen Lebensformen werden dabei als bloßes Maskenspiel noch stärker delegitimiert, und der Fehltritt erscheint entsprechend nur mehr als Inszenierungspanne oder Bagatellverstoß gegen Regieanweisungen im scheinhaften theatrum mundi, in dem das Gehabe das Gewissen ersetzt. Ils envoyent leur conscience au bordel et tiennent leur contenance en règle.118 Der homme de conscience kann sich darum, wie Montaigne in paradoxer Weise von sich selbst bekennt, auch mit Überlegenheit, in vollem Bewußtsein seines Tuns daneben benehmen und »Dummheiten« sagen.119 Graciáns und Montaignes sehr persönlichen Wertvorstellungen der synderesis bzw. des Selbstbesitzes sind weniger Leitbilder als Gegenmodelle der heraufkommenden Hofkultur;120 sie waren hier nur deshalb hervorzuheben, weil sie das Auseinanderklaffen von geselligem Verhalten und Lebensernst, von Bühnenspiel und enjeu oder ›eigentlichem‹ Einsatz in einer dem Mittelalter ganz fremden Zwiespältigkeit indizieren. Die Scheinhaftigkeit der »feineren Gesellschaft« und die »inneren Werte« des »wie unter der Erde verborgenen Goldes« der Subjektivität bleiben zwar noch lange, und bis in die Anstandsliteratur hinein obligate Gemeinplätze,121 aber solch topische Innen117
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Essais, III 10, (Œuvres complètes, Bibl. de la Pléïade, 1962), S. 989. Vgl. Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, Darmstadt 1986, S. 24–31 (Montaigne en mouvement, Paris 1982); Ders., Montaigne et la dénonciation du mensonge, in: Odo Marquard / Karlheinz Stierle, Identität (Poetik und Hermeneutik 8), München (1979) 1996, S. 463–80; von Moos, Geschichte als Topik, S. 508ff. Essais, III 5, S. 824. Fast dasselbe, aber im Sinne einer Selbstrechtfertigung, sagt der Kardinal de Retz in seinen Memoiren; vgl. die von Hahn in seinem Beitrag analysierte Stelle (bei Anm. 8) und unten Anm. 122. Ebd., II 17, S. 673, Sur la présomption: je ne suis pas obligé à ne dire point de sottises, pourveu que je ne me trompe pas à les connoistre. Et de faillir à mon escient, cela m’est si ordinaire que je ne faux guère d’autre façon. Je ne faux jamais fortuitement. Die Gracián-Rezeption in Frankreich zeigt eine spezifisch höfische Vereinnahmung: Die unter dem Titel ›L’Homme de Cour‹ (in Anlehnung an denjenigen Castigliones) 1647 veröffentlichte Übersetzung durch Amelot de la Houssaie (23 Auflagen zwischen 1684 und 1765) war ein ›livre de chevet‹ Ludwigs XIV. und sicherte den Erfolg des Werks im Ancien Régime, da s i e, nicht das spanische Original die Vorlage für die meisten Übersetzungen in andere europäische Sprachen vor Schopenhauer bildete; vgl. Emilio Hidalgo-Serna, Das ingeniöse Denken bei Baltsar Gracián, München 1985, S. 20ff. Anm. 121 s. nächste Seite
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Außen-Vergleiche haben dann meistens nur noch den resignativen Sinn, die Selbstverständlichkeit eines autonom gewordenen, aus allen geselligkeitstranszendenten Einbindungen entlassenen Kommunikationsbereichs zu attestieren. Voll ausdifferenziert ist dieser Sektor erstmals mit der französischen Hofgesellschaft des 17. Jahrhunderts, die so sehr mit dem öffentlichen Blick, dem Heil der honnêteté und dem Unheil des Gesichtsverlusts beschäftigt war, daß sie ein ganzes lexikalisches Feuerwerk an neuen Ausdrücken für den Fehltritt aufsteigen lassen konnte. Beinahe so kasuistisch, wie sich die Scholastik der Sünden angenommen hat, kümmern sich nun die Spezialisten höfischer Lebensführung um Fehltritte, und »im 18. Jahrhundert tritt an Stelle der Höllenfurcht die Furcht vor Lächerlichkeit.«122 Unser semantikgeschichtlicher Rundgang führt damit zum Ausgangspunkt zurück. Wenn wir aufgrund dieser Voraussetzung noch im heutigen Französisch einen größeren Synonymenreichtum für verschiedene Nuancen des Fehltritts als im Deutschen finden, so läßt sich das Problem des Kulturvergleichs, das wir bereits hinsichtlich der Deterioration früher Sammelbegriffe wie hamartia oder ›Schuld‹ in historischer Sicht gestellt haben, auch auf diese Gegenwartssprachen beziehen. Ein reicher Wortschatz mag größeres Interesse an einem Phänomen anzeigen, bedeutet er aber notwendig auch tieferes Verständnis? Könnte nicht der arme lexikalische Haushalt, die Unschärfe und Mehrdeutigkeit der wenigen Einzelworte als Widerstand gegen »Komplexitätsreduktion« gedeutet werden?123 Die Antwort bleibe dahingestellt; denn es geht nicht darum, abgestandene Klischees sei es vom besonderen Tiefsinn 121
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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, III 15 (wie Anm. 110), S. 339f.; s. auch ebd., III 8, S. 333: »Und willst Du auch nur dies eitle Lob davontragen, so darfst Du selbst nicht einmal merken lassen, daß Du von besserm Stoffe bist, als der große Haufen jener hirnlosen Müßiggänger.« Luhmann, Gesellschaftsstruktur, III, S. 307. Zu dieser Pointe ist freilich einschränkend anzumerken, daß im 17. Jh. in Frankreich gleichzeitig die verschärfte gegenreformatorische Moral ins allgemeine Bewußtsein trat, wie dies Alois Hahn zu Beginn seines Beitrags am Beispiel des Kardinal de Retz zeigt. In dem angeführten Bekenntnis des Kardinals (ebd., bei Anm. 8) ist immerhin beachtenswert, wie der Kirchenmann seine ›Doppelmoral‹ als bewußte Trennung von Privatleben und öffentlichem Amt rechtfertigt, um »Lächerlichkeit« (an Stelle dessen, was früher ›Skandal‹ hiess, s. bei Anm. 60) zu vermeiden: … je pris le parti de faire le mal par dessein, ce qui est … le plus criminel devant Dieu, mais ce qui est sans doute le plus sage devant le monde … parce que l’on évite … le plus dangereux ridicule … qui est de mêler à contretemps le péché dans la dévotion. Es gehört gerade zum Prozeß der funktionalen Ausdifferenzierung, daß die unterschiedlichen bis gegensätzlichen Verhaltenscodes des dévot und des homme du monde nur in ihrem besonderen Aktionsbereich volle Geltung hatten und derart gesamtgesellschaftlich unvermittelt nebeneinander bestehen konnten. Vgl. auch Georges Minois, Histoire de l’athéisme, Paris 1998, 340–343 zur Produktion des Unglaubens gerade durch den posttridentinischen Rigorismus im 17. und vor allem im 18. Jh. Beetz, S. 172 stellt mit Verweis auf Luhmann, Vertrauen, S. 8, 20, 71 den ganzen neuzeitlichen Höflichkeitsdiskurs unter diesen Begriff.
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oder von der Zurückgebliebenheit des deutschen Sprach-und Wahrnehmungshorizonts wiederaufzurühren,124 sondern um Gewinn und Verlust des modernen Wandels von der Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit der Begriffe zur Debatte zu stellen.125 Eine andere Frage ist thematisch vordringlich: Wenn es für das von uns als ›Fehltritt‹, ›Fauxpas‹, impair, blunder oder wie immer bezeichnete so flüchtige Phänomen im Mittelalter keinen eigenen Begriff gibt, sondern höchstens einige viel weitere Kategorien, unter die wir es bei plausibler Interpretation subsumieren können, verweist dann dieses unbestreitbar negative Resultat auch auf die damalige Undenkbarkeit der Sache? Darauf läßt sich kaum anders antworten als mit einer etwas umständlicheren Analyse einzelner Fälle in bestimmten Diskursen.126
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Fehltritte bei Geschichtsschreibern des späteren Mittelalters
Als Einstieg in die mittelalterliche Phänomenologie des Fehltritts können zwei Sätze dienen, die fast Definitionen gleichkommen. Ein italienischer Lehrer der Ars dictaminis faßt alles Fehlverhalten in dieser Kunst mit dem Sprichwort zusammen:127 Displicere solet insipiens unde credidit plus placere. »Der Dummkopf pflegt gerade dadurch zu mißfallen, worurch er noch mehr zu gefallen geglaubt hat«, d.h. durch das Übertreiben seiner Absicht; und der Chronist Chastellain bemerkt zum Verhalten einer burgundischen Herzogin 124 125 126
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Vgl. Bremer, S. 88ff. über das Phantom »tragische Schuld« im deutschen 19. Jh. Vgl. oben S. 10f. Mehrfach wurde in der Tagungsdiskussion die Ansicht geäußert, daß der Fehltritt grundsätzlich nicht definiert, sondern nur beschrieben werden könne. Vielleicht war schon Della Casa dieser Meinung, da er sich im Galateo im Wesentlichen auf die Beschreibung von Erfahrungsfällen des Fehltritts beschränkt (s. auch oben S. 28f. zur Unbestimmtheit seines Fehltritt-Begriffs). Diese Einzelfälle entnimmt er vorwiegend dem Decamerone, den Boccaccio selbst schon als eine Art Kasuistik negativer Anthropologie angelegt hat. Vgl. dazu Kapp, Exempelerzählen; Karlheinz Stierle, Three Moments in the Crisis of Exemplarity. Boccaccio, Petrarch, Montaigne, and Cervantes, in: Journal of the History of Ideas, Oct. 1998, S. 581–95. Die Definierbarkeit des Fehltritts ist ein philosophisches Problem, das auch andere menschliche Handlungen betrifft. Für die Scholastik sind Definitionen nur vom Allgemeinen möglich und für Nietzsche ist definierbar nur, »was keine Geschichte hat« (Zur Genealogie der Moral II 13, in: Werke, hg. v. K. Schlechta, München 81977, Bd. II, S. 820). Der Fehltritt wäre demnach geradezu ein Paradigma für Undefinierbarkeit. Wenn ich ihn dennoch grob ›definiere‹ bzw. semantisch verorte, so geschieht es in der Art der Wörterbücher und der soziologischen Typisierungen, einzig um eine präliminare Verständigungsbasis für das wissenschaftliche Gespräch zu gewinnen. Bene von Florenz, Candelabrum, ed. G. C. Alessio, Padova 1983, S. 277 (Sententia 44); vgl. auch Matteo dei Libri, Arringhe, ed. E. Vincenti, Milano 1974, S. 132 (zur pronunciatio): sicut multi faciunt qui credunt de hoc hominibus complacere, scilicet »displicet imprudens, unde placere studet«; Hans Walther, Proverbia sententieque latinitatis medii aevi, 1963–1986, Nr. 5474.
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in einer dramatische Situation, auf die wir gleich eingehen werden:128 cuidant bien faire, elle gasta tout, »in der Meinung, gut zu handeln, verdarb sie alles.« Beides klingt wie unsere umgangssprachliche Wendung »gut gemeint, ist auch daneben.« Faßt man das Thema in dieser gewiß sehr allgemeinen Form als das folgenschwere Mißverständnis aufgrund eines oft geringfügigen intellektuellen Defizits, so lassen sich dafür leicht zahlreiche konkrete Beispiele beibringen, wobei man grob die komischen von den tragischen oder ernsthaft belehrenden Darstellungsabsichten unterscheiden kann. Da meine Auswahl mehr Texte der zweiten Art enthält, möchte ich vorweg wenigstens eine erheiternde Illustration für das Adagium vom Mißfallen durch Gefälligkeit anführen. Sie stammt wiederum vom ›Erzschalken‹ Boncompagno. Der Magister der Redekunst wendet in seinem umfangreichen Werk dem Exordium und der captatio benevolentiae immer wieder besondere Aufmerksamkeit zu.129 Das Schmeicheln ist dabei das unvermeidliche Schmiermittel, weil alle Menschen und vor allem die Frauen eitel sind.130 Doch die wahre Kunst des Schmeichelei zu Beginn einer jeden Begegnung besteht darin, nicht zuviel des Guten davon zu tun, sondern situationsgerecht zu verfahren. Im Übermaß erreicht sie genau das Gegenteil des Intendierten. Der Angesprochene glaubt dann, man mache sich über ihn lustig und ist verstimmt. Darum rät Boncompagno, Superlative zu vermeiden. Man sage einem edlen Mann »edler Mann«, nicht »edelster Mann«. Denn der Superlativ ist zweideutig: er bezeichnet sowohl die Vorzüglichkeit des Angeredeten als auch die Redundanz (superabundantia) des Sprechenden. »Was aber überfließt, ist überflüssig.« Vor allem benötigt man auf diesem Gebiet große Kenntnis der consuetudines der Menschen, m.a.W. der lokalen Konventionen und Bräuche. Ohne dieses Wissen »hat schon mancher geglaubt, Wohlwollen zu gewinnen, hat aber nur Mißgunst und Haß auf sich gezogen. Wenn du also jemanden mit gesenktem Haupt begrüßt und mehr, als er von sich selber hält, lobst, meint er, er werde verspottet. Ich selbst habe, als ich Deutschland bereiste, einen ungehobelten Kerl (rusticus) in deutscher Sprache allzu ehrenhaft begrüßt, da ich die Grüße in dieser Sprache nicht kannte. Dieser aber schnaubte vor Wut und wollte mich mit gezücktem Schwert umbringen. Ich entkam ihm nur mit Not. Ich erinnere mich auch an einen Pfarrer, der glaubte mit dem Hut in der Hand das Wohlwollen aller Menschen zu gewinnen. Sicherer wäre er hutlos herumgegangen, denn mit seinem Hut hat er nur Gelächter, nicht Wohlwollen erlangt.«131 Der deutsche rusticus war im übrigen gewiß kein Bauer, sondern ein bewaffneter Adeliger, und daß er sich so agressiv verhielt, zeigt, daß eth128 129
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Unten S. 45. In der Rhetorica novissima (wie Anm. 87) findet sich Sp. 262–273 ein ausführliches Kapitel De causarum exordiis. Zur zentralen Bedeutung der Exordiallehre in der Ars dictaminis vgl. von Moos, Rhetorik, Dialektik und Civilis scientia, S. 150ff.; Ders., Aspekte der Dialogforschung, S. 73ff. Rhet. novissima, ebd., Sp. 286 a–287 b: De adulationibus.
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nisch-regionale Differenz schon im Mittelalter ein wichtigeres Interaktionskriterium sein konnte als ständische Distinktion oder christlicher Altruismus. Boncompagno beschreibt hier Fehltritte von der elementarsten Art: die kontraproduktiven Wirkungen sogenannt bester Absichten bei Unkenntnis fremder »Gewohnheit«.132 Allgemeiner formuliert, läßt sich damit die Exklusions-Theorie Bergsons bestätigen, daß der Fehltritt als Anlaß zum Lachen die Umkehrung gesellschaftlicher Akzeptanz darstellt. »Komisch ist die ungenügende Anpassung des Belachten an die normalen Erwartungen der Gruppe des oder der Lachenden.«133 Doch um der Beschränkung willen muß ich dieses unerschöpfliche Thema und die hierfür besonders aufschlußreiche Textsorte der Verhaltensdidaktik übergehen.134 Ich wähle hier die Hauptbeispiele einzig aus wenigen ›ernsten Klassikern‹ der französischen Literatur und/oder Geschichtsschreibung des späteren Mittelalters, die zum Diskurs der Herrscherdarstellung gehören und darum bei den Historikern ebenso angesehen sind wie bei den Literaturwissenschaftlern.135 Die Autoren, Joinville, Chastellain und Commynes, sind keine gewöhnlichen Chronisten, die ungefiltert Fakten aufzeichnen,136 son131
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Palma, ed. Carl Sutter, Aus Leben und Schriften des Magisters Boncompagno, Freiburg/ Leipzig 1894, S. 114f.: Captatur per unam dictionem hoc modo: deberes eum appellare nobilem virum, unde sufficeret, si diceres nobilem virum. Si autem dicas nobilissimum, captas benivolentiam in positione superlativi. Nam superlativum dignius est positivo. Set habenda est discretio in positione superlativorum, quia superlativa superhabundantem exellentiam notant, et non superhabundantiam. Quia quod superhabundat, superfluum est. … Porro in plurimis tractatibus ponuntur satis congrue superlativa, et non secundum rei veritatem, quia infiniti sunt, qui desiderant inanes applausus et transitorias laudes. … Unde oportet dictatorem provide circumspectum esse et plurimorum addiscere consuetudines, quia frequenter potest ponere ad laudem, que ad vituperium spectabunt, et cum crederet benivolentiam captare, malivolentiam et odium incurreret. Ecce si alicui obviares et ipsum, ultra quam se dignum crederet, salutares inclinato capite, crederet se derideri, et sic malivolentiam captares. Nam ego cum per Alamaniam irem, cuidam obviavi rustico, quem teutonico idiomate nimium honorabiliter salutavi, alias in eo vulgari salutationes penitus ignorans. Ille vero infremuit spiritu et evagato ense me occidere voluit, unde vix ab eius manibus evasi. Preterea memini me quendam vidisse plebanum, qui omnes extracto capello salutabat, credens benivolentiam a quolibet captare. Sed tutius esset ei non ferre capellum, cum per ipsum derisionem et non benivolentiam iugiter captet. Ein subtileres Beispiel aus der Ars dictaminis für die Forderung, sich stets nach der Landessitte zu richten, um keinen Anstoß zu erregen, berichtet J. R. Banker, The Ars dictaminis and Rhetorical Textbooks at the Bolognese University in the Fourteenth Century, in: Mediaevalia et Humanistica N.S. 5 (1974), S. 153–68, hier 155f.: In der Brevis introductio ad dictamen (Hs. Bologna, Bibl. universitaria 2461, fol. 83v–84r) betont Giovanni von Bonandrea, daß sogar auf italienischem Boden die ›öffentliche Meinung‹ sich von Stadt zu Stadt wandle und man deshalb auf der Hut vor ungewollter Provokation sein müsse. So solle man den Bürgern einer unter der Herrschaft Ezzelinos da Romano leidenden Stadt nicht von Freiheit reden, sondern, nach der dortigen Sprachregelung sagen, daß ein tyrannisches Regiment zu Wohlstand führe. – Als Herausgeber bedauere ich besonders, daß der vorliegende Band keine Beiträge zum Thema der kulturbedingten Fehltritte im Umgang mit Fremden enthält (s. unten Anm. 284). Anm. 133–136 s. nächste Seite
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dern sie konstruieren ihre Wirklichkeit, verfolgen ganz persönliche Absichten und rhetorische Strategien, wenn sie von Mißverständnissen und Unzulänglichkeiten berichten. So unterschiedlich ihre Ziele sein mögen, ist ihnen doch gemein, daß sie damit als Beteiligte und nächste Augenzeugen auch mehr oder weniger pro domo werben, aus den kritischen Situationen Klugheitslehren »für ein andermal» ziehen wollen und vor allem, daß sie, wie alle ›anekdotischen‹ Historiker seit Plutarch, ihre Protagonisten durch unbedeutende Handlungen oder gar mittelmäßige Züge besser zu charakterisieren glauben als durch die »glänzendsten Taten«.137 133
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Preisendanz, Das Komische, Sp. 891f. zu Henry Bergson und Eugène Dupréel. Die Ambivalenz dieser einseitig gruppenbezogenen Definition des Komischen beleuchtet paradigmatisch der Sturz oder ›Proto-Fehltritt‹ des Thales in den Brunnen: In der Diskussion des Beitrags von Blumenberg (Der Sturz des Protophilosophen) auf der dem Komischen gewidmeten Tagung zeigten sich engagierte Parteinahmen sei es für die Erhabenheit der Philosophen seit Sokrates über das banausische Gelächter »der vielen«, sei es für den ›gesunden Menschenverstand‹ der verlachenden thrakischen Magd und die verdiente gesellschaftliche Korrektur praxisferner Theorie; zu dieser Zweischeidigkeit des Komischen vgl. auch Berger, Redeeming Laughter, S. 14ff. und im vorliegenden Band die Beiträge von Gadi Algazi über die Immunisierung des zerstreuten Gelehrten gegen das sonst übliche Gelächter sowie von Achim Wesjohann über die Grenzen des ausgrenzenden Lachens vor dem Heiligen. Das Lachen über den Fehltritt der Großen – einschließlich der Lächerlichkeit des Gruppengelächters für Außenstehende oder sich besser fühlende Gruppen – hätte in unserem Zusammenhang ebenfalls eine ausführlichere Behandlung verdient (vgl. Vorwort, 3. Anhang). Zur Verhaltensdidaktik vgl. die einzige über diese Gattung für diesen Band eingereichte Studie von Danielle Régnier-Bohler . Dies gilt allerdings nur im Hinblick auf die Darstellungskunst der genannten Historiographen. Die Gattung der Herrscheranekdote, der sich die drei Autoren gelegentlich nähern, steht bei faktenhungrigen Historikern eher im Verruf der Unseriösität; vgl. Kortüm, S. 1–5; Paul Kirn, Das Bild des Menschen in der Geschichtsschreibung von Polybius bis Ranke, Göttingen 1955, S. 150ff. Dass es überhaupt nicht möglich ist (selbst bei weniger auktorialen Geschichtsschreibern), Fakten von historiographischer Intentionalität abzulösen, zeigen grundsätzlich Otto Gerhard Oexle, Im Archiv der Fiktionen, in: Rechtshistorisches Journal 18 (1999), S. 511– 525 und Bernhard Jussen, Zwischen Objektivität und Imagination, Einleitung zu: Ders. (Hg.), Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft, Göttingen 1999, S. 7–15, beide in kritischer Position gegenüber Werner Paravicini, Rettung aus dem Archiv?, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 78 (1998), S. 1– 46. Kontrovers wurde darum an der Tagung der von Guy Marchal zu Beginn seines Beitrags unternommene Versuch diskutiert, ein nach der alten quellenkundlichen Einteilung so eindeutig zur »Tradition« gehöriges Werk wie die Mémoires Commynes als »Überrest« (der Wirklichkeit) zu lesen, »bewußte Invention und Gestaltungswille« aus der historischanthropologischen Perspektive der Ritualforschung auszugrenzen und gewissermaßen den Literaturhistorikern zu überlassen. Dazu vgl. auch unten Anm. 231. Vgl. Kirn (wie Anm. 135), S. 150 zu Plutarchs einleitendem Satz der Alexander-Vita (I 2); von Moos, Geschichte als Topik, S. 38f., 172ff. u.a. auch zu Jacob Burckhardts berühmter Sentenz.
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Beachtung verdient hier an erster Stelle eine Gesprächsszene über Rangfragen, Etikette und Etikettenverstöße in Joinvilles Biographie Ludwigs des Heiligen. Die beiden nächsten Vertrauten des Königs, der adelige Autor und der Dominikaner Robert von Sorbonne, der Gründer eines Kollegs, das später als Universität Paris seinen Namen trug, standen seit je in einem merkwürdig aus Rivalität und Freundschaft gemischten Verhältnis zueinander.138 Wie nahe sie sich waren, geht schon daraus hervor, daß der König sie einmal ermahnen mußte, bei Tisch nicht miteinander zu tuscheln, damit die anderen nicht glauben, sie seien ein Klatschgegenstand.139 Es gibt bei Joinville viele solcher Hinweise auf gute und schlechte Manieren,140 doch sie sind für das Verständnis des Fehltritts von geringerem Interesse als die zu besprechende Episode, ein Kabinettsstück sozialpsychologischer Beobachtung höfischer Rituale.141 An Pfingsten 1258, als sich Ludwig gerade mit vielen Rittern im Garten von Corbeil aufhielt, warf Robert coram publico seinem Konkurrenten Joinville vor, er kleide sich feiner als der König, was dasselbe sei, wie wenn er sich in der Sitzordnung den Ehrenplatz vor demselben aussuchen würde. Der Angesprochene, den dies beschämen sollte, ist um eine Antwort nicht verlegen: »Magister Robert, ich bin nicht zu tadeln, denn ich trage das Kleid, das mir meine Eltern hinterlassen haben; vielmehr seid ihr zu tadeln, denn ihr seid filz de vilain et de vilainne (also bäuerlicher Herkunft), habt aber das Kleid eurer Eltern verlassen und seid mit viel kostbarerem Tuch als dem des Königs bekleidet.« Einen Zipfel des beanstandeten Gewands neben das des Königs haltend, triumphiert der Aristokrat über den vermeintlichen Emporkömmling: »Schaut, ob ich nicht recht habe!« Was Ludwig sagte, erfahren wir nicht, sondern nur, daß er Robert nach Kräften zu verteidigen gesucht habe.142 Die Episode geht jedoch unmittelbar so weiter:143 Der König läßt hierauf seinen Sohn Philipp (den späteren Philipp den Schönen) und seinen Schwiegersohn Thibaut, Graf von Champagne und König von Navarra, herbeiholen und befiehlt ihnen, sich ganz nahe zu ihm auf den Boden zu setzen, damit nie138 139
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Le Goff, S. 220f., 578ff., 599ff. Joinville, Vie de saint Louis, ed. J. Monfrin, Paris 1995, Nr. 32: Maistre Robert de Cerbone … il le faisoit manger a sa table. Un jour avint que il manjoit de lez moy et parlions a conseil l’un a l’autre. Et nous reprist, et dit: »Parlés haut, fist il, car voz compaignons cuident que vous medisiés d’eulz. Se vous parlés au manger de chose qui nous doie plaire, si dites haut, ou se ce non, si vous taisiés«. Le Goff, S. 599–601, 622–625; Monfrin (wie Anm. 139), Einleitung, S. XXXVIf. Joinville (wie Anm. 139), Nr. 35–36. Unter dem Aspekt der Kleidersymbolik untersucht die Szene auch Borst, Lebensformen, S. 195–203. Borst, S. 198 schreibt dazu: »Was er zu Roberts Verteidigung öffentlich sagte, können wir erraten: Bei einem so klugen und frommen Manne komme es nicht auf die Qualität des Anzugs, sondern auf Kopf und Herz an.« Joinville (wie Anm. 139), Nr. 37–38.
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mand sie hören könne. Doch aus Rücksicht auf die Schicklichkeit weigern sich die beiden, dies zu tun. Ha, sire, nous ne nous oserions asseoir ci pres de vous. Der König gibt darauf Joinville denselben Befehl, den dieser sofort befolgt, und tadelt nun – mehr als Vater denn als König – seine »Söhne«, ihm nicht auf Anhieb gehorcht zu haben. »Gebt acht, daß euch das nie wieder zustößt!« … que il ne vous avieingne jamais. Sie beteuern, daß es ihnen nie wieder passieren würde. Joinville fährt fort:144 »Dann sagte er mir, daß er uns gerufen habe, um mir zu gestehen, daß er Meister Robert (vorhin) zu Unrecht gegen mich in Schutz genommen habe. Aber, so sagte er: ›Ich sah ihn derart esbahi, aus der Fassung gebracht, daß er meine Hilfe gut brauchen konnte. Dennoch hält euch nicht an die Worte, die ich zur Verteidigung Roberts gesagt haben mag, denn wie der Senechal (d.i. Joinville) sagt, müßt ihr euch gut und sauber anziehen, weil eure Frauen euch darum umso mehr lieben, eure Leute umso mehr achten werden. Wie der Weise sagt, muß man sich so schmücken, daß die Edelleute dieser Welt (preudeshommes) nicht sagen, daß man dessen zuviel, und die jungen Leute dieser Welt nicht sagen, daß man dessen zu wenig tue.‹« In dieser Szene sind mehrere Fehltritte oder Peinlichkeiten sowie deren Reparaturen vom Autor subtil aufeinander abgestimmt worden. Joinville, der sich damit diskret selber in ein gutes Licht rücken kann, will Ludwig als vollkommenen prud’homme erscheinen lassen. Dies ist ein unübersetzbares Wort, von dem mit Recht gesagt wurde, daß es in seiner Verbindung klerikaler und ritterlicher Werte, von clergie und chevalerie, das Zivilisationsideal des späteren honnête homme vorwegnehme.145 Es geht hier im Wesentlichen um den Ausgleich eines Konflikts zwischen festen Regeln des hierarchischen Vortrittsrechts und flexiblen Normen des Feingefühls, zwischen Etikette und Takt, wie wir heute sagen würden. Was der Text hier verschweigt, aber ein Hauptmotiv der ganzen ›Vie de Saint Louis‹ darstellt, ist die apologetische 144
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Ebd., Nr. 38: Et lors me dit que il nous avoit appelez pour li confesser a moy de ce que a tort avoit deffendu mestre Robert encontre moy. »Mes, fist il, je le vi si esbahi que il avoit bien mestier que je li aidasse. Et toute voiz ne vous tenez pas a chose que je ne deisse pour mestre Robert deffendre, car aussi comme le senechal dit, vous vous devez bien vestir et nettement, pour ce que vos femmes vous en ameront miex et vostre gent vous en priseront plus. Car ce dit le sage: ›En se doit assemer en robes et en armes en tel maniere que les preudeshommes de cest siecle ne dient que on en face trop, ne les joenes gens de cest siecle ne dient que en en face pou.‹ « Ich folge der Übersetzung Monfrins und gebe vostre gent nicht so präzis wie Borst mit »euer Gesinde« wieder, da der Begriff sich auf sämtliche Abhängigkeitsverhältnisse bezieht. Vgl. auch Howard Kaminsky, Estate, Nobility, and the Exhibition of Estate in the Later Middle Ages, in: Speculum 68 (1993), S. 684–709, 697ff. zu den realen und symbolischen Standesattributen des Adeligen vor der Öffentlichkeit: Besitz, »Leute«, Kleidung, gute Sitten, vivre noblement. So Le Goff, S. 622f., mit Verweis auf Charles Brucker, Sage et sagesse au Moyen Age, Genève 1987, Index s.v. Prudom /…/preudome. Zu Chrétiens zivilisatorischen Absichten im Sinne der clergie vgl. Stierle, Courtoisie.
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Absicht, einen sich oft bewußt unmajestätisch vehaltenden König als Vorbild einer höheren Art Noblesse von dem Verdacht zu reinigen, den er zu Beginn seiner Regierung nicht nur im Kreis oberflächlicher Höflinge, sondern sogar bei seinen geistlichen Ratgebern erregte, er opfere seine Amtswürde der Frömmigkeit. Es galt, etwas gegen das anfänglich vorherrschende Gerede zu unternehmen, das aus ihm eher einen König der Bettelmönche (roi des frères) als einen König Frankreichs machte.146 In der Gartenszene von Corbeil bleibt unausgesprochen, daß in erster Linie Ludwig selbst durch seine unberechenbaren Reaktionen, seinen leutselig-unkomplizierten Lebensstil die ganze Kette der wie immer harmlosen Fehlleistungen seiner Umgebung auslöst: Er ist nicht königlich genug gekleidet und veranlaßt deshalb den Rangstreit seiner privés über die angemessene Kleidung; er setzt sich mit höchsten Würdenträgern distanzlos irgendwo hin und bringt damit seine Söhne in die Verlegenheit, zwischen zwei schwer zu vereinbarenden Rollen der Distanz und der Nähe wählen zu müssen. Dies sind Verstöße gegen das Protokoll, auch wenn dies nur zwischen den Zeilen steht, da Ludwig seine Parteinahme für Robert widerruft und mit der abschließenden Sentenz halb selbstironisch offenläßt, ob er in seiner eigenen Bekleidung das rechte Mittelmaß getroffen habe. Joinville kennt das Problem genau, fiel es ihm doch oft nicht leicht, seinem charismatischen Herrn gewisse ›Extravaganzen‹ (wie die Fußwaschung der Armen147) nachzusehen. Die Serie der Fehltritte beginnt mit einem klassischen Konfliktritual:148 Robert de Sorbonne stellt Joinville öffentlich bloß; der Angegriffene muß, will er nicht lächerlich werden, mit gleicher Münze zurückzahlen; und er gewinnt die Runde durch Schlagfertigkeit.149 Der Ritter bringt den vorwitzigen Tadler in eine peinliche Lage. Ohne die Handreichung des Königs bliebe der verdatterte Robert in der Grube, die er seinem Partner gegraben hat und in die er nun selber gefallen ist. Umso schlimmer für den hochgebildeten Kleriker, der mit erhobenem moralischen Zeigefinger aufgetreten ist und nun sowohl nach seinem eigenen wie nach aristokratischem Code gewissermaßen als Falschmünzer der sakrosankten, geradezu identitätsstiftenden Kleiderordnung dasteht.150 Die Geschichte könnte damit wie ein Schwank oder eine Novelle enden. Schadenfreude über den selbstgerechten Kirchenmann, der dem putzsüchtigen Laien seine eigensten Fehler vorwirft, wäre eine für damalige Re146
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Le Goff, S. 126f., 746–750, 814–819, 823–825, 888. In der späteren Regierungszeit kehrte sich der Vorwurf freilich zu einer charismatischen Auszeichnung um, s. unten S. 41f. Joinville (wie Anm. 139), Nr. 29. Vgl. White, The Politics of Anger; Miller, Humiliation, S. 93–130 und Ders., Bloodtaking; allerdings geht es in unserem Beispiel um einen Kampf mit Worten, nicht mit Waffen. Zu diesem Unterschied vgl. Roberts, The Study of Dispute, S. 7ff. Zur Bedeutung der Schlagfertigkeit in der Adelskultur vgl. Althoff, Gloria et nomen perpetuum; Kortüm, bes. S. 25ff. (»Die urbane Anekdote«). Anm. 150 s. nächste Seite
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zipienten normale Reaktion auf den Vorfall.151 Das nach modernem demokratischem Empfinden beleidigend krude Epitheton filz de vilaine et de vilainne scheint Joinville übrigens nicht gestört zu haben, sonst hätte er es nicht als Teil seiner gelungenen Replik wiedergegeben.152 Es gehört in der Tat zum üblichen Beschimpfungsarsenal des aristokratischen Diskurses.153 Doch nun kommt die mise à l’abîme. Der heilige Ludwig inszeniert eine Parallelszene, in der sämtliche Rangvorstellungen auf den Kopf gestellt oder vielmehr mit dem Mantel der Barmherzigkeit zugedeckt werden. Der Besiegte verdient Mitleid, und der Sieger bekommt dennoch sein Recht. (Kein Wort der Kritik an dessen Standesdünkel, wie es vielleicht eine Heiligen-Vita wiedergegeben hätte.) Beide privés du roi haben nicht anders als die über eine Formfrage stolpernden Prinzen die Hauptsache übersehen, daß sich das wahre aptum oder decorum nicht am fixen Standeskodex ermißt, sondern an der ungeschriebenen Regel der Gefälligkeit.154 Gewiß gehörte affabilitas auch zum Tugendkatalog unter dem Oberbegriff der Nächstenliebe,155 und ein Moraltheologe hätte das Verhalten der Söhne auch als Verstoß gegen das vierte Gebot kasuistisch diskutieren können. Doch diese Dimension bleibt ausgeblendet. Joinville zeigt Fehltritte, nicht Sünden, kleine Malheurs, die, wie er ausdrücklich formuliert, einem eben »zustoßen« können, wenn man den Habitus gefälliger discrétion, d.h. die Unterscheidungs- u nd Anpassungsfähigkeit, nicht genügend eingeübt hat.156 Zu dieser Gabe gehört schließlich auch die königliche Kunst, souverän über Fehltritte 150
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Zum identitätsstiftenden Charakter der Kleidung im Mittelalter vgl. etwa Borst, S. 195ff.; Gerhard Jaritz, Gemeinsamkeit und Widerspruch. Spätmittelalterliche Volkskultur aus der Sicht der Eliten, in: P. Dinzelbacher / H.-D. Mück (Hgg.), Volkskultur im Mittelalter, Stuttgart 1987, S. 15–34, hier 18ff.; zum ›overdressing‹ des Emporkömmlings als Fälschung im juristischen Sinn vgl. Francesco Migliorino, Kommunikationsprozesse und Formen sozialer Kontrolle im Zeitalter des Ius commune, in: Duchhardt / Melville, S. 49–70, hier 58–60. Komische Beispiele ganz anderer Art für den »Balken im eigenen Auge« finden sich in Rüdiger Schnells Beitrag (Textgruppe 3); zur Schadenfreude beim Zusammenbruch von Prätentionen vgl. Miller, Humiliation, S. 122–129; Berger, Redeeming Laughter, S. 14–29, 52–64. Borst, S. 199 hebt mit Recht noch einen anderen Aspekt hervor, wenn er annimmt, daß Joinville die implizite Lektion des Königs mißverstanden habe, daß »Kleidung … auch für den Adel keine Frage der Abstammung und des Herkommens, sondern ausschließlich der sozialen Geltung [ist].« Vgl. auch Kaminsky (wie Anm. 144), S. 701f. und Maurice Keen, Chivalry, New Haven, S. 148–151. Robreau, S. 124ff. und Gauvard, De grace espcecial, Bd. II, S. 705ff. Interessant ist darum die von Arnold Angenendt am Ende seines Beitrags in diesem Band hergestellte Beziehung zwischen Epikie und echter Höflichkeit auf der einen Seite, Gesetzeshörigkeit und ›hohler‹ Etikette auf der anderen. In beiden positiven Bereichen siegt die Freiheit in der Wahl des situativ Angemessenen über den Zwang des generell Vorgeschriebenen. Vgl. von Moos, Die Kunst der Antwort, S. 27ff. und oben Anm. 61, 83, 86, unten Anm. 330ff. zu Engelbert von Admont und Thomas von Aquin.
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hinwegzusehen. Die Lehre, die der König damit gibt und die der Berichterstatter vielleicht nur halb verstanden hat, entpricht im Grunde bereits der goldenen Regel moderner Höflichkeit: Du sollst die Selbstdarstellung des anderen nicht desavouieren, selbst wenn sie gesellschaftlich als überzogen erscheint. Dagegen haben beide Vertrauten des Königs verstoßen mit ihrem, gleichviel ob geglückten oder mißglückten Versuch, Hochstapeleien zu entlarven; und Ludwig der Heilige hat durch sein taktvolles officiosum mendacium die Peinlichkeit eines öffentlich beschädigten Selbstbildes wieder aus der Welt geschafft.157 Mit dieser Analyse beabsichtige ich keine anachronistische Widerlegung der These Luhmanns,158 daß Takt und Humor »zivilisatorisch späte Erfindungen« seien. Die geschilderte Szene ist in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich. Zunächst hat ein König bloßen Formvorschriften gegenüber grundsätzlich eine Freiheit, die sich sonst niemand erlauben dürfte, nach dem Prinzip: Quod licet Jovi non licet bovi. Wenn er sie verletzt, so kann aus dem Verstoß sogar eine neue Regel werden. Des »Kaisers neue Kleider« sind gelegentlich nicht nur tabu, sondern auch noch modisch. Um nur ein freilich legendäres Beispiel zu nennen, hängt die englische Krondevise honi soit qui mal y pense aus einem solchen Motiv mit der Gründung des Hosenbandordens zusammen.159 König Eduard III. soll den sich mokierenden Höflingen dieses stolze Wort zugerufen haben, als er das einer mit ihm tanzenden Kurtisane heruntergefallene Stück Unterwäsche auflas und als Hosenband an seine Wade steckte. Den Höflingen verging darauf das Lachen. Es wurde von nun an selbst lächerlich. Doch auch Könige können ›zu weit gehen‹. Ludwig IX., der barfuß als Büßer durch die Straßen von Paris zog und den Mönchen von 156
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Vgl. A. Paternoster, Discrétion, in: Montandon, Dictionnaire raisonné de la politesse, S. 249–270 freilich in Unkenntnis der mittelalterlichen Tradition, die bereits mit Gregor d. Gr. beginnt; vgl. Claude Dagens, Saint Grégoire le Grand. Culture et expérience chrétiennes, Paris 1977; vgl. auch die von Ambrosius ausgehende thomasische Questio (Summa theol. II–II 168) de modestia … in exterioribus corporis motibus und oben Anm. 115. Zu den modernen Prinzipien der Höflichkeit vgl. Hahn, Rede- und Schweigeverbote, S. 93f.; zur moraltheologisch legitimierten Takt-Lüge vgl. Mireille Vincent-Cassy, Recherches sur le mensonge au moyen âge, in: Etudes sur la sensibilité au moyen âge, Paris 1979, S. 165–173. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 478. Vgl. Jaeger, L’amour des rois, S. 563ff. Das Ereignis entbehrt so gut wie jeder faktenhistorischen Quellenbasis, gehörte jedoch insbesondere wegen einer Parallelszene in Sir Gawain and the Green Knight seit dem 14. Jh. zu jenen glaubhaften Anekdoten, denen im Sinne des argumentum »virtuelle Realität« zugeschrieben wurde; zu dieser Erzählart s. von Moos, Geschichte als Topik, S. 214f. Zur analogen Rettung eines Fehltritts in Sir Gawain s. die feinsinnige Analyse von Miller, Humiliation, S. 183–201. Das Beispiel stützt die These Pitt-Rivers, S. 39f., daß der König nomalerweise nicht entehrt oder lächerlich werden kann, weil etablierte Macht sich durch die Verwandlung eines de facto in ein de iure zu legitimieren pflegt.
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Royaumont Steine tragend beim Bau eines Gotteshauses half, ist für viele nachweislich zum Gespött geworden.160 Joinvilles Herrscherbild ist darum nicht nur, wie immer wieder hervorgehoben wird, christlich idealisierend, es ist vor allem eine weltmännische Ehrenrettung dieses Königs, dessen Ungewöhnlichkeit den Adel eher ratlos machte als zur Heiligenverehrung einlud. Die Ausnahme bestätigt hier also die Regel des übermächtigen Ehrencodes in einer »stratifizierten Gesellschaft«, in der Etikettenverstöße vorwiegend unter ständisch-distinktiven Kategorien wie vilénie oder rusticitas verpönt waren. Dennoch dürften Wirkungen von Ludwigs sehr persönlicher Auffassung von Normalität und Exzentrizität, wie Joinville sie versteht, auf die spätere französische Hofgeschichte ausgegangen sein. Ein besonderes Merkmal vieler unheiliger Nachfolger des heiligen Königs, das fremden Beobachtern immer wieder auffiel, war (jedenfalls vor dem Absolutismus) ihre Abneigung gegen unnötiges Zeremoniell und allzu prunkvolles Auftreten sowie ihre leichte Zugänglichkeit oder Leutseligkeit, also ein gewisser Stil der Distanzreduktion oder des ›Antibyzantinismus‹.161 Das ambivalente Prinzip der Distinktionsverachtung um höherer Distinktion willen, eine Vorform der sprezzatura,162 brachte freilich auch für sie das Risiko mit sich, von Formalisten als unkönigliche, »gemein machende« Selbstdegradation mißverstanden zu werden.163 Frankreich galt bereits im 13. Jahrhundert als das Land der feinen Sitten. Es ist kein Zufall, daß gerade Joinville von einem Italiener, der ihn auf einer Reise kennen gelernt hatte, lange nach dem Tod Ludwigs als der französische 160 161
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Oben S. 39. Le Goff, S. 124ff., 699ff.; Bernard Guenée, Le portrait de Charles VI dans la chronique du Religieux de St-Denis, in: Journal des Savants, janvier-juin 1997, S. 125–166, hier 141ff.; Jean Guillaume, Du logis à l’appartement, in: Ders. (Hg.), Architecture et vie sociale. L’organisation intérieure des grandes demeures à la fin du moyen âge et à la Renaissance, Paris 1994, S. 7–10. Commynes vergleicht mehrfach die schlichte, ja schlechte Kleidung Ludwigs XI. und dessen Nachlässigkeit in Protokollfragen mit der von anderen Fürsten, insbesondere Karl dem Kühnen betriebenen Prachtentfaltung; s. Mémoires (wie Anm. 192), II 8, S. 143f., IV 7, S. 252ff., IV 10, S. 267 und unten S. 59. Als Kontrast dazu lassen sich italienische Verhaltensregeln für Signori und Podestà anführen, die um ihrer Überparteilichkeit willen absolute Distanz gegen jedermann zu pflegen hatten; so etwa Brunetto Latini, Tresor, III 98, 4, ed. F.J. Carmody, Berkeley/Los Angeles 1948 oder Johannes von Viterbo, Liber de regimine civitatum, ed. C. Salvemini, Bibliotheca iuridica Medii Aevi, Bd. III, Bologna 1901, Nr. 71. Vgl. Montandon, S. 874–854; Burke, The Fortune of the Courtier, S. 43ff.; schon das Mittelalter kannte aus dem Rhetorikunterricht Prinzipien wie die ars celandi artem und die negligens diligentia Ciceros und Augustins, die zum Hintergrund des sprezzatura-Konzepts gehören. Dieses Thema verdient eine ausführlichere Behandlung als meine kurzen Bemerkungen in: Literatur- und bildungsgeschictliche Aspekte der Dialogform im lateinischen Mittelalter, in: Tradition und Wertung, Festschr. Franz Brunhölzl, Sigmaringen 1989, S. 165–210, hier 185f.
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magister elegantiarum schlechthin gerühmt und mit Aussprüchen über gutes Benehmen zitiert wurde. Dieser Italiener, Francesco da Barberino, war ein Kenner der Materie. Er hat selbst ein berühmtes Anstandsbuch für Frauen geschrieben.164 Neben den insgesamt eher formalen Vehaltensregeln aus dem Munde des betagten Sieur de Joinville, die er anführt, findet sich auch eine Art ›kategorischer Imperativ‹: Man solle im eigenen Interesse stets »jedermann ehren«.165 Denn man erhöhe seine Reputation, indem man keinen Neid gegen Höhere, keine Grobheit gegen Gleiche und keine Arroganz gegen Niedrigere zeige. In der etwas allgemeinen Weisheit findet sich vielleicht noch ein Abglanz der standestranszendenten Lektion, die Joinville beim heiligen Ludwig gelernt hat. Die Rangordnung steht unanfechtbar fest, aber das feinste Verhalten liegt gerade darin, so zu tun, als bestünde sie nicht, und der eigentliche Fehltritt liegt demnach nicht im Verstoß gegen den hierarchischen Code, sondern in der allzu buchstäblichen Anwendung desselben.166
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Einen ganz anderen Fehltritt im Rahmen der ständischen Ordnung schildert Georges Chastellain in der dramatischen Szene vom Zorn Philipps des Guten von Burgund. Ich habe daraus bereits den Kommentar cuidant bien faire, elle gasta tout als Motto zitiert. Diese mehrere Seiten füllende Episode kann ich allerdings nur ganz gerafft zusammenfassen.167 Der alte Herzog wollte vier 163
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So Johannes von Viterbo in der Anm. 161 erwähnten Stelle. Kritische Stimmen zum unköniglichen Verhalten Karls VI., das dessen Geisteskrankheit zugerechnet wurde, verzeichnet auch Guenée (wie Anm. 161), S. 144 unter dem Stichwort »un roi trop bon«. Grundsätzlich zu dieser Zweischneidigkeit vgl. Beetz, S. 180f. und Hahn, Rede- und Schweigeverbote, S. 92f. Reggimento e costumi di donna, ed. G. E. Sansone (Testi volgari antichi 3), Torino (1957) 1995; vgl. Margarethe Zimmermann, Eine toskanische Frauendidaxe aus dem XIV. Jahrhundert. Francesco da Barberinos Reggimento e costumi di Donna, in: HansJürgen Bachorski (Hg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Trier 1991, S. 25–44. Documenti d’amore, ed. F. Egidi, 4 Bde., Roma 1905–1927, hier Bd. I, S. 132f., 264f., Bd. II, S. 97, 351. Monfrin (wie Anm 139) übersetzt die wichtigsten Stellen in seiner Einleitung, S. XXVI–XXVIII. Vgl. unten S. 85f. zum Prinzip der universellen Ehrerbietung nach Thomas von Aquin. Dieses feinere Distinktionskriterium der zurückgehaltenen Rangbehauptung dürfte bereits etwas von den Fiktionen späterer Höflichkeitsregeln vorwegnehmen, nach denen Gleiche wie Höhergestellte zu behandeln sind und Ranghöhere mit Niedrigeren wie mit Gleichen umgehen sollen; vgl. dazu Beetz, S. 122ff., 258ff. (u.a. bereits bei Francesco da Barberino); Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 125ff.; Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 57ff. und den Beitrag von Müller in diesem Band zur »Minimaldifferenz«, dem nicht-expliziten Zugehörigkeitssymbol als neuem Abgrenzungskriterium des Adels. Zur Analogie zwischen dem 13. und dem 17. Jh. in dieser Hinsicht vgl. auch Aurell, La noblesse, S. 104–108. Anm. 167 s. nächste Seite
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Jahre vor seinem Tod entgegen einer früheren Entscheidung die vakante Chambellan-Stelle durch Philippe de Croy, Seigneur de Sempy besetzen lassen, der inzwischen seine besondere Gunst erlangt hatte. Da er gehört hatte, daß sein Sohn, Karl von Charolais, der spätere Karl der Kühne, gegen diese Begünstigung eingestellt war, ließ er ihn während des Horengebets in entsprechend »sanfter« Stimmung zu sich in die Kapelle rufen, um die Meinungsverschiedenheit auszuräumen, »weil er sein Haus im Frieden und ohne Zwist unter seinen Dienern sehen wollte«. Karl ließ sich jedoch nicht von seiner Position abbringen und beharrte auf der früheren Weisung des Vaters. »Heda, so sagte der Herzog, kümmert Euch nicht um Verordnungen; m i r kommt es zu, zu erhöhen und zu erniedrigen, und ich will daß der Herr von Sempy dort eingesetzt werde.« – »Potz! (Hanhan!) sagte der Graf (denn so fluchte er immer), hoher Herr, ich bitte euch um Verzeihung, denn ich könnte es nicht tun; ich halte mich an das, was ihr mir verordnet habt.« In einem Wutanfall, den Chastellain als nahezu pathologisches Phänomen schildert – »es war gräßlich, ihn anzusehen« –, bricht der Vater mit dem Sohn: »Ha, Bursche, willst du meinem Willen nicht gehorchen? Geh mir aus den Augen!«168 Zeugen dieses Ausbruchs waren die anwesende Herzogin und ein Geistlicher, der den Zugang zur Kapelle bewachte.169 Die beiden suchten darauf entsetzt nach 167
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Chronique, IV 47 (wie Anm. 106) Bd. III, S. 231–239. Übersetzt von Claude Thiry, in: D. Régnier-Bohler (Hg.), Splendeurs de la cour de Bourgogne, Paris 1995, S. 831ff.; vgl. dazu auch Jan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1953 etc., S. 312–315. Die Szene ereignete sich im Januar 1457 im flandrischen Schloss Genappe. Ebd., S. 232: Le duc doncques … après la messe, aiant bien désir que sa maison demorast paisible et sans discention entre ses serviteurs …, après que jà avoit dit une grant part de ses heures et que la cappelle estoit vide de gens, il appela son fils à venir vers luy et lui dist doucement: »Charles, de l’estrif qui est entre les sires de Sempy et de Hémeries pour le lieu de chambrelen, je vueil que vous y mettez cès et que le sire de Sempy obtiengne le lieu vacant.« Adont dist le conte: »Monseigneur, vous m’avez baillé une fois vostre ordonnance en laquelle le sire de Sempy n’est point, et monseigneur, s’il vous plaist, je vous prie que ceste-là je la puisse garder.« – »Déa, ce dit le duc lors, ne vous chailliez des ordonnances, c’est à croistre et à disminuer, je vueil que le sire de Sempy y soit mis.« – »Hahan! ce dist le conte (car ainsi jurait tousjours), monseigneur, je vous prie, pardonnez-moy, car je ne le pourroye faire, je me tiens à ce que vous m’avez ordonné. Ce a fait le seigneur de Croy qui m’a brassé cecy, je le vois bien.« –»Comment, ce dist le duc, me désobéyrez-vous? ne ferez-vous pas ce que je vueil?« –»Monseigneur, je vous obéyray volentiers, mais je ne feray point cela.« Et le duc à ces mots, enfelly de ire, respondit: »Hà, garsson, désobéyrastu à ma volenté? va hors de mes yeux«, et le sang, avecques les paroles, lui tira à coeur, et devint pâle et puis à coup enflambé et si espoentable en son vis, comme je l’oys recorder au clerc de la chapelle qui seul estoit emprès luy, que hideur estoit à le regarder. Huizinga (wie Anm. 167), S. 313 zu diesem Passus: »Ist das nicht voller Kraft?« Dieser clerc mit Namen Caron war auch der Informant Chastellains (s. vorangehende Anm.), der natürlich die ganze Szene aus eigener Vorstellungskraft ausmalt. Die plumpe Frage »wie es wirklich gewesen ist«, muß auch hier ersetzt werden durch die subtilere, was der Chronist für möglich hielt. Chastellains Darstellung hat zum mindesten sozialpsychologischen Quellenwert.
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Wegen, den Schaden möglichst schnell zu begrenzen. Zunächst wurde auf Rat des gutmeinenden clerc beschlossen, die Gemahlin solle den Gatten vorweg besänftigen und Karl sich danach demütig entschuldigen. Dieser aber weigerte sich »hochfahrend« und berief sich auf den Wortlaut des ihm auferlegten Verbots, vor dem Vater zu erscheinen: »Dorthin werde ich nicht so bald zurückkehren; eher gehe ich im Schutze Gottes weg, ich weiß nicht wohin.«170 Wie so oft in solchen Szenen, waren auch hier die Mauern nicht dicht;171 der Herzog hörte mit, was da beraten und geplant wurde, und geriet, für die drei hörbar, erst recht außer sich. Verstört sucht nun die Herzogin ein letztes Mittel, die Versöhnung herbeizuführen, und begibt sich mit Karl und dem Geistlichen zu dem am Hofe weilenden französischen Dauphin.172 Es ist eine Ironie der Geschichte, daß dieser Valois-Prinz, der künftige Ludwig XI., sich seinerseits mit seinem Vater, Karl VII., als ›Rebell‹ überworfen hatte und nun bei seinem burgundischen Onkel in einem ehrenvollen und doch prekären Asyl lebte. Was nun geschah, hätte Shakespeare auf die Bühne bringen können: Der Dauphin zögerte, aber willigte schließlich in den Vermittlerdienst ein. Nach Chastellain unternahm er damit den schlimmsten Schritt, den er in dieser Lage hätte tun können.173 Philipp war allein schon durch den Fehler der Herzogin aufgebracht, daß sie einem solchen hierfür keineswegs zuständigen Prinzen ein Familiengeheimnis verraten hatte, denn er fühlte sich als gerechter Vater, dem es von Rechts wegen zustand, »Zorn da zu zeigen, wo es angebracht war, und sich zu besänftigen, wann es sich gehörte.« Darum mußte er diese unzeitige Offenbarung als Zweifel an seiner väterlichen Gerechtigkeit empfinden. Den Dauphin, seinen künftigen Lehensherrn, aber verdächtigte er, allein durch seinen Rang Druck auf ihn ausüben zu wollen, damit er einer Versöhnung zustimme, die er jetzt, »selbst unter Todesdrohung«, noch kei170
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Ebd., S. 234: … le fils respondy hautement:»Déa, madame, monseigneur m’a deffendu ses yeux et est indigné sur moy, par quoy, après avoir eu celle deffense, je ne m’y retoureray point si tost, ains m’en yray à la garde de Dieu, je ne sçay où.« Siehe auch unten S. 62 zu Commynes. Dies ist eine architektonische Begleiterscheinung der faktischen, nicht notwendig immer auch erwünschten Ungeschiedenheit des Öffentlichen und Privaten im Mittelalter; vgl. Melville / von Moos. Für den Historiker folgt daraus, daß er bei allem Interesse an »öffentlicher Kommunikation« diese niemals lupenrein von privater Interaktion trennen kann. Chastellain, Chronique (wie Anm. 106), Bd. III, S. 234f. Ebd., S. 235f. In diesem Zusammenhang steht die oben zitierte Reflexion über die Initiative der Herzogin: estoit allée devers luy en espoir que par sa prière elle n’auroit pu impétrer, mais cuidant bien faire, elle gasta tout et mist en voie et aventure de perdre père et fils à tousjours. Das Zögern des Dauphins ist im übrigen durch die Prophezeiung eines Astrologen motiviert, dass bald eine grande et estrange mutation en la maison du duc geschehen werde, die ihm selbst grosses Leid bringen werde. Wie an vielen anderen Stellen zeigt Chastellain hier seine Auffassung der Geschichte als Schicksaltragödie (s. unten S. 47f.).
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neswegs herbeizuführen gedachte.174 Der ungeschickte Vermittler stellte darum erschrocken fest, daß er mit seinem Versuch, den Fehltritt (meffait) Karls als Torheit eines noch jugendlichen Heißsporns zu entschuldigen,175 das Gegenteil von dem, was er wollte, bewirkt und den Herzog erst recht gekränkt hatte. In der Verwirrung tat er jedoch, wie Watzlawick sagen würde, »noch mehr desselben«176 und beging, was man als eigentlichen Höhepunkt oder als ›Katastrophe‹ in dieser Unglückskette von Mißverständnissen bezeichnen könnte: Er bat unterwürfig um Gnade »mehr noch im eigenen Namen« als für den Vetter und sank dabei, den Herzog an den Hüften haltend, weinend in die Knie. Der designierte König von Frankreich in Demutshaltung vor seinem burgundischen Kronvasallen! Der Herzog erstarrte zu Marmor. Diese Symbolgeste bedeutete für ihn letzte Demütigung und Schande. Sie setzte ihn unter Zugzwang.177 Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu antworten: »Eure Bitte ist mir Befehl. Wenn euch so viel an Karl liegt, daß ich ihm vergebe, so bin ich’s zufrieden; kümmert euch um ihn und hegt ihn, aber für den Rest eures und meines Lebens werdet ihr mich nie wieder mit eigenen Augen sehen. Euer Wille geschehe in dieser Sache, aber meiner bleibt so, wie er ist.« Der Dauphin verließ tränenüberströmt den Raum, so daß er sich vor Scham eine Weile verbergen mußte.178 Als er sein Zimmer erreichte, wo die Herzogin und Karl auf ihn warteten, erkannten diese an seinem Aussehen sofort, dass alles verloren war und que le meschief y estoit inréparable. Der Herzog aber »wurde gewahr, dass er eine Niederlage erlitten hatte« und fiel in eine Art manische Depression. »Er wünschte nichts anderes, als auf den Feldern allein zu bleiben.« Gegen Abend verließ er incognito das Schloß zu einer nächtlichen Irrfahrt in Sturm und Regen, bei der er vom Pferde stürzte und sich verletzte. Erst nach langem Herumirren fand er schließlich Hilfe in der Hütte eines armen Mannes.179 Was hier dargestellt wird, sind zweifellos in einem anderen, folgenschwereren Sinne Fehltritte als die kleinen Etikettenverstöße und Taktlosigkeiten in 174
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Ebd., S. 235: et fut ce qui plus donna de douleur au duc que cecy quant elle estoit allé révéler le secret d’entre lui et son enfant à un tel prince à qui riens n’en compétoit et sans lequel il eust bien sçu faire à l’appartenir comme père et sans en ensonnier un autre, car il se sentoit bien homme pour pouvoir monstrer courroux là où il estoit besoing et pour soy rappaisier là où il seroit lieu, et pour tant très-amèrement se courouçoit de ce desceuvrement qui lui sembloit estre une demie-plainte contre lui et que le tort fust de son costé, et à l’autre lez il entendoit bien que ledit dauphin lui viendroit faire presse pour en faire la paix, de quoy faire toutevoies il n’estoit point en volenté, ne ne s’y fust assenti pour mort. Ebd., S. 236: »Beaux oncles, belle tante est venue vers moy en ma chambre, la plus desconfortée que je vis oncq pour le courroux que vous avez pris en beau-frère de Charolais. Beaux oncles, je vous prie sur toute amour que vous vueillez pardonner audit beau-frère et excuser son meffait par sa jeunesse qui est bouillant encore.« Ebd., S. 237: frémissoit tout de la dureté qu’il y veoit et commença à deffier de son espoir, mais pensant le pouvoir approchier par plus profondes prières …; vgl. Watzlawick / Weakland / Fisch, Lösungen, S. 51–59 (»Wenn die Lösung selbst das Problem ist«).
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Joinvilles Gartenszene. Doch Chastellain enthält sich jeder kritischen Bewertung des Geschehens. Vielmehr stellt er das ganze Drama unter den Begriff meschief, Unglück oder Mißgeschick, den er an anderer Stelle mit dem Bild der »Ohrfeige Fortunas« verdeutlicht.180 Nicht individuelle Fehlleistung, sondern das Verhängnis, das unberechenbare Schicksal führt die Helden gegen ihre besten Absichten in die Katastrophe. Pathetisch hebt er am Ende die 177
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Ebd., S. 237f.: Sy prist le duc par le faux du corps entre ses bras, se laissa couler tout bas sur un coussin du genoul, et samblablement le duc devant lui qui fondoit en annuy et en honte de ceste humilité à luy monstrée de son souverain seigneur, dont le personnage estoit une piteuse chose à veoir. … Finablement le dauphin lui dist: »O beaux oncles … Je suis en vostre mercy et dangier et vous suis venu faire mon père et mon tout en ce monde. Doncques, je vous prie, faites quelque chose pour moy, car le cas est autant ou plus mien comme à beau-frère.« … Fin de conte, le duc, plus endurcy que un marbre froit et moins amolly que du premier mot … Zu positiven Aspekten dieser hier völlig versagenden Symbolgeste vgl. Gerd Althoff, Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Ders., Spielregeln der Politik, S. 99–125, oder Ders., Gefühle in öffentlicher Kommunikation, S. 86ff. Der von Rosenwein herausgegebene Sammelband, enthält zahlreiche Beispiele für die Risiken und unvorhersehbaren Auslegungen ritueller Gebärden, vgl. z.B. S. 163ff. die von Barton (wie Anm. 75) analysierte Anekdote bei Wilhelm von Malmesbury (Gesta Regum Anglorum, ed. Stubbs, RerBrit 90, London 1889, II, S. 292): Geoffroy Martel, der rebellische Sohn des Grafen Fulk Nerra von Anjou, ist nach langem Widerstreben endlich bereit, den Vater um Verzeihung zu bitten. Er trägt seinen Sattel meilenweit auf dem eigenen Rücken und wirft sich schließlich dem Vater reumütig zu Füßen. Dieser aber gibt dem am Boden Liegenden unter dem mehrfachen Ausruf: Victus es, tandem victus! wütend Fußtritte. Der Sohn rettet die Situation mit Schlagfertigkeit (spiritus egregius) und sagt: Tibi pater soli, quia pater es, victus, ceteris omnibus invictus sum. Der Vater, dadurch besänftigt, richtet den Beschämten auf: patriaque pietate verecundiam prolis consolatus, principatui restituit. Hier führt die Unterwerfungsgeste haarscharf an der Katastrophe vorbei. Nicht das Ritual selbst, sondern die geistesgegenwärtige Unterstützung durch das Wort wendet sie ab, was die Behauptung Althoffs (Gefühle, S. 96) ein wenig einschränkt, der »Kommunikationsstil dieser Zeit« sei »mehr durch Demonstration als durch Argumentation geprägt«. Chronique (wie Anm. 106), Bd. III S. 238: »Monseigneur, je ne voudroy riens escondire, et me sont vos prières commandemens, mais si la matière de Charles vous est tant à coeur et que vous voulez que je lui pardonne, j’en suis content, et le gardez bien et le nourrissiez, mais jour que vous vivrez après, ne moy aussi, vous ne me verrez de vos yeux. Or en soit vostre volenté faite, mais la mienne demorra telle.« Quant le doloreux fils de roy oyt ceste response si précise et trenchant … et que son mot estoit un seau en acier, si par avant esbay durement et perplex, maintenant le devint mille fois plus, et … tout fondist en larmes … Toutevoies, non osant partir dehors pour cause de ses pleurs, longuement se tint caché derrière l’huy…Zur spezifisch männlichen Scham über Mißerfolg und Tränen vgl. Miller, Humiliation, S. 178ff.; Bologne, Histoire de la pudeur, S. 12ff.; Williams, S. 79f. Chronique III 48 (wie Anm. 106), S. 239ff. Ebd., II 19, S. 60f.; vgl. auch II 43, S. 177. Chastellain folgt darin der am burgundischen Hof verbreiteten Virtus-Fortuna-Topik (vgl. auch Anm. 173 zur Astrologie), die Commynes nicht nur aus traditionell christlichen Gründen, sondern auch als unzeitgemäßes Requisit der Ritteridieologie verwerfen dürfte (s. unten S. 56f.). Vgl. Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus, Köln/Graz 1958 und Ders., Olivier de la Marche, Le Débat de Cuidier et de Fortune, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), S. 266–305.
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Denkwürdigkeit der Episode als ein extremes Exemplum für das unbegreifliche Axiom ›kleine Ursachen – große Wirkungen‹ so hervor:181 »Ich habe diese Sache ausführlich und offen dargestellt, obwohl einige sagen könnten, daß dies nicht notwendig sei, und daß ein solcher Wahnsinn, ein solcher Leichtsinn folie, légèreté) nicht einer so langen Erzählung bedürfen, denn sie scheint auf den ersten Blick eher zu einem Tadel als zu einem Lob zu gehören. Deshalb will ich solchen Argumenten vorbeugen, nicht um Gunst zu erlangen, sondern um unabweisliche Vernunftgründe sprechen zu lassen. Ich habe diesen Gegenstand für besonders denkwürdig und aufzeichnungswürdig gehalten, da sich wohl in keiner römischen oder anderen Geschichte je eine solch betrübliche und verhängnisvolle Wirkung und solch seltsame Folgen für so viele Personen aufgrund einer so armseligen und geringfügigen Ursache finden lassen. … Man hat viele Könige und hohe Fürsten gesehen, die ins Elend gefallen, in Schlachten gestorben, von Fortuna gedemütigt, … und von Gott auf vielfältige Weise gezüchtigt oder bestraft worden sind, aber ich habe noch niemals gesehen oder gehört, daß einem Fürsten von so hoher Tugend und mit nicht größeren Fehlern [als andere sie haben], ein derart seltsames und schreckliches Abenteuer mit so viel Leid und nicht wiedergutzumachendem Schaden zugestoßen ist, wie diesem. In der Tat wurden früher viele Schlachten von dreißig- oder vierzigtausend Kriegern verloren, die man weniger beweinte als diesen Fall.« Die Stelle zeigt den gravitätischen Stil des offiziellen, mit festem Amt bestallten Hofchronisten Philipps des Guten und Karls des Kühnen, der überdies zum Ritterorden vom goldenen Vließ gehörte und als Dichter pathetischer Zeitklagen wohl noch berühmter war denn als Historiker. Dennoch war Chastellain kein unkritischer Panegyriker seiner Herren, sondern ein klarsichtiger, durch eigene Gesandtentätigkeit gewitzter Kenner menschlicher Unzulänglichkeiten und politischer Fehlentwicklungen, die er jedoch vom höheren Standpunkt aus als Verkettung unglücklicher Umstände und Mißverständnisse in einem Geschichtsdrama über Größe und Elend des burgundischen Rittertums untergehen lassen wollte.182 Ohne die aristotelische 181
Ebd., IV 50, S. 263–265: Longuement et bien à l’ouvert je demaine ceste mat[i]ère droitcy, dont aucuns pourroient dire que se fust sans besoing et que telle folie et légèreté ne requièrent point d’en faire un si long conte, car sambleroit de prième face redonder plustost en reproche qu’à los, et pour tant, moy vueillant prévenir à tels argumens, non par faveur, mais par raison nécessaire, ay jugié ceste matière digne entre les autres d’estre escrite et demenée au long, quant en nulles histoires romaines, ne autres, d’une si povre et petite cause n’est trouvé guères un si desconfortable périlleux effet, ne de conséquence si estrange pour autant de terme … Assez a l’on vu roys et haulx princes en temps passé terminer meschamment, mourir en batailles et estre humiliés par fortune, … et par diverses manières estre corrigiés et pugnis de la main de Dieu, mais n’ay vu onques, ne oy de prince de telle vertu, de prince non plus vicieux que cestui, qu’onques si estrange aventure advint, ne si sauvage comme à celuy de présent, ne qui tant se disposast à douleur et à inréparable meschief; car ont esté perdues autreffois maintes batailles de trente et quarante mille hommes, dont les lamentations ne furent si grandes comme je vis de cestui cas …
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Tragödientheorie zu kennen, führte er erzählerisch die »schrecklichen und mitleiderregenden« Folgen einer Art hamartia vor Augen.183 Daß er aber, wie Huizinga mit Recht bemerkte, »im Herzen ein Novellist« war,184 zeigt sich in der feinen Beobachtung einzelner Handlungsmotive, die der gesamten tragischen Verstrickung einen sozialpsychologisch bedeutsamen Zweitsinn gibt. Er zeigt letztlich, wie auf dem noch wesentlich durch Familienverhältnisse und persönliche Interaktion bestimmten Feld der Politik kleinste menschliche Ursachen fatalste Wirkungen erzeugen können. »Geringe, aber gefährliche Kleinlichkeiten«,185 falsche Lage-Einschätzungen, Überempfindlichkeiten in Fragen der Ehre, plötzliche Affektäußerungen entwikkeln im festgelegten Rahmen vermeintlich kalkulierbarer Reaktionen eine ganz unkontrollierbare Eigendynamik. Die Kränkung des zwischen seiner Vater-und Herrscherrolle pendelnden Herzogs wird mit jedem Schritt einer überstürzt gewählten Vermittlungsstrategie noch tiefer. Der Unbotmäßigkeit des Sohnes folgt die Indiskretion der übereifrigen, unter klerikalem Einfluß agierenden Gattin und die hoffnungslos verfehlte Einmischung des Dauphins. Jeder Protagonist bleibt in seiner Rolle, ja identifiziert sich mit ihr, und die abschließende Peripetie kommt weniger durch Sinneswandel als durch die Macht einer rituellen Unterwerfungsgeste zustande, die nicht zur »gütlichen Konfliktbeilegung« führt, sondern aufgrund ihrer notorisch gefährlichen Zweideutigkeit den Konflikt vollends unheilbar macht.186 Die von Gerd Althoff so genannten »Spielregeln der Politik« scheinen hier die Menschen mehr zu beherrschen, als daß sie von ihnen beherrscht würden. Das unerbittliche Gesetz der Reziprozität ist der Auslöser von ungewollten run away-Effekten.187 182 183 184
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Huizinga (wie Anm. 167), S. 56ff.; Claude Thiry, Georges Chastellain, premier indiciaire des ducs de Bourgogne, in: Régnier-Bohler (wie Anm. 167), S. 736–748. Vgl. oben S. 9f.. Unter diesem Aspekt habe ich die Kapitel IV 48–50 der Chronique näher analysiert in: Perspektiven der Unabsichtlichkeit, im Ersch. Huizinga (wie Anm. 167), S. 312 zu dieser »vortrefflichen Partie«, an der ihn einzig die Erzählkunst, nicht aber die dargestellte Kommunikationsstruktur der Eskalation interessiert. Man könnte Chastellain aufgrund seiner lebendigen Dialogszenen auch einen Dramatiker nennen. Paul M. Kendall, Louis XI, Paris 1974, S. 482 spricht sogar von einer »Opernszene«. Die Kunst der fiktiven Dialoge bei Chronisten verdient eine eigene Untersuchung; vgl. von Moos, Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, S. 300ff.; M. Plezia, L’histoire dialogueé. Procédé d’origine patristique dans l’historiographie médiévale, in: Studia patristica 4 (1961), S. 490–96. Chronique, II 43 (wie Anm. 106), S. 188 über Karl VII: …avoit beaucoup de belles vertus, et de petites chétifvetés aussy assez dangereuses. Fuhrmann, »Willkommen und Abschied«, S. 24ff. bringt einige berühmte Beispiele für die Gefährlichkeit der deditio-Geste. Vgl. auch im Beitrag von Marchal in diesem Band (nach Anm. 70) zum verhängisvollen Kniefall Johanns ohne Furcht in Montereau. Grundsätzlich zur Ambivalenz und Inversionsgefahr von Ritualen vgl. Koziol, S. 289–292, 307–311. Anm. 187 s. nächste Seite
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Von allen Beteiligten hat zwar anfänglich der Herzog die größte Handlungsautonomie oder Freiheit, seinen eigenen Willen zu ändern. Er beansprucht das Recht, zuerst diesen, später jenen Adeligen vorzuziehen. Noch bevor er in Wut gerät, verstimmt ihn darum der unausgesprochene, aber herausgehörte Zweifel des Sohnes an dieser seiner ›Souveränität‹, sich nach Gutdünken auch einmal selber widersprechen zu dürfen. Das Ansinnen, auf eine frühere Entscheidung festgelegt zu werden, hätte er als eine Art Majestäts-Beleidigung empfinden können, doch er bleibt vorerst eher in der Haltung der raisonnierenden Autorität. Erst als Karl sein ›Argument‹ vom Fürstenrecht auf Sinnes- bzw. Gunstwandel einfach zu überhören scheint und mit einer persönlichen Willenskundgebung beantwortet, gerät er – mehr als gekränkter Vater denn als beleidigter Herzog – außer sich. Die Verletzung des vierten Gebots ist in der Tat ein stärkeres und auch heiligeres Motiv zur Entrüstung, zum ›gerechten Zorn‹ als irgendein Verstoß gegen die Fürstenehre. Paradoxerweise wird Philipp jedoch gerade durch diesen berechtigten und pflichtmäßigen Zorn in die von ihm eben noch verworfene Alternativelosigkeit hineingedrängt; erst der Affekt macht ihn wirklich gewissermaßen zum Gefangenen seiner eigenen Entscheidung. Denn sein (sichtlich als spontan dargestellter) Gefühlsausbruch verwandelt sich sofort in einen ›performativen Sprechakt‹. Obwohl in einer nahezu privaten Situation geäußert, erscheint seine heftige Reaktion als ein ihn selber bindender Huldentzug und wirkt im Ergebnis wie eine demonstrative Amtshandlung.188 Es ist vielleicht Starrsinn, wenn der Sohn danach die persönliche Entschuldigung verweigert, aber es entspricht auch derselben rituellen Logik, nach der die eingeschlagene Bahn nicht ohne Gesichtsverlust verlassen werden darf. Er beharrt vielmehr durchweg auf seiner fixen Identität, auf dem Recht, sich selbst treu zu bleiben, zuerst gegen den Vater, der in seinen Augen durch willkürlichen Sinneswandel den Konflikt (nach dem Muster ordre, contre-ordre, désordre) ausgelöst hat, danach gegen die Ratgeber, die sowohl ihm wie dem Herzog eine Veränderung der getroffenen Rollen-Disposition zumuten.189 Die hartnäckigen Vermittler kennen ihrerseits keine Alternative zu ihrem Versöhnungsprogramm, nicht einmal die Klugheitsregel »kommt Zeit, kommt Rat«, sondern stürzen ausweglos in ein Bitt-und Unterwerfungsritual, das vom Herzog unweigerlich als schmähliche Nötigung ausgelegt werden muß und ihm nicht einmal die rechtens beanspruchte Besinnungszeit läßt. Jegliche auch nur vorübergehende 187
Zu Althoff, Spielregeln der Politik, vgl. auch die Rezension von Howard Kaminsky. Zur ehrbedingten Eigendynamik von Interaktionsritualen vgl. Dinges, Die Ehre, S. 50ff.; zur Reziprozität sei es von Beleidigungen oder Geschenken und deren latent oder offen agressivem Aspekt s. Miller, Humiliation, S. 48f. und passim.– Die Szene kann auch als Illustration für eine generelle Feststellung Alois Hahns (Inszenierung von Unabsichtlichkeit) dienen: »Ein Vergleich verschiedener Gesellschaften könnte … leicht zeigen, daß es erhebliche Unterschiede zwischen den Kulturen in bezug darauf gibt, was überhaupt als für die Identität irrelevanter Bereich von Zufälligkeit gelten kann.«
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Rollendistanz scheint unvorstellbar, und das Regelwerk der Rituale und Rollenidentitäten führt unerbittlich ins Verhängnis.190 Die Akteure sind eher Opfer als souveräne Spieler ihrer symbolischen Regeln. Nicht die Verletzung, sondern die bedingungslose Befolgung des Ehrencodes ist also auch hier der wirkliche mespas, wie dies schon in völlig anderem Sinn Joinvilles heiliger Ludwig demonstriert hat. Daß das als Mittel der ›Komplexitätsreduktion‹ heute vielgepriesene Ritual vormoderner Gesellschaften auch Quelle sozialer Destabilisierung sein kann, ist in dieser Szene mit Händen zu greifen.191 Chastellain hat dies vielleicht selbst geahnt, aber nirgends zum Ausdruck gebracht, offenbar weil jede Relativierung der ritterlichen Ehrenzwänge seiner heroisierenden Absicht widersprochen hätte. Man hat ihn oft »archaisch« oder »konservativ« genannt und dem »modernen« Commynes entgegengesetzt.192 Dies mag insofern zutreffen, als Chastellain durch archaisierende Stilisierung, ja Übertreibung einen längst nicht mehr allgemein anerkannten Verhaltenscode rehabilitieren wollte, den der fast zeitgenössische Commynes, der »Mythenzerstörer« nach Dufournet,193 illusionslos als Fassade zu entlarven und sogar als irrationale 188
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Nach dem Interpretationsmuster Althoffs würde die Erklärung »demonstrativer Zorn« hier vollauf genügen. Vgl. dessen Beitrag: Ira regis, in welchem er königlichem Zorn grundsätzlich den Sinn einer Art Amtshandlung, der Umkehrung des ebenso amtlichen Gunsterweises zuweist. Für den Fortgang der hier erzählten Geschichte ist aber wesentlich, jedenfalls nach Chastellain, daß rituelle Verhaltenscodes von emotioneller Beteiligung gar nicht ablösbar sind, daß festgelegte Bahn und individuelles Engagement gemeinsam das Unheil bewirken, weil beides für alle Beteiligten als bedeutungsträchtige Einheit erscheint. Da solche Szenen in einen Zwischenbereich von Rollenzwang und Handlungsautonomie fallen (Miller, Humiliation, S. 111f.), ist es gewiß unangebracht, sie als reine Spontanhandlungen zu interpretieren, aber nicht weniger verfehlt ist das andere, heute bevorzugte Extrem, sie als bloße ›Rollenscripte‹ zu lesen. Letztlich stehen hinter dieser falschen Alternative zwei Ideologien: die romantische und die behavioristische. Nach dem einen (von Jacob Burckhardt bis zu Huizinga und Marc Bloch verbreiteten) Muster wird das Mittelalter zu einem Zeitalter unkontrollierbarer Leidenschaft, nach dem anderen, derzeit obenauf liegenden, zu einem Modellbaukasten oder Marionettentheater. Bezeichnend für letzteres sind metaphorische Wendungen (z.B. bei Althoff, Gefühle, S. 82–99), wie »Regisseure«, »Drehbücher«, »auf dem Klavier der Emotionen« spielende Akteure sowie das stehende Beiwort »scheinbar« bei der Erwähnung von Gefühlsausbrüchen, denen damit von vornherein ein durch Inszenierung kompensierbares Aufrichtigkeitsdefizit unterstellt wird. Schon die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Emotion und Rolle scheint mir anachronistisch und unlösbar, da wir mittelalterliche Rollenverkörperung nicht nach dem Maß moderner Rollendistanz beurteilen können. Vgl. auch unten Anm. 191. Dieses Beispiel ließe sich gut auf Millers These vom Vorrang des »disposition talk« vor dem »emotion talk« in den altisländischen Sagas beziehen (Humiliation, S. 101ff.): Charakterveränderung und Reputation schließen sich aus, wo die Personen sich gewissermaßen als »Allegorien bestimmter Eigenschaften« fühlen, sich ausdrücken und handeln und die sowohl sozial geforderte wie selbstgewählte Rolle konsequent durchhalten müssen. Vgl. Goffman, Rollendistanz, S. 260ff. eignet sich gut zur Kontrastierung mittelalterlichen und modernen Verhaltens. Anm. 191–193 s. nächste Seite
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Maskerade lächerlich zu machen suchte. (Hätte Commynes Chastellains Episode darzustellen gehabt, so hätte er wohl den Finger am ehesten auf die möglicherweise kalkulierte Absicht Ludwigs gelegt, Philipp den Guten durch einen bloß rituellen Kniefall wirklich in die Knie zu zwingen, also in einer Zeit des Code-Wandels durch Mißbrauch eines Rituals über einen Ritualgläubigen zu siegen.194 Doch dies ist bloße might have been history.) Die zwei großen Historiker des 15. Jahrhunderts haben jedenfalls zwei ganz konträre Antworten auf dieselbe, ihnen offenbar auch beiden bewußte Krise aristokratischer Ritualisierung gegeben.195 Sie zeigen paradigmatisch die zwei Seiten einer Epochenwende, was bei der Interpretation einer jeden Einzelstelle ihrer Werke zu berücksichtigen ist.196 191
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Daß Rituale das Konfliktrisiko erhöhen, wurde in der Tagungsdiskussion immer wieder hervorgehoben. Vgl. hierzu grundsätzlich Geertz, Dichte Beschreibung, S. 96–132; Dinges, Die Ehre, S. 51ff. – Koziol, Begging Pardon, S. 306f., 315f. weist den Ritualen keine kreative, sondern eine amplifikatorische Funktion zu; sie machen bereits bestehende Verhältnisse (Konflikt oder Konsens, Ordnung oder Unordnung) nur besser sichtbar und damit oft auch unumkehrbar. In Althoffs Beitrag: ›Ritual und Demonstration‹ werden die Risiken des Rituals zwar erwogen, aber in zweideutiger Weise dem sozialen Stabilisierungspotential untergeordnet (S. 470f.): »[das rituelle Zeichensystem] hob Reaktionen und Handlungsweisen aus der Sphäre individueller Beliebigkeit in den Bereich von consuetudines und machte sie so kalkulierbar. Dies war wohl nicht zuletzt deshalb sinnvoll und nötig, weil jede Mißachtung von Rang und Stellung einer Person, sei sie bewußt oder als Fauxpas geschehen, Reaktionen des oder der Betroffenen nach sich zog, die schnell zur Eskalation führten.« Man sieht nicht recht, ob der zweite, m.E., zutreffende Satz den ersten, eher pauschalen, begründet, aufhebt oder einschränkt. Jedenfalls erscheint auch im weiteren Kontext wie in anderen Arbeiten des Autors die ordnungsstörende Wirkung von Ritualen eher als ›kollateraler Effekt‹ eines an sich Ordnung stiftenden »Regelwerks«. Der Band von Rosenwein über Zorn steckt (entgegen der vorwiegend konstruktivistischen Ausrichtung) voller Beispiele für den rituell beförderten Kontrollverlust. Daß es im Mittelalter häufiger als heute rituell gelenkte und »inszenierte« Emotionen gab, ist nicht zu bestreiten; aber deswegen waren sie nicht durchweg vorbereitet, berechnet und unspontan, wie dies als untergründiges ostinato continuo die meisten Arbeiten von Althoff suggerieren (s. insbesondere: Der König weint; Gefühle in der öffentlichen Kommunikation). Wie in jedem Theater können gute Schauspieler mit ihrer Rolle derart verwachsen, daß sie auf ihr Inneres zurückwirkt und deshalb zum Ausdruck der Spontaneität wird; zu diesem Paradox vgl. auch Haferland, Höfische Interaktion, S. 19ff. und passim. Das weiß man nicht erst seit Stanislawski. Schon Thomas von Aquin hat das Gebetsritual der oratio vocalis als eine Art emotionssteigernde Autosuggestion beschrieben (Summa theol. II–II 83, 12 resp.). Vgl. auch Koziol, 311ff. und Scheff, The Distancing of Emotion, zur kathartischen Wirkung von Ritualen. Schon Huizinga (wie Anm. 167), S. 56ff.; Jean Dufournet, La destruction des mythes dans les Mémoires de Philippe de Commynes, Genève 1966, S. 13–21, 437f. Dufournet, ebd., S. 105–119 (»La démolition du chevalier«). Siehe auch unten S. 59f. Marchal zeigt in seinem Beitrag (nach Anm. 80) zeitgenössische Beispiele solcher Instrumentalisierung des deditio-Rituals, die das Vertrauen in dessen quasi magische Wirkkraft zusehends untergruben. Dazu vgl. Gert Melville, Rituelle Ostentation und pragmatische Inquisition. Zur Institutionalität des Ordens vom Goldenen Vließ, in: Duchhardt / Melville, S. 215–272.
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Die Memoiren des Philippe de Commynes 197 bilden ein einziges Kompendium von Fehlern, exemplarisch gemeint als Warnung für künftige Strategen der Politik. In der Hauptsache sind es weder allzumenschliche Unziemlichkeiten noch tragische Mißverständnisse, wie wir sie bei Joinville bzw. Chastellain gesehen haben, und nur in seltenen, wenn auch spektakulären Fällen schuldhafte Vergehen, sondern in erster Linie Verstöße gegen das wohlverstandene Eigeninteresse.198 Commynes ist ein radikaler Pragmatiker, der von Sainte-Beuve die inzwischen zum Gemeinplatz gewordene Auszeichnung erhielt, ein französischer Machiavel en douce zu sein.199 Wenn er seine persönlichen Erfahrungen im Dienste Ludwigs XI. niederschreibt, so interessieren ihn daran weniger die Ereignisse als die denkwürdigen Motivationen der individuellen Entscheidungsträger, die, wie er es sieht, allein Geschichte machen.200 Sein maßgebender Gesichtspunkt ist stets das Verhältnis von Absicht und Wirkung. Nicht nur in dieser Hinsicht sind die von ihm bescheiden digressions genannten theoretischen Betrachtungen über Erfolg und Mißerfolg im politischen Handeln bedeutsamer als die Erzählung selbst. Sie sind nach Dufournet überhaupt die chair de l’oeuvre eines Autors, der weniger als Historiker denn als Meister politisch-sozialpsychologischer Gegen196
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Die Frage nach der Repräsentativität dieser zwei unkonventionellen Autoren für die mittelalterliche Auffassung von Ritualen mag hier offen bleiben. Der Zeitpunkt für eine Antwort wird erst kommen, wenn genügend präzise Mikrostudien über Einzelfälle (geordnet nach Quellengattung, Autorintention, Epoche, Region und anderen ›Umständen‹) vorliegen. Große Zusammenstellungen isolierten und verstreuten Materials zur Konstruktion typisch mittelalterlicher Verhaltensweisen sind diesem Ziel weniger förderlich als das ›close reading‹ bestimmter Quellen, eine gleicherweise literaturwissenschaftliche wie historische Aufgabe; vgl. auch die Althoff-Rezension von Kaminsky, S. 687f. Ich erlaube mir die heute am leichtesten zugängliche kritische Ausgabe von Bernard de Mandrot, (2 Bde., Paris 1901–1903), in dem von Philippe Contamine betreutem Nachruck (leider ohne den kritischen Apparat) zu zitieren: Commynes, Mémoires, Paris 1994. Vgl. jedoch auch Anm. 47 des Beitrags von Marchal . Dufournet, La destruction des mythes (wie Anm. 192), S. 122 mit Bezug auf Karl den Kühnen, dessen Untergang andererseits zu den Hauptreignissen gehört, die Commynes nachdrücklich als Strafe Gottes für ein Verbrechen darstellt (s. unten S. 64 zum Sturz des Connetable von Saint-Pol). Charles Augustin Sainte-Beuve, Les Causeries de lundi, Paris 1857–1862, Bd. I, S. 250f. Joël Blanchard, Commynes l’Européen. L’invention du politique (Publications romanes et françaises 216), Genève 1996, S. 20 sieht in der »vision personnalisée du pouvoir« und der »individualisation du politique« den modernsten Aspekt der Memoiren. Vgl. auch Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 20 und Contamine, ›Présentation‹ der Ausgabe (wie Anm. 197), S. 28. Zu den eher als Reflexionsbeispiele behandelten ›Ereignissen‹ rechne ich hier (trotz des Beitrags von Guy Marchal in diesem Band) auch die Zeremonien und Rituale der öffentlichen Kommunikation. Dazu unten S. 59f.
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wartsreflexion herausragt, als ein Vorläufer Montaignes, Machiavellis und der moralistes.201 Hinzu kommen implizite apologetische Intentionen: Die beiden Prinzen, die sich in Chastellains Bericht vom Zorn Philipps des Guten noch freundschaftlich ausgeholfen haben, sind danach als die Regenten Ludwig XI. und Karl der Kühne bald zu den Protagonisten des großen zeitgeschichtlichen Konfliktes geworden, den Commynes ins Zentrum stellt. Er selbst aber hat aus einem in der Forschung umstrittenen, letztlich ungeklärten Grund202 zwischen den feindlichen Vettern das Lager gewechselt und ist vom Begleiter Karls der Vertauensmann und Diplomat Ludwigs geworden. Wahrscheinlich sind viele seiner ›machiavellistisch‹ klingenden Weisheiten auch unter dem Aspekt einer Selbstrechtfertigung gegen den Verdacht unritterlichen Verrats zu interpretieren. Denn die Geschichte, die er erzählt oder konstruiert, hat ihm immerhin darin Recht gegeben, daß er ein sinkendes Boot mit einem in seinen Augen wahnwitzigen Steuermann rechtzeitig verlassen hat. Eindeutig geht jedenfalls aus seinen oft schonungslos realpolitischen Erwägungen hervor, daß der Herzog von Burgund vor allem deshalb Leben und Reich verloren hat, weil er alles auf eigene Faust unternahm und seinen Ratgebern mißtraute, während der französische König im Wesentlichen dank kluger Berater und Gesandter vom Schlage des Autors erfolgreich war.203 Allerdings war er dies nur so lange, als er auch auf sie hörte. Vor der Ankunft und nach der Verabschiedung Commynes beging er, folgt man den Memoiren, einige derselben Fehler eigenmächtiger Phantasiepolitik wie sein Gegner.204 Wenn es zwischen Machiavelli und Commynes eine unbestreitbare Parallele gibt, die zugleich der neuen Gattung ›Memoiren‹ ein Stigma aufdrückte, so liegt sie darin, daß beide erst dann Reflexionen über Regierungskunst schrieben, als sie im unfreiwilligen Ruhestand keinen realen Einfluß mehr darauf hatten, aber we201
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Jean Dufournet, Philippe de Commynes. Un historien à l’aube des temps modernes, Bruxelles 1994, S. 30–33 unter der Überschrift: »La remise en question du récit historique«. Gegen frühere liberal-republikanisch oder burgundisch-regionalpatriotisch gefärbte sowie psychologistische Unterstellungen entweder schnöder Untreue oder politischer Weisheit gibt Blanchard (wie Anm. 200), S. 13ff., 29–70, bes. 43ff. die m.E. plausibelste Erklärung aus Indizien der Memoiren: Die Gefangennahme Ludwigs XI. in Péronne, ein ›Majestätsverbrechen‹ des burgundischen Herzogs (s. unten S. 58f.) war für Commynes der traumatische Wendepunkt einer immer unerträglicher werdenden Kette von Gewalttägigkeiten und Wirren seit den Attentaten von 1407 und 1419. Für die Wiederherstellung der Ordnung bot die konstruktive Persönlichkeit des Königs, zugleich als legitimer Vertreter der Zentralgewalt und als Spitze der Lehenshierarchie, eher Gewähr als der waghalsig aufstrebende Herzog. Dieses, wie es scheint, nicht nur eigennützige Motiv schließt freilich das Bedürfnis, gegen den bestehenden Verratsverdacht apologetisch anzuschreiben, keineswegs aus. Dufournet, Philippe de Commynes (wie Anm. 201), S. 56ff. Ders., La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 260ff.
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nigstens noch durchblicken lassen konnten, wie segensreich ihre Mitwirkung hätte sein können.205 Als Quintessenz der Memoiren könnte man zwei berühmte auf Ludwig bezügliche Stellen hervorheben:206 »Bei ihm wie bei allen anderen Fürsten, … denen ich gedient habe, habe ich Gutes und Böses kennengelernt, denn sie sind alle Menschen wie wir. Gott allein ist vollkommen. Lobenswert sind sie, wenn die guten Eigenschaften (vertus) gegenüber den Fehlern (vices) überwiegen.« – »Es ist gut zu wissen, daß kein Fürst so weise ist, daß er nicht manches Mal, sehr häufig jedoch, wenn er lange lebt, Fehler macht (qu’il … faille). So stünde es auch um ihre Heldentaten, wenn man darüber die Wahrheit sagte. Die größten Senate und Konsuln, die es je gegeben hat und gibt, haben in der Tat geirrt und irren, wie man es gesehen hat und jeden Tag sieht.« Fehler sind also gewissermaßen das natürliches Element der Fürsten, über das sich nur wenige, die gut beratenen, erheben.207 Commynes lobt den König vor allem dafür, daß er le sens naturel bon,208 d.h. ›gesunden Menschenverstand‹ hatte, der es ihm erlaubte, eigene Fehler, die er in Glückszeiten leichtfertig und übermütig begangen hatte, danach, in Zeiten der Not einzusehen und wieder gut zu machen, weil er erst dann bereit war, auf kluge Ratgeber zu hören.209 Gerade im Zusammenhang mit einer Fehlentscheidung Ludwigs preist Commynes seinen Herrn als ung des plus saiges hommes et des plus subtilz qui ait regné en son temps und betont, sich selbst wiederholend, daß er diesen Irrtum nicht aus mangelndem Verstand beging, non point de la faulte de son sens, car il estoit bien grant, comme j’ay dict, sondern weil Gott es so wollte.210 Das Lernen aus unvermeidlichen Fehlern macht also die wahre Größe des Fürsten aus, eine wesentlich intellektuell bestimmte, die »Größe der Weisheit und Schlauheit«. In der immer wieder neu entfalteten Synkrisis der beiden Prot205
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Vgl. dazu die Schlußpartie des Beitrags von Valentin Groebner; Burke, The Fortune of the Courtier, S. 36 vergleicht auch Castiglione unter dem Aspekt der »Kompensation praktischer Enttäuschungen durch Theorie« mit Machiavelli. Vgl. Blanchard (wie Anm. 200), S. 198–203; Commynes, Mémoires, Prologue (wie Anm. 192), S. 45: En luy et tous aultres princes que j’ay congneuz ou servis, ai congneu du bien et du mal, car ilz sont hommes comme nous : à Dieu seul appartient la perfection. Mais quant en ung prince la vertu et les bonnes condictions precedent les vices, il est digne de grant louange. Ebd., V 13, S. 332: Car il est bon à penser qu’il n’est nul prince si saige qu’il ne faille aucunes foiz, et bien souvent, s’il a longue vie, et ainsi se trouveroit de leurs faictz, s’il en estoit dit tousjours la vérité. Les grands senatz et conseilz qui aient jamais esté ne qui sont, ont bien erré et errent, comme il c’est veu et veoit chascun jour. Auch hier sind die moralischen und zweckrationalen Aspekte des ›Fehlers‹ ungeschieden. Zu errare/ peccare humanum est s. oben S. 15f. Zur historiographischen Tradition des entheroisierenden Motivs von der »Mittelmässigkeit der Großen» vgl. Kortüm, S. 2ff. und oben Anm. 135. Mémoires, II 6, S. 138; V 13, S. 332. Ebd., V 13, S. 331f. Ebd., I 10, S. 90–92; I 12, S. 99; vgl. Dufournet, Philippe de Commynes (wie Anm. 201), S. 30–33.
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agonisten, ist Karl der Kühne (gelegentlich bis zur Karikatur) die vollständige Umkehrung dieser Qualitäten. Unverbesserlich rollt er auf der einmal gewählten Bahn weiter ins Verderben, weil er nur seinem eigenen »Sinn« folgt, und verirrt sich immer mehr in dem selbst gestrickten Netz großer Pläne. Er ließ sich mehr von der Einbildung (cuidier) und vom »Willen« treiben als von der Vernunft, hatte grans fantaisies en sa teste und plus estoit embrouillé et plus s’embrouilloit.211 Als er nach der demütigenden Niederlage gegen die Schweizer Bauern in äußerste Not geriet, verlor er vollends den Verstand und wurde für jeden vernünftigen Ratgeber unansprechbar.212 Denn, wie Commynes stereotype, merkwürdig zwischen konventionell christlichem Diskurs und Schicksalsglauben schwankende Formel lautet: »Gott hat ihn verblendet«, »seinen Verstand verdunkelt«, »ihm die Einsicht geraubt.« 213 211 212
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Mémoires, I 12, S. 99 (zitiert in Anm. 213); ebd., IV 1, S. 231; IV 2, S. 237. Ebd., V 5, S. 305–309; vgl. Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 119–123; Joël Blanchard, Mélancolie et »récréation«, Implications médicales et culturelles du loisir des princes à la fin du Moyen Age, in: Ders. / Ph. Contamine (Hgg.), Représentation, pouvoir et royauté à la fin du moyen âge, Paris 1995, S. 199–211, hier 207ff. Vgl. Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 119–124. Darin unterscheidet sich Commynes Diktion von Chastellains stärker antikisierendem Stil. Selbst der zurückhaltend verwendete Fortuna-Begriff wird durch die Formel von der »göttlichen Verblendung« korrigiert, in Mémoires I 12, S. 99: Et depuis que ledit conte … ut esté … duc de Bourgogne, et que la fortune, ou ce que on y appelle, l’eust mis plus hault que ne fut jamais homme de sa maison … , Dieu le sousfrit cheoir en ceste gloire, et tant luy diminua du sens qu’il mesprisoit tout aultre conseil du monde sauf le sien seul. Noch deutlicher ebd., IV 12, S. 279f.: Que dirons nous icy de Fortune? … Il laut bien dire que ceste tromperesse l’avoit regardé de son mauvais visaige. Il fault respondre que Fortune n’est riens fors seullement une fiction paincte, et qu’il failloit que Dieu l’eust abandonné … ; zum Verblendungsmotiv vgl. überdies ebd., IV 2, S. 237: Le duc … se trouvoit obstiné, et luy avoit Dieu troublé le sens et l’entendement, oder ebd., IV 7, S. 255: ce royaulme estoit en grand dangier si Dieu n’y eust mis la main; lequel dispousa le sens de nostre Roy à eslire saige parti, et troubla celuy du duc de Bourgogne, qui fit tant d’erreurs. … en ceste matiere qu’i tant de fois avoit desiré; ebd., V 19, S. 366f., eine Meditation über Karls Niederlage durch die Schweizer: Gott hat ihn verblendet, mit dummen Ratgebern versehen und ihm einen Feind erstehen lassen, »an den er niemals gedacht hat« (vgl. dazu auch ebd., V 1, S. 292f. unten in Anm. 299). Gerade dieses Kapitel lässt keinen Zweifel am traditionellen religiösen Erklärungsmuster zu: Hauptsächlich durch verbreiteten »Glaubensmangel«(faulte de foy) ist Gott geradezu genötigt, die Menschen mit Dummheit zu schlagen. Unter dem Aspekt der durch höhere Kräfte eingeschränkten Handlungsautonomie oder Eigenverantwortung jedoch hat Commynes Gottesbegriff weniger theologische als ›archaische‹ Züge, die von Ferne an die griechische ate erinnern. Direkte göttliche Einwirkung auf menschliche Verstandestätigkeit und Motivation bestimmt auch hier das tragische Geschehen. Vgl. Bremer, S. 99ff. zum kulturgeschichtlichen Wandel von der homerischen ate zur aristotelischen hamartia; oben S. 47f. zur Verbreitung einer oft eher dekorativen Fortuna-Vorstellung am burgundischen Hof (etwa bei Chastellain oder Olivier de la Marche), die Commynes durch die sinnstärkere der »Intervention Gottes« ersetzt; dazu vgl. Wolfgang J. Meyer, Erlebte Geschichte. Möglichkeiten ihrer Darstellung am Beispiel der Memoiren Philippe de Commynes, München 1977, S. 184–191.
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Was Commynes unter dem sens bon (einer Vorform des bon sens) versteht, geht am besten aus dessen Gegenbegriffen bestialité und folie hervor, mit denen er zwei Aspekte des ritterlichen Ehrencodes kritisch beleuchtet: die Bildungsverachtung und die Ideologie der ehrenhaften vaillance. In seiner Verwendung von bestialité und beste klingen die im späteren Französisch getrennten Bedeutungen von ›Tier‹ und ›Dummkopf‹ noch zusammen.214 Gott, sagt er einmal,215 hat das Fürstenamt nicht für bestes eingesetzt, nicht für Leute, die sich selber rühmend sagen: Je ne suis point clerc. Anders der französische König, der »ziemlich gebildet« war, der gerne fragte und sich belehren ließ, weil er eben den sens naturel parfaictement bon hatte. Dieser sens aber geht allen anderen Wissenschaften voran, und von ihm stammt jedes nützliche Buch des Erfahrungswissens und der Vergangenheitserinnerung (subintende wie das vorliegende). – Auf der anderen Seite ist Furchtlosigkeit als Prinzip eine große follie, obwohl Fürsten glauben, dadurch höchsten Ruhm zu erlangen, und von Schmeichlern in diesem Wahn noch bestärkt werden.216 Schon der bloße Gedanke an die Möglichkeit, sich durch eine bestimmte Entscheidung den Ruf der Feigheit zuzuziehen, kann ein strategischer Fehler sein.217 Keine Unehre sei es, mit Maßen argwöhnisch, souspeçonneux zu sein, aber »es ist große Schande, betrogen zu werden und aus eignem Fehler zu verlieren.« Schämen sollten sich Fürsten, wenn sie in blindem Vertrauen auf einen gegebenen Eid oder ein freies Geleit in die Falle gehen und hinterher noch glauben, sich mit einem Je ne pensoye pas que telle chose advint entschuldigen zu können.218 Erröten sollten sie über ihre historische Unbildung, denn dank »der alten Geschichten« (vielleicht eine weitere Anspielung auf das livre de mémoire) ließe sich genug aus frauldes et tromperies et parjurements lernen, 214 215 216
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Zu diesem Schlüsselbegriff vgl. Dufournet, Philippe de Commynes (wie Anm. 201), S. 57ff. Mémoires, II 6, S. 137f. Ebd., III 6, S. 193: les princes que jamais n’ont craincte ne doubte de leurs ennemys et le tiendront à honte; et la pluspart des serviteurs soubstient leur opinion pour leur complaire, et leur semble qu’ilz en seront prisez et estimez et qu’on dira qu’ilz auront courageusement parlé. Je ne scay que on dira devant eulx, mais les saiges tiendront telles parolles à grand follie; et est honneur de craindre ce que l’on doyt et de y bien pourveoir. Zu diesem Thema (»La peur et la raison du politique«) vgl. Blanchard (wie Anm. 200), S. 173–203. Mémoires, II 13, S. 160: Mon avis est que, s’il [le Roy] eust voulu s’en aller ceste nuyt, il eust bien faict; … mais, sans nulle doubte, là où il avoit de l’honneur, il n’eust point voulus estre reprins de couardise. Ebd., V 8, S. 318 zur Weigerung Karls des Kühnen, seinen Ratgebern zu folgen und sich in gefährlicher Lage zurückzuziehen: Il choisit le pire parti, et avecques parolles d’homme insensé delibera d’attendre. Genau das, was etwa Rolands Heldentat in Roncesvaux bestimmte, der Verzicht auf eine notwendigen Maßnahme (den Hilferuf) aus Rücksicht auf eine Reputationseinbusse, gilt hier als sinnlose Überschätzung ritterlicher fama; vgl. oben S. 12. Ebd., III 5, S. 190: c’est grand honte d’estre trompé et de perdre par sa faulte: car les souspessons se doibvent prendre par moyen, car l’estre trop n’est pas bon. Vgl. auch Dufournet, Philippe de Commynes (wie Anm. 201), S. 59.
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die stets und überall geherrscht hätten.219 In dieser trügerischen Welt komme es nicht darauf an, groß zu erscheinen, sondern zu gewinnen.220 Wenn wir von Ludwig XI. lesen, daß er assés craintif de sa propre nature war und aus Furcht »nie etwas dem Zufall überließ«, so klingt dies wie eine Verteidigung des von anderen nach ritterlichem Code der Unberechenbarkeit, Hinterhältigkeit und Wortbrüchigkeit beschuldigten Königs.221 Doch Commynes betont, daß Ludwig erst aus bitteren Erfahrungen schlau geworden sei.222 In diesem Sinn stilisiert er dessen Begegnung mit Karl dem Kühnen in Péronne 1486 zu einem traumatischen Wendepunkt, zum schlimmsten, aber auch lehrreichsten Unfall in der königlichen Biographie.223 Der König traf sich dort im Vertrauen auf die zugesagte Sicherheit mit dem Herzog zu persönlichen Friedensverhandlungen. Doch er hatte dabei »vergessen« – merkwürdige Zerstreutheit! –, daß er kurz zuvor seine Gesandten angewiesen hatte, die Lütticher Bürger gegen die burgundische Herrschaft aufzuwiegeln, was denn auch geschah, dieweil er in Péronne verhandeln wollte. Als der Herzog von den Lütticher Umtrieben Wind bekam, geriet er außer sich (bien fort esbaÿ fut), ließ den König kurzerhand einschließen und zwang ihn, in demütigender, ja lächerlicher Weise selbst an der militärischen Niederschlagung des Aufstands teilzunehmen, den er angezettelt hatte.224 Commynes, der damals noch im Dienste Karls Zeuge dieses Vorfalls wurde, nahm ihn zum Anlaß einer ausführlichen digression voller historischer Parallelen über den grundsätzlichen Unsinn, die grande folie solcher Fürstentreffen, die aus verschiedenen Gründen ihr Ziel stets verfehlt hätten, insbesondere wegen der öffentlichen Auffälligkeit selbst persönlicher Begegnungen und des prestigegefährdenden Geredes im Gefolge der Herrscher.225 Ich gehe nicht darauf ein, da der Beitrag von Guy Marchal speziell diesem Thema gewidmet ist, und möchte nur ergänzen, daß ein Hauptmotiv der Kritik Commynes’ ein pro do219 220 221
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Ebd., S. 193 und Mémoires, II 6, S. 137. Zu dieser Kritik der Vertrauensseligkeit aufgrund des Risikos sozialer Blamage ist lesenswert Luhmann, Vertrauen, S. 38–46. Mémoires, IV 4, S. 244: Ceste gloire luy coustoit bien cher, car qui a le prouffit de la guerre, il en a l’honneur. Ebd., I 10, S. 91; IV 1, S. 234; vgl. auch III 12, S. 224: Et tenoit le Roy pour homme craintif; et estoit vrai que par temps il [l’] estoit, mais il falloit bien qu’il y eust cause. … car il congnoissoit bien s’il estoit temps de craindre ou non. Vgl. Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 309–334, 437f. Mémoires, I 10, S. 92. Ebd., II 5, S. 132–136 und II 7, S. 139–141; vgl. Dufournet, Philippe de Commynes (wie Anm. 201), S. 42ff., 217ff. Die oben S. 55 angeführten Stellen aus der Digression II 6, S. 137–139 über das Lernen aus Fehlern beziehen sich auf diesen Vorfall. Die demütigende Seite der Szene wird nicht von Commynes, sondern von burgundischen Chronisten hervorgehoben; vgl. Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 282. Danach soll der König das Andreaskreuz auf seinem Kleid getragen und den burgundischen Kriegsruf ausgestoßen haben, während die belagerten Lütticher vive le roi de France riefen.
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mo- Argument darstellt, das etwa besagt: In Péronne ist der König endlich durch Erfahrung klug geworden, hat gelernt, sich nicht furchtlos auf die eigene Interaktionskompetenz zu verlassen, sondern »weise Diener«, professionelle Diplomaten mit geheimen Verhandlungen und Konfliktlösungen zu betrauen. Denn diese vergessen oder übersehen nichts, trauen niemandem und lassen sich vom Glanz der Erscheinungen nicht blenden.226 Commynes bewunderte auch auf politischem Feld die bürgerlich-merkantilen Talente der reisenden Kaufleute seines Herkunftslands Italien: Vorsicht, List, Unauffälligkeit und weltmännische Anpassungsfähigkeit in fremder Umgebung.227 Er suspendiert gelegentlich mit leicht zynischem Akzent den Glauben an das Sakralkönigtum und die heiligen Werte des Rittertums und zeigt oft unverhohlene Abneigung gegen das, was Chastellain so gern verherrlicht, er aber als unnütze feste bagatellisiert: feierliche Zurschaustellung, rituelle Repräsentation, Zeremoniell. Er macht sich insbesondere ein boshaftes Vergnügen daraus, die Prätentionen Karls des Kühnen an Beispielen prunkvoller Ostentation der Lächerlichkeit preiszugeben.228 Daraus ergibt sich von selbst, daß seine Vorstellung vom Fehltritt gelegentlich eher dem Schwank als der Schicksaltragödie entspricht, mit dem Unterschied freilich, daß er seine Beispiele aus der Realität nimmt und die durchaus tragischen Folgen lächerlichen Leichtsinns ernst nimmt.229 Einerseits bezieht er sich auf Pannen adeliger Selbstinszenierung, andererseits auf solche der Strategie und Überlistung, d.h. auf ›betrogene Betrüger‹. 225
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Mémoires, II 8, S. 142–146; Blanchard (wie Anm. 200), S. 180ff.; Dufournet, Philippe de Commynes (wie Anm. 201), S. 238ff. und vor allem die hauptsächlich auf Commynes gestützte Arbeit von Philippe Contamine, Les rencontres au sommet. Zu der schon im früheren Mittelalter thematisierten Gefährlichkeit von »Gipfeltreffen« vgl. Fuhrmann, S. 24ff. Vgl. Marchals Beitrag; die Bemerkung (S. 121), daß es trotzdem immer wieder Herrschertreffen gegeben habe, an denen Commynes beteiligt war, weist auf ein Problem der Erzählperspektive: Commynes verbindet zwar seine kritische Meditation mit dem frühen Ereignis von Péronne, aber er folgt nicht wie ein Chronist allein dem chronologischen ordo naturalis ; wenn er, wie hier, theoretisch argumentiert, stellt er aus späterer Gesamtsicht sämtliche Gipfeltreffen, insbesondere auch das von Picquigny (s. unten nach Anm. 230) als plus dommagable que profitable dar; vgl. Blanchard (wie Anm. 200), S. 232ff.; Contamine, Les rencontres, S. 274f. Blanchard (wie Anm. 200), S. 60ff., 257ff. Ebd., S. 139, 180ff.; Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 435– 438 und passim; Ders., Philippe de Commynes (wie Anm. 201), S. 43f., 241ff., insbesondere zu Karls mißratenem Auftritt vor dem Kaiser in Trier, den auch Marchal in seinem Beitrag (nach Anm. 53) erwähnt. Auf diesen Unterschied läßt sich beziehen, was Mary Douglas, S. 186 von der ›modernen‹ Mentalität im Gegensatz zur symbolisch konstruierten sagt: Wo der persönliche Erfolg als Hauptwert gelte, gebe es »keine Sünde, sondern nur die Dummheit. Die Menschheit besteht aus den Dummen und den Gescheiten«. Miller, Humiliation, S. 199ff.: heroische Schamkultur und höfische Verlegenheitskultur stehen sich wie Tragödie und Komödie gegenüber.
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Für letzteres sind einige Episoden von Interesse, die insgesamt eine besondere Schwäche des Königs beleuchten: dessen unwiderstehliche Lust am Reden und Scherzen. Ludwig XI. war legier à parler de gens, et aussi tost en leur presence que en leur absence, einfacher gesagt: ein Lästermaul und Spötter. Er habe erkannt, daß er damit ganz unnötig viele Leute gegen sich aufbringe, und habe den Fehler – freilich ohne großen Erfolg – zu bekämpfen versucht. Wenn er jedoch jemandem durch Reden geschadet habe, so habe er es stets bereut und sofort alles getan, um Schadenersatz zu leisten.230 Illustriert wird dies durch einige Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem Friedensschluß von Picquigny 1475 zwischen dem französischen und dem englischen König, der den Hundertjährigen Krieg beendete, die Engländer gegen Tributzahlung vom nordfranzösichen Boden entfernte und überdies die burgundische Liga empfindlich schwächte. Ludwig war überzeugt, damit Eduard IV. übervorteilt zu haben, durfte sich aber die Freude nicht anmerken lassen, da im anderen Lager Gegenkräfte das Abkommen mit dem Ehrenargument zu hintertreiben suchten, die Franzosen hätten sich mit schnödem Geld und Geschenken »über den englischen König lustig gemacht.«231 Dennoch leistete sich Ludwig im Übermut einige verbale Ausrutscher, die dieser Deutung gefährlich hätten Vorschub leisten können, wären sie nicht noch rechtzeitig entschärft worden. Bereits bei einer Plauderei unmittelbar nach dem Friedensschluß lud er Eduard IV. lachend nach Paris ein, damit er sich dort vor der Rückkehr ins Inselland noch ein wenig mit französischen Damen vergnüge, und versprach ihm einen gegen Lustsünden besonders toleranten Beichtvater zu bestellen.232 Der Angesprochene nahm wider Erwarten die scherzhafte Einladung beim Wort und zeigte sich »mit großem Vergnügen« zur Reise bereit. Nur dank der Anwesenheit Commynes sei es im letzten Augenblick gelungen, unter dem Vorwand dringenderer Geschäfte des französischen Königs Eduard IV. von dem galanten Abstecher abzuhalten.233 Nach moderner Interaktions-Theorie lägen hier gleich zwei Fauxpas vor: auf der einen Seite ein ›zu weit gehender‹, ein anzüglicher Scherz in einer Feierstunde, auf der anderen das Ernstnehmen einer Ironie, einer fiktiven, nicht wirklich gemeinten Einladung.234 Der Berichterstatter sieht jedoch darin nur ei n en Fehler: nicht die Zungensünde, sondern die überflüssige Redseligkeit und deren konkrete politische Gefahr: Der »schöne« englische König hätte sich mit seiner Vergügungsreise auf Kosten Ludwigs allzu beliebt machen und dabei Lust empfinden können, bald wieder nach Paris zu kommen.235 Im selben Kontext steht eine zweite, von Commynes ausdrücklich als »amüsant« (plaisante) bezeichnete Geschichte, die ihm dennoch zu einer Re230
Mémoires, I 10, S. 91f.; vgl. auch Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 273–275 zur Redseligkeit des Königs. Eine erwägenswerte Diagnose dieses Verhaltens gibt Marie-Thérèse Kaiser-Guyot, Louis XI. Un cas d’alcoolisme au XVe siècle?, in M-A 106 (2000), S. 101–136, bes. 126–128.
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flexion über die leidige königliche Plaudersucht Anlaß gab. »Vor nichts auf der Welt«, beginnt er, »hatte der König größere Angst gehabt als davor, daß ihm irgendein Wort entschlüpfte, aus dem die Engländer entnehmen konnten, daß er sich über sie lustig mache.«236 Er meinte tatsächlich, sie mit dem Abkommen von Picquigny, das dem Krieg durch ein Tauschgeschäft ein Ende bereitete, hereingelegt zu haben, wollte dies aber um jeden Preis verbergen. Doch schon am nächsten Tag nach dem Friedensschluß, als er sich mit weni231
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Mémoires, IV 10, S. 275. Zum Affront durch zu große oder zu geringe Geschenke und zum Risiko der Zurückweisung, da die Art des Gebens Einschätzung der Ranghöhe des Beschenkten offenbart, s. Miller, Humiliation, S. 15ff., 48. Diesen Aspekt des Fehltritts beim Schenken könnte man zu Groebners Beitrag in diesem Band noch ergänzen. – Trotz der hier zu untersuchenden Verwirrungen, die mehr die Begleitumstände als das Fürstentreffen selbst betreffen, beleuchtet Commynes in diesem Bericht (IV 10) gewiß auch die positiven Seiten des Ereignisses von Picquigny, insbesondere die vorbildlichen, zum Friedensvertrag führenden organisatorischen Vorbereitungen, nur schon weil er selbst daran beteiligt war, doch in der erwähnten digression II 8, S. 145 verschont er auch diese Fürstenbegegnung nicht mit seiner Generalkritik: Je me trouvay present à l’assemblée qui se fit à Picquini … Il se tint peu de choses qui y furent promises. Ils besongerent en dissimulation et n’eurent plus de guerre (aussi la mer estoit entre deux), mais parfaicte amytié n’y eust il jamais. Marchal vergleicht in seinem Beitrag die anscheinend widersprüchlichen Äußerungen Commynes in Mémoires II 8 und IV 10 und kommt zu dem Schluß (nach Anm. 85): »Nachher, im ›Außenraum‹, wenn das Ritual vorbei ist, dann kommen die Erinnerungen an Fehltritte wieder hoch, die im ›Innenraum‹ ignoriert worden waren.« So wichtig ich dieses Axiom in ritualtheoretischer Hinsicht finde (s. unten Anm. 273 und den Beitrag groebners in diesem Band), so kann es hier doch nicht punktuell auf die Textinterpretation angewandt werden: Commynes schreibt schließlich beide Stellen aus einer viel späteren Sicht, beide gewissermaßen im ›Außenraum‹ der Erinnerung, doch das eine Mal als Berichterstatter, das andere Mal als politischer Theoretiker. Unter diesem Aspekt würde ich die Metapher eher umkehren. In IV 10 berschreibt er die ›Außenseite‹ des Erfolgs, den er in II 8, ›von innen betrachtet‹, auf eine vorübergehende und trügerische Konfliktlösung reduziert: »Wenig wurde von dem gehalten, was dort versprochen wurde.« In diesem Zusammenhang ist das von Dufournet seinem Buch ›La destruction des mythes‹ vorangestellte Motto besonders erwägenswert: »Si attentif que soit un écrivain à rapporter ce qu’il a vu, son récit n’en reste pas moins un ensemble de signes qui renvoient à une réalité, et non cette réalité même. A fortiori lorsque le narrateur se propose … de séduire« (B. Pinguaud). Mémoires, IV 10, S. 268: Après le serment faict, nostre Roy, qui avoit la parolle bien à son commandement, commença à dire au roy d’Angleterre, en se riant, qu’il failloit qu’il vint à Paris, et qu’il le festoieroit avecques les dames, et qu’il luy bailleroit monsr le cardinal de Bourbon pour confesseur (qui estoit lâ), qui l’assouldroit tres voulentiers de ce peché, s’aulcun il en avoit commis. Le roy d’Angleterre le print à grand plaisir, et parloit de bon visaige, car il scavoit bien que ledit cardinal estoit bon compaignon. Die Bemerkung, daß der König seine Zunge in dieser Szene beherrschte, verstehe ich adversativ zu dem, was danach trotzdem geschah. Der ganze Kontext des Kapitels IV 10 handelt u.a. von den Anstrengungen des Königs, sich vor unbedachten Äußerungen in acht zu nehmen, und von deren Mißerfolg. Ebd., S. 269f.: le plus saigement que l’on peult, on rompist ceste entreprise, disant qu’il failloit que le Roy partist à grand diligence pour aller contre le duc de Bourgongne. Vgl. Beetz, S. 137; Saccone, Le buone e le cattive maniere, S. 52. Anm. 235–236 s. nächste Seite
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gen Höflingen allein glaubte, »entwischte ihm ein spöttisches Wort über die Weine und Geschenke, die er ins englische Lager geschickt hatte.« Als er sich umwandte, bemerkte er einen gasconischen Kaufmann, der in England wohnte und gerade gekommen war, um eine Zollbefreiung für einen Weintransport zu erbitten. »Unser Herr war sehr erschrocken (esbaÿ) und wußte nicht, wie er (der Fremde) hereingekommen sein konnte.« Die Lage war peinlich und überdies ausgesprochen gefährlich. Wenn der mit einer Engländerin verheiratete Gascone jenseits des Kanals etwas vom Gehörten ausplauderte, wäre es vielleicht um das Abkommen von Picquigny geschehen gewesen. Nach unserem Verständnis hätte der König für seine Späße einen diskreteren Ort wählen oder wenigstens die Tür hinter sich schließen müssen. Commynes scheint jedoch selbstverständlich davon auszugehen, daß es für Könige keine rein privaten Räume gibt.237 Zungenbeherrschung hält er also in jedem noch so sicher scheinendem Gemach für geboten. Doch nicht ohne Ironie berichtet er dann, wie schlau der König sich aus der Schlinge zu ziehen wußte. Er verschaffte dem Gasconen ein schönes Amt in Bordeaux, erlaubte ihm die Weinausfuhr, zahlte überdies tausend Franken bar, damit er seine Frau kommen lasse, und erreichte auf materielle Weise, daß er nicht nach England fuhr und dort keinen politischen Schaden anrichtete. Die Lektion war teuer bezahlt, wie Commynes abschließend bemerkt: Et ainsi le Roy se condempna en ceste admande, congnoissant qu’il avoit trop parlé. An anderer Stelle läßt er den König dasselbe in direkter Rede sagen:238 Je scay bien que ma langue m’a porté grand dommaige, aussi m’a elle faict quelques foiz du plaisir beaucoup; toutesfois c’est raison que je repare l’amende. Alles geht hier in eine Kosten-Nutzen-Rechnung ein. Auch wenn das Vielreden Ludwig gelegentlich Spaß gemacht hat, so ist es im Verhältnis zum Aufwand der réparation doch unökonomisch, ein Energieverschleiß.239 Was wir unter einem Fehltritt verstehen, wird zwar anschaulich dargestellt. Die unerwartete Entlarvung eines sich sicher wähnenden Lügners, der Zusammenbruch einer Klatschszene durch das plötzliche Hinzutreten des Klatschob235
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Mémoires, IV 10, S. 269: Comme le Roy se retira de ceste veue, parla à moy … Il trouva le roy d’Angleterre si prest à venir à Paris que cela ne luy avoit point pleu; et disoit: »C’est ung tres beau roy; il ayme fort les femmes; il pourroit trouver quelque affectée à Paris, qui luy scauroit bien dire tant de belles parolles qu’elle luy feroit envye de revenir«. Vgl. Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 438. Mémoires, IV 10, S. 271: Il n’estoit rien au monde dont le Roy eust plus grand paour que ce qu’i luy eschappast quelque mot par quoy les Angloys pensassent que on se moquast d’eulx. Vgl. Kamp, Philippe de Commynes und der Umgang mit der Öffentlichkeit, S. 687–716, 692ff.; oben S. 45 bei Chastellain ein andereres Beispiel. Vgl. Guillaume (wie Anm. 161), S.7ff. zu dem im französischen Königtum vor dem 16. Jh. geringen Interesse an der Trennung von öffentlich zugänglichen und privaten Gemächern. Mémoires, I 10, S. 91. Vgl. Blanchard (wie Anm. 200), S. 279f.
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jekts (oder auch nur dessen Parteigängers) gehören bis heute zu den typischen Fauxpas-Situationen.240 Es gibt nichts Peinlicheres, als der selbstverschuldete Einsturz einer Fassade, der uns zeigt, wie wir wirklich sind und den anderen recht gibt, die uns immer schon so gesehen haben.241 Aber solches fällt aus der Optik Commynes heraus, weil er die Panne einer ganz anderen, einer wesentlich zweckrational-instrumentellen Kategorie unterstellt: Im Kampf, der nicht mit ritterlichen Waffen, sondern mit bürgerlichen Täuschungen geführt wird, ist das unbedachte Scherzwort ein falscher Schachzug und sein kurzer Lustgewinn barer Luxus. In der Mißtrauenskultur der Kaufleute und Diplomaten hat alles der Maneuvrierkunst (pratique) der Risikobegrenzung zu dienen.242 Der kleinste Fehler kann hier eine sorgsam aufgebaute Strategie mit einem Schlag zunichte machen. Der Fehltritt ermißt sich am Mißerfolg. Er erscheint weder als Normverletzung noch als unglücklicher Zufall, sondern gewissermaßen als technische Inkompetenz und unentschuldbare Dummheit.243 Dies kommt wohl nirgends deutlicher zu Tage als in der berühmten Paravent-Szene. Ludwig erscheint darin als der Gewinner schlauer ›Praktik‹, indem er andere zum Fehltritt unvorsichtigen Redens verlockt. Kurz vor den erwähnten englisch-französischen Einigungsprozeß gelang es ihm, einen wichtigen Störfaktor seiner Politik durch eine geradezu schwankhaft anmutende 240 241 242
243
Bergmann, Klatsch, S. 67. Dies ist ein Leitthema bei Miller, Humiliation (Demütigung durch ›deflation‹). Vgl. auch Schneider, S. 25ff., 35ff. Vgl. Blanchard (wie Anm. 200), S. 79–94, 183–185 ; zur adeligen Vertrauenskultur und bürgerlichen Misstrauens- und Listkultur vgl. Bachorski, Lügende Wörter, S. 356ff.; Valentin Groebner, Trügerische Zeichen. Practick und das politische Unsichtbare am Beginn der Neuzeit, in: Heinz-Dieter Kittsteiner (Hg.), Geschichtszeichen, Köln/Weimar/ Wien 1998, S. 49–66 und (freilich die Bedeutung des »civic humanism« für diesen Wandel übertreibend) Becker, Civility and Society, S. 43ff.; allgemein zum »Vorleistungsrisiko« in der nachmittelalterlichen Gesellschaft vgl. Luhmann, Vertrauen, S. 38ff.; Ders., Soziologie des Risikos. Geht man von dessen Unterscheidung von ›Risiko‹ und ›Gefahr‹ – absichtlich gewagte und von außen kommende, nicht von eigener Entscheidung abhängige Bedrohung – aus (Soziologie des Risikos), so verschiebt sich vom aristokratischen Mittelalter zur bürgerlichen Moderne auch die dominante Handlungsmotivation von ›kühner‹ Gefahrenbewältigung zum ›gewinnträchtigen‹ Risiko-Mangement, und als Kriterium für Mißerfolg ersetzt allmählich die zurechenbare Fehlkalkulation das Schicksal oder das schmähliche Versagen aus Feigheit; vgl. dazu auch oben Vorwort, Anm. 11; Hahn, Risiko und Gefahr, S. 50f. zur modernen Tendenz, »immer mehr Gefahren als Risiken zu interpretieren.« Zur bereits spätmittelalterlichen Aufwertung der kaufmännischen Risikobegrenzungstechnik vgl. Giovanni Ceccarelli, Le jeu comme contrat et le risicum chez Olivi, in: Alain Boureau / Sylvain Piron (Hgg.), Pierre de Jean Olivi (1248–1298), Paris 1999, S. 239–250. Zu dem von Habermas einseitig als spezifisch modern dargestellten Unterschied von kommunikativem und instrumentellem Handeln vgl. Dreitzel, Patterns of Communicative Behaviour, XIX. Commynes zeigt, daß diese ›Moderne‹ schon vor der Moderne beginnt; vgl. auch Anm. 228.
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List auszuschalten.244 Zwei Gesandte des notorisch zwischen ihm und dem Herzog von Burgund lavierenden Konnetabel von Saint-Pol ersuchten um eine Privataudienz an seinem Hof, an dem sich gleichzeitig auch ein burgundischer Edelmann zu Gesprächen aufhielt. Bevor der König die beiden Beauftragten Saint-Pols empfing, ließ er den Burgunder in Begleitung Commynes als Lauscher hinter einem Wandschirm verstecken. Die Diener des Konnetabel begannen nun, von den Bemühungen ihres Herrn zu berichten, den Herzog gegen die mit Burgund verbündeten Engländer einzunehmen, was so gut gelungen sei, daß der Herzog gegen Eduard IV. geradezu in Rage geriet. Der Redner »begann, da er glaubte, dem König damit zu gefallen, den Herzog von Burgund nachzumachen, mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen, beim heiligen Georg zu schwören und den König von England Sohn eines Bogenschützen zu nennen … und alle nur möglichen Spöttereien, die in dieser Welt über andere Menschen gesagt werden. Der König lachte sehr und sagte ihm, er möge laut sprechen, da er allmählich etwas schwerhörig werde, und er soll es nochmals sagen. Der andere zierte sich nicht und begann aus vollem Herzen nochmals von vorne.« Der burgundische Zaungast im Versteck aber war »so fassungslos (esbaÿ), daß er das Gehörte, hätte man es ihm erzählt, niemals geglaubt hätte.« Als er nach beendeter Audienz empört hinter dem Wandschirm hervorkam, brannte er darauf, zum Herzog zu eilen und ihm zu erzählen, wie man sich »über ihn lustig gemacht« habe. »Der König aber lachte und war bester Laune.« Er hatte Grund dazu; denn mit dieser Schwanknummer begann der keineswegs komische Abstieg des Konnetabels, den der König schon ein Jahr später und sogar im Einvernehmen mit Karl dem Kühnen als Verräter enthaupten lassen konnte. Auch auf den unglücklichen Saint-Pol läßt sich beziehen, was Commynes von dem ihn im Stich lassenden Herzog sagt : l’occasion pour faire une si grande faulte fut bien petite.245 Man mag Ludwigs Verhalten in der Paravent-Szene mit Dufournet für lächerlich »bourgeois« und »eines Königs unwürdig« halten246 oder mit Norbert Kamp dessen Vertrauensmißbrauch zu einer die Regel bestätigenden Ausnahme umdeuten, die beweisen soll, wie stark auch damals noch der Glaube an die Vertraulichkeitsgarantie bei Audienzen war;247 entscheidend ist daran vielmehr, was Commynes mit diesem ridiculum selber sagen wollte: Der kluge König hat stümperhafte Gesandte hereingelegt, die sich vertauensselig auf hergebrachte Rituale verließen und überdies geradezu nach unserer Fehltritt-Definition vorgingen: Displicere solet insipiens unde credidit plus placere. Commynes hat für die Überlistungskunst Ludwigs an dieser Stelle zweifellos nur Lob übrig, auch wenn er es zwischen den Zeilen und mit einem 244 245 246 247
Mémoires, IV 8, 258f.; s. auch die Analyse von Kamp, S. 701ff. Mémoires, IV 13, 283 mit Bezug auf den Verrat Karls des Kühnen gegenüber Saint-Pol; vgl. auch Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), S. 115f. Ebd., S. 281f., Kamp, S. 702.
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gewissen Augenzwinkern für Eingeweihte vorbringt. Das feudale Treueideal scheint in diesem pessimistischen Diplomatendiskurs ein schon fast donquijotteskes Relikt besserer Vergangenheit darzustellen, das den grundbösen Realitäten der Zeit gegenüber ohnmächtig geworden ist und diese sogar noch verschlimmert, wenn Betrüger und Leichtgläubige sich darauf stützen.248
2.4
Komponenten des mittelalterlichen Fehltritts
Die wenigen ausgewählten Fallbeispiele stammen ausschließlich aus dem Diskurs der höchsten Gesellschaftsschicht, geben also keinen Aufschluß über viele gesamtgesellschaftlich wichtige Aspekte, die in einer umfassenden Theorie des vormodernen Fehltritts zu berücksichtigen wären. Um nur auf eine besonders auffällige Lücke unserer Texte wenigstens in Parenthese hinzuweisen, scheint darin der normative, sich an alle, auch die aristokratischen Glieder des Sozialkörpers richtende kirchliche Diskurs weitgehend ausgeblendet zu sein, obwohl er grundsätzlich quer oder in Konkurrenz zum Adelsdiskurs steht und derart für eine dynamisierende Dauerspannung im ›Zivilisationsprozeß‹ gesorgt hat. Die christliche Lehre kennt den Fehltritt im eigentlichen Sinne nicht und unterhöhlt grundsätzlich dessen Fundament, die Höchstrelevanz persönlicher und kollektiver Ehre, die ihn in gröberer Form als Kränkung und Demütigung, in feinerer als peinliche Konventionsstörung erscheinen läßt.249 Wenn es besser ist, sich vor den Menschen zu blamieren, als im Herzen und vor Gottes Auge zu sündigen, so wird der Mangel an Scham zu einem Prinzip, nicht als Schamlosigkeit (impudeur), sondern als Schamenthobenheit (apudeur).250 Die »Nachfolge des nackten Christus« verlangt vom Gläubigen, sich gegebenenfalls selbst dem Gespött auszusetzen, ohne sich zu schämen.251 Crucifixus est dei filius; non pudet quia pudendum est.252 Wer beleidigt wird oder sich beleidigt fühlt, bleibt mit den negativen Antworten des zivilisierten Menschen, wie dem Verzicht auf Vergeltung oder sogar dem taktvollen Wegsehen noch unterhalb des Vollkommenheitsanspruchs, dem 248
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Vgl. Dufournet, La déstruction des mythes (wie Anm. 192), bes. S. 115ff. Dieser Gegensatz von Täuschung und ritterlichem Ehrencode ist freilich Commynes persönliche Deutung der Zeitgeschichte. Nach Pitt-Rivers, S. 31 schließen Betrug und Ehre in vormodernen Gesellschaften sich nicht aus. In der mit höfischen Weisheitslehren durchsetzten Abschiedsrede (Ruodlieb, V 536–537, ed. B. K. Vollmann, Wiesbaden 1985, S. 109) gibt der König dem jungen Helden Ruodlieb an zentraler Stelle den Rat, Betrug durch Betrug zu vergelten: Qui si fallant te, decet ut fallantur et a te / nec famuleris eis totiens delusus ab illis. Solange die Absicht zur Aufrichtigkeit fehlt, ist Täuschung sogar ehrenhaft. Dies gilt nicht nur von der sogar in der Moraltheologie legitimierten Kriegslist. Vgl. die Beiträge von Arnold Angenendt und Achim Wesjohann in diesem Band; Turner, S. 140 zu Franz von Assisi: Als Extrem religiösen Virtuosentums, nicht der Alltagsmoral wird »Schamlosigkeit« zum Prinzip. Zur Perhorreszierung aller rein menschlicher Ehrbarkeit in der augustinischen Tradition vgl. oben Anm. 60. Zu diesem Unterschied s. Bologne, S. 19f., 161f. Anm. 251–252 s. nächste Seite
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erst die bewußt und persönlich hingehaltene »andere Wange« gerecht wird.253 Virtus est coram hominibus: adversorios tolerare, sed virtus coram deo: diligere.254 Nicht Unterbindung des »Rachezyklus« zur Rettung des sozialen Friedens255 ist hier das letzte Kriterium, sondern die antinomische Entwertung aller sozial-politischen Respektbalancen dieser Welt durch das Gewissen, die Verwerfung der acceptio personarum oder des respect humain um einer höheren Ordnung willen.256 Die damit in die Geschichte gesetzte Forderung oder vielmehr Überforderung hat die Verhältnisse nicht radikal verändert, aber Sand ins Getriebe des rituellen Ehrenmanagements gebracht und die Alltagsmoral der Tausch-Reziprozität von Wohltaten und Verletzungen mit heterogenen Elementen durchsetzt. Charakteristisch dafür sind paradoxe Überkreuzungen der Scham- und der Schuldkultur, der Vergeltungs- und Liebesordnung, die mehr geistlich oder mehr weltlich ausgerichtet sein können. So diente etwa die Angst vor Bloßstellung als Motivationsmittel christlicher Pädagogik,257 oder Normen der Bergpredigt verwandelten sich unmerklich in Regeln höfischer Gefälligkeit. In den angeführten Beispielen zeigt einzig dasjenige Ludwigs des Heiligen etwas von dieser Akkulturationsproblematik, weil Joinville darum bemüht ist, die religiöse Dimension der Sanftmut als eine zivilisatorische auszugeben und einem neuen aristokratischen Distinktionsideal dienstbar zu machen. Dieser Versuch, an sich Unvereinbares zu versöhnen, dürfte dafür sprechen, daß neben der in dieser Zeit beginnenden ›realpolitischen‹ Anstrengung des französischen Königtums, mehr Zentralgewalt am Hof zu institu251
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Vgl. Fritz, S. 178–191 zur Narrheit des Kreuzes; Beispiele aus der franziskanischen Spiritualität bei Turner, S. 10f.; vgl. Wesjohanns Beitrag in diesem Band sowie Ders., Simplicitas als franziskanisches Ideal und der Prozeß der Institutionalisierung des Mönchsordens, in: Gert Melville / Jörg Oberste (Hgg.): Die Bettelorden im Aufbau (Vita regularis 11), Münster 1999, S. 107–168; Isabella Gagliardi, Pazzi per Cristo. Santa follia e mistica della Croce in Italia centrale (sec. XIII–XIV), Siena 1998. Tertullian, De carne Christi V 1, ed. J. P. Mahé (Sources Chrétiennes 216–217), Paris 1975, S. 228. Interessant sind hierzu die von Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 383– 392 zusammengestellten moraltheologischen Urteile über die derisio, die beleidigende Schamerregung bei anderen durch Aufweis einer Lächerlichkeit (Thomas, Summa theol. II–II 75), weil darin das ridiculum des Fehltritts für alle daran Beteiligten zu einer negativen Kategorie wird: Der Spötter beweist Geringschätzung des gottebenbildlichen Menschen und damit Gottes selbst; das Opfer, das die Verlachung nicht nach dem Vorbild Christi in Würde schweigend erträgt, zeigt fatuitas und timiditas, weil es die Worte der Menschen mehr fürchtet als Gott; und die Zeugen einer lächerlichen oder peinlichen Situation sollen, statt zu lachen, die menschlichen Schwächen verzeihen, da wir alle Sünder sind. Vgl. aber auch unten Anm. 257 zu einer guten Form der derisio. Gregor d. Gr., Regula pastoralis, III 9, ed. F. Rommel [SC 382], S. 302. Vgl. Hahns Beitrag in diesem Band. Zur Überwindung der Ehre-Scham-Dialektik durch die christliche Intentionsethik vgl. in diesem Band grundsätzlich auch die Beiträge von Angenendt und Newhauser.
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tionalisieren258 und durch einen feineren Lebensstil zu symbolisieren, auch die Religion einen wesentlichen Anteil an der Domestizierung der feudalen Kriegerkaste hatte. Beide Tendenzen wirken– jedenfalls in der Umgebung Ludwigs IX. – zusammen und machen die Ambivalenz eines Fehlverhaltens aus, das merkwürdig zwischen der Unfähigkeit zur christlichen Aggressionstoleranz und einem Verstoß gegen den neuen, raffinierteren Code der prudhomie schillert. Doch dieser Sonderfall eignet sich nicht zu evolutionsgeschichtlichen Extrapolationen. Die anderen, viel späteren Beispiele aus der Welt des Hofes 259 zeigen vielmehr das, was wir als Fehltritt empfinden, immer noch in uneingeschränkt agonalen Kategorien. Den Rahmen bildet stets ein latenter oder offener Konflikt um Ehre oder Vorteil. Fern scheint nicht nur die religiös-höfische affabilitas des heiligen Monarchen, sondern auch der Nährboden moderner Fehltritte: die Geselligkeit als Markt für den Austausch scheinbar selbstzwecklicher Aufmerksamkeiten, die gerade die prekäre Unterstellung eines konfliktfreien Raumes und die Fiktion eines Verkehrs unter Gleichen zum Zweck haben.260 Der Kampf um Anerkennung und Überlegenheit wird 257
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Dies wäre ein wichtiges, an anderer Stelle eigens zu behandelndes Thema. Ein paar Zufallsbelege: Miller, Humiliation, S. 114ff. zeigt, wie in den altisländischen Sagas traditionelle Ehre-und Racheapekte keineswegs nahtlos mit christlichen Wertvorstellungen der Vergebung und des reinen Gewissens verbunden wurden. Michael E. Goodich, Violence and Miracle in the Fourteenth Century, Chicago 1995, S. 71–85 berichtet über Wunder, die nicht geistlichen Zielen, sondern einzig der Verhinderung von Schande und Infamie dienten. Zur geistlichen Instrumentalisierung der Scham gibt schon Gregor der Gr. den Ton an, wenn er Anmaßende durch die Entlarvung vermeintlicher Tugenden als Laster in eine utilis confusio zu versetzen empfiehlt (Regula pastoralis, III 8, ed. F. Rommel [SC 382], S. 291; vgl. auch den Beitrag von Richard Newhauser in diesem Band). Weitere Beispiele bei Gy (wie Anm. 72), S. 291f., Payen, Le motif du repentir, S. 550 und von Moos, Herzensgeheimnisse, S. 89ff.: Nicht nur die altkirchliche öffentliche Buße war ein Schamsystem, auch die Ohrenbeichte enthielt einen satisfaktionsrelevanten Bußakt allein schon in der Beschämung durch das Geständnis. Casagrande / Vecchio (wie Anm. 253), S. 387f., nennen unter den ebd. erwähnten Modi der derisio auch einen heilsamen: die Beschämung durch das Aufdecken peinlicher Sünden. Eine andere Vermischung von Scham-und Schuldaspekten bei Berthold von Regensburg: Der Prediger droht mit der Bloßstellung geheimer Sünden im Jüngsten Gericht, d.h. mit der Schande vor maximaler Öffentlichkeit, um Unkeusche zur Beichte zu bewegen und von der nur für Gott sichtbaren Unzucht in der Ehe abzuhalten, die er für schlimmer hält als den vor den Menschen sichtbaren Bordellbesuch (Deutsche Predigten, XXI, ed. F. Pfeiffer / J. Strobl, repr. Berlin 1965, I 1, S. 336f.). Vgl. auch oben S. 18f. zur Kritik der radikalen Trennung christlicher Perfektionsmoral und aristokratischer Alltagsmoral. Zur Zeit der Redaktion noch nicht zugänglich war: Christoph Huber / Burghart Wachinger (Hg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000. Vgl. Jean-Philippe Genet, Saint Louis: le roi politique, in: Hommes de pouvoir. Individu et politique au temps de saint Louis, in: Médiévales 34 (1998), S. 25–34 und Bloch, S. 259ff. etwa zu Ludwigs Verbot aristokratischer »Privatkriege«. Dies gilt auch von einem weiteren Fundus von Anekdoten und Geschichtsszenen; vgl. Kortüm, S. 1–29. Anm. 260 s. nächste Seite
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in diesem besonderen mittelalterlichen Diskurs nicht verleugnet, sondern selbstverständlich vorausgesetzt, und das Interaktionsprogramm folgt nicht den Regeln des Takts, die der Selbstdarstellung anderen gegenüber »den Unglauben zu suspendieren« gebieten.261 Die Grundregel ist hier vielmehr das Recht auf Status und Stolz, und sie liegt, brutal gesagt, darin, eigene Ehre zu beweisen und zu bewahren, indem Rivalen erfolgreich gedemütigt oder zum Schweigen gebracht werden.262 Es ist heute in höflichen Situationen verpönt, das Vortrittsrecht aufgrund irgendeines bestehenden Vorrangs zu beanspruchen, selbst wenn es in politisch-öffentlichen Situationen gelegentlich noch zu Protokollquerelen führen kann.263 Im aristokratischen Mittelalter gab es keine scharfe Trennung dieser zwei Situationen, die höfliche (oder vielmehr rituelle) war auch eine politische, und keiner durfte dem anderen nachstehen, wollte er nicht durch feige Kapitulation dem Konkurrenten seinen Platz in der Hierarchie überlassen.264 (Beispiele des friedfertigen oder scherzhaften Verzichts auf die préséance, wie sie Chronisten als denkwürdige Ausnahmen berichten, bestätigen nur diese Regel.265) Das einzige generelle Kriterium, das uns die mittelalterlichen follies und mespas mit den Fehltritten späterer Jahrhunderte vergleichen läßt, ist ein gewisses Maß an Unabsichtlichkeit in der Wahl der Mittel zum unterschiedlichen Zweck, hier der affichierten, dort der kaschierten Selbstbehauptung. Unerwartet mißlingt stets eine intendierte Selbstdarstellung, sei es die des positionsbewußten vaillant chevalier des Mittelalters oder die des umgänglichen 260
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Zum Prinzip vgl. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 57f.; Beetz, S. 6f., 122ff.; Gehring, Die Geselligkeit, S. 246f. Zu dessen Fragilität vgl. das Beispiel bei Miller, Humiliation, S. 1ff.: Da im Arrangement grundsätzlicher Agressionsvermeidung der Kritiker von Unhöflichkeit noch mehr Anstoß erregt als der Unhöfliche, kann der sozial Inkompetente oder Rüpel die anderen so lange ausnützen, bis er den Bogen des Erträglichen überspannt und die Situation in einen unkontrollierbaren Konflikt kippt. Ein mittelalterliches Beispiel für diese Paradoxie analysiert Werner Röcke im vorliegenden Band. Hahn, Rede- und Schweigeverbote, S. 93f.; Miller, Humiliation, S. 33 sieht als Motiv zu diesem Verhalten das eigene Bedürfnis, als höflich zu erscheinen, »to see ourselves as respectful of others’ self-respect«, also eine bloß subtilere Art der Selbstbehauptung. Pitt-Rivers, S. 1–4; Vogt, Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften, in: Vogt / Zingerle, S. 291–305: Selbst unritterliches Verhalten im Iwein Chrétiens de Troyes wird als legitim dargestellt, insofern als es die Ehrenökonomie sichert und vor Spott bewahrt. Beetz, S. 197ff. Vgl. Fuhrmann, S. 24ff. zur Zweideutigkeit von Begegnungsritualen zwischen konventioneller Ehrerbietung und rechtsverbindlicher Unterwerfungssymbolik; Horst Wenzel, Öffentliches und nichtöffentliches Herrschaftshandeln im Erec Hartmanns von Aue, in: Melville / von Moos, 213–238; Ders., Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur, in: Gumbrecht / Pfeiffer, S. 178– 202. Zur scherzhaften Lösung eines solchen Problems beim Treffen Ludwigs des Heiligen und Heinrichs III. von England vgl. Le Goff, S. 448f.
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homme de qualité des 17. Jahrhunderts. Aus Indizien lassen sich überdies einzelne Elemente erschließen, die auch heute noch zum Ablauf eines gewöhnlichen Fehltritt-Szenarios gehören, gleichviel ob die Texte selbst sie in diesem Sinn zu einem roten Faden verknüpfen. In systematischer Reihenfolge sind dies die Anlässe zum Fehltritt, die Reaktionen der Akteure, der Opfer und der Zeugen auf einen Fehltritt sowie die Fehltrittreparaturen. 1. Die Anlässe sind, und dies trifft nicht nur auf unsere Beispiele zu, entweder konfliktträchtige Spannungen, die verdeckt durch eine ritualisierte Rangordnung nach Entladung drängen, oder es sind eine Art Kampfspiele, die den Spielern aus irgendwelchen Gründen (wie Normenkollision oder Code-Mißverständnis) in den bitteren Ernst davonlaufen. Wäre die offene Provokation, die gewollte Beleidigung, der hingeworfene Handschuh, der einzige Auslöser des darauffolgenden Konflikts, so hätten auch moderne Leser keinen Grund, an Fehltritte zu denken. Der überspringende Funke ist hier aber eine mehr oder weniger unfreiwillige Ehrverletzung, jedenfalls eine, die in keinem intentionalen Verhältnis zu deren Folgen oder (wenn man will) Nebenfolgen steht.266 Gewollt ist vielleicht die kasuistische Auseinandersetzung über angemessene Bekleidung im Beispiel Joinvilles, aber nicht die peinliche Situation des Bumerang-Effekts für den Angreifer und der allgemeinen Rollenunsicherheit gegenüber einem sich unstandesgemäß verhaltenden König; gewollt sind im Beispiel Chastellains die Selbstbehauptung Karls gegen eine für inkonsequent gehaltene Verfügung der als Fürst und Vater doppelt, d.h. ambivalent konnotierten Autorität sowie der Übereifer der Versöhnungsstrategen nach erfolgtem Eklat, aber nicht die unheilbare Verletzung des Herzogs und die dauernde Entzweiung im Hause Valois aufgrund einer mißverstandenen Symbolgebärde. In Commynes Konfliktsituationen steht zwar umgekehrt die Absicht, den Gegner durch List, Kriegsvermeidung und gerade Schonung der Ehrempfindlichkeit zu besiegen, im Vordergrund, aber sie scheitert oder droht immer wieder an Verhandlungsinkompetenz oder leichtfertiger Indiskretion zu scheitern. 2. Die Reaktion der sich ihres Fehltritts plötzlich bewußtwerdenden Akteure ist stets dieselbe: Fassungslosigkeit (esbahissement), Erstarrung, 266
Zu diesem Unterschied von bewußtem Affront und nicht-intendierter Kränkung s. Miller, Humiliation, S. 149ff. Mittelalterliche Beispiele sind unerschöpflich. Gauvard, II, S. 785 zeigt an Gerichtsfällen, wie viele Ehrverletzungen auf einem Dialogdefizit und auf bloßer Auslegung von Kleinigkeiten beruhten (übersehener Gruß, die Wahl der falschen Anredeform, Schweigen anstelle einer Antwort usw.). Kamp, S. 694ff. zum Umgang mit riskanten Formalien bei Commynes: das Unterbrechen einer Rede oder die Verweigerung einer Privataudienz als Beleidigungen. Paul Hyams, What did Henry III of England think in Bed and in French about Kingship and Anger?, in: Rosenwein, S. 92–126, hier 121f.: Ein Adeliger, der mit Heinrich III. von England über einen Streitpunkt verhandeln wollte, erzürnte ungewollt den König durch die Bitte um freies Geleit, weil dieser darin beleidigenden Zweifel an der selbstverständlichen königlichen Friedenssicherung sah.
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Schamröte, einmal sogar Tränen. Darüber ist wenig zu sagen, da dieser »innerliche Blutsturz«, wie Sartre die Erfahrung der Blamage nannte,267 immer noch dem entspricht, was wir unter dem Wunsch, »im Boden zu versinken«, verstehen. Historisch bedeutsam scheint mir jedenfalls an dieser immer wieder hervorgehobenen Bestürzung oder Verlegenheit der ›Täter‹, daß Unabsichtlichkeit auch im Mittelalter die anthropologische conditio sine qua non des Fehltritts darstellte. Denn wie jeder andere Irrtum ist diese Fehlleistung stets nur retrospektiv feststellbar. Niemand kann sinnvoll sagen: »jetzt irre ich«, sondern nur: »ich habe geirrt«, und ebenso wenig kann jemand willentlich etwas vergessen, übersehen, mißverstehen oder bewußt ›danebentreten‹, sondern er wird solch folgenschwerer Unzulänglichkeiten stets erst nachträglich gewahr, wenn sie für andere, die meist böse Absicht unterstellen, bereits vollendete Tatsachen geworden sind und nicht mehr zum Verschwinden gebracht werden können.268 3. Zorn ist die primäre Antwort der mehr als gewollt herausgeforderten und verletzten Opfer, während diese wohl heute eher mit betroffenem Schweigen reagieren würden, um dem Fall nicht noch mehr Aufsehen zu verschaffen. Weil dieser Affekt ebenso spontan wie sozial gefordert sein kann, verbindet er zwei für uns schwer kombinierbare Extreme: höchste Impulsivität und rituelle Steifheit.269Joinville zeigt an sich selbst aber auch, dass dazu Alternativen bestehen: Man kann eine kritische Situation etwa mit einer schlagfertigen Antwort retten.270 4. Die Zeugen können einen Fehltritt, wie wir es noch heute meistens tun, sehenden Auges mit civil inattention übersehen oder entschärfen, etwa, indem sie ihn wie Ludwig der Heilige es tut, zu einem richtigen Schritt umdeuten.271 Sie können ihn aber auch ausnützen und mit schadenfrohem Gelächter quittieren, wie dies Ludwig XI. demonstriert.272 Die kommunikativen Situa267
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Nach Schneider, Shame, S. 24. In der aristotelischen Poetik gehört dieses Gewahrwerden (anagnorisis) wesentlich zur ›Peripetie‹; vgl. Bremer, S. 6–8 zu Poet. XIII, 1452 b: »sudden realiziation, that a previously held belief is an illusion«; »a transition from ignorance towards full awarenes«. Vgl. Schwarz, Irrtum, Sp. 589f.; Bremer, S. 51f. zur sokratischen Sentenz: »Niemand macht freiwillig Fehler« (Plato, Leges 860 D); Hahn, Inszenierung von Unabsichtlichkeit; Ders., Reden und Schweigen, S. 94 sieht darin die Umkehrung des Prinzips nulla poena sine lege, da man erst durch die Strafe (bzw. Selbststigmatisierung) von der Geltung eines Gesetzes erfährt. Die in der Tagungsdiskussion immer wieder aufgeworfene Frage nach der Erkennbarkeit der intentionalen Dimension ist darum ein Scheinproblem: Aus der Täterperspektive ist der Fehltritt notwendig ungewollt (man verzeihe diese Tautologie), aber er wird erst, wenn er geschehen und nicht mehr zurücknehmbar ist, am feed back der anderen als solcher erkennbar. Denn es sind die Beobachter oder Opfer, die, indem sie Absicht oder Unabsichtlichkeit unterstellen, in erster Instanz darüber entscheiden, ob eine Handlung ein Fehltritt ist oder nicht. Ausführlicher zu diesem Thema: von Moos, Perspektiven der Unabsichtlichkeit, im Ersch. Vgl. oben Anm. 188. Kortüm illustriert dies mit anderen Herrscheranekdoten; s. auch oben Anm. 149.
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tionen sind in diesen Beispielen zu unterschiedlich, als daß sie erlaubten, Gründe für die Wahl der einen oder der anderen Reaktion, des urbanen Wegsehens oder der offenen Schadenfreude allgemeiner zu bestimmen, abgesehen davon, daß bei Chastellain der fatale Fehltritt gar nicht vor direkten Zeugen, sondern quasi-privat stattfindet. Immerhin läßt der Vergleich der Kommunikationsräume nach dem Maß größerer oder geringerer Öffentlichkeit einen auch aus anderen Fehltrittszenen zu gewinnenden Schluß zu: Je öffentlicher und ritualisierter die Interaktion abläuft, desto wahrscheinlicher ist auch die Verleugnung des peinlichen Verstoßes gegen die symbolische Ordnung, das Ritual, die Etikette oder auch nur die Konvention. Jedenfalls gilt dies, solange die formalen Rahmenbedingungen des Prozesses anhalten, wie immer post festum über den störenden Vorfall reflektiert, geredet und gespottet werden mag.273 5. Weiterführende Züge zeigen am ehesten die Fehltrittreparaturen: Zunächst besteht die Möglichkeit, sich mit dem Argument der Unabsichtlichkeit zu entschuldigen.274 Daß die Entschuldigung in der Szene Chastellains nicht zustandekommt, den Beteiligten aber ratsam schien, läßt die Frage offen, ob sie auch akzeptiert worden wäre. Wahrscheinlich hätte sie der Herzog bei hinreichender Glaubwürdigkeit und Berücksichtigung des Zeitfaktors angenommen. Denn Chastellain läßt durchblicken, daß Indiskretion und Überstürztheit die Hauptfehler bei dem Versuch waren, die Harmonie wiederherzustellen. Commynes ist in dieser Hinsicht klarer: Fehltritte werden durch amende 271
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Schwartz, The Social Psychology of Privacy, S. 747f.; Dreitzel, Peinliche Situationen, S. 149ff.; Hahn, Inszenierung von Unabsichtlichkeit; nach all diesen soziologischen Analysen rangiert das ›Wegsehen‹ unter den Reaktionen der Umwelt auf Fehltritte an erster Stelle. Vgl. Miller, Humiliation, S. 123ff.; Röcke in diesem Band. Die von Guy Marchal in diesem Band untersuchten Beispiele zeigen dieses ›Gesetz‹ in aller Anschaulichkeit. Es beschränkt sich jedoch keineswegs auf so hochzeremonielle öffentliche Situationen wie Herrscherbegegnungen, Krönungen und entrées du roi. Faßt man den Ritualbegriff mit Niklas Luhmann so weit, daß er alle durch »Coupieren von Reflexivität fixierte und alternativelos gemachte Kommunikation« einbegreift, dann gehört das Übersehen von Fehltritten wesentlich zu jeder Art von Ritualisierung und Routinisierung. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 613f.: »Das Risiko des Symbolgebrauchs wird so gering wie möglich gehalten. Rituale sind vergleichbar den fraglosen Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens, die ebenfalls Reflexivität ausschalten. Aber sie erfüllen diese Funktion auch in angespannten Situationen, wo dies nicht mehr selbstverständlich ist, sondern Interessen oder Zweifel oder Ängste kleingehalten werden müssen; sie setzen für problematischere Situationen artifiziellere Mittel ein. Verstöße gegen das Ritual erscheinen deshalb auch nicht als Merkwürdigkeit, als persönliche Marotte, als Scherz, sondern als gefährliche Fehler; und statt nun dann doch auf Reflexivität umzuschalten, unterdrückt man den Fehler.« Pitt-Rivers, S. 6f. zum prekären Status dieses Mittels: Eine unglaubwürdige Verleugnung der Absicht verschlimmert den Beleidigungseffekt; Hahn, Inszenierung von Unabsichtlichkeit.
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honorable, durch materiellen Schadensersatz repariert. Nur dieses Argument leuchtet ein, insbesondere wenn dabei das ökonomische das symbolische »Kapital« kräftig übersteigt.275 In einer unritterlich gewordenen Welt kann man sich aus dem Fehltritt gewissermaßen auskaufen. Die zweite Reparaturmöglichkeit besteht in einer Art Flucht nach vorn; der Täter kann trotzig wie Karl der Kühne oder vornehm wie der königliche Gründer des Hosenbandordens, die ungewollte Panne hinterher als eine absichtliche ausgeben und darin fortfahren, als wäre sie keine oder sogar viel eher eine neue Norm. Dieses Verhalten scheint eher ein Privileg der Fürsten als eine allgemeine Regel für gewöhnliche Sterbliche darzustellen.276 Jedenfalls ist es in der gesamten neuzeitlichen Fehltrittdiskussion umstritten geblieben. Balthasar Gracián z.B. lehnt es strikt ab; denn es bedeute, aus einem Fehltritt einen zweiten zu machen und, »um ihn auszuschmücken, vier weitere hinzuzufügen«;277 mit mildem Lächeln berichtet dagegen Proust von der eleganten Gewohnheit eines Herrn, der quand il avait commis une indiscrétion, fait une gaffe … de les proclamer en disant que c’était exprès.278
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Boncompagno, Rhetorica noviss. (wie Anm. 87), Sp. 256 a nennt dies mit bürgerlichem Witz eine persuasio realis: Omnium vocalium persuasionum genera evanescunt, ubi copiosa et grata munera persuadent. Miller, Humiliation, S. 117 zum »benefit of doubt« der Fürsten; Pitt-Rivers, S. 15 zum Prinzip honni soit qui mal y pense: »The king cannot be dishonoured …He is above criticism.« Kortüm, S. 26 führt dafür zwei anekdotische Beispiele an: Wilhelm von Malmesbury (Gesta regum IV § 238) berichtet, wie ein Ritter, als Wilhelm der Eroberer bei der Landung in England zu Boden stürzte, die ominöse Situation schlagfertig so rettete: »Du hältst England in deinen Händen. Bald wirst du König sein.« Nach Walter Map (De nugis curialium, Dist. V 5) soll Ludwig (VI.) der Dicke von Frankreich nach der gegen Heinrich I. von England erlittenen Niederlage von 1119, sich, als wäre nichts geschehen, und sogar in Siegerlaune zu Tisch gesetzt haben. Den verblüfften Kronvasallen gab er zu verstehen, daß der wahre Sieger derjenige sei, dem ein Mißerfolg nichts anhaben könne. Dieser stoischen Inversion entspricht die spätere christlich gesteigerte durch Ludwig den Heiligen, etwa nach dem gescheiterten Kreuzzug: die Schmach des Königs in der PassionsNachfolge und die Selbsterniedrigung des Königs durch öffentliche Buße erzeugen höchsten Prestigegewinn; vgl. Le Goff, S. 445ff., 858ff.; grundsätzlich auch Mansfield, The Humiliation of Sinners. Gracián (wie Anm. 111), Nr. 214: No hacer de una necedad dos. Es muy ordinario para remendar una cometer otras cuatro; ebd., Nr. 261: No proseguir la necedad. Hacen algunos empeño del desacierto, y porque comenzaron a errar les parece que es constancia el proseguir. Acusan en el foro interno su yerro, y en el externo lo excusan, con que si cuando comenzaron la necedad fueron notados de inadvertidos, al proseguirla son confirmados en necios. A la recherche du temps perdu IV, S. 153.
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Moderner Fauxpas und mittelalterlicher Fehltritt
Die erwogenen Analogien zwischen mittelalterlichem und modernem Fehlverhalten betreffen nun freilich nur die einzelnen Phasen im Ablauf eines Geschehens, das wir heute als die »kommunikative Gattung« Fehltritt bezeichnen können,279 aber das als Ganzes in unseren Erzählungen gerade nicht unter dieser Kategorie subsumiert wird. Wir hätten also Einzelaspekte, Facetten, »Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band.« Wenn wir die anthropologische Frage auf sich beruhen lassen, ob es Fehltritte nicht zu allen Zeiten gegeben habe, obwohl sie kaum als sonderlich aufzeichnungswürdig galten, so stellt sich hier in erster Linie das Problem, warum die Texte gerade dieser Zeit sie nicht als solche thematisieren.280 Bevor dafür eine Erklärung gesucht wird, lohnt es sich, die historische Perspektive vorübergehend zu sistieren, um vom modernen Fauxpas aus zurückzublicken. Unter den damit befaßten Soziologen dürfte ein Konsens darüber bestehen, daß es im heutigen Alltagshandeln schwieriger denn je geworden ist, Fehltritte zu vermeiden. In unsererer komplexen, pluralistischen, weltweit uniform werdenden Gesellschaft verkehren wir in den verschiedensten, sich überlagernden Beziehungen, Rollen und Situationen miteinander und können nie sicher wissen, wem wir wodurch ›zu nahe treten‹, weil wir die anderen, auch wenn wir sie in einer einzigen Funktion ansprechen, selten so gut kennen, daß wir alle privaten, beruflichen, schichtenspezifischen, altersmäßigen, religiösen, politischen u.a. Lebensbereiche, in denen sie sich sonst noch aufhalten, bei der Kommunikation mitberücksichtigen können.281 So kommt es immer häufiger vor, daß wir im Hause des Gehenkten vom Strick reden, weil wir einfach nichts vom Hängen gehört haben. Die Unsicherheit wächst noch dadurch, daß eine Menge traditioneller Anstandsregeln nur noch situativ gelten und nicht automatisch routinemäßig angewandt werden können.282 (Will man z.B. einer Dame in den Mantel helfen, kann man eventuell deren 279
280 281 282
Der Fehltritt als intersubjektive Gesamtszene aufgrund des stillschweigend angenommenen (nicht notwendig an individuelle Intentionen gebundenen) Einverständisses über das Vorliegen einer Störung entspricht der Struktur der kommunikativen Gattungen, auch wenn Thomas Luckmann ihn nicht eigens behandelt. Unter dessen zahlreichen Arbeiten zu diesem Thema vgl. etwa: Kommunikative Gattungen im kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft, in: Gisela Smolka-Koerdt et al. (Hgg.), Der Ursprung von Literatur, München 1988, S. 279–288; Ders., Allgemeine Überlegungen zu kommunikativen Gattungen, in: Barbara Frank et al. (Hgg.), Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit (SciptOralia 99), Tübingen 1997, S. 11–18. Zu einer historischen Anwendung des Begriffs s. Dinges, Ehrenhändel als »kommunikative Gattungen«. Eine theoretisch weiter angelegte Lösung der Frage bietet Hahn in diesem Band. Vgl. Miller, S. 10f., 110ff. ; Gehring, S. 252f.; Dreitzel, Körperkontrolle, S. 193f.; Ders., Peinliche Situationen, S. 148ff.; Luthe, Distanz, S. 130ff. Vgl. Wouters, Informalisierung (1977 u. 1999); Krumrey, Strukturwandlungen und Funktionen von Verhaltensstandards.
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Autonomiegefühl verletzen. Man kann, wenn man krank ist, die Formel »Wie geht es Ihnen?« beim Wort nehmen und damit eine Peinlichkeitsschwelle überschreiten.) Zwar wird in Alltagssituationen spontan informelles Verhalten erwartet, aber wer in seinen Körper-und Emotionsäußerungen mehr von sich gibt, als dem Kontext zuträglich ist, wird anstößig oder ›zu persönlich‹.283 Jeder einzelne muß darum in jeder neuen Situation sein eigenes Fingerspitzengefühl beweisen, um sich nicht ›daneben zu benehmen‹. Tausend Klippen lauern, die uns in peinliche Situationen verwickeln können, Gefahren, die früher nur für Reisende bei Unkenntnis fremder Sitten bzw. ignorantia iuris bestanden haben.284 In der anonymen Großstadtwelt ist jeder jedem in irgendeiner Hinsicht zu fremd, um sich stets kontextgerecht verhalten zu können. Unsere Interaktionskompetenz ist auf diesem Feld also im Wesentlichen überfordert. Darum kommunizieren wir umso lieber über Kommunikation und werden, wie Dreitzel sagt, zu »Ethnologen unserer selbst«.285 Der Fehltritt ist so zu einem aktuellen Gesprächsthema sozialpsychologischer Metakommunikation avanciert, was Werke über Alltagsinteraktion wie die von Goffmann, Hall oder Watzlawick weit über die Fachwelt hinaus bekannt gemacht hat. Doch am bedenkenswertesten scheint mir hier folgende moderne Paradoxie: So unabsehbar die Fehltrittrisiken geworden sind, desto gelinder fallen die Fehltrittsanktionen aus. Was jedem nach täglicher Erfahrung auf Schritt und Tritt passieren kann, führt nicht zur Todesstrafe, nicht einmal mehr zum Identitätsverlust durch Lächerlichkeit, sondern zur »Inszenierung von Bagatellisierung«.286 Es gilt meist einfach als allzumenschlich. Man hat sich vertan. Schwamm darüber. Es soll nicht wieder geschehen. Die schlimm283 284
285 286
Gehring, S. 244f.; Scheff, S. 483–505. Dreitzel, Patterns of Communicative Behaviour, S. VIIIff.; Ders., Peinliche Situationen, passim und S. 162: »Takt wird anstrengend«; Hahn, Risiko und Gefahr; Kontingenz und Kommunikation. An dieser Stelle bietet Freuds Fehlleistungskonzept eine zusätzliche Erklärung: Wo Automatismen und Rituale fehlen, ist der Einzelne zu kommunikativer Dauergeistesgegenwart verurteilt; aber gerade besondere Aufmerksamkeit auf eine sonst nicht bewußte Gefahr führt ähnlich dem Lampenfieber nach dem Prinzip der self fulfilling prophecy die befürchtete Fehlleistung gerade herbei; s. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 52ff.; zum Fehltritt aufgrund von Kulturdifferenzen (ein wichtiges, in diesem Band leider kaum behandeltes Phänomen) mehrere Beispiele in den Sammelbänden von Wenzel (besonders Kästner, S. 280–295), Engels / Schreiner und Hans-Jürgen Bachorski / Werner Röcke (Hgg.), Weltbildwandel. Selbstdeutung und Fremderfahrung im Übergang von Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (Literatur, Imagination, Realität 10), Trier 1995; vgl. auch Chr. Lüth et al. (Hgg.), Der Umgang mit dem Fremden in der Vormoderne. Studien zur Akkulturation in bildungshistorischer Sicht, Köln/Weimar/Wien 1997 sowie unten Anm. 327. Dreitzel Peinliche Situationen, S. 166, 173. Zur Kommunikation über Kommunikation (Reflexivität) vgl. auch Luhmann, Soziale Systeme, S. 610ff. und oben Anm. 273. Goffman, Das Individuum, S. 249f.: Entschuldigungen müssen angenommen werden, will man nicht selbst als Revanchist dastehen. Dies ist ein wichtiger Unterschied zur riskanten Entschuldigung in vormodernen Ehrgesellschaften. Vgl. oben S. 45.
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ste Sanktion, die gesellschaftlicher ›Unmöglichkeit‹ drohen kann, ist Gesprächsabbruch und Meidung.287 Doch solche Strafen werden schon durch die »Rollensegregation« relativiert.288 Wer auf irgendeiner der vielen gesellschaftlichen Bühnen danebenspielt und seinen guten Ruf verliert, kann dennoch auf anderen durchaus angesehen bleiben.289 Über die historischen Voraussetzungen dieser Gegenwartslage sind die Meinungen geteilt.290 Für Norbert Elias und seine Anhänger ist die gestiegene Fehltrittanfälligkeit eine direkte Folge der seit der frühen Neuzeit linear fortschreitenden Sozialdisziplinierung durch Normenverinnerlichung; für andere Soziologen namentlich im Gefolge Niklas Luhmanns ist die neue Orientierungslosigkeit dagegen ein Spätprodukt der hochkomplexen, sich in immer mehr Funktions- und Zuständigkeitsbereiche ausdifferenzierenden Industriegesellschaft. Fehltritte sind nach der einen Theorie die Folge einer Inflation immer feiner werdender Regeln der Zivilität, d.h. auch der Entpersönlichung und Körperdistanz, nach der anderen gerade umgekehrt ein Symptom für Informalisierung durch Mobilität und Anonymität. Abgesehen von Privatgemeinschaften (wie Paarbeziehungen)291 sind alle Gruppengrenzen durchlässig geworden; Bühnen und Rollen haben sich vervielfältigt, und Verhaltensnormen gelten nur noch funktionsspezifisch und situativ.292 Zwischen den beiden Evolutionstheorien ist hier nicht zu entscheiden, – in weniger extremer Form dürften sie sogar zu vermitteln sein;293 dem Historiker können daran jedoch gewisse implizite Wertvorstellungen von Moderne und Vormoderne nicht gleichgültig sein. Richard Sennett macht sie durch seine Pointierungen überdeutlich, da er den heutigen flexiblen, bindungslos dahintreibenden Weltbürger gewissermaßen dem Dorfbürger von einst mit seiner Gemeinschaftsethik, seinen haltgebenden Institutionen und Ritualen entgegensetzt.294 Daß auch eine ausgewogenere Wertung möglich ist, mögen einige punktuelle Vergleiche mittelalterlicher und moderner Fehltrittauffassung demonstrieren. Fast alle für die heutige Diskussion ausschlaggebenden Rahmenbe287 288 289 290
291 292
293
Vgl. Miller, Humiliation, S. 10f. Goffman, Interaktionsrituale, S. 119f. Miller, Humiliation, S. 9f., 32. Zu dieser mehrere Sammelbände füllenden Diskussion vgl. etwa Rehberg; Gleichmann et al. ; Schluchter; Vogt / Zingerle; Hahn / Kapp ; Dreitzel, Patterns of Communicative Behaviour. Alois Hahn et al. (Hgg.), Die ersten Jahre junger Ehen. Verständigung durch Illusionen? Frankfurt a. M. 1989 und unten S. 78. Vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik IV, S. 138–150 und den Beitrag von Rehberg in diesem Band zur Pluralität der Schauplätze in der amorphen modernen Öffentlichkeit im Gegensatz zur Reduktion und Begrenztheit der Bühnen in traditionalen Gesellschaften. Vgl. in diesem Band Hahns Brückenschlag zwischen Schuldkultur und Höflichkeitskultur. Anm. 294 s. nächste Seite
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dingungen des Fehltritts scheinen in den Fehlleistungen der angeführten Beispiele ins Gegenteil verkehrt: Die Szenen zeigen überschaubare Verhältnisse in geschlossenen, meist durch Verwandtschaftsbeziehungen verbundenen Kreisen, in denen jeder jeden einigermaßen kennt, und die Rollen, etwa die des Vaters und des Königs, des Vertrauten und des Untergebenen, des Freundes und Beraters, auch wenn sie sich gelegentlich überlagern und kollidieren können, doch fest verteilt sind und normalerweise den Erwartungen der Umwelt entsprechen.295 Sie werden weniger gespielt, als verkörpert, ja gelegentlich uneingeschränkt persönlich-affektisch ausagiert. Individuelle Motivhintergünde und Emotionen lassen sich davon also nicht durch ›Rollendistanz‹ ablösen oder im inneren ›Reduit‹ der Privatheit verbergen. Im Gegenteil, noch der Rollenverlust im Affekt gehört mit zur sichtbaren Rolle und folgt rituellen Bahnen.296 Das abschätzbare Rollenverhalten schloß Kommunikationspannen nicht aus, aber machte sie zu Ausnahmen der taken for granted-Ordnung. Gerade die Unwahrscheinlichkeit häufiger Entgleisungen steigert aber auch die Auffälligkeit oder das Überraschungsmoment des einzelnen Rollenversagens, wenn es jemandem wider Erwarten dennoch zustößt. Es ist oft eher 294
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296
Richard Sennett, Der flexible Mensch, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998 (= The Corrosion of Character, New York 1998). Die kulturkritische Haltung verbirgt sich auch in bedachtsameren Darstellungen wie: Thomas Luckmann, Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz, in: Marquard / Stierle, Identität, S. 293–314; Ders., Gibt es ein Jenseits zum Rollenverhalten? ebd., S. 596–598 oder Douglas, S. 11– 36 und passim. Im übrigen scheint damit eine nostalgische Tendenz der Jahrhundertwende wiederbelebt zu werden; s. unten S. 83f. zu Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1991; S. 143 beschreibt schon Tönnies den modernen Gebildeten offen polemisch als eine Abart des Händlers: »heimatlos, ein Reisender, fremde Sitten und Künste kennend, ohne Liebe und Pietät für diejenigen eines bestimmten Landes, mehrere Sprachen mächtig, zungenfertig und doppelzüngig, ein Gewandter, sich Akkomodierender … bewegt er, geschwind und geschmeidig, sich hin und her, wechselt Charakter und Denkungsart … wie eine Kleidermode …, ein Mischer und Ausgleicher, Neues und Altes zu seinem Vorteile Wendender: so stellt er den entschiedenen Widerspruch gegen den an der Scholle klebenden Bauern, wie auch gegen den soliden, des Handwerks pflegenden Bürger dar.« Miller, Humiliation, S. 109 spricht in diesem Zusammenhang nicht von ›Rolle‹, sondern von character und prägt für den durch Charakterfixierung (bzw. Ausschluß von Charakterveränderung) bestimmten Erwartungshorizont den Ausdruck »disposition talk«: Die Reputation haftet der Person in einem fast rechtlichen Sinne als Dauerstatus (»Veranlagung«) an. Vgl. Bernhard Jussen, Dolor und memoria. Trauerriten, gemalte Trauer und soziale Ordnungen im späten Mittelalter, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 207–252 und die erwähnten Arbeiten von Altho ff. Dies widerspricht nicht obiger Kritik an allzu einseitiger Rollenperspektive, sondern bestätigt vielmehr die unauflösliche Synergie von Affekt und Rolle, also das Gegenteil von moderner ›Rollendistanz‹. Vgl. auch Dreitzel, Peinliche Situationen, s. 170f. zu diesem Paradox der sich gegenseitig steigernden Formalisierung und Emotionalisierung durch das Ritual im Gegensatz zur gleichzeitigen Informalisierung und Affektkontrolle in der Gegenwart.
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ein Unfall als eine Tat, da gerade die rituelle Kommunikationsform, die normalerweise den einzelnen Akteur von heiklen Gewissensentscheidungen entlastet, sich selbständig machen und ihn ins Unkontrollierbare mitreißen kann. Dann entsteht aus dem Fehltritt leicht ein Eklat mit möglicherweise verheerenden ruf- und sogar lebensgefährlichen Folgen. Ein einziges verbum incautum, ein kleiner Angemessenheitsfehler in Bekleidung und Auftritt kann ein ganzes Volk in den Krieg stürzen. Neben Pascals »Nase der Kleopatra« ließen sich noch viele andere Kleinigkeiten von weltgeschichtlicher Bedeutung stellen. »Kleine Ursachen, große Wirkungen«, wiederholen die Chronisten unentwegt,297 und noch Montaigne faßte seine Commynes-Lektüre mit der Reflexion zusammen:298 Nos plus grandes agitations ont des ressorts et causes ridicules. Combien encourut de ruyne nostre dernier Duc de Bourgogne pour la querelle d’une charretée de peaux de mouton? (Der Untergang Burgunds, veranlaßt durch Karls Eingreifen gegen die Schweizer Bauern in deren wegen ein paar entwendeter Schafsfelle entstandenen Konflikt mit dem Herrn von Romont).299 Nicht zufällig legitimieren sich auch zahlreiche Anstandslehren mit demselben seit dem Mittelalter in Selesorge und Ethik topischen Prinzip: in minimis maiora, ›scheinbare Belanglosigkeiten – überdimensionale Folgen‹, um vor jenen Kleinigkeiten zu warnen, aus denen unversehens ein Skandal entstehen kann.300 »Manchmal bereitet eine kurze Weile [des Affekts] die Be297
298
299
300
Zum historiographischen, insbesondere kriegsgeschichtlichen Topos vgl. Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: »Was wäre geschehen, wenn …?«, Göttingen 1984, S. 28f., 73f; Erik Durschmied, Der Hinge-Faktor. Wie Zufall und menschliche Dummheit Weltgeschichte schreiben, Köln/ Weimar/Wien 1998; von Moos, Geschichte als Topik, S. 172ff. Essais III 10 (wie Anm. 117), S. 995; vgl. auch ebd., S. 998: De toutes choses les naissances sont foibles et tendres. Pourtant faut-il avoir les yeux ouverts aux commencements, car comme lors en sa petitesse on n’en descouvre pas le dangier, quand il est accreu on n’en descouvre plus le remede. Mémoires V 1 (wie Anm. 192), S. 292f.: Et pour quelle querelle commença ceste guerre? Ce fut pour ung chariot de peaulx de mouton, que monsr de Romont print d’ung Suysse passant par sa terre. Se Dieu n’eust delaissé le dit duc, il n’est pas apparent s’estre mis en peril pour si peu de choses, veues les offres qui luy avoient esté faictes, et contre quelz gens, où il ne pouvoit avoir nulz acquestz ne nulle gloire. Gregor d. Gr., Regula pastoralis II 10 (wie Anm. 257), S. 240: Nonnulla autem sunt subtiliter occulta perscrutanda ut … ex minimis maiora cognoscat; Vgl. oben Anm. 115f. und den Beitrag von J.-D. Müller in diesem Band. In einem anderen Sinn kehrt der Topos bei Freud wieder, der sein Interesse an Fehlleistungen so begründet (Vorlesungen, S. 51f.): »… die Psychoanalyse kann sich nicht rühmen, daß sie sich nie mit Kleinigkeiten abgegeben hat. Im Gegenteil, ihren Beobachtungsstoff bilden gewöhnlich jene unscheinbaren Vorkommnisse, die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig beiseite geworfen werden, sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt. Aber verwechseln Sie … nicht die Großartigkeit der Probleme mit der Auffälligkeit der Anzeichen? … Lassen Sie uns also die kleinen Anzeichen nicht unterschätzen; vielleicht gelingt es, von ihnen aus Größerem auf die Spur zu kommen.«
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schämung des ganzen Lebens.«301 Die Beschämung aber ist umso aufsehenerregender, je höher der Täter in der Rangordnung steht, die einerseits den Ehrenstatus, andererseits aber auch die potentielle Fallhöhe einer Person anzeigt, während Niedrige eine gewisse Narrenfreiheit genießen.302 Christine de Pisan erinnert im 14. Jahrhundert die hohen Damen an die viel größeren Zwänge, die sie sich zur Wahrung ihres höchsten Guts, der weiblichen Ehre, im Vergleich zur vie plus sceure der »Dorffrauen« auferlegen müssen;303 und noch ein barockes deutsches Anstandsbuch formuliert bündig: »Je geringer der Stand, je weniger Decori ist er benöthiget.«304 Sogar die kirchliche Ethik kennt eine abgedämpfte Form dieser Regel ständischer fama-Wahrung: Eine hochgestellte »öffentliche Person« darf sich aus Rücksicht auf den möglichen Skandal unüblichen Verhaltens weniger auf seine Gewissensfreiheit berufen als ein Einzelner, der das Gerede verachten kann, um allein Gott und seinem Gewissen zu gehorchen.305 In unserer (dem Anspruch nach) egalitären Gegenwartsgesellschaft haben Fehltritte nichts mehr mit Fallhöhe und Standesdekorum zu tun und sind vielmehr allgemein verbreitet. Sie ereignen sich vielleicht vermehrt auch außerhalb öffentlicher Szenarien; jedenfalls wissen wir heute dank empirischer Forschung mehr über die geradezu unendlichen Möglichkeiten der ungewollten Verletzung durch Nichtaufmerksamkeit in privaten Situationen, insbesondere im »unwahrscheinlichen Intimsystem der Liebe«, das auf dem so gut wie unerreichbaren Postulat beruht, im Namen der »Komplettakzeptanz« der Paareinheit, alltägliche Idiosynkrasien stets geistesgegenwärtig mit feinster Sensibilität auszublenden und zu verleugnen.306 Dies scheint mir aber der entscheidende Punkt: Im Vergleich mit der hierarchischen Welt des Mittelalters stehen heute Fehltritt-Risiken und Fehltritt-Sanktionen in umgekehrtem Ver301 302
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Gracián (wie Anm. 111), Nr. 207, S. 270. Vgl oben S. 22 zur lächerlichen rusticitas eines Adeligen nach Boncompagno. Da nur der Besitzer des knappen Guts Ehre etwas zu verlieren hat, der Infame darum freier ist, spricht Ward, S. 5 von einer einseitigen »downward mobility« in der mittelalterlichen Schamkultur. Vgl. Mathilde Laigle, Le livre des trois vertus de Christine de Pisan, Paris 1912, S. 299. Vgl. auch den Beitrag von Régnier-Bohler in diesem Band zum spezifisch weiblichen Diffamierungsrisiko durch soziales Ansehen. Christophorus Henricus Amthor, Collegium homileticum de jure decori, Leipzig/ Copenhagen 1730, S. 136 nach Beetz, S. 134. Pierre Michaud-Quantin, La conscience individuelle et ses droits chez les moralistes de la fin du moyen âge, in: Universalismus und Partikularismus im Mittelalter (Miscellanea Meddiaevalia 5), Berlin 1968, S. 42–56, hier 53f. Eine praktische Folgerung dieses Prinzips zeigt die Debatte um die Königlichkeit des heiligen Ludwig, s.o. bei Anm. 145. Vgl. Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen, Konstanz 1999, bes. S. 29–33, 37–41 und den Beitrag von Alois Hahn (Kap. 5) in diesem Band. Die ›Öffentlichkeit‹ von Fehltritten kann heute in jeder kommunikativen Situation unter mindestens zwei Menschen entstehen. Denn sie impliziert auch imaginierte (erinnerte oder antizipierte) Sichtbarkeit; vgl. Vogt, Identität und Integrität, S. 510f.
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hältnis zueinander. Je formeller eine Gesellschaft ritualisiert ist, desto seltener, aber auch unerhörter und verurteilungswürdiger der Fehltritt; je informeller man zusammenlebt, desto alltäglicher und darum auch verzeihlicher wird er.307 Dieses Axiom dürfte auch erklären, warum der für uns so trivial gewordene Fauxpas im Mittelalter nicht als bloßes Zufallsergebnis menschlicher Kontingenz, Zerstreutheit oder sottise wahrnehmbar und thematisierbar war, sondern nach sinnstärkeren Begriffen wie ›Schicksalsschlag‹, ›Torheit‹, ›Verblendung‹, ›Wahnsinn‹ verlangte, wenn er nicht einfach ignoriert oder tabuiert werden konnte. Zur Verdeutlichung dieser Weltbild-Differenz mögen abschließend zwei pointierte Zitate späterer Autoren dienen, die beide bestimmte Fehltrittarten als überholte oder gar primitive Kontrastphänomene zu den in ihrer Zeit geltenden Normen fortgeschrittener Zivilisiertheit verstehen. La Bruyère schrieb im 17. Jahrhundert:308 »Provinzler und Dummköpfe, geraten immer leicht in Zorn und meinen, man mache sich über sie lustig oder verachte sie; man wage also nie einen Scherz, nicht einmal den mildesten und erlaubtesten, außer mit höflichen Leuten, die Esprit haben.« Der Satz kann als Kronzeugnis für die städtisch-höfische Pazifizierung der Adelsgesellschaft durch das Distinktionskriterium umfassender Affektkontrolle dienen, das sowohl Aggressionsverzicht als auch Aggressionstoleranz verlangt und sogar den bloßen Verdacht indirekter Beleidigung als hinterwäldlerisch stigmatisiert. Versetzen wir das Zitat etwa in die Welt Chastellains oder Commynes’, so wird es nahezu sinnlos. Nach dem Code der Kriegerehre, den Pitt-Rivers309 treffend mit der mittelalterlichen Adels-Devise nemo me impune lacessit auf den Punkt gebracht hat, gehört es sich, vor Zeugen ausgesprochene Ehrverletzungen, und seien sie noch so verkappt und zweideutig, als solche wahrzunehmen und sichtbar zu vergelten. Einen bösen Scherz für gut gemeint zu halten, wäre hier der eigenen Ehre vielleicht abträglicher, als eine Neckerei mit einem Affront zu verwechseln. Wo die Ehre auf dem Spiel steht, gibt es nichts zu deuteln, gilt kein in dubio pro reo. Da sie keine Repräsentation, sondern die persönliche Identität selbst ist,310 entehrt bereits der Eindruck eines entehrenden Akts. Die Geschichte vom Zorn Philipps des Guten hat für diese irreparable Performativität gleich mehrere Beispiele gezeigt. Wer sich umgekehrt über Standesgenossen lustig machen will, ohne sie herauszufordern, muß dies 307 308 309 310
Vgl. Dreitzel, Peinliche Situationen, S. 162–170; Miller, Humiliation, S. 200f. Oeuvres complètes, Paris 1951, S. 165. Der Originalwortlaut im Beitrag von Alois Hahn (bei Anm. 24), dem ich das Zitat verdanke. The Fate of Shechem, S. 5f. Vgl. Rudolf Schlögl, Öffentliche Gottesverehrung und privater Glaube in der Frühen Neuzeit, in: Melville / von Moos, S. 165–209, hier 173f.: »Es ist das Charakteristikum von Ehre, daß sie die Person im Ganzen ihrer sozialen Existenz betraf und eben nicht auf eine der vielen sozialen Rollen separat zu beziehen war«, mit Verweis auf Luhmann, Soziale Systeme, S. 320f.
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möglichst diskret hinter deren Rücken tun. Als Ludwig XI. in seiner Spottlust gegen dieses Klugheitsgebot verstieß, mußte er den Fehler mit größtem Aufwand vertuschen, um nichts weniger als einen neuen Krieg mit England zu verhindern. Was also der zum Artisten der Leichtigkeit gewordene Aristokrat des 17. Jahrhunderts als typisch provinzielle Unsitte rügt, ist im Grunde die für seine mittelalterlichen Vorfahren ganz normale Ehrempfindlichkeit, die nicht als Fehler galt, aber Fehltritte gerade erzeugte, wenn ihr nicht genügend Gewicht beigemessen wurde.311 Doch die Szene Joinvilles bietet zu dieser Regel eine wichtige Ausnahme: Offenbar hat es bereits im 13. Jahrhundert gens polis qui ont de l’esprit gegeben, die solch maskuline Verletzlichkeit mit feinen Finten zu überspielen suchten, sie also nicht selbstverständlich zum Stil des prud’homme rechneten und ihr sogar das Ideal dezenter Agressionstoleranz entgegenstellten. Es ist in der Tat bemerkenswert, wie früh hier der ›Zivilisationsprozeß‹ beginnt und welch prägenden Einfluß die Moral der clergie dabei hatte.312 Die ritterliche Variante christlicher Ethik, die Ludwig der Heilige verbindlich zu machen suchte, erscheint wie ein Vorspiel des späteren Wandels von der Kultur des Rituals und der Etikette zur Kultur des Takts. Deren Auswirkungen auf das reale Verhalten mögen (wie nur schon unsere anderen Beispiele aus dem 15. Jahrhundert zeigen) im Mittelalter gering gewesen sein; man mag die lange Zeit, die zwischen dem prud’homme und dem honnête homme liegt, eine Inkubationszeit oder eine Periode voller Auf-und Abwärtsbewegungen nennen, jedenfalls kann von einem erst in der Hofkultur der frühen Neuzeit beginnenden linearen Fortschritt der Zivilisierung keine Rede sein.313 Nicht einmal diese »höfische Gesellschaft« selbst (ein fragwürdiger Singular) wird angemessen beurteilt, wenn man die Bedeutung geistlicher Autoren – vor allem der Jesuiten – übersieht, die gleichzeitig Hofmannstraktate, Beicht- und Exerzi311
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Miller, Humiliation, S. 57 weist darauf hin, daß wir als Überempfindlichkeit einstufen würden, was in der Ehrgesellschaft als normale und obligate Empfindlichkeit gegenüber der Beleidigung galt. Oben nach Anm. 144 und Becker, Der Übergang der Zivilität, S. 498ff. Damit soll ein anderes Hauptmotiv des Wandels im 17. Jh., das vielleicht auch schon im Spätmittelalter wirksam war, keineswegs geleugnet werden: Die Inflation der Nachahmung aristokratischer Etikette zwang den Adel zu feineren, schwerer kopierbaren Formen der Abrenzung, wie sie die ars celandi artem darstellt. Vgl. auch S. 38. Idealtypisch läßt sich im Anschluß an Hahns Beitrag allenfalls zwischen zwei Arten von Hofgesellschaften unterscheiden, den ›feudalen‹, durch Rivalität mit dem Monarchen gekennzeichneten, und den absolutistischen, durch unanfechtbare Zentralgewalt dominierten, denen grosso modo auch die zwei Formen von Zivilität, Etikette und Takt, entsprechen mögen. Dennoch liegt zwischen beiden eine lange, im Mittelalter beginnende Entwicklung von schwacher zu starker Staatlichkeit, von der Lehenshoheit zu einer Souveränität, die dem König schon früh eine gewisse Immunität gegenüber den alle anderen bindenden Regeln gewährte oder wenigstens gewähren sollte; vgl. oben S. 41; Miller, Humiliation, S. 183ff. zur Stellung Arthurs in Sir Gawein.
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tienbücher schrieben und auf neue Weise das mittelalterliche Leitbild des christlichen Edelmanns weitertrugen und zu verfeinern suchten, das zu einem guten Teil schon auf klug-humaner simulatio und dissimulatio, den zivilen Begleittugenden christlicher Barmherzigkeit, beruhte. Doch dies wäre das Thema einer anderen Untersuchung.314 Das zweite Zitat zur Kulturdifferenz stammt von Gabriel Tarde, einem der Pioniere der Soziologie im späten 19. Jahrhundert. In seiner originellen Arbeit über die Konversation315 stellt er ähnlich wie La Bruyère einen Vergleich zwischen zwei Zivilisationsstufen an: »Nichts scheint einem Provinzler, wenn er nach Paris kommt, seltsamer und unnatürlicher, als Omnibusse voller Leute zu sehen, die geflissentlich nicht miteinander reden … Jeder wohlerzogene Bauer fühlt sich doch verpflichtet, seinen Weggenossen durch Unterhaltung Gesellschaft zu leisten. Das Plauderbedürfnis ist aber in Wahrheit auf dem Lande nicht größer als in der Stadt. Im Gegenteil wächst es mit zunehmender Bevölkerungsdichte. Gerade deshalb … mußten in den Großstädten Dämme errichtet werden gegen die Gefahr, in der Flut indiskreter Worte unterzugehen.»316 Hier kommt ein anderer zentraler Aspekt unterschiedlicher Fehltrittauffassungen nicht nur in Stadt und Land, sondern, wie ich meine, auch in der Moderne und im Mittelalter zur Sprache: die Gewichtung von Nähe und Distanz. Der von Niklas Luhmann umsichtig beschriebene Prozeß einer »Ablösung der stratifizierten durch die funktionale Gesellschaft«, die das »institutionalisierte Individuum« hervorgebracht hat,317 ist für Tarde, den Zeitgenossen Prousts, bereits abgeschlossen, auch wenn noch einige schichtenspezifische 314
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Vgl. zum religions-und zivilisatonspädagogischen Optimismus der Jesuiten oben S. 13; Adriano Prosperi, Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori, missionari, Torino 1996, S. 485–507; Peter von Moos, Kirchliche Disziplinierung zwischen Mittelalter und Moderne. Adriano Prosperis Tribunali della coscienza aus mediävistischer Sicht, in: ZHF 27 (2000), S. 75–90. L’opinion et la foule (1901), Paris 1989, S. 73–137 (»L’opinion et la conversation«); vgl. auch die Einleitung von Dominique Reynié. Ebd., S. 126: »La conversation est mère de la politesse. Il en est ainsi même quand la politesse consiste à ne pas causer. Rien ne paraît plus singulier, plus contre nature à un provincial débarqué à Paris, que d’y voir les omnibus pleins de gens qui s’abstiennent avec soin de se parler. Le silence entre inconnus qui se rencontrent paraît naturellement une inconvenance comme le silence entre personnes qui se connaissent est un signe de mésintelligence. Tout paysan bien élevé se fait un devoir de ›tenir compagnie‹ à ceux avec qui il chemine. En réalité, ce n’est point que le besoin de conversation soit plus fort dans les petites villes ou aux champs que dans les grandes. Au contraire, il semble croître en raison directe de la densité de la population et du degré de civilisation. Mais c’est précisément à cause de son intensité dans les grandes villes qu’on a dû y établir des digues contre le danger d’y être submergé sous le flot des paroles indiscrètes.« Vgl. auch Douglas, S. 27ff. zum paradoxen Zusammenhang zwischen realer gesellschaftlicher Enge und Ritualismus, Großräumigkeit und Distanz. Z. B. in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, III, S. 160–180.
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Ungleichzeitigkeiten im Gleichzeitigen übriggeblieben sind.318 Die Probleme bilden jetzt nicht mehr die Standesehre oder die feinen Unterschiede zwischen Parvenu und Weltmann, sondern das Kommunikationsbedürfnis und die schützenswerte Privatsphäre in der demokratisch verfaßten Massengesellschaft. Tarde sieht in der Möglichkeit, anonyme, funktionale, gesellige und persönliche Beziehungen klar voneinander zu trennen, eine unschätzbare Wohltat der Moderne gegenüber jener Konfusion des Privaten und Öffentlichen, die früher in transparenten, mehr oder weniger geschlossenen Kreisen, seien es Nachbargesellschaften oder Adelsgruppen, zu den erwähnten konfliktträchtigen Ambiguitäten des Ehrencodes geführt hat. Doch der Bauer in Paris ist zugleich Symbol für die neue Unsicherheit einer Welt, in der Abstand ein Synonym für Anstand geworden ist:319 Wäre er in einen Bus gestiegen, so hätte er zweifellos in bester Absicht und nach althergebrachtem Brauch die Fahrgäste belästigt und hätte danach zu Hause erzählen können, wie ungezogen die Städter mit ihm umgegangen sind. Wo jeder Einzelne Anspruch auf situationsgerechte Distanz zum anderen anmelden kann, wird das Zu-naheTreten geradezu zum Inbegriff des Fehltritts320 und, wie gesagt, zu einer unerschöpflichen Quelle unabsichtlicher Verletzungen. Wo der common sense hingegen annimmt, daß innerhalb der Gruppe jeder jeden kennt und schätzt, führt entweder die Unkenntnis eines Fremden, Nichtdazugehörigen oder die kalte Schulter, die inszenierte oder bloß unterstellte Kommunikationsverweigerung des Dazugehörigen zum Bruch der Konvention und zur auffälligen Störung vorausgesetzter Harmonie. Es liegt darum nahe, den modernen Fehltrittbegriff für das Mittelalter einfach umzukehren und anzunehmen, daß nicht Distanz und Einzelhaftigkeit, sondern Distanzlosigkeit, positiv gesagt: Gemeinschaftlichkeit, Solidarität und Gruppenkohäsion die Werte waren, gegen die damals am meisten – und zwar durch Aggressivität – verstoßen werden konnte.321 Dennoch ist dieser Umkehrschluß mit Vorsicht zu gebrauchen, nicht nur weil er mit zu groben Kategorien arbeitet, sondern vor allem weil er bedenklich an jenes nostalgische Mittelalterbild vieler, vornehmlich deutscher Kulturkritiker erinnert, die mit der liberalen, individualistischen und zugleich entpersönlichten Funktionsgesellschaft ein Zeitalter der Wurzellosigkeit, Heimatlosikgkeit und Oberfächlichkeit heraufkommen sahen. Auf solch modernitätskritischer Position beruht bekanntlich Ferdinand Tönnies’ an sich triftige Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«, die jedoch eine der Eliasschen entgegengesetzte, nicht weniger reduk318
319 320 321
Gemeint ist damit vor allem das Phänomen der »geschichteten Diffusion« von restringiertem älteren Code in den Unterschichten und elaboriertem neueren Code in den Bildungsschichten; vgl. auch oben Anm. 50 und Dreitzel, Körperkontrolle, S. 185–7. Beetz, S. 180. So Pieper, Grundformen sozialer Spielregeln, S. 88. So etwa Gehring, S. 252f.; vgl. auch oben Anm. 294.
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tionistische Entwicklungthese impliziert.322Angesichts des heute neuauflebenden Interesses an diesem schon der Vorkriegsmediävistik sehr willkommenen Hauptwerk der Gemeinschaftstheorie, die Plessner vielleicht etwas zu polemisch »eine Ethik der Taktlosigkeit« genannt hat,323 kann es nicht schaden, kurz auf die wunderbar luzide und unpolemische Tönnies-Widerlegung durch Josef Pieper zu verweisen, der den Mittelalterforschern übrigens eher als Thomas von Aquin-Spezialist denn als Sozialtheoretiker bekannt ist.324 Dessen Buch ›Grundformen sozialer Spielregeln‹ (mit den Daten der Erst- und Zweitauflage 1933 und 1948) stellt nämlich nicht nur eine einzige Apologie der modernen »Gesellschaft« und deren grundlegenden Distanznorm dar, sondern enthält auch einen Schlüssel zur mittelalterlichen, keineswegs pauschal kommunitaristischen, sondern sehr differenzierten Auffassung der verschiedenen Gesellungsformen und deren je eigenen Störfaktoren. Das entscheidende Argument Piepers liegt in der Aufhebung der Alternative »entweder Gemeinschaft oder Gesellschaft« durch das Prinzip der Angemessenheit: 322
323
324
Gemeinschaft und Gesellschaft (wie Anm. 294). Das Werk ist nach den ersten Auflagen von 1887, 1912, 1920, 1935 mehrfach neuaufgelegt bzw. nachgedruckt worden bis zu der letzten Ausgabe in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1979, 21991. Die bekannteste soziologische Kritik bei René König, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, in: Kölner Zeitschrift für Soziolologie und Sozialpsychologie 7 (1955), S. 348–420. Vgl. auch Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Berlin 1924. Ebd., S. 143f.; vgl. Pieper, S. 95. Auch Luhmanns ›Berufung‹ auf die Witwe Bolte (Gesellschaftsstruktur und Semantik IV, S. 149f.) im Zusammenhang mit gegenwärtigen Gemeinschaftsnostalgikern ließe sich hier anschließen: »Das alles wird der Situation, in der die moderne Gesellschaft sich heute findet nicht mehr gerecht – ganz zu schweigen von Begriffen wie societas civilis oder communitas, die wir wie Sauerkrat aus unseren Kellern holen, um es aufgewärmt zu genießen.« In der Diskussion hat Alois Hahn hervorgehoben, Tönnies sei keineswegs blind gewesen für die negativen Seiten der gemeinschaftlichen Enge, wie »Haß, leidenschaftlichen Mord, Gemeinheit, lebenslange Verbitterung«. Die Gesamttendenz seines Buches scheint mir dennoch auf eine systematische Abwertung der modernen Gesellungsform »Gesellschaft« und eine Mythisierung der face-to-face-Gruppe zur »Heimat« hinauszulaufen (ein symptomatisches Zitat oben Anm. 294). Damit hat auch er das gegenaufklärerische Mittelalterbild der »konservativen Revolution« vorbereitet, das bis heute in der Mediävistik Spuren hinterlassen hat und darum nicht kritiklos übergangen werden kann; vgl. von Moos, Das Öffentliche, S. 3–32 und Ders., Die Begriffe ›öffentlich‹ und ›privat‹ in der Geschichte und bei den Historikern, in: Saeculum 49.1 (1998), S. 161–192. Daß Tönnies zu den wenigen öffentlichen Gegnern des Nationalsozialismus unter den Gelehrten gehörte und dafür büßen mußte, ist ein anerkennenswertes biographisches Faktum, das jedoch nicht als Argument zugunsten seines Gemeinschaftsparadigmas taugt. Es geht hier nicht um eine Person, sondern um eine erfolgreiche Theorie. Otto Gerhard Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: Susanna Burghartz et al. (Hgg.), Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für Frantisek Graus, Sigmaringen 1992, S. 125–153 hat schön gezeigt, wie wenig sich die spezifisch kulturkritische Motivation der deutschen Mediävistik (gerade vor 1933 und nach 1945) auf die braune Ideologie einschränken läßt.
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Beide Gesellungsformen haben an ihrem Platz ihr eigenes Recht. Gemeinschaftlich zusammenlebende Menschen verlangen ebenso legitim nach Nähe und Unmittelbarkeit wie gesellschaftlich miteinander verkehrende, d.h. auf dem Markt oder in der Geselligkeit Güter bzw. Gefälligkeiten austauschende Personen legitim Distanz und Mittelbarkeit beanspruchen dürfen. Fehltritte entstehen durch Verwechslung der ›Foren‹, durch den Gesellschaftsanspruch in gemeinschaftlichen, durch den Gemeinschaftsanpruch in gesellschaftlichen Situationen, d.h. etwa durch Krämergeist und Förmlichkeit in Beziehungen der Nähe, durch Rückhaltlosigkeit, übertriebene Vertraulichkeit oder Aufrichtigkeit in Beziehungen der Distanz.325 Entwicklungsgeschichtlich ist die schwieriger zu erlernende Kunst gesellschaftlichen Umgangs sicher eine spätere Gesellungsform als das gewissermaßen naturhafte Zusammenleben in einer Gemeinschaft. Pieper zieht dazu eine freilich nicht ganz unproblematische Parallele zwischen der Reifung der Einzelperson und derjenigen der Gesamtkultur:326 Das Kind hat kein positives Verhältnis zum Fremden als solchem, sondern begegnet ihm entweder als Feind oder wie einem vertrauten Familienmitglied (einem ›Onkel‹). Wenn ein Erwachsener die Ausschließlichkeit dieser Alternative beibehält, d.h. unfähig bleibt, den nichtvertrauten Menschen als bloß gesellschaftlich-funktionalen Partner zu respektieren, da er ihn entweder feindselig zurückstoßen oder in die Vertrautheit hineinzerren muß, so nennt man ihn ein enfant terrible, einen infantilen Schrecken der Gesellschaft. Er hat deren Hauptregel nicht zu beherrschen gelernt, andere auch da anzuerkennen, wo man sie weder liebt noch haßt. Auf die Kulturgeschichte übertragen, würde diese Reflexion bedeuten, daß gesellschaftliche Neutralität dem Fremden gegenüber, die etwa den weltbürgerlichen Blick des Diplomaten ermöglicht, erst auf einer Spätstufe der Entwicklung heranreift. Eine bekannte Illustration dafür ist jener auf der Weltausstellung von Paris vorgeführte Tuareg, der sich am meisten darüber gewundert hat, »daß man unter so vielen Menschen unbewaffnet herumgehen könne.« Denn er kannte offenbar kein erträgliches Zwischenreich des Umgangs zwischen dem schützenden Clan und der gefährlichen Welt aller Anderen.327 325
326 327
Luthe, S. 13–26 und passim, kritisiert weniger Tönnies (ebd., S. 36, 57) als die gegenwärtigen Tendenzen zur Diskreditierung der Distanz und zur Flucht in die Unmittelbarkeit, d.h. »Vertraulichkeit als Abwehrform«. Unabhängig von der Diskussion um Tönnies ist hier auch auf die wesentliche Unterscheidung von personalen und funktionalen zwischenmenschlichen Beziehungen hinzuweisen bei Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 13–30 und Simmel, Soziologie, S. 102–106, 180ff., 383–413, 797ff. Pieper, S. 95–103. Das Beispiel ebd., S. 100 nach J. Cambon, Le diplomate, Paris 1926. Vgl. auch Firth, Symbols, S. 199ff. und Fuhrmann, S. 23ff. zum Gruß als symbolischer Entwaffnung mit Friedenszwang und zum Risiko der Umgänglichkeit mit Fremden in vormodernen Gesellschaften.
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Der Evolutionsvergleich mit der Kindheit trifft vielleicht auf frühe oder sog. primitive Kulturen zu, keineswegs aber auf die bereits reichlich komplexe Kultur des späteren Mittelalters, in deren Diskurspluralismus die verschiedensten Entwicklungsstufen als Sedimente des Archaischen und Keime des Neuen gleichzeitig aufeinandertrafen. Vielmehr ist die scheinbar ganz moderne Differenzierung von Gemeinschaft und Gesellschaft selbst mittelalterlichen Ursprungs. Die scholastische Theologie hat sehr klar Liebes- und Anerkennungsverhältnisse gegeneinander abgegrenzt und die letzteren aus den realen Gegebenheiten einer durch Standesbarrieren und ökonomische Ungleichheit strukturierten Gesellschaft begründet. Maßgeblich waren dabei mehr die aristotelischen Gerechtigkeits- als die evangelischen caritas-Normen.328 Thomas von Aquin z.B. geht von der Andersheit einer jeden Person aus, die nur »ein Etwas ist, insofern es getrennt ist von allem anderen«, eine Welt für sich, die nie mit anderen Personen zur Einheit verschmelzen kann.329 Die möglichen personalen Relationen bewertet er nicht nach dem Grad der Symbiose, sondern als Stufen der Gerechtigkeit. Singulis propria et congruentia sunt attribuenda.330 Auf dieser Basis errichtet er zwischen dem absoluten simpliciter et politicum iustum, das gegen jeden Menschen gilt, und dem relativen oder partizipativen iustum oeconomicum der Ehegemeinschaft eine ganze Skala proportionaler commensuratio ad alterum nach dem Grad naturhafter Liebesintensität oder kulturbedingter Anerkennung (reverentia).331 Näherstehende wie die Ehefrau verdienen größere Liebe als Fernerstehende wie die Eltern, diese aber sind mehr zu ehren.332 Umgänglichkeit (affabilitas) ist nicht Freundschaft im engeren Sinn, sondern eine jedem Menschen nach Maß des Geziemenden geschuldete Anerkennung der Menschenwürde, aufgrund der im weiteren Sinn jeder jedes Freund ist.333 Sie begründet den Anstand als die Tugend der dignitas, d.h. einer durch Übung zu lernenden Anpassungskunst.334 Die Tugend der dulia oder Ehrerbietung ist im eigentlichen Sinne Höheren geschuldet, aber im weiteren Sinne jedermann, da jeder Mensch einem anderen irgendeine Eigenschaft voraushat; einzig um dieses einzelnen Vorzugs willen, nicht etwa aufgrund seiner überlegenen Person (quantum ad aliquid, et non simplicite) verdient der Andere in der gesell328
329 330 331 332 333 334
In diesem Zusammenhang steht auch die von Angenendt in diesem Band behandelte Lehre der Epikie (s. Summa theol. II–II 120). Vgl. Peter von Moos, ›Public‹ et ›privé‹ à la fin du moyen âge. Le »bien commun« et la »loi de la conscience«, in: StM 41.3 (2000), S. 1–44, im Druck. Quaestio disputata de veritate I 1: aliquid, inquantum est ab aliis divisum; dicitur enim ›aliquid‹ quasi ›aliud quid‹. Vgl. dazu auch Pieper, S. 72. Aristoteles, Ethica Nicom. II 7, 1165 a17 in der Summa theol. II–II 26. 8, resp. Ebd., II–II 26, 7–8 und 57, 4. Ebd., II–II 26, 11. Ebd., II–II 114, 1; eine ähnliche Lehre bei Joinville, s. oben bei Anm. 165f.; zur Menschenwürde in der Höflichkeitsbegründung s. auch S. 43. Ebd., II–II 168, 1 Resp.: scientia circa decens .
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schaftlichen Ehrenordnung einen ›wohldosierten‹ Respekt.335 Umgekehrt gibt es die Sünde der acceptio personarum, die ungefähr dem entspricht, was wir heute unter Korruption verstehen. Sie besteht gerade darin, andere, die nur aus funktionalen Gründen, d.h. ihres Amtes, ihrer Tüchtigkeit, ihres Ranges, kurz, irgendeiner gesellschaftlichen Rolle wegen anerkannt werden müssen, aus persönlichen Motiven als Personen zu verehren.336 Auch in der Alltagspraxis muß die Unterscheidung von species dilectionis et observantiae337 wirksam gewesen sein, sonst gäbe es nicht so zahlreiche Werke der didaktischen und fiktionalen Literatur, die sehr ausgeklügelte Regeln der Begrüßung, Anrede, Bekleidung und aller anderen Formen der Körpersprache im vertraulichen und öffentlichen Bereich normativ oder exemplarisch formulieren. Wir haben die Ars dictaminis erwähnt, die bis zu den pronominalen Verkehrsformen (Ich, Wir, Du, Ihr) alle Kleinigkeiten des gesellschaftlichen Umgangs nach zunächst ständischen, später aber höchst diversifizierten personalen Kriterien (Alter, Geschlecht, Beruf, Charakter usw.) regelte und mit den Regeln natürlich auch die Fehltrittmöglichkeiten vermehrte.338 Überall standen bereits im Mittelalter Binnenräume oder »Hinterbühnen« schwach geregelter persönlich-gemeinschaftlicher Nahbeziehung der großen durchregulierten »Vorderbühne« einer komplex gestuften Außenwelt gegenüber, die man durchaus ›Gesellschaft‹ oder ›Öffentlichkeit‹ nennen kann, wenn man diese Begriffe vom Odium einer ausschließlich modernen Dekadenzerscheinung befreit.339 Nur schon der angeführte Weisheitsspruch Ludwigs des Heiligen über angemessene Bekleidung, der eine Fehltrittserie harmonisch beendet und heilt, enthält einen kleinen Hinweis auf den Unterschied von Liebes- und Anerkennungsverhältnissen, zwischen dem privaten und dem gesellschaftlichen Erscheinungsbild:340 pour ce que vos femmes vous en ameront miex et vostre gent vous en priseront plus. Doch kehren wir nochmals zum paysan de Paris zurück! Das damit illustrierte moderne Distanzierungsmodell beschränkt sich auf den Unterschied zwischen stark oder schwach personalisierter Kommunikation, wofür Raumgröße und Funktion die einzigen Kriterien abgeben. Der mittelalterliche Bauer, der die Grenzen seiner sozialen Binnenwelt überschritten hätte, wäre jedoch mit ganz anderen, nicht weniger zwingenden Zudringlichkeitsverboten konfrontiert gewesen als sein Nachfolger in der modernen Großstadt, über die er sich wohl nicht einmal gewundert hätte. Standesgrenzen waren durch zahlreiche elitäre Distanzierungsmittel von der Kleiderordnung bis zu Gestik 335 336 337 338 339 340
Ebd., II–II 103, 1 und 106, 2–3. Ebd., II–II 63, 1. Vgl. ebd., 106, 3 resp. Oben S. 38f. Vgl. meine oben Anm. 324 erwähnten Arbeiten zum Öffentlichkeitsbegriff; Goffman, Wir alle spielen Theater, S. 100ff. zum Vorder- und Hinterbühnen-Konzept. Oben Anm. 144.
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und Sprache jedem symbolisch auf den Leib oder vielmehr in den Habitus geschrieben, und an Stelle des feinen, stets prekären Gespürs für die nicht zu verletzende Privatsphäre des Anderen sagte der eingewöhnte sense of one’s place unüberhörbar, wieviel Nähe zulässig war.341 Doch wenn der neuzeitliche Wandel von einer Dorfkultur der Indiskretion und Transparenz zu einer Großstadtkultur des privaten noli me tangere nicht von der Hand zu weisen ist, wie läßt sich diese von Georg Simmel theoretisch noch vertiefte Beobachtung Tardes342 mit der These einer seit dem Mittelalter ununterbrochenen Koexistenz der gemeinschaftlichen und der gesellschaftlichen Gesellungsform vereinbaren? Anders gefragt: Worin liegt die differentia specifica der mittelalterlichen gegenüber der modernen ›Gesellschaft‹, wenn beide, nicht nur die letztere, sich grundsätzlich durch eigene Distanznormen von ›Gemeinschaft‹ unterscheiden? Modern scheint mir nicht die zwischenmenschliche Distanz als solche. Schopenhauers Stachelschwein-Parabel trifft anthropologisch wohl auf sämtliche Kulturen zu: Man kann sich als Stachelschwein nicht wärmen, ohne gestochen zu werden, und findet allemal nur eine mittlere, weder zu kalte noch zu stachelige Reichweite erträglich.343 Wesentlich modern ist vielmehr erstens der Abstand vor dem zur Institution gewordenen selbstreferentiellen Individuum, das sich außer mit sich selbst (allenfalls noch der Paargemeinschaft) mit nichts, mit keinen sozialen Einheiten, Verbänden oder Sippen ganz identifiziert und das ein Recht auf die eigene Privatsphäre sowie auf die Wahl der je situativ passenden Gesellungsform beanspruchen kann. Im Wesentlichen hat die delikate Distanz gegenüber der Individualehre die relativ normierte Distanz gegenüber der Kollektivehre abgelöst.344 Zweitens liegt die Differenz der Kulturen in der Art des Verstoßes gegen die metahistorische Distanznorm: Der Fehltritt besteht heute in einem vagen Zunahe-Treten, das keine formale Regel, sondern einzig das eigene Gespür, die feine Nase, das savoir vivre verbietet (nach Bourdieu immer noch Distinktionskriterium und Sozialisierungsresultat345). Auf den großen Informalisierungsprozeß der letzten dreihundert Jahre, der bereits mit dem Wandel von der Kultur der Etikette zur Kultur des Taktes begann,346 kommt dabei mehr 341 342
343 344 345 346
Vgl. Bourdieu, Méditations Pascaliennes, S. 220f. zu dem noch heute wirksamen Habitus ständischer Grenzen, der nichts mit Klassenbewußtsein zu tun hat. Vgl. Simmel, Über sociale Differenzierung (1892), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen II, S. 109– 296 und Ders., Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität (1888), in: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. von H.-J. Damme / O. Rammstedt, Frankfurt a. M. 1983, S. 53–60. Parerga und Paralipomena, Kap. 31, Gleichnisse, Parabeln und Fabeln, Nr. 396; vgl. Hall, The Hidden Dimension. Dreitzel, Peinliche Situationen, S. 165–170. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 125ff. Oben S. 38.
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an als auf die von Elias mit verkürzten Freudschen Kategorien ins Zentrum gestellte Entwicklung zu immer mehr Affektkontrolle und Körperdistanz, eine Tendenz, die sich mit der Entritualisierung und Emanzipation von viktorianischen Formenzwängen eigentlich hätte umkehren müssen, aber keineswegs umgekehrt hat.347 Aus dem Konflikt von Lust- und Realitätsprinzip läßt sich dieses Paradox kaum mehr erklären. Denn das Problem liegt heute nicht darin, interiorisierte Gebote und Verbote anzunehmen oder abzulehnen, sondern in der sozialen Kompetenz, Verhaltensregeln überhaupt zu finden und anzuwenden. Jeder ist in Distanzierungsfragen sein eigener Gesetzgeber und Rechtssprecher geworden, aber nicht mehr im positiven Sinn der Freiheit in foro conscientiae, sondern im defizienten Modus eines mit Fällen hoffnungslos überlasteten Tribunals.348 Wie Alois Hahn treffend bemerkt, ist darum meist das Individuum, das ein Fehlurteil fällt und dadurch auffällig wird, selbst der Hauptgeschädigte des Fehltritts, und die anderen sind weniger Opfer als peinlich berührte Zeugen seiner »Autostigmatisierung«.349 Vor der modernen Subjektivierung der Verhaltensformen zu Geschmacksfragen mußte fast immer eine bestimmte rituell festgelegte Distanzierungsregel, die zu einem ungeschriebenen Gesetz, einem ganzen System von Vortrittsrechten, einer hierarchisch determinierten Verkehrsordnung gehörte, überschritten werden, damit der Fehltritt als refus, als die schockierende Anerkennungsverweigerung, die er für die Betroffenen oder sich betroffen Fühlenden darstellte, auch regelrecht spruchreif werden konnte. Die Verletzung einer kleinen Anstandsregel konnte darum als formelle Beleidigung gelten. Wenn etwa bei einem Gastmahl zu später Stunde ein Ritter über das aus irgendeinem Grund etwas zu weit ausgestreckte Bein eines anderen stolperte und zu Boden fiel, so war dies, gleichviel ob Zufall oder Absicht dazu geführt habe, eine symbolische Herausforderung durch das, was heute noch ›ein Bein stellen‹ heißt, also ein wahrer casus belli, mögen wir darin im buchstäblichen Sinn auch nur einen Fehltritt (des Fallenden, nicht des Zu-Fall-Bringenden) sehen, den man mit etwas Geschick leicht wieder zum Verschwinden bringen könnte. Das aristokratische Mittelalter, das hier im Blickfeld stand, kannte in erster Linie die beiden ungeheuer schwerwiegenden Kategorien Ehre und Schande, und dazwischen war der Minimalverstoß gegen eine selbstverständliche (und doch nur dem Selbstverständlichkeits-Kenner praktikable) Um347 348
349
Vgl. Dreizel, Körperkontrolle, S. 179–194; und oben S. 73f. zur Informalisierung. Vorbildlich sind die Vergleiche Millers (Humiliation, S. 196ff. und passim) zwischen modernen Fehltritten und mittelalterlichen Ehrverletzungen, wobei er allerdings weniger die Unterschiede als die Analogien hervorhebt. In diesem Sinne vgl. auch die Arbeiten von Vogt. Hahn, in diesem Band (Kap. 1). Über die ansteckende Wirkung der Verlegenheit eines Interaktionspartners auf die anderen als Quelle peinlicher Situationen s. Miller, Humiliation, S. 152ff.; Goffman, Interaktionsrituale, S. 116ff. (»Verlegenheit und soziale Organisation«).
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gangsform so etwas wie das Zünglein an der Waage. Vielleicht war die Fragilität der Ehrenordnung ein Hauptgrund für die Ununterscheidbarkeit von Schuld und Versehen. Der Ehrverlust war eine zu gravierende Angelegenheit, als daß er auf ein je ne sais quoi zurückgeführt werden konnte.350
350
Jan-Dirk Müller spricht darum in seinem Beitrag zu Recht von einem geradezu apokalyptischen Gewicht des Fehltritts aufgrund der Ungeschiedenheit der Transgressionstypen vom Verbrechen bis zum kleinen Formfehler; s. auch oben S. 16f. zur Sündenfall-Metaphorik.
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Bernhard Jussen
Nicht einmal zwischen den Zeilen
Eine kurze Bemerkung zum »Fehltritt« in der lateinischen christlichen Literatur des Mittelalters Peter von Moos hat den Autoren dieses Buches eine klar definierte Aufgabe gestellt: Sie sollten in ganz unterschiedlichen Sorten der mittelalterlichen Textproduktion eine Denkfigur aufspüren, für die es in keinem der untersuchten Texte ein Lexem gibt. Die gesuchte Denkfigur soll den Wissenschaftsbegriff »Fehltritt« tragen. Umgangssprachliche Bedeutungen dieses Terminus sind im Rahmen der Aufgabenstellung irrelevant, eine »anthropologische Definition des Fehltritts« als Wissenschaftsbegriff ist verbindliche Arbeitsgrundlage.1 Meine Aufgabe war die Suche in der christlichen lateinischen Literatur des Mittelalters, also in jenen Werken von Hieronymus über Alkuin, Beda, Bernhard oder Thomas Aquinas bis zu Predigern wie Thomas a Kempis, die wir üblicherweise in den Quellensammlungen der Patrologia Latina oder des Corpus Christianorum suchen. Die Erfolgsaussichten, bei diesen Autoren eine Vorstellung wie »Fehltritt« zu finden, hängen wesentlich davon ab, was die Aufgabenstellung als »Fehltritt im anthropologischen Sinne« gelten läßt und was nicht. Ich rufe also in Erinnerung: Wenn ein mittelalterlicher Autor eine unbeabsichtigte und geringfügige Handlung beschreibt und sie als peinlich, beschämend und rufschädigend begreift, ohne sie mit moralischen Kriterien zu interpretieren,2 dann (und nur dann) ist er definitionsgemäß in der Lage, einen »Fehltritt in anthropologischem Sinn« zu denken, obgleich er für diese spezifische Wahrnehmung zu seiner Zeit kein Lexem (im Sinne des späteren faux pax) zur Verfügung hatte. Texte, in denen sich solche Darstellungssituationen finden lassen (Peter von Moos fand sie bei Joinville, Chastellain und Commynes), geben dann hoffentlich Techniken der Versprachlichung des Fehltritts avant la lettre preis, semantische Verdichtungen, vielleicht sogar Entwicklungslinien.
1 2
von Moos, Einleitung, oben S. 2 und S. 26, Anm. 99 Ebd. die Definition S. 2.
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Bernhard Jussen
Gerade das Gegenteil der vorgegebenen Definition erwarten wir gemeinhin, wenn wir jene Werke der christlichen Literatur konsultieren, die ich zu durchforsten hatte. Kaum Hoffnung auf Funde weckt überdies die Begriffsgeschichte der Wörter ›Fehltritt‹, faux pas (bzw. deutsch ›Fauxpas‹), blunder, impair, die Peter von Moos in der Einleitung zu diesem Buch ausführlich entwickelt: Das Wissen um die Begriffsgeschichte erlaubte es dem Herausgeber, schon bei der Aufgabenstellung die Suchrichtung der Autoren zu dirigieren: Der historische Ort, an dem ein Gespür für Fehltritte erstmals im Mittelalter signifikanten sprachlichen Niederschlag fand, sind die Texten »zwischen dem höfischen und dem spirituellen Code«, genauer: die »Latenzperiode« zwischen der Dominanz des einen zur Dominanz des anderen Codes.3 Die Wortgeschichte untermauert, was zu erwarten war: »daß offenbar die Welt der ›höfischen Gesellschaft‹ Frankreichs entscheidend zur Ausprägung eines Wortschatzes und einer Wahrnehmung der Peinlichkeit beigetragen hat«.4 Wer die Spuren einer so verstandenen Semantik des »Fehltritts« von der höfischen Kultur ausgehend zeitlich rückwärts verfolgt, geht über die vielen Jahrhunderte des Mittelalters leer aus und wird erst wieder in der außerchristlichen Antike fündig. In der Zwischenzeit aber scheint jegliche Transgressionssemantik, die nicht in Kategorien der Moral wahrgenommen wird, vollständig zerstört worden zu sein von jenem gut bekannten christlichen Diskurs, in dem Transgression nur noch in Kategorien von Sünde und Schuld erfaßt wurde. Diese Zerstörung geschah, wie Peter von Moos gezeigt hat, in der Form einer radikalen Umsemantisierung gerade jenes Wortschatzes, mit dem die außerchristliche Antike den Fehltritt artikuliert hat: Die Schlüsselwörter der vorchristlichen Fehltrittsemantik – peccatum, error, culpa, oder lapsus (um nur die lateinischen zu nennen) – wurden nun die Schlüsselwörter der Sündenund Schuldsemantik.5 Was also soll unter diesen Umständen der Blick in die religiösen Texte des fünften bis etwa dreizehnten Jahrhunderts überhaupt noch leisten? Auch diese Frage ist in der Aufgabenstellung beantwortet: Im Rahmen einer makrohistorisch argumentierenden historischen Semantik, wie sie Peter von Moos in diesem Buch anstrebt, müssen auch »die wenigen ›undichten Stellen‹ im dominanten Sünden- und Schuld-Diskurs des Mittelalters ernst genommen werden.«6 Darum also hat es bei meiner Suche zu gehen: ob es nicht doch in der lateinischen christlichen Literatur vor der Verbreitung des »höfischen Codes« hier und dort Gebrauchssituationen gab, in denen die Autoren auf eine Transgressionssemantik zurückgriffen, die nicht moralisch qualifizierte.
3 4 5 6
Ebd. S. 24 und 27. Ebd. S. 5. So bes. ebd. S. 8–12. Ebd. S. 26 Anm. 99
99
Nicht einmal zwischen den Zeilen
»Undichte Stellen im dominanten Schuld- und Sühnediskurs«?
1
Als »undichte Stellen im dominanten Schuld- und Sühnediskurs« können wohl nicht einzelne Früchte aleatorischen Herumstreunens in den Textmassen vorgezeigt werden. Denn wer dieses Verfahren zuläßt, der findet für beinahe alles, was er sucht, einen Beleg. Erklären läßt sich damit aber kaum etwas, ein Einzelbeispiel ist eben kein Diskurs. Wenn es um einen Diskurs gehen soll, der »undichte Stellen« hat, dann geht es um systematische Inkohärenzen eines dominanten Aussage-Systems. Solche undichten Stellen müßten zwar selten, aber immerhin systematisch im Meer der diskursspezifischen Ausdrucksweisen zu finden sein. Wo und wie also kann man in den dominierenden Ausdrucksgefügen Sinnanteile aufspüren, die nur in wenigen Gebrauchssituationen aktualisiert wurden? Wie lassen sich die Textmassen des Migne und Corpus Christianorum bewältigen? Die grundsätzlich für eine Fehltrittsemantik verdächtigen Termini scheinen auf der Hand zu liegen, da wir die antiken Sprechkonventionen kennen. Die Semantik des Fehltritts findet man in der Antike mit den Lemmata peccatum, error, lapsus, scandalum, culpa (zufolge der begriffsgeschichtlichen Einführung von Peter von Moos). Ich habe mich versuchsweise auf ein Verfahren im Sinne der sogenannten distributiven Semantik verlassen, genauer: auf die Untersuchung von Kollokationen. Dieser Ansatz geht von einer an sich simplen Annahme aus: »Bedeutung ist überhaupt nur im Gebrauch entstanden, und sie entsteht ständig neu,« folglich kann man sie auch nur in den jeweiligen Gebrauchszusammenhängen ermitteln, und diese variierten ständig.7 Manche Forscher gehen so weit, »die Bedeutung wirklich mit der Distribution gleichzusetzen«.8 Grundsätzliche (und kontroverse) Fragen dieser Art müssen hier nicht diskutiert werden, um Spuren einer Fehltrittsemantik in der christlichen Literatur mit Hilfe von Kollokationstabellen (vgl. Abb.) zu suchen. Solche Tabellen beziehen sich auf ein definiertes Textcorpus und zeigen die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Wort in der Nachbarschaft des untersuchten Wortes auftaucht, also hier: als Nachbar von peccatum, error, lapsus, scandalum oder culpa. Zu prüfen ist, ob die Bedeutung dieser Wörter wenigstens hin und wieder durch Wort-Nachbarschaften generiert wird, die auf »undichte Stellen« des Sündendiskurses hinweisen.9 Derartige Verfahren sind zwar in der Linguistik seit langem üblich, doch »erst in neuerer Zeit sind einige Versuche unternommen worden, distributive Methoden auf größere Textcorpora anzuwenden und so semantische Ent7 8
Hans Jürgen Heringer, Das höchste der Gefühle. Empirische Studien zur distributiven Semantik, Tübingen 1999, S. 15. Ebd. S. 33. 1Anm. 9–10 s. nächste Seite
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wicklungen zu modellieren«.10 Es gibt nur sehr vereinzelte Vorbilder für die hier gestellte Aufgabe und praktisch keine Diskussion – schon gar nicht über die Disziplingrenzen zwischen Geschichtswissenschaft und Germanistik hinweg.11 Immerhin liefert die Arbeit am »Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820« einige Erfahrung. Auch erste Untersuchungen an mittelalterlichem Material stehen zur Verfügung.12 Außer Frage steht gleichwohl, daß die historische Semantik den Umgang mit großen Text9
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Das Verfahren ist die Grundlage des 1999 begonnenen Projektes »Semantik der christlichen Sprache im Mittelalter« am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. Ich habe für die Suche nach dem Fehltritt im zweiten Teil (=mittelalterliche Texte) der elektronischen Quellensammlung Cetedoc (4. Auflage 2000) zunächst alle Formen zu jedem der fünf Lemmata gesucht und jeweils im Umfeld von 3 Sätzen herausgeschrieben, und zwar zunächst ohne Rücksicht auf Textsorten (wie Predigten, Viten, Chroniken, liturgische Texte) und Entstehungszeiten (zwischen dem siebten und fünfzehnten). Ich erhielt auf diese Weise eine Folge von 31279 Textstellen des Lemmas peccatum (jeweils bestehend aus drei Sätzen), 3894 des Lemmas error, 3843 des Lemmas culpa, 2023 scandalum und 1762 lapsus. Aus diesen Satzfolgen ließ ich Wortstatistiken machen, in denen jedes Wort noch in der grammatikalischen Form auftauchte, die es im Text hatte. Da Einzelbelege für die Suche nach der Fehltrittsemantik im mittelalterlichen Sündendiskurs irrelevant sind, habe ich nur noch mit den Wörtern weitergearbeitet, die nach Ausweis dieser (nicht lemmatisierten) Liste mindestens zehn mal im Textcorpus vorkamen. Die in den Listen verbliebenen Wörter wurden auf ihre lexikalischen Grundform (Lemma) zurückgeführt. Die Listen der Lemmata wurde dann wiederum ausgezählt, wodurch die Kollokationstabellen entstanden. Eine Trennung der Texte nach Zeiten und Textgattungen differenziert in einem weiteren Schritt den Wortgebrauch und macht Entwicklungen deutlich. Gerd Fritz, Historische Semantik (Sammlung Metzler 313), Stuttgart – Weimar 1998, S. 97. So haben weder Fritz (wie Anm. 10) noch Heringer (wie Anm. 7), das derzeit am weitesten entwickelte Projekt historischer Semantik in der Geschichtswissenschaft wahrgenommen und diskutiert (das »Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820«, wie Anm. 12). Vgl. besonders das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, hg. von Rolf Reichardt, München 1985, hier besonders den ersten Band sowie den Erfahrungsbericht nach zehn Jahren: Rolf Reichard, Historische Semantik zwischen Lexicométrie und New Cultural History. Einführung zur Standortbestimmung, in: Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, hg. von Rolf Reichardt (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 21) Berlin 1998, S. 7–28; ferner: Hans-Jürgen Lüsebrink, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte und Narrativität, ebd. S. 29–44; Günther Lottes, The state of the Art. Stand und Perspektiven der »intellectual history«, in: Neue Wege der Ideengeschichte. Fs. Kurt Kluxen, hg. von Frank-Lothar Kroll, Paderborn 1996, pp. 27–45; ich habe selbst eine Probestudie zu den Lemmata munus (donum, oblatio) und remuneratio gemacht, mit der sich nachweisen ließ, daß die verbreitete wissenschaftliche Vorstellung vom Gabentausch als eines Axioms der mittelalterlichen Kultur in der religiösen Literatur keinerlei Stütze hat. Wenn Autoren über munera oder dona sprachen, verzichteten sie durchweg auf Reziprozitätssemantik; vgl. Bernhard Jussen, Religious Discourses of the Gift in the Middle Ages. Semantic Evidences (2nd – 14th Century), in: Negotiating the Gift, hg. von Gadi Algazi, Valentin Groebner und Bernhard Jussen (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte), Göttingen (im Druck).
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massen gerade erst zu diskutieren begonnen hat und daß die methodischen Untiefen noch nicht abzusehen sind.13 Der Anspruch mit Blick auf den »Fehltritt« muß also bescheiden sein: Die Kenntnis der Kollokationen soll die Grundlage der ‚eigentlichen’ Arbeit sein, die aus zwei Schritten besteht: Der wichtigste ist die Textinterpretation. Diese unterscheidet sich vom üblichen Verfahren historischer Interpretation dadurch, daß sie die sprachliche Architektur des untersuchten Phänomens kennt. Die Auswahl der interpretierten Texte wird auf diese Weise unabhängiger von der theologie- oder dogmengeschichtlichen Forschungstradition mit ihrer notorischen Bevorzugung der »Gipfelwanderer« (Augustin, Thomas usw.), aus der sich die Deutungen ansonsten kaum befreien können. Die Orientierung an den Wortfeldern rückt demgegenüber die Masse der »mittleren Textebene« in den Blick, also die Sprachgewohnheiten der Durchschnittsautoren. In einem weiteren Schritt ist dann, falls davon ein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist, das Textcorpus nach Entstehungszeiten und Textgattungen zu zergliedern. Die Auswertung der semantischen Felder error und scandalum gestaltete sich denkbar kurz, denn zur Textinterpretation kam es erst gar nicht. Wenn diese Schlüsselwörter in der Antike die Fehltrittsemantik organisiert haben, so sind sie im religiösen Schrifttum des Mittelalters völlig frei davon. Allenfalls im Feld des Schlüsselwortes peccare gab es Aussichten auf Spuren des Gesuchten. Wenn die christlichen Autoren über die Sünde sprachen (und das taten sie oft, peccare/peccatum gehört zum engsten Kreis der diskursstrukturierenden Konzepte), dann bauten sie selten, aber immerhin statistisch erfaßbar, auch einen Ausdruck für Scham in ihr Argument ein, besonders pudor, aber auch verecundia und erubescentia. Etwa in jeder fünfzigsten Gebrauchssituation verbanden sie das peccatum mit Scham.14 Eine »undichte Stelle«, durch die Denkformen einer »Schamkultur« in den Sünden- und Schulddiskurs eingedrungen wäre, findet sich hier gleichwohl nicht. Denn diese Schamsemantik in den Briefen, Chroniken, Viten, Traktaten und Predigten der christlichen Autoren war eine umfassend theologisierte und eine fest in den Sündendiskurs eingebaute. Scham war in der theologischen Reflexion stets rückgebunden an die Logik der Kategorie ›Sünde‹. Insofern sie verhaltenssteuernd in hoc mundo ist, galt sie als schlechte und sündige Scham. Insofern sie Teil der Sündenerkenntnis und des Sündenbekenntnisses ist, gilt sie als gute Scham.15 Es lohnt nicht, weiter in diese Zusammenhänge einzudringen, denn erstens führen sie nicht an die gesuchten Fehltrittsituationen heran, und zweitens deckt sich das, was sich finden läßt, im Gro-
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Fritz, Historische Semantik (wie Anm. 10) S. 97. Auch im semantischen Feld des Schlüsselwortes culpa ist der Zusammenhang greifbar, aber nur in etwa jeder hundertsten Gebrauchssituation. Anm. 15 s. nächste Seite
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ßen und Ganzen mit dem, was man in der theologiegeschichtlichen Literatur finden kann. Der Hinweis auf die theologiegeschichtliche Forschung immerhin dürfte nützlich sein in der Diskussion um den Fehltritt. Denn die im vorliegenden Buch dokumentierten Diskussionen haben ihren Ausgang bei der Vermutung genommen, daß die »Differenzierung von Scham- und Schuldkulturen« der geeignete Horizont für die Suche nach den Fehltritt sei.16 Was damit gemeint ist, wird aus der Einleitung von Peter von Moos ohne weiteres deutlich und plausibel. Gleichwohl sollte man nicht vergessen, daß Scham ein zentrales Konzept der christlichen Theologiegeschichte ist und entsprechend in den einschlägigen wissenschaftlichen Handbüchern ausführlich erörtert ist.17 Scham und Schuld sind – sozusagen von Anfang an, seit dem Griff des ersten Menschenpaares in den Baum der Erkenntnis – ein konzeptuelles Paar. In der theologischen Konzeption kommen sie nicht ohne einander aus, sind auf einander bezogen. In der Praxis der religiösen Rede allerdings gerät diese theologisch definierte Komplemetarität zu einer Herrschaftsveranstaltung der Sündensemantik, wird doch in den weitaus meisten Situationen (etwa im Verhältnis 49:1) über Sünde geschrieben, ohne daß ›Scham‹ zu den Nachbarn im Ausdrucksgefüge gehört.
Diagramm gegenüberliegende Seite: Kollokationen zu: pudere/pudor/pudicus/pudicitia Corpus: Cetedoc 4. Auflage Treffer: 2462 Textsorten: Keine Einschränkung Zeit: Mittelalterliche Texte des Cetedoc gesamt
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Solange man den beherrschenden Wortgebrauch belegen will, sind die Beispiele natürlich beliebig, ich wähle einen Sermo Aelreds von Rievaulx über die Buße (Sermo 33, in: Opera Omnia, ed. Gaetano Raciti, CCCM 2a, Turnhout 1989,. S. 272: Sed adhuc immunda est anima, donec incipiat ‹accedere› ad oris confessionem. Tunc uenit ad praelatum suum et confitetur peccata sua, et est ista confessio quasi dies quartus. Sed quia in confessione confunditur et erubescit, de ipsa confusione solet nasci quidam gemitus et quaedam compunctio: tunc incipit gemere et flere quod tam turpia et tam erubescentia commisit. von Mosos, Einleitung S. 2. Vgl. die Artikel im Dictionnaire de Spiritualité, in der Theologischen Realencyclopädie, im Lexikon für Teologie und Kirche, im Lexikon des Mittelalters und im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Die Scham im Sinne des Fehltritts wird natürlich in keinem dieser Lexika erörtert, da sie zumindest bis ins 15. Jahrhundert nicht Bestandteil der okzidentalen Kultur war.
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pudor deus, deitas virgo, virginitas dicere, dictum facere, facilis sanctus, sanctitas verus, veraciter, veritas habere bonus, bonitas homo christus virtus filia, filius, filiatio verbum fides, fidelis caro, carnalis peccare, peccator spiritualis, spiritus corpus, corporalis castitas, castus mens vivere, vita, vivus, vitalis spondere, sponsio regere, rex, regalis pater, paternus amare, amor, amabilis gratus, gratia gloriari, gloria ecclesia, ecclesiasticus cor malus, malum, malitia inquire oculus anima honorare, honor tempus, temporalis opus, operare, operatio magnus, magnitudo animus mundus, mundanus debere, debitor fortis, fortitudo frater, fraternus vir, virilis timere, timor humilare, humilitas res divinus, divinitas sapere, sapiens, sapientia
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Demgegenüber zeigen die Kollokationen zum Vokabular der Scham ein anderes Bild. In den meisten Gebrauchssituationen werden pudor, verecundia oder erubescentia in Ausdrucksgefügen verwendet, die den Scham-Schuld-Zusammenhang deutlich ausdrücken (unschärfer hingegen confusio). Exemplarisch sei dies an den Kollokationen von pudere-pudor-pudicus-pudicitia skizziert: Signifikant in der Tabelle ist die Prominenz von virgo/virginitas, ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Schamsemantik weitgehend in der christlichen Tugend der Schamhaftigkeit aufgeht. In diesem Sinne gehören auch virtus und castitas zu den dominierenden Kollokationen von pudor/pudicitia. Auf den Sündendiskurs verweisen die Lemmata ›gut‹ bzw. ›schlecht‹ und ›Sünde‹ bzw. ›Buße‹, ferner das Vokabular der Intention (voluntas, cor, anima, animus, mens) sowie Signalworte wie ›Welt‹ (mundus), ›Fleisch‹ (caro) und ›Werk‹ (opus). Natürlich spiegeln die Kollokationen von pudor bis zu einem gewissen Grad auch die Hierarchie der christlichen Sprache im Ganzen. Besonders die Prominenz und Häufung der Gottesbezeichnungen (deus, dominus, Christus, filius, rex, pater) ist offensichtlich nicht spezifisch für die Schamsemantik. Doch selbst diese Wörter mit der denkbar weitesten Streuung über die verschiedensten Gebrauchssituationen wurden nicht so unspezifisch eingesetzt, wie es zunächst scheinen mag. Selbst die am breitesten gestreuten Worte deus und dominus waren nicht wie eine Sauce über alle Ausdrucksgefüge gleichermaßen verteilt. Vielmehr zeigen sie sogar dann spezifische Verteilungen, wenn man eng verwandte Wortfelder vergleicht, etwa donum und munus.18 Doch es lohnt hier nicht, ins Detail zu gehen. Schon die Kollokationstabelle läßt, kurz gesagt, keine Überraschungen erwarten. Und die Lektüre bestätigt dies. Wer sich vom Wissen um die dominierenden Kollokationen in die Texte führen läßt, findet auf verschiedene Weisen den Zusammenhang von Scham und Schuld erörtert. Welche Positionen die Autoren im Rahmen dieser Koordinaten im Einzelnen bezogen haben, ist hier nicht interesssant. Dies müßte untersuchen, wer sich für das christliche Schamverständnis interessiert. Im vorliegenden Buch aber sind Informationen über den christlichen Schamdiskurs gerade nicht gefragt, so daß ich auf die Interpretation von Einzeltexten hier verzichte. Untersuchungsansätze wie der hier erprobte sehen sich leicht dem Vorwurf ausgesetzt, die Heterogenität, Vielperspektivität und Situationsgebundenheit der Texte einzuebnen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wenn massenhaft verwendete (also offenbar kulturell eingeübte) Kollokationen veranschaulicht werden wie in der Tabelle zu pudor, dann wird augenfällig, wie unscharf die 18
Meine in Anm. 8 zitierte Studie ergab, daß die Konkurrenz der beiden christlichen Gottesbilder in der Entscheidung eines Autores zwischen munus und donum aktualisiert wurde. Mit munus gebrauchten die Autoren bevorzugt dominus und rex, mit donum bevorzugt deus und pater.
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Übersetzung eines selbstverständlichen Theologoumenon in die Sprachgewohnheiten bleibt. Die im christlich-jüdischen Schöpfungsmythos angelegte und theologisch oft genug begründete Komplementarität von Schuld und Scham findet in den Ausdrucksweisen der Autoren nur eine schwache Institutionalisierung: in der Schuldsemantik ist das Sinnpotential der Scham kaum nachweisbar, in der Schamsemantik sind Schuldanteile zwar deutlich, aber ebenso deutlich sind die Grenzen sprachlicher Institutionalisierung. Wer die kulturspezifische Semantik untersucht, die eingeübten Ausdrucksgefüge oder Sinnfiguren, der macht immer auch den Grad des Ungeregelten sichtbar, des Unspezifischen. Der Raum für Heterogenität, Vielperspektivität und Situationsgebundenheit wird erst deutlich, wenn man etwas über die Sprechgewohnheiten und den Grad ihrer Institutionalisierung weiß. Die Veranschaulichung der Kollokationen macht augenfällig, was wohl nicht mehr bewiesen werden muß: daß »Bedeutung kein Alles-oder-Nichts-Problem [ist], sondern ein quantitativ abgestuftes Konzept«.19 Mit anderen Worten: Daß sich jederzeit ein Autor aus institutionalisierten Sprachgefügen befreien kann und eigenwillige Ausdrucksgefüge für eigene Sinngenerierungen produzieren kann, versteht sich. Wer eine solche untypische Ausdrucksweise findet (etwa einen »Fehltritt im anthropologischen Sinne« bei einem hochmittelalterlichen Autor) hat noch nichts bewiesen. Es ist riskant und harrt des Beweises, hinter einer abweichenden Semantik sogleich »Sonderdiskurse« zu wittern, »die sich der totalen Klammer der moralischen Defizienzsemantik entziehen«.20
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Abaelard?
Um wenigstens einem Beispiel abweichender Semantik nachzugehen, folge ich abschließend noch jenem Autor, den Peter von Moos in der Einleitung als einzigen des frühen und hohen Mittelalters heranzieht, Petrus Abaelard. Der Sündenfall (lapsus), so hat Abaelard argumentiert, sei nur eine modica transgressio gewesen, denn Adam sei völlig unerfahren gewesen und habe keine Vorbilder guten und schlechten Verhaltens gehabt, sei mithin nicht wirklich 19
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Mit den Worten von Wolfgang Marx, Das Konzept der assoziativen Bedeutung, in: Semantische Dimensionen. Verhaltenstheoretische Konzepte einer psychologischen Semantik, hg. von Wolfgang Marx u. Alexander von Eye, Göttingen/Toronto/Zürich 1984, S. 73–81, Zitat S. 75. Um einen jener Deutungsweisen aufzugreifen, die Peter von Moos in der programmatischen Einleitung vorgeschlagen hat (oben S. 15); ich habe an den Texten Bernhards von Clairvaux und Meister Eckharts gezeigt, daß deren (mit Blick auf Gottesbild und Verdienstdenken) konsequent von der Konvention abweichende Sprachgebrauch keinerlei nachweisbare Konsequenzen in der Rezeption hatte; vgl. dazu Bernhard Jussen, Der Name der Witwe. Erkundungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 158) Göttingen 2000, S. 83–140.
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schuldfähig gewesen. Mancher moderne Interpret hat die modica transgressio mit ›Fehltritt‹ übersetzt, und Peter von Moos übernimmt diese Übersetzung auf der Suche nach Fehltritten im Mittelalter.21 Umgangssprachlich ist dagegen nichts einzuwenden, kaum aber erfüllt Abaelards Text die strengen Bedingungen, die – der Aufgabe dieses Bandes folgend – an einen »Fehltritts in anthropologischen Sinn« zu stellen sind. Zwar reklamiert Abaelard Unwissenheit für den schwer bestraften Fehltreter Adam, und Unwissenheit soll definitionsgemäß ein Attribut des Fehltritts sein. Aber das Konstitutivum des Fehltritts ist ein anderes – und in Abaelards Erörterung gerade nicht zu finden: Abaelard diskutiert Adams transgressio in Kategorien von Schuld. Und gerade dies schließt die Arbeitsdefinition für diesen Band aus. Davon abgesehen scheint mir, wie gesagt, fraglich, ob man überhaupt etwas gewinnt, wenn man aus dem Beispiel Abaelards den Schluß zieht, »daß der spezifisch christliche Begriff transgressio auch den Fehltritt meinen konnte.«22 Selbst wenn Abaelard im Nachdenken über Adam das Konzept des Fehltritts ›erfunden‹ hätte, bliebe seine Ausdrucksweise isoliert. Eigenwillige Autoren verwendeten die Sprache anders als die Autoren der sogenannten »mittleren Textebene«, die das Durchschnittsschrifttum erzeugt haben. Immer wieder stoßen wir deshalb neben den kollektiven Sinnfiguren auf individuelle Sinngenerierungen, die so kurzlebig waren wie ihre Erfinder. Systematisch interessant werden diese Sinnerzeugungen, wenn sie so gehäuft auftreten, daß die kollektiven Ausdrucksgefüge ihr Profil verlieren (also in Situationen der Desorientierung), oder wenn man einer solchen individuellen Sprachschöpfung eine Wirkungsgeschichte zuschreiben kann (wie etwa den solus/sola Formulierungen des 16. Jahrhunderts, deren Karriere schon im 15. Jahrhundert begann). Dies aber geht mit dem Beispiel Abaelards – und manch anderen Autors, der die Zuneigung der Forschung genießt – gerade nicht. Trotzdem verführt gerade die Person Petrus Abaelard dazu, einen Moment länger zu verweilen. Denn seine »Leidensgeschichte« führt wohl so nahe wie kein anderer früh- und hochmittelalterlicher Text an jene Denkfigur heran, die in diesem Buch ›Fehltritt‹ heißen soll. Die autobiographische Erzählung vom kometenhaften Aufstieg eines scharfsinnigen Denkers zum gefürchteten Star und enfant terrible des Pariser Lehrbetriebs, von seiner exzessiven Liebesgeschichte mit einer ihm anvertrauten Schülerin, von seiner Demütigung durch die rachsüchtige Verwandtschaft der zur Mutter und Ehefrau gewordenen Schülerin bewegt sich vollständig auf der Ebene des hier gesuchten Diskurses. Marginalisiert, wenngleich bisweilen eingestreut, sind in der »Leidensgeschichte« die moralisierenden Wertungen. Der gesamte Duktus der Erzählung folgt der Logik des Ruhmes (»…wurde ich gedemütigt durch die Verbrennung jenes Buches, auf das ich so stolz war«), der Reputation (»… wie 21 22
von Moos, Einleitung S. 16. Ebd. S. 17
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die Hörsäle sich füllten, wie meine Einnahmen aus dem Kolleggeld sich erhöhten und mein Ruhm anstieg«), der Umgangsformen (»… von den Umgangsformen der weltlichen Frauen verstand ich nicht viel«), des Spottes (»… alle wußten es, außer jenem, den der Spott am meisten betraf, der Onkel«) und des Auslachens (mit »Geschrei und Gespött« reagierten die Mitstudenten anfangs auf den jungen Abaelard), des unbändigen Neides (»… der Greis [Anselm] platze bald vor Neid«), des Rufes (»… die Eheschließung müsse geheim bleiben, sonst leide mein guter Ruf«), der Scham (»… wie ich verging vor Scham … und wie sie litt wegen meiner öffentlichen Beschämung«) und der Schamlosigkeit (»… ohne sich zu schämen, kam er gleich nach Paris zurück«), des Wahnsinns (»… Fulbert wurde nach Heloisas Flucht beinahe wahnsinnig«) und der Verletzung (»… man kann sich seinen wütenden Schmerz und seine tödliche Verletzung nur vorstellen, wenn man das miterlebte«). Kurzum, diese berühmte Geschichte elaboriert durchaus jenes Gespür, das den Fehltrittdiskurs der höfischen Gesellschaft ausmachte. Und die »Leidensgeschiche« unterdrückt genau das, was den Fehltrittdiskurs im Mittelalter unmöglich gemacht hat, nämlich die Schuldsemantik. Und dennoch wird man sich schwertun, einen Fehltritt im Sinne der Aufgabenstellung zu finden. Denn anders als Adam, den Abaelard wegen seiner Unwissenheit in Schutz zu nehmen wußte, war er selbst alles andere als ahnungslos. Er kannte die Vorbilder guten und schlechten Verhaltens und wußte, was er tat. Und das Modell »minimaler Anlaß, verheerende Wirkung«, das den »Fehltritt im anthropologischen Sinn« kennzeichnet, leitet nicht Abaelards Erzählung. Der Anlaß für die Wut der Verwandten war zunächst ohne Zweifel klein (als er größer war, hörte er auf den Namen Astrolabius). Aber er war alles andere als minimal. Im Sinne der Aufgabenstellung also findet man auch in Abaelards »Leidensgeschichte« keinen Fehltritt – wohl aber im Sinn der deutschen Sprachgeschichte, denn im Deutschen war ein Fehltritt stets in erster Linie dies: eine unschickliche Affäre und ihre Folgen.
Guy P. Marchal
Fehltritt und Ritual
Die Königskrönung Friedrichs III. und Herrscherbegegnungen in Frankreich: Eine Recherche Die Frage nach dem Fehltritt, zumindest soweit sie für das Mittelalter gestellt ist, hat alle Betroffenen, wenn ich das richtig sehe, vor ein hermeneutisches Problem gestellt. Denn wie läßt sich feststellen, ob ein Verhalten als Fehltritt empfunden wurde oder nicht? Nicht hingehen dürfte, daß wir Handlungen aufgrund unserer vermeintlichen Kenntnis der mittelalterlichen Verhaltensweisen oder Normen oder gar aus unserm heutigen Verständnis heraus als verfehlt beurteilen, wo es die Quellen nicht tun. In der Tat: Versuchen wir das Thema ›Fehltritt‹ unter historisch-anthropologischer Fragestellung anzugehen, wird auch das, was wir in der gängigen quellenkundlichen Einteilung historischer Zeugnisse zur ›Tradition‹ rechnen, wie Chroniken, Reiseberichte, Memoiren und Tagebücher, recht eigentlich zum ›Überrest‹ mit allen erkenntnistheoretischen und methodischen Problemen, die das beinhaltet. Und es scheint mir nicht von ungefähr zu kommen, daß viele Beiträge sich literarischen Zeugnissen zugewendet haben, denen bewußte Invention und Gestaltungswille eines Autors zugrundeliegen mit seinen Wertungen und Urteilen, denen man sich anvertrauen kann. Diese Zeugnisse lassen sich unter historisch-anthropologischer Fragestellung tatsächlich noch am ehesten quellenkundlich als ›Tradition‹ einstufen und behandeln, da mit ihnen jeweils Handlungen und Situationen textimmanent im Bereich des Fehltritts verortet werden können. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob überhaupt und wie aus ›Überresten‹ im oben angedeuteten Sinne so etwas wie der Fehltritt festgestellt werden kann. Dabei sei bewußt auf eine allgemeine oder apriorische Definition dessen, was einen Fehltritt inhaltlich ausmachen soll, verzichtet. Vielmehr sei aus der Reaktion des Umfeldes auf eine Handlung, wie Erstaunen und Empörung oder Spott und Gelächter, erschlossen, ob eine Handlung oder eine Situation als befremdend empfunden worden ist, ob also ein Fehltritt im Sinne des dem Bande zugrundeliegenden Konzepts wahrgenommen wurde. Im Zentrum steht also die zeitgenössische Perzeption oder die Binnenperspektive der zeitgenössischen Zeugen. Vielleicht läßt sich – so die Test-
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Guy P. Marchal
anlage – aus deren Gelächter, Befremden oder Empörung die Bandbreite der faux pas-Möglichkeiten auf dem Zeithorizont des Ereignisses selbst eruieren. Dabei sollte der Handlungsverlauf oder die Situation wenn möglich von mehreren und unterschiedlichen Quellen aus verschiedenen Perspektiven bespiegelt werden, um eine gewisse Repräsentativität der beobachteten Reaktion feststellen zu können. Doch darf es nicht bei der Aufreihung beliebiger Szenen, in denen Fehlverhalten dargestellt wird, sein Bewenden haben, so lebendig sie auch in den Quellen erzählt werden. Denn dabei lassen sich nicht auf systematische Weise Kriterien für das gewinnen, was als Fehltritt angesehen wurde. Wenn man solche Anekdoten für sich allein interpretiert, kann es zu erheblichen Verzerrungen kommen. Bekannt ist etwa die Geschichte bei Enguerran de Monstrelet1 über Louis Bourdon, der sich im Wald von Vincennes dadurch, daß er am König vorbeireitend sich bloß verneigte, einen unerhört gravierenden Fehltritt geleistet zu haben scheint, zumindest an der Schwere der Strafe gemessen: Er wurde ins Gefängnis geworfen, unter Folter verhört und schließlich in der Seine ertränkt. Schauen wir näher hin, so erkennen wir, daß Bourdon aus ganz anderen Gründen so schmachvoll bestraft worden ist: Nach dem Religieux de Saint-Denys führte er jene Leibgarde der Königin an, die offenbar durch ihre ehebrecherischen Umtriebe bei den Hofdamen schon seit längerer Zeit ein öffentliches Skandalon darstellte. Der König habe ihn daher, als Bourdon mit seinen Leuten ihm auf halbem Weg, medio itineris, zur Begrüßung, reverencie gracia exhibende, entgegenkam, gleich verhaften lassen, worauf die übrigen flohen2. Ein Fehlverhalten gegenüber dem König wird gar nicht erwähnt. Wessen sich Bourdon so schwer strafbar gemacht hatte, war nach dem Religieux de Saint-Denys der Skandal am Hof der Königin. Daß es sich gegebenenfalls um einen Fehltritt handelte, der für etwas anderes instrumentalisiert wurde, scheint Enguerran de Monstrelet bemerkt zu haben, wenn er be-
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Enguerran de Monstrelet, Chronique, ed. L. Douët-d’Arcq, Bde. 1–6, Paris 1857– 1862, Bd. 3, S. 175. Interpretation als schwerer Fehltritt in der informationsreichen Einleitung von Werner Paravicini, Zeremoniell und Raum , in Ders., Zeremoniell und Raum (Residenzforschung 6), Sigmaringen 1997, S. 21. Paravicini übersetzt passa oultre assez légèrement mit ziemlich leichtfertig weiterritt. Liesse sich die Formulierung nicht auch so verstehen: übertrat (die Regel) nur leicht? Daß es nicht bloß um den Gruß ging, deutet Monstrelet insofern an, als er im einschlägigen Kap. CLXVIII mit der Verurteilung Bourdons den Bericht über die »Verbannung« der Königin mit ihrem Hof nach Blois verbindet. Chronique du Religieux de Saint-Denys, contenant le règne de Charles VI de 1380 a 1422, éd/trad. L. Bellaguet (Collection de documents inédits sur l’histoire de la France, 1ère série: histoire politique) Bde. 1–6, Paris 1839–1852, Bd. 6, S. 71–73; Chap. II: Déportements de quelques seigneurs de la cour. Die Königin habe sich darauf ihrer Verteidiger, je ne dirais pas de ses défenseurs, mais des amants des dames de sa cour, beraubt gesehen und sei nach Blois exiliert worden.
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tont, daß Bourdon passa oultre assez légèrement, daß er also die Regel nur leicht übertrat. Um den Unwägbarkeiten des Anekdotischen zu entgehen, muß der Blick auf Vorgänge gerichtet werden, die einen systematischen Vergleich zulassen. Ich habe mich hier für die Analyse geregelter öffentlicher Interaktionen entschieden, die mehr oder weniger häufig vollzogen und berichtet wurden. Solche geregelte Interaktionen lassen sich erfassen im Konzept des weltlichen Rituals, wie es in der Ethnologie in Auseinandersetzung mit Victor Turners Auffassung des Rituals entwickelt worden ist.3 Die formalen Eigenschaften des weltlichen Rituals sind demnach, erstens, Wiederholbarkeit sowohl des Anlasses, des Inhalts und der Form. Zweitens geht es um Handlung, wobei das meiste, wenn nicht alles, bewußt wie eine Rolle gespielt wird. Drittens sind die dabei eingesetzten Handlungsabläufe oder Symbole selber nicht alltäglich oder sie werden auf ungewohnte Weise eingesetzt. Rituale sind – viertens – organisierte Ereignisse mit einem Anfang, einem geregelten Verlauf und einem Ende. Es mag Elemente oder Augenblicke von Chaos oder Spontaneität geben, aber zu vorgeschriebener Zeit und an vorbestimmtem Ort. Die Ordnung ist auf jeden Fall dominant und oft das entscheidende Moment, welches das Ritual von andern Interaktionen abhebt. Fünftens ist das Ritual geprägt durch eine evokative Stilisierung, welche die Aufmerksamkeit in Bann schlägt und auf irgendeine Weise in die Pflicht nehmen will. In diesem Sinne haben Rituale eine kollektive Dimension und gesellschaftliche Bedeutung. Das Ritual, wie es hier verstanden ist, stellt nicht bloß eine Wiederspiegelung der bestehenden gesellschaftlichen oder politischen Ordnung oder der geltenden Denkweisen dar. Es kann in entscheidenden Momenten dazu dienen, diese neu zu ordnen oder gar neu zu schaffen, indem es eine Deutung der sozialen Wirklichkeit auf eine Weise präsentiert, welche diese Deutung mit Legitimität ausstattet. Gerade wegen seiner formalen Eigenschaft einer verpflichtend geregelten und damit in ihrem Verlauf weitgehend vorhersehbaren sozialen Interaktion gelingt es dem Ritual, die Unsicherheit und Offenheit der Situation, in der es zur Anwendung gelangt, bis zur Neuordnung oder Wiederherstellung der Ordnung zu überbrücken. Solche riskante und offene Situationen stellen beispielsweise Ratswahlen4, Königskrönungen und Herrscherbegegnungen dar. In all diesen Fällen ist die Macht in einem ungewissen Schwebezustand: Für kurze Zeit regiert der alte Rat nicht mehr, der neue noch nicht; die Krönung bildet den Abschluß der bisweilen – wie in Frankreich – mit symbolischer Kommunikation aufgelade3 4
Sally F. Moore /Barbara G. Myerhoff, Secular Ritual: Forms and Meanings, in: Dies. (Hgg.), Secular Ritual, Assen/Amsterdam 1977, S. 3–25. Regula Schmid, Reden, Rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln während des Berner Twingherrenstreits 1469–1471, Zürich 1995, für unsere Fragestellung im Bereich der Ratswahlen sehr anregend. Im Folgenden gehe ich auf Ratswahlen nicht weiter ein.
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nen5 königslosen Zeit seit dem Tod des Vorgängers; die direkte Begegnung zweier ebenbürtiger Herrscher provozierte in der hierarchisch geordneten politischen Welt einen Ausnahmezustand, bei dem Prestige und Macht aufs Spiel gesetzt werden. Gerade diese Überbrückungsfunktion veranlaßt mich dazu, von Ritual zu sprechen und nicht von Zeremoniell, ein Begriff, der nur den äußern Ablauf in einem fixierten Zustand erfassen kann und nicht die Funktion solchermaßen geregelter Interaktionen. Es handelt sich – wir sehen im weiteren von der Ratswahl ab – um Ereignisse, die eher als selten anzusprechen sind und die sich schon dadurch von der Praxis des Alltags, auch des höfisch-zeremoniellen Alltags entschieden abheben. Trotz ihrer Seltenheit, wie es bei den Krönungen der Fall ist, und der Tatsache, daß Herrscherbegegnungen zudem unter unterschiedlichen politischen und personellen Rahmenbedingungen stattfinden, verlaufen diese sozialen Interaktionen in auffallend ähnlichen Formen. Ich werde im Folgenden in einem ersten Teil anhand der Königskrönung Friedrichs III. und weiterer Zeugnisse aus dem Umfeld analoger Rituale die oben ausgeführte Umschreibung des Rituals verdeutlichen und dessen stete Gefährdung durch Mißverständnisse aufzeigen und in einem zweiten Teil anhand von Herrscherbegegnungen des 15. Jh. die Wege zeigen, wie versucht wurde, das Ritual abzusichern. Im Hintergrund steht dabei immer die Frage, ob wir in diesem dem Ritual eigenen Spannungsfeld zwischen Ordnung und Chaos, Ordnung und offener Situation, so etwas wie den Fehltritt fassen können.
1 Als Friedrich III. am Freitag, den 15. Juni, mit einem riesigen Gefolge und begleitet von den Kurfürsten in Aachen einritt, da wußte er und die Gemeinschaft, die sich in Aachen zum Krönungsritual zusammenfand, sowohl aus den entsprechenden Paragraphen der Goldenen Bulle wie aus verschiedenen schriftlichen Zusammenstellungen, wie das Ritual zu verlaufen hatte und welche Ordnungen dabei einzuhalten waren.6 So geordnet, feierlich und geregelt die Zerermonien durchgeführt wurden, so von Unordnung bedroht erscheint aber nach den Zeugenberichten der Gesamtablauf des Rituals. 5
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Ralph E. Giesey, Modèles de pouvoir et rites royaux en France, in: Annales E.S.C., 41 (1986), S. 579–600; Ders. (Hg.), Cérémonial et puissance souveraine, France XVe–XVIIe siècles (Cahiers des Annales 41), Paris 1987; Ders., Le roi ne meurt jamais. Les obsèques royales dans la France de la Renaissance, Paris 1987 (orig. englisch); M. Valensise, Le sacre du roi: stratégie symbolique et doctrine politique de la monarchie française, in: Annales E.S.C. 41 (1986), S. 543–577; Lawrence M., Bryant, La cérémonie de l’entrée à Paris au Moyen age, in Annales, E.S.C., 41 (1986), S. 513–542. RTA 16, Nr. 100–102.
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Am Abend des Einzugs fand im Ratshaus ein kostlicher grosser danz statt, bei dem fill grosser kostlicher frawen,7 wol 16 hertzoginen und vil grefin und frigin und besunder vil schoner franzosier frouwen8 zugegen waren. Um diesen Prachtsanlaß muß es wild zu und hergegangen sein: ob Schaulustige sich vorgedrängt haben und gewaltsam zurückgehalten werden mußten, ob die Tanzgesellschaft selbst involviert wurde, wissen wir nicht. Martin Nawer berichtet bloß lakonisch: und fill luit hart geschlagen und drungen und auch dott.9 Am Samstag treffen weitere Fürsten und Würdenträger ein.10 Abends steht die Stadt in hellem Aufruhr. Niemand weiß, was geschehen ist: die Aachener glauben, der konig hette die stat veroten und machten ein so grosses geschrei uber den konig, das der konig nit gar sicher was in der stat zu Oche.11 Andere glauben, der König gehe gegen den Herzog Ludwig von Heidelberg vor, andere, der Herzog gegen den König. Ettliche rüsten sich zu Pferd, viele eilen mit der blanken Waffe durch die Strassen und wollen ein teil ie uber den konig und ein teil ie uf den pfalzgrofen. Die erschrockene Bürgerschaft sammelt sich im Harnisch beim Ratshaus, und der Herzog vom Berg will ihr beistehen wol mit 1400 pferden, danne die stat stunt im zu versprechen und zu behüten uf die selbe zit. Schließlich sitzen der Herzog vom Berg und einige Bürger auf, reiten in der Stadt um und verkünden, daß alles geschlichtet und gerichtet sei – und wusstent doch nit, was es wasz.12 Der Wirrwar könnte nicht größer sein, und der Aufruhr wird erst gen dem tag gestild.13 Auch wenn man nachher erfuhr, daß der Auslöser ein Streit zwischen den Leuten des Herzogs Ludwig von Heidelberg und jenen des Königs an der Pferdetränke war, auch wenn der Straßburger Redaktor des ›Kaiser Sigismunds Buch‹ von Eberhard Windeck, dem man den ausführlichen Aachener Bericht verdankt, übertrieben haben mag, der uflouf war jedenfalls äußerst beunruhigend und fand in beinahe allen Zeugenberichten seinen Niederschlag.14 Als sei nichts geschehen, besammelten sich am Sonntagmorgen die Kurfürsten und die Festgemeinde im Dom und nahmen die Königskrönung vor. Wer genauer hinsah, dem mochten die zwei Nürnberger Ratsherren im Chor unmittelbar beim Altar aufgefallen sein, welche die Reichsinsignien, die cron, 7 8
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RTA 16, S. 205, Nr. 112. Eberhard Windecke, Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Zeitalters Kaiser Sigmunds (bis 1442), hg. W. Altmann, Berlin 1893, S. 467. Zu Eberhard Windeck und der Zuordnung des die Krönung von Aachen betreffenden Teils, siehe Verfasserlexikon 10, Berlin/ New York 1999, Sp. 1197–1206 (Peter Johanek) RTA 16, S. 205, Nr. 112. RTA 16, S. 188, Nr. 107; S. 197 nr. 109. Windecke (wie Anm. 8), S. 467. Ebd. RTA 16, S. 205, Nr. 112. RTA 16, S. 192, Nr. 108; S. 197, Nr. 109; S. 203, Nr. 110; S. 205, Nr. 112.
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dalmatica, die alben, die stolen, sandalia, die schuch, auch daz swert, das cepter, und der apfel, die zur Ausstattung eines Romischen kung gehören, so er in seiner majestat sitzet, hergaben und nach dem Krönungsakt gleich wieder behändigten.15 Nach der Krönung begaben sich der König und die Kurfürsten in vollem Ornat über den dicht bevölkerten Marktplatz zum Krönungsmahl ins Rathaus. Auf dem Platz wurde, wie es von der Krönungsordnung vorgesehen war, ein ganzer Ochse mit vergoldeten Hufen und Hörnern für Reich und Arm gebraten. Auf seinem Weg trat der König an den Ochsen heran, schnitt sich einen Bissen ab und aß ihn.16 Kaum war auf diese Weise der Ochse freigegeben, schlug jedermann mit exen, messern dorin, da was das grösst gereist darumb, das sich manigs daran verbuntaet,17 der ochs ward zurissen und gessen von den freihaiten und pilgremen,18 wer etwas bekommen wollte, begab sich in gran poine et en perilh.19 Eine chaotische Szene, die noch dadurch gesteigert worden sein mag, daß durch eine Röhre vom fruemall untz nach der vesper freier Wein floß, und aus des Königs Herberge vil bratens unter das Volk geworfen wurde. Inzwischen hatte auf dem Rathaus das Krönungsmahl begonnen, wobei die Tischordnung nach der Ordnung der Goldenen Bulle eingerichtet war und ebenso das Tischgebet vom Erzbischof von Köln gehalten wurde. Abgesehen davon, daß der Herzog von Heidelberg, der auf dem Zug über den Marktplatz noch eben das Szepter getragen hatte, schon nach dem ersten Gang die Tafel verließ und sein Platz gegenüber dem König freiblieb,20 scheint das Mahl in geregelter Ordnung und mit großem Prunk vonstatten gegangen zu sein, hatte doch Friedrich besten Tafelschmuck auftischen und den Saal mit goldenen Tüchern und Tapisserien schmücken lassen. Kaum hatte der König die Tafel aufgehoben und den Tisch verlassen, da hueb sich aber ein rumor auf dem rathaus.21 Um das köstliche Gedeck und den Tischschmuck, wie um die Tücher und Teppiche scheint eine wilde Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten ausgebrochen zu sein, die sich offenbar berechtigt fühlten den Tisch zu spoliieren. Von verschiedenen Seiten wurden gewohnheitsrechtliche Ansprüche angemeldet, schließlich die Schwerter gezückt und dreingeschlagen, daz etlich wund wurdent.22 Die kostbaren Tücher und Teppiche wurden in Stücke zerrissen, wodurch ein mult gran damaige entstand.23 Die geretteten 15 16 17 18 19 20 21 22 23
RTA 16, S. 204f., Nr. 111. RTA 16, S. 200, Nr. 109. RTA 16, S. 194, Nr. 108. RTA 16, S. 200, Nr. 109. RTA 16, S. 190, Nr. 107. RTA 16, S. 189, Nr. 107. RTA 16, S. 200, Nr. 109. Windecke (wie Anm. 8), 470f.; RTA 16 S. 190, Nr. 107; S. 194, Nr. 108; S. 200, Nr. 109. RTA 16, S. 190, Nr. 107.
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Kostbarkeiten seien, wie Johann von Stablo bemerkte, vom Rathaus in die Herberge des Königs gerettet worden, en allant et passant tou parmy le marchiet devant tout le peuple.24 Unberührt davon saß am folgenden Tag der König in seiner Majestät umgeben von den Kurfürsten in vollem Ornat auf dem Thron vor dem Rathaus zur feierlichen Lehensverleihung. Verschiedene Fürsten mit großem und prunkvollem Gefolge kamen geritten und brachten ihre Lehensfahnen dar, faisant pluseurs cheremonies, wobei die Fahnen zuletzt zur Erde niedergeschlagen wurden. Nach Johann von Stablo wurden sie in diesem Augenblick von den Herolden des Herzogs Ludwig von Heidelberg und mehreren anderen genommen, in Stücke gerissen und zusammen mit den Wimpeln auf die Strasse unters Volk geworfen. Darauf sei Ludwig vom Pferd gestiegen und habe vor dem König knieend die Lehen wieder empfangen.25 In einem andern Bericht, der die Belehnung des Pfalzgrafen, des Herzogs von Sachsen und jenes von Jülich und Berg schildert, erfolgte zunächst die Wiederbelehnung. Alspald im gelihen was, warden di panir under das volk geworfen und zurissen und jeglicher diener, ritter und knecht hett ain klain vändli, die wurden auch allew zurissen mit fraewden.26 Auch dieses freudvolle Zerreissen der Fahnen durch das Volk wird, wie wir anläßlich einer andern Lehensverleihung, jener Maximilians I. in Worms 1495, erfahren, nicht ohne Raufen und Gedränge vor sich gegangen sein. Auch dort wurden die Banner von dem konigstul geschossen. Die Leute raptin sich umbe die banyre, welche eyn groiß stucke krigen kunde, der behild es, alsus worden die banyr zurissen, berichtet Wigand Gerstenberg und bemerkt, daruber sich dan erhub ein grosse not mit zerren und rissen.27 Ich habe den die Krönungsfeierlichkeit umrahmenden Ereignisablauf in Aachen so quellennah, wie in diesem Rahmen möglich und sinnvoll, verfolgt. Das Ritual erscheint dabei eingebettet in ein immer wieder durchbrechendes Chaos. Auffallend ist dabei, daß das Ritual seinen eigengesetzlichen Vollzug nimmt und das Chaos nicht zur Kenntnis zu nehmen scheint. Nach den stürmischen Ereignissen in der Nacht vom Samstag zum Sonntag, die bis ins Morgengrauen dauerten, und die, wenn wir die kursierenden Gerüchte gegen Friedrich beachten, durchaus den Abbruch des ganzen Vorgangs hätten bewirken können, geht das Ritual am Sonntag morgen unbehelligt weiter, als sei überhaupt nichts geschehen. Wie wir gesehen haben, schließt das weltliche Ritual das Spannungsfeld zwischen Ordnung, Spontaneität und Chaos 24 25 26 27
RTA 16, S. 190, Nr. 107. RTA 16, S. 190,f. Nr. 107. RTA 16, S. 201, Nr. 109. Die Chroniken des Wigand Gerstenberg von Frankenberg, hg. von Hermann Diemar (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck VII/1), Marburg 1909, S. 312 und ebda. Anm. 11. Zu Gerstenberg: Verfasserlexikon 2, 1979, Sp. 1274–76 (Hubert Herkommer).
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durchaus ein, allerdings zu seiner Zeit und an seinem Ort. Ich würde die chaotischen Szenen um den Ochsenbraten und die Lehensfahnen unter diesem Aspekt sehen. Nun hat Michail A. Bojcov in einem anregenden Beitrag das Chaos im ›Nebenraum‹ des Rituals verortet, wobei er diesen räumlich – außerhalb des Raumes in dem sich das Ritual vollzieht – wie institutionell – außerhalb der zeremoniellen Situation – versteht28. Das Chaos sei in diesem Nebenraum z.T. recht eigentlich provoziert worden, um die Ordnung des rituellen ›Innenraums‹ nur umso deutlicher zu demonstrieren. Wie weit aber läßt sich eine solche Trennung annehmen, wenn der König in seiner Majestät sich unters Volk mischt und als erster vom Ochsen kostet, wenn später am Tag das gerettete Tafelgeschirr durch die Menge hindurch zur Herberge geflüchtet wird? Und schließlich gibt es chaotische Abläufe, welche das Ritual von außen, wie der sich am Samstag Abend erhebende Aufruhr, aber auch von innen gefährden, wie der Rumor am Ende des Krönungsbanketts. Diesen inneren Gefährdungen wende ich mich im weiteren etwas näher zu, denn hier müßte die Konstatierung von Fehltritten durch die Zeitgenossen am ehesten zu finden sein. Kommen wir nochmals auf den rumor am Ende des Krönungsmahles zurück: Die Berichterstatter schreiben die Verantwortung hiefür verschiedenen Teilnehmern zu. Ein Ungenannter aus der Begleitung Friedrichs III. macht die Diener des Kölner Erzbischofs namhaft mit der Bemerkung, das si mit kainem glimphen hueben an, also unangemessen handelten.29 Johann von Stablo läßt zwei Parteien streiten, wobei die eine ihr Recht aufgrund der Tatsache beanspruchte, daß sie von weit hergereist sei, die andere des Erzbischofs von Köln dagegen deshalb, weil dieser dem Krönungsgottesdienst vorgestanden habe.30 Es stehen also Berechtigungen zur Diskussion. Und der Straßburger Redaktor des ›Kaiser Sigismunds Buches‹, der den Vorfall genüßlich erzählt, spricht schlichtweg von einer gewonheit in dem Romschen rich, daß jeder der Tischgemeinschaft und sunderlich des richs erbamtlüt bei diesem Anlaß sein Geschirr behalten dürfe. Das habe der König nicht gewußt und schönstes Gold und Silbergeschirr aufgedeckt, das er von Österreich mitgebracht und in Frankfurt geschenkt erhalten hatte. Des worent die gar fro und essen und trunkent und lebten gar wol, und jeglicher nam das im gehort. Da traten die Leute des Königs dazwischen mit dem Argument, man hette es uch nit geben, sunder unser her der konig hett es uch geluhen. Schließlich wird der König selbst von den Kurfürsten belangt, das sei eben alter Brauch. Do sprach der konig: »ist es danne ein gewonheit und ein recht, das habent wir nit gewist 28
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Michail A. Bojcov, Qualitäten des Raumes in zeremoniellen Situationen: Das Heilige Römische Reich, 14.–15. Jh., in: Werner Paravicini (Hg.), Zeremoniell und Raum (Residenzforschungen 6), Sigmaringen 1997, S. 129–153, bes. S. 147. RTA 16, S. 194, Nr. 108. RTA 16, S. 190, Nr. 107.
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und wer uns zu hert. Wir wellent gern ein somme gelts darfür geben.« Und so sei der Streit geschlichtet worden.31 Hatte der wohl aus der Steiermark stammende Parteigänger Friedrichs III. eine Unangemessenheit bei den Kölnern ausgemacht, so scheint der Straßburger die Schuld eher bei der Unwissenheit des Königs gesehen zu haben. Der Haupteindruck, der sich für uns ergibt, ist jedenfalls eine offensichtliche Unsicherheit im Bereich des Spolienrechts oder der Preisgabepflicht, welche nicht nur beim Krönungsritual, sondern auch bei Königsempfängen eine wichtige Rolle spielen. Die Aufzeichnungen vom Mai 1442 über die Ordnung für den Einzug und die Krönung Friedrichs in Aachen notieren die Preisgabepflicht eines Pferdes beim Einritt am Stadttor, dann bei der Ankunft beim Münster und schließlich bei der Herberge. Auch die Krönungskleider gebührten nach der Ordnung der Jungfrau von Aachen.32 Diese Vorgänge sind keinem der Zeugen, die von der Krönung berichten, aufgefallen, vielleicht weil sie durch Lösegelder ersetzt worden waren. Doch sind Ansprüche auf das Spolienrecht als Teil des Empfangsrituals vielfach belegt, wie auch Streitigkeiten um sie.33 Sie beziehen sich auf das Pferd, den Baldachin, das Geschirr, die Kleidung, ja auch die Bettwäsche des Königs, und sie haben immer wieder zu Konflikten zwischen den verschiedenen Amtsträgern, die sich dazu berechtigt fühlten, geführt, wobei es häufig zur Gewaltanwendung kam.34 Als 1298 anläßlich der Krönung Adolfs von Nassau sich der Herr von Valkenberg aufs königliche Pferd schwang, da wurde zo der zyt mennig schwert gezogen, doch brachte dieser es gewaltsam in seine Herberge.35 In Frankfurt war es lange Zeit derjenige, der als erster am Tor des Bartolomäusstiftes zur Stelle war, welcher das Pferd des Königs behändigen konnte, cui sors dederit obtinebit, eine Bestimmung im Statutarium von St. Bartolomäus, die nicht gerade für friedliche Szenen sorgte, weshalb Karl IV. 1376 dies Recht erblich einer Frankfurter Bürgerfamilie verlieh.36 Zu Friedrichs III. Zeiten suchten die Reichstädte das Recht auf das Reitpferd des Königs geltend zu machen, wobei die Stadtknechte gegen den sich weigernden königlichen Marschall verschiedentlich mit Stöcken vorgingen. Dagegen hätten auch Interventionen Friedrichs III. nichts genutzt. Meist sah er sich gezwungen, das Pferd gegen Geld auszulösen37. 1486 zeigte beim Einzug Fried31 32 33
34 35 36
Windecke (wie Anm. 8), S. 171. RTA 16, Nr. 100, §§ 7, 12, 18. Anna-Maria Drabek, Reisen und Reisezeremoniell der römisch-deutschen Herrscher im Spätmittelalter, phil. Diss. Wien 1964, S. 37–44; Siegfried Sieber, Volksbelustigungen bei Kaiserkrönungen, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 3.F., 11 (1913) S. 1– 116, gibt viel zum Thema ›Preisgabe‹, allerdings z.T. aufgrund unsicherer Quellen. Drabek (wie Anm. 33), S. 39. Pfarrer Giersberg, Das Erbmarschallamt im ehemaligen Erzstift Köln, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 26/27 (1874) S. 319ff., hier S. 320. Drabek (wie Anm. 33), S. 39f. Anm. 37 s. nächste Seite
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richs III. und Maximilians I. der Vizedekan ein Beglaubigungsschreiben vor, worauf die zweifache Spoliierung des Pferdes am Tor und später bei der Herberge reibungslos vonstatten ging.38 Auch um den Baldachin, der von der Stadt zur Verfügung gestellt wurde und nach dem Gebrauch beim feierlichen Einzug gewohnheitsmäßig dem Reichskämmerer zustand, hat es Unklarheiten gegeben.39 Verschiedentlich haben die Städte sich geweigert, den Baldachin dem Erbkämmerer zu überlassen, wie Nürnberg 1471 oder Frankfurt 1474, und ihn mit Geld ausgelöst. Andererseits wurde bisweilen der Baldachin dem König symbolisch entrissen und dann zerrissen und verteilt. Um die Mitte des 15. Jh. wurde der Brauch der Spoliierung des Baldachins nicht mehr verstanden. Als 1452 in Viterbo die Menge nach dem Pferd des Königs und dem Baldachin griff, kam es zum Handgemenge, Friedrich III. griff selbst mit entblößtem Schwert ein, um seinen Baldachin zu verteidigen,40 und ähnliches widerfuhr dem von ihm zum Herzog ernannten Borso d’Este durch das entfesselte Volk (plebs indisciplinata), als er wie ein König (regio cultu) in Modena und Reggio seinen feierlichen Einzug hielt.41 Im Alter hat Friedrich III. auf solche aufregende Begleiterscheinungen des feierlichen Einzugs lieber verzichtet, wie 1485 als er unter dem himel nit eingefuert wurde, wann sein majestat hot des nit wöllen haben.42 Diese Unklarheiten, die 1442 bei den Krönungsfeierlichkeiten zum Ausdruck gekommen sind und auch anderswo festgestellt werden können, gefährden offensichtlich den Ablauf des Rituals als gesamtes nicht. Das Ritual soll ja Halt und Sicherheit geben in einem riskanten Augenblick, den wir als Übergang von einem Status zum andern umschreiben können, wie es sowohl bei der Königskrönung wie in gewissem Sinne beim Einritt in eine Stadt gegeben war. Diese Funktion kann es nur erfüllen, wenn es unbeirrt weitergeführt wird. Störungen werden übergangen und, wo sie nicht mehr ignoriert werden können, beiläufig durch Verhandlungen beigelegt. Wo selbst das eingeplante Chaos überbordet und das Ritual in Gefahr kommt, da ist es eine Ritualisierung ad hoc, welche die Situation retten kann. Es gibt hiefür ein schönes Beispiel anläßlich des schon erwähnten Lehenstags Maximilians I. zu Worms Mitte 1495: Auch damals wurden die Fahnen nach der Belehnung vom Königsstuhl ins Volk geworfen, wo sie zerrissen 37 38 39 40
41 42
Drabek (wie Anm. 33), S. 40f. Giersberg (wie Anm. 35), S. 322. Drabek (wie Anm. 33), S. 37f. Heinz Quirin, König Friedrich III. in Siena (1452), in: Aus Reichstagen des 15. und 16. Jh. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 5), Göttingen 1958, S. 24–79, hier S. 64 Anm. 97. Quirin (wie Anm. 40), S. 65 Anm. 98. Tucher’sche Fortsetzung der Jahrbücher bis 1469, in: Die Chroniken der deutschen Städte, hg. von K. Hegel, Bd. 5: Nürnberg, Leipzig 1872, S. 487; auch Maximilian weigert sich zunächst, unter dem Baldachin zu reiten, ebd. S. 500.
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wurden. Nun hatte Maximilian eine Garde von mehr als 100 Kriegsknechten, die ihn immer begleitete und die jetzt den Königsthron umgab. Auch sie raufte sich mit dem Volk um die Bannerfetzen. Kam der Augenblick, wo das alle anderen an Größe und Farbenpracht übertreffende Banner der Landgrafen von Hessen hinuntergeworfen wurde. Da taten sich gegen 60 Kriegsknechte zusammen, die das Banner ganz bewahren und nachher glich under sich teylen adder semptlichen verkouffen wollten. Da aber jedermann von diesem Banner ein Stück wollte, entstand ein fürchterliches Gedränge. Die Söldner hielten das Banner in die Höhe, andere suchten es zu erhaschen und niederzureissen. Das Banner schwankte, sank, erhob sich immer wieder wie im Schlachtgetümmel. Da die Fahnenstange lang war, konnte das Tuch auch nicht mit Hellebarten heruntergerissen werden. Das Gedränge wurde immer heftiger und vor allem, es war der Lage der Dinge nach kein Ende abzusehen. In diesem Chaos schien die Belehnungszeremonie im Tumult unterzugehen. Da geschah etwas Merkwürdiges: Zuletzst machtin die krigsknechte ire spittzen unde furten das banyr in die hoe, und drungen mit gewalt durch das folck. Und sie beschlossen, da das Banner so schön war, es unserer lieben Frau von Worms als Opfer darzubringen (das sie es opperten). So zogen sie los zum Münster mit hocherhobenem Banner, in Zweierkolonne und mit Paukenschlag. Da folgte ihnen viel Volks, wante etzliche meynten, der kunnig queme.43 Der einzige Ausweg aus der Situation war ein ad hoc-Ritual. Man opferte das Banner einer dritten, höheren Instanz, man hob es in den sakralen Bereich, und entzog es dem Streit, der nun zwangsläufig gegenstandslos geworden war. Und die Söldner wählten als rituelle Form das, was ihnen vertraut war, die Form des militärischen Paradierens. Diese Parade oder – vielleicht doch schon – Prozession zwang die chaotische Menge wieder in die Rolle der Zuschauer, denn hier gab es nichts mehr zu erbeuten und zu zerreissen. Dies taten die Kriegsknechte so eindrücklich, daß zeitweilig das eigentliche Ritual der Belehnung in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Söldner verliessen den ihnen befohlenen Platz beim Königsthron, und viele im Volk meinten, der König selbst käme mit ihnen. Das im Ritual vorgesehene Chaos, das hier aus dem vorgegebenen Rahmen auszubrechen drohte, wurde gebändigt durch einen ad hoc entwickelten rituellen Vorgang, der seinerseits vom Hauptgeschäft abzulenken drohte; aber dadurch, daß er der Volksmenge eine neue Rolle aufzwang, rettete er das Lehensritual: Nach Gerstenberg blieb Maximilian auf dem Lehensthron und fuhr fort: uff denselben tag Rudolf von Anhalt mit drei bannern. Darnach uff denselben Tag, und so geht es im Text weiter. Das Ritual kann das Chaos bändigen, umleiten, einverleiben. Diese überragende Bedeutung des Rituals ergibt sich m. E. dadurch, daß tatsächlich niemandem bei solchen Anlässen eine Regelkompetenz zukommt. Die Beteilig43
Wigand Gerstenberg (wie Anm. 27), S. 312f.
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ten folgen lediglich dem, was in den Quellen als ›alte Gewohnheit‹ aufscheint, mit allen Ungewißheiten und Deutungsmöglichkeiten, die sich ganz allgemein mit dem Konzept ›alte Gewohnheit‹ verbinden, worauf hier nicht einzugehen ist. Auch dem jeweiligen deutschen König bleibt nichts anderes, als sich in das Ritual, in den ›gewohnheitsmäßigen‹ Ablauf einzupassen,44 wie es bei Friedrich III. nach dem Krönungsmahl überdeutlich ist.45 Auch er spielt im Krönungsritual nur eine Rolle, was beinahe grotesk zum Ausdruck kommt, als er angetan mit den Reichskleinodien in seiner majestät sitzt. Nichts davon, weder die cron, dalmatica, die alben, die stolen, sandalia, die schuch noch daz swert, das cepter und der apffel gehört ihm. Es wird ihm lediglich für den Augenblick, wo er die Rolle spielen muß, von der Stadt Nürnberg geliehen, deren Gesandte jeweilen gegenwärtig sind und die Kleinodien peinlich genau bewachen und dafür sorgen, daß sie hier wie überhaupt bei dieser Krönungsreise nie uber nacht in seiner gewalt belieben.46 Weil der rituelle Charakter solcher Vorgänge wie Königskrönungen und Herrscherempfänge so dominierend ist und weil es geradezu zur Funktion des Rituals gehört, koste es was es wolle, zu Ende geführt zu werden, haben ›unangemessene‹ Handlungen und Störungen kaum Gewicht. Der ›Fehltritt‹ wird in den Quellen nicht nahmhaft gemacht. Und es bleibt uns nur die Feststellung, wie leicht und nebenher die Zeitzeugen über Vorgänge hinweggehen, bei denen wir versucht sind, Fehltritte zu erkennen.
2 Das Ignorieren solcher Mißverständnisse und nicht angemessener Handlungen durch das Ritual genügte innerhalb des geschlossenen Systems der Ritualgemeinschaft. Diese Systemimmanenz bestand aber dann nicht mehr, wenn, wie es bei den Herrscherbegegnungen der Fall war, gleichrangige oder gleich mächtige Vertreter verschiedener ›Staatssysteme‹ sich trafen, Systeme hier verstanden als Herrschaftsgebilde mit einer eigenen hierarchischen Struktur und einem eigenen mehr oder weniger locker gefügten Fundus an Ritualen. 44
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Paul-Joachim Heinig, Verhaltensformen und zeremonielle Aspekte des deutschen Herrscherhofs am Ausgang des Mittelalters, in: Werner Paravicini (Hg.), Zeremoniell und Raum (Residenzforschungen 6), Sigmaringen 1997, S. 63–82; Bojcov (wie Anm. 28), S. 130–132. In Frankreich ist eine grössere dynastische Konsistenz des Rituals festzustellen, doch ist es auch hier zu Störungen und Unklarheiten gekommen: Bernard Guenée /Françoise Lehoux, Les Entrées royales françaises de 1328 à 1515, Paris 1968, S. 23f., S. 24, S. 158; R. Jackson, »Vivat rex!« Histoire des sacres et couronnements en France(1324–1825), Paris/London 1984. Friedrich III. und die Reichsstadt Nürnberg 1440–1444, in: Die Chroniken der deutschen Städte, hg. von K. Hegel, Bd. 3: Nürnberg/Leipzig 1864, S. 349–388, bes. S. 376; RTA 16, S. 203–205, Nr. 111.
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Hier mußten die Herrscher aus ihrer hierarchischen Spitzenstellung und eigenen Ritualgemeinschaft heraustreten in eine im eigentlichen Sinne für sie ausser-ordentliche Situation. Philippe de Commynes hat diesem Problem eine eigene Digression sur ce que, quand deux grands princes s’entrevoyent pour cuider appaiser differens, telle venue est plus dommagable que profitable gewidmet. Er kam – wie es der Titel schon andeutet – zum Schluß, daß solche Treffen wenn möglich zu vermeiden seien. Es lasse sich nicht verhindern, daß die Diener über die vergangenen Dinge sprechen und daß die eine oder andere Seite das schließlich übel nehme, was – wie die von Commynes angeführten Beispiele zeigten – zu Auflauf und Unfrieden führe. Meist sei die Begleitung der einen Partei besser ausgestattet als jene der anderen, was Spöttereien erwecke, qui sont choses qui déplaisent merveilleusement à ceux qui sont moqués. Wenn zwei verschiedene Nationen sich begegneten, seien ihre Sprache und ihre Kleidung verschieden, und was dem einen gefalle, mißfalle dem andern. Von den beiden Herrschern sei der eine häufig eine eindrücklichere und gefälligere Persönlichkeit als der andere, woraus er Ehre ziehe und sich freue, wenn er gelobt wird. Das wiederum gedeihe dem andern zur Schmach. Später werde solches überall herumgesprochen, komme schließlich unweigerlich den beiden Seiten zu Gehör, was – so dürfen wir ergänzen – bei dem in Bezug auf die Repräsentation unterlegenen Teil nur zu Unmut und neuer Feindseligkeit führe.47 Was Commynes, der ja verschiedene Herrschertreffen Ludwigs XI. miterlebt hat, hier namhaft macht, sind Konkretisationen dessen, was ich als das Zusammentreffen zweier ›Staaten‹ umschrieben habe. Als wacher und kritischer Beobachter seiner Zeit hat er auf seine Weise genau dieses Problem erkannt, das ihm so schwer zu bewältigen erschien, daß er zu einer grundsätzlichen Ablehnung solcher Treffen gelangte. Trotzdem hat es kontinuierlich solche Herrschertreffen gegeben und es stellt sich die Frage, wie die Risiken, die mit ihnen verbunden waren, bewältigt worden sind. Da hier von Fall zu Fall bewußt Maßnahmen getroffen worden sind, ist vielleicht hier der Fehltritt eher festzustellen als bei den gewohnheitsbestimmten Ritualen, die wir im ersten Teil betrachtet haben. 47
Philippe de Commynes, Mémoires, in: Historiens et Chroniqueurs du Moyen Age. Robert de Clari, Villehardouin, Joinville, Froissart, Commynes (Bibliotèque de la Pleïade), éd. par Albert Pauphilet, Paris 1952, S. 1034–1038, bes. S. 1038; Philippe de Commynes, Mémoires sur Louis XI., éd. par Jean Dufournet, Paris 1979 (folio-Taschenbuch), S. 153– 158, bes. 158. Dufournet übernimmt den leicht normalisierten Text von Pauphilet. Es sei hier gestattet, nach diesen leicht zugänglichen Editionen zu zitieren, umso mehr als die kritischen Editionen von Bernard Mandrot in der ›Collection de textes pour servir à l’étude et à l’enseignement de l’histoire‹ Bd. 36, Paris 1901–1903, und von Joseph Calmette in den ›Les Classics de l’histoire de France au Moyen Age‹, Bde. 3, 5, 6, Paris 1924– 1925, auf je unterschiedlichen Handschriften beruhen und nach Dufournet fehlerhaft sind.
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Für Commynes und für Ludwig XI. war es offenbar das Königstreffen von Picquigny von 1475, welches anderen Treffen als Vorbild dienen konnte, et pourroit par aventure servir le temps advenir, à quelqu’un qui auroit à faire semblable cas, notiert Commynes.48 Ich möchte aber zunächst ein anderes Königstreffen heranziehen, das offenbar von den Zeitgenossen als so mustergültig empfunden wurde, daß viri scientifici, gelehrte Leute, den Religieux de Saint-Denys dazu bewogen, das Procedere genau aufzuzeichnen. Es handelt sich um die Begegnung zwischen Karl VI. von Frankreich mit Richard II. von England am 27. Oktober 1396. Dieser Bericht ist für uns deshalb von Interesse, weil er in seiner Ausführlichkeit auf sehr eindringliche Weise die Konstituierung eines Rituals zeigt und das Gefährdungspotential offenlegt.49 Der Religieux beginnt seine Ausführungen mit der räumlichen Disposition. Um jegliche Vorrangstreitigkeiten zu vermeiden, wurde zwischen beiden Seiten abgemacht, daß die Begegnung nicht in einer Stadt, sondern auf der Grenze beider Staaten zwischen Calais und Ardres stattfinden solle. Beide Seiten sollten je 120 Zelte für das Gefolge errichten und mit Palisaden sichern. Vor diesen Zelten wurde französischerseits ein großes Saalzelt errichtet, während englischerseits ein großes Turmzelt sich erhob. Diese beiden Zelte waren an einem übergroßen Pfahl verpflockt, der genau in der Mitte zwischen den beiden Lagern eingehauen worden war. Es wurde vereinbart, daß, sooft die Könige sich sehen wollten, sie bei diesem Pfahl halten sollten. Um den Frieden zu bewahren und Unruhen, welche die Masse der Schaulustigen auslösen könnte, zu vermeiden, errichteten und unterzeichneten die beiden Könige ein Reglement. Zunächst wurde bestimmt und von Herolden in den benachbarten Städten ausgerufen, daß die Könige nur mit einer sehr kleinen Zahl von Begleitern zusammentreffen würden und daß ihr Gefolge nur aus 400 Rittern und Knappen bestünde. Niemand sonst, welchen Ranges er sei, durfte unter welchem Vorwand auch immer Waffen tragen. Ohne Erlaubnis der Könige war jedermann der Zutritt zum Zelt der Könige unter Todesstrafe verboten. Unter gleicher Strafandrohung wurde jedermann untersagt, den Königen bei ihrem Ausritt von Calais bzw. Saint-Omer zu folgen. Nur Lebensmittelhändler durften bis Ardres bzw. Guines gehen und ihren Handel dort betreiben. Unter Todesstrafe wurde allen Untertanen des einen wie des andern Königs verboten, durch Rufe, Streitigkeiten in Wort und Tat und durch Beschimpfungen die Gegenseite zu provozieren, ganz abgesehen von Steinewerfen, Pfeileschiessen und allem, was Lärm und Streit auslösen könnte. Während der Verhandlungen durfte unter gleicher Strafandrohung 48
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Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1142, ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 310; Reinhard Schneider, Mittelalterliche Verträge auf Brücken und Flüssen (und zur Problematik von Grenzgewässern), in: ADipl 23 (1977) S. 1–24. Religieux de Saint-Denys (wie Anm. 2), Bd. 2, 1840, S. 452–471.
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niemand ohne ausdrücklichen Befehl ein Musikinstrument spielen. Schließlich hatte jedermann, welchen Standes er sei, den Rittern, welche von den Königen mit der Einhaltung dieser und eventuell noch neu zu errichtender Artikel betraut waren, Folge zu leisten. Bemerkenswert bei diesem Reglement ist, daß zunächst der ›Nebenraum‹ des Begegnungsrituals geregelt wurde, und mit welcher Strenge das geschah. Die Verbindung mit dem Ritualinnenraum wurde durch eine eigentümliche Zeremonie hergestellt: Nach der Veröffentlichung des Reglements in Calais und Saint-Omer zogen die Könige zum Treffpunkt. Das Gefolge wie das nähere Geleit beider Parteien reihten sich ungefähr eine Pfeilschußlänge von den Königszelten auf, und jeder König verpflichtete im Beisein des andern, so daß er es sehen und hören konnte, die eigenen Leute auf die Einhaltung der Regelung unter Hinweis auf die angedrohte entehrende Strafe. Eindrücklicher, unter moralischer Verpflichtung des Gefolges konnte man der Gegenseite wohl kaum Sicherheit geben. Die Verhandlungen begannen nun, indem durch jeweils zwei Gesandte den Königen ein symbolisches Geschenk überbracht und die Kleiderfrage geregelt wurde. Man einigte sich, da die gegenseitigen Beziehungen auf herzlicher Zuneigung beruhten und Kleiderprunk nichts zu deren Vertiefung beitrage, auf einfache Kleidung. Um drei Uhr begann die eigentliche Begegnung der beiden Könige in einfachen, knielangen Kleidern, wobei – wie der Religieux vermerkt – der englische König sich jetzt und späterhin immer ein kleines Extra leistete, am Mittelpfosten mit dem Friedenskuß und Austausch von Geschenken. Beide beglückwünschten das Gefolge für seinen Gehorsam und die Einhaltung der Ordnung, bevor sie sich ins Zelt des französischen Königs zurückzogen. Der weitere Verlauf des Treffens, bei dem die Könige sich jeweilen beim Mittelpfosten treffen, immer wertvollere Geschenke tauschen und Zeugnisse gegenseitiger Zuvorkommenheit ablegen, bis schließlich Karl VI. seine Tochter Isabelle dem englischen König als Frau zuführt, interessiert hier nicht mehr. Die Begegnung war offensichtlich beispielhaft und verlief ungestört, wenn wir vom nächtlichen Gewittersturm absehen, der von den Zeitgenossen als Wutausbruch des Fürsten der Finsternis über seine Ohnmacht gedeutet worden ist. Das Besondere an diesem Bericht ist, daß hier einmal ersichtlich wird, wie das Begegnungsritual von beiden beteiligten Seiten her entwickelt worden ist, wobei das ganze Umfeld innerlich in die Pflicht genommen wurde, um jene Aufläufe, Eingriffe in den Ablauf der Begegnung und Mißverständnisse zu verhindern, welche das Ritual gefährden und Fehltritte ermöglichen konnten. Es war zweifelsohne die Absicht des Religieux, hier ein Vorbild zu etablieren und deshalb hat er gerade die Vereinbarungen so einläßlich behandelt. Ähnliches mag auch bei anderen Begegnungen, die auf zugänglichem Feld abgehalten wurden, geschehen sein. Für das englisch-französische Königs-
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treffen auf einem Feld zwischen Melun und Mantes im Jahre 1419, berichtet der Anonymus, die Unterkunft der Begleitheere sei so gut organisiert worden, daß es zu keinen Unruhen gekommen sei. Auch hier war der Treffpunkt mit Palisaden, Toren, Gräben und Verhandlungszelt ausgeklügelt disponiert und die wochenlangen Verhandlungen verliefen ungestört, obwohl es zu keiner Einigung kam.50 Aber es konnte auch dazu kommen, daß das Gefolge der einen Partei sich nicht mehr an die Vereinbarung hielt: Als die Verhandlungen zwischen dem Dauphin und Herzog Johann ohne Furcht von Burgund 1419 auf dem Ponceau de Saint-Denys zu scheitern drohten, überlegten sich die Ritter des Dauphins, die stundenlang vor dem Verhandlungszelt ausharren mußten wie das burgundische Gefolge auf der andern Seite, ob sie nicht mit bewaffneter Hand eingreifen und den Entscheid durch eine Schlacht herbeiführen sollten.51 Wegen der durch die Dame de Giac herbeigeführten an ein Wunder grenzenden Versöhnung der Prinzen kam es nicht dazu. Doch die Gefahr bestand durchaus: Als Jahrhunderte früher, 1188 bei Chaumont der französische König Philipp Auguste mit dem englischen König Heinrich II. zusammentraf, standen die Franzosen unter der prallen Sonne quem vix sustineri poterant, während der englische König mit seinem Gefolge quasi pro tribunali im Schatten einer großen Ulme sassen. Als die Verhandlungen zwei Tage schon erfolglos währten, haben die Franzosen entnervt und ex solis intolerantia exsiccatu die Ulme mit dem Schwert erstürmt, während der englische König schändlich fliehen mußte, wobei viele der Seinen getötet wurden und im Schloßgraben ertranken.52 Die innere Verpflichtung des ganzen Umfeldes des Begegnungsrituals gewährte also nicht eine totale Garantie; in Extremsituationen konnte sie brüchig werden und vor allem: sie bot keine Gewähr dafür, daß sich die Hauptkontrahenten, die beiden Herrscher, in kritischer Situation an sie hielten. Ohne entsprechend umfassende Vereinbarungen waren Herrschertreffen tatsächlich eine riskante Angelegenheit sowohl für das Prestige wie für die Person. Das Treffen des Herzogs Karl des Kühnen mit Kaiser Friedrich III. scheint ein solches ungenügend vorbereitetes Treffen gewesen zu sein. Zunächst verläuft alles nach den im Reich üblichen Maßstäben. Friedrich III., der am 29. September 1473 zuerst in Trier eintrifft, wird durch den Bischof und den Markgrafen von Baden mit einem hubschen gezugk von 200 Pferden eingeholt.53 Die Ankunft des Herzogs verzögert sich trotz gegenteiliger Ge50 51 52
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Chronique anonyme du règne de Charles VI, in: Enguerran de Monstrelet, (wie Anm. 1) S. 268–271. Religieux de Saint-Denys (wie Anm. 2), Bd. 6, S. 333. Guillelmus Armoricus, De gestis Philippi Augusti, zit. nach Werner Kolb, Herrscherbegegnungen im Mittelalter (Europäische Hochschulschriften R. 3, 359), Frankfurt a.M. 1988, S. 58 Anm. 33. K. Schellhass, Eine Kaiserreise im Jahre 1473, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 3. Folge, 4, 1893, S. 161–200, hier S. 189.
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rüchte. Als er dann endlich am 30. September kommt, zieht ihm der Kaiser mit kleinem Gefolge entgegen; er selbst mit einem goldenen Rock bekleidet und einem kostlichen kranz um den Hals, Maximilian mit silbernen Schuhen, die Bischöfe in Samt, Herzog Albrecht in einem mit Edelsteinen verzierten Perlenmantel und Calixt Osman mit goldenen silberbeschlagenen Schuhen. Als der Herzog erscheint, ist es in einer Pracht und Macht, welche den Schmuck der Kaiserlichen geradezu als lächerlich erscheinen läßt. Johann Knebel berichtet von 1800 vom Scheitel bis zum Fuß gepanzerten Kriegern, aus denen sich der Herzog mit einem Gefolge von siebzig reich ausgestatten Rittern löst und auf den Kaiser zureitet, selber im Harnisch und bekleidet mit einem goldverzierten und mit vielfältigen unglaublich kostbaren Edelsteinen und Gemmen besetzten Mantel, dessen Wert die Umstehenden sofort zu schätzen versuchen: auf 70.000 Gld. soll der Kaiser ihn veranschlagt haben,54 und Knebel spricht von 100.000 Gld.55 Der Kaiser reitet ihm mit kleinem Gefolge entgegen. Der Herzog steigt jedoch nicht vom Pferd, sondern verneigt sich bloß, so tief er es im Sattel kann, und die beiden geben sich von Pferd zu Pferd den Friedenskuß. Nachher reiten sie gemeinsam in die Stadt ein, der Kaiser zur Rechten der Herzog zur Linken, wobei dieser – wie Knebel bemerkt – sich immerhin bemüht, dem Kaiser die Ehre dadurch zu erweisen, daß er sein Pferd etwas zurückhält. Doch beim Stadttor ist es dann wieder der Herold des Herzogs, der auf dessen Geheiß hin für die Zeit des Treffens einen besondern Frieden verkündet, der von Fremden und Einwohnern unter Androhung der Leibesstrafe einzuhalten war. So geht es nun während Wochen weiter. Der Burgunder entfaltet bei jeder Gelegenheit, bei öffentlichen Auftritten, beim Gottesdienst und bei Festbanketten mit einem vielfältigen Gefolge einen Prunk, den die Zeugen staunend zur Kenntnis nehmen und jeweilen mit phantastischen Summen zu schätzen suchen und der einen unter ihnen zur Abfassung des in Abschriften weit verbreiteten ›Libellus de magnificentia ducis Burgundiae in Treveris visa‹ veranlaßte.56 Eine Prachtentfalltung, gegenüber der die Austattung der kaiserlichen Repräsentation völlig verblaßte. Die Verhandlungen hingegen verlaufen schwerfällig und nicht nach des Herzogs Wunsch. Bald droht der Herzog mit vorzeitiger Abreise, läßt den Troß sich ostentativ und geräuschvoll zum Aufbruch vorbereiten und kann damit offenbar den Kaiser zur öffentlichen Belehnung mit dem Herzogtum Geldern und der Grafschaft Zütphen bewegen, bald läßt er den Kaiser ostentativ vor der Kapelle warten, während er sich drinnen ins Gebet versunken gibt, aber dieser ist schließlich nicht bereit, ihn 54 55 56
Schellhass, S. 190. Johannis Knebel capellani ecclesiae Basiliensis diarium, Sept. 1473–Jun. 1476, hg. Wilhelm Vischer, Heinrich Boos (Basler Chroniken 2), Leipzig 1880, S. 27. Libellus de magnificentia ducis Burgundiae in Treveris visa, hg. von Wilhelm Vischer / Heinrich Boos (Basler Chroniken 3), Leipzig 1887, S. 332–364.
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zum König zu krönen. In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober werden die Verhandlungen endgültig abgebrochen. Verlief bisher die Begegnung in rituellen Formen, die weitestgehend durch den Aufzug des Herzogs geprägt wurden, so bricht nun der Kaiser überraschend mit den Formen: Noch in der Nacht verläßt er Trier mit kleinem Gefolge auf dem Schiff ungesegnet und ungeschayden, und Karl, der sich am morgen feierlich verabschieden will, hat das Nachsehen57. Dieser Vorgang hat damals alle überrascht. Commynes geht auf ihn ein, als er seine kritischen Überlegungen über die Fürstentreffen anstellt. Karl habe in Trier merveilleuse despence getrieben, pour monstrer son triomphe. Doch nach einigen Tagen sei der Kaiser weggegangen, sans dire adieu, à la grand‘honte et folle (humiliation) dudit duc: oncques puis ne s’entraymèrent, ni eux, ni leurs gens. Die Deutschen hätten den Pomp und die Sprechweise (parole) des Herzogs nicht geschätzt und sie seinem Stolz zugeschrieben. Die Burgunder hätten das kleine Gefolge und die ärmliche Bekleidung des Kaisers verachtet.58 Knebel bemerkt, daß, wenn der Herzog vom Wegzug des Kaisers gewußt hätte, er diesen wahrscheinlich gefangen genommen hätte, bis er die Königskrönung vollzogen haben würde.59 Keine abwegige Vermutung, wenn wir uns daran erinnern, wie es dem französischen König Ludwig XI. bei seinem Treffen mit Karl dem Kühnen fünf Jahre zuvor, 1468, in Péronne ergangen war. Damals hatte Karl, der auch hier mit großer Macht erschienen war, als ihm der vermeintliche Aufstand der Lütticher, den Ludwig angezettelt haben soll, zu Gehör kam, diesen schlichtweg unter Hausarrest gesetzt und schlimmste Drohungen gegen ihn ausgestossen. Nach Commynes, der sich bei diesem Treffen auf subtile Weise in Szene setzt, wurde Ludwig durch diesen gewarnt, daß er sich en grand péril begebe, wenn er dem Herzog nicht gehorche. So habe Ludwig schließlich in allem nachgegeben und sich bereit erklärt, mit Karl nach Lüttich zu ziehen und den Aufstand niederschlagen zu helfen.60 Die bloß innere Verpflichtung zu einem besonderen Frieden anläßlich des Fürstentreffens gab also kaum genügend Sicherheit vor einer Störung des Begegnungsrituals. Dies umso weniger, wenn die Herrscher selbst sich nicht über die Formen geeinigt hatten oder nicht vorbehaltlos den Frieden zu wahren gedachten. 57 58 59 60
Nach Schellhaß (wie Anm. 53), 189–199; Knebel (wie Anm. 55), S. 27–36. Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1036f., ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 156. Folle = humiliation, Dufournet, Philippe de Commynes (wie Anm. 60), S. 240. Knebel (wie Anm. 55), S. 35f. Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1032–1034, 1038–1040, ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 150–153, 159–162. Zu Commynes Bericht siehe die feinsinnige, Commynes Verzerrungen aufdeckende Analyse von Jean Dufournet, La destruction des Mythes dans les Mémoires de Philippe de Commynes, Genf 1964, S. 182–193, und vor allem Ders., Philippe de Commynes. Un historien à l’aube des temps modernes (Bibliothèque du Moyen Age 4), Brüssel 1994, S. 217–249.
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So kam eine andere Form der gegenseitigen Versicherung auf, nämlich die physische Verhinderung gegenseitiger Tätlichkeiten durch bauliche Maßnahmen. Das führt uns zum schon erwähnten Vorbild Picquigny von 1475. Auch hier berichtet Commynes das Prozedere ausführlich, damit man eben davon lernen könne. Es ist, wie immer bei Commynes, ein doppelbödiger Text, der unterschiedlich interpretiert werden kann, und ich habe zu begründen, warum ich ihn für meine Argumentation ernst nehme. Ironische Akzente sind gewiß nicht zu übersehen. Zugleich aber handelt es sich bei den Kapiteln V–X des 4. Buches, um die es hier geht, um den Text, in dem sich Commynes wie nirgendwo sonst als der allein allgegenwärtige, treue, kluge Diener und Vertraute seines Königs präsentiert, dem der König immer wieder ins Ohr redet, der die Unvorsichtigkeiten Ludwigs XI. ausbügelt und den Schaden, den dessen lose Zunge immer wieder anzurichten droht, auf dessen Bitte hin rasch und zuverlässig behebt. Selbstverständlich ist er bei den Vorbereitungen beteiligt, nimmt am Treffen in den gleichen Kleidern wie der König teil, wobei er den Verdacht, des Königs Mignon zu sein, nicht ungern in der Schwebe läßt, und berichtet viele lebendige Einzelheiten, um seine Präsenz und Wohldokumentiertheit zu unterstreichen. Wenn Commynes ironisiert, dann vor allem in Bezug auf die etwas schwerfälligen Engländer und auch auf seinen König, doch nie soweit, daß dadurch sein eigener Leistungsnachweis in Frage gestellt werden könnte. Folgen wir also seinem Bericht:61 Zunächst wurde von einer englischen und französischen Delegation der Ort des Treffens ausgesucht und die Somme bei Picquigny als schönster und sicherster Ort ausgewählt, wo der Fluß schmal und tief war. Man beschloß, eine breite Brücke zu bauen. In der Mitte wurde ein starkes Holzgitter, wie man es für Löwengehege mache, über die ganze Breite eingerichtet, daß es unmöglich war von der einen zur andern Seite zu gehen. Der Durchlaß zwischen den Gitterstäben war so eng, daß nur gerade ein Arm durchgehen konnte. Darüber wurde ein Baldachin errichtet, der beidseits Regenschutz für zehn bis zwölf Personen bot. Als Verbindung gab es lediglich eine kleine Barke auf dem Fluß, die von zwei Mann bewacht wurde. Das Treffen begann am 29. August 1475, wobei auf französischer Seite am Ufer 800 Mann sich aufstellten, während auf der unzugänglicheren englischen Seite die ganze Armee Stellung bezog. Zum Treffen selbst kamen nur 61
Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1142–1149 (chap. IX u. X), ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 310–318 (chap. IX u. X). Zur Interpretation des Textes siehe Dufournet, La destruction des Mythes (wie Anm. 60), S. 193–199. Vgl. auch Joël Blanchard, Commynes l’Européen. L’invention du politique, Genf 1996, S. 143–145, S. 169f., S. 182f., S. 400 (»la recontre de Picquigny … était, dans les Mémoires, pour ainsi dire centrée sur Commynes«). Zu den Darstellungstechniken Commynes: Jean Dufournet, Etudes sur Philippe de Commynes (Bibliothèque du XVe s., 40), Paris 1975, S. 123– 172, und die Relativierung durch Joël Blanchard, op. cit., S. 397–406.
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gerade jeweils 12 engere Berater der Könige auf die Brücke. Wie offensichtlich vereinbart, wurden von beiden Parteien vier Mann auf der Brückenseite des Gegners postiert um zu beobachten, was sich dort tat. Die Könige begegneten sich nun an der Schranke mit großer Reverenz und tauschten durch die Gitterdurchlässe hindurch den Friedenskuß aus. Darauf wurde der vorher schon ausgetauschte Friedensvertrag beeidigt, wobei die Könige ihre Hand auf ein Missale und ein Kreuz legten, die vom englischen Kanzler, dem Bischof von Lille, ans Gitter gebracht worden waren. Nachher tauschten die Könige zum Zeichen der Entspannung lachend einige Scherze aus, welche die Begleiter mithören konnten. Auch dieser öffentliche Scherz war ein ritualisiertes Kommunikationsmittel, mit dem Friede und Freundschaft zum Ausdruck kommen sollte.62 Nach einiger Zeit schickten beide ihr Gefolge weg, um sich alleine zu unterhalten. Commynes, der nachträglich von Ludwig XI. nochmals zum Gitter gerufen und dem englischen König vorgestellt wurde, welcher ihn natürlich bereits kannte, konnte hören, daß dieses Gespräch ein durchaus politisches war, welches das Verhältnis der beiden zu den Herzögen von Burgund und der Bretagne beinhaltete. Die Könige verabschiedeten sich und traten, Commynes betont dies, gleichzeitig vom Gitter weg. Ein erfolgreiches und reibungsloses Treffen also, dessen Sicherheitsmaßnahmen – insbesondere was den fehlenden Durchlaß anbetraf – nach Commynes von niemand anderem als Luwig XI. selbst entworfen worden waren. Und sein König erzählt ihm auch, warum er die Anlage so eingerichtet haben wollte: Es ist die Erinnerung an Montereau.63 Dort habe es in der Schranke eine von beiden Seiten her verschließbare Tür gegeben. Herzog Johann von Burgund habe, sei es, daß er dazu aufgefordert worden sei, sei es, daß er sich vor dem König erniedrigen wollte, diese Tür durchschritten und sei sogleich umgebracht worden. Ohne diese Tür wäre es nie zu diesem grand inconvéniant gekommen.64 Die dunkle Stunde von Montereau: das mißglückte Herrschertreffen par excellence. Über dieses Ereignis gibt es mehrere Berichte aus unterschiedlicher Parteiperspektive, welche die Schuld der Gegenseite zuzuschieben versuchen. Wie sie das tun, ist für uns aufschlußreich, denn sie geben uns Einblicke in die Risiken, welche die Zeitgenossen bei solchen Treffen als gegeben ansahen, und in die ganze Vielfalt von Mißverständnissen, welche nach der Meinung der Zeitzeugen unvermittelt zur Katastrophe führen konnten. Im Folgenden geht es mir nur um diese Aussage der Zeitzeugen und keinesfalls um eine abschliessende Würdigung der Ereignisse in Montereau-faut-Yonne.65 62
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Gerd Althoff, Rituale – symbolische Kommunikation. Zu einem neuen Feld der historischen Mittelalterforschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (1999), S. 146–148. Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1142, ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 310f. Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1145, ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 311.
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Nach allen Berichten fand das Treffen unter einem schlechten Vorzeichen statt. Seit der überraschenden Versöhnung auf dem Ponceau Saint-Denys waren der Dauphin und Johann ohne Furcht uneins wie zuvor. Nur nach eindringlicher Ermahnung durch das Königspaar, das von Herzog Johann angerufen worden war, fand sich der Dauphin widerwillig zu einem neuerlichen Versöhnungstreffen bereit, für das er die Brücke von Montereau bestimmte. Nun aber zögerte Johann, da ihm zugetragen worden war, daß in Montereau ein Verrat geplant sei.66 Nachdem seine Bedenken beschwichtigt worden waren, machte er sich auf den Weg, wurde aber von Leuten, die von Montereau her kamen, gewarnt, auf der Brücke seien plusieurs fortes barrières faictes de nouvel, très avantageuses pour la partie du Dauphin.67 Nach weiteren Vorwarnungen und mehrfachem Zögern kam es schließlich am 10. September 1419 um drei Uhr zum Treffen. Nach dem Religieux de Saint-Denys ließ schon die Anlage der Schranken irgend einen geplanten Verrat vermuten: Statt direkt zum Treffpunkt zu gelangen, mußte man zunächst unter einem Fallgatter durch und dann durch labyrinthartig angelegte Schranken gehen um an den Ort zu gelangen, wo der Dauphin wartete.68 Monstrelet und der Anonymus sprechen von zwei Schranken, die jeweilen nur von innen geöffnet werden konnten.69 Nach diesen Berichten bot die Anlage der Schranken keine Sicherheit, sondern das Gegenteil: Leicht ließ sie sich zur Isolation des Herzogs von seinem Gefolge verwenden. Nach dem Religieux entboten ihm drei Ritter hinter der letzten Schranke ehrerbietig sicheres Geleit, doch kaum sei er eingetreten, hätten sie die Tür hinter ihm verschlossen und ihn in arrogantem Ton aufgefordert, endlich zum Herzog zu gehen. Monstrelet läßt bei jeder Barriere Leute des Dauphins dem Herzog Sicherheit bieten und diesen einladen: Venez devers Monseigneur, il vous actend cy-devant sur le pont. Kaum hatte er die zweite Schranke durchquert, wurde sie hinter ihm geschlossen. Nach dem Anonymus riefen die Leute, als das Gefolge die letzte Tür durchschritten hatte, C’est assés! und schlossen und verriegelten die Tür. Auch das Verhalten der Leute des Dauphins weist nach diesen Berichten auf eine geplante Isolierung des Herzogs hin, wobei sie mehr oder weniger niederträchtig und wortbrüchig gezeichnet werden.
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Im Bezug auf die Ereignisrekonstruktion scheint sich Richard Vaughan, John the Fearless: The Growth of Burgundian Power, London 1966, S. 274–286, mit der Annahme eines vom Dauphin geplanten Mordanschlags durchgesetzt zu haben: Michael Zingel, Frankreich, das Reich und Burgund im Urteil der burgundischen Historiographie des 15. Jh. (Vorträge und Forschungen Sonderband 40), Sigmaringen 1995, S. 48f. Religieux de Saint Denys (wie Anm. 2) 6, S. 369–373; Monstrelet (wie Anm. 1) 3, S. 338f. Zu Monstrelet: Zingel, S. 38–57; Anonymus, in: Monstrelet (wie Anm. 1) 6, S. 278. Monstrelet (wie Anm. 1) 3, S. 340. Religieux de Saint Denys (wie Anm. 2) 6, S. 373. Monstrelet (wie Anm. 1) 3, S. 342; Anonymus, in: Monstrelet (wie Anm. 1) 6, S. 279.
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Nun standen sich der Herzog und der Dauphin unmittelbar gegenüber. Beinahe alle Berichte stimmen im Folgenden darin überein, daß der Herzog vor dem Dauphin niedergekniet sei. Um dem Dauphin demütig die seinem Rang gebührende Ehrerbietung zu erweisen, so der Religieux;70 der Herzog alla faire sa révérense und sei moult humblement auf ein Knie gegangen, so Monstrelet und der Anonymus 71. Jean Juvénal des Ursins, der von der baulichen Anlage des Treffpunktes nichts berichtet hatte, bemerkt, daß es über das, was bei der Begegnung zustieß, verschiedene Versionen gebe. Burgundischerseits würde gesagt, daß der Herzog demütig zur Ehrbekundung vor dem Dauphin niedergekniet sei, aber andere berichteten ganz anders, nämlich daß es gleich zum Disput gekommen sei.72 Nach Juvénal ist offenbar die Interpretation des Kniefalls als demütige Reverenz eine Deutung der burgundischen Partei. Vielleicht zeigt uns der Fortgang des Ereignisses, wie wir diese Geste zu verstehen haben. Nach dem Religieux überhäufte nun der Dauphin den vor ihm Knienden mit Vowürfen. Als der Herzog sah, daß alle seine Entschuldigungen nicht angenommen wurden, habe er demütig um die Erlaubnis gebeten sich zurückziehen zu dürfen. Darauf hätten die wortbrüchigen Ritter (iniqui milites), wenn man den Erklärungen, welche von den königlichen Räten öffentlich an den Kirchentüren angeschlagen worden seien, Glauben schenke, auf ein Zeichen des Dauphins hin den Herzog niedergemacht, bevor er die Tür habe erreichen können.73 Nach Monstrelet habe der Dauphin den Gruß des Herzogs in keiner Weise erwidert und auch nicht quelque semblant d’amour gezeigt. Einer seiner Begleiter habe den Herzog am Arm hochgezogen mit der Bemerkung: Levez vous, vous n’estes que trop honnorable. Dabei habe der Herzog das gegürtete Schwert, das ihm beim Kniefall nach hinten verrutscht war, wieder nach vorn ziehen wollen. Wie er seine Hand ans Schwert legt, ruft ein anderer Begleiter: Mectez vous main à l’espée en la présence de monseigneur le Daulphin! Da sei Tanneguy de Chastel hinzugetreten und habe mit den Worten Il est temps den Herzog mit der Axt niedergeschlagen74. Nach dem Anonymus wurde der Herzog, kaum war er auf den Knieen, von Tanneguy und einem andern Begleiter an den Armen gewaltsam hochgezogen und von Tanneguy mit der Axt erschlagen.75 Juvénal berichtet zunächst die burgundische Version: Der Dauphin habe den Hut gezogen, sich bedankt und den Herzog gebeten aufzustehen. Während sich dieser erhob, habe er ein Zeichen gegeben, worauf Tanneguy diesen 70 71 72
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Religieux de Saint Denys (wie Anm. 2) 6, S. 373. Anonymus in: Monstrelet (wie Anm. 1) 6, S. 279; Monstrelet (wie Anm. 1), 3, S. 343. Jean Juvénal des Ursins, Histoire de Charles VI roi de France, in: Nouvelle Collection des Mémoires pour servir à l’histoire de la France, éd. Michaud / Poujoulat, Bd. 2, Paris 1836, S. 353f. Religieux (wie Anm. 2) 6, S. 375. Monstrelet (wie Anm. 1), S. 343. Anonymus, in: Monstrelet (wie Anm. 1) 6, S. 279.
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mit den Worten Passez outre an die Schulter gestossen und mit der Axt erschlagen habe.76 Nun holt Juvénal zu einer Entlastung des Dauphins von der Mitwisserschaft und Tanneguys von der Täterschaft aus, wobei er darauf hinweist, daß selbst die damals Anwesenden nicht genau sagen konnten, was geschehen sei. Alles sei zu schnell gegangen. Jedenfalls seien alle in jenem Geviert mit Kettenhemd und Schwert bewaffnet gewesen, wobei die Burgunder in der Überzahl gewesen seien. Die Attentäter, drei Orléanisten, hätten die Tat gestanden und sie folgendermaßen begründet: Der Dauphin habe dem Herzog Vorwürfe gemacht. Der Herzog habe seinen Standpunkt erklärt, daß er nur in Gegenwart des Königs verhandeln wolle. Der Dauphin habe tres-doucement erwidert, er gehe zum König, wann er es wolle und nicht auf Befehl des Herzogs. Da sei aus dem burgundischen Geleit der Herr von Noailles neben den Herzog getreten mit den Worten Monseigneur, quiconque le veüille voir, vous viendrez à present à vostre pere, habe seine Linke auf den Dauphin gelegt und mit der Rechten bereits das Schwert zur Hälfte gezogen. In diesem Augenblick habe Tanneguy den Dauphin in die Arme genommen und durch die Schranke gerettet. Darauf hätten die drei auf den Herzog und Noailles eingeschlagen. Um die Verwirrung der Situation zu unterstreichen, betont Juvénal, daß die Burgunder ausserhalb der Schranken zunächst der Meinung waren, der Dauphin sei ermordet worden, und sich freuten. Juvénal berichtet, offenbar nach ihm zur Verfügung stehenden Verhörprotokollen und schriftlichen Aufzeichnungen, noch weitere Einzelheiten. Der Orléanist Frottier, der sich insbesondere auf den Herrn von Noailles gestürzt hatte, habe diesen Sainct Georges rufen hören, was er als den englischen Schlachtruf verstand. Der Herr von Saint-Georges war aber einer der burgundischen Begleiter, und der Ruf könnte ebensosehr ein Hilferuf gewesen sein. Und Juvénal schließt mit der Frage seines schriftlichen Berichterstatters, warum der Herzog sich für dieses Treffen nicht besser vorgesehen habe, und nicht vorgesorgt habe, um tout inconveniant zu vermeiden.77 Zwei Feststellungen ergeben sich aus diesen Berichten. Das Treffen war – erstens – schlecht vorbereitet. Es gab offensichtlich nur mangelhafte Vereinbarungen zwischen den Parteien sowohl über die Anlage des Begegnungsortes als auch über das Prozedere.78 Die Initiative scheint der Partei des Dauphins 76 77 78
Juvenal des Ursins, (wie Anm. 73), S. 554. Juvénal des Ursins, (wie Anm. 73), S. 555. Von regelrechten Vorbereitungsverhandlungen spricht nur der relativ schlecht informierte Gilles le Bouvier dit le héraut, Les chroniques du roi Charles VII., ed. Henry Courteault / Léonce Celier / Marie-Henriette Julien de de Pommerol, Paris 1979, 92, ainsi fut conclu et ordonné par lesdiz seigneurs et leur conseil, et ainsi fut fait, womit er wohl eher einfach annahm, was damals sonst üblich war. Wenn Monstrelet (wie Anm. 1) 3, S. 342, davon berichtet, daß die Leute des Dauphins bei der Sicherheitsleistung renouvelèrent les promesses et sermens fais et jurez paravant entre les parties, weist das immerhin auf eine gewisse Vorbereitung hin.
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überlassen gewesen zu sein. Die Burgunder erfuhren von den Vorkehrungen nur durch wiederholte Warnungen, worauf jeweilen Rat gehalten und beschlossen wurde, doch weiterzugehen. Selbst als in Montereau das Schloß, das vom Dauphin zur Beschwichtigung der Befürchtungen nachträglich zur Verfügung gestellt worden war, sich – nach den burgundischen Berichten – von Waffen völlig entblößt erwies, wo jede Einrichtung ihr Mißtrauen erwekken mußte und sie jeweilen, selbst noch vor der letzten Schranke, beratschlagten, ob das Unternehmen nicht abzubrechen sei, beschloß der Herzog bis zum Ende zu gehen. Es schien schon so, wie der burgundisch-herzogliche Ratsherr die letzte Frage des Berichterstatters beantwortete, daß der Herzog das Schicksal herausgefordert habe: et que si on le tuoit en allant à ladite assemblée, qu’il se tiendroit pour martyr.79 Aber bei so schlechter Vorbereitung war gerade beim Begegnungsritual der Weg frei für jegliche Mißverständnisse, und insbesondere war in keiner Weise vorgesehen, wie die Begegnung abgeschlossen werden konnte, wenn sie unbefriedigend verlief. Es gab kein vereinbartes Ritual, das über Mißverständnisse und Zweideutigkeiten hinwegführen konnte und eine solche verhängnisvolle Zweideutigkeit beinhaltete der vielberichtete herzogliche Kniefall. Damit komme ich zur zweiten Feststellung: Dieser Kniefall vor dem Dauphin war nicht bloß eine Reverenz gegenüber dem Dauphin, wie die burgundischen Berichte sagen, sondern noch etwas anderes. Es schwang auch, wenn wir die auffällige Betonung der Demut dieses Gestus beachten, etwas von jenem alten Ritual der deditio mit.80 Johann ist schon einmal vor dem Dauphin niedergekniet. Nach dem Treffen auf dem Ponceau Saint-Denys am 8. Juli 1419, welches nach schlechtem Verlauf in jener durch die Dame de Giac veranlaßten überraschenden Versöhnung endete, die folgenden Tags verbrieft und eidlich befestigt wurde, kam es am 11. Juli 1419 zu einem neuerlichen großangelegten Treffen der beiden mit ihren Heeren auf freiem Feld bei Pouilly-le-Fort. Etwa zwei Pfeilschußlängen von einander entfernt stellten sich die Heere in Schlachtordnung auf – en bataille en très belle ordonnance81 – der Herzog und der Dauphin, ritten mit einer Begleitung von zehn Mann aufeinander zu und stiegen in der Mitte zwischen den Heeren vom Pferd. Nun kniete Johann moult humblement vor dem Dauphin nieder. Dieser küßte ihn und wollte ihn aufheben, doch der Herzog blieb auf den Knieen mit den Worten: Monseigneur je suis bien: je sçay bien comment je doy parler à vous. Trotzdem zog ihn der Dauphin hoch, verzieh ihm alle offences se aucunes en avoit faictes contre lui und bat ihn, seinen beau cousin, auch ihm die Fehler zu verzeihen, 79 80
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Juvénal des Ursins, (wie Anm. 72), S. 555. Gerd Althoff, Das Privileg der deditio, in: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 99–125; Ders., Rituale (wie Anm. 62), S. 146–148. Anonymus in: Monstrelet (wie Anm. 1), S. 271.
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wenn er etwelche gemacht haben sollte, und ihn zu korrigieren – que vous le corrigiez – damit sie künftig vollkommen einig handelten. Nachdem einige Freundlichkeiten ausgetauscht worden waren, traten die beiden Gefolge zusammen und riefen voller Freude Noël! Später stieg der Dauphin aufs Pferd, während der Herzog den Steigbügel hielt und der Dauphin ihn wiederholt bat, dies nicht zu tun. Dann ritten die beiden eine Weile zusammen und nahmen Abschied voneinander82. Was hier geschah, war ein Kompromiß in der Form einer feierlichen deditio. Sie wird auf dem Ponceau Saint-Denys vereinbart worden sein. Jedenfalls erwähnt Monstrelet, dem wir den ausführlichen Bericht verdanken, daß die Dame de Giac en partie avoit esté traicteresse de ceste assemblée. Der Kompromiß bestand offensichtlich darin, daß Johann im Angesicht beider Heere eine öffentliche deditio vollzog, die den Dauphin zur Versöhnung »zwang«, daß aber beiderseits Fehler eingestanden wurden und dies erst noch im Konditionalis, falls solche begangen worden seien. Es war ein durch und durch vereinbarter ritualisierter Vorgang, in dem die beiden Protagonisten bewußt eine Rolle spielten. Über das Ritual wurde versucht, eine neues politisches Friedensverhältnis zu schaffen und dieser Projektion dessen, was künftig gelten sollte, eine bestärkende Legitimation zu verleihen. Damit hätten öffentlich die Voraussetzungen geschaffen werden sollen zu einem gemeinsamen Vorgehen bei der Wiederherstellung des Königreiches. Die Realität ließ sich in dieser Stunde überbrücken durch das Ritual, sie änderte sich aber nicht. Die Unstimmigkeiten und Verdächtigungen gingen im Kampf der realpolitischen Interessen offenbar ungehindert weiter und schon nach zwei Monaten war es wieder so weit, es kam zur Tragödie von Montereau. Wenn nicht alles trügt, scheint Johann ohne Furcht bei diesem Treffen nochmals auf die rituelle Wirkkraft des Kniefalls vertraut zu haben. Diesmal war aber nichts vereinbart gewesen, und der Dauphin war offensichtlich nicht mehr willens, die entsprechende Rolle zu spielen. Deshalb rissen die Leute des Dauphins den Herzog gewaltsam hoch. Der dabei gesprochene Satz, levez vous, vous n’estes que trop honnorable, liesse sich situationsgerecht so verstehen, daß der Kniefall als Reverenz für überflüssig erklärt, eine deditio aber nicht mehr akzeptiert wurde. Was dann in dieser spannungsgeladenen Situation geschah, ist schwer zu sagen. Die Quellen lassen die möglichen Mißverständnisse erahnen, welche zur Extremreaktion geführt haben. Diese Deutung des Kniefalls in Montereau läßt sich mit einer andern Szene untermauern, die gegen Ende dieses Jahrhunderts im Reich stattgefunden hat und zeigt, daß die kommunikative Funktion des Kniefalls als öffentliche Unterwerfung, deditio, oder als Bitte noch immer bekannt, aber nicht mehr unbedingt akzeptiert wurde. Johannes Reuchlin berichtet anläßlich der Königskrönung Maximilians I. 1486, wie Graf Oswald von Tierstein, als er sieht, 82
Monstrelet (wie Anm. 1) 3, S. 322f.
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daß der Kaiser wohlgestimmt ist und sich vergnüglich mit den Kurfürsten unterhält, die Situation nutzen will, um Gnade für seinen Bruder zu erbitten. Oswald fiel dem kaiser zu fuß und bat, die k.m. wölt gegen sinen bruder Wilhelm die ungnad abstellen. Der kaiser wolt in von der erden ufziehen, er wolt nit uf, die curfürsten baten den küng und kaiser. Da antwurt der kaiser, er hett ungnad verschuldt, und als sie aber baten, sprach der kaiser: lasst in selber zu mir kommen; und kein ander antwurt mochten sie herusbringen dann dieselbe: lasst in selber zu mir kommen.83 Der Kniefall kommt Friedrich III. völlig ungelegen und – ein unglaublicher Vorgang – der alte Kaiser sucht den Tierstein mit eigenen Händen hochzuziehen, sich aus dieser zwingenden Situation zu befreien. Die Kurfürsten sind bereit, die entsprechende Rolle zu spielen; aber es fruchtet nichts. Friedrich verweigert sich – Reuchlin ist so beeindruckt, daß er dessen Antwort nochmals wiedergibt – und die gute Stimmung ist hin. Die Lösung mit dem »Löwengitter« ohne Tür zwischen den Kontrahenten, zu der Ludwig XI. in Erinnerung an das inconvéniant von Montereau gefunden hatte, war wohl tatsächlich die beste Lösung, um den Gefährdungen durch Mißverständnisse und Zweideutigkeiten, mit denen eben auch das Ritual selbst behaftet sein konnte, zu entgehen. Physische Übergriffe waren zum vornherein verunmöglicht, und es ist auch denkbar, daß die Kontrahenten, auf diese Weise räumlich durch eine Gitterwand getrennt, welche ja auch die Sicht weitgehend versperrt haben muß, auch mehrdeutige rituelle Gesten gegenseitig nicht zur Kenntnis nehmen mußten. Aus diesem Grund war gerade bei Ludwig XI. dort, wo ein Durchlaß in der Abschrankung gegeben war, und der eine Partner drängte, zum andern eingelassen zu werden, dieser Schritt so diffizil, wie es Philippe Contamine beschrieben hat.84
3 Es ist nun aufgrund dieser Quellenlage – und deshalb habe ich die verschiedenen rituellen Abläufe so quellennah wie möglich beschrieben – ausserordentlich schwer, das Faktum des Fehltritts festzustellen. Freilich könnte man die Probleme bei den Krönungsfeierlichkeiten wie bei den Herrscherbegegnungen als eine einzige Folge von Fehltritten beschreiben. Die Quellen tun es offensichtlich nicht, und die Unhaltbarkeit einer solchen Wertung ginge bereits daraus hervor, daß es jeweilen schwer fällt anzugeben, wer einen Fehl83
84
Johannes Reuchlins Bericht über die Krönung Maximilians I. im Jahr 1486, teilweise hg. von Eugen Schneider, in: Zeitschrift für Geschichte am Oberrhein NF 13 (1898), S. 547–559, bes. S. 557. Philippe Contamine, Les rencontres au sommet dans la France du XVe s., in: Heinz Duchhardt / Gerd Melville (Hg.), Soziale Kommunikation im Spannungsfeld von Recht und Ritual (International school of Ius Commune, 10th workshop), Erice 1994, S. 285f.
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tritt begeht: Waren es jene, die den Ritualablauf dadurch störten, daß sie Pferd, Baldachin oder Geschirr behändigen wollten? Aber sie beriefen sich auf alte Gewohnheiten, über die man sich innerhalb der Ritualgemeinschaft offensichtlich nicht sicher war. War es der Dauphin und die ganze Anlage des Treffens von Montereau? Oder Herzog Johann ohne Furcht mit seiner Unbedachtsamkeit oder seinem ungelegen kommenden Kniefall oder seinem absichtslosen Griff nach dem Schwert? War es Ludwig XI., der sich auf das Treffen von Péronne einließ und, wie es scheint – so will es Commynes –, völlig vergessen hatte, daß zur gleichen Zeit seine Boten den Aufstand der Lütticher anstachelten? Oder der Herzog von Burgund, der den König beim Herrschertreffen einfach gefangen setzte? War es die unverschämte Prachtentfaltung Karls des Kühnen, oder der abschiedslose Wegzug des Kaisers in Trier? Dies liesse sich nur entscheiden, wenn klare Vereinbarungen gegeben sind – und wo dies der Fall war, berichten die Quellen nichts von Störungen –, oder wenn von einer unzweideutigen Geltung der Rituale ausgegangen werden kann – und die Quellen belegen eher, daß dies nicht der Fall war. Sie nehmen ganz selbstverständlich Ungewißheiten im Rahmen des Rituals in Kauf. Und wenn einmal die Rede davon ist, daß eine Handlung kain glimpf habe oder ganz offensichtlich die Schuld an der Verletzung des Rituals dem Gegner zugeschoben wird, handelt es sich um Parteinahmen, die aufgrund anderer Berichte klar als solche ausgemacht werden können. Im Allgemeinen berichten die Quellen von Mißverständnissen, Zweideutigkeiten und offenen Störungen ohne jede Wertung. Die Zeugen erzählen nämlich vom Ritual, das sie miterlebt haben, und das von einem Anfang zu einem Ende geführt hat. Dies steht im Zentrum ihres Interesses, und wenn sie Aufsehen erregende Nebenereignisse erlebt haben, erzählen sie diese einfach mit, ohne sich vom Hauptinteresse ablenken zu lassen. Insofern sind eben auch die Berichte über Rituale der »Magie des Rituals« erlegen und selbst Zeugnisse dafür, daß die Überbrückungsfunktion des Rituals in einer gefährdeten Übergangssituation effizient war. Solange das Ritual selbst in seinem Ablauf nicht behindert wurde, solange im Ritualinnenraum die zugewiesenen Rollen gespielt werden konnten oder wollten, solange können auch die vielfältigsten Mißverständnisse und Unklarheiten in ihm mitgeführt werden. Wo sie den Abschluß des Rituals oder eines seiner Teile gefährdeten, blieben immer noch Möglichkeiten. Sei es, daß man die Rolle – für dieses eine Mal – bis zum bitteren Ende durchstand und sich alle Zugeständnisse abfordern ließ, wie Ludwig XI. in Péronne, oder sich ihr entzog, wie Friedrich III. in Trier, oder durch ein anderes Ritual aus der Sackgasse führte, wie beim Lehenstag Maximilians I. geschehen. Aus seinem Wesen und seiner Funktion heraus kann das Ritual in seinem ›Innenraum‹ vieles – bei dem wir geneigt wären, von Fehltritt zu reden – mitführen, es einverleiben oder ignorieren. Das vielfältige Stimmengewirr um das richtiggehend gescheiterte Begegnungsritual von Montereau mutet hingegen an, als
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hätten die Chronisten – in frappantem Gegensatz zu der nur zwei Monate früheren Begegnung der beiden Kontrahenten bei Pouilly-le-Fort – diesen völlig aus der Kontrolle geratenen Verlauf darstellerisch so sehr nicht bewältigen können, daß das als Muster vorgegebene Ritual als solches, wie einzelne Elemente desselben, in ihrer Bedeutung kaum mehr erkennbar sind und etwa die nicht unübliche Gestaltung des Ritualraums geradezu den Charakter eines ausgeklügelten Fallensystems annimmt. Als Commynes seine Gründe darlegte, warum er direkte Herrscherbegegnungen ablehne, da führt er verschiedene Herrschertreffen an, die an sich mehr oder weniger erfolgreich verlaufen waren. Und dennoch ließ er sich als erfahrener Beobachter der Politszene durch diese Rituale nicht täuschen. Wie wir eingangs gesehen haben, zählt er die Störungen und Gefährdungen sehr luzide auf. Diese wirken sich jeweilen im nachhinein aus, oncques puis ces deux roys ne se aymèrent.85 Das ist gleichsam sein Leitmotiv für die Situation nach der Begegnung. Nachdem das Ritual erfolgreich abgeschlossen worden war, brach nach Commynes die politische Realität wieder an den Tag, wurden die Spöttereien und Beschimpfungen erinnert, und ging die durch das Ritual projizierte Regelung oder Versöhnung vergessen. Und in diesem Zusammenhang erscheint zu unserer Überraschung auch jene Königsbegegnung von Picquigny, die Commynes als so vorbildhaft vorgestellt hatte. Nur wenig des damals Versprochenen sei eingelöst worden. Die Könige, damals in Picquigny, besoignèrent en dissimulation, dies könnte man auch als Commynes Urteil über das Rollenspiel im Ritual und damit über das Begegnungsritual selbst ansprechen. Nachher, im ›Außenraum‹, wenn das Ritual vorbei ist, dann kommen auch die Erinnerungen an Fehltritte wieder hoch, die im ›Innenraum‹ ignoriert worden waren. So ließen sich konkrete, über die allgemein gehaltene Argumentation Commynes hinausgehende Hinweise auf Fehltritte also am ehesten in der nachherigen Verarbeitung der Herrscherbegegnung finden. Das führt zu meinem letzten Beispiel. So seien diese Ausführungen mit dem einzigen aufgefundenen Fehltritt abgeschlossen, der aufgrund der systematischen, wenn auch unvollständigen Analyse der Herrschertreffen als solcher klar feststellbar ist und auch in den Quellen ziemlich deutlich als solcher benannt wird. Das Beispiel bewegt sich im Rahmen der Herrscherbegnungen, in der Form, wie sie von Ludwig XI. organisiert worden sind. Aufgrund des bisherigen Ergebnisses sei der Fehltritt allerdings nicht mehr in irgendeiner Fehlhandlung innerhalb eines Rituals gesucht, was ja in jene Beliebigkeit münden würde, die ich eben aufgezeigt habe. Vielmehr kann nun am Untersuchungsobjekt selbst gleichsam der systemische Fehltritt gefunden werden, nämlich in der unpassenden Anwendung des Rituals. Die ergebnislose Suche nach dem Fehltritt im Ritual mag so wenig85
Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1036f., ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 155–157.
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stens den Weg aufgedeckt haben, der in der hier gewählten Testanlage zur Feststellung von ›Fehltritt‹ führen könnte: nämlich im Ritual als Fehltritt. Es handelt sich um das Treffen zwischen dem französischen König und Ludwig von Luxemburg, comte de Saint-Pol und Connetable de France im Jahre 1474.86 Saint-Pol kam damals den gegen ihn am Hof betriebenen Intrigen zuvor, indem er ein Treffen mit dem König verlangte. Der Ort wurde drei Meilen von Noyon entfernt an einem kleinen Fluß gewählt. Nicht auf einer Brücke, sondern auf einem Damm (chaussée), der sich auf dem Ufer der königlichen Seite befand, während sich der Connetable an einer Stelle hielt, wo eine Furt durch den Fluß zum anderen, ›seinem‹ Ufer führte. Auf dem Damm wurde eine starke Schranke errichtet. Saint-Pol war zuerst zur Stelle mit seiner ganzen Macht, ungefähr 300 Mann, er selbst in Rüstung. Der König kam mit 600 Bewaffneten und mit dem Herrn von Dammartin, dem Erzfeind SaintPols. Zunächst schickte er – wäre es nicht Commynes, der berichtete – Commynes vor, um sich für die Verspätung zu entschuldigen. Dann trat der König selber mit fünf oder sechs Begleitern an die Schranke, wie auch Saint-Pol mit ebensovielen Leuten, und die Verhandlung begann. Zunächst entschuldigte sich Saint-Pol dafür, daß er in Waffen gekommen sei. Es sei aus Furcht vor Dammartin geschehen. Dann wurde vereinbart, daß alle vergangenen Dinge vergessen seien und nicht mehr darüber gesprochen werden solle. Darauf ging der Connetable durch die Schranke zum König, der die Versöhnung zwischen ihm und Dammartin unter seinem Schirm arrangierte. Schließlich zog SaintPol mit den Königlichen zum Abendessen und Nachtlager nach Noyon. Andern Tags kehrte er zufrieden, bien reconseillé, comme il disait, nach SaintQuentin zurück. Ein rundum geglücktes Versöhnungstreffen also, trotz der gespannten Situation und dem vorhandenen Störungspotential, wenn wir an die beidseits anwesenden Heere denken. Das Treffen war offenbar gut vorbereitet, und die Ordnung wurde auch vom Umfeld des Versöhnungsrituals strikte eingehalten. Doch nun fährt Commynes fort: Als der König nachher das Geschehene wohl bedachte und hörte, was man unter den Leuten sagte, da erschien es ihm als eine Torheit (folye), sich so mit einem Diener (serviteur) getroffen und mit diesem gesprochen zu haben. Was ihn besonders ärgerte, war, daß jener sich hinter einer geschlossenen Schranke befand – une barrière fermée devant luy –, begleitet mit Bewaffneten, die ja alle seine Untertanen waren und durch ihn, den König, bezahlt wurden. Und sei sein Haß gegen Saint-Pol vorher schon groß gewesen, so fürderhin noch größer. Commynes hingegen urteilt später, daß der König weise gehandelt habe, denn andernfalls wäre der Connetable wahrscheinlich gleich ins burgundische Lager übergelaufen. Aber für einen so gescheiten Herrn (un si sage seigneur), wie es der Connetable war, habe je86
Zu Saint-Pol in den Memoiren, siehe Dufournet, La destruction des Mythes (wie Anm. 60), S. 446–450.
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ner seine Angelegenheit schlecht angepackt, oder Gott habe ihm alle Kenntnis dessen, was er hätte tun sollen, geraubt. Was war es denn, was der Connetable nach Commynes so grundfalsch gemacht hatte? Daß er sich auf diese Weise – man darf wohl ruhig ergänzen, hinter einer Schranke – und so verkleidet – in Waffen – sich vor seinem König und Meister, dem alle Krieger gehörten, die ihn begleiteten, eingefunden habe. Das Gesicht des Connetable habe gezeigt, fährt Commynes weiter, daß dieser selbst über die Situation erstaunt und entsetzt (estonné et ebahy) gewesen sei, als er sich in Gegenwart des Königs, von diesem durch eine Schranke getrennt, gesehen habe. Commynes spricht jetzt von einer petite barrière, wohl weil sie dem Diener gegenüber seinem Herrn im Ernstfall ja keinen Schutz geben konnte. So habe Saint-Pol diese schnell öffnen lassen und sei auf die Seite des Königs gekommen. Der Connetable sei an diesem Tag in großer Gefahr gewesen.87 Hier hätten wir ihn also, den Fehltritt, belegt durch die Erwägungen des Königs und die Reflexion Commynes. Und es ist gleich ein kapitaler Fehltritt, nach Commynes eine grundsätzliche, von Gott bewirkte Verblendung: Der Diener hat dem Herrn ein Begegnungsritual abgefordert, wie es nur für die Begegnung ebenbürtiger Herrscher üblich war. Entstanden war eine unsinnige Situation: Der Herr von seinem Diener und seinen Kriegern durch eine Schranke getrennt. Aber der König hatte sich darauf eingelassen, wohl weil er diese Form der Begegnung gewohnt war und sie ihm Sicherheit bot. Und das Treffen nahm ja seinen Verlauf ungestört. Wenn Ludwig sich erst nachträglich – außerhalb des Rituals und unbefangen durch die ihm dabei zukommende Rolle – der folye dieses Vorgangs bewußt wurde, so wird gerade auch an diesem Beispiel meine These bestätigt, daß das Ritual Fehltritte ignorieren und gar einverleiben kann und gerade dadurch seine Funktion, risikoreiche Situationen zu überbrücken, erfüllt. Dies offensichtlich sogar dort, wo es falsch eingesetzt wird; wo das Ritual selbst zum Fehltritt geworden ist. Wie Commynes sofort bemerkte, hatte die rituelle Versöhnung, bei der jeder Part die entsprechende Rolle spielte, in der politischen Realität nämlich keine Wirkung: Der König haßte den Connetable noch mehr, und ein Jahr später, am 19. Dezember 1475, ist Saint-Pol, – in Commynes Darstellung – der Ränkeschmied par excellence, der sich in seinen Machenschaften zwischen den verfeindeten Herrschern selbst verhedderte, vom englischen König verraten, von Karl dem Kühnen ausgeliefert, von Ludwig XI. in den Tod geschickt worden.88
87 88
Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1107f., ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 257–259. Mémoires, ed. Pauphilet (wie Anm. 47), S. 1154–1158, ed. Dufournet (wie Anm. 47), S. 326–332.
Valentin Groebner
Regel, Ausnahme, nachträgliche Benennung
Über Geschenke, Fehltritte und ihre Berichterstatter im 15. Jahrhundert Richard Trexler hat vor einigen Jahren auf einer Tagung zu Riten und Ritualen des Mittelalters darauf aufmerksam gemacht, daß rituelle Abläufe in der Vormoderne, so starr sie auch aussehen mögen, nicht bloße affirmative Wiederholung bestehender Regeln sind, sondern gleichzeitig – und für zeitgenössische Autoren sogar in erster Linie – aktuelle politische Fühler. Sie dienen natürlich dazu, den jeweils herrschenden Kräfteverhältnissen in einer Stadt oder bei Hof sichtbaren Ausdruck zu verleihen, wie Trexler es in seiner Studie zum öffentlichen Leben im spätmittelalterlichen Florenz eindrucksvoll dargestellt hat. Die Rituale werden aber gleichzeitig dazu benutzt, in feinen Veränderungen – besonders starke oder besonders schwache Teilnahme bei einer Prozession, Zwischenrufe, Unterlassen oder veränderte Reihenfolge bestimmter Handlungen, abweichende Routen usw. – gegenwärtige Stimmungen sowohl zu erkunden und auszudrücken. Sie sind also nicht bloße rituelle Repräsentation, sondern gleichzeitig politisches Lackmuspapier, von Beoachtern sorgsam interpretiertes Muster von Abweichung und Erprobung, Reaktion und Gegenreaktion.1 Rituale – und Fehltritte – werden offenbar stets im Nachhinein als solche beschrieben und definiert. Wer notiert also wessen Fehltritt für wen? Das Folgende ist ein Versuch, der die Spannung zwischen praktiziertem (also: durch Handlung gesetztem) Ritual und seiner normativen oder deskriptiven schriftlichen Registrierung zum Ausgangspunkt nimmt. Chroniken und Reiseberichte des späteren Mittelalters bieten eine Vielfalt von Beschreibungen ritueller Empfänge, und die Forschung hat sich in den letzten Jahren mit diesen höfischen Zeremoniellen 1
Richard Trexler, Public Life in Renaissance Florence, Ithaca 1991. Die Beiträge der Tagung wurden publiziert von Jacques Chiffoleau, Lauro Martines und Agostino Paravicini Bagliani (Hgg.), Riti e rituali nelle societa medievali, Spoleto 1994. Der folgende Versuch ist im Rahmen einer größeren Arbeit zu den politischen Diskursen rund um Geschenke im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit entstanden. Sie erscheint als ›Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter‹ im Herbst 2000 im Universitätsverlag Konstanz.
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eingehend beschäftigt: Von den (tumultuösen) Krönungsritualen Friedrichs III. in Aachen 1442 über die fein abgestimmte Zeichensprache an europäischen Höfen anläßlich des Besuchs einer böhmischen Delegation von politisch umstrittenem Status, wie sie das Reisebuch Leo von Rozmitals schildert, bis zur spektakulären Visualisierung burgundischer versus kaiserlicher Machtansprüche beim Treffen zwischen Karl des Kühnen und Friedrich III. 1473 sind eine ganze Reihe dieser Texte sehr eingehend untersucht und in ihren verschiedenen Kontexten analysiert worden. Vielzitiert ist dabei die skeptische Passage aus Philipp de Commynes’ Memoiren, in der er die Risiken einer persönlichen Begegnung zweier Herrscher beschreibt und eine Vielzahl von möglichen Zwischenfällen, Pannen, Fehltritten samt ihren verheerenden Folgen ausmalt, bevor er zusammenfaßt, man solle solche Treffen möglichst vermeiden und nur dann arrangieren, wenn keine geeigneteren Formen indirekter Kontaktaufnahme zur Verfügung stünden.2 René Maulde la Clavières’ ebenso ehrwürdige wie materialreiche Geschichte der Diplomatie des 15. und frühen 16. Jahrhunderts breitet ein solches Panoptikum von Mißtrauen, Pannen und ausgefeilten Vorsichtsmaßnahmen rund um derartige politischen Treffen vor dem Leser aus, das wir Commynes (vielleicht zu schnell) beipflichten: Der Ablauf politischer Empfänge und Besuche scheint von den Zeitgenossen als riskant und nur schwer kontrollierbar empfunden worden zu sein, ständig von Fehltritten bedroht. Das Folgende handelt von einem spezifischen Aspekt dieser Rituale, nämlich von den Problemen und Pannen rund um Geschenke in diplomatischen Empfängen und Besuchen des ausgehenden Mittelalters, vornehmlich in Basel und Augsburg. So sehr diese Geschenke von den Beteiligten auch als ›Tradition‹, ›altes Herkommen‹, Ritual präsentiert werden, sie sind nicht zu trennen von den politischen Aufschreibelogiken, die sie – für wessen Augen eigentlich genau? – im Wortsinn erschaffen. Das Ritual der Höflichkeit und der Freigiebigkeit bringt auch im späten Mittelalter eben nicht die Welt in Ordnung, sondern wird von den Beteiligten jeweils eigennützig ausgelegt und ›gespielt‹. Wie jedes gute Spiel dreht sich auch das vom Besuchsgeschenk um etwas ziemlich Ernstes. In der rituellen und demonstrativen Präsentation der 2
Hier nur der Hinweis auf Gerhard Fouquet, Das Festmahl in den oberdeutschen Städten des Spätmittelalters. Zu Form, Funktion und Bedeutung öffentlichen Konsums, in: Archiv für Kulturgeschichte 74 (1992), S. 83–123, mit einem Überblick über die ältere Literatur; Johann Andreas Schmeller (Hg.), Des böhmischen Herrn Leo's von Rozmital Ritter-, Hof- und Pilger-Reise durch die Abendlande 1465–1467. Beschrieben von zweien seiner Begleiter. Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Bd. 7, Stuttgart 1844; Philipp de Commynes, Memoiren, 1, viii und ix. Vgl. Werner Kolb, Herrscherbegegnungen im Mittelalter, Bern 1988. Nach wie vor lesenswert und mit breiter Materialdokumentation der tatsächlichen Besuchsabläufe und der dabei getroffenen Vorsichtsmaßnahmen René de Maulde la Clavière, La Diplomatie au temps de Machiavel, 3 Bde, Paris 1892/ 93, hier Bd. 1, S. 252–29.
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überreichten Gaben in Wein, Essen, Geld, Wertgegenständen an den hochgeschätzten Besuch wird jeweils deren affektiver und affirmativer Charakter als Geschenke hervorgehoben; um die weniger gemütlichen Aspekte dieser Transfers soll es im Folgenden gehen. Geschenke erscheinen in den Chroniken, Memoranden und Rechnungen spätmittelalterlicher Städte als zentrale politische Kommunikationsmittel. Zeremoniell überreichte Geschenke in Geld, Wein, Fischen und anderen Nahrungsmittel spielen nicht nur in den internen politischen Abläufen, sondern vor allem bei Besuchen auswärtiger Würdenträger eine zentrale Rolle. Als Friedrich III. am 3. September 1473 in Basel einzieht, läßt ihm der Rat unum piccerium auro delinitum überreichen, so der Chronist Johannes Knebel, dazu hundert Säcke mit Hafer und fünfzehn Fässer Wein; sein Sohn Maximilian erhält einen Becher aus Silber, fünfzig Säcke und fünf Fässer Wein. Ritueller Trunk und Bargeld gehen in diesen Ritualen eine Verbindung besonderer Art ein, denn die vergoldeten bzw. silbernen Schalen für den Kaiser und seinen Sohn sind mit Gulden gefüllt. In eo mille florenos für Friedrich, fünfhundert für seinen Sohn: Die Stadt überreicht dem Herrscher gewissermaßen trinkbares Bargeld. Ähnliche Gaben gehen auch an das kaiserliche Gefolge, je nach Rang gestaffelt; sie reichen von dem silbernen Becher im Wert von zwanzig Gulden, zwei Fässern Wein und 16 Säcke Hafer, die der Erzbischof von Mainz erhält, bis zu den Trinkgeldern für die Kanzlisten, Schreiber, Musiker und Türhüter des Kaisers. Ähnliche Geschenkkombinationen erhält Friedrich auf seiner Reise 1473 / 74 auch in anderen Städten: In Augsburg etwa sind es Fische, Wein und ein Trinkgefäß im Wert von 130 Gulden mit weiteren tausend Gulden hineingefülltem Bargeld.3
3
Basler Chroniken, hg. von August Bernoulli, Bd. 2, Leipzig 1880, S. 8, und Bd. 4, Chronikalien der Ratsbücher 1356–1548, Leipzig 1890, S. 72f. (1473). Beim ersten Besuch Friedrichs III. in Basel 1442 erhält er einen Tafelaufsatz in Form einer vergoldeten Silberschiffs überreicht, der aber ebenfalls mit Geld gefüllt ist – Bernhard Harms (Hg.), Der Stadthaushalt Basels im ausgehenden Mittelalter: Die Jahresrechnungen 1360–1535, 3 Bde, Tübingen 1909 / 13, hier Bd. 2, S. 224f. Zu den Geschenken an Friedrich in Schlettstadt Joseph Geny (Hg.): Schlettstadter Stadtrechte, Heidelberg 1902 (=Oberheinische Stadtrechte Bd. 3), S. 498f.; die Angaben stammen aus einer späteren Aufstellung Jakob Wimpfelings über Geschenke der Stadt an hochgestellte Besucher. Zu Augsburg der Chronist Hektor Mülich in Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, hg. von Karl Hegel u.a., Bd. 22, Leipzig 1892, S. 238. Zu Geschenken an den Kaiser 1442 in Augsburg siehe auch ebd., Bd. 5, Leipzig 1866, Beilagen zur Chronik des Burkhard Zink, s. 384 ff.: einen vergülten kopff um 143 fl, 1000 Gulden in bar, Wein und Fische. Die Kombination des geldgefüllten Edelmetallgefäßes mit Wein und Getreide findet sich auch in Nürnberger Quellen – siehe etwa ebd., Bd. 11, S. 463, 484, 501 und 553. Eine Zusammenstellung weiterer Berichte zu städtischen Herrscherempfängen des 15. Jahrhunderts bei Anna-Maria Drabek, Reisen und Reisezeremoniell der römisch-deutschen Herrscher im Spätmittelalter, phil. Diss. Wien 1964, S. 6, Anm. 216.
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Was haben die überreichten Flüssigkeiten mit dem Besuch des hohen Herrn zu tun? Die ältere Mediävistik und Rechtsgeschichte hat diese Präsente in Wein und Hafer, die die spätmittelalterlichen Städte dem einziehenden Fürsten präsentieren, als den Kern des Rituals, als Rechtstradition und ›Überrest‹ älterer Gastungspflichten der Städte interpretiert und die Transfers in Geld als deren monetarisierte Kümmerform – eine Archaisierung, zu der Geschenke offenbar leicht Anlaß geben. Die Basler Schenkbücher, die von den 1360er Jahren an im Rahmen der Stadtrechnungen praktisch lückenlos von Woche zu Woche erhalten sind, registrieren solche Geschenke in Wein und Fischen, in goldenen Bechern und Hafer allerdings an ein recht breites Spektrum von Besuchern. Burgundische Diplomaten und badische Markgrafen erhalten sie ebenso wie der Konzilspapst Felix V., dem man bei seinem feierlichen Einzug umgerechnet 340 Liter Wein und ein kleynot, costet 102 guldin, überreicht, wie die Jahresrechnung 1439 / 40 ausführt.4 Kombiniert mit traditionellen Gaben in Wein und Getreide übergibt der Rat einen solchen Ehrenbecher auch jeweils dem neugewählten Basler Bischof bei seinem feierlichen ersten Einritt in die Stadt, wie eine internes Ratsmemorandum 1477 festlegt, alles nach lut deß alten harkommens und bruchs.5 Der Basler Bischof, nominell weiterhin Stadtherr, wenn auch de facto bloßer (mächtiger und gelegentlich unangenehmer) Nachbar mit Residenz im nahen Delemont bzw. Porrentruy, ist in den Schenkbüchern sehr prominent; er dürfte der am häufigsten beschenkte auswärtige Würdenträger in Basel sein.6 Die ältere Rechtsgeschichte hat diese zeremonielle Gaben nicht nur mit archaischen Bezügen versehen, sondern auch mit starken Bedeutungen aufgeladen: Verträge und Abmachungen seien durch sie rechtsgültig gemacht, feste Bindungen zwischen Gebern und Empfängern geschaffen worden.7 Nun ha4
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Harms, Stadthaushalt Bd. 2, S. 215. Zu seiner Person siehe jetzt Bernard Andenmatten und Agostino Paravicini Bagliani (Hg.), Amédée VIII – Félix V. Premier Duc de Savoie et Pape (1383–1451), Lausanne 1992. Im Gegensatz zu anderen Präsenten bleiben diese Geschenke an den neugewählten Bischof auffallend konstant: 1458 gibt man dafür umgerechnet 14,000 d aus umb eynen silbern kopf an den neugewählten Johann von Venningen; 1479 einen sehr ähnlichen Becher im Wert von 54 Gulden (14,904 d zu offiziellem Kurs) an Kaspar zu Rhein. Erst der Becher, der 1502 dessen Nachfolger Christoph von Utenheim als Empfangsgeschenk der Stadt präsentiert wird, ist etwas kostspieliger: 18,000 d, geben umb das cleinot so unserm herrn von Basel geschenckt ist – Harms, Stadthaushalt (wie Anm. 3) Bd. 2, S. 297 und 410; ebd., Bd. 3, S. 137. Staatsarchiv Basel-Stadt, Protokolle, Öffnungsbuch 7, f. IXr. Solche internen Schenkordnungen sind aus mehreren Städten überliefert: Vgl. etwa die detaillierte Aufstellung, wie wertvoll welches Geschenk für welchem Besucher sein soll, die Francesco Filarete, offizieller sindicus et referendarius der Republik Florenz, 1450 anlegt; eine städtische Verordnung von 1473 paßt die dort genannten außerordentlich detaillierten Summen der veränderten politischen Lage an. The libro ceremoniale of the Florentine Republic, hg. von Richard Trexler, Genève 1978, S. 62 und 81.
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ben die städtischen Geschenke ohne Zweifel rechtsförmige Bedeutungen. Analog zum weinkauff oder leitkouf, der zum Abschluß von Kaufverträgen üblich ist, bekräftigen Geschenke in Wein oder Geld Arbeitsverträge mit städtischen Bediensteten und Amtleuten, und wir können vermuten, daß in den sorgfältig inszenierten Geschenkübergaben an Fürsten und Diplomaten diese Bedeutung zumindest mitschwingt. So schlicht sind spätmittelalterliche Zeitgenossen aber nicht gestrickt, daß für sie das Entgegennehmen eines Geschenks eine so starke magische Qualität hätte, daß es automatisch dem Geber verpflichtet. Verträge – egal ob Kaufverträge oder politische Vereinbarungen – werden in den Städten des 15. Jahrhunderts nicht durch zeremoniell überreichten Wein abgesichert und gültig gemacht, sondern durch rechtliche Garantien, Zeugen, schriftliche Fixierung und ein ausgefeiltes System von Bürgschaften und beidseitig akzeptierten Gerichtsbarkeiten. Die Geschenke alleine schaffen keine rechtsverbindliche Zustände. Sie sollen vielmehr die Bindungen und Rechtsverhältnisse augenfällig und vor allem öffentlich machen. Und deswegen gibt es auch keinen automatischen Gabentausch, deswegen fordert die Gabe nicht »stets Vergeltung«, auch wenn es auf den ersten Blick oft so aussieht. Die Geschenke dienen der Sichtbarmachung der aktuellen Verhältnisse mit ihrem Geflecht von Obrigkeitsansprüchen und herrschaftlichem Nebeneinander. Die rituellen diplomatischen Geschenke des 15. und 16. Jahrhunderts sind daher keine traditionell fixierten Rechtsaltertümer, bei denen ›Pannen‹ unterlaufen könnten, sondern werden im Gegenteil je Anlaß und politischem Kontext stets neu sorgfältig adaptiert. Bei Maximilians erneutem Besuch in Basel 1493 zum Beispiel erhält er Getreide, mehrere Fässer Wein und ein prächtiges Trinkgeschirr, das nur mehr mit 400 rheinischen Gulden gefüllt ist. Wein und Getreide entsprechen der Schenkordnung von 1477: Der Wein an Maximilian 1493 kostet die Stadtkasse etwas unter 6800 Pfennige. Das ihm gleichzeitig überreichte Trinkgefäß dagegen wird in der Abrechnung mit 40,870 Pfennigen veranschlagt; dazu kommen die 400 Gulden, mit denen es gefüllt ist, nach offiziellem Kurs 110,400 d – und beides wird in der Schenkordnung von 1477 überhaupt nicht erwähnt.8 Es gibt es kein ›altes Herkommen‹ für die Größe und den Umfang des wirklich kostspieligen Geschenks. 7
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Siehe etwa Winfried Dotzauer, Die Ankunft des Herrschers. Der fürstliche ›Einzug‹ in die Stadt (bis zum Ende des Alten Reiches), in: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1973), S. 245–288, und die dort angegebene Literatur. Zur Rechtsform der Königsgastung und ihrer Entwicklung im späteren Mittelalter Carl-Richard Bruehl, Fodrum, gistum, servitium regis: Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Köln/ Graz 1968, und Hans-Conrad Peyer, Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter, Hannover 1987, S. 158 ff. und 179 ff. Harms, Stadthaushalt (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 21; vgl. die Beschreibung in den Chronikalien der Ratsbücher in BChr 4, S. 82f.
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Der Basler Rat entscheidet ebenso wie seine Nachbarstädte jeweils von Fall zu Fall, was er für notwendig hält, damit die Stadt die eren des hohen Besuchers genyessen möcht, wie es ein Ratsbeschluß in Sachen Weingeschenke einige Jahre sehr hübsch formuliert.9 Wenn die städtischen Memoranden betonen, diese Präsente geschähen nach gwonheit und altem bruch, dann sprechen sie also eher von der erprobten politischen Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit der eigenen städtischen Diplomatie als von unveränderten traditionellen Rechtsformen. Während des Reichtags 1530 hält der Augsburger Rat dann in einer Verordnung auch ausdrücklich fest, es habe sich im Schenken mit vil dingen verkert weder es vor alter gewesen. Deshalb sei der Rat ermächtigt, bei den offiziellen Geschenken der Stadt zu nemen und zu geben, zu mindern und zu meren nach ihrem gefallen: Die Aufmerksamkeiten müssen immer wieder neu passend gemacht werden. Kurz, Schenken ist Arbeit – und dementsprechend belohnt die Stadt nach dem Reichstag ihre mit der Zumessung und Verteilung der offiziellen städtischen Aufmerksamkeiten betrauten Amtsleute auch für die müe, die sie damit gehabt haben.10 Die kurzen Bemerkungen in den Rechnungsbüchern und die ausführlichen Beschreibungen solcher prunkenden Geschenke in Ratsmemoranden oder Chroniken informieren uns schließlich nur über die Übergabe der Gegenstände. Sehr viel seltener teilen sie etwas über die Beratungen mit, was und zu welchem Preis man dem Besucher verehren soll – wieviel Geld, wieviel Wein, einen Becher oder nicht, Fische oder nicht. In Basel wird etwa am 9. September 1482 in die Ratsbücher eingetragen, man habe beschlossen, Herzog Philipp von Savoyen erlich zu empfahen mit treffenlicher ratsbottschafft und ihm acht Kannen Wein, sechs Säcke Hafer und einen Lachs zu schenken. Ganz sicher ist man sich aber offenbar nicht, wieviel in diesem Fall angemessen sei; der Schreiber streicht nämlich die zuerst eingetragenen sechs Kannen und stockt sie auf acht auf.11 Eine solche Notiz ist seltene Ausnahme. Die städtischen Quellen über Geschenke nehmen entweder die Form (vertraulicher) Abrechnungen über ausgegebenes Geld an oder fungieren als diplomatische Merkbücher, die deutlich Präzedenzfälle politischer Inszenierungen festhalten. In der einen wie der anderen Form müssen stets gelungene Besuche und Schenkungen präsentieren – gerade Stadtrechnungen sind durchaus nicht 9 10 11
Staatsarchiv Basel-Stadt, Ratsbücher, Erkanntnisbuch 1, f. 223r (1503). Chroniken der deutschen Städte (wie Anm.3) Bd. 25, Beilagen zur Chronik des Clemens Sender, Leipzig 1896, S. 403–409. Staatsarchiv Basel-Stadt, Ratsbücher B 1, Erkanntnisbuch 1, f. 7r, unter der Überschrift: Hertzog philipp von Safoy geschenckt. Vgl. die politische Abstimmung der Geschenke der Stadt Metz an burgundische Fürsten bzw. Diplomaten in unterschiedlichen politischen Konstellationen (1448 und 1465) bei Dieter Heckmann, Metz und der franko-burgundische Konflikt in Oberlothringen (1440–1500), S. 121f., in: Rheinische Vierteljahrsblätter 51 (1987), S. 115–128.
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neutrale Registrierung, sondern sorgfältig stilisierter politischer Text. Nachrichten über danebengegangene oder zurückgewiesene Präsente sind dementsprechend rar. Keine Nachrichten über Fehltritte also? Ich würde vorschlagen, die konzentrierte Aufmerksamkeit der Quellen unter anderem als ein Zeichen dafür zu lesen, wie viel bei Geschenken an hohe Besucher schiefgehen kann. Zeitgenössische Autoren beschreiben eindringlich die Störungsanfälligkeit dieser Auftritte, die Fragilität geregelter Abläufe. Solche Risiken des Schenkens klingen etwa in einer Notiz in der Basler Jahresrechnung 1454/55 an, wenn notiert wird, man habe 1536 Pfennige für verlorene Tischtücher und Schüsseln ausgeben müssen, als der hertzog von Burgund hie gewesen ist.12 Oder, etwas drastischer: Als im August 1445 Berner und Solothurner Söldner auf der Rückkehr vom Breisgauerzug durch Basel kommen, erhalten die ersten dreißig von ihnen als Willkommensgeschenk je einen Gulden geschenkt; dazu bekommen sie vom Rat mehrere Fässer Wein. Das hindert sie allerdings nicht, am Tag darauf die Höfe mehrerer Adeliger in Basel zu erstürmen und zu plündern, offenbar mit Billigung eines Teils der Basler Zünfte. Nur mit Mühe kann der Rat offenen Straßenkampf verhindern, und nur mit weiteren großzügigen Weingeschenken kann er die Plünderer zum Verlassen der Klosterhofs von St. Blasien im Kleinbasel bewegen. Die erbeuteten wie geschenkten Weinfässer trinken die Eidgenossen aber nicht nur selber, sondern teilten sy under die zünft, wie der Chronist Henmann Offenburg schreibt, und überreichen fünf Saum davon wiederum dem Rat als Geschenk – ein Geschenk schafft hier gewissermaßen das andere, unter ziemlich unfreiwilligen Umständen.13 Die Erinnerung an die Geschenke der bedrohlichen Besucher prägt noch eine Generation später die Chronik des Basler Kaplans Knebel 1477. Als die siegreichen Eidgenossen von der 12 13
Harms, Stadthaushalt (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 281. Der wolten wir nit und hiessent sy an die Birsz (ins Waisenhaus) und in spital geben, betont Offenburg: Angenommen hat der Rat das Geschenk aber offenbar. Siehe dazu Basler Chroniken (wie Anm. 3), Bd. 5, S. 287f., die Darstellung in der anonymen Chronik des Schwabenkriegs (ebd., S. 490) und bei Heinrich Appenwiler, ebd., Bd. 4, S. 259 ff. und 263f. Zünftische Chroniken wie die des Hans Brüglinger (ebd., Bd. 4, S. 174 ff.) verschweigen den Vorfall ganz. Die Jahresrechnung 1444/1445 stellt in explizit politischer Weise die verschiedenen Geld- und Weingeschenke an die bedrohlichen Gäste (vier halber fuder wins, kostent 23 lb) mit den Kosten für die Schadenersatzzahlungen an die geschädigten Adeligen zusammen und hebt hervor, daß der Wein von Eidgenossen und eigenen Zünften getrunken wurde – etwas, was in dieser unverblümten Form bei keinem Chronisten formuliert ist: Item geben Huglin Walter von Wile fur sinen win der im getrungken wart in herr Gocz Heinrihs husz von den zunfften und den Eidgenossen 10 lb; item geben Hansi von Grellingen fur sinen win der im getrungken wart in graff Hanns von Thierstein hoff von den zunfften und Eidgenossen 10 lb – Harms, Stadthaushalt (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 234. Siehe zum Kontext Friedrich Meyer, Die Beziehungen zwischen Basel und den Eidgenossen in der Darstellung der Historiographie des 15. und 16. Jahrhunderts, Basel 1951, S. 39 ff.
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Schlacht von Nancy den Heimweg über Basel antreten, so Knebel, hätten einzelne Basler versucht, sie durch Geschenke in Malvasierwein und Zucker zum Plündern der Häuser mißliebiger städtischen Domherren und Kapläne zu bewegen14 – das Verhältnis zwischen Zunftbürgern und städtischem Klerus ist nicht das Beste. Nicht jedes Geschenk ist dementsprechend reines Zeichen der Zuneigung, weiß der Kaplan; nicht jeder Besucher in städtischen Mauern harmlos. Im Juni 1470 teilt der neugewählte Bischof von Augsburg, Johann von Werdenberg am Tag vor seinem feierlichen Einritt in die Stadt dem Augsburger Rat mit, er habe beschlossen, seinen Einzug in städtische Mauern anderer Form als ursprünglich vereinbart durchzuführen: Er werde sein geistliches Hirtenamt in der Stadt in Begleitung von 1800 bewaffneten Reitern antreten. Daraufhin stürzt sich die Stadt in hastige Vorbereitungen. Binnen eines halben Tages werden alle Nebengassen der vereinbarten Route verbarrikadiert, die Tore, Zunfthäuser und öffentlichen Gebäude mit Bewaffneten besetzt, das Empfangskomitee in Harnische gesteckt. Gleichzeitig wird eine generelle Ausgangssperre erlassen, erzählt der Augsburger Bürgermeister Ulrich Schwarz in seiner Chronik: Wir hetten forcht. Als die obersten städtischen Amtsträger am nächsten Morgen den hohen Besuch vor den Mauern willkommen heißen, werden hinter ihnen vorsichtshalber die Stadttore geschlossen: Sie lassen den Bischof noch in aller Eile den zedel mit den Bedingungen des Besuchs beschwören. Als Johann von Werdenberg dann in die Stadt einreitet, begleitet von zwei bayrischen Herzögen, dem Bischof von Eichstätt und insgesamt mehr als 2000 Reitern, ist die befestigte Route demonstrativ mit Bewaffneten gesäumt, und die Stadt hält während der zwei Tage des Besuchs alle Stadttore bis auf zwei geschlossen. Aber so sorgveltig und forchtsam Augsburg auch ist, wie Schwarz in seiner Chronik schreibt, es überreicht Geschenke. Man habe dem Bischof eine vergoldete Trinkschale im Wert von 100 Gulden verehrt, die mit weiteren 200 Gulden gefüllt gewesen sei, berichtet Schwarz. Ähnliche geldgefüllte Trinkgefäße hätten die begleitenden Fürsten erhalten, dazu Wein und Fische, und insgesamt habe man während des Besuchs bey 24 aimer traminer verschenkt, hebt er hervor – und schließlich zieht der neu eingesetzte Bischof mit seinen Bewaffneten ohne Zwischenfall wieder aus der Stadt aus. Das Geschenk an den Bischof hat aber in diesem Fall offenbar besondere Bedeutung. Es sei deshalb so hoch ausgefallen, so Schwarz, weil Werdenberg zuvor in einem Konflikt zwischen der Stadt und dem bayrischen Herzog Ludwig vermittelt habe. Das Geschenk habe deshalb doppelten Charakter: Die Trinkschale habe man Werdenberg zum Amtsantritt geschenkt, die zweihundert Gulden Füllung 14
Basler Chroniken (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 105f.: accesserunt capitaneos eorum, propinantes eis zuckarum et malvasiam.
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seien dagegen Belohnung für die Mittlerdienste. Der begleitende Herzog erhält ebenso viel, und Schwarz kommentiert sarkastisch: Was sy guts detten, weist gott wol. 15 Hinter den höflichen Ritualen des städtischen Schenkens mit ihrer Rekombination des Immergleichen – Wein, Fische, Gefäße –, wird hier für einen Moment etwas anderes sichtbar: Die sorgfältig inszenierte Drohung, ein solcher Besuch könnte auch einen ganz anderen (und sehr gewalttätigen) Verlauf nehmen. Der festliche Besuch ist Ausnahmezustand, allerdings in einem weniger pittoresken Sinn als dem, der auf städtische Rituale des ausgehenden Mittelalters gerne appliziert wird. Die gewaltsame Überrumplung von Mainz durch seinen bischöflichen Stadtherren 1462 ist den Städten noch in lebhafter Erinnerung; in Köln hat zur selben Zeit ein Formfehler beim Einritt des Erzbischofs Heinrich von Hessen die Stadt in jahrelange kostspielige juristische Verwicklungen gestürzt. Der neue Augsburger Bischof kombiniert seine implizite Drohung offensichtlich mit der expliziten Forderung nach angemessener Entlehnung politischer Maklerdienste und beides mit wirkungsvoller und politisch zeichenhafter Repräsentation eigener Macht innerhalb städtischer Mauern.16 So stellt es jedenfalls unser hochgestellter städtischer Berichterstatter dar. Zusätzlich zu Bargeld und vergoldeten Gefäßen an die Fürsten habe die Stadt auch noch 240 ihrer Gefolgsleute mit Wein und Fischen beschenken müssen, klagt Schwarz. Wan ich rathen sol, fährt er fort, so wer gut, das ain anzal gestimpt werd und des mit ner mit ainem bischoff komen. Nicht nur die Kosten, auch die Risiken eines solchen Transfers seien zu hoch, der ganze Ablauf des Besuchs eine Niederlage für die Stadt.17 15
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Die Chronik des Bürgermeisters Ulrich Schwarz, S. 102f., abgedruckt bei Georg Panzer, Ulrich Schwarz, der Augsburger Zunftbürgermeister 1422–1478, phil. Diss., München, Bamberg 1914, S. 92–107; Hektor Mülichs Bericht in Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 3), Bd. 22, Leipzig 1892, S. 228–229; zum vorausgegagenen Konflikt ebd., S. 221. Fouquet erwähnt in seiner sonst sehr überzeugenden Interpretation des Einrittszeremoniells des neugewählten Bischofs Matthias von Rammung in Speyer im Januar 1466 die Mainzer Vorfälle allerdings nicht; Fouquet, Festmahl (wie Anm. 2), S. 89 ff. Wieviel für die Stadt bei einem solchen Zeremoniell auch ohne militärische Bedrohung auf dem Spiel stehen kann, zeigt Klaus Militzer, Die feierlichen Einritte der Kölner Erzbischöfe in die Stadt Köln im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch des kölnischen Geschichtsvereins 55 (1984), S. 77–116, zum Einritt des Erzbischofs Hermann von Hessen, den Sicherungsmaßnahmen der Stadt und den durch einen städtischen Formfehler entstandenen juristischen Verwicklungen S. 97 ff. Schwarz, Chronik (wie Anm. 15), S. 103. Vgl. zum Geschenk als Belohnung des erfolgreichen Vermittlers nach beigelegtem Konflikt Empfang und Turnier des Markgrafen von Brandenburg-Ansbach in Nürnberg 1496 nach dem Abschluß des sogenannten ›Harrasischen Vertrags‹: Dazu Thomas Zotz, Adel, Bürgertum und Turniere in deutschen Städten, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter, Göttingen 1985, S. 450–499, hier S. 472.
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Diese Bemerkung steht nicht in offiziellem Ratsschriftgut, sondern in einer Hauschronik (einer Art ›ricordanza‹) zum privaten Gebrauch. Die Augsburger Chroniken, Rechnungen und Ratsbücher überliefern weiterhin lange Reihen sehr ähnlicher Präsente an hochgestellte Besucher, ohne daß wir vergleichbare Hintergrundgeschichten erfahren. Worum geht es hier? Die Geschenke an den hochgestellten Besucher spielen wie kaum eine andere zeremonielle Sozialform mit der Rhetorik der ›Liebesgabe‹, der reinen Großzügigkeit ohne Gegenleistung, die vorangegangene Absprachen über Höhe der Gabe und Preis des Besuchs zum Verschwinden bringen muß. Vielleicht ist es Zufall, daß der parallel überlieferte Bericht des Augsburger Chronisten Hektor Mülich, eines Zeitgenossen Schwarz’, zwar den bedrohlichen politischen coup des Bischofs detailliert beschreibt, Werdenbergs gelungene Erpressung einer zusätzlicher Belohnung für seine politischen Vermittlerdiensten in der zeitgenössischen Chronistik aber fehlt; nur Schwarz berichtet davon. Der zum ersten zünftischen Bürgermeister Augsburg aufgestiegene Ulrich Schwarz wird acht Jahre nach Werdenbergs Besuch, im April 1478, verhaftet und nach kurzem, spektakulären Prozeß auf dem Hauptmarkt gehängt. Die offizielle Urteilsverkündigung über den hingerichteten Zunftbürgermeister erklärt, Schwarz habe in seinen Ämtern dem gemeinen Nutzen geschadet, er habe als Makler und Schiedsrichter in Streitigkeiten Geschenke angenommen, von städtischen Gefangenen und bei der Besetzung städtischer Ämter Geld und Geschenke erpreßt; außerdem habe er aus aigen nutz städtischen und Spitalbesitz unterschlagen.18 Als sein städtischer Widersacher Hans Vittel 1477 in diplomatischer Mission vom Wiener Hof nach Augsburg zurückkehrt, habe der Bürgermeister ihn durch einen falschen Judas tück mit einem Ehrengeschenk von sechs Kannen Wein empfangen – und kurz darauf wegen angeblichem Hochverrat hinrichten lassen.19 Im Text eines angeblichen Geständnisses, das nach Schwarz’ Hinrichtung 1478 von seinen Gegnern verbreitet wird, heißt es weiter, Schwarz habe nicht nur sechs Personen aus ihm feindlich gesonnenen Ratsfamilien hinrichten lassen wollen, sondern habe geplant, die Geistlichen der Stadt mit Gewalt zu überfallen und auszuplündern (dafür sei sogar ein geheimes register angelegt worden) und ehemalige Ratsherren in ihren Häusern nachts ermorden zu lassen. Er habe von den Schlüsseln der Stadt geheime Kopien für sich anfertigen lassen; er habe mit seinen Knechten Steuergelder und Güter kirchlicher Institutionen unterschlagen und insgesamt während seiner Regierung aus von ihm abhängigen Amtsleuten über 2000 Gulden an Geschenken erpreßt. Der Text schließt mit einem In18
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Beilage zur Chronik des Hektor Mülich: Prozeß und Hinrichtung des Ulrich Schwarz, in: Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 3), Bd. 22, hier S. 438–440. Vgl. die Verweise auf gemein und eigen nutz in dem ausführlichen Rechtfertigungsschreibens des Rates nach Schwarz’ Hinrichtung an den Kaisers ebd., S. 441f. ebd., S. 421
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ventar vom beschlagnahmten Hausrat des Bürgermeisters. Neben der riesigen Summe von 15 000 Gulden Bargeld seien bei Schwarz nicht weniger als dreihundert silberne Becher, vierzig vergoldete und zwei massivgoldene Trinkgefäße gefunden worden, die ime geschenckht sin worden.20 Mir geht es nun nicht darum, in Schwarz’ Bericht vom Besuch des Bischofs direkt jene Anschuldigungen wiederzufinden, die acht Jahre später gegen ihn selbst erhoben werden. Vielmehr scheinen beide Texte sich auf einen breiteren gemeinsamen Fundus von Redensarten zu beziehen: erpresserische Makler, flüssige Geschenke in Geld und Edelmetallgefäßen, Amts›gewalt‹ im Wortsinn sind offenbar sehr verbreitete Versatzstücke des Schreibens über politische Ordnung. Sie führen uns in die doppeldeutige Welt städtischer Politik in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in denen hinter den zeremoniellen Ritualen von Besuch und Geschenk vielfältige Narrative des politischen Unsichtbaren – Verschwörung und städtische Mordnacht, Gift, Korruption, Erpressung – sichtbar werden. Vor dem Hintergrund der breiten städtischen Überlieferung zu Schenken als Praxis politischer Repräsentation können die beiden Texte schließlich dazu anregen, die Rituale in den Städten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit mit ihrem etwas pompösen Apparat von Ehrenbezeigungen nicht nur als sozusagen automatisch funktionierende Rechtstraditionen und Inszenierungen zu sehen, sondern als immer wieder neu ausgehandelte Balancen zwischen widerstrebenden und gelegentlich feindlichen und aggressiven Beteiligten, die auf vielfältige Art darauf hinweisen, daß sie auch anders könnten, wenn sie nur wollten. Die Rituale des Schenkens mit ihrer Rhetorik von Großzügigkeit und Zuneigung sind Ausdrucksformen, in denen Differenz und Konflikt verhandelt werden. Geschenke erscheinen dabei geradezu als Chiffren für eingeschränkte Freiwilligkeit. Diese konflikthaften Verhandlungen lassen sich nicht nur in den dabei ausgeteilten Präsenten wiederfinden, sondern auch in den Erzählungen, in denen der Fehltritt, das Mißverhalten, der Mißbrauch verpackt werden muß, um seine Wirksamkeit als Text zu entfalten: als Ratgeberliteratur ebenso wie als Denunziation. Wie können wir also die Bedingungen des Schreibens über Ritual und Fehltritt neu definieren? An dieser Stelle landen wir vielleicht auch wieder bei Philippe de Commynes, etwas jüngerer (und ungleich einflußreicherer) Zeitgenosse von Ulrich Schwarz und Autor einer kaum auszuschöpfenden Quelle zur politischen und 20
ebd., S. 368–375. Zur Person Schwarz’ siehe jetzt Jörg Rogge, »Ir freye wale zu haben«. Möglichkeiten, Probleme und Grenzen der politischen Partizipation in Augsburg zur Zeit der Zunftverfassung (1368–1548), in: Klaus Schreiner / Ulrich Meier (Hgg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit, Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Göttingen 1994, 244–277, und ausführlicher Jörg Rogge, Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter, Tübingen 1996.
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diplomatischen Kultur des 15. Jahrhunderts, der in seinen ›Memoiren‹ vielfältig Beschreibungen wirklicher und möglicher Konflikte und Pannen bei politischen Inszenierungen liefert. Es ist verlockend, ihn als Experten zu sehen, der für Eingeweihte schreibt und seinen Lesern (auch den nachgeborenen Historikern) Einblick in interne Räderwerke und Paradoxa von Verhandlung, Ausgleich und politischer Entscheidung liefert. Allerdings ist genau das die Position, die er anstrebt. Die ›Memoiren‹ sind gezielt für einen bestimmten Leserkreis verfaßt, als nachträgliche Rechtfertigung und Basis für die angestrebte Rehabilitation nach seinem Sturz auf der einen, als Demonstration seines Wissens, Geschicks und seiner Raffinesse auf der anderen Seite. Der Autor als Fachmann für die Bewältigung heikler Situationen ist nicht der unbeteiligte Experte, als der er sich darstellt, sondern nur allzu interessiert daran, sich selbst in eine analytisch-beratende Position hineinzuschreiben. Oder besser: zurückzuschreiben. Commynes’ vielfältige Anspielungen (»Du und ich, wir wissen Bescheid«, scheint er dem Leser an mehreren Stellen zu signalisieren) können als Versuche gelesen werden, Nähe zu den Entscheidungsträgern wiederherzustellen. Die Entscheidungsträger selbst schreiben nicht unbedingt politische Handbücher; sie sind mit der Praxis befaßt, und diese Praxis besteht in der pragmatischen Interpretation von ›Regeln‹, die eben nicht unabhängig von den Personen und dem politischen Kontext existieren – pace Schwarz. Es wäre deshalb reizvoll, den Darstellungen diplomatischer fauxpas in den politischen Schriften von Commynes den realen politischen Ereignissen gegenüberzustellen, unter denen er seine Stellung als politischer Berater verliert. Von Liutprand von Cremona bis zu Machiavelli (und vielleicht weiter bis zu heutigen spin doctors im Ruhestand) ist es, so scheint es, der Fehltritt des Experten für Fehltritte, der ihn zwingt, zur Feder zu greifen – nachträglich, in machtloser Position.
Klaus Schreiner
Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall ?
Wie Adam und Eva ihr paradiesisches Glück verscherzten, ist hinreichend bekannt (Gen. 3,1–24). Gott pflanzte einen Garten in Eden. Unter dessen Bäumen befanden sich zwei von ganz besonderer Art: Ein Lebensbaum und ein Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Die Früchte des Lebensbaumes vermehrten die Freuden des paradiesischen Lebens, garantierten Einvernehmen mit Gott und verliehen, wie die Mythen orientalischer Völker erzählten, Unsterblichkeit. Wer die Früchte des Erkenntnisbaumes genoß, erwarb Urteilskraft in Fragen sittlichen Handelns, verlor aber Gottes Huld. Der Herr des Himmels und der Erde hatte nämlich Adam und Eva eingeschärft: »Wer vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ißt, muß sterben, sobald er davon gegessen hat« (Gen. 2,16). Adam und Eva fühlten sich an dieses Gebot nicht gebunden. Eva griff nach der verbotenen Frucht; beide aßen davon. Wem von beiden bei diesem »Fehlgriff« größere Schuld zukommt, war eine Frage, die mittelalterliche Bibelausleger brennend interessierte.1 Der Verfasser des Buches Genesis hingegen verlor sich nicht in moralischer Kasuistik; er erzählte eine Geschichte mit weitreichenden Folgen. Seine Leser sollten wissen: Adam und Eva ließen sich, von der teuflischen Schlange verführt, zu einer Handlung hinreißen, die ihnen Gott unter Androhung des Todes ausdrücklich untersagt hatte. Der Verzehr des Verbotenen öffnete ihnen die Augen. Sie bemerkten, daß sie nackt waren. Ihre Blöße bedeckten sie mit Feigenblättern.2 Das Essen der verbotenen Frucht zeitigte eine dreifache Erkenntnis: Die Erkenntnis der eigenen Begierde, die den Körper zu einem entblößten Körper machte und deshalb Schamgefühle weckte; das Innewerden von sittlichen Wertmaßstäben, die dazu befähigten zwischen guten und bösen Handlungen zu unterscheiden; die Einsicht in die unabweisbare Not des Sterbenmüssens. 1
Vgl. dazu den zwischen der Veroneser Humanistin Isotta Nogarola und dem venezianischen Staatsmann und Humanisten Ludovico Foscarini 1451 geführten Dialog ›Über die gleiche oder ungleiche Sünde Evas und Adams‹ (De pari aut impari Evae atque Adae peccato), in: Katharina Fietze, Spiegel der Vernunft. Theorien zum Menschsein der Frau in der Anthropologie des 15. Jahrhunderts, Paderborn/München/Wien/Zürich 1991, S.153–165.
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Gott strafte unnachsichtig: Die Frau mit Schmerzen bei der Geburt, den Mann durch Mühsal bei seiner Arbeit. Das seitherige partnerschaftliche Verhältnis zwischen beiden sollte ein Ende haben. Adam sollte herrschen, Eva gefügig und gehorsam sein. In der Tat: Den Preis, den das erste Menschenpaar entrichten mußte, um über Gut und Böse Bescheid zu wissen, war hoch. Der Erkenntnisgewinn, der Adam und Eva auf dem Gebiet der Moral wissender und selbständiger machte, mußte mit dem Verlust paradiesischer Vollkommenheit bezahlt werden. Verhaltensregeln, die ihnen außerhalb des Gartens eine Quelle der Orientierung hätten sein können, hat Gott den aus dem Paradies Vertriebenen nicht mit auf den Weg gegeben. Sie mußten sich selber Gedanken machen, wie sie ihr Leben einrichten und führen sollen, um mit Gottes Wohlgefallen rechnen zu können. Von den Schriftauslegern des späten Judentums bis zum Apostel Paulus, von Augustinus bis Thomas von Aquin, von Luther bis Kant und Hegel ist der biblische Bericht über Adams und Evas Fall immer wieder als Text gelesen worden, der darüber aufklärt, wie es um das Elend des gefallenen, die Größe des von Gott erlösten und die Würde des sich seiner Freiheit bewußt gewordenen Menschen bestellt ist. Spätjüdische Apokalyptiker erinnerten an die schicksalhaften Folgelasten von Adams Sündenfall, ohne den Einzelnen von der Verantwortung für sein Tun freizusprechen. Paulus verglich die Sünde des alten Menschen Adam mit der Erlösungstat des neuen Menschen Christus, eines zweiten Adam (Röm. 5,15). Kirchliche Dogmatik machte den Sündenfall der Stammeltern zu einem Kernstück ihrer Sünden- und Erbsündenlehre. Aufgeklärte Geister werteten die Mißachtung des göttlichen Erkenntnisverbotes durch Adam und Eva als Akt fortschrittlicher Emanzipation, der die Stammeltern zu selbstverantwortlichen Subjekten ihres Denkens und Handelns machte. Besitzt der Sündenfall Adams und Evas Merkmale eines Fehltritts, die es rechtfertigen, ihn im Rahmen einer Tagung zu debattieren, die sich mit Ver2
Zur Auslegung der alttestamentlichen Sündenfallgeschichte und zur Geschichte der Sündenfalltheologie vgl. Claus Westermann, Genesis, 1.Teilband Genesis 1–11 (Biblischer Kommentar Altes Testament I/1), Neukirchen-Vluyn 1974; Julius Gross, Geschichte des Erbsündendogmas, Bd. 1–3, München 1960–1971; Elaine Pagels, Adam, Eva und die Schlange. Die Theologie der Sünde, Hamburg 1991; Manfred Hauke, Heilsverlust in Adam. Stationen griechischer Erbsündenlehre: Irenäus – Origenes – Kappadozier, Paderborn 1993; Michael Theobald /Helmut Hoping /Heinz Schütte / Jürgen Werbick, Artikel ›Erbsünde, Erbsündenlehre‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, 3.Aufl., Freiburg / Basel / Rom / Wien 1995, Sp.743–749; Raymund Schwager, Erbsünde und Heilsdrama. Im Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik, Münster 1997; Risto Saarinen /Christoph Böttigheimer, Artikel ›Erbsünde‹, in: RGG. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 2, 4. Aufl., Tübingen 1999, Sp.1394–1397. – Zur mittelalterlichen Ikonographie des Sündenfalls vgl. Sigrid Esche, Adam und Eva. Sündenfall und Erlösung, Düsseldorf 1957; Sabine Bark, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Das Thema des Sündenfalls in der altdeutschen Kunst (1495–1545), Frankfurt a.M. 1994.
Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall ?
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stößen gegen gesellschaftliche Konventionen und deren Wirkungen auf das Sozialverhalten von Personen und Gruppen befaßt ? In beschreibenden und analytischen Texten der neuzeitlichen Philosophie und Theologie ist der Sündenfall des ersten Menschenpaares bisweilen auch als »Fehltritt« bezeichnet worden. Ein solcher Sprachgebrauch folgte der Begrifflichkeit der theologischen Traktatliteratur, in der zwischen Fehltritt und Sünde nicht ausdrücklich unterschieden wurde. Sowohl das eine wie das andere Verhalten bezeichneten mittelalterliche und frühneuzeitliche Theologen als lapsus – den Sündenfall Adams und Evas auch. Der alttestamentliche Erzähler beschrieb das Verhalten von Adam und Eva als schuldhaften Regelverstoß mit weitreichenden Folgen. Gleich einem Fehltritt löste der verbotene Biß in den Apfel Gefühle der Scham und Reue aus; aber nicht nur dies. Nach Ansicht mittelalterlicher Bibelausleger veränderte er die Natur des Menschen, sein Verhältnis zu Gott und seine Stellung in der Welt. Ein bloßer Fehltritt war das nicht, schon gar nicht »im engeren Sinn«. Im konzeptuellen Leitfaden zu dieser Tagung hieß es: »Im Islam gilt der Sündenfall als eine Art Fehltritt: Adam handelte leichtsinnig in Unkenntnis der katastrophalen Folgen seiner Tat«. Konnten christliche Bibelausleger dies auch so sehen, wenn sie sich an den Wortlaut des Buches Genesis hielten? Gott hatte Adam und Eva über die Folgewirkungen ihres Handelns aufgeklärt. Der biblische Bericht enthält keine Anknüpfungspunkte, welche die Annahme stützen, daß Evas und Adams Griff nach dem Apfel – so es denn überhaupt ein solcher war – auf mangelndes Wissen oder unbedachten Leichtsinn zurückzuführen sei. Mittelalterliche Theologen und Exegeten verfehlten deshalb nicht den Sinn der biblischen Erzählung, wenn sie an diesen Tatbestand immer wieder erinnerten. Eine »Hauptrichtung christlicher Theologie machte aus Adam den bewußtesten Täter der Weltgeschichte, weil er sich im Vollbesitz der Willensfreiheit und des Heilswissens so verhalten konnte, daß conscientia und Augenblicksimpuls unmittelbar zusammenfielen«.3 Adam und Eva wußten, was sie taten. Ihr Griff nach dem Apfel war kein unbeabsichtigter Verstoß gegen gesellschaftliche Konventionen, kein Verhalten, das Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinanderbrechen ließ und deshalb kränkte, verletzte und der Lächerlichkeit preisgab. Dennoch können an dem im Buch Genesis beschriebenen Sündenfall Fragen gerichtet werden, die sich gleichermaßen an einen Fehltritt stellen lassen. In welcher Absicht griffen Adam und Eva nach der verbotenen Frucht? Wie waren die Umstände ihres Handelns beschaffen? War es nicht ehren- und begehrenswert, auf den Erwerb von Wissen bedacht zu sein, das für die Beherrschung und Gestaltung der Welt und nicht weniger für die Lebensführung des 3
So Peter von Moos im konzeptuellen Grundsatzpapier zu dieser Tagung. Auszug aus Ders., Attentio est quaedam sollicitudo. Die religiöse, ethische und politische Dimension der Aufmerksamkeit im Mittelalter, in: A./J. Assmann (Hgg.), Aufmerksamkeiten (Archäologie der literarischen Kommunikation), München, im Ersch.
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Einzelnen unabdingbar war? Wollten Adam und Eva Gott provozieren, ihm mit Bedacht den Gehorsam aufkündigen? Oder beruht der Eklat, der zur Austreibung aus dem Paradies führte, auf einem Widerspruch zwischen der von Adam und Eva beanspruchten Interaktionskompetenz auf der einen und Gottes absoluter Macht der Normsetzung auf der anderen Seite? Hatten Adam und Eva, die mit durchaus ehrenwerten Absichten nach der verbotenen Frucht griffen, Gottes unbarmherzige Strafaktionen überhaupt verdient? Spricht ihre Scham nicht für lautere, integre Erkenntnisabsichten? «Der eigentliche, unbeabsichtigte Fehltritt«, heißt es in dem für diese Tagung entworfenen Konzept, »erzeugt im Fehlenden Gefühle der Verlegenheit, Peinlichkeit und Scham«. Es besteht kein triftiger Grund, diese Annahme nicht auch für das Verhalten des ersten Menschenpaares gelten zu lassen. Gehört zu den gesellschaftlichen Reaktionen auf einen Fehltritt überdies die »Positivierung zu einer neuen Regel«, ist eben diese Positivierung auch in der Wirkungsgeschichte des Sündenfalls auszumachen. Aus der strafwürdigen Schuld wurde langfristig eine felix culpa – und dies sowohl in anthropologischer als auch in wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und ökonomischer Hinsicht. In Erwägung zu ziehen ist auch folgender Befund: Es gibt mittelalterliche Autoren, die den Sündenfall nach dem Fehltrittprinzip – »geringfügiger Fehler als Ursache großer, unabsehbarer Wirkungen« – zu deuten scheinen. Petrus Abaelard (1079–1142) zählte zu ihnen.4 Er charakterisiert den Sündenfall als geringfügige Überschreitung eines göttlichen Gebotes durch die ersten Eltern (modica primorum parentum transgressio).5 Indem aber Gott selbst ein Vergehen bestrafte, das nur »im Essen eines ersetzbaren Apfels« (in unius pomi reparabilis esu) bestand, habe er den Menschen zeigen wollen, wie sehr er jedwedes sündhafte Verhalten verabscheue und welche Strafen er für Vergehen, die mit noch größerer Schuld belasten, aufgespart habe. Seine Überle4 5
Peter von Moos verdanke ich diesen Hinweis. Vgl. Einleitung in diesem Band 1.2. Petrus Abaelardus, Commentarii super S.Pauli epistolam ad Romanos, ed. Victor Cousin, Tom.2, Hildesheim/New York 1970 (Nachdruck Pari 1859), p.242. – In diesen Zusammenhang gehört auch das Bemühen der Isotta Nogarola, in ihrem Dialog mit Ludovico Foscarini die Sünde Evas zu minimieren. Sie argumentiert folgendermaßen: Es »scheint die Sünde, das Wissen von gut und böse zu begehren, geringer [zu sein] als die, das göttliche Gebot zu übertreten, weil Wißbegierde etwas Natürliches ist und alle Menschen von Natur aus zu wissen verlangen … Also scheint die Sünde der Gebotsübertretung größer [zu sein], als das Wissen von gut und böse zu begehren. Mag das ungezügelte Begehren Sünde sein, so wie bei Eva, die dennoch nicht begehrt hat, Gott in seiner Macht ähnlich zu sein, sondern nur in seinem Wissen von gut und böse. Aber dieses Verlangen war ihr schon von Natur aus eingegeben« (Fietze, Spiegel der Vernunft (wie Anm. 1), S.160–161). Im Widerstreit zwischen dem Erkenntnisverbot Gottes und dem natürlichen Erkenntnisdrang des Menschen ergreift Isotta Nogarola Partei für den Menschen. Sie tut sich sichtlich schwer, Evas Verlangen nach Wissen, einem Merkmal ihrer menschlichen Natur, einen sündhaften Charakter beimessen zu sollen.
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gungen stützte Abaelard durch einen Hinweis auf den Kirchenvater Hieronymus, welcher der Auffassung war, daß Adam als ein »Neuling« (novellus) Schonung und Nachsicht verdiene. Kein Vorbild habe es damals für ihn gegeben, das ihn von seinem sündigen Tun hätte abhalten können. Jene aber, die in der Zeit nach dem Gesetz und den Propheten gelebt und, belehrt durch die Evangelien und Apostel, Gottes Gebote übertreten haben, hätten auf solche mildernden Umstände keinen Anspruch mehr. Einen Schluß vom Kleineren zum Größeren (a minore ad maius) zieht Abaelard auch im Hinblick auf das jenseitige Schicksal von ungetauften Kindern, die nach herrschender Lehre keine Chance hatten, in den Himmel aufgenommen zu werden. Dies deshalb, weil ihnen im Gefolge von Adams Sündenfall ein Makel der Erbsünde anhaftet, der durch die Taufe nicht getilgt worden war. Auf Grund dieser fortwirkenden Erblast, so das von Theologen vorgebrachte Argument, würde ungetauften Kindern die visio divinae majestatis vorenthalten. Sie würden aber nicht den Qualen des ewigen Höllenfeuers ausgesetzt werden und müßten durch den Verzicht auf die unmittelbare Anschauung Gottes eine ausnehmend milde Strafe (mitissima poena) erdulden. Gott benütze diese sehr milde Strafe zu unserer Zurechtweisung (ad correctionem nostram), um uns zu zeigen, daß unsere eigenen, aus freiem Willen begangenen Sünden erheblich strafwürdiger seien als diejenigen, die ungetauften Kindern als Folgelasten von Evas und Adams Sündenfall aufgebürdet werden. Wir – die getauften Christen – sollten uns deshalb um so behutsamer und intensiver um eine Vermeidung unserer eigenen Sünden (ad evitandum propria peccata) bemühen, wenn selbst unschuldige Kinder, weil ihnen die Vergehen anderer zur Strafe angerechnet werden, der Schau Gottes entbehren müssen. Um diskutable Vergleichs- und Berührungspunkte zwischen Sündenfall und Fehltritt kenntlich zu machen, frage ich nach – kurz- und langfristigen Folgelasten, – nach gesellschaftlichen Reaktionen und Rezeptionen als Formen der Positivierung sowie – abschließend nach Adams und Evas Handlungsautonomie.
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Folgelasten
Der alttestamentliche Erzähler wollte an Hand der Geschichte vom Sündenfall zum Ausdruck bringen: So wie sich das Leben der Menschen gegenwärtig abspielt, ist es von Gott nicht gewollt. Die Bedingungen und Ordnungen menschlichen Daseins entsprechen nicht der ursprünglichen Absicht Gottes. Mittelalterliche Bibelausleger wollten einsichtig machen, daß durch den Sündenfall das Ganze der Welt – die politischen und sozialen Ordnungen, die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Natur des Menschen, die Pflanzen- und
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Tierwelt – in Unordnung geraten sei. Den Katalog der von Gott verhängten Strafen haben sie deshalb erheblich erweitert. Jedwedes Ungemach, das Leid verursacht, Freiheit mindert und Glück zerstört, führten sie auf den Sündenfall zurück. Mit gleichbleibender Beharrlichkeit behaupteten sie: Zwischen peccatum und potestas bestehe ein ursächlicher Zusammenhang. Ohne das peccatum primi hominis keine Herren und Knechte, keine Herrschaft von Menschen über Menschen. Ohne Sündenfall kein Privateigentum, das im Fortgang der Geschichte die paradiesische Gütergemeinschaft aufhob. Ohne Sündenfall weder Krankheit noch qualvolles Sterben. Ohne Sündenfall kein Schweiß bei der Arbeit, kein Unkraut, keine Dornen und Disteln auf dem Acker. Ohne Sündenfall würde der Wolf nicht das Lamm verfolgen; die Maus könnte sorglos vor der Katze spielen. Der Sündenfall Adams und Evas, so das Argument des Kirchenvaters Augustinus, setzte Herrschaftsbegierde (libido dominandi) frei, die »mit grausamster Tyrannei in den Herzen der Menschen schlimme Verheerung anrichtet«.6 Herrschaft und Knechtschaft betrachtet der Kirchenvater als Erscheinungsformen menschlicher Hybris; beide seien charakteristisch für den Zustand der gefallenen Natur; beide hätten ihren Ursprung in der Ursünde des ersten Menschenpaares, nicht in der Schöpfungsordnung Gottes. Königreiche seien durch Eroberung, Gewalt und Machtbegierde entstanden, nicht als Ordnungs- und Herrschaftsgebilde, die Gott von Anfang an so geplant und gewollt habe. Unfriede, Haß und Selbstliebe in der civitas terrena würden auf der durch den Sündenfall verdorbenen Natur des Menschen beruhen. Herrschaft und Sklaverei habe es vor dem Sündenfall nicht gegeben. »An die Stelle der in der Liebe zu Gott geeinten Gemeinschaft der Gleichen im Paradies treten nun die auf Eigensucht, Herrschaft und Unterordnung gegründeten Gemeinwesen der von Gott Abgefallenen«.7 Aufgabe der Herrschaft bleibe es, eine durch Befehl und Gehorsam geordnete Eintracht (ordinata concordia) unter den Menschen wiederherzustellen. Insofern erfülle der mit dem Stigma von Sündenfall und Erbschuld gebrandmarkte Staat eine unentbehrliche Aufgabe: Er bewahre vor Anarchie und trage so, theologisch ausgedrückt, dazu bei, Folgewirkungen der Erbsünde einzuschränken und unter Kontrolle zu halten. Das alles war konsequent gedacht. Die Paradoxien der christlichen Erlösungsbotschaft vermochten aber solche Gedankengänge nicht aufzulösen. Zwar hatte die Erlösungstat Christi die Macht der Sünde gebrochen, nicht aber das verlorene Paradies wiederhergestellt, in dem eine vom Sündenfall un6 7
Aurelius Augustinus, De civitate Dei XIX, 15, ed. Emanuel Hoffmann (CSEL 40,2), Pragae/Vindobonae/Lipsiae 1900 (Nachdruck 1962), S. 400–401. Wolfgang Stürner, Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 11), Sigmaringen 1987, S.75.
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beschädigte Menschennatur ungleiche Lebenschancen ausschloß sowie Machtgebrauch und Körperstrafen entbehrlich machte. Heils- und Sozialordnung klafften in der alltäglichen Erfahrungswelt mittelalterlicher Zeitgenossen auseinander. Hatte Christus alle Menschen vom Fluch der Erbsünde befreit, gab es auf die Frage, weshalb der Kreuzestod Christi nicht auch auf sozialem Gebiet die Folgen des Sündenfalls getilgt hatte, keine schlüssige Antwort. Hingen, wie Theologen versicherten, Unfreiheit, Knechtschaft und Sklaverei ursächlich mit dem Sündenfall Adams und Evas zusammen, war kaum einzusehen, weshalb soziale Ungleichheit weiterhin die Ordnung menschlichen Zusammenlebens bestimmen sollte, nachdem doch durch die Taufe, einem sichtbaren Zeichen göttlicher Gnade, der Makel der Erbsünde und damit die Ursache von Unfreiheit abgewaschen worden war. Und nicht zuletzt: Wenn – unbeschadet der getilgten Erbsünde – alle Menschen, Hochund Niedergeborene, geweihte Geistliche und ungeweihte Laien, nicht fähig und willens sind, den Verlockungen der Sünde zu widerstehen, war nicht einzusehen, weshalb die Mächtigen und Reichen weniger unter dem Fluch der Erbsünde zu leiden haben als die Machtlosen und Armen.8 Widersprüche zwischen theologischer Theorie und sozialer Praxis verloren an Schärfe und lösten sich auf, wenn, den Vorgaben der aristotelischen ›Politik‹ folgend, Unfreiheit (servitus) den Charakter einer naturgegebenen sozialen Tatsache annahm. Herrschaft von Menschen über Menschen, legt Thomas von Aquin (1225/26–1274) dar, habe es bereits vor dem Sündenfall, in statu innocentiae, gegeben. Menschliches Zusammenleben verlange nach einer hierarchischen Ordnung, die gewährleiste, daß die Vernünftigen und Klugen leiten und lenken, diejenigen aber, die zur Übernahme von Leitungsaufgaben nicht in der Lage sind, sich fügen und gehorchen. Gott habe den Menschen als animal politicum geschaffen, das sich, um seine geistigen und materiellen Ziele zu erreichen, einem Gemeinwesen mit ungleich verteilten Kompetenzen und Funktionen einordnen müsse. Sich der Ordnung, der Eintracht und des Friedens wegen der Autorität und Leitungsgewalt anderer zu unterwerfen, entspreche einer Grundbestimmung der menschlichen Natur. Vor dem Sündenfall ausgeübte Herrschaft sei aber gleichbedeutend gewesen mit einem officium gubernandi et dirigendi, kraft dessen Herrschaftsunterworfene von ihren Herren so geführt wurden, daß sie beim Vollzug ihrer Tätigkeiten ihr proprium bonum zu erreichen vermochten oder durch die Erträge ihrer beruflichen Arbeit zum bonum commune beitrugen. Nach dem Sündenfall habe Herrschaft ihren gemeinnützigen Charakter verloren. Herrschaftsträger hätten seitdem ihre Macht über Untertanen zum eigenen Nutzen (ad propri8
František Graus, Goldenes Zeitalter, Zeitschelte und Lob der guten alten Zeit. Zu nostalgischen Strömungen im Spätmittelalter, in: Gerd Wolfgang Weber (Hg.), Idee, Gestalt, Geschichte. Festschrift Klaus von See. Studien zur europäischen Kulturtradition, Odense 1988, S.206.
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am utilitatem) ausgeübt. Herrschaft, die auf der Aneigung fremder Arbeit beruhe, sei, weil sie bei Herrschaftsunterworfenen Trauer hervorrufe, ohne Zwangs- und Strafgewalt nicht zu verwirklichen.9 Der Sündenfall veränderte nicht nur die Ordnungen menschlichen Zusammenlebens; er beschädigte auch die seelische, intellektuelle und soziale Natur des Menschen. Ohne Sündenfall kein Fleischgenuß, der auf ein unfriedliches Verhältnis zwischen Mensch und Tier schließen läßt. Ohne Sündenfall kein wutentbrannter Zorn (fervor irae) und keine verletzende Entrüstung (impetus indignationis). Ohne Sündenfall keine Melancholie, die mit entsetzlicher Traurigkeit einhergeht, der Seele ihre Schwungkraft nimmt, Haß erzeugt und zerstörerische Leidenschaften freisetzt. Ohne Sündenfall keinen in seiner Erkenntnisfähigkeit beschränkten und korrumpierten Verstand, keinen geschwächten Willen, keine Selbstliebe. Weder »falsche Lehre« (falsa doctrina) noch »Verführung durch Lüge« (seductio per mendacium) habe in paradiesischer Zeit das Verhalten der Menschen getrübt. Ohne von Herren ausgeübte Gewalt hätten sie miteinander verkehrt (sine potestate dominationis communicant); gegenseitige Freundschaft habe vollkommene Gemeinschaftlichkeit (perfecta communicatio) begründet.10 Vor allem aber: Ohne Sündenfall keine Scham. Die Tatsache, daß Mann und Frau ihre eigene und gegenseitige Geschlechtlichkeit nur noch in der Gebrochenheit von Schamgefühlen wahrzunehmen vermögen, hat – im Horizont der Sündenfall-Exegese betrachtet – nichts mit situationsbedingter Peinlichkeit zu tun, sondern mit der nachparadiesischen Verfaßtheit des Menschen.11 Schamkultur, von der in den Konzeptionspapieren dieser Tagung die Rede ist, wäre dann als Fähigkeit zu begreifen, eine Folgelast sündigen Verhaltens in einen sittlichen Habitus zu überführen. Den Ursprung des Schamgefühls schildert der alttestamentliche Erzähler folgendermaßen: Nach dem Genuß der verbotenen Früchte werden die Stammeltern gewahr, daß sie nackt sind. Ein Gefühl der Scham läßt sie nach Feigenblättern greifen, um ihre Blöße zu bedecken. Was Scham hervorbringt, »ist nicht Begehren an und für sich, sondern die Erkenntnis des eigenen Begehrens«.12 Bewußt gewordene Leiblichkeit weckte Scham. In dieser drückte sich eine höhere Stufe menschlicher 9
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Stürner, Peccatum und Potestas (wie Anm. 7), S.189–192; Klaus Schreiner, Si homo non peccasset … Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des Menschen, in: ders. und Norbert Schnitzler (Hgg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S.46–47; John van Engen, Sacred Sanctions for Lordship, in:Thomas N. Bisson (Ed.), Cultures of Power. Lordship, Status, and Process in Twelfth-Century Europe, Philadelphia 1995, p.227–228; Bernhard Töpfer, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45), Stuttgart 1999, S.228–245. So Johannes Duns Scotus, Quaestiones in lib. IV sententiarum, Opera omnia, Tom.9, Hildesheim 1968 (Nachdruck Lugduni 1634), p. 157. Vgl. dazu Schreiner, Si homo non peccasset … (wie Anm. 9), S.59–68.
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Reflexion aus, die Adam und Eva erreichten, weil sie taten, was ihnen Gott verboten hatte. Am physischen Tatbestand des Nacktseins hatte sich nach dem Sündenfall nichts geändert. Wohl aber sahen Adam und Eva ihre entblößte Körperlichkeit anders als zuvor: als Befindlichkeit nämlich, die mangelnde Übereinstimmung mit sich selbst, innere Zerrissenheit, Vereinsamung und Gottferne, zerstörte Integrität anzeigt. Mittelalterliche Exegeten führten die Erkenntnis des Nacktseins, die im gefallenen Zustand Scham verursacht, auf einen Bruch der leib- seelischen Einheit des Menschen zurück.13 Im Bewußtsein der Scham kam ihrer Ansicht nach der Widerspruch zwischen ratio und libido zum Vorschein, der Streit zwischen voluntas und sensualitas, die Unvereinbarkeit zwischen dem Gesetz des Geistes und dem Gesetz des Fleisches. Scham wurzelt, folgt man den Gedankengängen Augustins, im Ungehorsam der ersten Menschen gegen Gott. Die simplex nuditas vor dem Sündenfall habe weder Gott noch dem Menschen mißfallen. Erst die Sünde des Ungehorsams (peccatum inoboedientiae) habe das Gefühl der Scham entstehen lassen. Erst der sich gegen Gott ungehorsam verhaltende Mensch habe seine Zeugungsglieder als ungehorsame, nicht mehr seinem freien Willen, sondern der Glut seiner Begierde unterworfene Gliedmaßen seines Körpers erfahren. Schamgefühl und Schambewußtsein seien eine Folge davon, daß der Leib, der dem Geist kraft seiner geringeren Natur (natura inferior) Gehorsam schulde, diesem Widerstand leiste und sich zum Sklaven seiner eigenen Begierde mache. Den Spuren Augustins folgend, beteuerte Martin Luther: Durch den Sündenfall habe der Mensch die »Ehre der nackenden Gestalt« verloren. Wie im Stand der Unschuld das »Nackendgehen die größte Ehre« war, so sei auch in der unschuldigen Natur das ganze Werk der Zeugung heilig und rein gewesen. Nach dem Sündenfall hätten jedoch »Brunst und Anreizung«, der Aussatz der Unzucht, die Geschlechtsorgane befallen und aus den »allerehrlichsten und nützlichsten Gliedern«, die Gott dem Menschen »um des Werkes willen des Kinderzeugens« gegeben habe, »die allerschändlichsten Glieder« gemacht.14 Alles in allem: Ohne Sündenfall wären wir heute noch im Paradies. Der menschliche Körper müßte, wäre ihm seine paradiesische Natur erhalten geblieben, weder Gewalt ertragen, noch würde er anderen Gewalt zufügen. Er wäre weder durch Krankheit geschwächt, noch müßte er einen qualvollen 12
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Jack Miles, Gott. Eine Biographie. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer, München 1996, S.52. Vgl. ebd. auch: »Tiere begehren, aber sie wissen nicht, daß sie begehren oder daß sie das Objekt von Begierde sind, und daher empfinden sie keine Scham … Das verstandene Begehren, das eingestandene Bedürfnis ist es, welches die Scham hervorruft«. Schreiner, Si homo non peccasset … (wie Anm. 9), S.59–61. Ebd., S.62; Ders., Das verlorene Paradies – Der Sündenfall in Deutungen der Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien/Köln/Weimar 1998, S.47f.
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Tod sterben. Sündhafte Lust hätte Geist und Leib nicht entzweit. Arbeit würde keinen Schweiß, die Geburt keine Schmerzen verursachen. Auf der Beziehung der Geschlechter würde nicht der Fluch demütigender Männerherrschaft liegen. Zwischen Individuum und Gesellschaft bestünde ein ungebrochenes Verhältnis, zwischen Menschen und Tieren keine Feindschaft.
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Neuzeitliche Tendenzen der Positivierung: Von Gottes Strafaktion zur glückbringenden Schuld (felix culpa)
Ansätze zu einer positiven Einschätzung der menschlichen Begierde, die Mann und Frau, wenn sie sich geschlechtlich begegnen, ein Fleisch werden lassen, gab es bereits im hohen Mittelalter. Die sinnliche Lust beim körperlichen Umfangen (amplexio) wurde von Theologen des hohen und späten Mittelalters als natürlich und gottgewollt gebilligt und gutgeheißen.15 Seit dem beginnenden 13. Jahrhundert wurde über die Sündhaftigkeit des von Unverheirateten gepflegten Geschlechtsverkehrs diskutiert.16 In der Mitte des 15. Jahrhunderts mußten Franziskanermönche ermahnt werden, gegen Weltkleriker Front zu machen, die behaupteten, der Geschlechtsverkehr zwischen Ledigen sei keine Sünde.17 Mit dieser Auffassung ließ sich z. B. die zeitlich
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Schreiner, Si homo non peccasset … (wie Anm. 9), S.58. Vgl. z.B. Dionysius Cartusianus, Enarratio in c.III Genesis, in: Opera omnia, tom.1, Monstroli 1896, p.117: Delectatio enim coitus non est in se vitiosa, sed naturalis et instituta a Deo. Dionysius der Kartäuser (van Rijkel, van Leeuwen) (1402/03–1471) macht jedoch eine Einschränkung: Vor dem Sündenfall habe die geschlechtliche Vereinigung zwischen Mann und Frau kein Hindernis gebildet für den actus rationis et contemplationis, weil der sensitive Teil der Seele vollkommen der Vernunft unterworfen gewesen sei. Rüdiger Schnell, Mittelalter oder Neuzeit? Medizingeschichte und Literaturhistorie. Apologie weiblicher Sexualität in Boccaccios ›Decameron‹, in: Ders. (Hg.), Gottes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift fur Heinz Rupp zum 70. Geburtstag, Bern / Stuttgart 1989, S.259–260. Ebd., S.260: »So wenden sich z.B. um 1200 Petrus Cantor und Papst Innozenz III. gegen differierende Auffassungen: es gebe Leute, nur dem Namen nach Priester, die glaubten, daß Koitus zwischen Unverheirateten eine leicht verzeihliche Sünde sei … In Kirchenstatuten von Salisbury (1238–1244) mußte öffentlich aufgrund abweichender Positionen, erneut festgelegt werden, daß jeder Koitus zwischen Mann und Frau außerhalb der Ehe eine Todsünde sei. Der Gegenposition begegnen wir unter den von Bischof Etienne Tempier im Juli 1277 verdammten 219 Lehrsätzen: Quod simplex fornicatio, utpote soluti cum soluta, non est peccatum (Nr.183)«. Demnach gab es offenkundig Theologen und Kleriker, die bereit waren, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß sich Laien in Fragen ihrer Sexualität nicht an die offiziellen Normen der Kirchen hielten. Diese hatten behauptet, actum carnalem inter personas non legitime coniugatas peccatum non esse (Bullarium Franciscanum, continens constitutiones, epistolas, diplomata Romanorum pontificum Eugenii IV. et Nicolai V., ed. Ulricus Hünemann, Nova series, tom.1 (1431–1455), Ad Claras Aquas 1929, p.494–495.
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befristete Sommerehe von Gesellen rechtfertigen, die, weil sie noch nicht Meister waren, auch nicht heiraten durften. Ebenso nahmen die ehelichen Beziehungen zwischen Mann und Frau in der Sicht hochscholastischer Theologen neue, positive Züge an. Das Verhältnis zwischen Ehepartnern begriffen diese nicht mehr als einseitige Unterwerfung (subiectio) einer körperlich und intellektuell schwachen Frau unter einen Mann, dem auf Grund der Schöpfungsordnung größere Gottebenbildlichkeit und stärkere Urteilskraft zukommt. Das Geschlechterverhältnis im Rahmen der Ehe charakterisierten sie als Freundschaft (amicitia), die auf Partnerschaft angelegt ist, nicht auf Herrschaft und Unterwürfigkeit.18 Theologisch und humanistisch gebildete Frauen erhoben Widerspruch gegen gängige Klischees frauenfeindlicher Autoren – allen voran Christine von Pisan (1365–1430), eine hellwache, des Gedankens und der Schrift mächtige Gattin eines Notars am Hof des französischen Königs, früh verwitwet und Mutter von drei Kindern, die aus dem Dunstkreis sprachloser Anonymität heraustrat und auszusprechen wagte, was andere Frauen nicht über ihre Lippen brachten. In ihrem »Buch über die Stadt der Frauen« entwarf Christine von Pisan einen idealen Ort weiblicher Selbsterkenntnis, der, geprägt durch Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, männliche Fremdbestimmung ausschließt.19 Im Hinblick auf die herkömmliche Auffassung, wonach dem weiblichen Verstand ein geringeres Erkenntnis- und Urteilsvermögen eigne als dem des Mannes, beharrte sie auf der »Ebenbürtigkeit weiblicher und männlicher Intelligenz«.20 Bestehende Unterschiede führte sie auf Unterschiede gesellschaftlicher, nicht natürlicher Art zurück. Wäre es üblich, schrieb sie, »die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluß daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene«.21 Frauen hätten überdies allen Grund, auf die geistigen Errungenschaften von Frauen stolz zu sein. Wer war es denn, fragt die einfallsreiche und querdenkende Christine von Pizan, der das Menschengeschlecht mit der Erfindung der Buchstaben und der Schrift beglückte? Es war, so ihre beherzte Antwort, die edle römische Nymphe Carmentis. In »ihrer überlegenen Klugheit« habe diese Männern gerade jene Fertigkeit beigebracht, dank deren sich diese als »überlegen und hochgeehrt« dünken: »das ABC und die lateinische 18
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Elisabeth Gössmann, Das Menschenbild der Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau vor dem Hintergrund der frühscholastischen Anthropologie, in: Peter Dinzelbacher /Dieter R. Bauer (Hgg.), Frauenmystik im Mittelalter, Ostfildern bei Stuttgart 1985, S.35. Fietze, Spiegel der Vernunft (wie Anm. 1), S.95–114. Christine de Pizan, Das Buch von der Stadt der Frauen, übersetzt und eingeleitet von Margarete Zimmermann, Berlin 1986, S.95. Ebd., S.94.
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Schrift, die Verbindung der Buchstaben, den Unterschied zwischen Vokalen und Konsonanten und alle Anfangsgründe der Wissenschaft der Grammatik«.22 Mit Hilfe der Schrift seien »unzählige Bücher und Bände jeder Art verfaßt und geschaffen« worden, »in denen zum ewigen Gedächtnis die Taten der Menschen, die edlen und herausragenden Ruhmeswerke Gottes, die Wissenschaften und die Künste aufgezeichnet und bewahrt worden sind«. Einer klugen und vornehmen Frau hätten es demnach die Männer zu verdanken, daß sie »aus dem Zustand der Unwissenheit befreit und in den der Erkenntnis versetzt worden« seien. »Ihr [Carmentis] verdanken sie die Kunst, die Geheimnisse ihrer Gedanken und Absichten so weit zu senden, wie sie wollen, überall kundzutun und bekanntzumachen, was ihnen beliebt, desgleichen um die Dinge der Gegenwart, der Vergangenheit und zum Teil auch der Zukunft zu wissen; wiederum dank der Klugheit jener Frau können Männer die Abkommen und Freundschaftsbündnisse mit verschiedenen, weit von ihnen entfernten Personen schließen und haben durch Antworten, die sie einander geben, die Möglichkeit, einander kennenzulernen, ohne sich zu sehen«.23 Christine weiß aber auch, daß Schreibfähigkeit und Schriftgebrauch nicht nur Gutes stiften, sondern auch ihre Schattenseiten haben. Dank der von einer Frau erfundenen Schrift hätten nämlich Männer die Möglichkeit, »in ihren Büchern und Dichtungen Übles über die Frauen« zu verbreiten24 und zu behaupten, Frauen würden auf der Welt zu nichts anderem taugen »als zum Kindergebären und zum Spinnen«.25 Christines Lobrede auf Carmentis ist von entwaffnender Anmut und, wenn man ihre der Welt des Mythos entliehenen Prämissen teilt, von glasklarer Logik: Ohne den Einfallsreichtum einer Frau keine Buchstaben und keine Schrift, ohne weibliche Intelligenz keine schriftliche Kommunikation. Den Zusammenhang zwischen Körper- und Tugendstärke, ein Stereotyp in der frauenfeindlich geführten Geschlechterdebatte, wollte sie nicht gelten lassen. Sittlichkeit sei nichts Geschlechtsspezifisches. »Nicht im Körper und im Geschlecht«, argumentierte sie, »ist die Überlegenheit oder die Niedrigkeit von Menschen begründet, sondern in der Vollkommenheit der Sitten und der Tugenden«.26 Die körperliche Schwäche der Frau deutete sie als ausgesprochenen Vorzug. Seien doch Frauen auf Grund dieses Mangels davon ausgenommen, »die scheußlichen Grausamkeiten, Morde, großen und grausamen Schindereien zu begehen, die als Folge der Anwendung von Gewalt auf der Welt begangen wurden und auch heute noch geschehen«.27 Christine von Pisan hebt nachdrücklich darauf ab, »daß Frau und Mann beide nach dem 22 23 24 25 26 27
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S.111; 103. S.109–110. S.111. S.109. S.56. S.68–69.
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Bilde Gottes geschaffen wurden und ihre Gottebenbildlichkeit nicht im Körper, sondern in der bei Frau und Mann identischen Seele liege«.28 Evas Schuld versteht sie als felix culpa, weil sie von Maria, der zweiten Eva, die Gott zum Organ seiner Menschwerdung machte, getilgt wurde. Maria gewährleistet ihrer Auffassung nach den Selbst-Stand weiblicher Existenz und dies aus dreierlei Gründen: Maria ist »den Frauen Verteidigerin (championne), Beschützerin (protectrice) und Schild (rempart) gegen Angriffe der Feinde und der Welt, da kein Mann angesichts ihrer Majestät das weibliche Geschlecht unbescholten schmähen kann«. Maria ist außerdem »Inbegriff der Vollkommenheit, an Demut (humilité) ohnegleichen, an Güte (bonté) die Engel übertreffend. Als Quelle der Tugend (fontaine de vertu) bewirkt sie, daß die Frauen alle Formen der Sünden und Laster verabscheuen«. Schließlich ist sie »Gegenstand der höchsten Verehrung«.29 Indem sie zeigt, wie Menschen zu Gott finden, erschließt sie Wege weiblicher Selbstfindung. Humanistische Autoren beklagten nicht die Macht und Last der Sünde, nicht die Verderbtheit des Menschen; sie rühmten seine Würde und Erhabenheit. Den Sündenfall machten sie nicht für das Elend menschlichen Daseins verantwortlich, sondern betonten den zivilisatorischen Fortschritt, der vom Fehlverhalten Evas und Adams ausging. Die durch den Sündenfall entstandenen Lebensbedingungen haben dem Menschen Arbeit, kulturelle Gestaltungskraft und schöpferische Phantasie abverlangt und ihn so zum Subjekt einer neuen, von ihm selbst erschaffenen Welt gemacht. Die Geschichte vom Sündenfall deuteten sie als Geburtsstunde des homo artifex, der durch seine Kreativität den Fluch des Sündenfalls abarbeitet. Als »Gott auf Erden« (Deus in terris), als »gottähnliches Wesen« (divinum animal) und als »zweiter Prometheus« (secundus Prometheus) habe der Mensch nach dem Sündenfall Gottes Schöpfung vervollkommnet. Adam wurde gerühmt als »Vater aller menschlichen Künste und Erfindungen«.30 Ein unzweideutiger Beleg für den Wandel der Sichtweisen und Erklärungen ist die 1486 verfaßte Rede des Pico della Mirandola ›Über die Würde des Menschen‹ (De dignitate hominis), in der die »Lehre von der Erbsünde« und »ihre Sühnung durch Christus« nur noch beiläufig Erwähnung findet. Dem Sündenfall Adams und Evas schrieb der Florentiner Neuplatoniker keine Wirkungen zu, welche die intellektuellen Fähigkeiten und sittlichen Dispositionen des Menschen von Grund auf beschädigten und verschlechterten. Pico betont die Selbstverantwortung des ersten Menschen, zu der ihn Gott er28 29 30
Fietze, Spiegel der Vernunft (wie Anm. 1), S.101–102. Ebd., S.109. Beate Hentschel, Artikel ›Sündenfall: Wandel der Auffassung von Sünde und Erbsünde im Frühhumanismus‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp.319–320. Vgl. auch dies.: Zur Genese einer optimistischen Anthropologie in der Renaissance oder die Wiederentdeckung des menschlichen Körpers, in: Schreiner /Schnitzler (Hgg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen (wie Anm. 9), S.90–95. Zum Prometheus-Motiv ebd., S.91
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mächtigt und berufen habe. »Du sollst«, läßt Pico Gott zu Adam sagen, deine Natur »ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selbst bestimmen«.31 Um deutlich zu machen, daß der Mensch das ist, was er selber aus sich macht, legt Pico Gott folgende, an Adam gerichtete Sätze in den Mund: »Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit...du dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst«. Der »höchste Künstler« habe den Menschen in »die Mitte der Welt gestellt« und ihn befähigt, sein Leben und seine Welt selber zu gestalten.32 Um in nachparadiesischer Zeit den Körper gegen Kälte zu schützen, habe es technischer Fertigkeiten bedurft: der Kunst des Kleidernähens, des Feuermachens, der Architektur und Medizin. Notwendigkeit (necessitas) erwies sich als Lehrmeisterin des Fortschritts.33 Der Auftrag des göttlichen Planers an den Menschen, sich zu vermehren und über die Welt und ihre Geschöpfe zu herrschen, legte den Gedanken nahe, das Tun des Menschen als Hervorbringung einer zweiten Schöpfung zu begreifen, die vom Erfindungsreichtum des Menschen und seiner Gottebenbildlichkeit Kunde gibt. Die Kunst Mechanica, so die in Maschinenbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts wiederholt geäußerte Überzeugung, trage dazu bei, bedrückende Folgen des Sündenfalls, die auf der Arbeit des Menschen lasten, zu erleichtern und zu heilen. Die Anstrengungen der Vernunft, die die technischen und mathematischen Künste erforderlich machen, würden die durch den Sündenfall getrübte Gottebenbildlichkeit des Menschen wiederherstellen. Die Maschinenkunst würde die Mühsal der Arbeit, die Adam als Strafe für seinen Ungehorsam habe auf sich nehmen müssen, erträglich machen.34 Indem der Mensch Maschinen baue, suche er nicht allein Entlastung von den Zwängen menschlicher Mühsal, sondern mache zugleich von seinem erfinderischen Geist (ingenium) Gebrauch und bringe den in ihm verbliebenen göttlichen Funken (divinitatis scintillula) zum Leuchten.35 In solchen Deutungen der Geschichte des Sündenfalls bleibt die Natur Werk und Schöpfung des Menschen.
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Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, übersetzt von Norbert Baumgarten, hg. und eingeleitet von August Buck, Hamburg 1990, S.7. Ebd., S.5;7. Ansgar Stöcklein, Leitbilder der Technik. Biblische Tradition und technischer Fortschritt, München 1969, S.40; Schreiner, Si homo non peccasset … (wie Anm. 9), S.43; S.71 Anm. 10. Stöcklein, Leitbilder (wie Anm. 33), S.36–41 («Die Kunst Mechanica als äußere Hilfe für den gefallenen Menschen«); S.42–46 («Die Kunst Mechanica als Heilmittel des gefallenen Menschen«); S.46–53 («Die Kunst Mechanica als Weg in ein neues Paradies«). Ebd., S.63.
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»Adam wandelt sich zum Prometheus«, »zum selbstmächtigen Demiurgen, der die ihm im Rohen überlassene Welt nach seinen Bildern formt«.36 Francis Bacon (1561–1626), der englische Philosoph und Staatsmann, einer der Wegbereiter des modernen Wissenschaftsgedankens, verlangte von der Wissenschaft die Verbesserung »des Zustandes und der Gemeinschaft der Menschen«, um »die Hoheit und Macht des Menschen, die er im Urzustand der Schöpfung hatte, wiederherzustellen und ihm größtenteils wiederzugeben«. Wissenschaft, insbesondere die Wissenschaft von der Natur und deren technische Nutzung, wurde als Weg beschrieben, der ins verlorene Paradies zurückführt. Mit Hilfe wissenschaftlicher, durch Erfahrung und Experiment gewonnener Einsichten, so die Erwartung des Francis Bacon, wird sich der Mensch wiederum »in einen Zustand versetzen, wie er ihn vor der Vertreibung aus dem Paradies innehatte«.37 Rückkehr ins Paradies im Sinne Bacons setzte voraus, daß es der menschlichen Natur gelingt, eine »Verbesserung des menschlichen Zustandes« herbeizuführen und »eine erhöhte Macht über die Natur« zu gewinnen. »Denn«, so argumentierte Bacon, in seinem ›Novum Organon‹, »der Mensch hat durch seinen Fall den Stand der Unschuld und die Herrschaft über die Geschöpfe verloren. Beides aber kann bereits in diesem Leben einigermaßen wiedergewonnen werden, die Unschuld durch Religion und Glauben, die Herrschaft durch Künste und Wissenschaften«. Durch Gottes Fluch sei die Schöpfung nicht ganz und gar der Erkenntnis und Verfügungsgewalt des Menschen entzogen worden. In dem göttlichen Strafwort »Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen!« liege zugleich die Zusicherung, daß wir durch beharrlichen Fleiß unser Brot zu erwerben, d.i. ein fruchtbringendes Leben zu führen, imstande sein werden.38 Schließlich und nicht zuletzt: Der Sündenfall brachte die bürgerliche Lebensform hervor, deren Werthaftigkeit auf eigener Tätigkeit beruht, nicht auf arbeitsfreiem Müßiggang. Erst nach dem Sündenfall entdeckte Adam die Arbeit als Quelle der Wohlstandsmehrung. Notdurft wurde zu einem Motor ständig wachsender Tätigkeit, zu einer Triebkraft des zivilisatorischen Fortschritts. Gesteigerter Fleiß und größere Betriebsamkeit beendeten die ökonomische Stagnation der paradiesischen Verhältnisse. Insofern markiert Adams und Evas Sünde den Übergang von einer Wirtschaft, die nur auf unmittelbare Bedarfsdeckung angelegt war, zu einer neuartigen Form des Wirtschaftens, die mehr Güter hervorbringt als die Menschen zur Erhaltung ihres Lebens unabdingbar brauchen. Der Sündenfall habe eine Mentalität freigesetzt, die 36 37 38
Hans Blumenberg, Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen, in: Studium Generale 8 (1955), S.641. Lothar Schäfer, Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur, Frankfurt a.M. 1993, S.102. Francis Bacon, Das Neue Organon (Novum Organon), hg. von Manfred Buhr, Berlin 1962, S.305–306.
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dazu motivierte, durch Mehrarbeit die eigene Lebenslage zu verbessern. Eigeninteresse wurde zu einem Prinzip allgemeiner Glückssteigerung.39
3
Vom Akt des Ungehorsams zur selbstverantwortlichen Handlungskompetenz
Der alttestamentliche Erzähler hat die Geschichte vom Sündenfall als Gehorsamsprobe angelegt, deren Ausgang über die Situation des Menschen vor Gott und in der Welt unterrichtet. Handlungskompetenz setzt Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse voraus; Gehorsam beruht auf dem Willen zur Fügsamkeit in die alles befehlende Herrschaft Gottes. Handlungskompetenz beruht auf selbstverantwortlicher Mündigkeit. Gehorsam macht abhängig. Fragt man jedoch nach dem »Sitz im Leben«, welchen die Geschichte vom Sündenfall ursprünglich einnahm, bleibt auch dies im Auge zu behalten: In der religiösen Vorstellungswelt Israels kam Ungehorsam gegen ein Gebot Gottes selbstherrlicher Anmaßung gleich. Sich dem Willen Gottes nicht zu beugen, galt als Ursünde schlechthin. Deren Schwere und Schuldhaftigkeit sind für uns heute kaum noch vorstellbar. Das schloß aber nicht aus, daß sich mit wachsender zeitlicher Distanz neue Lesarten herausbildeten, denen nicht a priori unterstellt werden kann, daß sie dem überlieferten Text Gewalt antun. Im Kontext neu sich bildender Lebensund Erfahrungswelten konnte die Ansicht Platz greifen, daß im Widerstreit zwischen dem von Gott erteilten Auftrag zur Weltgestaltung und dem von dem gleichen Gott verhängten Erkenntnisverbot Adam und Eva auf ihre eigene Handlungskompetenz setzten, um über ihre Lebensformen und Lebensbedingungen selber bestimmen zu können. Anders gesagt: Der Geschichte vom Sündenfall war eine verborgene Sinnschicht – ein Sub- oder Meta-Text, wie Literaturwissenschaftler sagen würden – eingeschrieben, den zeitlicher Abstand freigab. Gottes Eßverbot, das verhindern sollte, daß Adam und Eva in Fragen des Erlaubten und Unerlaubten unterscheidungsfähiger werden, entbehrte einer plausiblen Begründung. »Wenn der Mensch die Erde beherrschen soll (wie wir es aus dem ersten Schöpfungsbericht im Gedächtnis haben), warum soll ihm dann nicht die Erkenntnis des Guten und des Bösen zugestanden werden«.40 Das von Gott verhängte Erkenntnisverbot machte jedoch menschliche Selbstbestimmung zu einem strafwürdigen Verhalten. Paulus, die Kirchenväter und mittelalterlichen Theologen haben die biblisch vorgegebene Diffamierung menschlichen Erkenntnisstrebens verstärkt. Paulus warnte beim Erwerb von Wissen vor verderblicher Grenzüberschreitung. 39
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Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S.116; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, Frankfurt a.M., 1981, S.24; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a.M.1989, S.306–307. Miles, Gott (wie Anm. 12), S.45.
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»Wer mehr zu wissen begehrt«, so seine Maxime, »als ihm zusteht, der ist hochmütig«. Augustinus sprach vom »Gift der Neugierde«, die er – gleich Stolz und Begierde – zu den »Regungen der abgestorbenen Seele« rechnete.41 Philosophie, Dichtung und Kunst der frühen Neuzeit sahen dies anders. Wo Theologen nur Verfehlung und Verderbnis wahrzunehmen vermochten, erblickten sie Leitbilder von Lebens- und Verhaltensweisen, die Menschen mündig und glücklich machen. Dichter und Romanciers, die das verlorene Paradies zum Fluchtpunkt ihrer Imagination machten, unternahmen es immer wieder, »die paradiesische Erfahrung des ersten Menschenpaares für das Selbstverständnis menschlichen Glücks zu restituieren«.42 Sie erachteten es als ihre Aufgabe, »jene Fülle und Feinheit sinnlicher Erfahrung des adamitischen Menschen seinem Nachfahren vorstellbar zu machen, der diese vollkommene Aisthesis durch den Fall eingebüßt hat«.43 John Milton (1608– 1674) rückt – wie andere vor und nach ihm – in seinem ›Paradise lost‹ in zunehmendem Maße »das ideale connubium von Adam und Eva im Garten Eden ins Licht und restituiert derart die Gemeinschaft inter pares des ersten Menschenpaares gegen den Gründungsakt einer paternalistischen Gesellschaft«.44 Er tut dies in bewußter Distanznahme von den Bedingungen des Zusammenlebens nach dem Fall, die von Entfremdung und einseitiger Herrschaft des Mannes geprägt waren. Milton betont die »Würde der Arbeit«, die der »Würde der gemeinsamen Ruhe« entspreche, in der Adam und Eva die »rites mysterious of connubial love« genießen. Er feiert »die Freuden ihres ehelichen Lagers offen und mit dem Anspruch, daß solche Harmonie von Lieben und Geliebtwerden gerade durch ›purity‹ und ›innocence‹ gerechtfertigt sei, in deren Namen falsche Scham und heuchlerische Moral die erfüllte Liebesbegegnung des ersten Menschenpaares verschweigen oder ächten zu müssen glaubten«.45 In der »Unvollkommenheit des gottgeschaffenen Menschen«, der sich nicht selbst zu genügen vermag und deshalb eines Partners bedarf, liegt jedoch nach Ansicht Miltons »gerade die Chance Adams, in der Liebe zu seinesgleichen glücklich, um nicht zu sagen: selbst wieder vollkommen zu werden«.46 41
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Klaus Schreiner, Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1984), S.262–270. Vgl. insbesondere die S.264–265 Anm. 20 aufgeführte Literatur. Hans Robert Jauss, Die Mythe vom Sündenfall (Gen.3) – Interpretation im Lichte der literarischen Hermeneutik, in: Manfred Fuhrman / Hans Robert Jauss / Wolfhart Pannenberg (Hgg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981, S.31. Ebd. Ebd., S.32. Ebd. Ebd., S.33.
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Aufgeklärte Geister des 18. Jahrhunderts waren der Auffassung, das Dogma der von Adam und Eva herrührenden Erbsünde sei mit der sittlichen Vernunft und freiheitlichen Natur des Menschen, seiner Bildungsfähigkeit und seinem Erkenntnisstreben nicht zu vereinbaren. Wurde doch im orthodoxen Luthertum und in der katholischen Dogmatik noch immer die Auffassung vertreten, daß die ersten Menschen »als der Stamm des gantzen menschlichen Geschlechts« gesündigt hätten, weswegen ihre Schuld auch allen ihren Nachkommen zuzurechnen sei. Das von ihnen verursachte Verderben sei durch die »natuerliche Zeugung und Geburt auf alle Menschen fortgepflantzet worden«.47 In der Ablehnung der Erbsünde fanden die verschiedenen Richtungen der Aufklärungsphilosophie einen gemeinsamen Nenner. Den Sündenfall, auf den Denker des Mittelalters alle Übel in der Welt zurückführten, deuteten sie nicht als schuldhaftes Fehlverhalten mit verheerenden Folgen, sondern als Anfang einer Emanzipationsgeschichte, die zu mündiger Selbstbestimmung befreite. Aus der heiligen Urkunde des Buches Genesis, so Immanuel Kant, ergebe sich, daß der Ausgang des Menschen aus dem paradiesischen Garten zu begreifen sei als »Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit«.48 Kant wollte seine Leser davon überzeugen: »Der Sündenfall ist der Schritt des Menschen zu sich selbst. Als Gewinn der Freiheit durch die erste Freiheitstat ist der Sündenfall eine felix culpa, die kaum noch culpa, sondern nur noch felix ist.«49 Der Tod sei nicht Folge eines göttlichen Fluchs, sondern ein Merkmal menschlichen Daseins. Die Mühsal bei der Arbeit gebe Gelegenheit, »dem Leben durch Handlungen einen Werth zu geben«.50 Mit der Heiligen Schrift stimmt Kant darin überein, daß das Böse nicht von Gott ist, »weil es in der Freyheit, mithin nicht in der göttlichen Bestimmung beruht«.51 Die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Bösen ist seiner Ansicht nach nur in der Kategorie der Freiheit denkbar. Weil jeder für das Gute und Böse, das aus seinen Handlungen hervorgeht, selber verantwortlich ist, entbehrt die Vorstellung einer Kollektivschuld jedweder vernünftigen Begründung. Der alttestamentliche 47 48
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Schreiner, Das verlorene Paradies (wie Anm. 14), S.55. Immanuel Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Kant’s Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften Bd. 8, 1.Abt. (Kant’s gesammelte Schriften 8: Abhandlungen nach 1781), Berlin/Leipzig 1923, S. 115. Odo Marquard, Felix culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3, in: Fuhrmann u.a. (Hgg.), Text und Applikation (wie Anm. 42), S.58. Kant, Muthmaßlicher Anfang (wie Anm. 48), S.122. Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik, in: Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Bd. 4 (Kant's gesammelte Schriften (wie Anm. 48)17), S.745, Nr.4845. Vgl. dazu Helmut Hoping, Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant (Innsbrucker theologische Studien 30), Innsbruck/Wien 1990, S.199.
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Verhängnischarakter von Schuld widerspricht moderner Verantwortungsethik, die dem Individuum, nicht dem Kollektiv für seine Handlungen oder Unterlassungen Schuld zurechnet. Friedrich Schiller folgte der Leseart Kants, als er in seinen 1790 in Jena gehaltenen Vorlesungen »etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde« vortrug. Im Sündenfall sieht Schiller die Befreiung des Menschen vom »Leitbande des Instinkts«52, »aus der Vormundschaft des Naturtriebs«, »aus einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft«. Durch diese Befreiungstat sei der Mensch fähig geworden, selbst »Schöpfer seiner Glückseligkeit« zu werden und »sich auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit« zu begeben.53 Adams Ungehorsam gegen »jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntnis verbot«, sei nichts anderes als ein »Abfall von seinem Instinkte« und bilde deshalb die »glücklichste und größte Begebenheit in der Menschheitsgeschichte«.54 Als »freihandelndes Geschöpf« und »sittliches Wesen« habe der Mensch durch »Nachdenken, Fleiß und Mühe« eine zweite, neue Welt geschaffen, in der zu leben mehr Glück bringe, als das sorglose, instinktgeleitete Dasein im Paradies.55 Schillers Position ist eindeutig: Der Mensch bedarf keines Erlösers, keines Gottes mehr. Er erlöst sich selber, indem er schöpferisch tätig ist. Der Emanzipationsdebatte, die unter Berufung auf die Geschichte vom Sündenfall geführt wurde, liegt als Grundmuster die Überzeugung zugrunde, daß aus Schlimmem häufig Gutes, aus Unglück vielfach Glück hervorgeht. Dieses Argument hatte eine mittelalterliche Vorgeschichte. Augustinus bezeichnete die Schuld des ersten Menschenpaares am Anfang der Menschheitsgeschichte als glückbringende Schuld, als felix culpa. Das Sündigen und Schuldigwerden Adams und Evas erwies sich deshalb als Quelle des Glücks, weil es ohne Sündenfall keine Erlösung durch den menschgewordenen Gottessohn gegeben hätte. Alexander von Hales (ca. 1185–1245), der in den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts in Paris lehrende Franziskanertheologe, versicherte: Gott habe durch seine Menschwerdung das von Adam verursachte Böse zum Guten gewendet. An Gottes Handeln sei abzulesen, daß das Gute aus dem Bösen herausgelockt wird (bonum ex malo elicitur).56 »So mischt Gott Licht und Dunkel!«, schrieb Johann Gottfried Herder in seiner Abhandlung über die »Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts« (1776), als er auf die Vertreibung aus dem Paradies zu sprechen kam.57 »So 52
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Friedrich Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4: Historische Schriften, 2.Aufl., München 1960, S.757–768. Ebd., S.768–769. Ebd., S.769. Ebd., S.769–770. Leo Scheffczyk, Artikel ›Sünde, Sündenfall‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp.317.
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ist das Buch Gottes geschrieben. Was auf dieser Seite Strafe heißt, kehre das Blatt um, ist auf jener Wohltat«.58 Eva, das verfluchte Weib, wird »der Lebenden glückliche Mutter«. Von der Mühsal der männlichen Arbeit gilt: »Im Tagwerk des verfluchten Ackers liegt Manneswürde, in Müh und Kummer alle seine Lebtage ist seine Glückseligkeit, im Schweis seines Angesichts schmeckt sein Brod«.59 In der Tat: »So stieß Gott den Menschen auf den neuen Pfad seines Mühelebens, öffnete ihm die Pforte zu allen Erfindungen, die ihn durch Überlegung, Prüfung, Rathschlag künftig gegen die Uebel des Lebens wapnen müsten«.60 Auf diese Weise entwickelte Gott »in jedem Schritte die ganze Zukunft: in Adams Fehltritt noch des ganzen Geschlechts Wohl«. Denn: »Alle Strafen sind Wohlthat: seine Mittel Zwecke und jeder Zweck wiederum Mittel«. Wenn Gott züchtigt, wird jeder Streich »uns tausendfach zu höherm Guten«.61 Im Sündenfall fand Hegel »in äußerlicher, mythischer Weise«62 die »ewige Geschichte der Freiheit des Menschen« ausgedrückt63 – jene Geschichte, die das menschliche Subjekt veranlaßte, aus dem »Zustande der ursprünglichen Natürlichkeit« herauszutreten64 und zum »Licht des Bewußtseyns« zu gelangen.65 Es sei eine »thörichte Vorstellung« zu glauben, daß der Mensch im Zustand seiner Einheit mit der Natur das »höchste Wissen der Natur und Gottes gehabt« und »auf dem höchsten Standpunkt der Wissenschaft gestanden« habe.66 Denn: »In Wahrheit ist jene erste natürliche Einigkeit als Existenz nicht ein Zustand der Unschuld, sondern der Rohheit, der Begierde, der Wildheit überhaupt. Das Thier ist nicht gut und nicht böse: der Mensch aber im thierischen Zustande ist wild, ist böse, ist, wie er nicht seyn yoll. Wie er von Natur ist, ist er, wie er nicht seyn soll, sondern was er ist, soll er durch den Geist seyn, durch Wissen und Wollen dessen, was das Rechte ist«.67 Der paradiesische Zustand ist für Hegel ein Zustand mangelhafter Urteilskraft, der des Menschen unwürdig ist: »es ist der Zustand des Thiers, der Bewußtlosigkeit, wo der Mensch nicht vom Guten und auch nicht vom Bösen weiß, wo das, was 57 58 59 60 61 62
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Herders sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 7, Berlin 1884, S.100. Ebd., S.102. Ebd., S.104. Ebd., S.108. Ebd., S.118. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hg. von Hermann Glockner (Sämtliche Werk 15), Bd. 1, 4. Aufl., Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, S.285. Ebd., S.287. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Sämtliche Werke 16), Bd. 2, 74– 75. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Sämtliche Werke 15), Bd. 1, S.287. Ebd. Ebd., S. 285.
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er will, nicht bestimmt ist als das eine oder andere: denn wenn er nicht vom Bösen weiß, weiß er auch nicht vom Guten«.68 Die »wahrhafte Natur« des Menschen mache seine »Freiheit« aus, »die freie Geistigkeit, das denkende Wissen des an und für sich Allgemeinen«.69 Die Geschichte des Sündenfalls beschreibe nicht menschliches Fehlverhalten am Anfang der Menschheitsgeschichte. Sie betreffe »die Natur des Menschen selbst«, dessen höchstes Bewußtsein in der »Erkenntniß des Guten und des Bösen« bestehe.70 Hegel verwandelte eine Geschichte, die, folgt man ihrem Wortlaut, von Sünde, Schuld und Gottes Fluch erzählt, in eine Geschichte der Befreiung. Die Schlange habe nicht gelogen, als sie zu Eva sagte, sie werde, wenn sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis esse, sein wie Gott und wissen, was gut und böse sei (Gen. 3,5). Gott selber habe das bestätigt, als er nach Adams Sündenfall feststellt: »Siehe! Adam ist geworden wie unser Einer« (Gen. 3,22).71 Hegels Reflexionen hat Heinrich Heine mit dem ihm eigenen intellektuellen Charme in Verse umgesetzt. Unter dem Titel »Adam der Erste« dichtete er wahrscheinlich 1843: Du schicktest mit dem Flammenschwert Den himmlischen Gensd’armen, Und jagtest mich aus dem Paradies, Ganz ohne Recht und Erbarmen! Ich ziehe fort mit meiner Frau Nach and’ren Erdenländern; Doch daß ich genossen des Wissens Frucht, Das kannst du nicht mehr ändern. Du kannst nicht ändern, daß ich weiß, Wie sehr du klein und nichtíg, Und machst du dich auch noch so sehr Durch Tod und Donnern wichtig. O Gott! Wie erbärmlich ist doch dies Consilium-abeundi! Das nenne ich Magnifikus Der Welt, ein Lumen-Mundi! Vermissen werde ich nimmermehr Die paradiesischen Räume; Das war kein wahres Paradies– Es gab dort verbotene Bäume. 68 69 70 71
Ebd. Ebd., S. 288. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Sämtliche Werke 16), Bd. 2, S.74. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Sämtliche Werke 15), Bd. 1, S.287.
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Ich will mein volles Freyheitsrecht! Find’ ich die g’ringste Beschränkniß, Verwandelt sich mir das Paradies In Hölle und Gefängniß.72
Was der alttestamentliche Erzähler als Ursache einer Katastrophe schilderte, betrachtet Heine als Zugewinn an Freiheit. Was Heine mit Adam und Eva verbindet, sind gemeinsame Schicksale, die auf ein vergleichbares geistiges Naturell zurückzuführen sind. Der deutsche Sänger und das erste Menschenpaar mußten für ihre Handlungsautonomie, ihr Verlangen nach Gedanken- und Erkenntnisfreiheit einen hohen Preis entrichten: Leben im Exil. Entscheidungen, die sie als Ausdrucksformen ihrer freiheitlichen Selbstbestimmung begriffen, nahmen sich in der Wahrnehmung anderer als Fehltritte, Sünden und Normverletzungen aus. Kritik aus dem Geist der Aufklärung konnte die christlichen Kirchen nicht bewegen, vom Dogma der Erbsünde Abstand zu nehmen. Auf der Kanzel und im Hörsaal, in dogmatischen Lehr- und Handbüchern blieben Sündenfall und Erbsünde Themen öffentlicher Belehrung und Reflexion. Jacob Burckhardt erblickte in der im Sündenfall wurzelnden Erbsünde ein Metapher für die konstitutive Unzulänglichkeit und Gebrechlichkeit des Menschen. Dieses Wissen nährte seine Kritik am bourgoisen Fortschrittsglauben sowie seine Polemik gegen die Verbürgerlichung des Christentums, dessen mangelnden Glaubensernst und verflachende Spiritualität.73 Konservativ eingestellte politische Theoretiker benutzten Sündenfall und Erbsünde als Medien antiliberaler Kritik. Um die Liberalen als ewig diskutierende Klasse verächtlich zu machen, schrieb Donoso Cortés (1809 – 1853): »Nach meiner Ansicht stürzte Adam deshalb ins Verderben, weil er sich mit dem Weib in eine Diskussion einließ, und das Weib nur deshalb, weil es mit dem Teufel diskutierte. Dieser Diskussionsteufel erschien, wie Katholiken weiter meinen, in der Mitte der Weltzeit ihrem Jesus in der Wüste und forderte ihn zu einem geistigen Kampfe heraus, sozusagen zu einer Paradediskussion. Aber da bekam er es mit einem Klügeren zu tun, der ihm das Wort entgegen72
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Heinrich Heine, Band 2, Neue Gedichte, bearbeitet von Elisabeth Genton, Hamburg 1983, S.109–110. Im Jahre 1833 hatte Heine geschrieben, daß das wahre, von Menschen geschaffene Paradies noch vor uns liege: »Das goldne Zeitalter, heißt es, liege nicht hinter uns, sondern vor uns; wir seien nicht aus dem Paradies vertrieben mit einem flammenden Schwert, sondern wir müßten es erobern durch ein flammendes Herz, durch die Liebe; die Frucht der Erkenntnis gebe uns nicht den Tod, sondern das ewige Leben« (ebd., S.690– 691). – Zum zeitgeschichtlichen Kontext des Gedichtes ›Adam der Erste‹ vgl. Margaret A. Rose, ›Adam der Erste‹ und das Verlagsverbot vom 8. Dezember 1841, in: Heine Jahrbuch 14 (1975), S.70–76; Werner Bellmann, Chiffrierte Botschaften, in: Heine Jahrbuch 26 (1987), S.54–77. Thomas Albert Howard, Religion and the Rise of Historicism. W.M.L. de Wette, Jacob Burckhardt, and the Theological Origins of Nineteenth-Century Historical Consciousness, Cambridge 2000.
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schleuderte ›Weiche Satan‹! und mit diesem energischen Wort der Diskussion und dem Blendwerk des Teufels mit einem Schlage ein Ende machte«.74 Für Carl Schmitt ist die Erbsünde »der Dreh- und Angelpunkt seines anthropologischen Glaubensbekenntnisses«.75 Nur solche politische Theorien vermag er als echt und wahr anzuerkennen, die sich »mit der Wahrheit der Erbsünde im Einklang befinden«.76 Nur solche Theorien, in denen »das Politische in der Erbsünde seine tiefste Begründung hat«77, verfügen nach Ansicht Schmitts über die erforderlichen Erklärungsmuster, um der Wirklichkeit des Politischen gerecht zu werden. »Der Zusammenhang politischer Theorien mit theologischen Dogmen von der Sünde, der bei Bossuet, Maistre, Bonald, Donoso Cortés und F.J. Stahl besonders auffällig hervortritt, bei zahllosen andern aber ebenso intensiv wirksam ist«, erklärt sich nach Schmitt auf Grund von gemeinsamen »notwendigen Denkvoraussetzungen«, die Theologie und politische Theorie miteinander verbinden. »Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und der Menschen führt – solange sich die Theologie noch nicht bloß zur normativen Moral oder zur Pädagogik, das Dogma noch nicht in bloße Disziplin verflüchtigt hat – ebenso wie die Unterscheidung von Freund und Feind zu einer Einteilung der Menschen, zu einer ›Abstandnahme‹, und macht den unterschiedslosen Optimismus eines durchgängigen Menschenbegriffes unmöglich. In einer guten Welt unter guten Menschen herrscht natürlich nur Friede, Sicherheit und Harmonie Aller mit Allen; die Priester und Theologen sind hier ebenso überflüssig wie die Politiker und Staatsmänner. Was die Leugnung der Erbsünde sozial- und individualpsychologisch bedeutet, haben Troeltsch (in seinen ›Soziallehren der christlichen Kirchen‹) und Seillière (in vielen Veröffentlichungen über Romantik und Romantiker) an dem Beispiel zahlreicher Sekten, Häretiker, Romantiker und Anarchisten gezeigt. Der methodische Zusammenhang theologischer und politischer Denkvoraussetzungen ist also klar«.78 Schmitt reklamiert den Universalismus der Sünde, insbesondere den der Erbsünde, um seiner Skepsis gegen alle Formen freiheitlich – demokratischer Staats- und Gesellschaftsgestaltung ein theologisches Fundament zu geben. Von einer Positivierung der Sündenfallgeschichte ist in einer solchen Deutung nichts mehr zu spüren. In Schmitts Theoriegebäude wird der Sündenfall am Anfang der Menschheitsgeschichte zum Beleg für die radikale Sündhaftigkeit 74 75 76 77 78
Zitiert nach Walter Magass, Drei exemplarische Applikationen von Genesis 3, in: Fuhrmann u.a. (Hgg.), Text und Applikation (wie Anm. 42), S.108. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und der ›Begriff des Politischen‹. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Erweiterte Neuausgabe, Stuttgart/Weimar 1998, S.66. Ebd. Ebd., S.62. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1979 (unveränderter Nachdruck der 1963 erschienenen Auflage), S.64.
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des Menschen, die ihrerseits die Beweislast dafür zu übernehmen hat, »daß politische Vorstellungen und Gedankengänge nicht gut einen anthropologischen ›Optimismus‹ zum Ausgangspunkt nehmen« können, weil »die Sphäre des Politischen letzten Endes von der realen Möglichkeit eines Feindes bestimmt wird«.79 Niklas Luhmann vertrat die Auffassung, das Dogma von der Erbsünde habe als ein »traditionelles, bisher kaum erreichtes, geschweige denn übertroffenes Schema der Selbstbeobachtung« auf kommunikativer Ebene »zur Mäßigung moralischer Kritik« beigetragen.80 Lehrte doch die Erfahrung, daß alle – Kleriker und Mönche, hoch- und niedriggeborene Laien – der Macht der Sünde nicht gewachsen waren; alle hatten es nötig, zur Beichte zu gehen und ihre Sünden zu bekennen. »Erst in dem Maße, als dieses Schema durch individuelle Schuldattribution und durch Unerkennbarkeit des Gnadenstandes sabotiert wurde, konnte sich ein religiöser Moralismus breit machen, dessen säkulare Nachwirkungen bis heute zu spüren sind. Ein modernes funktionales Äquivalent für Erbsünde ist bis heute nicht in Sicht«.81 Trifft dies zu, bewährte sich die Lehre von der Erbsünde als Motiv, bei der Beurteilung von Schwächen und Unvollkommenheiten anderer Nachsicht und Milde walten zu lassen. Hinter Verhaltensnormen der kirchlichen Sittenlehre zurückzubleiben, galt in der vormodernen Christenheit nicht generell als schwere Sünde, die gnaden- und erbarmungslos in die Hölle führte. Nicht zu irren, wohl aber zu sündigen, wurde im Mittelalter als menschlich erachtet. Einvernehmen bestand darüber, daß es die menschliche Natur nicht zuläßt, fehler- und sündelos zu leben. Eine Sünde zu begehen, galt nicht als diabolisch; einer schweren Sünde machte sich nur derjenige schuldig, der nicht bereute und es vorzog, in der Sünde und im Irrtum zu verharren oder sein sündiges Verhalten zu verteidigen.82 Die faktische Verfallenheit der adamitischen Menschheit an Sünde und Tod zählte zu den Glaubenswahrheiten der christlichen Kirchen. Dämpfte dieses Dogma die moralische Kritik, stellt sich die Frage, ob gesteigerte Vollkommenheitsideale, die das autonome Individuum allein für persönliche und gesellschaftliche Fehltritte verantwortlich machten, die Toleranzspielräume für Milde und Nachsicht gegenüber Schwächen, Unbedachtheiten und läßlichen 79 80 81 82
Ebd. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 3.Aufl., Opladen 1990, S.231. Ebd. Meinolf Schumacher, › … ist menschlich‹. Mittelalterliche Variationen einer antiken Sentenz, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 119 (1990), S.163–170. Entsprechende mittelalterliche Sentenzen lauten: Peccare namque humanum est, permanere autem in peccatis diabolicum; humanum est peccare, diabolicum vero est perseverare; peccare quippe humanum est, peccatum vero defendere diabolicum est. Sünden daz ist menschlich / Büezen das ist götlich / Verzweifeln daz ist tiufelich.
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Sünden nicht erheblich verengten. Kommt es darauf an, einen solchen Gedanken in eine These zu fassen, könnte diese lauten: »Der Sündenfall ist vielleicht nicht nur der Glücksfall für die prometheische Zivilisation der Moderne, sondern auch für Humanität und Toleranz«.83
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So Peter von Moos in einem Brief vom 19.12.1999.
Alois Hahn
Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion
1
Fehltritt, Peinlichkeit und Schuld
Für uns Heutige ist ein ›Fehltritt‹ durch zweierlei ausgezeichnet: Einerseits durch das Fehlen oder doch das geringe Ausmaß von Absichtlichkeit, andererseits durch die relative Geringfügigkeit des anderen zugefügten Schadens. Dieser entfällt häufig sogar ganz. Der Fehltritt besteht dann in einer Selbstverletzung vor den Augen anderer. Es gibt gewissermaßen zwar einen Täter, aber außer ihm selbst kein Opfer. Oder anders formuliert: Er ist sein eigenes Opfer. In diesem Sinn kann freilich der Schaden groß sein: Wer beim Bergsteigen einen Fehltritt macht, kann tödlich abstürzen. Auch bei einem bloßen Ausrutscher fällt man doch auf die Nase oder befleckt sich möglicherweise mit dem Schmutz einer Pfütze. Ein sozialer Fehltritt setzt aber zumindest zusätzlich voraus, daß auch andere ihn bemerken. Er besteht in einer Autostigmatisierung. Man verliert in mehr oder minder gravierender Weise das Gesicht. Bisweilen riskiert man auch seine Ehre und das elementare Vertrauen in die Kompetenz zu verläßlichem Handeln, das zunächst einmal jedermann beanspruchen kann. Wer sich ständig Ausrutscher leistet, gilt vielleicht nicht als ›schuldig‹, wohl aber als riskanter Handlungspartner, den man nach Möglichkeit meidet, dessen Nähe jedenfalls mit einem eigentümlichen interaktiven Risiko verbunden ist. Vielfach zieht er auch weniger moralische Entrüstung als vielmehr Gefühle auf sich, die im schwächsten Falle als Unbehagen bezeichnet werden könnten, im stärkeren bis zu Abneigung und Ekel reichen mögen. Die typischen Beispiele für derartige Verstöße sind denn auch Tolpatschigkeiten, Verstöße gegen die rituellen Gebote interaktiver Korrektheit und Taktlosigkeiten aller Art. Vielfach ›weiß‹ man als Zeuge von Fehltritten sehr genau, daß der Ausrutscher nicht beabsichtigt war, daß der andere eventuell gar nichts für seinen Fehltritt kann. Trotzdem nimmt man ihm die von ihm verursachte Peinlichkeit übel. Daß man das tut, wirft man sich dann unter Umständen selbst vor, was die Peinlichkeit aber eher noch steigert. Die für solche Situationen typische Beschämung ist charakteristischerweise nicht auf den Urheber der Peinlichkeit beschränkt, sondern erfaßt die Interaktionspartner ebenfalls. Sie steckt sozusagen an und verdirbt die Stimmung. Wichtig ist immer, daß es sich bei den durch Fehltritte erzeugten Störungen nicht um
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moralische Verstöße handelt, zumindest nicht um gravierende. Sowohl die fehlende Absicht als auch die Geringfügigkeit der Schädigung anderer verbieten deshalb auch entsprechende Schuldvorwürfe. Eines der probatesten Mittel, die rituelle Störung beizulegen, die durch Fehltritte entstanden ist, besteht denn auch darin, sie zu übersehen. Diskretion in diesem Sinne macht alle weiteren korrektiven Maßnahmen überflüssig. Der Fehltritt wird behandelt, als sei er gar nicht geschehen. Das ist nicht immer leicht und setzt evolutionär unwahrscheinliche Ressourcen an Takt voraus. Deutlich ist aber auch, daß wir Takt nur gegenüber Fehltritten und ›gesellschaftlichen‹ Patzern oder Ausrutschern für eine Tugend halten. Im Falle von Verbrechen oder schwerer Schuld ist es in modernen Gesellschaften gerade umgekehrt. Hier kann das Vermeiden von Thematisierung und Verfolgung sogar eine neue Schuld begründen. Geheimhaltung wird dann zur Mitwisserschaft oder gar zur Verschwörung. ›Brutalst mögliche Aufklärung‹ wird verlangt. Man könnte deshalb die Differenz zwischen bloßen Fehltritten und Schuld und Verbrechen bzw. Gesetzesübertretungen auch daran festmachen, ob die adäquate Reaktion auf sie in Geheimhaltung und Diskretion oder in ›Aufklärung‹, Aufdekkung und Anklage besteht.1 Dabei ist der Ausdruck ›Diskretion‹ ohnehin eher auf das Übersehen von Fehltritten beschränkt, während ›Geheimhaltung‹ (wenn sie sich überhaupt auf Abweichungen bezieht, was selbstverständlich nicht immer der Fall sein muß: Man kann z.B. ein Produktionsverfahren, eine Wahlentscheidung usw. geheimhalten) Schuld und Verbrechen zum Gegenstand zu haben pflegt. Auch diese kann erlaubt sein. Aber nur im Kontext bestimmter Rollen oder institutioneller Sondernormen, z.B. für Priester oder Ärzte, in der Beichte oder zum Zwecke des Zeugenschutzes bei bestimmten Gerichtsverfahren. Unsere These ist es nun, daß’ es sich in mannigfacher Hinsicht bei dem erwähnten Unterschied um einen keinesfalls universalen handelt: Sowohl die Kategorie der Absicht als auch die Idee der Geringfügigkeit des Schadens dienen nicht in allen Gesellschaften als Leitfaden für die Drastik der Sanktionen. In vielen vormodernen Gesellschaften, so scheint es nämlich, wird das, was wir für einen bloßen Fehltritt halten würden, mit den schwersten Strafen belegt. Umgekehrt wird selbst ein bekannter Täter, an dessen Absichten gar nicht gezweifelt wird, unter bestimmten Umständen unbehelligt gelassen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang überhaupt die Frage, ob die für die Moderne typische Differenz zwischen Fehltritten und Schuld auf alle vormoderne Gesellschaften ohne weiteres zu übertragen ist. Eine höchst relevante Variable in diesem Kontext ist das Vorhandensein oder das Fehlen, die starke oder 1
Dabei ist selbstredend zu beachten, daß das, was aus der Perspektive der Gesetze ein Verbrechen ist, im Bewußtsein der Täter vielleicht nicht einmal ein Fehltritt ist. Von Nahestehenden erwarten sie deshalb auch gegenüber Dritten Diskretion und Verschwiegenheit, lassen sich diese u. U. durch Ehrenwort versichern usw.
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schwache Ausbildung von politischen Zentralinstanzen. Diese zunächst möglicherweise bizarre Behauptung wollen wir im Folgenden plausibel machen. Wir beginnen mit der Problematik der Schuld in akephalen Gesellschaften.
Heiße und kalte Gesellschaften
2
Claude Lévi-Strauss hat in einer ebenso berühmten wie umstrittenen Metapher zwischen »sociétés froides« und »sociétés chaudes« unterschieden. Die Absicht, die dieser Unterscheidung zugrunde lag, war es, die ältere Distinktion (»distinction maladroite«) zwischen geschichtlichen und geschichtslosen Völkern zu ersetzen durch die Differenz von Gesellschaften, die die Wirkungen historischer Veränderungen zu annullieren trachten und sie aus dem Gedächtnis verbannen und solchen, die ihre Geschichte zum Thema machen, bewußt halten, ja dramatisieren.2 Daß jede Gesellschaft »dans l’histoire« sei und sich wandle, erscheint Lévi-Strauss ausgemacht: »C’est l’évidence même.« Entscheidend scheint ihm zu sein, »… que les sociétés réagissent de façons très différentes à cette commune condition: certaines l’acceptent de bon ou de mauvais gré et par la conscience qu’elles en prennent, amplifient ses conséquences (pour elles-mêmes et pour les autres sociétés) dans d’énormes proportions; d’autres (que pour cette raison nous appelons primitives) veulent l’ignorer et tentent, avec une adresse que nous mésestimons, de rendre aussi permanents que possible des états, qu’elles considèrent ›premiers‹, de leur développement.«3 Die Pointe dieser Überlegung besteht für mich in der These, daß ›Geschichtslosigkeit‹ selbst als Errungenschaft aufgefaßt wird, nicht als bloßes Defizit, als pures Fehlen einer Kompetenz zur kollektiven Erinnerung. Die Selbstsicherung einer Gruppe gegen destabilisierende Geschichte wird selbst zur institutionalisierten Stabilisierungsaufgabe. Wie Lévi-Strauss im weiteren nahelegt, ist geschichtliche Erinnerung nicht nur insofern an bestimmte Institutionen (wie etwa Schrift) gebunden, als die Gedächtnisleistung von ihnen abhängt, sondern auch deshalb, weil nur mittels besonderer institutioneller Vorkehrungen (wie z.B. Herrschaftsinstitutionen oder generell: Zentralinstanzen) die soziale Sprengkraft strukturell inopportuner Erinnerungen kontrollierbar wird. Ich möchte die Berechtigung der These Lévi-Strauss’ für geschichtliche Überlieferungen hier unentschieden lassen, will aber seine Metapher für den Bereich der gesellschaftlichen Schuldthematisierung analog übernehmen. Viele Ethnologen haben bei Analysen der Aufarbeitung von Schuld in schriftlosen Kulturen immer wieder erstaunt berichtet, daß man die Thematisierung von Schuld vermeidet, daß man öffentliche Schuldbekenntnisse umgeht, ja 2 3
Claude Lévi-strauss, La pensée sauvage, Paris 1962, S. 309f. Lévi-Strauss (wie Anm. 2), S. 310.
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daß man vielfach von Bestrafung der an sich bekannten Täter absieht und statt dessen rituelle Opferungen von (nach unseren Begriffen) Schuldlosen vornimmt. Religion steht also dort nicht im Dienst von Kulpabilisierung, sondern im Gegenteil: Sie bietet rituelle Bollwerke gegen sie an. Ähnlich wie bei der Frage nach der Geschichtlichkeit oder Geschichtslosigkeit in den sogenannten einfachen Gesellschaften hat es auch mit Bezug auf Schuldthematisierung nicht an ethnologischen Stimmen gefehlt, die den ›Primitiven‹ die Fähigkeit abgesprochen haben, so abstrakte Konzepte wie ethische Schuld und moralische Verantwortung überhaupt zu bilden und die den Rekurs auf magische Praktiken und Konzepte von ritueller Unreinheit als bloßes Defizit konstatierten. Demgegenüber möchte ich geltend machen, daß die Vermeidung von Schuldbekenntnissen sehr wohl eine aktive institutionelle Leistung sein kann. Eine Reihe von Arbeiten zeigt denn auch, daß selbst da, wo Bekenntnisse vermieden und Dramatisierung von Schuldzuweisung umgangen wird, die Identifikation des Täters sehr wohl stattfindet und sowohl bei diesem selbst, als auch in seinem sozialen Umfeld keineswegs konfliktfrei abläuft, so daß gleichsam anomische Schuldbekenntnisse und Schuldvorwürfe entstehen. Man kann auch sagen: Die (im Kategoriensystem vieler vormoderner Gesellschaften) oft nicht einfache Unterscheidung zwischen ›Fehltritt‹ und ›Schuld‹ ist nicht Resultat eines Defizits, das einer mysteriösen »mentalité prélogique« (im Sinne des frühen Lévi-Bruhl) zuzurechnen wäre, sondern Ergebnis struktursichernder Vorkehrungen. Der problematische Charakter zumindest von öffentlichen Schuldvorwürfen oder Schuldbekenntnissen ist soziologisch einigermaßen plausibel. Jede dramatische Enthüllung von Verbrechen und Übertretungen von Normen führt zunächst einmal zur Erschütterung des Glaubens an die Gültigkeit des Geltenden. Dabei spielt es für die Erfahrung der Verunsicherung zunächst keine allzu große Rolle, ob man diese Kontingenz der Normen der Bosheit oder der Schwachheit der Menschen verdankt. Allenfalls könnte man ja hoffen, mit der Bosheit schon eher fertig zu werden als mit der ›faiblesse‹. Auch diese durch massenhafte Sozialdisziplinierung unter Kontrolle zu bringen, entspringt eher neuzeitlichen Vorstellungen und weithin uneingelösten Versprechungen. Daß Fehltritt und Verbrechen hinsichtlich der objektiven Katastrophen, die sie (im Zusammenhang einfacher Strukturen zumindest) auslösen können, gleich gefährlich sind, ist ohnehin naheliegend. Die berühmte These Durkheims, welche die Funktionalität der Verbrechen aus der durch sie ausgelösten normverstärkenden Empörung über die Tat und die integrierende Wirkung der Strafriten ableitet, ist von daher zu relativieren4: Gerade in Gesellschaften ohne Zentralinstanz bleibt die integrative Wirkung von Strafen oder von Entrüstung über Fehltritte höchst prekär (wir kommen darauf zu4
Vgl. Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. von R. König, Neuwied 1961, S. 155f.
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rück). Abweichung ist an sich schon problematisch. Ihre Thematisierung wiederholt, dramatisiert und steigert den Aufwand der »kontrafaktischen Stabilisierung« (Luhmann). Das gilt jedenfalls besonders in den Fällen, wo die handlungsleitenden Regeln in geringer Distanz zu den Handlungen selbst stehen. Und das trifft auf der Ebene der Gesellschaft vor allem für die Gesellschaftstypen zu, die nicht über Schrift, nicht über autoritätsgestützte neutrale Instanzen verfügen. Aber selbst in Gesellschaften, in denen solche Institutionen an sich existieren, wirken sie sich nicht in allen Gruppen aus. In modernen Ehen beispielsweise führt schon die Th em a ti s i er un g von Schuld oder Versagen zu oft gruppensprengenden Konflikten. Auch in diesem Kontext sind, wie unsere eigenen empirischen Untersuchungen5 belegen, Unterscheidungen zwischen Fehltritten, Schuld und Charakterfehlern in Interaktionen im Nahbereich nicht leicht auseinanderzuhalten. Das Problem entspringt aus der Thematisierung als solcher. Daß man jemandem vorwirft, er rieche aus dem Mund, löst oft die gleiche Entrüstung aus, wie wenn man ihn kleptoman schilt oder ihm mangelnde Rücksicht vorhält. Seit den Arbeiten von Wilbert E. Moore und Melvin M. Tumin über die ›Social Functions of Ignorance‹6 und Heinrich Popitz ist in der Soziologie denn auch das Bewußtsein für die Abhängigkeit vieler Normen vom Schutz durch Latenz der Übertretungen (welcher Art auch immer) geschärft worden. Daß dies ein nicht erst von der Soziologie entdecktes Wissen war, hat die Soziologie ihrerseits weitgehend ignoriert. Und natürlich reicht es auch nicht, daß man etwas nicht weiß, man darf auch nicht wissen, daß man es nicht weiß.7 Das Interesse bestimmter Institutionen an Latenzschutz kann massiv in Widerspruch geraten zu öffentlichen Schuldbekundungen. Das gilt für weltliche wie für kirchliche Institutionen, für Privates und nicht ganz so Privates. Ein sehr eindrucksvolles (und berühmtes) Beispiel für eine heroische Anstrengung, die Dignität des geistlichen Standes gegen die eigene Verderbtheit der Sitten durch deren Geheimhaltung zu sichern, findet sich in den Memoiren des Cardinal de Retz. Er berichtet über seine Reflexionen, wie er sich als Erzbischof-Koadjutor von Paris angemessen verhalten solle. Sein Onkel, dem 5
6
7
Vgl. hierzu: Alois Hahn, Konsensfiktionen in Kleingruppen. Dargestellt am Beispiel von jungen Ehen, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien, Opladen 1983, S. 210–232. Wilbert E. Moore / Melvin M. Tumin, Some Social Functions of Ignorance, in: American Sociological Review 14 (1949), S. 778–795, ein »seminal text«, an den sich eine lange soziologische Debatte angeschlossen hat. Speziell unter dem Aspekt des Schutzes der Norm vor Korrosion durch das Wissen häufiger Abweichung vgl., Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens: Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968. Daran hat Luhmann die Soziologie wieder erinnert und sich dabei auf Pierre Nicole bezogen (auf dessen Essais de morale von 1671), vgl. Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 184.
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er auf den erzbischöflichen Stuhl nachfolgen soll, hat durch seinen sittenlosen Lebenswandel das Amt in Verruf gebracht. So sieht es Retz jedenfalls. Dabei realisiert er vermutlich nicht, daß auch hier historische Veränderungen moralischer Sensibilitäten im Spiel sind: Für den Onkel mochten sexuelle Verstöße noch bloße ›Fehltritte‹, Kavaliersdelikte, sein. Aber mit der Einschärfung gegenreformatorischer Moral ins allgemeine Bewußtsein in Frankreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts sind aus Fehltritten Skandale geworden. Retz zumindest weiß sehr genau, daß nur ein würdiges und frommes Dasein den Ruf des Amtes wieder herstellen könnte. Er weiß aber genau so gut, daß sein eigener Charakter ihn daran hindern wird, sittenstreng zu leben. Was tun? Wenn man schon nicht ohne Schuld leben kann, so gilt es doch wenigstens, den Skandal zu vermeiden. Es kommt also alles darauf an, den E i nd r uc k der Heiligmäßigkeit der Sitten zu vermitteln, wenn schon die Daseinsführung selbst sündhaft ist. Das besagt aus der Perspektive der Moral zwar, daß man der Sünde der Unzucht (um die handelt es sich hier vor allem) noch die der Heuchelei und der Lüge hinzufügt, also alles noch schlimmer macht, aus dem Blickwinkel der Sicherung des Respekts vor den Institutionen heißt das aber, daß man sie vor Spott und Hohn rettet, was selbstredend in hohem Maße moralisch verdienstlich und natürlich unter dem Aspekt der politischen Tugend tadellos ist: Je trouvais l’archevêché de Paris dégradé, à l’égard du monde, par les bassesses de mon oncle, et désolé, à l’égard de Dieu, par sa négligence et par son incapacité. Je prévoyais des oppositions infinies à son rétablissement; et je n’étais pas si aveuglé, que je ne connusse que la plus grande et la plus insurmontable était dans moi-même. Je n’ignorais pas de quelle nécessité est la règle de mœurs à un évêque. Je sentais que le désordre scandaleux de ceux de mon oncle me l’imposait encore plus étroite et plus indispensable qu’aux autres; et je sentais, en même temps, que je n’en étais pas capable, et que tous les obstacles et de conscience et de gloire que j’opposerais au dérèglement ne serait que de digues fort mal assurées. Je pris, après six jours de réflexion, le parti de faire le mal par dessein, ce qui est sans comparaison le plus criminel devant Dieu, mais ce qui est sans doute le plus sage devant le monde: et parce qu’en le faisant ainsi l’on y met toujours des préalables, qui en couvrent une partie; et parce que l’on évite, par ce moyen, le plus dangereux ridicule qui se puisse rencontrer dans notre profession, qui est de mêler à contretemps le péché dans la dévotion.8
Das Projekt des (nachmaligen) Kardinals besteht also darin, sich nicht zu spontanen Fehltritten hinreißen zu lassen, sondern sexuelle Handlungen zu planen und vorzubereiten, damit sexuelle Lust nicht in rituell unpassenden Situationen zu Fehltritten führen kann, wie das beim Onkel leider nur allzu häufig ›passiert‹ war. Das mittelalterliche Ritual wurde möglicherweise nicht durch unwürdige Szenen gestört,9 für Retz und seine Zeitgenossen ist das aber 8
Cardinal de Retz, Œuvres, ed. M.-T. Hipp / M. Pernot, Paris 1984, S. 172f.
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anders. Im ›Dienst‹ und das heißt in allen Situationen öffentlicher Sichtbarkeit hat man sich wie bei der Messe selbst zu verhalten. Gerade weil man sexuelle Verstöße nun nicht mehr als bloße Fehltritte behandelt, kann Retz auch nicht mehr mit der Diskretion der zufälligen Zeugen rechnen. Er muß eigene Geheimhaltung an die Stelle fremder Diskretion setzen. Hohe Ämter sind oft nicht nur mit großen Privilegien, sondern auch mit erheblichen Freiheiten verknüpft. Die real zumal mit Herrschaftspositionen gebotenen Freiheitsspielräume können aber in bestimmten Gesellschaften so drastisch über den sozial tolerablen und kontrollierbaren liegen, daß bereits der Hinweis auf ihr Bestehen strukturgefährdend ist. Öffentliche Sichtbarkeit nicht nur von Verbrechen, sondern schon von bloßen Zügellosigkeiten und ›Fauxpas‹ haben aber unvermeidlich den Charakter von Kontingenzanzeigern. Die Übertretung als solche, aber besonders der ›Grands‹ macht eben auf das Prekäre der Strukturen aufmerksam. Kann man schon nicht verhindern, daß Leute sich bestimmte ›Freiheiten‹ herausnehmen – was natürlich allemal das Beste wäre – muß man es wenigstens verbergen. Friedrich H. Tenbruck hat gezeigt, daß Geschichtlichkeit im eigentlichen Sinne erst mit der Existenz von Herrschaftsinstitutionen entstehen kann, weil erst in dieser Lage kontingente Entscheidungen möglich werden, die das Ganze eines strukturellen Zusammenhangs zur Disposition stellen. Aber das heißt nicht, daß reale Gefährdungen struktureller Gegebenheiten und auch entsprechende Ängste bei fehlender Zentralinstanz nicht mit dem abweichenden Verhalten beliebiger einzelner auftauchen. Andererseits bleibt selbst noch in frühen Hochkulturen die Selbstthematisierung der Herrscher als Dramatisierung ihrer Freiheit prekär. Zwar entsprechen den größeren Freiheitsspielräumen, wie sie Herrschaftspositionen eröffnen, ausgeprägte Biographisierungschancen. Die Berichte, Chroniken usw., in denen das Handeln der Könige als Tat der Freiheit beschrieben werden, geben hierfür reichlich Zeugnis ab. Allerdings ist die Dramatisierung der Kontingenz in Bezug auf das herrschaftliche Verfügungszentrum nicht ohne Probleme. Was aus der Perspektive des Königs als heroische Tat und individualisierende Realisierung von Freiheit erscheint oder eben bloß als ein Fehltritt, eine kleine Unbeherrschtheit, ist aus der Sichtweise der übrigen Mitglieder der Gesellschaft Erinnerung an Unsicherheit und Bedrohung, oder besser gesagt: sie wäre es, wenn man davon erführe. Die Freiheit des Königs stellt insofern stets eine ängstigende Gefahr dar. Wenn sie dennoch dargestellt wird, wenn also nicht die wirkliche Freiheit des Herrschers verhüllt wird, z.B. dadurch, daß sie als bloße Vollstreckung göttlichen Auftrags erscheint, so wird sie doch typischerweise vor dem Horizont der Bindung auch des Königs an das Recht oder an Gottes Gebot geschildert. Eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang die einschlägigen Texte des Alten Testaments. Sie lassen einerseits keinen Zweifel an der fürchterlichen Frei9
Vgl. hierzu den Aufsatz von Guy Marchal in diesem Band.
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heit der Könige. Andererseits aber wird das Handeln der Herrscher begleitet und ›aufgehoben‹ durch die Verläßlichkeit Gottes, dessen Sanktionen der Willkür der Mächtigen eine Grenze setzen. Freiheit der Könige erscheint somit nie als bloße Kontingenz, sondern als Kampf um Selbstauszeichnung durch Tugend. Versagen ist zwar immer möglich, aber selbst bereits durch einen transzendenten Rahmen ›eingefriedet‹. Immer aber gilt, daß gerade weil Könige sich ungestraft Fehltritte leisten könnten, das Volk zumindest glauben kann, daß Gott sie bemerkt und ahndet. Insofern handelt es sich bei Davids Ehebruch eben nicht nur um eine bedenkliche Schwäche. Die Untertanen sind bisweilen gezwungen, Verbrechen der Herrschenden (wenn sie davon überhaupt etwas erfahren) wie Fehltritte zu behandeln. Gott aber wird selbst bloße Fehltritte der Großen wie Verbrechen ahnden müssen, damit sich zumindest auf der ›ideologischen‹ Ebene ein Ausgleich herstellt. Öffentliche Thematisierung von Ruhm und Schuld bleiben insofern stets ambivalent in Bezug auf ihre soziale Akzeptabilität: Zwar mag im einen Falle die Empörung im Sinne der Argumente Durkheims zur rituellen Wiederherstellung der verletzten Ordnung führen und im anderen Falle die heroische Tat als supererogatorische Leistung dargestellt werden, als Hinweis auf andere Möglichkeiten enthüllen sie aber beide das Riskante aller sozialen Ordnung. Öffentliche Schuldbekenntnisse oder Anklagen haben, wenn sie nicht rein rituell und ohne Verweis auf konkrete einzelne Taten erfolgen (wie das z.B. im allgemeinen Sündenbekenntnis der Gemeinde im Gottesdienst oder im Confiteor geschieht: quia peccavi verbis, operibus et cogitationibus), überall die unabweisbare Konsequenz, zur Strafe aufzufordern. Strafe und Konfession hängen insofern tatsächlich – wie Durkheim es beschrieben hat – eng zusammen. Aber bei fehlender Zentralinstanz ergeben sich eben hier die Probleme. Fast immer gilt – und jedenfalls trifft das auf Kapitalstrafen zu –, daß Strafhandlung und Verbrechen eine große Ähnlichkeit aufweisen. Für alle einfachen Gesellschaften und für Gruppen in modernen Gesellschaften, die ihre inneren Angelegenheiten unter sich ausmachen müssen, also zur Lösung ihrer Probleme erst dann auf übergeordnete Instanzen zurückgreifen können, wenn sie sich als Gemeinschaften bereits aufgegeben haben, ist mit jeder Dramatisierung von Schuld folglich der virtuelle Anfang eines Rachezyklus gesetzt. Die hier gegebenen Zusammenhänge sind besonders eindringlich von René Girard am Beispiel der Chuchki analysiert worden, so wie sie Lowie in ›Primitive Society‹ geschildert hatte. Bei den Chuchki bieten demnach die Angehörigen der Gruppe eines Mörders oder Totschlägers (A) unmittelbar im Anschluß an die Tat der Gruppe des Ermordeten (B) als Sühne das Opfer eines Mitglieds der eigenen Gruppe (A) an, das dann von seiner eigenen Gruppe ( A) getötet wird. Denn wenn die Gruppe des Ermordeten (B) die Tötung vollzöge, wäre die Gruppe (A) gezwungen, diesen zweiten Mord zu rächen. Was
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aus der Perspektive von B Antwort auf eine frühere Tat – also Strafe – wäre, wäre aus der Sicht von A ein erneutes Verbrechen auf das mit Strafe reagiert werden müßte. Um den Zusammenhang von Opfer und Schuld systematisch zu kaschieren, opfern die Chuchki niemals den Mörder selbst. »Ce n’est pas au coupable qu’on s’intéresse le plus mais au victimes non vengées; c’est d’elles que vient le péril le plus immédiat; il faut donner à ces victimes une satisfaction strictement mesurée, celle qui apaisera leur désir de vengeance sans l’allumer ailleurs. Il ne s’agit pas de faire légiférer au sujet du bien et du mal, il ne s’agit pas de respecter une justice abstraite, il s’agit de préserver la sécurité du groupe en coupant court à la vengeance …«10 Die gleiche Situation, wenn natürlich auch nicht für Bluttaten, ergibt sich in der Sphäre der Schuld jenseits physischer Gewalt auch in modernen Gesellschaften innerhalb sozialer Gruppen, die zur Regelung ihrer Konflikte nicht auf äußere Agenten – wie etwa den Staat – zurückgreifen können, ohne sich selbst aufzugeben. Auch hier würden Dramatisierungen der Schuld vor interner Öffentlichkeit den »cycle de vengeance« in Gang setzen oder – um ein weniger pathetisches Wort zu benutzen und Paul Watzlawick11 zu zitieren: ›Interpunktionsprobleme‹ heraufbeschwören. Weil die Strafe der zu sühnenden Tat zu ähnlich ist, läßt sich bald nicht mehr zwischen beiden unterscheiden. Jeder schiebt dem anderen sein »Du hast angefangen« in die Schuhe. In Gesellschaften oder Gruppen ohne überlegene Zentralgewalt, die in der Tat in der Lage ist, das Legitimitätsmonopol physischer Gewaltausübung oder unbestreitbarer Parteiüberlegenheit (also Neutralität) durchzusetzen, ist der Verzicht auf Thematisierung von Schuld folglich oft eine wesentliche Voraussetzung für Frieden. Das, worauf es unter solchen Umständen zur Erhaltung des Friedens ankommt, ist rituelle Ablenkung vom Schuldigen. In den zahlreichen Fällen, in denen sogenannte primitive Gesellschaften das praktizieren, handelt es sich also nicht um Unfähigkeit zur Erfassung abstrakter Schuldbegriffe, sondern um sozial aktive Verschiebung der Aufmerksamkeit auf Ersatzobjekte zur Unterbrechung des Rachezyklus: »Nous nous imaginons toujours que la différence décisive entre le primitif et le civilisé consiste en une certaine impuissance du primitif à identifier le coupable et à respecter le principe de la culpabilité. C’est sur ce point que nous nous mystifions nous-mêmes. Si le primitif paraît se détourner du coupable avec une obstination qui passe à nos yeux pour de la stupidité ou de la perversité, c’est parce qu’il redoute de nourrir la vengeance.«12 Girard hat diese Zusammenhänge vor allem im Kontext 10 11
12
René Girard, La violence et le sacré, Paris 1972, S. 37. Vgl. Paul Watzlawick / Janet H. Beavin / Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 4. unv. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien 1974, S. 56– 61. Girard (wie Anm. 10), S. 38.
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einer Ökonomie der Gewalt analysiert. So weist er etwa darauf hin, daß die Erzählung von Kain und Abel belege, daß die Gefährlichkeit vom Ackerbauern Kain ausgeht, dessen Unfriedlichkeit damit zusammenhänge, daß er kein Blut vergießt (er opfert Feldfrüchte), im Gegensatz zu seinem Bruder Abel, der friedlich sei, weil er tötet (als Opferer von Lämmern). Das Opfer (im Sinne von sacrificium) erscheint deshalb bei Girard als Gewalt, die keine Rache auslöst.13 Für unsere theoretischen Zwecke läßt sich dieser Ansatz indessen generalisieren: nicht nur physische Gewalt (diese freilich in zugespitztem Sinne) löst Rachezyklen aus, sondern virtuell jede Dramatisierung von Schuld mit anschließender Vergeltung (wobei die Besonderheit von Gewalt natürlich darin zu sehen ist, daß auch ursprünglich nicht gewaltsame Formen von Schuld und Ahndung zu Gewaltsamkeiten führen können). Dramatisierung von Schuld durch Bekenntnisse ist also mit Frieden nur vereinbar, wenn es ›Unterbrecher‹ dieses erwähnten Zyklus gibt. Wer oder was aber käme als ›Unterbrecher‹ in diesem Sinne in Frage? In Gesellschaften ohne Zentralgewalt nimmt das Opfer diesen Platz ein. Aber seine Unterbrecherfunktion bleibt gleichwohl prekär. Die Ablenkung kann mißglücken, weil die Opfer (im Sinne von victima), die geopfert werden (im Sinne von sacrificium) nicht als angemessen erscheinen (das Lamm ersetzt den Isaak nicht: Die Ähnlichkeit zwischen dem ›eigentlich‹ gemeinten Schuldigen und dem Sündenbock ist zu gering) oder umgekehrt, weil die rituelle Immunisierung mißlingt: Die Gruppe, deren Mitglied geopfert wird, empfindet diese Opferung als Rache (die Ähnlichkeit zwischen dem Opfer und dem eigentlich gemeinten Schuldigen ist zu groß). Eine erheblich wirksamere Unterbrechung des Rachezyklus ergibt sich erst mit der Entstehung von Zentralgewalten. In dem Maße, in dem sie tatsächlich die Anwendung physischer Gewalt monopolisieren können, etablieren sie sich als der Rache entzogene Rächer. Das Prinzip ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ wäre für jede Gesellschaft ohne Staat eine ernsthafte Bedrohung für das Überleben der Gruppe. Erst in zumindest rudimentär ausgebildeten staatlich verfaßten Gesellschaften wird es möglich, ohne Gefahr für die Gruppe Schuld öffentlich zu bekennen und nach dem Prinzip der Gleichgewichtigkeit von Schuld und Bestrafung zu verfahren. Es ist deshalb nicht zufällig, daß die eigentliche historische Stunde für Geständnisse als Dramatisierung der Schuld und Historie als Dramatisierung des Ruhms mit der Entstehung von Hochkulturen zusammenfällt. Staatlich administrierte Gerechtigkeit wird dann die institutionelle Voraussetzung für strukturkompatible Thematisierung von Schuld. Das Opfer (im Sinne von sacrificium) wird – jedenfalls prinzipiell – ersetzbar durch das Gericht. Die Sprengkraft, die aller Ethisierung von Schuld innewohnt, wird erst in Hochkulturen zähmbar. »Si notre système nous paraît plus rationnel c’est, en vérité, parce qu’il est plus strictement conforme 13
Girard (wie Anm.10), S.26: »… le sacrifice est une violence sans risque de vengeance …«
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au principe de vengeance. L’insistance sur le châtiment du coupable n’a pas d’autre sens. Au lieu de travailler à empêcher la vengeance, à la modérer, à l’éluder, ou à la détourner sur un but secondaire, comme tous les procédés proprement religieux, le système judiciaire r a ti on a l i s e la vengeance … Ne représentant aucun groupe particulier, n’étant rien d’autre qu’elle-même, l’autorité judiciaire ne relève de personne en particulier, elle est donc au service de tous et tous s’inclinent devant ses décisions. Seul le système judiciaire n’hésite jamais à frapper la violence en plein cœur parce qu’il possède sur la vengeance un monopole absolu. Grâce à ce monopole, il réussit, normalement, à étouffer la vengeance, au lieu de l’exaspérer, au lieu de l’étendre et de la multiplier, comme le ferait le même type de conduite dans une société primitive. Le système judiciaire et le sacrifice ont donc en fin de compte la même fonction mais le système judiciaire est infiniment plus efficace. Il ne peut exister qu’associé à un pouvoir vraiment fort.«14 Gewiß sind die Verhältnisse nicht in allen akephalen Gesellschaften so, wie bei den von Lowie beschriebenen. Immerhin aber setzt das Fehlen von Zentralinstanzen in jedem Fall Grenzen der Unterscheidbarkeit von Fehltritt und Verbrechen. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet die altisländische Gesellschaft.15 Auch sie war eine Gesellschaft ohne staatliche Zentralinstanzen oder effektive Herrschaftsinstitutionen. Sie kennt zwar den Unterschied zwischen bloßer Rache (z.B. als Fehde zwischen der Sippe eines Mörders und der des Täters) und rechtlicher Verfolgung eines Schuldigen. In beiden Fällen aber sind Gruppensolidaritäten involviert. Diese aber zwingen nicht nur Verwandte zur gemeinschaftlichen Rache, sondern führen umgekehrt auch dazu, daß der Ehrverlust durch zu lange aufgeschobene Revanche (oder den gänzlichen Verzicht auf sie) und das Risiko, seine Sippe durch eigene Fehltritte in lebensgefährliche Abenteuer zu verwickeln, zu komplexen Abwägungen führen, z.B. über die Entscheidung, ob man zu ›rechtlicher‹ Verfolgung oder zur Fehde schreiten soll. »Feuding norms departed from legal rules in one key respect. In feud … you were not required to kill the person who had wronged you; his brother, cousin, uncle, son, father, or even close friends could serve just as well. This principle of group liability did much to constrain wild revenge. If you could get killed for your uncle’s jokes or your cousin’s womanizing, then you had a very keen interest in your uncle’s sense of humor and your cousin’s sex life. You policed those with whom the other side was likely to lump you. Revenge was never properly an individual matter; people consulted with their kin and friends before taking it, thus socializing the decision making process … Kin and others would let you know if you were supersensitive, and they 14 15
Girard (wie Anm. 10), S. 38f. Vgl. hierzu generell William Ian Miller, Bloodtaking and Peacemaking, Chicago 1990 und die klassische ältere Arbeit von Andreas Heusler, Das Strafrecht der Islandsagas, Leipzig 1911.
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would goad you to your duty if you were not sensitive enough.«16 Auch hier also findet sich bei Fehden das Absehen von individueller Schuld, die bei einer durch das Thing zu sanktionierenden rechtlichen Strafe sehr wohl von Bedeutung ist. Auch hier findet sich die Einsicht, daß ein bloßer Fehltritt wie ein Verbrechen wirken kann und entsprechende blutige Racheaktionen auslösen kann. Auch hier findet sich folglich das Bestreben, Überreaktionen zu vermeiden, also bestimmte Verfehlungen von alter ego bloß als Fehltritte zu behandeln, ihren virtuell beleidigenden Charakter zu übersehen. Auch hier liegt der Grund für die genannten Vorkehrungen im Fehlen von sippenunabhängigen Zentralinstanzen der Judikative und der Strafverfolgung. Nur diese nämlich könnten definitiv zwischen Fehltritt und Verbrechen unterscheiden. Sowohl im Fall der Tschuktschen als auch bei den Altisländern handelt es sich um Gesellschaften ohne solche Zentralinstanzen. Aber auch dort, wo solche nur schwach ausgebildet sind, wie in den Feudalgesellschaften des europäischen Mittelalters, ist mit ähnlichen Verhältnissen zu rechnen. Insofern ist – und darin wäre Girard zu ergänzen – zwischen Gesellschaften mit schwachen und solchen mit starken Zentren zu differenzieren. In feudalen Höfischen Gesellschaften und den absolutistischen, wie sie Norbert Elias dargestellt hat, ist das Ausmaß der faktischen Toleranz gegenüber privater Gewalt daher höchst verschieden. Die feudalen Höfe erreichen niemals die vollständige Monopolisierung der legitimen physischen Gewaltsamkeit, die sich erst bei völliger ›Entwaffnung‹ der Feudaladligen ergäbe. Der feudale Herrscher kann diese Entwaffnung auch nicht wünschen; denn er bleibt paradoxerweise auch von der kriegerischen Macht, der Gewaltfähigkeit seiner Großvasallen abhängig. Wären sie machtlos, könnte er ja nicht mehr auf ihre Truppen zurückgreifen. Die Macht der Vasallen besteht eben immer auch in der Verweigerung ihres Einsatzes für den Lehnsherren. (Man denke etwa an die Auseinandersetzungen zwischen Barbarossa und Heinrich dem Löwen) Eben deshalb können die Vasallen bei aller zeremoniellen Unterwerfung unter den König mit ihm rivalisieren. Das zwingt den König dann u. U., selbst gravierende Beleidigungen dieser Adligen als bloße Fehltritte zu behandeln, die nicht ihn, sondern allenfalls sie selbst lächerlich machen. Das in diesem Band von Werner Röcke zitierte Beispiel des Seneschalls Keie im arthurischen Roman ließe sich als Beleg für diese These lesen. Nur durch die Uminterpretation von Beleidigungen in mißglückte Scherze, also durch Nicht-Thematisierung ihres frevlerischen Charakters, können aufwendige Sanktionen vermieden werden. Statt zu bestrafen, lacht man. Das wirkt funktional äquivalent wie Geheimhaltung: Verborgen bleibt nicht der Fehltritt selbst, sondern daß es sich eigentlich um etwas ganz anderes handelt, nämlich um Majestätsbeleidigung oder doch um gefährliche Störung der Hofordnung. Man braucht sich nur 16
William Ian Miller, In Defense of Revenge, in: Barbara Hanawalt / David Wallace (Hgg.), Medieval Crime and Social Control. Medieval Cultures, V. 16, Minneapolis/ London 1999, S. 70–89, hier 76.
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vorzustellen, Keie hätte seine ›Späße‹ am Hof Ludwigs XIV. getrieben, um zu sehen, wie sich starke von schwachen Zentren innerhalb höfischer Kontexte unterscheiden.
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Sündenbekenntnisse in Primitiven Gesellschaften
Nun läßt sich – so scheint es jedenfalls – ein sehr starker Einwand gegen diese These von der Abhängigkeit von Bekenntnis, Geständnis und Dramatisierung der Schuld von hochkultureller Monopolisierung der Gewalt formulieren. Einer der gewichtigsten könnte darin liegen, daß die Beichte sich ja in zahlreichen Gesellschaften findet, für die diese Voraussetzung keinesfalls gegeben ist. Sie ist ja auch keine Spezialität des europäischen Kulturkreises. Auch viele einfache Kulturen verfügen über sie, wie vor allem Raffaele Pettazoni in seinem monumentalen Werk über Sündenbekenntnisse gezeigt hat. Diese aber sind nicht in jedem Falle Anlaß zur autobiographischen Selbstreflexion oder zu ethischen Erwägungen. Auch ein eigentliches Schuldbewußtsein, Reue oder Besserungsabsichten müssen nicht mit der Beichte verbunden sein. In archaischen Religionen scheint dies im Gegenteil eher die Ausnahme zu sein. Nach Pettazoni17 findet sich die Beichte in einfachen Gesellschaften einerseits sehr häufig in therapeutischen Situationen: Durch Beichte wird ein durch Tabuverletzungen bedingtes Übel beseitigt, andererseits ganz generell im Kontext von Reinigungsriten. Sünden müssen wie Schmutz weggewaschen werden. Folglich wird das Bekenntnis oft begleitet von Waschungen, bisweilen werden auch Schuldbekenntnisse als Form des ›Ausspeiens‹ aufgefaßt: Die 17
Raffaele Pettazoni, La confessione dei peccati, 3 Bde., Bologna 1929: »Il peccato, che è l’oggetto proprio della confessione, è anche l’oggetto delle pratiche eliminatorie concomitanti. Ciò che è oggetto di tali pratiche, ciò que può essere distrutto col fuoco, cancellato con l’acqua, rigettato col vomito, espulso insieme col sangue, ecc., è dunque concepito come qualche cosa avente una consistenza sostanziale; in altri termini, è il male sentito come esperienza dolorosa ed obiettivato nella nozione di una forza-sostanza che la produce. D’altra parte il peccato è un’ azione commessa: per i primitivi un’azione generatrice di male. Se il peccato nel processo confessionale-eliminatorio è trattato allo stesso modo di una sostanza maligna, vuol dire che qui è in gioco non il momento soggettivo dell’atto peccaminoso, cioè la vol ont à del soggetto, bensi il momento oggettivo, ossia la real tà del fatto compiuto – dell’azione commessa –, realtà che è concepita come male appunto perchè è sperimentata nei suoi effetti dolorosi.« (I, S. 53) »Talvolta questo male che si genera è esso la prima rivelazione sintomatica di un peccato commesso, cioè di un peccato che l’uomo non sapeva di avere commesso, ma che pur deve avere commesso, se ora ne soffre le conseguenze. Chi non è esposto … a violare pur contro ogni sua intenzione e consapevolezza, qualcuno dei numerosi tabu componenti la trama spesso complicatissima entre la quale si svolge la vita della tribù? … La nozione primitiva del peccato comporta anche l’idea di peccato involontario e commesso senza saperlo: idea che a noi sembra assurda, mentre è spiegabile in base alla nozione primitiva del male come forza-sostanza, come fluido maligno operante automaticamente, liberato e messo in gioco dall’atto peccaminoso.« (I, S. 54).
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Beichte wird dann kombiniert mit rituellem Erbrechen, das durch eigens zu diesem Zweck verabreichte Emetica ausgelöst wird. Der Begriff der ›Sünde‹ darf dabei nicht zu streng im Sinne absichtlicher Übertretung gesehen werden. Häufig sind es auch unbeabsichtigte, ja völlig unbewußte Verletzungen von Tabus, Fehltritte, die eine individuell oder kollektiv bedrohliche oder verderbliche Lage erzeugen, sei es weil eine Gottheit beleidigt wurde oder auch weil durch eine Art magischer Kausalität die Übertretung direkt Krankheit oder Übel produziert. Das Bekenntnis hat deshalb nicht eigentlich Bezug zur Erinnerung. Manchmal werden gleichsam vorsorglich alle möglichen ›Sünden‹ gebeichtet (so z.B. bei den Walkulwe, die im Falle bestimmter Krankheiten ganze Sündenlisten rezitieren). Auf diese Weise wird gesichert, daß keine eventuell wirksame Schädigung übersehen wird. Das Bekenntnis wirkt als Purgativ, das sich des Wortzaubers bedient. Die verbale Beschwörung der wirklichen oder möglichen Übertretung treibt deren krankmachende Folgen geradezu physisch aus dem Leib heraus. Das Übel selbst wird ebenfalls wie eine Substanz oder ein Fluidum aufgefaßt, das durch den Verstoß gegen eine Regel mechanisch erzeugt wird. Der Begriff der Sünde wird also ebenso magisch konzipiert wie der der Reinigung. Die Worte des Bekenntnisses haben dieselbe Funktion wie das Erbrechen oder die Waschung: Sie eliminieren die im Körper materialisierte Sünde gleichsam physisch oder, besser gesagt, sie pressen es von innen nach außen. So muß bei den Ewe die gleiche ›Sünde‹ sieben mal hintereinander aufgerufen werden, um den Expulsionseffekt zu erzielen. Die Beschwörung der Sünde durch genau feststehende Worte, die sie dann vertreiben können, braucht in manchen Fällen nicht einmal durch den Sünder selbst zu erfolgen. Bei den Algonkin z.B. reicht es auch, wenn ein anderer das ›Bekenntnis‹ ablegt. Es ist gerade so, als ob die Sünde hören könnte und verschwinden müßte, wenn sie beim Namen genannt wird. Der Wortzauber kann andere Formen des Zaubers ersetzen oder sie begleiten. Oft auch treten andere Austreibungsriten an die Stelle der Bekenntnisse. Es gibt also zwar ›Bekenntnisse‹ in einfachen Gesellschaften, aber nicht eigentlich ethisierte Konzepte von Schuld. Man könnte sagen, daß die in diesen Gesellschaften vorfindbaren Formen der ›Beichte‹ geradezu eine Dramatisierung der Schuld als verantwortungspflichtige Tat verhindern. Insofern zeigt das Material von Pettazoni, das zunächst wie eine Widerlegung der These von der Verknüpfung von Schuldbekenntnis und hochkultureller Organisation von Gesellschaft erschien, eher wie ein weiterer Beleg. Allerdings gilt es gegenüber Pettazoni eine wichtige Einschränkung zu machen. Pettazoni interpretiert das von ihm vorgelegte kulturvergleichende Material eher als Beweis für die Universalität rein ritueller Bewältigung von Schuld. Die Universalität der Bekenntnisriten ist dafür kein Gegenbeweis. Daß nun aber die ›froideur‹ der hier analysierten Gesellschaften in Bezug auf die Thematisierung indivi-
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dueller Schuld auf eigentümlichen institutionellen Leistungen basiert und gerade nicht auf Kompetenzdefiziten, das wird bei Pettazoni nicht sichtbar.
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Geheimnis als Enthüllungsgenerator
Unabhängig von herrschaftlichen Unterbrechungen des Rachezyklus wirkt natürlich die Möglichkeit, Schuldbekenntnisse geheim abzulegen, in die gleiche Richtung. Aber auch hier ist für die Wirksamkeit des Vertrauens in die Geheimhaltung eine Fülle von institutionellen Voraussetzungen erforderlich, die grundsätzlich wenigstens hochkulturelles Niveau sozialer Differenzierung implizieren. Typischerweise sind jedenfalls beruflich erworbene Kompetenzen nötig, in denen gleichzeitig Nähe und Distanz zum Bekennenden gesichert werden. Die eigentliche Pointe des Beichtgeheimnisses besteht eben darin, daß auf den ersten Blick einander ausschließende Techniken, nämlich Verhüllung und Enthüllung auf intime Weise miteinander verbunden sind. Nur weil ich darauf bauen kann, daß mein Schuldbekenntnis keine öffentlichen Sanktionen nach sich zieht, kann ich mir leisten, schonungslos offen über mich zu reden. Aber es geht natürlich nicht nur um die Verhinderung äußerer Sanktionen, sondern vielleicht stärker noch um die Verhinderung eines Einflusses der Bekenntnisse auf die Partner, auf die sie sich beziehen. Das aber geht nur, wenn der Konfident nicht gleichzeitig Handlungspartner ist. Eines der Probleme der modernen Ideologie der totalen Offenheit in Partnerbeziehungen hängt genau damit zusammen, daß die Beziehungen das Ausmaß an Offenheit nicht verkraften, das die Normen der Intimität gleichwohl verlangen. Gott (oder einem ebenfalls aus der normalen Interaktion ausgeblendeten Priester oder Therapeuten) könnte man gestehen, ohne daß das Bekenntnis Moment des Handlungszusammenhangs wird, auf das es sich richtet. Im religiösen Kontext gibt es nun eine Technik, die Selbstenthüllung und Geheimnis systematisch als eine ›stabilisierte Spannung‹ (Gehlen) miteinander verbindet, eben die Ohrenbeichte. In der Beichte fallen die für den modernen Zivilisationsprozeß entscheidenden Selbstdomestikationstechniken zusammen: Verhüllung und Enthüllung. Das wird insbesondere da deutlich, wo die Beichte nicht mehr nur Bericht über einzelne Taten, sondern auch sorgfältige Auslotung der eigenen Motive und Neigungen wird, und wo vor allem nicht punktuelle Wiedergabe disparater Sünden, sondern die in der Generalbeichte gegebene systematische Nachzeichnung der Gesamtbiographie erstrebt wird. Sich selbst als zeitliches Ganzes gewinnt man im Bekenntnis. Aber das Bekenntnis bleibt geheim: außer für den Beichtvater oder den geistlichen Direktor. Die Empfehlungen an das Beichtkind gehen schon seit dem 16. Jahrhundert dahin, daß die Vorbereitung auf das Geständnis zweckmäßig durch schriftliche Aufzeichnung geschieht: das Tagebuch als Beichtinstrument. Wer
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die Literatur der Puritaner untersucht, wird ebenfalls sofort die große Bedeutung des Tagebuches bemerken, und zwar sowohl als reales, aber privates, geheimzuhaltendes Dokument der Selbsterforschung als auch als fiktives Tagebuch, das dann wieder den realen Tagebüchern als Vorlage dient. Das Tagebuch wird somit zur Beichte ohne Beichtvater. Daß die moderne Psychoanalyse in dieser Hinsicht ähnlich arbeitet, liegt auf der Hand. Auch hier wird eine Form von Selbstkontrolle durch Selbstenthüllung angestrebt. Dabei ist auch hier der Analytiker-Beichtvater erforderlich, um das Geheimnis des Selbst zu lüften und aus dem Unbewußten zu heben. Zugleich aber ist die Sitzung selbst nach außen hin natürlich geheim. Das Beichtgeheimnis selbst wird nun seinerseits dadurch in seiner Glaubwürdigkeit (!)18 abgesichert, daß derjenige, der es übertritt, eine schwere Sünde begeht. Der Beichtende kann also mit dem Interesse des Beichtvaters an dessen eigenem Heil rechnen, wenn er ihm vertraut. Denn: »Das Beichtsiegel verpflichtet immer unter schwerer Sünde. 1. Es gibt keine Geringfügigkeit des Gegenstandes (parvitas materiae), 2. Eine Ausnahme gibt es nicht, selbst nicht zur Rettung des Lebens oder im Interesse der allgemeinen Wohls. Auf Fragen soll der Beichtvater eine ausweichende Antwort geben, z.B. ›Was geht das dich an?‹, ›Ich habe meine Pflicht getan.‹, oder er soll unter Anwendung einer Mentalrestriktion antworten z.B. ›Ich weiß es nicht‹. Er darf sogar eine solche Antwort bei Gericht beschwören, wenn bei einer Zeugnisverweigerung Verdacht entstehen würde. – Kann der Beichtvater eine Sünde (sc. eigene A. H.) 18
Peter von Moos weist mich zu Recht darauf hin, daß entsprechende Normen zwar seit dem Mittelalter bestünden, aber die Einhaltung des Beichtgeheimnisses historisch keinesfalls auch nur annähernd gesichert gewesen sei. Ich würde hinzufügen, daß das sicherlich nicht nur für die Geschichte, sondern auch aktuell noch gilt. Als jemand, der lange Zeit in einem katholischen Dorf gelebt hat, könnte ich Tausende von Histörchen berichten, die davon handeln, wie oft das Beichtsiegel gebrochen wurde. Beichte bei auswärtigen Geistlichen oder bei unbekannten Ordensmissionaren, die das Beichtkind persönlich gar nicht kennen, folglich auch (vermutlich) nur ein begrenztes Interesse haben könnten zu plaudern, sind schon früh als Gegenmittel ins Spiel gekommen. Ähnlich wie ja auch das Briefgeheimnis nicht zuletzt vom Desinteresse der Boten am Verrat lebt. Aber wie immer zahlreich und vorhersehbar solche Übertretungen sind: Werden sie von den Beteiligten als normal angesehen, dann zerbricht das Dispositiv. Wer – aus welchen Gründen auch immer – an Ehrlichkeit der Beichte interessiert ist, muß zumindest den Anschein der Wahrung des Siegels sichern, sonst verhält sich eben auch der Beichtende strategisch. Damit die Beichte als Enthüllungsgenerator wirksam sein kann, muß sie verhüllen, daß sie nicht verhüllt. Wenn man etwa weiß, daß im Falle von Häresie auch die Geheimnisnor m umstritten ist, dann werde ich Häresien freiwillig nicht beichten, wenn mir an der Geheimhaltung liegt (Daß meine Angst vor göttlicher Strafe so groß sein kann, daß ich bestimmte Sünden auch öffentlich beichten würde, steht auf einem anderen Blatt.) Im übrigen gilt hier wie sonst bei Normen, daß sie, um als Normen bestehen zu können, kontrafaktisch stabilisierbar sein müssen, also auch die Erfahrung des Normbruchs überstehen. Aber das gilt nicht nur für den Bruch des Beichtgeheimnisses, sondern auch für den der Ehe. Manche Normen erweisen sich als erstaunlich resistent gegen Erfahrungen von Übertretung. Vielfach reicht es ja, daß man (kontrafaktisch?) glauben kann, die ›Brüche‹ beträfen nur die anderen.
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nicht beichten, ohne daß er das Beichtsiegel verletzt, dann muß er es auslassen … Das Beichtzeugnis das der Pönitent nach der Beichte verlangt, muß man ihm immer geben, auch wenn er nicht absolviert wurde. Ist darauf gedruckt, das Beichtkind habe die Lossprechung erhalten, so darf man es nicht durchstreichen. – Bittet das Beichtkind in der Beichte darum, darf man es immer geben. Ja man muß es ihm geben, wenn aus der Verweigerung bei den Anwesenden, die sehen, daß der Pönitent nicht wie alle anderen ein Beichtzeugnis erhält, die Vermutung entsteht, er sei nicht absolviert worden.«19 Geheimnis und Verhüllung, Selbstkontrolle und Selbsterkenntnis, Verbergen und Offenbaren, Bekennen und Simulieren bzw. Dissimulieren erweisen sich also gleichsam als zwei Seiten eines Prozesses, der von religiösen, therapeutischen und politischen Zielsetzungen ergriffen und gefördert werden kann und dessen Resultate jene eigentümlichen Selbstdomestikationen sind, die die Moderne auszeichnen. Immer da, wo Freiwilligkeit der Selbstoffenbarung angestrebt wird, finden sich Kombinationen von Bekenntnis und Geheimnis. Die Beichte, aber auch die Psychoanalyse, sind als verhüllte Enthüllungen die Synthesis zwischen Selbstentblößung und Selbstverdeckung. Ursprünglich verdankt sich diese Unwahrscheinlichkeit der Kombination von Enthüllung und Verhüllung der religiösen Dramatisierung von Schuld und Bekenntnis und steht damit im Zusammenhang der institutionalisierten Kontrolle des Gewissens. Es ist aber nicht zu übersehen, daß die ursprünglich auf Schuld zentrierte Bekenntnisinstitution, je mehr sich die Schuldauffassung ethisierte und individualisierte, und zwar nicht zuletzt aufgrund der systematischen Prozesse der Rechenschaftslegung über die eigenen Handlungen, gegenüber ihrer ursprünglichen Funktion verselbständigte. Schuld wird dann zum thematischen Kern von Selbstbeschreibungen, die im Gegensatz zu an Ruhm orientierten Biographisierungen demokratisierbar sind. Das Resultat solcher an der Auseinandersetzung mit dem Gewissen gewonnenen Selbstbeschreibungen ist eine historisch wenn nicht einzigartige, so doch unwahrscheinliche Innenlenkung und Autonomisierung des Individuums, das am 19
Heribert Jone, Katholische Morallehre. Unter besonderer Berücksichtigung des Codex Iuris Canonici sowie des deutschen, österreichischen und schweizerischen Rechtes, 13. erweiterte und verbesserte Aufl., Paderborn 1949, S. 502f. Der ›Jone‹ galt über viele Jahre als das offizielle moraltheologische Handbuch für Geistliche. Der Sache nach finden sich die gleichen Bestimmungen in jedem offizielle Werk dieser Art. Vgl. z.B. in dem älteren ebenfalls über Jahrzehnte als Autorität fungierenden: Hieronymus Noldin, Summa theologiae moralis, Teil III. De Sacramentis, 11. Auflage, Innsbruck 1914, S. 491ff. (De obligatione servandi sigilli sacramentalis). Im übrigen gibt es hier nicht nur die moraltheologischen und kirchenrechtlichen Bestimmungen, sondern auch eine Fülle von eher volkstümlich erbaulicher Literatur, die dem Gläubigen am Beispiel der Helden des Beichtgeheimnisses vorführen, daß sie mit absoluter Verschwiegenheit rechnen können. Vgl. etwa Georg Michael Schuler, Die Märtyrer des Beichtsiegels, 2. Aufl., Würzburg 1892. Einen historischen Rückblick aus katholischer Perspektive versucht: Bertrand Kurtscheid, Das Beichtsiegel in seine geschichtlichen Entwicklung, Freiburg 1912.
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Leitfaden seiner Schuld zum Herrn seiner biographischen Geschichte wird. Über Schuldbekenntnisse, die in einem hier nicht nachzuzeichnenden Prozeß von tatzentrierten über motivzentrierte zu biographiezentrierten Darstellungen werden, konstituierte sich im modernen Europa ein neuer Typus von Individualität. Dabei wurde die Beichte selbst bald verzichtbar. Das Schuldbekenntnis fand andere Formen. Das läßt sich an den Puritanern, so wie Max Weber sie beschrieben hat, gut beobachten. Die Beichte als Instrument sakramentaler Sündenvergebung war abgeschafft. Daraus folgte für den Gläubigen, daß sein Leben nach dem eigenen autonomen Gewissen gesteuert werden mußte, da wiederholbare sakramentale Katharsis nicht zu erlangen war. Es läßt sich zeigen, daß in dieser Situation neue Formen der individuellen Gewissenskontrolle entwickelt werden wie z.B. das geistliche Tagebuch, das als Nachfolger der Ohrenbeichte fungiert. Einsame Selbstbesinnung tritt an die Stelle sakramentaler Gnade, Selbstkontrolle ausschließlich ethischer Art ersetzt rituelle Formen der Steuerung. Allerdings zeigen die Lebensverhältnisse der protestantischen Sekten, daß diese neuen Techniken der Selbstkontrolle durch drastische Methoden der Überwachung durch die Gemeinde ergänzt werden. Die kritische Beobachtung durch die Umgebung und die moralische Zensur und Ächtung mögen dann im Alltag das Verhalten der einzelnen wirksamer kontrollieren, als es das auf sich gestellte Gewissen tun würde. Das gilt erst recht, wenn staatliche Instanzen als verlängerter Arm solcher Überwachung durch die Gemeinde tätig werden. Die Wirklichkeit besteht eben auch hier aus Mischungen zwischen Innen- und Außenkontrollen, wobei allerdings die Sorgfalt äußerer Überwachung die Selbstüberwachung stützen und sie steigern kann, wenn Gewissen und sozialer Druck das gleiche gebieten. Für das Verständnis der europäischen Religionsgeschichte, so wie sie Max Weber präsentiert, ist nun – wie erwähnt – eine Entwicklung des Abbaus der rituellen Handlungskontrolle zugunsten ethischer Kontrollformen charakteristisch, die einer systematischen sozial institutionalisierten Form des Bekenntnisses, wie sie die Beichte darstellt, entraten können. Natürlich handelt es sich hier nicht einfach um die Unterstellung eines historischen Verlaufsschemas, sondern eher um ein idealtypisches Muster der Deutung. Ein Höhepunkt in dieser Geschichte wird für Weber bekanntlich mit dem Puritanismus erreicht, der jeder Art rein ritueller Sicherung des Heils extrem feindlich gegenübersteht. Zwar kann auch Moralität Erlösung nicht erwirken. Aber allein systematische ethische Kontrolle der Daseinsführung kann so etwas wie subjektive Gewißheit (im Sinne einer psychologisch beschreibbaren Beruhigung) der Erwähltheit erzeugen. Jede sakramentale Vermittlung der Anstaltsgnade der Kirche scheidet aus. So groß also die Differenz zwischen sakramentaler Heilsstiftung und der empfundenen certitudo salutis, die sich aus der systematischen ethischen Reglementierung des Alltagshandelns speist, auch
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sein mag, es ist gleichwohl eine bestimmte Verknüpfung von Sakrament und ethischer Anforderung, welche die von Weber beschriebene Entwicklung bedingt hat. Erst mit der systematischen Entwicklung der Unterscheidung zwischen ethischer Schuld und verantwortungspflichtiger Gesetzesübertretung im juristischen Sinne einerseits und absichtslosen Verstößen, Ritenverletzungen, Peinlichkeiten usw. andererseits sind Fehltritte eindeutig von anderen Typen der Normabweichung auseinanderzuhalten. Jede Analyse des ›Fehltritts‹ als historische Form muß also berücksichtigen, daß es sie zwar vermutlich immer und überall gegeben hat, ohne aber daß sie sich als spezielle Gestalt von Verfehlung gegenüber Schuld und anderen Arten von Missetaten hinlänglich ausdifferenziert hätte. Ähnlich ist ja auch die moralische Schuld und das gerichtlich zu ahndende Verbrechen erst spät ganz genau voneinander unterschieden worden. Selbst heute gelingt es uns nicht immer, beides sorgfältig zu entmischen. Der Ausdifferenzierung von Abweichungsformen korrespondiert die analoge Differenzierung von Sanktionsinstanzen. Dem ›Fehltritt‹ entspricht als Sanktion das, was Max Weber als Mißbilligung von Verstößen gegen Konventionen beschrieben hat, wobei die Konvention selbst als Ordnung durch die auf ihren Bruch bezogene Sanktion definiert ist.20 Entsprechend läßt sich nach Weber erst dann von Recht sprechen, wenn es Erzwingungsstäbe gibt, denen die Sicherung der Rechtsordnung als Spezialaufgabe obliegt. Für Weber sind Formen der Normübertretung ohnehin soziologisch nur durch über die Typik der Sanktionen zu bestimmen, die sie ahnden. Dabei geht er durchaus von flüssigen Übergängen aus: »In der Vergangenheit wie in der Gegenwart sind in der Realität des Alltags ›sittliche Gebote‹ im Gegensatz zu ›Rechtsgeboten‹, soziologisch betrachtet, normalerweise entweder religiös oder konventionell bedingte Maximen des Verhaltens und ist ihre Grenze gegenüber dem Recht flüssig. Es gibt kein sozial wichtiges ›sittliches‹ Gebot, welches nicht irgend einmal irgendwo ein Rechtsgebot gewesen wäre.«21 Dem wird man vielleicht zustimmen. Aber es gilt auch umgekehrt: Die Mehrzahl der vormodernen Gesellschaften verfügt gar nicht über ›Recht‹ in dem von Weber definierten Sinne, so daß man ebenso gut sagen könnte, daß alle Rechtsgebote von heute dort Konventionen waren. In Wirklichkeit aber ist es wenig sinnvoll, derart zu formulieren. Konvention und Recht können erst unterschieden werden, wenn entsprechende Ausdifferenzierungen stattge20
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Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., Tübingen 1956, S. 17: »Eine Ordnung soll heißen Konvention, wenn ihre Geltung äußerlich garantiert ist durch die Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaren Menschenkreises auf eine relativ allgemeine und praktisch fühlbare Mi ßbilligung zu stoßen; Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance physischen oder psychischen Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.« Weber (wie Anm. 20), S. 191.
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funden haben. Vorher gibt es im strengen Sinne weder Recht noch Konvention, weil es ihren Gegensatz nicht gibt. Erst nach dieser Ausdifferenzierung können manche Gesellschaften bestimmte Abweichungen sowohl als ›Fehltritte‹ behandeln als auch als Verbrechen oder nicht. Auf diesen Tatbestand bezieht sich Weber, wenn er schreibt: »… zahlreiche in der realen Welt existierende Vergesellschaftungen verzichten auf den Rechtscharakter ihrer konventionellen Ordnungen einfach deshalb, weil angenommen wird: die bloße Tatsache der sozialen Mißbilligung ihrer Verletzung mit ihren oft höchst realen indirekten Konsequenzen für den Verletzenden, werde und müsse als Sanktion genügen. Rechtsordnung und konventionelle Ordnung sind also für die Soziologie – auch ganz abgesehen von den selbstverständlichen Übergangserscheinungen – keineswegs grundsätzliche Gegensätze, da auch die Konvention teils durch psychischen, teils sogar, wenigstens indirekt, durch physischen Zwang gestützt ist. Sie scheiden sich nur in der soziologischen S tr u kt ur des Zwanges durch das Fehlen der eigens für die Handhabung der Zwangsgewalt sich bereit haltenden Menschen, des ›Zwangsapparats‹ …«22 Was Weber hier nicht erwähnt, für die hier vorgetragene Argumentation jedoch zentral ist, ist nun aber, daß erst mit Ausdifferenzierung verschiedener »Strukturen des Zwanges« auch neue Formen der Thematisierung und Ignorierung von Abweichungen möglich werden. Als Leitfaden für differenzielle Behandlung von Abweichungen kann nun in vorher undenkbarem Ausmaß das Kriterium fungieren, ob man sie als absichtliche oder unabsichtliche Handlungen auffassen kann.
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Inszenierung von Unabsichtlichkeit als funktionales Äquivalent für Geheimhaltung bzw. die Vermeidung von Schuldthematisierungen
In dem Maße, wie eine Übertretung als persönliche Schuld des Übertreters vorgeführt wird, wird auch Strafforderung unabweislich. In vielen Fällen besteht aber ein Interesse an Latenzschutz. Dieser Schutz dient sowohl der Erhaltung des Glaubens an die Gültigkeit der verletzten Norm als auch der Aufrechterhaltung der Würde des Täters. Bleibt seine Tat geheim, bleibt er selbst unangefochtenes Mitglied der Gemeinschaft. Daß er dies bleibt, kann in vielen Situationen sowohl in seinem als auch im Interesse der Gemeinschaft selber liegen. Geheimhaltung der Abweichung ist aber nur ein Mittel zu diesem Zweck. Gelingt es, die Verfehlung als bloße Fahrlässigkeit darzustellen, reduziert sich u. U. das Rachebedürfnis der Verletzten. Immerhin ist auch Fahrlässigkeit eine Form von Schuld. Sie ist vorwerfbar, wenn auch in geringerem Maße als Vorsätzlichkeit. Unabsichtlichkeit nimmt in dieser Hinsicht 22
Ebd.
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eine Art Mittelstellung ein: Sie kann gelesen werden als vollständige Entschuldigung, weil der Täter selbst beim besten Willen nicht anders hätte handeln können als er gehandelt hat, sie kann aber auch bloß eine Verminderung der Verantwortung für die Tatfolgen implizieren. Es scheint nun charakteristisch für Gesellschaften ohne Zentralinstanz (oder jedenfalls mit nur begrenzt effektiven), daß sie die Klärung von Absichtlichkeitsfragen auch für Verstöße von großer ›objektiver‹ Tragweite (wie z.B. Mord) tendenziell zu minimieren suchen, Abweichungen ohnehin stärker als Phänomen von Intergruppenbeziehungen sehen, also weniger als primär individuell (obwohl natürlich diese Dimension niemals völlig ausgeblendet werden kann). Ausgleich zwischen Gruppen wird aber in jedem Fall bei schweren Verletzungen (z.B. Blutschuld) notwendig, auch unabhängig von Absichten. Die Differenz zwischen Schuld und ›Fehltritt‹ (beides im modernen Sinne) wird sozusagen systematisch verdunkelt, und zwar sowohl in Hinsicht auf den Grad der Absichtlichkeit als auch in Hinsicht auf den Unterschied zwischen ethischer Schuld und ›bloß‹ ritueller Verletzung. Umgekehrt müssen stärker von der Autonomie der Einzelnen abhängige Gruppen gerade die individuelle Verantwortlichkeit dramatisieren. Ceteris paribus wird dies z.B. in hoch arbeitsteiligen, vorzugsweise verstädterten, Gesellschaften einerseits zur Ausbildung individualisierterer Verfahren der Verantwortungszurechnung führen, in denen der Kasuistik von Absichten (und entsprechend der Entlastung von nicht als intendiert angesehenem Verhalten von Schuldvorwürfen) größere Aufmerksamkeit geschenkt werden muß. Für Europa läßt sich dies vor allem sowohl an der religiösen als auch der rechtlichen Entwicklung der Behandlung von Intentionalität seit dem 12. Jahrhundert belegen. Charakteristisch für die religiöse Entwicklung wäre in diesem Zusammenhang etwa die Sündenlehre Abaelards. In ihr wird die Verlegung des Schwerpunktes bei der Sündenanalyse von den äußeren Handlungen auf die Intentionen besonders markant. Für sie ist Sünde nicht eigentlich an ein äußeres Tun gebunden. Vielmehr liegt deren Kern in einem intentionalen Akt, in der Zustimmung zur Sünde. Nur durch diesen Konsens entsteht eine Schuld der Seele, durch die sie sich die Verdammnis verdient, indem sie sich vor Gott schuldig macht. Diese radikale Verlegung der Sünde ins Innere kontrastiert auf massivste mit früheren Konzeptionen, in denen eine eher ›äußere‹ Schuldauffassung gängig war und in der Fehltritt und Schuld jedenfalls nicht primär über die Analyse der Intention differenziert werden konnten. Die Welt des frühen Mittelalters ist, wenn man Jacques Le Goff folgen will, eine extrovertierte Welt. Äußere Pflichten und Verfehlungen stehen im Zentrum der ethischen Aufmerksamkeit: »C’est un monde … qui se définit par des attitudes, des conduites, des gestes. Les gens ne peuvent y être jugés que sur des actes, non sur des sentiments. … Le Wehrgeld par exemple considère bien à côté des actes des acteurs mais en fonction de leur situation objective selon une classification très rudimentaire d’ailleurs: libres,
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et non libres, membres de telle ou de telle communauté nationale – non de leurs intentions.«23 Und die ›vor-abaelardische‹ kirchliche Sündenlehre paßt zu dieser Auffassung: Den als äußere Handlung aufgefaßten Sünden korrespondiert eine ebenso an der äußeren Vergeltung orientierte Buße: Die Beichte ist eine Tarifbeichte, die die Strafe in Relation zur Schwere der Tat – ohne allzu ausführliche Erforschung der Motive – festsetzt. Doch mit der Bedeutung der Intention für die Tat wird nun auch und gerade für öf fen tl i ch bekannte Akte der Kampf um ihren intentionalen Status relevant. Dabei zeigt sich aus der Perspektive der Moderne, also gewissermaßen ex eventu und ohne daß sich für einen Soziologen (jedenfalls nicht für mich) diese Entwicklung im einzelnen historisch nachzeichnen ließe, neben dem Latenzschutz durch Geheimhaltung eine stark ausgeprägte Logik der Sicherung von nicht oder nur mit großem Aufwand zu kontrollierenden Normen durch aktives Übersehen einerseits und durch Zugeständnisse von Unabsichtlichkeit andererseits. Daß diese Uminterpretation von vermutlich absichtlichen Verletzungen in Versehen und von Schuld in bloß momentane und weiterhin folgenlose Fehltritte zur Rettung von Situationen lebenswichtig sein kann, liegt auf der Hand, aber auch, daß es sich hier um unwahrscheinliche und evolutionär seltene Leistungen handelt. Vor allem Konversation als Typus von geselliger Kommunikation lebt indessen von dieser generalisierbaren Kompetenz. Bisweilen ›weiß‹ man nämlich sehr wohl, daß ein faux pas kein unbeabsichtigter Zufall ist, sondern Folge eines ›Charakterfehlers‹. Aber genau das darf man sich und den anderen nicht eingestehen, weil sonst der Abend verdorben wäre. Man bemüht sich folglich, als Unabsichtlichkeit zu interpretieren, was nach allgemeiner Kenntnis eine Bosheit ist. Die konversationelle Unterstellung von Unabsichtlichkeit wird zur kollektiven Lebenslüge, an deren Aufrechterhaltung alle Beteiligten inszenatorisch mitarbeiten. Die verbreitetste Form dieser Inszenierung heißt Höflichkeit, die etwas komplexere Takt. In beiden Fällen handelt es sich darum, daß nur die Unterstellung von Unabsichtlichkeit die ›Opfer‹ von Normverstößen, Kränkungen oder Beleidigungen in die Lage versetzt, den Aufwand und die Folgen zu vermeiden, den Sanktionen in solchen Fällen verursachen würden. Das einfachste Mittel besteht natürlich im schlichten Wegsehen oder Überhören. Oft sind raffiniertere Techniken der Uminterpretation erforderlich. Eine der häufigsten besteht darin, etwas als bloßen ›Scherz‹ zu traktieren, was möglicherweise eine keinesfalls spaßig gemeinte Aggression war. Hier wird dann zwar nicht 23
Jacques Le Goff, Pour un autre Moyen Age. Temps, travail et culture en Occident, Paris 1977, S. 167. Ich habe mich zur Problematik der Geschichte der Beichte aus soziologischer Sicht ausführlicher geäußert in Alois Hahn, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), H. 3, S. 407–434.
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direkt geleugnet, daß der andere absichtlich gehandelt hat, wohl aber, daß er absichtlich a ng e g ri f fen hat. Die Inszenierung der Unabsichtlichkeit kann dabei sowohl vom ›Schuldigen‹ ausgehen, der sich ›dumm‹ stellt, als auch von den Beteiligten oder zumindest von einigen von ihnen. Oft von allen gemeinsam. Dabei kann der Zumutungscharakter der hierbei wirksamen Unterstellungen und Konsensfiktionen bisweilen massiv gesteigert werden. Im Extremfall sind geradezu schizophrene Kompetenzen erforderlich. Es kann dann zu einem Punkt kommen, wo die Aufrechterhaltung der Fiktion unerträglich wird und eine der Parteien ›ausflippt‹ und ›nicht mehr mitspielt‹. ›Normalerweise‹ jedenfalls wird die Unterstellung herzlicher Liebe starken Proben ausgesetzt, wenn einer der Partner nach dem anderen mit dem Messer wirft und anschließend diesen ›Scherz‹ als Liebeszeichen interpretiert. Wie aber die Untersuchungen von Lyman C. Wynnie et al. zeigen,24 kommen solche Situationen typischerweise in schizophrenen Milieus vor, sind möglicherweise auch die Ursachen für Schizophrenie. Hier sind dann die Widersprüche nicht mehr mittels der normalen Verfahren auflösbar, also durch selektive Aufmerksamkeit, unscharfe Wahrnehmung, Zerstreutheit, Themenwechsel, Müdigkeit usw. Aber das sind Ausnahmefälle. In normalen Situationen reicht die Bereitschaft, Unabsichtlichkeit zu unterstellen, ziemlich weit. Gerade im Verkehr zwischen Ehepartnern finden sich dafür viele Beispiele. Daß man jemanden liebt, kann einem u.U. sehr dabei helfen, nicht als identitätsrelevante Absicht zu unterstellen, was andere selbstredend als absichtliche Brutalität auslegen würden. Diese aber würden vielleicht das Spiel mitmachen, weil sie sich sagen können, es dauert ja nur noch zwei Stunden, dann ist es vorbei. Einem Lebensgefährten aber muß man eventuell unentwegt dabei helfen, daß er glaubt, man selber glaube, daß sein unmögliches Benehmen unabsichtlich erfolge. Er darf nicht einmal merken, was es einen kostet, diese Tragödie als Komödie aufzuführen, so daß nicht einmal Dank als Belohnung winkt. Denn die erklärte Absicht, lediglich aus Freundlichkeit und nicht aus Überzeugung etwas für unverschuldet zu halten, wirkt auch auf weniger sensible Naturen als auf Goethes Tasso beleidigend, der die Freundlichkeit von Leonore Sanvitale mit dem Hinweis auf deren Absichtlichkeit entwertet. Also auch die absichtliche Aufrechterhaltung der Fiktion der Unabsichtlichkeit bedarf zu ihrer Wirksamkeit der unauffällig inszenierten Unabsichtlichkeit. Es ist aber keinesfalls ausgemacht, daß die Opfer solcher Zumutungen beliebig lange mitspielen. Bisweilen bricht die Inszenierung zusammen. Das kann verschiedene Ursachen haben. Nicht immer liegt es daran, daß einfach die Inszenierung allzu stümperhaft ist. Selbst die beste ist gegen die Störkraft 24
Lyman C. Winnie / Irving M. Ryckoff / Juliana Day / Stanley J. Hirsch, Pseudo-Gemeinschaft in den Familienbeziehungen von Schizophrenen, in: Schizophrenie und Familie, Frankfurt a.M. 1970, S. 44–80 (Pseudomutuality in the Family Relations of Schizophrenics, in: Psychiatry 21 [1958], S. 205–220).
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etablierter Vorstellungen von Wirklichkeit machtlos, mit anderen Worten: Daß es sich bei bestimmten Zumutungen nicht um unabsichtliche Scherze, sondern um gemeine Provokationen handelt, kann sich so sehr aufdrängen, daß die Last des Weiterspielens zu schwer wird. Für eine filmische Darstellung einer solchen Situation erinnere ich an das berühmte Abendessen in ›Les Amants‹ von Louis Malle. Es wird von einem bestimmten Zeitpunkt an so deutlich, daß die Vorspiegelung von Friedfertigkeit und Eheglück nicht einfach harmlose Wunschträume sind, sondern peinlich-bösartige Aggressionen. Die Situation wird zum absurden Theater, weil es zum Theater der Absurdität des Normalen gerät. Soziologisch vielleicht relevanter ist aber, daß die Kompetenz, Inszenierungen dieser Art zu goutieren, sozialstrukturell höchst unterschiedlich verteilt ist. Das gilt insbesondere für die Bereitschaft, böse Absichten in die Sphäre der motivationalen Harmlosigkeit von Scherzen zu transponieren. Schon La Bruyère schreibt den Dummen und den Leuten vom Lande ein diesbezüglich niedriges Toleranzniveau zu. »Les provinciaux et les sots sont toujours prêts à se fâcher, et à croire qu’on se moque d’eux ou qu’on les méprise: il ne faut jamais hasarder la plaisanterie, même la plus douce et la plus permise, qu’avec des gens polis, et qui ont de l’esprit.«25 Was sich hier bei La Bruyère als polemisches Urteil präsentiert, läßt sich indessen leicht in eine soziologische These umformulieren: Offenkundig sind bestimmte Formen städtisch-höfischer Zivilisierung Voraussetzung jener Art von Empathie und Affektkontrolle, wie sie erforderlich ist, um das Spiel »er meint es nicht so« mitzuspielen. Auch hier freilich zeigt sich eine fatale Ambiguität: Einerseits soll man a nd er e nicht provozieren, andererseits soll man s i ch nicht provozieren lassen. Ambiguitätstoleranz26 scheint in vernünftiger Dosierung die Quintessenz für die Moderne auszeichnende Zivilisierung; im Übermaß eingeflößt ist sie vielleicht auch die Wurzel der normalen Schizophrenie, die wir alle beherrschen, ohne klinisch auffällig zu werden. Statt zu sagen, Takt oder das Zugeständnis oder Privileg von Unabsichtlichkeit seien funktionale Äquivalente für Geheimhaltung von Schuld oder Diskretion gegenüber Fehltritten, könnte man natürlich auch sagen, sie stellten eine andere Form von öffentlicher Nichtbeachtung eines Verstoßes dar. Bei strikter Geheimhaltung einer peinlichen Anomalie z.B. in der Therapie wird diese der öffentlichen Aufmerksamkeit völlig entzogen, um sie dafür aber der ›internen‹ Bearbeitung um so intensiver zugänglich zu machen. Takt entzieht an sich öffentlich sichtbare Auffälligkeiten ebenfalls öffentlicher 25 26
Jean de La Bruyère, Œuvres complètes, Paris 1951, S. 165. Eine immer noch lesenswerte Studie zu diesem Thema: Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 1971 und als Kommentar dazu: Alois Hahn, Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1974, S. 107–135.
Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion
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Thematisierung, nämlich dadurch, daß man so tut, als merke man nichts. Aber diese Strategie, obwohl sie zunächst so erscheint, als sei sie weniger radikal als Geheimhaltung, funktioniert nur bei totalem Verzicht auf korrigierende Kommunikation, so daß Takt paradoxerweise zumindest im Verhältnis zu dem, auf den er angewandt wird, als radikalere Geheimhaltung wirkt als die Geheimhaltung, welche Beicht- oder Arztgeheimnisse implizieren.
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Fazit
– Die meisten Gesellschaften ohne (oder nur mit schwach ausgebildeten) Zentralinstanzen unterscheiden nicht zwischen Schuld im Sinne einer moralischen oder ethischen Verfehlung im modernen Sinne und ›unbeabsichtigten‹ Verstößen. – Der Grund dafür liegt nicht in einem intellektuellen Defizit, sondern stellt eine hoch voraussetzungsvolle Konstruktion dar, die auf strukturelle Probleme der Sanktionierung bezogen ist. – Das Entsetzen, das Verstöße dieser Art auslösen und die Angst, die von ihnen ausgeht, ist ebenfalls unabhängig von deren unterstellter Absichtlichkeit. Auch rituelle Übertretungen können als Chaosgenerator empfunden werden. – Zusätzlich existieren sehr häufig institutionelle Vorkehrungen zur Vermeidung von Täteridentifikation (Gründe: Verhinderung von Rachezyklen und generell von unerwünschten Folgen von Sanktionen). Sanktionsverzicht hat u.a. die Funktion der Friedenssicherung. – Das europäische Mittelalter entwickelt zwar im Kontext der Theologie (z.B. derjenigen Abaelards) die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit der Ethisierung von Schuld, aber unter Voraussetzung der Geheimhaltung ihres Bekenntnisses. Hier, im religiösen Kontext, entwickelt sich zunächst die Dramatisierung der Differenz von Absicht und Unabsichtlichkeit. – Diese Differenz läßt sich so indessen nicht in die Sphäre weltlicher Handlungen übertragen. Hier überdauern unscharfe Grenzen zwischen ethisierbarer Schuld und zwar folgenreichen, aber unbeabsichtigten Fehltritten. Denn auch unbeabsichtigte Handlungen können wegen der gravierenden Konsequenzen Rachebedürfnisse auslösen, denen Rechnung getragen werden muß. Das Rechtssystem braucht jedenfalls Jahrhunderte, um sein gesamtes Procedere auf diese Unterscheidung einzustellen. – Im privaten Bereich hängt das Problem von Takt, Diskretion und Unterstellung von Unabsichtlichkeit genau damit zusammen, daß das Opfer sich zwar verletzt fühlt, aber seinen Zorn wegen der sonst eintretenden negativen Folgen für die Fortsetzbarkeit vitaler Beziehungen nicht artikulieren darf (so wie bei den Tschuktschen aus den gleichen Gründen selbst Mörder unbehelligt bleiben müssen).
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– Für die ›Täter‹ folgt daraus, daß sie ein Interesse daran haben müssen, schuldhaftes Handeln als unabsichtlichen Fehltritt zu inszenieren. – Als zentrale Quellen für entsprechende Entschuldigungen können der Verweis auf die Unkontrollierbarkeit körperlicher Funktionen und der Hinweis auf die unbeherrschbare Komplexität der Welt dienen. Damit aber tritt eine ihrerseits für den Handelnden nicht ungefährliche Lage ein: Unabsichtlichkeit entschuldigt zwar. Ihre Unterstellung rettet die Situation. Wenn aber von einem unabsichtlichen Fehlverhalten auf generelle situationsübergreifende Interaktionsinkompetenz geschlossen werden kann, wird Unzurechnungsfähigkeit zum identitätsrelevanten Stigma.
Achim Wesjohann
ut … stultus vel fatuus putaretur – ›Fehltritte‹ früher Franziskaner?
In der Lebensbeschreibung des Bruders Juniper, die in der sogenannten ›Chronik der vierundzwanzig Generalminister des Ordens der Minderbrüder‹ enthalten ist1, wird über zwei spektakuläre Auftritte dieses Gefährten des heiligen Franziskus berichtet: Einmal sei Juniper nackt nach Viterbo gekommen, wobei er seine Hose auf dem Kopf und den zu einem Bündel zusammengeschnürten Habit um den Hals gebunden getragen habe. So habe er sich zu einem öffentlichen Platz der Stadt begeben und sich dort hingesetzt. Die Jugendlichen hätten ihn mit Fug und Recht für wahnsinnig gehalten und ihn nicht nur mit spöttischen Worten, sondern auch mit Dreck und Steinen beworfen. Nachdem er sich dies eine Weile gefallen lassen habe, sei er zum Konvent seiner franziskanischen Mitbrüder gegangen. Als diese ihn erkannten, seien sie verwirrt und aufgebracht (scandalizati) gewesen, hätten ihn beleidigt und beschimpft. Die einen meinten, er verdiene den Kerker, andere hielten sogar Hängen, wieder andere Verbrennen für die angemessene Strafe. Juniper aber habe sich das alles mit großer Freude angehört und erklärt, für diesen so großen Skandal sei er aller dieser und noch größerer Strafen würdig.2 Wie sich die Geschichte weiterentwickelte, erfährt der Leser nicht. Es schließen sich auch keine erläuternden Bemerkungen an die geschilderte Episode an. Der zweite Bericht fällt sogar noch ein wenig knapper aus: Einmal habe Juniper gehört, daß sich eine große Volksmenge zu einem großen Festtag in Assisi versammelt habe. Daraufhin sei er völlig nackt (nudus et sine braciis) dorthin gegangen und so mitten unter das Volk getreten. Die aufgebrachten Brüder aber haben ihn gescholten, daß er albern sei und den Orden in Verwirrung bringe. Der Generalminister habe Juniper gefragt, welche eines solchen Vergehens würdige Buße er ihm aufgeben könne, worauf dieser vorgeschlagen habe, ihn ebenso nackt denselben Weg zurückgehen zu lassen, auf dem er nackt hergekommen sei.3
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Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum, ed. Collegium S. Bonaventurae, in: Analecta Franciscana 3, Quaracchi 1897, S.1–575 (Vita fratris Iuniperi, S. 54–64). Ebd., S. 61. Ebd., S. 63.
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Im folgenden sollen in der franziskanischen Geschichtsschreibung und Hagiographie überlieferte Handlungsweisen des heiligen Franziskus und einiger seiner Gefährten in den Blick genommen werden, die gegen gesellschaftliche Konventionen verstießen wie beispielsweise die besagten Auftritte des Bruders Juniper. Vielleicht kann die Untersuchung dieser öffentlichen Handlungen, die störten oder verstörten, zumindest als eine kleine Ergänzung am Rande fungieren, wenn es darum geht, den Begriff des ›Fehltritts‹ präziser zu fassen. Der Begriff ›Fehltritt‹ muß hier notwendigerweise weit gefaßt werden. Für die folgenden Erörterungen seien an dieser Stelle diese Merkmale des ›Fehltritts‹ vorgeschlagen: Der Fehltritt ist eine öffentliche Handlung, die gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt, wobei das eigentliche Vergehen nicht so schwerwiegend ist, daß es ein Verbrechen oder eine Sünde darstellt; derjenige, der ihn begeht, verstößt nicht bewußt gegen diese (bzw. der Verstoß ist nicht das eigentliche Ziel seiner Handlung); die Folge des Fehltritts ist die soziale Ausgrenzung desjenigen, der ihn begeht. Es wird auch deutlich werden, daß der ›Fehltritt‹ klar von Provokationen unterschieden werden muß. Im folgenden werden hagiographische bzw. historiographische Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts herangezogen, in denen über die Frühphase der franziskanischen Bewegung, über Franziskus und seine Gefährten berichtet wird.4 Die Nacktheit des Bruders Juniper kann anderen Beispielen der Nacktheit in franziskanischen Quellen gegenübergestellt werden. Zunächst sollte an dieser Stelle auf die Bedeutung der Nacktheit im franziskanischen Religiosentum verwiesen werden.5 Dabei ist darauf aufmerksam zu machen, daß in der franziskanischen Überlieferung Nacktheit nicht nur als Sinnbild in der Tradition des nudus Christum nudum sequi, einer Devise des heiligen Hieronymus, die auch in Mönchtum und Armutsbewegung des hohen Mittelalters geläufig war6, erscheint, sondern daß in ihr auch einige Berichte von tatsächlicher Nacktheit zu finden sind, so vor allem auch in den Beschreibungen des Lebens des heiligen Franziskus selbst.7 An erster Stelle ist hier eines der wichtigsten Ereignisse im Leben des Heiligen zu nennen, von dem in mehreren Legenden berichtet wird: Franziskus, der Sohn eines Kaufmannes, verkauft Tuche und ein Pferd aus dem Besitz seines Vaters, um den Erlös zur Wiederherstellung der Kirche San Damiano, die ihm der Gekreuzigte selbst aufgetragen hat, zu verwenden. Der Vater verfolgt daraufhin seinen Sohn und verlangt auch sein Geld zurück. Er wendet sich in der Sache an die städtischen Behörden und, da sein Sohn dort nicht erscheinen will, schließlich an den Bischof. Franziskus gibt dem Vater nun in aller Öffentlichkeit nicht nur das Geld zurück, sondern auch die Kleider, die er am Leibe trägt. Nach der ersten Franziskuslegende, der ›Vita prima‹ des Thomas von Celano, entblößte er sich völlig (totus coram omnibus denudatur).8 Zwar habe er nach späteren Legenden
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ein Bußkleid (cilicium) getragen9, aber Bonaventura schreibt in seiner Franziskuslegende, die schließlich für den Orden verbindlich bleiben sollte, sowohl von dem cilicium als auch von der völligen Entblößung, einschließlich dem Ablegen der Beinkleider bzw. Unterhosen (femoralia) – wieder heißt es: totus coram omnibus denudatur.10 Die Dreigefährtenlegende berichtet auch erstmals von seinen Worten, die besagen, daß er von jetzt an nicht mehr Pietro Bernadone seinen Vater nenne, sondern sagen wolle: »Vater unser, der du bist im Himmel«.11 Es folgt die bekannte Anschlußhandlung des Bischofs: Er bedeckt Franziskus mit seinem Pallium, nimmt ihn so unter seine Obhut. An4
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Einige franziskanische Quellen werden im folgenden mit allgemein gebräuchlichen Abkürzungen und Kapitel- oder Abschnittsnummern zitiert, die von den verschiedenen Editionen unabhängig sind. Der Einfachheit halber wurde die folgende, auf maßgeblichen Editionen beruhende Quellensammlung benutzt: Enrico Menestò / Stefano Brufani (Hgg.), Fontes franciscani (Medioevo francescano. Testi 2), S. Maria degli Angeli/Assisi 1995. Die sogenannte Dreigefährtenlegende (Legenda trium sociorum) wird im folgenden abgekürzt als Leg3Soc; die Legenda Perusina (auch bekannt als Compilatio Assisiensis) als Leg. Per.; die erste und zweite Franziskusvita des Thomas von Celano als 1 Cel bzw. 2 Cel; das Speculum Perfectionis (in der Edition von Paul Sabatier) als SpecPerfSabatier; Bonaventuras Legenda maior als Leg. mai.; der sogenannte Anonymus Perusinus als An. Per. Die Arbeit mit Franziskuslegenden wird durch die sogenannte ›Franziskanische Frage‹ belastet, die im Kern eine Frage nach der Wertung der einzelnen Quellen bezüglich ihrer Aussagekraft über den historischen Franziskus ist. Vgl. dazu den informativen Überblick von Franz Xaver Bischof, Die ›Franziskanische Frage‹ – Ein ungelöstes historiographisches Problem, in: Münchener Theologische Zeitschrift 41 (1990), S. 355–382. Bezüglich dieser Frage soll im folgenden Zurückhaltung geübt werden, nur soll der besondere Stellenwert der Celano-Viten als zwei der ersten Zeugnisse nicht in Frage gestellt werden, die Dreigefährtenlegende soll ebenfalls zu den frühen Quellen gezählt werden; für die Legenda Perusina soll das Eingehen älterer Traditionen angenommen werden, ebenso für die ›Chronik der vierundzwanzig Generalminister‹; vgl. zu diesem Fragenkomplex Sophronius Clasen, Legenda antiqua S. Francisci. Untersuchungen über die nachbonaventurischen Franziskusquellen, Leiden 1967 (zur ›Chronik der vierundzwanzig Generalminister‹ vgl. dort S. 257f.) und Raoul Manselli, Nos qui cum eo fuimus. Contributo alla Questione Francescana (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 28), Roma 1980. Auch für die deutlich jüngeren Quellen soll der Anregung Clasens folgend von der Möglichkeit der Fixierung älterer mündlicher Überlieferungen ausgegangen werden. Da die Frage der ursprünglichen franziskanischen Lebensform hier nicht gelöst werden soll, kann auch darauf verwiesen werden, daß allein der Umstand des Vorhandenseins und der Überlieferung bestimmter Geschichten und Vorstellungen das geschichtswissenschaftliche Interesse an ihnen rechtfertigt. Vgl. hierzu Helmut Feld, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, S. 133f. Vgl. ebd., S. 82cf., u. 133. Für einen Überblick vgl. Pierre Péano, Art. ›Nudità. 5. Nel francescanesimo‹ , in: Dizionario degli Istituti di Perfezione, Bd. 6, Roma 1980, Sp. 473–475. 1 Cel 15. 2 Cel 12; Leg3Soc 20. Leg. mai. II, 4. Leg3Soc 20.
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stoß an der Nacktheit hat nach den Berichten aber niemand genommen. Die Dreigefährtenlegende berichtet, daß die Augenzeugen sich vielmehr über den Vater empörten, der zornig Geld und Kleider nahm, während sie über Franziskus pietate commoti heftig weinten.12 In der ›Vita prima‹ kommentiert Thomas von Celano das Ereignis mit der Feststellung, daß Franziskus von nun ab »nackt mit dem Nackten« kämpfe.13 Diese Vorstellung erscheint auch wieder in dem Bericht vom Tode des Franziskus in der Vita secunda. Thomas von Celano berichtet hier, daß der krankheitsgeschwächte Franziskus sich bereits zwei Tage vor seinem Tod nackt auf die Erde legen ließ, »um nackt mit dem Nackten zu ringen« .14 Man kann darin eine Art ›Generalprobe‹ des Todes sehen.15 Schließlich stirbt Franziskus so, wie es bereits geprobt worden ist.16 Der Formulierung des Thomas von Celano liegt die auf Gregor den Großen zurückgehende Vorstellung zugrunde, daß man gegen den nackten Teufel (bzw. die nackten Dämonen, denen in der Welt nichts zu eigen ist) am besten nackt wie ein Ringkämpfer kämpfen könne.17 Derartige Erörterungen erfolgen aber im nachhinein durch die hagiographische Überlieferung, in diesem Fall durch den im allgemeinen zur literarischen Stilisierung im Sinne traditioneller Hagiographie neigenden Thomas von Celano. Auch wenn Franziskus unterstellt werden könnte, daß er ältere Vorstellungen habe umsetzen wollen, so wäre die konkrete Umsetzung in Einzelhandlungen im Sinne eines wortwörtlichen Verständnisses als franziskanische Besonderheit festzuhalten.18 In den Berichten über die Nacktheit Franziskus’ vor dem Bischof und dem Volk von Assisi werden keine anderen Reaktionen als die oben erwähnten geschildert. Daß Franziskus’ Nacktheit die Augenzeugen peinlich berührt haben könnte, wird nicht angedeutet.19 Vielmehr erzielt Franziskus keine andere Wirkung als die, auf welche er wahrscheinlich ohnehin abgezielt hat. Die Nacktheit vor dem Bischof von Assisi ist ein Beispiel erfolgreichen Verdeutlichens der von ihm getroffenen Entscheidung. Franziskus’ Auftritt kann treffend als ›Inszenierung‹ charakterisiert werden.20 Jedoch erschöpft sich die Bedeutung des Auftritts nicht darin, daß Franziskus erfolgreich seine neue Lebensorientierung zum Ausdruck bringt. Die geschilderte Handlung ist symbolisch auch in dem Sinne, daß 12 13 14 15 16 17 18
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Leg3Soc 20. 1 Cel 15. 2 Cel 214. Vgl. Feld (wie Anm. 5), S. 317f. 2 Cel 217. Zu dieser Vorstellung, die offenbar auch der heiligen Klara präsent war, vgl. Feld (wie Anm. 5), S. 446. Franziskus’ Fähigkeit, an gegebene Diskurse in der Theologie oder in der monastischen Literatur anzuknüpfen, kann wohl kaum bemessen werden. Aus eigener Lektüre war ihm entsprechende Literatur wahrscheinlich nicht bekannt; vgl. 2 Cel 102. Allerdings schämt sich der Vater seines Sohnes nach diesem Ereignis angesichts dessen neuer Lebensweise, und sein Bruder verspottet ihn; vgl. Leg3Soc 23.
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durch sie die Hinwendung zu einem neuen Leben nicht nur dargestellt, sondern tatsächlich vollzogen wird. Was stattfindet, ist nicht nur ein erbauliches Schauspiel, sondern die Schaffung einer sozialen Tatsache. Die Anschlußhandlung des Bischofs von Assisi trägt dazu bei, ist nicht nur Darstellung der Zustimmung, sondern besiegelt die conversio des Franziskus. Damit erfährt diese eine offizielle Anerkennung, nicht nur eine anerkennende Zustimmung. Aus der Rückschau heraus erhält der Schritt des Franziskus seine besondere Bedeutung dadurch, daß er ein wesentlicher Bestandteil der Vorgeschichte des franziskanischen Ordens ist, nicht nur ein Schritt der Selbstheiligung einer Einzelperson. Die Bekehrungsgeschichte des heiligen Franziskus ist mit diesem Ereignis nicht abgeschlossen, aber eine wichtige Voraussetzung der Bildung der franziskanischen Gemeinschaft ist geschaffen. Bevor der Gedanke an eine Gemeinschaftsbildung ausgesprochen ist, bevor eine Regel gefunden ist, bevor so etwas wie eine Leitidee formuliert werden konnte, hat Franziskus sein Anliegen für andere sichtbar und verstehbar gemacht. In diesem Umstand findet die Option der Nachfolge ihre erste Voraussetzung. Es ist eine notwendige, keine hinreichende Voraussetzung, denn zur Bildung der franziskanischen Gemeinschaft bedarf es noch einiger Schritte.21 Gleichwohl und gerade deshalb ist die Entkleidungsszene von historischer Bedeutung für den Orden der Minderbrüder, nicht nur eine lehrreiche Episode, sondern eine für das Verständnis der eigenen Geschichte notwendige Begebenheit.22
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So Helmut Feld, Franziskus von Assisi als Visionär und Darsteller, in: Walter Haug / Dietmar Mieth (Hgg.), Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, Müchen 1992, S. 125–153, hier S. 125f.; vgl. zu dieser Inszenierung auch ebd., S. 140–143; vgl. ferner Ders. (wie Anm. 5), S. 106 zu Franziskus’ Neigung zu ›Selbstinszenierungen‹. Grundlegend zu Franziskus’ ›Zeichenhandlungen‹ (wie auch unter anderem zum Thema der Nacktheit) auch Ders., Die Zeichenhandlungen des Franziskus von Assisi, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verfestigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart , Köln/Weimar/Wien 2001, S. 393–408. Der Gang der Ereignisse nach der Entkleidungsszene ist folgender: Franziskus lebt ungefähr ein Jahr lang als Eremit und baut die Kirche San Damiano wieder auf; vgl. Leg3Soc 21–24. Bei dieser Arbeit hat er bereits Helfer; vgl. Leg3Soc 24; zur Möglichkeit, daß zu dieser Zeit auch der Kontakt zu Klara von Assisi bereits bestand, vgl. Feld (wie Anm. 5), S. 139f. Nachdem er bei einer Meßfeier die Aussendungsworte Christi an seine Jünger hört, gibt er das Eremitendasein auf und beginnt seine Tätigkeit als Bußprediger; vgl. Leg3Soc 25–26. Ihm schließen sich seine beiden ersten Gefährten an, mit denen zusammen er durch ein Buchorakel im Neuen Testament die Grundlinien der ersten franziskanischen Regel gewissermaßen findet; vgl. Leg3Soc 27–29.
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In den ›Actus Beati Francisci et sociorum eius‹23, die in ihrer italienischen Fassung als Fioretti berühmt wurden, sowie in der Vita des Franziskusgefährten Rufinus, welche sich wie die Juniper-Vita in der ›Chronik der vierundzwanzig Generalminister‹ findet, wird folgendes berichtet: Franziskus fordert Rufinus auf, nach Assisi zu gehen und dort in irgendeiner Kirche zu predigen, was ihm der Herr eingebe. Rufinus sträubt sich aufgrund seiner Schüchternheit und verweist darauf, daß er ein idiota und simplex sei. Aufgrund dieses Ungehorsams trägt Franziskus ihm auf, nackt bis auf die Unterhosen in die Stadt zu gehen, um zu predigen. Rufinus tut dies und wird von den Leuten ausgelacht, die rufen: »Seht, diese tun so sehr Buße, daß sie den Verstand verlieren« . Franziskus aber geht Rufinus ebenso nackt nach, und nachdem dieser seine Bußpredigt beendet hat, predigt er von der Verachtung der Welt, der Buße und auch über das Leiden und die Nacktheit Christi. Die Reaktion der Bevölkerung ist Erschütterung und Weinen.24 Das Auftreten des Rufinus, seine Nacktheit und sein Unterfangen, in Unterhosen zu predigen, wirkt lächerlich. Die Lächerlichkeit der Situation wird erst durch den Einsatz Franziskus’ selbst aufgelöst. Wenngleich er Bestandteil der Lebensbeschreibung eines Franziskus-Gefährten ist, verweist der Bericht in erster Linie auf den Erfolg des Franziskus. Sein öffentlicher Auftritt als Nackter führt nach den hier genannten Berichten zu einer erbaulichen Wirkung auf die Bevölkerung und deren Reaktion der Zerknirschung. In der Legenda Perusina wird berichtet, daß Franziskus, um sich selbst anzuklagen, da er während einer schweren Krankheit ein wenig Fleisch und gewürzte Fleischbrühe verzehrt hatte, sich nackt mit einem Strick um den Hals vor die Bevölkerung Assisis habe führen lassen.25 Auch in diesem Falle reagieren die Augenzeugen, indem sie ex pietate et compassione weinen; außerdem schlagen sie sich schuldbewußt auf die Brust und stellen lautstark ihre eigenen Begierden der Enthaltsamkeit und Strenge des Heiligen gegenüber. Sie sind sich der Heiligkeit Franziskus’ bewußt. Dieser Umstand mag als Erfolgsgarantie für den Auftritt gewertet wer22
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Der Gang der Ereignisse verdeutlicht, wie kompliziert die Instituierung dessen verlaufen kann, was später eine Institution wird, wie lange es dauern kann, bis ihre Leitideen in klare Worte gefaßt werden können, wie umständlich der Weg zur regula mitunter ist, auch wenn im nachhinein selbst den Beteiligten alles klar und einleuchtend erscheint. Hier scheint es Gott zu sein, der die Regel gibt. Das Bemerkenswerte ist, daß aus der wie eine Wiederentdeckung erscheinenden Rezeption altbekannter Weisungen des Neuen Testaments etwas qualitativ Neues entsteht; vgl. zu diesem Phänomen der ›réception/altération‹ Cornelius Castoriadis, L’institution imaginaire de la société, Paris 1999 (erstmals: Paris 1975), S. 532f. Entstehungszeitraum: 1327–1340; neuere Edition: Actus Beati Francisci et sociorum eius. Nuova edizione postuma di J. Cambell a cura di M. Bigaroni e G. Boccali (Pubblicazioni della Biblioteca Francescana Chiesa Nuova – Assisi 5), Santa Maria degli Angeli, Assisi 1988; auch: Fontes franciscani (wie Anm. 4), S. 2085–2219. Actus (wie Anm. 23) cap. 34, S. 378–383 , bzw. in: Fontes franciscani (wie Anm. 4), S. 2161f.; Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum (wie Anm. 1), S. 47f.
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den. Dabei ist in der Rede des Franziskus dessen Selbstbewußtsein auf bemerkenswerte Weise zum Ausdruck gekommen. Er stellt darin fest, daß er von seinen Zuhörern und manchen, die sein Beispiel zum Verlassen der Welt und zum Eintritt in den Orden und zur Lebensweise seiner Brüder veranlaßt habe, für heilig gehalten werde. Auf diese Feststellung folgt das besagte Bekenntnis. Die Episoden in der ›Vita Rufini‹ und in der Legenda Perusina verweisen auf eine wesentliche Funktion der Nacktheit in der Öffentlichkeit: Sie ist Ausdruck und Mittel der Buße. Die Erfahrung des Rufinus macht deutlich, daß der Auftritt als Nackter eine demütigende Wirkung hat. Eine handfeste Selbstzüchtigung liegt in der Nacktheit, wenn sich der Büßende durch sie der Kälte aussetzt.26 Franziskus konnte diese Form der Buße nicht nur sich selbst, sondern auch Mitbrüdern aufgeben, wie neben dem Beispiel des Rufinus auch andere Mitteilungen aus der franziskanischen Überlieferung zeigen: So habe Franziskus einem Bruder, der einen Armen beleidigt hatte, befohlen, sich vor diesem auszuziehen, ihm die Füße zu küssen und ihn um Vergebung zu bitten.27 Auch die treuherzige Antwort Junipers auf die Frage, welche Buße für ihn angemessen sei, zeugt von einem Verständnis von Nacktheit als Form der Buße. Der groteske Aufzug Junipers bei seinem Erscheinen in Viterbo läßt darauf schließen, daß Selbstverdemütigung durch Lächerlichkeit seine Absicht war. Seine Nacktheit wurde jedoch nicht als Ausdruck der Bußhaltung erkannt und somit zu etwas Unangemessenem. Als Nackter überzeugen zu 25
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Leg. Per. 80. Dieser Bericht ist sehr ausführlich im Vergleich zu 1 Cel 52, wo der Verzehr von Hühnerfleisch als Anlaß der Selbstdemütigung angegeben wird. In 1 Cel 52 ist von der Nacktheit keine Rede, außerdem ist es hier der (anonyme) Bruder, der Franziskus durch die Stadt führt, welcher den Vorwurf der Völlerei laut verkünden muß. In Leg. Per. 80 spielt außerdem der Gewissenskonflikt der im Spannungsfeld von Gehorsamspflicht und Mitleid stehenden Brüder, die an Franziskus’ Selbstdemütigung mitwirken sollen, eine wichtige Rolle: Der von Franziskus zu seinem Nachfolger als Generalminister bestimmte (was im Bericht auch explizit erwähnt wird) Petrus Cathanii führt den nackten Franziskus vor die Bevölkerung Assisis, vor der dieser sich dann selbst anklagt. Ein anderer Bruder, der namentlich nicht genannt wird, ist jedoch nicht in der Lage, Franziskus gemäß dessen Befehl Asche auf das Haupt zu schütten. Vgl. zu dieser Episode auch Leg. mai. VI, 2 und SpecPerfSabatier 61. Laut Leg. Per. 80 ist es Winter und kalt, als Franziskus nackt sein Bekenntnis ablegt. Vgl. auch 2 Cel 206: Franziskus läßt einen Bruder mehrere Meilen bei großer Kälte nackt durch den Schnee gehen, um ihn zu bestrafen; daß es hier um die körperliche Züchtigung ging, läßt eine abweichende Überlieferung vermuten, nach der sich der betreffende Bruder bekleidet in einen Fluß stürzen und durchnäßt durch die Kälte laufen muß; siehe Livarius Oliger, Descriptio Codicis S. Antonii de Urbe, in: Archivum Franciscanum Historicum 12 (1919), S. 321–400, hier S. 384. Daß diese Art der Selbstzüchtigung auch ein Mittel zur Bekämpfung von Versuchungen sein kann, verdeutlicht die in 2 Cel 117 geschilderte Episode, in der Franziskus sexuelle Regungen bekämpft, indem er sich nackt in den Schnee wirft. Diese Schilderung asketischer Praxis mag in einem hagiographischen Text des Mittelalters noch nichts Einzigartiges sein. Bemerkenswert ist die Information, daß Franziskus seinem Leib eine Familie aus Schneemännern baut. 1 Cel 76; zur Entblößung als Strafe vgl. auch Anm. 26.
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können, scheint ein Privileg des heiligen Franziskus gewesen zu sein, was anhand der geschilderten Rufinus-Episode deutlich wird. An dieser Stelle sollen die Beispiele der Nacktheit Franziskus’ genügen.28 Es kann davon ausgegangen werden, daß zu Lebzeiten des Franziskus Nacktheit in der Gemeinschaft der Minderbrüder als Zeichen und Mittel der Bußhaltung diente, daß ferner in der Zeit nach Franziskus’ Tod diesem Verständnis entsprechende konkrete Vorgänge, die sich tatsächlich abgespielt hatten, in der Ordensgemeinschaft bekannt waren. Ein anderes Beispiel für eine erfolgreiche Wirkung von Nacktheit findet sich in einem Bericht des Thomas von Eccleston: Als der Generalminister Johannes Parens auf dem Generalkapitel im Jahr 1230 von Anhängern des wenige Jahre zuvor abgewählten Elias von Cortona im Tumult handstreichartig abgesetzt werden sollte, habe dieser sich vor der ganzen Versammlung völlig entkleidet und so die verwirrten Aufrührer schlagartig zum Schweigen gebracht.29 Die Handlung des Generalministers wird nicht näher erläutert oder gedeutet. Dem Leser des Berichts bleibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, diese Handlung zu interpretieren. Offenbar hat Johannes mit der Entkleidung zunächst seine Gegner irritiert, vielleicht schockiert. Es ist ihm gelungen, eine Situation, in der die Auseinandersetzung in der Rede unmöglich geworden war, wieder aufzulösen. Bevor hier die Möglichkeit einer geplanten Zeichen- oder symbolischen Handlung angenommen wird, ist auf die Notwendigkeit zu verweisen, vor die Johannes Parens offenbar gestellt war, nämlich das Generalkapitel aus einer Lage herauszuführen, in der die formal geregelte Willensbildung nicht möglich war. Die Selbstentkleidung des Generalministers ist hier in erster Linie keine Störung einer vorgegebenen Ordnung, eines regulierten Handlungsablaufs oder einer anderen Konvention, sie ist vielmehr die Störung einer Störung. Gleichwohl kann auch ein Protest in dieser Handlung vermutet werden, nicht nur gegen den Aufruhr, sondern auch gegen die Mäßigungstendenzen30, für die Elias und die um ihn versammelte Opposition stand. Nacktheit mag hier ein sehr geeignetes Zeichen gewesen sein, das von den Minoriten dieser Generation spontan verstanden werden konnte, da die genannten Beispiele von Nacktheit aus den Anfängen der franziskanischen Bewegung allen Beteiligten aus eigener Anschauung oder aufgrund der Schilderungen von Augenzeugen vor Augen stehen mochten. So konnte sich Johannes in einer wortlosen Handlung als Vertreter der ursprünglichen Anliegen des heiligen Franziskus darstellen. Da den Beteiligten die Positionen der Parteiungen deutlich gewesen sein dürf28
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Der Bericht in 2 Cel 181 und Leg. Per. 90, daß Franziskus zwei französischen Mitbrüdern, die ihn aus Verehrung um seinen Habit gebeten hatten, diesen gab und daraufhin nackt vor ihnen stand, soll offenbar seine Opferbereitschaft verdeutlichen. Nacktheit ist hier weniger Bestandteil einer Inszenierung als einfaches Ergebnis der Selbstvernachlässigung. Fratris Thomae vulgo dicti de Eccleston tractatus de adventu Fratrum Minorum in Angliam, ed. A.G. Little, Manchester 1951, S. 65. Zu Elias vgl. Feld (wie Anm. 5), S. 362–400.
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ten, konnte der Vorgang verstanden werden.31 Seine Verstehbarkeit bedingt aber den Umstand, daß der formale Konventionsbruch in diesem Fall nicht als Fehlverhalten überliefert wurde. Solche Beispiele von Nacktheit, die jeweils etwas bedeuten soll, machen den Sinn der Anregung, eine »Semiotik der Nacktheit« (Robert Jütte)32 im Mittelalter zu entwickeln, deutlich. Zunächst muß angesichts von Diskussionen um den Stand der Schamschwellen im Laufe des Zivilisationsprozesses einfach konstatiert werden, daß Nacktheit auch in unserem Beobachtungszeitraum und -kontext anstößig war.33 Robert Jütte führt in seinen ›Anmerkungen zu einer Semiotik der Nacktheit‹ auch ein ›franziskanisches‹ Beispiel an34, wobei zu ergänzen ist, daß es auch von einem Franziskaner, nämlich Jordan von Giano, auf den noch einzugehen ist, berichtet worden ist: Die ersten Minderbrüder in Ungarn seien dort von Schafhirten vollständig ihrer Kleidung beraubt worden. Einer von ihnen habe schließlich, nachdem er seine Kleider etliche Male auf diese Weise verloren habe, aus Schamgefühl seine Unterhosen mit Mist eingeschmiert, damit ihm wenigstens diese gelassen würden.35 Den Angreifern seine Kleider zu überlassen, ist zwar ein Zeichen von Demut36, aber es gibt eben eine Schamgrenze, wobei bemerkenswert ist, daß das Problem hier durch eine immer noch demütige Maßnahme gelöst wurde. Nacktheit kann im übrigen auch als ›Armutskleid‹ aufgefaßt werden, und der nackte Körper des Bettlers mag mehr abstoßend als anstößig gewirkt haben.37 Im Zusammenhang dieses Beitrags ist auch die mittelalterliche Einschätzung des Schamverlusts als Indiz für Wahnsinn38 von Belang.
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Es dürfte ratsam sein, die Frage nach der Verletzung oder Erfüllung von Codes in diesem Zusammenhang mit großer Vorsicht und Zurückhaltung anzugehen. Lohnenswerte Untersuchungen könnten der Frage nachgehen, wie Codes in der franziskanischen Gemeinschaft etabliert wurden, wie lange dieser Prozeß dauerte. An dieser Stelle soll nur die Vermutung geäußert werden, daß gerade die frühfranziskanischen Beispiele einer Sichtweise widersprechen, die Symbolsysteme vorschnell als gegeben annimmt. In der franziskanischen Tradition sind bemerkenswert viele biographische Details überliefert, denen wohl nicht immer eine tiefere symbolische Bedeutung zugesprochen werden sollte. Robert Jütte, Der anstößige Körper. Anmerkungen zu einer Semiotik der Nacktheit, in: Klaus Schreiner / Norbert Schnitzler (Hgg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 109–129. Vgl. ebd., S. 110. Ebd., S. 109. Siehe ebd.; der Bericht findet sich in: Chronica fratris Jordani, ed. H. Boehmer (Collection d’Etudes et de Documents 6), Paris 1908, S. 6f. Vgl. entsprechende Berichte z.B. in der Dreigefährtenlegende oder dem Anonymus Perusinus: Die ersten Minderbrüder ließen sich von Angreifern die Kleider rauben, ohne diese zurückzufordern: Leg3Soc 40 und An. Per. 23. Vgl. Jütte (wie Anm. 32), S. 119. Vgl. Muriel Laharie, La folie au Moyen Age. XIe–XIIIe siècles, Paris 1991, S. 145f.
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So wie die buchstäbliche Nacktheit von Minderbrüdern traditionellen Bildern aus christlicher und monastischer Tradition gegenübergestellt werden kann, kann auch an ein anderes traditionsreiches Motiv erinnert werden, um spezifisch franziskanische Versionen desselben vorzustellen, nämlich das Motiv der Torheit um Christi willen.39 Dieses beruht auf der im ersten Korintherbrief dargelegten ›Torheit‹ der Verkündigung des Kreuzes40 und der paulinischen Bezeichnung der Apostel als stulti propter Christum41. Im orthodoxen Christentum ist der »Narr um Christi willen« als eigener Heiligentypus42 bzw. eigenständige Kategorie43 der Heiligkeit bekannt. Es sind in der Forschung Ähnlichkeiten zwischen einigen Franziskanern und bekannten »heiligen Narren« der Ostkirche festgestellt worden.44 In der russisch-orthodoxen Kirche sind offiziell verehrte »heilige Narren« für die Zeit vom 11. bis zum 19. Jahrhundert bekannt, wobei die Blütezeit dieses Heiligentypus im 16. Jahrhundert auszumachen ist, während aus der Zeit zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert offenbar keine Beispiele überliefert sind.45 Der gewissermaßen klassische »heilige Narr« ist ein Bußprediger, der sein Anachoretendasein aufgegeben hat, da ihm Selbstheiligung nicht genug ist.46 Einen wesentlichen Gesichtspunkt der heiligen Narrheit stellt der Umstand dar, daß diese nur vorgespielt wird. Der »heilige Narr« führt in Wahrheit ein Doppelleben, das ihn sich tagsüber in der Öffentlichkeit närrisch agieren und sich nachts der Meditation und dem Gebiet widmen läßt.47 Die »heiligen Narren« gehen oftmals nackt oder in Lumpen umher.48 Durch seine skandalträchtigen Handlungen erregt der »heilige Narr« mitunter öffentliches Ärgernis.49 Diese Handlungen dienen der äußersten Selbsterniedrigung.50 Der »heilige Narr« ist darum bemüht, als möglichst unheilig zu erscheinen.51 Auch wenn seine 39 40 41 42 43
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47 48 49 50
Vgl. eingehend John Saward, Perfect Fools. Folly for Christ’s Sake in Catholic and Orthodox Spirituality, Oxford/New York/Toronto/Melbourne 1980. 1 Cor. 1, 18–31. 1 Cor. 4, 10. Vgl. Ernst Benz, Heilige Narrheit, in: Kyrios 3 (1938), S. 1–55, hier S. 3. Vgl. John Saward, The Fool for Christ’s Sake in Monasticism, East and West, in: Basil Pennington (Hg.), One Yet Two: Monastic tradition east and west. Orthodox-Cistercian Symposium, Oxford University, 26 August – 1 September (Cistercian Studies Series 29), Kalamazoo 1976, S. 48–80, hier S. 50. Vgl. Benz (wie Anm. 42), S. 4. Vgl. Peter Hauptmann, Die »Narren um Christi willen« in der Ostkirche, in: Kirche im Osten 2 (1959), S. 27–49, hier S. 30f. Vgl. Benz (wie Anm. 42), S. 8. — Den Konflikt zwischen dem Weg der Selbstheiligung durch die eremitische Lebensweise und dem Gefühl der Verantwortung für das Heil der Menschen hatten übrigens auch die ersten Minderbrüder zu lösen, was zur Aufnahme ihrer Predigttätigkeit führte; siehe 1 Cel 35. Vgl. Benz (wie Anm. 42), S. 12. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 20.
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Torheit nur gespielt ist, so ist doch die charismatische Begabung Voraussetzung seines Standes.52 Auch Gaben wie die der Wundertätigkeit, der Unterscheidung der Geister oder der Prophetie sind ihm eigen.53 Insbesondere auf die dämonologischen Vorstellungen im Rahmen der Überlieferung über die »heiligen Narren« ist zu verweisen: Der Kampf gegen die Dämonen ist eine ihrer hervorragenden Aufgaben.54 Das älteste Beispiel der heiligen Narrheit ist das einer Nonne, die sich, wie Palladius in seiner ›Historia lausiaca‹55 berichtet, dumm und besessen gestellt habe und von ihren Mitschwestern ob ihres absonderlichen Verhaltens Verachtung erfahren mußte, bis der Einsiedler Pitirum sie aufgrund einer Vision aufsuchte und ihre Heiligkeit offenbarte.56 Zwei der bekanntesten saloi sind die Heiligen Symeon von Emesa57 (6. Jahrhundert) und Andreas von Konstantinopel58 (10. Jahrhundert). In Symeons Vita nimmt das Einsiedlerleben breiten Raum ein, die Rückkehr zu den Menschen gestaltet sich spektakulär: Symeon bindet sich einen toten Hund an den Gürtel und zieht ihn hinter sich her. Am darauffolgenden Tag, einem Sonntag, bewirft er in der Kirche die Gottesdienstbesucher mit Nüssen und bläst die Kerzen aus.59 Der streng fastende Asket bemüht sich, anderen gegenüber als gefräßig zu erscheinen.60 Ebenso simuliert er Unkeuschheit.61 So spaziert er auf dem Wege zum öffentlichen Bad nackt durch die Stadt und begibt sich so auch in die Abteilung für die Frauen.62 Er geht auch so weit, in aller Öffentlichkeit seine Notdurft zu verrichten.63 Die Ähnlichkeiten der hier genannten franziskanischen Beispiele mit dem alten Asketentypus des »heiligen Narren« ist ein Indiz für die These Kaspar Elms, daß Analogien der frühen franziskanischen Bewegung zum frühen Mönchtum vor allem »bei dem noch nicht auf Gesetz und Gehorsam gegründeten, noch nicht gesellschaftlich integrierten ältesten Asketentum«, wie es 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
63
Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 12 u. 42. Vgl. ebd., S. 25–28, S. 33, S. 35f. und S. 44–50. Vgl. ebd., S. 5f. und S. 39–41. Ich benutze die Fassung in den Vitae Patrum, MPL 73, Sp. 1065–1234. Ebd., Sp. 1140f. Vita S. Symeonis Sali confessoris, in: MPG 93, Sp. 1669–1748. S. Andreae Sali vita auctore Nicephoro, sancti directore et confessario, in: MPG 111, Sp. 627–888. Vita S. Symeonis (wie Anm. 57), Sp. 1707f. Ebd., Sp. 1709f. und 1711f. Ebd., Sp. 1711f. Ebd., Sp. 1713f.: Symeon hat einen Eingeweihten, der um die Vortäuschung der Torheit weiß. Dieser fragt Symeon, welche Regungen der kurze Aufenthalt unter den Frauen bei ihm ausgelöst habe, worauf der Heilige antwortet, er sei »wie Holz bei Holz« gewesen. Im vermeintlich unkeuschen Verhalten beweist sich so auch die Überwindung des Fleischlichen. Ebd., Sp. 1711–1714.
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auch in der ›Historia Lausiaca‹ dokumentiert wird, zu suchen sind.64 Diese Ähnlichkeiten sollen aber auch nicht vorschnell als volle Entsprechungen gewertet werden. Tatsächlich finden sich nur wenige westeuropäische Beispiele, die dem Typus des heiligen Narren entsprechen.65 Bekannt blieb aber das Motiv der »Torheit um Christi willen« als ein Weg, der Bewunderung durch die Welt zu entkommen, und somit als vollkommener Weg zur Demut. So findet sich dieser Gedanke z.B. noch bei Ignatius von Loyola.66 Im Gegensatz zur ostkirchlichen Tradition der vorgetäuschten Torheit der »Narren um Christi willen« findet sich in der franziskanischen Überlieferung kein entsprechender Hinweis, daß die simplicitas als heilig oder selig verehrter Minderbrüder nur vorgetäuscht war.67 Vielmehr ist simplicitas hier oft als tatsächliche Naivität oder natürliche Torheit präsent.68 Mit dem seit dem heiligen Hieronymus geläufigen Begriff der sancta simplicitas wurde in der christlichen Antike und im Mittelalter kaum tatsächliche Einfalt69, sondern Herzens- oder Gewissensreinheit bezeichnet.70 Im Mönchtum konnte »heilige Einfalt«, als völlige Hingabe an Gott verstanden, das Ziel mönchischen Lebens oder das kontemplative Leben selbst bezeichnen.71 64 65
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Vgl. Kaspar Elm, Franziskus und Dominikus. Wirkungen und Antriebskräfte zweier Ordensstifter, in: Saeculum 23 (1972), S. 127–147, hier S. 140. Siehe die Beispiele bei Stephanus Hilpisch, Die Torheit um Christi willen, in: Zeitschrift für Aszese und Mystik 6 (1931), S. 121–131, hier S. 128–131. Am ehesten mag der portugiesisch-spanische Heilige Johannes von Gott (Johannes de Deo oder Juan Ciudad, Gründer der Ordens der Barmherzigen Brüder [OSJdD bzw. OH], 1495–1550) diesem Typus ähneln, da er sich tatsächlich wahnsinnig gestellt hat; jedoch hat er diese Verstellung aufgegeben, um die Fürsorge für wirklich psychisch Kranke aufnehmen zu können; vgl. ebd., S. 128f. Hauptmann (wie Anm. 45), S. 37, sieht in diesem »die einzige wirkliche Entsprechung« zu den Beispielen des Ostens, stellt aber fest, daß sein »asketischer Versuch« gescheitert sei. Ein weiterer bekannter »christlicher Narr« ist der heilige Philipp Neri (1515–1595); vgl. Saward, Perfect Fools (wie Anm. 39), S. 97–99. Zumindest als Motiv in der Literatur ist die »Torheit um Christi willen« auch in der Neuzeit geläufig; vgl. ebd., passim und Jean Leclercq, ›L’idiot‹ à la lumière de la tradition chrétienne, in: Revue d’histoire de la spiritualité 49 (1973), S. 289–304. Vgl. Saward, Perfect Fools (wie Anm. 39), S. 107. Es ist fraglich, ob entsprechende ›Selbstinszenierungen‹ in der franziskanischen Überlieferung ausgemacht werden können. Derartige Inszenierungen bei Jordan von Giano, auf die im folgenden noch einzugehen sein wird (bei Anm. 139 u. 140), sind in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen, da Jordan in den entsprechenden Passagen keinen hagiographischen Bericht gibt oder ein verbindliches Modell des Minoritendaseins vorgeben will. Vgl. Achim Wesjohann, Simplicitas als franziskanisches Ideal und der Prozeß der Institutionalisierung des Minoritenordens, in: Gert Melville / Jörg Oberste (Hgg.), Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum (Vita regularis 11), Münster 1999, S. 107–167, hier S. 134 u. 137–141. Zur Tradition vgl. ebd, S. 110–118. Vgl. Jean Leclerq, Sancta simplicitas, in: COCR 22 (1960), S. 138–148, hier S. 139– 141. Vgl. ebd., S. 143–145.
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Im ›Dialogus miraculorum‹72 des Cisterziensers Caesarius von Heisterbach wird in den Exempla zum Thema der heiligen Einfalt von tatsächlich Einfältigen berichtet.73 Seine Beispiele der Einfalt sind weitgehend Beispiele von Naivität74 oder gar intellektueller Mängel75. Die Einfältigen in seinen Exempla verhalten sich einfältig, weil sie es nicht besser können oder wissen. Das entschuldigt nicht nur Fehler, sondern erscheint auch als eine Möglichkeit, sich mit seinen Anliegen erfolgreich unmittelbar an Gott zu wenden, oder sogar als Hilfe, die Seligkeit zu erlangen.76 Um diese Einfalt kann der Einfältige allerdings nur beneidet werden, denn der Nicht-Einfältige kann den Zustand der Einfalt ja nicht wirklich erreichen. Freilich kann er folgerichtig am Wert des Wissens und des Wissenserwerbs zweifeln und somit zu einer kritischen Sicht darauf gelangen, woran sich die Kritik an Bildungsinhalten anschließt. Eben diese Einstellung äußerte sich des öfteren in der monastischen Tradition, aber die entsprechenden Äußerungen stammen von Gebildeten.77 Im Unterschied zu älteren Beispielen der Wertschätzung der sancta simplicitas, aber ähnlich wie bei Caesarius von Heisterbach finden sich in der frühen franziskanischen Tradition Beispiele von Einfalt im Wortsinne, verehrungswürdige simplices, die offenbar tatsächlich naiv oder sogar wenig intelligent waren. Einfalt ist hier nicht nur die gesuchte Einfachheit oder Ausdruck der Flucht des Intellektuellen vor dem Bildungsgut bzw. der Ausschluß als zu subtil, zu weltlich oder vom Standpunkt der Frömmigkeit aus zu bedenklich empfundener Wissensbestände aus demselben. In diesem Sinne muß die Wertschätzung der Einfalt nicht primär nur als Ausdruck der Kritik von bestimmten Bildungsinhalten betrachtet werden. Noch viel eher könnte sich in ihr eine ablehnende Haltung gegenüber Studien überhaupt manifestiert haben; die Frage der vermeintlichen oder tatsächlichen Studienfeindschaft des Franziskus und seiner ersten Gefährten ist in der modernen Forschung ausgiebig diskutiert worden.78 Beim Cisterzienser Caesarius von Heisterbach beinhaltet die Beschreibung der Einfalt keine explizite Studienkritik. Ein bezeichnendes 72 73 74 75 76
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Caesarii Heisterbaciensis monachi ordinis Cisterciensis Dialogus miraculorum, ed. J. Strange, 2 Bde., Köln/Bonn/Brüssel 1851. Dialogus miraculorum (wie Anm. 72), Distinctio sexta: De simplicitate, Bd. l, S. 340– 390. Vgl. ebd., S. 382f., S. 387f. und S. 389 mit Beispielen für das Nichtverstehen bzw. Wörtlichnehmen scherzhafter Rede. Vgl. ebd., S. 357. Vgl. bei Caesarius von Heisterbach das drastische Beispiel einer Selbstmörderin aus Gutgläubigkeit und bester Absicht, die trotz der Tat die göttliche Gnade nicht verwirkt zu haben scheint; ebd. S. 387f. Daß im Gegensatz dazu Bildungskritik bei den frühen Minoriten auch von Ungebildeten formuliert werden konnte, mögen die Beispiele des Bruders Ägidius verdeutlichen; siehe unten S. 225. Vgl. Wesjohann (wie Anm. 68), S. 107-110. Im Rahmen dieses Beitrags spielt die Kritik der Bildung und der Gebildeten eine weniger wichtige Rolle, während unbedingt auf die Wertschätzung der Einfältigen und Törichten reinen Herzens hinzuweisen ist.
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Beispiel der tatsächlichen Einfalt in den franziskanischen Quellen stellt der Franziskusgefährte Johannes dar, von dem Thomas von Celano berichtet: Johannes ahmte demnach Franziskus in allem nach, weil er unbedingte Nachfolge geschworen hatte. So hustete er auch, wenn Franziskus hustete, oder er spuckte aus, wenn dieser es soeben getan hatte. Franziskus habe ihn sanctum Johannem statt fratrem Johannem genannt. Außerdem wird festgestellt, daß Johannes bereits vor Franziskus zum ewigen Leben gelangt sei.79 Caesarius von Heisterbach bezeichnet die Einfältigen unter den Heiligen und Engeln als Gaukler oder Spielleute Gottes, als ioculatores Dei.80 Wie bei den Menschen der Gaukler Dinge tun und sagen könne, die jedem anderen als Vergehen angerechnet würden, so erfreuen die Einfältigen Gott, während ihre Taten, wären sie von nicht Einfältigen begangen, als Beleidigungen Gottes zu gelten hätten. Diese Formulierung läßt auf ein Bewußtsein für die Bedeutung der Intentionalität schließen. Einfalt kann ein Entschuldigungsgrund sein. Das stellt Caesarius anhand eines Exemplums explizit fest.81 Laut der franziskanischen Überlieferung wollte Caesarius’ Zeitgenosse Franziskus von Assisi, daß sich die Angehörigen seiner Gemeinschaft als »Spielleute des Herrn« (ioculatores Domini) verstanden und dieses Selbstverständnis auch öffentlich bekundeten.82 Dieser Begriff mag mit ›Clowns‹, ›Spaßmacher‹ oder ›Hanswürste Gottes‹83 angemessen übersetzt sein; weniger nachvollziehbar ist die Übersetzung des Wortes ioculatores als ›ritterliche Troubadours‹84. Es 79 80 81
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2 Cel 190. Dialogus miraculorum (wie Anm. 72), Bd. 1, S. 360. Ebd., S. 343: Ecce habes exemplum, quod opus aliquando per se malum, propter oculum simplicem, id est, bonam intentionem, efficiatur lucidum et bonum. Vgl. Klaus Schreiner, Puritas Regulae, Caritas und Necessitas. Leitbegriffe der Regelauslegung in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux, in: Clemens Kasper / Klaus Schreiner, Zisterziensische Spiritualität. Theologische Grundlagen, funktionale Voraussetzungen und bildhafte Ausprägungen im Mittelalter (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, 34. Ergänzungsband), St. Ottilien 1994, S. 75– 100, hier S. 94f. Das Zitat findet sich in der sogenannten Legenda Perusina [Leg. Per. 83]: Nam volebat et dicebat, quod prius aliquis illorum predicaret populo, qui sciret predicare, et post predicationem cantarent Laudes Domini tamquam ioculatores Domini. Finitis Laudibus, volebat ut predicator populo diceret: »Nos sumus ioculatores Domini et in hiis volumus a vobis remunerari, scilicet ut stetis in vera penitentia«. Und weiter, ebd.: Et dicebat: »Quid enim sunt servi Dei nisi quodammodo quidam ioculatores eius, qui corda hominum movere debent et erigere ad letitiam spiritualem?«. Ähnlich SpecPerfSabatier 100. — Wenngleich die Authenzität des Franziskuswortes nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden kann, so ist doch die Legenda Perusina als Sammlung früher Zeugnisse aus der franziskanischen Gemeinschaft zu werten und somit als wertvolle Quelle für das hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehende Selbstverständnis der ersten Franziskaner zu betrachten; vgl. Feld (wie Anm. 5), S. 39–41, mit der dort angegebenen Literatur; siehe auch Anm. 4 dieses Beitrags. Alle diese Vorschläge bei Feld (wie Anm. 5), S. 198. So Hilarin Felder, Die Ideale des hl. Franziskus von Assisi, Paderborn 1923, S. 285.
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besteht die Gefahr, daß ein solches Verständnis der genannten Stelle zu einseitig auf die Bedeutung der Freude im Leben und in der Frömmigkeit des Franziskus abhebt.85 Damit bliebe ein in diesem Zusammenhang womöglich bedeutungsvoller Aspekt des Begriffs unbeachtet, nämlich der Umstand der Ausgegrenztheit mittelalterlicher Spielleute. Dieser Aspekt ist deshalb von Bedeutung, weil ein randständiges Leben, ein Leben in Ausgegrenztheit als ein wesentliches Anliegen Franziskus’ und seiner ersten Gefährten ausgemacht werden kann.86 Die Ähnlichkeit mit der Charakterisierung, die Caesarius für die Einfältigen fand, gibt Anlaß zu der Frage, ob sich in älteren Traditionen andere Beispiele für dieses Bild finden lassen. Bernhard von Clairvaux hat das Leben der Mönche als Spiel bezeichnet, das den Menschen lächerlich erscheine, den Engeln aber ein überaus schönes Schauspiel biete.87 Das zu meiden, was die Weltleute erstreben, und zu erstreben, was diese meiden, lasse die Mönche wie Gaukler und Seiltänzer erscheinen, die auf den Händen, mit dem Kopf nach unten und den Füßen nach oben stehen und gehen.88 Mit Bezug auf den ersten Korintherbrief89 äußert Bernhard die Erwartung, daß diejenigen, die sich in dieser Weise verspotten, demütigen und erniedrigen lassen, in Ewigkeit erhöht werden.90 Was Bernhard ausspricht, ist das Bewußtsein, daß die monastische Lebensweise dem weltlichen Sinn grotesk erscheinen muß. Sie wirkt unnatürlich und lächerlich, wie auch das Treiben der Gaukler und 85
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Zweifelsohne ist zu betonen, daß es in der genannten Stelle um Freude bzw. die Vermittlung von Freude und die Lobpreisung Gottes geht, und so wird es wohl zu recht auch heute noch in der franziskanischen Familie aufgefaßt, so z.B. in: Anton Rotzetter / WillibrordChristian van Dijk / Thaddée Matura, Franz von Assisi. Ein Anfang und was davon bleibt, Zürich/Düsseldorf 1999, S. 106. Diese Auffassung birgt jedoch die Gefahr einer einseitigen Auffassung, die in der genannten Übersetzung des Kapuziners Felder für ioculatores Domini (s. Anm. 84) zum Ausdruck kommt. Vgl. Raoul Manselli, Franziskus. Der solidarische Bruder, Freiburg/Basel/Wien 1989, S. 148f. mit der Bemerkung, daß in der betreffenden Stelle nicht die Troubadours, sondern die Gaukler gemeint seien, und mit dem Hinweis auf die inhonestas des ioculator-Berufes. Bernhard von Clairvaux, Epistola 87, 12, in Sancti Bernardi Opera 7, ed. H. Leclercq / H. Rochais, Roma 1974, S. 224–231, hier S. 231: Ludam scilicet ut illudar. (….) Bonus ludus, qui hominibus quidem ridiculum, sed angelis pulcherrimum spectaculum praebet. Ebd.: Nam revera quid aliud saecularibus quam ludere videmur, cum, quod ipsi appetunt in hoc saeculo, nos per contrarium fugimus, et quod ipsi fugiunt, nos appetimus, more scilicet ioculatorum et saltatorum, qui, capite misso deorsum pedibusque sursum erectis, praeter humanum usum stant manibus vel incedunt, et sic in se omnium oculos defigunt? Vgl. hierzu: Jean Leclercq, Le thème de la jonglerie chez S. Bernard et ses contemporains, in: Revue d’histoire de la spiritualité 48 (1972), S. 385–400. Dieser Passus gibt auch Aufschluß über die Tätigkeit von ioculatores im Mittelalter; vgl. Ders., Ioculator et saltator: S. Bernard et l’image du jongleur dans les manuscrits, in: Julian G. Plante (Hg.), Translatio Studii. Manuscript and Library Studies honoring Oliver L. Kapsner, Collegeville 1973, S. 124–148; vgl. insbesondere den Überblick über die Geschichte der Spielleute und der kirchlichen Einstellung ihnen gegenüber, ebd., S. 125–131. 1 Cor. 4, 9: Facti sumus spectaculum angelis et hominibus. Epistola 87, 12 (wie Anm. 87)
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Seiltänzer auf den Betrachter lächerlich wirkt. Bernhard beschränkt den Vergleich auf die äußere Wirkung des Tuns. Anders als Franziskus vergleicht er seine und seinesgleichen gesellschaftliche Stellung nicht mit der der ioculatores. Vielmehr grenzt er die Mönche von diesen scharf ab, indem er betont, daß deren ›Spiel‹ im Gegensatz zu dem der Gaukler nicht kindisch oder moralisch anstößig sei, sondern ehrenwert und ernsthaft.91 Somit wird zum einen deutlich, daß Franziskus’ ioculatores Domini einen spezifisch neuen Begriff darstellt, zum anderen lassen Bernhards Bemerkungen zum Inhalt des Gauklerspiels auf die zeitgenössische Kritik daran schließen. Die Kritik und Ausgrenzung der mittelalterlichen ioculatores ist an dieser Stelle kurz in den Blick zu fassen, um den Hintergrund für Franziskus’ Devise zu beleuchten. Was bedeutet ioculator also? Es handelt sich im Mittelalter um einen Oberbegriff, der sehr allgemein mit dem Wort ›Spielmann‹ übersetzt werden kann.92 Der Begriff ist vieldeutig, da ihm keine bestimmte unterhaltende Tätigkeit zugeordnet werden kann.93 Im frühen Mittelalter begegnen überwiegend noch andere, manchmal etwas genauere Bezeichnungen für den unterhaltend Tätigen: z.B. histrio, mimus, scurra.94 Im Begriff ioculator werden mehrere Tätigkeiten zusammengefaßt: Musiker, Erzähler, Schauspieler, Spaßmacher, Akrobat. Wahrscheinlich waren mittelalterliche Spielleute jedoch nicht sehr klar spezialisiert, sondern im Milieu der Fahrenden konnte ein ioculator im Laufe der Zeit mehrere Fertigkeiten von anderen Spielleuten erlernen.95 Insofern wären differenziertere Bezeichnungen durch mittelalterliche Autoren kaum sinnvoll gewesen. Um der Bedeutung des Franziskuswortes von den ioculatores Domini gerecht zu werden, muß auf die Ausgrenzung der Spielleute im Mittelalter verwiesen werden96, insbesondere ist auch auf die ablehnende Haltung des Klerus einzugehen97. Schon der hl. Augustinus 91
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Ebd.: Non est hic ludus puerilis, non est de theatro, qui femineis foedisque anfractibus provocet libidinem, actus sordidos repraesentet, sed est ludus iucundus, honestus, gravis, spectabilis, qui caelestium spectatorum delectare possit aspectus. Vgl. Antonie Schreier-Hornung, Spielleute, Fahrende, Außenseiter: Künstler der mittelalterlichen Welt (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 328), Göppingen 1981, S. 27f. Vgl. ebd., S. 26–41. ›Spielmann‹ definiert Ernst Schubert als »Sammelbegriff für fahrende Leute, die vom Unterhaltungsbedürfnis der Menschen leben«; siehe: Ders., Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 15. Weitere Bezeichnungen bei Werner Danckert, Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe, Bern/München 1963, S. 216: Darunter deuten auch einige Bezeichnungen auf bestimmte Tätigkeiten zur Unterhaltung, z.B. die akrobatische Fertigkeit oder das gespielte Instrument; vgl. auch Schubert (wie Anm. 93), S. 16. Vgl. Schreier-Hornung (wie Anm. 92), S. 41. Zahlreiche Quellenbeispiele bietet Walter Salmen, Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter (Die Musik im alten und neuen Europa 4), Kassel 1960; auch in der Neuauflage: Ders., Der Spielmann im Mittelalter (Innsbrucker Beiträge zur Musikwissenschaft 8), Innsbruck 1983, allerdings ohne Belege; ausführlich und mit vielen Beispielen zur ›Infamie‹ und ›Unehrlichkeit‹ der Spielleute auch: Schubert (wie Anm. 93), S. 111– 130.
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meinte, daß es schändlich sei, den Spielleuten (histriones) zu geben.98 Auch für das 12. und 13. Jahrhundert ist die Auffassung überliefert, daß Gaben an Spielleute gewissermaßen der Kirche und den Armen vorenthalten werden. Kleriker sollten normativen Vorgaben gemäß die Spielleute meiden und gegen sie predigen.99 Neben der Kritik der Spielleute stand die Kritik ihres Publikums.100 1215 untersagte das Vierte Laterankonzil den Klerikern, sich durch Spielleute unterhalten zu lassen – dergleichen wurde zu den unehrenhaften weltlichen Angelegenheiten gezählt.101 Mittelalterliche Kleriker sahen in den Spielleuten gerne Teufelsdiener.102 Honorius Augustodunensis ging so weit, den Spielleuten jegliche Hoffnung auf das ewige Heil abzusprechen, da sie Diener des Satans seien.103 So war auch die Auffassung bekannt, daß die Gaukler von der Eucharistie auszuschließen seien.104 Praktisch hat sich diese Forderung aber offenbar nicht durchgesetzt.105 Ein berühmter Franziskaner des 13. Jahrhunderts, Berthold von Regensburg identifizierte die gumpelliute, gîger und tambûrer106 mit dem abtrünnig gewordenen (dem vom Himmelreich abgefallenen zehnten Chor der Engel entsprechenden) zehnten Chor der Christenheit.107 Berthold warf den Spielleuten pauschal vor, daß sie guot für êre nehmen, d.h. jene lästern, denen sie kurz zuvor geschmeichelt haben, und, 97 98
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Vgl. Salmen (wie Anm. 96), S. 61–73. Donare quippe res suas histrionibus, vitium est immane, non virtus; siehe: In Joannis Evangelium (tractatus C), in: Sancti Aurelii Augustini Hipponensis episcopi Opera omnia (III), MPL 35, Sp. 1891. Vgl. Schubert (wie Anm. 93), S. 113 mit Quellenbeispielen. Vgl. Carla Casagrande / Silvana Vecchio, L’interdizione del giullare nel vocabolario clericale del XII e del XIII secolo, in: Centro di Studi sul Teatro Medievale e Rinascimentale (Hg.), Il contributo dei giullari alla drammaturgia italiana delle origini. Atti del II Convegno di studio, Viterbo 17–19 giugno 1977, Roma 1978, S. 207–258, hier S. 214f.; vgl. auch Dies., Clercs et jongleurs dans la société médiévale (XIIe et XIIIe siècles), in: Annales E.S.C. 34 (1979), S. 913–928. Die Auffassung, daß Gaben an histriones, wie auch an Prostituierte im Widerspruch zur Verpflichtung zu barmherzigen Werken stehen, findet sich auch bereits bei Augustinus, Enarratio in Psalmum CII, 13, MPL 37, Sp. 1327. Constitutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum, ed. A. Garcia y Garcia (Monumenta Iuris Canonici, Series A: Corpus Glossatorum, Vol. 2), Città del Vaticano 1981, S. 64: Clerici officia uel commercia secularia non exerceant, maxime inhonesta. Mimis, joculatoribus et histrionibus non intendant …. Vgl. Schubert (wie Anm. 93), S. 115f. Elucidarium, Liber II, 18, MPL, Sp. 1109–1176, hier Sp. 1148: D[iscipulus]: Habent spem joculatores? – M[agister]: Nullam: tota namque intentione sunt ministri Satanae … quia derisores deridentur. Vgl. Schreier-Hornung (wie Anm. 92), S. 79f. Siehe z.B. Cyprian, Epistola 61, MPL 4, Sp. 362–364; Johannes Saresberienses MPL 199, Sp. 406; Ivo Carnotensis, MPL 161, Sp. 1080. Vg. Schubert (wie Anm. 93), S. 119. Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten, ed. F. Pfeiffer, Bd. 1, Wien 1862 (Nachdruck: Berlin 1965), S. 155. Ebd., S. 145.
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was noch schlimmer sei, die Guten und Gerechten schelten, während sie die Schlechten loben.108 Arglist und Schmarotzertum sind den Spielleuten nach Berthold vorzuwerfen.109 Auch die Franziskaner überwanden die traditionellen Vorbehalte gegenüber den Spielleuten nicht.110 Salimbene de Adam versicherte von seinem Onkel Martinus, daß er ein maximus cantor cum instrumentis musicis, jedoch kein ioculator gewesen sei.111 Er verübelte es den Bürgern Parmas sehr, daß sie gegenüber Spielleuten großzügig waren, gegen die »Diener Gottes« aber nicht.112 Es dürfte in dem Wort von den ioculatores Domini auch das Anliegen der Franziskaner zum Ausdruck kommen, den Spielleuten mit ihren weltlichen und verderblichen Darbietungen gewissermaßen eine Konkurrenz mit besseren Inhalten zu sein.113 Jedoch sollte sich die Deutung dieses Wortes nicht in dieser Feststellung erschöpfen, sondern die darin auch zum Ausdruck kommende Bereitschaft zur Erfahrung gesellschaftlicher Ausgrenzung berücksichtigen. Die Ablehnung, die Spielleute gelegentlich durch weltliche Herren erfuhren, dürfte in der Regel weniger durch deren moralische Strenge als durch die Auffassung der Adeligen von der Ehrlosigkeit der Spielleute bedingt gewesen sein; aber dem sind zahlreiche Beispiele der großzügigen Behandlung der Spielleute, die auch zu Repräsentationszwecken bestallt wurden, gegenüberzustellen.114 Es sollte aber berücksichtigt werden, daß Spielleute oft auf zusätzliche Möglichkeiten des Broterwerbs angewiesen waren.115 Demnach könnte in dem Wort des Franziskus eine weitere Parallele zwischen Minderbrüdern und ioculatores liegen, nämlich die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt auch durch körperliche Arbeit zu verdienen.116 Schwierig war auch die rechtliche Stellung der Spielleute, denen die Möglichkeit, als Ankläger oder Zeugen aufzutreten, von kirchlicher und weltlicher Seite oft abgesprochen wurde.117 Die Inkaufnahme existentieller Unsicherheit, das Umherziehen in der Welt, die Bereitschaft, am Rande der Gesellschaft zu le108 109
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Ebd., S. 155. Ebd.: schalkeit und leckerie. Gegen Bezahlung zu schmeicheln oder zu lästern, gehörte also offenbar zu den Tätigkeitsgebieten mittelalterlicher Spielleute (vgl. hierzu auch die Ausführungen des Thomas von Chobham, siehe unten, S. 221 mit Anm. 120). Zum Begriff ›Gut für Ehre nehmen‹ vgl. Schubert (wie Anm. 93), S. 127–129. Vgl. Casagrande / Vecchio, Clercs et jongleurs (wie Anm. 100), S. 921. Cronica fratris Salimbene de Adam Ordinis Minorum, ed. O. Holder-Egger (MGH SS 32), 1905–1913, S. 54. Ebd., S. 597. Vgl. Friedrich Baethgen, Franziskanische Studien, in: HZ 131 (1925), S. 421–471. Vgl. hierzu den Überblick bei Salmen (1960) (wie Anm. 96), S. 76–82. Vgl. Schubert (wie Anm. 93), S. 15. Nach dem Wunsch Franziskus’ sollten die Minderbrüder das zum Leben Notwendige in erster Linie durch Arbeit erlangen, während der Bettel die Ausnahme bleiben sollte, was in seinen Regeln festgelegt ist, besonders deutlich aber auch in seinem Testament zum Ausdruck kommt; siehe Kajetan Eßer (Ed.), Die Opuscula des hl. Franzikus von Assisi. Neue textkritische Edition (Spicilegium Bonaventurianum 13), 2. Aufl., Grottaferrata 1989, S. 437–445, hier S. 440.
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ben, sind Grundzüge des frühen franziskanischen Lebensmodells, die den Vergleich mit den fahrenden Spielleuten als naheliegend erscheinen lassen. Den Zeugnissen der Ablehnung der Spielleute stehen aber vor allem im 13. Jahrhundert auch differenziertere und positivere Urteile gegenüber.118 Thomas von Chobham unterschied sehr genau histriones, welche sich durch schändliche Verrenkungen und Entblößungen hervortaten, andere, die mit üblen Nachreden über Abwesende ihr Publikum unterhielten119, und wieder andere, die die Menschen durch ihre Lieder zur Unzucht bewegten, von den ioculatores, die den Menschen Trost brächten, indem sie von den Taten der Fürsten und Heiligen sängen.120 Franziskus indes sah die Aufgabe der ioculatores Domini darin, die Herzen der Menschen zur geistlichen Freude zu erheben.121 So sei abschließend zum Begriff der ioculatores auf den wesentlichen Unterschied der Formulierung Franziskus’ zu denen von Bernhard von Clairvaux und Caesarius von Heisterbach hingewiesen: Die Minderbrüder sollen nicht nur ›Spielleute‹ sein, die vor Gott und seinen Engeln auftreten, sondern ›Spielleute des Herrn‹, die den Menschen Anlaß zur Freude geben. In dem Umstand, daß das Wort ioculatores ausdrücklich auf die franziskanischen Prediger bezogen ist, kommt diese Besonderheit der franziskanischen Auffassung zum Ausdruck.122 Diese Perspektive spricht nicht für eine Deutung des Begriffes ioculatores Domini als ›Hofnarren‹ Gottes, sondern eher dafür, daß die Franziskaner ›Narren‹ vor den Menschen sein sollten. Damit hätten sich die Minderbrüder in einem Spannungsfeld zwischen der zeitge117
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Als wenige Beispiele vgl. Decretum Gratiani, causa IV, quaestio I, c. I, in: JIC, ed. E. Friedberg, Bd. 1, Leipzig 1879 (unveränderter Nachdruck: Graz 1995), S. 537; Sachsenspiegel. Landrecht, ed. K.A. Eckhardt (MGH Fontes 1,1), S. 100 (I 38 § 1); vgl. ausführlich Schubert (wie Anm. 93), S. 121–130. Vgl. Leclercq, ›Ioculator et saltator‹ (wie Anm. 88), S. 130f. Das Aufkommen veränderter Einstellungen gegenüber den Spielleuten dokumentiert in seiner Untersuchung und in Quellenauszügen Edmond Faral, Les jongleurs en France au Moyen Age, Paris 1910. Salimbene de Adam vergleicht diejenigen, die den Minderbrüdern vorwerfen, daß sie doniatores seien, d.h. den Umgang mit Frauen suchten, mit den Spielleuten, die glaubten, sich mittels übler Nachrede über andere für ihre eigenen Ausschweifungen entschuldigen zu können; siehe Cronica fratris Salimbene (wie Anm. 111), S. 425f. Thomae de Chobham Summa confessorum, ed. F. Broomfield (Analecta Medievalia Namurcensia 25), Louvain/Paris 1968, S. 291f.; der betreffende Auszug ist auch wiedergegeben bei Faral (wie Anm. 118), S. 67 (mit Anm. 1) und S. 290 (Appendice III, Nr. 101). Abgesehen von dieser Unterscheidung bleibt Thomas’ Haltung gegenüber den histriones im traditionellen Rahmen. Man solle ihnen nichts geben; sie seien wie die Prostituierten von der Eucharistie auszuschließen (S. 293 u. 348f.). Bei der Erörterung der Frage, ob und wann die Ehefrau eines Spielmanns (ioculator vel histrio) ihrem umherziehenden Mann zu folgen hat, wird zwischen ioculator und histrio nicht grundsätzlich unterschieden; (S. 368f.). — Ein ioculator als Sänger erbaulicher Geschichten erscheint beispielsweise im Zusammenhang der Lebensgeschichte des Petrus Waldes, dessen Bekehrung auf den Vortrag der Alexius-Legende durch einen ioculator hin erfolgt sein soll; siehe Ex Chronico universali Anonymi Laudunensis, ed. G. Waitz, MGH SS 26, S. 447. Siehe Anm. 82. Anm. 122 s. nächste Seite
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nössischen Verachtung der Narren als Sünder123 und der Wertschätzung des Narren als über die weltliche Weisheit Triumphierender124 bewegen müssen. Daß ioculatores in diesem Kontext als ›Narren‹ und nicht nur als ›Sänger‹ oder ›Musiker‹, was nach dem Passus in der Legenda Perusina auch naheliegend wäre125, verstanden werden kann, verdeutlicht der Umstand, daß Thomas von Celano ausgerechnet den Bruder Juniper als egregius Domini iaculator (sic!) charakterisiert.126 In der ›Legenda Perusina‹ und im ›Speculum perfectionis‹ wird die Aussage Franziskus’ wiedergegeben, der Herr habe ihm gesagt, er wolle, daß er ein »neuer Verrückter« (novellus pazzus) in der Welt sei.127 Auf dem Weg dieser ›Wissenschaft‹ solle der Orden geführt werden. Laut dem Bericht sagte Franziskus dieses in einer heftigen Reaktion auf das Vorhaben einiger gebildeter Brüder, die auf dem sogenannten ›Strohmatten-Kapitel‹ (Pfingsten 1221) mit der Unterstützung des Kardinals Hugolino von Ostia ihren Einfluß auf die Ordensführung erhöhen und Elemente älterer Regeln in das franziskanische Ordensleben einfließen lassen wollten. Franziskus wird mit scharfen Worten gegen die Wissenschaft und Weisheit dieser Brüder zitiert.128 Der hier umrissene Kontext der Selbstbezeichnung als novellus pazzus in mundo muß beachtet werden, um deutlich werden zu lassen, daß es hier nicht nur um das Selbstverständnis Franziskus’ geht, sondern auch um die Orientierung seines gesamten Ordens. Zugleich wird das herausragende Selbstbewußtsein des Heiligen als Stifter der franziskanischen Gemeinschaft deutlich. Daß es Gott selbst war, der ihm, dem ›Einfältigen‹, seine Brüder und die richtige Lebensweise gegeben habe, hat Franziskus tatsächlich bekundet.129 Nach den Maßstäben der Welt verrückt zu sein, nicht nur so zu erscheinen, wäre eine Stei122
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Vgl. eingehend Casagrande / Vecchio, L’interdizione (wie Anm. 100), S. 243–252 (»L’avventura francescana: il predicatore giullare«) bzw. Dies., Clercs et jongleurs (wie Anm. 100), S. 919–923 (»Le prédicateur face au jongleur : l’aventure franciscaine et la stratégie dominicaine«): Der franziskanische Prediger besetzt den Raum des Spielmanns, er agiert spektakulär, auch den Körper setzt er ein (vgl. die in diesem Beitrag angeführten Beispiele). Zur Verbindung von Torheit und Sündhaftigkeit vgl. z.B. Barbara Swain, Fools and Folly during the Middle and the Renaissance, New York 1932 (Nachdruck: 1969), S. 21–26. Zu dieser Vorstellung im Bezug auf die Franziskaner vgl. ebd., S. 39f. Vgl. Anm. 82. Legenda Sanctae Clarae Virginis, ed. F. Pennacchi, in: Fontes franciscani (wie Anm. 4) [erstmals: Assisi 1910], S. 2415–2450, hier S. 2440 (=Legenda Sanctae Clarae 45): Juniper wird hier als einer der bei Klaras Tod Anwesenden benannt. Wichtig ist die von der Legenda Perusina unabhängige Verwendung des ioculator-Motivs in einem anderen Zusammenhang, die auf dessen damalige Geläufigkeit unter den Franziskanern schließen läßt. Leg. Per. 18; SpecPerfSabatier 68. Dieser wissenschaftsfeindlichen Aussage könnten allerdings freundlichere Bewertungen gegenübergestellt werden, so daß eine letztgültige eindeutige Position Franziskus’ nicht zu ermitteln ist; vgl. Wesjohann (wie Anm. 68), S. 123–137 u. S. 166. In seinem Testament, ed. K. Eßer (wie Anm. 116), passim.
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gerung des asketischen Anspruchs der »Torheit um Christi willen«130. Die Erfahrung für insanum gehalten zu werden, hat Franziskus offenbar gemacht.131 Die franziskanische Tradition berichtet auch davon, daß die ersten Minderbrüder, als sie ihre Predigttätigkeit aufnahmen, häufig als wahnsinnig verdächtigt und sogar gefürchtet gewesen seien.132 Möglicherweise erklärt sich das Wort vom novellus pazzus aus dieser Erfahrung, die akzeptiert wird, da die Verrücktheit, die Gott befohlen hat, als der einzig gangbare Weg erscheint. Wenn die Erfahrung der Ausgegrenztheit ein Grundanliegen133 des heiligen Franziskus war, könnte er durchaus in der zeitgenössischen Ausgrenzung der ›Wahnsinnigen‹, wie sie durch die Gesellschaft134, insbesondere aber auch durch den Klerus, deren Vertreter er in diesem Zusammenhang ja angreift, erfolgte135, ein Bild für dieses Anliegen gesehen haben. Wenn vermutet werden kann, daß in den franziskanischen Quellen die Umsetzung der paulinischen »Torheit um Christi willen« zu erkennen ist, so muß auf die Besonderheit verwiesen werden, daß sich diese Torheit hier exponiert. So werden aus den stulti öffentlich auftretende Narren. Jedoch muß genau darauf geachtet werden, wann ›Torheit‹ lediglich inszeniert oder gespielt wird. Denn auch der zur Unterhaltung auftretende Narr kann ein natürlicher ›Tor‹ oder tatsächlich ›Verrückter‹ sein. Die soziale Ausgrenzung kann die Voraussetzung der besonderen Sichtweise oder höheren Weisheit des ›Narren‹ sein.136 Damit wird dieses Modell der Ausgegrenztheit nicht von ungefähr zum Bezugspunkt der frühen Franziskaner.137 Davon zu unterscheiden 130 131 132
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Zum Weiterbestehen dieses Motivs im westeuropäischen Mittelalter vgl. Laharie (wie Anm. 38), S. 87–107. Leg3Soc 21. Leg3Soc 34; außerdem wird an dieser Stelle auch der Verdacht der Trunkenheit erwähnt (mit deutlichem Anklang an das Pfingstereignis und die Predigt Petri in der Apostelgeschichte: Act 2, 13–37). Mit dem Verdacht, den Verstand verloren zu haben, sah sich auch Petrus Waldes schon konfrontiert, als er sein Geld fortwarf; siehe Ex Chronico universali anonymi Laudunensis (wie Anm. 120), S. 448. Nach dem Markusevangelium ist selbst Christus von seinen Angehörigen verdächtigt worden, in furorem versus zu sein; vgl. Mc. 3, 21. Laut Apostelgeschichte wurde auch Paulus insania unterstellt; vgl. Act. 26, 24. Als Apostelnachfolge, die der paulinischen Beschreibung der Apostel als stulti propter Christum entspricht, nach der diese hungern, dürsten, nackt sind, mit den Händen arbeiten und auch beschimpft, verfolgt und verachtet werden; siehe 1 Cor. 4, 9–13. Vgl. 1 Cor. 3, 18–20: … quis videtur inter vos sapiens esse in hoc saeculo, stultus fiat ut sit sapiens / sapientia enim huius mundi stultitia est apud Deum … Vgl. Laharie (wie Anm. 38), S. 241–270. Vgl. Enid Welsford, The Fool. His Social and Literary History, London 1968, S. 319. Vgl. ebd.; Welsford vergleicht in diesem Zusammenhang Juniper mit dem spätmittelalterlichen kursächsischen Hofnarren Claus Narr. Dieses Beispiel verweist auf die Schwierigkeit, zu bestimmen, was den ›lächerlichen‹ Narren zum mitunter »weisen Narren« werden läßt, und der Vergleich von Juniper mit Claus Narr vermittelt den Eindruck, daß historisch reale ›Narren‹ bezüglich dieser Frage leicht Ratlosigkeit aufkommen lassen; vgl. zur Biographie Claus Narrs und dem Urteil der Nachwelt Hans-Günter Schmitz, Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr, Hildesheim/Zürich/New York 1990, S. 7–22.
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ist die nur inszenierte Einfalt. Jordan von Giano138 beschreibt in seiner Chronik, wie er geradezu versehentlich unter die Brüder geraten ist, die 1221 nach Deutschland gingen.139 Er berichtet auch von seinem etwas ungebührlichen Verhalten, gegenüber Gregor IX. im Jahr 1238. Er war beauftragt worden, als Abgesandter der Provinz Saxonia beim Papst gegen den von Elias eingesetzten Visitator zu appellieren: Jordan und sein Begleiter werden vom Papst, der im Bett liegt, begrüßt und dann beschieden, sich erst einmal zu entfernen. Er geht aber nicht, sondern läuft fröhlich zum Bett des Papstes, zieht dessen nackten Fuß hervor, küßt diesen ab und ruft seinem Begleiter zu: »Schau! Solche Reliquien haben wir in der Saxonia nicht!« Der Papst will die beiden immer noch fortschicken, da antwortet Jordan: »Nein, Herr! Wir haben von Euch nichts zu erbitten. Wir haben von Euch ja alles Gute und rühmen uns dessen. Ihr seid nämlich der Vater, Protektor und corrector des Ordens. Wir kamen doch nur, um Euch zu sehen!« Daraufhin habe sich der Papst heiter aufgerichtet und nach dem Begehren der Brüder gefragt.140 Hier wird naive Demut vorgespielt, worüber der Akteur selbst berichtet. Die Episode bleibt harmlos. Niemand nimmt Anstoß an ihr, sie erheitert vielmehr die Beteiligten und führt zum gewünschten Erfolg. Vielleicht war Gregor IX. (Hugolino von Ostia) als eng mit der franziskanischen Bewegung verbundener Kirchenfürst ein geeignetes Opfer eines solchen Fehlverhaltens, das durch seine souveräne Reaktion nicht zum ›Fehltritt‹ geraten konnte. Diese Reaktion muß Jordan einkalkuliert haben; dieses Kalkül ist riskant, zeugt aber von der Fähigkeit, den äußersten Rahmen angemessenen Auftretens zu erkennen. Sich zu verschätzen, hätte Jordan wohl in eine peinliche Lage gebracht, aber nach dem geschilderten Verlauf ist das Ergebnis seiner Handlung, in der echt franziskanische Einfalt und Demut zum Ausdruck zu kommen scheint, lediglich harmlos. Ein wichtiger Aspekt des Berichts ist, daß hier ausdrücklich von der heiteren Reaktion des Papstes die Rede ist. Die Heiterkeit der Beteiligten ist aber nie das Ergebnis der anderen hier genannten und zu nennenden Beispiele des gegen Konventionen verstoßenden Verhaltens, sondern in einigen Fällen lediglich der Spott der Außenwelt. Die Beispiele der Nacktheit haben bereits den Umstand verdeutlicht, daß in der franziskanischen Hagiographie Verhaltensweisen des heiligen Franziskus, die auf den ersten Blick als anstößig, unangemessen, peinlich, skandalös oder lächerlich hätten erscheinen müssen, eine erbauliche Wirkung auf die Zeugen hatten. Jedoch bleibt die Annahme gerechtfertigt, daß derartige 138
139 140
Ausführliche Informationen über Jordan von Giano bei Franco dal Pino, Giordano da Giano e le prime missioni oltralpe dei frati Minori, in: Società internazonale di studi francescani / Centro interuniversitario di studi francescani (Hgg.), I compagni di Francesco e la prima generazione minoritica. Atti del XIX Convegno internazionale, Assisi, 17–19 ottobre 1991, Spoleto 1992, S. 201–257. Chronica fratris Jordani (wie Anm. 35), S. 19–21. Ebd. , S. 56.
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Erfolge einer passenden Reaktion einiger bestimmter oder aller Beteiligter bedurften, die auch Skandalvermeidung zu leisten hatte. Es sei an die Handlung des Bischofs von Assisi erinnert. Ferner sei darauf hingewiesen, daß die Zeugen der Selbstbezichtigung und öffentlichen Buße Franziskus’ aufgrund seines Fleischgenusses sich an das erinnerten, was sie über den Büßenden wußten, und so die Aussage der Handlung verstehen und entsprechend reagieren konnten. Hugolino von Ostia war sich offenbar peinlich bewußt über die Skandalträchtigkeit der Auftritte desjenigen, den er später heiligsprechen sollte. So hatte Hugolino angeblich Bedenken, daß sich der ungebildete Franziskus, der vor Honorius III. predigen wollte, vor der Kurie blamieren könnte, was auch ihm zur Schande gereicht hätte.141 Eine weitere Episode verdeutlicht die Schwierigkeiten Hugolinos mit Franziskus142: Franziskus besucht Hugolino; zur Stunde des Gastmahles geht er in die Stadt, um Almosen zu sammeln. Die erbettelten Schwarzbrotstücke verteilt er, als er zurückgekommen ist, an die Gäste, vor denen Hugolino sich angesichts Franziskus’ Tuns ein wenig schämt. Die einen essen das Schwarzbrot, die anderen heben es in Ehrfurcht auf. Bei Hugolino aber überwiegt die Freude darüber, daß Franziskus Schwarzbrot statt Weißbrot verteilt hat. Diese Freude erklärt sich daraus, daß so formal der Eindruck einer Nachahmung des Sakraments der Kommunion vermieden wird, wenngleich das Verhalten der Gäste darauf schließen läßt, daß sie die Andeutung verstanden haben.143 Trotz der Erleichterung über das Ausbleiben des großen Skandals stellt Hugolino Franziskus später wegen der den Gastgeber beschämenden Handlung freundlich zur Rede.144 Handlungen und Reden, die auf den ersten Blick als unangemessen erscheinen, können auch als auf eine höhere Wertordnung verweisend verstanden werden. Der Franziskusgefährte Ägidius von Assisi145 war ein einfacher Handwerker, der sich für die Bewahrung der ursprünglichen Radikalität der franziskanischen Bewegung einsetzte, diese Position aber nicht mit den Mitteln der Gelehrten zum Ausdruck bringen konnte. Es können diesbezügliche Passagen aus der ›Chronik der vierundzwanzig Generalminister‹, die auch eine Ägidius-Vita enthält146, angeführt werden. So habe er dem Magister Anglicus im Kloster der Schwestern der heiligen Klara zu San Damiano zu schweigen geboten, auf daß er ihn selbst predigen lasse. Anglicus sei dem gefolgt; Ägidius habe »honigfließende Worte« gepredigt, dann aber den Bruder 141 142 143 144 145 146
1 Cel 73. Leg. Per. 97 (auch 2 Cel 73, dort aber nicht mit allen Details, die die Problematik der Szene erklären). Vgl. Feld (wie Anm. 5), S. 348f.: Feld zählt diese Szene zu den »quasi-sakramentalen Zeichenhandlungen« des Franziskus. Wobei er ihn als simplizione anredet (Leg. Per. 97). Zu Ägidius vgl. Stefano Brufani, Egidio d’Assisi. Una santità feriale, in: I compagni di Francesco (wie Anm. 138), S. 285–311. Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum (wie Anm. 1), S. 74–115.
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die Predigt vollenden lassen. Nach dem Bericht zeigte sich die heilige Klara über das Beispiel des Magisters überaus erbaut.147 Ein anderes Beispiel der Respektlosigkeit zeigt sich in einem Dialog des einfachen Bruders Ägidius, der das Privileg hatte, einer der vertrautesten Gefährten Franziskus’ gewesen zu sein, mit dem großen Theologen und Generalminister Bonaventura, in dem die Kritik an den Tendenzen der Klerikalisierung des Ordens und der Ausbildung des Studienwesens zum Ausdruck kommt: Ägidius habe Bonaventura gefragt, ob ein Ungebildeter Gott ebenso lieben könne wie ein Gebildeter. Bonaventuras Antwort habe gelautet, daß das eine kleine alte Frau sogar mehr könne als ein Magister der Theologie, worauf Ägidius in die nahegelegene Stadt gerufen habe: »Arme alte Frau, einfältig und ungebildet, liebe Gott, den Herrn, und du kannst größer sein als Bruder Bonaventura.«148 Zwar steht Ägidius für die ursprünglichen Ideale des heiligen Franziskus, aber seine Aufmüpfigkeit gegenüber dem Magister Anglicus und Bonaventura ist ambivalent, denn als Franziskaner wäre er nach dem Willen des Ordensstifters dem Kleriker gegenüber zum Respekt149 und gegenüber dem Generalminister zum unbedingten Gehorsam150 verpflichtet. Zumindest gegen ersteres hat er im Umgang mit Anglicus und Bonaventura verstoßen. Die Rede an den Magister könnte als Verstoß gegen die Demut angesehen werden. Merkwürdig ist, daß Ägidius diesem aber gerade dadurch die Möglichkeit gibt, sich demütig zu verhalten. Wollte Ägidius zuvörderst das alte Prinzip der Gleichheit der Gebildeten und der Ungebildeten zur Umsetzung bringen und den Höhergestellten die möglichen Gründe zum Hochmut nehmen151, so kann er darüber hinaus vergessen haben, daß seine Handlungsweise für sich genommen nicht korrekt war. So muß hier ein objektives Fehlverhalten konstatiert werden, das mit dem ›Fehltritt‹ das Merkmal der Unbewußtheit gemeinsam hat. Allerdings schließt sich an diese Feststellung die Frage an, ob der Verstoß eines Mönches gegen ein so fundamentales Gebot wie die Demut mit Recht in die Nähe des ›Fehltritts‹ gerückt werden kann.152 Bemerkenswert ist jedoch, wie die eigentlich skandalöse Situation sofort aufgelöst wird, nämlich durch die Reaktion des Magisters und die Worte der heiligen Klara.153 Ägidius kann in zweierlei Hinsicht mit den ostkirchlichen »heiligen Narren« verglichen wer147
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Ebd., S. 81. Klara verweist hier auch darauf, daß Franziskus selbst den Wunsch geäußert habe, daß die Kleriker in seinem Orden zu solcher Demut gelangten, daß ein Magister der Theologie freiwillig die eigene Predigt unterbrechen könne, um einen Laien predigen zu lassen. Ebd., S. 101. Dieser Ausruf darf nicht als Ironie verstanden werden; vgl. Wesjohann (wie Anm. 68), S. 160f. Vgl. z.B. Franziskus’ Testament, ed. K. Eßer (wie Anm 116), S. 438. Ebd., S. 442. Zu dieser Funktion und der Rolle der Schwachen und Außenseiter als Repräsentanten moralischer Werte vgl. Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, New York 1995 (erstmals: Chicago 1969), S. 108–111 u. 133.
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den, auch wenn er sich nicht töricht gestellt hat:154 Er brachte zum einen mit seinen Handlungen und schlagfertigen Aussagen Kritik zum Ausdruck; zum anderen war er ein Ekstatiker, der auch schwere Kämpfe gegen Dämonen ausgestanden haben soll.155 Ebenfalls bei Juniper sind diese Eigenschaften zu finden,156 obwohl sie in seiner Vita nicht denselben Stellenwert einnehmen wie bei Ägidius. Aufmüpfiges Verhalten konnte offenbar auch handfester Protest gegen die Entwicklung des Ordens sein: Als Beweis der Liebe zur Armut wird die Handlung des Bruders Leo geschildert, der zusammen mit einigen Gefährten ein vor der Baustelle der Grabkirche des Franziskus stehendes marmornes Gefäß zerschlägt, in dem Spenden für den Prachtbau gesammelt werden. Diese Aktion erfolgt im übrigen nach der Zusprache des Ägidius. Elias, der noch Generalminister in seiner ersten Amtsperiode ist, läßt die Beteiligten auspeitschen und aus der Stadt werfen. Gerade aufgrund dieses Verhaltens soll das Generalkapitel Elias abgewählt haben.157 In den Lebensbeschreibungen der Franziskusgefährten, die als Bewahrer der radikalen Intentionen Franziskus’ nach seinem Tode bekannt sind, wird mitunter von Provokationen berichtet. Provokationen sind aber von ›Fehltritten‹ scharf zu unterscheiden, da sie absichtlich und zielgerichtet erfolgen. Diese Unterscheidung erfolgt jedoch im nachhinein, wenn dem offensichtlichen Fehlverhalten eine Bedeutung zugewiesen wird oder nicht. Ein ›Fehltritt‹ symbolisiert nichts, gleichwohl kann ein verunglückter Symbolisierungsversuch zum Fehltritt geraten. Es liegt auch eine Provokation in der Handlung des Franziskus vor Bischof und Volk von Assisi und vor allem auch in seinen Worten. Der Erfolg bedingt die Rückschau auf Provokationen. Eine Provokation kann im nachhinein (beispielsweise) Ärgernis geblieben oder (beispielsweise) Fanal geworden sein; sie kann zum Bestandteil eines Begründens werden. Auch das kann ›provozieren‹ bedeuten: 152
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Das ist gewiß nicht möglich, wenn als Wesensmerkmal des ›Fehltritts‹ die Geringfügigkeit oder Banalität des Vergehens, zu der das Maß der Peinlichkeit, die es hervorruft in keinem Verhältnis zu stehen scheint, festgelegt wird. Daraus aber ergäbe sich die Frage, ob mittelalterliche Mönche überhaupt Fehltritte begehen konnten. Vgl. hierzu die abschließenden Überlegungen dieses Beitrags. Das Problem der Grundsatztreue, das sich ergibt, wenn einer der Grundsätze darin besteht, gegenüber Würdenträgern oder Amtsinhabern, die selbst zumindest tendenziell gegen das System der betreffenden Grundsätze verstoßen, zum absoluten Gehorsam verpflichtet zu sein, läßt sich anhand der franziskanischen Geschichte mehr als ausgiebig diskutieren. So soll hier z.B. auf das Problem des Verhältnisses des heiligen Franziskus zur kirchlichen Hierarchie nur ganz allgemein hingewiesen werden. Er war lediglich simplex in dem Sinne, daß er nicht gebildet war. Vgl. Feld (wie Anm. 5), S. 154f.; siehe die zahlreichen Berichte von Verzückungen und Kämpfen in seiner Vita in der ›Chronik der vierundzwanzig Generalminister‹ (wie Anm. 1), S. 74–115. Vgl. Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum (wie Anm. 1), S. 56 u. 63f. Ebd., S. 72. Diese Abwahl kann über die Niederlage Leos nicht hinwegtäuschen, wie die Kirche San Francesco zu Assisi beweist.
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Aufforderung und Herausforderung. Der Bischof von Assisi konnte auf Franziskus’ Handlung angemessen reagieren, und Unzählige folgten dem Aufruf, der in dieser Geschichte enthalten ist. Salimbene de Adam wußte genau, was sich schickte, als er dem Bruder Elias vorwarf, daß dieser einmal dem Podestà von Parma nicht den gebührenden Respekt erwies, als dieser ihn besuchte, und bei dessen Eintreten einfach sitzen blieb.158 Salimbene beklagte dieses als Zeichen der rusticitas des von ihm wenig geschätzten Elias.159 Damit wird eine lange Aufzählung der Fehler dieses Generalministers eingeleitet, wobei hier nur auf das Indiz verwiesen werden soll, daß rusticitas überhaupt zum Vorwurf werden konnte. Andererseits kennt Salimbene durchaus die vorgetäuschte Dummheit als Mittel, eitlem Ruhm zu entkommen. Jedoch muß er auf die ›Vitae Patrum‹ zurückgreifen, wobei das Verhalten, daß bei Elias schändlich war, nun vorbildhaft sein soll: Als ein heiliger Eremit von einem Richter besucht worden sei, habe er auf der Schwelle seiner Tür sitzend Brot und Käse verzehrt und sich nicht erhoben. Der Richter habe ihn daraufhin für töricht statt für weise gehalten.160 Was dem Eremiten zukam, konnte Salimbene beim ehemaligen Generalminister seines Ordens keinesfalls dulden.161 Salimbene ist sich der Beispiele vermeintlicher levitas in seinem Orden bewußt. Er habe hochgebildete Mitbrüder magne sanctitatis gekannt, die von Außenstehenden aufgrund ihres Verhaltens für leves persone gehalten worden seien.162 Gründe für levitas können nach Salimbene ein »eitles Herz« oder der Wunsch, die Traurigkeit zu überwinden, sein; er kennt aber auch levitas ex permissione divina und das besagte Anliegen, durch Verstellung dem eitlen Ruhm zu entgehen.163 Ein Prälat jedoch hat sich nach Salimbenes Ansicht in jedem Fall der levitas zu enthalten, die ihm als persona privata vielleicht noch erlaubt gewesen sein mag.164 Beim Blick auf die Kritik an Elias fällt auf, wie bereitwillig Salimbene die derben Späße165 des Bruders Deustesalvet aus Florenz entschuldigt166. Ein Entschuldigungsgrund ist, daß er seinen florentinischen Mitbürgern kein schlechtes Beispiel geben konnte, da diese im allgemeinen ebenso große truffatores seien wie er.167 Als wesentliches Kriterium der Beurteilung einer scherzhaften Handlung erscheint hier deren Skandalträchtigkeit, die kontextabhängig ist.168 Salimbene kann auf die in der Vita secunda überlieferte Ansicht des heiligen 158 159 160 161 162
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Cronica fratris Salimbene (wie Anm. 111), S. 96. Ebd., S. 98. Ebd., S. 148; vgl. Vitae Patrum, (wie Anm. 55), Sp. 908. Der Bericht ist Bestandteil des Liber de praelato in der Cronica (wie Anm. 111), S. 96–163. Ebd., S. 146. Vielleicht darf diese Bemerkung als Indiz dafür gewertet werden, daß das in diesem Beitrag behandelte Problem ein den Zeitgenossen bewußtes und nicht im nachhinein konstruiertes war. Ebd., S. 146–148. Ebd., S. 149. Ebd., S. 79. Ebd., S. 82.
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Franziskus verweisen, daß auf die öffentliche Meinung Rücksicht genommen werden müsse.169 Aber Salimbenes Haltung verdeutlicht auch die veränderte Realität des Ordens. Seine Wertmaßstäbe sind die eines aus gehobenen Verhältnissen stammenden Klerikers, der den Laien und idiotae in seinem Orden distanziert gegenübersteht.170 Der erfolgreiche Ausdruck der Selbstverdemütigung scheint ein Privileg des Heiligen zu sein, wie die Beispiele der Nacktheit, insbesondere aber die Rufinus-Episode, vermuten lassen. Es mußte gelingen, durch symbolische Handlungen, die zentralen Anliegen der Gemeinschaft zu verdeutlichen. Ein krasses Beispiel der Demut und des Gehorsams demonstriert Franziskus in einer Episode, die nicht von den franziskanischen Autoren überliefert wurde, sondern von Matthäus Paris, der die erste Begegnung zwischen Innozenz III. und Franziskus folgendermaßen schilderte: Der Papst habe Franziskus angesichts dessen Erscheinung gesagt, er solle sich mit den Schweinen im Dreck wälzen, ihnen predigen und seine Regel geben, was Franziskus wörtlich befolgt und den Papst somit bewogen habe, seiner Bitte zu entsprechen.171 Es ist bemerkenswert, daß der Benediktiner Matthäus von einer so symbolträchtigen Begebenheit zu berichten weiß, die das Anliegen des Franziskus schlaglichtartig 167
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Von den geschilderten Scherzen trifft allerdings nur einer einen Mitbürger des Minderbruders: Als er in Florenz im Winter ausrutscht und am Boden liegt, wird Deustesalvet ausgelacht und von einem der Florentiner gefragt, ob er jetzt gerne etwas unter sich haben würde. Der Verlachte antwortet dem Fragenden, daß er dessen Frau unter sich haben wolle. Die Reaktion der Umstehenden ist, daß Deustesalvet als »einer von uns« anerkannt wird. Salimbene faßt das offenbar als willkommene Anerkennung auf. Zwar erläutert er ausführlich, daß die Antwort unehrenhaft gewesen sei, kommt dann aber unter anderem zu dem besagten Entschuldigungsgrund. Daß Deustesalvet den Dominikanern die Anmaßung ihres Ordensbruders Johannes von Vicenza (ebd., S. 97) verdeutlichte, indem er sie auf drastische Weise veralberte (S. 98), mag Salimbene gut gefallen haben. Problematischer ist ein Scherz (ebd.), mit dessen Hilfe er einen Befehl umgeht, aber den Konflikt mit dem Gehorsamsgebot diskutiert Salimbene nicht. Vgl. Casagrande / Vecchio, Cronache, morale, predicazione: Salimbene da Parma e Jacopo da Varagine, in: StM, ser. 3, 30 (1989), S. 749–788, hier S. 763f. Während Deustesalvet Anerkennung durch seine Mitbürger erfährt, ist der ›Fehltritt‹ Elias’ für die Anwesenden offenkundig, denn über seine Respektlosigkeit heißt es: fuit maxima rusticitas reputata. Salimbene unterläßt es nicht, die Unangemessenheit dieses Verhaltens zu verdeutlichen, indem er auf die geringe Herkunft Elias’ hinweist; siehe Cronica fratris Salimbene (wie Anm. 111), S. 96. Ebd., S. 82 u. 150 mit dem Franziskus-Zitat (irreführender Verweis in der Edition Holder-Egger) aus 2 Cel 126: … bonum est multa dimittere, ne laedatur opinio. Der Widerspruch zu Episoden, in denen Franziskus diese Rücksicht genommen hat und zu Selbstcharakterisierungen wie der als novellus pazzus ist nicht aufzulösen. Vgl. Casagrande / Vecchio, Cronache, morale, predicazione (wie Anm. 168), S. 766; vgl. auch Baethgen (wie Anm. 113), S. 467. Matthaei Parisiensis Chronica majora, ed. H. Richards Luard, RerBrit 57, Bd. 3, S. 132. Nach dieser Edition ist die Szene auch wiedergegeben bei Leonhard Lemmens, Testimonia minora saeculi XIII de S. Francisco Assisiensi, Quaracchi 1926, S. 29f.
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verdeutlicht, wenngleich sie offenbar weder tatsächlich vorgefallen, noch den zeitgenössischen Franziskanern bekannt war. Das nahezu durchgängige Motiv der Juniper-Vita ist das Thema der Selbstverachtung und der Selbstverdemütigung. So heißt es schon in der Einleitung seiner Vita gewissermaßen programmatisch: Ad tantum etiam sui contemptum pervenerat, ut ab eius perfectionem ignorantibus stultus vel fatuus putaretur.172 Juniper versucht die Bewunderung und Verehrung der Außenwelt für seine Person gezielt zu zerstören.173 Es sei eine letzte Episode aus der an Beispielen der vermeintlichen Albernheit reichen Vita des Juniper angeführt, in der wieder von einem Skandal die Rede ist: Juniper sei von einem großen Freund des Ordens eingeladen worden, er habe die Einladung aber nur widerwillig und auf Drängen seines Oberen hin angenommen. Er wird von dem Herrn und dessen Familie mit großer Herzlichkeit aufgenommen, reagiert aber auf die Ehrerweisungen mit deutlichem Mißfallen. Der Gastgeber wundert sich, daß der als heilig geltende Mann sich so verhält und glaubt schließlich, daß er von der Reise erschöpft sei. Also läßt er ihn in einem Zimmer allein, wo ein gutes Bett mit feinem Leinen für ihn bereitet ist. Juniper aber verläßt am frühen Morgen fluchtartig das Haus und beschmutzt sogar das Bett. Der Gastgeber verbleibt darüber scandalizatus. Die Mitbrüder machen Juniper Vorwürfe, der ihren Tadel billigt, wobei er eine mehr innerlich als äußerlich große Freude zeigt.174 Junipers Verhaltensweisen werden als Zeichen äußerster Demut geschildert. Diese Demut verlangt die Verachtung durch die Welt und duldet keinerlei Bewunderung.175 Der Demütige kann das Problem, daß er für seine Demut bewundert werden kann, dadurch lösen, daß er versucht, nicht als das zu erscheinen, was er ist. Insofern mögen die Auftritte Junipers seinem Kalkül entsprochen haben. Zum Fehlverhalten wurden sie durch die skandalöse Wirkung. Als Minderbruder war Juniper zur Demut verpflichtet, aber seine Umsetzung dieser Verpflichtung konnte nicht im Sinne des Ordens sein. Daß sein Verhalten die Mitbrüder verwirrte und scandalizati verbleiben ließ, bedingt, daß aus der Handlung aus guter Absicht ein schwerwiegendes Fehlverhalten wurde.176 ›Skandal‹ bedeutet im Mittelalter nämlich eine Handlung oder Rede, die den Anwesenden zum Anlaß für eigenes Fehlverhalten werden kann, ein schlechtes Beispiel also, das selbst aber nicht Sünde sein muß.177 Innerhalb eines Ordens sind aber vermeintliche Beispiele für Hochmut oder Ungehorsam besonders schwerwiegende Skandale, 172 173 174 175 176 177
Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum (wie Anm. 1), S. 54. Vgl. ebd., S. 61f. Ebd., S. 60f. Vgl. Hauptmann (wie Anm. 45), S. 37. Explizit gemacht in Worten wie confusi, scandalizati, turbati. Vgl. Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Gert Melville / Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln/Weimar/Wien 1998, S. 3– 83, hier S. 41f.
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da diese insbesondere für Mönche sündhaftes Verhalten darstellen.178 Diese Auffassung wird z.B. deutlich in dem Brief des Bischofs Marbod von Rennes an Robert von Arbrissel, in dem er diesen nachdrücklich zur Vermeidung von Skandalen auffordert179, und zwar sowohl im Hinblick auf das Gewissen seiner Mitbrüder180 als auch auf die öffentlichen Sitten und die öffentliche Meinung181. Für das Anliegen der Skandalvermeidung ist es unerheblich, mit welcher Intention – ob aus böser Absicht, aus gutem Willen oder aus Versehen – der Skandal ausgelöst wurde. Mit Blick auf die Verpflichtung der Franziskaner, sich des Seelenheils ihrer Mitmenschen anzunehmen, greift der Skandal über die Ordensgemeinschaft hinaus. Das Ansehen der Ordensgemeinschaft darf nicht geschädigt werden, damit der seelsorgerische Auftrag des Ordens nicht gefährdet wird. Somit sind insbesondere die geschilderten Handlungen Junipers in den folgenden Hinsichten als ›Fehltritte‹ zu benennen: Die Handlungen selbst erfolgten mit der guten Absicht der Selbstverdemütigung, weshalb Reaktionen wie Spott, Schelte oder Verachtung durchaus erwünscht waren; als Minderbruder hätte Juniper aber mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit (Orden und Umfeld) nicht als hochmütig oder in einer anderen Beziehung verachtenswert erscheinen dürfen; die Handlungen sind somit Ergebnisse von Fehleinschätzungen. Die Verpflichtung, der Umwelt ein erbauliches Beispiel abzugeben, was Franziskus offenbar gelungen ist, umreißt die Grenzen der Selbstheiligung.182 Vielleicht ist das ein Grund dafür, daß es in Franziskus’ Leben Phasen der Nichtöffentlichkeit, nämlich des Rückzuges in das Eremitendasein gab. Es erklärt auch, warum die klassischen heiligen Narren der Ostkirche Einzelgänger waren, die zwar aus der Einsiedelei in die Öffentlichkeit gingen, sich dort aber niemandem sichtbar anschlossen.183 Von einem Franziskaner mußte erwartet werden, daß er sich in der Öffentlichkeit richtig verhalten konnte. Diesbezügliche Urteilskraft und der Sinn für Angemessenheit waren Voraussetzungen für eine erfolgreiche seelsorgerische Praxis des Ordens. Bonaventura hat unter anderem mit den Erfordernissen des richtigen Auftretens des Minderbruders in der Öffentlichkeit die Notwendigkeit von Studien im Orden begründet.184 Damit mußte sich die Frage stellen, welcher Platz für die Laien und Ungebildeten im Orden noch bleiben konnte, insbesondere solchen Menschen wie Juniper und Ägidius, und die Antwort war, daß auf Dauer kein Platz für sie blieb.185 Aber die Notwendigkeit des angemessenen Verhaltens liegt nicht nur in der Entwicklung des Ordens nach dem Tode des heiligen Franziskus begründet. Gerade die Etablierung des noch unbekannten Ordens erforderte ein Verhalten seiner Mitglieder, das sei178 179 180 181
Sollte in der Nacktheit Junipers auch Unkeuschheit gesehen worden sein, wäre auch dadurch ein Skandal im obigen Sinne gegeben gewesen. Siehe Marbods Epistola VI, in: Marbodi episcopi Opuscula, MPL 171, Sp. 1457–1784, hier Sp. 1480–1486. Ebd., Sp. 1481. Ebd., Sp. 1483f. Anm. 182–185 s. nächste Seite
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ne Leitideen augenfällig machte. Die Berichte Jordans von Giano und Thomas’ von Eccleston über die Ausweitung des Ordens in neue Gebiete geben über diese Aufgabe und über die Möglichkeiten zu deren Lösung Aufschluß. Die Ordensgemeinschaft war von der Anerkennung durch die Außenwelt, von der sie sich gleichzeitig sichtbar abgrenzte, abhängig. Sie mußte Verehrung evozieren.186 Es reichte nicht aus, Armut und Demut zu leben, sie muß182
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An dieser Stelle sei noch ein weiteres Fehlverhalten Junipers angegeben, das sich in entscheidenden Punkten von den anderen Beispielen unterscheidet: Noch zu Lebzeiten Franziskus’ serviert Juniper einem kranken Mitbruder aus Nächstenliebe einen Schweinefuß, den er bedenkenlos einem Schwein abgeschnitten hat. Der wütende Besitzer des verstümmelten Tieres sucht die Minderbrüder auf und beschimpft diese heftig. Franziskus stellt Juniper zur Rede, der sein Vergehen freimütig bekennt. Auf Franziskus’ Geheiß muß Juniper dem Geschädigten folgen, damit dieser nicht in der Stadt (Assisi) den Skandal publik mache, und vor diesem alle Schuld auf sich nehmen und einen Ausgleich versprechen. Juniper tut dies und erzählt dem Mann begeistert, wie sein Schwein zum Werkzeug der Nächstenliebe gemacht wurde. Weitere Beschimpfungen bringen Juniper überhaupt nicht von seiner Sichtweise ab. Er fällt dem Mann vielmehr fröhlich um den Hals. Dieser wird schließlich durch tanta … simplicitate überzeugt, daß das Werk der Nächstenliebe über seinem Besitzinteresse steht. Schließlich schlachtet er das Schwein, um es den Brüdern gut zubereitet zukommen zu lassen. Franziskus aber ruft aus: Fratres mei, fratres mei, utinam ego haberem de talibus iuniperis unam silvam! (iuniperus, oder italienisch: ginepro bedeutet Wacholder); siehe Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum (wie Anm. 1), S. 54–56. — Es geht hier also um eine echte Schädigung, eine Tat, die auch als Diebstahl ausgelegt werden könnte, weshalb in ihr wohl kein ›Fehltritt‹ gesehen werden dürfte. Jedoch ist es klar, daß dem Täter das Unrecht seiner Tat nicht bewußt wird. Das Bemerkenswerte an dem Bericht ist, daß es ihm später auch überhaupt nicht bewußt wird, sondern daß er beharrlich auf das höhere Ziel seiner Handlung verweist. Völlig erstaunt nimmt er die Vorwürfe Franziskus’ und des Geschädigten zur Kenntnis, ohne sich irritieren zu lassen. Es ist »wirkliche Einfalt« im Spiel, die aber das Richtige sieht, denn schließlich muß auch der Geschädigte zugeben, daß er den Brüdern mit seinen Beschimpfungen Unrecht getan und sich als geizig erwiesen habe. Zu konstatieren ist, daß Franziskus in dieser Geschichte offenbar daran gelegen ist, zu vermeiden, daß der bereits gegebene Skandal (scandalum) nicht noch größer wird, indem er einer größeren Öffentlichkeit bekannt wird. Ferner ist festzustellen, daß der Einfältige hier triumphiert. Es wird anerkannt, daß er recht hat. Hier löst sich der Skandal also auf. Wie sich allerdings die Behandlung des Schweins mit der berühmten franziskanischen Tierliebe vereinbaren ließ, bleibt eine offene Frage. Ein wirklicher heiliger Narr wäre wohl ein schlechter Ordensmann; es sei wieder auf Johannes de Deo verwiesen, der den Wahnsinn aufgeben mußte, um barmherzig wirken und einen Orden gründen zu können; vgl. Anm. 65. — Salimbene de Adam hätte bei seinem Beispiel der simulierten Torheit, siehe oben S. 228, auffallen können, daß in seiner Erzählung die Schüler des Eremiten auf dessen malum exemplum hinweisen. Für Anachoreten war das wohl ein geringeres Problem als für Mendikanten. Bonaventura, Opera omnia VIII, ed. Collegium S. Bonaventurae, Quaracchi 1898, S. 361: … ut sciat se honeste gerere inter homines et prudenter in omnibus se habere. Vgl. Wesjohann (wie Anm. 68) mit Hinweisen zur Literatur. Vgl. Annette Kehnel, Die Formierung der Gemeinschaft der Minderen Brüder in der Provinz Anglia. Überlegungen zum Tractatus de adventu fratrum minorum in Angliam des Bruders Thomas von Eccleston, in: Oberste / Melville (wie Anm. 68), S. 493–524, hier S. 522.
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ten auch demonstriert werden.187 Wenn es nicht genügte, demütig zu sein, sondern der Minderbruder auch so erscheinen mußte, konnte Junipers Verständnis von Demut nur geeignet sein, ständig Fehltritte zum Ergebnis zu haben. ›Fehltritte‹ insofern, als daß die geschilderten Verhaltensweisen, vom Standpunkt der Gemeinschaft und der Gesellschaft aus betrachtet, unangemessen waren, die jedoch, obwohl die Akteure Mönche waren, nicht als Sünden verstanden wurden.188 Uns wird von ihrer skandalösen Wirkung berichtet, von der Verwirrung und Aufregung, die sie stifteten, aber zugleich wird im nachhinein deutlich, daß der Skandal nicht das Ziel der betreffenden Handlungen war. Bei aller Vorsicht kann daher von ihnen als Handlungen gesprochen werden, die ›Fehltritten‹ schon sehr ähnlich sind. Zumindest aber ist die Gefahr der Verwechslung mit Provokationen auf der einen und Sünden auf der anderen Seite gebannt. Letzteres ist bemerkenswert, weil sich hier die Möglichkeit eröffnet, daß ein mittelalterlicher Mönch gegen Konventionen verstoßen kann, ohne dadurch zu sündigen, was unter normalen Umständen im mittelalterlichen Mönchtum wohl kaum möglich war.189 Diese Beispiele verdeutlichen das eigentümliche Spannungsfeld, in dem die franziskanische Tradition steht: Zum einen verweisen die Beispiele der Unangepaßtheit auf die grundsätzliche Unmöglichkeit, das franziskanische Ideal im Rahmen einer strukturierten Gemeinschaft, wie es ein Orden zwangsläufig ist, zu verwirklichen190; zum anderen erfolgt die Überlieferung dieser Beispiele aber im Rahmen dieser strukturierten Gemeinschaft selbst. Wie die Rolle des Narren im Drama191 erschöpfte sich die Rolle von Brüdern wie Ägidius oder Juniper in der Geschichte des franziskanischen Ordens in episodischen Auftritten.192 Gleichwohl mag uns ein Juniper darauf aufmerksam machen, daß die Grenzen der Heiligkeit und die Grenzen der Interaktionskompetenz nahe beieinander liegen können. In der Frühphase des franziskanischen Ordens konnten manche Minderbrüder dieses Problem vielleicht noch einigermaßen bewältigen, wie die Reaktion des Johannes Parens auf ein Fehlverhalten Junipers, das eigentlich ganz im Sinne des franziskanischen Armutsideals war, andeuten könnte: Juniper hatte einer armen Frau silberne Glöckchen, die zur Altarverzierung in San Francesco dienten, geschenkt. Zwar erhielt er dafür seinen Tadel vom Generalminister Johannes Parens, doch dieser warf dem sacrista, der, Junipers Eigenarten vergessend, diesen den Altar hatte be187
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Wobei die formale Umsetzung des Armutsgedankens bzw. der ›Armutsnachweis‹ sogar kostspielig werden konnte; vgl. ebd., S. 515 mit Bezug auf Thomas von Eccleston (wie Anm. 29), S. 23. Bei aller Empörung der Zeugen wird nicht von ›Sünde‹ gesprochen. Von ›Fehltritten‹ könnte womöglich überhaupt nicht gesprochen werden, wenn die genannten Taten als Sünden eingeschätzt worden wären. Vgl. Gert Melville, Der Mönch als Rebell gegen gesatzte Ordnung und religiöse Tugend. Beobachtungen zu Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), De ordine vitae. Zu Normvorstellungen, Organisationsformen und Schriftgebrauch im mittelalterlichen Ordenswesen (Vita regularis 1), Münster 1996, S. 153–186. Anm. 190–192 s. nächste Seite
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wachen lassen, Torheit vor und fragte ihn: Ignoras tu fratris Iuniperi modos?193 Vielleicht hat der sacrista einen Fehltritt begangen, denn er hätte es besser wissen müssen.
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Dieser Gedanke ist schon früh in der modernen Franziskusforschung formuliert worden; vgl. Henry Thode, Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien, 4. Aufl., Wien 1934 (erstmals: 1885), S. 35f., wo es über Franziskus und die Anfänge seines Ordens heißt: »Und damit begann für ihn die große Täuschung seines Lebens, deren er sich wohl manchmal bewußt geworden sein mag, ohne sie jedoch je in ihrem ganzen Umfange erkannt zu haben – der irrige Glaube nämlich, daß eine Lebensauffassung, die seiner individuellen, fest in sich begründeten Anlage entsprach, nach ihrer ganzen Reinheit sich in andere verpflanzen ließe, das Gemeingut und Prinzip einer großen Genossenschaft werden könne.« Ähnlich Walter Goetz, Franz von Assisi und die Entwicklung der mittelalterlichen Religiosität, in: AK 17 (1927), S.129–149, hier S. 129: »… die tiefe Tragik im Leben des heil. Franz ist vielmehr die ihn überwindende irdische Wirklichkeit, die sich der Ausgestaltung eines über menschliche Kräfte gehenden Ideals entgegenstellt. Die Kurie vertrat dabei die irdischen Notwendigkeiten nicht stärker als es die vorwärtsdrängenden und nach sichtbaren Erfolgen strebenden Elemente der franziskanischen Gemeinschaft taten, denen die Ausdehnung des neuen Ordens mehr galt als die höchste Anspannung seiner Ideale.« Vgl. auch Turner (wie Anm. 151), S. 131–153 zur Problematik des Verhältnisses von communitas und Struktur. Vgl. Welsford (wie Anm. 136), S. 320. Während ein Jordan von Giano in einer wichtigen historischen Phase ein hervorgehobenes Ordensamt ausfüllen konnte. Seine spaßhaften Auftritte haben allerdings nicht viel zu bedeuten. Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum (wie Anm. 1), S. 58f.: Juniper sorgt sich übrigens weniger um den Tadel als um die dadurch offenkundig werdende Heiserkeit seines Generalministers.
Gadi Algazi
Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergeßlichkeit
Bemerkungen zu ihrer Rolle in der Herausbildung des Gelehrtenhabitus Georg Christoph Lichtenberg beschreibt einen Kollegen: Er hatte die Eigenschaften der größten Männer in sich vereint. Er trug den Kopf immer schief wie Alexander und hatte immer etwas an den Haaren zu nisteln wie Cäsar. Er konnte Kaffee trinken wie Leibniz, und wenn er einmal recht in einem Lehnstuhl saß, so vergaß er Essen und Trinken wie Newton, und man mußte ihn wie jenen wecken. Seine Perücke trug er wie Dr Johnson und ein Hosenknopf stund ihm immer offen wie dem Cervantes.1
Lichtenberg evoziert ein kodifiziertes Bild vom Gelehrten, das uns nicht ganz fremd ist. Nicht nur seinen Lesern war das Bild bekannt, sondern auch denjenigen, die tatsächlich danach trachteten, wie ihre gelehrten Vorfahren zu erscheinen. Zerstreutheit gehört offenbar zum kulturell tradierten Bild vom Gelehrten.2 Unter den sozialen Gruppen der vormodernen Welt machten nur die Gelehrten aus dem Fehltritt eine Art Standeszeichen: Nicht nur eine gelegentlich anzutreffende Begleiterscheinung des Alltags, sondern darüber hinaus ein hervorstechendes Merkmal ihres kulturell kodifizierten Selbstbildes.3 Mag es auch schwierig sein, die ›Gebildeten‹ und die ›Gelehrten‹ im vormodernen Europa durch intellektuelle Praktiken oder soziale Kriterien eindeutig einzugrenzen,4 an ihren Fehltritten lassen sie sich gut erkennen und anerkennen.
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Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher (1776), F 214, in: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Frankfurt a.M. 1998, Bd. I, S. 492. Gemeint ist damit Christoph Ludolf Reinhold (1737–1791). Vgl. etwa Wilhelm Ahrens, Gelehrten-Anekdoten, Berlin-Schöneberg, 1911. Daß Zerstreutheit auch heute zum Selbstbild von Professoren gehört, belegt eine im Rahmen einer psychologischen Studie durchgeführte Umfrage: Petra L. Klumb, Attention, Action, Absent-Minded Aberrations (European University Studies, ser. 6, 527), Frankfurt a.M. 1995, S. 58. Vg. Rudolf Vierhaus, Umrisse einer Sozialgeschichte der Gebildeten in Deutschland, in: QFIAB 60 (1980), S. 395–419.
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Gadi Algazi
Aus der Vielzahl der damit verbundenen Fragen möchte ich drei herausgreifen: Erstens, wieso? Wie läßt sich erklären, daß Geistesabwesenheit zum Erkennungsmerkmal des ›Mannes von Geist‹ geworden ist? Wie kommt es, daß im Fall der Gelehrten das Herausfallen aus der Rolle offenbar zur Definition ihrer sozialen Rolle gehört? Zweitens, haben gelehrte Zerstreutheit und Vergeßlichkeit im besonderen und die Fehltritte im allgemeinen eine Geschichte? Sind sie stete Begleiterscheinungen des gelehrten Daseins oder durchliefen sie einen signifikanten Wandel? Drittens, warum ist das überhaupt wichtig? Welche Einsichten kann man sich von einer Geschichte des Fehltritts versprechen? Als Gelehrte neigen wir ja selbst dazu, das, worüber wir arbeiten, für wichtig zu halten, sei es nur deshalb, weil wir daran arbeiten, weil ein Stück unseres Selbst darin eingegangen ist. Interessant muß schon unser Objekt auch deshalb sein, weil es das Interesse anderer Gelehrter beansprucht. Es wäre daher vielleicht ein Fehltritt, die Bedeutung des faux pas als Forschungsgegenstand gerade in einem dem Fehltritt gewidmeten Band in Frage zu stellen. Unsere sozialen Dispositionen scheinen diese Frage vorentschieden zu haben. Dennoch möchte ich ansatzweise aufzeigen, warum für die Frage nach der Formierung des Gelehrtenhabitus ein flüchtiger Gegenstand wie der gelehrte Fehltritt ein strategisches Forschungsterrain darstellt. Ich werde im folgenden nicht streng historisch verfahren. Mir geht es um die Entwicklung einiger Hypothesen zu den genannten Fragen anhand des verstreuten historischen Materials, das erst im Rahmen eines langfristigen Forschungsprojekts systematisch gesichtet und gedeutet wird. Im Zentrum dieses Projekts steht die Frage nach der Herausbildung des Gelehrtenhabitus im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Da der Habitus als Produkt sich wandelnder sozialer Figurationen betrachtet wird, richtet sich das Augenmerk auf Haushaltsformen und Familienleben der Gelehrten. Jene stehen im engsten Zusammenhang mit dem Wandel der materiellen Infrastruktur gelehrter Lebensführung und der Entwicklung spezifischer Technologien des Selbst. In diesen Zusammenhang möchte ich Zerstreutheit und Vergeßlichkeit verorten als erlernte Modelle der Selbstdarstellung der Gelehrten, die zugleich eingefleischte Dispositionen artikulieren.5
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Sozialhistorische Ergänzungen zu den hier vorgestellten Thesen lassen sich finden in Algazi, Scholars in Households: Refiguring the Learned Habitus, 1400–1600, in: Lorraine Daston und Otto H. Sibum (Hgg.), The Scientific Persona, im Ersch. Selbstverständlich existierte nicht ein Habitus, den alle Gelehrten teilten. Hier geht es jedoch nicht darum, die Habitus aller Gelehrten zu beschreiben, sondern Aspekte des spezifischen Gelehrtenhabitus herauszuarbeiten: das, was Gelehrte zunächst besonders auszeichnete, ihren besonderen Beitrag zum Repertoire historisch geformter Lebensweisen und Habitusstrukturen.
Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergeßlichkeit
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Vergeßlichkeit als soziale Leistung
Wenn alltägliche Fehltritte als Symptome gelehrter Zerstreutheit gedeutet werden, bezeichnet ›zerstreut‹ bekanntlich nicht notwendigerweise jemanden, der sich nicht konzentrieren kann, sondern gerade denjenigen, der sich auf etwas Wesentliches konzentriert und dabei anderes vergißt, verwechselt oder ignoriert. Zerstreutheit ist die Schattenseite der ausschließlichen, intensiven Aufmerksamkeit. Man könnte daher meinen, daß Vergeßlichkeit eine individuelle Erscheinung ist, eine natürliche psychologische Folge erhöhter Konzentration, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Wozu sollte sie Gegenstand historischer Betrachtung werden? Dagegen möchte ich plausibel machen, daß Vergeßlichkeit und Zerstreutheit sozial bedingt und kulturell kodiert sind. Strenggenommen bezeichnen sie nicht spezifische Fehltritte, sondern tradierte Muster zur Deutung dessen, was als Fehltritt erscheinen mag. Sie werden individualpsychologisch nicht hinreichend erfaßt, weil sie soziale Produkte sind – auch wenn sie vom Einzelnen an den Tag gelegt werden. Darauf scheint schon der alltägliche Sprachgebrauch hinzudeuten. Nicht jeder, der oft etwas vergißt, wird auch als ›vergeßlich‹ bezeichnet. Aus der Gebrauchsweise des Verbs läßt sich der Gebrauch des kulturell näher kodierten Adjektivs nicht vollständig ableiten. Um von registrierten Akten des ›Vergessens‹ zu der Bezeichnung ›vergeßlich‹ zu gelangen, bedarf es offenbar spezifischer Umstände. Der Sprachgebrauch von ›vergeßlich‹ verweist implizit auf kodierte Bereiche erwarteter Aufmerksamkeit. Wer ›vergeßlich‹ ist, vergißt nicht irgend etwas, sondern in erster Linie soziale Pflichten und alltägliche Bedürfnisse. Entfällt mir etwa während des Unterrichts der Name eines spätmittelalterlichen Herrschers, oder schlimmer noch, eines unvergeßlichen Historikers, so würden meine Studenten zwar meinen, mir sei erneut ein Name entfallen, ich habe nun wieder was vergessen, mich aber kaum ›vergeßlich‹ nennen. Wenn ich aber im Klassenzimmer ohne Tasche erscheine, wenn ich wieder versäume, die angekündigten Aufgaben zu stellen, dann kann ich durchaus als ›vergeßlich‹ gelten; falls ich zudem aus meiner Jackentasche statt eines Kugelschreibers ein Spielzeug eines Babys ziehe – dann kann ich ohne weiteres als ›zerstreut‹ gelten. ›Vergeßlichkeit‹ bezeichnet demnach kein richtungsloses kognitives Versäumnis, sondern eine soziale Fehlleistung. Es werden soziale Erwartungen verletzt. ›Vergeßlich‹ verweist somit nicht auf eine Relation zwischen Menschen und den Gegenständen, die sie vergessen, sondern offenbar auf ein Verhältnis zwischen Menschen. Es ist ein soziales Verhalten, und dies gilt um so mehr für ›Zerstreutheit‹. Vergeßlichkeit und Zerstreutheit sind eminent soziale Erscheinungen auch in dem Sinne, daß sie von der Interpretation und Kooperation anderer abhängen. Mit seiner unvergleichlichen Beobachtungskraft hat Erving Goffman aufgezeigt, wie der Fehltritt des Einzelnen die aktive Kooperation der anderen Interaktionsteilnehmer erfordert, welche von einem begangenen Fehltritt mit
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Gadi Algazi
Absicht absehen, ihn erklären und entschuldigen können (»er ist nicht immer so«). Durch die eigene Verletzung der Regeln der Interaktion hat der Urheber eines faux pas die Zerbrechlichkeit jeder Interaktion sinnfällig gemacht und somit die Verletzbarkeit aller Beteiligten. Was ihm geschah, kann jedem geschehen. Ihm wird deshalb geholfen, sein Selbstbild wieder zusammenzufügen.6 Damit hat es im Fall der gelehrten Zerstreutheit seine eigene Bewandtnis. Die gelehrte Vergeßlichkeit begnügt sich nicht damit, als menschlich entschuldigt zu werden; sie möchte anerkannt werden. Anders als beim normalen Fehltritt, sollte das, was dem Gelehrten passiert ist, eben nicht jedem der Beteiligten passieren können: Mit seiner Vergeßlichkeit zeichnet sich der Gelehrte aus. Was bei anderen lächerlich erscheinen mag, soll hier – vielleicht lächelnd, aber wohlwollend – als Nebeneffekt der Beschäftigung mit höheren Dingen gedeutet werden. Dies setzt die Bereitschaft des Publikums voraus, an der Aufrechterhaltung des Selbstbilds des Gelehrten aktiv mitzuwirken. Eine gelehrte Vergeßlichkeit, die ihren Namen verdient, ist ein kollektives Produkt. Es ist zudem ein besonders gefährdetes Unternehmen. Als Erkennungszeichen wohnt den gelehrten Fehltritten eine konstitutive Ambivalenz inne. Noch mehr als andere Statuszeichen – teure Accessoires etwa oder lange Wartezeiten, sinnfällige Verkörperungen sozialer Ressourcen – bleiben die Fehltritte der Gelehrten der Lächerlichkeit ständig ausgesetzt. Diese Ambivalenz haftete schon den frühesten Geschichten über die denkwürdigen Merkwürdigkeiten der Philosophen an, in denen Werner Jaeger die Anfänge einer neuartigen Lebensform erkannte – der philosophischen Lebensweise.7 Dies macht die Geschichte über Thales von Milet deutlich, der beim Beobachten der Sterne in die Grube fiel und für diesen Fehltritt von einer thrakischen Magd ausgelacht wurde.8 Doch dasselbe gilt für Newtons berühmte Vergeßlichkeit: Wenn Newton vergessen hat, wie sein Schreiber Humphrey Newton berichtet, daß er am Tag zuvor zu essen vergessen hatte, so sollte man dies nicht etwa lächerlich finden, sondern als Zeichen seiner Hingabe an die Wissenschaft verstehen und weiter kolportieren.9 Was aber, wenn der gelehrte Fehltritt kein wohlwollendes Publikum findet, das ihn zu verstehen weiß?
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Vgl. Erving Goffman, Techniken der Imagepflege: Eine Analyse ritueller Elemente in sozialer Interaktion, in: Interaktionsrituale: Über Verhalten in direkter Kommunikation Frankfurt a.M. 1986, S. 10–53. Werner Jaeger, Über Ursprung und Kreislauf des philosophischen Lebensideals (1928), nachgedruckt in: Scripta minora, Rom 1960, S. 347–393. Vgl. Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a.M. 1987. Gale E. Christianson, In the Presence of the Creator: Isaac Newton and His Times, New York 1984, S. 305.
Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergeßlichkeit
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Zerstreutheit als fragiles Mittel sozialer Distinktion
Warum sollten gerade diese höchst ambivalenten Verhaltensweisen zum Kennzeichen der Gelehrten werden? Wenn die Gelehrten zu diesen zerbrechlichen Erkennungszeichen trotz ihrer offensichtlichen Anfälligkeit greifen, so liegt es zunächst unter anderem daran, daß ihnen robustere kulturelle Alternativen, deren Bedeutung unter gewöhnlichen Umständen eindeutiger und stabiler ist, nicht zugänglich sind. Um sich Anerkennung zu verschaffen, braucht etwa ein Atomphysiker heutzutage keine ungepflegte Erscheinung zu pflegen – obwohl er dies immer noch tun kann: Für seinen sozialen Wert sprechen schon sein milliardenschwerer Teilchen-Beschleuniger oder die gewichtigen Konsequenzen dessen, was er und seine Kollegen tun. Anders gesagt: Die Rolle der Fehltritte im Erscheinungsbild der Gelehrten wird durch ihre Zugangschancen zu alternativen achtungseinflößenden Ressourcen bedingt. Etwa so: Je weniger sie sich allgemeine Anerkennung durch die Ergebnisse ihrer Arbeit verschaffen können, desto mehr müssen sie ihre eigene Lebensweise als lebendiges Exempel vorzeigen. Und je weniger Gelehrte sich auf das akkumulierte Prestige der Institutionen verlassen können, um so mehr müssen sie sich selbst inszenieren und ihren eigenen Körper ins Spiel bringen. Die letztere Vermutung legt nahe, die Anfänge der öffentlichen Karriere des gelehrten Fehltritts als Erkennungszeichen dort zu suchen, wo die Gelehrten sich von den Institutionen loszulösen begannen, in denen sie ehemals inkorporiert waren. Im westeuropäischen Kontext heißt das, läßt man zunächst Hofgesellschaften beiseite, im späten Mittelalter. Ich fasse mich an diesem Punkt kurz. Innerhalb monastischer Gemeinschaften wurde die Absonderung der Gelehrten institutionell gesichert und zunächst nur dem Kreis der Gleichgesinnten sichtbar. Hier kursierten Geschichten wie etwa über Bernhard von Clairvaux, der Öl statt Wein getrunken haben soll, während er meditierte. Doch religiöse meditatio war in diesem Zusammenhang von gelehrter contemplatio kaum unterscheidbar. Für die eindeutig positive Interpretation solcher Verhaltensmuster und Erzählungen sorgten der Status des betreffenden Wissens als Wissen vom Heil und die Stellung des Wissenden gegenüber seinem Publikum. Dem Fehltritt war die Anerkennung als Anzeichen der Aufmerksamkeit auf Höheres dadurch gesichert; dies wird bei weltlichem Wissen, dessen Träger dem Blick von Laien ausgesetzt sind, nicht unbedingt der Fall sein. Die Situation änderte sich teilweise in den hochmittelalterlichen städtischen Universitäten, doch hier bildeten die Gelehrten immer noch einen erkennbaren Stand, rechtlich abgesondert und einer kodifizierten Lebensweise unterworfen – einschließlich eines obligatorischen Zölibats, das sie von der Lebensweise der Laien sichtbar abhob. Das akkumulierte Prestige der Institution gebührte ihnen. Im späten Mittelalter – nördlich der Alpen erst gegen
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Ende des 14. Jahrhunderts – vollzog sich jedoch ein grundlegender Wandel. Hier fingen Gelehrte an, Familien zu gründen und unbekannte Karrieremuster zu erproben; viele mußten nun weitgehend ohne kirchliche Autorität und institutionelle Disziplin auskommen.10 Es wandelten sich damit sowohl der soziokulturelle Status der Gelehrten und die Reproduktionsbedingungen ihres Daseins, als auch die relevanten Öffentlichkeiten und deren Erwartungen. Die Gelehrten lebten nun in der Welt, erhoben aber weiterhin den Anspruch, nicht von dieser Welt zu sein. Darin liegt der zweite Grund, warum gerade Zerstreutheit und Vergeßlichkeit zum distinguierenden Zeichen der Gelehrten wurden. Soziale Distinktion stellt lediglich eine strikt relationelle Erklärung dar, die nicht anzugeben vermag, wie und in welche Richtung eine Gruppe sich von anderen unterscheiden sollte. Mit Zerstreutheit machten die Gelehrten jedoch ihr spezifisches Verhältnis zur ›Welt‹ sichtbar – zu weltlichen Sorgen und sozialen Verpflichtungen. Gerade als die Gelehrten diesen Sorgen direkter denn je ausgesetzt waren, insistierten sie darauf, diesen enthoben zu sein. Schien ihre Lebensform durch die Aufgabe des Zölibats, die Gründung von Familienhaushalten und ihre stärkere Einbettung in städtische und höfische Gesellschaften der Lebensweise anderer sich anzugleichen, so lag es nah, sich durch Selbststilisierung und die Schaffung symbolischer Distanz von anderen erneut abzuheben. Waren sie gezwungen, wie viele deutsche Professoren seit dem 16. Jahrhundert, von unzureichenden Gehältern, Privatunterricht und Verpflegung für Studenten und gelegentlichen Sporteln zu leben, so mußten sie sichtbar machen, daß sie dadurch doch nicht weltlich geworden waren.11 Auf diese Weise sollte eine imaginäre Selbstgenügsamkeit geschaffen, ein Bild vom gelehrten Dasein aufrechterhalten werden, das den Sorgen des Alltags enthoben und höheren Dingen gewidmet ist.
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Die soziale Organisation gelehrter Vergeßlichkeit
Bisher erschien die soziale Natur des gelehrten Fehltritts lediglich unter dem Aspekt der Repräsentation, die eine angemessene Interpretation durch andere voraussetzt. Doch es handelt sich um mehr: Zerstreutheit muß nicht nur anerkannt, sondern auch praktisch aufrechterhalten werden. Sozial sind gelehrte Vergeßlichkeit und Zerstreutheit nicht nur deshalb, weil sie von anderen gebührend interpretiert werden müssen, sondern weil sie die Arbeit anderer erfordern. Vernachlässigt der Gelehrte den sozialen Umgang, weil er in Wissenschaft versunken ist, muß sein Verhältnis zur Umwelt durch eine 10
Am Beispiel Sebastian Brants hat Jan-Dirk Müller einige der sich daraus ergebenden Probleme eingehend analysiert: Poet, Prophet, Politiker: Sebastian Brant als Publizist und die Rolle der laikalen Intelligenz um 1500, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980), S. 102–127.
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Schaltstelle vermittelt werden. Damit der Gelehrte sich erlauben kann, seine Mahlzeiten zu vergessen, müssen sich andere daran erinnern. Seine individuelle Vergeßlichkeit wird kollektiv organisiert und setzt die Aufmerksamkeit anderer voraus. Strategien der Selbstdarstellung und der Steuerung sozialer Beziehungen sind somit in diesem Fall voneinander kaum zu unterscheiden. Durch Vergeßlichkeit negiert der Gelehrte einen Teil seines Selbst, das mit ›niederen‹ materiellen Bedürfnissen, alltäglichen Sorgen und sozialen Verschränkungen assoziiert wird. Auf diese Weise wird sein höheres Selbst konstruiert. Dies erfolgt, indem der Gelehrte den negierten Teil seines Selbst nach außen hin projiziert auf eine andere Person, die da ist, um an das zu denken, was der Gelehrte vergessen kann.12 Humphrey Newton, Isaac Newtons junger Schreiber und Assistent, sorgte nicht nur für die Kolportierung des Bilds von Newtons Versunkenheit in seinen Studien, welche ihn seine Mahlzeit vergessen ließ: Er setzte ihm auch den Teller vor. Seit dem 15. Jahrhundert und zunehmend im Verlauf des 16. Jahrhunderts lebten deutsche Gelehrte ohne Kolleg und Zölibat und gründeten Familienhaushalte. Nunmehr waren ihre Frauen und famuli damit betraut, an das zu 11
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Diese Form von Distinktion war der höfischen – idealtypisch gesprochen – genau entgegengesetzt: Während der Hof durch eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Gefahr von Fehltritten als ein besonderer sozialer Raum markiert wurde, in welchem die präzise Steuerung von Interaktionen einen besonders hohen Stellenwert hat, zeichneten sich die Gelehrten dagegen als für Fehltritte besonders anfällige Menschen aus. Dies macht die Gelehrten am Hof und die Versuche, sie allgemein zu ›verhöflichen‹, noch interessanter. Vgl. zu diesem Themenkomplex Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 3), Tübingen, 1982, bes. S. 288–318, 363–371; Gunter E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung (Studien zur deutschen Literatur, 75), Tübingen, 1983, bes. S. 346–375; Ders., Vom Schulfuchs zum Menschheitsleiter. Zum Wandel des Gelehrtentums zwischen Barock und Aufklärung, in: Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, hg. von Hans Erich Bödecker und Ulrich Herrmann (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institus für Geschichte, 85), Göttingen 1987, S. 14– 38; Manfred Beetz, Der anständige Gelehrte, in: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, hg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 14), Wiesbaden 1987, Bd. I, S. 155–173; Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung: Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 129), Göttingen, 1997, bes. S. 543– 574. Die Überlieferungsgeschichte einer solcher Figuration – derjenigen von Melissa und dem stoischen Philosophen Karneades, habe ich an anderer Stelle zu skizzieren versucht: Algazi, »›Sich selbst Vergessen‹ im späten Mittelalter: Denkfiguren und soziale Konfigurationen«, in: Memoria als Kultur, hg. von Otto Gerhard Oexle, Göttingen 1995, 387–427, hier S. 414–424.
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denken, was jene zu vergessen pflegten. Im Zeichen dieser spezifischen Organisationsform gelehrter Zerstreutheit wurden auch ›Niederes‹ und ›Höheres‹, ›Körper‹ und ›Geist‹ geschlechtsspezifisch konnotiert. Dabei ging es nicht um eine bloße Reproduktion althergebrachter Geschlechterbilder, welche Frau und Kinder in Kontrast zum höheren Dasein des Mannes vom Geiste stellten, sondern um deren neuartige Verbindung und Trennung im Rahmen familiärer Figurationen. Durch ihre Verschränkung mit Strukturen häuslicher Arbeitsteilung wurde nun Wissenschaft auf eine andere Weise ›männlich‹ als zuvor.13 Die Zerstreutheit des Gelehrten ist also die individualisierte Erscheinungsform einer ganzen sozialen Beziehung, die sich als die Beziehung des Gelehrten zu sich selbst ausgibt. »Wenn man die meisten Gelehrten ansieht«, schreibt Lichtenberg, »nichts verrichten sie an sich, als daß sie sich die Nägel und Federn schneiden. Ihre Haare lassen sie sich durch andere in Ordnung legen, ihre Kleidung durch andere machen, ihre Speise durch andere bereiten dafür, daß sie das Wetter in ihrem Kopfe beobachten.«14 Die Funktion der scheinbaren Merkwürdigkeiten der Gelehrten war also nicht darauf beschränkt, sie als sonderbare Wesen erscheinen zu lassen. Diese Eigentümlichkeiten waren gleichzeitig Elemente einer spezifischen Lebensweise und deuten auf den folgenreichen Versuch hin, Strukturen der Arbeitsteilung und Ökonomien von Aufmerksamkeit in Gelehrtenhaushalten zu etablieren. Auch in diesem Sinne haben gelehrte Zerstreutheit und Vergeßlichkeit eine Geschichte: Es wandeln sich sowohl ihr kultureller Stellenwert als auch ihre praktischen Funktionen.15 Sie dienten nicht nur dazu, das Verhältnis des Gelehrten zur ›Welt‹ sichtbar zu machen, sondern sein Verhältnis zu seiner familiären Umwelt zu steuern und zugleich abzuwerten: Spezifische Formen des gelehrten otium zu reproduzieren und gleichzeitig ihre heimischen Produktionsbedingungen in Vergessenheit zu bringen.16 Diese wurden nicht etwa verheimlicht, sondern banalisiert. Es handelt sich um eine spezifische Form, soziale Interdependenz unsichtbar, genauer: unscheinbar zu machen. Gelehrte Vergeßlichkeit und Zerstreutheit gehen in bloßer Selbstinszenierung nicht auf; sie stellen kulturelle Kodierungen sozialer Strategien dar, die in spezifischen Figurationen eingebettet waren. Diese Strategien mögen viel länger bestanden haben als ihre explizite Bezeichnung als ›Vergeßlichkeit‹ und ›Zerstreutheit‹. Was in manchen Situationen gar nicht als Zerstreutheit bezeichnet wurde, sondern als Zeichen höchster Konzentration galt, könnte unter anderen Umständen mit dem Etikett gelehrter Zerstreutheit belegt wer13
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Vgl. Karin Hausen, Warum Männer Frauen zur Wissenschaft nicht zulassen wollten, in: Wie männlich ist die Wissenschaft? hg. von Karin Hausen und Helga Nowotny, Frankfurt a.M. 1986, S. 31–42. Lichtenberg, Sudelbücher (1773–1775), D 450, in: Schriften und Briefe (wie Anm. 1), Bd. I, S. 299.
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den.17 Dabei müßten sich die gelehrten Dispositionen nicht unbedingt gewandelt haben; geändert haben sich zunächst ihre kulturelle Kodierungen und deren Durchsetzungschancen. Vergeßlichkeit und Zerstreutheit könnten demnach als indirekte Indizien sozialer Dispositionen verstanden werden, die ›tiefer‹ gelegen haben, weiter verbreitet und weit weniger farbig und denkwürdig gewesen sein dürften, als die Folklore der Wissenschaft dies suggeriert. Erst wenn diese gelehrte Ökonomien von Aufmerksamkeit nicht akzeptiert werden, werden ihre Ausdrucksformen als richtige Fehltritte wahrgenommen; sonst bleiben sie fast 15
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Damit wird jedoch noch nicht plausibel gemacht, daß diese Geschichte auch rekonstruierbar ist. Hier stellen sich besonders schwierige methodische Probleme. Eine Möglichkeit besteht darin, anstatt einzelne Gelehrte zu beobachten, das Gelehrtenbild zu rekonstruieren, das sich diejenigen machten, die sich dieses Bild anzueignen versuchten. Hier läge ein sozialer Kontext vor, in dem die Handelnden selbst dazu veranlaßt werden, kulturelle Selbstverständlichkeiten explizit zu machen. Ein Beispiel dafür ist der Versuch italienischer Künstler – genauer: der Versuch Vasaris bei der Darstellung ihrer Lebensart – Merkmale der Gelehrten in Anspruch zu nehmen. Um 1410 verlangte Cennino Cennini noch recht allgemein, der Maler solle leben, als ob er Theologie und Philosophie studiert hätte (Libro del arte, Florenz 1943, Kap. 1, S. 29). Vasari seinerseits inkorporierte Zerstreutheit und Vergeßlichkeit in das kodifizierte Erscheinungbild des gelehrten Künstlers. So stellt er Massaccio als äußerlich geistesabwesend und ganz in seiner Kunst versunken dar und erzählt von Cristofano Gherardi (1508–1566), er sei oft mit unpassenden Schuhen oder mit seinem umgekrempelten Mantel zur Arbeit geeilt. Durch solche Fehltritte distinguieren sich die großen Maler. Erst wenn der Versuch fehlschlägt, dadurch ein Bild vom in Gedanken versunkenen Maler-Philosophen zu projizieren, verwandelt sich der Fehltritt wieder vom authentischen Ausdruck der eigenen Natur zur verworfenen Technik der Selbstinszenierung. Vasari schreibt von Bartolomeo Torri (gest. 1554), er habe gedacht, durch die Pflege einer ungepflegten äußeren Erscheinung würde man ihn für einen großen Philosophen halten (Rudolf Wittkower und Margot Wittkower, Born under Saturn: The Character and Conduct of Artists: A Documentary History from Antiquity to the French Revolution, New York 1969, S. 29, 32–33). Gerade einem solchen Fall kommt ein besonderer heuristischer Wert zu, weil er die angestrebte Wirkung solcher Verhaltensweisen offen benennt. Vgl. Pierre Bourdieu, Méditations pascaliennes, Paris 1997, S. 24–27. Dazu bietet die Überlieferung der Geschichte vom Tode Archimedes‹ ein sprechendes Beispiel. Valerius Maximus schrieb, daß, als der einbrechende römische Soldat während der Belagerung von Syrakus den in seine Zeichnungen vertieften Archimedes nach seinem Namen fragte, jener ihm nicht antwortete. Archimedes sagte dem Soldaten, er solle seine Zeichnungen nicht zerstören, und wurde von jenem erschlagen. Valerius gab als Erklärung für das Verhalten Archimedes‹ dessen nimia cupiditas investigandi an, eine Formulierung, die mittelalterliche Autoren übernommen und stets wiederholt haben. Nach Giovanni di Colonnas De viribus illustribus (um 1330) verhielt sich Archimedes so, weil »auf sein Werk so sehr konzentriert war« (operi adeo intentus erat), während Petrarca bei der Beschreibung desselben Sachverhalts unterschiedliche Perspektiven geschickt kombiniert: als der Soldat ihn anredete, war Archimedes »zerstreut vor lauter Konzentration« (nimia distractus intentione). Die Quellen werden zitiert hier nach der Zusammenstellung bei Marshall Clagett, Archimedes in the Middle Ages, Bd. 3: The Fate of the Medieval Archimedes, 1300 to 1565, Philadelphia 1978, Appendix III, S. 1329–1341.
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unsichtbar und vielleicht gerade deshalb effektiv. Überlieferungswürdig werden gelehrte Fehltritte darüber hinaus erst in ihrer stilisierten, exemplarischen Form. Bei der Rekonstruktion dieser gelehrten Dispositionen ist daher das Studium der mikroskopischen Strukturen des Alltags und der mit ihnen verflochtenen Ökonomien von Aufmerksamkeit viel aufschlußreicher als die einprägsamen Gelehrten-Anekdoten. Der literarische und exemplarische Charakter dieser überlieferten Geschichten mag für ihre soziale Effektivität wichtig sein, stellen sie doch den Gelehrten höchst ambivalente Schutzschilder und Modelle zur Kultivierung ihrer Dispositionen zur Verfügung. Zugleich verdecken sie aber das Objekt, auf welches sie indirekt verweisen – den Gelehrtenhabitus und seine unscheinbaren alltäglichen Ausdrucksformen.
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Gelernte Fehltritte und Gelehrtenhabitus
Das Interesse an Zerstreutheit und Vergeßlichkeit als Forschungsgegenstände liegt also aus meiner Perspektive darin, daß sie in stilisierter Form soziale Dispositionen zum Vorschein bringen, zugleich auf die wandelnden Figurationen verweisen, innerhalb derer der Gelehrtenhabitus reproduziert wird. Als bloße Spielarten der bewußten Selbststilisierung hat sie schon der Freiherr von Knigge entlarvt, als er schrieb, es gäbe Menschen, »die affektieren zerstreut zu sein, weil sie glauben, das sähe vornehm oder gelehrt aus«.18 Interessant werden Zerstreutheit und Vergeßlichkeit aber erst dann, wenn sie nicht nur als äußere, taktisch eingesetzte Mittel sozialer Distinktion der Gelehrten aufgefaßt werden, sondern zugleich als indirekte Ausdrücke ihrer eingefleischten Dispositionen, die einen spezifischen Habitus ausmachen. Damit wird die Frage nach dem Erkenntnispotential des gelehrten Fehltritts als Gegenstand historischer Analyse für mich beantwortet. Wenn eine Geschichte des Habitus einer spezifischen sozialen Gruppe überhaupt zu schreiben ist – Beispiele liegen kaum vor – so kommt in ihr im Falle des Gelehrtenhabitus der Zerstreutheit und Vergeßlichkeit eine Schlüsselrolle zu. Sie sind untrennbar individuell und sozial, intime Symptome, die sozial organisiert werden. Sie lassen kaum zu, eine Geschichte des Selbst zu schreiben, welche von den sozialen Figurationen abstrahiert, in denen es lebt und aufrechterhalten wird; vielmehr lassen sie nach den konkreten Bedingungen der abstrakten Existenz fragen. Schließlich, da sie sowohl auf bewußte Selbstdarstellung als auch auf unbeabsichtigte Symptome gelehrter Dispositionen verweisen, könnten sie vielleicht auch ermöglichen, den Habitus selbst nicht bloß als Ergebnis der Inkorporierung objektiver Strukturen zu begreifen, son18
Adolf Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen (3. Auflage, 1790), hg. von Gert Ueding, Frankfurt a.M. 1977, I. Teil, Kap. 3, § 21. Vgl. auch Lichtenberg, Sudelbücher (1775–1776), E 370, in: Schriften und Briefe (wie Anm. 1), Bd. I, S. 427.
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dern als kulturell geprägt, sozial gelernt, und vor allem – geschichtlich wandelbar aufzufassen. Auch gelehrte Zerstreutheit will gelernt sein. Ebendies empfahl Petrarca seinen Lesern in einem Kapitel seiner ›Vita solitaria‹, geschrieben zwischen 1357 und 1371.19 Petrarca befürwortete zwar im allgemeinen die wirkliche Einsamkeit des Gelehrten – die Abgeschiedenheit in der Kammer oder besser noch, auf dem Lande. Doch an einer Stelle beschreibt er eine andere Art von Alleinsein, die er eine ›imaginäre Einsamkeit‹, solitudo imaginaria nennt: Ich habe gelernt, mir eine Einsamkeit mitten unter den Menschen zu errichten, einen Fluchtort im Sturm; durch ein nicht allgemein bekanntes Mittel (oder Kniff: artificium), befehle ich die Sinne, daß sie das, was sie wahrnehmen, nicht wahrnehmen. Lange nachdem ich dies durch meine eigenen Versuche in eine Gewohnheit verwandelt hatte, entdeckte ich, daß dies auch der Ratschlag eines hochgelehrten und scharfsinnigen Mannes war. Ich habe es mir deshalb um so sorgfältiger eingeprägt, wegen meiner Freude, daß ein Verfahren von mir (factum meum) schon durch die Autorität der Antike gestützt wird.20
Man sieht: Es handelt sich um einen Kunstgriff, ein artificium, der zur Gewohnheit wird. Sein Kern besteht darin, daß »die Sinne das, was sie wahrnehmen, nicht wahrnehmen«. Allerdings sagt Petrarca nicht, wie er genau dazu gekommen ist, außer, daß er aus Not dieses Mittel (remedium) gefunden hat. Er machte davon öfter Gebrauch, um sich mitten im Getümmel der Städte eine imaginäre Einsamkeit (solitudo imaginaria) zu errichten: er zog sich nach Möglichkeit etwas zurück und gab sich den eigenen Gedanken hin. So, resümiert er, besiegte sein ingenium die fortuna.21 Petrarcas remedium konstituiert, von außen her gesehen, eine klare Verletzung der Normen sozialer Interaktion: Es ist ein Entzug obligatorischer Aufmerksamkeit, der – milde beurteilt – als gelehrte Zerstreutheit gelten kann. Petrarca sagt offenbar die Wahrheit, wenn er behauptet, dieses artificium habe er erst spät bei den Alten entdeckt. Die Stelle aus Quintilians Institutio oratoria, die er nun als auctoritas für seine Gewohnheit zitiert, ist in der Tat ein späterer Zusatz, den er erst nach 1350 hinzufügte, nachdem ihm ein 19
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Hierzu vor allem Peter von Moos, Petrarcas Einsamkeiten, in: Einsamkeit, hg. von Aleida Assmann und Jan Assmann (Archäologie der literarischen Kommunikation, VI), München, 2000, S. 213–237, mit weiterführender Literatur. Set ita ut, si qua me necessitas in urbem cogat, solitudinem in populo atque in medio tempestatis portum michi conflare didicerim, artificio non omnibus noto sensibus imperitandi, ut quod sentiunt, non sentiant. Quod cum per me ipsum experientie creditum in consuetudinem deduxissem, multo post tempore acutissimi cuiusdam doctissimique viri consilium esse cognovi memorieque mandavi, eo quidem attentius, quo gaudebam factum meum vetustatis autoritate fulciri. Francesco Petrarca, Vita solitaria, lib. I, 4, 6, in: Prose, hg. von Guido Martellotti et al. (La letteratura italiana: Storia e testi, 7), Milano, 1955, S. 286–591, hier S. 336. Lib. I, 4, 8 (ebd., S. 338).
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schlechtes Manuskript von Quintilian zugänglich geworden war. Darin erkannte sich Petrarca wieder. Quintilian erklärt, wie man schreiben kann, auch wenn die nötige Stille, Abgeschiedenheit (secessus) und Sorgenfreiheit (liber animus) fehlen. Man soll sich daran gewöhnen, durch gesteigerte Aufmerksamkeit (intentio) alle äußerlichen Hindernisse zu überwinden: »Wenn wir unsere ganzen Gedanken (mens) auf unser Werk richten, würde nichts von dem, was sich den Augen oder Ohren aufdrängt, unsere Seele (animum) erreichen.« Doch worin genau besteht das Rezept zur Formierung dieser Disposition? Es handelt sich um die systematische Einübung des Fehltritts im wahrsten Sinne des Wortes: Wenn ein zufälliger Gedanke uns oft derart festhält, daß wir diejenigen, die vor uns sind, nicht sehen und uns verlaufen – könnten wir nicht dasselbe Ergebnis erzielen, wenn wir uns dazu entschließen?22
Im eigenen unfreiwilligen Fehltritt soll der Gelehrte ein verborgenes Potential der Selbststeuerung entdecken. Die durch umherschweifende Gedanken verursachte Zerstreutheit soll kultiviert werden, um die eigene Konzentrationsfähigkeit zu schmieden. Es ist eine Formel zur Systematisierung des Habitus. Gewiß, der Befehl ›vergiß es‹ ist ein bekanntes double bind; eine bewußte Entscheidung, zerstreut zu werden, ist kaum durchführbar. Doch man kann durchaus – wenn die sozialen Rahmenbedingungen dafür vorhanden sind – eine Verhaltensweise einüben und auf diese Weise auch den erwünschten Gemütszustand herbeizuführen versuchen, in dem man von der Gegenwart anderer Menschen absieht und alltägliche Sorgen und Pflichten ignoriert. Die Selbststilisierung kann nur deshalb so wirksam sein, weil sie einer vorhandenen Disposition entspricht und sie weiter festigt. Deshalb scheint es mir angebracht, in diesem Fall von der Formierung eines Habitus zu sprechen.23
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Die Ambivalenzen gelehrter Zerstreutheit
Dieser Habitus wurde selbstverständlich nicht von allen Gelehrten verkörpert; er ist jedoch ihr anerkanntes Kennzeichen geworden. Ich kann hier nicht 22
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Quintilian, Institutio Oratoria, lib. X 3, 28–29, Cambridge, Mass., 1979 (Loeb Classical Library), Bd. IV, S. 107: quam si tota mente in opus ipsum direxeris, nichil eorum, que oculis vel auribus incursant, ad animum perveniet. An vero frequenter etiam fortuita hoc cogitatio praestat, ut obvios non videamus et itinere deerremus: non consequemur idem, si et voluerimus? Petrarca, Vita solitaria, I 4, 6. Interessant an Bourdieus Ansatz ist gerade, daß ein sozialer Habitus distinguiert, auch wenn man nicht die bewußte Absicht verfolgt, sich dadurch auszuzeichnen. Es ginge sonst lediglich um die Reduktion menschlicher Handlungen auf bewußtes Kalkül – wobei ich zugeben muß, daß sowohl wegen der Ambivalenzen von Bourdieus Strategie-Begriff als auch wegen der geschichtswissenschaftlichen Arbeitsökonomie man dazu tendiert, soziale Strategien in der Tat auf Interessenkalkül zu verkürzen.
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im einzelnen darlegen, warum ich glaube, daß diese Anweisungen nicht auf dem Papier geblieben sind. Es handelt sich nicht lediglich um gelehrte Vorschriften: In den Quellen – etwa in autobiographischen Schriften oder medizinischen Texten – findet man auch Klagen über die beobachtbaren Nebeneffekte der Annahme dieses Habitus. Ich möchte vielmehr mit einer Überlegung zu der konstitutiven Ambivalenz gelehrter Fehltritte abschließen, die sich aus Beobachtungen zur Wortgeschichte von ›Zerstreutheit‹ ergeben hat. Der Ausdruck ›zerstreut‹ entstammt offenbar dem Kirchenlatein; distractio bezeichnet in erster Linie das Abgelenktsein von Gott; Thomas a Kempis spricht von distractio, wenn beim Gebet oder beim Empfang des Sakraments die Aufmerksamkeit durch abschweifende Gedanken abgelenkt wird.24 In den volkssprachlichen Übersetzungen etablierten sich ›distrait‹ bzw. ›zerstreut‹ als Äquivalente. Sie bezeichnen stets die Ablenkung von dem, was als eigentlicher Gegenstand der Aufmerksamkeit gelten soll – Gott – und dieser Sprachgebrauch wurde von den Pietisten übernommen.25 In diesem Sinne sind zunächst die Gelehrten die unmittelbaren Nachfolger der Mystiker und Mönche: Von ihnen erben sie Technologien des Selbst, erprobte Mittel der Selbststeuerung. Die spätmittelalterliche Diskussion über die Schwierigkeiten, sich bei Gebet oder Meditation nicht durch umherschweifende Gedanken oder alltägliche Sorgen ›zerstreuen‹ zu lassen,26 findet ihre Fortsetzung in den Versuchen, angehenden Gelehrten beizubringen, wie man die ›innere Sammlung‹ bewahrt. In allen diesen Fällen steht aber ›Zerstreutsein‹ für die Unfähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. ›Zerstreutheit‹ stellt die Gefahr dar – die ungewollte Zersplitterung der Aufmerksamkeit in viele verschiedene Richtungen.27 24
25
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Thomas a Kempis, Imitatio Christi 4, 1; vgl. 4, 7; 3, 48; cf. Johannes Trithemius, De laude scriptorum, hg. von Klaus Arnold, übers. von Roland Behrendt, O.S.B., Lawrence, Kansas, 1974, S. 87. Eugen Lerch, Zerstreutheit. Zur Geschichte des Begriffes, in: Archiv für die gesamte Psychologie 111 (1943), S. 388–460, bes. 410; G. Schoppe, Alte Belege für ›zerstreuen‹, in: Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 18 (1916), S. 101–102; Hans Sperber, Der Einfluß des Pietismus auf die Sprache des 18. Jahrhunderts, in: DVjs 8 (1930), S. 497–515; Jacob Grimm et al., Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Leipzig 1956, s.v. ›Zerstreuen‹, Sp. 783–784. Siehe besonders Paul Saenger, Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages, in: Scrittura e civiltà 9 (1985), S. 239–269. Es ist daher bedeutsam, daß im Laufe der frühen Neuzeit andere Stimmen lauter werden. Es gilt nun, die Folgen der übermäßigen Konzentration zu mildern. Die Gesundheit des Gelehrten wird durch äußerste Anstrengung des Geists ernst gefährdet; daher sollte sich der Gelehrte ›Zerstreuungen‹ suchen, etwa in Spaziergängen, Musik und Gespräch. Sein Habitus ist zweite Natur geworden. Deshalb muß man nun gezielt Mittel suchen, die Konsequenzen dieser eingefleischten Haltung zu mildern. Solche Mittel waren schon Ficino bekannt; doch nun sind sie nicht nur für die Wenigen bestimmt, die ihre Erfahrungen mit melancholia gemacht haben; sie scheinen eine neue, verbreitete Relevanz gewonnen zu haben.
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Doch dieser Sinn von ›Zerstreutsein‹ hat mit dem oben erörterten nichts zu tun. Es handelt sich hier stets um ›Zerstreutsein‹ als Anzeichen der mangelnden Konzentration, nicht um das Kennzeichen des konzentrierten Gelehrten, dessen Geist beim Wesentlichen verweilt und daher den Umstehenden ›geistesabwesend‹ erscheint. ›Zerstreut‹ weist in der Tat zwei verschiedene und fast entgegengesetzte Bedeutungen auf.28 Als ›zerstreut‹ kann sowohl derjenige bezeichnet werden, dessen Aufmerksamkeit ›zersplittert‹ ist, und sich daher nicht konzentrieren kann, als auch derjenige, der wegen gesteigerter anderweitiger Konzentration für Naheliegendes unaufmerksam ist. Doch wie läßt sich die Bildung dieser anderen entgegengesetzten Bedeutung erklären? In den Wörterbüchern hat sie kaum Spuren hinterlassen. Hier läßt uns die reine Wortgeschichte im Stich: Kulturell kodierte Deutungen des Verhaltens und spezifische soziale Kontexte des Wortgebrauchs läßt sie außer Acht. Ich kann im Moment lediglich eine Hypothese anbieten. Das mystische Zerstreutsein implizierte eine normative Erwartung: Erwartet wurde, daß sich der Einzelne auf Gott ›konzentriert‹, doch er wird von abschweifenden Gedanken oder weltlichen Sorgen ›zerstreut‹, ›abgelenkt‹, distractus. Die neuere Vorstellung von ›Zerstreutheit‹ setzt dagegen eine andere implizite Erwartung voraus: Als ›normal‹ wird nun die Erfüllung alltäglicher Pflichten und Verhaltensnormen vorausgesetzt. Ein Fehlverhalten bleibt das Zerstreutsein allemal, doch die Erwartung, worauf man sich ›in der Regel‹ konzentriert, verlagert sich auf weltliche, ›alltägliche‹ Interessen. Hier zeichnet sich eine auffällige Übereinstimmung mit der These ab, die Charles Taylor in seinem Buch ›Sources of the Self‹ entfaltete. Demnach erfolgte in der Frühen Neuzeit eine neue Aufwertung des Alltagslebens als Quelle von Identität. Früher, behauptet Taylor, vermittelte eher die Erfüllung sozialer oder religiöser Pflichten ein Identitätsgefühl; nun galt auch das Alltagsleben als anerkannter Bezugsrahmen von Identität.29 Damit wird einsichtig, wie der mystische und pietistische Sprachgebrauch vom ›Zerstreutsein‹, in dem alltägliche Sorgen und weltliche Gedanken die Gefahr für die ›innere Sammlung‹ darstellten, sich in einen ›säkularisierten‹ Sprachgebrauch von ›Zerstreutsein‹ verwandelte, in dem als ›abschweifende Gedanken‹ gerade diejenigen zu gelten hatten, die von der unmittelbaren Notwendigkeit des Moments ablenken – von »den Erfordernissen des Tages oder der Stunde«.30 In beiden Fällen wird ein Unvermögen vermutet, sich auf das jeweils als wesentlich Vorausgesetzte zu konzentrieren.31 28
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Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 3., neu bearbeitete Auflage, Bd. 3, Berlin 1910, s.v. ›Zerstreutheit‹, S. 1902, zitiert etwa zwei entgegengesetzte Definitionen in der Psychologie. Charles Taylor, Sources of the Self (1989); dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der modernen Identität, übers. von Joachim Schult, Frankfurt a.M. 1994, Teil II, bes. Kap. 13, S. 373–412. Lerch, Zerstreutheit (wie Anm. 25), S. 443.
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Von diesem allgemeinen ›Verweltlichungs‹-Prozeß wollten jedoch die Gelehrten ausgenommen werden – gerade indem sie monastische und mystische Technologien der Selbststeuerung ›säkularisierten‹. Sie sollten weiterhin »das Wetter in ihren Köpfen« beobachten können, eine Tradition der Abgeschiedenheit unter gewandelten Umständen verkörpern, in denen die Anerkennung ihrer Abgezogenheit keineswegs garantiert war. Abgeschieden unter den Menschen könnten sie ›zerstreut‹ wirken. Auf keinen Fall würden sie jedoch ihr Verhalten als Mangel an Konzentrationsfähigkeit gelten zu lassen. Daher verschärfte sich die Ambivalenz ihrer ›Zerstreutheit‹. Sie weist in der Tat auf zwei entgegengesetzte Perspektiven hin: Sowohl auf die Deutung des Verhaltens von ›außen‹ her als Mangel an Geistesgegenwart – als auch von ›innen‹ her, als Zeichen dafür, daß der Geist in der Tat gegenwärtig ist – aber nicht hier. Akzeptieren die Mitmenschen des Gelehrten die zweite Deutung, so erkennen sie damit an, daß ihre eigene Gegenwart an Bedeutung verliert. Aber auch umgekehrt: Wenn die Gelehrten dieses Wort für sich reklamieren, versuchen sie, das Wort, das sie von außen her beschreibt, von innen her aufzugreifen: ›Zerstreut‹ beschreibt sie, wie sie den anderen erscheinen; versuchen sie, das Wort für sich selbst zu reklamieren, so nehmen sie dadurch die Perspektive der Außenstehenden ein, sehen sie sich selbst dabei, als ob sie außerhalb ihrer selbst stünden. Somit erweisen sich ›Zerstreutheit‹ und ›Vergeßlichkeit‹ als Wörter, in denen sich ein ganzes Beziehungssystem verdichtet, ein Feld gegenseitiger Wahrnehmungen und Relationen. Ihre Mehrdeutigkeiten lassen sich daher – etwa durch gelehrte Analyse oder Empfehlungen zum ordentlichen Sprachgebrauch – nicht aufheben. Sie stellen kein einfaches Ergebnis gelehrter Repräsentationsstrategien dar, sondern entspringen einem Kräftefeld: eine nach mehreren Seiten hin offene Kompromißformel. Gelehrte Zerstreutheit und Vergeßlichkeit sind vielleicht am besten als ein allgemeiner Passierschein aufzufassen, der es den Gelehrten erlaubt, mehr oder weniger gravierende faux pas zu begehen; sie funktionieren wie ein ambivalenter, von anderen ausge31
Dafür stellt auch die Geschichte des Ausdrucks ›sich selbst vergessen‹ einen analogen Fall dar. Genau wie im ständischen und kirchlichen Diskurs des späten Mittelalters ›sich vergessen‹ eine Vorstellung vom ›Selbst‹ als Träger von Pflichten implizierte – sei es gegenüber Gott oder der Gesellschaftsordnung, so entstand im Diskurs der Mystik und der hohen Minne ein entgegengesetzter Sprachgebrauch. In diesen Kontexten bedeutete ›sich selbst vergessen‹ das irdische, weltliche ›Selbst‹ hinter sich zu lassen; das ›Selbst‹ stand hier nicht für Pflichten, sondern für die eigenen Lüste und Interessen. Der Erwartungshorizont wandelte sich gründlich. Erst nachdem diese Vorstellung vom ›Selbst‹ sich etabliert hat, gilt es zu erklären – etwa bei Durkheim –, wieso überhaupt Individuen ›sich selbst vergessen‹ und ihre eigenen Interessen zugunsten derjenigen der Gesamtheit opfern. Derjenige, der sich vergißt, ›vergißt‹ nunmehr nicht seine ›Ehre‹, seine Pflichten, sondern stellt die eigenen Interessen in Vergessenheit. Ausführlicher dazu Algazi, ›Sich selbst Vergessen‹ (wie Anm. 12).
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Gadi Algazi
stellter Geleitbrief für Gelehrte, die unter gewöhnlichen Menschen zu weilen haben. Deshalb verbergen sie auch ein Konfliktpotential, denn sie vermögen nicht nur die Selbstdeutung des Gelehrten als jemand, der sich auf das Wesentliche konzentriert, in Frage zu stellen, sondern zugleich, das Selbstbild der Anderen zu untergraben. So schreibt Egger in dem ›Vocabulaire technique et critique de la philosophie‹: Est appelé distrait l’enfant ou l’adulte qui, trop léger ou trop réfléchi, ne fait pas attention à ce quoi il devrait faire attention selon le point de vue pratique des éducateurs ou du bon sens vulgaire.32
Man sieht: Zwischen »trop léger« und »trop réfléchi« ist nur ein kleiner Schritt. Man versucht, das Verhalten des Anderen nach dem gesunden Menschenverstand (»bon sens«) zu deuten – und landet selbst bei »bon sens vulgaire«. Entweder handelt es sich um ein zu korrigierendes Fehlverhalten, das uns in die Lage des Pädagogen versetzt – oder wir selbst begehen damit einen faux pax, weil wir das äußere Zeichen innerer Sammlung nicht richtig erkannt haben – und damit dem Objekt der Betrachtungen nicht die gebührende Anerkennung erwiesen haben. ›Zerstreutheit‹ verweist somit auf diejenigen Fehltritte, die gefährlich werden können – sowohl demjenigen, der diesen fragilen Schutzschild trägt, als auch den Umstehenden, die ihn mittragen. Wer Anspruch auf ›Zerstreutheit‹ erhebt und seine sozialen Versäumnisse wiederholt mit ›Vergeßlichkeit‹ entschuldigt, stellt damit unterschwellig in Frage, ob die Dinge, welche die Aufmerksamkeit der Anderen in Anspruch nehmen, diese Aufmerksamkeit tatsächlich verdienen. In der Semantik des Alltags ist es ein eigentümlicher Schritt, mit dem jemand sich selbst sozial positioniert und andere auf ihre Plätze weist – gerade indem er von ihrer Existenz und ihren Erwartungen absieht. So vermutete auch Freud, daß das verborgene Motiv der wiederholten Vergeßlichkeit »ein ungewöhnlich großes Maß von nicht eingestandener Geringschätzung des anderen« sei, »welches das konstitutionelle Moment für seine Zwecke ausbeutet.«33 Was Freud jedoch als die psychische ›Konstitution‹ des Einzelnen deutet, könnte zugleich als eine Spielart eines historisch gebildeten Gruppenhabitus interpretiert werden.34
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André Lalande, Vocabulaire technique et critique de la philosophie, 5. Auflage, Paris, 1947), s.v. »Distraction«, S. 233 (Bemerkung von V. Egger). Sigmund Freud, Psychopathologie des Alltagslebens, in: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1973, S. 173. In einer Fußnote fügt Freud hinzu, daß Šandor Ferenczi, sein Schüler und Kollege, seine Zerstreutheit durch die Beschäftigung mit der Psychoanalyse überwunden habe: Durch die Zuwendung der Aufmerksamkeit auf »die Analyse seines eigenen Ichs« und indem er gelernt hat, »seine eigene Verantwortlichkeit um so vieles auszudehnen.« Ob uns die Beschäftigung mit dem Fehltritt ähnliches bescheren würde, sei zunächst dahingestellt.
Danielle Bohler
L’impair ou la faute? La question de la responsabilité dans le ›Livre du chevalier de La Tour Landry pour l’enseignement des filles‹
Devant les tentatives diverses et pénétrantes pour cerner l’objet qui nous rassemble, ce »Fehltritt« très complexe dans l’usage que nous faisons d’un vocable qui nous semble familier, il paraît nécessaire de procéder à quelques précautions de contexte. L’entreprise de définition du ›faux-pas‹ révèle que l’organisation sémantique du français rend à cet égard l’usage du terme assez aisé. En revanche le débat lexical intéresse largement la littérature didactique qui, par la mise en oeuvre d’actes que l’on peut ranger parmi les ›fautes‹, se révèle très riche précisément dans l’attribution des responsabilités, et par suite dans l’énoncé de ce qui peut être une faute. A l’aide du débat sur ce que peut recouvrir le »Fehltritt«, le fonctionnement d’un texte important dans la littérature didactique à l’intention des femmes permet de voir comment – dans l’univers d’un moraliste laïc de la fin du XIVe siècle – les exemples de comportements désavoués sont décalés et déplacés du domaine des péchés de femmes vers celui de la faute sociale. Mais s’agit-il d’une faute? Si l’on observe le champ textuel du traité familial, composé par le Chevalier de La Tour Landry en 1371, comme un corpus clos dont le fonctionnement interne est éclairé, il est vrai, par l’armature d’injonctions appartenant à la longue durée, on parvient à cerner la ›faute‹ comme un acte d’inconvenance et d’incongruité, comme un impair qui heurte profondément le regard communautaire.1 Le »Fehltritt« apparaît comme un ensemble de gestes inconvenants.2 Or ces gestes concernent une société régie et régulée selon des comportements gestuels idéalement circonscrits par une limite. Si faute il y a, elle concerne le tissu symbolique des dépassements virtuels, des transgressions, 1
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Cette prise en considération d’un corpus dit clos appelle bien évidemment l’éclairage indispensable d’une analyse comparée de textes didactiques, tel le Ménagier de Paris et le Livre des trois vertus de Christine de Pizan. L’élargissement d’un parcours comparé appartient cependant à une étude qui déborde le cadre de cette contribution. En effet, il s’agit d’un ensemble: les petites narrations, qui prêtent leur linéarité à l’exposé d’une série de gestes attribués aux femmes, les associent souvent en une sorte de tout rangé sous le signe de la démesure,le ›moyen estat‹ étant le point d’équilibre idéal à rechercher etet à enseigner pour tous les aspects du comportement féminin.
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des passages ›outre‹. C’est dans ce domaine que la notion de »Fehltritt« comme faux-pas peut être cernée sans trop de mal pour l’usager de la langue française: un pas manqué, qui va outre la limite. C’est donc en partant d’un terrain précis – le système du texte, sa structure de base, ses variantes comme modulations autour de thèmes fondateurs, qui ne sont autres que les normes diffusées bien antérieurement à cette année 1371 où le Chevalier de La Tour Landry entreprend son traité – qu’apparaît, à la croisée du normatif et du littéraire, le problème de la responsabilité, alors même que la faute, comme le montrent les récits exemplaires du Livre, ne peut encore être sanctionnée, puisqu’à peine accomplie.3 Car les choses ne se résument que rarement à une faute de femmes. La norme, on le sait, est toujours énoncée avec l’apparente limpidité de la loi: faire ou ne pas faire. Or, quand apparaissent grâce à la narration les nuances des actes d’un vécu prétendu, on s’aperçoit bien vite que le tracé normatif prend relief et épaisseur, tout en perdant en même temps de sa clarté et de sa rigueur. Il est soumis à la fluctuation des comportements humains. Cristalliser des manquements – si l’on peut provisoirement affecter à la notion de »Fehltritt« ce très vague vocable – mène à l’énonciation d’une norme, et lorsque celle-ci prend chair, on se trouve au coeur d’un traité d’éducation, sur la dialectique du vécu à imiter ou à éviter. La normativité du genre exemplaire s’en trouve éclairée et relativisée. C’est dans cette tradition en effet que se situe le chevalier angevin, avec beaucoup d’ampleur puisqu’il consacre à l’éducation de ses filles tout ce qu’il faut d’exemples en matière de manquements accomplis, dans le passé ou plus récemment, afin de leur éviter des égarements à venir: les leurs propres. Le stéréotype – notre lieu commun, à vrai dire, tant il est commode d’enfermer ce qui nous est profondément étranger en une formule qui dénie à l’autre, à cette altérité dans le temps, l’accès à la nuance et aux variations – est que la femme est toujours amplement fautive: elle est ›peccamineuse‹ – Georges Duby, parmi d’autres, le souligne dans la longue durée des documents – par l’usage de langue, par l’effet attendu du vêtement et de l’apparence, par l’excès de familiarité qui mène au désir illicite. Dans le ›Livre du Chevalier‹ abondent en effet les gestes choquants et bizarres commis par les femmes. Si le »Fehltritt« ne concerne nullement une atteinte à l’honneur de l’autre4 – ce qui serait le cas de l’exercice de l’étiquette, d’un geste offensant entravant le bon déroulement d’un service de prince ou de grand – il y a bien un processus qui concerne l’honneur, sous la forme d’une sanction sociale qui punit l’inconvenance du sujet, et lui retire au moyen de marques d’infamie son intégrité de sujet possédant le statut de partie d’une société que l’on veut idéale. 3
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Hormis quelques cas précis dont il sera question plus tard, tel l’adultère accompli et avoué par la coupable au chapitre IX, ou l’adultère révélé par un saint homme, au chapitre LI. Les chapitres sont cités d’après l’édition d’Anatole de Montaiglon (Paris 1854). Ce qui semble être le cas dans un certain nombre de figures sociales évoquées au cours de ce Colloque.
L’impair ou la faute? La question de la responsabilité
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Dans ce domaine la perte d’honneur est la façon sociale d’être sanctionné, la pré-sanction s’opérant bien avant que la faute soit commise. L’originalité du long recueil d’exemples proposés par La Tour Landry à ses filles est que la perte de l’honneur est une prophylaxie, une façon d’arrêter – définitivement, si possible, mais sans illusions de la part du père – le processus des fautes féminines.5 Ainsi la perte de l’honneur n’est-elle pas nécessairement liée à une transgression commise et constatée, mais plus particulièrement à un risque. Les anecdotes montrent souvent, en effet, comment l’on s’avance au plus extrême du risque, et rares sont celles qui s’attachent au risque pris, constaté et condamné.
Discerner la limite
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Ainsi comprend-on d’emblée qu’on ne peut attendre d’un chevalier qui fait composer pour ses filles, vers la fin du XIVe siècle, un traité qui embrasse plus de cent vingt exempla en langue vernaculaire, une réflexion systématique et abstraite sur la question de la faute ou du faux-pas, et par suite des matériaux conceptuels sur la responsabilité de l’individu-femme, dont le Chevalier, en narrateur attentif, veut pourtant décrire le désordre qu’elle induit, a induit ou pourrait induire dans le monde. On peut légitimement se demander de quelle nature est ce désordre: du registre de la faute ou de l’ordre de l’inconvenance? Sur le vecteur d’une telle dialectique se dispose, grâce à l’art du récit bref, la gamme des actes, gestes, comportements, paroles et manquements qui vont d’une faute implicite à un impair tout à fait gênant, ou l’inverse.6 C’est à partir de là également que l’on posera le problème d’une responsabilité. Dans le Livre du Chevalier il n’en est guère question, hormis quelques véritables stratégies et préméditations d’actes de luxure et de séduction abusive.7 Souvent en effet les femmes pèchent par imprudence ou par erreur, par excès et par d’évidentes difficultés à discerner où se situe la limite, où s’impose la frontière: trop de temps au miroir, trop de hâte dans l’usage de la mode,8 trop de précipitation dans l’usage de la langue lancée dans le ›tencier‹, la pa5
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Je renvoie à mon article: »’honneur des femmes et le regard public: l’accusé et son juge. Une étude de cas: Le Livre du Chevalier de La Tour landry (1371), in: Gert Melville / Peter von Moos (éd.), Das Offentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln/Weimar/Wien 1998 Le traité donne des exemples d’un double mouvement: de l’évocation du déluge et des manquements graves de la société du passé aux légers constats des manquements du temps présent; le mouvement inverse se constate, par exemple, dans la large séquence allant du chapitre L au chapitre LV, du triple récit du chevalier aux trois épouses défuntes à la femme de Loth et à ses filles. Par exemple l’adultère caché de la reine de Naples dont il sera question plus loin. Je renvoie à l’analyse proposée dans mon article: Femmme/faute/fantasme, dans Actes du Colloque La condicion de la mujer en la Edad Media, novembre 1984, éd. G. Duby / R. Pastor, Madrid, 1986, p. 475 à 499
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role querelleuse.9 Autant d’actes réprouvés par le regard communautaire, par l’oreille de tous et de toutes. On voit ici combien notre propre outillage linguistique se montre indigent: seule une catégorie grammaticale, celle bien incertaine du ›déterminant quantitatif‹, permet de désigner ce ›trop de …‹, qui sert pourtant de repère essentiel à ce qui peut apparaître comme un mauvais pas, un égarement. A la fois l’objet d’une sanction, ou du moins d’un regard, et une forme d’impasse sur la catégorie de la faute elle-même, qui serait de l’ordre de l’orgueil et de la démesure. Ici l’impair et la faute implicite qui se profile comme aboutissement de l’imprudence sont de toute évidence le fruit de l’ignorance: n’avoir ni écouté ni regardé, manquer d’expérience, d’écoute et d’attention, bref ne pas savoir accepter la transmission de la génération antérieure. C’est bien ce que laisse entendre le prologue du Livre, et chaque temps de vie est une étape sur le chemin du savoir: … tout pere et mère selon Dieu et nature doit enseignier ses enfans et les destourner de male voye et leur monstrer le vray et droit chemin10
Pourtant au coeur du traité se devine un débat sur la nature de la responsabilité de l’être féminin: le Livre est structuré selon les comportements des »bonnes« femmes opposées aux ›mauvaises‹ femmes.11 Les catégories qui constituent cette structure binaire donnent l’occasion de voir ce qui, au premier plan, est proposé en contre-exemple, ces défaillances ou fautes exposées sur le mode narratif aux jeunes femmes et filles qu’il s’agit d’éduquer et d’avertir. L’éventail des fautes, au premier regard, semble large par le fonds d’où sortent les exemples, de l’Ecriture sainte au quotidien du chevalier, à un fait survenu récemment et dont le témoignage est vivant, ou un souvenir appartenant à la mémoire personnelle de l’auteur, ce qui engage la génération qui le précède et la transmission par une parole d’autorité ou de persuasion.12 Toutes voix qui décrivent et dénoncent, convergeant vers les mêmes défaillances, et peut-être vers les mêmes fautes: les situations périlleuses qui risquent de mener à l’adultère ou aux relations sexuelles hors mariage, ou à une 9
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Tels les exemples donnés aux chapitres XXI, XXII et XXIII: le débat entre le seigneur de Beaumanoir et une dame, la querelle avec le maréchal de Clermont, enfin celle des trois dames avec Boucicaut. Prologue, p. 4. Cette structuration est marquée par une césure formelle suggérantque l’auteur possède une conscience entendue de la bipartition, dans la mesure aussi où elle revient sur le propos initial du prologue, qui était de parler d’abord des bonnes meurs des bonnes dames et leurs bien faiz, et d’aller ensuite vers le mehaing des maulvaises deshonnestes femmes, (Prologue p.3), alors qu’en fait le Chevalier propose l’ordre inverse. La césure est nette au chapitreXXXVII: … nous avons par le monde moult de mauvais exemplaires, car l’ennemy de tenèbres se montre actif; il s’agira donc,à partir du chapitre XXXVIII, d’allervers les bons exemplaires du monde, après avoir observé ces femmes mauvaises qui furent diverses et crueuses.
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familiarité qui laisse présager une précipitation fâcheuse des dames ou demoiselles du présent ou du temps passé.13 On reste donc frappé par la gamme des petites transgressions qui occupent l’espace narratif, les anecdotes d’un quotidien banal, écarté des exemples frappants de Sodome et Gomorrhe, ou de l’époque du Déluge fréquemment invoqué. Ces exempla mettent en scène des femmes – jeunes filles ou femmes mariées – en train d’accomplir des actes qui ont pour effet de les exposer au ridicule, au commentaire, au ragot, conséquences qui mettent en cause la communauté elle-même, bien prompte à guetter chez autrui de quoi alimenter ses propos. Cette société si aisément choquée se révèle bruissante de mots de réprobation.14 Le Chevalier de La Tour Landry s’attache à une communauté qui, dans sa globalité, est régulée par les jeux de l’apparence et de la parole bien contrôlées, comme le montre la scène de sociabilité où triomphe Boucicaut15: dans ce contexte, les fautes des femmes évoquées pourraient n’être que l’effet d’une regrettable légèreté et d’un manque de mesure. D’où l’interrogation qui s’imposait pour l’observation de ce terrain: ›L’impair ou la faute?‹, à propos d’un recueil didactique dont la dynamique naît précisément de ces incertitudes, alors que la tradition des péchés de femmes fournit un cadre sévèrement délimité. Peut-on parler de ›faute‹? faut-il préférer ›l’impair‹? Le manquement – ce qu’on peut appeler faux-pas – est y souvent une transgression inconsciente ou à peine voulue, un petit écart qui réside dans l’excès par rapport à l’usage admis, et qui assurément met en danger l’image de soi dans l’espace communautaire. La femme s’y fait remarquer: son comportement critiqué et condamné, proposé en contre-exemple dans le Livre, bouscule ce qui va de soi dans la communauté, les convenances, les rituels d’hospitalité, l’usage du vêtement, les gestes convenables dans l’espace public, les
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L’Ancien et le Nouveau Testament offrent nombre d’exemples d’une vertu admirable ou d’un excès condamnable. Pour le quotidien du chevalier – qui donne à son Livre un aspect singulier puisqu’il permet d’illustrer la façon dont on peut tirer la norme dans le sens du vécu –, il suffit de mentionner le nombre de personnages contemporains évoqués et, plus avant dans la mémoire familiale, les quelques passages où le chevalier donne en exemple sa grand-mère Olive de Belleville, ou son propre père. Dans les exemples consacrés à des héros de souche royale, paradoxalement tirés de l’anonymat des contes, ces jeunes rois d’Angleterre ou d’Espagne partis en quête d’une épouse, se trouvent face à un choix, parmi trois soeurs ou deux. Quant au Chevalier, parmi les épouses possibles que pressent son père, il refuse la première, trop précipitée et trop empressée. Voir le chapitre XIII: le jeune La Tour Landry refuse la très grant legière manière et la trop grant appertise qui [lui] sembloit à veoir en elle. Ce sont les mêmes excès qui motivent les jeunes rois au bénéfice de la soeur cadette. Par exemple dans le chapitreXLVIII ›Des dames qui cheirent en la boue‹, ou au chapitre XLIX ›Cy parle de tenir moyen estat‹: il s’agit de la coiffure extravagante, l’atour du gibet. Voir chapitre XXIII: ›Cy parle de Bouciquaut et de .III. dames, comment il s’en chevit‹.
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paroles pertinentes et même les chemins empruntés pour se rendre à un pèlerinage ou à une noce.16 Ainsi semble-t-il évident que le Livre – sous-tendu par l’armature des vices dont la femme est coupable virtuellement, essentiellement la luxuria et la gula – concerne l’honneur, la renommée, le visage social plutôt que des péchés de femmes à proprement parler. On sera d’autant moins frappé par ces glissements catégoriels que les injonctions, dans un certain nombre de textes didactiques médiévaux, sont extrêmement mêlées, à nos yeux de lecteurs modernes, qui séparons le domaine éthique de celui des convenances. Il suffit de se reporter à la tradition des Contenances de table, ainsi qu’au ›Chastoiement des Dames‹ de Robert de Blois. Dans ce dernier texte en particulier, on observe une surprenante juxtaposition des catégories de comportement, le geste convenant ou inconvenant côtoyant les atteintes beaucoup plus graves au comportement idéal et vertueux des femmes.17
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L’horizon de l’acte inaccompli
Face à cette tradition concernant des défauts de perception dans la hiérarchie des gestes et des comportements, le Livre du Chevalier présente le grand intérêt de centrer le propos sur les éventuelles ›fautes‹ des femmes à la lumière des fautes accomplies dans le passé: il se sert bien des injonctions de la topique, mais il les met en récits, esquissant ainsi la faute virtuelle, le moment et le lieu où la faute se prépare. A l’horizon des actes inaccomplis, qui laissent à l’être féminin le bénéfice d’un apprentissage possible et d’une lucidité acquise, ce qui est bien le but du Livre! Ainsi le père s’attache-t-il volontiers au faux-pas comme incongruité, comme entorse ou négligence, comme naïveté ou précipitation juvénile. Lesquelles font éclater d’autant plus vivement l’incroyable conséquence de l’acte, comme le montre emblématiquement l’exemplum tiré de la topique du secret non gardé, où s’illustre le fils de Caton. D’une simple confidence de mari à femme à la rumeur qui agite la foule, l’amplification du scandale rend à la fois dérisoire et lourde de poids son origine: la parole divulguée dont est responsable l’épouse de Catonnet.18 La finalité implicite du traité indique à quel point un geste du privé – la scène du miroir, les soins du corps, tout ce qui appartient à la préparation secrète 16 17
Par exemple le choix d’un chemin court, mais boueux et incertain, au lieu du chemin le plus long qu’empruntent les femmes sages au chapitre XLVIII. Pour évoquer succinctement la succession des injonctions dans le Chastoiement des dames, on y précise la mesure de la démarche, l’usage de la parole et du silence, l’évaluation de la gestuelle sensuelle, la mesure du regard, le dévoilement du corps, l’acceptation d’un joyau, la crainte de la querelle, l’excès du boire et du manger, les gestes de salutations, l’usage du rire et l’esthétique qui y est attachée, des conseils pour préserver la pâleur du teint, l’exercice vocal du chant, les gestes à table, l’interdiction du mensonge.
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de l’apparence – se révèle d’une profonde inconvenance, dans la mesure où le désordre induit dans l’espace communautaire est sans commune mesure avec l’intention de se parer. Il est vrai que la luxuria appartient au domaine important des transgressions, et l’enjeu en est bien la satiété de l’orgueil; pourtant dans le Livre du Chevalier il ne s’agit bien souvent que d’un geste amorcé engageant à la luxure, comme si le père s’imposait d’en rester au seuil de l’acte. Il faudrait dans ce cas – Pierre von Moos y engageait dans les réflexions préparatoires au Colloque – distinguer entre ›erreur‹ et ›faute‹, assigner certains actes au territoire d’un ›non-savoir‹ plutôt que de les ranger dans le domaine de la faute. C’est ce qui explique la coexistence de fautes graves – l’adultère et la fornication – et d’actes concernant plus simplement la perte de l’honneur. Pour les femmes qui en prennent le risque, ces actes appartiennent au monde de la nuance, sous-tendu par des motivations et des actes d’une éthique au quotidien: bêtise, négligence, esprit divagant, gestes provoquant le scandale, manque de bons sens et de discernement. Certes l’on peut trouver des erreurs de ce genre – dans le domaine de la mode par exemple – qui ont clairement pour origine la provocation: ces gestes engagent plus fortement la responsabilité de la jeune femme. L’ ›atour du gibet‹ relate l’amour de la mode poussé à l’extrême de l’extravagance, et son effet couvre de ridicule la pauvre fille qui l’arbore.19 Plus gravement, dans le chapitre IX une femme frappée par Dieu d’un châtiment accablant s’accuse publiquement, telle autre aussi au chapitre XXVe. Au chapitre suivant ›De celles qui ne veullent vestir leurs bonnes robes aux festes‹, la dame s’accuse d’avoir pris le risque, pour porter des vêtements très ajustés, de nuire à l’enfant qu’elle portait. Bien souvent cependant, la façon dont le moraliste laïc pénètre dans le domaine des fautes féminines – par des exemples dont un certain nombre, empruntés au domaine biblique, sont élargis par des anecdotes contemporaines comparables par la gravité du fait – concerne un domaine plus fluctuant, mais précisément fort intéressant pour la notion de faux-pas: il fait affleurer au fil des récits la diversité des nuances possibles. Où se trouvent alors les valeurs les plus fermes? L’on sait combien le Chevalier déplore un monde devenu incertain: … le monde est aujourd’hui bestourné, et honneur n’est point si gardée en sa droite règle et en son droit estat comme elle souloit en plusieurs cas, et spécialement l’onneur des bonnes femmes.20 18
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Voir le chapitre CXXVIII, cet exemple étant complété par une autre histoire, plus burlesque, de secret divulgué. Le Ménagier fera état de cette dernière version, quelques années après La Tour Landry. Ma récente communication sur La parole sans frein: attribut topique du sexe féminin?, Amsterdam, juin 2000 (parution prévisible dans les Actes de la Sator, Société d’Analyse de la Topique romanesque) s’attache à cet aspect de la littérature didactique, dans une perspective comparée. La Sator a d’ailleurs élargi son champ à la topique de tout genre narratif. Voir chapitre XLXI ›D’une damoyselle qui portoit haulx cuevre chiefs‹.
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Elle n’échappe pas au lecteur, la formulation inquiète de ces temps où les clartés permettaient de tout jauger avec justesse, comme le rappellent les Anciennes coustumes au chapitre CXVIII. Ainsi, dans son ensemble très écarté des sévérités ecclésiastiques, le Livre peut-il nourrir une réflexion nuancée sur l’économie de la faute et de l’impair dans le discours laïque de la fin du XIVe siècle. Plutôt que d’y voir un texte misogyne – ce qui voudrait dire que seraient nivelées, sous l’angle exclusif de la topique, la diversité des exemples relatés et leur facture littéraire – on est légitimé dans cette approche du texte par le position même du traité didactique, et un constat très simple suffit au propos. Un livre d’éducation adressé à de très jeunes filles présuppose dans le projet de l’énonciateur une ignorance des destinataires à éduquer. Dans ce discours préventif du père, la faute repose nécessairement sur une projection dans la temporalité des jeunes filles entrées sur le chemin de l’exercice de la séduction, mais également de l’exercice d’une bonne maîtrise de soi. Elles sont et seront donc susceptibles de fautes, mais pour les temps qui précèdent – celui de leur jeune âge – on les crédite d’une ignorance et d’une évaluation trop floue dans le repérage des frontières de ce qu’il faut ou ne faut pas faire. C’est ce cadre que procurent les normes. Orienté sur l’axe temporel d’un enseignement transmis par la génération des pères et mères, transmis à des filles qui n’ont encore commis aucune faute, le Livre pose clairement la question de l’impair et du faux-pas, plutôt que de la faute. Tout au plus évoque-t-il une provocation imprudente, fondée sur une ignorance des conséquences des faits et gestes. La tonalité du livre, tout à la fois souple et ferme, présuppose assurément la connaissance de ›fautes‹, c’est à dire la projection vers des transgressions virtuelles, ce qui est rendu possible par la structure qui oppose les bons exemples – les démonstrations d’un respect de la norme – aux transgressions de l’Ecriture ou des chroniques. Mais le discours du père laisse largement ouverte la porte des accomplissements virtuels, puisque les ›bons exemples‹ des ›bonnes femmes‹ qui n’ont pas commis la faute constituent une étape essentielle vers la représentation d’une perfectibilité de l’être, ce qui semble le propos du Chevalier. Les seuls exemples de fautes aux conséquences vivement déplorées, outre les histoires frappantes de Thamar et des filles de Loth,21 sont donnés au chapitre CXXII dans le récit des Galois et Galoises, qui met en scène la rigidité des règles d’une micro-société abnorme, élaborant une forme de contrat social – un monde de la loi absurde – qui aboutit à un parcours clôturé puisque tous meurent des transgressions accomplies, à l’origine desquelles oeuvre la flamme de Vénus, tout comme la fornication décidée dans le chapitre III ›De deux chevaliers qui amoient deux suers‹, ou encore dans cet écho de chro20 21
Voir chapitre CXVI. Voir le chapitre LVII consacré à ›Thamar, femme Honain qui estoit filz Juda, filz de Jacob et frère de Joseph‹, et qui se clôt par l’adultère de la reine de Naples.
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niques qui relatent l’histoire de la ›fole reine‹ de Naples, qui commet l’adultère, donne naissance à un bâtard, laisse croire à la légitimité de ce dernier, faute secrète longuement retenue que révèle le grave dysfonctionnement du royaume soumis aux guerres et aux désastres, jusqu’au moment où est dénoncée la ›faulce lignee‹ Enfin dans un domaine plus familier, la séquence triple du chevalier aux femmes mortes, durement punies après leur mort, l’une pour l’élégance excessive et son manque de charité, l’autre pour la séduction et l’adultère, la dernière pour l’excès des soins de beauté: la révélation ici s’opère par la médiation d’un saint oncle ermite qui découvre à la fois les péchés commis et la punition infligée.22 Elles appartiennent plus clairement au registre de l’impair et de la quasi ignorance, ces histoires qui montrent une femme en train de commettre des actes imprudents et inconscients, des gestes de démesure qui suggèrent qu’en âge d’exercer sa séduction, elle est comme privée d’un manque de gravité et de perception des codes légitimes: elle ne dispose que d’une tête brouillée. Il est vrai qu’il s’agit toujours des préliminaires à l’acte de séduction: l’usage de la mode, la recherche de vêtements, hélas souvent inappropriés, le retard à l’église à cause des longs soins consacrés à la parure, et d’autres impropriétés de comportement.
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Responsabilité et rétrospection
Reste le problème d’une conscience de la transgression, et par suite la prise en compte d’un sujet assumant la responsabilité. Existe-t-il dans le Livre des femmes pourvues d’un savoir avant que se commette l’acte? Rarement, il faut en convenir. Pourtant elles peuvent témoigner d’un regard rétrospectif et avouer leur ›faute‹: plusieurs cas d’auto-accusation méritent l’attention, par exemple l’exemple XIV ›Cy parle de la bourgoyse qui mourut sans oser confesser son pechié‹, ou encore l’exemple XXVI ›De celles qui ne veullent vestir leurs bonnes robes aux festes‹, évoqué ci-dessus. Il existe donc un temps pour la rétrospection, pour le repentir et la conscience d’une faute. Cette dernière est assumée, mais si elle a été commise, c’est bien parce que la femme, comme ses soeurs dans d’autres anecdotes qui rapportent un excès de narcissisme, a préféré le ›bobant du monde‹ dans une forme d’aveuglement. Or avouer, c’est se reconnaître, se proclamer acteur, et en même temps clamer une mise à distance de l’acte. Le narcissisme dès lors, dans la représentation des manquements à éviter, pourrait-il échapper à la formulation d’une faute? En tout cas l’aveu publiquement formulé situe bien le sujet agissant dans le cadre des interactions humaines plus que dans le secret d’un repentir intime. 22
Aux chapitres L, LI et LII.
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Ainsi peut-on voir dans le Livre du Chevalier de La Tour Landry les éléments d’une socio-éthique: des enjeux, des arguments, des stratégies discursives qui concernent la construction de la personne privée dans un espace public, concret et symbolique. Il s’agit bien, dans ces scènes nombreuses où la femme désordonne l’espace public, d’une personne privée perturbante et peccamineuse. L’usage d’une tenue extravagante – cornettes, vêtements à traînes, ›cointises‹ et ›nouveaultez‹ – induisent la perturbation publique et dé-ritualisent l’espace public. Par le phénomène de la mode, sans commettre autre chose qu’une inconvenance, la femme bouscule le temps: elle suractive la fièvre de la nouveauté.23 Or l’attention à l’apparence est louable dès lors qu’elle ne bascule pas vers l’excès et que la femme ne réclame pas un tribut d’hommages. Le quotidien soumis à la règle, scandé par les heures, la messe, les moments de la vie du groupe, pourrait s’en trouver gravement désorganisé. Avant même que s’opère la faute de séduction menant à la luxure, se déroulent les gestes extravagants qui sont toujours et exclusivement de l’ordre de l’inconvenant. Ainsi la scène publique se montre-elle bien ambiguë: elle est l’essentielle partenaire, car elle se prête à l’impair contemplé, bien plus qu’à la faute secrète. L’impair est d’autant plus ressenti et sensible que les narrations savent insister sur le processus de la honte, dans une temporalité de l’acquisition: le sujet féminin progresse ainsi dans la connaissance de ce qui a été commis, comme le montrent la prédication de l’évêque sur les élégances au chapitre XLVII, et le récit des Anciennes coustumes au chapitre CXVIII. La honte n’est presque jamais un processus spontané du sujet: elle naît immanquablement d’une parole de sanction, où l’on voit en exercice d’évaluation l’ensemble d’une communauté. Parfois la soumission à l’aveu provient d’un repentir après l’accablement par le châtiment divin. En effet, dans le domaine délicat de la transgression et de la réprobation, le Livre privilégie une scène publique que domine de toute façon la parole mauvaise. Hommes et femmes sont ici conjugués dans une faute commune. Dès lors la faute de la mauvaise parole de la femme apparaît comme exagération, comme une fièvre aux effets imprévus. Sa propre parole est plus provocatrice qu’elle ne l’entendait au départ, de même que la coupable apparaît débordée par l’effet produit par son vêtement lorsqu’elle s’exhibe outrageusement. Peut-on dans ce cas parler de faute? On y verra plutôt un manque d’entendement et de goût, peut-être une sottise attachée au sexe, une propension féminine à l’inconvenance. C’est là que peut se légitimer la perception d’un »Fehltritt« dans un traité d’éducation au XIVe siècle: pour le dispositif de la norme, les gestes et les paroles sont assurément de fâcheux écarts, mais 23
Pour le détail de ces analyses, je me permets de renvoyer à mes différents articles: Femme/ faute/fantasme et L’Honneur des femmes, cités ci-dessus.
L’impair ou la faute? La question de la responsabilité
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pour les actrices elles-mêmes, il s’agit presque toujours d’un aveuglement et d’une absence de savoir. En conclusion, le dynamisme de la problématique, dans ce traité didactique animé de registres divers, est dû à la notion active d’un seuil qu’il convient de ne pas franchir. Ce serait commettre ce qui pourrait devenir faute, mais le franchissement ne signifie que rarement la conscience de le faire, encore moins une faute. Il s’agit bien plus souvent d’un faux-pas avancé par un être qui ne possède guère les repères du symbolique, comme pourrait le laisser entendre la sémiotique corporelle que le Chevalier de La Tour Landry développe à partir de la tradition. On aurait donc une responsabilité sans acteur véritable de faute, la part de transgression ne concernant plus que la désinvolture, l’imprudence, le fait peut-être de n’avoir pas suffisamment écouté ni appris. A cet effet, on se souvient qu’à plusieurs reprises le Chevalier prône l’apprentissage de la lecture par ses filles, ›affin que elles peussent aprendre et estudier, et veoir et le bien et le mal qui passé est, pour elles garder de cellui temps qui a venir est.‹24 Pour l’heure la responsabilité repose clairement sur ceux qui détiennent le savoir, sur le père attentif ou la mère qui affirme: »A nos enfans ne devons rien celer«, confortant par ce propos, pour les deux géniteurs, le rôle du donneur de loi, c’est-à-dire le donneur de vie. Car la faute, dans la plupart des cas évoqués – l’inconvenance dont est coupable la femme – ne consiste qu’à mener au plus loin possible la résistance des règles mêmes qui font le tissu social. On n’aura jamais aussi bien dit la nécessité des frontières, en même temps que leur labilité: de l’espace et du temps, diurne et nocturne. Si l’élégance est le fruit d’un jeu réglé, la sur-élégance mène au dérèglement des jeux du paraître. Si l’échange de mots et de propos sert la convivialité et ses rites – par exemple la table de jeu, propice à l’affrontement virtuel, issu de la nécessité du jeu codé de l’échange25 – la rationalité du convivial débouche sur la stridence dont la femme est responsable, et pourtant si peu fautive! Elle n’est qu’entraînée vers l’excès des mots, et voilà le jeu social déréglé. Enfin, si le plaisir de l’homme et de la femme à se trouver ensemble engage un nombre contrôlé de gestes d’accueil et d’approches qui devraient mener à de bons mariages, les gestes de l’›appertise‹ trop évidente d’une femme mènent à des comportements échappant au contrôle, propices au soupçon d’une faute virtuelle. Le débat sur l’éventuelle prédominance de l’impair par rapport à la faute proprement dite dans le Livre du Chevalier de La Tour Landry se conclut par 24 25
Prologue, p. 4. Jouer, c’est se voir attribuer un tour, un rôle défini et un parcours bien réglé. Il existe dans la littérature narrative médiévale bien des portées symboliques du jeu, dans l’espace des partenaires et de la table de jeu, ainsi dans un scénario d’inceste, Le Roman du Comte d’Anjou de Jean Maillart, au XIVe siècle.
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le constat que les véritables fautes viennent d’un fonds biblique, d’un fonds de légende ou de fable, du caractère exceptionnel et mythique de royaumes menacés. En face de ces rares et frappants exemples de fautes, le comportement condamnable le plus courant dans le Livre concerne le travail des apparences, l’un des produits les plus élaborés de la figure sociale: la belle femme que chacun désire. Dans ces cas, le père souligne la faute de goût plutôt que l’aboutissement de la luxure. A partir d’une topique qui aurait donné à son entreprise un caractère rigide, par la reprise des normes de la longue durée, le choix de minimes transgressions accorde aux destinataires, les futures lectrices du Livre, la temporalité d’un apprentissage et la promesse d’un modèle optimiste. C’est pourquoi le père moraliste ordonne les exempla en crescendo, ou en variations de transgressions dont l’effet est celui d’une pédagogie associant l’affect de terreur, connu de la prédication, à l’atténuation produite par la faute réduite au faux-pas. L’impair n’est que l’inconvenance du vêtement inapproprié et du temps mal maîtrisé. Garder ses belles robes pour des jours profanes et l’arrivée de visiteurs, au lieu de les porter le jour où l’on honore la Vierge, relève de cette incongruité-là.26 Ainsi les manquements dont parle le chevalier sont d’un registre résolument social: l’enjeu en est l’intégrité des rituels partagés, la préservation de l’ordre, la régulation des regards, l’ordonnance des journées. La désorganisation des règles communautaires est à éviter, en tout premier lieu. Si les fautes d’Eve et de ses filles sont sanctionnées par l’Eglise, le Chevalier de La Tour Landry, en brandissant les risques de l’agitation et de la turbulence, se contente pour sa part de faire frémir le quotidien. Fâcheux impair ou faute qui se dessine? A la lumière de cet impossible départage de ce qui est ici ›faute‹ ou ›impair‹, à partir de cette situation bien instable entre ›responsabilité‹ et ›irresponsabilité‹, on ne peut que rappeler – provisoirement – ce qui semblait évident dans l’analyse de l’honneur des femmes et l’entreprise de deshonneur dont il est si souvent question dans le Livre: les êtres féminins ont peut-être été agents de fautes dans le passé biblique, dans la chronique ou la fable, et les femmes de l’heure présente peuvent occasionnellement s’en montrer conscientes dans les anecdotes relatées par le Chevalier, mais la plupart des cas évoquent des comportements de femmes non averties, pourvues d’un entendement un peu fragile, et assurément amendables. Les responsabilités sont ainsi partagées dans la communauté humaine: dans les situations d’interlocution, l’initiative des propos menteurs, les stratégies d’un langage fallacieux incombent à d’autres que les femmes, jeunes ou moins 26
Voir le chapitre XXVI: à sa demoiselle qui la reprend de ne vêtir ses beaux vêtements aux dates liturgiques, la dame réplique: ›… Dieu et le prestre et les gens d’esglise me voyent chascun jour; mais les gens d’estat ne me voyent pas, et pour ce m’est plus grant honneur de moy parer et cointoier contre eulx‹.
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jeunes.27 Si elles sont entraînées au mauvais comportement, c’est qu’elles sont crédules. Dans ce cas il n’y aurait que de la naïveté, source du faux-pas, ou au pire, les excès du narcissisme. Tel est le propos majeur du Chevalier. Voilà comment se déploie un univers injonctif fait de narrations mettant en scène des figures féminines que la tradition renvoie au domaine de la faute: elles en semblent ici largement allégées. Luxuria, gula, langue séductrice, trompeuse ou médisante: ce sont les méchants égarements du monde où l’acteur féminin apparaît comme agi par d’autres acteurs.28 Dans le domaine d’une culpabilité qui ferait fi des normes, la femme semble plus généralement victime d’un impair, statut d’imperfection qui peut mener au seuil de la faute, telle l’étincelle de la parure, ce grant alumail dont l’en chiet voulentiers au pechié d’orgueil, et de cellui d’orgueil en cellui de luxure, qui sont les deux pires pechiés qui soient.29
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On se souvient des nombreuses mentions – dès le Prologue du Livre – des paroles mensongères, comme au sein du débat entre le père et la mère, et tout au long du traité, le plus frappant étant celui qui met en scène une mère ajoutant foi aux paroles qui lui font croire que son fils est en vie et couvert de gloire, alors que la nouvelle de sa mort est déjà assurée. Voir le chapitre LXXIII. L’objet de ce Colloque pluridisciplinaire me permet de poursuivre ainsi la réflexion amorcée dans l’article: L’honneur des femmes …, et de confirmer les conclusions auxquelles j’étais partiellement parvenue: renvoyer la femme à l’impair, à l’inconvenance, au faux pas – quelle que soit la traduction retenue pour le »Fehltritt« – est une façon tout à fait révélatrice de témoigner d’un statut nouveau de l’énoncé didactique et de la relation destinateur/destinataire féminin. Chapitre LI: les commentaires concernant les deux premières épouses du chevalier, la troisième étant plus particulièrement sanctionnée pour le risque des fards et autres embellissements: … c’estoit un des pires pechiez qui feust et qui plus desplaisoit à Dieu, car c’estoit pechié d’orgueil, par lequel l’en attrait le pechié de luxure et tous aultres pechiéz mortelx dont le monde perit par le déluge et depuis plusieurs citez en sont arses et fondues en abisme …
Rüdiger Schnell
Literarische Spielregeln für die Inszenierung und Wertung von Fehltritten
Das Beispiel der ›Mären‹ 1 Die schwierigste und doch grundlegende Frage der Tagung lautet(e): Gibt es im Mittelalter – in der ›Realität‹ bzw. in schriftlichen Zeugnissen – das Phänomen Fehltritt? Die Antwort darauf hängt – zunächst – von unserer Definition des Fehltrittes ab.1 Es könnte sein, daß das, was wir als Fehltritt bezeichnen, in mittelalterlichen Texten nicht begegnet, weder als geschilderter Vorgang (1) noch als Begriff (2). Es ist denkbar, daß sich unsere Lebenswelt gegenüber dem Mittelalter so verändert hat, daß erst jetzt Handlungen möglich sind, die wir als Fehltritte bezeichnen. Sollten aber gleichartige Handlungsweisen in Mittelalter und Neuzeit vorliegen, dann müßte immer noch damit gerechnet werden, daß diese identischen Handlungsweisen unterschiedlich bewertet und deshalb begrifflich unterschiedlich gefaßt wurden bzw. werden. Heute mögen diese Handlungsweisen als Fehltritt gelten, im Mittelalter aber nicht. Einer möglichen Übereinstimmung im Faktischen würde somit keine terminologische (und damit keine moralisch qualifizierende) Übereinstimmung entsprechen. Doch ein Blick in historische Wörterbücher stimmt – zunächst! – zuversichtlich: Es scheint terminologische Entsprechungen zu geben. Im Grimmschen Wörterbuch ist s.v. ›Fehltritt‹ die lat. Entsprechung lapsus angegeben. Dieses Wort lapsus bzw. labi tritt in mittelalterlichen Texten tausendfach auf und kann möglicherweise in Einzelfällen auch das bezeichnen, was wir heute unter ›Fehltritt‹ verstehen: Ist aber stets Bedeutungsgleichheit von Fehltritt und lapsus gegeben? Die heutige Verwendung von lapsus (»da ist mir ein Lapsus unterlaufen«) deckt sich kaum mit der mittelalterlichen Vorstellung vom Sündenfall Adams als lapsus (wir sprechen heute noch von der prae- bzw. post-lapsarischen Ära). Freilich begegnet das Wort labi auch anläßlich ›harmloserer‹ Vorgänge in mittellateinischen Chroniken oder ›Comediae‹ und kann 1
Vgl. aber auch meine Schlußüberlegungen unten S. 311.
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zuweilen ein tatsächliches Fallen bzw. Straucheln bezeichnen. Damit sind wir bei der Einsicht angelangt, daß es möglicherweise fließende Grenzen zwischen dem wortwörtlichen und metaphorischen Gebrauch von lapsus (›Fehltritt‹) gibt. Hinzu tritt die Einsicht, daß ein mittellateinisches Wort (labi z. B.) Handlungen von unterschiedlichem (un)moralischen Gewicht bezeichnen kann. Greift man zu mittelhochdeutschen Wörterbüchern, wird zunächst ebenfalls Bedeutungsübereinstimmung von heutigem Fehltritt und mittelalterlichen Termini suggeriert. Mit dem ›Neuhochdeutschen Index zum mittelhochdeutschen Wörterbuch‹ (hg. von Erwin Koller u.a., Stuttgart 1990) besitzen wir ja ein vorzügliches Instrument, mit dem die mhd. Äquivalente zu nhd. Begriffen aufgespürt werden können. Zum heutigen Begriff ›Fehltritt‹ finden sich dort folgende mhd. Entsprechungen: bîtrit, hindertrit, missetât, missetrit, missevart (entsprechende Verben wären missevarn, missetuon). Sucht man aber diese Begriffe im Mittelhochdeutschen Wörterbuch auf und betrachtet die Übersetzungsgleichungen mitsamt den angeführten Belegstellen,2 so wird schnell klar, daß die Semantik der mhd. Wörter missetât, missevarn, bîtrit so breit gefächert ist, daß es letztlich dem heutigen Interpreten überlassen bleibt, ob er z.B. das mittelalterliche Wort missetât an einer bestimmten Textstelle mit ›Fehltritt‹ oder aber mit ›Vergehen‹, ›Bosheit‹, ›Untat‹, ›Schuld‹, ›Missetat‹ übersetzen will.3 Wenn es etwa in Wolframs ›Parzival‹ von Gahmuret heißt: er starp ân alle missetât (Pz. 106,26), so ließe sich dies übersetzen: »er starb ohne Missetat bzw. ohne etwas Schlechtes getan zu haben bzw. ohne sich vergangen zu haben«, aber auch »er starb, ohne jemals einen Fehltritt begangen zu haben«. Wenn also keine semantische 1:1 Entsprechung zwischen heutiger und mittelalterlicher Terminologie gegeben ist, sondern wir das, was nach heutiger Auffassung als Fehltritt zu gelten hat, in den Beschreibungen und Schilderungen der mittelalterlichen Texte interpretativ erschließen müssen, dann mag man dies bedauern, weil eben eine gewisse heuristische Unsicherheit gegeben ist. Andererseits wird dadurch ein Spielraum eröffnet, der es uns gestattet, manches aus den historischen Texten herauszulesen, was deren damaligen Autoren und Rezipienten (noch) nicht so klar bewußt war: Wenn es stimmt, was die Sprachgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts herausgearbeitet hat – nämlich, daß bei den Substantiven vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen eine eminente Bedeutungsdifferenzierung bzw. -verengung eingetreten ist (kiusche, êre, demuot, güete sind die bekanntesten Beispiele) 2 3
Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, Leipzig 1872–1878. Entsprechend kann ein moralisches oder gesellschaftliches Fehlverhalten in mittellateinischen Quellen mit lapsus oder transgressio bezeichnet werden (vgl. z.B. Humbertus de Romanis, Expositio super constitutiones fratrum praedicatorum, in: Opera de vita regulari, ed. Berthier, Bd. 2, Torino 1956, S. 1–178, bes. S. 46 ff.). Auf die heutige Zeit übertragen, wäre zu fragen, wo der Unterschied zwischen Fehltritt und Übertretung liegt.
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–, dann könnte es ja sein, daß wir mit unserer heutigen differenzierteren Begrifflichkeit solche Vorgänge, die in den mittelalterlichen Texten mit einem einzigen Wort (z.B. missetât) noch ungeschieden als ›Missetat, Vergehen, Bosheit, Schuld, Fehltritt‹ erfaßt werden, abgrenzen können von solchen Vorgängen, die nach heutigem Verständnis allein die Bezeichnung ›Fehltritt‹ verdienen. Doch eine weitere Schwierigkeit droht: Auch wenn wir uns auf eine Definition von Fehltritt geeinigt haben, die wir dann auf historische Texte sowie auf aktuelle Verhaltensweisen anwenden können, besteht die Möglichkeit, daß verschiedene Interpreten denselben Tathergang bzw. dasselbe narrative Geschehen (z.B. einen Ehebruch) unterschiedlich bewerten und daß deshalb die einen von Fehltritt sprechen, die anderen von einem Vergehen – wobei beide Standpunkte wohlgemerkt im Ehrediskurs verbleiben. Immerhin ist zu vermuten, daß bestimmte Handlungen – z.B. Ehebruch – heute nicht mehr denselben strikten moralischen Verdikten unterliegen wie noch vor 100 oder 400 Jahren. Doch würden sich sicher auch heute noch viele dagegen wehren, einen Ehebruch mit einem »Sich bei einem Bankett daneben benehmen« auf eine Stufe zu stellen und ihn als ›Fehltritt‹ (oder gar als ›Seitensprung‹) zu bezeichnen. Gleichwohl hat es sich eingebürgert, von einem Ehebruch als einem ›Fehltritt‹ zu sprechen.4 Vor allem Übersetzer mittelalterlicher Texte müssen Farbe bekennen, ob sie im missevarn bzw. missetuon einer Ehefrau, die Ehebruch begeht, ›bloß‹ einen Fehltritt oder eine Missetat, ein Vergehen, eine Verfehlung, eine Unrechttat erblicken. Winfried Frey übersetzt die mhd. Termini missetuon, missevarn, missetât, die in Meister Ottes ›Eraclius‹ (ca. 1200) den Ehebruch der Kaiserin bezeichnen, fast durchweg mit »Fehltritt«.5 An zwei Stellen allerdings mischt sich in Freys Übersetzung – trotz gleichbleibender mittelalterlicher Terminologie und identischem Referenzobjekt! – eine andere, rigidere Beurteilung: missetât wird nun nicht mit Fehltritt, sondern mit »Freveltat« bzw. sogar mit »Verbrechen« übersetzt.6 Meines Erachtens schwankt Freys Terminologie, weil er sich wie viele andere auch in der Einschätzung des Ehebruchs – im Mittelalter und z.T. noch heute – nicht sicher
4
5
6
Tilmann Walter, Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland, Berlin/New York 1998, S. 237 nennt den Ehebruch einen »ehelichen Fehltritt«. Der Eraclius des Otte, übersetzt, mit Einführung, Erläuterungen und Anmerkungen von Winfried Frey, Kettwig 1990, S. 86 (ed. Graf, 1883, V. 2089 missetât); S. 91 (ed. Graf, V. 2308 missevarn); S. 98 (ed. Graf, V. 2587 missetuot); S. 125 (ed. Graf, V. 3848 missetât); S. 129 (ed. Graf, V. 4028 missevarn; V. 4054 missetât); S. 132 (ed. Graf, V. 4102 missetât). Frey gibt in seiner Übersetzung die Verszahlen seiner eigenen Ausgabe (Göppingen 1983) an. Frey, S.125 zu Edition Graf, V. 3865 (grôze missetât wird mit »großer Freveltat« übersetzt); S. 134 zu Edition Graf, V. 4234 (missetât mit »Verbrechen« wiedergegeben).
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sein kann. Die Skala der Beurteilung reicht von Kavaliersdelikt über Fehltritt und Vergehen bis schändliche Tat.
2 Gibt es in der Beurteilung von Fehlhandlungen überhaupt epochale Verschiebungen vom Mittelalter zur Moderne? Nicht zu übersehen sind die gattungsspezifischen Differenzen innerhalb einer Epoche. So kann der Literarhistoriker darauf verweisen, daß dem Tatbestand Ehebruch in unterschiedlichen Textgattungen des Mittelalters unterschiedliche Bewertungen zuteil werden: als ›Fehltritt‹ entschuldigt oder gar legitimiert in Fastnachtspielen, Fabliaux, Schwankbüchern (also vor allem in komischer Literatur), als frevelhaftes (oder gar sündhaftes) Tun hingegen gebrandmarkt in der Spruchdichtung, in Prosaromanen, in höfischen Erzählungen. Solche Unterschiede interessieren den Literarhistoriker: Er möchte die Voraussetzungen und Bedingungen herausfinden, die für unterschiedliche Bewertungen ein und desselben Verhaltens verantwortlich sind.7 Für die Übersetzer hätte der skizzierte Befund Konsequenzen: Wo in dem einen Text missetât mit dem leichtgewichtigen Wort »Fehltritt« wiederzugeben wäre, hätte in einem anderen Text dafür »Verbrechen« zu stehen. Wenn unterschiedlichen Textgattungen unterschiedlich (strenge) Moralpositionen verbunden sind, dann müßten solche gattungsbedingten moralischen Perspektiven von den heutigen Übersetzern beachtet werden. Hilfestellung leisten bei der richtigen Beurteilung eines Handlungsgeschehens oft die mittelalterlichen Erzähler selbst (z.B. in Epimythien, s.u.). Ich werde mich in meinem Beitrag auf die literarische Gattung der schwankhaften Kurzerzählungen konzentrieren, also auf Texte, deren utilitas oft darin besteht, der delectatio zu dienen. Ob aber diese deutschen spätmittelalterlichen Kurzerzählungen (›Mären‹ genannt) überhaupt als eine Gattung anzusprechen sind, ist in der germanistischen Mediävistik umstritten. Im Zusammenhang mit dieser Gattungsdiskussion hat Walter Haug neulich die Behauptung aufgestellt, diese narrativen Texte seien in einem gattungsfreien Raum angesiedelt und würden dementsprechend auch mit keinerlei Sinnvorgaben operieren. Im Gegenteil, sie würden auf Sinnkonstruktionen verzichten, ja sie würden sich auf die Erfahrung des Sinnlosen einlassen. Gekennzeichnet sei diese sinnlose Welt der Kurzerzählungen durch den Zufall, durch Gewalt, Lust, durch den zerstörerischen Intellekt, durch anarchische Ordnungswidrigkeit und Irrationalität.8 Zwar gebe es eine große Zahl von Kurz7
Daß solche gattungsbedingten Unterschiede der Mentalitätsgeschichte und Geistesgeschichte Schwierigkeiten bereiten können, erläutert Rüdiger Schnell, Rechtsgeschichte, Mentalitäten und Gattungsgeschichte, in: Joachim Heinzle (Hg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter, Stuttgart/Weimar 1993, S. 401–430.
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erzählungen, bei denen es am Schluß zu Reue, Verzeihung und Versöhnung komme. Doch diese Erzählungen ließen eine innere Logik vermissen, derzufolge am Ende einmal ein versöhnlicher Schluß, ein ander Mal ein harter Strafakt stehe. Die positive Wendung am Schluß einer Geschichte bleibe reiner Willkür überlassen.9 Diese These reizt zum Widerspruch. Ich habe deswegen die ca. 220 Kurzerzählungen des deutschen Spätmittelalters erstens daraufhin befragt,10 wo auf ein Fehlverhalten (Fehltritt?) ein versöhnliches Ende folgt, und zweitens, ob sich an den einschlägigen Texten bestimmte narrative Strategien ablesen lassen, die dafür verantwortlich sind, daß hier Fehlverhalten nicht hart bestraft, sondern mit Nachsicht bedacht wird. Gibt es gegen Haug eine erkennbare Relation von Inszenierung eines Handlungsgeschehens und (versöhnlichem) Erzählschluß, somit doch eine innere narrative Logik? Ich frage also nach gattungsbedingten Reaktionen auf Fehlverhalten und nach deren narrativer Umsetzung. Schließlich wird die Frage zu beantworten sein, welchen Zweck die Mären verfolgen, wenn sie auf einen Fehltritt bzw. eine Provokation keine Rachehandlung, sondern eine die Konfliktsituation befriedende Reaktion folgen lassen. Als Demonstrationsbeispiele eignen sich 21 Texte:11 – Almosen (Nr. 3) – Berchta (Nr. 14) – Umgangene Buße (Nr. 19) – Hans Folz, Die halbe Birn (30c) – Folz, Drei törichte Fragen (30e) – Folz, Der Quacksalber (30o) – Frau und Magd (33) – Das schlaue Gretlein (47) – Kaufringer, Bürgermeister und Königsohn (67b) – Kaufringer, Der zurückgegebene Minnelohn (67g) – Kaufringer, Der Zehnte von der Minne (67n) – Der arme Konrad, Frau Metze (72) – Ps.-Konrad von Würzburg, Die halbe Birn (74) – Ritter Alexander (102) – Der Ritter im Hemd (103) 8
9 10 11
Walter Haug, Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung, in: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hgg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, Tübingen 1993, S. 1–36. Haug, Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung (wie Anm. 8), S. 24f. Sie sind aufgeführt bei Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, Tübingen 1968 (21983), S. 65–71. Die beigefügten Nummern beziehen sich auf die Regesten von Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, Tübingen 1968, 2. Aufl. hg. von Johannes Janota, Tübingen 1983.
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– – – – – –
Rosenplüt, Wolfsgrube (105l) Claus Spann, Fünfzig Gulden Minnelohn (124) Der Sperber (125) Stricker, Der nackte Bote (127a) Stricker, Das heiße Eisen (127f) Die Wette (140) Thema meines Beitrags sind also nicht die verheerenden Konsequenzen bzw. harten Bestrafungen von ›Fehltritten‹ in der historischen Wirklichkeit des Mittelalters, sondern die Bedingungen für einen literarisch-diskursiv nachsichtigen Umgang mit narrativ vorgestellten ›Fehltritten‹. Doch die einheitliche Fragestellung verlangt eine einheitliche Definition dessen, was Untersuchungsgegenstand sein soll: des Fehltrittes. Ich lehne mich dabei an die Begriffsklärungen an, die Peter von Moos mit anderen in den bisherigen Papers zu dieser Tagung vorgenommen hat. Demzufolge wäre als Fehltritt zu bezeichnen »eine absichtslose, unbedachte, einmalige, geringfügige Handlung, die gegen eine oft nicht kodifizierte, aber akzeptierte Etikette, Norm oder ein Ritual verstößt und (deshalb) den Träger der Handlung der Lächerlichkeit preisgibt, dessen Ehre gefährdet, ihn sogar einem Schuldvorwurf aussetzen kann und die trotz des geringfügigen Anlasses möglicherweise das gemeinschaftliche Selbstverständnis der Umgebung aufs Spiel setzt«. Diese gemäß heutigen Vorstellungen entworfene Definition von ›Fehltritt‹ muß sich allerdings fragen lassen, ob sie dem Menschenbild anderer Epochen gerecht wird. Zahlreichen dogmatischen Texten des Mittelalters ist die Überzeugung zu entnehmen, daß es absichtslose Handlungen nicht gibt. Was uns als ungewolltes, unbedachtes, unbeabsichtigtes Handeln erscheinen mag, ist dieser Überzeugung zufolge das Resultat einer fehlgesteuerten Einstellung zu Gott. Freilich ist diese Auffassung im sog. Sündendiskurs zu verorten, der hier außer Betracht bleiben soll. Doch werden wir sehen, daß im Mittelalter oft auch Texte, die dem Ehrediskurs angehören, ein absichtsloses Handeln nicht kennen, sondern dann eine falsche, unangebrachte, inadäquate Absicht unterstellen. Jedenfalls wird in den Textanalysen deutlich werden müssen, inwieweit der Aspekt der Absichtslosigkeit einen unverzichtbaren Bestandteil unserer Fehltritt-Definition bildet. Auch der Aspekt der Geringfügigkeit ist zu überdenken. Wenn etwa der mhd. Begriff missetât einen Fehltritt bezeichnen soll (s.o.), in einem narrativen Text aber mit dem Adjektiv grôz verbunden wird,12 müßten wir von einem ›großen Fehltritt‹ sprechen. Dies aber käme gemäß unserer Definition einer contradictio in adiecto gleich. Da der Begriff missetât auch in Verbindung mit dem Adjektiv clein auftritt13 und damit unseren Vorstellungen von Fehl12 13
Siehe oben Anm. 6 zu Eraclius. Vgl. unten Anm. 84 zu Ps.-Konrad von Würzburg, Die halbe Birn.
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tritt als einem geringen Vergehen nahekommt, wäre zu fragen, ob wir nicht mit einer gewissen Bandbreite von Fehltritt-Vorstellungen im Mittelalter zu rechnen haben: Sie könnten ein gravierendes, aber auch ein geringfügiges Fehlverhalten meinen. Der Grund für solche differierenden Auffassungen liegt z.T. in der Tatsache, daß in den untersuchten mittelalterlichen Erzählungen ein und dasselbe Fehlverhalten von verschiedenen Parteien unterschiedlich bewertet wird. Auch diese Differenzen sollten vor voreiligen Kontrastierungen von mittelalterlichen und modernen Fehltritts-Einschätzungen warnen.
3 Doch nun endlich zu den Textanalysen. Das Textkorpus (21 Kurzerzählungen) besteht aus solchen schwankhaften Geschichten, bei denen auf den Fehltritt einer Figur eine nachsichtige, z.T. sogar versöhnliche Reaktion der Umstehenden bzw. Betroffenen erfolgt. Da es auch – allerdings nur einige wenige – schwankhafte Erzählungen mit unerbittlicher Bestrafung eines Fehlverhaltens gibt, lautet meine Ausgangsfrage: Sind den Geschichten mit versöhnlichem Schluß bestimmte narrative Spielregeln zu entnehmen, die ein solches Ende vermuten lassen, oder erfolgt der Schritt vom ›Fehltritt‹ zur Versöhnung unerwartet, abrupt und willkürlich? Meine Textanalysen fragen also nach den narrativen Strategien im Umgang mit ›Fehltritten‹. Es geht bei meinem literaturwissenschaftlichen Ansatz folglich nicht in erster Linie um das Fehlverhalten von Menschen, sondern um die literarische Darstellung und Wertung des Fehlverhaltens von Menschen. Inwieweit Historiker daraus weitergehende Erkenntnisse über den Umgang mit Fehltritten in der mittelalterlichen sozialen Realität gewinnen können bzw. dürfen, wird zu diskutieren sein. Die narrative Kombination von Fehlverhalten und nachsichtiger Beurteilung scheint mir durch insgesamt fünf Bedingungsfaktoren begründet zu sein, die allerdings nicht zusammen in einem Text auftreten, sondern in je unterschiedlicher Weise die einzelnen Texte dominieren: – Der Fehltritt ist unabsichtlich erfolgt; – Das Opfer ist für den Fehltritt mitverantwortlich; – Es herrscht die Einsicht vor, daß jedem ein solcher Fehltritt unterlaufen kann; – Eine Strafverfolgung würde auch Ehrverlust des ›Opfers‹ bedeuten; – Es besteht ein Freundschaftsverhältnis zwischen ›Delinquent‹ und ›Opfer‹.14 14
Ein weiterer Bedingungsfaktor für eine nachsichtige Reaktion begegnet nur ein Mal und kann deshalb vernachlässigt werden: Der durch den Fehltritt entstandene Schaden ist recht gering; vgl. Vriolsheimer, Der Hasenbraten (Fischer Nr. 135).
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Für viele ›Mären‹ gilt außerdem die Bedingung, daß der Fehltritt noch nicht öffentlich bekannt geworden ist. Definiert man allerdings Fehltritt als ein Fehlverhalten in der ›Öffentlichkeit‹, dann müßten viele der von mir angeführten Erzählungen aus dem Textkorpus ausgeschlossen werden. Doch läßt sich auch die in zahlreichen Mären befürchtete, vorgestellte Öffentlichkeit als Öffentlichkeit bezeichnen. Es ist wichtig zu betonen, daß meine Liste der fünf Bedingungsfaktoren nicht das Ergebnis verwickelter Interpretationsanalysen sind, sondern daß in den Texten meist explizit die Begründung für eine bestimmte Reaktion auf einen Fehltritt benannt wird.
3.1
Unabsichtlicher Normverstoß
Ein vorzügliches Beispiel bietet des Strickers Erzählung vom nackten Boten (Fischer Nr. 127a).15 Ein herre schickt während einer Reise einen Knappen zu einem Lehensmann voraus, er möge dort seine Ankunft für den Abend melden. Auf dem Hof des Lehensmannes angekommen, vernimmt er von einem Kind, der wirt halte sich in der Badestube auf. In der (irrigen) Meinung, der Hausherr nehme ein Bad, entschließt sich der Bote ebenfalls zu einem Bad und meint, seine Nachricht dem wirt in der Badstube überbringen zu können. Als er sich – vor der Badestube – auszieht und eben im Begriff ist – mit einem Badewedel notdürftig verhüllt –, die Tür zur Badestube zu öffnen, kommt der Hofhund auf ihn zugerannt und droht ihn anzufallen. Diese Attacke zwingt den Boten, rückwärts, d.h. mit dem nackten Hinterteil voran, in die Badstube zu treten. Dort aber hatten sich – weil in der Übergangszeit zwischen Sommer und Herbst die Badstube als Aufenthaltsraum genutzt wurde – nicht nur der Hausherr, sondern auch dessen Gattin, Töchter und das weibliche Gesinde versammelt. Als diese den nackten männlichen Hintern erblickten, erschrekken sie vor schanden und bedecken mit beiden Händen ihre Augen, außer dem Hausherrn. Dieser beklagt den Ehrverlust (V. 89), den er durch das Verhalten des Boten erlitten hat, und äußert verbal seine Empörung. Da erst bemerkt der Knappe seinen Fauxpas und den Ehrverlust, den er selbst durch sein unhöfisches Benehmen erlitten hat (der knappe … sach sîn laster al, daz im geschach, V. 91f.). Noch schneller, als er in die Badstube gekommen war, eilt er nun hinaus und ergreift zu Pferd die Flucht vor dem zornerfüllten Hausherrn. Dieser wiederum glaubt seine Ehre nur dadurch wieder herzustellen, daß er sich für den Affront des Knappen (unzuht, V. 103) rächt (V. 103–109). 15
Der Stricker, Verserzählungen, hg. von Hanns Fischer, 2., neubearb. Aufl., Tübingen 1967, S. 110–124. Für weitere bibliographische Angaben verweise ich auf Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung (wie Anm. 11), S. 280–433: In der dortigen systematischen Forschungsbibliographie sind unter der von mir jeweils angegebenen Nummer alle einschlägigen Publikationen verzeichnet. Auf neuere Studien werde ich, wenn erforderlich, in den Anmerkungen verweisen.
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Also eilt er zu Pferd dem Knappen nach, der den Weg zurück zu seinem herren in Eile zurückgelegt, diesem aber vor Angst keine Erklärung für seine überstürzte Rückkehr gegeben hatte, sondern eilends weitergeeilt war. Als schließlich der erzürnte wirt bei dessen Lehensherrn angelangt war und den Hergang des für ihn peinlichen Vorfalls geschildert hatte – dabei als größte missetât erwähnte, daß der Knappe mit dem (nackten) Hinterteil voran die Badstube betreten habe (V. 152f.) –, sagt dieser sofort eine strenge Bestrafung des Knappen zu. Doch vor der drohenden Verstümmelung bittet der Knappe darum zu erklären, warum es zu dem Mißgeschick gekommen war. Da auch der Ritter, der wegen des erlittenen laster Klage führte (V. 171), die Gründe für das Verhalten des Knappen wissen möchte, darf der Knappe die betroffenen Personen aufklären: Es sei der Hofhund, der ihn beinahe gebissen hätte, gewesen, der ihn die zuht habe vergessen lassen (V. 192–196). Daraufhin zeigt sich der Hausherr erleichtert, daß er den angeblichen Missetäter nicht getötet hat, und bietet sich ihm sogar als Freund an. Er seinerseits begründet nochmals seine heftige Reaktion und seinen vormaligen Wunsch nach Rache: ez was mîn angest und mîn wân,/ ez waere ze laster mir getân (V. 203f.). Nachdem diese Sorge genommen ist und sich die als ehrverletzend geltende Provokation als unbeabsichtigte, durch einen Irrtum und eine Notlage begründete Handlung herausgestellt hat, kann die Geschichte in eine freundschaftliche Versöhnung münden. Aus der ehrebedrohenden Provokation wird durch nachfolgende Umdeutung bzw. aufgrund der Einsicht in die Bedingungen der Provokation ein verzeihlicher Fehltritt. Hier erweist sich die subjektbedingte perspektivische Konstitution von Provokation und von ›Fehltritt‹.16 Unbeabsichtigte Ehrverletzung kann also – in der Dichtung – verziehen werden. Doch es sind zwei weitere Aspekte festzuhalten. Der eine betrifft die Folgen eines Fehlverhaltens für ›Täter‹ und die betroffene soziale Gemeinschaft. Der andere die Frage nach Absichtslosigkeit und Verantwortung. In des Strickers Geschichte sind sowohl derjenige, der gegen die höfischen Anstandsregeln verstößt, der also einen Fehltritt begeht, wie auch die ›Adressaten‹ des Fehltritts (hier als unzuht umschrieben) der Auffassung, sie hätten ihre Ehre eingebüßt: Der Knappe erkennt, daß er durch sein unhöfisches Benehmen an Ansehen verloren hat (V. 91f.); der Hausherr fühlt sich durch das Verhalten des Knappen in seiner Ehre verletzt (V. 89, 106, 109, 137). Diese Doppelwirkung des Fehltritts ist zwar bei jedem öffentlichen Fehltritt denkbar, doch üblicherweise sind die Folgen unterschiedlich verteilt: Der Fehltritt macht denjenigen, der ihn – absichtslos, aus Ungeschicklichkeit – begeht, lä16
Deshalb geht der Einwand (Gert Melvilles), im ›Nackten Boten‹ liege eine ungeheure Provokation vor, kein Fehltritt, an der eigentlichen Problematik dieses Textes vorbei: Was aus der Sicht des Hausherrn – selbstverständlich! – eine ehrverletzende Provokation darstellt, ist aus der Sicht des Boten – und später auch des Hausherrn – als bedauerlicher Fehltritt einzustufen. Diese Doppelsperspektive zu erkennen, wird durch die Instanz des Erzählers ermöglicht.
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cherlich (s.u. zur ›Halben Birn‹) und gefährdet sein Ansehen; die zuschauenden Mitglieder der sozialen Gemeinschaft hingegen erleiden keinen Ansehensverlust. Daß in Strickers ›Nacktem Boten‹ beide Parteien um ihre Ehre fürchten, liegt in der doppelten Perspektive begründet: Aus der Sicht des Hausherrn stellt die Handlungsweise des Knappen eine Provokation dar, die nur seine, des Hausherren Ehre gefährdet – dem Provokateur aber möglicherweise sogar Ehrgewinn einträgt –; aus der Sicht des Knappen hingegen ist das eigene Verhalten schlichtweg unhöfisches Benehmen, das ihm Ehrverlust einbringt. Daß er sich durch seine öffentliche Entblößung selbst lächerlich machen könnte, kommt ihm – bzw. dem Erzähler – nicht in den Sinn. Von Lächerlichkeit ist in Strickers Text nicht die Rede. Der nackte Bote erkennt nur blitzschnell, daß sein Verhalten auf die Wirtsfamilie unhöfisch wirken muß und ihm selbst zur Schande gereicht. Zugleich ist ihm bewußt, daß der Gegenüber sein eigenes Fehlverhalten als Provokation auslegt und auf Rache sinnen wird. Deshalb die überstürzte Flucht. Durch die narrative Strategie des Autors sind wir Rezipienten über die Handlungsmotive beider Parteien unterrichtet und können so die gefährliche Zuspitzung der Situation als unbegründet durchschauen und auf eine gütliche Vermittlung der Kontrahenten hoffen. Was also in der sozialen Realität oft nicht klar abgrenzbar ist – ob ein Fehltritt ein unabsichtlicher Normverstoß oder eine bewußte Provokation ist –, vermag die Erzählerinstanz ihren Lesern bzw. Hörern einsichtig zu machen. Diese Einsicht – zunächst auf der Rezipientenebene (im ›Nackten Boten‹), dann schließlich auch auf Protagonistenebene – in die wahren Handlungsmotive ist die Voraussetzung für eine nachsichtige Haltung gegenüber einem Delinquenten.17 Nach dem versöhnlichen Ende der Erzählung fügt der Erzähler ein fast 20 Verse umfassendes Epimythion an, dessen Inhalt überrascht. Denn obwohl der Knappe seine Absichtslosigkeit und damit seine Unschuld glaubhaft versichert hat – und diese Erklärung ja auch von den in ihrer Ehre Verletzten akzeptiert worden ist –, erklärt der Autor: Wäre dem Knappen ein Leid (etwa eine Verstümmelungsstrafe) zugestoßen, so sollte doch niemand behaupten, er sei schuldlos bestraft worden. Denn er habe sich doch einer gewissen Nachlässigkeit schuldig gemacht, weil er der Aussage des Kindes, der Hausherr befinde sich in der Badstube, unbesehen geglaubt und angenommen habe, dieser halte sich dort zum Baden auf. Leitmotivartig zieht sich durch das Epimythion der Vorwurf, der Knappe habe einer bloßen Vermutung (wân) vertraut. Wer aber sein Handeln auf einem wân gründe, der verliere êre und gewinne schaden. Täusche er sich dann, des ist er selbe ein schuldic man (V. 224). Absichtslosigkeit reicht also als Entschuldigung für einen Fehltritt nicht aus, zu17
Die Spannung eines narrativen Geschehens liegt für die Rezipienten dann darin zu erfahren, ob und wie sich die Diskrepanz zwischen tatsächlicher Unabsichtlichkeit (eines Fehltritts) und unterstellter Provokation durch das folgende Handlungsgeschehen auflöst.
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mindest nicht für den Autor Stricker. Der Vorwurf der Unbedachtsamkeit, der mangelnden Umsichtigkeit bleibt. Ihm korrespondiert im mittellateinischen Moraldiskurs der Begriff der negligentia. Nachlässigkeit tritt dort als Schuldvorwurf auf, wo Absichtslosigkeit eine Entschuldigung nahelegt. So stehen wir vor einem seltsamen Zwiespalt in des Strickers Geschichte. Während auf Protagonistenebene, in der Binnenhandlung, die Einsicht in die Absichtslosigkeit des Fehlverhaltens zu Nachsicht gegenüber und zur Versöhnung mit dem ›Übeltäter‹ führt, wird im Rahmenteil, im Epimythion, an einer Schuld des Knappen festgehalten. Ich meine, diese Diskrepanz verdankt sich der didaktischen Funktion des Textes, die das narrative Geschehen überlagert (s.u.).18 Die Diskrepanz zwischen Erzählteil und lehrhaftem Schlußteil vergrößert sich in der handschriftlichen Überlieferung, wird andererseits aber auch beseitigt, indem das Epimythion gestrichen wird. In der Wiener Handschrift (cod. 2885; J. 1392) äußert sich die Erleichterung des Hausherrn darüber, daß keine Provokation von seiten des Knappen vorlag und deshalb auch kein Ehrverlust eingetreten ist, sogar in einem Lachen: Der ritter lachende sprah (V. 201).19 Damit ist jeder Gedanke an eine wie auch immer geartete Schuld des Knappen ausgeschlossen. Dennoch folgt im Epimythion der Vorwurf, der Knappe habe sein Handeln auf wân, auf eine bloße Annahme, gestützt. Eine Prosanacherzählung in der Hs. München, cgm 19 (13. Jh.), verstärkt den Eindruck allgemeiner Erleichterung nach Aufdeckung des Mißverständnisses: »Da entstand ein großes Gelächter und große Ausgelassenheit« (do wart ir lather [sic] unde ir gemelich groz).20 Mit dem befreienden Lachen der Betroffenen über den Umschwung der Ereignisse, über die nicht vollzogene Bestrafung eines Unschuldigen, mit der Erleichterung darüber, daß die Furcht vor Ehrverletzung unbegründet war, wird auch jeglicher Schuldvorwurf vom Knappen genommen. Konsequenterweise fehlt in dieser Prosanacherzählung der moralisierende Schluß des Erzählers.21 18
19 20 21
Man kann sich darüber wundern, daß lediglich dem Boten der Vorwurf unbedachten Handelns gemacht wird. Genauso könnte dem Hausherrn vorgeworfen werden, er habe sich in Unkenntnis der tatsächlichen Handlungsmotive übereilt rächen wollen. Später ist er ja darüber erleichtert, den Boten nicht voreilig getötet zu haben. Offensichtlich kennt aber unser Dichter (und seine Rezipienten?) für eine solche Provokation kein Konfliktlösungsmodell, dessen Anwendung er vom Hausherrn einfordern könnte. Der Text von B ist in der Ausgabe von H. Fischer (wie Anm. 15) in einem zweiten Apparat abgedruckt. Ausgabe von H. Fischer, S. 126, Zeile 41f. Freilich haben es Prosafassungen von Verserzählungen an sich, daß sie die ›Stimme‹ des Erzählers unterschlagen. Vgl. Rüdiger Schnell, Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter, in: Ludger Grenzmann / Karl Stackmann (Hgg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1984, S. 214–248.
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In einer anderen Erzählung des Strickers (›Der nackte Ritter‹, Fischer Nr. 127o) kommt es ebenfalls zu einer unbeabsichtigten Fehlhandlung, die aber nicht in einen versöhnlichen Schluß mündet.22 Deshalb ist hier die Frage zu stellen, welche Umstände dies verhindern. Ein angesehener Ritter nimmt auf einer Reise Unterkunft in einer Herberge. Naß und unterkühlt ist er froh, ein Quartier gefunden zu haben. Der Wirt bemüht sich, dem Ritter jede erdenkliche Ehre zu erweisen: Seine Tochter und Gattin küssen den Gast zur Begrüßung; dem Koch wird befohlen, die besten Speisen aufzutragen. Die Töchter lächeln dem Gast in ihrer Mitte zu. In der Stube wird gut eingeheizt, so sehr, daß allen der Schweiß von der Stirne rinnt. Der Gastgeber meint es gut mit dem Ritter und fordert ihn auf, den Mantel abzulegen. Doch der Ritter wehrt ab und bittet den Wirt, ihm diese unzuht zu erlassen. Er würde lieber ein Fieber erleiden als seinen Mantel ausziehen (V. 47–52). Doch der Hausherr vermutet in diesem Verzicht auf eine Annehmlichkeit nur ein übertriebenes Festhalten am höfischen Verhaltenskodex und erwidert: Er wisse ja um die hövescheit des Ritters. Deshalb würde er lieber zwei Krankheiten erleiden, bevor er sich mit der für den Ritter doch unbequemlichen Situation abfinde. Heimlich trägt er einem Knappen auf, dem Ritter den Mantel kopfüber auszuziehen. Doch das Resultat der großen Liebenswürdigkeit war: dô wart der gast beroubet/ der êren und der sinne (V. 64 u. 66). Denn er saß nackt da, ohne Hemd und ohne Hose.23 Als die Damen den nackten Mann erblicken, erschrecken sie. Noch mehr erschrickt der Gast, zumal er sein ganzes Leben lang um hövischeit bemüht war. Auch der Wirt erschrickt vor schanden (V. 78), die er sich wohl deswegen zugezogen hat, weil er seinen Gast in eine solch peinliche Situation gebracht hat. Den Gast wiederum schmerzt seine eigene schande so sehr (V. 82), daß er glaubt, niemals wieder zu Ansehen (êre) zu kommen. Am liebsten hätte er den Hausherrn erschlagen, doch fürchtet er, sein Pferd würde ihm nicht rasch genug zur Flucht verhelfen. Er zieht also seinen Mantel an und entfernt sich zornig. »Niemals mehr wurde er dem Hausherrn so gewogen wie zuvor« (V. 89f.). Eine merkwürdige Geschichte: Aus dem Bestreben heraus, seinem Gast den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, entschließt sich ein Wirt zu einer Aktion, die diesen Gast in eine entehrende Situation versetzt und infolgedessen dem Wirt auch Schande und den Haß des Gastes einträgt. Der Wirt hat es gut gemeint, aber doch einen verhängnisvollen Fehltritt begangen.24 22 23
24
Der Stricker, Verserzählungen (wie Anm. 15), S. 126–131. In der Hs. FB 32001 des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum (fol. 69v) wird der Ritter tatsächlich völlig nackt abgebildet; vgl. die Faksimile-Ausgabe, die Norbert Richard Wolf, Graz 1972, besorgt hat. Rüdiger Brandt, das ein groß gelächter ward. Wenn Repräsentation scheitert, in: Hedda Ragotzky / Horst Wenzel (Hgg.), Höfische Repräsentation, Tübingen 1990, S. 303–331, S. 305 Anm. 8 subsumiert diese Erzählung unter der Rubrik »übertriebene, einseitige, unangemessene Repräsentation«.
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Deshalb formuliert der Erzähler am Schluß einen Ratschlag für alle Gastgeber: Sie sollten nichts gegen den Willen eines lieben Gastes unternehmen. Was an Dienstfertigkeit und an Gütern für einen Gast aufgeboten werde, sei möglicherweise völlig umsonst, wenn es gegen den Willen des Gastes geschehe: swelche dienest niht ze danke kumt,/ der schadet mêre, denne er vrumt (V. 99f.). Warum ist aber in dieser Geschichte keine Versöhnung zwischen Gastgeber und Gast möglich wie in der Geschichte vom ›Nackten Boten‹? Sind die unterschiedlichen Erzählausgänge ein Akt narrativer Willkür, wie Haug behauptet? Die narrativen Voraussetzungen der beiden Erzählschlüsse sind offensichtlich verschieden. Betrachten wir zunächst die beiden männlichen nackten Figuren: Der Bote (in Strickers ›Nackter Bote‹) hat sich selbst entblößt; sein Vergehen liegt darin, beim Eintreten in die Badestube den dort weilenden Frauen, Mädchen und anderen Personen das nackte Hinterteil entgegenzustrecken. Eine gravierende Ehrverletzung, die gerächt werden muß. Da sich aber später herausstellt, daß die aktive provokative Rolle des Boten ungewollt und notgedrungen erfolgte, ist eine Versöhnung zwischen ›Täter‹ und ›Opfer‹ möglich. Beide Parteien können sich als Opfer einer besonderen Situation verstehen. Ganz anders beim ›Nackten Ritter‹: Der Protagonist spielt dort eine rein passive Rolle, er versucht die drohende peinliche Situation zu verhindern; ihm wird Schande angetan. Er verlangt nach Rache (auf die er dann aber angesichts der ungleichen Machtverhältnisse verzichtet). Insofern ähnelt er eher dem Hausherrn in der Badestube der anderen Geschichte, dem ebenfalls übel mitgespielt wurde. Doch sein Gegenpart, der übertrieben dienstfertige Wirt, der ihm den Mantel ausziehen läßt, spielt eine andere Rolle als der nackte Bote und als der dortige Hausherr. Denn er kann sich nicht über die unvermutete Entblößung des Ritters empört zeigen, sich auch nicht durch sie entehrt fühlen, da er diese Entblößung ursächlich verschuldet hat. Der Wirt im ›Nackten Ritter‹ handelt aus voller Überzeugung und aus freien Stücken, allein von dem Wunsch getrieben, dem Gast einen Gefallen zu tun und selbst als perfekter Gastgeber zu erscheinen. Deshalb bleibt es ihm nach der für ihn und den Gast peinlichen Situation versagt, den ganzen Vorgang als ein Versehen, als ein Mißverständnis herunterzuspielen. Beide Figuren, sowohl der übereifrige Wirt wie der entblößte Ritter, verfügen offensichtlich nicht (mehr) über die Interaktionskompetenz, die Konsequenzen des Fehltritts – die Schande auf beiden Seiten – aufzuheben. Die Entehrung auf seiten des Ritters ist zu gravierend, als daß eine versöhnende Geste möglich wäre. Und das hartnäckige Vorgehen des Gastgebers, der keinen Einspruch des Gastes duldet, verhindert die Möglichkeit einer Entschuldigung und somit eine nachträgliche Versöhnung. Wo also keine Absichtslosigkeit, keine Nachlässigkeit vorliegt, kann ein Fehltritt nicht mit Nachsicht rechnen, nicht einmal innerhalb der Erzählhandlung.
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Einer Kontamination der skizzierten handlungsrelevanten Faktoren begegnen wir in einer dritten Geschichte, die anonym überliefert ist und bei Fischer den Titel ›Der Ritter im Hemde‹ trägt (Fischer Nr. 103).25 Beim Tanz mit seiner verehrten Dame widerfährt einem Ritter das Mißgeschick, daß sein verschwitztes Hemd hochrutscht und ihm hinten aus dem Kragen herausschaut. Als ihn sein Knappe darauf aufmerksam macht, bittet er ihn, das Hemd herunterzuziehen. Doch erwischt dieser an Stelle des Hemdes die Hose und zieht sie dem Ritter bis auf die Knie herunter. Die anwesenden Damen lachen darüber, belustigen sich an der Situation, bitten aber zugleich den kompromittierten Tänzer um Nachsicht für den Knappen. Nach der Lesart zweier der insgesamt vier Handschriften ist ihnen dies nicht gelungen.26 Der bloßgestellte Ritter aber verläßt wegen der erlittenen schande sofort das Land. Ob er jemals wiedergekehrt ist, weiß der Erzähler nicht. Wieder haben wir es mit einer nicht intendierten körperlichen Bloßstellung in der Öffentlichkeit zu tun, die dem Entblößten Schande einträgt. Diese Schande beeinträchtigt seine gesellschaftliche ›Interaktionskompetenz‹ so sehr, daß er die von ihm zuvor gern aufgesuchte Gemeinschaft meidet, nicht mehr zu ihr zurückkehren kann. In allen drei bislang vorgestellten Erzählungen flieht derjenige, der durch Entblößung seines Körpers in der Öffentlichkeit Schande erlitten hat, die Gemeinschaft, auch wenn die Voraussetzungen der Entblößung von recht unterschiedlicher Art waren. Was aber an der Geschichte ›Ritter im Hemd‹ so erstaunt, ist der Umstand, daß sich hier die Damen ob der Entblößung eines Mannes nicht entsetzt zeigen, sondern in Lachen ausbrechen: Die frawen lachten alle (Hs. w) bzw. Die fraüwen sahen ez alle/ Vnd begonden iren schympff machen [hatten ihren Spaß daran]/ Vnd wurden sere lachen (Hs. k). Warum? Im ›Nackten Boten‹ müssen die weiblichen Mitglieder der Familie ebenso wie der Hausherr an eine ehrverletzende Provokation denken, als sich ihnen völlig unerwartet ein nackter männlicher Hintern entgegenstreckt. Sie selbst fühlen sich als Objekt eines ›Anschlags‹. Im ›Ritter im Hemd‹ hingegen können die Damen mitverfolgen, wie es zu der unfreiwilligen Entblößung kommt: zunächst das Hemd, das verrutscht; dann den (mißglückten) Versuch des Knappen, das verschwitzte und schwarze Hemd seines Herren unter der Oberkleidung zu verdecken; schließlich den bis zum Knie entblößten Ritter. Die Schockwirkung eines Fehltritts bleibt hier also aus, weil die Entstehungsgeschichte und die Unabsichtlichkeit des Fehl25 26
In der Hs. w (Wien 2885) ist die Geschichte überschrieben mit Der ritter mit der niderwat (›Unterwäsche‹), in Hs. d2 (Dresden M 68) mit Von des ritters nider wat. Hs. i (FB 32001) fol. 13vb: vil chawm; ebenso Codex Vindobonensis 2885, hg. von Ursula Schmid, Bern/München 1985, S. 92, Vers 40. Gedruckt ist die Erzählung nach der Hs. Karlsruhe 408 von Adelbert von Keller (Hg.), Erzählungen aus altdeutschen Handschriften, Stuttgart 1855, S. 674f. (auch abgedruckt in Ursula Schmid [Hg.], Codex Karlsruhe 408, Bern 1974, S. 160f.). Unklar ist die Formulierung im Codex Dresden M 68, hg. von Paula Hefti, Bern/München 1980, S. 67f., Vers 37f.
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tritts offen zutage liegt. Die Frauen amüsieren sich über den Fehltritt, weil sie sich als Zuschauer, nicht als Betroffene fühlen. Hinzu kommt der komische Kontrast zwischen der Absicht des Knappen, eine für seinen Herrn peinliche Situation zu beheben, und der durch dessen ungeschicktes Hantieren verschlimmerten Situation: Er wölt ym sein laster han gewant, Da macht ers ym selber baz zü schanden (Hs. k).27 Dieser Kontrast reizt zum Lachen, allerdings nur die unbeteiligten Zuschauer. Der Ritter selbst, wörtlich und im übertragenen Sinne bloßgestellt, vermag diese Distanz zu sich selbst nicht herzustellen, ihm hängt die Schande an, von der ihn niemand lossprechen kann. (Die Damen können zwar den Ritter bitten, über das Mißgeschick des Knappen hinwegzusehen und diesem zu verzeihen. Sie vermögen aber nicht den Ritter zu bitten, die eigene Schande nicht so wichtig zu nehmen, d.h. darüber hinwegzusehen.) Er selbst ist und bleibt der Lächerlichkeit preisgegeben. Deshalb muß er die Gemeinschaft sofort meiden. Eine Wiederherstellung der Ehre scheint ausgeschlossen zu sein. Hier erkennen wir die dialektische Distribuierung von Lächerlichkeit und Provokation: Wenn ein Fehltritt nicht als Provokation der Umstehenden gedeutet wird, ist das Subjekt des Fehltritts der Lächerlichkeit preisgegeben (›Der Ritter im Hemd‹); wird ein Fehlverhalten als Provokation verstanden, fokussiert die Erzählung auf dem Ehrverlust der ›Umstehenden‹ bzw. Betroffenen, nicht auf der Lächerlichkeit des Subjektes des Fehltritts (›Der nackte Bote‹). Allenfalls dem Knappen gegenüber kann der bloßgestellte Ritter – nach Lesart einer Handschrift – auf Bitten der Dame Nachsicht üben und ihn seiner Huld versichern. Diese versöhnliche Haltung verdankt der Knappe der Tatsache, daß sein Handeln als unabsichtliches Fehlverhalten eingestuft wird. Trotz der Absichtslosigkeit seines ehrverletzenden Handelns wird aber dem Knappen eine schulde (in allen Hss.) unterstellt. In der Hs. k wird erläuternd hinzugefügt, später habe der Knappe stets richtig gehandelt.28 Wieder stellen wir fest, daß absichtsloses Fehlverhalten, auch wenn es verziehen wird, nicht schuldloses Handeln bedeutet. Sogar dem Ritter, der in der Erzählung nur als Opfer des Fehltritts erscheint, wird indirekt durch den abschließenden Ratschlag des Verfassers ein Vorwurf gemacht: Jeder, der zum Tanze gehe, möge doch vorher darum besorgt sein, daß seine Kleidung in Ordnung sei. Einer von Zufällen – aber auch von Ungeschicklichkeit – geprägten Handlungssequenz folgt eine recht hausbackene Lehre.29 Über den bisherigen Erklärungsversuch hinaus können die unterschiedlichen Reaktionen auf einen Fehltritt noch anders begründet werden. Bislang 27 28 29
Edition A. von Keller (wie Anm. 26), S. 675,18f. Edition A. von Keller, S. 675,20–23. Daß diese Lehre mit der Gattungskonvention von Epimythien spielt, sei gerne zugestanden; vgl. auch unten S. 295.
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habe ich die Handlungsebene nach Indizien abgesucht, die erklären sollen, weshalb sich angesichts eines Fehltritts einmal Entsetzen, ein ander Mal Lachen breitmacht, und weshalb ein und derselbe Tatbestand einmal mit Nachsicht, das ander Mal mit Rachegefühlen aufgenommen wird. Wenn aber meine auf der Handlungsebene abgelesenen Argumente nicht überzeugen oder aber der Handlungsverlauf einer Erzählung keine Erklärung für unsere Fragen bietet, dann muß auf einer anderen Ebene nach Erklärungen gesucht werden: auf der Funktionsebene. Des Strickers ›Der nackte Ritter‹ scheint sehr viel stärker als ›Der Ritter im Hemde‹ auf Didaxe hin angelegt zu sein: Die aus der Entblößung des Ritters resultierende Schande zieht sich leitmotivartig durch die Erzählung (V. 48f., 64–66, 74–78, 80–82, 88–90). Die wohlgemeinte, aber gegen den Willen des Gastes gerichtete Absicht des Wirtes endet in einer Katastrophe. Diese Einsicht ließ sich nur mit einem ›harten‹ Schluß vermitteln. Ganz anders hingegen die Erzählung vom entblößten Tänzer. Sie scheint eher auf Unterhaltung angelegt zu sein. Deshalb zielt sie auf den komischen Kontrast von intendiertem ›Etikette einhalten‹ und praktiziertem ›gegen Etikette verstoßen‹. Um den Rezipienten diesen komischen Kontrast auch glaubhaft zu machen, läßt der Erzähler die Damen auf der Erzählebene in Lachen ausbrechen. Für den Ritter-Tänzer hingegen endet die Szene dennoch unversöhnlich. Die Funktionsebene könnte auch bei der Frage eine Rolle spielen, weshalb in dem einen Text ein Fehltritt mit Nachsicht bedacht, in einem anderen mit Rache verfolgt wird. Aus meiner Textlektüre ergibt sich der Eindruck, daß in den Texten, in denen ein Fehltritt bestraft wird, vor einem Normverstoß gewarnt und auf eine Norm hin erzogen werden soll. In Texten hingegen, die im Anschluß an einen Fehltritt eine Versöhnung der Parteien schildern, soll eine rechte Reaktion auf einen Normverstoß eingeübt, d.h. Disziplinierung und Beherrschung spontaner Gefühle anerzogen werden. Im ersteren Fall liegt der Fokus also auf dem Fehltritt, im letzteren Fall auf der Reaktion gegenüber einem Fehltritt. Dieser je unterschiedlichen Funktion eines Textes ist es unter Umständen zu verdanken, wenn ein und derselbe Fehltritt mit unterschiedlichen narrativen Schlüssen versehen wird. Eine Interpretation der Handlungsebene hätte sich dann auf die Analyse der Funktionsebene eines Textes hin zu öffnen. Sollte aber auch diese der Funktionsebene entnommene Erklärung für unterschiedliche Reaktionen auf Fehltritte nicht überzeugen oder sollte ein Funktionsunterschied zwischen zwei Erzählungen nicht zu erkennen sein, dann wäre eine Erklärung auf einer dritten Ebene zu suchen: auf der mentalitätsgeschichtlichen Ebene. Im Mittelalter sind z.B. gegenüber Nacktheit, je nach Kontext, sehr unterschiedliche Bewertungen möglich: Nacktheit konnte assoziiert werden mit Armut (Bettler), mit Selbsterniedrigung (Eremiten, Asketen, Heilige), mit Schönheit und erotischem Begehren (Walthers von der
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Vogelweide Lied ›Under der linden‹), mit Schändung und Entehrung (vor allem bei Vergewaltigungen), mit Unzivilisiertheit und Animalität (Hartmanns Iwein), mit Gefährdung der öffentlichen Ordnung (Nürnberger Polizeiordnungen), schließlich mit Lasterhaftigkeit und Normwidrigkeit (Isidor, Etym. VIII 7,7). Diese Vielfalt möglicher Reaktionen auf entblößte menschliche Körper kann auch auf literarische Texte durchschlagen, ohne daß die jeweilige Reaktion einer narrativen Figur mit der Handlungs- oder Funktionsebene eines literarischen Textes stets nachprüfbar konform ginge. Wie sehr die Reaktionen auf einen Fehltritt auf dessen narrative Voraussetzungen abgestimmt sind,30 zeigt sich an Heinrich Kaufringers ›Der Zehnte von der Minne‹ (Fischer Nr. 67n).31 Ein Pfarrer ist in eine Bauersfrau verliebt, deren Sittsamkeit ihm aber wenig Hoffnung auf Erfüllung seiner Wünsche läßt. So ersinnt er eine List. Bei einem dörflichen Beisammensein vor der Fastenzeit gelingt es dem Pfarrer, mit der Frau ins Gespräch zu kommen und der einfältigen Person einzureden, daß sie – wie für alle anderen Dinge – so auch von der Minne den Zehnten an ihn abzuliefern habe. Um der angedrohten Höllenpein zu entgehen, entrichtet sie dem Pfarrer am nächsten Tag die Schuld für das verflossene halbe Jahr: dreistunt [drei Male] er der minne pflag./ seins zehendes wart er gewert (V. 130f.). Doch der vom Acker heimkehrende Ehemann sieht noch den Pfarrer aus dem Haus herauskommen und fragt die Frau nach dem Grund für die Anwesenheit des Pfarrers. Die einfältige Frau gibt dem Ehemann arglos Auskunft. Dieser aber sinnt auf Bestrafung des Pfaffen (V. 189 u. 193). Er lädt diesen zu einem Mahle ein und bietet ihm nach dem Essen »Wein« aus einem Fäßlein an, das die Ehefrau zuvor auf sein Geheiß mit ihrem Urin gefüllt hatte. Der Pfarrer muß sich beim ersten Schluck übergeben und erfährt dann vom Ehemann, daß der »Wein« von der gleichen »Rebe« stamme, von der er kürzlich den Zehnten eingenommen habe. Der Pfarrer bekennt seine Schuld und bittet den Bauern um Verzeihung, die dieser ihm auch gewährt. Am Ende schließen die beiden Männer stäte fraintschaft (V. 323). 30
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Dies läßt sich auch belegen an Konrad von Würzburg, Heinrich von Kempten, hg. und übersetzt von Heinz Rölleke, Stuttgart 1968 (1996): Als der kleine Sohn des Herzogs von Schwaben, der am Hof des Kaisers erzogen wird, einmal gegen die Hofsitte verstößt, indem er unbedachtsam ein Stück Brot vom Tisch nimmt, wird er vom kaiserlichen Truchseß unerbermeclichen und ungefüege geschlagen (V. 103 u. 139). Als sein Erzieher ihn rächt und den Truchseß erschlägt, ist dem Leser aufgrund der narrativen Lenkung schon längst klar, daß die Bestrafung des kindlichen Fehltritts völlig überzogen ist. Denn der Kaiser wird gleich zu Beginn der Erzählung als übel man (V. 9) und als jähzornig vorgestellt. Auch der Truchseß wird kritisch eingeführt: Er regte sich über jede Kleinigkeit auf (V. 83f.). Heinrich Kaufringer, Werke, hg. von Paul Sappler, Tübingen 1972, S. 131–139; vgl. dazu Marga Stede, Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer, Trier 1993, S. 95–99.
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Ist der versöhnliche Erzählausgang dieser Geschichte nun willkürlich? Ich meine, die narrative Strategie führt konsequent auf diesen Schluß hin. Zunächst macht der Erzähler gleich anfangs deutlich, daß die Ehefrau des Bauern ein ganz seltenes weibliches Exemplar darstellt. Während sonst alle Frauen dazu neigten, ihre arglosen Männer zu betrügen, sei diese Frau züchtig, ainfaltig und tuget vol … trew (V. 20f.). Bosheit, List, Betrug seien für sie Fremdworte (V. 22–24). Damit erscheint die Ehefrau eindeutig als Opfer des priesterlichen Betrugs. Ihr kann keine Verantwortung für den Fehltritt (Ehebruch) angelastet werden. In diesem Märe scheint also – im Gegensatz zu den bisher besprochenen Erzählungen – Absichtslosigkeit mit Schuldlosigkeit zusammenzugehen. Überraschend für den Leser aber kommt möglicherweise die Nachsicht gegenüber dem Ehebrecher. Denn wir besitzen ja andere Ehebruchsgeschichten, in denen ehebrecherische Pfarrer mit der Kastration bestraft werden.32 Doch rasch werden die narrativen Differenzen sichtbar: In Kaufringers ›Rache des Ehemannes‹ treibt das ehebrecherische Paar zusammen von Anfang an ein übles Spiel mit dem Ehemann (ihm werden zwei gesunde Backenzähne herausgebrochen, weil der Pfarrer diese zwei Zähne als Liebesbeweise von der Ehefrau gefordert hatte). Die harte Bestrafung von seiten des Ehemannes ist also – wieder einmal gegen Haugs These (s.o.) – vorhersehbar. Im Falle von Rosenplüts ›Wolfsgrube‹ dauert das ehebrecherische Verhältnis zwischen Pfarrer und Ehefrau schon eine ganze Zeit lang, scheint also die Ehe und die Ehre des Mannes stärker belastet zu haben.33 Ganz andere Voraussetzungen in unserer Geschichte: Der Pfarrer hat einen einmaligen Ehebruch begangen; die Gefahr einer Wiederholung besteht nicht, nachdem die einfältige Ehefrau über ihren Fehltritt aufgeklärt worden ist. Also ist eine differenzierte Antwort möglich und gefordert. Aber über die bloß narrativen Konstellationen hinaus ist die Funktion von Kaufringers Darstellungskunst zu beachten. Der Reiz von ›Dem Zehnten der Minne‹ liegt nicht auf der Handlungsebene allein, sondern ebenso auf der Sprachebene. Wie die List des Pfarrers (der Zehnte der Minne sei abzuliefern) und die Bestrafung durch den Ehemann (Wasser von der Rebe, aus der der 32 33
Kaufringer, Die Rache des Ehemannes (Fischer Nr. 67k); Rosenplüt, Die Wolfsgrube (Fischer Nr. 105l). Immerhin gelingt es den Bitten von Freunden und Verwandten der Ehefrau, das Ehepaar miteinander zu versöhnen. Dem Pfaffen könne die Frau zwar das Leben retten, aber nicht die Kastration verhindern. Daß der Ehebrecher (der Pfarrer) sehr viel härter als die Ehebrecherin (die Ehefrau) bestraft wird, hängt wohl mit dem ›Außenseiterstatus‹ des Pfarrers zusammen: Da die Ehe nicht geschieden werden kann, ist das Ehepaar dazu verdammt, einen modus vivendi zu finden. Hilfestellung leisten dabei die Verwandten und Nachbarn. Den Pfarrer hingegen als jemanden, der in die Ehe anderer eingedrungen ist, kann die volle Härte einer Vergeltung treffen, ohne daß dadurch eine Ehe Schaden nimmt. Ganz andere Überlegungen zur ›Wolfsgrube‹ stellt an Hans-Jürgen Bachorski, Das aggressive Geschlecht. Verlachte Männlichkeit in Mären aus dem 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 2 (1998) S. 263–281, bes. S. 266–269.
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Zehnte der Minne abgeliefert wurde) rhetorisch-metaphorisch verknüpft wird, scheint ein wesentliches Anliegen des Verfassers zu sein. Fast gewinnt man den Eindruck, die nachsichtige Haltung des Ehemannes sei der Absicht des Erzählers untergeordnet, die reizvolle Metaphorik von Minne, Zehntem, Rebe, Wein, Wasser, Acker auf brillante Weise bis zum Ende ausführen zu können. Konsequenterweise nimmt bei der ›Bestrafung‹ des Pfarrers nicht das Tun, sondern die metaphernreiche Rede des Bauern den größten Umfang ein (V. 269–290). Des Bauern Gegenaktion besteht weniger in einem Tun als in einer kunstvollen Beschreibung seines Tuns. Die Gründe für den versöhnlichen Schluß liegen folglich nicht nur in den äußerlichen Handlungsmomenten, sondern auch in dem Wortmaterial, aus dem sich die Erzählung speist. Überspitzt formuliert heißt das in unserem Fall: Die Metaphorik, d.h. der Sprachwitz, diktiert die narrative Logik. Damit besäßen wir ein Beispiel dafür, daß die Erklärungen für eine nachsichtige Reaktion auf Fehltritte nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch auf der Sprachebene zu suchen sind. Der Stimmigkeit der sprachlichen Bildebene wird ein hoher Funktionswert zugeschrieben, der möglicherweise den Stellenwert einer Stimmigkeit auf der Handlungsebene übersteigt. In Kaufringers ›Der Zehnte der Minne‹ bestimmt die Absicht des Erzählers, ein kunstvolles Metapherngewebe zu entwerfen, die Aktionen der Protagonisten. Wichtig erscheint mir dabei die Tatsache, daß das überlegt-disziplinierte Handeln des Ehemanns (Arrangieren eines gemeinsamen Mahls) und die metaphernreiche Begründung für das Handeln eines gemeinsam haben: Auf beiden Ebenen wird eine provozierende Ehrverletzung auf eine zivilisiert-geistreiche Art beantwortet. Die auf Affektkontrolle angelegte Geschichte gipfelt in der Freundschaft zwischen Ehemann und Ehebrecher. Somit wird das Provozierende des Ehebruchs bereits während des narrativen Geschehens von den Protagonisten – nicht erst im Epimythion vom Dichter – aufgefangen und integriert.34
34
In der Diskussion dieses Beitrags wurde von Werner Röcke eingewendet, meine Deutung des literarischen Befunds würde dem provokanten Potential der ›Mären‹ zu wenig Rechnung tragen. Denn ich stützte mich zu sehr auf die (lehrhaften) Epimythien, die aber keineswegs eine adäquate Antwort auf das Erzählgeschehen darstellten, sondern im Gegenteil recht aufgesetzt wirkten. Das Provokante der Mären würde also gegen und über die Epimythien hinaus seine Macht entfalten. Gegenüber diesem pauschalen Einwand ist differenziert zu antworten: In 18 der von mir selektierten 21 Mären wird das Provokante, das Ausgegrenzte und Bedrohliche schon innerhalb des Handlungsverlaufs – nicht erst im Epimythion – von den Protagonisten ›hereingeholt‹ und integriert. Die Epimythien knüpfen also nahtlos an die Handlungsschlüsse an. Keineswegs erscheinen sie als aufgesetzte Schlußworte. Daß für andere Mären durchaus anderes zutrifft – eine Diskrepanz zwischen Handlung und Epimythion, die sogar bis zur Parodie sich steigern kann –, sollte uns nicht dazu verleiten, alle Mären über einen Kamm zu scheren.
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3.2
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›Opfer‹ sind für den Fehltritt mitverantwortlich
In einigen Kurzerzählungen wird von einer Bestrafung des Fehltritts abgesehen, weil die davon betroffenen Personen eine Mitschuld erkennen. An den Anfang sei die Besprechung einer Erzählung gestellt, die meine Überlegungen zu den zivilisationsgeschichtlichen Implikationen zahlreicher Mären weiterzuverfolgen gestattet, die andererseits die anderen Beispiele dieser Textgruppe 2 durch eine Vielfalt an Handlungsmotivationen überragt: ›Bürgermeister und Königsohn‹ von Heinrich Kaufringer (ca. 1400).35 Der Sohn des französischen Königs studiert inkognito in Erfurt. Durch seinen aufwendigen Lebenswandel gerät der reiche Student bei den Stadtvätern in den Verdacht, sich unrechtmäßig bereichert zu haben. Als der Bürgermeister in einem privaten Gespräch den Studenten recht dezent auf seine Einkünfte hin anspricht, antwortet dieser, er erhalte aus jedem Haus der Stadt von der Hausherrin ein halbes Pfund Pfennige, von der Hausmagd die Hälfte. Die ob dieser Nachricht bestürzten Stadtväter unterlassen weitere Nachforschungen und breiten den Mantel des Schweigens über den offensichtlichen Fehltritt ihrer Ehefrauen (V. 176–178). Doch als der Bürgermeister eines Tages mit seiner Frau vom Fenster seines Hauses aus den Studenten vorbeigehen sieht, verplappert er sich und berichtet seiner Frau von den Einkünften des Studenten. Diese ist insgeheim verletzt, daß der Student ihr Haus übergangen hat und entbrennt in Liebe zu diesem. Zu spät bemerkt der Mann, daß er selbst schuld ist an dem drohenden Fehltritt seiner Frau (V. 226–230). Doch als er das Schäferstündchen bemerkt, reagiert er weise: kains übels er sich vermas; / er det als ain weiser man, / der sein schand vertrucken kan (V. 268–270). Statt Lärm zu schlagen und seine und seiner Frau Schande aufzudecken, reagiert er selbstbeherrscht und umsichtig. Zwar stürzt er die beiden Liebenden in große Angst, als er sie im Badezimmer überrascht, deren Kleider an sich nimmt, wieder hinausgeht und die Tür hinter sich abschließt. Doch der Hausherr kommt mit Speisen und Getränken zurück und bewirtet Ehebrecher und Ehefrau (denen allerdings aus Angst der Appetit vergangen ist). Weiterhin versichert er dem Studenten, er könne sich sicher fühlen; er brauche keine Rache zu fürchten. Doch müsse er versprechen, sein Haus zukünftig zu meiden. Den wöchentlichen Minnelohn werde er dennoch pünktlich erhalten. Nun lüftet der Königsohn sein Geheimnis, versichert auch, daß seine Äußerung, er lebe vom Liebeslohn der Frauen, in einem Anflug von Übermut gemacht worden sei. Nun ist der Ehemann erleichtert darüber, daß er sich nicht überstützt an dem Eindringling gerächt hatte: er was fro, das er nicht het/ vergachet an dem fürsten sich. / er stuond auf beschaidenlich / und naig dem fürsten hochgeporn. / allen unmuot und auch zorn/ lies er gar aus seinem muot 35
Fischer, Nr. 67b; dazu Marga Stede (wie Anm. 31), S. 41–48. Der Text ist ediert bei Sappler (wie Anm. 31), S. 41–52.
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(V. 394–399). Der französische Königsohn belohnt die großmütige Haltung des weisen Ehemanns (V. 432) mit wertvollen Handelsfreibriefen. So endet die Begegnung in ganzer fraintschaft (V. 425 und 431). Auch die Frau blieb von einer Strafe verschont, denn ihr Mann was weis./ er hett die sach still und leis/ gehandelt, das sein ingesind/ darumb nichtz wist noch kain sein kind (V. 427–430). So profitierte der Bürgermeister von seiner weißhait (V. 449). Das Epimythion greift das versöhnliche Handlungsende unmittelbar auf und bekräftigt nochmals die Quintessenz des narrativen Geschehens: Es ist ain grosse gottesgab, der gütig ist und hüetet sich vor zorn; das ist weislich. gächer man sol esel reiten, darzuo sol er auch beiten [›warten‹], bis im der zorn vergat; so tuot er nimer missitat und behalt damit das sein. sunst möcht er komen in pein (V. 452–460).
Fragt man abschließend nach den Gründen für die nachsichtige Haltung des Ehemanns gegenüber Ehebrecher und ehebrecherischer Ehefrau, so geben sich mehrere Motive zu erkennen: a. Da der Ehemann im unklaren ist über die Standeszugehörigkeit des Nebenbuhlers (er vermutet, daß es sich um einen ›Fürst‹ handelt, V. 144), muß er behutsam vorgehen, um nicht selbst einen Schaden zu erleiden (V. 461–463); b. er will für sich und seine Frau Ehrverlust vermeiden (V. 269f., 426ff.); c. zum Teil ist er für den Ehebruch selbst verantwortlich (V. 229f.). Doch daß er die Einsicht, Nachsicht sei besser als Rache, auch konkret umsetzen kann, verdankt er letztlich seiner Selbstbeherrschung, der Fähigkeit, seinen Zorn zu kontrollieren. Deshalb legt das Epimythion darauf besonderen Nachdruck: »Wohl dem, der sich von seinem Zorn nicht zu unbedachtem Handeln hinreißen läßt« (V. 452–459). Wieder haben wir es mit einem Aufruf zu diszipliniertem, zivilisiertem Handeln zu tun, wiederum mit einem nahtlosen Übergang von Erzählschluß und Epimythion. Doch die Lehre, die gegeben wird, ist keine moralische, auch keine unmoralische, sondern eine amoralische, sich rein an Nützlichkeitserwägungen orientierende Lehre.36 Beim Märe, das nun vorgestellt werden soll, steht die Mitverantwortung des ›Opfers‹ für einen Fehltritt im Vordergrund. Im ›Almosen‹ (Fischer Nr. 3) wird ein allzu sparsamer Ehemann vorgestellt, der alle Vorräte im Hause vor seiner Frau verschließt, ihr die Schlüsselgewalt vorenthält und selbst über jedes Ei im Hause Bescheid weiß.37 Eines Tages klopft – während der Mann 36
Eine »universell begründete Ethik« meint in diesem Märe erkennen zu können Hedda Ragotzky, Das Märe in der Stadt, in: Germanistik, hg. von J. Stötzel, Bd. 2, Berlin 1985, S. 110–122, bes. S. 118ff.
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zur Arbeit auf dem Felde weilt – ein Bettler an die Türe. Da die Frau dem armen Schlucker nichts Eßbares als Almosen anbieten kann, schenkt sie ihm ihre Liebe. Als der Bettler nach dem Schäferstündchen hochbeglückt von dannen zieht, kommt der Mann nach Hause und fragt seine Frau, weshalb der Bettler so fröhlich seines Weges gegangen sei. Alles Leugnen nützt nichts. Als der Mann sie zu prügeln beginnt, um die Wahrheit zu erfahren, erklärt sie den Vorgang: Sie wisse, daß diejenigen, die in den Himmel kommen wollten, Almosen geben müßten. Sie habe nun, da sie für das Seelenheil ihres Mannes und für ihr eigenes etwas Gutes habe tun wollen, in Ermangelung eines materiellen Almosens ihre minne geschenkt: der lon sol unser beider sin (V. 94). Der Ehemann beklagt zwar daz laster (V. 100), d.h. die Schande, die der Ehebruch der Frau für ihn bedeute, und den Verlust an Ehre, den die Frau erlitten hat (V. 101–104). Doch gesteht er ein, daß ihn selbst eine beträchtliche Mitschuld trifft, da er seiner Frau jede Möglichkeit genommen habe, Almosen zu spenden (V. 105–110). Sein Resümee lautet: davon ist diu schulde min/ alse vaste als diu din./ wir haben beide missetan (V. 111–113). Da also beide Eheleute für den Fehltritt verantwortlich sind, kann nicht die Frau allein dafür bestraft werden. Das versöhnliche Ende verdankt sich keiner narrativen Willkür, sondern ist von Beginn der Erzählung an strukturell angelegt: Der als Negativfigur eingeführte Ehemann erleidet seine verdiente Bestrafung. Denn die Geschichte soll den (männlichen) Rezipienten die Einsicht vermitteln, daß sich übertriebene Sparsamkeit und Geiz des Hausherrn eines Tages gegen sie selbst wendet.38 Auf eine für die schwankhaften Kurzerzählungen typische Weise schlägt das Pendel, das der eine Protagonist gegen den bzw. die Mitspieler gelenkt hat, gegen diesen selbst zurück. In der Terminologie der Literaturwissenschaft: Der Provokation (durch den Ehemann) folgt die – hier allerdings unbeabsichtigte – Replik (der Frau). In dieser vom Gesetz der Komik diktierten Erzählstruktur ist eine zweimalige Bestrafung der schon anfangs gedemütigten Person (Ehefrau) nicht vorgesehen. Alle spätmittelalterlichen Rezipienten wußten deshalb schon lange vor dem Ende der Geschichte, daß dem Fehltritt der Frau keine Bestrafung von seiten des Mannes folgen werde.39 Bemerkenswert ist an dem ›Almosen‹ allerdings erstens, daß der Ehemann eine Ehrverletzung für beide Eheleute feststellt, der Fehltritt des einen (der Frau) also auch die Ehre des Partners beeinträchtigt; zweitens, daß dieser Ehr37
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Das Almosen, hg. von Heinrich Niewöhner, Neues Gesamtabenteuer, 2. Aufl. von Werner Simon, Dublin/Zürich 1967, S. 53–57. Zur Geschichte einer allzu sparsamen, geizigen Ehefrau vgl. unten S. 299 (Kaufringer, Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar). Zu der Vielfalt an Deutungsangeboten, die diese Erzählung – nicht zuletzt infolge der unterschiedlichen Epimythien in den verschiedenen Handschriften – enthält, werde ich mich an anderer Stelle äußern. Dieses Strukturgesetz müßte auch dem Strukturalisten Haug bekannt gewesen sein, der aber von einer Willkür der Erzählschlüsse spricht (s.o. Anm. 9)!
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verlust konstatiert wird, ohne daß der Ehebruch nach außen publik geworden wäre: Wie aber kann die Ehre durch einen Fehltritt beeinträchtigt sein, von dem weder die Nachbarn noch die Verwandten Kenntnis haben? Drittens ist bemerkenswert, daß die Überlegungen des Ehemanns zu den Folgen des Ehebruchs im Ehrediskurs verbleiben, obwohl die Ehefrau den Zweck des Fehltritts im religiösen Diskurs verortet hat (er sollte dem Seelenheil dienen). Der Ehebruch wird von beiden Eheleuten nicht als Sünde, sondern als Schande (laster, Ehreverlust) beklagt. In der ›Frau Metze‹ des armen Konrad (Fischer Nr. 72) läßt sich am Ende einer Kupplergeschichte die Ehefrau eines Mannes, der zum Ehebruch bereit war, zu einer Versöhnung bewegen, weil sie selbst Ehebruch mit dem Domprobst hatte begehen wollen, die Kupplerin ihr aber in Ermangelung des plötzlich zu Dienstgeschäften weggerufenen Geistlichen den Ehemann zugeführt hatte – natürlich in Unwissenheit über die tatsächliche Beziehung.40 Zwar bezichtigt die Ehefrau voll Zorn den Ehemanns eines Fehltritts (und zech in do der missetat, V. 421), schlägt ihn ins Gesicht, läßt dann aber vom Zorn ab: Diu vrouwe ir zorns des e vergaz,/wan sie selbe schuldic was (V. 411f.). Im ›Sperber‹ (Fischer Nr. 125) eines anonymen Dichters wird die Geschichte einer jungen Nonne erzählt, die in purer Naivität ihre Minne für den Sperber eines Ritters eintauscht, von ihrer Lehrmeisterin wegen des sexuellen Fehltritts dafür heftig getadelt, beschimpft und geschlagen wird: sie habe ihre Ehre verloren, werde niemals mehr den Namen einer Jungfrau gewinnen. Das naive Mädchen hofft die Huld ihrer Lehrmeisterin und den Namen einer Jungfrau dadurch wieder zu erlangen, indem sie ihre Minne wieder zurücktauscht. Nach dem erneuten sexuellen Fehltritt verkündet sie ihrer Lehrmeisterin beglückt, sie habe ihren magetuom wiedergewonnen. Angesichts solcher Einfältigkeit erkennt die Lehrmeisterin, daß sie mit ihrer heftigen Kritik am ersten Fehltritt den zweiten erst provoziert hat. Deshalb verzichtet sie jetzt auf Zorn und Strafe. Folgerichtig formuliert der Erzähler am Schluß eine typische Schwankmoral, d.h. eine pragmatische Lehre, eine Lebensklugheit: Wenn jemand erkenne, daß er einen Schaden nicht abwenden könne, solle er sich damit abfinden.41 Andernfalls – so läßt sich ergänzen – wird der Schaden nur noch größer. Über einen Fehltritt sich aufzuregen, dessen Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden können, sei unweise.42 40 41 42
Frau Metze die Käuflerin von dem armen Konrad, hg. von Heinrich Niewöhner, Neues Gesamtabenteuer (wie Anm. 37), S.70–83. In den von mir skizzierten Handlungselementen stimmen die Lesarten der von mir herangezogenen sechs Handschriften (H, w, i, k, l, d) überein. Offen bleibt allerdings, ob dieser Ratschlag nur für die Fehltritte Gültigkeit besitzt, die im Geheimen bleiben, die also noch keine Auswirkung auf das Ansehen in der sozialen Gemeinschaft gehabt haben.
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Auch bei diesem Märe ist anzumerken, daß die Provokation des (zweiten) sexuellen Fehltritts von einer Protagonistin im narrativen Geschehen bewältigt wird, indem es mit einem Achselzucken quittiert wird: Nachdem nun einmal ein Mißgeschick eingetreten ist, lohnt sich nicht, darüber zu klagen. Das Epimythion steht nicht im Widerspruch zum Handlungsgeschehen, sondern schließt unmittelbar daran an. Deshalb ist die Einbeziehung des Epimythions in eine Gesamtdeutung des Märe methodisch durchaus legitim. Die Bewältigung des provozierenden Fehlverhaltens innerhalb des Schwankgeschehens scheint mir ein wichtiges Anliegen der in meinem Textkorpus versammelten Mären zu sein.43 In der ›Wette‹ (Fischer Nr. 140) kann ein Bauer, der mit seinem Knecht eine Wette darüber abgeschlossen hatte, daß seine Frau keine sexuelle Verfehlung begehen werde, und diesen sogar zu einem Verführungsversuch animiert hatte, am Schluß seiner Frau, die sich doch auf einen Fehltritt eingelassen hat, keinen Vorwurf machen. Er fühlt sich wohl mitschuldig an dem Verlauf der sog. Treueprobe. Das Epimythion belehrt, kein weiser man solle seine Frau allzu sehr auf die Probe stellen.44 Nicht der Gattung der Kurzerzählungen zugehörig, doch mit schwankhaften Erzählelementen durchsetzt ist die Erzählung bzw. der Roman ›Eraclius‹ des Meister Otte (ca. 1200).45 Er umfaßt immerhin ca. 5000 Verse. Der erste Teil des Romans handelt von der Brautwahl und Heirat des römischen Kaisers Focas, die entscheidend durch die seherischen Fähigkeiten eines Weisen namens Eraclius beeinflußt werden. Eines Tages muß der Kaiser zu einem Feldzug aufbrechen, läßt aber – aus allzugroßer Liebe und aus Eifersucht – in seiner Abwesenheit seine Frau Athanais in einen Turm einsperren, gegen den Rat des Eraclius. Anläßlich eines großen Festes verlangen die Römer die Anwesenheit der Kaiserin. Auf diesem Fest trifft sie einen schönen jungen Mann namens Parides. Beide verlieben sich ineinander. Durch die listige Vermittlung einer heilkundigen Alten kommt in einem Stadthaus ein Rendezvouz der Liebenden zustande. Bei seiner Rückkehr erkennt aufgrund seines hellseherischen Blicks Eraclius, was vorgefallen ist, und unterrichtet den Kaiser über den Fehltritt (missetât) der Kaiserin: mîn frouwe hât missetân (ed. Graf, 43
44 45
In der Diskussion machte Gadi Algazi darauf aufmerksam, daß die in meinen Beispieltexten erkennbare enge Verbindung von narrativem Geschehen und Epimythion möglicherweise infolge der Zusammenstellung dieser Mären mit anderen – kein Epimythion oder gar eine parodistische Relation enthaltenden – Mären in den spätmittelalterlichen Handschriften nivelliert werde bzw. sich in der Lektüre aufzulösen beginne. Da wir über den Vortrag von Mären bzw. über das Lektüreverhalten der spätmittelalterlichen Rezipienten wenig wissen, ist Algazis Hinweis immerhin bedenkenswert. Die von mir herangezogenen 21 Mären bilden in den Handschriften nur vereinzelt Minigruppen: Fischer Nrr. 14, 103 und 140 stehen in den Handschriften i und w hintereinander, ebenfalls die Nrr. 125 und 127f. Codex FB 32001 des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum (wie Anm. 23), fol. 14va. S.o. vor Anm. 5.
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1883, V. 4162). Die Liebenden bekennen ihren Fehltritt (unser beider missetât V. 4234),46 der Kaiser will sie öffentlich verbrennen lassen. Doch Eraclius plädiert für eine Ehescheidung, in die der Papst einwilligen soll, und für die kaiserliche Einwilligung dafür, daß die Liebenden künftig ein gemeinsames Leben führen dürfen. Die Zustimmung des Kaisers zu dieser versöhnlichen, großmütigen Geste erlangt Eraclius durch zwei Argumente: 1. Der Kaiser sei infolge seiner übergroßen Eifersucht selbst schuld an dem Fehltritt seiner Frau (ir wizzet aber wol, herre mîn,/ daz der schulde ein teil iuwer sîn, V. 4359f.); 2. Das künftige Leben der Kaiserin sei ohnehin erbärmlich; denn während ihres ganzen Lebens müsse sie sich für ihren ›großen Fehltritt‹ (grôze missetât, V. 4369) schämen. Auf große Ehren müsse sie ein Leben lang verzichten (V. 4372–74). Auch der ›Eraclius‹ lehrt also: Mitschuld an einem Fehltritt verbietet eine heftige Reaktion. Was den Aspekt der Absichtslosigkeit bzw. der Verantwortlichkeit betrifft, so lassen sich im ›Eraclius‹ einige Stellen finden, an denen die Verantwortung für den Fehltritt den Liebenden entzogen scheint.47 Die Macht der Minne ist es, der sie keinen Widerstand entgegensetzen können (ed. Graf, V. 2926ff.; 2988ff.; 3537; 3863ff.). Zwar ist sich die Kaiserin bewußt, daß sie eine missetât begeht (V. 3834–49), doch der Gewalt der Liebe kann sie nicht widerstehen. Ist der Fehltritt der Kaiserin ein absichtsloser? Die Kaiserin gibt selbst eine Antwort: Sie wolle eher auf die ganze Welt verzichten als auf die Liebe zu Parides verzichten (V. 3858–60). Damit aber steht sie zu ihrer Verantwortung für den Fehltritt. Da aber auch der Kaiser eine Mitverantwortung eingesteht, wird ein versöhnliches Ende der Dreiecksgeschichte ermöglicht. Die Provokation des Ehebruchs wird innerhalb der Romanhandlung von den Protagonisten selbst ›aufgefangen‹ und durch eine vertragliche Abmachung ihres bedrohlichen Charakters beraubt.
3.3
Jedem Menschen kann ein Fehltritt unterlaufen
In den Textbeispielen dieser Gruppe scheint – wie in der Gruppe 2 – eine wichtige Voraussetzung zu sein, daß die Kenntnis von einem Fehltritt noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist und sich deshalb zwei Personen wechselseitig ein Fehlverhalten nachsehen können – hier aus der Einsicht heraus, daß jedem Menschen ein Fehltritt unterlaufen kann. Wir haben es bei diesen Fällen nicht mit einem Verstoß gegen ein Ritual oder eine Etikette zu tun, sondern mit der 46
47
In der französischen Vorlage wird das Tun der Liebenden unter Berufung auf ihre edle Liebe stärker gerechtfertigt; vgl. Brigitte Schneider-Pachaly, Der betrogene Ehemann. Konstanz und Wandlung eines literarischen Motivs in Frankreich und Italien bis zum 17. Jahrhundert, Diss. Freiburg. i.Br. 1970, S. 124–127. Zur literarischen und moralischen Funktionalisierung der personifizierten Minne vgl. Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur (Bibliotheca Germanica 27), Bern/München 1985, S. 391–451.
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Verletzung einer gesellschaftlich akzeptierten moralischen Norm. Diese allgemein gültige Norm kann offensichtlich – ohne Folgen für das gegen die Norm verstoßende Subjekt – unterlaufen werden, wenn nur ein Einzelner von dem Normverstoß Kenntnis hat und dieser Einzelne sich bei der Bewertung des Normverstoßes von der Einsicht leiten läßt: Kein Mensch ist vollkommen. Die Reaktion auf einen Fehltritt ist hier also an ein bestimmtes (realistischpragmatisches) Menschenbild geknüpft. Es wäre zu fragen, ob eine solche wechselseitige Nachsicht auch gegenüber Fehltritten, die in der Öffentlichkeit passieren, möglich ist. Ich würde dies verneinen. Denn die Vielzahl von Menschen, die Zeugen eines Fehltritts werden, kann sich kaum so rasch und einmütig zur Nachsicht durchringen,48 wie es einem einzelnen Mitwisser möglich ist. Außerdem wären, sobald ein Normverstoß publik geworden ist, die weltlichen wie kirchlichen Rechtsinstanzen zur Strafverfolgung verpflichtet. Zumindest die mittelalterliche Kirche folgte dem Grundsatz Ecclesia de occultis non judicat.49 Verborgene Vergehen waren milder zu beurteilen als ›manifeste‹ (Gratian C. 23 q.4 c. 19, titulus).50 Auch Abaelard teilte den Grundsatz, daß öffentlich bekanntgewordene Vergehen härter zu bestrafen seien als verborgene Schuld (›Ethica‹, cap. 7).51 Nicht zuletzt vor diesem rechtsgeschichtlichen Hintergrund gewinnen die folgenden Geschichten an Plausibilität, obwohl sie in ihrer schwankhaften Überspitzung schon wieder unglaubwürdig klingen. In der Kurzerzählung ›Frau und Magd‹ (Fischer Nr. 33)52 belauscht der Erzähler einen Wortstreit zwischen einer Hausherrin und deren Magd. Zunächst wirft die Frau ihrer Magd vor, sie lasse sich vor dem Haus mit jungen Männern ein, droht ihr sogar mit baldiger Entlassung. Die Magd warnt die Herrin, nicht zu sehr an ihre Ehre zu rühren, sonst würde sie bald publik machen, was sie über Fehltritte der Frau wisse, und somit deren Ehre gefährden. Doch die Herrin läßt sich nicht beeindrucken und will mit einem Holzscheit auf die Magd einschlagen. Da ›packt‹ die Magd aus: Die Frau sollte am besten bei sich selbst mit dem Prügeln anfangen. Denn sie habe genügend ›Dreck am Stecken‹. Sie habe es doch mit zwei Männern getrieben. Erst kürzlich habe sie, die Magd, einen Mann morgens in der Frühe aus dem Haus schleichen sehen. 48
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Daß in Meister Ottes ›Eraclius‹ der ganze Hof einem milden Urteil gegenüber dem ehebrecherischen Paar zustimmt, ist der Überzeugungskunst des kaiserlichen Beraters zu verdanken, in der aber das Argument, jede(r) könne in eine solche Situation geraten, nicht verwendet wird. Stephan Kuttner, Ecclesia de occultis non iudicat, in: Acta congressus iuridici internationalis, Bd. III, Roma 1936, S. 227–246. In einigen Hss. steht lenius statt levius im Titulus dieses capitulum! Vgl. auch Hugo von Trimberg, Der Renner, hg. von Gustav Ehrismann, 4 Bände, Tübingen 1909–1911 (repr. 1970), V. 2457ff. (eine geheimgehaltene Sünde sei nicht so schlimm wie eine offenbar gewordene Sünde). Ich zitiere nach der Ausgabe von Hanns Fischer (Hg.), Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, München 1966, S. 365–367. Das Märe ist nur in einer Hs. überliefert.
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Einmal habe sie sogar den Priester hinter der Küchentür versteckt vorgefunden, aber nichts gesagt, um ihre Herrin nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Nun schaut, ruft die Magd aus, wa eur ere sei (V.52). Sie habe allerdings dem Priester das Versprechen abgenommen, das Verhältnis zu ihrer Herrin abzubrechen. Die Herrin spricht nun der Magd ihren Dank für ihre Verschwiegenheit aus und bittet sie: mach mir mein laster niender prait (V.88, »mach meine Schande [bzw. meinen Fehltritt] nicht bekannt«), und stellt dankbar fest: du haust bewart die ere mein (V. 92). Am Schluß verkündet der Erzähler die Lehre: Wenn sich jeder selbst kritisch betrachte, würde niemand dem anderen die Ehre abschneiden (V. 100f.).53 Auch hier schließt das Epimythion nahtlos an das Handlungsgeschehen an. Überdies wird ein unmoralisches Verhalten mit Hilfe einer pragmatischen, amoralischen Überlegung ›neutralisiert‹: Man sollte gar nicht erst anfangen, über die sittlichen Verfehlungen der anderen zu Gericht zu sitzen. Denn keinem stehe dieses Recht zu. In dieser Geschichte geht es also nicht um die Einhaltung absoluter Normen, nicht um eine Kritik an dem Verstoß gegen moralische Normen, sondern darum, wie man pragmatisch mit solchen Normverstößen umgeht: Da alle Menschen Fehltritte begingen und Anlaß zur Kritik gäben, sollte man es mit solchen Fehltritten nicht so genau nehmen. Jeder achte auf sich selbst und schaue großzügig über das Fehlverhalten der anderen hinweg.54 Da kein Mensch absolut gut sei, solle man nachsichtig gegenüber Fehlverhalten sein. Auf der Grundlage einer solchen Position fällt die Debatte über den Fehltritt natürlich ganz anders aus als unter anderen Voraussetzungen. Wir fassen hier die Moral der Lebensklugheit. Diese typische Schwankmoral unterscheidet sich erheblich von dem Diskurs in moraldidaktischen Dichtungen oder gar von dem Sündendiskurs in Dekalogen oder theologischen Summen.55 Denn sie basiert auf einer amoralischen Perspektive. In des Strickers ›Das heiße Eisen‹ (Fischer Nr. 127f) fordert eine Frau von ihrem Mann einen gottesgerichtlichen Beweis seiner Treue: er solle das heiße Eisen tragen. Er willigt ein, läßt aber – im Wissen um die eigenen außerehelichen Verfehlungen – bei der Probe einen Holzspan, den er zuvor im Ärmel 53
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Einen ähnlichen Wortwechsel mit derselben Handlungsmaxime »Ich schaue über deine Fehler hinweg, tue du dasselbe mir gegenüber« bietet ›Das schlaue Gretlein‹ (Fischer Nr. 47). Im ›Quacksalber‹ des Hans Folz (Fischer Nr. 30o) droht die Ehefrau, die vom Ehemann unberechtigterweise eines Ehebruchs bezichtigt wird und deshalb Angst vor einer Prügelstrafe hat, diesem an, falls er sie schlage, dessen leichtgläubig-lachhaftes Verkennen seiner eigenen Übertölpelung publik zu machen (V. 287–292). Auch in der ›Umgangenen Buße‹ (Fischer Nr. 19), nur in éiner Handschrift überliefert, lautet die Lehre nach der Geschichte: Man soll nicht Fehlverhalten (Böses) mit Fehlverhalten (Bösem) vergelten und über dem Splitter im Auge des anderen nicht den Balken im eigenen übersehen. Wer es dennoch tue und dabei ungeschickt vorgehe, werde zum Gespött aller. Allenfalls in pastoraltheologischen Texten begegnet eine annähernd nachsichtige Haltung. Vgl. auch unten Anm. 96.
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versteckt hatte, unbemerkt in seine Hand gleiten und trägt das glühende Eisen unversehrt mehr als sechs Schritte. Nun fordert er von seiner Frau denselben Beweis. Doch diese bittet, bevor sie sich dazu bereit erklärt, ihren Mann zunächst darum, ihr einen Liebhaber, dann zwei weitere, schließlich nochmals drei Buhler nachzusehen. »Der Mann erläßt ihr diese Fehltritte« (wie Hanns Fischer in seiner Regeste, S. 468, formuliert und somit den Ehebruch als Fehltritt bezeichnet). Dann aber muß die Frau das heiße Eisen aufheben, verbrennt sich die Hand und muß fortan den Zorn des Mannes ertragen. Meines Erachtens ist die anfängliche nachsichtige Haltung des Mannes gegenüber den zahlreichen ehebrecherischen Beziehungen seiner Frau mit dessen Einsicht in die allgemeinmenschlichen Schwächen zu erklären: Er selbst hat sich gegen das Gebot der ehelichen Treue vergangen (und deshalb das Holzscheit zu Hilfe genommen) und kann deshalb auch der Frau einige Liebhaber zugestehen. Die Frau hingegen trifft die ganze Schwere der Strafe, weil sie von anderen gefordert hat, wozu sie selbst nicht imstande war: die Einhaltung des Gebots der ehelichen Treue. Des Strickers Geschichte ist jedoch – wiederum – kein Plädoyer gegen Fehltritte, keine Kritik am Ehebruch, keine Warnung vor sündhaftem Tun, sondern im Gegenteil geradezu eine Kritik an der Anmaßung eines Menschen (bzw. der Ehefrau), von anderen Menschen (bzw. dem Ehemann) eine moralische Vollkommenheit einzufordern, zu der man selbst nicht fähig ist. Nicht das Übertreten religiöser und moralischer Normen tadelt unser Dichter, sondern die unkluge Thematisierung solcher Übertretungen. Also nicht um moralische Maximen geht es im ›Heißen Eisen‹, sondern um eine relativierende und relationale Lebensklugkeit: Fordere nicht die Einhaltung von Normen, die zu erfüllen du selbst nicht imstande bist. Die Reaktion gegenüber Fehltritten soll also von pragmatischer Nachsichtigkeit geprägt sein. Diese meine Deutung wird bereits Ende des 14. Jahrhunderts in einer Bearbeitung von Strickers Märe explizit vertreten. Dort lautet der Schluß des Märe so:56 Sehet disen schaden vnd disen spot Ir warb sie alles ane not. on Meyster kato lerit sinen su Her spricht: »dit salt du alle zcit tun: Straffe wedir wib noch man, Du sehis dich E selber an, Ab du icht strafbere sis; Da von sprichet man dir pris. Waz an dir gebrestin sy, Da saltu ebene merken by, Daz du dar vmme yman straffes, 56
Diese Version ist abgedruckt in der Ausgabe von Fischer (Hg.), Der Stricker. Verserzählungen (wie Anm. 15), S. 49 (Gräflich Schönbornsche Bibliothek Pommersfelden, cod. 2798 [J. 1373], fol. 15v–16r).
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Du waches adir slaffes. Du salt ouch habe die zeche, Daz man icht von dir spreche: Wez sich der bok schuldig weyz, Dez vor sehet her sich vf die geyz.« Dit waz eyn wise lere, Dar vmme priset man in sere. Wan diese frouwe sundir wan Gedahte da vil weninc an, Wat si vor hatte getriben. Were die bete vnderwegen bliben, Die sie leyte an iren man Vnd hette heymelichen getan, Waz sie vor hatte getriben, Lichte wer sie vngeschant bliben Von solcher missewende. Got gebe vns eyn gut ende.
Dem Märe Strickers wird nachträglich in Form eines Epimythions eine Deutung zuteil, die den exemplarisch-didaktischen Charakter der Geschichte bekräftigt. Deshalb kann der spätmittelalterliche Redaktor den Lehrgehalt des ›Heißen Eisen‹ mit einer Sentenz des im Mittelalter weitverbreiteten Schulbuchs, den ›Disticha Catonis‹, zusammenfassen und somit Strickers Märe und die ›Disticha Catonis‹ hinsichtlich ihrer Funktion auf dieselbe Stufe stellen.57 An eine bloße Unterhaltungsfunktion des Strickerschen Märe mag ich deshalb nicht so recht glauben, auch wenn eine funktionale Verschiebung von Strickers Text zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert nicht gänzlich ausgeschlossen ist.58 Freilich, exemplarisch-didaktisches Erzählen heißt in unserem Falle nicht Propagierung von religiösen oder moralischen Normen, sondern die Vermittlung amoralischer Lebensweisheiten. Dies wird später auszuführen sein (vgl. vor Anm. 96).
57
58
Disticha Catonis I 5: Si vitam inspicias hominum, si denique mores: / Cum culpant alios, nemo sine crimine vivit (hg. von Leopold Zatocil, Cato a Facetus, Brünn 1952, S. 230). Von den zahlreichen deutschen Übersetzungen des 13./14.Jhs. kommen die Fassungen F, G, H (jeweils I 5) den Schlußversen von Strickers Bearbeitung am nächsten: Wenn du straffest einen andern man, / so sich [›siehe‹] dein eygen leben an / vnd bedencke das czu aller frist, / das kein man an [›ohne‹] laster ist (hg. Zatocil, S. 117; vgl. auch S. 144 [Fassung H] und S. 162 [Fassung G]). Das Œuvre Strickers stützt aber eher die These, daß dieser Autor Lehren verkünden wollte.
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3.4
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Aufdeckung des Fehltritts eines Anderen würde eigenen Ehrverlust bedeuten
Die Textbeispiele dieser Gruppe sind mit einigen Texten der Gruppe 3 durch ein gemeinsames narratives Moment verbunden: Die eine beteiligte Person fürchtet bei Aufdeckung des Fehltritts der anderen Person Ehrverlust auch für sich. Doch unterscheiden sie sich von den entsprechenden Texten der dritten Gruppe dadurch, daß dort deshalb auf eine Aufdeckung eines Fehltritts verzichtet wird bzw. werden sollte, weil beide Kontrahenten sich eines Fehlverhaltens schuldig gemacht haben (›Frau und Magd‹; ›Umgangene Buße‹; Hans Folz, Der Quacksalber), während hier in der vierten Textgruppe ein ›Unschuldiger‹ auf die Bekanntmachung des Fehltritts eines anderen verzichtet. In ›Drei törichte Fragen‹ (Fischer Nr. 30e) erzählt Hans Folz die Geschichte eines Straßburger Bürgers, der sich so sehr über sein erstes graues Haar wundert, daß er sich nach Rom aufmacht, um dort den weisen Vergilius über die Ursache zu befragen. Unterwegs wird er von Gastfreunden gebeten, auch ihre Fragen vorzubringen: Der erste will wissen, warum sich seine Frau trotz täglicher Prügel nicht bessere, und der zweite, wie seine Frau während seiner dreijährigen Abwesenheit ihm drei Kinder habe gebären können. Nur diese letzte Frage soll uns hier beschäftigen.59 Der Kaufmann, der dem reisenden Bürger diese Frage mit auf den Weg gibt, gesteht, er habe diese Frage bislang an niemanden gerichtet Zu meiden spotred, schant und schmach (V. 92 Fassung 1, V. 62 Fassung 2). Als er von dem zurückkehrenden Bürger die Erklärung vernimmt – seine Frau habe die Männer nicht geflohen, wie es die Hasen vor den Hunden tun –, da beklagt er seine Einfalt: Entweder hätte er die Sache auf sich beruhen lassen oder aber den Anfängen wehren sollen. Leider habe er zu lange geschwiegen; eine frühe Strafe wäre die beste gewesen (V. 196–203 Fassung 1; V. 129–133 Fassung 2). Würde er die Frau nun für ihre Fehltritte bestrafen wollen – und die Sache damit öffentlich machen –, würde er »in sein eigenes Nest scheißen«. Je mehr er in dem »Dreck« herumwühle, umso mehr würde dieser stinken (V. 204–212 Fassung 1; V. 134–138 Fassung 2). Zusammen mit der anfangs erwähnten Befürchtung des Kaufmanns, er habe öffentlichen Spott und Schande vermeiden wollen und deshalb nicht nach der Ursache für so zahlreichen unvermuteten Nachwuchs gefragt, gibt sich das Motiv für seine Nachsicht gegenüber der ehebrecherischen Frau klar zu erkennen: Er fürchtet mit der Schande der Frau den eigenen Ehrverlust. Wieder gelingt den Protagonisten in der Erzählung schon die Integration des Provokationspotentials. Nicht der Autor stülpt der Märenhandlung am Schluß ein unpassendes Epimythion über, mit dem er einen provokanten 59
Die zwei Fassungen der Erzählung sind abgedruckt bei Hanns Fischer (Hg.), Hans Folz. Die Reimpaarsprüche, München 1962, S. 42–59.
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Vorgang neutralisieren will, sondern die Protagonisten erledigen diese Aufgabe für ihn.60 In ›Berchta‹ (Fischer Nr. 14), in drei Handschriften überliefert, wird eine Szene geschildert, die sich am Abend des Neujahrstages in einer Familie zugetragen haben soll. Der Hausherr bittet sein Gesinde und sein Kind, bei den reichlich aufgetragenen Speisen kräftig zuzulangen, damit Berchta nicht über sie komme. Auf die verwunderte Frage des Kindes, wer denn diese Berchta sei, schildert der Vater ein Ungeheuer, das den trete, der heute nicht genug esse. Animiert durch die Beschreibung des Vaters fragt das Kind weiter, ob Berchta etwa wie ein Geistlicher aussehe. Der Vater findet diesen Vergleich wunderlich (Hs. d) bzw. lustig (Hs. w, i; hier lacht das Gesinde) und bejaht dies. Das Kind erzählt nun, wie Berchta (d.h. der Pfarrer) in seinem Beisein einmal über die Mutter gekommen sei und sie heftig gestoßen und getreten habe. (Die Mutter müsse also tüchtig essen, damit sie vor Berchta verschont bleibe.) Die Mutter wendet verärgert ein, das sei alles Kindergeschwätz. Doch der Mann geht der Sache nicht weiter nach, denn er hätte mit der Schande seiner Frau seine eigene Schande aufgedeckt. Er hätte genauso gehandelt, pflichtet der Erzähler bei: Do tet der wirt alz ain man, /der sein laster deken chan,/ Vnd halfes der frawn nider treten./ Daz tet ich auch, wer ich gepeten (V. 63–66, Hs. w).61 Der Erzähler ist also mit der Reaktion des Mannes einverstanden. Er hält sie für klug.62 Im Epimythion zu dieser Geschichte bestätigt sich die Erkenntnis, daß die schwankhaften Kurzerzählungen ihre Hörer bzw. Leser nicht auf die konsequente Erfüllung absolut gültiger Normen verpflichten wollen, sondern sich mit einer Art Alltagsmoral begnügen. Denn am Schluß des Textes wird die Frau nicht deswegen getadelt, weil sie einen Ehebruch (einen einmaligen Fehltritt) begangen hat, sondern weil sie ihn vor dem Kind nicht verheimlicht hat: So sag ich wol, daz ist mein rat: / Welh fraw des siten phlege, / Daz si den phaffen zu ir lege, / Daz sis den chinden vor hel. / Si sint mit rede gerne snel, / Waz si sehent, daz si daz sagent / Vnd sein lützl verdagent (V. 68–74, Hs. w; nahezu identisch mit Hs. i und d). Also Ehebruch ist erlaubt, aber bitteschön »nicht erwischen lassen«, d.h. in unserem Fall: möglichst unter Ausschluß von Kindern. Es geht also nicht um das Anprangern von Fehltritten, sondern um deren listige Vertuschung. Es wird nicht in Kategorien von Moral oder Unmoral gedacht, sondern in den amoralischen Kategorien von Nutzen oder Nachteil. Es ließe sich einwenden, diese allein von Nützlichkeitsdenken geprägte Lehre am Schluß der Geschichte provoziere ob ihrer Unverfrorenheit 60 61 62
Die wiederholte Erwähnung dieses Befunds scheint leider notwendig zu sein, da es einigen Rezipienten schwer fällt, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Codex Vindobonensis 2885, hg. von Ursula Schmid, Bern/München 1985, S. 89–91. Alle drei Hss. stimmen hier fast wörtlich überein. Wieder wird das Provokante der Märenhandlung von den Protagonisten ›entschärft‹. Wiederum bestätigen sich Handlung und Epimythion gegenseitig.
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ein Lachen auf seiten der Rezipienten und gerate somit – absichtlich – in den Sog der narrativen Komik, sei also gar nicht ernst gemeint. Dies soll nicht bestritten werden. Dennoch stellt sich meines Erachtens auch bei diesem Epimythion ein augenzwinkerndes Einverständnis zwischen Erzähler und Publikum ein: Solche Fehltritte lassen sich eben niemals ganz unterbinden. Deshalb sind zumindest einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um schädliche Folgen zu vermeiden. Wie um diese meine Interpretation zu stützen, begründet der Erzähler am Schluß seinen an die Frauen adressierten Ratschlag: Nicht alle Männer besäßen eine solche Einstellung, wie sie in der Erzählung vorgeführt sei, und würden die Sache nicht so leicht auf sich beruhen lassen. Damit wird darauf aufmerksam gemacht, daß durchaus unterschiedliche (männliche) Reaktionen auf den Fehltritt der Ehefrau einzukalkulieren sind. Offensichtlich gibt es Männer, die nicht die Lebensklugheit besitzen, mit der Schande der Frau die eigene Schande zu verbergen. Dieser Hinweis des Dichters stützt meine These, wonach die Epimythien, mit denen zur Nachsicht gegenüber Fehlhandlungen aufgerufen wird, ernst zu nehmen und nicht als eine witzige Verspottung lehrhafter Rede abzutun sind.63 Daß der in ›Berchta‹ gegebene Ratschlag über die schwankhaften Kurzerzählungen hinausreicht und lebensweltliche Geltung beanspruchen darf, zeigt sich in einem mittelalterlichen Hausbuch (›Le Ménagier de Paris‹, ca. 1400), das angeblich ein älterer Bürger von Paris für seine recht junge Frau verfaßt hat, in der Absicht, ihr das für die Leitung eines ›Hauses‹ notwendige Wissen zu vermitteln. Der Traktat enthält auch Anweisungen für Männer, wie sie sich gegenüber ihren Frauen verhalten sollen. Unter die zahlreichen Ratschläge sind immer wieder Exempla und Erzählungen gemischt, die die Lehren veranschaulichen sollen. Im achten Kapitel des ersten Buches behandelt der Autor den Ehebruch von Frauen und die rechte Reaktion von Männern auf ein solches Vergehen: Durch die nachträgliche umsichtige Reaktion des Ehemannes wird aus dem Vergehen eine ›Torheit‹, ein Fehltritt (simplesse). Et veuil bien que les mariz sachent que aussi doivent ilz celer et couvrir les simplesses ja faictes par leurs fenmes et doulcement pourveoir aux simplesses advenir.64 Zunächst folgt die Geschichte eines ehrenwerten Venezianers, der seiner Frau auf dem Sterbebett einen Fehltritt verzeiht und gar nicht wissen möchte, welches seiner Kinder von dem fremden Mann stamme. Er 63
64
Auch die utilitaristische Einstellung muß erst noch anerzogen werden, weil die stets latent vorhandene Gewaltbereitschaft zum spontanen Racheakt die praktische Umsetzung einer solchen Einstellung zu verhindern droht. Le Menagier de Paris, ed. Georgine E. Brereton / Janet M. Ferrier, Oxford 1981, S. 108 (I viii 10). In der (nicht immer korrekten) Übersetzung von Tania Bayard, Ein mittelalterliches Hausbuch [A medieval home companion. Housekeeping in the fourteenth century, New York 1991], ins Deutsche übersetzt von Gertraude Wilhelm, Olten/ Freiburg i.Br. 1992, S. 59 heißt es dafür: »Ehemänner sollten die Torheiten ihrer Ehefrauen verbergen und verheimlichen und sie liebevoll vor zukünftigen Fehlern bewahren«. Vgl. auch Le Mesnagier de Paris, éd. Georgine E. Brereton / Janet M. Ferrier, traduction et notes par Karin Ueltschi, Paris 1994.
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wolle nicht – so versichert er seiner Frau –, daß ein Tadel auf seine Frau falle, weder vor noch nach ihrem Tode. »Denn durch Deine Schuld werde ich entehrt, und darum werden auch Deine Kinder und durch sie andere – das heißt unsere Verwandten – niederträchtige und unaufhörliche Vorwürfe ertragen müssen. Um dessentwillen sage ich nichts.« Abschließend wendet sich der Autor wieder an seine junge Frau und lobt die Haltung des Venezianers: »Das mag Dir zeigen, was kluge Männer und Frauen füreinander tun müssen, um ihrer beider Ehre zu retten.«65 Wenn eine Frau Ehebruch begeht, steht die Ehre beider Eheleute auf dem Spiel. Deshalb tut der Mann gut daran, das Vergehen zu verheimlichen und es zu einem Fehltritt herabzustufen. Dies ist die Verhaltensweise kluger (sages) Männer und Frauen, nicht unbedingt von moralisch handelnden Personen. Wieder treffen wir auf eine Lebensklugkeit von Menschen, die ihr Handeln nach den Kategorien von Ehre, Schande, Vorteil, Schaden ausrichten, nicht nach ethischen oder religiösen Normen. Im ›Ménagier de Paris‹ folgt unmittelbar danach eine weitere Geschichte, in der ein Ehemann den Fehltritt seiner Frau zu verbergen weiß (I viii 12). Obwohl ihn seine Frau wegen eines anderen, jungen Mannes verlassen hatte, dann aber ihrerseits von diesem verlassen und aus Armut zur Prostituierten wurde, entschloß sich der Ehemann, sie aus ihrer verzweifelten Situation zu retten und sie nach Hause zu holen. Damit sie aber wegen ihrer schändlichen Vergangenheit nicht ins Gerede komme, verbreitete der Mann das Gerücht, seine Frau habe eine Pilgerreise unternommen und kehre nun wieder zurück. Durch ihre Brüder ließ er sie wie eine Pilgerin gekleidet in die Heimatstadt zurückführen. Er ging seiner Frau entgegen, empfing sie ehrenvoll, gebot ihr dann, mit jedermann vornehm und selbstbewußt zu sprechen, alle Nachbarn der Reihe nach zu besuchen und fröhlich zu erscheinen. »So stellte der gute Mann die Ehre seiner Ehefrau wieder her und wahrte sie.«66 Da diese Geschichte ein vorbildhaftes Verhalten demonstrieren soll, darf man vermuten, daß die nachsichtige Haltung eines Ehemannes gegenüber seiner ehebrecherischen Frau vor allem deswegen gefordert wird, weil so die Ehre der Frau gewahrt bleibt. Da in demselben Kapitel aber auch von Handlungen die Rede ist, mit denen Ehefrauen die Ehre ihrer Männer retten, und da an zwei Stellen explizit als Lehre formuliert wird, es soll gezeigt werden, »was kluge Männer und Frauen füreinander tun müssen, um ihrer beider Ehre (honneur) zu retten«,67 scheint es gerade die Institution der Ehe zu sein, in der wechselseitige Nachsicht gegenüber Fehltritten gefordert ist. Warum? Auf welches Ziel hin ist der Rat zur gegenseitigen Ehrenrettung ausgerichtet? 65 66 67
Ebd. S. 60 (Ménagier de Paris I viii 11). Tania Bayard (wie Anm. 64), S. 62 (I viii 12 Schluß): Et ainsi le bon homme retourna et garda l’onneur de sa femme. Menagier de Paris, I viii 11 Schluß: Et par ce vous appert que les sages honmes et les sages fenmes doivent faire l’un pour l’autre pour sauver son honneur; I viii 14 Schluß: Et ainsi font les bonnes fenmes vers leurs mariz. et les bons maris vers leurs fenmes quant elles faillent.
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Ein Blick auf erwähnte Kurzerzählungen hilft hier weiter. In diesem Ratschlag – Nachsicht gegenüber einem Fehltritt des Ehepartners – stellt sich eine konzeptionelle Nähe zu schwankhaften Kurzerzählungen wie Strickers ›Heißem Eisen‹, der ›Berchta‹ oder Folzens ›Drei törichten Fragen‹ ein. Dort ist zwar der schwankhaften Anlage der Erzählstruktur wegen stets nur vom Fehltritt der Frau die Rede, in dem von einem Ehemann für seine junge Frau verfaßten ›Le Menagier de Paris‹ hingegen von möglichen Fehltritten beider Eheleute, doch allen Textbeispielen ist die Vorstellung gemeinsam, daß es dem ehelichen Zusammenleben abträglich ist, wenn der Fehltritt eines Eheteils publik wird. Ich meine, von dieser Einsicht her fällt neues Licht auf die Darstellung der besprochenen schwankhaften Kurzerzählungen. Die dort in den Epimythien formulierten pragmatischen, ethische Normen relativierenden Ratschläge sind keineswegs als nur äußerlich aufgesetzter ›Lack‹ abzutun und keineswegs als komische Fortsetzung einer schwankhaften Erzählung einzustufen. Dem als ehelichen Ratgeber gedachten Hausbuch ›Ménagier de Paris‹ und einigen (nicht allen!) Schwankerzählungen liegt ein gemeinsames Ideal und ein gemeinsames Ziel zugrunde: pragmatische, an Ehre und Nützlichkeit orientierte Lebensregeln für eine gelingende Ehe zu vermitteln (bzw. zu bestätigen). Verhindert wird das Gelingen einer Ehe, wenn zwei Gatten auf absolute Einhaltung strenger moralischer und religiöser Normen pochen und bei Zuwiderhandlung bzw. bei dem Fehltritt des anderen sofort auf Bestrafung dringen. Dies würde die Ehre zunächst des einen und dann das Ansehen beider ruinieren.68 (Gemeinsame) Ehre aber scheint die unverzichtbare Voraussetzung einer glücklichen Ehe zu sein. Nicht nur die Interaktionskompetenz nach außen, sondern auch die nach innen wäre entzogen.69 Nicht bestritten werden soll, daß der ›Menagier de Paris‹ ein wechselseitiges nachsichtiges Verhalten der Eheleute direkter einfordert als es die 68
69
In Rosenplüts ›Wolfsgrube‹ beabsichtigt der Ehemann zunächst zwar eine Bestrafung der Frau, läßt sich aber dann von deren Freunden und Verwandten zu einer Versöhnung überreden; vgl. oben Anm. 33. Immerhin wird auch hier an dem Ziel eines friedlichen Miteinanders festgehalten. Die Auffassung, Eheleute müßten in allen Lebenslagen füreinander einstehen und zusammenhalten – sogar nach Bekanntwerden des Deliktes eines Eheteils –, läßt sich auch in gerichtlichen Dokumenten belegen. »So folgte der Bürger Merten Helbig, ein Meister der Tuchmacherei, in Görlitz seiner Frau, die wegen Diebstahles zwei Jahre zuvor aus der Stadt gewiesen worden war. Ein anderer Görlitzer Bürger oder Mitbürger, der Schneider Frantz Hiller, dessen Frau wegen schlechter Behandlung [durch den Ehemann] mit einem Schneidergesellen davongegangen war, nimmt die Frau wieder auf [erinnert sei an die Parallelität zu der vorgestellten Geschichte aus ›Ménagier de Paris‹, s.o. vor Anm. 66], obwohl er dadurch in schweren Konflikt mit seiner Zunft kommt, die ihn auch ob seiner Handlung ausschließt« (Erika Uitz, Die Frau in der mittelalterlichen Stadt, Freiburg i.Br. 1992, S. 151f.). Freilich bedarf es beim Versuch, solche Handlungen zu verstehen, nicht immer des Rückgriffs auf literarisch vermittelte Lebensklugkeit. Das Leben hält zahlreiche andere Handlungsmotive bereit, die über unsere Texte hinausweisen (in den beiden eben genannten Fällen z.B. eine emotionale Abhängigkeit des einen Ehepartners vom anderen).
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schwankhaften Erzählungen tun. Doch der Ratschlag, gegenüber Regelverletzungen des Ehepartners sei Nachsicht angebracht – einerseits aus Nützlichkeitserwägungen heraus (es gilt Ehrverlust zu vermeiden); andererseits aus der resignativen Einsicht in die Unvollkommenheit des Menschen – ist beiden Textbereichen zu entnehmen. Explizit formuliert diesen Ratschlag Heinrich Kaufringer am Ende seines Märe »Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar« (Fischer Nr. 67m).70 Nachdem ein mit seiner eigenen allzu geizigen Ehefrau unzufriedener reicher Bürger bei seiner Suche nach einem wirklich glücklichen Ehepaar nicht fündig geworden war, wird ihm von einem anderen Ehemann (der ein viel schwereres Ehelos zu ertragen hat) der Ratschlag gegeben, er solle sich doch mit der relativ geringfügigen Untugend seiner Frau abfinden. Denn der Mensch sei per se unvollkommen. Diese – wiederum in der Märenhandlung selbst ausgesprochenen Verhaltensanweisung greift das Epimythion des Dichters auf: Jeder tüchtige Ehemann solle über leichte Fehler seiner Frau hinwegsehen (V. 495–506).71 Zwar ist in der Rahmenhandlung dieser Erzählung nicht von einem Fehltritt die Rede, sondern allenfalls von einer einen Fehltritt möglicherweise verursachenden Eigenschaft, doch in unserem Argumentationszusammenhang wichtig ist der Umstand, daß der Märendichter Kaufringer seine Erzählung mit einer unmißverständlichen Lehre abschließt:72 darumb rat ich das fürwar: ain ieglich fromer man sol zwar seinem weib das übersehen, ob er anders nicht mag spehen an ir, dann das si kark sei. da muoß frümkait wonen bei. er sol ir das laun guot sein und sol ir darumb kain pein tuon und füegen zuo der frist, wann es der mindst geprest ist, den ain weib gehaben mag. nit mer ich ew fürbas sag. (V. 495–506).
Diese Lehre verabschiedet sich von absoluten Normen bzw. Tugenden und vermittelt die Einsicht, daß man(n) sich mit relativ guten Eigenschaften seiner 70 71
72
Jan-Dirk Müller hat mich dankenswerterweise dazu angeregt, diesem Märe besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Damit stellt sich dieses Märe zu ähnlichen Lehren des mittelalterlichen Ehediskurses, vgl. Rüdiger Schnell, Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a.M. 1998, S. 234–236 u. 268–274. Daß mit diesem Epimythion, das die Hauptproblematik des Märe aufgreift, die provokante Binnenszene mit einer sexuell unersättlichen Ehefrau nicht neutralisiert wird, sei hier ausdrücklich zugestanden.
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Frau zufriedengeben sollte. Man könnte von einer Art Relativitätsmoral sprechen.73
3.5
Ein Freundschafts- bzw. Vertrauensverhältnis legt nachsichtige Haltung nahe
In Kaufringers ›Der zurückgegebene Minnelohn‹ (Fischer Nr. 67g) thematisiert die Rahmenhandlung und die Binnenhandlung den Aspekt der Freundschaft bzw. geselleschaft. Ein alter, tüchtiger, reicher und freigebiger Ritter ermöglicht einem jungen, tüchtigen, tugendhaften, aber verarmten Ritter in der Nachbarschaft eine Ritterfahrt zu einem Turnier. Zwischen den beiden hatte sich mit der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis eingestellt. Der ältere Ritter unterstützt den jüngeren, sam er sein guot fraind wär (V. 41). Er spricht ihn eines Tages an: lieber fraind und gselle mein (V. 45). Am Schluß der Geschichte kann sich der junge Ritter aufgrund seines Turniererfolgs bei seinem älteren Gönner revanchieren: auch galt er dem frommen [tüchtigen] man, / der zuo im fraintschaft het erdacht / und in des ersten auspracht; / dem galt er wider trewlich (V.762–65). In der Binnenhandlung schließt derselbe junge, (noch) arme Ritter mit einem ebenfalls älteren, reichen Ritter Freundschaft. Allerdings ist diese Beziehung zunächst konflikthaft angelegt. Denn auf dem Weg zum Turnier gelangt der junge Ritter spät abends, auf der Suche nach einem Nachtquartier, zufällig in einen Burggarten, in dem zufällig die Burgherrin spazierengeht und über Zahnweh klagt, in Wirklichkeit aber auf ihren Liebhaber wartet. Ihr fürsorglicher alter Gatte leuchtet ihr sogar aus einer Tür heraus. In der Dunkelheit gelingt es dem jungen Ritter, die Stelle des von der Dame sehnsüchtig erwarteten Geliebten einzunehmen. Nach dem Liebesspiel aber entdeckt die Dame den unglückseligen Irrtum und fordert von dem jungen Ritter einen sichtbaren Beweis seines ritterlichen Standes. In Ermangelung anderer Zeichen gibt er ihr seine 60 Gulden Reisegeld und empfängt von ihr einen Ring. Am nächsten Morgen trifft er im nächsten Dorf einen alten, tüchtigen, reichen Ritter, der auch auf dem Weg in die Stadt war, den jungen Ritter um seine Begleitung bittet und ihn, der ja bar aller Mittel war, in der Stadt aushält. Der Erzähler streicht immer wieder den Aspekt der freundschaftlichen Beziehung heraus. So läßt er schon nach der ersten Begegnung den alten Ritter sprechen: des pin ich von herzen fro: / so will ich ewr geferte wesen, / bei ewch sterben und genesen (V. 332–34). Der Erzähler fügt hinzu: si lobten da die geselleschaft baid; / was ir ainem beschähe laid,/ das solt in baiden geschehen sein (V. 337–39). Während des Aufenthaltes in der Stadt heißt es dann: ir baider fraintschaft ward gemert (V. 352). Nach einem 73
Freilich tut sich hier ein Ermessensspielraum für den bewertenden Ehemann auf: Er hat zu entscheiden bzw. kann entscheiden, wo die Nachsicht aufhört und der Tadel beginnt. Was als eventueller Fehltritt zu gelten hat, darüber befindet der Ehemann.
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erfolgreichen Turniertag, an dem der junge Ritter den Ehrenpreis gewonnen hatte, sitzen die beiden gesellen nach Tisch zusammen und erzählen sich selbsterlebte Geschichten. Nun berichtet der junge Ritter von seinem unerwarteten Schäferstündchen mit der Burgherrin, von den 60 Gulden, die er entrichtet, und von dem Ring, den er empfangen habe. Zunächst lacht der alte Ritter über diese Erzählung, erkennt dann aber schnell, daß es sich um seine Ehefrau handelt und gewan an dem herzen sein … gros ungemach (V. 476f.). Doch läßt er sich nichts anmerken, sondern haimlich laid er darumb pein (V. 484). Am nächsten Morgen verlassen beide zusammen die Stadt, der alte Ritter bittet den jungen Ritter, eine Nacht auf seiner Burg Gast zu sein. Beim Anblick der Burg erkennt nun der junge Ritter die Zusammenhänge – der Gatte seiner nächtlichen Geliebten ist sein geselle – und befürchtet gar grosse unruo, die uns der wirt werd tragen an (V. 550f.). Doch der Wirt läßt sich – wiederum – nichts anmerken und erbietet seinem Gast und Freund alle Ehre. Erst am nächsten Morgen entdeckt auch die Burgherrin ihren Ring an der Hand des Gastes und befürchtet die Rache ihres Mannes. Den Gast wiederum bekümmert die Angst der Frau. Nun aber inszeniert der Burgherr eine unerwartete Wende: Er läßt seine verängstigte Gattin die 60 Gulden holen und teilt sie, die Liebesepisode im Burggarten mit einem Brettspiel vergleichend – eine Sexualmetaphorik, die durchaus traditionell war –, in drei Teile: einen Teil für die Gattin, die das Brett zum Spiel geliehen, den anderen für den jungen Ritter, der die Würfel beigesteuert, und den dritten für sich, weil er zum Spiel geleuchtet habe (V. 697–722). Abschließend bittet der Gast den Burgherren darum, den Fehltritt (inzücht und schuld, V. 732) auch seiner Gattin zu verzeihen. Dabei beruft er sich auf die Freundschaft, die doch zwischen ihm und sich selbst bestehe (V.733–735). Der Burgherr wagt nicht, ihm diese Bitte abzuschlagen. Darauf gelingt es dem Gast, zwischen den Eheleuten ganze fraintschaft und auch suon (V. 744) wiederherzustellen. Er selbst nimmt Abschied in guoter fraintschaft (V. 754) und kehrt nach Hause zurück, wo er ja ebenfalls einem älteren Ritter in fraintschaft verbunden ist (V. 763). Die Geschichte vom ›Zurückgegebenen Minnelohn‹ ist eigentlich eine Geschichte über die Freundschaft, zwischen Männern (Rittern) und zwischen Eheleuten.74 In unserem Fragezusammenhang interessiert allerdings allein die Tatsache, daß der Ehemann den Fehltritt seiner Frau und den Ehebruch seines Weggenossen deshalb nicht rächt, weil er dem Ehebrecher in treuer Freundschaft verbunden ist und dieser Freundschaft zuliebe auch seiner Frau verzeiht.75 Bemerkenswert ist, daß in dieser Erzählung die Freundschaft als ein 74
Eine ganz andere Deutung dieses Märe legte vor Udo Friedrich, Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21 (1996) Heft 1, S. 1–30, bes. S. 16–25. Wie Friedrich arbeitet auch André Schnyder, Abenteuer, Liebe, Geld. Zu Heinrich Kaufringers Märe Der zurückgegebene Minnelohn, in: Euphorion 91 (1997) S. 397–412 vor allem Kaufringers Spiel mit literarischen Mustern heraus.
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hoher Wert erachtet wird, der sogar die durch den Ehebruch der Frau gefährdete Ehre übersteigt. Die geschilderte Konkurrenzierung von Wertvorstellungen (Freundschaft zum Liebhaber der eigenen Frau, Wiederherstellung der eigenen Ehre) wird dadurch einer Lösung zugeführt, daß der Wert Freundschaft den Ehrenkodex überlagert, der seinerseits Rache für den Ehebruch fordert. Im Bereich einiger Schwankmären werden offensichtlich ideale Verhaltensweisen im Umgang mit Fehltritten entworfen, die der sozialen Realität widersprechen. Möglicherweise stellt der Autor ganz bewußt der Realität mit ihrem reichen Potential an Gewalt, Rache, Zornausbrüchen einen literarischen Entwurf entgegen, in dem die Beherrschung von Affekten wie Rachegefühl, Wut und Empörung gelingt. Vor uns entfaltet sich eine Idealwelt, in der Fehltritte, Ehrverletzungen, Enttäuschungen, Schmerz nicht sofort gerächt bzw. abreagiert werden, sondern in der eine selbstbeherrschte, überlegte, ›vernünftige‹, ja fast spielerische Reaktion vorgestellt wird: Der Burgherr wartet lange mit seiner ›Antwort‹ und er hebt das konfliktträchtige Geschehen auf die (metaphorische) Ebene eines Spiels. Mit der Einschaltung der ›Spielebene‹ aber ist der Fehltritt bereits seiner gefährlichen sozialen Sprengkraft beraubt. Daß dieses Thema – Bereinigung von Fehltritten durch das Auffangnetz von freundschaftlichen Beziehungen – die Vorstellungswelt auch anderer Autoren besetzt hat, kann an zwei weiteren Beispielen demonstriert werden. Doch nur von einem soll hier die Rede sein.76 Berühmt ist die achte Erzählung des achten Tages aus Boccaccios ›Decameron‹: Zwei wohlhabende junge Männer in Siena sind einander in Freund75
76
Dagegen behauptet Walter Haug, Entwurf zu einer Theorie der ma. Kurzerzählung (wie Anm. 8), S. 24: »Es gibt im ›Zurückgegebenen Minnelohn‹ und entsprechenden positiv endenden Kurzerzählungen keine innere Logik, die den versöhnlichen Schluß verlangte. Man könnte sich an seiner Stelle genauso gut einen harten Strafakt denken … Geständnis, Großmut und Gnade sind bei der Kurzerzählung somit als Ende narrativ möglich, aber ein solcher versöhnlicher Schluß ist prinzipiell austauschbar.« Daß ausgerechnet der Strukturalist Haug die vom Freundschaftsthema bestimmte Handlungsstruktur in Kaufringers ›Zurückgegebener Minnelohn‹ nicht zur Kenntnis genommen hat, verwundert. Im übrigen bereitet allein schon die ausführliche positive Charakterisierung des jungen Ritters durch den Erzähler das gute Ende vor. Von Austauschbarkeit der Erzählschlüsse kann angesichts solcher Erzählstrategien keine Rede sein. Das andere Textbeispiel stammt von Claus Spaun, Fünfzig Gulden Minnelohn (Fischer Nr. 124). Dieser Erzählung liegt eine ähnliche Handlungsstruktur zugrunde wie Kaufringers ›Zurückgegebener Minnelohn‹: Ein reicher Bürger hat Mitleid mit einem jungen Studenten, der – was der Bürger erst später erfährt – sein ganzes Reisegeld für eine Liebesnacht mit der Frau des Bürgers investiert hat. Auch hier verteilt der Bürger großmütig einen Teil des Geldes und schenkt den Rest dem armen Studenten. Neu ist allerdings das Moment, daß der Student ohnehin schon unter dem Verlust seines Geldes gelitten hat (V. 197–202, 207, 238–245) und deswegen, auch ohne Zutun des Ehemannes, der Ehebruch schon halb ›gerächt‹ ist. Auffallend ist aber wiederum die friedliche, heitere Lösung des durch den Fehltritt entstandenen Konfliktes.
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schaft verbunden, ja sie lieben sich wie zwei Brüder. Doch eines Tages beginnt der eine ein Liebesverhältnis mit der Frau des anderen. Als der betrogene Ehemann eines Tages Frau und Freund zusammen ins Schlafzimmer verschwinden sieht, behält er kühlen Kopf und ruft keine Zeugen herbei, weil dadurch »seine Schmach nicht geringer, sondern im Gegenteil nur noch größer« geworden wäre (S. 261).77 Er beschließt, sich so zu rächen, daß »seine ganze Rache ihn, ohne daß die ganze Umgebung davon erführe, voll und ganz befriedige« (ebd.). Er läßt den Nebenbuhler aus dem Haus gehen, zwingt dann aber seine Frau dazu, seinen Racheplan mitzuspielen. Doch verspricht er ihr ausdrücklich, daß er ihrem Geliebten »nichts Böses antun werde« (S. 262). Als der Liebhaber am nächsten Tag wieder zu einem Schäferstündchen ins Haus des Freundes gekommen war, kehrt dieser nach Hause zurück. Die Frau läßt, wie verabredet, den Geliebten (Spinelloccio) in eine Truhe kriechen. Sodann muß sie die Frau ihres Liebhabers holen. Mit dieser zieht sich ihr eigener Mann (Zeppa) in das Schlafzimmer zurück und schließt die Tür ab. Die Frau beschwört ihn bei der Freundschaft und Liebe, die er doch für ihren Mann empfinde, von erotischen Zudringlichkeiten abzusehen. Doch Zeppa entgegnet: »Gerade weil ich ihn liebe, will ich nun keine andere Rache an ihm nehmen, als eben dasselbe tun, womit er mich beleidigt hat. Er hat meine Frau besessen, und so will ich dich besitzen« (S. 263). Schließlich muß sie darin einwilligen, daß Zeppa sie auf der Truhe, in der ihr Mann sich verborgen hat, beschläft. Immerhin scheint auch sie an diesem sexuellen Akt Gefallen zu finden (»Hier ergötzte er sich mit ihr, solange es ihm gefiel, und sie mit ihm«). Boccaccios Inszenierung zielt darauf ab zu zeigen, daß keine der in den Ehrekonflikt verwickelten Personen zu einer Handlung gezwungen wird, sondern daß sich alle einsichtig verhalten, d.h. daß alle einsehen, daß der oder die andere angemessene Forderungen stellt. Denn nur so kann – nach der Racheaktion – wieder Frieden herrschen. Deshalb willigt die Frau Spinelloccios nur unter der Bedingung in die körperliche Vereinigung mit Zeppa ein, daß sie deshalb nicht mit dessen Frau »in Unfriede gerate, da auch ich, trotz allem, was sie mir angetan hat, beabsichtige, in Frieden mit ihr weiterzuleben« (S. 264). Die Rache für einen Fehltritt darf also ein weiteres friedliches Zusammenleben nicht ausschließen, darf die Interaktionskompetenz nicht nachhaltig beeinträchtigen. Sogar der in der Truhe versteckte Spinelloccio, der mitanhören muß, wie sich der Freund nun mit seiner Frau vergnügt, kommt schließlich zu der Einsicht, daß sich Zeppa »durchaus menschlich wie ein guter Freund betragen habe« (S. 264). Nach vollbrachtem Liebesspiel läßt Zeppa seine Frau kommen, die ebenfalls ›vernünftig‹ reagiert und lediglich sagt: »Madonna, Ihr habt mir Gleiches mit Gleichem vergolten« (S. 265) – »und dabei lachte« (S. 265). Spinelloccio steigt aus der Truhe und sieht ein: 77
Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung von Ruth Macchi (Berlin 1958, Bd. 2), der die kritische Ausgabe von Charles S. Singleton zugrundeliegt.
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»Zeppa, nun sind wir quitt« (S. 265). Wichtiger aber als die Kommentierung des Vergangenen ist die Aufgabe, weiterhin ein friedliches, harmonisches, freundschaftliches Zusammenleben zu sichern. Deshalb schlägt Spinelloccio vor: »Darum wird es das beste sein, wenn wir, wie du vorhin zu meiner Frau gesagt hast, Freunde bleiben, wie wir es immer gewesen sind. Und da bisher nichts andres uns trennte als unsere Frauen, so wollen wir fortan auch diese miteinander teilen« (ebd.). Zeppa stimmt zu – die Frauen werden nicht gefragt! – und so wurde es gemacht. »Und fortan hatte jede der beiden Frauen zwei Ehemänner und jede der Männer zwei Ehefrauen, ohne daß je deswegen unter ihnen ein Streit oder Hader entstand« (S. 265). Das ist eine verrückte Geschichte, und doch ist letztlich nur dasselbe Grundproblem wie in Kaufringers ›Zurückgegebenem Minnelohn‹ durchgespielt: Wie kann die größte Ehrverletzung, die ein Mann im Mittelalter erfährt – daß ein anderer Mann mit seiner Frau sexuell verkehrt –, auf eine Art gerächt und somit dem Ehredenken Genüge getan werden, ohne daß alle vorhandenen sozialen Bindungen zerstört und somit die wichtigste Grundlage menschlichen Zusammenlebens entzogen werden. Deshalb kündigt die Erzählerin Fiammettta gleich zu Beginn an, ihre Geschichte lehre, »daß niemand darauf bestehen sollte, eine empfangene Beleidigung über Gebühr zu rächen und den Gegner auch noch zu kränken« (S. 260). Denn eine solche Kränkung würde die Interaktion zwischen den Betroffenen beträchtlich einschränken. Kaufringer wie Boccaccio entwerfen Utopien, aber es sind Utopien, die im Spätmittelalter die Dichter beschäftigten. Daß dabei Freundschaft als ein so hohes Gut gehandelt wurde, daß es sich lohnte, dieses Gut auch über den Fehltritt der Ehefrau hinaus zu bewahren – sogar dem Nebenbuhler gegenüber –, zeigt, wie sehr den Dichtern daran gelegen war, gegen alle Kräfte und Affekte, die zu unüberlegter Rache drängten, wenigstens in der Literatur eine Welt zu errichten, in der Freundschaft nicht dem Rachegefühl und dem Recht auf Vergeltung geopfert wird.78 In dieser Welt werden Fehltritte so geahndet, daß alle Beteiligten weiterhin ihre Interaktionskompetenz behalten. Eben dies ist in der deutschen Version von Boccaccios Decameron-Erzählung VIII 8, in Hans Folzens ›Wiedervergeltung‹ (Fischer Nr. 30s), nicht mehr der Fall. In dieser Fassung ist die ganze Handlung allein auf die Bestrafung eines Ehebrechers ausgerichtet. Mit dem Beischlaf mit der Frau des Nebenbuhlers endet bei Folz die Geschichte. Das Epimythion formuliert den Wunsch, jeder Ehemann möge an seiner eigenen Frau Genüge haben. Wer sich an der Frau eines anderen vergehe, dem solle dieselbe Strafe zuteil werden. Auf diese Weise würde jeder Mann einsehen, wie sehr ein solcher Fehltritt der eigenen Frau schmerzt. Während also Boccaccio vorführt, wie am be78
Ähnlich interpretiert Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989, S. 46–49 Boccaccios Erzählung. Doch ist anzumerken, daß Boccaccios Geschichte in ihrer Grundaussage so einzigartig nicht ist.
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sten auf einen Fehltritt zu reagieren sei, möchte Folz davor warnen, überhaupt einen solchen Fehltritt zu begehen. Anlage und Durchführung der beiden Versionen unterscheiden sich also grundsätzlich.79 Folz verzichtet deshalb durchgehend auf das Thema der Freundschaft. Bei ihm ist lediglich von zwei Ehemännern und zwei Ehefrauen die Rede (V. 1–5). Da vor dem Ehebruch keine soziale Bindung bestand, muß auch nach dem Ehebruch und bei der Rache auf keine sozialen Bindungen Rücksicht genommen werden. Konsequenterweise fehlt bei Folz auch die abschließende Idee einer Ehe zu viert. Sie kann es nach dem rüden Vorgehen des betrogenen Ehemannes gar nicht geben. Handlungsziel des gehörnten Ehemanns ist es allein, die ihm »gestohlene Ehre« wieder zu erlangen (V. 50–52). Es ist ein Handeln, das gegenüber der Handlungsweise in Boccaccios Erzählung recht eigensüchtig, egozentrisch erscheint: Hauptsache ist es, die verletzte Ehre wiederherzustellen, sich zu rächen. Welche Folgen diese Rache für die anderen und für die Beziehungen zwischen den Beteiligten haben wird, interessiert nicht. Deshalb klammert Folz alle möglicherweise hinderlichen Hinweise auf bestehende soziale Verflechtungen aus. Dies ist sein Thema nicht. Wollte man den Unterschied von Boccaccios und Folzens Darstellung der Wiedervergeltung auf eine Formel bringen, könnte diese so lauten: Wille zur Versöhnung (trotz Rache) versus Wille zur Bestrafung (durch Rache). Das Feld der möglichen Reaktionen auf Fehltritte hat sich hier nochmals erweitert. Natürlich stellt sich die Frage nach den Gründen für die rigidere Position bei Hans Folz. Nachdem in meinem Beitrag immer wieder eine pragmatischnüchterne Bewertung von Fehltritten in den deutschen schwankhaften Kurzerzählungen konstatiert worden ist, muß man wohl annehmen, daß Boccaccios utopische Lösung einer Ehe-Kommune für Hans Folz nicht rezipierbar war. Deshalb deutet er Boccaccios Erzählung zu einem Lehrstück für ein tatsächlich umsetzbares Motto um: »Was du nicht willst, daß man es dir tu, das füge auch keinem anderen zu.« Folglich sollten Männer von den Frauen anderer ihre Finger – und anderes – lassen. Damit aber verkündet Folz genau das Gegenteil von Boccaccios lustspielhaftem Erzählschluß.
4 Daß innerhalb der deutschen Märendichtung im Hinblick auf die Bewertung von Fehltritten Differenzierungen angebracht sind, braucht nicht betont zu werden. Besonderes Interesse verdienen dabei die Fälle, in denen ein und dieselbe Geschichte in zwei verschiedenen Versionen vorliegt und der dort verhandelte Fehltritt unterschiedlich bewertet wird. Abschließend soll ein sol79
Walter Haug, Entwurf zu einer Theorie der ma. Kurzerzählung (wie Anm. 8), S. 17 und 32 geht darauf nicht ein.
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cher Fall vorgeführt werden. Es handelt sich um die Geschichte von der halben Birn, die von Ps.-Konrad von Würzburg (um 1300?)80 und von Hans Folz (um 1470/80; Fischer Nr. 30c) erzählt wird.81 Ob die beobachtbaren Unterschiede auf die Entwicklung der literarischen Gattung Märe, auf einen veränderten Publikumsgeschmack, auf eine veränderte Funktion von Literatur oder auf veränderte Moralvorstellungen zurückgehen, soll hier aber nicht diskutiert werden. Doch zunächst sei der Inhalt referiert, der in beiden Versionen nahezu identisch ist:82 Ein König veranstaltet ein Turnier, bei dem der beste Ritter die Hand seiner Tochter und die Nachfolge im Reich erringen soll. Am meisten tut sich beim Stechen der Ritter Arnolt hervor [bei Folz kein Name]. Der König lädt ihn zu Tisch, doch begeht der helt dort in der Gesellschaft der Königstochter einen Fauxpas [einen Fehltritt in der Terminolgie unserer Tagung]: Beim Dessert – Birnen und Käse – teilt er zwar die Frucht, ›wirft‹ jedoch ungeschält die eine Hälfte in den Mund [aus lauter Freßgier], bevor er seiner Gastgeberin die andere vorlegt. Wieder auf dem Turnierplatz, hilft ihm seine Überlegenheit nichts mehr, denn laut verkündet die Königstochter seinen Mangel an hovezuht. Aus Schande muß er vom Hof sich entfernen [verliert also seine Interaktionskompetenz] und sinnt auf Rache. Sein treuer Knecht rät ihm, als taubstummer Narr zurückzukehren und unter dem Deckmantel der Narrenfreiheit die Königstochter genau zu beobachten [um bei ihr eine Schwäche zu entdekken]. So geschieht es. Eines Abends läßt diese den Narren zu ihrer und ihrer Hofdamen Unterhaltung in den palas holen, wo er seine einfältigen Scherze treibt. Dabei wird die Königstochter von der Männlichkeit des halbnackten Narren erregt. Sie schickt ihr Gefolge bis auf eine alte Dienerin schlafen, die ihre Wünsche errät und den Narren zu ihr ins Bett bringt. Dieser spielt den ahnungslosen Tölpel, so daß die Dienerin erneut eingreifen und, angefeuert von den Rufen ihrer [liebesgeilen] Herrin, den Narren mit Stichen und Stößen an das erwünschte Ziel dirigieren muß. Kaum ist der minne süessikeit zerronnen, wird der Narr hinausgeworfen. Er ent80
81 82
Zu dieser Fassung vgl. Jan-Dirk Müller, Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 3 (1984/85) S. 281–311. Müller arbeitet vor allem die Relativierung der normativen Ordnung und die Ambivalenz des Ausgegrenzten, Triebhaften, Unhöfischen heraus. Im Lachen über die ausgegrenzte Welt des Sexuell-Triebhaften seien »Wunsch und Abwehr ununterscheidbar« (S. 308). Unter der Lizenz der Fiktion trete eine »verborgene Schicht kollektiver Imaginationen zutage« (S.310f.). Mir geht es nicht um eine Gesamtinterpretation, sondern um einen kontrastiven Vergleich im Hinblick auf unterschiedliche Bewertungen von Fehltritten. Leider ist eine der Handlungsstruktur nach ähnliche Erzählung von Hans Folz (›Der arme Bäcker‹, Fischer Nr. 30a) nur fragmentarisch erhalten. Der Einfachheit halber übernehme ich die Inhaltsangabe von J.-D. Müller (wie Anm. 80), S.285f. Damit entgehe ich zugleich dem Vorwurf, die Geschichte auf meine Deutung hin zu konstruieren. Müller interpretiert die Textfassung, die Georg Arnold Wolf, Diu halbe bir. Ein Schwank Konrads von Würzburg, (Diss.) Erlangen 1893, ediert hat. Ich habe diese Fassung an den Handschriften kontrolliert und keine gravierenden Abweichungen festgestellt, die meine Interpretation tangieren.
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fernt sich vom Hof, um wieder als Ritter zurückzukehren. Wieder verspottet ihn die Königstochter öffentlich, diesmal kann er ihr aber mit Zitaten aus den anfeuernden Rufen jener Nacht antworten. So bringt er die Dame zum Schweigen: auf Rat der Dienerin sucht sie möglichst rasch das Einverständnis des Ritters für eine Heirat, damit die Schande nicht weiter ruchbar wird.
In unserem Fragezusammenhang interessieren zunächst folgende Umstände: 1. An dem Fauxpas des Ritters an der königlichen Tafel scheint sich nur die Königstochter zu stoßen. Von einer distanzierten oder gar empörten Reaktion der übrigen Tischgesellschaft auf die peinliche Entgleisung des Ritters ist nicht die Rede. Erst die spätere Bloßstellung des Ritters durch die Prinzessin beim Turniergeschehen bringt den Ritter in Schande und zwingt ihn, den Hof zu verlassen. Doch am Schluß der Geschichte gelingt es der Königstochter offensichtlich leicht, die Zustimmung ihrer Eltern zu der Heirat mit dem Ritter, dessen Ehre in der Öffentlichkeit doch angeblich stark beschädigt ist, zu erlangen. Warum wird eine allfällige Mißbilligung des Fehlverhaltens bei Tische nicht erwähnt? Meines Erachtens fokussiert die Erzählung unverkennbar auf die Auseinandersetzung der beiden Hauptfiguren – Ritter und Königstochter. Dies hat zur Folge, daß wir aus dieser Erzählung kaum Rückschlüsse ziehen können auf die Reaktionen der übrigen Teilnehmer der Geschichte. Auch wenn wir von keiner Reaktion der übrigen Teilnehmer auf den Fehltritt des Ritters erfahren, so muß dies nicht heißen, daß sie darüber hinweggesehen haben. Für den Erzähler bzw. für den Handlungsverlauf sind sie einfach nicht relevant. 2. Es fällt auf, daß der männliche Fehltritt in der Öffentlichkeit, das unhöfische Verspeisen der Birne, am Ende der Geschichte wiedergutgemacht werden kann, also eine Wiederherstellung der Ehre möglich ist. (Die Frau findet sich mit dem vormaligen Fehltritt des Mannes ab.) Dem weiblichen Fehltritt in der Heimlichkeit der Nacht hingegen steht diese Möglichkeit nicht offen. Würde er publik, wäre die Ehre der Frau unwiederbringlich verloren. Deshalb kann der Mann nur in verschlüsselter Sprache die Dame bedrohen, darf sie damit nicht um ihre Ehre bringen. Deshalb auch bleibt als einziger Ausweg die Heirat mit dem Mann, der als einziger Zeuge und Objekt der sexuellen Gier ohnehin von dem Fehltritt weiß. (Der Mann aber findet sich mit dem Fehltritt der Frau nicht ab, bleibt angesichts der an den Tag gelegten sexuellen Triebhaftigkeit seiner Frau mißtrauisch ihr gegenüber und verzeiht ihr nicht.) So stellt sich die nur auf den ersten Blick paradoxe Situation ein, daß der Mann seinen öffentlichen Ehrverlust durch eine heimliche Überlistung der Frau wettmachen kann. Diese geschlechterspezifische Verteilung von Interaktionskompetenz-Möglichkeiten dürfte allerdings nicht überraschen. 3. Der öffentliche Fehltritt des Mannes, sein Verstoß gegen die Etikette,83 und der im Verborgenen begangene Fehltritt der Prinzessin, sind wie Aktion 83
Zu den höfischen Verhaltensregeln vgl. J.-D. Müller (wie Anm. 80), S. 294f. und 298.
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und Gegenaktion aufeinander bezogen. Der eine kann den anderen aufheben bzw. kompensieren. Der heimliche Fehltritt erhält somit denselben – strukturellen und terminologischen – Stellenwert wie der öffentliche Fehltritt. Zwar ist im Fall des öffentlichen Fehltritts die Ehre (des Mannes) ruiniert, im anderen Fall (der Frau) die Ehre erst bedroht; doch beide werden im Epimythion auf dieselbe Stufe gestellt und als missetât bezeichnet.84 Dies bedeutet, daß im Mittelalter bzw. zumindest in der mittelalterlichen Literatur das Element der Öffentlichkeit keine conditio sine qua non für die Definition des Fehltritts darstellt. 4. Bemerkenswert ist die Diskrepanz zwischen zwei unterschiedlichen Rollen, die der Königstochter zugewiesen werden: Einerseits fungiert sie als kompetente Instanz, die über die Einhaltung der höfischen Etikette zu wachen hat, andererseits wird sie selbst zum Spielball gegenhöfischer, sexueller Kräfte. Dadurch aber verliert ihre Rolle als Hüterin der höfischen Etikette an Glaubwürdigkeit. Die Rezipienten fragen sich verwirrt, ob es die anfangs idealisierte höfische Welt überhaupt gibt, wenn im Innern der höfischen Welt die Gegenkräfte lauern und unwiderstehlich ihre Macht ausüben. Es ließe sich von einer Fragilität des Regelsystems sprechen: Diejenige, die offiziell die Einhaltung des höfischen Verhaltenskodex einklagt, ist selbst unfähig, sich diszipliniert zu verhalten. An dieser Stelle ist ein gewichtiger Unterschied in den Schlußfolgerungen hervorzuheben, die Ps.-Konrad einerseits, Hans Folz andererseits an den Schluß der Geschichte stellen. Bei Hans Folz führt die Einsicht in die moralisch-sittliche Schwäche aller Menschen zu der Lehre, daß niemand andere Leute verspotten soll. Denn es könne der Tag kommen, an dem man – Folz argumentiert allerdings im Epimythion mehr und mehr allein mit dem Beispiel der Königstochter – sich sogar noch mit einem bzw. etwas Geringeren zufriedengebe als mit dem, das man zuvor verspottet hat. Die zunächst allgemein formulierte Lehre engt Folz abschließend auf die Frauen ein und spricht diese allein an: Des rat ich allen weibes namen, / Das sie sülcher spotred sich schamen, / Auff das si nit ir weiplich schem / Zulest etwan an eim berem [‹in Gefahr bringe‹], Des si hernoch were gar fro (V. 223–228). Männer hingegen 84
In der Erzählung selbst wird allerdings der Fehltritt des Mannes als cleine missetât (V. 137) eingestuft, der der Frau als missetât (V. 429). Nur im Epimythion wird davon gesprochen, daß für Mann wie Frau eine cleine missetât (V. 508) verhängnisvolle Folgen haben kann. Zur ›Halben Birne‹ vgl. auch Michael Schröter, »Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe …«. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschliessungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert; mit einem Vorwort von Norbert Elias. Frankfurt a. M. 1985, S. 184–192. Schröters Relationierung von Erzählung und Epimythion basiert auf peinlichen Übersetzungsfehlern (S. 190f.): Nicht der Ritter macht sich der Prinzessin verhaßt (V. 493), sondern umgekehrt die Prinzessin dem Ritter. Der Ritter verliert nicht wegen seines närrischen Benehmens den »Lohn der Tugend« (V. 496–499), sondern er hat, weil er närrisches Benehmen inszeniert hat, Schande vermieden.
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bleiben bei Folz von Kritik verschont. Nicht über Fehltritte bzw. Schwächen anderer zu spotten, diesen Rat gibt Folz den Frauen. Also keine Kritik an dem unhöfischen Verhalten des Mannes, aber auch keine Kritik an dem sexuellen Fehltritt der Frau, sondern lediglich eine Mahnung, wie man (bzw. vor allem die Frauen!) richtig auf Fehlverhalten reagieren soll: nicht hochmütig darüber spotten. Ganz anders nun die Schlußfolgerung der ca. 200 Jahre früheren Fassung: a. Ps.-Konrad hat eine Lehre für beide Geschlechter parat; b. er glaubt an die Erfüllung absoluter Normen. c. Er kritisiert ein moralisch-sittliches Fehlverhalten (die sexuelle Ausschweifung der Königstochter), während Hans Folz ein sozial-kommunikatives Fehlverhalten (den Spott der Königstochter) tadelte.85 Auch wenn in Ps.-Konrads Erzählung die höfischen Instanzen ins Zwielicht geraten und ambivalent werden, so hält das Epimythion an den absoluten Normen fest. Dies wird deutlich an der Adressierung und an dem Inhalt der Lehre: darumbe wil ich râten/ allen guoten wîben,/ daz si die zühte trîben,/ die reinen wîben wol gezemen (V. 486–89). Dieser Erzähler ist also überzeugt, daß es guote, reine wîp gibt, die imstande sind, höfische zuht zu leben. Für sie ist das Beispiel der Königstochter ein warnendes Beispiel: Sie hat sich von der sexuellen Gier besiegen lassen (V.490–95). Aber auch für die Männer hält Ps.-Konrad eine Lehre bereit: ein saelec man der merke daz… (V.498). Ein höfischer minnaere solle achtgeben daz im niht misselinge (V. 506). Schon von einer cleinen missetât könne ein Mann in Schande geraten, ebenso wie die Frauen (V. 508–510). Hier werden – gegen Hans Folz – beide Geschlechter zu rechtem Verhalten aufgerufen. Unser Erzähler ist also überzeugt – bzw. lehrt diese Überzeugung –, daß es ein untadeliges, von Fehltritten freies Verhalten bei Mann und Frau geben kann. Auf dieses Ziel hin will er seine Rezipienten einschwören. Während Hans Folz von absoluten Normen Abschied nimmt, indem er sie relativiert und daran erinnert, daß jeder, der sich über einen anderen erhebe, eines Tages an eigenem Fehlverhalten scheitere und deshalb Spott unangebracht sei, hält Ps.-Konrad an der Möglichkeit einer Realisierung absoluter Normen fest.86 Das Epimythion verficht also noch Positionen, die die Erzählung selbst schon aufgegeben hat: Es gebe eine heile Welt der »guten, reinen« Frauen und der untadeligen, umsichtigen Männer. Das Ausgegrenzte, in der Erzählung aber machtvoll Wirksame, wird im Epimythion tatsächlich wieder gänzlich ausgegrenzt. Hans Folz hingegen versucht sich gar nicht mehr an der 85
86
Bei Hans Folz fehlen bei der Schilderung der Liebesnacht kritisch-moralisierende Bemerkungen. Folz spricht eher von unklugem Verhalten, wo Ps.-Konrad unsittliches Verhalten beklagt. Lediglich in der Rede einer Figur wird an die Lebensklugheit erinnert, daß, wer spotte, selbst zum Gespött werde (V. 462–464).
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Propagierung solch reiner, absoluter Normen. Ihm ist allein an der Verkündigung einer pragmatischen Lebensweisheit gelegen. Während Ps.-Konrad vor allem ein unsittliches Verhalten, den Fehltritt der Frau beklagt, tadelt Folz ein unkluges Verhalten, d.h. die Reaktion der Frau auf einen Fehltritt.87 Ob wir in diesen beiden unterschiedlichen Wertungen von Fehltritten – moralisch-sittliche Bewertung dort, pragmatisch-utilitaristische Überlegungen hier – den Abstand zwischen einer noch der höfischen Normwelt verpflichteten Literatur und einem eher mit pragmatischen Lebensregeln operierendem Literaturbereich fassen, wage ich nicht zu beantworten. Doch denke ich eher an ein Nebeneinander als an ein Nacheinander von Vorstellungswelten.
5 In diesem Beitrag wurden aus den insgesamt ca. 220 ›Mären‹ diejenigen ausgewählt und analysiert, in denen ein Fehltritt nicht bestraft, sondern mit Nachsicht bedacht wurde. Welches Resümee läßt sich ziehen? Läßt man von den insgesamt ca. 220 Mären die sog. höfischen und moralisch-didaktischen Exemplare beiseite, die ca. 20 Prozent der Mären ausmachen,88 und beschränkt sich – wie ich – auf die schwankhaften Mären, so fällt zunächst auf, daß die Mehrzahl dieser Texte zwar Fehltritte darstellen, die aber meist nicht aufgedeckt werden, weil Mann oder Frau mit Hilfe einer List diesen Fehltritt zu verbergen wissen (z.B. ›Frauenlist‹; Kaufringer, Die zurückgelassene Hose; ›Der Liebhaber im Bade‹; ›Der Pfaffe mit der Schnur‹; ›Studentenabenteuer‹; ›Vergils Zauberbild‹ und viele andere). Der Fehltritt wird somit allein für die Rezipienten erkennnbar und braucht deshalb auch nicht gerächt zu werden (deshalb habe ich diesen Texttyp aus meiner Untersuchung ausgeschlossen). Im Lachen über die Dummheit der überlisteten Person ist ein Teil der Erheiterung und Entspannung begründet, die diese Geschichten verschaffen wollen. Ein gehässiges oder schadenfrohes Lachen über den Schaden anderer, wie wir sie aus den Schwankromanen des Spätmittelalters kennen (›Pfaffe Amis‹, ›Eulenspiegel‹, ›Neithart Fuchs‹, ›Pfarrer vom Kalenberg‹ u.a.),89 ist weder auf Rezipienten- noch auf Protagonistenebene intendiert. Wir haben es eher mit einem verständnisvollen, nachsichtigen Lachen zu tun: »So ist die Welt eben«. Gerade diesem Umstand, daß diese 87 88
89
Folzens Sicht entspricht eher der schwankhaften Literatur, vgl. auch ›Umgangene Buße‹ (Fischer Nr. 19, Epimythion). Vgl. Hanns Fischer, Studien zur dt. Märendichtung (wie Anm. 11), S. 101–113; KarlHeinz Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969, S. 144ff.; Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter, München 1985, S. 15ff. Rüdiger Schnell, Das Eulenspiegel-Buch in der Gattungstradition der Schwankliteratur, in: Hermann Bote. Beiträge zum Braunschweiger Bote-Kolloquium 1988, hg. von Herbert Blume / Eberhard Rohse, Tübingen 1991, S. 171–196.
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schwankhaften Kurzerzählungen die Rezipienten nicht auf die Einhaltung absoluter moralischer oder religiöser Normen verpflichten wollen, sondern sich mit dem Aufzeigen einer Alltagsmoral begnügen,90 verdankt sich größtenteils die psychische Entlastung und Befreiung – vom Disziplinierungsdruck, der allen sozialen Gemeinschaften, nicht nur des Spätmittelalters, gemeinsam ist –, die die schwankhaften Erzählungen bieten. Auch bei den von mir besprochenen Kurzerzählungen war immer wieder festzustellen, daß nicht so sehr der Verstoß gegen eine moralische, soziale oder religiöse Norm im Vordergrund stand, sondern die lebenskluge Reaktion auf diesen Normverstoß. Wer nach schwankhaften Kurzerzählungen sucht, in denen ein Fehltritt hart bestraft wird, findet nur ganz wenige Textbeispiele (z.B. ›Schneekind‹; Kaufringers ›Rache des Ehemannes‹; Rosenplüts ›Wolfsgrube‹ und ›Hasengeier‹).91 Dies erkläre ich damit, daß die Kurzerzählungen weniger an absoluten Normen interessiert sind und deren Einhaltung rigide einfordern, sondern eher eine pragmatisch-relativierende Position einnehmen: Wie in den schwankhaften Kurzerzählungen diejenigen Figuren, die sich mit List und Witz durch das Leben schlagen, fast mit Bewunderung vorgestellt werden, so versuchen viele Erzählungen die Einsicht zu vermitteln, daß es besser ist, einen einmal eingetretenen Schaden oder eine Ehrverletzung nicht sogleich zu rächen, sondern nüchtern zu überlegen, ob man sich mit der Bestrafung eines Normverstoßes nicht einen noch größeren Schaden einhandelt. Nicht der Normverstoß, sondern die vorteilhafteste Reaktion darauf steht im Zentrum des Interesses.92
90 91
92
Vgl. Jürgen Beyer, Schwank und Moral. Untersuchungen zum altfranzösischen Fabliau und verwandten Formen, Heidelberg 1969, bes. S. 130–157. Relativ glimpflich kommen die Ehebrecher in Strickers ›Klugem Knecht‹ davon. Weitere Mären mit Gewalthandlungen, die aber nicht durch Fehltritte provoziert sind, skizziert Klaus Grubmüller, Der Tor und der Tod. Anmerkungen zur Gewalt in der Märendichtung, in: Kurt Gärtner u.a. (Hgg.), Spannungen und Konflikte in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1996, S. 340–347. Entgegen Grubmüllers Behauptung handelt es sich nicht in allen Fällen um »Bestrafungsaktionen« (›Die böse Adelheid‹ und Rosenplüts ›Fünfmal getöteter Pfarrer‹ z.B. gehören nicht hierher). Dennoch hat Grubmüller recht, wenn er den Aspekt der Gewalt bei einigen Mären betont. Doch vor Generalisierungen sei gewarnt. Insofern läßt sich meine Studie als notwendiges Korrektiv zu Grubmüllers Akzentuierung von Gewalt, Revanche, Grausamkeit in den Mären lesen. Im ›Glaubensstreit‹ der gegensätzlichen Standpunkte zur Funktion der Mären tendiere ich – zumindest was mein Textkorpus betrifft – zwar eher zu der Auffassung, wir hätten es mit einem exemplarisch-didaktischen Erzählen zu tun (vgl. Joachim Heinzle, Altes und Neues zum Märenbegriff, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 117 [1988], S. 277–296; Joachim Suchomski, ›Delectatio‹ und ›utilitas‹. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern/München 1975). Doch gelehrt wird in ›meinen‹ Mären meistenteils eine Amoral, keine Moral: Welches Verhalten nützt, welches schadet? Eine bloß unterhaltsame Funktion der Mären generell vermag ich nicht zu erkennen.
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Allerdings werden für eine solche nachsichtige, ›realistische‹ Reaktion bestimmte Spielregeln bzw. Bedingungen aufgestellt: 1. Der Fehltritt muß unabsichtlich erfolgt sein; 2. Die ›Opfer‹ sind für den Fehltritt mitverantwortlich; 3. Die Erkenntnis ist vorhanden, daß jedem ein solcher Fehltritt passieren kann; 4. Die Aufdeckung des Fehltritts würde eigenen Ehrverlust nach sich ziehen; 5. Zwischen dem Delinquenten und dem ›Opfer‹ bestehen freundschaftliche Bande bzw. ein Vertrauens-Verhältnis. Außerdem gilt für zahlreiche Texte, daß der Fehltritt noch nicht publik geworden sein sollte. Gegenüber meiner Verwendung des Begriffs ›Fehltritt‹ wird man einwenden können, hier würden recht unterschiedliche Regelverletzungen – von der unterlassenen Teilung einer Birne über das Entblößen eines Hintern bis zum Ehebruch – mit demselben Terminus bezeichnet. Doch hat die Tagung meines Erachtens die Erkenntnis gebracht, daß die Einschätzung eines Fehlverhaltens als Fehltritt nicht – schon gar nicht in der Dichtung – allein in dessen objektiv-rechtlicher ›Substanz‹ begründet ist, sondern auch davon abhängt, wie die jeweils anwesenden oder das Fehlverhalten später beurteilenden Personen reagieren bzw. welche Reaktionen die ein solches Fehlverhalten darstellenden Dichter als angemessen suggerieren. So kann einerseits eine der größten Sünden, die Gotteslästerung, durch nachträgliche Interpretationen der situationellen Momente – vor allem der Aspekt der Vorsätzlichkeit bzw. Unabsichtlichkeit spielt eine Rolle – zu einem Fehltritt herabgestuft werden (vgl. Beitrag Schwerhoff); andererseits kann ein geringfügiger Verstoß gegen die Hofetikette bzw. ein Ritual schlimmste Folgen haben (Beiträge von Moos und Marchal). Entsprechend stilisiert der Dichter Neidhart in seinen Liedern ein geringfügiges Vergehen, Frideruns Spiegelraub, zur Bedrohung für die Weltordnung (Beitrag Müller); umgekehrt raten Autoren von Mären, auf eine schwerwiegende Normverletzung, den Ehebruch, nicht allzu heftig zu reagieren, ja mitunter sogar darüber hinwegzusehen (mein Beitrag). (Bei Neidhart und in den Mären spielt die Frage der Intentionalität nicht durchgängig eine Rolle.) Die Gründe für eine solche Herabstufung des ordnungsbedrohenden Potentials einer Regelverletzung sind für die spätmittelalterlichen Mären genannt worden: Wahrung der eigenen Ehre; Nachsicht gegenüber einem aus Unbedachtsamkeit erfolgten Fehlverhalten; Einsicht in die Unvollkommenheit aller Menschen; bestehende soziale Bindungen zwischen ›Täter‹ (z.B. Ehebrecher) und ›Opfer‹ (Ehemann). Überspitzt formuliert: Ein schwerwiegendes Vergehen kann nachträglich zu einem Fehltritt erklärt werden; umgekehrt wird ein Fehltritt zur Bedrohung für Frieden und Ordnung der Welt. Dieses Ergebnis zieht nur die Schlußfolgerung aus der Einsicht, daß es den Fehltritt als einen ›objektiven‹ Tatbestand nicht gibt, auch nicht eine generelle Beschreibung dessen, was ein Fehltritt ist. Statt dessen gilt es die vielfältigen (historischen, situativen, subjektiven) Bedingungen der Konstruktion von Fehltritt herauszuarbeiten. In meinem Fall waren die (funktional bedingten) Kon-
Literarische Spielregeln für die Inszenierung und Wertung von Fehltritten
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struktionsprozeduren einiger Märendichter nachzuzeichnen. Deren Perspektive folgend halte ich es für vertretbar, auch den Tatbestand Ehebruch in den von mir ausgewählten Mären mit dem Terminus ›Fehltritt‹ zu bezeichnen. Fragt man nun, welches Interesse die Kurzerzählungen daran gehabt haben, eine solche pragmatisch-relativistische Bewertung von Fehltritten zu inszenieren, so wird man mit einer einzigen Antwort nicht auskommen. Doch einen Aspekt möchte ich herausheben. In fast allen von mir besprochenen Erzählungen zielt die nachsichtige Reaktion gegenüber einem Fehltritt darauf, dem Subjekt des Fehltritts – zuweilen aber auch dem ›Opfer‹ des Fehltritts (z.B. dem Ehemann) – die Möglichkeit zu erhalten, weiterhin in seiner sozialen Umgebung zu verkehren, zu agieren, ohne Gesichtsverlust zu leben. Die Interaktionsfähigkeit soll erhalten bleiben. Diese ist aber in dem Moment vernichtet, in dem jemand der Ehre beraubt wird. Deshalb muß die Reaktion auf einen Fehltritt umsichtig, kalkulierend, selbstbeherrscht ausfallen. Erst dann, wenn alle Mitglieder einer Gemeinschaft sich ihrer eigenen Ehre versichern können, ist ein erträgliches, konfliktfreies Zusammenleben möglich. Und hier meine ich ein wichtiges Fernziel zahlreicher schwankhafter Kurzerzählungen zu erkennen: Sie wollen die Voraussetzungen für ein friedfertiges, harmonisches Zusammenleben aufzeigen. (Boccaccios Erzählung von der Ehe zu viert stellt nur einen Extremfall vor.) Ein solches Zusammenleben könnte zwar auch dadurch gewährleistet sein, daß alle Menschen die geforderten religiösen und moralischen Gebote einhielten. Daß dies aber eine Utopie ist und deshalb andere Spielregeln für das Zusammenleben der Menschen erforderlich sind, demonstrieren die schwankhaften Kurzerzählungen.93 Die Einsicht in die Unvollkommenheit dieser Welt sollte vor übereilter Rache und vor rigoroser Verfolgung von Fehltritten bewahren – vor einer Verfolgung, die ihrerseits wieder Gefahren bzw. Nachteile heraufbeschwört. Explizit wird diese Mahnung zur Nachsicht, zum ›Sich arrangieren‹ mit den Fehlern, Schwächen und Fehltritten anderer, zum Verzicht auf Rache in den Schwankbüchern des 16. Jahrhunderts ausgesprochen.94 Insofern könnte man behaupten: Zahlreiche schwankhafte Kurzerzählungen entwerfen eine Welt, in der Menschen über einen Fehltritt hinwegsehen und auch nach einem Fehltritt noch miteinander in gegenseitiger Anerkennung verbunden bleiben (können). Dabei muß exemplarisch-didaktisches Erzählen keineswegs immer mit einer moralischen Botschaft verbunden sein. Auch das im Mittelalter weitverbreitetste Schulbuch, die ›Disticha Catonis‹, bietet vor allem pragmatische Lebensregeln utilitaristischer Ausprägung. 93 94
Der so oft beschworene Zivilisationsprozeß vollzieht sich auf sehr unterschiedliche Weisen. Vgl. Johannes Pauli, Schimpf und Ernst, hg. von Hermann Österley, Stuttgart 1866 (Nachdruck Amsterdam 1967), Nr. XXV, XXXVIII, CXX, DCXCIII u.a. Vgl. aber schon Kaufringer, Bürgermeister und Königsohn (s. o. nach Anm. 35).
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Dort wird situationsadäquates, pragmatisch auf Erfolg orientiertes Verhalten neben und außerhalb moralischer Prinzipientreue gelehrt.95 Ebenso zeigt sich in fast allen der von mir besprochenen Mären ein Nützlichkeitsdenken bzw. eine Art von amoralischer Einstellung: Handlungsmaxime ist nicht eine religiöse oder moralische Norm, sondern der Ehrenkodex: Wie vermeide ich Ansehensverlust für mich und die mir Nahestehenden? Welche Vorteile habe ich durch das Hinwegsehen über Fehlhandlungen Dritter?96 Ob und inwieweit diese literarische Inszenierung und Wertung von Fehltritten auf die soziale Realität Einfluß gehabt hat oder aber von ihr inspiriert worden ist,97 wäre eine spannende Frage.
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Vgl. zuletzt Nikolaus Henkel, Disticha Catonis. Gattungsfelder und Erscheinungsformen des gnomischen Diskurses zwischen Latein und Volkssprache, in: Barbara Frank u.a. (Hgg.), Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen 1998, S. 261–283, bes. S. 267. Ich muß betonen, daß exemplarisch-didaktischer Erzählgestus keineswegs immer Moralisierung bedeutet. Denn der Märenforschung ist diese notwendige Differenzierung im großen Ganzen unbekannt. Karl-Heinz Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969, S. 127ff., und Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung (wie Anm. 11), S. 101–116 stellen moralisch-exemplarische Mären mit didaktischem Anspruch und schwankhafte Mären einander gegenüber. Meiner Sicht kommt nahe Joachim Heinzle, Märenbegriff und Novellentheorie, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 107 (1978) S. 121–138, der S. 136 im Hinblick auf eine Kleinepik-Sammlung von »exemplarisch-didaktische(r) Ausrichtung des Erzählens« und von »lehrhafte(r) Intention« spricht, obwohl sich die Einzelstücke der Sammlung oft mit alltagsweltlichen, amoralischen Lehren begnügen. Diesen Terminus »exemplarisch-didaktische Erzählungen« (statt »moralisch-exemplarisch«) verwendet für die Märe auch Hans-Joachim Ziegeler, Das Vergnügen an der Moral. Darbietungsformen der Lehre in den Mären und Beispielen des Schweizer Anonymus, in: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven, hg. von Georg Stötzel, Bd. 2; Berlin/ New York 1985, S. 88–109, S. 108, meint aber meist eine »Moral«, die gelehrt werde, obwohl Ziegeler durchaus erkennt, daß es bei der »Moral« oft um eine »Schaden-NutzenMechanik« geht (S. 108), also nicht um moralische Normen. Demjenigen, der auch den schwankhaften Mären eine lehrhafte Funktion unterstellt, wird noch heute entgegengehalten, diese seien nur zur Unterhaltung da und würden keine Moral verkünden; überdies hätten die Epimythien mit der eigentlichen Erzählung nichts zu tun (so in der Diskussion auch Jan-Dirk Müller, der allerdings für den Stricker mögliche lehrhafte Intentionen einräumte). Daß diese Einwände bei fast allen von mir besprochenen Mären ins Leere gehen, sollte deutlich geworden sein. Auch amoralische – nicht unmoralische! – Lebensweisheiten werden zuweilen lehrhaft vermittelt. Die Nähe zu den ›Disticha Catonis‹ sollte zu denken geben (vgl. auch oben S. 293 zu Strickers ›Heißem Eisen‹). In den Freundschaftserzählungen (›Der zurückgegebene Minnelohn‹; ›Fünfzig Gulden Minnelohn‹; ›Decameron‹ VIII 8) hingegen meine ich in der Tat einen sozialethischen Impetus zu erkennen.
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Man sollte annehmen, daß die Schwankerzählungen, wenn sie schon eine Alltagsmoral vertreten, in der Darstellung von Handlungen mit der sozialen Realität übereinstimmen. Doch ist erst zu klären, ob das, was als alltagsweltlich in den Schwankerzählungen inszeniert wurde, in der ›Wirklichkeit‹ auch möglich bzw. gestattet war. Zu warnen ist allerdings vor der – auch auf der Tagung zuweilen erkennbaren – Neigung, die literarisch zugespitzten Regelverletzungen beim Minnesänger Neidhart (Fehltritt provoziert Apokalypse) und in den Mären (Fehltritt wird mit Nachsicht bedacht) auf derselben argumentativen Ebene zu verhandeln wie die alltagsweltlichen bzw. selbst konstruierten Fälle (z.B. das berühmte Glas Rotwein, das der Gast verschüttet), die Anekdoten aus Zeitungen und Biographien, die chronistischen Berichte und juristisch dokumentierten Normverletzungen – und daraus dann ein scheinbar homogenes soziologisches Erklärungsmodell für den Fehltritt zu deduzieren. Solange die spezifischen Funktionsbedingungen der poetischen Darstellungen in dem sozial-kommunikativen System ›Fehltritt‹ unberücksichtigt bleiben, ist mit Widersprüchen in diesem System zu rechnen.
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Zum Verhältnis von Fehltritt und Sanktion in der höfischen Literatur des deutschen Mittelalters Höfische Verhaltenscodices und ihre bürgerlichen Derivate sind auf Minimaldifferenzen aufgebaut, mit Pierre Bourdieu zu reden, auf ›feinen Unterschieden‹.1 Höfisch verhält sich nicht, wer das Gute und Richtige tut, sondern wer es in der richtigen Form tut. Das erste gilt zwar meist als stillschweigend vorausgesetzte, notwendige Bedingung, doch reicht sie nicht hin, damit ein Verhalten mit den Regeln der Guten Gesellschaft konform geht. Wo aber umgekehrt diese Regeln beachtet werden, da kann man schon einmal über den Mangel an ethischer Qualität hinwegsehen. Deshalb beklagt die hofkritische Literatur von ihren Anfängen an, daß unter der glatten Oberfläche höfischer Umgangsformen moralische Verderbtheit: Lüge, eigennützige Schmeichelei, Hinterlist, Verrat, Intrige lauern.2 Hofkritik ist anfangs vor allem eine interne Angelegenheit, eine Sache der Intellektuellen bei Hof. Seit der Frühen Neuzeit richtet sie sich zunehmend von außen gegen den Hof und das gesellschaftliche System, von dem er getragen wird, bis hin zu den Karikaturen von Höflingen, die die bürgerliche Aufklärung entwirft.3 1
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [1979], 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1983. Bourdieus Untersuchung richtet sich freilich nicht auf eine aristokratische Gesellschaft, sondern auf die ebenfalls auf Minimaldifferenzen (des Essens, der Kleidung, des Konsums, der kulturellen Vorlieben usw.) basierenden, symbolisch vermittelten Hierarchien einer modernen Massengesellschaft. Die Differenzierungen innerhalb eines relativ geschlossenen Stratums wie der höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit sind im ganzen homogener, aber ebenso subtil (vgl. allgemein zum Modell und künftige Forschung anregend: Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie …, Neuwied 1979, S. 126–177. bes. S. 134–139 u.ö.; Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 72–161). – Für die mittelalterliche Literatur vgl. auch die Beiträge in: Gert Kaiser / Jan-Dirk Müller (Hgg.), Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 3. bis 5. November 1983 (Studia humaniora 6), Düsseldorf 1986.
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Die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung, darin Erbin der Aufklärung, hat die Empörung über die miseria curialium für bare Münze genommen und meist nicht gesehen, daß die bedenkliche Moral des Hofmanns nur die Kehrseite dessen ist, was man sonst von ihm fordert, kühle Selbstbeherrschung, das Verbergen von Affekten, die Vermeidung lauter und unkontrollierter Ausbrüche, ein bis in die Nuancen rational gesteuertes Betragen. Aus moralistischer Perspektive will nicht einleuchten, daß dissimulatio nicht nur heimtückische Verstellung, sondern auch souveräne Selbstkontrolle bedeuten kann.4 In der Entrüstung darüber, daß in der besseren Gesellschaft ein Fehltritt schlimmer sein kann als ein Verbrechen, wurde oft übersehen, daß der höfisch-aristokratische Code von der späteren bürgerlichen Gesellschaft problemlos adaptiert werden konnte, wobei einige der alten Probleme im Gewande der ›Lebenslüge‹ wiederkehren, die hinter der schönen Fassade lauert. Nun ist dies ein Befund, der vor allem an Hand der frühneuzeitlichen Hofkultur erhoben wurde, der man, wie Peter von Moos ausführte, auch die »Ausprägung eines Wortschatzes und einer Wahrnehmung der Peinlichkeit« zu verdanken hat und die insoweit als »extremer Gegenpol« zum Mittelalter erscheint, das weder im Lateinischen noch in den Volkssprachen ein Vokabular für kleinere Fehltritte kennt, die unterhalb der Ebene manifester Verstöße, doch oberhalb unauffälliger individueller Verhaltensvarianten liegen, die deshalb nicht unter Strafe gestellt werden können und müssen, jedoch Unbehagen und Abneigung auslösen und ihre Urheber ins Abseits stellen, sie zwar nicht sozialer Ächtung preisgeben, aber doch aus einem inneren Kreis derer, die Bescheid wissen, ausschließen.5 Ein solches Vokabular zur Bezeichnung von Fehlverhalten hat sich, wie von Moos betont, im Französischen erst seit dem 16. Jahrhundert ausgebildet, und die übrigen europäischen Sprachen sind ihm darin gefolgt. Für das Mittelalter scheint es da kein Bezeichnungsproblem gegeben zu haben, was die Vermutung nahelegt, daß auch der 2
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Claus Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik (Quellen u. Forschungen z. Sprach- u. Kulturgeschichte d. germanischen Völker NF 56), Berlin/ New York 1973; Helmuth Kiesel, ›Bei Hof, bei Höll‹. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller (Studien zur deutschen Literatur 60), Tübingen 1979. Die frühe hofkritische Literatur stammt bezeichnenderweise meist von Klerikern, die spätere so gut wie immer von Leuten, die nicht dazugehören. Luhmann (wie Anm. 1), S. 73 weist auf die notwendige Unterscheidung von Außen- und Binnenkommunikation, die den Grad der Differenzierungen ebenso beeinflußt wie die Funktion der Abgrenzung. Der rhetorische Begriff der dissimulatio könnte Ausgangspunkt einer neutralen Behandlung des Phänomens höfischer Verstellung sein (vgl. F. Népote-Desmarres / T. Tröger, s.v., in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1992, Sp. 886–888). Vieles, was die moralistische Hofkritik als adulatio, ambitio, assentatio zusammenträgt (zu diesen Topoi Uhlig [wie Anm. 2], passim), läßt sich auch als interessegeleitetes Verbergen der eigenen Antriebe deuten. von Moos, Einleitung, S. 5.
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Sachverhalt nicht wahrgenommen wurde, weil er sich als solcher noch gar nicht konstituiert hatte. Allerdings lassen sich, wie von Moos darlegt, auch im Mittelalter trotz der nahezu »totalen Klammer der moralischen Defizienzsemantik«, also trotz der theologischen Belastung der Begriffe peccatum, vitium o.ä. »Sonderdiskurse« beschreiben, in denen – etwa im Umkreis des »Kernbegriff[s] der inhonestas« – Phänomene erfaßt werden, die dem, was man heute ›Peinlichkeit‹, ›Fehltritt‹, Verletzungen des Anstandes, Fauxpas nennt, verwandt sind.6 Damit stellt sich die Frage nach rudimentären Ansätzen des Peinlichkeitssyndroms. Sie richtet sich vornehmlich an die volkssprachige Literatur im Umkreis des Hofes, d.h. einer Gesellschaft, die sich primär nicht über ihre politischen und ökonomischen Privilegien definiert, sondern über ein System der ›Ehre‹, in dem jeder einzelne seinen Platz und seine Identität erhält. Die Zugehörigkeit zu diesem System wird im allgemeinen über Erbe (also etwa Geschlecht, Stellung im Heerschild, Reichtum, auch Stärke und Schönheit) und Bewährung der ererbten Vorzüge (Tapferkeit, Liebesfähigkeit, körperliche und intellektuelle Vorzüge) bestimmt; dabei wird beider Identität behauptet; im Konfliktfall ist das Verhältnis zwischen Ererbtem und selbst Erreichtem auszutarieren. Eine Binnendifferenzierung aber muß über Feinabstufungen erfolgen: des Betragens, der Erziehung, der Interaktion, der Nähe zum höfischen Zentrum usf.7 So ist es nicht unwahrscheinlich, daß sich auch hier ein spezifischerer Code ›richtigen‹ Verhaltens herausbildet. Das wurde als nicht unbedenklich empfunden, wie Reaktionen im späteren 13. Jahrhundert auf die moralisch anfechtbare Seiten eines überwiegend auf ›feines‹ statt auf ›frommes‹ Verhalten gestellten Codes zeigen. Schon in dieser Spannung bereitet sich sie spätere Dissoziation von (religiös gestützter) Moral und exklusiv vornehmen Verhaltens vor.8 Ort höfischer Verhaltenslehren wie der Kritik an den Implikationen höfischen Verhaltens sind ursprünglich für Kleriker bestimmte Lehrschriften. Ihre Normen werden seit dem 12. Jahrhundert von »courtly clerics« zunehmend auf die höfische Laienwelt übertragen. In der Diskussion um den »courtly cleric« wird rauhe Moral gegen verderbte Eleganz ausgespielt, meist mit eindeu6 7
Ebd. S. 15ff. Man darf gewiß die Rangempfindlichkeiten und Skrupulositäten in den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon nicht verallgemeinern und – wie Elias (wie Anm. 1) – zum Prototyp höfischer Vergesellschaftung erklären. Doch sind Ansätze zu analogen Feindifferenzierungen im Mittelalter unübersehbar, etwa in der Mantelprobe des ›Lanzelet‹ von Ulrich von Zatzikoven: Alle Damen des Artushofes werden ihr unterzogen (= Zugehörige des gleichen Stratums; über ihren gesellschaftlichen Wert ist damit entschieden), aber jede läßt im Unterschied zu den anderen einen winzigen Mangel in der Kleidung erkennen. Dieser ist zwar Zeichen ethischer Defizienz. Solche Defizienz äußert sich aber in einem vestimentären (nicht einem moralischen) Code. Selbst unter den Artusrittern gibt es – trotz der virtuellen Gleichheit der Tafelrunde – Unterschiede (mögen sie auch von Roman zu Roman wechseln). Allerdings haben diese Differenzen stets ethische (auch politische usw.) Implikationen. Anm. 8 s. nächste Seite
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tigen Präferenzen.9 Die Dichotomien dieser zeitgenössischen Diskussion sind aber zu schlicht; ein ausschließlicher Rekurs auf Ethik und Religion auf Kosten höfisch polierter Umgangsformen würde nicht nur Auswüchse der höfischen Gesellschaft, sondern diese selbst in Frage stellen,10 und folgerichtig bemüht sich die höfische Literatur von Anfang an um die Integration ethischer und ästhetischer Normen. Das macht es notwendig, die Verstöße gegen die einen oder die anderen zu relationieren, wobei man sich nie ausschließlich auf Prinzipien der einen oder der anderen Seite verlassen darf, also rein ethisch oder rein ästhetisch urteilen kann. Für die mittelalterliche Adelskultur typisch ist daher die Verklammerung beider Aspekte, fast bis hin zur Ununterscheidbarkeit.11 Unter dieser Prämisse lassen sich auch schon im Mittelalter Phänomene identifizieren, die auf die Semantik des Fehltritts vorausdeuten – was bei der strukturellen und genealogischen Verwandtschaft der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Hofgesellschaften auch nicht weiter erstaunlich ist. Die folgenden Überlegungen setzen – wieder mit von Moos – voraus, daß eine terminologische Lücke nicht »Undenkbarkeit der Sache« bedeutet.12 Wohl wird man damit zu rechnen haben, daß mangels terminologischer Differenzierung eine scharfe Abgrenzung dessen, was man aus späterer Perspektive als gesellschaftlichen Fehltritt bezeichnen würde, zu anderen, vornehmlich ethischen Typen des Fehlverhaltens (Sünde, Schuld, Verbrechen) weder gelingt noch auch nur beabsichtigt wurde, daß im Gegenteil das Verschwim8
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Diese Auseinandersetzung hat Karl Bertau (Über Literaturgeschichte, München 1983, S. 107) auf die prägnante Formel ›von den Feinen zu den Frommen‹ gebracht. Offenbar wurden in den höfischen Epen und der höfischen Liedkunst um 1200 Spielräume eröffnet, die eine Generation später als gefährlich und zentrale gesellschaftliche Werte unterminierend erkannt wurden. Die Brüchigkeit der zunächst entworfenen Konsensmodelle läßt sich am Spätwerk Walthers von der Vogelweide ebenso demonstrieren wie an den Fortsetzungen von Gottfrieds Tristan-Roman oder den Auseinandersetzungen mit dem Werk Wolframs von Eschenbach. C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939–1210, Philadelphia 1985. Dies hat C. Stephen Jaeger (wie Anm. 9) an vielen Beispielen gezeigt, in denen sich moralische, politische und ästhetische Kriterien überlagern. Aus diesem Grunde glaube ich, anders als Jaeger (The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, in: William C. McDonald [Hg.], Spectrum Medii Aevi. Essays in Early German Literature in Honor of George Fenwick Jones [GAG 362], Göppingen 1983, S. 177–205), zwischen unterschiedlichen Positionen der Kritik an höfischen Interaktionsformen unterscheiden zu müssen. Hofkritik erfolgt im Nibelungenlied also etwa vom Standpunkt einer nur in Ansätzen ›verhoften‹, kriegerischen Feudalgesellschaft aus, anderwärts von dem monastischer Weltabsage oder von dem für den miles christianus entworfenen Programm, ›Gott und der Welt zu gefallen‹. Das läßt sich bis in die Bildlichkeit verfolgen: Die erwähnte Mantelprobe im ›Lanzelet‹ des Ulrich von Zatzikoven gibt über das Ethos der vriundinne der Artusritter Auskunft mittels der Antwort auf die Frage: wem paßt der Mantel am besten. ›Tugend‹ zeigt sich in ›Mode‹. von Moos, Einleitung, S. 33.
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men der Grenzen die Regel ist und daß eben dieser Umstand dem, was wir mit unserem »heuristischen Anachronismus«13 ›Fehltritt‹ nennen, seine katastrophalen Folgen zudiktiert. Wenn es also, wie ich zu zeigen hoffe, durchaus Äquivalente für das gibt, was man später eher unter dem »Oberbegriff der ›bévue‹ … für alle Arten unbedachter, fahrlässiger, dummer und peinlicher Fehler, aber auch für halbintentionale Ausrutscher und Verletzungen« zusammenfassen würde,14 dann sind diese Fehler in der Regel noch mit anderen, weit gravierenderen Formen des Fehlverhaltens kurzgeschlossen oder überlagern sich mit ihnen, so daß ihre Auswirkungen in ein groteskes Mißverhältnis mit den Ursachen geraten können. Ich möchte unter ›Fehltritt‹ das verstehen, was man im Deutschen mit frz. Fauxpas bezeichnet, ein Fehlverhalten unterhalb der Schwelle direkt inkriminierter Handlungen, nur von schwachen Sanktionen bedroht, ein Fehlverhalten, das unwillkürlich auftreten kann, an dem aber auch intentionale Akte beteiligt sein können, das aber in Unkenntnis geltender Regeln und unter Absehen von möglichen Konsequenzen erfolgt. ›Fehltritt‹ soll das ganze Spektrum, gewissermaßen zwischen ungeschicktem Stolpern und unpassendem Betragen, heißen, wobei nur der im Deutschen noch weiter gehende Sprachgebrauch, der darunter auch moralische Verfehlungen wie Ehebruch versteht, beiseitebleibt, selbst wenn sich herausstellen wird, daß auch hier die Grenzen fließend sind.
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Höfischer Code in der ›Krise‹ des höfischen Romans
Höfische Gesellschaften, auch die ritterliche Gesellschaft des hohen Mittelalters, bilden Verhaltenscodices aus, die auf der Übereinstimmung von moralisch gutem und gesellschaftlich gefälligem Handeln aufbauen, was nicht ausschließt, daß die Spannung zwischen ihnen jederzeit aufbrechen kann. Entscheidend ist jedenfalls: Man muß das Richtige auch in der richtigen Form tun. In der Frühen Neuzeit verfestigt sich das zu der Regel, daß sich keinesfalls die Erfüllung der Norm allzu sehr nach vorne drängen und auf der Oberfläche sichtbar werden darf; daher das unablässige Fragen, ob ›gutes Handeln‹ nicht bloßer Schein ist; daher umgekehrt das Insistieren auf sprezzatura und disinvoltura, auf affektierter Nachlässigkeit; daher Umschreibungen höfisch13 14
Ebd. S. 1. Ebd. S. 3. Dabei wird allerdings zu prüfen sein, ob man alle Merkmale, die man heute gewöhnlich mit ›Fehltritt‹ assoziiert, auch hier unterstellen darf. Als problematisch wird sich insbesondere die Komponente der ›Unabsichtlichkeit‹ erweisen, mit der eine »ungeschriebene, allseits akzeptierte Verhaltensregel« (ebd. bei Anm. 5) verletzt wird. Unabsichtlichkeit kann sich nämlich auf eine Handlung / ein Verhalten selbst beziehen oder auch auf die von ihnen ausgelösten Folgen, und schließlich gibt es Grade der Intentionalität (»halbintentionale Ausrutscher«, sagt von Moos).
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gebildeter Umgangsformen als Je ne sais quoi, als der kleine, kaum bemerkbare Überschuß über Regelkonformität, der aus einem richtigen Verhalten erst eines macht, was in Guter Gesellschaft allgemein gefällt; daher der Kult der ›feinen Unterschiede‹ auf Kosten der großen Alternativen. Wer dazugehört und wer nicht, entscheidet sich an Kleinigkeiten.15 In der höfischen Literatur des Mittelalters sind solche Codes allenfalls rudimentär erkennbar. Was im hofdidaktischen Schrifttum als Regeln feinen Anstandes propagiert wird, hat meist sehr elementaren Charakter und ist von ethischen Vorschriften und Vorschriften der Hygiene oft nicht zu unterscheiden.16 Die gesellig-ästhetische Perspektive löst sich nie vollständig von der ethisch-normativen, behauptet ihr gegenüber allenfalls ein gewisses Eigenrecht.17 Allerdings scheint beim Charakter dessen, was in Erzähltexten als Verfehlung gilt und als solche geahndet wird, sich das Gewicht vom Verbrechen und der ethisch verwerflichen Tat weg, hin zu Nachlässigkeit, Vergessen, Acht- und Gedankenlosigkeit zu verschieben, der dann freilich eine fundamentale, auch ethisch relevante Bedeutung zugeschrieben wird. Dies entspräche dem Befund, daß theoretisch noch nicht gedacht werden kann, was praktisch durchaus schon Bedeutung hat. Man denke an die sog. ›Krise‹ in der Doppelwegstruktur des Artusromans. Natürlich hat die jahrzehntelange Forschung recht, wenn sie in dieser Krise ganz zentrale Verfehlungen des Helden aufgedeckt hat, die ihn zwingen, den schon einmal zurückgelegten Weg noch einmal, jetzt aber mit neuem Ethos zu gehen.18 Die Verfehlung hat deshalb exemplarischen Charakter, indem sie grundsätzliche Normen wie z.B. triuwe verletzt: Auch ein kleiner Verstoß gegen die triuwe ist gefährlich und hat schlimme Auswirkungen, wenn – wie 15
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Zu den Grundstrukturen die Anm. 1 zitierten Untersuchungen; die soziologischen Implikationen hat besonders Luhmann (wie Anm. 1) herausgearbeitet (vgl. etwa S. 104f.). Das betrifft nahezu alle sog. ›Hofzuchten‹, die in der Regel eher grobe Empfehlungen, meist für Essen und Trinken, geben, die aus moderner Sicht allenfalls die Vermeidung von Ekel garantieren, kaum dagegen einen Codex verfeinerter Sitten bieten. In ihnen läßt sich deshalb für unser Thema so gut wie nichts gewinnen; vgl. die Texte bei: Andreas Winkler, Selbständige deutsche Tischzuchten des Mittelalters. Texte und Studien, Diss. Marburg 1982 oder die Sammlungen: Thomas Perry Thornton (Hg.), Höfische Tischzuchten. Nach den Vorarbeiten Arno Schirokauers (Texte des späten Mittelalters 4), Berlin 1957; Thomas Perry Thornton (Hg.), Grobianische Tischzuchten. Nach den Vorarbeiten Arno Schirokauers (Texte des späten Mittelalters 5), Berlin 1957. Auch Harald Haferlands Untersuchung zur höfischen Interaktion: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), München 1989, enthält nur wenig Material zum Thema (etwa unter ›Höflichkeit‹, S. 172–179). So sind selbst die eher rohen Vorschriften der Tischzuchten mit ethischen oder religiösen Konnotationen verklammert: in ›Tannhäusers‹ Hofzucht‹ fördern gute Manieren bei Tisch das Seelenheil (V. 228–231); Gottes wird nicht nur bei den Tischgebeten gedacht, und in jedem Fall sind êre und zuht das Ziel.
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dies im mittelalterlichen Gesellschaftsverband der Fall ist, da er über personale Beziehungen aufgebaut ist – triuwe Inbegriff aller funktionierenden und harmonischen gesellschaftlichen Beziehungen ist. Doch wird im höfischen Roman auffälligerweise der Verstoß nicht als spektakulärer Treuebruch erzählt, als Verrat also wie etwa im ›Nibelungenlied‹, sondern als scheinbar kleine Abweichung, so klein, daß sie anfangs vom Handelnden selbst nicht einmal wahrgenommen wird, er vielmehr erst auf sie hingewiesen werden muß. Dies geschieht – exemplarisch im ›Iwein‹ und im ›Parzival‹ – nicht vor Gericht, sondern vor der Instanz, die allein solche Verstöße zu ahnden befugt ist, vor der um König Artus versammelten Hofgesellschaft. Auch im ›Erec‹ ist diese Instanz latent anwesend, wenn Enite über Erecs Einbuße an Ehre klagt, denn was sie vor sich hin spricht, ist nur das Echo dessen, was ›man‹ sich von Erec sagt. Für die Verfehlung des Helden im Artusroman ist keine Rechtsinstanz zuständig, nicht das Hofgericht (wie etwa nach Hagens Hortraub oder dem Verrat an Roland), das Opfer der Verfehlung ist nicht zur Selbsthilfe mit der Waffe im Rahmen des Rechtsinstituts der Fehde aufgerufen (wie z.B. die Gefolgsleute nach Siegfrieds Ermordung), sondern angesprochen ist ein informeller Kreis derer, die wissen, was man zu tun hat, und der deshalb den Übeltäter, der in Wahrheit keiner ist oder sich nicht so fühlt, tadeln und ausschließen soll. Der informelle Charakter wird noch dadurch unterstrichen, daß dieser Kreis keine wirklichen Sanktionsmöglichkeiten hat, er manchmal die Reaktion des Helden auf den Vorwurf nicht einmal als angemessen billigt und diese Reaktion daher als Akt der Selbstbestrafung erscheint. Auf der Erzähloberfläche erscheint der Anlaß der Krise als verhältnismäßig geringfügig – ein unbedachtes Wort über den Ehrverlust des Helden, der zuviel sich der minne widmet, ein im Überschwang ritterlicher Selbsterprobung versäumter Termin, eine aus ängstlichem Bemühen um gutes Benehmen unterlassene Frage. Die Folgen sind gleichwohl beträchtlich, denn sie setzen einen Prozeß der Selbstfindung in Gang, der das Verhältnis des Helden zur Gesellschaft grundlegend ändern wird, weil nämlich hinter dem vermeintlich geringen Anlaß weit mehr steckt: ein Verstoß gegen die Ehre als identitätsverbürgendes Prinzip der Adelsgesellschaft, gegen das Prinzip der Gültigkeit des gegebenen Wortes ›nach Jahr und Tag‹ und gegen die Verpflichtung christlicher compassio. Insoweit wird man den Untersuchungen, die solch tiefere Gründe herausgearbeitet haben, nur beipflichten können. Desungeachtet bleibt festzuhalten, daß auf der Erzähloberfläche eben nicht jener Fundamentalkonflikt um êre, triuwe, compassio verhandelt wird, er vielmehr im schein18
Exemplarisch Walter Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach, in: Ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 483–512, weiter ausgeführt in einer Reihe von späteren Untersuchungen des Autors.
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bar Geringfügigen camoufliert wird, dem Stoßseufzer, den niemand Fremdes hören konnte, der kleinen Verspätung, der unausgesprochenen Frage.19 Die scheinbare Geringfügigkeit registrieren sogar die Protagonisten: Erec, der seine Frau für die (doch eigentlich zutreffende) Bemerkung hart bestraft; Iwein, der über die Anschuldigung wahnsinnig wird; Parzival, der Gott jahrelang seine Kleinlichkeit übelnimmt. Gewiß werden die Helden letztlich indirekt zur Einsicht in ihr Fehlverhalten geführt, doch zunächst einmal herrscht Befremden über ein offenkundiges (wenn dann zuletzt auch scheinhaftes) Mißverhältnis. Dieses Mißverhältnis hat auch die Interpreten immer wieder beunruhigt: Wo massive Strafe ist, muß massive Schuld sein.20 In solch einer Annahme manifestiert sich das Bedürfnis neuzeitlich-bürgerlicher Wissenschaftler, für eine schwerwiegende Folge einen zureichenden, und das heißt: ihrem eigenen Verständnis gesellschaftlicher Ordnung nachvollziehbaren Grund zu finden. Dies gelingt, indem man an der gering scheinenden äußeren Verfehlung die grundlegende innere Fehlhaltung abliest. Eine solche Argumentation wird sogar von den Autoren z.T. explizit gestützt,21 was aber an der eigenartigen narrativen Verknüpfung und dem Spannungsverhältnis zwischen narrativer Organisation und Kommentar nichts ändert. In diesem Spannungsverhältnis der höfischen Romane zwischen Ethos und Form scheint sich mehr als eine – gegenüber der Heldenepik vor allem – Verschärfung der moralischen Empfindlichkeit abzuzeichnen, die nicht mehr nur das Verbrechen, sondern die zuerst kaum wahrnehmbare Verfehlung zum Maßstab nimmt, mehr auch als nur eine Verschiebung von außen nach innen. Eher bereitet sich hier die für aristokratische Gesellschaften typische Verschiebung von politischen und ethischen Alternativen auf ethisch neutrale Minimaldifferenzen vor. Warum würde sonst, wenn eine fundamentale poli19
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Gerade an Wolframs ›Parzival‹ wird das deutlich: Was Gawan vorgeworfen wird, ist ein Rechtsbruch, der massiv Regeln der Kriegergesellschaft verletzt hätte, wäre er denn wahr. Solch ein Rechtsbruch ist aber in der Erzählwelt des ›Parzival‹ bei den positiven Helden nicht zugelassen, dergleichen kennzeichnet allenfalls die Lähelin-Sippe. Dieser Vorwurf ist also gegenstandslos. Anders bei Parzival, dem mangelnde triuwe anläßlich einer Verfehlung vorgeworfen wird, für die es keinerlei Sanktionsmöglichkeiten gibt, die aber für den Helden trotzdem verheerende Folgen hat. Gewiß handelt es sich hier um ein ethisches Defizit. Es tritt aber als Konsequenz einer starren Fixierung auf einen höfischen Verhaltenscodex auf, d.h. der noch unerfahrene Parzival beweist noch nicht die Souveränität im Umgang mit Regeln, die von einem vorbildlichen Ritter zu fordern ist; deshalb wird er ja auch zuerst vor Artus und seinem Hof angeklagt und erst später vom frommen Eremiten zurechtgewiesen: Zeichen der Verklammerung von christlicher Ethik und höfischen Interaktionsregeln. Für den Artushof scheint die Verfehlung kaum zu existieren: Er entnimmt der Anklage der Gralsbotin zunächst nur die Informationen, die Parzivals Ansehen steigern: Informationen über seine vornehme Herkunft. So erklärt sich etwa die anhaltende Suche nach ›Enites Schuld‹, die wie Worstbrock gezeigt hat, gegenstandslos ist; vgl. Franz Josef Worstbrock, Dilatatio materiae. Zur Poetik des ›Erec‹ Hartmanns von Aue, in: FMASt 19 (1985), S. 1–30. Vgl. Sigunes Vorhaltungen gegenüber Parzival.
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tische oder soziale Frage zur Debatte steht, diese nicht auch als solche verhandelt? Es bleibt bei den Krisen des klassischen Artusromans ein unauflösbarer Rest, der sich am ehesten mit den voraussetzungslos verhängnisvollen Verfehlungen des Märchens vergleichen läßt.22 Ihre Bewältigung gelingt wie dort nie allein durch ethische Anstrengung, sondern schließt immer auch ein Stück voraussetzungslosen Glücks ein.23 Das Glück torpediert zwar nicht das Ethos, aber relativiert doch ein wenig seine Bedeutung: Was wäre gewesen, hätte sich Erec vor seinem letzten Abenteuer zur anderen Seite gewandt, wäre Iwein zu den Gerichtskämpfen zu spät gekommen, wäre Parzivals Schwert nicht zerbrochen und hätte er weitergekämpft, statt eine Unterhaltung über Familie und Abstammung anzufangen? Gewiß sind solche Fragen einem fiktionalen Text unangemessen, der seine Bedingungen selbst setzt, doch erinnern sie daran, daß diese Bedingungen providentielle Implikationen haben. Die Providenz ist vor allem eine höfische;24 sie sorgt dafür, daß der durch seine Verfehlung ausgestoßene Held wieder in die höfische Gesellschaft zurückfindet, und schafft die Voraussetzung für die Korrektur des Fehltritts, der zur Entfremdung geführt hatte: Indem Gott ihm das Abenteuer Joie de la cour zufallen läßt, ist Erecs Ehre wiederhergestellt (›Erec‹); Gott selbst stellt sicher, daß Iwein keine Rettungstat versäumt (›Iwein‹), und er gibt Parzival die unvorhersehbare Gnade, noch einmal Gelegenheit zur Frage zu haben (›Parzival‹). Vielleicht ist der vielbeklagte Verzicht des späteren Artusromans auf die Krise aus diesem Blickwinkel gar nicht so spektakulär, wie die an Chrétien und Hartmann orientierte Forschung suggeriert:25 Wenn die Zeitgenossen das Ausbleiben der krisenhaften Gefährdung des Helden und seines Ethos nicht gestört zu haben scheint, könnte das auch daran liegen, daß die Gefährdung auf der Oberfläche sich kaum zeigte.26 Ethische Makellosigkeit wird zur selbstverständlichen Anforderung an den Helden. Wie eng Gut-sein allerdings mit richtigem Benehmen zusammenhängt, zeigt die mehrfach erwähnte 22
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Weit eher hier als in den relativ nichtssagenden Propp’schen ›Funktionen‹, die um ihre entscheidende Dimension verkürzt werden müssen, um auf den höfischen Roman zu passen, scheint mir die von Simon herausgestellte Märchenähnlichkeit der Handlungsstruktur begründet (Ralf Simon). Für den ›Parzival‹ hat Walter Haug betont, daß nichts im Handeln und Verhalten des Helden nach der Verstoßung vom Artushof seine Wiederberufung zum Gral ›erklärt‹: Sie ist Gnade; Parzival ohne Illusionen, in: Walter Haug, Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 125– 135. Gottfried von Straßburg hat die höfische Modellierung göttlicher Vorsehung als Bedingung der Romanpoetik in der provokanten Formulierung vom wintschaffen Krist (nach V. 15739f. in der Ausgabe von Bechstein / Ganz) pointiert. Vgl. Walter Haug, Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer nachklassischen Ästhetik, in: Haug, Symbolstruktur (wie Anm. 18), S. 651– 671. Anm. 26 s. nächste Seite
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Mantelprobe in Ulrichs von Zatzikoven ›Lanzelet‹ ebenso wie das unpassendpassende Lachen der Cunneware in Wolframs ›Parzival27 oder – um ein früher kommentiertes Beispiel aufzunehmen – Konrads von Würzburg ›Engelhard‹, wo der selbstlose und rücksichtslos sich aufopfernde Freund daran erkannt wird, wie er einen Apfel teilt.28 Die Verfehlung läßt sich also nicht allein aus einer ethischen oder gar politischen Wertordnung, ihre Wiedergutmachung nicht allein aus Providenz und ethischer Bewährung ableiten. Der klassische Artusroman scheint eine Zusatzregel vorauszusetzen, die jenes latente Mißverhältnis erklärt. Sie ergibt sich aus der Struktur höfischer Verhaltenscodices, die Sanktionen für Minimalverfehlungen vorsehen. Man darf bei den Überlegungen zu tieferen Gründen der Krise des Artusritters nie die primäre Strafe vergessen, die das Vergehen spiegelt: daß nämlich die manifeste Sanktion zunächst und vor allem die Verstoßung aus der höfischen Gesellschaft ist. Für eine Zeit ›gehört der Held nicht dazu‹.
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Weit deutlicher als in der Artusepik ist die Bindung der politisch-sozialen Ordnung an Regeln höfischer Interaktion bei dem Minnesänger Neidhart erkennbar, der in einer – moderne Interpreten immer wieder befremdenden Weise schlechtes Benehmen und universelle Katastrophe kurzschließt: Solange die dörper sich so aufführen, wie Neidharts Sommer- und besonders Winterlieder unablässig beklagen, ist es nicht nur nichts mit dem Liebesbegehren des Sänger-Ich, nicht nur nichts mit höfischer Minne überhaupt, sondern es geht auch sonst alles drunter und drüber, in der Umgebung des Riuwentalers, im Herzogtum, in der Welt. Gewiß erzählen die Lieder unablässig auch von Gewaltakten der dörper, die solch ein Urteil rechtfertigen könnten, von groben Zudringlichkeiten ge26
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Viel wichtiger als die Krise ist der Zustand der Selbstentfremdung, den auch angeblich makellose Artushelden zu durchlaufen haben. Die Fixierung auf inneres Verschulden verdankt sich den Präferenzen späterer Literatur und späterer Literaturwissenschaft. Ich hoffe, anderwärts zu zeigen, daß sie dem höfischen Roman unangemessen ist (womit das Skandalon beseitigt wäre, daß man gerade einmal zwei Muster-Artusromane (›Erec‹, ›Iwein‹), eine Komplizierung des Schemas (›Parzival‹) und sonst nur Trivialisierungen hat). Cunnewares Lachen wird von Keie bestraft, weil es eine Aussage über das Ethos desjenigen, über den sie lacht, enthält. Bestraft wird nicht die Ungezogenheit oder mangelnde contenance (die doch bei Parzivals Auftritt naheläge), sondern das ethische Fehlurteil (das sich dann letztlich als richtig herausstellen wird). Das Lachen ist ein typischer ›Fehltritt‹ angesichts der Verklammerung von Ethos und Interaktionsregeln. Jan-Dirk Müller, Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹, in: Jb. d. Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 3 (1984/ 85), S. 281-311, hier bes. S. 299-301.
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genüber der Frau – Bedrängen und Betatschen, selbst Vergewaltigung –, von Drohungen, Rempeleien oder direkten Attacken auf den Sänger bis hin zu Fehdehandlungen wie Zertrampeln einer Wiese (WL 17, V 6) oder Brandstiftung (WL 11, VII 1) oder von blutigen Streitigkeiten der dörper untereinander und von Usurpation adliger Privilegien im Dienst des Landesfürsten (WL 28, VIII 7–IX 4; WL 29, VIII 1f.; WL 34, IX u.ö.): alles in allem wahrlich nicht nur harmlose Störungen von Ordnung. Auffällig ist jedoch, daß solche manifesten Bedrohungen in Neidharts Liedern meist in einem Atemzug und mit demselben Ton der Empörung beklagt werden wie scheinbare Kleinigkeiten: die degoutant geschnittenen Wämser der dörper, ihre von keinem Haarkünstler zu bändigenden Frisuren, ihre sperrigen, ungeschickt gehandhabten Waffen, ihre prätentiöse Sprache mit einem affektierten und falschen ›flämischen‹ Akzent, das mißtönende Geleier oder Gegröhle, das sie für Musik halten, der alberne Gang, die plumpen und verdrehten Bewegungen beim Tanz, die die Tanzpartnerinnen schmerzhaft zu spüren bekommen. In dieser Welt sind die ›feinen Unterschiede‹ längst nicht alles, im Gegenteil geht es durchweg um beträchtliche und ernsthafte Übertretungen. In der Kritik an ihr aber sind Rechtsbruch und Geschmacklosigkeit gar nicht weit auseinander; in den dörpern sind beide aneinander gekoppelt, und sie sind – vornehmlich in den Winterliedern – beide unablässig bejammerter Gegenstand. Dank dieser Koppelung können läppische Verfehlungen und rechtlich relevante Vergehen füreinander eintreten. Insofern täuschen sich die Interpreten über die angebliche »Banalität der Vorfälle«, aus denen Neidhart seine Empörung bezieht,29 denn nicht nur haben auch jene »Banalitäten« verheerende Folgen, sondern »Banalitäten« sind sie nur für unsere funktional differenzierte Welt, in der die Sphären der Politik, des Strafrechts, der Moral und des Benehmens klar gegeneinander profiliert und untereinander hierarchisiert sind. In Neidharts Welt verläuft die Grenze zum Banalen offenbar anders. In stratifikatorischen Gesellschaften wie der höfischen des hohen Mittelalters ist der entscheidende Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen die (Oberschichten-)Interaktion.30 Tatsächlich treten die Konflikte, die Neidhart thematisiert, überwiegend als Interaktionskonflikte auf. In der Interaktion ist aber eine Ungeschicklichkeit oder ein Formverstoß ebenso störend wie gravierendere Vergehen (mögen deren Auswirkungen auch nachhaltiger sein). Interaktionsregeln können das eine so wenig wie das andere dulden. Zwischen geschmacklicher Entgleisung, tölpelhaftem Betragen, Anmaßung, allzu 29
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So schreibt Elisabeth Lienert (Spiegelraub und rote Stiefel. Selbstzitate in Neidharts Liedern, in: ZfdA 118 [1989], S. 1–16): »Daß der Sänger jeden neuen Vorfall im für ihn typischen Überbietungsgestus als immer noch unerträglicher hinstellt als den letzten, macht ihn lächerlich und entlarvt die Banalität der Vorfälle« (S. 14). Luhmann (wie Anm. 1), S. 84 u.ö.
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gewagtem Scherz, frechem Übergriff, sexueller Aggression und Rechtsbruch gibt es bruchlose Übergänge. Das schließt nicht aus, daß das Mißverhältnis zwischen den im einzelnen beklagten Vorfällen, die paranoid scheinenden Kurzschlüsse zwischen dem Lauf der Welt und den Erfahrungen im Nahbereich, von Neidhart immer wieder komisch ausgeschlachtet werden; verhandelt werden beide als Probleme scheiternder Interaktion.31 Schon Wolfram von Eschenbach hat sich im ›Willehalm‹ über Neidharts ewige Klagen aus nichtigem Anlaß lustig gemacht:32 Den vriunden klagen muß man in der mittelalterlichen Feudalwelt, wo kriegerische Auseinandersetzungen drohen: Man sucht sich bei Verwandten, Vasallen, sonstigen Verbündeten Schutz und Unterstützung und erwartet von ihnen rât unde helfe gegen den fremden Aggressor. Mit dem Rechtsterminus klagen ist bekanntlich mehr angesprochen als eine harmlose Beschwerde. Aber genau auf Anlässe zur Beschwerde scheint Neidhart seine Klagen zuzuspitzen. Fehdevokabular (ureliuge, widersagen, tratz, gewalt, schade, gevêch u.ä.) wird auf das Minneverhältnis übertragen, nicht nur, wie im hohen Minnesang häufiger, auf das Verhältnis Sänger – Dame,33 auch nicht auf das Verhältnis Sänger – Rivalen/Merker (in dem Gewalt tabuisiert ist)34, sondern auf die die Rivalität überlagernden differenten Lebensformen und ihre Protagonisten, den Riuwentaler und die dörper.35 Die ungenâde der Dame (WL 17, II 8), ihre Feindschaft (WL 16, II 6) wird überboten durch die ungenâde eines geteling (WL 16, III 2). Die Klage über das Zerstörungswerk der minne (WL 17, II) mündet in die Klage Mir schat Engelbolt … (WL 17, III 1); nimmt man die Fortsetzung des Liedes als Explikation dieses schaden, dann besteht er in einem zügellosen Tanz (III 9) und im Nicht-ausweichen auf der Straße. Der Haß ist gegenseitig und beiderseits lächerlich begründet: er ist mir gevêch (IV 1), denn ›er‹ schiebt es ›mir‹ zu, daß ›sie‹ ihm beim Tanz die Hand entzog: seht, daz was im leit! / sînen vriunden er kleit … (IV 5f.). Die Gegenvorwürfe sind nicht besser: Er ist tump unde geil, ein alberner Gang, bunte Schuhe, Zertrampeln der Wiese, laut-störende Liebeslieder (V). Sind das Fehdegründe? Natürlich hat eine Reihe der 31
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Ablesbar ist das an der Gestalt der Vrômuot – Allegorie höfischer Freude, des harmonischen Umgangs der Mitglieder der Hofgesellschaft untereinander (und als solche, wie noch zu sehen, aufs engste mit Vrideruns Spiegel verknüpft), und zugleich Inbegriff funktionierender politischer Ordnung. Willehalm, 312, 12–14. Etwa Friedrich von Hausen 46,9; 52,17; 52,37; 53,22; so auch WL 16, II 6; WL 17, II 3– 6. Friedrich von Hausen 50,19 oder Reinmars angestrengte Haltung der Selbstkontrolle. Zitiert nach: Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner. fortgeführt von Hanns Fischer. 4. Aufl. revidiert von Paul Sappler. Mit einem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer, Tübingen 1984. Ich folge der Zählung dieser Ausgabe. Dabei konzentriere ich mich auf die in R überlieferten Strophen, zu denen nur ausnahmsweise solche aus anderen Handschriften treten.
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›Übertretungen‹ massiv sexuellen Nebensinn und erfordert ethische Sanktionen: vom ›Abweichen vom Weg‹ ist die Rede ›nach Blumen springen‹, von ›Niedertreten des Grases‹, von obszönen Liedern – aber vorgetragen werden solche Vorfälle im Kontext von Empörung über gemalte Schuhe. Exemplarisch zeigt diese dauernde Verwechslung der Ebenen, das Changieren zwischen ›Fehlern‹ ganz unterschiedlicher Art, das WL 24.36 An seinem Beginn (I, II) steht eine Natur- und eine Minneklage, die überraschenderweise auch über einen Rivalen um die Gunst der vrouwe klagt, Hildebolt. Von ihm und einem Willeger37 ist dann weiter die Rede, in der Form offener Polemik gegen die Rivalen: Der ist nû der tumbist unter geilen getelingen (III 1); er lasse sich nicht aus ›ihrer‹ Nähe verdrängen (III 3); im Gegenteil habe der twerhe[] blic der beiden (III 5) den Sänger vertrieben (III 6). Plötzlich sind es mehr (sô manger), die ihn von lieber stat gedrungen haben (IV 1). Aus Rivalität um die Gunst der Frau wird ein handfester Konflikt. Ablesbar ist er an der Art und Weise des Tanzes: oedelîchen wart von in ûf mînen tratz gesprungen (IV 3). ›Fehltreten‹ hat hier eine ganz wörtliche Bedeutung: Der plumpe bäuerliche Springtanz – die Abweichung also von einem höfischen Bewegungsvokabular – ist Herausforderung für den höfischen Verhaltenscodex, und dies wird gewalt (IV 4) genannt, die daran schuld sein soll, daß der Sänger vorzeitig altert. Zwar kehrt der folgende Vers (IV 5) zum Minnediskurs zurück (ein kleiner Gunstbeweis der Dame nährt neue Hoffnung), doch nur um den Kontrast zur folgenden Tirade gegen die dörper zu steigern. Die Empörung beißt sich noch mehr an Kleinigkeiten fest: gerne mugt ir hoeren, wie die dörper sint gekleidet: üppiclich ist ir gewant (IV 6). Das wird in V 1f. (und X) detailliert: übertrieben modische Kleider, monströse Waffen und Rüstung (röcke, schaperûne, hüete, schuohe und hosen). Die Geschmacklosigkeit der Rivalen, gipfelnd in seidenen Beuteln (phellerîne phosen), ruft den Vergleich mit dem ominösen (noch näher zu untersuchenden) Spiegelraub durch Engelmar herauf, mit dem, Neidhart zufolge, doch alles Unheil in der Welt anfing. Jetzt erfährt man, daß der Spiegelraub nicht so 36
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Die Strophen zu diesem Lied in Handschrift R müssen in dieser Form keine Liedeinheit gebildet haben. Vor allem die scheinbar ›biographischen‹ Aussagen über den Sänger in Str. VII u. IX (= R 7 u. 8) scheinen locker angefügt; Str. VIII ist ohnehin nur in c überliefert. In jedem Fall bilden die Strophen I–VI in R (und auch in A) eine sinnvolle Abfolge, zu der auch Strophe X (= R 9, nicht in A) – möglicherweise als Amplifikation (oder Ersatz?) von V (= R 5) – paßt. Ich beziehe mich im folgenden nur auf diese Strophen. In diesem Lied wird die Strophengrenze durchweg überschritten. I und II sind durch einen Vergleich verbunden. III schließt an II durch nähere Charakterisierung des zuletzt (II 6) genannten Hildebolt an. IV nimmt den Vorgang des Verdrängens auf (III 6). In IV 6 wird das Thema angeschlagen, das dann V beherrscht (der unmögliche Aufzug des dörper). Am Ende wird von einem gewaltsamen Übergriff erzählt, und von dem Streit, der daraus entsteht, berichtet (VI).
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schlimm ist wie jener modische Mißgriff. Mit der Empörung über die modische Extravaganz verbindet sich wieder die über sexuelle Aggression: … ich nîde ir phellerîne phosen, die si tragent: dâ lît inne ein wurze, heizet ingewer, der gap Hildebolt der guoten eine bî dem tanze; die gezuhte ir Willegêr. (V. 4–6)38
Daraus erwachsen neue Gewaltsamkeiten zwischen den dörpern, die die Flucht des höfischen Sängers zur Folge haben.39 Rivalität bei der Frau, Bedrohung des Riuwentalers, unpassende Kleider, angemaßte Waffen, sexuelle Protzerei und Aggression mit der wurze, blutiger Kampf miteinander – das geht alles ineinander über. Durch Aufzählungen dieser Art verschieben sich die Gewichte zwischen manifesten Fehdehandlungen (wie sie sich in einigen Liedern andeuten) und mehr oder minder harmlosen Verfehlungen und Geschmacklosigkeiten. Alle diese Formen abweichenden (dörperlichen) Verhaltens bilden für Neidhart ein Kontinuum. Fehdewürdiges Verbrechen und Geschmacksverirrung sind die beiden Extrempunkte eines und desselben Fehlverhaltens.
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Frideruns Spiegel
Ungefähr in der Mitte zwischen den Rechtsbrüchen, die der Sänger anprangert, und den Geschmacksverirrungen, über die er sich aufregt, steht der ›Raub‹ von Frideruns Spiegel durch den dörper Engelmar. Ohne daß Neidharts Hörer jemals ein genaueres Bild erhielten, was genau vorfiel,40 werden sie in Sommer- wie Winterliedern immer wieder an diesen Vorfall erinnert. Mit ihm fing alles an; an ihm wird alles gemessen, was sonst noch an den dörpern reizt, von ihm ging alles aus, was seither an Ungeheuerlichem noch geschah. Dank dieser Verklammerung kann der Spiegelraub – ein scheinbar geringfügiges Vergehen – am Scheitern höfischer Minnewerbung das Scheitern von gesellschaftlicher Ordnung überhaupt erklären. 38
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Was auf der Erzähloberfläche kohärent (und harmlos) scheint, weist mit den herausgeputzten ›Beuteln‹, der phallischen ›Wurzel‹ und dem ›Wegreißen‹ auf sexuelle Aggression. Die Kämpfe werden in späteren Fassungen ausphantasiert. Va bringt den Streit mit dem sog. Faßschwank in Verbindung; VIa verknüpft ihn mit dem Potenzgeprotze eines weiteren dörpers; Xa und Xb erzählen von den dörpern als waffenstarrenden Feiglingen. Edith Wenzel, The never-ending Neidhart-Story: Vriderûn and her Mirror, in: Sibylle Jefferis (Hg.), New Texts, Methodologies, and Interpretations in Medieval German Literature (Kalamazoo-Papers 1992–1995; GAG 670), Göppingen 1999, S. 41–58; hier S. 47. Wenzel verzeichnet die ältere Literatur. Um eine Rekonstruktion der Vorgänge ist Ulrich Gaier besorgt: Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart, Tübingen 1976, S. 25f.
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Als ›Spiegelraub‹ ist der Vorfall in die Mediävistik eingeführt; der Terminus roup kommt aber bei Neidhart nicht vor. Meist wird in den Liedern mit neutraleren Bezeichnungen an den Vorfall erinnert: Engelmar nam den Spiegel (WL 26, V 7), Friderun vlôs ihn durch Engelmar (WL 23, V 1). Der Status des Vergehens verschiebt sich damit ein wenig; roup ist eine schwer inkriminierte Fehdehandlung (wie brant) und wird mit entsprechend schweren Sanktionen bedroht; ohne Zweifel wird auch hier ein Gegenstand entwendet und widerrechtlich ›bis heute‹ angeeignet (WL 32, V 7); auch geschieht das ohne Zweifel gewalteclîchen (WL 15, II 2; WL 27, V 9), und gegen Frideruns Willen (WL 18, IV 3); gewalt zeigt außerdem die heftige Gebärde an – Engelmar brach ihn ihr von der sîten (SL 22, VI 8; WL 32, VI 8). Aber trotzdem, roup wird das explizit nicht genannt. Gegenüber der breiten Forschung, die sich der Bedeutung des Spiegelraubs angenommen hat,41 ist der schlichte sprachliche Befund festzuhalten: Der Übergriff wird explizit nicht als gravierender Rechtsbruch stigmatisiert. Das schließt nicht aus, daß er in Neidharts Welt den Charakter eines peccatum originale annimmt. Doch was für eines peccatum? Daß sie sich Fremdes aneignen, ist immer wieder ein Vorwurf gegen die dörper, und auch mit gewalt ist das meist verbunden. Frideruns Spiegel ist insofern ein Beispiel unter vielen Übergriffen. In diesem Fall richtet sich die Aggression nicht gegen den Ritter-Sänger, sondern gegen ein Mädchen, das offenbar zur Gemeinschaft der dörper gehört, doch auch das kommt in anderen Liedern vor. Der Spiegelraub gehört also in die lange Reihe der Zwischenfälle, die Neidharts Lieder unablässig beklagen.42 Was also ist der Spiegelraub? Nimmt man die zahlreichen, untereinander durchaus nicht widerspruchsfreien Anspielungen Neidharts zusammen, so läßt sich etwa Folgendes erkennen: Der dörper Engelmar hat Friderun einen 41
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Frederick Goldin, Frideruns Mirror and the Exclusion of the Knight in Neidhart von Reuental, in: Monatshefte 54 (1962), S. 354–359; Helmut Birkhan, Zur Datierung, Deutung und Gliederung einiger Lieder Neidharts von Reuental, in: SBB. d Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-histor. Klasse, Wien 1971, S. 1–64; Gert Kaiser, Narzißmotiv und Spiegelraub. Eine Skizze zu Heinrich von Morungen und Neidhart von Reuental, in: Kathryn Smits u.a. (Hgg.), Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Fs. John Asher, Berlin 1981, S. 71–81; Hans-Dieter Mück, Ein politisches Eroticon. Zur Funktion des Spiegelraubs in Neidharts Liedern der Handschrift c (Mgf 779), in: Ulrich Müller u.a. (Hgg.),‹Minne ist ein swærez spil‹. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, Göppingen 1986, S. 169–207; Gaier (wie Anm. 41), S. 29–33; Lienert (wie Anm. 30); Wenzel (wie Anm. 41). Gaier (wie Anm. 40), S. 30. Gaier versucht, hinter die Geschichte des Spiegels im Liebesverhältnis des Sängers zu kommen, was den Texttypus seltsam verfehlt. Seine Deutung, der Spiegel sei »so ungemein wichtig, weil hier zum ersten Mal ein Mädchen nicht mehr zu ihm [dem Sänger] hält« (S. 32) basiert auf einer biographistischen Auffassung von Minnesang, wie sie in der Mediävistik seit den 1940er Jahren obsolet ist.
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Spiegel entrissen (›gebrochen‹). Der Spiegel war an einer spiegelsnuor befestigt, die Friderun selbst aus Seide geflochten hatte (WL 23, V 8–11); die Schnur wurde zerrissen.43 Es war ein kleiner Spiegel, von der Größe eines Schwertknaufs (WL 16, III 8f.).44 Friderun trug ihn an der sîten (SL 22, VI 8; WL 32, VI 8). Den Übergriff soll man sich bei Gelegenheit eines Tanzes vorstellen, an dem Friderun teilnahm und dem Engelmar zuschaute (so deutet SL 22, IV 4 f.; 8 an); etwas später folgt in diesem Lied nämlich die Klage, daß Engelmar ihr den Spiegel wegnahm (SL 22 I). Auch ein Vergleich legt die Situation des Tanzes nahe: So wie damals Friderun den Spiegel Alsô vlôs mîn vrouwe ir vingerrîde, / dô si den krumben reien ûf dem anger trat (WL 18, IV 1f.). Schon die alten Neidhart-Handschriften (A, C, R) enthalten weitere Einzelheiten, die mit den bisherigen nicht ganz zusammenstimmen und wohl deshalb von den Herausgebern der Neidhart-Lieder als unecht angesehen wurden:45 Der Spiegel der was von helfenbeine, wæhe, ergraben kleine,46 also fein und aus wertvollem Material gearbeitet und verziert; die kostbare Schnur stammt aus Irland, d.h. von weit her und war mit Tieren von rôtem golde bestickt.47 Jedenfalls herrscht trotz widersprüchlicher Details der Eindruck vor, es handele sich um einen sehr kostbaren Gegenstand: einen Luxusartikel, der auf eine elitäre – höfische – Gesellschaft verweist. Wie kommt er in den Besitz Frideruns? Dunkel bleibt der Zusammenhang mit der Werbung des Sängers, selbst in SL 22, das am meisten davon erzählt: Friderun war die Geliebte des Sängers; er hat ihr einen wol getânen kranz verehrt (SL 22, II 8). Das könnte in den höfischen Kontext des Maitanzes gehören.48 Aber das Lied richtet sich eher an ein ländliches Gegenüber: stolze mägde, ir sult ein niuwez tîchen. / … tuot, als ich iuch lêre, / strîchet iuwer kleider an! (III 3; 7f.); die Mädchen sollen sich zu einem ausgelassenen Tanz herrichten (stroufet ab die rîsen, IV 2), an 43 44 45
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âne golt ûz glanzer sîden … sîdenslaht (WL 23, V 9f.). Das spiegelglas im Schwertknauf soll der Geliebten als Spiegel dienen. Ich halte diese Herausgeberentscheidung für falsch. Mindestens sollte versucht werden, bei der Herstellung eines Liedes die Version einer Handschrift zugrundezulegen, statt auszuwählen und nach Gusto zu kombinieren (zu den textkritischen Problemen künftig: Edith Wenzel / Horst Wenzel, Die Handschriften und der Autor – Neidharte oder Neidhart [erscheint in der Festschrift Tervooren]). Es ist bei Neidhart durchaus denkbar, daß die Verwirrung beabsichtigt ist; vgl. Jan-Dirk Müller, Strukturen gegenhöfischer Welt. Höfisches und nicht-höfisches Sprechen bei Neidhart, in: Kaiser / Müller (wie Anm. 1), S. 409–451. Besonders wirr und willkürlich ist in der gängigen NeidhartAusgabe die Herstellung des SL 22, die ursprünglich die Strophen VIa, VIb, VId und VIe ausschloß, obwohl sie sich durchaus in der Neidhart-Handschrift R finden, die doch nach wie vor als die dem Autor nächste angesehen wird. Es ist ein unbefriedigender Kompromiß, sie jetzt, zusammen mit ›unechten‹ Strophen aus anderen Handschriften, zur Strophenfolge VIa–e zu ordnen, die es so nirgends gegeben hat. Nach SL 22, VId 4f. = R 9, Nach SL 22, VIe 3–7 = R 10. Vgl. etwa Walther von der Vogelweide La 74,20, Nemt vrouwe disen kranz.
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dessen Spitze Friderun tanzt (Vriderûn als ein tocke / spranc in ir reidem rocke / bî der schar, IV 4–6), heimlich von Engelmar beobachtet (des nam anderthalben / Engelmâr vil tougen war, IV 7f.); der Sänger scheint Tanzmeister. Dann verschiebt sich die Blickrichtung wieder,49 weg von Engelmar, wieder auf die Tanzszene allgemein, mit dem Sänger in der Mitte:50 Dô sich aller liebes / gelîch begunde zweien, / dô sold ich gesungen haben den reien (V 1– 3). Doch dazu kommt es nicht: wan daz ich der stunde / niht bescheiden kunde (V 4f.). Der Sänger bleibt aus der sumerwünne, die manegem herzen vreude gît (V 6f.) ausgeschlossen, und dies scheint auf den ›Raub‹ vorauszudeuten. Dieser Anschluß ist auch Ausgangspunkt der folgenden Strophe. Die nochmalige Aufforderung, ›jetzt‹ vorzusingen (Nu heizent sî mich singen, VI 1), wird mit anderen Verpflichtungen zurückgewiesen: ich muoz ein hûs besorgen (VI 2). Doch die ratlose Frage wie sol ich gebâren (VI 4) scheint durch die rückblickende Klage über Engelmars Vergehen begründet: Mirst an Engelmâren / ungemach, / daz er Vriderûnen / ir spiegel von der sîten brach (VI 6–8). Dem schließen sich in R noch vier Strophen an, die um das Ereignis kreisen; für unsere Frage enthalten sie nichts Neues, die üblichen Konflikte mit dem Personengewirr.51 Fest steht nur: Engelmar übt gewalt (VIb 6; vgl. VId 7), und es gibt eine Parteiung mit unklaren Zugehörigkeiten. Neidhart legt auf eine kohärente Narration augenscheinlich keinen Wert, sondern allein auf Umrisse eines Konfliktes: Der Sänger wird aus der Mitte des Festes verdrängt. Von zwei Seiten ist das Fest gestört, durch die Daseinsfürsorge (hûssorge), die dem, der die höfischen Werte zu formulieren hätte, keine Muße gestattet, und durch den, der eigentlich nicht dazugehört, aber sofort seinen Vorteil aggressiv nutzt. Im Zentrum der entwendete Spiegel: Der het ir genomen / in schimphe ein tockenwiegel / daz hiet wir verklaget, niewan der spiegel (VId 1–3 [= R 9]). 49
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Zu solch dauerndem Perspektivenwechsel vgl. Jan-Dirk Müller, Präsens und Präsenz. Einige Beobachtungen zum Tempusgebrauch bei Neidhart (erscheint in der Festschrift für Wolf Stempel). In c (zitiert in der Herstellung der Ausgabe) ist auf Situationskohärenz geachtet: Erst nachdem der Tanz geordnet ist, schließt sich (als c 5) die Strophe mit der Kranzgabe des Sängers an Friderun an (R 2 = II), ihr antwortet Engelmars Abwehr: Darumbe wil si aber / Engelmâr vertriben (c 6; anders dagegen R 8: Engelmar will dort in, einen ungenannten Rivalen, vertreiben, den vriunt (VIa,7), der offenbar Friderun gegen Übergriffe schützt); daraus erwächst Frideruns Ärger über Engelmars Nachstellungen, auf die der Sänger mit dem Rat reagiert: Friderûn! fliuch gein Riuwental (c 7). Erst dann folgen die beiden Strophen, an deren Ende der Spiegelraub steht (V und VI = R 5 u. 6). Fügt auch dieser weitere dörper ihr – mit noch einem anderen – leit zu (VIa 6)? Oder bezieht sich er kan sich deheiner dinge mâzen (VIa 3) schon wieder auf Engelmar? Unklar ist auch der genaue Bezug zwischen den Strophen VIa und VIb. Bezieht sich si auf vriunt in der voraufgehenden Strophe, auf jene Instanz, die es dem anderen Belästiger nichts durchgehen läßt? (Plural oder Singular? Vgl. VIa 7f. und den Apparat zum Anschluß von VIb.
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Wer ist Friderun? Das Opfer heißt die liebe Vriderûn; lieb heißt diejenige, ›die dazugehört zu uns‹. Das unterscheidet sie von den männlichen toerschen dörpern sonst: an der lieben Vriderûne huop ez Engelmar (WL 25, VII 12). Andererseits ist der Name mehrdeutig. Er enthält als zweiten Bestandteil das ominöse rûnen, heimliches und deshalb verbotenes Liebesgeflüster, wie es die regelgerechte Minnewerbung eigentlich ausschließt, das aber zum Ärger des Sängers mehr Erfolg bei den Frauen hat als höfischer Gesang.52 Hängt das Wegnehmen des Spiegels vielleicht damit zusammen, daß sie gar nicht die unberührbare Minneherrin ist? Umso mehr fällt auf, was der Übergriff gegen sie für Folgen hat. Auch andere Übergriffe der dörper haben erotische Konnotationen: der geraubte oder usurpierte Ring (WL 18, IV 1; WL 34, VIII 9), die zerrissenen Kleidungsstücke oder – in der Metaphorik am nächsten – der Schwertknauf, in dessen ›Spiegel‹ sich nach Willen eines dörpers das Mädchen ›ersehen‹ soll. Das scheint einen erotischen Akt der Hingabe zu meinen, den der Mann vom Mädchen erwartet (WL 16, III 10), den aber das Mädchen verweigert (IV 1), denn: ich bekenne iuch niht an iuwer hövescheit sô kluogen (IV 4). Das scheint wieder dem plumpen dörper die Verantwortung zuzuweisen; die Fortsetzung freilich läßt an dieser Rollenverteilung wieder zweifeln, denn das Mädchen kontert: liupper, heime ich noch hân guoter spiegel drî (IV 7): Wenn solch ein Spiegel gar nichts Einmaliges ist, wenn dörper-Mädchen mehrere davon haben, wie kann dann, ihn zu rauben, so schlimm sein? In jedem Fall scheint das Entreißen des Spiegels ein Akt gewaltsamer sexueller Bemächtigung. Es geht um mehr als um die Entwendung eines Galanterieartikels. Das ist der Spiegel zwar auch, so wie er auch als Glücksbringer verstanden werden kann, wenn mit seinem Verlust das Unglück einsetzt.53 Doch haben die Interpreten zurecht auf die Bedeutung des Spiegels in der religiösen und ethischen Didaxe des Mittelalters verwiesen.54 Der Spiegel fängt das Bild einer idealen Ordnung auf und wirft es zurück; in ›Spiegel‹ betitelten Werken kann der Mensch sein Selbst, wie es ist und wie es sein sollte,55 erkennen, die Anforderungen, denen er zu genügen hat, wie die Fehler, die ihn 52 53
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Müller (wie Anm. 45), S. 445–447. Helmuth de Boor / Richard Newald, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 2, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170–1250, München 1965, S. 346; Helmuth Birkhan (wie Anm. 41), S. 9; vgl. H. Bächtold-Stäubli (Hg..), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens,(1941), Berlin 1987, Bd. 9, s.v., Sp. 547– 577; hier Sp. 569. Die ältere Literatur ist bei Hubert Grabes zusammengestellt: Speculum, Mirror und Looking-glass. Kontinuität und Originalität der Spiegelmetapher in den Buchtiteln des Mittelalters und der englischen Literatur des 13. bis 17. Jahrhunderts, Tübingen 1973, S. 21ff.; Ders., Spiegelliteratur, in: LexMA Bd. 7 (1995), Sp. 2101–2105. Zu dieser Doppelbedeutung der Spiegelmetapher vgl. Sister Ritamary Bradley, C.H.M., Backgrounds of the Title ›Speculum‹ in Mediaeval Literature, in: Speculum 29 (1954), S. 100–115.
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verunstalten. ›Spiegel‹ ist daher eine verbreitete Metapher für lehrhafte Literatur, die zur Angleichung des Selbst an das bessere Vorbild oder die Ausmerzung der im Gegenüber des Spiegels bemerkten Makel anleitet.56 Das Buch als Spiegel repräsentiert den Kosmos, die rechte Lebensordnung, das Recht (Rechtsspiegel wie der Sachsen-, Schwaben-, Deutschenspiegel). Die höfische Minnelyrik hat die Spiegelmetapher aufgenommen (etwa im Narzißmotiv). Die Liebenden spiegeln sich ineinander; im Bild der / des Geliebten begegnet der/die Liebende dem besseren Selbst; in Ulrichs von Zatzikoven ›Lanzelet‹ drückt sich die vollkommene Liebe zwischen Lanzelet und Iblis darin aus, daß beide im Spiegel statt des eigenen nur das Bild des anderen sehen.57 Insofern schließt Neidhart an eine lange Tradition an, wenn er im Sich-ineinander-spiegeln ein Minneverhältnis umschreibt. Der Spiegel faßt das Liebesverhältnis als visuelles. Der Verzicht auf Berührung ist Bedingung der Idealität.58 Auch Gewalt kann über das Spiegelbild geübt werden. Die Frau zwingen zu wollen, sich im Spiegel des Schwertknaufs – das Schwert als Metonymie der von den dörpern angemaßten virilen Potenz – zu betrachten (WL 16), ist ein Versuch, sich ihrer zu bemächtigen und wird deshalb anklagend zurückgewiesen. Das gleiche geschieht in Engelmars Spiegelraub. Engelmar ergreift den Spiegel nicht nur (statt sich in ihm zu betrachten), sondern bricht ihn weg: Das Minneverhältnis ist verkehrt. Auch von der Frau kann die Verkehrung ausgehen: lîhte was der kneht ir ougen spiegelglas (WL 34, IX 5). Engelmars Tat ist ein Akt unkontrollierter und daher verpönter Rivalität.59 Auf der Gegenseite steht das egoistische Liebesbegehren des Sängers, der sich von den dörpern ausgestochen sieht, im Grunde aber dasselbe will wie sie und sich beklagt, daß er seit Engelmars Übergriff keinen Erfolg mehr hat.60 jener Engelmâr, von des schulden bin ich grîs, der hiute noch den spiegel hât, den der dörper Vriderûnen von der sîten brach, 56
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Daher ist es so empörend, daß der dörper die Geliebte zwingt, in seinen Spiegel, den am Schwertknauf befestigten, zu blicken, denn damit wird sie auf ein schlechteres Bild ihrer selbst verwiesen, der Spiegel also in malam partem gedeutet. V. 4914–4923. Dies scheint die Pointe in Heinrichs von Morungen sog. Narzißlied MF 145,1; hier 145,4: daz ez den spiegel gar zerbrach. Der Vers ich getuo ir einem sînes herzen küneginne alsam (WL 25, VII 15) deutet darauf hin, daß Friderun, ›mit der es Engelmar anfing‹, die vrouwe des Sängers ist und daß er sich an der vrouwe des anderen rächen will. Ähnlich sind wohl die Schlüsse der (als unecht gewerteten, doch in R und Cb überlieferten Strophen SL 22, VIa, VId,8 (dâ von mir al mîn vreude swant) und VIe,8 (nie geschach sô leide mir) zu verstehen. Rivalität bei ›ihr‹ ist der stereotype Vorwurf gegen die dörper. Vgl. auch WL 23, IV 12f.: mîn gelücke ist wider sî [!] sô kleine./ von iuwern schulden hân ich disiu leit, her Engelmâr.
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von der zît immer sît warp ich nimmer mêre, ich enhiete ein niuwez herzeleit. (WL 32, V 5–11)
Die Werbung scheitert am erfolgreichen Rivalen. Es gibt sogar noch erfolgreichere Weiberhelden unter den dörpern (WL 33, V 9–12). So zeigt der Spiegelraub das Scheitern höfischer minne jenseits des Hofes an. Trotzdem wird das an einem scheinbar geringfügigen Vorfall geknüpft. Unabhängig von sexueller Rivalität erhält der Vorfall aber darüberhinaus eine grundsätzliche Bedeutung, denn er richtet sich ›gegen uns‹, bedroht die Identität eines nicht näher spezifizierten Kollektivs.
Vom Zwischenfall beim Tanz zur säkularen Katastrophe
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Auch wenn man all dies in Rechnung stellt, bleibt ein irritierendes Mißverhältnis zwischen Anlaß und Folgen. Neidhart spielt es unermüdlich aus. Engelmars Tat fehlt die Unabsichtlichkeit des bloßen Versehens – sie ist mehr als ein bloßer Fehltritt –, doch erscheint sie eben auch nicht als geplantes, in seinen verheerenden Folgen bewußt herbeigeführtes Verbrechen – eher könnte man im Sinne eines Fauxpas sagen: Er benimmt sich daneben. Das wird schimph genannt; in schimphe hat er Friderun auch ein tockenwiegel abgenommen (vgl. SL 22, VId,2), aber beim Spiegel ging er zu weit; der Spiegelraub ist ein übertriebener, daneben gegangener schimph: iuwers schimpfes was ze vil (WL 23, V 7). Die Wortbedeutung von schimph reicht von ›Scherz‹ bis zu ›Beleidigung‹, hat aber vor allem auch sexuelle Konnotationen; schimphen kann Synonym für Geschlechtsverkehr sein.61 Damit kann also wieder an die erotische Bedeutung des Vorfalls angeknüpft werden. Doch die Konsequenzen gehen noch weiter: beidiu laster unde schaden sî doch nie verkôs noch verkiesen niht enwil. iuwers schimpfes was ze vil. (WL 23, V 5–7)
Laster unde schaden – Ehrverlust und materielle Einbußen – sind Folgen von Fehdehandlungen. Engelmars Nachstellungen können in diesem Horizont als Hinterhalt ausgeben werden (daz er ir torste lâgen, SL 22, VIc 462). Friderun macht den Spiegelraub deshalb auch wie eine Fehdehandlung öffentlich und 61
Die bei Lexer II, Sp. 744–746 aufgeführten Bedeutungen von schimpf und seinen Ableitungen heben eher auf die harmlose Bedeutung von ›Scherz‹ u.ä. ab, doch ist an einer Reihe von Stellen der obszöne Nebensinn unübersehbar. Mit sexueller Bedeutung heißt es in WL 8, III 1: Ich begunde mit der guoten schimphen (vgl. wenn auch weniger eindeutig V 4).
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klagt den Vorfall al ir mâgen (SL 22, VIc 5), wie man dies bei feindlichen Angriffen tut. Wie über ein Verbrechen erhebt sie öffentlich gerüefde, das den Rechtsbrecher zeichnet und die anderen zur Vergeltung aufruft.63 Die klage vor den mâgen setzt den Vorfall in Beziehung zu einem Rechtsbruch und den Prozeduren, mit denen man ihm begegnet. Allerdings entzieht sich, was geschehen ist, den üblichen Formen, Recht wiederherzustellen. Schon in R wird der Übergriff wie eine inkriminierte Fehdehandlung behandelt. Erst recht nennt die schwankhafte späte Nürnberger Handschrift c als Strafe für den entwendeten Spiegel, daß Engelmar ein Fuß abgehackt wurde, und das sei immer noch viel zu mild gewesen: jâ hât er mit dem fuoze, der im dô wart ab geslagen vergolten niht den spiegel breit, als er ze rehte solte …, wan ez ist vil ungelîch dem, daz er den spiegel brach.(WL 22, IIe, 7–10)
Abhacken von Gliedmaßen ist die Strafe für ein schweres Verbrechen, denkt man an ›spiegelnde‹ Strafen,64 dann ist es der ›Tänzer‹ Engelmar, der verstümmelt wird: der muoz nû ûf einer stelzen gân (IId,12). Aber rechtfertigt ein präpotentes und tölpelhaftes Benehmen beim Tanz gleich die Amputation eines Fußes? Und muß die Verstümmelung sogar noch durch die Rache zweier anderer dörper am Übeltäter überboten werden?65 Gewiß sind das Übersteigerungen, die in der als der autornächsten angesehenen Handschrift R fehlen, wie ja überhaupt c immer wieder weit über den alten Strophenbestand hinausgeht. Trotzdem wird in diesen Strophen nur ausspekuliert, was auch im R-Corpus angelegt ist. All die vielen Einzelheiten dörperlichen Fehlverhaltens, die die Lieder unablässig bejammern, sind Manifestationen einer und desselben Katastrophe, die darin besteht, daß dörper Minnewerbung zu spielen vorgeben und immer wieder fürchterlich danebengreifen. Neidhart spielt mit dem Mißverhältnis zwischen Anlaß und Vergel62
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Diese Strophe steht allerdings nur in Cb und c; die zitierte Formulierung findet sich allein in c, wo die angedeutete Konsequenz weitergedacht ist; in Cb steht stattdessen Gitorste ir ie ginahen, SL 22, VIc 4). Vgl. Bernd Thum, Öffentlich-Machen, Öffentlichkeit, Recht. Zu den Grundlagen und Verfahren der politischen Publizistik im Spätmittelalter (mit Überlegungen zur sog. »Rechtssprache«), in: LiLi 10, H. 37 (1980), S. 12–69. In Frideruns Fall verschlimmert das gerüefde freilich die Folgen; die Sanktion greift nicht: umbe den schal / solt dû dich nu hüeten, / Friderûn! fliuch gein Riuwental. (SL 22, VIc 6–8). Soll Friderun sich demnach, auf der Flucht vor öffentlichem Gerede, sich dem werbenden Sänger überantworten, also vor seiner Minnewerbung kapitulieren? Vgl. Ekkehard Kaufmann, Spiegelnde Strafen, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 4, Sp. 1761–1763. Hildebolt und mîn her Amelrîch / Friderûn an Engelmâren rach (WL 22, IIe,11f., nach c).
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tung. So nehmen die Folgen des Spiegelraubs die apokalyptischen Ausmaße einer Zeitenwende an und werden zum Maßstab, an dem alle anderen Unverschämtheiten der dörper gemessen werden: Diese kommen dem Spiegelraub gleich,66 oder sie überbieten ihn:67 nu ist in allen landen niht wan trûren unde klagen, sît der ungevüege dörper Engelmâr der vil lieben Vriderûne ir spiegel nam. Dô begunde trûren vreude ûz al den landen jagen daz si gar verswant. mit der vreude wart versant zuht und êre; disiu drî sît leider niemen vant.(WL 34, V 3–9).
Mit vreude ist der Kernbegriff höfischer Ordnung schlechthin genannt:68 Die kollektive Harmonie höfischer Freude ist zerstört, und zwar überall; mit der Freude verschwindet zuht als Inbegriff höfisch-kontrollierten Verhaltens, und damit ist dann auch êre, nicht etwa, wie von bürgerlicher Sexualmoral her gesehen scheinen möchte, die Ehre der beleidigten Frau, sondern das Selbstwertgefühl jedes einzelnen aus dem werden ingesinde und damit der höfischen Gesellschaft insgesamt, zerstört. Daher die pathetische Engführung von höfischer Freude und Spiegelraub: Vrômuot ist ûz Osterrîche entrunnen: wir mugen uns ir und Vriderûnen wol verkunnen. (SL 27, VIII 1 f.).
›Wir müssen auf sie und den Spiegel die Hoffnung aufgeben, auf beide verzichten‹.69 Das ganz Große und das ganz Kleine sind nur zwei Seiten derselben Katastrophe. ›Wenn jemand sie (Vromuot?) uns wiederbrächte …‹ – nur dann könnte man den Spiegel verschmerzen: den spiegel solte wir verklagen, Vrômuot ûf den handen tragen, dies uns her wider gewunnen (SL 27, VIII 3–5)
Der Riuwentaler steht mit seinem Unglück bei der Geliebten – mit Friderun falsch besetzt – für die höfische Gesellschaft insgesamt, denn der Spiegelraub betrifft alle.70 Der Bruch der höfischen Ordnung bedeutet Chaos überhaupt:
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WL 26, V 8; WL 31, VII 13; allgemeiner als Bezugspunkt WL 15, II 2; WL 18, IV 1; V 10. WL 20, II 11; WL 24, V 3f.; WL 27, V 9; WL 30, VIII 5; vgl. WL 14, II 10; WL 33, V 11f. Hans-Werner Eroms, »Vreude« bei Hartmann von Aue (Medium aevum 20), München 1970. Das Verb verkunnen ist hier wohl reflexiv konstruiert mit Genitiv der Sache.
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Sît von iuwern Vriderûn den spiegel vlôs, sô ist unbildes vil geschehen (des genuoge müezen jehen), dazs in hundert jâren nie sô vil dâ von geschach. (WL 23, V 1–4)
Von solchem, ›seit Menschengedenken unerhörten‹, nämlich ›seit 100 Jahren unbekanntem‹ Unglück handelt auch Neidharts Zeitklage in seinen religiös gefärbten Liedern, und über die Allegorie der Vromuot ist die politische Zeitklage mit diesen verknüpft: Vrômuot vert in trûren nu von lande hin ze lande (WL 29, II 1, nach R) und: Si hât mit versuochen elliu tiutschiu lant durch wallen / dazs eht leider niemen gar in ganzen vröuden vant (WL 29, III 1f.). Die abwesende Vromuot zurückholen kann nur einer, der Landesfürst. Religiöse, politische und höfische Ordnung hängen voneinander ab. Daher der dauernde Wechsel von einem zum anderen: Ein militärisches Aufgebot des Landesfürsten, das sich auch aus – grundsätzlich nicht zum Waffentragen berechtigten – dörpern rekrutiert, also die Ständeordnung gefährdet, ist nur ein Fall unter vielen Usurpationen adliger Prärogative, der zeigt, wohin es führt, wenn sich dörper so kleiden und frisieren, wie sie es tun. Engelmar überschreitet beim Tanz die Grenzen, die dem schimph beim Fest gezogen sind, und er gefährdet so die vreude als Inbegriff einer befriedeten Sozialität. Ein Verbrechen ist das kaum. Wenn er aber solch schwerwiegende Folgen an den Vorfall knüpft, dann unterstreicht Neidhart, daß die höfische Ordnung von kleinen Dingen abhängt, von dezenten Kleidern (nicht zinzerlîch, WL 30, IX 1), angemessenem Sprechen (nicht snabelræze, WL 26, V 6 noch in falschem Flämisch), kontrolliertem gebâren (nicht tretzig unde hoenic, WL 15, II 3), von schöner Bewegung auch beim Tanz (nicht oedeclîch, WL 20, II 4). Das Sündenregister eines Madelwig stellt alles auf einer Ebene: ungemach (WL 26, V 1), ungenâde (V 2), ungevüege (V 3), schließlich ungelimph (V 9). Die Antwort sind nicht (wie das bei Verbrechen oder Sünde doch sein müßte) äußere Sanktionen, sondern scham (V 9). Scham empfindet man für einen anderen, wenn er eine Peinlichkeit begeht. Man darf also auch für Frideruns scheinbar harmlosen Verlust eine ernsthafte Hintergrundsmetaphorik voraussetzen, die den Spiegel zum Zeichen einer intakten Ordnung macht, deren Symbol Engelmar nimmt, zerreißt, wegbricht,71 und muß den Spiegel doch als höfisches Requisit ernst nehmen, an dem sich zeigt, wer dazugehört und wer nicht. In diesem Kontext ist er mehr als ein luxuriöser Gebrauchsgegenstand, ein elegantes Utensil, das nicht in die 70
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In c wird das ausgesprochen: WL 22, IId 4: der uns [!] Friderûne gewaltiklîche den spiegel nam; IIe, 2: daz sul wir wol verklagen. In WL 29, IVb 1f. (nur in C und c) sind es die dorfknappen insgesamt, die hânt mir an Friderûnen leides vil getân; vgl. oben zur lieben Friderun. Anders Hans Naumann, Frideruns Spiegel, in: ZDA 69 (1932), S. 297–299; er meint, daß das Requisit beliebig ist (S. 298).
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Hand eines Engelmar gehört, und mehr auch als Symbol kosmischer Ordnung. Es ist gerade die scheinbare Geringfügigkeit, die den Spiegel zum Zeichen einer aus den Fugen gegangenen Welt qualifiziert. Nicht obwohl, sondern gerade weil der Vorfall so bedeutungslos scheint,72 ist er symptomatisch für den Zerfall einer höfischen Ordnung, die auf der kleinen Differenz basiert. Überspringt man diese Geringfügigkeit zugunsten der allegorischen Bedeutung von ›Spiegel‹, dann bringt man die Eigenart dieser Ordnung zum Verschwinden. Selbst wenn man annimmt, daß einem aufgeschlossenen mittelalterlichen Hörer jene Bildtradition geläufig war, wird auch für ihn auffälligerweise von jener Tradition abgelenkt, hin auf ein ärgerniserregendes, doch letztlich triviales Geschehen, das mit dem Pathos der Zeitenwende reichlich belastet ist.
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Mittelalterliche Hofgesellschaft und Fehltritt
Wie bei Frideruns Spiegel hat man in den Elementen dörperlichen Fehlverhaltens und Geschmacksverirrungen bloße Symptome sehen wollen, Chiffrierungen eines tiefgreifenden politischen Konfliktes, der sich zwischen aufstiegsorientierten Bauern und abstiegsbedrohtem Landadel zugespitzt habe.73 Daß es im Österreich des 13. Jahrhunderts derartige Konflikte gab, soll gar nicht bestritten werden. Literarische Texte – der ›Meier Helmbrecht‹ oder ›Seifried Helbling‹ – spielen darauf an. Auch Neidhart greift – etwa mit der Bewaffnung der dörper – die entsprechenden Reizthemen auf. Doch argumentieren seine Lieder in den seltensten Fällen auf der Ebene politischer Auseinandersetzungen, sondern mit der Verletzung höfischer Interaktionsregeln. Diese Strategie wird in den meisten Neidhart-Deutungen vernachlässigt. Man ersetzt den – in den Augen des modernen Interpreten – marginalen Fauxpas durch den nachvollziehbaren politischen Antagonismus, räumt jenem bestenfalls allegorische Zeichenfunktion ein. Damit verläßt man den Horizont einer höfischen Welt und ihrer Werthierarchien, denn eine höfische Ordnung 72
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Gaier (wie Anm. 41) bemerkt, syntaktisch ein wenig verrutscht: »Der Spiegel hat also wahrscheinlich nicht als zeichenhaftes Objekt das Gewicht, das erforderlich wäre, um einen derartigen Aufwand an Gefühlserregung aufzuwiegen« (S. 31). Dies dominiert vor allem in der älteren Neidhartforschung; zum Hintergrund vgl. Günther Schindele, ›Helmbreht‹. Bäuerlicher Aufstieg und landesherrliche Gewalt, in: Dieter Richter (Hg.), Literatur im Feudalismus, Stuttgart 1975, S. 131–211. Vor allem sozialgeschichtlich interessierte Untersuchungen identifizierten in den dörpern aufstiegswillige Bauern, deren Prätention vor allem den niederen Adel in Österreich oder Bayern bedrohte; vgl. etwa, frühere Ergebnisse zusammenfassend, Petra Giloy-Hirtz, Deformation des Minnesangs. Wandel literarischer Kommunikation und gesellschaftlicher Funktionsverlust in Neidharts Liedern, Heidelberg 1982.
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scheint in diesem Punkt nicht zwischen ›Nebensächlichem‹ und ›Wichtigem‹, zwischen ›Oberfläche‹ und ›darunter eigentlich Verborgenem‹ zu unterscheiden. Neidhart geht es um die Oberfläche, und da erscheint als Fehltritt, was sehr viel ernstere Konsequenzen hat, und eine Geschmacksverirrung ist nur ein erster Schritt auf abschüssiger Bahn. Was für die politisch-sozialen Verhältnisse gilt, gilt auch für das Geschlechterverhältnis. Die dörperlichen Fehlgriffe sind nicht nur Zeichen für die Korruption jener Geschlechterordnung, die der höfische Frauendienst eben erst zu etablieren versucht hat. Gewiß lassen sich Neidharts Lieder als satirische Darstellung (im höfischen Sinne) ›falscher‹ Geschlechterbeziehungen verstehen, die das hochgespannte höfische Minneideal desavouieren. Deshalb wird als Kern dörperlichen Potenzgehabes immer wieder Aggression gegen Frauen herausgehoben: sich vor- und herandrängen, alle übertönen, berühren, betasten bis hin zu jenem von der Forschung schamvoll umschriebenen ›kühnen Griff‹: zur Attacke auf die weiblichen Genitalien und zu ähnlichen metaphorisch kaum verhüllten Vergewaltigungsphantasien.74 Aber auch hier ist für Neidhart typisch, daß zwischen harmloseren und brutal-direkten Übergriffen gar nicht unterschieden wird, das eine in das andere übergeht. Die dominierenden Ansätze der Neidhart-Forschung – der politische wie der auf den Geschlechterkampf bezogene – tendieren dazu, die manifesten Verstöße gegen die Herrschafts- und Ständeordnung, gegen das Recht und gegen die Sexualmoral auf Kosten jener kleineren Vergehen, der Geschmacklosigkeiten, Ungeschicklichkeiten, Tölpeleien und Ungezogenheiten, in den Vordergrund zu rücken, die kleineren geradezu als Verschlüsselung jener wichtigeren zu deren Interpretation zu benutzen. Das entspricht den Werthierarchien der neuzeitlich-bürgerlichen Welt, nicht aber einem elitären höfischen Verhaltenscodex. Bei Neidhart gibt es keine scharf gezogene Trennlinie zwischen Verbrechen und Fauxpas. Dauernd wechseln die Lieder zwischen umfassender Zeitkritik und Klage über den Zustand der Welt und Gejammere über diesen oder jenen dörper und seine Albernheiten. Für eine höfische Ordnung ist das eine so wenig gleichgültig wie das andere; Neidhart führt Reflexion politisch-gesellschaftlicher Ordnung unter der Bedingung eines höfischen Codes vor, und das heißt als inszenierte Aufregung über Interaktionsverstöße. Darin steht er nicht allein, es scheint sich um ein Grundmuster höfischer Entwürfe zu handeln, nicht erst im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Zu erinnern ist an Ulrich von Liechtenstein, der den Ausbruch politischer Konflikte um den Herzog Friedrich den Streitbaren als Störung höfischer Freude bei einem Artusturnier erzählt und im Schlußteil seines ›Frauendienstes‹ eine schar74
Solche Verhaltensweisen sind in Neidharts Liedern bekanntlich nicht auf die dörper beschränkt, sondern betreffen auch den Riuwentaler als selbsternannten Repräsentanten feinerer Sitten.
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fe Trennlinie zwischen der Welt höfischen Minnewerbens und der politischmilitärischen Handelns zieht.75 Oder – um dieses Beispiel nochmals zu nennen – Konrads von Würzburg ›Engelhard‹, bei dem die Befähigung zu höfische Freundschaft am kunstgerechten Teilen eines Apfels abgelesen werden kann.76 Bei Neidhart ist es der Spiegelraub, der in einem doppelten Bezugssystem steht, in dem er Fauxpas zugleich und Signum der Zeitenwende sein kann. Der Spiegelraub ist als Minimalverfehlung das Todesurteil über eine (höfische) Gesellschaft, die sich über Minimaldifferenzen herstellt. Er ist so verhängnisvoll, eben weil er so lächerlich und nichtig scheint. Daß dahinter – wie bei der Krise des Artusromans – eine Metaphorik des Spiegels steht, die dem Vorfall exemplarische Bedeutung zuweist, soll gar nicht bestritten werden. Entscheidend ist nämlich, daß diese Metaphorik von Neidhart nicht ausgespielt wird und latent bleibt.
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Jan-Dirk Müller, Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im ›Frauendienst‹ des Ulrich von Lichtenstein, in: DVjs 58 (1984), S. 38–73. Vgl. Müller, Die hovezuht (wie Anm. 28).
Werner Röcke
Provokation und Ritual
Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman Fehltritte, davon sind auch wir überzeugt, gilt es zu vermeiden. Sie rufen peinliches Befremden oder gar Empörung hervor, wirken entehrend und provozieren häufig genug ein abschätziges Gelächter, das die Irritation über den Bruch der Konventionen ebenso zum Ausdruck bringt wie Hohn und Spott über den Übeltäter. Fehltritte also grenzen aus. Sie verstoßen gegen die Regelsysteme einer Gesellschaft, sind damit aber ebenso wie die Versuche, ihrer Herr zu werden, historisch variabel. Peter von Moos hat darauf hingewiesen, daß der Fehltritt und die von ihm provozierte Lächerlichkeit streng genommen ein Phänomen der höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit sei, 1 und in der Tat ist das Räsonnement über den Fehltritt in dieser Zeit vor allem darauf gerichtet, ihn zu vermeiden. Baldassare Castiglione z.B. hat es als schlimmen Fehltritt eines ›Hofmanns‹ bezeichnet, wenn er keine Rücksicht auf die Umstände, d.h. auf Ort und Zeit seines Auftritts bei Hofe, vor allem aber auf Interessen und Habitus seiner Gesprächspartner nehme.2 Er hat deshalb ein genaues Szenario entworfen, welche Fehltritte ein ›Hofmann‹ vermeiden soll, wenn er das höfische Ideal der Anmut (grazia) und Ausgeglichenheit (una certa onesta mediocrita)3 erreichen will: so z.B. solle er Geist und Klugheit haben, sich dem Fürsten anzupassen und keinesfalls Worte sagen, die b el ei d ig en, statt gefällig zu sein. Auch solle er auf keinen Fall s tr e i tsüc hti g wie manche sein, »die nichts anderes zu genießen scheinen, als in der Art von Fliegen lästig und verdrießlich zu werden und sich einen Beruf daraus machen, jedem ohne Rücksicht verächtlich zu wi d er s p r ech en; er wird kein eitler oder lügnerischer S c hw ä tze r sein, kein alberner Großsprecher oder Schmeichler, sondern bescheiden und zurückhaltend …« Und er sollte nicht jenen gleichen, die – wenn sie ir1 2
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Peter von Moos, Einleitung zu diesem Band S. 3–6. Baldesar Castiglione, Il libro del cortegiano, a cura di Vittorio Cian. Firenze 1907. (vgl. auch die deutsche Übersetzung: Das Buch vom Hofmann, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Fritz Baumgart, Bremen o.J., S. 117). Ebd. (=Buch vom Hofmann, S. 165).
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gendeine Ungunst erleiden oder andere begünstigt sehen – »in solche Todesangst (geraten), daß sie auf keine Weise ihren Neid verhehlen können und auf diese Weise Gelächter hervorrufen.«4 Castiglione entwirft das Bild eines zänkischen Spötters und Provokateurs, der mit seinem eitlen Geschwätz und seinem Widerspruchsgeist die Gemeinschaft des Hofes gefährdet und das Ideal der grazia mit Füßen tritt. Dieses Negativbild eines aggressiven Spötters und Provokateurs ist keineswegs auf die Hofkultur der Frühen Neuzeit beschränkt. Vielmehr entspricht es recht genau den Darstellungs- und Verhaltensmustern einer literarischen Figur, die – ca. 300 Jahre vor Castigliones ›Cortegiano‹ – zum eisernen Bestand des französischen und deutschen Artusromans gehört: der Seneschall Keu im französischen und der Truchseß Keie oder Keiî im deutschen Roman. Er zählt, nicht zuletzt aufgrund seines hohen Amtes5, zum engsten Kreis adliger Herren um König Artus und tritt – wenn auch mit interessanten Akzentverschiebungen – in den meisten Artusromanen auf jeweils analoge Weise in Erscheinung: Keie ist der Provokateur par excellence, der scharfzüngige Spötter und ebenso streitsüchtige wie geschwätzige Angeber, der auch vor Beleidigungen nicht zurückschreckt, sogar König und Königin widerspricht und es nur schwer ertragen kann, wenn ein Ritter von Artus’ Tafelrunde mehr Erfolg und mehr Ehre für sich reklamieren kann als andere. Viele der Keie-Sequenzen enden denn auch auf eine ganz ähnliche Weise: Keie selbst will einen fremden Ritter, der Artus’ Herrschaft bedroht, zum Kampf fordern, verliert den Kampf, in der Regel auf eine schmählich-demütigende Weise, ruft aber gerade dadurch ein unbändig schadenfrohes Gelächter der anderen feudalen Herren hervor. Fehltritte und Gelächter also sind hier eng miteinander verbunden. Keie spottet und wird selbst verspottet. Er ironisiert, zeigt seine Verachtung, ist ungemein streitsüchtig und wird – wie Castiglione so pointiert formuliert – den anderen Höflingen »in der Art von Fliegen lästig und verdrießlich.«6 Gleichwohl – und das scheint mir besonders auffällig – provoziert er zwar den Protest der von ihm Kritisierten, reizt ihren Ärger und provoziert schärfste Kritik. Zugleich aber sind seine Person und sein Auftreten völlig selbstverständlich akzeptiert und werden meist nur eher resigniert als engagiert zur Kenntnis genommen. Denn dieser Keie ist – gerade auch in seiner Spötterrolle und seinen 4 5
6
Ebd. (=Buch vom Hofmann, S. 130). Zum Hofamt des Seneschall oder Truchseß vgl. die entsprechenden Artikel im Lexikon des Mittelalters VIII, Sp. 1069f (Truchseß) und VII, Sp. 1751f. (Seneschall, mlat. senescalcus, frz. sénechal). Seit der fränkischen Zeit stellt der Seneschall/Truchseß den obersten Repräsentanten der königlichen Gewalt dar, der insbesondere für die Hof- und Güterverwaltung zuständig ist sowie die Aufsicht über das Personal führt. Vgl. dazu auch Werner Rösener, Hofämter an mittelalterlichen Fürstenhöfen, in: DA 45 (1989), S. 485–550. Castiglione, Cortegiano (wie Anm. 2), (=Buch vom Hofmann, S. 130).
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gut inszenierten Fehltritten – ein anerkanntes Mitglied von Artus’ Compagnie und soll keineswegs beseitigt werden. Während also im höfischen Diskurs der Frühen Neuzeit alles daran gesetzt wird, die genannten Fehltritte zu vermeiden, gehören sie im arthurischen Roman zum – zwar lästigen, gleichwohl aber als quasi selbstverständlich vorausgesetzten Ensemble von möglichen Verhaltensdispositionen bei Hofe. Damit aber wird im poetischen Entwurf des 13. Jahrhunderts eine ganz andere Gewichtung und wohl auch Deutung von Fehltritten bei Hofe sichtbar, die im Zivilisationsschub des 16. Jahrhunderts ausgegrenzt und tabuisiert werden, hier aber noch als selbstverständlich akzeptiert, vielleicht sogar für notwendig erachtet werden. Im folgenden gehe ich der Frage nach, ob und inwieweit Keies Fehltritte als notwendig anzusehen sind und diese Notwendigkeit aus der labilen gesellschaftlichen Ordnung der Artusgesellschaft erwächst: einer ›primitiven Gesellschaft‹ oder einer »Gesellschaft ohne Staat«7, die unterschiedliche Spielregeln ausgebildet hat, vielleicht sogar ausbilden mußte, um nicht an der latenten Gewalt ihrer Mitglieder und d.h. an der fortwährend drohenden Rivalität der Herren von Artus’ Tafelrunde zu zerbrechen. Diese »ungeschriebenen Gesetze«8 betreffen auf der einen Seite die unterschiedlichsten Formen der Konfliktvermeidung, wie z.B. die Distanznahme im Falle eines drohenden Konflikts; oder den Abbruch der Kontakte; Bemühungen um eine Eindämmung oder gar Reglementierung der Gewalt.
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Pierre Clastres, Zur Frage der Macht in den primitiven Gesellschaften, in: Joseph Vogel (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt 1971, S. 94, dem ich hier folge, definiert primitive Gesellschaften dahingehend, daß die politische Sphäre von der Sphäre des Sozialen, die Macht also von der Gesellschaft noch nicht getrennt sei. Während die Aufgabe des Häuptlings oder Fürsten nach außen darin bestehe, die Besonderheit und Autonomie des eigenen Gemeinwesens gegenüber anderen geltend zu machen, liege sie nach innen vor allem darin, Konflikte zu schlichten, Rivalen zu besänftigen und die Gefahren, die der Gemeinschaft aus der permanenten Möglichkeit gewalttätiger Auseinandersetzungen drohen, möglichst zu reduzieren. Dabei verfüge er weniger über Macht als über Prestige und könne einen Streit weder schlichten noch gar im Namen eines übergeordneten Gesetzes oder Prinzips entscheiden. Vielmehr lägen seine Möglichkeiten darin, die rivalisierenden Interessen auszugleichen und die Streitenden dadurch zu besänftigen, daß er an die gemeinsam anerkannten Werte des Gemeinwesens erinnert: der Häuptling – so Clastres – folge nicht der Logik von Befehl und Gehorsam, Macht und Unterwerfung, sondern artikuliere insbesondere den Diskurs der Gesellschaft über sich selbst. Es wäre zweifellos reizvoll, die Selbstinszenierung und Funktion des König Artus im arthurischen Roman unter diesem Gesichtspunkt eingehender zu untersuchen. Ich beschränke mich hier auf Rolle und Funktion des Seneschall Keie, dessen Provokationen ebenfalls, so jedenfalls meine These (s.u.), aus der Logik einer Gesellschaft ohne Staat erklärbar sind. Im Anschluß an Gerd Althoff, Ungeschriebene Gesetze. Wie funktioniert Herrschaft ohne schriftlich fixierte Normen? In: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 282–304.
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Sie betreffen aber auch – so meine erste These – das scheinbare Gegenteil dieser Konfliktvermeidung, das im arthurischen Roman von Keie verkörpert wird: seine wohl kalkulierten Fehltritte, seine Provokationen; nicht die Distanz, sondern ganz im Gegenteil die unmittelbare Ansprache der Kontrahenten; nicht die Vermeidung der Gewalt, sondern ganz im Gegenteil die Suche nach Kampf und Entscheidung. Dabei münden die Keie-Sequenzen in der Regel in allgemeines Gelächter über den Tölpel, zu dem der Truchseß, immerhin eines der höchsten Hofämter König Artus’, schließlich mutiert. Lachen und Gewalt scheinen hier insofern miteinander verbunden, als der drohende Ausbruch von Gewalt, der häufig am Anfang der Keie-Sequenzen steht, in lachendes Vergnügen über die Fehltritte Keies und deren gerechte Bestrafung verschoben, damit aber verhindert und die Gewalt, wenn nicht beseitigt, so doch überlagert oder zumindest vorerst verhindert werden kann. Voraussetzung für eine solche Deutung der Keie-Sequenzen im arthurischen Roman wäre eine andere Akzentuierung der Keie-Figur als bisher: Hat man auch bislang schon ihre »notorische Aggressivität«9 und Lust am Konventionsbruch sowie an der Provokation der Artusgesellschaft gesehen, so hat andererseits der Widerspruch zwischen dieser Freude am Bösen und Keies hohem Stand bei Hofe eher Ratlosigkeit hervorgerufen. Nach Jürgen Haupt, der die bislang gründlichste Untersuchung der Keie-Figur vorgelegt hat, repräsentiert Keie – neben Gawan als positivem Held – »das höfische Sein in seiner latenten Disharmonie«, wobei gerade in der je neuen Überwindung Keies das »gesellschaftspädagogische Modell des ›Artus-Romans‹« sichtbar werde.10 Demgegenüber verstehe ich Keies aggressiven Spott und seine Lust an der eigenen Niederlage, die in schadenfrohem Gelächter über den Schalk Keie endet, als paradoxe Form der Bewältigung von Rivalität und drohender Gewalt in der Artusgesellschaft. Keie – so lautet meine zweite These – übernimmt die – wenn auch nur vorübergehende – Funktion eines Sündenbocks11, der Rivalität und Gewaltbereitschaft auf sich zieht, dann aber ins Komische verschiebt und auf diese Weise abschwächt. Das Gelächter wäre dann – die Richtigkeit dieser These einmal vorausgesetzt – gewalttätig und entlastend zugleich: gewalttätig insofern, als es die Rivalität und drohende Gewalt, eben nur zum Gelächter verschoben, fortsetzt; entlastend aber, da die drohende Gewalt von der Artusgesellschaft ferngehalten werden kann. 9 10 11
Jürgen Haupt, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchung zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman, Berlin 1971, S. 11. Ebd., S. 87f. Vgl. dazu René Girard, Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Frankfurt/Main 1992. Nach Lev. 6,21f. handelt es sich beim Sündenbock um einen Ziegenbock, der nicht geopfert, sondern über dem alle Verschuldungen und alle Übertretungen ausgerufen werden, mit denen die Israeliten sich versündigt haben, und der anschließend als Sündenträger in die Wüste getrieben wird.
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Wie aber ist dieser Zusammenhang von drohender Gewalt, Keies Fehltritten und dem Gelächter der anderen Herren im einzelnen zu denken? Und welches ist seine mögliche Funktion? Meine dritte These dazu lautet: Die Stereotypie von Keies Fehltritten, seines Spotts und seiner verletzenden Aggressivität, aber auch die Verschiebung der drohenden Gewalt zum Gelächter inszenieren eine Konfliktsituation, wie sie für Gesellschaften ohne Staat12 typisch sind. Dabei wird in der rituellen Wiederholung der Fehltritte, vor allem aber des Gelächters über sie die Abwendung der drohenden Gewalt und die Reduktion der Gefährdung der Gesellschaft je neu vollzogen. Insofern erscheinen mir gerade die Keie-Sequenzen des arthurischen Romans am ehesten performativ lesbar: Sie inszenieren die drohende Gewalt, die in einer Gesellschaft, die nicht auf objektiven Macht- und Rechtsstrukturen, sondern auf Ehre und Anerkennung der einzelnen Gewaltträger fußt, nahezu zwangsläufig entstehen muß, sie zeigen aber auch Mittel und Wege, wie dieser Gewalt begegnet, sie zumindest abgeschwächt und beherrschbar gehalten werden kann. In den Artusromanen wird dieses Ritual von Provokation, Konzentration der Gewalt auf einen Sündenbock und Verschiebung der Gewalt zu einem – allerdings sehr aggressiven – Gelächter auf unterschiedliche Weise in Szene gesetzt.13 Die Artusromane Hartmanns von Aue sind dafür besonders signifikant.
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Mimesis der Ehre und Gelächter. Keies notwendiger Affront im Iwein-Roman.
Chrétiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹ beginnen mit einem doppelten Konflikt. In beiden Fällen geht es um Ehre und drohenden Ehrverlust, und in beiden Fällen steht Keie im Mittelpunkt, der die Ehrambitionen zweier Herren der Artusrunde: Kalogrenant und Iwein, verhöhnt und verspottet. Dabei verweist der formale Befund, daß beide Szenen einer weitgehenden Strukturanalogie oder Poetik der Wiederholung folgen, auf eine auffällige inhaltliche Entsprechung: Kalogrenant erzählt im Kreise der Artusritter von seiner Niederlage, die er durch Askalon, den Herrn der Wunderquelle, erlitten habe. Sein Vetter Iwein nun will das Abenteuer – ebenso wie König Artus selbst – wiederholen, also die Wunderquelle erproben und den Kampf wagen. Damit aber werden Iwein und Artus zu Rivalen, und es ist Iwein selbst, der diese Rivalität ganz deutlich markiert. Denn sein Wunsch nach Wiederholung des Abenteuers betrifft ausschließlich ihn, Iwein selbst. Artus’ Ankündigung, ebenfalls das Brunnenabenteuer wagen zu wollen, verursacht Iwein Ungemach: 12
s.o. Anm. 7. Anm. 13 s. nächste Seite
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wand er sich hete an genomen daz er dar eine wolde komen. er gedâhte, ich enmac daz niht bewarn, und wil der künec selbe varn, mirn werde mîn rîterschaft benomen. (VV. 908–913)14
Doch warum sieht sich Iwein durch den Wunsch des Königs so sehr aller seiner ritterlichen Möglichkeiten beraubt? Der Grund dafür liegt offensichtlich einzig in dem Umstand, daß er allein das Brunnenabenteuer bestehen, daß er allein seine Wiederholung wagen will. Und eben dies ist denn auch das einzige Ziel seines weiteren Handelns, das er schon nahezu trotzig feststellt:
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Haupt, Der Truchseß Keie (wie Anm. 9) bietet einen Überblick über die Ausformungen der Keie-Figur in den Artusromanen Chrétiens de Troyes, Hartmanns von Aue und in Wolframs Parzival sowie im späthöfischen Artusroman, berücksichtigt dabei aber zu wenig die unterschiedlichen Darstellungsmodi und Funktionen der Figur. Während Haupt die Gemeinsamkeit aller Keie-Figurationen des Artusromans in einer moralischen »Selbstbestätigung der Artus-Gesellschaft« sieht (S. 94), weil angesichts von Keies »Sturz angemaßter Größe«(S. 121) die »heitere Menschlichkeit« triumphieren könne (S. 122), halte ich weder diese moralisch-didaktische Deutung der Figur, noch die Behauptung ihrer generellen Geltung für angemessen. Demgegenüber möchte ich im folgenden versuchen, den merkwürdigen Paradoxien der Keie-Figur genauer nachzugehen und – im Anschluß an Pierre Clastres’ These von der Organisation von Macht in primitiven Gesellschaften (wie Anm. 7) – zu deuten versuchen. Nach meinem Eindruck ist diese Funktion der Keie-Figur am deutlichsten in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein sichtbar. Ich stelle den Iwein deshalb in den Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Hartmanns Erec (hg. von T. Cramer Frankfurt/Main 1972, VV. 4629–4844) und auch die Wolfseisen-Szene in Eilharts von Oberg Tristrant (Eilhart von Oberge, hg. von F. Lichtenstein. Straßburg 1877, VV. 5189–5462), in der Keie den Ehrkonflikt zwischen Marke und Tristan dadurch entschärft, daß er die Gefährdung Tristans mit Hilfe einer kollektiven Selbstverstümmelung der Artus-Compagnie und eines allgemeinen Gelächters über Keies besonders schlimme Verletzungen aufhebt, wären ergänzend heranzuziehen. Demgegenüber scheinen mir Gestaltung und Funktion der Keie-Figur schon in Wolframs Parzival und dann vor allem im späteren Artusroman gründlich verändert. (Vgl. dazu Heinrich von dem Türlin: Diu Crône, Zum ersten Male hg. von G. H. F. Scholl (=BLVSt 27). Stuttgart 1852 (Amsterdam 1966) mit zahlreichen Keie-Szenen, so z.B. VV. 1723ff.; 1756ff.; 1906ff.; 2528ff.; 16714ff. u.ö; Prosa-Lanzelot. Nach der Heidelberger Hs Cod. Pal. Germ. 147 hg. von R. Kluge. Übers. und hg. von H. H. Steinhoff (= Bibliothek des Mittelalters 15), Frankfurt/ Main 1995, Bd. II, S. 122ff., 318ff. u.ö. Bd. II, S. 123ff., 319ff.). Ich habe mich im Anschluß an die Iwein-Interpretation auf die Rolle Keies in Wolframs Parzival beschränkt, die deutlich macht, daß es eine allgemeingültige Keie-Deutung vermutlich nie gegeben hat, sondern wir von Anfang an mit unterschiedlichen Deutungsangeboten zu rechnen haben. Die Keie-Figur des späthöfischen Artusromans, welche die irritierenden Paradoxien weitgehend verloren hat, die ihr Hartmann von Aue und Eilhart von Oberg noch zuschreiben, werde ich in einer größeren Untersuchung gesondert vorstellen. Ich zitiere nach Hartmann von Aue, Iwein. Text der 7. Ausg. von G. F. Benecke / K. Lachmann / L. Wolff, Übersetzung und Anm. von Th. Cramer. 3. Aufl. Berlin/New York 1981.
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des müezen sî mir gunnen daz ich in eine begieze ich engeltes ode genieze. (VV. 938–940)
Der Wunsch nach Wiederholung des Abenteuers also ist für Iwein deswegen so übermächtig, da er seine Ehre tangiert sieht, wenn er das Brunnenabenteuer nicht wagt. Zwar ist Iweins Ausgangsmotiv von der Familiensolidarität getragen. Gleichwohl entpuppt sich der Wunsch, die Schmach des Vetters zu rächen, als Begehren, die eigene Überlegenheit und Kampfkraft unter Beweis zu stellen und damit seine Ehre zu behaupten. Jeder Ehrkonflikt aber und jede Wiederholung eines Begehrens birgt die Gefahr der Gewalt. Denn die Ehre ist ja das schlechthin Verletzliche. Und da die subjektive Überzeugung von der eigenen Ehre immer auch auf die Anerkennung der anderen und gerade eben auch der potentiellen Rivalen angewiesen ist, »so ist bei der Selbständigkeit der Individuen und ihrer spröden Vereinzelung, die gleichfalls im Prinzip der Ehre liegt, des Streitens und Haderns kein Ende«.15 Die Gefahr von Gewalt aber droht auch schon, wenn sich der Wunsch zweier Rivalen auf dasselbe Ziel richtet. Oder auf unsere Textsequenz bezogen: der Brunnen kann nur von einem der beiden Rivalen, von Iwein oder Artus, begossen und der Kampf mit Askalon nur von einem von ihnen gekämpft werden. Nach René Girard, dem ich hier folge, mündet aber »jede mimesis, die den Wunsch zum Gegenstand hat, … automatisch in einen Konflikt ein«, »da der Wunsch des einen Rivalen dem anderen zu verstehen gibt, »daß das Objekt begehrenswert ist«.16 Anders gesagt: der eine Rivale zeigt dem anderen Rivalen »das begehrenswerteste Objekt nicht durch Worte, sondern durch seinen eigenen Wunsch und sein ganz praktisches Begehren an«.17 Ich bin mir nicht sicher, ob man hier tatsächlich von einem Automatismus sprechen sollte. Sicher aber ist, daß die Gefahr der gewaltförmigen Lösung des Konflikts droht. Für meine Deutung der Fehltritte Keies, insbesondere des Spotts und Hohns, mit dem er gleich zu Beginn der Erzählsequenz Iwein überschüttet, hat das erhebliche Konsequenzen. Denn was ist der Sinn von Keies Intervention? Und was bringt ihn, einen der höchsten Vasallen in der Compagnie des Königs Artus, dazu, den doch völlig legitimen Wunsch Iweins, die Niederlage seines Vetters Kalogrenant zu rächen, als abwegig, ja als verrückt zu denunzieren? Iwein – so Keie, habe wohl etwas zuviel getrunken, schließlich gebe bereits ein Becher Wein mehr große Worte und Tapferkeit ein als vierundvierzig Becher mit Wasser oder Bier; und schließlich wisse man, daß auch die Katze, wenn sie zuviel fresse, besonders übermütig werde (V. 823f.). Iwein solle 15
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Im Anschluß an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik. Nach der zweiten Ausg. von H. G. Hotho (1842) redigiert von F. Bassenge, Bd. I (= 2.Teil, 3. Abschnitt: Die romantische Kunstform, 2. Kapitel: Das Rittertum), S. 538. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt 1972 (Paris 1972), S. 214. Ebd., S. 215.
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das besser noch einmal überschlafen; wenn er etwas Schlechtes träume, könne er sich ja immer noch danach richten: wînes ein becher vol der gît, daz sî iu geseit, mêre rede und manheit dan vierzec unde viere mit wasser ode mit biere. sô diu katze gevrizzet vil, zehant sô hebet sî ir spil: herre Îwein, alsô tuot ir. rât ich iu wol, sô volget mir. iu ist mit der rede ze gâch: slâfet ein lützel darnâch. troume iu danne iht swâre, sô sult irs iu zewâre nemen eine mâze.(VV. 818–831).
Diese Rede ist kein Fehltritt, sondern eine Unverschämtheit und eine offensichtlich wohl kalkulierte und keineswegs zufällige Unverschämtheit obendrein. Sie stellt Iweins edle Ambition, die Schmach des Vetters zu rächen und damit seiner Familienpflicht zu genügen, in Frage, ja verhöhnt sie in herabwürdigenden Bildern, so daß die Königin auch überaus empört reagiert: ›Her Keiî‹, sprach diu künegîn, ›iuwer zunge müez gunêret sîn, diu allez guot gar verdaget, und niuwan daz allerboeste saget … (VV. 837–840)
Aber trifft diese nur moralische Empörung die ganze Wahrheit? Bemerkenswert ist, daß Iwein selbst gar nicht gekränkt, sondern eher belustigt und pragmatisch auf Keies Spott reagiert: Keie treffe mit der Kritik an seinem, Iweins, Ungestüm (unvuoge, 860) durchaus etwas Richtiges; im übrigen aber werde er sich doch mit diesem kläffenden Köter nicht auf eine Ebene stellen, der dâ wider grînen kann, sô in der ander grînet an. (877f.).
Iwein also gibt Keies Aggressivität durchaus mit gleicher Münze zurück, allerdings auf einer Sprechebene des lachenden Spotts, die nicht zur Explosion von Gewalt, sondern lediglich zur Verhöhnung des Gegners führt. Dies aber scheint mir das eigentliche Bemerkenswerte an dieser Szene: Keies verletzender Hohn über Iweins Rachewunsch hätte nach den üblichen Regeln von Ehrverletzung und Rache zur sofortigen Satisfaktion gezwungen. Iwein aber reagiert lachend (Her Îwein lachet …, heißt es V. 855), wenn auch nicht weniger aggressiv: Schließlich ist der Vergleich Keies mit einem kläffenden Köter auch
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nicht gerade zuvorkommend, und auch das vorhergehende Lob Keies durch Iwein mîn her Keiî der ist sô wîs und hât selch êre und selhen prîs, (V. 865f.)
erweist sich im nachhinein als außerordentlich ironisch und verletzend. Gleichwohl kommt es nicht zu Kampf oder Streit, sondern lediglich zu einem rhetorischen und eher theatralischen Schlagabtausch, dem Ginovers nur moralische Kritik an Keies verletzender Rede nicht im geringsten gerecht wird. Vielmehr wirkt der Disput zwischen Keie und Iwein eher spielerisch, wobei die Spielregeln offensichtlich darauf ausgerichtet sind, die Beleidigungen zu inszenieren, zugleich aber in Gelächter aufzulösen. Keie beginnt dieses Spiel. Dabei ist es offensichtlich und seinem Gegner Iwein auch klar, daß er übertreibt. Gerade damit aber gelingt es ihm, die drohende Gewalt, die mit Iweins Wunsch nach Wiederholung des Brunnenabenteuers und nach Bewährung und Bestätigung seiner Ehre einhergehen kann, vielleicht sogar einhergehen muß, auf sich zu lenken. Iweins Gewaltpotential richtet sich nun nicht mehr auf seinen Rivalen: König Artus selbst, sondern auf Keie; sie bedroht nicht mehr den Bestand der arthurischen Gesellschaft und Machtverteilung, sondern lediglich den guten Ruf Keies, den man verlachen und verspotten kann. Damit aber übernimmt Keie die Rolle des Sündenbocks, der provoziert, spottet und verhöhnt, um auf diese Weise die drohende Gewalt zu bannen.18 Und er kann diese Rolle des Sündenbocks oder stellvertretenden Opfers19 nur übernehmen, da er den hochadligen Rivalen unseres Textes gleich ist. Bis in die jüngste Forschung zu Keie hat vor allem irritiert, daß der gnadenlose Provokateur und schalk20 trotz seiner Bösartigkeit zum höchsten Adel zählt. Wir können jetzt festhalten, daß gerade in seiner Ähnlichkeit mit Iwein und Artus die Voraussetzung dafür liegt, daß er die Rolle des stellvertretenden Opfers übernehmen kann. Keie erfüllt diese Bedingung ebenso wie die weitere, daß zwischen ihm und den Herren der Artusrunde jeder Typus sozialer Beziehung ausgeschlossen sein muß, der Rache erfordern könnte.21 Das betrifft vor al-
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vgl. Anm. 11. Zur Funktion von Ersatzopfern, die Gewalt einer Gesellschaft auf sich zu ziehen und damit, wenn nicht aufzuheben, so doch abzuleiten, vgl. Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 16), S. 13: »Die Gesellschaft bemüht sich, eine Gewalt, die ihre eigenen, um jeden Preis zu schützenden Mitglieder treffen könnte, auf ein relativ wertfreies, ›opferfähiges‹ Opfer zu leiten«. Denn »das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst« (S. 18). Girards These, daß für diese Rolle als stellvertretendes Opfer insbesondere Könige und Narren in Frage kommen (S. 25), bedarf noch genauerer Fundierung. Anm. 20–21 s. nächste Seite
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lem verwandtschaftliche Bindungen und daraus resultierende Verpflichtungen. Wenn ich richtig sehe, ist Keie mit keinem Mitglied der Artuscompagnie oder gar mit der Artussippe selbst verwandt, sondern steht nur für sich selbst. Er ist, obwohl ein anerkanntes Mitglied der Artusgesellschaft, allein, hat keine Verwandten und – zumindest in Hartmanns Artusromanen – keine Freunde.22 Er definiert sich ausschließlich über sein Truchsessenamt und über den Versuch, die drohende Rivalität und Gewalt zwischen einzelnen Mitgliedern der Artusrunde auf sich zu lenken und lachend zu entschärfen. Dabei gibt gerade dieses exklusive Gelächter, mit dem Keies Katastrophen kommentiert werden und das ihn im Kreis der anderen Artusritter isoliert, eben die Aggressivität und jenen Gewaltwunsch zu erkennen, den er auf sich gelenkt hat. So ist es wohl zu erklären, daß Keies Kämpfe, die er gerade aufgrund seines großsprecherischen Spotts und Hohns auszufechten hat, in der Regel in grotesken Verrenkungen oder gar komischem Klamauk enden, die Keies Re20
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Hartmann von Aue, Iwein, V. 845. (mhd. schalcheit= niedrige Gesinnung, Arglist, Bosheit). Vgl. dazu auch die schöne Formulierung aus Hartmanns Erec: von sînem valsche er was genant / Keiîn der quâtspreche (Schandmaul), VV. 4662f. Auffällig ist dabei, daß Hartmann gerade die Widersprüche in Keies merkwürdigem Verhalten unterstreicht (daz diu werlt nie gewan/ deheinen seltsaenern man, VV. 4633f), während die zeitgenössische Didaxe ihn bereits zum moralischen Antitypus der höfischen Jugend vereindeutigt, vor dem es zu warnen gilt. So z.B. stilisiert Thomasin von Zerklaere, Der wälsche Gast, hg. von H. Rückert. Berlin 1965 Keie und Parzival zu antithetischen Leitbildern höfischer Erziehung, wobei Keie ausschließlich die negativen und verwerflichen Anhänger an sich ziehe: sîniu kint heizent alsam er: / ê was ein Key, nu ist ir mer. / ez schînt daz Parzival nien lebet, / wan der her Key nâch êren strebet / mit lüge und mit unstaetekeit, / mit spotte und mit schalkeit. / gelouben sult ir mir ein maere, / ob ichz Parzivâl waere, / daz ich etlîchen Key staeche / daz ich im ein rippe noch zebraeche. / ouwê, wâ bistu Parzivâl? (VV. 1065– 1078). Ausführlicher dazu noch einmal Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 16), S. 25f: »Zwischen der Gemeinschaft und den rituellen Opfern fehlt genau jener Typus von sozialen Beziehungen, der bewirkt, daß Gewaltanwendung gegen ein Individuum Vergeltung durch andere Individuen, die nächsten Verwandten, nach sich zieht; diese machen es sich nämlich zur Pflicht, ihren Angehörigen zu rächen«. Das ändert sich bereits in Wolframs Parzival, wenn Keies friunt seine Niederlage gegen Parzival beklagen und insbesondere Gawan bedauert, daß er einen friunt verloren habe (Wolfram von Eschenbach, Parzival. Mhd.Text nach der 6. Ausg. von K. Lachmann, übers. von P. Knecht. Berlin/New York 1998, VV. 298; ausführlicher zu Wolframs KeieDeutung s. u. S. 355ff. Eine vergleichbare Positivierung Keies läßt sich dann z.B. auch in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône (wie Anm. 13) beobachten: so z.B. ist Keie hier mit Gawan eng befreundet: Kei prüevet dise vröude gar / Under aller dirre schar / Durch Gâweins vriuntschaft, / Wan in der saelige kraft / An Gâwein mit gewalte bant, / Daz er guot unde lant, / Herren, sêle unde lîp, / Mâge, kint unde wîp / Ê allez hete verlâzen / Mit alle verwâzen, / Ê ime iht leide swaere geschehen. / Dar an müget ir wol sehen, / Daz sîn spot niht von nîde gie. / Die besten er minnet ie, / Und was ze mâle den boesen gram; / Ie doch er nieman fû nam: / Sô er spotten began, / Nieman was des tadels ân; / Anders was er ein vrum man. (VV. 22132–150).
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putation und Ehre zwar abträglich sind, ansonsten aber das Gewaltpotential mindern. So z.B. endet die Auseinandersetzung Iweins mit Keie durchaus in einem ritterlichen Kampf. Doch ist es ein besonderer Kampf, der nicht nur rasch zu Ende ist, sondern den Truchsessen Keie zudem wie einen schweren Sack aus dem Sattel wirft, daz ern weste wâ er lac (V. 2586).
Iwein jedoch – und das scheint mir hier besonders wichtig – will im niht mêre tuon dehein unêre (V. 2587f.),
will ihn also nicht weiter demütigen oder weiteren Gewaltakten aussetzen, sondern ihm lediglich, wohl in der Logik spiegelbildlicher Strafe, mit denselben Mitteln den Hohn heimzahlen, den er von Keie erfahren hatte. So begnügt er sich mit einer, allerdings perfekt komponierten, höchst ironisch – süffisanten Rede, die ihm als Satisfaktion genügt. Dabei tritt die Lust an der ironischen Replik und an der gespielt-harmlosen Frage, warum Keie denn »um Himmelswillen«(durch got, V. 2591) dort so liege und ob er vielleicht nur aus Versehen gestolpert sei, an die Stelle gnadenloser und vor allem ausschließlich gewaltförmiger Rache. So endet der Kampf zwischen Iwein und Keie und damit der erste Erzählteil von Hartmanns ›Iwein‹ mit lasterlîchem schalle (V. 2645), d.h. lautem Hohngelächter aller über Keies Mißgeschick (missewende, V. 2644). Dennoch ist es letztendlich Keie, der gerade aufgrund seines Mißgeschickes ein für den Bestand und inneren Frieden der arthurischen Gesellschaft ungemein wichtiges Ziel erreicht: der Gewaltlogik der Ehre und des mimetischen Begehrens, die für den Zusammenhalt der Artusrunde außerordentlich schädlich, ja zerstörerisch wäre, von vornherein dadurch entgegenzutreten, daß er die Rivalen trennt und ihr Gewaltpotential auf sich selbst lenkt. Natürlich schafft das keine Freunde. Erst im späteren Artusroman, insbesondere in Heinrichs von dem Türlin ›Crône‹ und im ›Prosa-Lanzelot‹, wird das dahingehend verändert, daß Keie nun auch Freundschaften begründet und bewährt: vor allem mit Gawan, aber auch mit anderen Helden, und die Funktion des agent provocateur immer mehr verliert. In Hartmanns ›Iwein‹ hingegen steht Keie ausschließlich für sich selbst und seine objektive Funktion ein, die drohenden Konflikte auf sich zu ziehen und somit zu entschärfen; er stiftet keine Freundschaft und findet deshalb in seinen Katastrophen auch keine Unterstützung, sondern nur Abkehr und Hohn. Ein besonders treffendes Beispiel dafür bietet Keies Schicksal in einem späteren Abenteuer: der Entführung Königin Ginovers, die Keie in seiner gewohnt großsprecherischen Art zu beenden verspricht: schließlich sei er als einziger dazu befähigt, den Entführer zu überwinden, so daß dieser sofort aufgeben werde, wenn er sehe, wen er vor sich habe (VV. 4634–4694). Natürlich
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endet der Kampf mit Keies schmählicher Niederlage, mehr noch: fällt er im Kampf gegen Iwein wie ein Sack vom Pferd, so fliegt er im Kampf gegen Ginovers Entführer nicht nur in hohem Bogen aus dem Sattel, sondern sein Helm verfängt sich dabei auch noch an einem Ast, so daß er am Baum hängen bleibt und dort – wie Absalom, der sich auf der Flucht vor seinem Vater David mit seinen langen Haaren in den Zweigen einer Eiche verfangen hat (2. Sam. 18,9) – hangende not (V. 4678) leidet. Auffällig aber ist die Reaktion der anderen Artusritter: Keiner hilft ihm, keiner empfindet Mitleid oder gar Solidarität. Was sie eint, ist lediglich die Freude an Keies Schande, an seinem Schmerz und seiner Gefahr, so wie z.B. Kalogrenant der in dâ hangende vant niht anders wan als einen diep: dern lôst in niht, ez was im liep. (VV. 4684–86).
Dabei indiziert das Gelächter über Keies Schande seine Isolation, die zugleich aber die Bedingung dafür ist, daß er gewaltvermeidend, und d.h. im Interesse des Schutzes und Bestands der Artuscompagnie, tätig werden kann. Ich fasse zusammen: Ich sehe den Nutzen von Keies Fehltritten und Unverschämtheiten, seiner Ehrverletzungen und Kränkungen in der Inszenierung einer Verschiebung und Abschwächung eines Gewaltpotentials, das für den Zusammenhalt der arthurischen Gesellschaft gerade wegen ihrer Labilität und wegen ihrer tendenziell anarchischen Struktur überaus gefährlich wäre. Pierre Clastres hat die Aufgaben der Häuptlinge und Fürsten in primitiven Gesellschaften dahingehend beschrieben, daß sie Bestand und Prestige der Gesellschaft als ganzes nach außen und nach innen zu vertreten hätten: vor allem dadurch, daß sie Konflikte zwischen z.B. zwei Familien nicht zu entscheiden versuchen, sondern lediglich zu besänftigen. Diesen und anderen Verfahren der Konfliktvermeidung rechne ich auch Keies Provokationen zu: auch ihm geht es um die Minderung des Gewaltpotentials innerhalb der arthurischen Gesellschaft, doch bedient er sich dazu nicht des Mittels der Besänftigung, sondern der Provokation, nicht des Appells an Einsicht und gutes Einvernehmen, sondern indem er vor den Kopf stößt; nicht der Distanznahme oder des Abbruchs der Kontakte, um keinerlei Berührungs- und Ansatzpunkte für eine Provokation zu bieten, sondern im Gegenteil der gänzlich ungeschützten und nackten Unverschämtheit, die ihm gleichwohl mit höhnisch-aggressivem Gelächter heimgezahlt wird. Ich kann in diesem Zusammenhang nur andeuten, daß Scherzbeziehungen dieser Art bis heute in den unterschiedlichsten Kulturen Afrikas oder Südamerikas bekannt sind, hier allerdings auf Spottverwandtschaft innerhalb von Familien beschränkt bleibt. Dabei handelt es sich um bestimmte Personen einer Familie oder auch eines größeren sozialen Verbandes, die miteinander spottverwandt sind, d.h.: sich bis hin zur Beleidigung verspotten dürfen, ak-
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tuelle Fehler oder Versäumnisse ihrer Spottverwandten publik machen oder sie sonst irgendwie bloßstellen, ohne daß die Beleidigten daran Anstoß nehmen dürfen.23 Der wichtigste Zweck dieser Spottverwandtschaft liegt darin, seine Affekte, vor allem seinen Rachewunsch beherrschen zu lernen, Beleidigungen zu ertragen und somit gewaltförmige Konflikte zu vermeiden. In Hartmanns ›Iwein‹ ist diese Funktion der Keie-Figur noch deutlich sichtbar; ebenso – was ich hier nicht dargestellt habe – in Hartmanns ›Erec‹ und in der ebenso gewaltorientierten wie komischen Wolfeisenepisode in Eilharts ›Tristrant‹ (s.o.). Bereits in Wolframs ›Parzival‹ aber ist diese Logik gründlich verändert.
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Die Resignation vor der Gewalt. Das Beispiel von Wolframs ›Parzival‹
Provokation und Gelächter, Keies Fehltritte und sein Verlachtwerden bleiben in Hartmanns ›Iwein‹ eng aufeinander bezogen. In Wolframs ›Parzival‹ hingegen ist diese Möglichkeit einer komischen Abschwächung der Gewalt verlorengegangen. Statt dessen gewinnt die Gewalt auch und gerade in der KeieFigur selbst ein solches Gewicht, daß deren Funktion der Konfliktvermeidung ins Gegenteil verkehrt scheint. Zwar zeichnet sich auch Wolframs Keie durch unterschiedlichste Provokationen aus, doch haben sie den Charme ironischspöttischer Rede gänzlich verloren, der Keies Fehltritte in Hartmanns ›Iwein‹ auszeichnet. Wolframs Keie handelt schneller als er redet, und er handelt mit gnadenloser Gewalttätigkeit. Damit aber ist auch die Funktion des Lachens gründlich verändert, das nicht mehr der Verschiebung und Bewältigung der Gewalt dient, sondern ganz im Gegenteil von ihr aufgesogen – Girard würde sagen: »angesteckt« – wird.24 Mit der Ankunft des bäurisch-närrisch gekleideten Parzival, der gleichwohl zum Ritter geschlagen werden möchte, am 23
Vgl. dazu das Lemma ›Scherzbeziehung‹ im ›Neuen Wörterbuch der Völkerkunde‹, hg. von Walter Hirschberg. Berlin 1988; Lorna Marshall, Sharing, talking and giving: relief of social tensions among Kung Bushmen, in: Africa. Journal of the International African Institute 31 (1961), S. 231–249; A.R. Radcliffe-Brown, Structure and function in primitive society. London 1952 und Ders., On joking relationship, in: Adam Kuper (Hg.), The social anthropology of Radcliffe-Brown, London 1977, S. 174–188. — Eine sehr präzise Beschreibung der Scherzverwandtschaft bietet Amadou Hampâté Bâ, Amkoullel, l’enfant peul, Babel, Actes Sud (1991/1992), S. 378: »Les deux ethnies étaient liées … par les lieus sacrés d’alliance de la ›sanakounya‹, que des ethnologues appellent ›parenté à plaisanterie‹ parce qu’elle permet de se plaisanter et de se mettre en boîte, voir de s’injurier, sans que cela puisse jamais tirer à conséquence. En fait, il s’agit de tout autre chose que d’une plaisanterie; cele relation représente un lieu très sérieux et profond, qui, jadis, entraînent un devoir absolu d’assistance et d’entraide, puisant son origine dans une alliance extrêment ancienne, nouée entre les membres ou les ancêtres de deux villages, deux ethnies, deux clans …« Anm. 24 s. nächste Seite
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Artushof, kann Keie das in Szene setzen. Denn einer der ersten Fehltritte Keies ist gegen eine Frau und gegen das Lachen gerichtet: Cunnewâre, eine der hochadligen Damen am Artushof, hat sich zur Aufgabe gesetzt, auf jede Form lachenden Vergnügens zu verzichten, bis sie den Mann sehen würde, der höchste Anerkennung (prîs) besäße oder erlangen sollte: dâ saz frou Cunnewâre diu fiere und diu clâre. diu enlachte decheinen wîs, sine saehe in die den hohsten prîs hete od solt erwerben: si wolt êsus ersterben. (VV. 151,11–16)25
So geschieht es auch, bis sie den jungen Parzival sieht: allez lachen si vermeit, unz daz der knappe für si reit: dô erlachte ir minneclîcher munt (V. 151,17–19).
Doch, so fügt Wolfram auch gleich hinzu, des wart ir rükke ungesunt (V. 151, 20).
Denn Keie sieht sich von Cunnewâres Gelächter so sehr provoziert, daß er mit größter Brutalität auf sie losgeht und ihr das Lachen förmlich aus dem Leib herausprügelt: Er reißt sie an ihren Zöpfen an sich, wickelt diese so fest um seine Hand, daß Cunnewâre wie eine Tür an seinem Arm aufgehängt scheint, und prügelt auf sie ein, daß die Hiebe durch Kleid und Haut dringen und ihr nicht nur das Lachen, sondern auch Hören und Sehen vergehen (VV. 151,21– 30). Wie ist dieser Gewaltausbruch Keies zu erklären und wir verhält er sich zu dem Bild Keies als Sündenbock, der Gewalt auf sich zieht, um sie auf diese Weise zu reglementieren? Ich verstehe Keies Fehltritt – Wolfram spricht von unvuoge (V. 152,18) – so, daß Wolfram die Möglichkeit der Verschiebung 24
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So z.B. begründet Girard den häufig zu beobachtenden Verzicht auf Rache oder Bestrafung eines Schuldigen in primitiven Gesellschaften mit der Angst vor einer Eskalation der Rache zu einer maßlosen Gewalt, an der die Gesellschaft zerbrechen könnte. Denn: »Dem Gewalttätigen Gewalt antun heißt, sich von seiner Gewalt anstecken lassen«. Dementsprechend gehe es in den Bemühungen um eine Reglementierung von Konflikten »immer darum, eine Gewalt auszudenken und auszuüben, die mit der früher verübten Gewalt nicht einfach so verknüpft ist wie ein zusätzliches Glied einer Kette mit den vorangehenden und nachfolgenden Gliedern« (Das Heilige und die Gewalt [wie Anm. 16], S. 44). Vielmehr sei ein Verfahren der Besänftigung der Gewalt erforderlich, die sich zwar auch der Gewalt bediene, diese aber zugleich verändere. — In der Diskussion meines Vortrags in Luzern sprach Alois Hahn von einer »Impflogik« und Peter von Moos von einer Art »homöopathischer Kur der gefährlichen Gewalt (Rache) durch die dosierte Gewalt der ritualisierten Provokation«. Beide Kommentare treffen das von mir Gemeinte genau. Zitierte Parzival-Ausgabe s.o. Anm. 22.
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oder gar Minderung der Gewalt nicht sieht, die Hartmann mittels seiner KeieFigur zu realisieren sucht. Für Wolfram ist der Mechanismus von Begehren und Gewalt; von einem unstillbaren Wunsch nach Macht und Besitz einerseits und der gewaltsamen Durchsetzung dieses Wunsches andererseits so übermächtig, daß er eine Abschwächung oder Verschiebung der Gewalt, wie sie Hartmann vorführt, ausschließt. Zwar geht es auch Wolfram um eine Sicherung oder Befriedung der Gesellschaft, doch sieht er die Möglichkeit dazu nicht mehr in ritualisierten Formen der Besänftigung und Reglementierung der Gewalt durch die Provokationen Keies und das schadenfrohe Gelächter, das er auf sich zieht, sondern darin, daß die Ebene politischen Handelns selbst verlassen und die drohende Gewalt zur Gewalt der Minne sowie zur Anerkennung der Macht Gottes verschoben wird. Doch das erfolgt erst im VI., bzw. im IX. Buch des ›Parzival‹: Zunächst aber prägt die Mechanik von Begehren und Gewalt auch hier die politisch ungemein angespannte und schwierige Situation am Artushof, mit der Parzival konfrontiert wird, als er bei Hofe erscheint, um hier seinen Wunsch zu realisieren, zum Ritter geschlagen zu werden: Ither von Gaheviez beansprucht von Artus Land und Herrschaft, mehr noch: in einem Akt zeichenhafter Gewalt – er reißt einen Weinpokal von Artus’ Tafel und verschüttet den Wein in den Schoß der Königin Ginover – hat er sich seines vorgeblichen Erbes bereits ansatzweise bemächtigt.26 Es ist in dieser »Gesellschaft ohne Staat«27 die schlimmste nur denkbare Bedrohung von Macht und Herrschaft, da Ithers Begehren ganz offensichtlich ebenso legitim oder illegitim erscheint wie der Herrschaftsanspruch des König Artus selbst, eine objektive Rechtsentscheidung zwischen beiden rivalisierenden Ansprüchen also nicht möglich ist. Parzival seinerseits ist von einem ganz vergleichbaren Zwang des Begehrens durchdrungen, und auch hier gilt, daß »Gewalt und Wunsch«28 aufs engste miteinander verbunden sind. Denn sein Wunsch, zum Ritter zu werden, 26
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Wir erfahren von Ithers Provokation vor König Artus’ Tafelrunde nur aus seinem eigenen Bericht. Ich verstehe diese gewaltförmige Demonstration seines Anspruchs auf Artus’ Land und Herrschaft – im Sinne Jan-Dirk Müllers – als Scheitern eines Festrituals: Die friedliche Vergesellschaftung der Artus-Compagnie in Gestalt der Tafelrunde schafft keine vröude, sondern die Inszenierung eines Rechtskonflikts und Gewaltaktes; und »statt die Sicherheit der (höfischen, W. R.) Welt zu gewährleisten, machen (die Rituale) das Zerbrechen dieser Welt evident«. (Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 347). Denn Ither reißt den prächtigen goldenen Pokal (al rôt von golde ûf sîner hant / stuont ein kopf vil wol ergrabn. Parzival VV. 145,30146,1) des Königs Artus, und d.h. die »Trophäe« (Müller, S. 270 ff.) seines Rechtsanspruchs auf Artus’ Land und Herrschaft, aus seinem ursprünglichen Geltungsraum, verschüttet in einem Akt zeichenhafter Besitznahme den Wein in den Schoß der Königin Ginover und zieht sich in den außerhöfischen Raum zurück. Clastres, Macht in primitiven Gesellschaften (wie Anm. 7), S. 94. Girard, Das Heilige und die Gewalt (wie Anm. 16), S. 214f.
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materialisiert und fokussiert sich in einem äußeren Zeichen: Die rote Rüstung des roten Ritters Ither ist das einzige Ziel von Parzivals Wünschen. Sie ist das Zentrum seines Begehrens, das denn auch – wie es für Wünsche ja meist kennzeichnend ist – unmittelbar erfüllt werden muß, keinen Aufschub duldet und alle anderen Gaben, vielleicht sogar von Artus selbst, völlig uninteressant erscheinen lassen:29 mac mir des harnasch werden niht, ine ruoch wer küneges gâbe giht. (VV. 149, 29f.),
verkündet der junge Parzival lauthals bei Hofe, wobei er wie ein aufgeregtes Huhn hin- und hertrappt und damit alle nur denkbaren höfischen Konventionen über den Haufen wirft (VV. 149,25f). Während dieser Fehltritt Parzivals ganz offensichtlich aus der Übermacht seines Wunsches nach Ithers Rüstung folgt, liegt genau darin sein Nutzen für Keie. Denn – so dessen höchst pragmatische Überlegung – Parzival will gegen Ither kämpfen. Für den Versuch aber, die Bedrohung von Land und Herrschaft Artus’ abzuwenden, ist jedes Mittel recht, auch das mögliche Opfer dieses jungen Mannes. Artus’ Sorge, daß Parzival bei diesem ungleichen Kampf zu Tode kommen könnte, wischt Keie denn auch mit einem schon machiavellistisch anmutenden Bild beiseite: Ine sorge umb ir deweders lebn: man sol hunde umb ebers houbet geben (VV. 150, 21f.).
Zwar handelt es sich dabei – so Keie – um eine Art Kinderspiel: hie helt diu geisel, dort der topf: lâtz kint in umbe trîben. (VV. 150, 16f.).
Wenn das Spiel aber dazu diene, den Goldpokal von Ither zurückzuholen und somit die Bedrohung von Artus’ Land und Herrschaft abzuwenden, habe es seinen Zweck erfüllt: Menschenleben zählen dabei nicht. Genau diese zynische Logik Keies aber markiert deutlich den Unterschied zu Hartmanns ›Iwein‹. Zwar geht es Keie in beiden Texten um Prestige und Bestand von Artus’ Herrschaft selbst. Sie ist oberster Maßstab seines Handelns, doch realisiert er sein Ziel in beiden Texten auf jeweils unterschiedliche Weise, und dementsprechend unterschiedlich sind auch seine Fehltritte begründet. Während Hartmanns Keie auf eine Mäßigung oder gar Vermeidung von Gewalt 29
Dabei fehlt Parzival das äußere Zeichen der Legitimität seines Anspruchs auf die Rüstung Ithers. Denn während sich dessen Röte, d.h. seine rote Rüstung, sein rotes Pferd, sein Speer und nicht zuletzt sein rotes Haar (Parzival VV. 145, 17 ff.) in dem roten Gold des Weinpokals von Artus’ Tafelrunde wiederholt, hat Parzival derartige Körperzeichen nicht aufzuweisen. Zwar ist er – wie auch Ither sofort bemerkt (VV. 146,5 ff.) – sehr schön, verfügt aber nicht über eindeutige Zeichen, die seinen Anspruch auf Ithers Rüstung untermauern könnten.
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abzielt, die das arthurische Gemeinwesen bedrohen würde, hat Wolframs Keie diese Perspektive verloren. Er macht sich selbst zum Aktanten der Gewalt, wenn denn auf diese Weise Prestige und Bestand der Artusherrschaft gesichert werden können. Erst damit aber wird auch Keies Fehltritt und Gewaltakt gegen Cunnewâre plausibel. Denn ein Kind, das Keie nur zu bereitwillig dem Prestige von Artus’ Herrschaft opfert; ein Hund, den er für das Haupt eines Ebers drangibt, kann doch nicht den hôhsten prîs (V. 151, 14) beanspruchen, den Cunnewâre als einzigen Anstoß für ihr Lachen akzeptiert. Für Keie ist Cunnewâres Lachen ein point d’honneur, ein Angriff auf Artus und seine Herrschaft selbst, die er ahnden muß: sein Fehltritt entpuppt sich deshalb als – natürlich gewaltförmiger – Versuch, der Ehrverletzung des Königs zu wehren. Er versucht nicht, die Mechanik von Ehrverletzung und Rache zu durchbrechen, sondern ist selbst ihr Teil. Das aber hat Konsequenzen für die Lösung des Konflikts mit Parzival. Denn dieser hatte ja nicht allein Ithers Rüstung begehrt und erhalten, sondern auch Rache für Keies Gewalttat gegen Cunnewâre geschworen, der damit seine – Parzivals – Ehre verletzt habe: er selbst habe ein hôhez laster erfahren (sei in seiner Ehre verletzt worden), weil ein ritter sich an mir vergaz, daz er die juncfrouwen sluoc durch daz sie lachens mîn gewuoc. (VV. 158,24–26)
In Wolframs Roman also ist Keies Fehltritt nicht Teil einer rituellen Reglementierung oder gar Abschwächung, sondern ganz im Gegenteil Ausgangspunkt neuer Gewalt. Sie setzt die Mechanik von Ehrverletzung und Rache fort und sucht sie nicht zu unterlaufen. Gleichwohl liegt auch in diesem Roman gerade in dem Kampf zwischen Keie und Parzival die Chance, die Mechanik von Ehrverletzung und Rache zu durchbrechen, nur erfolgt das auf andere Weise als in Hartmanns ›Iwein‹. Denn der nun folgende Kampf zwischen Parzival und Keie (VV. 293,19–296,12) ist nicht als Rachekampf angelegt. Parzival kämpft nicht um Cunnewâre und seine eigene Ehre, ja er erkennt noch nicht einmal seinen Gegner Keie, sondern kämpft wie im Traum. Er ist anwesend und abwesend zugleich, seiner selbst und seines Rachewunsches nicht bewußt, gleichwohl aber im vollen Besitz seiner körperlichen Kräfte. So kommt es zu einem eher merkwürdig-grotesken, keineswegs glänzenden Kampf, der mit Flegeleien Keies gegen Parzival beginnt – er schlägt ihm, dem träumend Abwesenden, auf den Helm, rempelt ihn an usf. (VV. 295,1ff.) –, in dessen Verlauf aber Parzival Keie mit einer eher zufälligen Wendung aus dem Sattel wirft, so daß dieser sich Arm und Bein bricht. Auch in diesem Kampf also geht es durchaus um Gewalt, doch erscheint sie merkwürdig ge-
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dämpft und reduziert. Der Grund für diese Abschwächung des Rache- und Gewaltwunsches Parzivals liegt darin, daß er selbst einer anderen Gewalt unterliegt. Denn Parzival twanc der minnen kraft (V. 294,9). Diese Gewalt der Liebe und der Erinnerung an seine geliebte Condwiramurs hat ihn schon längst besiegt, so daß er seine körperliche Gewalt nur noch mechanisch, nicht zielorientiert auszuagieren versteht. Äußere Zeichen seiner zwanghaften Imagination und der Gewalt der Liebe sind die berühmten drei Blutstropfen im Schnee, die ihn auch körperlich an Condwiramurs fesseln und aus der Auseinandersetzung mit Keie entrücken. Wolfram hat in diesem Zusammenhang die gewalt (V. 293,5) der Minne und den kriec (V. 293,3), den sie kraft ihrer Macht (gewaldec, V. 293,1) führt, theoretisch ausführlich erörtert. Für Parzivals Wunsch nach Rache und gewalttätige Wiederherstellung seiner und Cunnewâres Ehre aber heißt dies, daß die Gewalt der Ehrverletzung und Rache zu einem andren Typus von Gewalt: der Gewalt der Liebe, verschoben worden ist und auch ihn selbst verändert hat. Nicht der Wunsch nach der Rüstung, nach ritterlicher Ehre und nach Rache für Cunnewâres Schmach motiviert nun sein Handeln, sondern die Sehnsucht nach Condwiramurs. Zwar folgt er noch der Logik der Ehrverletzung und Gewalt, die den Kampf mit Keie unabweisbar macht, doch kämpft er wie zufällig und nebenbei, da sich das Ziel seines Wunsches und seines Begehrens verändert hat. Dieser Paradigmenwechsel der Gewalt schließt die lange Erzählsequenz von Parzivals Ankunft an Artus’ Hof, von Wunsch und Gewinn von Ithers Rüstung, von Keies Fehltritt und der Rache an ihm ab. Die Mechanik von Fehltritt und Gewalt also, die in Hartmanns ›Iwein‹ durch Keies aggressiven Spott, seine Sündenbockfunktion und das aggressive Gelächter über seinen Schaden aufgehoben wird, wird in Wolframs ›Parzival‹-Roman erst dadurch gelöst, daß die Gewalt selbst verschoben wird: einerseits zur Gewalt der Liebe, andererseits zur Anerkennung der Macht und Liebe Gottes, d.h. zur Heilsgeschichte des Menschen, die Parzival allerdings erst im IX. Buch eröffnet wird. In deren Mittelpunkt aber steht die Denkmöglichkeit, daß gerade der Niedrigste und Erbärmlichste den hôhsten prîs (V. 151, 14) erlangen soll. Keie sieht bei Parzivals Ankunft bei Hofe diese Dialektik von Erniedrigung und Erhöhung nicht, kann sie angesichts dieses lächerlichen Knappen wohl auch nicht sehen und reagiert mit einem Ausbruch brutalster Gewalt gegen Cunnewâre. Dabei ist auch dieser Fehltritt Keies Teil einer Welt, die von Gewalt geprägt ist und der vor allem der Optimismus verlorengegangen ist, durch Strategien der Gewaltreduktion und Gewaltvermeidung – und dazu rechne ich auch die notwendigen Fehltritte Keies – die Welt friedlicher zu machen. Wolfram sieht diese Möglichkeit nur dann, wenn der Diskurs der Gewalt selbst verlassen, d.h. zur Gewalt der Liebe und der Allmacht Gottes verschoben wird. Diese radikale Alternative zur alltäglichen Gewalt wird im weiteren Verlauf des
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›Parzival‹-Romans in der Utopie eines Gralkönigtums und einer Gralsritterschaft entfaltet. Mit den Versuchen eines Keie, die Ehre von Land und Herrschaft des König Artus zu bewahren und – so zumindest in Hartmanns ›Iwein‹ oder Eilharts ›Tristrant‹ (s.o.) – die stets gegenwärtige Drohung der Gewalt zu reduzieren, hat das nichts mehr zu tun.
Arnold Angenendt
Die Epikie
Im Sinne des Gesetzgebers vom Gesetz abweichen Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht der, sachlich gesehen, minimale Fehltritt, der aber doch ganz unabsehbare Folgen nach sich zieht. Hier soll nun der umgekehrte Fall erörtert werden: die durchaus gravierende Rechtsübertretung, die aber so zu bewerten ist, daß sie nicht nur ohne Strafe bleibt, sondern sogar eine Belohnung verdient. Eben das ist die Epikie.
1 Die maßgebliche Definition der Epikie, der epieikeia, hat Aristoteles geliefert. In der ›Nikomachischen Ethik‹ beginnt er provokativ: »Nun ist es aber möglich, ein bestimmtes Unrecht zu tun, ohne deshalb schon ungerecht (schlechthin) zu sein«.1 Zur Begründung wird angeführt: »Das hat seinen Grund darin, daß jegliches Gesetz allgemein gefaßt ist. Aber in manchen Einzelfällen ist es nicht möglich, eine allgemeine Bestimmung so zu treffen, daß sie richtig ist. In solchen Fällen nun, wo es notwendig ist, sich allgemein auszudrücken, dies aber doch nicht so geschehen kann, daß alles richtig ist, da nimmt das Gesetz die Fälle sozusagen en bloc ohne allerdings zu übersehen, daß damit eine Fehlerquelle gegeben ist«.2 Das epieikes ist also eine Form des Richtigen, die das Gesetz, weil zu allgemein gehalten, im konkreten Falle nicht berücksichtigt, wobei aber die Auffüllung dieser Lücke im Sinne des Gesetzes liegt, ohne indes konkret von ihm vorgeschrieben zu sein. Folglich stellt dieses vomGesetz-Abweichen keine Übertretung dar, sondern gerade eine Verbesserung im Sinne sogar des Gesetzes selbst, eine Berichtigung, die auch der Gesetzgeber selbst vornehmen würde, wenn er vor der konkreten Situation stünde. In seiner ›Rhetorik‹ bestätigt Aristoteles noch einmal: Epikie garantiere eine bessere Form des Gerechten, besser als das allgemein gehaltene Gesetz, das nie alle Handlungsbedingungen erfassen könne; ja, so heißt es weiter: Es gebe 1 2
Aristoteles, Nikomachische Ethik V 10, 1134 a16, Üb. Franz Dirlmeier, ed. Ernst Grumach, Werke, Bd. 6, Darmstadt 1956, S. 109. Ebd., V 14, 1137 b12, S. 118f.
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Fälle, die ein Gesetz gar nicht regeln könne, und so sei vom vorliegenden Tatbestand aus eine Regelung im Sinne des Gesetzes zu finden.3 Kurzum, Epikie bedeutet, daß nach dem puren Wortlaut des Gesetzes der die Epikie Anwendende ein Gesetzesbrecher sein kann, während er in Wirklichkeit aber das Gesetz in dessen höherer Intention erfüllt. Ein einfacher Beispielfall ist das Besitzrecht, daß etwa ein Messer seinem Besitzer gehört, dasselbe ihm aber wegzunehmen ist, wenn er sich damit etwas Ungutes antun will. Für Aristoteles ist gefragt worden, ob er sich bei dieser seiner Sicht nicht allzusehr von der normativen Kraft des Faktischen habe leiten lassen.4 Das ist insofern richtig, als sich erst in der Begegnung mit der Wirklichkeit die Lückenhaftigkeit des Gesetzes zeigt. Doch ist das nur der okkasionelle Aspekt. Der eigentliche Maßstab dafür, bei der Begegnung mit der Realität die Lückenhaftigkeit des Gesetzes zu überbrücken, ist das Naturrecht. HansGeorg Gadamer und andere positionieren hier die kritische Funktion von Aristoteles‹ Auffassung des Naturrechts, das immer »dort aktuell [wird], wo es sich um Billigkeitserwägungen handelt, die erst das Recht wirklich findet«,5 eben jenes Recht, das das Gesetz nicht voll auszudrücken vermochte, aber doch wollte. Eine weitere Voraussetzung ist die absolute Rechtschaffenheit desjenigen, der die Epikie anwendet: Er verpflichtet sich auf Einsicht in das Gerechte, auch über das konkret vorgeschriebene Gesetz hinaus. Insofern soll der einzelne Mensch Überlegungen anstellen, wie es schon der Gesetzgeber tat, und kann auf diese Weise dann selber Recht finden, ja das gesatzte Recht verbessern. Eben dies will der epochale Satz des Aristoteles zum Ausdruck bringen: »Der feine und großzügige Mensch wird sich also, wie wir es beschrieben haben, benehmen: er ist sich gleichsam selbst Gesetz«.6 Zu Recht ist diese Einstellung als »Hochethos« bezeichnet worden,7 was sich eben darin erweist, daß die Epikie nicht nur eine Lücke, die der Gesetzgeber nicht sehen konnte, auffüllen will. Vielmehr dynamisiert der rechtschaffene Mensch in der Epikie das gesatzte Recht auf eine größere Gerechtigkeit hin und leistet damit ein eindeutiges Mehr. Den Antrieb dazu liefert nicht nur die Einsicht in die konkrete Situation und in das Naturrecht, sondern hier agiert vor allem das Gewissen, die letztgültige Instanz des Guten im Einzelnen. Beispielfälle, die in der Antike erörtert wurden, hat etwa Hekaton von Rhodos, ein Hauptvertreter der mittleren Stoa, aufgeführt: »Darf ein guter Mensch, weil Nahrungsmittel teuer sind, seine Sklaven hungern lassen? Falls bei Sturm ein 3
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Günter Virt, Epikie – verantwortlicher Umgang mit Normen. Eine historisch-systematische Untersuchung zu Aristoteles, Thomas von Aquin und Franz Suarez (TTS. 21), Mainz 1983, S. 83–85. Günter Virt, Epikie (wie Anm. 3), S. 79. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl., Tübingen 1965, S. 303. Aristoteles, Nikomachische Ethik IV14, 1128 a32 (wie Anm. 1), S. 93. Günter Virt, Epikie (wie Anm. 3), S. 85.
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Kaufmann Ware über Bord werfen muß, darf er statt eines wertvollen Pferdes einen wertlosen Sklaven weggeben? Darf ein Gescheiter im Wasser einem Toren die rettende Planke entreißen? – Nein. Soll ein Sohn seinen Vater verraten, wenn er ihn als Verbrecher entlarvt hat? Wenn jemand Falschgeld erhielt, darf er es absichtlich weitergeben? – Nein. Wenn jemand als Bronze verkaufen will, was der Käufer als Gold erkennt, darf er es ohne Aufklärung des Irrtums erwerben? – Nein«.8 Das ›epieikes‹, das Angemessene, hatte vor Aristoteles bereits eine lange Geschichte. Es bezeichnete ursprünglich das ›Entsprechende‹ und ›Gebührliche‹, dürfte auch an Talion und Waage erinnern und wurde als solches zunächst nicht ethisch bewertet.9 Daß die aristotelische Definition möglich wurde, ist tiefreichenden Veränderungen zu verdanken. Zum ersten schon durfte das Gesetz nicht mehr als rein göttliche Setzung gelten, denn dann wäre ihm ewige Gültigkeit wie auch Unveränderlichkeit zugekommen, was den ausnahmslosen Gehorsam der Menschen gefordert hätte. Vielmehr mußte erst eine Art Entzauberung und Vermenschlichung stattgefunden haben, die das Gesetz als menschliches Gemächte in den Blick rückte. Wie schwierig angesichts des ewigen und unabdinglichen Gesetzes eine Epikie war, zeigt folgender Fall aus den griechischen Anekdoten: »Zaleukos´ Sohn soll wegen eines adulterium nach den vom Vater geschriebenen Gesetzen geblendet werden. Die Bürger bitten um Gnade für den Jüngling, und der Vater gibt darauf eines seiner Augen, so daß zusammen mit einem Auge des Delinquenten dem Gesetz genüge getan wird«.10 Weiter mußte – wie Eric Dodds es ausgedrückt hat – die ›shame culture‹ durchbrochen werden, derzufolge der Mensch nicht aus Einsicht in die sittlichen Erfordernisse handelt, sondern aus Scheu vor der Strafe, sei es vor der himmlischen eines Gottesurteils, sei es vor einer irdischen Ächtung seitens der eigenen Gemeinschaft.11 Solange der Einzelne sich »außenleiten« ließ, konnte Epikie nicht realisiert werden. Ein Gericht hatte in solchen Sozietäten nicht die Aufgabe, Gerechtigkeit herzustellen, sondern der Ehre genugzutun.12 Und weil es nicht eigentlich um Gerechtigkeit ging, konnte auch gar nicht deren eherne Strenge gemildert werden. Was später mit Epikie umschrieben wurde, war hier noch das Zurückweichen vor verletzter Ehre und deren Besänftigung. Endlich mußte, um Epikie im aristotelischen Sinne praktizieren zu können, der Schritt von der Tathaftung zur Intentionshaftung 8 9 10 11 12
Cicero, De officiis III 89–92, zit. n. Henry Chadwick, Art. Gewissen, in: RAC 10 (1978), Sp. 1025–1107, Sp. 1055. Günter Virt, Epikie (wie Anm. 3), S. 61–63. Albrecht Dihle, Art. Gerechtigkeit, in: RAC 10 (1978), Sp. 233–360, Sp. 283. Eric R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970. Egon Flaig, Ehre gegen Gerechtigkeit, Adelsethos und Gemeinschaftsdenken in Hellas, in: Jan Assmann / Bernd Janowski / Michael Welker (Hgg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, S. 97–140.
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vollzogen sein, ein für die Menschheitsgeschichte als schlechthin revolutionär zu bezeichnender Wandel, bei dem nicht die äußere Tat, sondern die innere Gesinnung entscheiden sollte.13 Ein erstes Aufkommen der Epikie ist im frühklassischen Griechenland zu verzeichnen. Für die griechische Philosophie resultierte die Anerkennung der Gerechtigkeit nicht mehr aus »politisch-religiöser Tradition, sondern erschien als Ergebnis einer rational verstandenen Überprüfung«.14 Daß es dabei zuweilen nötig wurde, aus Mitleid und Freundlichkeit das Gleichheitsprinzip zu vernachlässigen, nannte man seit dem 5. Jahrhundert ›epieikeia‹.15 Die Handhabung der Epikie gestaltete sich keineswegs nur positiv, erwies sich vielmehr als janusköpfig. Denn die Epikie appellierte an die Einsicht des Einzelnen wie auch an seine Initiative und Gewissenhaftigkeit, was ja erst individuell-freiheitliche Lösungen erlaubte. Auf der andern Seite aber konnte die Epikie eine Beliebigkeit heraufführen, deren Folgen zu einer gesellschaftlichen Anarchie führen mußten. Die Umbrüche der griechischen Gesellschaft von der Clan-Struktur mit ihrer ›shame-culture‹ zur öffentlichen und sogar demokratischen Ordnung der Polis erforderte die innere Beteiligung der Bürger, mußte sich aber immer auf das Allgemeinwohl beziehen und vor Willkür schützen. Bekanntlich haben in dieser Umbruchsituation die Sophisten ihr Wirkungsfeld gefunden. Platon, wohlwissend, daß das Gesetz zwar das Allgemeine, nicht aber das Besondere zu regeln vermochte, favorisierte darum, wenigstens eine Zeitlang, die Idee eines weisen Herrschers, der das Gute besser verwirkliche als die Gesetze. Dabei folgte er der Einsicht, daß die Gesetze das Allgemeine regeln und in Sondersituationen der ermessentlichen Interpretation bedürften. Dieses Sich-Anpassen kann dann auch Platon ›epieikea‹ nennen, die damit aber keineswegs von vornherein positiv war; betonte er doch die Gefahr, daß in der Polis das Gesetz mehr der Zufriedenstellung der Abstimmenden diene als dem Recht und wegen dieser ihrer Gefährlichkeit nicht in das Ermessen des Einzelnen gestellt werden dürfte.16 Eben dies hat nun Aristoteles getan, indem er die Epikie dem Einzelnen überantwortete; dabei mußte freilich vorausgesetzt werden, daß dieser Einzelne sich als aufrichtiger und gewissenhafter Mensch erweise. Der hier obwaltende Optimusmus ist augenfällig, zumal Aristoteles das Problem des Bösen kaum mitbedacht hat. Tatsächlich hat denn auch die weitere Entwicklung nicht die vom Einzelnen zu leistende Epikie befördert. Vielmehr war es der vergöttlichte Herrscher, der als »Hüter der Wahrheit und vor allem [als] Wohltäter mit der Tugend der ›epieikeia‹, die die strenge Vergeltung abmildert«,17 auftrat. In den spätantiken Kaisergesetzen heißt es ausdrücklich: 13 14 15 16
Albrecht Dihle, Art. Ethik, in: RAC 6 (1966), Sp. 646–796. Ders., Art. Gerechtigkeit (wie Anm. 10), Sp. 255. Ebd., Sp. 253. Günter Virt, Epikie (wie Anm. 3), S. 69–74.
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»Sollte … in den Gesetzen vielleicht etwas Unverständliches vorkommen, so ist es Sache des Kaisers, dies aufzuklären und eine Strenge des Gesetzes, die sich mit unserer Menschenliebe nicht vereinbaren läßt, zu mildern«.18 Auch das römische Recht fragte nach der Angemessenheit, nach der ›aequitas‹. Ursprünglich bezeichnete diese aequitas wiederum die talionsartige Entsprechung, konkret den horizontal eingependelten Waagebalken.19 Später diente aequitas zur Milderung des ehernen Rechtes, wie es der Spruch besagt: summum ius – summa iniuria.20
2 Zu fragen ist auch nach der biblischen Tradition. Im Mittelpunkt steht der Wortstamm ›sädäq‹, der gängigerweise mit ›Gerechtigkeit‹ übersetzt wird, aber vielfältige und von unserem Gerechtigkeitverständnis abweichende Elemente enthält. Die Problematik, die die Modernen mit diesem alttestamentlichem Verständniskomplex haben, kommt gut in der Kapitelüberschrift einer biblischen Theologie von 1900 zum Ausdruck: »Jahve Hüter von Recht und Sitte, aber nicht gerecht«.21 Als heute ursprünglich geltender Befund wird angegeben: »Die ›sidqôt‹ Jahwes meinen ein kriegerisches Eingreifen in der Stunde der Not zugunsten seines Volkes, wobei die Frage, ob das Volk rechtschaffen ist oder nicht, oder auch, ob die Feinde böswillig sind und ihre Niederlage verdient haben, in vorprophetischer Zeit nicht in das Gesichtsfeld tritt (Ri 5,11; Dnt 33,21; 1 Sam 12,7). Entscheidend ist, daß die Gottheit dem sie verehrenden Verband sich als verläßlich und treu in gefährlichen Situationen erweist«.22 Diese sozusagen blinde »Gemeinschaftstreue«23 wandelt sich zum ›Tun-und-Ergehen-Zusammenhang‹, der talionsartig wirkt und Gott zum Belohner und Bestrafer macht. Zuletzt aber bezeichnet »›sädäq‹ die göttliche Vorgabe und ›sedaqâ‹ die Folge im menschlichen Verhalten. Menschliche Umkehr erscheint als Auswirkung, nicht als Voraussetzung einer durch göttliches Eingreifen wieder heilvoll gewordenen heiligen Stadt«.24 Die richtende 17 18
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Albrecht Dihle, Art. Gerechtigkeit (wie Anm. 10), Sp. 276. Codex Justinianus, De legibus et constitutionibus principum et edictis 1, 14, 9 (Kaiser Valentinian III.), ed. Gottfried Härtel / Frank-Michael Kaufmann, Leipzig 1991, S. 44. Günter Virt, Epikie (wie Anm. 3), S. 142–148. Georg Eisser, Zur Deutung von ›summum ius summa iniuria‹ im römischen Recht, in: Rechts- u. Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen (Hg.), summum ius summa inuria (Tübinger Rechtswiss. Abh. 9), Tübingen 1963, S. 1–21. Bernhard Stade, Biblische Theologie des Alten Testaments, Bd. 1. Die Religion Israels und die Entstehung des Judentums, Tübingen 1905, S.88. Klaus Koch, Sädaq und Ma’at. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten, in: Assmann / Janowski / Welker, Gerechtigkeit (wie Anm. 12), S. 54. Klaus Koch, Sädaq und Ma’at (wie Anm. 22), S. 55.
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Gerechtigkeit wandelt sich zu rettender Gerechtigkeit: »Ausgelöst ist dieser Verzicht durch einen Umsturz in Gottes Herz, der zum Willenswandel in Gott führt. Die ›rettende Gerechtigkeit‹ … rettet also nicht nur vor Unrecht (Unterdrückung, Gewalt, Verfolgung), sondern auch vor Recht – sogar vor dem Recht eines Gottes, der Grund zur Unnachgiebigkeit hätte, sich aber selbst ›beherrscht‹«.25 Diese rettende und heilende Gerechtigkeit Gottes wird Vorbild auch für menschliches Handeln. Das heißt: praktisch gibt es auch in Israel das Phänomen der Epikie, aber diese »Milderung« bzw. »Verbesserung« wird nicht vom Menschen in einem Säkularisierungsprozeß dem ehern-göttlichen Recht abgewonnen, sondern kommt von Gott selbst. Das Neue Testament führt diesen Ansatz fort. Wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) zeigt, handelt Gott zuerst als gnädiger Vater, der ohne zuvor ihm geleistete Wiedergutmachung zu verzeihen bereit ist, ja gerade dem verlorenen Schaf nachgeht (Lk 15,3–7). Gott zeigt sich hier mit seiner Gnade nicht nur zuvorkommend, sondern auch dem Sünder nachgehend. Die Gnade kommt als Erstes, und das Gericht bleibt »sekundär«.26 Damit ist fürs erste die Talion überwunden, was religionsgeschichtlich eine Sonderheit darstellt, wie Walter Burkert sagt: »Die Akzeptanz der Vergeltung als ›geltender‹ Entsprechung ist offenbar weltweit verbreitet. Widerspruch findet sich eigentlich nur bei Sokrates und, weit energischer, in einigen Sätzen und Passagen des Neuen Testaments: ›Vergeltet niemandem Böses mit Bösem‹. Jesus war allerdings so radikal, die Gegenseitigkeit auch im wirtschaftlichen Austausch abzulehnen: ›Wenn ihr Geld habt, leiht nicht auf Zins aus, sondern gebt … dem, von dem ihr es nicht zurückbekommen werdet‹, ja ›Von dem, der das Deine nimmt, fordere es nicht zurück‹. ›Geben ist seliger denn Nehmen‹: ›Wehe dem, der nimmt‹«.27 Wie schon die aristotelische Epikie mehr als nur die Gesetzesmilderung intendierte – sollte doch das Gesetz »besser« erfüllt werden –, so erscheint auch im Neuen Testament eine »bessere Gerechtigkeit«, hier sogar als Bedingung von christlicher Existenz überhaupt: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist …« (Mt 5,20). Eine »göttliche Steigerung« wird verlangt: »Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch Euer himmlischer Vater ist« (Mt 5,47c). Gefordert wird ein Mehr, das alles Äequivalenzdenken hinter sich läßt: »Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr da24 25
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Klaus Koch, Sädaq und Ma’at (wie Anm. 22), S. 59. Bernd Janowski, Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption II (Israel: Der göttliche Richter und seine Gerechtigkeit), in: Assmann / Janowski / Welker, Gerechtigkeit (wie Anm. 12), S. 20–28, S. 27. Joachim Gnilka, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte (HThKS. 3), Freiburg/ Basel/Wien 1990, S. 207. Walter Burkert, ›Vergeltung‹ zwischen Ethologie und Ethik. Reflexe und Reflexionen in Texten und Mythologien des Altertums (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen. 55), München 1994, S. 23.
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für erwarten?« (Mt 5,46). Entstanden ist aus diesen Forderungen ein »gestuftes Ethos«:28 das der Gebote und das der Räte, nämlich »das unbedingte Minimum (praecepta) und die wünschenswerten ›Werke der Übergebühr‹ (consilia)«.29 Hier ist ein Appell ausgesprochen, dem die Erfüllung des Gesetzesbuchstaben nicht genügen durfte, wie andererseits eine ungebührliche Härte des Gesetzes gemildert werden konnte, indem erklärt wird, daß der Sabbat für den Menschen da sei (Mt 2,27). Die Epikie des Aristoteles wie ebenso die »größere Gerechtigkeit« des Neuen Testaments intendieren beide sowohl eine Milderung, indem von der im Einzelfall unbilligen Härte des buchstäblichen Gesetzes abgegangen wird, wie auch eine Intensivierung, indem über das direkt Vorgeschriebene positiv hinausgegangen werden soll. Dennoch besteht ein Unterschied. Die aristotelische Epikie bindet sich an ein »höheres Gesetz«, das sowohl dem Gesetzgeber wie dem Anwender der Epikie einsichtig und verbindlich ist: das Naturrecht. Das Neue Testament sieht den Maßstab in Gottes Barmherzigkeit, und diese ist letztlich nicht normierbar, hat nur darin einen Maßstab, daß sie dem Seelenheil dienen will. Eine Sonderrolle nimmt Paulus ein. Für ihn gab es nur ein Evangelium und kein »anderes« (Gal 1,7). Dennoch wollte er nicht in allem gebieten (vgl. 1 Kor 7,6), sodaß er zu Milderungen, aber auch zu Steigerungen raten konnte. Henry Chadwick sagt: »Paulus bewahrt in einer von Spannungen und Auseinandersetzungen geprägten Lage die Einheit der Kirche, indem er voneinander abweichende Gewissensentscheidungen zuläßt. In Fragen des Fleischoder Gemüseessens soll kein Christ über den Bruder urteilen. Jeder einzelne ist gegenüber Gott, nicht den Menschen verantwortlich (Röm 14). Daraus folgt das besondere paulinische Interesse an sittlich Indifferentem. Ehe oder Ehelosigkeit, Sklaverei oder Freiheit, Beschneidung oder Unbeschnittensein, Fleischgenuß oder -enthaltung, selbst der Genuß von Götzenopferfleisch: all dies ist weder gut noch böse. Der moralische Wert hängt ab von dem (unterschiedlichen) Urteil des Gewissens. Was für den einen recht ist, mag falsch sein für den anderen«.30 Weiter, die paulinische Rechtfertigungslehre besagt, daß einerseits ein gutes Leben zu führen ist und Gott darüber richten wird, daß aber Gott dennoch in seiner Gnade »frei« bleibt und seine Rechtfertigung als Geschenk gibt. Im letzten freilich hat diese von Gott geschenkte Rechtfertigung doch wieder einen Rechtstitel, nämlich darin, daß Jesus für unsere Sünden am Kreuz starb, wie eine der erstchristlichen Traditionsformeln sagt. Im Römerbrief expliziert Paulus: »Die Gerechtigkeit Gottes [kommt] aus dem Glauben an Jesus Christus … Ohne es verdient zu haben, werden sie [die an 28 29 30
Gerd Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehung des Urchristentums (TEH 194), München 1977, S. 23. Henry Chadwick, Art. Gewissen, in: RAC 10 (1978), Sp. 1025–1107, Sp. 1083. Ebd., Sp. 1066.
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Jesus Christus Glaubenden] gerecht, dank seiner Gnade … Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut … So erweist Gott seine Gerechtigkeit durch die Vergebung der Sünden …« (Röm 3,22–25).
3 In der christlichen Geschichte vermischen sich Barmherzigkeit und Epikie, wobei durchaus die Gefahr der Gesetzesaushöhlung entstehen konnte. Zum Idealbild des Heiligen gehörte beispielsweise, daß er für jedweden Sünder eintrat und seine Hilfe nicht vom Verwerflichkeitsgrad des Verbrechens abhängig machte.31 Insofern gilt zu Recht, was Eugen Wohlhaupter in seiner bis heute unersetzten Untersuchung über die ›Aequitas canonica‹ schreibt: »Die Gnade steht über der Rechtsordnung; Billigkeit ist ein Institut dieser Rechtsordnung«.32 Doch verschob sich mit der Bestärkung des Richteraspektes im Gottesbild33 auch die Reichweite von Barmherzigkeit und Epikie. Denn schon bald wurde Gottes Barmherzigkeit darin gesehen, daß er den Sünder nicht auf der Stelle bestrafe, sondern ihm noch eine Zeit der Besinnung und Umkehr einräume. Von einer Ermäßigung ist dabei aber keine Rede mehr. Augustinus propagierte sogar die Formel: deus, qui nullum peccatum impunitum dimittit.34 Jede Sünde war zu büßen, wenn nicht in dieser Welt, so in der anderen; für schwere Sünden war die Höllenstrafe zu gewärtigen, für leichtere, die »unvermeidlichen und alltäglichen«, das Fegefeuer. Ein karolingischer Sterbe-Ordo kann darum vorschreiben, die bei einem Sterbenden noch ausstehenden Sündenbuße sei auf die Familienangehörigen zu verteilen. Was nicht auf Erden abgebüßt ward, mußte im Jenseits abgegolten werden: entweder im Fegefeuer oder aber in der Höllenpein.35 Die frühmittelalterlichen Bußverfahren begannen die Genugtuungswerke sogar genau zu zählen; dabei gab es intensivierte und darum zeitverkürzende Ersatzstrafen, aber keine Milderung.36 Der früheren Hälfte des Mittelalters wird man ganz allgemein kaum eine wirkliche Epikie zusprechen dürfen. Wohl wich man oft genug vom Gesetz ab, aber nicht zu dessen besserer Erfüllung, sondern zur 31 32 33 34
35 36
Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 190–206. Eugen Wohlhaupter, Aequitas canonica. Eine Studie aus dem kanonischen Recht (VGG.R. 56), Paderborn 1931, S. 184. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 93– 108. Arnold Angenendt, Deus, qui nullum peccatum impunitum dimittit. Ein »Grundsatz« der mittelalterlichen Bußgeschichte, in: Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Und dennoch ist von Gott zu reden. FS Herbert Vorgrimler, Freiburg/Basel/Wien 1994, S. 142–156. Angenendt, Geschichte der Religiosität (wie Anm. 33), S. 665–667, 706–711. Hubertus Lutterbach, Die mittelalterlichen Bußbücher. Trägermedien von Einfachreligiosität?, in: ZKG (2000), [im Druck].
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Parteienbefriedigung.37 Schon Gregor von Tours spricht ausdrücklich von Gerichtsentscheiden, die contra legem gefällt worden seien, um die Parteien zum Frieden zu bewegen.38 Ekkehard Kaufmann, der die Billigkeit in der Rechtspraxis des frühen Mittelalters untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, daß es eine wirkliche Billigkeitsjustiz nicht gegeben habe: »Aequitas bedeutet regelmäßig so viel wie Gerechtigkeit«.39 Das heißt: Man war zur älteren Form der Aequivalenz zurückgekehrt. Demgegenüber suchte das Kirchenrecht für die weiterhin mögliche und nötige Absehung vom Gesetz schon früh eine Reglementierung zu finden: im Recht der Dispensation, der fallweisen Freistellung vom Gesetz, ein Recht, das schon in der Spätantike mehr und mehr dem Papst vorbehalten wurde.40 Die Theologie blieb bis zur Scholastik »ehern«. Vom Maß der gerechten Strafe könne Gott nicht absehen, sagte noch Anselm von Canterbury, was Joseph Ratzinger ein »perfekt logisiertes göttlich-menschliches Rechtssystem« nannte, »das … die Perspektiven verzerrt und mit seiner ehernen Logik das Gottesbild in ein unheimliches Licht tauchen kann«.41 Der große Antipode Anselms wurde Bernhard von Clairvaux, der sagen konnte, er habe nicht gehört, daß Gott Gerechtigkeit sei, vielmehr sei er Liebe.42 Angesichts des Gerichtes glaubte Bernhard Zuversicht aus Jesu Heilsverdiensten schöpfen zu können;43 sogar noch für Judas, den andere in der tiefsten Hölle sahen, hegte er Hoffnung.44 Bernhard folgte der Logik der Liebe, und als Modell diente ihm dafür das bräutliche Verhältnis von Christus und der Einzelseele: Wo wirklich Liebe walte, da könnten selbst König und Magd sich vereinigen; alle Standesschranken seien vergessen; die Hoheit erniedrige sich und das Niedrige werde erhöht.45 Kurt Ruh sagt von Bernhards Hohe-Lied-Predigten, sie 37 38 39
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Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997. Ekkehard Kaufmann, Art. Billigkeit, in: Handbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1 (1971), Sp. 431–437, Sp. 433. Ekkehard Kaufmann, Aequitas iudicium. Königsgericht und Billigkeit in der Rechtsordnung des frühen Mittelalters (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Recht- und wirtschaftsgeschichtliche Reihe. 18), Frankfurt 1959, S. 130. Peter Landau, Art. Dispens, in: TRE 9 (1982), S. 10–13. Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, 9. Aufl., München 1968, S. 189. Bernhard von Clairvaux, Sententiae III 101, ed. Gerhard B. Winkler, Sentenzen III, Sämtliche Werke lat.-dt., Bd. 4, Innsbruck 1993, S. 591. Bernhard von Clairvaux, In Nativitate Domini, V 3, ed. Gerhard B. Winkler, Über den Vater der Erbarmungen, der sich der großen Zahl unserer Mühseligkeiten erbarmt, Sämtliche Werke lat.-dt., Bd. 7, Innsbruck 1996, S.271–273. Bernhard von Clairvaux, Sententiae III 124, (wie Anm. 42), S. 731–733. Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum LXXXIII 4, ed. Gerhard B. Winkler, Predigten über das Hohe Lied 83,4, Sämtliche Werke lat.-dt., Bd. 6, Innsbruck 1995, S. 615.
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seien »ein Hymnus auf die Liebe, wie ihn die Geschlechterliebe kaum je anzustimmen vermochte«.46 Derselbe Bernhard hat nun auch ein Buch ›De praecepto et dispensatione‹ geschrieben, in dem praktisch die Epikie behandelt wird und bei dem länger zu verweilen ist.47 Die Beispiele und Argumente seien hier näher vorgestellt, weil sie für das weitere Mittelalter prägend wurden, nicht zuletzt für Thomas von Aquin und noch für Johannes Gerson. Bernhard beginnt mit der Warnung davor, »die Mücke auszusieben und das Kamel zu verschlucken«.48 Seine eigentliche Argumentation betrifft das Fundament des Mönchtums, nämlich die Frage nach dem Gebot und den Räten, nach Regel und Gehorsam. »Manche Anordnungen des heiligen Benedikt betreffen das christliche Leben ganz allgemein, zum Beispiel das Gebot der Liebe, der Demut, der Sanftmut. Diese sind bekanntlich nicht von Benedikt, sondern von Gott befohlen und deshalb unabänderlich verpflichtend. Davon abgesehen sind alle übrigen Anordnungen der Regel für die, die sich nicht zu ihr bekennen, nur als Ermahnungen und Ratschläge zu bewerten. Sie belasten ihr Gewissen nicht, wenn sie sie nicht halten. Wer aber auf die Regel Profeß gemacht hat, muß sie wie Gebot halten. Er sündigt, wenn er sie mißachtet«.49 Für diese Verpflichtung, die die Professen eingegangen sind, möchte aber Bernhard dennoch die Möglichkeit gelten lassen, »daß notwendige und vernünftige Entpflichtungen keineswegs ausgeschlossen sind«.50 Natürlich gebe es das »ständig unverletzlich, unabänderlich Verpflichtende«.51 Als wirklich »unabhänderlich Verpflichtendes«52 gilt ihm, »was durch ewige göttliche Ordnung so unverrückbar festgelegt ist, daß unter keinen Umständen und nicht einmal von Gott selbst irgendwie geändert werden kann. Dieser Art ist die ganz geistliche Lehre der Bergpredigt des Herrn sowie alles, was immer über die Liebe, die Demut, die Sanftmut und die übrigen Tugenden im Alten wie im Neuen Testament geistlich zu beobachten gemeinsam überliefert ist. Diese Tugenden nicht zu haben, kann also niemals erlaubt oder ersprießlich sein. Gerade deshalb sind sie unabänderlich, weil sie auch von Natur aus gut sind …«.53 Aber die entsprechenden Klosterregeln stammen doch nur von Menschen, und darum »können auch Menschen, die jenen [den Regelverfassern] aufgrund kanonischer Wahl in Stellung und Amt nachfolgen, bisweilen mit Rücksicht auf besondere Fälle, Personen, Orte und Zeiten erlaubterweise und ohne Schaden davon 46 47 48 49 50 51 52 53
Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1. Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 267. Bernhard von Clairvaux, De praecepto et dispensatione, ed. Gerhard B. Winkler, Über Gebot und Entpflichtung, Sämtliche Werke lat.-dt., Bd. 1, Innsbruck 1990, S. 345–436. Ebd., S. 351. Ebd., S. 351–353. Ebd., S. 353. Ebd., II 4 (wie Anm. 47), S. 353. Ebd., III 7 (wie Anm. 47), S. 357. Ebd., III 7 (wie Anm. 47), S. 357.
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entpflichten. Wer dies liest, muß aber beachten, daß ich ganz bewußt nicht sage, die Gebote dürften leichthin und willkürlich geändert werden. Nein: auch Berechtigte dürfen nur aus vernünftigem Grund und verantwortungsbewußt davon entpflichten«.54 Das Fazit lautet: »Aus dem ganzen Sachverhalt ergibt sich, daß die Überlieferung der Regel über weite Strecken zwar nicht der Willkür, aber dem weisen Ermessen der Ordensoberen anheim gestellt ist«.55 Bemerkenswert ist dabei auch, wie Bernhard die Stellung des Abtes und seine Gehorsamsforderung gegenüber den Mönchen erläutert. Erinnern wir uns: Adalbert de Vogüé hat den Gehorsam als Herzstück des benediktinischen Klosters hingestellt, wobei der einzelne Mönch dem Abt gehorsam sein sollte, wie Christus seinem Vater bis in den Tod gehorsam gewesen war.56 Was sagt nun Bernhard? »Der Abt steht nicht über der Regel: er hat nämlich selbst das Mönchsgelübde abgelegt. … Dabei ist nicht zu leugnen, daß die Liebe als Regel Gottes mit Recht der Regel des heiligen Benedikt vorgeht«.57 So stehen auch die Äbte in Pflicht: »Ich meine nämlich, daß jene heiligen Satzungen der Klugheit und Treue der Vorsteher anvertraut, nicht ihrem Belieben ausgeliefert sind. Daher verwendet unser Gesetzgeber an den Regelstellen, wo er etwas der Entpflichtungsgewalt des Abtes überläßt, … vorsichtigerweise nie das Wort ›Belieben‹, sondern Ausdrücke wie ›Rücksichtnahme‹, ›Verfügung‹, ›Vorsorge‹, ›Entscheidung‹ oder etwas Ähnliches. Offenbar wollte er, daß der Abt als umsichtiger und getreuer Verwalter bei etwaiger Entpflichtung dem Urteil der Vernunft, nicht dem Belieben des Willens folge«.58 Darum werde »die Willkür des Vorstehers, und zwar nicht unwesentlich, eingeschränkt durch den Umstand, daß der Mönch bei seiner Profess wohl Gehorsam, aber keinen unumschränkten, sondern einen genau ›nach der Regel‹ umgrenzten, und wieder nach keiner anderen als der ›des heiligen Benedikt‹ gelobt. Daher kann der Obere gegenüber dem Untergebenen nicht seiner Willkür die Zügel schießen lassen«59. Für den zum Gehorsam verpflichteten Mönch ergibt sich daraus das Fazit: »Nicht jeder Ungehorsam ist gleich gefährlich«.60 Vielmehr gibt es »Stufen des Gehorsams«:61 »Ein wahrhaftig und demütig Gehorchender versteht es, das Kleinste nicht zu verachten und sich vorab um das Größere zu kümmern«.62 Dennoch kann es in extremen Fällen den notwendigen Ungehorsam geben: »Gottwidrigen Befehlen von Oberen müssen Untergebene nicht gehorchen«.63 Die Frage, ob denn nun 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Ebd., II 4 (wie Anm. 47), S. 355. Ebd., IV 9 (wie Anm. 47), S. 359. Adalbert de Vogüé, Die Regula Benedicti. Theologisch-spiritueller Kommentar (RBS.S 16), Hildesheim 1983, S. 118 und 127f. Ebd., IV 9 (wie Anm. 47), S. 359. Ebd., IV 9 (wie Anm. 47), S. 359–361. Ebd., IV 10 (wie Anm. 47), S. 361. Ebd., VII 13 (wie Anm. 47), S. 365. Ebd., VII 16 (wie Anm. 47), S. 369. Ebd., VII 16 (wie Anm. 47), S. 369. Ebd., IX 19 (wie Anm. 47), S. 373.
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dem Mönch die Todsünde des Ungehorsams sozusagen im Nacken sitze, beantwortet Bernhard entschieden mit »Nein«: Wenn auch Ungehorsam unentschuldbar sündhaft sei, »so führt er doch nie zur ewigen Verdammnis, außer wenn ihn das Heilmittel der Buße nicht heilt. Er ist nicht Todsünde, außer wenn er den verachtenden Stolz nicht meidet. Groß ist also die Sicherheit der Söhne des Gehorsams und wahrhaft Friede den Menschen guten Willens!«64 Wir finden hier also ein breites Feld des Ermessens, das gerade auch dem einzelnen Mönch eingeräumt ist; eine Anpassung kann der Betroffene selbst vornehmen, und sie muß nicht unbedingt vom Abt ausgesprochen werden. Bernhard hat – wie gesagt – mit seiner Gehorsamsinterpretation das ganze weitere Mittelalter geprägt. Die Kanonistik des Hohen Mittelalters erneuerte sowohl Epikie wie Dispens. Die Dispensierung galt als »eine aus gerechtem Grund vorgenommene, fallweise Durchbrechung der Strenge der einschlägigen kanonischen Vorschrift«, so der Dekretist Rufinus.65 Am ausführlichsten konnte sie vom Papst angewandt werden. Innozenz III. beanspruchte: »Gemäß der Fülle der Amtsgewalt können wir von Rechts wegen vom Recht dispensieren«.66 Albert der Große und Thomas von Aquin haben dann die aristotelische Epikie wiederentdeckt und in ihre Ethikentwürfe aufgenommen.67 Interessant ist, daß sich die antike Diskussion dabei insofern zu wiederholen scheint, als im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit auch wieder Überlegungen hervortreten, welche an die Stelle der Epikie die herrscherliche oder auch päpstliche clementia setzen wollten.68 Vielerlei Fragen wären noch anzuschließen. Vor allem ist zu untersuchen, welcher Spielraum dem Einzelnen etwa im Gesamt der Kirche belassen wurde, wirklich Epikie anzuwenden, oder – paulinisch-gesprochen – seinem Gewissen zu folgen. Thomas von Aquin, der in der Anwendung der Epikie eher vorsichtig blieb, bestand auf der Letztverbindlichkeit des Gewissensentscheids.69 Für herrscherliche Milde in der Kirche dürften die päpstlichen Hulderweise ein wichtiges Demonstrationsobjekt abgeben. Indem freilich Gesetzesmilderung päpstlicherseits monopolisiert wurde, mußte sich Herrschaft nochmals steigern. Aber gerade daran ist das Papsttum fast gescheitert, und ironischerweise konnte es nur wieder funktionsfähig werden, daß sein Überanspruch mit Hilfe der Epikie abgebaut wurde. Am deutlichsten geschah das in der Beilegung des Schismas. Konrad von Geln64 65 66 67 68 69
Ebd., XI 28, XII 30 (wie Anm. 47), S. 387–389. z. nach Peter Landau, Art. Dispens, in: TRE 9 (1982), S. 10–13, S. 11. z. nach Peter Landau, Art. Dispens, in: TRE 9 (1982), S. 10–13, S. 12. Günter Virt, Epikie (wie Anm. 3), S. 91–171. Günter Virt, Epikie (wie Anm. 3), S. 172–234. William J. Hoye, Die Wahrheit des Irrtums. Das Gewissen als Individualitätsprinzip in der Ethik des Thomas von Aquin, in: Jan A. Aertsen / Andreas Speer (Hgg.), Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24), Berlin/New York 1996, S. 419–435.
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hausen plädierte in seiner an den französischen König Karl V. gerichteten ›Epistola concordiae‹ dafür, angesichts des Scheiterns aller Mittel des positiven Rechts Epikie anzuwenden, nämlich um der Einheit der Kirche willen ohne Mitwirkung des Papstes ein Konzil zu berufen.70 Heinrich von Langenstein folgte ihm darin: Wer hier auf den Buchstaben des kanonischen Rechts beharre, verhindere deren letztgültige Intention, nämlich den Weg des Friedens und Heils zu beschreiten. Male enim epikisant ruft er aus.71
4 Insgesamt muß man sich vergegenwärtigen, daß Epikie eine situative Ethikforderung ist. Gemeint ist hiermit zuerst ihre Anwendung bei unzureichenden Gesetzesbestimmungen. Desweiteren ist aber auch ihre historische Situierung anzusprechen. Epikie wird im geschichtlichen Prozeß erst dort zum Erfordernis, wo strikte und sogar schriftlich fixierte Gesetze vorliegen, die dann aber einer angemessenen Anwendung bedürfen. Dafür muß das Gesetz gegebenenfalls seine eherne Absolutheit aufgeben; oder biblisch gesprochen: Der Sabbat muß für den Menschen da sein (Mt 2,27). Das bedeutet: Für die angemessene Anwendung soll jeder Einzelne fähig sein und einstehen können; ja, er muß die Gesetzessituation sogar besser erfüllen als im Gesetzestext vorgesehen. Diese Vorbedingungen sind erst in einer »freien«, »gebildeten« und »gewissenhaften« Gesellschaft gegeben, anders ausgedrückt: in ethisch regulierter Freiheit. So ist es historisch bezeichnend, daß die Notwendigkeit einer Epikie genau im Moment der Polis-Entstehung postuliert wurde. Das frühere Christentum verstand sich als »Gemeinschaft der Heiligen«, wobei auch hier das Gewissen des Einzelnen, wie Paulus es forderte, zu respektieren war und außerdem – im Blick auf Gottes Barmherzigkeit – Gnade auch gegenüber dem Sünder walten sollte. Wenn hier nach dem, sachlich gesehen, nichtigen Fehltritt mit gleichwohl überdimensionierten Folgewirkungen gefragt wird, betrifft das exemplarisch das höfische Zeremoniell. Auf den ersten Blick könnte die Epikie als das genaue Gegenteil erscheinen: die gravierende Nichtbeachtung des Gesetzes mit gleichwohl positiver Wirkung. Dennoch bestehen Unterschiede. Norbert Elias spricht dem neuzeitlichen Hofzeremoniell einen Doppelcharakter zu, daß es in Wahrheit den »Charakter von Sekundärfunktionen«72 hatte, aber tatsächlich »weitgehend den von Primärfunktionen«73 besaß, und damit von 70 71
Konrad von Gelnhausen, Epistola concordiae, ed. Franz P. Bliemetzrieder, Wien 1910, S. 111–146; Wohlhaupter, Aequitas canonica (wie Anm. 32), S. 85. Ebd., S. 86; Georg Kreuzer, Heinrich von Langenstein. Studien zur Biographie und zu den Schismatraktaten unter besonderer Berücksichtigung der Epistola pacis und der Epistola concilii pacis (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. NF 6), Paderborn u.a. 1987, S. 184–189. Anm. 72–73 s. nächste Seite
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»gespenstischer Art«74 war, sogar »ein zur Last gewordenes Zeremoniell«75 bildete, was zuletzt sogar Widerwillen erzeugen mußte; denn »man trug die Etikette widerwillig«.76 Daß das Ganze dennoch fortbestehen konnte, resultierte aus dem »Zwang des Kampfes um ständig bedrohte Macht- Status- und Prestigechancen«.77 Insofern konnte man die Etikette »von innen her nicht durchbrechen«,78 es sei denn, man gewann »andere Quellen der Rechtfertigung seines Wertes und seines Stolzes«.79 Gemeinsam mit der Epikie ist diesem Ausbrechen die Berufung auf eine tatsächliche und verbindliche Wirklichkeit: bei der Epikie auf das höhere Recht, bei der Zeremoniell-Aufkündigung auf andere, innere Werte der Selbstkonstitution, unabhängig vom Ranggefüge des Hofes. Der Fauxpas am Hofe, sofern aus anderen inneren Werten erfolgend, mußte befreiend für alle jene wirken, die diesen anderen Werten folgten, und insofern konnte ein möglicherweise sogar provokativer Fauxpas das höfische Scheingefüge, wenn es wirklich zu einem solchen geworden war, zum Einsturz bringen. Solange aber das Gefüge des Hofes allgemein als vorteilhaft angesehen wurde, hätte die Epikie das Gesamt intakt gelassen. Weil aber der Hof bereits als Scheinwelt empfunden wurde, mußte eine wirkliche Berufung auf innere und eigentlich allgemein gültige Werte das Zeremoniell, weil es keine Wirklichkeit mehr abdeckte, zum Einsturz bringen.
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Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (stw. 423), Frankfurt 1983, S. 129. Ebd., S. 129. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Ebd., S. 134.
Richard Newhauser
Zur Zweideutigkeit in der Moraltheologie
Als Tugenden verkleidete Laster »Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés« La Rochefoucauld.1
In der Entwicklung der westlichen Kultur im Mittelalter gehörte auch eine präzise, vom geistlichen Stand übermittelte Katalogisierung der Morallehre zum Instrumentarium des langen Zivilisierungsprozesses.2 Selbst wenn diese vornehmlich der Befestigung der geistlichen Perspektive auch im Alltag diente, artikulierte sie sich in allgemeingültiger Weise, wie sie auch den Anspruch erhob, innerhalb ethischer Rahmen das sozial Annehmbare für das ganze Christentum darzustellen. War die Aufstellung einer Tugend- und Lasterlehre Resultat eines monastischen Bedürfnisses, hat sie spätestens mit der karolingischen Renaissance einen entscheidenden Schritt außerhalb der Klostermauern getan, ja sich fast zu einem vom Staat geförderten Prinzip erhoben, um gezielt die Obrigkeit für eine immer noch klerikale Vision moralischer und doktrinaler Erneuerung zu gewinnen.3 Die Moraltheologen haben 1
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Diese Arbeit ist während eines Aufenthalts als Fellow an der National Humanities Center abgeschlossen worden. Ich möchte mich für die Unterstützung der Center sowie der Gladys Krieble Delmas Foundation/American Council of Learned Societies während eines Forschungsfreijahres 1999–2000 bedanken. Für Verbesserungsvorschläge aller Art bedanke ich mich sehr herzlich bei den Kollegen István Bejczy, Nigel Harris, Michael Peletz Edward Peters und Peter von Moos. François VI de La Rochefoucauld, Réflexions ou sentences et maximes morales, 5. Aufl., Paris 1678, in: L. Martin-Chauffier / Jean Marchand (Hgg.), Œuvres complètes de La Rochefoucauld (Bibliothèque de la Pléiade 24), Paris 1957, S. 389. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. (Norbert Elias, Gesammelte Schriften 3.1–2), Basel 1939; neuaufgelegt Frankfurt a.M. 1997. Janet L. Nelson, On the Limits of the Carolingian Renaissance, in: Derek Baker (Hg.), Renaissance and Renewal in Christian History (Studies in Church History 14), Oxford 1977, S. 51–69.
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die Reihen der Hauptlaster und -tugenden immer wieder auf aristokratische Laienkulturen auszudehnen versucht, haben sich dann auch bemüht, im Laufe der Säkularisierung der Morallehre im Hoch- und Spätmittelalter sie zu einem nun auch nachdrücklich auf den dritten Stand gerichteten Maßstab dessen zu machen, was als zulässig beziehungsweise moralisch unannehmbar galt. Der ursprüngliche Entstehungskontext der Lehre von den später zu Lastern umbenannten logismoi, oder bösen Gedanken, ist aber im geistlichen Milieu der außerpachomianischen Mönche Ägyptens im späten vierten Jahrhundert zu finden, wo diese Lehre dem Zweck der asketisch rigorosen Selbstbeherrschung dienlich war. Von Taxonomien der Moral hat man nun behauptet, wie Michael Herzfeld argumentiert, daß sie eine öffentliche Beurteilung des Verhaltens thematisieren würden, um Anpassungsgrade an eine soziale Norm, statt sich mit möglich vorstellbaren seelischen Zuständen auseinanderzusetzen.4 Demgegenüber möchte ich im folgenden untersuchen, ob man nicht zu einem differenzierteren Verständnis der Taxonomie der in den Anachoretengemeinschaften entwickelten und dann dem Mittelalter übertragenen Hauptlaster (mitsamt den ihnen später gegenübergestellten Tugenden verschiedener Art) gelänge, wenn das Wechselspiel zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem Vorsätzlichen und dem Unabsichtlichen, in die Behandlung der als Tugenden verkleideten Laster in Betracht gezogen würde. Auch wenn die moralischen Verfehlungen, von denen hier die Rede ist, öfters der Zurechnungslogik zugewiesen worden sind, weist gerade die Zweideutigkeit der Moraltheologie anhand der als Tugenden verkleideten Laster den Versuch auf, diese meist unbewußten Sünden auch mit dem Instrumentarium der Irrtums- und Unabsichtlichkeitslogik zu erfassen. Das bedeutet, daß sich nicht alle in bester Absicht begangenen »guten Taten« nach der psychologisch verfeinerten Untersuchung der Moraltheologen als schuldhafte Vergehen herausstellen, sondern vielmehr, daß die Intentionsethik der Moraltheologie eine zu jeder Zeit durchlässige Grenze zwischen dem Guten, dem Bösen und dem adiaphoron voraussetzt. Die Sündenkasuistik läßt sich auf diese Weise nicht so sehr als christliche Schuldobsession verstehen, wohl aber doch als Fixierung auf eine immer präsente Schuldmöglichkeit. Das Individuum ist also laut der Moraltheologie jederzeit zur Skandalisierung des Gewissens bereit, aber das heißt auch, daß der mittelalterlichen Scham moralisch verstanden dieselbe Dynamik anhaftet, wie dies von der religiösen Scham behauptet worden ist.5 Dabei ist die Frage der Intentionalität unabdingbar, denn erstens bringt sie die Kontrolle über die Art und Weise zur Sprache, in der dem mittelalterlichen Gläubigen innere Zustände zugerechnet wurden, die auch unabsichtlich beliebig fehlerhaft sein könnten. Sie zeigt zweitens, daß es dem Interesse der Moraltheologen förderlich gewesen ist, diese inneren Zustände als so labil zu charakterisieren, daß dabei ihre eigene 4
Michael Herzfeld, Honour and Shame. Problems in the Comparative Analysis of Moral Systems, in: Man n.s. 15 (1980), S. 341.
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Rolle als Fürsprecher und Interpreten gerechtfertigt wurde.6 Insofern ein verstecktes Laster ein Modell der gut gemeinten Tat vorweist, die aber als das Gegenteilige entlarvt werden kann, wird auf dessen Verständnis als eine Art des moralischen Fehltritts im Sinne der nicht bewußt schuldhaften Verfehlung insistiert, die selbst bei guter Intention über die Schwelle zum moralisch Unannehmbaren tritt. Sie trägt dann drittens dazu bei, ein gängiges Mittelalterbild zu differenzieren. Wie Georges Duby u. a. argumentiert hat, ist die Idee eines inneren Selbst erst bei den Theologen des zwölften Jahrhunderts nachhaltig ausgearbeitet worden und von Änderungen in der Liebeskasuistik und in einem das Individuum befreienden wirtschaftlichen Handel unterstützt worden,7 aber die Erkenntnis der moralischen Ambivalenz bei Evagrius Ponticus, Johannes Cassianus, Augustin von Hippo, Gregor dem Großen und vielen anderen im Frühmittelalter weist auf eine fortlaufende moraltheologische Denkweise hin, die auch vor dem zwölften Jahrhundert nicht als bloßes Haften an Äußerlichkeiten verstanden werden soll, sondern als eine Intentionsethik, die Schein und Sein sehr wohl zu unterscheiden fähig war, welche auch die mittelalterliche Anthropologie, d.h. das Verständnis des menschlichen Wesens schlechthin, mitgeprägt hat. Die Kontrolle der Gedanken, die von Evagrius Ponticus empfohlen wurde,8 der als Urvermittler, wenn nicht Urheber, der monastischen »Achtlasterlehre« bekannt ist,9 sollte es den Eremiten ermöglichen, die eigentliche Aufgabe des auf Gott gerichteten Besinnens ohne Ablenkung durch die Leidenschaften ausführen zu können. Den als apatheia bezeichneten Zustand, in dem die Leidenschaften der Seele in Schach gehalten werden, konnte der Asket vor allem 5
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Jean-Claude Bologne, Histoire de la pudeur, Paris 1986, S. 307. Zur Diskussion der Möglichkeit einer moralisch neutralen Handlung bei Menschen in der hochmittelalterlichen Theologie, siehe P.-M. Gy, Les définitions de la confession après le quatrième concile du Latran, in: L´aveu. Antiquité et Moyen âge. Actes de la table ronde (Rome 28–30 mars 1984) (Collection de l’École Française de Rome 88), Rom 1986, S. 283–96; Odon Lottin, Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe siècles, Bd. 2, Teil 1, Louvain / Gembloux 1948, S. 421–89. Lawrence Rosen, Introduction. The Cultural Analysis of Others’ Inner States, in: Lawrence Rosen (Hg.), Other Intentions. Cultural Contexts and the Attribution of Inner States, Santa Fe, New Mexico 1995, S. 3. Georges Duby, Solitude: Eleventh to Thirteenth Century, in: Georges Duby (Hg.), A History of Private Life, Bd. 2: Revelations of the Medieval World, übers. v. Arthur Goldhammer, Cambridge, Mass. 1988, S. 509–33; Caroline Walker Bynum, Did the Twelth Century Discover the Individual?, in: Journal of Ecclesiastical History 31 (1981), S. 1– 17, erweiterte Fassung: Dies., Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages (Publications of the Center for Medieval and Renaissance Studies, UCLA, 16) Berkeley/Los Angelos/London 1982, S. 82–109; Colin Morris, The Discovery of the Indivudual, 1050–1200 (Church History Outlines), London 1972; Etienne Gilson, L’esprit de la philosophie médiévale. Gifford Lectures (Université d’Aberdeen), 2. Aufl. (Etudes de Philosophie Médiévale 33), Paris 1944, S. 324–44. Zum Leben des Evagrius Ponticus siehe Antoine und Claire Guillaumont (Hgg.), Evagre le Pontique, Traité Pratique, ou le Moine, Bd. 1 (Sources chrétiennes 170), Paris 1971, S. 21ff.
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dadurch erreichen, daß er sich gegen die Angriffe von Dämonen zur Wehr setzte, die gegen Anachoreten besonders die bösen Gedanken anzuwenden versuchten.10 In vielen Schriften hat Evagrius dargelegt, wie Eremiten die acht logismoi (Völlerei, Wollust, Habsucht, Zorn, Traurigkeit, Trägheit, Eitelkeit und Hochmut) erkennen und verdrängen sollen. Seine Arbeiten bieten also Anweisungen zur geistigen Selbstbeobachtung, die darauf gerichtet sind, dem Mönch beizubringen, seine eigenen störenden Gedanken, d.h. seine fehlende Selbstkontrolle, im Bewußtsein des eigenen Schuldgefühls selber heraufzubeschwören und zu überwinden. Diese Kontrolle des Gewissens fand im privaten Bereich in der eremitischen Zelle statt und hing mit den Versuchen des Anachoreten zusammen, sich gedanklich mit Gott zu vereinigen. Die Verfehlung, bei der inneren Einkehr zum Göttlichen den logismoi nachzugeben, gehört also in den Kontext der Schuld, während die Schilderungen einiger Bußverfahren für sündhaftes Vergehen, die von den Wüstenvätern des vierten Jahrhunderts notiert werden, am besten als Scham produzierende Prozesse verstanden werden können, da sie auf Verordnung der Ältesten von den lose zusammengebundenen Anachoretengemeinschaften Ägyptens in der Öffentlichkeit ausgeführt werden konnten. Ähnlich wie in den Schriften von Evagrius betonen zum Beispiel zahlreiche Geschichten zum Thema Habsucht in den Apophthegmata Patrum die Notwendigkeit des totalen Verzichts auf Güter am Anfang des asketischen Lebens sowie die Gefahr, die dann entsteht, wenn diese Warnung nicht beachtet wird. In einem oft übermittelten Exempel wird ein Mönch, der seine Güter unter der Armen ausgeteilt, jedoch heimlich einige Dinge für sich behalten hat, vom heiligen Antonius angewiesen, in der Stadt frisches Fleisch zu kaufen und es an seinem Körper festzubinden. Auf dem Rückweg aus der Stadt wird er auf offener Straße vor den Augen aller Vorbeigehenden von hungrigen Hunden und Raubvögeln angegriffen und verwundet. Auf dieselbe Art und Weise, erklärt Antonius den Mönchen, quälen Dämonen diejenigen, die Geld für sich behalten wollen.11 Um mit Peter 9
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Versuche moderner Wissenschaftler, die Ursprünge des Lasterschemas zu identifizieren, werden erläutert bei Richard Newhauser, The Treatise on Vices and Virtues in Latin and the Vernacular (Typologie des sources du moyen âge occidental 68), Turnhout 1993, S. 101–03. Zur nicht immer freundlichen Bewertung der apatheia bei den damaligen Theologen siehe Simon Tugwell, Evagrius and Macarius, in: Cheslyn Jones / Geoffrey Wainwright / Edward Yarnold (Hgg.), The Study of Spirituality, London 1986, S. 170–72; Walther Völker, Praxis und Theorie bei Symeon dem Neuen Theologen. Ein Beitrag zur byzantinischen Mystik, Wiesbaden 1974, S. 265–72; Pierre De Labriolle, Apatheia, in: RAC 1, Stuttgart 1950, Sp. 484–87; T. Rüther, Die sittliche Forderung der Apatheia in den beiden ersten christlichen Jahrhunderten und bei Klemens von Alexandrien. Ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Vollkommenheitsbegriffes (Freiburger Theologische Studien 63), Freiburg/Br 1949; Pierre De Labriolle, Apatheia, in: Mélanges de philologie, de littérature et d’histoire anciennes offerts à Alfred Ernout, Paris 1940, S. 215–23; Gustave Bardy, Apatheia, in: DSAM 1, Paris 1932, Sp. 727–46.
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von Moos zu reden, macht hier die Öffentlichkeit als Exemplarität für das Bußverfahren das Wesen der Scham aus, denn erst dann wurde allseits bekannt, daß in der Zelle des Mönches Hab und Gut gehamstert wurde, als die allseits wahrnehmbare Buße erfolgte.12 Zur Wechselbeziehung des Öffentlichen und des Privaten gehört bei Evagrius aber auch der Fall, in dem aus der Perspektive des Moraltheologen ein logismos derart sublimiert ist, daß eine von ihm angeregte Handlung, obwohl aus einer lasterhaften Veranlassung im Privaten erwachsen, in der Öffentlichkeit doch tugendhaft wirkt. Die Habsucht, bemerkt Evagrius, könnte den Asketen dazu bringen, seinen Weltverzicht zu annulieren und statt dessen eine Stellung in der Stadtverwaltung anzunehmen, bei der er sich bemühen würde, die Not der Armen zu lindern. Seine Taten in deren Dienst wären sicherlich lobenswert, müßten aber das Ziel verfehlen, seine Bindungen zur Welt zu lösen, indem sie ihn dazu bringen würden, ohne daß er es selber bemerkte, sich mehr um seinen guten Ruf als um die Meditation zu kümmern. Diese Person: »besichtigt die Stadtgefängnisse und – aber natürlich! – kauft diejenigen frei, die zu Sklaven gemacht wurden. Er bleibt immer in der Nähe reicher Frauen und macht sie auf diejenigen, die unterstützungswürdig sind, aufmerksam und ermahnt wiederum die Schwerreichen, sich von der Welt abzukehren. Während er sich auf diese Weise selbst betrügt, unterwirft er die eigene Seele dem Gedanken der Habsucht und liefert sie der Eitelkeit aus.«13 Pointiert werden hier monastische Ansprüche einer nach dem Maßstab der säkularen Welt bemessenen fama gegenübergestellt. Aus der Perspektive des Sünders bleibt die Frage nach der privaten Absicht des öffentlichen Handelns dahingestellt, sie muß also vom Moraltheologen aufgegriffen werden, um dann nur in ethischem Rahmen beantwortungsfähig zu sein. Dabei wird der Interpretationsprozeß hauptsächlich zur Enthüllung von sozial untadeligem Verhalten als Laster. Einer solchen Enttarnung möchte man nicht die Fähigkeit absprechen, durch die Beschreibung der gerade nicht beabsichtigten Ungeeignetheit einer öffentlichen Tat sowohl Scham als auch Schuld zu produzieren. 11
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Apophthegmata patrum, Anthony, 20 (PG 65: 81). Eine lateinische Version dieses Apophthegmas befindet sich in einer Übersetzung einer verschollenen griechischen Sammlung aus dem 6. Jahrhundert, im Kapitel ›Contra philargyriam‹: Paschasius von Dumium, Apophthegmata patrum, 14.2 in: J. Geraldes Freire (Hg.), A Versão por Pascásio de Dume dos Apophthegmata Patrum, Coimbra 1971, Bd. 1, S. 186. Siehe auch Vitae patrum, 5.6.1, 5.6.10, 3.68 (PL 73: 888, 890, 772). Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Gert Melville / Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln/Weimar/Wien 1998, S. 42. Evagrius Ponticus, De diversis malignis cogitationibus, 22 (PG 79: 1225): kai= desmwth0ria po0lewv e8piske0ptetai, kai= tou=v pipraskome0nouv dh4qen e8cagora0zei, gunaici0 te kolla4tai plousi0aiv, kai= tou=v eu9 paqei4n o8fei0lontav u(podei0knusi, kai= a6llouv pa0lin a8pota0casqai nouqetei4 bala0ntion a(dro=n kekthme0nouv, kai= ou&twv e8capath0sav kata= mikro=n th=n yuxh0n, th4v filarguri0av au8th=n logismoi4v u(poba0llei, kai= tw14 th4v kenodoci0av paradi0dwsi dai0moni.
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Eine öffentliche Tat, die entblößungsfähig ist, ist auch im Grunde genommen zweideutig, d.h. interpretationsbedürftig, da die Beziehung des Privaten zum Öffentlichen noch im Dunkeln harrt. An dieser dem Schein nach undurchlässigen Grenze des enthüllungsbedürftigen Lasterhaften zum in sozialer Hinsicht geradezu Exemplarischen setzt doch die Zweideutigkeit der Moraltheologie ein. Darüber hinaus zeigt die zeitgenössische Diskussion zu den als Tugenden verkleideten Lastern, daß man sich dieser Ambiguität bewußt war und ihrer Herr werden wollte. Sie ist offenbar für die Taxonomie der Moral im Mittelalter so notwendig wie auch problematisch, denn dadurch, daß die Zweideutigkeit sowohl mit verifizierbarem Verhalten als auch mit der privaten Innenwelt des Individuums im Zusammenhang stand, verschaffte sich die Tugend- und Lasterlehre einen Freiraum, in dem die Einzelperson ihr eigenes Schuldbewußtsein entfalten konnte, während sie auch zu einer peinlich genauen Untersuchung der Beziehung zwischen Motiven und Taten nach der Betrachtungsweise der Geistlichen gezwungen wurde. Ein schlimmes Verfehlen könnte also leicht wie ein wünschenswerter Zustand aussehen. Man reagierte sowohl als potentieller Sünder wie auch als Moraltheologe höchst sensibel auf diese Verunsicherung des Gewissens. Im vierten Jahrhundert schrieb zum Beispiel an Augustin von Hippo die Aristokratin Proba, die ein fast unermesslich großes, mit Gewalt zusammengerafftes Agrarimperium geerbt hatte, um zu erfahren, ob sie mitten in ihrem Luxus möglicherweise durch Habsucht sündigte. Seine Antwort bezeugt die Schwierigkeit, vor der sich Theologen dieser Zeit befanden, den Maßstab dessen, was in bezug auf Besitz als ›genügend‹ galt, in konkreten Fällen auf die Definition der Habsucht anzuwenden. Augustin war nämlich der Meinung, Proba brauche sich nicht von ihrer überflüssigen Üppigkeit zu entfernen, um die avaritia zu vermeiden, solange sie sich im Herzen davon abgesetzt habe.14 Man findet oft genug in der Patristik Analysen wie die von Augustin, so daß nicht behauptet werden kann, daß seine Ansicht für diesen Zeitraum irgendwie auffällig sei, aber offensichtlich herrschte im Gewissen von Proba Unklarheit darüber, ob der Reichtum an sich als lasterhaft zu gelten habe, oder ob er als erstrebenswert anzusehen sei. Proba bedurfte dabei der Bestätigung, denn das Dilemma, in welchem sie sich befand, beinhaltet, was Pierre Bourdieu als die Überwindung eines besonderen Aspekts der etablierten Ordnung in der gesellschaftlichen Einbürgerung einer willkürlichen Selbstauffassung beschrieben hat,15 in diesem Fall der teilweise geerbten und teilweise durch Predigten bewußt gemachten Erwartung im Frühchristentum, daß dem Überfluss eine moralische Gefahr eigen sei. Probas erste Reaktion auf den Teil der doxa ihrer Kultur, wie 14
Seine Antwort an Proba findet sich in Epistola 130, bes. 6.12, in: A. Goldbacher (Hg.), Augustin von Hippo, Epistolae (CSEL 44), Wien / Leipzig 1904, S. 53–54. Wie Peter Brown in Augustine of Hippo, A Biography, Berkeley / Los Angeles 1967, S. 351, es ausgedrückt hat, Proba »was allowed to remain unchanged in the midst of such wealth.«
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Bourdieu dies nennt, welche die Frage der möglichen Tugendhaftigkeit mitten im Luxus berührt, war, zu vermuten, daß ihre Seele in Gefahr sei. Auf ihre Erwartung, daß ihr Gewissen im Begriff sei, skandalisiert zu werden, reagierte Augustin beruhigend, indem er durch die Auslegung ihres inneren Zustandes ihr Handeln als moralisch neutral rechtfertigte. Auf der anderen Seite ist es gerade diese fließende Grenze zwischen dem, was als Sparsamkeit galt, und dem, was als geiziges Zurückbehalten der eigenen Besitztümer definiert wurde, die uns verstehen läßt, warum die Habsucht in der ›Psychomachia‹ von Prudentius die Schlachtlinie der Tugenden zeitweilig überwinden kann. In diesem allegorischen Kampf einer Reihe von Tugenden und Lastern, die Prudentius eigentümlich blieb, wird die Habsucht besiegt, solange sie als Habgier erscheint. Erst wenn sie sich zur Sparsamkeit verwandelt, hat sie – wenigstens zeitweilig – Erfolg.16 Die Verkleidung als das, was Prudentius ausdrücklich eine Tugend nennt, die als solche sowohl am sparsamen Leben als auch am Zurückbehalten des eigenen Besitzes Vergnügen findet, erlaubt es der Habsucht, ihre Sittenlosigkeit in der Form eines Verhaltens vorzuführen, die zeitgenössische Moraltheologen als eine Tarnung für Geiz identifiziert haben: Was als Plünderung und Diebstahl gilt, und als die geizige Verheimlichung erworbener Güter, Stellt sie zur Schau unter dem zarten Namen von der Fürsorge für ihre Kinder.17
Erst durch diese Metamorphose entblößt der Dichter zum Schluss die ganze Breite des mit der Habsucht verbundenen Bösen, ein Spektrum, das von den herkömmlichen Extremen gekennzeichnet wird, nämlich vom Begehren nach mehr Gütern einerseits und vom Hamstern bereits erworbener Güter andererseits. Erst das allegorische Handeln kann das literarische Verständnis der Versinnbildlichung vervollständigen; es reicht ja nicht, wie Hans Robert Jauss behauptet hat, allein den Namen einer allegorischen Personifikation gelernt zu haben, um das Wesen der Personifikation zu verstehen. Jauss war nämlich der Meinung, daß, nachdem eine Personifikation namentlich genannt wor15
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Pierre Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, übers. v. Richard Nice (Cambridge Studies in Social Anthropology 16), Cambridge, Eng. 1977, S. 164. Zur Stellung der Arbeit von Bourdieu besonders in der Anthropologie, siehe Sherry B. Ortner, Theory in Anthropology since the Sixties, in: Comparative Studies in Society and History 26,1 (1984), S. 144–50. Prudentius, Psychomachia, 551–83, in: M.P. Cunningham (Hg.), Aurelii Prudentii Clementis carmina (CCL 126), Turnhout 1966, S. 169–70. Die Tugend- und Lasterreihe ist folgende: Cultura Veterum Deorum v. Fides, Libido v. Pudicitia, Ira v. Patientia, Superbia (und Fraus) v. Mens Humilis (und Spes), Luxuria v. Sobrietas, Avaritia v. Operatio, Discordia/Heresis v. Concordia (und Fides). Psychomachia, 562–63 (CCL 126: 169): Quod rapere et clepere est auideque abscondere parta, / natorum curam dulci sub nomine iactet.
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den ist, kein Unterschied mehr zwischen ihrer Form und ihrer Bedeutung bemerkbar sei. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn der Begriff, der hier zur Allegorie gemacht wird, eine den Lesern bekannte und unveränderliche Idee wäre.18 Bei Prudentius aber sieht man, daß in der Behandlung der Avaritia die volle Bedeutung von Habsucht nur durch eine Mehrzahl allegorischer Formen zum Vorschein kommt. Die Verwandlung der Avaritia zum Frugi hat viele literarkritische Bemerkungen hervorgerufen.19 Ihre Metamorphose läßt Allectos Verwandlung in der Aeneis, 7.415ff. wörtlich widerhallen, aber obwohl die Benutzung dieser Stelle von Prudentius im Dienst der christlichen Moral neuartig erscheint, kann bewiesen werden, daß auch seine Zeitgenossen die Bedrohung verstanden haben, die von den Sünden ausgeht, welche die Maske ihres Gegenteils tragen. Im Osten tadelte Johannes Chrysostomos die Gewohnheit, Sünden unter dem Namen von Tugendhaftigkeit zu verbergen,20 und in einem Prudentius noch näher liegenden Kontext beschrieb Augustin von Hippo ausführlich in einem Brief an Hieronymus Sünden, die den Tugenden entgegenstehen, die ihnen dennoch durch Hinterlist ähnlich sind. Seine Bemerkungen über Sparsamkeit und Geiz sind besonders interessant: »Es ist doch offensichtlich, daß die Verschwendung der Sparsamkeit gegenübersteht, jedoch ist das, was man normalerweise Geiz nennt, selbstverständlich eine Sünde, auch wenn er eine ähnliche Erscheinung wie die Sparsamkeit annimmt, nicht jedoch seiner Natur nach, sondern durch einen trügerischen Schein.«21 Offensichtlich erweisen sich Prudentius und Augustin, wie C.S. Lewis bemerkt hat, als meisterhafte Psychologen, wenn sie die geizige Wirklichkeit unter der Oberfläche einer konventionellen Tugend wahrnehmen.22 Bis in die Philosophie des 19. Jahrhunderts ist noch die Ähnlichkeit zwischen Geiz und der guten Wirtschaft ein lebendiges Thema geblieben, wie man an der Kant’schen Kritik der aristotelischen aurea mediocritas belegen kann, die zum Schluss kommt, daß der Analyse des Aristoteles zufolge die gute Wirt18
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Hans Robert Jauss, Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia, in: Hans Robert Jauss / D. Schaller (Hgg.), Medium Aevum Vivum, Festschrift für Walter Bulst, Heidelberg 1960, S. 186. Siehe z.B. Macklin Smith, Prudentius’ Psychomachia, A Re-examination, Princeton, New Jersey 1976, S. 292; Marc-Rene Jung, Etudes sur le poème allégorique en France au moyen âge (Romanica Helvetica 82), Bern 1971, S. 29; Albertus Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius (The Catholic University of America Patristic Studies 39), Washington, D.C. 1934, S. 52; C.S. Lewis, The Allegory of Love, London 1936, neuaufgelegt 1971, S. 71; H.J. Thomson, The Psychomachia of Prudentius, in: The Classical Review 44 (1930), S. 111. Johannes Chrysostomos, Adversus oppugnatores vitae monasticae, 3.7 (PG 47: 359–60). Augustin von Hippo, Epistolae, 167.6 (CSEL 44: 593–94): … apertissime contraria est effusio parsimoniae; ea uero, quae tenacitas etiam uulgo dici solet, uitium est quidem, tamen parsimoniae simile non natura sed fallacissima specie. Lewis (wie Anm. 19), S. 71.
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schaft »nichts anderes als ein vermindertes oder vielmehr verschwindendes Laster sein« müsse.23 Jedenfalls zeigen Prudentius und Augustin, nun historisierend bemerkt, wie die Kirche mit der Definition einer Variante der Habsucht rang. Es war schwierig genug, die Menge der Besitztümer genau zu bestimmen, die ein Christ legitim erwerben durfte, aber man kann hier auch bemerken, daß die Grenzen dessen, was man behalten durfte, ähnliche Schwierigkeiten bereiteten. In der fortschreitenden Bekehrung eines noch nicht völlig christlichen Publikums im fünften Jahrhundert ist hier wie auch in Augustins Brief an Proba eine nicht von der christlichen Morallehre bestimmte soziale Norm moraltheologisch problematisiert worden, damit dann wiederum moralische Erkenntnisse als Grundlagen für eine Lösung angeboten werden konnten. Darüber hinaus kann man konstatieren, daß in der Psychomachia sowohl die Tarnung der Habsucht wie auch ihre Enthüllung als völlig beabsichtigte Taten dargestellt werden. Dies gehört natürlich zur Intentionalität der literarischen Form, denn allegorische Figuren fördern in bewußter Weise auf der Erzähloberfläche zutage, was als menschlich sublimierte Motive wiedererkannt werden kann. Die Versinnbildlichung weist aber auf eine Situation hin, in der die eigenen Motive dem Sünder nicht unbedingt bewußt sind. Dadurch, daß die Verstellung der Habsucht einigermaßen Erfolg hat, unterstreicht Prudentius gerade die Enormität dieser lauernden Gefahr, die bewußt oder unterstellt unbewußt als unter der Oberfläche des normalen Verhaltens begriffen werden konnte.24 Beim Thema der als Tugenden verkleideten Laster lag es den Moraltheologen daran, die Tarnung der Laster abzustreifen, um dem Individuum eine in sozialer Hinsicht angemessene Handlung als mögliche Sünde blosszustellen. Bei dieser Skandalisierung des Gewissens ging es um das völlige Bewußtwerden von den noch nicht artikulierten Absichten des Sünders. Ob nun der Sünder vom Teufel, von Dämonen oder von den personifizierten Lastern in die Irre geführt wird oder in eher psychologischem Sinne der Selbsttäuschung zum Opfer fällt, sind die Autoren, die dieses Thema behandelt haben, meistens darin einig, daß er sich der Täuschung nicht bewußt ist und dieser erst gewahr werden muß. Im Prozeß der Formierung einer von Schuld dominierten Kultur im Westen, wie sie Jean Delumeau beschrieben hat, lag hier also ein Kern der Gewissensprüfung, die sich als Suche nach inneren Motiven harmloser oder sogar tugendhafter Handlungen verstand.25 Psychologische Beobachtungen stehen im Mittelpunkt der Behandlung des Themas bei Gregor dem Großen, welche wie auch sonst in den Moralia in Iob 23 24
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, § 10, hg. v. Bernd Ludwig (Philosophische Bibliothek 430), Hamburg 1990, S. 71. Weiter zur Geschichte der Habsucht im 4. Jahrhundert siehe nun Richard Newhauser, The Early History of Greed: The Sin of Avarice in Early Medieval Thought and Literature (Cambridge Studies in Medieval Literature 41), Cambridge, Eng. 2000, S. 70–95. Anm. 25 s. nächste Seite
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in erster Linie für ein monastisches Publikum konzipiert wurde, aber schon zu Gregors Lebzeiten auch eine Verbreitung unter Laien fand.26 Gregor wandelte die von Evagrius über Johannes Cassianus geerbte Liste der Hauptlaster in eine Reihe von sieben vitia um (Eitelkeit, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habsucht, Völlerei, Wollust), die alle dem Hochmut entspringen.27 Diese Liste bildete die Grundlage für alle späteren, außermonastischen Reihen von sieben Hauptlastern.28 Während Cassianus seine Lasterlehre an eine Kerngruppe von Mönchen gerichtet hatte, die seine Arbeiten zur Erbauung gebrauchten, war für Gregor die Verantwortung gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit genauso wichtig wie die monastische Meditation.29 Dabei widmete sich Gregor dem psychologischen Mechanismus der Sünde viel eifriger als Cassianus, so daß sich die Tarnung der Laster neben andere Erscheinungen der Selbsttäuschung einfügt, welche für ihn ein klares Stadium in der Entwicklung der Sünde an sich ausmachte, wie die drei bekanntesten: Anregung, Vergnügen, Zustimmung.30 In seinem Kommentar zu Hiob 40,13 (»Sein Knorpel ist wie Eisenstangen«), der hier auf den Teufel bezogen wird, bemerkt Gregor: »Der Knorpel nämlich sieht aus wie Knochen, weist aber die Festigkeit des Knochens nicht auf. Es gibt also einige Sünden, die die Erscheinung der Rechtschaffenheit aufweisen, jedoch aus kranker Verderbtheit stammen, da sich die Bösartigkeit unseres Feindes so geschickt versteckt, daß er öfters Fehler vor den Augen des getäuschten Verstandes als Tugenden malt, damit man fast Belohnung erwartet, wo es angemessener wäre, ewige Qualen zu finden.«31 Gre25
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Jean Delumeau, Sin and Fear. The Emergence of a Western Guilt Culture: 13th to 18th Centuries, übers. v. Eric Nicholson, New York 1990, S. 198. Die Schuld-Kultur ist aber nicht als evolutionärer Schritt aus einer Scham-Kultur herausgewachsen, da die meisten Kulturen beide Elemente enthalten; siehe dazu Gerhart Piers / Milton B. Singer, Shame and Guilt. A Psychoanalytic and a Cultural Study, Springfield, Illinois 1953, neuaufgelegt New York 1971, bes. S. 59–100. Gregor beklagt sich über das öffentliche Vorlesen seiner Schrift in einem Brief von Januar 602. Siehe Registrum epistularum libri, 12.6, in: D. Norberg (Hg.), S. Gregorii Magni registrum epistularum libri 14 (CCL 140A), Turnhout 1982, S. 975–76. Siehe auch M.L.W. Laistner, Thought and Letters in Western Europe, A.D. 500 to 900, neub. Aufl., Ithaca, New York 1966, S. 106. Newhauser, The Treatise on Vices and Virtues (wie Anm.9), S. 114. Morton Bloomfield, The Seven Deadly Sins. An Introduction to the History of a Religious Concept, [East Lansing, Michigan] 1952; neuaufgelegt 1967; Otto Zöckler, Das Lehrstück von den sieben Hauptsünden, in: Ders., Biblische und kirchenhistorische Studien, Heft 3, München 1893. Gillian R. Evans, The Thought of Gregory the Great (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4.2), Cambridge, Engl. 1986, S. 22–23. Zu den Schritten in der Entwicklung aller Sünden bei Gregor siehe Claude Dagens, Saint Grégoire le Grand. Culture et expérience chrétiennes, Paris 1977, S. 206–08; Ferruccio Gastaldelli, Il meccanismo psicologico del peccato nei Moralia in Job di san Gregorio Magno, in: Salesianum 27 (1965), S. 563–605; F. Homes Dudden, Gregory the Great: His Place in History and Thought, 2 Bde., New York 1905; neuaufgelegt 1967, Bd. 2, S. 385–86.
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gor notiert, daß im pastoralen Umgang mit Sündern maßloser Ärger öfters für einen verdienstlichen Eifer gehalten wird, oder daß unachtsame Lässigkeit als Milde und Frömmigkeit angesehen wird. Im allgemeineren Sinne bemerkt er, daß manchmal Verschwendung für Barmherzigkeit, Knauserigkeit für Sparsamkeit, das Verharren in einem Übel für Standhaftigkeit, Unbeständigkeit für Flexibilität, eine unangemessene Furcht für Demut, Stolz auf die eigene Stimme für die Freiheit eines wahrheitsgetreuen Menschen oder Trägheit für Gemütsruhe gehalten wird. In jedem dieser Fälle führt Gregor die Folgen der als Tugenden verkleideten Laster vor Augen, die fast alle paarweise als entgegengesetzte lasterhafte Begriffe aufgelistet werden. »Oft denkt man,« schreibt er, »daß der rücksichtslose, ungestüme Eifer, eine Handlung zu loben, die es doch auszuführen gilt, eine leidenschaftliche Begeisterung sei, und während das ersehnte Gute durch eine stürmische Tätigkeit verdorben wird, stellt man sich vor, daß je schneller etwas vollendet wäre, desto besser. Oft wird die Zurückhaltung, das Gute voranzutreiben, für Bedachtsamkeit gehalten, und während zu erwarten ist, daß das Gute durch Nachdenken gefördert würde, wird es von einer heimtückischen Verzögerung umgestürzt.«32 Man merkt, daß Gregor keine Ansprüche auf Vollständigkeit erhebt, denn es geht ihm hier eher um die vitia spiritualia, die am Anfang seiner Lasterreihe stehen, als um die vitia carnalia: obwohl manche Laster durch ihnen untergeordnete Sünden mehrfach repräsentiert sind, fehlen Hinweise auf die Völlerei und die Wollust, wie auch auf den Neid. Der pastoraltheologische Sinn der Enthüllung steht dann am Ende dieser Textstelle, denn es geht explizit darum, das private Schuldgefühl des Sünders an der öffentlichen, auch gerade nicht als Sünde beabsichtigten Tat zu erwekken: »Wenn ein Vergehen angesehen wird, als wäre es eine Tugend, so muß man zwangsläufig bedenken, daß je später der Verstand auf seine Sünde verzichtet, desto weniger er sich dessen schämt, was er begeht … Dazu ist es einfach, ein Vergehen zu korrigieren, dessen man sich auch schämt, da es als Vergehen aufgefasst wird.«33 Dabei greift Gregor einen Gedanken von Cassianus auf, der auch auf die Notwendigkeit der öffentlichen Therapie hinweist, denn besonders die Laster, welche die Erscheinungsformen der wohl ausgeführten Spiritualität annehmen, seien nach Cassianus gravierender und schwieriger zu heilen, als diejenigen, die sich öffentlich lasterhaft zeigen.34 Zur Psychologie der Sünde gehört bei Gregor eine klare Unterscheidung zwischen dem Äußeren und dem Inneren des Menschen, d.h. zwischen dem 31
Gregor der Große, Moralia in Iob, 32.22.45, in: M. Adriaen (Hg.), S. Gregorii Magni Moralia in Iob libri XXIII–XXXV (CCL 143B), Turnhout 1985, S. 1661–62: Cartilago namque ossis ostendit speciem, sed ossis non habet firmitatem. Et sunt nonnulla uitia quae ostendunt in se rectitudinis speciem, sed ex prauitatis prodeunt infirmitate. Hostis enim nostri malitia tanta se arte palliat, ut plerumque ante deceptae mentis oculos culpas uirtutes fingat, ut inde quisque quasi exspectet praemia, unde aeterna dignus est inuenire tormenta. Anm. 32–34 s. nächste Seite
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Bereich des öffentlichen Scheins und dem einer innerlichen und privaten Wahrheitsgrundlage.35 Beim Hevortreten der Laster als Tugenden aber wird das richtige Verhältnis zwischen intus und foris, wenn auch unbeabsichtigt, verstellt. Daß er sich diesem Thema des öfteren gewidmet hat, zeigt, wie sich Gregors Verständnis von Spiritualität als Antwort auf die Notlage seines Zeitalters geformt hat, das durch die Episoden von Kriegen, Regierungskrisen, Hungersnöten und Seuchen im sechsten Jahrhundert geprägt wurde. Frieden ist also im Innern zu finden, während das Äußere Konflikte mit sich bringt: Immer wieder beschreibt Gregor eine Lage, in der das Versagen der Tugend trotz des menschlich besten Willens unvermeidlich scheint. Obwohl die Demut das ideale Verhältnis zwischen dem wahrheitsträchtigen Innern des Men32
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Gregor der Große, Moralia in Iob, 32.22.45 (CCL 143B: 1662): Saepe ad ea quae agenda sunt incauta praecipitatio laudandi studii feruor creditur; et cum desideratum bonum intempestiua actione corrumpitur, eo agi melius quo celerius aestimatur. Saepe accelerandi boni tarditas consilium putatur; et cum exspectatur ut ex tractatione proficiat, hoc insidians mora supplantat. Siehe auch die verwandten Aufstellungen einiger als Tugenden verkleideten Laster bei Gregor dem Großen, Moralia in Iob, 3.33.65, in: M. Adriaen (Hg.), S. Gregorii Magni Moralia in Iob libri I–X (CCL 143), Turnhout 1979, S. 155: Nam saepe immoderata ira, iustitia; et saepe dissoluta remissio, misericordia uult uideri. Saepe incautus timor humilitas, saepe effrenata superbia appetit libertas apparere; Ders., Moralia in Iob, 23.11.19 (CCL 143B: 1159): Sed quia saepe nonnulla uitia uirtutes se esse mentiuntur, sicut effusio nonnumquam misericordia, et tenacia nonnumquam parcimonia, et crudelitas aliquando iustitia uult uideri; ita plerumque mentem ad loquendi impetum, uanae gloriae anxietas nequaquam se intra silentium capiens, quasi zelus caritatis inflammat, atque appetitae ostensionis uis ad effrenationem locutionis impellit, et quasi sub studio consulendi libido erumpit apparendi; Ders., Homiliae in Ezechielem, 1.12.25, in: M. Adriaen (Hg.), Sancti Gregorii Magni Homiliae in Hiezechihelem Prophetam (CCL 142), Turnhout 1971, S. 198: Et contra Hierusalem, quam descripsit in latere, praedicator munitiones aedificat quando mala quaeque quam munita contra mentem ueniant demonstrat, ut sese uitia sub uirtutum specie abscondant; quatenus, sicut saepe iam diximus, immoderata ira iustitia uideri appetat, et disciplinae remissio mansuetudo uideri uelit, et tenacia sese parcimoniam nominet, et inordinata rerum effusio se beneuolentiam appellet; Ders., Regulae pastoralis liber, 2.9 (PL 77: 44A): Nam saepe sub parcimoniae nomine se tenacia palliat, contraque se effusio sub appellatione largitatis occultat. Saepe inordinata remissio pietas creditur, et effrenata ira spiritalis zeli virtus aestimatur. Saepe praecipitata actio velocitatis efficacia, atque agendi tarditas gravitatis consilium putatur. Gregor der Große, Moralia in Iob, 32.22.45 (CCL 143B: 1662): … cum culpa uelut uirtus aspicitur, necessario pensandum est quia tanto tardius mens uitium suum deserit, quanto hoc quod perpetrat, non erubescit…. Facile autem culpa corrigitur quae et erubescitur quia esse culpa sentitur. Johannes Cassianus, Collationes, 4.20, in: Eugene Pichery (Hg.), Jean Cassien, Conférences I–VII (Sources chrétiennes 42), Paris 1955, S. 186. Zur Würdigung der Aufnahme des Cassianus bei Gregor siehe Conrad Leyser, Expertise and Authority in Gregory the Great: The Social Function of Peritia, in John C. Cavadini (Hg.), Gregory the Great. A Symposium (Notre Dame Studies in Theology 2), Notre Dame / London 1995, S. 38–61; Carole Straw, Gregory the Great. Perfection in Imperfection (Transformations of the Classical Heritage 14), Berkeley / Los Angeles / London 1988, S. 13, 61, 75, 132. Dagens (wie Anm. 30), S. 195.
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schen und der äußerlichen Erscheinung darstellt, kann auch diese Haupttugend nicht nur als Tarnung eines mißgestalteten Hochmuts den Menschen gefährden, eine Möglichkeit, die bereits in der Spätantike erkannt wurde, sondern auch eine psychologische und gesellschaftliche Störung bedeuten, bei der sich das Individuum für so unwürdig hält, daß es sich vor jeder Tat fürchtet, einschließlich Handlungen, die auch seinen Mitmenschen hilfreich sein könnten.36 Laut Gregor kann jedermann im Versuch, ein moralisches Leben zu führen, Rückschläge erleben, indem die nach außen hin gerichteten Taten seinen selbsterklärten Wünschen widersprechen, da im Krieg gegen die Versuchung ein sich zunächst als Freund gebendes Laster unter dem Panzer einer vermeintlichen Tugend lauern kann.37 Diejenige, die im Geist schwach sind, müssen durch die auctoritas der in der Tugend geübten Fachkenner zum Selbstverständnis gebracht werden.38 Es ist also Aufgabe des zur moraltheologisch gewandten Elite gehörenden rector animarum gewesen, Anweisungen zu geben, wie man hinter jeder Tat den echten inneren Zustand bloßstellt,39 denn die ira kann sich zum Beispiel hinter der Maske der Gerechtigkeit verstecken oder auch durch die bewußte Kontrolle des zornigen Menschen in der Funktion des heiligen Eifers von Nutzen sein.40 Die Frage nach dem Stellenwert von Zorn als ›emotion‹, wie auch die Frage nach dem Wert anderer Gefühle insgesamt, muß also in einer größeren mittelalterlichen Diskussion über die Labilität aller moralischen Werte lokalisiert werden.41 Aus den Behandlungen des Themas bis zu seiner Verankerung im Klosterleben in der Zeit nach Gregor dem Großen ersieht man, daß die Tarnung der Laster auf Männer bezogen wird. Als die wichtigen karolingischen Klosterreformen zugunsten des benediktinischen Mönchtums gegen Ende des achten Jahrhunderts in Gang gesetzt wurden, hatten sich die Umrisse der mittelalterlichen Moraltheologie bereits weit entwickelt, und sie waren im wesentli36
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Gregor der Große, Moralia in Iob, 3.36.68 (CCL 143: 156–57). Robert A. Markus, Gregory the Great and His World, Cambridge, Eng. 1997, S. 3–8; Carole Straw, Gregory the Great (Authors of the Middle Ages 4.12), Aldershot / Brookfield 1996, S. 43 [37]; Johannes Modesto, Gregor der Grosse. Nachfolger Petri und Universalprimat (Studien zur Theologie und Geschichte 1), St. Ottilien 1989, S. 280–85; Evans (wie Anm.29), S. 72, 99. Zur Tarnung des Hochmuts als Demut siehe Pelagius, Epistola ad Celantiam Matronam, 20 (PL 22: 1214) – siehe P. Glorieux, Pour revaloriser Migne. Tables rectificatives (Mélanges de Science Religieuse. IXme année, 1952, Cahier supplémentaire) Lille 1952, S. 17. Gregor der Große, Moralia in Iob, 3.33.65 (CCL 143: 155). Siehe Straw (wie Anm. 34), S. 253. Leyser, Expertise and Authority (wie Anm. 34), S. 49. Gregor der Große, Regulae pastoralis liber, 2.9 (PL 77: 44A). Vgl. Gregor der Große, Moralia in Iob, 3.33.65 (CCL 143: 155), und Moralia in Iob, 3.37.70 (CCL 143: 157). Vgl. Lester K. Little, Anger in Monastic Curses, in: Barbara Rosenwein (Hg.), Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca / London 1998, S. 9–35.
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chen auch männlich. Die karolingische Reformgesetzgebung zum Leben der Ordensfrauen im neunten Jahrhundert aber enthält zum ersten Mal Ansätze zu einem Bezug des Themas auch spezifisch auf Frauen. Als sich karolingische Reformer im späten achten und neunten Jahrhundert dem Leben der Ordensfrauen widmeten, wie dies auf den Konzilen von Frankfurt 794, Châlons-surSaône 813, und besonders Aachen 816 geschehen ist, bestanden sie zunächst darauf, daß Frauen einer Regel folgten, daß die Regula Benedicti auf sie rigoros angewandt werde, daß sie in einem Kloster leben müßten und daß diese Nonnenklöster unter die Obhut eines Bischofs gestellt würden. Suzanne Wemple und andere Forscher des mittelalterlichen Mönchtums haben nachgewiesen, daß die religiöse Gesinnung der Merowinger durch diese Reformen umgestaltet wurde.42 In seiner Forma institutionis vergleicht dann Amalarius von Metz die Tarnung der Laster mit der Schminke und dem Putz, mit denen einige Ordensfrauen, die mit der Erziehung von Mädchen im Kloster beauftragt sind, ihre verheimlichte Weltlichkeit ausdrücken würden. Ihre Versuche, wie Frauen am Hof auszusehen, verderben aber ihre Schützlinge, denn »Gift wird erst verabreicht, nachdem es mit Honig beschmiert worden ist, und die Laster führen niemanden in die Irre, es sei denn, sie sehen wie Tugenden aus.«43 Was in der gregorianischen Behandlung des Themas zur Frage der Darstellung des Selbst impliziert wurde, ist in der Entwicklung der Moraltheologie im späten elften und im zwölften Jahrhundert auf dem Weg zur Sozialethik explizit thematisiert worden. Johannes Homo Dei, Abt in San-Benigno di Fruttuaria in Italien um die Mitte des elften Jahrhunderts, beschreibt die Tarnung des Selbst als Maskierung der Laster in einem Prozeß der geheuchelten Festhaltung an moralischen Normen. Der Mensch steht laut Johannes vor zwei Umwegen der Sünde: links vom geraden Weg findet er die in der Öffentlichkeit bekannten Sünden, rechts die unter dem Anschein von Tugenden versteckten Laster. Der Hochmütige will sich für standhaft halten, Schamlosigkeit zeigt das Etikett der Freiheit vor, usw. Vor diese Zweideutigkeit gestellt, kann sich der Mensch nur an die Gnade Gottes als letzte Instanz wenden, um sowohl zwischen Tugend und Laster zu unterscheiden als auch die Laster zurückzuweisen, die sich als Tugenden ausgeben.44 Zur Idee eines inneren Selbst, die nach diesem Zeitpunkt in hohem Maße ausgearbeitet wurde, ge42
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Suzanne Fonay Wemple, Women in Frankish Society: Marriage and the Cloister, 500– 900, Philadelphia 1981, S. 143–48, 165–74; siehe auch Jane Tibbetts Schulenburg, Women’s Monastic Communities, 500–1100: Patterns of Expansion and Decline, in: Sign 14 (1989), S. 261–92. Amalarius von Metz, Forma institutionis canonicorum et sanctimonialium canonice viventium, 22 (PL 105: 969D): … venena non dantur nisi melle circumlita, et vitia non decipiunt, nisi sub specie virtutum. Siehe A. Cabaniss, Amalarius of Metz, Amsterdam 1954. Zur Tarnung der Laster als Vergiftung, siehe auch Othloh von St. Emmeram, Commentarius in Psalmum 52 (PL 93: 1124A) – siehe Glorieux (wie Anm. 36), S. 52.
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hörte dann die Betonung der inneren Einkehr als Mittel der Wahrheitsfindung. Der absolute Wert der Selbsterkenntnis bildete zum Beispiel für Bernhard von Clairvaux in seiner Rezeption augustinischen Gedankengutes im zwölften Jahrhundert das Fundament aller Arten des Wissens.45 In der spirituellen Tiefenanalyse Hugos von St. Viktor zum Prozeß der Sünde drückt sich auch die Erkenntnis eines metaphorischen Ausgleichs in der Psychologie des sündhaften Menschen aus, der dazu die Vermeidung von Scham als erfolgreiche Bindung des Selbst an die moralischen Normen der Gemeinschaft zum Ausdruck bringt. Die Identifizierung des Selbst erfolgt nun immer öfter im Innenleben des Menschen, das die Quelle der Erkenntnis dessen, was die Tugend ausmacht, verinnerlicht hat.46 Obwohl die öffentliche Buße aus dem gesellechaftlichen Leben im Mittelalter nie völlig verschwand, sieht man im zwölften Jahrhundert, daß immer mehr Wert auf das private Bußverfahren gelegt wird, das dann auf dem vierten Laterankonzil von 1215 institutionalisiert wurde.47 Als Ersatz dafür, was durch die Sünde im Innern verlorengegangen ist, sucht der Sünder laut Hugo von St. Viktor etwas außerhalb des Selbst: er strebt danach, sich durch Äußerlichkeiten zu verherrlichen, da er durch die Sünde herabgesetzt wurde, er baut sich Häuser, da er aus dem Wohnsitz des Gewissens verbannt wurde. Im Zustand der Sünde also ist die Aufrechterhaltung des Selbst eine wesentliche Tarnung, deren letztes Stadium durch die sich als Tugenden ausgebenden Laster verkörpert wird.48 Gregors Bearbeitung des Themas stellte in gewisser Weise eine Erweiterung und Vertiefung der Psychomachia dar, denn es liegt beiden dieselbe Vorstellung eines unendlichen Kampfes gegen die Mächte des Bösen zugrunde. Verallgemeinernd bemerkte Gregor, daß die bewaffneten Feinde des Menschen, 44
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Johannes Homo Dei, Tractatus de ordine vitae et morum institutione, 8.25 (PL 184: 576B–577A) – siehe Glorieux (wie Anm. 36), S. 71. Zu Johannes siehe auch André Wilmart, Auteurs spirituels et textes dévots du moyen âge latin. Etudes d’histoire littéraire, Paris 1932, neuaufgelegt 1971, S. 64–100. Siehe z. B. Bernhard von Clairvaux, De consideratione, 2.3.6, in: Jean Leclercq / H.M. Rochais (Hgg.), Sancti Bernardi opera, Bd. 3, Rom 1963, S. 414: Et si sapiens sis, deest tibi ad sapientiam, si tibi non fueris. Quantum vero? Ut quidem senserim ego, totum. Noveris licet omnia mysteria, noveris lata terrae, alta caeli, profunda maris, si te nescieris, eris similis aedificanti sine fundamento, ruinam, non structuram faciens. Siehe auch Pierre Courcelle, Connais-toi toi-même de Socrate à Saint Bernard, Paris 1974, Bd. 1, S. 258– 72. Daniel Mark Nelson, The Priority of Prudence: Virtue and Natural Law in Thomas Aquinas and the Implications for Modern Ethics, University Park, Pennsylvania 1992, S. 142. Zum frühen Verständnis der Scham siehe William Ian Miller, Humiliation, and Other Essays on Honor, Social Discomfort, and Violence, Ithaca, New York / London 1993, S. 179. Zur Erhaltung der öffentlichen Buße im Mittelalter siehe Mary C. Mansfield, The Humiliation of Sinners. Public Penance in Thirteenth-Century France, Ithaca, New York / London 1995. Hugo von St. Viktor, In Salomonis Ecclesiasten homiliae, 9 (PL 175: 169D–170D).
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die immundi spiritus, immer wenn sie nicht imstande seien, den Menschen für Missetaten zu gewinnen, diese Untaten vor dem unerfahrenen Geist unter dem Deckmantel der Tugenden aufstellten.49 Neben direkten Zitaten aus den Arbeiten Gregors, die besonders die frühmittelalterliche Behandlung seiner Überlegungen zum Thema der sich als Tugenden ausgebenden Laster kennzeichnen, bildet seine Umarbeitung der Metapher des Tugend- und Lasterkampfes den wichtigsten Rezeptionsstrang seines Gedankengutes zu diesem Thema.50 Die Nachfolger der »asketischen Invasion« des Frühmittelalters, bei welcher Asketen zur öffentlichen Bedeutung auch innerhalb der kirchlichen Hierarchie aufstiegen,51 griffen immer wieder diesen Kampf gegen die maskierten Mächte des Bösen als eines der Kernstücke der asketischen Übung auf. Odo, Abt von Cluny zur Zeit seiner Erweiterung zum Reformzentrum im frühen zehnten Jahrhundert, ermahnt den Seelsorger in seinem Kommentar zu Hiob zum Beispiel, den Tücken der im Herzen des Nächsten versteckten Feinde durch direkte Angriffe zu begegnen und sie so zu besiegen.52 Auch Petrus Damiani, dessen Gründungstätigkeit im Laufe des elften Jahrhunderts zur Errichtung vieler Einsiedeleien führte, übte nichtsdestoweniger Kritik an einem gewissen Sylvester, der, um ein abgesondertes und von niemandem 49 50
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Gregor der Große, Moralia in Iob, 31.39.78 (CCL 143B: 1604), 31.41.81 (CCL 143B: 1606). Direkte Zitate aus Gregor zu den versteckten Lastern finden sich bei Taio, Sententiarum libri, 4.11 (PL 80: 924B–925D); dem Sententiarum liber quartus, 17.1–18.1 (PL 83: 1165D–1166C); Rabanus Maurus, Commentaria in Ezechielem, 4.4 (PL 110: 587C– 592C); Ders., De ecclesiastica disciplina, 3. De quatuor principalibus virtutibus (PL 112: 1255A–1256C); Odo von Cluny, Moralia in Iob, 31.21 (PL 133: 471C–472D); Petrus Damiani, Opusculum 13: De perfectione monachorum, 14 (PL 145: 311D–313A); Rupert von Deutz, Super Job commentarium, 2 (PL 168: 974B–975D); Garnerius von St. Viktor, Gregorianum, 8.13 (PL 193: 319C–320B). Siehe Ludwig Hödl, Garnerius v. St.-Victor, in: LexMA, Bd. 4, München / Zürich 1989, Sp. 1119. Zur Rezeption Gregors siehe u. a. Benedetto Calati, Sapienza monastica. Saggi di storia, spiritualità e problemi monastici, hg. v. Alessandra Cislaghi / Giordano Remondi (Studia Anselmiana 117), Rom 1994, S. 315–18; Jean Leclercq, The Love of Learning and the Desire for God, übers. v. C. Misrahi, 2. Aufl., New York 1974, S. 32–34; René Wasselynck, La présence des Moralia de S. Grégoire le Grand dans les ouvrages de morale du XIIe siècle, in: RTAM 36 (1969), S. 31–45; Ders., Présence de saint Grégoire le Grand dans les recueils canoniques (Xe–XIIe siècles), in: MSR 22 (1965), S. 205–19; Ders., L’influence de l’exegèse de S. Grégoire le Grand sur les Commentaires bibliques médiévaux (VIIe–XIIe s.), in: RTAM 32 (1965), S. 157–204; Ders., Les ›Moralia in Job‹ dans les ouvrages de morale du haut moyen âge latin, in: RTAM 31 (1964), S. 5–31; Ders., Les compilations des Moralia in Job du VIIe au XIIe siècle, in: RTAM 29 (1962), S. 5–32; Ders., L’influence des Moralia in Job de S. Grégoire le Grand sur la théologie morale entre le VIIe et le XIIe siècle, Diss. Lille, 3 Bde., Lille 1956; Ders., La part des ›Moralia in Job‹ de S. Grégoire le Grand dans les ›Miscellanea‹ victorins, in: MSR 10 (1953), S. 287-94; Bloomfield, Seven Deadly Sins (wie Anm. 28), passim. Robert A. Markus, The End of Ancient Christianity, Cambridge, Engl./New York 1990, S. 199–211. Odo von Cluny, Moralia in Iob, 31.21 (PL 133: 471C–472D). Siehe Cassius Hallinger, Le climat spirituel des premiers temps de Cluny, in: Revue Mabillon 46 (1956), S. 117–40.
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überwachtes Einsiedlerleben führen zu dürfen, vor seinen Brüdern in Tränen ausgebrochen ist. Sylvesters Tränen seien ein Zeichen der verlogenen Trauer, meint Damiani und bezieht sich auf Gregor den Großen, der gelehrt habe, »daß es eines ist, traurig zu sein, wenn der Geist von göttlicher Reue erfasst wird, aber etwas anderes, wenn jemand Tränen wie von einem zerknirschten Herzen vortäuscht, aber in Wirklichkeit durch den Betrug des im Hinterhalt liegenden Feindes angeregt wird.«53 In der Metaphorik drückt sich dabei die Schwierigkeit der asketischen Übung aus, bei der man sich in die eigenen Gedanken vertieft, aber auch dem Überblick über seine Motive verlieren kann. Dieser Kampf ist auch in der monastischen Gesetzgebung bei den frühen Zisterziensern verankert, wo die Wirkung der wahren discretio beschrieben wird: Sie soll im Grenzfalle helfen, zwischen Tugenden und Lastern zu unterscheiden und die Laster auszutreiben, die im Erscheinungsbild von Tugenden daherkommen.54 Die Metaphorik des Tugend- und Lasterkampfes hat dann auch eine apokalyptische Färbung im Werke des Richard von St. Viktor erhalten, der in den Reitern in Apok 9,9 einen Hinweis auf die Attribute des Teufels sieht, der manchmal das Aussehen eines Engels des Lichtes annimmt, damit er durch Verstellung denjenigen erobert, den er mit Gewalt nicht überwältigen konnte.55 Der moralische Kampf gegen die Tücken eines schlauen Feindes ist nicht allein für die Metaphorik des asketischen Innenlebens von Nutzen gewesen, sondern er hat auch einen Bezug zu zeitgenössischen Ereignissen gefunden. Ivo, Bischof von Chartres zur Zeit des ersten Kreuzzuges, hat einen Brief an Hugo, Graf von Troyes (1093–1126), geschickt, um ihn auf dem Weg nach Jerusalem zu ermuntern. Die Feinde mögen den Christen zahlenmäßig überlegen sein, schreibt Ivo, aber das sei nur ein Beweis ihrer Verlogenheit, denn auch die Laster würden die Tugenden an Zahl übertreffen, weil sie nicht nur als Sünden ins Feld zögen, sondern sich auch als Tugenden ausgeben. Als Gegner dieser Laster anvisiert sind dabei nicht mehr allein Asketen, denn der Teufel »scheint manchmal die Gerechtigkeit zu fördern, damit er die Grausamkeit unter dem Anschein von Gerechtigkeit mit sich bringen kann,« während er auch manchmal Männer überzeugt, »der Ehepflicht ihren Frauen gegenüber nicht nachzukommen, damit er sie unter dem Deckmantel der Keuschheit der Unzucht nachjagen lassen oder die Frauen zum Ehebruch treiben kann.«56 Daß es letztendlich Aufgabe des dogmatisch und moraltheolo53
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Petrus Damiani, Opusculum 13: De perfectione monachorum, 14 (PL 145: 312C): … alium esse dolorem, quo mens divinitus afflata compungitur; alium quo per insidiatoris fraudem quasi contriti cordis lacrymas imitatur…. Siehe Mansueto Della Santa, Correzione ai fratelli dimoranti nell’eremo di Gamugno, in: Vita monastica 26 (1972), S. 215–25; Jean Leclercq, Saint Pierre Damien. Ermite et homme d’église (Uomini e dottrine 8), Rom 1960, S. 156. Exordium magnum ordinis Cisterciensis, 5.12 (PL 185: 1146B–1147B). Richard von St. Viktor, In Apocalypsim Joannis libri, 3.7 (PL 196: 787C–788B); siehe auch Ders., In Cantica Canticorum explicatio, 21 (PL 196: 468B–469D).
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gisch ausgebildeten Klerus bleiben müsse, die inneren Zustände einer christlichen Bevölkerung zu bestimmen, ersieht man aus der Anwendung des Themas bei Papst Innozenz III. im Zuge der Unterdrückung der Waldenser im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Auf Anfrage des Bischofs von Metz bemerkt Innozenz in einem Brief von 1199, gerichtet an die Stadteinwohner, daß eine sorgfältige Besonnenheit immer dann besonders notwendig sei, wenn die Laster im äußeren Schein von Tugenden sich ins Leben der Kirche einschlichen. Dies sei aber der Fall in Metz, schreibt Innozenz, ohne zu erkennen, daß es sich dabei um eingewanderte Waldenser handelt, wo »eine nicht geringe Anzahl von Laien und Frauen von einer glühenden Liebe zur Heiligen Schrift berührt worden ist und sich sowohl das Evangelium ins Französische hat übersetzen lassen, als auch die Briefe Pauli, den Psalter, die Moralia in Iob und noch viele andere Bücher. Mit diesen Übersetzungen haben sie beabsichtigt, daß sich der Laienstand wie auch Frauen so frei fühlen würden, wenn auch nicht so besonnen, um sich die Diskussion solcher Texte unter einander in geheimen Konventikeln zu erlauben und sich auch gegenseitig zu predigen.«57 Eine laut Innozenz im Grunde genommen gute Intention, die Heilige Schrift zu verstehen, muß gepflegt werden, aber hier wird sie durch eine private, die kirchliche Macht untergrabende Verheimlichung verdorben und ins Gegenteilige verkehrt. Gregors idealistische Vorstellung, derzufolge man eine Sünde nur bewußt werden lassen müsse, damit sie korrigiert werde, ist kaum in dieser Form 56
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Ivo von Chartres, Epistolae, 245 (PL 162: 252A–B): Videtur enim aliquando suadere justitiam, ut sub specie justitiae introducat saevitiam … suadet quibusdam non reddere debitum conjugale uxoribus suis, ut sub velamine castitatis mittat eos ad stupra illicita, vel uxores eorum ad perpetranda adulteria. Siehe auch Ivos Epistolae, 34 (PL 162: 46A–D). Zur als Gerechtigkeit maskierten Grausamkeit siehe Gregor den Großen, Moralia in Iob, 5.20.39 (CCL 143: 245). Siehe Jean Leclercq, La collection des lettres d’Yves de Chartres, in: RB 56 (1945/1946), S. 108–25; Ludwig Ott, Untersuchungen zur theologischen Briefliteratur der Frühscholastik (BGPhMA 34), Münster 1937, S. 26–33. Innozenz III., Epistolae, 2.132 (141), in: Othmar Hageneder / Werner Maleczek / Alfred A. Strnad (Hgg.), Die Register Innocenz’ III. 2. Pontifikatsjahr, 1199/1200: Texte (Publikationen des österreichischen Kulturinstituts in Rom 2.1.2) Rom / Wien 1979, S. 271–72: ... laicorum et mulierum multitudo non modica tracta quodammodo desiderio Scripturarum Euangelia, epistolas Pauli, Psalterium, Moralia Iob et plures alios libros sibi fecit in Gallico sermone transferri, translationi huiusmodi adeo libenter – utinam autem et prudenter – intendens, ut secretis conventionibus talia inter se laici et mulieres eructuare presumant et sibi invicem predicare … Zur Frage der Behandlung der Waldenser in Metz siehe Kurt-Victor Selge, Die ersten Waldenser. Mit Edition des Liber antiheresis des Durandus von Osca, 2 Bde. (Arbeiten zur Kirchegeschichte 37.1–2), Berlin 1967, Bd. 1, S. 290–93; Herbert Grundmann, Religious Movements in the Middle Ages, übers. v. Steven Rowan, Notre Dame / London 1995, S. 42–44; Margaret Deanesly, The Lollard Bible and Other Medieval Biblical Versions, Cambridge, Eng. 1920, S. 30–32. Siehe auch Gabriel Audisio, Les vaudois. Histoire d’une dissidence (XIIe – XVIe siècle), Turin 1989, neuaufgelegt Paris 1998, S. 15–40.
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überall realisierbar gewesen. Als Möglichkeit, die Auffassung einer Handlung als Missetat zu umgehen, gab es selbstverständlich auch die bewußte Tarnung eines Lasters als Tugend. Auch dieses als Heuchelei aufgefasste Vergehen wird in der Morallehre behandelt – zum Beispiel von Isidor von Sevilla, der bemerkt, daß jedes beliebige Laster von den Einfältigen begangen werden kann außer der Heuchelei und der Vortäuschung, welche allein die Listigen zu begehen imstande sind, diejenigen nämlich, die darin versiert sind, Laster unter dem Schein der Tugenden zu verstecken.58 Das Listige kommt selbstverständlich öfters in der mittelalterlichen Allegorie vor, gipfelt dann auch im Begriff der geheuchelten sanctitas des Antichristen.59 Hier zeigt sich besonders deutlich, wie wichtig die Darstellung eines inneren Zustandes in seiner Intentionalität bei der Beurteilung der Ernsthaftigkeit einer beliebigen Tat gewesen ist. Thomas von Aquin z.B. unterscheidet zwischen der virtus infusa, die dem Menschen von Gott geschenkt wird, und der virtus aquisita, die die höchste durch den Menschen erworbene – und daher notwendigerweise begrenzte – Tugend darstellt. Ist die erstere in ihrer Einfältigkeit perfekt, so entspringt aus der Labilität der letzteren die Möglichkeit, daß sie durch fehlerhafte Intention nur eine falsa similitudo virtutis bleibt.60 In seinem Kommentar zum vierten Buch der Sentenzen zählt dann Thomas von Aquin die Heuchelei zu den inneren Hindernissen der Buße und unterscheidet sie dabei von der bloßen Skandalvermeidung. Ferner sind dem Gebot, alles daran zu setzen, um einen Skandal zu verhüten, Grenzen gesetzt worden. Das Begriffspaar privat-öffentlich wird auch in dieser Diskussion als Voraussetzung wirksam. Thomas bemerkt nämlich, daß es bei aller Vorsätzlichkeit des Sünders genüge, ein verstecktes Laster nicht in die Öffentlichkeit hinauszutragen, um einem Skandal zu entgehen, was als Umsicht verstanden werden müsse, daß es aber Heuchelei und daher immer verwerflich sei, ein Laster als Tugend erscheinen zu lassen. Letzteres entspreche nicht der Wahrung des guten Rufes, sondern dessen verstohlener Aneignung.61 Thomas’ Behandlung impliziert eine stufenweise Unterscheidung der Arten, wie ein Vergehen, dessen Inter58
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Isidor von Sevilla, Sententiarum libri, 3.24.3 (PL 83: 699A–B): Omnia possunt a simplicibus vitia perpetrari, simulatio vero et hypocrisis non committitur nisi a male astutis per calliditatem, valentibus vitia sub specie virtutum celare, et non veram sanctitatem objicere. Dieselben Worte finden sich wieder in Werner II von Küssenberg, Abt von St.-Blaise, Libri deflorationum sive excerptionum, dominica 4 (PL 157: 1043C–1044D) – siehe Glorieux (wie Anm. 36), S. 61. Vgl. auch Gregor den Großen, Moralia in Iob, 26.32.58 (CCL 143B: 1310–11); Moralia in Iob, 18.7.13, in: M. Adriaen (Hg.), S. Gregorii Magni Moralia in Iob libri XI–XXII (CCL 143A), Turnhout 1979, S. 893–94. Bernard Mcginn, Antichrist. Two thousand Years of the Human Fascination with Evil, San Francisco 1994, S. 143–72. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, IIa–IIae, qu. 23, art. 7. Siehe Eberhard Schokkenhoff, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin (Tübinger Theologische Studien 28), Mainz 1987, S. 288. Anm. 61 s. nächste Seite
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pretation als Laster überall feststeht, vor der Öffentlichkeit verheimlicht wird, wobei das Wirkungsfeld der Zweideutigkeit nur ein öffentliches Phänomen bleibt, ohne das Selbstbewußtsein des Sünders zu berühren, der ja weiß, daß er einem Laster erliegt. Der gute Ruf steht hier im Mittelpunkt, nicht das Verständis des vermeintlich tugendhaften Benehmens als tatsächlich sündhaft. Als um so gefährlicher ist ein verstecktes Laster angesehen worden, das durch scheinbar tugendhaftes, aber eigentlich von einem Laster angeregtes Verhalten sowohl die Einzelseele des Sünders wie auch ein möglicherweise irregeführtes Publikum bedroht. Wie es dann öfters im Mittelalter sprichwörtlich heißt: »Je schlimmer die Laster sind, desto mehr verstecken sie sich hinter dem Anschein der Tugenden.«62 Trotz des gregorianischen Anfangs brauchte man offenbar, um der Feinheit der Unterscheidungen gerecht zu werden, die Sensibilität und Methode eines Scholastikers, wie sie sich am Anfang des 14. Jahrhunderts in Heinrich von Friemar dem Älteren zusammengefunden haben. Heinrich, der zwischen 1305 und etwa 1315 den augustinischen Lehrstuhl an der Universität Paris innehatte, wohin er um 1300 zum Studium geschickt worden war, hat nach seiner Rückkehr nach Thüringen im Augustiner-Eremitenkloster zu Erfurt eine rege Tätigkeit als Autor, Prediger und Lehrer entwickelt,63 von welcher unter vielen anderen Werken sein mehrfach überlieferter Traktat ›Von der Verkleidung der Laster als Tugenden‹ zeugt.64 Dies ist nicht das einzige Werk, in dem Heinrich das Thema der Entlarvung 61
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Thomas von Aquin, Commentum in IV librum Sententiarum, dist. 16, qu. 4, art. 1, quaest. 1, sol. 1 ad 1–2, in: Sancti Thomae Aquinatis … opera omnia, Bd. 7, Teil 2, Parma 1858, neuaufgelegt New York 1948, S. 765: Ad primum ergo dicendum, quod aliud est peccatum occultum non propalare, quod discretionis est, … et aliud virtutem ostentare, cum aliquis peccato subjacet, quod hypocrisis est. Ad secundum dicendum, quod peccatum occultare sufficit ad vitandum scandalum, sed peccatum sub specie virtutis palliare hypocrisis est, et malum semper, et per hoc quis famam non conservat, sed furatur. Siehe das Sprichwort z.B. im Beda zugeschriebenen Proverbiorum liber, T (PL 90: 1111B): Tanto pejora sunt vitia, quanto virtutum specie celantur; und dann auch wörtlich wieder bei Othloh von St. Emmeram, Libellus proverbiorum, 19 (PL 146: 334A). Robert G. Warnock, Heinrich von Friemar der Ältere, in: Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 3 (1981), Sp. 730–37; Adalbero Kunzelmann, Geschichte der deutschen AugustinerEremiten, Bd. 5 (Cassiciacum 26,5), Würzburg 1974, S. 13–25; Adalbero Kunzelmann, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten, Bd. 1 (Cassiciacum 26,1), Würzburg 1969, S. 201–28; Clemens Stroick, Heinrich von Friemar. Leben, Werke, philosophischtheologische Stellung in der Scholastik (Freiburger theologische Studien 68), Freiburg/Br. 1954, der aber den Tractatus de occultatione vitiorum sub specie virtutum Heinrich von Friemar dem Jüngeren zuschreibt. Tractatus de occultatione vitiorum sub specie virtutum, in: Adolar Zumkeller (Hg.), Henrici de Frimaria O.S.A. Tractatus ascetico-mystici, Bd. 2 (Corpus scriptorum Augustinianorum 3,2), Rom 1992, S. 91–144. Aufgelistet bei Morton W. Bloomfield / Bertrand-Georges Guyot / Donald R. Howard / Thyra B. Kabealo, Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices, 1100–1500 A.D. (The Mediaeval Academy of America, Publication 88), Cambridge, MA 1979, Nr. 1982.
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der als Tugenden verkleideten Laster behandelte. Es wird nämlich auch in seinem noch breiter tradierten Traktat zur ›Unterscheidung der Geister‹ angeschnitten, wo es sich in der Untersuchung des instinctus diabolicus findet.65 Bei aller psychologischen Genauigkeit in der Beobachtung des menschlichen Handelns, die Heinrich bei der Beschäftigung mit diesem Thema bezeugt, bleibt es für ihn eine Frage des teuflischen Einflusses auf menschliche Handlungen und Überzeugungen. Die in mancher Hinsicht ähnliche Behandlung der Thematik der verkleideten Laster, die man in der mystisch angelegten ›Unterscheidung der Geister‹ einerseits und der eher praktisch konzipierten Tugend- und Lasterlehre andererseits wahrnehmen kann, exemplifiziert die die beiden Texten gemeinsame Auffassung von der Notwendigkeit einer Selbsterforschung, insbesondere bei den Geistlichen, die zur Handlungsregulation beitragen soll.66 Die verunsicherte Urteilsfähigkeit des Einzelnen in bezug nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf andere kommt in beiden Textsorten zum Ausdruck. Wie beispielsweise Thomas Hohmann aus einer deutschen Behandlung der ›Unterscheidung der Geister‹ berichtet, stand eine Jungfrau im Bistum Bamberg »im Ruf großer Frömmigkeit und war deswegen sehr angesehen. Doch war sie nicht aus Selbstlosigkeit fromm, sondern um geachtet zu sein. Nach ihrem Tode möchte eine andere Jungfrau wissen, ob der Ruhm dieser Frommen zu Recht bestehe. Christus erscheint ihr und klärt sie über den wahren Hintergrund auf: sy schaczt ir getrauen vnd ir verdinen vnd saß auff ir selbs. Die (zweite) Jungfrau wendet gegenüber Christus ein, warum der Beichtvater der »falschen Frommen« dies nicht bemerkt habe, worauf Christus auf dessen Leichtgläubigkeit verweist. An ihrem Sterbebett sei der Beichtvater jedoch erschrocken, da sie nicht friedlich gestorben sei.«67 Die Ungewissheit, d.h. Zweideutigkeit, allen menschlichen Handelns, die in beiden Textsorten hervorgehoben wird, lösen viele Autoren mit dem Appell auf, der hier durch die Erscheinung von Christus versinnbildlicht wird, sich allein auf Gottes Gnade als letzte Deutungsinstanz zu verlassen. Heinrich spricht die Notwendigkeit der Gnade gleich am Anfang seines Traktates De occultatione vitiorum sub specie virtutum bei der Behandlung der Heilmittel gegen den Hochmut an, wo er bemerkt, daß man allein aus sich selbst heraus nichts Gutes bewirken kann ohne Gottes Gnade. Die Hauptlaster (oder vielmehr – im 14. Jahrhundert – Todsünden) treten in diesem Traktat in ihrer für das Spätmittelalter typischen Reihenfolge auf, welche die von 65
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Heinrich von Friemar, Tractatus de quattuor instinctibus, in: Robert G. Warnock und Adolar Zumkeller (Hgg.), Der Traktat Heinrichs von Friemar über die Unterscheidung der Geister (Cassiciacum 32), Würzburg 1977, S. 192 u. 194. Uta Störmer, Instinctus naturalis. Zur Geschichte einer Verdächtigung, in: Ulman Weiss (Hg.), Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte. Universitätsgeschichte, Weimar 1992, S. 112. Thomas Hohmann, Heinrich von Langenstein: ›Unterscheidung der Geister‹, lateinisch und deutsch (Münchener Texte und Untersuchungen 63), München 1977, S. 3.
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Gregor dem Großen ererbte Siebenzahl darstellt: Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habsucht, Völlerei und Wollust. Gregors Einfluss auf Heinrich ist auch in anderer Weise unübersehbar, denn der Augustiner-Eremit leitet seinen Traktat mit einem längeren Zitat aus einer der gleichen Textstellen in den ›Moralia in Iob‹ ein, in denen sich Gregor mit den verkleideten Lastern auseinandergesetzt hatte. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Heinrich diese Behandlung um vieles erweitert, so daß nun jedes Hauptlaster als mögliche Quelle falscher Tugenden vorgeführt wird. Die Schematik, die er hier rigoros durchführt, unterteilt in einem ersten Abschnitt jedes Laster in drei sich als Tugend gebende Erscheinungen, beschreibt dann in einem zweiten Abschnitt drei remedia generalia, die das Laster im allgemeinen Sinne heilen, und in einem dritten drei remedia specialia, die meistens auf je eine der drei Tarnungsmethoden des Lasters bezogen werden. Der Neid zum Beispiel verbirgt sich als Eifer für das Gute, als eine fraterna caritas, die auf eine besondere Person oder einen Orden gerichtet ist und anderen Menschen oder Orden keine Güter und keine Ehre gönnt, oder als eine vorgetäuschte Nächstenliebe, die sich besorgt zeigt, daß Besitztümer das Heil von anderen Menschen gefährden könnten. Heinrich thematisiert in verschiedener Weise im Traktat die Wechselbeziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, denn das öffentlich zur Schau gestellte Verhalten wird hier von einer Innenwelt untergraben, die eine Subversion des rechten Urteilsvermögens mit sich bringt und die es durch Selbsterforschung und Gottes Gnade mit dem öffentlichen Verhalten, das sich in einer von der christlichen Morallehre bestimmten Umwelt befindet, wieder in Einklang zu bringen gilt. Daher heißt es in vielen von den spezifischen remedia, die einen Beweis dafür bringen, daß Heinrichs Traktat an erster Stelle für Geistliche bestimmt war, daß der Mensch seine Motive genaustens prüfen müsse. Der Traktat hat jedenfalls großen Anklang gefunden und ist in fast 100 Handschriften erhalten sowie in verschiedenen Bearbeitungen und Übersetzungen von Autoren des 14. und 15. Jahrhunderts. Er findet sich auch im Tractatus de vitiis capitalibus duplex seines Mitbrüders Hermann von Schildesche wieder, der wenige Jahre nach Abschluss der Arbeit Heinrichs dessen Tractatus de occultatione vitiorum sub specie virtutum fast wortwörtlich und ohne Nennung der Vorlage in den zweiten Teil seines eigenen Traktats aufgenommen hat.68 Wie sich die Behandlung des Themas ausweiten ließ, zeigt dann am Anfang des 15. Jahrhunderts ein Traktat ›Über die verschiedenen Versuchungen des Feindes‹ von Jean Gerson, der nicht weniger als 58 Arten der Täuschung des Menschen durch den Teufel beschreibt, durch welche man der Sünde verfällt, während man glaubt, tugendhaft zu handeln.69 Wie auch Gregor der Große und Heinrich von Friemar vor ihm, zeichnet sich Gerson als scharfsinniger 68
Adolar Zumkeller, Schrifttum und Lehre des Hermann von Schildesche O.E.S.A. († 1357) (Cassiciacum 15), Würzburg 1959, S. 64–67.
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Psychologe aus, da in vielen dieser Fälle der Übergang vom Tugendhaften ins Tugendlose nahtlos erscheint. So schreibt Gerson zum Beispiel in Anspielung auf eine Beobachtung bei Gregor dem Großen: »Manchmal bewirkt der Feind – unter der Decke der Milde – durch Gegenteiliges, daß eine Person ihrer Pflicht nicht nachkommt, einen anderen zu rügen oder ihm seine Verfehlungen aufzuzeigen, und daher geht sowohl der eine wie auch der andere zugrunde.«70 Bei Gerson wird dieser Prozeß explizit auf die Einwirkung des Teufels zurückgeführt, der hinter allen Unstimmigkeiten zwischen dem öffentlichen Benehmen und dem menschlichen Selbstverständnis lauert. Die Entlarvung dieses Prozesses gehört dann auch bei Gerson zur Tradition der discretio spirituum, die vor allem in den Händen der Hüter der Rechtgläubigkeit liegt, da im anthropologischen Verständnis Gersons das menschliche Gewissen immer von den ihm zugänglichen Informationen abhängig bleibt und daher leicht irregeführt werden kann.71 Reform ist stets in Gersons Kirchenverständnis programmatisch beinhaltet, aber Reform kommt von oben. Die Funktion des Klerikerstandes als Ausleger der inneren Zustände der simplices wird bei ihm nie in Frage gestellt. Es ist noch bemerkenswert, dass die Reihe der Hauptlaster, oder Todsünden, nicht mehr als Schema ausreicht, die vielen Fehler zu bewältigen, die Gerson zur Sprache bringt, denn weder der Anordnung noch dem Inhalt nach hält er sich an das herkömmliche Model. Dazu decken sich manchmal mehrere Laster unter der Verkleidung einer einzigen Tugend, wie zum Beispiel unter der Demut bald die Geringschätzung, bald der Zorn, bald der Hochmut zu finden ist.72 Überblickt man auch die Fülle von Versuchungen, die der Traktat behandelt, dann merkt man eine gewisse Hilflosigkeit des Sünders vor der Vielfalt der möglichen Verfehlungen, die jede unbedachte Tat begleiten können. Mit einer endlosen Wahl von vorgetäuschten Tugenden, die sich durch Selbsterforschung als Laster entpuppen können, ist der Mensch bei Gerson an der Grenze einer Verunsicherung angekommen, die von Delumeau etwas überspitzt als »seelische Paralyse« gekennzeichnet wird.73 69 70
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Jean Gerson, Traité des diverses tentations de l’ennemi, in: P. Glorieux (Hg.), Jean Gerson, Œuvres complètes, Bd. 7, Paris/Tournai/Rom/New York 1966, S. 343–60. Gerson, ebd., S. 345: Aucunefoys soubz umbre de misericorde, par le contraire il fera que la personne ne fera mie son debuoir de reprendre aultruy ou de luy monstrer ses deffaulx, et par ainssi l’ung et l’aultre perira. Siehe Christoph Burger, Aedificatio, Fructus, Utilitas: Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universitat Paris (Beiträge zur historischen Theologie 70), Tubingen 1986, S. 105; Paschal Boland, The Concept of Discretio Spirituum in John Gerson’s ›De Probatione Spirituum‹ and ›De Distinctione Verarum Visionum a Falsis‹ (The Catholic University of America. Studies in Sacred Theology, 2d ser. 112), Washington, D.C. 1959. Gerson, Traité (wie Anm. 69), S. 352. Delumeau, Sin and Fear (wie Anm. 25), S. 203.
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In anderen Traktaten knüpft Gerson an ein aus der Scholastik stammendes Interesse an, die läßlichen von den tödlichen Sünden zu unterscheiden. Der psychologische Feinsinn der Moraltheologie, der diese Differenzierung zutage fördert, mündete im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit in eine beginnende Entdramatisierung der Sünde, bei der nach der Unabsichtlichkeitslogik eine fehlende Zustimmung des Sünders als moralische Entlastung verstanden wurde. Die läßliche Sünde wird als herabgesetzte Zurechnungsfähigkeit aufgrund mangelnder Absicht oder Einsicht verstanden, liegt also auch in der Nähe des Fehltritts im Sinne der nicht-schuldhaften Verfehlung.74 Bei Gerson hängt die Unterscheidung zwischen läßlicher und tödlicher Sünde mit der Gnadenlehre zusammen, denn Gottes Barmherzigkeit hat dazu geführt, daß sich das, was als Todsünde aussieht, unter den richtigen Umständen tatsächlich als läßliche Sünde zeigt.75 Hier merkt man aber, so wie anhand des Traktats über die Versuchungen des Feindes, daß die Erleichterung des Gewissens durch die Zweideutigkeit einer beliebigen Tat eine peinlich genaue Suche nach den der Tat zugrundeliegenden Motiven mit sich bringt, die zu einer gefährlichen scrupulositas führen könnte, vor der Gerson ebenfalls warnte. Wie seine eigene Schilderung der Möglichkeiten des Sündigens aussieht, findet man am Ende seines Traktats ›Le profit de savoir quel est péché mortel et véniel‹, wo das Beispiel einer französischen Königin, die ein englischer König durch die Verlockungen seines Boten vor den Augen ihres Gatten zu verführen versucht, kasuistisch beleuchtet wird. In sechs Etappen skizziert Gerson die Verhaltensmöglichkeiten der Seele, von der völligen Enthaltung von einer Sünde, in welchem Falle die Königin es ablehnt, den Boten überhaupt zu empfangen, bis hin zur entschiedenen Verharrung in einer Sünde. Immer deutlicher zeichnet sich der consensus der Königin ab, je mehr sie sich dem Stadium der hartnäkkigen Todsünde nähert. An der Intentionalität der Seele, sprich der Königin, lässt Gerson erkennen, wie durch minimale Schritte die tugendhafte Tat, bzw. eine läßliche Sünde, in die Todsünde übergehen kann.76 Die Darstellung einer Demaskierung vermeintlicher Tugenden als Laster eignete sich auch bestens fürs Drama, aber erst nachdem die Entwicklung einer verbalen und visuellen Rhetorik eines sich maskierenden Lasters diese (Ent)Tarnungsmethode unter den dramatischen Konventionen des Theaters 74
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Zur läßlichen Sünde siehe Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Ia IIae, qu. 88, art. 2; Hermann Heyer, Die läßliche Sünde nach Albertus Magnus (Veröffentlichungen des Missionspriesterseminars St. Augustin, Siegburg 10), Steyl 1963; John Joseph O’Brien, The Remission of Venial Sin (The Catholic University of America. Studies in Sacred Theology, 2d ser. 109), Washington, D.C. 1959, bes. S. 9–21. Jean Gerson, Regulae morales, 5, in: P. Glorieux (Hg.), Jean Gerson, Œuvres complètes, Bd. 9, Paris / Tournai / Rom / New York 1973, S. 96. Siehe Sven Grosse, Heilsungewissheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit (Beiträge zur historischen Theologie 85), Tübingen 1994, S. 78–79.
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zuließ, wie man z. B. an den englischen ›Moralities‹ des 16. Jahrhunderts belegen kann. Wie John Alford zeigt, haben frühere Dramatiker sehr wohl Theaterstücke entworfen, in denen die Maskierung von Lastern beschrieben wird, aber erst in Henry Medwalls ›Nature‹ (um 1500) spielt sich dann der Hochmut als »Worship,« die Habsucht als »Worldly Policy,« der Zorn als Männlichkeit, der Neid als Verachtung, die Völlerei als Geselligkeit, die Trägheit als Behagen und die Wollust als Lebensfreude auf.77 Die Ambiguität, die zwischen Bezeichnung und Inhalt dieser dramatis personae liegt, erlaubt ihnen einerseits, wie Erscheinungsformen des Alltagslebens hervorzutreten und dadurch authentischer auf die Zuschauer zu wirken; andererseits ermöglicht das Mißverständnis ihres nicht öffentlichen Inhalts durch die Hauptfigur »Man«, die psychologische und moralische Erfahrung der Zuschauer zu verfeinern. Die Konvention des lasterhaften Decknamens gehörte nach Medwall zur Palette der dramatischen Methoden fast jeder ›Morality‹ der englischen Neuzeit.78 In dieser Beliebtheit sollte man vielleicht weniger einen Beleg für die moralische Verwirrung des Zeitalters der Renaissance und Reformation sehen79 – denn seit Gregor dem Großen bringt die Behandlung des Themas eine Zeitkritik zur Sprache, bei welcher jede Gesellschaft als moralisch fehlerhaft erscheint –, sondern vielmehr eine gewisse Demokratisierung des Wissens, mit dem eine geistliche Elite früher allein das sündige Gewissen skandalisieren ließ, da nun die moralische Sensibilität jedes Zuschauers geprüft wird, ob er imstande ist, ein verstecktes Laster durch die öffentlich ausgetragenen Gesten, Sprachmerkmale, Kleidungsstücke usw. zu erkennen. Immer wieder wird in diesen Theaterstücken dargestellt, wie selbst bei größter Wachsamkeit das Ethische auf der Kippe zum Unethischen steht. Auch Gersons Traktate geben zu erkennen, wie unruhig die Beziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, dem Vorsätzlichen und dem Unabsichtlichen bei der Behandlung der als Tugenden verkleideten Laster in der 76
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Jean Gerson, Le profit de savoir quel est péché mortel et véniel, in: P. Glorieux (Hg.), Jean Gerson, Œuvres complètes, Bd. 7, S. 370–89; lateinische Version in Tractatus de differentia peccatorum mortalium et venialium, in: L. Ellies Du Pin (Hg.), Joannis Gersonii opera omnia, Antwerpen 1706, Bd. 2, Sp. 487–504 – siehe Newhauser, The Treatise on Vices and Virtues (wie Anm.9), S. 31; Bloomfield / Guyot / Howard / Kabealo, Incipits, (wie Anm. 64) Nr. 4582. Siehe auch Grosse (wie Anm. 75), S. 80; Thomas N. Tentler, Sin and Confession on the Eve of the Reformation, Princeton 1977, S. 148–56. Henry Medwall, Nature, in: Alan H. Nelson (Hg.), The Plays of Henry Medwall, Woodbridge, Eng. / Totowa, New Jersey 1980, S. 91–161; siehe auch M.E. Moeslein (Hg.), The Plays of Henry Medwall. A Critical Edition, New York / London 1981, S. 275– 386; John A. Alford, »My Name is Worship«: Masquerading Vice in Medwall’s Nature, in: John A. Alford (Hg.), From Page to Performance. Essays in Early English Drama. East Lansing, Michigan 1995, S. 151–77. Bernard Spivack, Shakespeare and the Allegory of Evil, New York 1958, S. 159. Vgl. A.P. Rossiter, English Drama from Early Times to the Elizabethans. Its Background, Origins and Developments, New York 1950, neuaufgelegt 1967, S. 134–35.
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Morallehre verstanden wurde. Schließlich wird das Thema vom scharfsinnigen Beobachter der höfischen Manieren La Rochefoucauld aufgegriffen und auf den Kopf gestellt, denn im psychologischen Mechanismus am französischen Hof gehören die den Tugenden beigemischten Laster zum Selbstverständnis des alltäglichen Benehmens. Überdies ist die Notwendigkeit, mit der die Laster die Tugenden begleiten, selbst Ausdruck einer ethischen Pragmatik, die nun therapeutisch wirkt. War früher die Verabreichung von mit Honig überzogenem Gift eine Metapher für die als Tugenden verkleideten Laster, spricht nun La Rochefoucauld vom normalen Zustand der Medizin, bei dem Gift immer unter den Zutaten der besten Arzneimittel vorkommt.80 Die Beobachtung der Manieren ist hier auf dem Weg, wie man dies später bemerkt hat, sich auf dem Feld breitzumachen, auf dem früher die Morallehre hegemonisch geherrscht hatte.81 Bei dem hier behandelten Thema geht es also um die Unklarheit im Erkennen einer vermeintlich annehmbaren Verhaltensweise, die immer wieder als lasterhaft entlarvt werden konnte. Auch wenn das Problem der als Tugenden verkleideten Laster im Mittelalter nicht immer zufriedenstellend gelöst werden konnte, lag es doch im Zentrum der mittelalterlichen Morallehre, die sich hier für die Zweideutigkeit aufgeschlossener und damit auch viel komplizierter, in psychologischer Hinsicht grundlegender zeigt, als es auf den ersten Blick scheint.
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François VI de La Rochefoucauld, Maximes (Version du manuscrit Liancourt), in: Martin-chauffier / Marchand (Hgg.), Œuvres complètes de La Rochefoucauld (wie Anm. 1), S. 381, Nr. 227; s. o. Anm. 43. Miller, Humiliation (wie Anm. 46), S. 179–80; Rom Harré, Embarrassment: A Conceptual Analysis, in: W. Ray Crozier (Hg.), Shyness and Embarrassment. Perspectives from Social Psychology, Cambridge, Eng. 1990, S. 202–03.
Gerd Schwerhoff
Fehltritt oder Provokation?
Theologisch-rechtliche Deutung und sozialen Praxis der Gotteslästerung im 15. und 16. Jahrhundert Im Juni 1528 zog der Schmied und städtische Bedienstete Claus Harnasch im Beisein mehrerer Zeugen in scharfen Worten über »die Evangelischen« her, die aus mehreren Basler Kirchen die Bilder entfernt hatten. Harnasch beschimpfte sie als Meineidige, Bösewichter und Schelmen: Das sind unsere evangelischenn, das sy gots wundenn schend, so fuhr er unter anderem heraus; es handele sich um Menschen die die Gebote der frommen Obrigkeit, des Rates, schmählich mißachteten: Und summer gots wunden, ich will min lip und guot zuo minen hern setzenn, damit sy gestrafft werden.1 Inmitten einer aufgewühlten religiösen und politischen Atmosphäre präsentierte sich Harnasch also als treuer Anhänger des alten Glaubens und als gehorsamer Untertan des Rates in Basel.2 Auch im Nachhinein wird er seine Empörung wohl kaum als Fehltritt, sondern als gerechten Zorn empfunden haben. Seine Widersacher und die Betroffenen mögen das anders gesehen haben: Wohl auf ihre Initiative strengte die Basler Obrigkeit ein Ermittlungsverfahren an, dessen Akten wir überhaupt die Tatsache verdanken, daß der Fall überliefert wurde. Allerdings verlief das Verfahren im Sande, ein Sanktion wurde nicht ausgesprochen. Hier soll nur ein Detail in Harnaschs Rede interessieren, nämlich jene kräftigen Flüche und Schwüre ›bei ›Gottes Wunden‹, in denen seine Verwünschungen gegen die ungehorsamen und aufrührerischen ›Evangelischen‹ gipfelten. Dabei handelte es sich trotz des ›heiligen Furors‹, in den sich Harnasch offenbar hineingesteigert hatte, um gänzlich unfromme, ja blasphemische Äußerungen, die der Ehre Gottes Abbruch taten. Ein Blick in die Basler Statuten jener Zeit zeigt, daß das Einschreiten der weltlichen Obrigkeit hier drin1
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Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, hrsg. v. Emil Dürr und Paul Roth, 6 Bände, Basel 1921–1950, hier Bd. 1, Nr. 155, S. 128. Vgl. zum Hintergrund der Bilderstürme in Basel vergleichend Lee P. Wandel, Voracious idols and violent hands. Iconoclasm in Reformation Zurich, Strasbourg, and Basel, Cambridge 1995.
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gend geboten erscheinen mußte. Denn der Schutz der göttlichen Ehre sollte einer der vordringlichsten Aufgaben dieser Obrigkeit sein, wie 1498 die Präambel der sog. ›Alten Reformationsordnung‹ in Basel betonte. Durch die Übertretung seiner Gebote und die Verletzung seiner Gebote entstünden viele heimliche Strafen und offenbare Plagen (Krieg, Teuerung, Sterben, Mißernten etc.), die von Gott über die Menschen verhängt werden. Der Katalog der Straftaten wird durch die Rubrik ›Gotteslästerung‹ eröffnet: Denn wenn auch im weiten Sinn jede Verletzung göttlicher Gebote eine Verunehrung der göttlichen Würde darstellte, so wurden doch einige Übertretungen als besonders schlimm angesehen, und dazu gehörte die Blasphemie.3 Vor allem werden eben jene verwerflichen Schwüre bei den göttlichen Gliedern unter Strafe gestellt, bei deren Schaffung und Variierung gerade die Menschen am Oberrhein zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert eine unerschöpfliche Phantasie an den Tag legten.4 Derartige Schwüre, auch solche bei der würdigen Muttergottes und den Heiligen, werden mit einer Regelstrafe von fünf Schillingen bestraft. Auch Flüche gegen Mitmenschen, die Gott oder seine Heiligen erwähnen, sollen ohne Gnade mit einem Schilling gebüßt werden. Gröbere Schwüre können sogar mit Strafen an Leib oder Leben belegt werden. Eine Denunziationspflicht für einen weit gefaßten Kreis von Amtspersonen, darunter auch die Wirte und Köche, soll die Wirksamkeit der Strafandrohung sicher stellen. Die angeführte ›Alte Reformationsordnung‹ nimmt mit ihren Bestimmungen über Gotteslästerung ebenso wie über Eidbruch, Feiertagsentheiligung, Ehebruch, Spielen und Zutrinken viele Normen vorweg, die häufig dem erhöhten moralischen Impetus der Reformation zugeschrieben werden. Präziser gesagt, sie verdeutlicht, daß viele Bestimmungen der Reformationszeit in den sozialregulierenden Bestrebungen städtischer (und in eingeschränkterem Maße auch dörflicher) Gemeinden des Spätmittelalters wurzelten. Der städtische Kampf gegen die Blasphemie hatte am Ausgang des 15. Jahrhunderts bereits eine ca. zweihundertjährige Geschichte.5 Und in wesentlichen Punkten hatten ihre Regelungen auch in den nächsten einhundert Jahren Bestand, wenn auch 1529 eine neue Reformationsordnung in Basel die Tatbestandsmerkmale der Blasphemie etwas erweiterte. Die Schwüre eines Claus Har3
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Staatsarchiv Basel-Stadt, Bibl. Bf 1. – Vgl. zur Entehrung Gottes Gerd Schwerhoff, Blasphemare, dehonestare et maledicere Deum. Über die Verletzung der göttlichen Ehre im Spätmittelalter, in: Klaus Schreiner / Gerd Schwerhoff (Hgg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 1995, S. 252–278. So schwor 1397 ein gewisser Hullo botz krötz, botz mit send, botz lunge, botzlich sners (Staatsarchiv Basel-Stadt, Ratsbücher A 3, fol.26r); Halseisen und fünf Jahre Stadtverbot für Cilsin Vederlin werden 1409 damit begründet, sie habe got vast übel gehandelt, wand sie gesprochen hat, si welle gott ze leit sweren vnd swur ouch vnder ander swüren summer box verch treck; Item summer box ferch kot, Item summer box ferch hoden (ebd., fol.58). ›Box‹ oder ›botz‹ stellt hier einen leicht zu dechiffrierenden Euphemismus für ›Gottes‹ dar, ›summer‹ ist eine Steigerungs- und Bekräftigungsformel.
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nasch von 1528 jedenfalls, soviel geht aus der zitierten Ordnung eindeutig hervor, können als gravierender Normverstoß aufgefaßt werden – nicht bloß als ›harmloser‹ Fehltritt, sondern als schweres Vergehen, potentiell sogar als Verbrechen. Die Strafen gegen Schwören und Gotteslästerungen standen in Basel nicht lediglich auf dem Papier. Gerade im Vorfeld der Reformation häufen sich in der Stadt am Oberrhein einschlägige Fälle wie etwa derjenige des Adam Frig, der am Tag Mariä Lichtmeß 1520 gott gelesstert und ubel geschworen hatte und deshalb vom Rat eine Zeit lang in Haft gehalten worden war.6 Der spektakulärste Fall in jenem Jahr war jener des Zechers Hans Heintzen, der seine originellen und seltsamen Schwüre nach den Forderungen der Basler Ladeherren mit dem Leben bezahlen sollte.7 Leibes- und Lebensstrafen drohte also jenen, deren Blasphemien als besonders verwerflich angesehen wurden. Noch 1528 wurde der Kleinbasler Veltin Henniclewi ins Halseisen geschlossen und ihm wegen siner grossen gotzlesterung und anderer mercklicher misshandlung … sin zung abgehouwen.8 Eine konsequente Kriminalisierung übler Gotteslästerung also? Keine Pardon für verbale Entgleisungen, Fehltritte, die – wie in der Reformationsordnung festgehalten – schlimmste Konsequenzen für die ganze menschliche Gemeinschaft haben konnten? Der Fall des Claus Harnasch paßt nicht in dieses Bild. Die Ermittlungen gegen ihn verliefen im Sande, ja die Schwüre waren von den Beteiligten offenbar überhaupt nicht problematisiert worden. An einem besonders hervorstechenden Fall zeigt sich hier eine keineswegs einmalige Tatsache: Was auf der einen Seite als gräßliche Gotteslästerung perhorresziert wurde, blieb häufig ohne Folge, ja es wurde noch nicht einmal als anstößiger Fehltritt thematisiert. Es scheint gleichsam unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der zeitgenössischen Beobachter angesiedelt gewesen zu sein. Zur Erhellung des scheinbaren Widerspruchs müssen wir die beiden wichtigsten Diskurse an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, die sich mit der Gotteslästerung beschäftigten, genauer befragen: das (Straf-)Recht und die Theologie. Ein Blick in die Annalen des Strafrechts zeigt schnell, daß die 1528 in Basel vollstreckte Strafe des Herausschneidens der Zunge eine klassische 5
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Zur – auch auf vielen anderen Gebieten zu beobachtenden – Kontinuität zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit für den Bereich der Blasphemiebekämpfung Gerd Schwerhoff, Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz. Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14.–17. Jh.), in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 25 (1998), S.39–120. Aktensammlung (wie Anm. 1), Bd. 1, Nr.41, S. 13; vgl. ebd. Nr. 16, S. 7; Nr. 58, S. 18; Nr. 60, S. 19; Nr. 68, S. 21; Nr. 93, S. 35. Ebd., Nr. 53, S. 15f. Vgl. dazu unter Auswertung der erhaltenen Zeugenverhöre Gerd Schwerhoff, Starke Worte. Blasphemie als theatralische Inszenierung von Männlichkeit an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 237–263. Aktensammlung (wie Anm. 1), Bd. 3, Nr. 239, S. 171.
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Sanktion gegen Blasphemiker darstellte. Eines der frühesten weltlichen Blasphemieverbote findet sich im 1221 von Herzog Leopold VI. erlassenen Wiener Stadtrecht. Wer den Herrgott oder seine Heiligen tadele, dem solle, so wird dort bestimmt, die Zunge herausgeschnitten werden, und zwar ohne dem Übeltäter die Gelegenheit zur Ablösung der Strafe zu gewähren.9 Wie ein Echo auf diese Bestimmung wirkt der einschlägige Artikel in den Konstitutionen von Melfi zehn Jahre später: Mit dem Abschneiden der Lästerzunge solle bestraft werden, wer Gott und seine glorreiche Jungfrau lästere.10 Vermutlich verweist diese Strafe auf den – gleich näher zu besprechenden – pastoraltheologischen Diskurs über die peccata linguae.11 Die Zunge, mit der der Lästerer Gott verunehrt, so lautet der Gemeinplatz der Theologen, diene eigentlich zu seinem Lob. Es war nur folgerichtig, daß in den Exempeln seit dem 13. Jahrhundert die angeschwollene, herausgestreckte oder verfärbte Zunge als sichtbares Zeichen für die göttliche Vergeltung gegen den Lästerredner figurierte.12 Es lag nahe, die vom Schöpfer selbst angewandten Sanktionen in den Strafrechtskatalog zu übernehmen. Auch Hinrichtungen wurden in jener Zeit vereinzelt gegen hartnäckige Gotteslästerer verhängt. Im 16. Jahrhundert wurden in Basel und in Köln jeweils ein, in Nürnberg sogar zwei Blasphemiker zu Tode gebracht.13 Der Fall des Diederich Baumans, der im April 1565 im Rhein bei Köln ertränkt wurde, zeigt, daß man sich die Sache keineswegs einfach machte. Der Delinquent hatte Christus mit dem Teufel verglichen und war nicht zu bewegen gewesen, Gebete und heilige Worte zu wiederholen. Entgegen den normativ formulierten Drohungen hatte der Rat keineswegs kurzen Prozeß mit ihm gemacht, sondern hatte versucht, ihn mit priesterlichem Beistand, vielleicht sogar einem Exorzismus, und auch durch Prügel von seinem Starrsinn abzubringen. Erst die Fortdauer der besonders schweren Lästerungen ließ offenbar das strenge Urteil unausweichlich erscheinen.14 Aufs Ganze gesehen waren derartig schwere Sanktionen die Ausnahme. Als Regelstrafen fungierten zunehmend leichtere oder schwerere Geldstrafen, wie sie in den italienischen Städten schon lange gang und gäbe waren. Die ›Alte Reformationsordnung‹ in Basel steht mit ihren Bestimmungen hier beispiel9 10
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Die Rechtsquellen der Stadt Wien, hrsg. v. Peter Csendes, Wien 1986, Nr.4, Art.15, S. 36. Die Konstitutionen Friedrichs II. von Hohenstaufen für sein Königreich Sizilien. Nach einer lateinischen Handschrift des 13. Jahrhunderts hrsg. und übers. von Hermann Conrad u.a., Köln/Wien 1973, lib. III, tit. XCI, S. 348. Carla Casagrande / Silvana Vecchio, Les péchés de la langue. Discipline et éthique de la parole dans la culture médiévale, Paris 1991. Stephan von Bourbon, Anecdotes Historiques, Légendes et Apologues Tirés du Recueil inédit d’Etienne de Bourbon, Dominicain du XIIIe Siècle, ed. A. Lecoy de la Marche, Paris 1877, S. 343 ; Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und lateinischem Urtext, hrsg. v. Joseph Klapper, Breslau 1914, S. 126 bzw. 338. Schwerhoff, Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 5), S. 95ff. Historisches Archiv der Stadt Köln, Verf. u. Verw. G 211, fol.18vf. und fol.20r.
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haft für die Statuten der meisten Städte auch im Alten Reich. Daneben gab es die ganze Palette von Schand- und Ehrstrafen. Es lag nahe, die Entehrung Gottes retorsiv mit einer Entehrung der Blasphemiker zu beantworten. Dabei konnten sich die angedrohten und vollzogenen Rituale einerseits eng an die Praxis der Kirchenbuße anlehnen, bei der die Sünder barfuß, in härenem Gewand und mit einer Büßerkerze im Gotteshaus zu erscheinen hatten. Es konnte sich aber auch um die gängige Prangerstrafe handeln, die ebenfalls bei anderen Vergehen zur Anwendung kam. Und es wurden auch eigene, vielleicht sogar speziell für Gotteslästerer »erfundene« Ehrenstrafen praktiziert, etwa die sog. »hölzerne Heuke« in Köln; dabei handelte es sich um einen Schandmantel in Form einer Tonne, mit dem der Delinquent durch die Straßen und über die Plätze der Stadt geführt wurde.15 Bekannt ist auch der Herdfall in Schweizerischen Städten, ein Ritual, bei dem der Blasphemiker mit gekreuzten Händen zur Erde fallen und den Boden küssen mußte, um den Schöpfer um Verzeihung zu bitten.16 Was vielerorts unvermittelt in der Praxis nebeneinandersteht, wurde in manchen Gesetzesnormen zunehmend in ein System gebracht. Die Ordonnanzen der französischen Könige seit Ludwig dem Heiligen feilten das gesamte Spätmittelalter hindurch an einem zur Abschreckung gedachten abgestuften Strafrechtskatalog, der zwischen Erst- und Wiederholungstätern ebenso unterschied wie zwischen schweren und leichten Lästerungen.17 Das Sanktionssystem reichte von Geldbußen über den Pranger bis zum Schlitzen und Abschneiden der Zunge. In Deutschland eröffnete erst ein Reichsabschied von 1495/7 die Phase intensiver Reichsgesetzgebung in Sachen Gotteslästerung; er wandte sich gegen eytel- oder lesterwort und swure bey Gott, seiner heiligsten marter, wunden oder glidern, der jungfrauen Maria und seinen Heiligen.18 Waren seit dem 13./14. Jahrhundert die Städte Schrittmacher bei der Sanktionierung dieses Deliktes gewesen, so verlagerte sich nun die Initiative auf das Reich bzw. auf die Territorien. Auf den genannten Reichabschied berief sich im Jahr 1501 auch der berühmte Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg, als er dem Rat der oberrheinischen Stadt die Leviten las. Geiler hatte in einem Sermon bemerkt, die Straßburger Ratsherren seien alle des Teufels. Aufgebracht begehrte der Magistrat im November 1500 zu wissen, was der Grund derartiger Vorhaltungen sei. Geiler antwortete am Beginn des folgenden Jahres mit seinen berühmten 21 Artikeln, Gravamina über städtische Gewohnheiten und Statuten. Im 18. Artikel kommt auch die Gotteslästerung zur Sprache. Am Be15 16 17 18
Schwerhoff, Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 5), S. 72ff. In Genf z. B. erstmals 1459 nachweisbar, vgl. Le sources du droit du Canton de Genève, Bd. 1, ed. Imile Rivoire u. Victor van Berchem, Aarau 1927, Nr. 221, S. 431f.. Jacques Le Goff, Saint Louis, Paris 1996, S. 216 ff. u. 290 ff. Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., V. Band, Bd.1, bearb. v. Heinz Angermeier, Göttingen 1981, Nr. 458, S. 575–577.
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ginn steht die Klage, daß ein Totschläger mit einer Geldbuße davonkomme, während der Beutelschneider hingerichtet werde. Geilers Thema ist hier die gerechte Strafe. Unvermittelt schließt sich die Frage der Blasphemie an. Auch hier geht es um die Verhältnismäßigkeit der Strafe im Vergleich mit einem anderen Delikt, nämlich mit der Injurie gegen einen Mitmenschen bzw. zur Majestätsbeleidigung: Also solt man ouch hefftiglichen stroffen die gots lesterung/ die do ringer gestrofft wurt weder lesterung oder schmoch eynes zijtlichen herren und moenschen. So doch das von keiserlichen rechten und besundermm bevelh kuniglicher majestat befolen und gebotten ist.19
Der Prediger war offenbar unzufrieden mit der Bestrafung der Gotteslästerung, vor allem mit einer Strafpraxis, die weit hinter der martialischen Rhetorik der Normen zurückblieb. Vielleicht kann er als Kronzeuge herangezogen werden, um den eingangs konstatierten Gegensatz aufzuhellen? Johann Geiler von Kaysersberg, als Universitätslehrer, Humanist und Gerson-Übersetzer mit der mittelalterlichen Tradition wohlvertraut, als Münsterprediger zwischen 1478 und 1510 dazu prädestiniert, diese Tradition wortgewaltig zu vermitteln, hat sich mehrfach zum Problem der Gotteslästerung geäußert. Beschränken wir uns hier auf das markanteste Zeugnis. 1505 behandelte er in einer Reihe von 25 Fastenpredigten über die ‘Blattern des Mundes‹, über die Wortsünden also, auch die Blasphemie.20 Zumindest ein Anlaß dieses Predigtzyklus über die geistlichen Blattern, war – wie Geiler in der Einleitung bemerkte – das Auftreten einer neuen Art von leiblichen Blattern, die seit acht oder neun Jahren die Menschen plagten. Tatsächlich hatte sich die Syphilis seit Mitte der 1490er Jahre in Deutschland verbreitet. Mit dem Hinweis auf die alttestamentlichen Plagen, die Jahwe über die Ägypter kommen ließ, legt der Prediger nahe, auch die neuen Blattern als göttliche Strafe zu begreifen. Oder anders gesagt: Die leibliche Krankheit ist gleichsam nur der äußere Ausdruck der geistlichen Blattern, die den Menschen inwendig in dem rachen und dem mund wachsen. Zu diesen ‘Blattern des Mundes‹ gehört nun auch die Gotteslästerung. 19
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Johann Geiler von Kaysersberg: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Bauer, Bd.1, Berlin 1989, S. 193 f; vgl. Rita Voltmer, Praesidium et pater pauperum, pustulatorum praecipua salus. Johann Geiler von Kaysersber und die Syphilis in Straßburg (1496–1509), in: Friedhelm Burgard u. a. (Hgg.), Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit, Trier 1996, S.413–444, hier S. 430; Uwe Israel: Johannes Geiler von Kaysersberg (1445– 1510). Der Straßburger Münsterprediger als Rechtsreformer, Berlin 1997, S. 261–2. Johann Geiler von Kaysersberg, Das Buch der Sünden des Mundes, Straßburg 1518, S.19r.–21r.; vgl. Johann Geiler von Kaysersberg: Die ältesten Schriften Geiler von Kaysersberg, hrsg. von L. Dacheux, Freiburg i. Br. 1882 (ND 1965), Nr. 75, S. XCVIIIff. sowie zum Herausgeber Johannes Pauli Luzian Pfleger, Der Franziskaner Johannes Pauli und seine Ausgaben Geilerscher Predigten, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 3 (1928), S. 47–96.
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Das explizite Ziel Geilers ist es, den Schaden, den die Blasphemie anrichtet, zu benennen, und die rechte geistliche Medizin dagegen anzuführen. Mit theologischen Definitionen des Gegenstandes hält er sich nicht lange auf, auch wenn er diese Begriffsbestimmungen natürlich kennt, voraussetzt und z.T. sogar am Rande erwähnt. Danach handelte es sich bei Gotteslästerung um eine Schmäh- und Scheltrede gegen Gott, um einen Angriff gegen die göttliche Ehre. Herkömmlich werden drei Species lästerlichen Redens unterschieden: Gott etwas zulegen, was ihm nicht zukomme (etwa menschliche Eigenschaften); Gott etwas zu nehmen, was ihm zukomme (etwa Allmacht oder Providenz); schließlich den Geschöpfen etwas zuzuschreiben, was allein Gott zukomme.21 Wichtiger als derartige akademische Unterscheidungen sind dem Prediger pragmatische Überlegungen, und mit einer sehr handfesten Invektive leitet er die Predigt zur Blasphemie auch ein: »Ertränken, das wäre die beste Arznei, so verging es ihnen (das Gotteslästern)«. Was der Leser bzw. Hörer schon nach den 21 Artikeln und nach der Einstufung der Blasphemie als göttliche Strafe ahnte, scheint sich hier zur Gewißheit zu verdichten: Der moralische Rigorist Geiler von Kaysersberg hält Gotteslästerung für ein schlimmes, gar todeswürdiges Vergehen und plädiert für äußerst harte Sanktionen. Ausführlich beschäftigt er sich mit den Auswirkungen dieser Wortsünde. Sie macht den Menschen, so erklärt er bündig, teufflisch, unmenschlich, unchristlich und sei eine Krankheit, die kaum geheilt werden könne. Wie einst der Jude den heiligen Petrus an seiner Sprache als Galiläer erkannt habe, und wie man heutzutage den Schwaben oder Bayern an seinem Dialekt erkenne, so könne man an der Sprache auch die Zugehörigkeit des Blasphemikers erkennen: Wer Gott vom Scheitel bis zur Sohle lästere, wer bei Gottes Auge, Herz, Nase und allen Gliedern schwöre, der spreche eine teuflische Sprache und sei zu ewiger Verdammnis verurteilt. In immer neuen Anläufen werden die Blasphemiker als die schlimmsten aller Sünder angeprangert. Christliche Gotteslästerer und ihre Dulder und Unterstützer seien schlimmer als die Juden, die die Ohren beim Hören einer Blasphemie verstopften und sich abwendeten. Sie seien schlimmer als Hunde, die – wenn sie auch alle Welt bissen – doch ihren Herren verschonten. Diebe und andere Kriminelle handelten dem Herrgott selbst nicht zuleid, sie wollten gerne gottes fründ sein: Aber diser der got den herren lestert / der thut gerad wider gott / und thut es gott zuleid. Wer Vater und Mutter schmähe, habe sowohl zeitliche als auch jenseitige Strafen zu gewärtigen. Wer einen Amtmann oder einen weltlichen Herrscher beleidige, könne sogar am Galgen landen. Wieviel mehr versündige sich also jener, der die ewige Majestät Gottes beleidigte. Exempel über prompt bestrafte Gotteslästerer dürfen natürlich in der Predigt nicht fehlen. Hier sei nur jenes Beispiel eines Ritters angeführt, der beim 21
So klassisch Alexander von Hales: Summa Theologica, vol.3: Secunda Pars, Secundi Libri, And Claras Aquas (Quaracchi) 1930, S. 465, im Anschluß an Augustinus.
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Brettspiel verlor und deshalb bei allen Gliedern Gottes zu schwören begann. Damit nicht genug: Er lästerte auch dessen würdige Mutter, beschwor secreta membra Marie und nannte sie eine üppige Frau. Sofort drang ihm ein kalter Strahl durch den Leib und er verschied auf der Stelle. Einem Freund des Toten wurde in einer Vision offenbart, daß Gott vielleicht mit den Lästerungen gegen die eigene Person noch Nachsicht geübt hätte – die Entehrung seiner Mutter konnte er dagegen nicht mehr hinnehmen. Beispielhaft führt die Predigt Geilers von Kaysersberg die Perhorreszierung der Sünde der Gotteslästerung im spätmittelalterlichen Diskurs der Theologen vor, die ihren Gipfelpunkt in der Metapher von der ›zweiten Kreuzigung Christi‹ durch die Blasphemiker fand; einige spätmittelalterliche Holzschnitte visualisierten diese Metapher, indem sie zeigten, wie die scharfen Lästerzungen dem Gekreuzigten körperliche Martern zufügten.22 Das Quälen des Erlösers durch angebliche Christenmenschen macht überdeutlich klar, welches Gewicht der Blasphemie im vormodernen Europa zugeschrieben werden konnte – keine Überraschung angesichts der immer wieder beschworenen überragenden und alles durchdringenden Bedeutung des Glaubens in jener Epoche. Jede Qualifizierung lästerlicher Äußerungen als Fehltritt, als unabsichtliche und geringfügige Erscheinung, muß vor diesem Hintergrund abstrus erscheinen – oder? Warum aber passierten dann Claus Harnaschs Gottesschwüre und –flüche unsanktioniert? Wer weiter fragt, stößt auf Brüche und Ambivalenzen im zeitgenössischen Diskurs über Blasphemie. Die Ablehnungs- und Empörungsfront der Theologen stand nicht so fest, wie es auf den ersten Blick scheint. Zunächst sind da die Ausreden und Bagatellisierungen der Gotteslästerer, die die Prediger und Katecheten selber regelmäßig anführen, natürlich, um sie nachher zu verwerfen. Soll ich etwa beten, wenn es mir übel ergeht, so läßt Thomas Murner am Beginn des 16. Jahrhunderts seinen Narren den Beichtvater fragen; wenn es Not tue, könne er sich gegen üble Schwüre nicht erwehren. Und außerdem verwende er – anders als die berüchtigten Schweizer – nur die gängigen Varianten: So kan ich mich offt nit erweren, Ich muoß den hertz iar ritten schweren, Das mir verbüt das ander gebot. Wann es aber nit thuot not, Solt betten ich, so es übel godt? Ich hab kein frembden schwuor erfunden, Und schwör nit, als die schwytzer, wunden, Ich marter nit nach unserm sitten: Mich dunckt, gott hab genuog erlitten; Doch wann myn sach gondt überzwerg, Wie man schwört am kochersperg: Götz luß / götz dreck / götz darm / götz schweiß! Und fluoch als, das ich yendert weiß.23 22
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Vgl. dazu demnächst Gerd Schwerhoff, Christus zerstückeln – Das Schwören bei den Gliedern Gottes und die spätmittelalterlicher Passionsfrömmigkeit, in: K. Schreiner (Hg.), Soziale, visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit, München 2000. Thomas Murners Deutsche Schriften, Bd.2: Narrenbeschwörung, hrsg. von M. Spanier, Berlin 1926, Nr. 95: Der narren bycht, S. 445f.
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Ein weiteres Spektrum möglicher Ausreden findet sich in einer englischen Handschrift.24 Es sei gut, so lautete die erste, Gott so oft wie möglich zu gedenken und seinen Namen im Munde zu führen. Das häufige Schwören, so besagt die zweite, geschehe aus Gewohnheit und Schlüpfrigkeit der Zunge und nicht aus dem Bestreben, Gott herabzuwürdigen. Gott ist gnädig und gerecht, so die dritte Entschuldigung, und er wird mich nicht für ein so geringes Vergehen scharf bestrafen. Ohne die beständigen Schwüre, so schließlich die vierte Ausflucht, würden die entsprechenden Aussagen beim Gegenüber keinen Glauben finden. Gruppiert man die Argumente ein wenig um, dann ergibt sich ein Spektrum möglicher Rationalisierungen, das von der offensiven Verteidigung des Schwörens über eine gewisse Gleichgültigkeit bis zu einer defensiven Haltung reicht, die zugesteht, daß Schwören eine Sünde sei, jedoch nur eine läßliche. Gemeinsam ist den vier Gründen, daß sie ein fehlendes Unrechtsbewußtsein dokumentieren. Dieses fehlende Unrechtsbewußtsein werden die Kirchenmänner nicht müde anzuprangern. Dabei sprechen sie nicht nur die Gotteslästerer selber an, sondern auch die mangelnde Bereitschaft der weltlichen Obrigkeiten und der sozialen Umwelt zu sozialer Kontrolle und durchgreifenden Sanktionen. Genauer besehen, teilen die Theologen jedoch die ambivalente Haltung ihrer Zeit zu den blasphemischen Sprechakten. Da wäre einmal der Tatbestand, daß die Wortsünde der Gotteslästerung in ihren Darstellungen rein quantitativ keineswegs der Raum eingeräumt wird, der ihrer inhaltlichen Dramatisierung entsprechen würde. In der Systematik der Wortsünden steht die Blasphemie oft nicht an erster Stelle; Häresie oder Apostasie werden häufig wesentlich ausführlicher abgehandelt. Vor allem aber schaffen inhaltliche Differenzierungen zwischen verschiedenen Ausprägungen der Gotteslästerung einen Spielraum im Urteil, der die Tendenz zur rückhaltlosen Verdammung konterkariert. So gibt sich Geiler von Kaysersberg überraschend weitherzig in der Beurteilung blasphemischer Gedanken, die auf den ersten Blick sehr schwerwiegend zu sein scheinen. Wie soll Gott dort drinnen sein, mag etwa ein Mensch denken, wenn die Hostie erhoben wird? Oder wie kann Maria Jungfrau geblieben sein, fragt sich ein anderer? Diese Dinge seien nicht schwerwiegend, so der Straßburger Münsterprediger, denn der böse Geist gebe sie den Menschen ein – man könne sie schlichtweg ignorieren. Unter bestimmten Voraussetzungen entschuldigte die theologische Tradition aber auch öffentlich vorgebrachte Blasphemien.25 Das Schlüsselargument war seit Alexander von Hales die Fahrlässigkeit. Nur wer mit Bewußtsein und aus freiem Willen Gott beleidige, begehe eine Todsünde, so der Franziskaner; unterliefe jedoch jemandem die Schmähung, dann könne es sich um eine läßliche Sünde handeln.26 Auch Thomas von Aquin entschuldigt das Schmähreden ge24 25
G. R. Owst, Literature and Pulpit in Medieval England, Oxford 21966, S. 419 f. Geiler von Kaysersberg, Sünden des Mundes (wie Anm. 20).
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gen Gott aufgrund abrupter Gefühlsaufwallungen. Als einprägsame Merkformel in seiner Tradition hält das Rechtsbuch des Bruders Berthold aus dem 14. Jahrhundert demzufolge fest: Lästert ein Mensch Gott mit bedachtem mut und waiß das man mit den worten got spricht an sein ehr, dann soll er nach weltlichem Recht sterben. Wer es nicht mit Bedachtsamkeit tue, sondern in schnellem Unmut und im Zorn, und bedacht nit daz sie (die Worte) wären plasphemie, der begehe lediglich eine läßliche Sünde.27 Bei aller Betonung der Boshaftigkeit einiger Gotteslästerer eröffnete sich hier die Möglichkeit, die Taten anderer zu bagatellisieren. In der Sphäre des Rechts begegnet uns die Differenzierung zwischen ›Vorsatz‹ und ›Fahrlässigkeit‹ wieder. So bestimmt der schon erwähnte Reichsabschied von 1495/7, daß Schmähreden aus bewegter hitz des zorns, aus trunkenheit oder dergleichen zufall (!) mit einer Mark lötigen Goldes belegt, wobei Zahlungsunfähige nach Erkenntnis des jeweiligen Gerichts gestraft werden sollten. ‘Freventliche‹, also vorsätzliche Gotteslästerer, wurden dagegen mit direkten körperlichen Sanktionen bedroht.28 Auch die bereits angesprochene ›Alte Reformationsordnung‹ in Basel unterschied 1498 zwischen Schwüren aus lichtferikeit (und) boeser gewonheit« auf der einen, solchen von eigner angenommener boßheit und frevelkeit wegen auf der anderen Seite.29 Zahlreiche Polizeiordnungen des 16. Jahrhunderts übernehmen bzw. variieren diese Unterscheidung zwischen blasphemischen Äußerungen aus Vorsatz und frevelhaftem Gemüt auf der einen, aus der Hitze des Zorns und aus böser Gewohnheit auf der anderen Seite.30 Fahrlässige ‘Fehltritte‹ können mit Nachsicht behandelt, vorsätzliche ‘Provokationen‹ sollen mit der ganzen Härte des Gesetzes geahndet werden. Daß derartige normative Leitlinien für die tatsächliche Sanktionierung äußerst relevant waren, läßt ein Blick hinter die Kulissen der Nürnberger Strafpraxis des 16. Jahrhunderts erkennen; möglich wird ein solcher durch die Ratschlagbücher, in denen die Meinungsbildung unter jenen theologischen und juristischen Konsulenten des Rates protokolliert wurde, die in Zweifelsfällen um ihre Expertisen gebeten wurden. Dieser Beraterkreis stritt z.B. am 3. Dezember 1527 über das Schicksal des Gotteslästerers Cuntz Aiden. Daß der Delinquent nach Aktenlage klar eine Strafe verdiene, war klar – aber welche? Vier der Konsulenten vertreten die Meinung, man müsse der Verkündigung des letzten Mandates gegen Gotteslästerung und den Warnungen vor dem Zorn Gottes nun Taten folgen lassen. Der Angeklagte habe übel gehandelt, er müsse zur allgemeinen Abschreckung 26 27
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Alexander von Hales: Summa Theologica (wie Anm. 21), S.466 Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der Summa Confessorum des Johannes von Freiburg, hgg. v. Georg Steer u.a., Bd.1, Tübingen 1987, B 64, S. 508 f. Deutsche Reichstagsakten (wie Anm. 18) Staatsarchiv Basel-Stadt, Bibl. Bf 1. Z.B. Staatsarchiv Nürnberg, Mandate A, Nr. 12, Blatt 18 (1526 März 3).
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mit Ruten ausgehauen werden oder sogar einen Teil seiner Zunge verlieren. Aber die Konsulenten Scheurl, Hepstein und Kötzler sind anderer Meinung. Zwar, so Hepstein, würden Schmähredner gegen den Rat auf jeden Fall bestraft werden, was eine noch stärkere Sanktionierung der Lästerer gegen die höchste Obrigkeit nahelege. Man müsse allerdings die leuffd die sich tzo allenthalben unter dem gemeinen volck zutragen berücksichtigen – wohl ein Verweis auf die allgemeine Verbreitung blasphemischer Schwüre und Flüche. Auch seien derartige Verbrecher bisher nur gering oder gar nicht gestraft worden. Doktor Scheurl schiebt nach, die Tat sei im Zorn und voller weinß geschehen, der Verhaftete sei ein gesessener Bürger mit Weib und Kindern. Er möge billig für vier oder acht Wochen auf den Turm gesetzt werden, vielleicht davor einige Tage ins Loch geworfen und ihm einige Zeit das Wirtshaus untersagt werden. Trunkenheit und Zorn stellten somit auch in den Augen der Rechtsgelehrten einen legitimen Entschuldigungsgrund dar, eine Auffassung, die in späteren Mandaten übrigens ausdrücklich abgelehnt wurde, ohne daß dies eine erkennbare Verschärfung der Strafpraxis zur Folge hatte.31 Trotz ihrer martialischen Rhetorik unterscheiden sowohl Recht als auch Theologie, so die Zwischenbilanz, zwei Modi der Gotteslästerung: Es konnte sich dabei entweder um eine vorsätzliche Provokation handeln, die das Stigma der schwersten Sünde trug und mit äußersten Sanktionen belegt werden mußte; oder um eine bedauerliche, von schlechter Gewohnheit, übermäßigem Alkohol oder einer Zornaufwallung hervorgerufene Fehlhandlung – eben um einen Fehltritt, wie wir vorläufig ohne nähere Spezifizierung und unter bewußter Inkaufnahme anachronistischer Assoziationen sagen können. Bei der Ausdeutung unseres Eingangsbeispieles hilft uns der Fehltritt jedoch kaum weiter, denn offenbar wurden die kräftigen Gottesschwüre und –flüche des Claus Harnasch noch nicht einmal als solche wahrgenommen oder gar sanktioniert. Dabei handelt es sich nicht um ein isoliertes Einzelbeispiel: Immer wieder werden, etwa durch Zeugen vor Gericht, Sätze zitiert, die mit Schwüren und Flüchen durchsetzt waren, ohne daß die Urheber der Reden deswegen belangt worden wären.32 Zwischen der Bewertung von Lästerworten im theologisch-rechtlichen Diskurs und ihrer Wahrnehmung in der sozialen Praxis des Alltags existierte eine unübersehbare Kluft. Nichts zeigt die Diskrepanz deutlicher als jene aufschlußreiche Anekdote von einem Fürsten, dessen Räte während seiner Abwesenheit ein neues Gotteslästerungsmandat veröffentlichen. Der Herrscher gibt in kräftigen Worten seine Zufriedenheit darüber zu erkennen: Botz Fleisch (wie die Unsern schwören) das gefällt mir wohl. Als sich aber die Ratsherrn und Zuchtmeister einander ansahen und lachten, so beteuerte er beim Herz und Leib Gottes, er wollt den ohn alle Gnad strafen, der ergriffen würd, daß er schwür … bedacht nicht, daß er als31 32
Ebd. Ratschlagbuch Nr.5, fol.210v–212r. Schwerhoff, Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 5), S. 108 f.
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bald und öfter täte, was er den Seinen verböte.33 Der rechtliche inkriminierte Gliederschwur erscheint hier als eine Schnurre, als eine schlechte, aber völlig unreflektierte Gewohnheit. Nach den – im eigenen Namen erlassenen – Rechtssatzungen handelt es sich um einen Normbruch, sozial dagegen scheint in diesem Fall noch nicht einmal ein Fehltritt vorzuliegen. Offenkundig bedürfen die sozialen Kontexte der lästerlichen Sprechakte weiterer Aufhellung, um diesem Widerspruch auf die Spur zu kommen. Das kann hier nur ansatzweise geschehen, denn die soziale Praxis der Gotteslästerung läßt sich kaum auf einen Nenner bringen; zu vielfältig sind die sozialen ›Bedeutungsgeneratoren‹, zu unterschiedlich stellt sich die jeweilige Kommunikationssituation, der Status und die Verbindung der Akteure, der Grad an Öffentlichkeit etc. dar. Ich möchte hier nur einen – allerdings durchaus prominenten – Interaktionsrahmen idealtypisch skizzieren, in den lästerliche Schwüre hineingehörten: ein männliches Konfliktszenarium, das – bevor die Fäuste flogen oder die Messer gezückt wurden – durch »starke Worte« bestimmt war.34 Ich habe vorgeschlagen, blasphemische Äußerungen in diesem Kontext als einen Akt theatralischer Selbstinszenierung zu verstehen. Durch seine Worte versucht der Blasphemiker Macht, Stärke und Souveränität zu demonstrieren. Dabei ist seine Anrufung höherer Mächte durchaus ambivalent. Einmal ruft er sie – der ›konventionellen‹ Bedeutung des Schwures gemäß – zum Beistand an, können seine Flüche als Hilferufe an Gott und seine Helfer verstanden werden, die Rachewünsche des Sprechers zu exekutieren. Auf der anderen Seite aber demonstriert der Blasphemiker durch die despektierliche Behandlung und Profanierung der höheren Mächte Stärke und Souveränität. In trotzigem Herausforderungsgestus erhebt er sich zugleich über sein menschliches Gegenüber und über Gott, signalisiert den Kontrahenten, daß er auch stärkere Gegner als sie nicht fürchtet. Die Lästerreden waren eingebunden in ein Set ritualisierter Verhaltenselemente, die dem Akteur im Konfliktfall potentiell zur Verfügung standen. Dazu gehörten ebenso andere starke Worte, Injurien wie »Dieb«, »Hundsfott« u. dgl. wie bedrohliche Gesten, z.B. das Messerzücken. Dabei wurde die eigene Person als übermächtig und omnipotent stilisiert, der Gegner dagegen als ohnmächtig und schwach. Blasphemie diente somit zugleich der Schaffung eines ›starken‹ Selbstbildes und als Drohbotschaft an Andere. Sie wäre demzufolge ein Bestandteil dessen, was der Ethnologe Michael Herzfeld in seiner Arbeit über ein kretisches Dorf als »The Poetics of Manhood« bezeichnet hat. Mit anderen Worten: Claus Harnasch bediente sich 1528 eines durchaus gängigen Drohvokabulars, um seiner Überlegenheit über die gegnerischen Bilderstürmer Ausdruck zu verleihen und diese zur ›mannhaften‹ Auseinandersetzung herauszufordern. Bezogen auf diese Geschichte fällt die Antwort auf die Frage »Fehltritt 33 34
Albert Wesselski (Hg.), Heinrich Bebels Schwänke, Bd. 1, München 1907, S. 51. Vgl. dazu näher Schwerhoff, Starke Worte (wie Anm. 7).
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oder Provokation?« eindeutig aus. Es handelte sich um eine Provokation, und zwar um eine in der Dramaturgie des Konfliktaustrages durchaus vorgesehene und von den sozialen Spielregeln gedeckte Provokation. Ein Fehltritt dagegen lag nicht vor: Sozial gesehen, wäre es am Ausgang des Mittelalters in einer Stadt wie Nürnberg oder Basel vielleicht eher ein Fehltritt gewesen, im Konfliktfall auf starke Worte zu verzichten und einer Auseinandersetzung auszuweichen. Theologische und rechtliche Normen auf der einen, soziale auf der anderen Seite standen also in einem Spannungsverhältnis. Die milden Sanktionen (falls überhaupt angewandt) können demzufolge vielleicht als Bemühen um einen Ausgleich zwischen den beiden Ebenen verstanden werden. Das ließ sich freilich nur praktizieren, wenn der Gotteslästerer nicht ‘überzog‹, wenn er also nicht durch die Schwere seines Vergehens und/oder durch sein hartnäckiges Beharren aus dem Rahmen fiel. Schwüre, die besonders ehrrührig waren, oder Lästerreden, die durch ihre Orginalität auffielen, führten oft zu schwerwiegenderen Sanktionen. Auch statuierte man an sozialen Außenseitern bisweilen strafrechtliche Exempel. Wie erwähnt, deckt das oben skizzierte Szenarium nur einen Teil der denkbaren Möglichkeiten ab. Versuchen wir am Ende präziser zu erfassen, ob und inwieweit Blasphemie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit als Fehltritt aufgefaßt werden kann. Definiert man einen Fehltritt mit Peter von Moos als ›unabsichtlichen, den Interaktionspartnern peinlichen Verstoß eines Individuums gegen ungeschriebene, allseits anerkannte Verhaltensregeln innerhalb einer kommunikativen Situation‹, dann überwiegen auf den ersten Blick die Unvereinbarkeiten und Anachronismen. Lästerliche Schwüre und Flüche verstießen nicht gegen ungeschriebene, sondern gegen schriftlich fixierte und strafrechtlich bewehrte Normen. Mit den ungeschriebenen Regeln der Lebenswelt befand sich ihr Verhalten dagegen oft in Übereinstimmung – der klassische Fall eines Konflikts zwischen den formellen und den informellen Instanzen sozialer Kontrolle.35 Deshalb empfanden die Akteure auch keine ›Peinlichkeit‹ über ihr Tun, auch wenn sie sich mit Trunkenheit, Gewohnheit oder dergleichen zu entschuldigen suchten. Dasselbe gilt für die Umwelt: Ignorierten Zuhörer oder Zeugen nicht einfach blasphemische Äußerungen, sondern reagierten abwehrend, dann taten sie das in der Gedanken- und Begriffswelt des theologisch-rechtlichen Diskurses36 und artikulierten offenes Entsetzen statt mo35
36
Zum vielschichtigen System sozialer Kontrolle zuletzt Martin Dinges, Justiznutzungen als soziale Kontrolle in er Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hgg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 503–544. Wenn etwa Friedrich von Bellnichwysen einen Gotteslästerer ermahnt, er solle solche Worte meiden, Gott würde sonst die ganze Stadt bestrafen (HAStK Kriminalakten 1, fol. 19v., um 1470), dann klingt darin ein in den Iustinianischen Novellen entwickelter und im Reichsabschied von 1495/7 ( vgl. Anm. 18) zu neuen Ehren gekommener Topos an.
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kanter Mißbilligung – ob damit ein echtes Empfinden einherging oder ob hier nur formuliert wurde, was die Vertreter der Obrigkeit hören wollten, muß ohnehin offen bleiben. Erwägenswert wäre allenfalls die Hypothese, daß erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts blasphemische Schwüre mehr und mehr den Charakter eines Fehltritts annahmen. Vielleicht fielen derartige ›starke‹ Worte einer rigider werdenden Sprachzucht zum Opfer und wurden zunehmend als mit der Etikette bürgerlicher und adliger Gruppen unvereinbar angesehen.37 Eine empirische Überprüfung dieser Hypothese steht bislang aus; sie hätte ohne den vorschnellen Rekurs auf die Autorität der Zivilisationstheorie von Norbert Elias auszukommen, ohne allerdings auf mögliche Inspirationen aus dieser Quelle zu verzichten.38 In gewissem Sinn changierte die Blasphemie in der Zeit zuvor jedenfalls zwischen Provokation und Verbrechen, ohne den Charakter eines Fehltritts im Vollsinn anzunehmen. Ein wichtiges, ja zentrales Merkmal des Fehltritts spielte jedoch auch bei der Bewertung von lästerlichen Sprechakten eine Hauptrolle: die Unabsichtlichkeit. Es war die vorsätzliche Lästerung, die als Todsünde verdammt und mit schwersten Sanktionen belegt wurde; mehr oder weniger exkulpiert werden konnte dagegen ein Schwur, der sich überzeugend als unabsichtlicher Lapsus dargestellte. Auch wenn der Terminus ›Fehltritt‹ im Kontext des Blasphemie-Diskurses nicht begegnet, so wird dort eine Art von Hermeneutik ex negativo zur Bestimmung eines solchen Lapsus entwickelt, die alle Merkmale eines Fehltritts in sich birgt: Absichtslosigkeit und Geringfügigkeit des Sprechaktes werden ebenso betont wie die Unachtsamkeit des Sprechers und die Einmaligkeit der Tat. Dabei scheinen die zeitgenössischen Autoren wie selbstverständlich davon auszugehen, daß es sich bei der vorsätzlichen und der fahrlässigen Lästerung um zwei völlig distinkte, klar unterscheidbare Phänomene handelte. Derartige Fiktionen sind normativen Textgattungen vermutlich prinzipiell zu eigen. Wie schwierig das Geschäft der Zurechnung eines konkreten Falles auf die beiden Modi der Gotteslästerung wirklich war, belegten schon die Beratungen der Nürnberger Konsulenten. Derartige Label sind den sozialen Tatsachen eben nicht von vornherein aufgeprägt, sondern sie ergeben sich als Konsequenz aus der Meinungsbildung der Beobachter. Nun begegnen uns Begriffe wie ›Fahrlässigkeit‹, ›Vorsatz(losigkeit)‹, ›Geringfügigkeit‹ etc. natürlich nicht nur im Zusammenhang mit Blasphemie. Sowohl in der theologischen Kasuistik wie auch im Recht werden viele Sünden 37
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Vgl. z. B. die zunehmenden Ermahnungen zum ‘züchtigen‹ Reden im Kontext der Blasphemieverbote schon im 16. Jahrhundert Schwerhoff, Blasphemie vor den Schranken (wie Anm. 5), S. 93; einen Wandel in der Bedeutungszuschreibung der Blasphemie weg von der fundamentalen Bedrohung hin zum bloßen ›schlechten Benehmen‹ diagnostiziert jetzt auch Alain Cabantous, Geschichte der Blasphemie, Weimar 1999. Ein erster Versuch bei Ralf Georg Bogner, Die Bezähmung der Zunge. Literatur und die Disziplinierung der Alltagskommunikation in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1997.
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und Vergehen mit derartigen Termini auf ihr Gewicht hin geprüft. So differenzierte sich gerade im 15. und 16. Jahrhundert in ganz Europa das rechtliche System zur Kategorisierung von Tötungsdelikten vom vorsätzlich-heimtückischen Mord über den Totschlag im Affekt bis hin zur Notwehr in vorher ungeahnter Weise aus.39 Noch war die Kriminalisierung des Totschlages nicht konsequent fortgeschritten: Frankreich oder auch in den Niederlanden konnten Täter versuchen, königliche Gnadenbriefe zu erlangen, indem sie ihr Handeln z.B. als situativ und affektgeleitet darstellten.40 Dennoch, so scheint es, dürfen die zum Einsatz gebrachten Argumente für das Feld der Blasphemie eine ganz besondere Bedeutung beanspruchen. Im Fall einer Tötung steht das Faktum – etwa das in den Bauch gerammte Brotmesser – außer Frage, es geht um die Intention des Täters oder die Vorgeschichte der Tat. Auch sie kann als ›Fehltritt‹ stilisiert werden, aber unstreitig als ein Fehltritt mit katastrophalen Folgen. Bei der Gotteslästerung, jenem Verbaldelikt ohne direktem Opfer, hat diese Stilisierung weitaus gravierendere Folgen. Die ›Inszenierung der Unabsichtlichkeit‹ (Alois Hahn), sei es abstrakt in der literarischen Diskussion, sei es konkret im Fall einer rechtlichen Beschuldigung, setzt nicht nur den Täter in ein milderes Licht, sondern verändert auch den Charakter der Tat; im Extrem bringt sie das Delikt sogar zum Verschwinden bzw. läßt es gar nicht erst entstehen. Somit stellt die Blasphemie ein Paradebeispiel für die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit im allgemeinen bzw. für die Konstruktion abweichenden Verhaltens und eben auch des Fehltritts im speziellen dar. Gotteslästerung existierte nicht jenseits eines oft komplexen Etikettierungsvorgangs für den einzelnen Sprechakt. Gerade deswegen kann sich eine extrem große – und für den modernen Betrachter frappierende – Kluft zwischen der Perhorreszierung und der Verharmlosung blasphemischer Sprechakte auftun: Drohte eben noch die Welt aus den Fugen zu geraten, weil die Christenmenschen ständig die göttliche Ehre verletzen, so regiert an anderer Stelle schmunzelnde Nachsicht. Über das tatsächliche Empfinden der sozialen Umwelt im Angesicht gotteslästerlicher Reden, über den Seelenhaushalt der Zuhörer, läßt sich dabei nur spekulieren. Jan-Dirk Müller hat auf der Luzerner Tagung den Fehltritt 39
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Xavier Rousseaux, From Case to Crime. Homicide Regulation in Medieval and Modern Europe, in: Dietmar Willoweit (Hg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln 1999, S. 143–175; Susanne Pohl, »Ehrlicher Totschlag« – »Rache« – »Notwehr«. Zwischen männlichem Ehrcode und dem Primat des Stadtfriedens (Zürich 1376–1600), in: Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hgg.): Kulturelle Reformation. Semantische Umordnung und soziale Transformation 1400–1600, Göttingen 1999, S. 239–283. Nathalie Z. Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988; Claude Gauvard, De Grace Especial. Crime, état et société en France à la fin du Moyen Âge, Paris 1991; Hans de Waardt, Ehrenhändel, Gewalt und Liminalität. Ein Konzeptualisierungsvorschlag, in: Schreiner / Schwerhoff (Hgg.), Verletzte Ehre (vgl. Anm. 3), S. 303–319.
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als eine Rutschbahn ins Verbrechen charakterisiert, als eine Handlung, die in sich eine Gefährdung der gesamten sozialen Ordnung birgt. Vielleicht müssen wir im Fall der Blasphemie diese Sichtweise umkehren. Die Stilisierung lästerlicher Sprechakte als harmlose Fehltritte stellen so etwas wie einen Notausstieg auf dem Weg in den Abgrund dar. Das gilt natürlich ganz unmittelbar für die Täter/Sprecher selbst, eröffnete sich ihnen damit doch die Möglichkeit, durch nachträgliche Aus-, Um- und Abwertung ihrer Tat strengeren Sanktionen zu entrinnen. Aber vielleicht benötigte auch die soziale Umwelt – Gelehrte ebenso wie einfache Zuhörer – einen solchen Notausstieg, um jene fundamentale Bedrohung, die von der Verletzung der göttlichen Ehre ausgehen konnte, nachträglich zu ›heilen‹, ja in gewissem Sinn sogar ungeschehen zu machen. Der lästerliche Fehltritt stellte sich hier nicht als peinlicher Vorgang dar, den man mit Schweigen übergeht und weiterhin eine Normalität aufrecht zu erhalten versucht, sondern er mag als Rettungsanker gedient haben, der dankbar ergriffen und ausführlich erörtert wurde, um eine solche Normalität überhaupt erst wieder herzustellen.
Karl-Siegbert Rehberg
Der ›Fehltritt‹ als Heuristik bedrohter Integrität
Über Mikroverletzungen institutioneller Handlungsordnungen* Zur Semantik sozialer Gleichgewichtsstörungen
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Die historischen und systematischen Untersuchungen in diesem Buch sind einem intersubjektiven S p ur en el em en t gewidmet, einer Irritation eingespielter Interaktionssicherheiten, die geradezu definiert ist durch situationale Flüchtigkeit. Hier geht es wirklich um sehr »feine Unterschiede«1, nicht nur zwischen den Teilnehmern und Beobachtern (die sich immer auch selbst beobachten), sondern auch im Hinblick auf Abweichungstoleranzen bei der Anwendung von Interaktionsregeln: ›Fehltritte‹ oder Fauxpas sind Mikroverletzungen institutionell formierter Verhaltenserwartungen, bei denen der Abweichungsgrad, die Bewußtheit des Akteurs, die Auslegung und der Grad der persönlichen Zuschreibung, damit auch: die Schärfe der Sanktionen und die Folgen (selbst nach scheinbar diskretem ›Übersehen‹) unbestimmt sind. Alle Beteiligten können auf das Missgeschick mit neuen Fehlgriffen reagieren, der passo falso kann die gesamte Sozialchoreographie durcheinanderbringen. Fehltritte sind an Si c htb a r ke i t gebunden, existieren nicht, wenn sie nicht beobachtet und bewertet, genauer: durch Beobachtung erst hervorgebracht worden sind. Die damit verbundene aktuelle Bewußtwerdung einer Ord*
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Anregend waren für mich vor allem Überlegungen, die Peter von Moos während seines Aufenthaltes am Wissenschaftskolleg zu Berlin skizziert hatte und die dort in einer ersten Gesprächsrunde im Juni 1997 mit Valentin Groebner, Guy P. Marchal, Gert Melville, Werner Röcke und mir vertieft wurden; bei der Luzerner Tagung des Oktober 1999 waren es besonders die Beiträge von Alois Hahn, die zu einer kultursoziologischen Durchdringung des Phänomens entscheidend beitrugen, wie dann wiederum Peter von Moos’ Elaborierung des Themas in seiner großen systematisierenden Einleitung zum vorliegenden Band. Dank für die Unterstützung bei der Bearbeitung der Druckfassung sage ich Christian Heinisch, Joachim Fischer, Iris Cremers, Anett Hertel und Dominique Schrage. Die Anspielung ist möglich durch den deutschen Titel von La distinction: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [frz. zuerst 1979], Frankfurt a.M. 1984.
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nungsleistung durch deren Verletzung, die empfindliche Störung durch die (vielleicht unabsichtliche) Infragestellung des wie »natürlich« Gegebenen läßt aus kleinen Ursachen große Wirkungen entstehen und ruft ein fein abgestimmtes Krisenmanagement auf den Plan. Der Fehltritt ist für institutionelle Spannungsstabilisierungen2 insofern funktional, als er Interaktionsordnungen einerseits verfestigen hilft, indem demonstriert wird, was ›gutes Verhalten‹ wirklich ist, zum anderen jedoch eine interaktive Gleichgewichts-Verletzung durch kunstvolles Übersehen und Überhören herunterzuspielen und zu bändigen vermag. Eine andere Opposition mag man darin sehen, daß eine Ungeschicklichkeit oder ein Lapsus im persönlichen Gedächtnis der Beteiligten unauslöschlich haften bleibt, während sie die historisch verwertbaren »Quellen« kaum bereichern (allenfalls sind sie Themen in Briefen, Tagebüchern etc.3 – heute kennt jeder Sitzungsprotokolle oder Jahresberichte als Dokumente einer gereinigten Geschichte). Der Fauxpas ist auch in diesem Sinne flüchtig. Er ist eben ein situationsbezogenes M ed i um der Kommunikation über Abweichung und Ordnung. Es scheint dies vor allem ein höfisches Thema zu sein, denn Fehltritts-Semantik macht sichtbar, daß an die Stelle der Höllenangst die »Furcht vor Lächerlichkeit«4, also vor dem sozialen Tod trat. Die legitimatorische (Selbst-) Erhöhung der Herrschaft führt in jeder Hof- und Adelskultur zu einer eigenartigen Verknüpfung von Ethik und Ästhetik (was in der bürgerlichen Adaption dann moralisch und gewissensethisch imprägniert wurde). Deshalb kann Jan-Dirk Müller sagen, daß in dieser Oberschichtenkultur die Geschmacklosigkeit dem Rechtsbruch angenähert worden sei.5 Und nicht zufällig hat sich – wie Peter von Moos nachweist6 – das semantische Wortfeld für diese ungeplanten und zumeist unvorsehbaren Abweichungen vom »guten Ton« wie vom »korrekten Verhalten« am reichsten in Frankreich entwickelt, da hier die Standards der höfischen Gesellschaft am weitesten verfeinert und symbolisch gesteigert waren und auch für die bürgerlichen Ober- und Mittelschichten in besonderer Weise vorbildhaft wirkten. Noch die theoretischen Schlüsselthemen Michel Foucaults oder Pierre Bourdieus sind tief davon durchdrungen. Aber der Fehltritt ist nicht auf die höfische Bühne beschränkt, sondern zugleich ein Symptom von allgemeiner Bedeutung. Anthropologisch ist der Fauxpas so riskant, weil er deutlich zum Ausdruck bringt, wie brüchig die sozialen Sicherungen der Menschen sind, daß sogar die Privilegierten und 2
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Institutionen können geradezu als Spannungsstabilisierungen verstanden werden; vgl. dazu Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3–48, hier: S.13. Vgl. Marchal im vorliegenden Band, S. 109. Vgl. von Moos im vorliegenden Band, S. 32. Müller im vorliegenden Band, S. 326 zeigt dies am Beispiel Neidharts. Vgl. von Moos im vorliegenden Band, S. XXIII, 3 und 36.
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scheinbar aller Unsicherheit Enthobenen sich der Lächerlichkeit ausliefern können. Und daß diese »töten« kann, ist eine Alltagsweisheit, die sich aus dem Wissen um die rituell-zeremoniellen Steigerungsmöglichkeiten des Rollenverhaltens speist, und zugleich eine an die Präsenz der eigenen Körperlichkeit gebundene Furcht vor Scham zum Ausdruck bringt. 7 Damit ist man bei der fundamentalen Ordnungsbedrohung, die jedem Fehltritt anhaftet, ist man an Thomas Hobbes’ Angsttheorie der unhinterfragbaren Herrschaftsbegründung erinnert, obwohl es – oberflächlich betrachtet – doch nur um Geringfügigkeiten, um kleine Verletzungen der Etikette, um Mikroskandale mangelnder Situationsbeherrschung geht. Es ist dies eben auch ein anthropologisches Thema: Auf die »Riskiertheit« des »Mängelwesens«8 Mensch haben die Autoren der Philosophischen Anthropologie mit Nachdruck hingewiesen. Und auch in der Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres ist es die Ausgeliefertheit der Person an den »Blick« der anderen, ist es die Selbstentdeckung dieser Konstitution von außen, die aller Individuierungserfahrung zugrunde liegt. Sartre suggeriert eine I n ter s u bj ek t i v i tä t s t h e o r i e d e r i n d i v i d u e l l e n O h n m a c h t , weil er demonstrieren will, daß die Menschen gezwungen sind, sich gerade deshalb »in Freiheit« selbst zu »wählen«, während George Herbert Mead im pragmatistischen Umkreis der Chicago school eine protestantisch-basisdemokratische Variante entwickelt: theoretisch verallgemeinert wird hier die Intersubjektivität der kontrollierenden und schützenden (Kirchen-)Gemeinde.9 [Sozialkontrolle, Sozialisation] Mag es also, Sartres Dramatisierung gegenüber, auch eine Wechselwirkung sein, in welcher wir zu Subjekten werden, so ist die Selbstwahrnehmung gleichwohl wesentlich bestimmt durch die Beobachtung »der anderen« – und zwar gilt das ka te go r i a l , keineswegs immer empirisch. Trotz der gardinenlosen Offenheit niederländischer Wohnungsfenster bedarf es keineswegs der unablässigen Beobachtung durch die Nachbarn (zumal gerade in Holland mit der Offenlegung des Privaten ein Blicktabu aufs engste verknüpft ist); vielmehr genügt die virtuelle und schließlich verinnerlichte Repräsentanz einer »exteriorisierten« »Allmächtigkeit« des oder der Anderen. Die damit verbundene fundamentale Gefährdung des Menschen durch Fehltritte oder durch die Missachtung und Verletzung seines Status wurde besonders in Helmuth Plessners Anthropologie der Institutionalisierung sozialer Distanzräume herausgehoben und mit zeitgemäßen Metaphern umschrieben. Gegen die Vereinnahmung durch Gemeinschafts-Radikalismen von links und rechts, die immer eine »Preisgabe letzter Intimität« fordern, setzt er die doppelte Gegebenheit von »Drang nach Offenbarung« und »Geltungs7
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Vgl. besonders die Grundlagenschrift: Max Scheler, Über Scham und Schamgefühlt [zuerst 1913/33]. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Schriften aus dem Nachlass, Bd. I: Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. von Maria Scheler, Bern 1957, S. 65–154. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt [zuerst 1940], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 3 (2 Teilbde.), hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 1993, z.B. S. 16, S. 31f., 764ff. u.ö.
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bedürftigkeit« einerseits und den »Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit« andererseits.10 Jeder will sich zeigen und fühlt sich potentiell doch der Lächerlichkeit ausgesetzt, so daß die sozialen »Wege zur Unangreifbarkeit« sich zu Institutionen verdichten müssen, in denen das Individuum eine soziale »Rüstung«, eine Rolle erwerben kann. Gegenüber den kunstvollen Spielregeln des Miteinander erscheint dann – wie bei Hofe, aber eben auch in jeder hochbürgerlichen Geselligkeit11 – , die »nackte Ehrlichkeit« zumindest als Mißachtung der Spielregeln, tiefgehender jedoch als barbarisierende (Arnold Gehlen hätte gesagt: »entartungsbereite«12) Negation der kommunikativen Sicherungsnetze. Die damit verbundene Absturzgefahr beschädigt die personale und kollektive Ehre eben gerade durch Lächerlichkeit, durch Bloßstellung, wie das Alltagswort die ›entwaffnende‹ und demütigende Nacktheit (nicht die stolze der künstlerisch stilisierbaren Vollkommenheit des Leibes) gut bezeichnet. Deshalb ist Selbstenthüllung ebenso zu fürchten wie die von außen kommende Entblößung, heute etwa durch die Presse, früher – wie die 9
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Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [frz. zuerst 1943], Hamburg 1952, bes. S. 338–397. – »Ich bin ein von Hochmut trunkenes und durchsichtiges, wahres Nichts […] Daher will ich die Welt besitzen (Tagebücher, Motto in: Annie Cohen-Solal, Sartre. 1905–1980, Reinbek 1988, S. 11). Der verhätschelte kleine Jean-Paul, das »Königskind«, empfindet sich nur als das Produkt der anderen: »Meine Wahrheit, meinen Charakter und meinen Namen hatten die Erwachsenen in der Hand; ich hatte gelernt, mich mit ihren Augen zu sehen; ich war ein Kind, ein Monstrum, das sie mit Hilfe ihrer eigenen Sorgen fabrizierten« (Jean-Paul Sartre, Die Wörter [frz. zuerst 1964]. Reinbek 1983, S. 63); ebenso war für Sartre Gustave Flaubert ein Produkt der Familie und der »totalisierten« sozialen Konstellation – vgl. Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie [frz. zuerst 1971/72], 5 Bde., Reinbek 1977–1980 (bes. auch Bd. 3, 2. Buch: Das Collège, S. 475–874); vgl. zur Methode die Flaubert-Studien, in: Ders., Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik [frz. zuerst 1960], Reinbek 1964, bes. S. 49ff., 52ff., S. 112–131. Mit der schicksalsbestimmenden Ausgeliefertheit an die anderen führt ja schon Flaubert den bemitleidenswerten Gatten Emma Bovarys in seinen Roman ein, wenn er ihn als »Neuen« mit einer absurden Kopfbedekkung vom Lande in seine städtisch-gymnasiale Schulklasse eintreten läßt und der verstörte Charles zur »Strafe« für die Störung, die dadurch verursacht wurde, zwanzigmal schreiben muß: »ridiculus sum«; Gustave Flaubert, Madame Bovary [frz. zuerst 1856/57], I,1., Zürich 1967, S. 8ff. – Vgl. zu Mead besonders Hans Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead, Frankfurt a.M. 1980 sowie Ders. (Hg.), Das Problem der Intersubjektivität. Neuere Beiträge zum Werk George Herbert Meads, Frankfurt a.M. 1985. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [zuerst 1924], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, hg. von Günter Dux / Odo Marquard / Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M. 1981, S. 7–134, hier: S. 58. Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [zuerst 1908], in: Ders, Gesamtausgabe, Bd. 11, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1992, z.B. S. 90ff. Vgl. Arnold Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung [zuerst 1936], in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 4: Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt 1983, S. 3–24, hier: S. 18
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höfische Literatur zeigt – durch die Macht der Spielleute, die auch »schimpfen und spotten« konnten.13 Gegen solche Unwägbarkeiten des Geltungsverlustes helfen nur auf Dauer gestellte Statusprätentionen (oder der völlige Verzicht auf sie; so kann noch die vielen als »Schamlosigkeit« erscheinende Big Brother-Kuschelatmosphäre eine durch Gruppenkohärenz erzeugte Sicherung von persönlicher Integrität, wenn auch auf Nullniveau, versprechen). Demgegenüber fallen dem bürgerlichen Philosophen Plessner (allerdings etwas unvermittelt) schon in seinen anthropologischen Basisdiskursen Formen der elaborierten Identitätssicherung ein: das Zeremoniell, die ausgleichende Diplomatie und der Takt.14 Alle diese bildhaften Verweise stehen in direktem Bezug zum Fehltritt, letzterer beispielsweise als die situationsnahe Heilung des Mißgriffs, als Verbot des Überreagierens der Opfer eines Fehltritts in den »post-peccatum-Diskursen« (wie Alois Hahn sie nannte), einer geselligen Regulierung des Verhaltens. Das ist der Kern des abendländischen »Prozesses der Zivilisation«, wie ihn Norbert Elias deshalb am Modell des Hofes als einem sozialen Initiativ-Ort beschreiben konnte.15 Die Außenhalte der Zeremonialisierung des Verhaltens, die Zwangspazifizierung durch die Etikette reichen nicht aus. Es bedarf – wie in jedem Fehltritt (mehr noch: in der Furcht vor ihm) sichtbar wird – letztlich der Selbstzwänge, damit die menschlichen »Wölfe« nicht nur durch äußerlich bleibende Kontrolle, sondern durch eine sie verinnerlichende Selbstbeobachtung diszipliniert werden können. So entstehen vor der Allwissenheit Gottes wie vor der durchdringenden Beobachtung des generalized other16 Ich-Ideale, die jedoch gerade deshalb auch rückhaltlos verletzbar sind. Es kommt dann auf die kulturellen Codes und sozial erzwungenen Sensibilisierungsgrade an (man denke an den »viktorianischen« Habitus kulturell geforderter Ohnmachten der von den Häßlichkeiten des Lebens zwanghaft abgeschirmten Frauen), es kommt auf Norm- und Erlebnisverfeinerungen an, in welcher 13
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So Gottfried über den »höveschen spileman«; vgl. Donald Ward, Honor and Shame in the Middle Age: An Open Letter tu Lutz Röhrich, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 27/ 28 (1982/83), S. 1–16, hier: S. 6. – Vgl. zu Selbstenthüllung und Entblößung auch: Newhauser im vorliegenden Band, S. 382. Vgl. dazu Plessner, Grenzen (wie Anm. 10), bes. S. 79–112 sowie dazu auch Hahns Darstellung von Höflichkeit und Takt als Mittel öffentlicher Inszenierung im vorliegenden Band, S. 198. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen [zuerst 1939], Frankfurt a.M. 1976. Vgl. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft [engl. zuerst 1934], Frankfurt a.M. 1973; vgl. auch das Spectator-Modell, in: Adam SMITH, Theorie der ethischen Gefühle [engl. zuerst 1759], hg. von Walther Eckstein, Hamburg 1977, bes. III., Teil, I. Kap., S. 170f sowie dazu Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen 1973, bes. 214ff.
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Weise und Intensität die Selbstachtung und das Ansehen leiden oder gar eingebüßt werden können, wenn die Hüllen des guten Benehmens fallen, etwa der Körper oder eine Triebregung sich unkontrolliert Bahn schafft. Zur Durchsetzung derart sichernder Indirektheit und Künstlichkeit bedarf es übrigens durchaus der (Selbst-)Ma c ht, die zur Distanzsicherung unverzichtbar ist. Deshalb ist das Zu-nahe-Treten eine der schlimmsten Verletzungen der sozialen Anstands- und Abstandsregeln; Distanz signalisiert auch Unangreifbarkeit, so daß ein im Status höher stehender Akteur etwa in einen Streit schlichtend oder verurteilend eingreifen kann. Solche Macht wird dadurch legitimiert, daß die Bedrohung der kunstvollen Ordnungsgeflechte schon im Kleinsten beginnt und im Prinzipiellsten enden kann. Insofern hat man es (vor allem in traditionsgeleiteten Oberschichten) wahrlich mit einer »Risikogesellschaft« besonderer Art zu tun, denn es geht – wie in Ulrich Becks Bildern von der nachindustriellen Moderne17 – um latente, in ihren Ausmaßen und Auftrittswahrscheinlichkeiten unkalkulierbare, gerade deshalb ständig diskursiv und strategisch umkreiste »Gefahren«. Von den Entdramatisierungsstrategien im Hinblick auf Fehltritte wurde mehrfach gesprochen. Das heißt aber nicht, daß eine fundamentale Ordnungsbedrohung durch sie nicht denkbar wäre – eher soll diese Möglichkeit unterlaufen als durch Sanktionsschärfe hervorgerufen werden. Gleichwohl wird im Fehltritt vor allem das unterschwellig Bedrohliche sichtbar, ganz gleich, ob er taktvoll übersehen oder durch Thematisierung gesteigert wird. Die Bedrohung liegt in der Kündigung des »Gesellschaftsvertrages« in nuce, in der blitzartigen Vergegenwärtigung, daß die »zweite Natur« und das lebensweltlich Selbstverständliche eben doch unwahrscheinlich sind und deshalb einen Erziehungs- und Disziplinierungsaufwand benötigen, der notwendig, nicht jedoch endgültig sichernd ist.18 Das B eg eh r en kann zum Motor ganzer Kettenreaktionen von Ordnungsverletzungen werden, die sich in Fehltritten äußern, die situationsdefinierende Anziehungskraft der Schönheit, aber auch der Macht bieten Auslöser genug. Damit ist die Dimension angesprochen, die am eindrucksvollsten Jan-Dirk Müller in seiner Analyse der Technik höfischer Minimaldifferenzen entfaltet hat, dabei die Abweichungsdynamiken schildernd, die mit ihnen notwendig freigesetzt werden. So können die Folgen einer Gedankenlosigkeit katastrophal sein, wie Müller es (mit Blick auf Neidharts »Sommer- und Winterlieder«) am Beispiel des ›Raubes von Frideruns Spiegel‹ durch einen Dörfler beim Tanze zeigt. Einer Verfehlung, die wohl eher als Mißgriff denn als Verbrechen anzusehen wäre, folgte 17 18
Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. Gleichwohl erscheint mir die fundamentale Gehorsamsverweigerung des ersten Menschenpaares, die Schreiner (im vorliegenden Band, S. 151–175) untersucht, deshalb nicht als »Fehltritt«, weil die Verletzung kultureller Regeln eine Sozialität voraussetzt, die dem biblischen Mythos gemäß mit dem Verlassen des Paradieses erst konstituiert wurde.
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schwerste Strafe, weil Neidhart zeigen wollte, daß sich darin eine »Zeitenwende« ankündigte, nämlich der Bruch mit der höfischen Ordnung überhaupt. Indem die Bauern die Rituale der Minne nachzuahmen suchten, bedrohten sie deren Geltung, vergröberten sie die nur den höheren Ständen vorbehaltenen und vorgeschriebenen Handlungen, so daß ein un- oder halbbewußtes Fehlverhalten zugleich die Aufhebung geltender Ordnungen signalisieren konnte.19 Mag sein, daß sich nicht schon die (soziale) »Apokalypse« in einem Fehltritt zeigt, oft aber eine Gefährdung der s tä n di s c hen E hr e. Insofern konnte die kleine Abweichung als fundamentale Bedrohung des in die Zwangsstrukturen des Zeremoniells eingepaßten Ich-Ideals der ständisch vergesellschaftlichten Menschen wirken, konnte eine Missachtung, die wir heute kaum mehr bemerken würden, eine personale Geltungsbedrohung auslösen, die vielleicht nur durch den Tod – etwa im Duell – auszugleichen war. Somit sind bei Fehltritten mit der persönlichen immer auch die Gruppenehre und Gruppenschande involviert20, kann es folgenschwere »Lesefehler« der symbolischen Darstellung der ständischen Ordnung geben, etwa die Fehleinschätzung der Standespersonen und ihrer Exklusivität oder der sie vergegenwärtigenden Zeichen, z.B. Amtstrachten, Titel, vorgeschriebene Sprachformen etc. Ehre ist immer mit Distinktion verbunden, eingebettet in ständische Integritätsformeln – all das kann schon im Bereich des Mikroverhaltens in Frage gestellt werden. Und insofern kann durch kleine Fehlgriffe immer auch die Ordnung des Ganzen bedroht erscheinen.
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Zu Kasuistik und Definition des »Fehltritts«
Es handelt es sich also um ein »kleines«, aber keinesfalls nebensächliches Phänomen, das Peter von Moos in den Mittelpunkt der hier dokumentierten interdisziplinären Diskussion gestellt hat. Den Ausgangspunkt für die historisch vergleichende und auf Systematisierung angelegte Betrachtung liefern »vormoderne« Gesellschaften, besonders des europäischen Mittelalters, welches angesichts heutiger Grade der Informalisierung des Verhaltens als hohe Zeit rituell-zeremonieller Sozialbeziehungen gilt (zugleich aber auch als vorweggenommene Pluralisierung, als Parallele zu einem ebenfalls »polyfocal« 19 20
Vgl. Müller im vorliegenden Band, S. 317–342 sowie auch Angenendt, ebd., S. 376. Vgl. Norbert Elias und John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter [engl. zuerst 1965], hg. v. Michael Schröter, Frankfurt a.M. 1993. Man denke auch an Durkheims Darstellung des »altruistischen« Selbstmords, also der Selbsttötung nicht durch »egoistische« Selbstdramatisierung oder durch (»anomische«) Normunsicherheit, sondern durch eine Überangepaßtheit an die Gruppennormen – etwa beim Militär oder in einer religiösen Vergemeinschaftung, wie beispielsweise die in unseren säkularisierten Zeiten fast unbegreiflichen Sekten-Kollektivselbstmorde sie zeigen; vgl. Emile Durkheim, Der Selbstmord [frz. zuerst 1897], Neuwied 1973.
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Postmodernismus, wie Werner Hofmann vorgeschlagen hat21 – Rezeptionsmoden haben eben durchaus gegenläufige Motive). Orte besonders hochgetriebener, auf Regulierung und Pazifizierung angelegter Interaktionskanalisierungen durch ritualisierte Vergesellschaftung waren die fürstlichen und königlichen Höfe, aber auch religiöse, kommunale oder familiale Vergemeinschaftungen, besonders die schon erwähnten Gemeinden. Eine Rückseite der – oft ständisch regulierten – Verhaltensfixierungen war der Fauxpas. Unkenntnis, Zufälle oder Fehlinterpretationen der ›Szenerie‹ einer Interaktion oder Kontrollverluste über den eigenen Körper können darin ebenso zum Ausdruck kommen wie das Übergangsphänomen der kalkulierten Ausnahme, von Abweichungsprätentionen bis hin zum inszenierten Skandal. Für eine idealtypische A r b ei ts d efi n i ti on des »Fehltritts« als situationale Mikroverletzung erweisen sich die zusammenfassenden Bestimmungen von Peter von Moos und von Rüdiger Schnell als besonders brauchbar, nach welchen es sich um eine »unabsichtliche22, geringfügige Handlung eines Individuums« handelt, »die innerhalb einer kommunikativen Situation gegen eine ungeschriebene, allseits akzeptierte Verhaltensregel verstößt und den Interaktionspartnern als peinlich oder kränkend, dem Akteur als beschämend oder rufgefährdend erscheint« (von Moos) bzw. um eine »absichtslose, unbedachte, einmalige, geringfügige Handlung, die gegen eine oft nicht kodifizierte, aber akzeptierte Etikette, Norm oder ein Ritual verstößt und (deshalb) den Handlungsträger der Lächerlichkeit preisgibt, dessen Ehre gefährdet, ihn sogar einem Schuldvorwurf aussetzen kann, und die trotz des geringfügigen Anlasses möglicherweise das gemeinschaftliche Selbstverständnis der Umgebung aufs Spiel setzt« (Schnell). 23
Man versteht nun auch, warum die Ver m ei d un g das wichtigste Gebot für den Cortegiano war, weshalb Baldassare Castiglione schon 1528 alle Streitsucht und jede Beleidigung strikt verbot und die kluge Anpassung an das höfische Zeremoniell empfahl, damit Verletzungen der guten Ordnung unwahrscheinlicher wurden.24 Allgegenwärtig nämlich sind mögliche Tollpatschigkeiten oder Taktlosigkeiten, also Verstöße gegen eine »nicht kodifizierte, aber 21
22
23 24
Werner Hofmann, Zum Wandel der ästhetischen Kriterien, in: Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein (Hg.), Zeit und Wahrheit. Europäisches Forum Alpbach 1994, Wien 1994, S. 599f. sowie zur Mittelalter-Interpretation auch: Ders., Die Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 1987, S. 464– 473. Vielleicht müssen Fehl tri tt e nicht unter jeder Bedingung unbeabsi chti gt sein, aber sie müssen wi e absi chts los daherkommen; Alois Hahn (im vorliegenden Band, S. 196– 201) sprach geradezu von einer »Inszenierung der Absichtslosigkeit«,. Vgl. von Moos im vorliegenden Band, S. 2 sowie Schnell, ebd., S. 275. Vgl. Baldesar [Baldassare] Castiglione, Das Buch vom Hofmann [ital. zuerst 1528], München 1986 sowie Werner Röcke im vorliegenden Band, S. 346ff.
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akzeptierte Etikette«, die trotz geringer oder fehlender Absichtlichkeit provozierend wirken können, was nicht nur die Ehre des Akteurs gefährdet, sondern ihn sogar dem Vorwurf aussetzen kann, daß er »das gemeinschaftliche Selbstverständnis« gefährdet.25 Fehltritte liegen also »unterhalb manifester Verstöße, aber oberhalb unauffälliger Verhaltensweisen«.26 Die gleichgewichtszerstörende Sprengkraft liegt zudem darin, daß – wie Alois Hahn es pointiert ausdrückt – der Fehltritt »in einer Selbstverletzung vor den Augen anderer« besteht: »Es gibt gewissermaßen zwar einen Täter, aber außer ihm selbst kein Opfer. Oder anders formuliert: Er ist sein eigenes Opfer«.27 Wenn man davon ausgehen kann, daß sich ein spezielles Fehltritts-Vokabular erst seit dem 16. Jahrhundert entwickelt hat und explizit zuerst in Frankreich belegbar ist (während sich die impliziten Normen etwa auch schon in der früheren italienischen Hofliteratur finden), so läßt sich die Verbindung von zeremoniellem Verhalten und einer schier unabschließbaren Fülle seiner Verletzungsmöglichkeiten in erster Linie auf den Erfindungsreichtum höfischer Interaktion beziehen. In diesem Sinne gab es auch schon im Mittelalter – besonders in Erzählungen über die Bedrohung der E hr e – Beschreibungen von Malheurs, Takt- und Etiketteverletzungen, Missachtungen des bon sens, wobei letztlich Erfolg oder Misserfolg über die Bewertung der Abweichung entscheidet.28 Bei Hofe mußte vor allem die latente Gewaltsamkeit entschärft werden, etwa durch eine pazifizierende – nicht selbst wieder zerstörerisch wirken dürfende – Lächerlichkeit (wie sie zu den Abfuhr-Ritualen in vielen Männerbünden, etwa beim Militär, gehört, wobei die damit zumeist verbundene Grobheit zum Gewalt-Äquivalent wird). Werner Röcke schildert in diesem Sinne die Figur des Keie im Artus-Roman, der zwar als »Provokateur par excellence« erscheint, jedoch in dieser Königs-Gesellschaft »ohne Staat« die Funktion hat, die ungeschriebenen Gesetze der Machtbalance dadurch zu stabilisieren, daß jeder seiner Gewaltakte, jede seiner Verletzungen der Konfliktvermeidung in Spott und Lachen mündet. Keie wird zum Sündenbock, der die Pazifizierung dadurch bestätigt, daß er sie zu verletzen sucht.29 Wenigstens ist das ei ne Form der hochentwickelten, institutionalisierten Verhaltensregulierung, der besonderen Kodifikation der vorgeschriebenen Interaktionsabläufe bis hin zum eng umschriebenen Zeremoniell an den kö25 26 27 28 29
Vgl. Schnell im vorliegenden Band, S. 270. Vgl. Müller im vorliegenden Band, S. 318. Vgl. Hahn im vorliegenden Band, S. 176. Vgl. von Moos im vorliegenden Band, S. 57. Vgl. Röcke im vorliegenden Band, S. 343–362; Röcke wies in der Diskussion zusätzlich darauf hin, daß die Darstellung Keies im Artus-Roman von Hartmann von Aue sich sehr unterscheidet von der in Wolframs Parzival, wo die Gewalt nicht durch Lächerlichkeit eingedämmt werde, sondern durch eine Verschiebung auf die Ebene der Liebe und die Anerkennung Gottes.
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niglichen, am dramatischsten dann gesteigert: an den absolutistischen Höfen. Mit der »Verhöflichung der Krieger« (Norbert Elias)30 stieg aber auch die Möglichkeit, einen Fauxpas zu begehen. Überdies erweist sich der Fehltritt als typisches Transformationsphänomen, wenn soziale Standes- und Schichtenlagen durchlässig werden. Die Aufstiegsprätentionen der zu Edelleuten werden wollenden Bürger, die Molière so reichen Stoff boten, die »Neureichen« in allen Gesellschaften sind wie die Leute vom Lande Typusfiguren einer habituell verfestigten Fehltrittswahrscheinlichkeit, worauf die hübsche Anekdote Gabriel Tardes über einen Bauern verweist, der im Pariser Bus glaubt, sich zutraulich und »freundlich« mit seinen ›Weggenossen‹ unterhalten zu müssen und deren ›Unhöflichkeit‹ als äußerst befremdlich erfahren muß.31 Es handelt sich bei Fehltritten also um ein Spannungsphänomen, das gerade deshalb auf den jeweiligen institutionellen Rahmen verweist. Die Regeln werden oft erst durch ihre Verletzung sichtbar, weshalb die Sanktionen selbst wiederum situationsabhängig sind. Verbrechen und Vergehen m üs s en (trotz aller Standesunterschiede und Suspendierungsfreiheiten (etwa bei der Bestrafung von Adeligen) sanktioniert oder geahndet werden, während es beim Fehltritt darauf ankommen kann, ihn zu übersehen. Auch kann die Peinlichkeit ein Thematisierungstabu nach sich ziehen, so daß eine Bemerkung über das Fehlverhalten eines anderen noch gravierender daneben liegen kann, als dieses selbst. Darin mögen sich generelle Neigungen zur Tabuisierung des Abweichenden erhalten haben, sozusagen Restbestände archaischer Ängste vor der Ordnungsverletzung, nachdem das wirklich »Böse« in speziell institutionalisierten Strafrechts-Diskursen verarbeitet wird. Es handelt sich gerade auf dem höfischen Parkett um eine ethische Neutralisierung von »Minimaldifferenzen«, wie Jan-Dirk Müller herausarbeitet.32 Darin kann man übrigens auch eine Spiegelung der politischen Neutralisierungsleistungen der zentralen Herrschaftsinstanz sehen. Die Königsherrschaft und später der Staat müssen auf der Basis ihres »Monopols legitimer Gewalt« (Max Weber) dazu beitragen, »Überreaktionen« zu vermeiden33: das wird dann eben auch im Verhaltenskanon der Eliten sichtbar. Dabei ist zugleich aber zu beachten, daß unmittelbarer Sanktionsverzicht oder eine Mäßigung im Strafen über die langfristigen Folgen einer Reaktion noch nichts aussagt: wer sich daneben benommen hat, wird vielleicht kein böses Wort zu hören bekommen, aber womöglich nie mehr eingeladen. Mag sein, daß jemandes Taktlosigkeiten als »Ausrutscher« erlebt werden: »trotzdem nimmt man […] die von ihm verursachte Peinlichkeit übel«, wobei sich 30
31 32 33
Vgl. Elias, Prozeß (wie Anm. 15) sowie Ders., Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied/Berlin 1969. Vgl. von Moos im vorliegenden Band, S. 81. Vgl. dazu auch Müller im vorliegenden Band, S. 317. Vgl. dazu Hahn im vorliegenden Band, S. 188.
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die »für solche Situation typische Beschämung […] charakteristischer Weise nicht auf den Urheber der Peinlichkeit beschränkt, sondern […] die Interaktionspartner ebenfalls« erfaßt. 34 Und das kann für seine soziale Stellung folgenreicher sein als eine formell definierte Sanktion. »Rechtsinstanz« ist dann der »i n for m el l e Kreis derer, die wissen, was zu tun ist«35, wobei eine »Alltagslogik« der Abwägung von Kosten und Nutzen leitend ist, denn ein friedliches Zusammenleben in einer unvollkommenen Welt verlangt eben »Lebensklugheit«, welche die moralische Wertung und das Interesse an Disziplinierung mit Nachsicht relativieren muß, wie Rüdiger Schnell überzeugend darlegt.36
3
Regel und Ausnahme
Im Mittelpunkt der Fehltrittsanalysen stehen die (immer prekären) sozialen Ordnungen und deren Verletzung. Im ›Fehltritt‹ äußert sich das Verhältnis von Regel und Ausnahme: deren Unterscheidung scheint auf den ersten Blick unproblematisch. Aber sofort fällt dann ein, daß die Ausnahme (Abweichung etc.) selbst Teil eines Regelwerkes (genauer: selbst Regel) sein kann – nur eine kompliziertere. »Unregelmäßige Verben« belegen das nicht weniger als Handlungsprivilegien, Spezialbeurteilungen danach, wer eine Handlung ausgeführt hat oder wessen Verhalten beobachtet wird (Zurechenbarkeit etc.); hierher gehört auch das von Arnold Angenendt erläuterte Epikie-Phänomen37 – eben das ganze Arsenal von Sonderregeln, mit denen wir die Hauptvorschriften variieren (handelnd oder beobachtend, aktiv oder »leidend«). Damit wird eine Kasuistik von Reaktionsfreiheiten angeboten, die nicht regellos sind, wohl aber variationsreich. Schon Aristoteles hatte die »Gesetzesverbesserung« durch situative Variationen einer gesetzten Norm beschrieben. Und für das göttliche ›Recht‹ (und damit auch für die daraus abgeleitete fürstliche Souveränität) gilt ohnehin eine höhere Freiheit, durch welche die »Mechanik der Gesetze« aufgehoben scheint, etwa wenn der zornige israelische Bundesgott Jahwe Vergeltung durch Barmherzigkeit zu ersetzen die Freiheit hat. Die kirchliche Institutionalisierung einer fallweisen Durchbrechung der Strenge kanonischer Vorschriften zeigt sich im päpstlichen Dispens; aber es gibt auch viele Reaktionsfreiheiten des Fürsten innerhalb des höfischen Zeremoniells. Allein ihm steht es auch zu, die Befremdlichkeit eines Mißgeschicks dadurch nicht zum Fehltritt entgleisen zu lassen, daß er ihm eine Absichtlichkeit beilegen kann; denn das königliche Verhalten (und davon 34 35 36 37
Vgl. ebd., S. 178f sowie dazu auch von Moos, ebd., S. 88. Vgl. Müller im vorliegenden Band, S. 323. Vgl. Schnell im vorliegenden Band, S. 287 sowie von Moos, ebd., S. xxiv. Vgl. Angenendt im vorliegenden Band, S. 363–376.
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abgeleitet das des je herausgehobensten Akteurs) i s t die Norm oder steht über ihr. Das Orientierungswissen, das man hier braucht, basiert auf dem, was sogar bei einem moralischen Rigoristen wie Immanuel Kant als »praktische Vernunft« durchdacht wurde, welche im Fall des Fehltritt-Managements reiche Anwendungsmöglichkeiten findet. Dazu gehört übrigens (wie bei der Vermeidung der Fauxpas) auch »Glück«; sein Fehlen kann als Makel empfunden werden oder als Mangel an virtù, weshalb Friedrich II. von Preußen den Stab über jene brach, die »sans fortune« blieben. Die Ergreifung der Ausnahmechance muß hingegen auf die Glücksgöttin setzen, ist ein Hasard; so wurde beispielsweise der Maria-Theresia-Orden gerade auch jenen verliehen, deren Kriegserfolg auf einer Regelverletzung oder Befehlsverweigerung basierte – aber selbstverständlich nur nach erfolgreichem Ausgang. Generell gilt also: folgt ein Fall nicht der Basisregel, so findet auf abstrakterem Niveau oft eine normative Synthese sowohl der Grundbestimmungen als auch der regulierten Abweichung statt - in diesem Sinne gilt: k ei ne R eg el o hn e A us n a hm e. 38
4
Die Verletzbarkeit des Rituellen
Bezogen auf Verhaltensunsicherheiten und -mißgriffe ist das Verhältnis von Norm und Abweichung daran abzulesen, daß Fehltritte überhaupt nur möglich sind, wenn das Verhalten einem Regelkanon unterworfen ist. Sie können in dem Maße personen- und bestandsbedrohend werden, wie eine rituelle und zeremonielle Verdichtung der Vorschriften und Rollenmuster entwickelt worden ist. daß die Geburt der Institutionen aus einer lebendig vollzogene Ritualisierung des Verhaltens abzuleiten sei, hatten schon Emile Durkheim und in seiner Nachfolge Arnold Gehlen behauptet, indem sie die Ur-Institutionen und die in ihnen erstmals erzeugte »unbestimmte Verpflichtung« einer Ordnung gegenüber archaisierend auf totemistische Rituale zurückführten.39 Diese Verbindung von Institution und Ritual ist nun aber auch für den Fauxpas konstitutiv. R i tua l e sind auf die Wiederholbarkeit besonderer Ereignisse abgestellt, die nur durch die »Authentizität«, später dann regelgeleitet durch die »Richtigkeit« des sich erneuernden Ablaufs kontrolliert wird: das Ritual ist die in der Aktion hergestellte Dauer und »Gleichzeitigkeit« der Ereignisse in einem. In der (korrekten) Wiederholung und »evokativen Stilisierung« (Guy Marchal)40 wird der Ursprung oder der ›Augenblick‹ einer Gründung erneuert, entsteht eine transzendierende Zeitlosigkeit der in der Zeit verlaufenden 38
Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, »Ausnahmezustand" und »Außeralltäglichkeit" und die Prätentionen der Regellosigkeit. Soziologische Anmerkungen zu einem Scheinwiderspruch, in: Heinz Herbert Mann / Peter Gerlach (Hgg.), Regel und Ausnahme. Festschrift für Hans Holländer, Aachen/Leipzig/Paris 1995, S. 11–38.
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Handlungen. So können Ordnungen reproduziert, aber auch neu geschaffen werden. R i te n kann man als den Sonderfall religiöser oder religiös fundierter Rituale ansehen (etwa den Krönungsritus). R i tu a l i s i er un g schließlich bezeichnet die erstarrte Form der rituellen Korrektheit, oft mit einem Sinnverlust im (Nach-)Erleben verbunden, am Ende nur noch die pedantische Garantie eines fixierten Handlungsablaufs liefernd. Dabei – wie stets bei idealtypischen Festlegungen – sind die konkreten Ausprägungen stets Mischformen.41 Die schnell, fast achtlos, gleichwohl korrekt und ohne Auslassungen abgespulten Meßformeln eines Priesters in einer ansonsten menschenleeren Kirche können noch Ritus sein oder schon leerlaufende Ritualisierung, können noch Transzendenzen der Herausgehobenheit aus dem Alltag vermitteln oder nur noch lästige Morgenpflicht sein. Mit der rituellen Durchformung des Verhaltens, mit der institutionell organisierten Sichtbarkeit der Interaktionsverknüpfungen steigen dann aber auch die Fehltritts-Wahrscheinlichkeiten, wird die Beobachtung für eigene Unkorrektheiten und die der Anderen geschärft, wird das Ritual zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Rituale können demonstrativen Charakter haben, ausdrücklich der Unaufmerksamkeit und sogar Unordnung gegenübergestellt werden, indem sie die Kraft der Ordnung zum Ausdruck bringen sollen. So können sie scheinbar unberührt von einem chaotischen Umfeld gemäß den traditionellen Regeln vollzogen werden, wie Guy Marchal das am Beispiel der Königskrönung Friedrich III. in Aachen zeigt, die 1442 von Händeln und Unruhen begleitet war. Dagegen wurden die Krönungszeremonie im Karlsmünster, das Krönungsmahl und die öffentliche Lehensverteilung vor dem Rathaus vollzogen, »als sei nicht geschehen«; der Ritus erweist sich demonstrativ als Sieg über das ›Chaos‹. Üb39
40 41
Vgl. Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens [frz. zuerst 1912], Frankfurt a.M. 1981, sowie Gehlen, Mensch (wie Anm. 8), bes. S. 469ff. sowie Ders., Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen [zuerst 1956], 5. Aufl., Wiesbaden 1986, bes. Teil II, S. 122–249; vgl. dazu auch Karl-Siegbert Rehberg, Eine Grundlagentheorie der Institutionen: Arnold Gehlen. Mit systematischen Schlußfolgerungen für eine kritische Institutionentheorie, in: Gerhard Göhler / Kurt Lenk / Rainer Schmalz-Bruns (Hgg.), Die Rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 1990, S. 115–144, hier: 123–127. – Interessant, daß Rituale auch in Goffmans Interaktionsanalysen eine wichtige Rolle spielen, etwa beim »korrektiven Austausch«, durch den Fehltritts-Vermeidungen sichergestellt werden sollen; vgl. Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch [engl. zuerst 1971], Frankfurt a.M. 1974, bes. S. 138–254. Vgl. Marchal im vorliegenden Band, S. 111. Vgl. dazu die subtile Ritualanalyse des Ordens vom Goldenen Vließ in: Gert Melville, Rituelle Ostentationen und pragmatische Inquisitionen, in: H. Duchhardt / Gert Melville (Hgg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1997, S. 215–271; sowie die semiotische Auswertung dieses Materials durch Gerhard Schönrich, Ritter, Regeln, Rituale. Institutionalität als Zeichenprozeß, in: Melville, Institutionalität (wie Anm. 2), S. 493– 511.
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rigens zeigt Marchal auch, daß die fehlerhafte Wahl eines Rituals insgesamt als Fehltritt erscheinen kann.42 Dasselbe gilt – wie Valentin Groebner darstellt43 – für die symbolisch hoch aufgeladenen Tauschrituale des Schenkens, welches im späten Mittelalter ein zentrales Kommunikationsmittel des diplomatischen Verkehrs war. Geschenke sind Medien der Anerkennung ebenso wie der Beschwichtigung. Die »Rhetorik der Liebesgabe« konnte durchaus verbunden sein mit der Erpressung von Gaben, welche zudem nie vom Kampf um immer mitzudenkende Äquivalenzen abzulösen sind.44 Geschenke sind, wie jeder rituelle Austausch, in besonderer Weise bedroht vom Fehlgriff, zumal sie zudem oft genug mit ›labilen Ausnahmezuständen‹ verknüpft sind, mit Besuchen, die oft »riskant und schwer kontrollierbar«45 waren, rituell ausgehandelte46 oder aufgeladene Zusammenkünften, deren Sprengkraft sich nicht nur bei Herrschertreffen zeigt. Und wenn Rituale unregulierte Situationen überbrücken und normieren sollen, so zeigt sich in ihrer Anwendung immer auch die Potentialität ihres Mißlingens. Auch war es wiederum der Hof, der als Zentrum solcher Verhaltensstilisierung gelten konnte. Er wurde zur Bühne der repräsentativen Öffentlichkeit, auf welcher die ritterliche, die fürstliche und königliche (später: ›absolutistische‹) Herrschaft durch Sichtbarkeit jeweils verkörpert wurde und dadurch Geltung erlangte. Deshalb wurde eine immer verfeinerte Situationsregie entwickelt, eine Theatralisierung des Verhaltens und der schließlich geradezu choreographisch durchrationalisierten Körperbewegungen. Dasselbe gilt für die in »darstellendem Verhalten«47 immer neu erzeugte ständische Herausgehobenheit der Nobilität oder jener höchsten Geistlichkeit, in der sich ein fürstlicher Status mit dem göttlichen Amtsauftrage verband. In jedem konkreten Verhalten reproduziert sich dann auch die Spannung zwischen den überpersönlich-typisierenden institutionellen »Rahmungen«48 und der Unverwechselbarkeit der jeweiligen (eben auch fehler- und sündenbehafteten) Person. Der Fehltritt betrifft damit auch verunglückte Operationen im Anspruchs- und Spannungsfeld der (zumindest) »zwei Körper« herausgehobener Statuspersonen und Amtsträger. Gerade das verlangte aber auch eine Spannungsauflösung, die in der »Diskretion« gefunden werden konnte, die 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. Marchal im vorliegenden Band, S. 109–117. Vgl. Groebner im vorliegenden Band, S. 139–150. Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [frz. zuerst 1923/24], Frankfurt a.M. 1986. Vgl. Groebner im vorliegenden Band, S.140. Vgl. zu einer beeindruckenden Fülle von Beispielen Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt 1997. Vgl. Gehlen, Mensch (wie Anm. 2), S. 474ff., sowie Ders., Urmensch (wie Anm. 39), S. 147ff. Vgl. Erving Goffman, Rahmenanalyse [engl. zuerst 1974]. Frankfurt a.M. 1993.
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zugleich Individualschutz und Bestätigung der Innenwelten der Macht ist. Es entstanden Regulierungen des ›Übersehens‹, die selbst wieder rituell verfestigt sein konnten: Indiskretionen werden dann selbst zu Fehltritten, die unter Kontrolle gestellt werden müssen, gerade weil sie im Klatsch der gemeinschaftsnahen Beziehungen unvermeidbar sind. Die über Jahrhunderte entwickelte Fehltrittssemantik49 wurde im Kontext des machtvollen Institutionalisierungsschubes von Gegenreformation und fürstlichem Absolutismus folgenreich verschärft. Systematisch erweisen Fehltritte sich als situative Verletzungen innerhalb einer Geltungskultur und deren ritueller Selbstvergewisserung. Das beschränkt sich nicht auf die Zentren der Herrschaft, sondern kann herunterdekliniert werden zu den Herrschaftsritualen, den Unterwerfungs- oder Dominanzritualen auch in Freien Städten und Republiken, so dann weiter bis zum einfachen Familienleben oder bis zu den nachahmenden (und deshalb vielleicht um so strengeren) Reproduktionen der Autorität bei den unteren Chargen politischer oder religiöser Institutionen. Im Zusammenhang mit den Alltagswelten auch der Massen bekommt der Fehltritts-Begriff dann auch jene Färbung, die im deutschen Sprachgebrauch dominant geblieben ist, die der sexuellen Verfehlung, besonders der Sichtbarkeit ihrer Folgen, weshalb er sich wesentlich auf Frauen bezieht (wozu dann auch die andere Wortentlehnung des Ausbruchs aus dem geregelten Schreiten oder Tanzen paßt: das »gefallene Mädchen«). Damit kommt nun auch die (aufs Sexuelle selbstverständlich nicht zu verkürzende) moralische Dimension des Fehltritts in den Blick, vor allem sein Verhältnis zur Sün de . Mag er auch entschuldbar, übersehbar, heilbar sein, so kann er in bestimmten Zusammenhängen doch gerade als Memorialzeichen für die Imperfektibilität des Menschen gelten, also für dessen fundamentale Sündhaftigkeit. Alois Hahn weist darauf hin, daß Gesellschaften ohne Zentralinstanz zwischen schuldhaften (moralisch-ethischen) Verfehlungen und »unbeabsichtigten« Verstößen nicht unterschieden, daß »geschichtslose« Gesellschaften (Lévi-Strauss) keine Schuldthematisierung kennen. Dann kann die Gefährlichkeit von Verbrechen und Fehltritt eine ähnliche sein, denn es handelt sich um magische Verfehlungen, also um eine wirklich substantielle und nicht nur ›symbolische‹ Ordnungszerstörung. Aus der ontologischen Integritätsbedrohung leiten sich deshalb übrigens auch die Versuche einer Bannung des verletzenden Eingriffs in eine Handlungsordnung ab, eben jenes Herunterspielen des als peinlich Empfundenen. Hahn zeigt, daß erst mit der Ohrenbeichte als »Biographiegenerator«50 eine »Ethisierung der Schuld« bei gleichzeitiger Geheimhaltung des Bekenntnisses erreicht worden sei, also eine 49
Schon die hofdidaktische Literatur des Mittelalters machte Acht- und Gedankenlosigkeiten zu etwas ethisch Verwerflichem, wofür in Jan-Dirk Müllers Beitrag (im vorliegenden Band, S. 322 u.ö.) Beispiele aus dem Artus-Roman, dem Parzival und dem Iwein gegeben werden. Anm. 50 s. nächste Seite
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wirklich institutionelle Leistung »stabilisierter Spannung« (Gehlen)51, denn gerade aus dem Zusammenspiel von verbaler Enthüllung und der Verhüllung gegenüber Dritten eröffnen sich Möglichkeiten einer rituellen Handlungskontrolle52, sodann der ethischen Selbstkontrolle, die auch für den Fehltritt als Gegenstand der Selbstbeobachtung eine Voraussetzung bietet. Ein Fehltritt kann beschämend sein, sogar für die Beobachter. Und Scham53 war im Mittelalter semantisch fest in den Sündendiskurs eingebaut. Fehltritte wurden so als Folgeereignis des Sündenfalls erlebbar, in welchem der Widerspruch von ratio und libido paradigmatisch zum Ausdruck gekommen war (wie das schon in mittelalterlichen Deutungen der ›Genesis‹ verstanden wurde).54 Klaus Schreiners hypothetische Frage, ob der Sündenfall Adams und Evas, durch den die »gottgewollte Ordnung […] aus ihrem Gefüge« gebracht wurde, als »Fehltritt« zu deuten sei, läßt zuerst an den Zusammenhang zwischen der Vertreibung aus dem Paradies und der Ausgeliefertheit des Menschen an die (Körper-)Scham denken, an die (eben auch durch einen Fauxpas immer mögliche) beschämende Entblößung. Beim Ungehorsam des ersten Menschenpaares handelt es sich um eine m a g i s ch e Ver l etzu n g des richtigen Verhaltens innerhalb einer göttlichen Ordnung v o r allem gesatzten Recht. Gerade weil - der mangelnden Feinabstimmung der Verhaltensnormen wegen - ein »Fehltritt« noch gar nicht denkbar ist, eröffnet Schreiners Gedankenexperiment die Möglichkeit einer exakten Abgrenzung dieses Abweichungstypus von ausdrücklichen Normbrüchen, erst recht von bewußten Transformationen des Bestehenden. Anknüpfend an die Hochschätzung (etwa John Miltons55) für die dem Menschen auferlegte Diesseitigkeit, welche ihm – der sich nun eben »bewähren« muß – Schmerz und Tod, aber auch die Chance moralischer Freiheit und der Pflichterfüllung gab, interpretiert auch Schreiner den Sündenfall als Beginn der Emanzipationsgeschichte des Men50
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Alois Hahn hat seit seinem Initialaufsatz (Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 [1982], S. 407–437) die grundlegenden soziologischen Aspekte des Themas beleuchtet und seither vielfach ausgearbeitet. Arnold Gehlen hat das (ebd. S. 81f.) am Beispiel der Höflichkeit dargestellt, die ein »vorweggenommenes Einverständnis« ebenso offenhält wie »Chancen des Abbruchs« einer Interaktion; vgl. Ders., Urmensch (wie Anm. 39), bes. S. 78ff., 209ff. Vgl. Peter von Moos, »Herzensgeheimnisse« (occulta cordis): Selbstwahrnehmung und Selbstentblößung im Mittelalter, in: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hgg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997, S. 89–109. Vgl. Ruth Benedicts Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen, in: Dies, The Chrysanthemum and the Sword, Boston 1946, S. 222ff., bzw. den Vorschlag des Psychoanalytikers Gerhart Piers, shame auf »tensions between Ego and Ego-Ideal« zu beziehen, guilt hingegen auf »tensions between Ego and Super-Ego« (vgl. Ders. and Milton B. Singer, Shame and Guilt, Springfield, Ill. 1953, S. 11); in Deutschland wurde das Thema z.B. in der Fundamentalkritik an der Eliasschen Zivilisationstheorie entfaltet, welche Hans Peter Duerr mit einer riesigen Materialsammlung zu unterbauen sucht; vgl. Ders., Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bde. 1 bis 4, Frankfurt a.M. 1988–1999. Vgl. Schreiner im vorliegenden Band, S. 159.
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schen. Die theologisch präsent gehaltene Erbsünde ließ aus diesem mythischen Urereignis aller Sozialität sogar Mäßigung und Nachsicht erwachsen, also die Zivilisierung der Sanktionen. Für Carl Schmitt etwa lag darin die UrLegitimation auch aller Politischen Theologie und der kunstvollen complexio oppositorum, wie er sie im Römischen Katholizismus realisiert sah56, während Schreiner darin eher einen »Glücksfall für Humanität und Toleranz« sieht.57 Aber ein bloßer Fauxpas war der durch die Schlange angestiftete Ungehorsamsakt eben nicht, denn vor aller Etikette ist er sowenig denkbar, wie es für die sich ihrer Nacktheit noch nicht schämenden ersten Menschen Kleiderordnungen gewesen wären. Mag sein, daß für den Islam der Sündenfall als eine Art Fehltritt gilt und daß auch Peter Abaelard die Verbindung von kleinen Ursachen und unabsehbaren Folgen auf die Zerstörung des paradiesischen Gleichgewichts angewandt hat.58 Aber Fehltritte sind kein intendierter »Schritt aus der Ordnung«, sondern Anwendungsfehler, durch die – wenigsten unmittelbar – die gegebenen Regeln bestätigt werden. Allein in deren Horizont kann sich jemand »unmöglich« benehmen, wie man so sagt.
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Von der säkularisierten »Sünde« bis zum Veränderungssymbol
Der Grund dafür, daß »moralisch indifferente Verstöße gegen Interaktionsregeln« im Alltag vor dem »Ernst der Heilsbotschaft« lange irrelevant blieben, liegt darin, daß die Unterscheidung von »Schuld und Sühne« einerseits und »Irrungen und Wirrungen« andererseits sich erst mit der Auffassung von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen durchsetzen konnte. Bernhard Jussen hat nach der systematischen Untersuchung von Wortnachbarschaften (peccatum, error, culpa und lapsus) verneint, daß es mittelalterliche Sondersemantiken für Abweichungen von der Norm gab, die mit der FehltrittsBedeutung vergleichbar wären.59 Übrigens war die Rückbindung der Scham 55
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Die stolzen Worten Miltons aus Paradise lost – »Nur füge zu dem Wissen auch die Tat; / Dann füge Glauben, Tugend und Geduld / und Mäßigkeit hinzu und jene Liebe, / Die einst als christliche gepriesen wird, / Und Seele wird von allen Tugenden / Dann läßt du ungern nicht dies Paradies, / Du trägst in dir ja ein viel sel‹geres« – finden sich zitiert in: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [zuerst 1904], in: Ders, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 5. photomech. Aufl., Tübingen 1963, S. 17–206, hier: S. 80. Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [zuerst 1934], 3. Aufl., Berlin 1979 sowie Ders., Römischer Katholizismus und politische Form [zuerst 1923], Stuttgart 1984. Vgl. Schreiner im vorliegenden Band, bes. S. 175. Vgl. ebd., 154. Vgl. zur Unterscheidung von »Schuld und Sühne« versus »Irrungen und Wirrungen« von Moos im vorliegenden Band, S. 13 sowie zur Kollokationsanalyse: Jussen im vorliegenden Band, S. 97–107; zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Marchal im vorliegenden Band, z.B. S. 120.
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an die Sünde nicht durch Unwissenheit (welche ja auch im modernen Recht nicht vor Strafe schützt) zu mildern, wie Jussen am Beispiel der transgressio Abaelards zeigt: hinter aller »Ahnungslosigkeit« steht eben doch der ursprüngliche Sündenfall Adams.60 Mit der Ausdifferenzierung von Sündenkasuistik und Fehltrittssemantik werden Fauxpas zu säkularisierten Formen abweichenden Verhaltens, zum Endresultat einer innerreligiösen Ausdifferenzierung der bewertenden Klassifizierung menschlicher Verhaltensmöglichkeiten. Wenn also in der mittelalterlichen Kultur alle Verfehlungen einen Sündenindex hatten, so wirkte die theologische Unterscheidung von »Todsünden« (deren Schwere gleichzeitig dramatisiert und mit Fegefeuer- und Höllenängsten belastet wurde) und solchen, die »läßlich« sein sollten, entlastend. Richard Newhauser zeigt, wie die Taxonomie der sieben Hauptlaster seit Gregor dem Großen durch eine berechenbare Hierarchisierung der Sünden entschärft und dadurch auch neue Zusammenhänge zwischen Laster und Tugend konzipierbar wurden, wofür er das Beispiel La Rochefoucaults anführt: Das Laster wird nun zum notwendigen Bestandteil des Alltags und der Tugend, sowie, den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge, das Gift Bestandteil jeder Medizin ist.61 Die Spannung zwischen schwerstem Verbrechen und entschuldbaren Handlungen, zwischen schärfsten Strafandrohungen und dem faktischen Sanktionsverzicht, zwischen todwürdiger Sünde und schließlichem Fehltritt hat Gerd Schwerhoff am Beispiel der Gotteslästerung entfaltet. Theologisch galt sie als schwerster Angriff auf Gott, strafrechtlich als schlimmstes Verbrechen, das gleichwohl unterschiedlich sanktioniert werden konnte, so daß auch die schwersten Regelstrafen durch Geldstrafen ersetzbar waren. Schlüsselargument für eine Differenzierung war die Fahrlässigkeit, daß eine Todsünde also nur begehe, wer Gott in vollem Bewußtsein und aus freiem Wille angreife. Schwerhoff beobachtet, daß die genauen und auch schriftlich fixierten Normen von den lebensweltlichen Praktiken weit abweichen können: es wurde eben sehr viel mehr geflucht als theologische und rechtliche Verbote vermuten lassen würden. Wie die Sünde der Vergebung bedarf, braucht der Fehltritt die Entschuldigung, und Rüdiger Schnell hat in einer Inhaltsanalyse schwankhafter Kurzerzählungen (Mären) gezeigt, welche Gründe für eine nachsichtige Reaktion auf Fehltritte und andere Handlungsabweichungen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert herbeigezogen wurden: Wichtig war zumeist die mangelnde Absicht für einen Fehltritt, zuweilen die Mitverantwortlichkeit des Opfers, häufig die Einsicht, daß der beanstandete Fehler »jedem passieren kann«. Angeführt wird aber auch das Mißverhältnis zwischen einem Ereignis und dem einer Strafe folgenden Ehrverlust oder eine gewisse Informalität, etwa daß Delin60 61
Vgl. Jussen im vorliegenden Band, S. 105f. Vgl. Newhauser im vorliegenden Band, S. 402.
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quent und Opfer miteinander befreundet seien oder daß es für einen Fehltritt nicht viele Zeugen gab.62 Entschuldigungsgründe wurden übrigens g e s c h l e c h t s s p e z i f i s c h gesucht und gefunden. Für die Männer wirkte exkulpierend, daß man ihre »starken Worte« einem (›notwendigen‹ und/oder ›naturgegebenen‹) Drohpotential zuschrieb, so daß den blasphemischen Äußerungen ein (legitimierbarer, wenn auch keineswegs legitimer) Platz in der Eskalationsskala eingeräumt werden konnte. Flüche und Lästerungen waren die letzte Stufe vor der offenen Gewaltsamkeit. Deshalb verstand man solche ›unerhörten‹ Schmähreden – wie im Falle des Basler Schmiedes Harnasch, der 1528 (was man aus heutiger Sicht zu loben geneigt wäre) die evangelischen Bilderstürmer gotteslästerlich verflucht hatte – weniger als gegen den Herrn im Himmel gerichtet, eher gegen die irdischen Kontrahenten. Ein Fehltritt war derlei männliches Drohgehabe nicht, weshalb Schwerhoff hypothetisch annimmt, daß blasphemische Flüche dazu erst geworden seien, als die Verfeinerung bürgerlicher und adeliger Etikette im 17. und 18. Jahrhundert sie als zunehmend unpassend und grob erscheinen ließ.63 Gab es in Großsprecherei und Aggressivität eine geschlechtsspezifische Entschuldigung der Männer, so schildert Danielle Bohler, wie in einem Erziehungsbuch des 14. Jahrhunderts in 120 Beispielgeschichten die Fehltritte der Frauen ›erklärt‹ wurden, nämlich selten aus Bosheit, genuiner Sündhaftigkeit oder Wollust, sondern eher aus Unbedachtsamkeit oder »Sorglosigkeit«, aus »Leichtsinn« und »Unwissen«, aus »Leichtgläubigkeit«, »Naivität oder exzessivem Narzissmus«. Das alles macht die Frauen – wie ihre Fehltritte – zwar gefährlich, eröffnet dem (väterlichen) Erzieher aber die Chance zur Besserung durch Belehrung.64 Fehltritte können sich – bis zur Bewußtheit steigerbar – auch in Gegensatz zur institutionellen Norm stellen. Sie können für i n t e n d i e r t e Veränderungen instrumentalisiert werden, können zum Ausdrucksmittel einer Revolte werden. Dann aber sind sie nicht mehr Fehltritte, sondern überdehnen die begrenzte Regelverletzung. Was den meisten teilnehmenden Beobachtern noch als Fauxpas erscheinen mag, kann schon mehr sein als ein situationaler Decodierungsfehler, zumindest eine als »Fehltritt« getarnte oder aus ihm hervorgehende (sozusagen den Schockerfolg nutzende) Provokation. Die Übergänge sind auch hier fließend, so daß man an die ganze Fülle kalkulierter Abweichungen und Provokationen denken kann, bis hin zu den polemischen Gegenwelten der Empörung und Umwertung, den avantgardistischen oder revolutionären Radikalismen, aus denen allerdings oft genug neue Regelsysteme aufsteigen sollen. In Grenzfällen mag sich im Fauxpas der Anspruch der 62 63 64
Vgl. Schnell im vorliegenden Band, z.B. S. 290. Vgl. Schwerhoff im vorliegenden Band, S. 404–418. Vgl. Bohler im vorliegenden Band, S. 251–262.
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Regelzertrümmerer, der Ausnahmeexistenzen und Schöpfer eines »Ausnahmezustandes« als »Souveränitäts«-Symbol dem Bestehenden gegenüber ankündigen.65 Die Zerstörung des Zeremoniellen kann zelebriert werden durch Hohepriester der Neuerung, und die zugestandenen Regelfreiheiten der Genies und der Bohémiens können den innovativen Bruch mit der Tradition zur Erwartung werden lassen, bis (wie nicht selten in den zeitgenössischen Künsten) das Ausbleiben einer Skandalisierung als langweilig empfunden wird – und schließlich die zur Normalität gewordenen Schockwirkungen selbst. Demgegenüber zeigt sich aber auch, daß Fehltritte zu institutionellen Privilegierungssymbolen werden können. Das hat sehr eindrücklich Gadi Algazi am Modell der »gelehrten Zerstreutheit« entfaltet, denn hier wird eine schwache Einpassung in die Normen der Umwelt geradezu zum »Standeszeichen«, die Geistesabwesenheit steht im Dienst der personalen Selbst-Erhöhung. So will die sprichwörtliche Zerstreutheit der Professoren nicht nur der Entschuldigung dienen, sondern anerkannt werden, erweist sie sich als Mittel der Distinktion. Algazi kann zeigen, wie die Auswanderung der Gelehrten aus den Klöstern sie in ein familiales Umfeld stellte, von dem sie sich sogleich abzugrenzen suchten: während die Frauen die Hausarbeit erledigen, wird die ›weltabgewandte‹ wissenschaftliche Welterforschung zu einer speziell männlichen Domäne, und es ist dann das Beste, sich um seiner ›Berufung‹ willen ›zerstreut‹ zu geben. Dabei fällt auf, daß bei der Behandlung »abweichenden Verhaltens« (nicht nur in der Soziologie) häufig vergessen wird, in welcher Weise Unangepaßtheiten Mittel und Zeichen der Privilegierung sein können. Oft genug signalisieren Ausnahmen, daß die Regeln für die Anderen um so verpflichtender sein sollen. Mittelalterlich gab es noch andere anerkannte Sonderfälle innerhalb der göttlichen Ordnung, Gegenbilder zur Wohlgeordnetheit und »Rationalität« der Welt, nämlich die »Narren« – am bekanntesten in Sebastian Brants ›Narrenschiff‹66 oder in der ironischen Apologie der olympischen und weltlichen »Torheiten« in der berühmten »Stilübung« des Erasmus von Rotterdam.67 Und auch andere Akteure, die ›freigesetzt‹, weil nicht im Vollsinne verantwortlich waren, sind in Literatur und Volksweisheit bekannt: etwa die »unschuldigen« Kinder, aber auch die »Blöden«, begrenzt auch die »Fremden« etc. Der Fehltritt, die unbedachte oder ungeschminkte Äußerung kann dann zum Wahrheitsmedium werden, wie der Volksmund von Kindern und Betrunkenen sagt. Hierhin paßt – allerdings in heilsgeschichtlicher Steigerung – auch das Bild des »heiligen« Narren, wie Achim 65 66 67
Vgl. die berühmte Formulierung: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, in: Schmitt, Theologie (wie Anm. 56), S. 11. Vgl. Sebastian Brant, Das Narrenschiff [zuerst 1494], Stuttgart 1995, bes. 108. Kap. (S. 408–414). Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit [lat. zuerst 1534], Basel/Stuttgart 1960; vgl. dazu auch Johan Huizinga, Erasmus [zuerst 1924]. 3. Aufl. Haarlem 1936, bes. Kap. X, S. 73–82.
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Wesjohann das plastisch am Heiligen Franziskus belegt, der in »Torheit um Christi Willen« lebte. Wenn Franz sich als Inkarnation des geschundenen Christus in ekstatischer Nacktheit zeigte, dann war die schockierende Sittenlosigkeit nur legitimierbar durch seine »Einfalt« sowie »Herzens- und Gewissensreinheit«.68 Die Abweichung diente hier der Heiligung des religiösen Fundamentalismus, bezeugte die Authentizität dessen, der über den eingespielten Regeln steht, gerade weil er deren Geltungsquelle wieder ins Gedächtnis rufen will. Der Rückgriff auf den ›wahren Ursprung‹ muß die routiniert eingespielten Gefühle verletzen, um durch Skandalisierung den Skandal der Gleichgültigkeit vor Augen zu führen. All das sind jedoch keine Fehltritte, vielmehr bewußte Infragestellungen der Ordnung, die allerdings in Mikroverletzungen der konventionellen Verhaltenserwartungen ihren Ausgangspunkt nehmen können. Überhaupt fallen für die Charismatiker – wie für Schamanen – alle Verschiebungen von Konventionen und Ritualen durch kleine und sozusagen absichtslose Abweichungen und Irritationen aus, ebenso Handlungen, die lediglich als inkorrekt, fehlerhaft, zerstreut, beleidigend, unfein oder unpassend empfunden werden. Charismatische Abweichungen sind notwendig theatralisiert, leben von der (auch noch so »einfältig« daherkommenden) großen Geste – der poveretto von Assisi tanzte statt zu schreiten, sprach »in Zungen« statt bescheiden Gottes Wort zu paraphrasieren oder auszulegen, weshalb er – die pfingstliche Eingießung aller Sprachen noch überbietend – eben sogar den Tieren sich verständlich machen konnte.69 Kaum sind das Fehltritte, vielmehr unerhörte Überbietungen.
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Rangverlust und Informalisierung. Oder: die Unsichtbarkeit des allgegenwärtigen ›Fehltritts‹ in der Moderne
Stellt man vor dem Hintergrund der in diesem Band vereinigten historischen Probebohrungen die Frage nach dem »Fehltritt heute«, so hat Peter von Moos in seiner ›Einleitung‹ die Vermutung geäußert, daß es in »unserer komplexen, pluralistischen, weltweit uniform werdenden Gesellschaft« zunehmend schwieriger werde, Fehltritte zu vermeiden. Unterstellt wird dabei, daß die »Unübersichtlichkeit«70 sozialer Beziehungen, insbesondere die Nivellierung ständischer Hierarchien eine positionale Verortung von Personen zunehmend erschwerten und in diesem Zusammenhang auch die Anforderungen an indi68 69 70
Vgl. Wesjohann im vorliegenden Band, S. 215. Vgl. Helmut Feld, Die Zeichenhandlungen des Franziskus von Assisi, in: Melville, Institutionalität (wie Anm. 2), S. 393–408. Ein zunehmender Verlust an Übersicht konnte sogar als »neu« empfunden werden; vgl. Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985.
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viduelle Orientierungskompetenzen gestiegen seien. Es entspricht dies dem Bild der modernen Gesellschaft, wie die Soziologie es entworfen und von Georg Simmels Phänomenologie des neuen »Stils des Lebens« bis zu den jüngsten Individualisierungsthesen der Analytiker und Propagandisten einer »zweiten« oder »reflexiven Moderne« (Ulrich Beck, Anthony Giddens) vielfach variiert hat. Für die Verhaltensnormierung würde daraus folgen, daß die disziplinierte Erfüllung eines ständischen Verhaltenkodex zunehmend durch ein offenes role-making71 ersetzt worden sei, daß wir in Gesellschaften lebten, in denen die Lebensentwürfe (zumindest an der Oberfläche) von strukturellen Vorgegebenheiten immer weniger bestimmt seien. Verbunden wird das mit einer unumkehrbaren Schwächung der Bedeutung ständischer (und institutioneller) Festlegungen für die »Gesamtgesellschaft«, was häufig damit gleichgesetzt wird, daß stratifikatorische Ordnungen überhaupt im Verschwinden seien. Aber man braucht nur einen Blick auf eine an Widersprüchen reiche Institution wie die Universität zu richten, um – dort sogar rechtlich legitimiert – ständische Elemente mit solchen moderner Organisation verbunden zu sehen. Und bei näherem Hinsehen findet man auch in den Machteliten oder den institutionellen Formierungen der »hohen« Geltungskultur, in der Wirtschaft und in den Massenmedien vielfältige ›ständische‹ Züge. Das erinnert an die Webersche Definition, wonach eine »ständische Lage« durch die »Lebensführungsart«, formale Erziehungsweise, durch »Abstammungsprestige oder Berufsprestige« und ständische Konventionen bestimmt ist.72 Allerdings haben ständische Lebenswelten in den entwickelten Industriegesellschaften zumeist leistungsbezogene Zugangsbedingungen, so sind meritokratische Legitimationen an die Stelle geburtsständischer getreten (trotz der weiterwirkenden Kraft des »sozialen Kapitals«, etwa von »alten« oder »großen« Familien). Ist der Fehltritt nun definitorisch an Rituale und eine zeremoniell gesteigerte Form der Präsenz und Selbstdarstellung einer Ordnung gebunden und erscheint er deshalb als die andere Seite festgefügter 71
72
Vgl. zur aktiven Rollenübernahme George Herbert Mead, Geist (wie Anm. 16), bes. Kap. 20 (S. 194–206) und 33 (S. 299–307) sowie die Rollentheorie-Debatte in Anschluß an Ralf Dahrendorf, Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 8. Aufl., Köln/Opladen 1969, dabei als Zusammenfassung wichtiger kritischer Stellungnahmen: Frigga Haug, Kritik der Rollentheorie und ihrer Anwendung in der bürgerlichen deutschen Soziologie, Frankfurt a.M. 1973; grundlegender ist bis heute jedoch: Heinrich Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, 4. Aufl., Tübingen 1967 und Dieter Claessens, Rolle und Macht, München 1986 schließlich Hans Joas, Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie, 3., erw. Aufl., Wiesbaden 1978, wohl auch beeinflußt durch Hans Peter Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart 1968. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [zuerst 1921]. 5., rev. Aufl., hg. von J. Winckelmann, 3 Teilbde., Tübingen 1976, Bd. 1 (Kap. IV), S. 177f.
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institutioneller Erwartungshorizonte, dann wäre zu vermuten, daß sich Chancen zum Fauxpas in der Moderne kaum mehr finden ließen (vielleicht weil Fehltritte allgegenwärtig sind). Es verhält sich dann wie mit dem Wandel grammatikalischer Vorschriften, die man sich einstmals wie von der Académie française gesetzt oder zumindest vom ›Duden‹ eingefordert vorstellen konnte, während die tatsächlich sich vollziehenden Sprachverschiebungen73 von den Grammatik-Spezialisten zumeist nur deskriptiv nachvollzogen werden. Der klägliche Normierungstorso der jüngsten deutschen Rechtschreibreform belegt, wie der Wille zum Vorschreiben sich der bloßen Wandlungsverwaltung gegenüber blamieren kann, z.B. durch sinnentstellende Regulierungen des Zusammen- und Auseinanderschreibens; ein anderes Beispiel bieten die französischen Versuche einer Bannung von Anglizismen von Amts wegen. Wie Erziehungsspezialisten und Bildungseliten Sprachveränderungen gerne als »Sprachverfall« interpretieren , scheint auch der unterstellte Normierungsverlust in den Handlungs- und Interaktionsbeziehungen zum Verschwinden des Fehltritts zu führen, zu einer Beliebigkeit des Verhaltens, das nicht mehr anstößig werden könne, da es mit der Vergleichgültigung jedweden Verhaltens konfrontiert ist, mit der Unabwendbarkeit einer post-historischen Informalität und (wenn auch angepaßten) »Wahlfreiheit« – Nietzsches »letzter Mensch« läßt grüßen: »Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!«.74 Es führt diese Annahme zu der Vorstellung einer Standardisierung auf jeweils niedrigerem Niveau. Einerseits wird die moderne Kultur deshalb auch mit dem Verlust der Öffentlichkeitsfähigkeit von Individuen verbunden, wie Richard Sennett das kulturkritisch pointierte.75 Dies könnte man als Fehltrittsvermeidung schlechthin verstehen. Sprachlich würde sich das in verbalen Verschleifungen und einem Unterlaufen aller Ausdrücklichkeit zeigen, wenn man dem Druck der irgendwie noch gefühlten Sprach- und Formulierungsnormen durch Nuscheln und habitualisierte Ungenauigkeitsformeln auszuweichen sucht (in studentischer Redeweise etwa organisieren sich die Selbstaufhebungen des gerade Gesagten durch Formulierungen wie: »oder so …«, »so ein bißchen jetzt …« etc.). Andererseits wird gerade in offenen sozialen Situationen die Notwendigkeit einer Inszenierungskunst betont, die zum Programm macht, daß wir, wie Erving Goffman als Meister der sozialen Miniaturmalerei zeigte, alle Theater76 spielen und – wie Ronald Hitzler 73
74
75
Für das Deutsche mag man beispielsweise an das – den romanischen Sprachen (und dem daraus teilweise gespeisten Englisch) gegenüber – schon sehr frühe Verblassen korrekter Vergangenheitsformen denken oder (nicht erst in letzter Zeit) an die heillose Vermischung von Dativ- und Genitivanwendungen. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra [zuerst 1883–1885/86], in: Ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Bd. 4, München/Berlin/New York 1980, S. 20. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität [engl. zuerst 1974], 11. Aufl., Frankfurt a.M. 2000. Anm. 76 s. nächste Seite
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das witzig formuliert hat – der wendige »Goffmensch« zur Normfigur geworden ist.77 Die Beschreibungen der Individualisierungstendenzen und Normzersetzungen in der Moderne verweisen aber immer auch auf gegenläufige Prozesse. Schon Georg Simmel hatte hochbürgerlich als »Verfeinerung« beschrieben, was heute evolutionsbegrifflich »Ausdifferenzierung« heißt. Das erinnert daran, daß die Bühnen und Schauplätze der Selbstdarstellung und Verhaltenskontrolle sich vervielfältigt haben (nicht nur in der Theaterwirklichkeit durch den Rückzug des mäzenatischen Staates, sondern auch in einem metaphorischen Sinn werden die ›festen Häuser‹ zunehmend wieder zu ›Wanderbühnen‹). Dabei sind die Anforderungen an das »richtige Spiel« zuweilen sogar strikter geworden. Zwar hat sich die repräsentative Einheitlichkeit ei n es Geltungsz en tr um s (wie es einst der Hof zu sein beanspruchte) aufgelöst. Aber diese Mono-Zentralität wurde und wird durch mannigfaltige Teilordnungen abgelöst, die ihrerseits durchaus noch mit älteren Formen der Repräsentation vielfältig verknüpft sind. So ist die Moderne nicht regulierungsfrei geworden, ist die Großstadt beispielsweise nicht nur Distanzordnung78 und Raum jener auf Abstand bedachten Beobachtungskünste, wie sie die Flaneure von Charles Baudelaire bis zu Walter Benjamin genossen und festgehalten haben. Vielmehr sind selbst die unübersehbaren Metropolen Orte kompliziert verschachtelter Lebens- und Geltungszusammenhänge. Erst recht ist die Großstadt keine »Wüste«, wie Oswald Spengler und Werner Sombart suggeriert hatten79, auch nicht nur enthierarchisierend. Eher zeigen die großen Stadtagglomerationen komplizierte Verknüpfungen funktional begründeter Stratifikationen. Mit Blick auf derart sozial strukturierte Lebensräume er76
77
78 79
So jedenfalls der deutsche Buchtitel von The Presentation of Self in Everyday Life: Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag [engl. zuerst 1957], 2. Aufl., München 1973. Ich verdanke Joachim Fischer den Hinweis, daß die Resonanz Goffmans im amerikanisch-puritanischen Raum mit einer nicht-höfischen Tradition strikter Handlungskontrolle zu tun hat, in der alle möglichen »Fehltritte« und Kleinstabweichungen schon im Vorgriff verhindert werden müssen. Demgegenüber täuschen sich die postmodernen Spielfiguren leicht darüber, daß es eben doch vorgegebene Bühnen sind, auf denen auch sie noch spielen – vgl. zum fluiden ›Goffmenschentum‹: Roland Hitzler, Goffmensch, in: Soziale Welt 43 (1992), S. 449–461. Vgl. Anm. 31. Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, S. 415f., dazu auch Karl-Siegbert Rehberg, Das Bild des Judentums in der frühen deutschen Soziologie. »Fremdheit" und »Rationalität" als Typusmerkmale bei Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel, in: Carsten Klingemann (Hg.), Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland. Ein verdrängtes Kapitel sozialwissenschaftlicher Wirkungsgeschichte, Opladen 1987, S. 80–12; vgl. des weiteren über Fellachenvölker als nach-kultureller Bewohnerschaft der Weltstädte: Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. II: Welthistorische Perspektiven, München 1923, bes. S. 202.
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scheint mir Luhmanns Modell einer Ablösung der »stratifizierten Gesellschaften« durch »funktional differenzierte« als Übervereinfachung, die lediglich auf das Schlüsselprinzip der gesellschaftlichen Ordnung anzuwenden (und insofern erkenntnisfördernd) ist. Bei Hofe war v i r tu el l alles sichtbar und personal zuschreibbar, während in der Anonymität der Großstadt zwar ›alles‹ sichtbar bleibt (oder durch immer neue Techniken sichtbar gemacht wird). Jedoch wird das Beobachtete personell nur noch fallweise zugerechnet. Die Personen werden zu Körperpunkten in den dynamischen Figurationen unablässiger Bewegtheit (und auch die neuerdings vermehrt eingesetzten Überwachungskameras beobachten nicht Personen, sondern Orte und Bewegungs-Auffälligkeiten; erst wenn eine Abweichung Aufmerksamkeit erregt hat, werden die Körper in »Personen« rückübersetzt, erweist sich die Situationskontrolle als latente Personenkontrolle). Damit ist notwendig eine Tendenz zur I n fo r ma l i s i er u ng 80 verbunden, ganz gleich ob man sie – wie Norbert Elias – als Folge des durchgesetzten Prozesses der Verinnerlichung und Selbstdisziplinierung ansieht oder – wie vor allem die Systemtheoretiker glauben – als Folge der Komplexitätssteigerung industrieller Gesellschaften, ob man in ihr ein Reflexionsprodukt der Individualisierung sieht oder den bloßen, auf Schamlosigkeit hinauslaufenden Normenverlust, wie dies konservative Autoren hervorheben oder – in entschiedener Gegnerschaft zur Zivilisationstheorie – der diesem politisch-weltanschaulichen Lager kaum zurechenbare Alternativ-Ethnologe Hans-Peter Duerr. Informalisierung bedeutet aber nicht die Auflösung aller Interaktionsrituale und institutionellen Erwartungen, deren genaue Beobachtung und Beachtung nach wie vor gefordert wird. Mag sein, daß in vielen öffentlichen Räumen nur noch Minimalstandardisierungen funktionieren. Etwa kann man bei einem Theater- oder Opernabend Besucherinnen im Abendkleid neben solchen in Jeans und Pullover an der Sektbar sich drängen sehen oder Smoking-Träger neben knitterfrei oder im modischen Knitterlook gekleideten Männern – und die Verhäßlichung aller Museumsräume durch tourismusund sportmodenbekleidete Besucher (die auch von Besucherinnen nicht vermieden wird) ist ja weltweit durchgesetzt. Gleichwohl sind Fehltrittsgrenzen damit aber keineswegs vollständig aufgehoben, in den Bildersammlungen sogar durch elektronisch kontrollierte Distanzerzwingung allgegenwärtig. Und wie viel mehr gilt das für alle Ernstfälle des Lebens: Welche Fehltrittschancen eröffnen sich etwa bei Vorstellungsgesprächen oder in den neuen Ritualen der Unternehmenskultur, wenn in Managementseminaren neuerdings auch »Offenheits-« und »Spontaneitäts-« Zwänge an die Stelle als altmodisch entwerteter Zurückhaltungs- und Selbstbeschränkungsnormen getreten sein mögen. 80
Vgl. Cas Wouters, Informalisierung und der Prozeß der Zivilisation, in: Peter Gleichmann / Johan Goudsblom / Hermann Korte (Hgg.), Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt a.M. 1977, S. 279–298.
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Durchdringend ist beispielsweise die Dominanz traditioneller »Kleiderordnungen« in der durch alle Medien ständig verbreiteten (Selbst-)Darstellung der politischen Akteure. Man erinnert sich noch, wie die erste Vereidigung Joschka Fischers als hessischer Umweltminister der (jetzt schon museumsreifen) Joggingschuhe wegen als Skandal empfunden wurde und die gepflegten Dreiteiler des heutigen Bundesaußenministers die Verpflichtungskraft des Konventionellen erneut bestätigen, daß nämlich – wie das in der businessWelt nie bezweifelt wurde – Korrektheitsregeln für alle verpflichtend und somit habitusprägend sind, ganz gleich aus welcher ›Subkultur‹ das Personal aufgestiegen ist. Kein Zufall also, daß man Gerhard Schröders ›wirtschaftsnahen‹ Selbstentwurf unmittelbar nach dessen Wahl zum Bundeskanzler in einem Dressman-Auftritt verkörpert sehen konnte. Was sich im konsumistischen Pluralismus der Gegenwart vor allem geändert haben mag, ist die situative Vervielfältigung und das gleichzeitige Unbestimmwerden von Standards, durch die eine Normverletzung enthüllt wird, obwohl einige Minimalregeln der Benimmbücher ja weiterhin kursieren. An die Stelle edukativer »Zucht« ist zunehmend ein Training für Selbstselektion getreten (wie das in vielen Fächern in den Massenuniversitäten schon seit langem zu beobachten ist). Ich würde also weder von der Verallgemeinerung von Fehltritten ausgehen, noch von deren Verschwinden, vielmehr von einer Pluralisierung der Fehltrittschancen. Ein komplexes Situationsbewußtsein wird dann zum lebenslangen Sozialisationsziel, wenn beispielsweise auch die Flexibilität smarter New-Economists mit ihrer Lifestyle-Dynamik sehr schnell zu Konventionalisierungen dessen führt, was jeweils »in« ist oder »uralt« aussieht (nicht anders in Jugendkulturen). Besonders in den Professionsbeziehungen kann man dann oft und »nachhaltig« daneben greifen, wobei die Richtigkeitsregeln in Umkehrung traditionaler Stabilität gerade im Ergreifen des Neuen liegen können. Die kulturelle Semantik ist also selbst auf Diversifikation angelegt und gleichwohl noch – wie am besten Pierre Bourdieu gezeigt hat81 – auf ein umfassendes Ungleichheitssystem bezogen, innerhalb dessen die relationalen Positionierungen ihren Ort finden müssen, auch wenn das dazugehörige konkrete Handlungsrepertoire von keinen Zentrum mehr vorentworfen ist. Da Fehltritte mit spezifischen Konzepten personaler Ehre eng verbunden waren, ergibt sich heute eine Relativierung auch dadurch, daß die existenzielle Dramatisierung von Ehrbedrohungen und -verlusten zumindest abgeschwächt ist. Auch führt die Pluralisierung der Weltsichten, etwa die »multikulturelle« Vervielfältigung und synkretistische Verknüpfung von Kulturfragmenten zu einer Entpathologisierung von Regelverletzungen. Dennoch leben wir nicht in »ehrlosen« Zeiten82, wie man etwa erleben kann, wenn zur Abwendung politischer Krisen »Ehrenworte« immer noch mit Nachdruck 81
Vgl. Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 1).
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gegeben werden. Abzuwarten bleibt, ob Uwe Barschel oder Helmut Kohl eher zur Entwertung oder zur Bestätigung des Rettung versprechenden Ehrenkodex beigetragen haben. Jedenfalls hat sich die Bedeutung von ›Ehre‹ noch nicht aufgebraucht. Allerdings gibt es neue Diskurse: wie sollte man ohne ein (zumindest implizites) Ehrkonzept die mobbing-Ängste und -Thematisierungen verstehen, wenn nicht als (allerdings leistungsbezogene, nämlich das Berufsleben vergiftende) Integritätsverletzung; und auch im Geschlechterkampf sind alle Spielarten des sexual harassments diskursiv längst vertraut und öffentlich verhandelt. Gleichwohl wird die persönliche Integrität durch Ehrverletzungen zumeist nicht mehr in derselben grundlegenden und umfassenden Weise bedroht, wie das in ständischen Gesellschaften oft unvermeidlich war; die letztgenannten Beispiele würden auch eher nahelegen, zu sagen, daß es heute die Vorgeregeltheit der Verletzbarkeit ist, die weitgehend ausfällt, und nicht diese selbst. So können Fehlleistungen und Mikroattacken immer noch durchgreifend und folgenreich sein. Das zeigt sich auch an regulierten Sprachvorschriften (zumal eine Quelle von Fehlgriffen ja immer schon in der – von Freud herausgearbeiteten – Trieb- und Phantasieentladung des »Versprechers« lag83). Eine modische Variante der Sprechregulierung bietet die aus puritanischen Traditionen gespeiste political correctness, deren Ignorierung nicht minder destaströs wirken kann als in standesgesellschaftlichen Zeiten die Verweigerung der gebührenden Ehrerbietung; es handelt sich sozusagen um deren demokratische Neuauflage. So kann man sich in manchen Kreisen inzwischen ohne Ansehensverlust eher scheiden lassen als einen Afrikaner »Neger« zu nennen. Wir haben es in einer Zeit der medialen Dauerbeobachtung und der unablässigen (allerdings gerade deshalb immunisierenden) Skandalisierung von Affairen und dem dadurch ausgelösten Krisenmanagement mit dem Paradox der Unsichtbarkeit des überall lauernden Fehltrittes, mit der Invisibilisierung der auf Visibilität beruhenden Übertretung zu tun. Und damit sind wir bei einem, für jede Institutionen- wie auch die Sozialstrukturanalyse zentralen Moment: in der von Sichtbarkeit, von Bilderfluten überschwemmten Welt (samt dem, von Friedrich H. Tenbruck als so beängstigend empfundenen, trivialisierenden Eindringen soziologischer Kategorien ins Alltagsbewußtsein84) gibt es zugleich das Unsichtbarmachen zentraler Strukturprinzipien der Gesell82
83
84
Vgl. Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft: Differenzierung, Macht, Integration, Frankfurt a.M. 1997 sowie Dies. / Arnold Zingerle (Hgg.), Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt a.M. 1994. Vgl. Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum [zuerst 1898–1901/1924], Frankfurt a.M. 1990. Vgl. Friedrich H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz u.a. 1983.
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schaft – man denke an Machtzusammenballungen in einer Zeit, in der alle bemüht sind, die Auflösung von Zentralität zu betonen und selbst »die Mächtigen« sich öffentlich gerne ihre Ohnmacht bestätigen lassen (um nochmals an Nietzsches böse Worte zu erinnern: »Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.«85); man denke aber auch an die Klassenstrukturen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften (ein Begriff, der ja bekanntlich selbst als analytischer »out« ist: vom »Kapital« zu reden wird ausgerechnet in Zeiten der entfesselten Finanzmärkte nun wirklich als ›Fehltritt‹ empfunden). War die Schärfe, mit der ein Fauxpas wahrgenommen wurde, immer schon mit der Statushöhe des Akteurs verbunden (es sei denn, er habe ›über dem Gesetz‹ und somit auch über den Verhaltenskonventionen gestanden), so mag man in demokratischen Gesellschaften dazu tendieren, Fehltrittseffekte zu minimalisieren (obwohl sie Merkposten für die Verkehrsfähigkeit einer Person und andere Charaktereigenschaften sehr wohl bleiben können). In diesem Sinne leben wir in rituell entdramatisierten Zeiten der individuellen Verhaltenssteuerung mit persönlich ›gebastelten‹ Grenzziehungen und Begrenzungserwartungen an andere. Hinter der Beschwichtigung als Herrschaftsmittel zeigen sich dann aber – wenn man sich das auch kaum noch einzugestehen vermag – traditionale Bedeutungsfelder und semantische Traditionen des »Anstandes« und der Zumutbarkeit eines Verhaltens. So sieht man heute die Regenerierung und partielle Zuspitzung der lebenslangen Arbeit am Habitus, welche nicht nur Erziehungsstoff für die Kleinsten bietet – und somit bleibt der Fehltritt auch im Interaktionsmanagement der Moderne eine lauernde Gefahr für die Integrität des Selbst.
85
Nietzsche, Zarathustra (wie Anm. 74), S. 20.
Abstracts*
Peter von Moos Fehltritt, Fauxpas und andere Transgressionen im Mittelalter Were the middle ages conscious of the phenomenon we call faux pas or embarrassment? The semantic analysis of ›blunder‹ and its synonyms in several non-medieval languages (in modern French, English and German as well as in Greek and Latin) leads to following results: The vocabulary for this kind of transgression was differentiated and distinguished from moral transgression during the process of civilization in the seventeenth century, especially in the courtly society of France. On the contrary, pre-Christian antiquity avoids a precise differentiation between fate, error and guilt phenomena. The confrontation of the medieval transgression semantic with antiquity and the modern era demonstrates its ambivalence: On the one hand, the merely social, therefore religiously irrelevant deviations are excluded radically in the Christian sin discourse. On the other hand, they are treated seriously in the clerical as well as in the courtly discourse concerning good manners, though being described in the terminology of moral transgression. As the historical investigation of the transgression concept prooves no more than a semantic indifference of moral transgression and blunder, it finally leads into contextual case-studies. This method enables to distinguish which of the two components is meant in the concrete case. Three examples of French historiography (Joinville, Chastellain, Commynes) allow to trace the analogies as well as the differences between medieval and modern blunder. These conclusions are to be considered as a contribution of medieval studies to the question of the origins of the modern era.
Bernhard Jussen Nicht einmal zwischen den Zeilen The concept of ›blunder‹ in medieval christian latin literature is investigated by the method of ›distributive semantics‹. The result of the analysis is defi*
Translated by Nadia J. Koch except the abstracts by G. Algazi, D. Bohler and R. Newhauser.
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nately clear: No concept similar to the subject of this monograph ›blunder/ Fehltritt‹ is known to medieval christian latin literature. The keywords of the ancient latin semantics of ›blunder‹ (peccatum, error, culpa, lapsus) constantly appear as keywords of the discourse on sin and guilt. Even searching after »leaks in the dominant discourse of sin and guilt in the middle ages« (von Moos) is in vain, as is confirmed by the investigation of the use of ›shame‹: Contrary to the later transgression semantics, ›shame‹ was not used without moral judgement (as an exception, perhaps in Abaelard’s passion). The scholarly differentiation of shame and guilt cultures overlooks the fact that ›shame‹ was a central concept of the so-called ›guilt-societies‹ of the middle ages. As in the story of the original sin, ›shame‹ was in almost all situations declared as the other side of guilt.
Guy P. Marchal Fehltritt und Ritual The function of secular rituals is investigated basing on the comparision of public events of the fifteenth century. Rituals are regulated sequences of actions that structure uncertain situations by using rules and symbols. It is at first assumed that transgressions can be traced easily by knowledge of the specific rules of a ritual. Instead of assuming a modern definition of ›blunder‹, the analysis concentrates on the observations of contemporaries: Besides the Religieux de Saint-Denis, Enguerran de Monstrelet and Jean Juvénal des Ursins, Philippe de Cmmynes is a source of special interest. Surprisingly, the investigation of habitual events, e. g. the coronations of Frederick III. (1442) and Maximilian I.(1486) or receptions of rulers, shows to which high degree ritual is able to absorbe chaos and misunderstandings; so in fact, possible blunders can not be traced by the method suggested in the first assumption. Instead, extraordinary events are to be examined, since their rituals have to be created individually for this one occasion. Here several ways of avoiding misunderstandings and blunders become apparent. Following historical meetings of rulers are analyzed: Near Chaumont (1188), on the border between Callais and Ardres (1396), between Meulun and Mantes (1419), on the Ponceau de Saint-Denis (1419), near Pouilly-le-Fort (1419), in Péronne (1468), in Treves (1473), near Picquigny (1475), and the catastrophic meeting in Montereau-faut-Yonne (1419). Finally, the meeting between Louis XI. and Saint-Pol at Noyon (1474) can be considered as a blunder caused by the inadequate use of ritual.
Valentin Groebner Regel, Ausnahme, nachträgliche Benennung The recorded descriptions of ceremonial courteousness and diplomatic rituals in the late middle ages are positioned between normative stilization and
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rhetorical strategy. What kind of transgressions are documented by whom and for which public? The rich sources on ceremonial donations the cities of Basle and Augsburg granted visitors of high rank in the fifteenth century give evidence of the special character of these events: The documents show the adaptability of the rituals, which were precisely performed for a special situation as ›political theatre‹ and regarded as an indicator of atmosphere, as well as the ambivalent nature of the donations: In some cases the courteous ritual of an urban donation even reveals the threat that the visit could perhaps take an unexspected violent course – that the performance could be brought to a sudden end beyond possible faux pas. Here the expert in diplomacy enters the stage as author with special intention: What kind of transgressions constitute this expert in rules and how are they to be traced in the sources?
Klaus Schreiner Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall ? Christianity’s dogma of the Fall of Man caused by Adam and Eve is nowadays treated as a case of exaggerated culpability: For Augustine’s doctrine of the original sin transformed man, who was originally existing in a stage of ideal harmony, to a sinner seeking for redemption. His free will therefore became the source of all evil. The jewish tradition interpreted Adam’s and Eve’s grasp for the forbidden apple as sinful transgressions which created the hardship of labour, the experience of passion, and the fear of death. In the medieval interpretation Adam and Eve originated the history of man as a voluntary or involuntary sinner before God. Since their violation of God’s commandment enabled the arrival of the Saviour, the rescuer from universal guilt, this behaviour was described as a ›fortunate sin‹, felix culpa. The Fall of Man therefore was considered as conveyor of civilization as it enforced the invention of human arts and crafts. Accordingly, the value of civilization was founded on prosperity-increasing labour and not on leisure. The Age of Enlightenment reinterpreted the story of the Fall of Man as a story of emancipation. Adam’s and Eve’s disregard of the divine prevention of knowledge was rated as act of liberation. The progenitors and their descendants became responsible subjects of their own thought and action. The medieval concept of collective guilt was in opposition to the Enlightenment’s ethic of responsibility, which declares the individual, not the collective as culpable. Through the ages therefore, the revaluation of Man’s first transgression becomes evident.
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Alois Hahn Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion Discretion (in the sense of ›civil inattention‹) and secrecy are the most common reactions to unvoluntary transgressions with minor damage. Both reactions lead to the autostigmatization of the transgressor. Modern societies avoid discretion and secrecy in cases of major faults, since they aim at solving crimes and accusing those who commit them. These aims are characteristics of societies with strong, centralistically structured authorities. Premodern societies with weak central authorities, for example the medieval feudal societies or the ancient Icelandian society, do not distinguish between unintended minor transgressions and intentional major faults, but avoid accusation for preventing acts of revenge and safeguarding peace. When public accusations compel to punishment, the ›theatralization of undeliberateness‹, which has the same function as secrecy, transforms culpable actions to momentary transgressions without consequences and thus contributes to preserve vital social bounds.
Achim Wesjohann ut … stultus vel fatuus putaretur – ›Fehltritte‹ früher Franziskaner? The investigation of incorrect actions in medieval monasticism helps to define the limits of ›transgression/faux pas‹. As Franciscan hagiography and historiography show, several actions of Franciscus and other friars, embarrassing or ridiculous situations as well as apparent drunkenness or insanity, were strongly disapproved by contemporary society. In most cases this social disapproval was an intended reaction as it helped the monk to realize the ideal of self-humiliation. The final result of the monk’s incorrect action therefore could differ widely between edification of the spectators on the one hand and scandal on the other hand. Behaviour of this kind is to be considered as transgression only in the special case of actions of simple friars appropriate to saints only. For self-abasing attempts must not damage the reputation of the order. A monk lacking appropriateness therefore acts against the rules of Franciscan life. His behaviour leads to scandal even with the best of intentions.
Gadi Algazi Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergeßlichkeit The paper forms part of a larger research project dealing with the reshaping of the scholarly habitus between the late Middle Ages and the early modern period. It seeks to explore how studying scholars’ faux pas can yield insights into the history of their habitus. Absent-mindedness and forgetfulness,
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although attributed to individuals, are social projects requiring active cooperation by approving publics. Yet scholarly faux pas were not only to be tolerated, but claimed recognition as something that sets scholars apart from ordinary people. Why then did scholars adopt such an ambivalent and precarious medium of social distinction? It is argued that rise of scholarly misen-scène is related to scholars’ move out of the institutions which provided them with discipline, security and recognition – monasteries and colleges – and into the world of late medieval urban communities, especially as scholars began to establish family households, giving up the celibacy which had distinguished them and expressed their other-worldly orientation. Absent-mindedness created symbolic distance where social distance threatened to shrink. Yet scholarly forgetfulness required not only benevolent publics, but also active accomplices: At stake was not only scholars’ image of themselves, but the reproduction of their special way of life under new circumstances. It acquired strategic importance since it enabled scholars to ignore their reliance on the web of reciprocal obligations and intimate interdependence in which they found themselves after moving into family households. Memorable cases of absent-mindedness and forgetfulness gave codified expression to scholar’s deep-seated dispositions, to their acquired habitus. At the same time, such stories and codified expressions of forgetfulness deflected attention from scholars’ common patterns of behaviour and economies of attention, the manifestations of their habitus in everyday life, which were not recognized as noteworthy because they found immediate recognition. In this sense, the codified image of the absent-minded scholar not only served to articulate and strengthen their underlying dispositions, but also to conceal them view. Finally, the paper discusses the inherent ambivalence of scholarly forgetfulness as a contradictory label open to conflicting interpretations. It entails risks for the scholars who adopt it, for it easily turns from a protective shield to a laughable mask; yet it can also endanger scholars’ significant others, not only because it requires them not to mistake scholarly distraction for all too human lack of concentration, but also because by recognizing scholars’ right to be absent-mindedness, they devalue their own presence. Scholarly forgetfulness and absent-mindedness are thus revealed as a risky social strategy which situates scholars socially by allowing them to ignore society.
Danielle Bohler L’impair ou la faute? La question de la responsabilité The Book that the Chevalier de La Tour Landry wrote or had compiled for the instruction of his daughters (in 1971-72) allows up to observe – through the use that is made of the short narration type, a textual system whose efficacy in the case of exempla literature is well known – how the fault (or the
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faux pas) process is recounted. Taking as its starting point the harsh rules imposed upon women’s behaviour on a long term basis, the so-called norms become subordinated to the fluctuations of individual human behaviour: rather than faults proper, what we do encounter are unbecoming or shocking gestures, under the watchful eye of a community prone to voice comments or even spread malicious gossip. The code of limits that should not be gone beyond (as far as garments, adornment, speech, sociability are concerned) proves to be, more often than not, transgressed by women in the Bible, the chronicles, or by women of the time. Yet, apart from such duly condemned cases as are drawn from the past of the ›bad women‹, the responsibility of the feminine creature often appears to be mere ignorance. Fault gives way to the representation of some incongruity or unseemliness. The Book thus documents any nuanced reflection on the fault/faux pas dialectics in the layman’s discourse at the close of the fourteenth century, when a socio-ethical trend is sketched out, through discursive strategies focusing upon private individual evolving within a public space in both its concrete and symbolic dimensions.
Rüdiger Schnell Literarische Spielregeln für die Inszenierung und Wertung von Fehltritten In comic short tales called ›Mären‹ major transgressions can be regarded as minor fauxpas and therefore treated leniently under following circumstances: The literary rules are: The violation of norm has to be occured involuntarily; (or) the ›victims‹ themselves are partly responsible for the violation of norm; (or) friendship prevents revenge. All these rules of transgression as literary construction propagate a pragmatic-utilitarian attitude: He acts wisely, who weighs the advantages and disadvantages with a clear mind instead of taking revenge or punishing over-hastily. Moral condemnation is replaced by a kind of amoral – not immoral – perspective. This self-controlled reaction presented in the comic short tales can be considered as an achievement of civil society.
Jan-Dirk Müller Kleine Katastrophen In the courtly literature around 1200 cases of minor transgression are often treated as major faults with serious consequences. This surprising fact is due to the self-definition of aristocratic and courtly societies which bases on the consciousness of minimal differences. The minimally deviating action therefore marks a borderline of their identity. Although no medieval equivalent to the modern concept of ›transgressi/ fauxpas‹ can be found, the Arturian novel and courtly love poems give examples of deliberate and unintentional deviations from courtly norm. Delib-
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erate as well as unintentional incorrect actions are judged as minor to sin or crime, but as major to inconspicious deviations. Since these deviations are considered as danger to courtly society, they are punished by social exclusion, in some cases only symbolically. This phenomenon is subject of the crisis of the Arturian novel.
Werner Röcke Provokation und Ritual In the early modern conceptions of the ideal courtier (Castiglione, della Casa) quarreling, provocation, and insults against other courtiers are rejected as uncourteous, whereas in the medieval Arturian novel this behaviour is institutionalized by the role of Keie: Although the senechal Keie is a member of high nobility, his aggressive transgressions and offenses are exspected, accepted, and punished with laughter at all occasions. This stereotype pattern of acting is a ritual for protecting the Arturian court – an unstable society without legalized and safeguarded authorities – against the violence and destructiveness of conflicts of honour and revenge which can arouse from seemingly trivial causes even. Keies actions follow a »logic of vaccination« (A. Hahn) by opposing the dangerous violence which threatens feudal society with the controlled violence of ritualized provocations. This logic aims at lessening the dangers for courtly order and peace. The ›shift‹ is achieved by the releasing laughter about the fool who absorbs the aggressive capacity of other overambitious courtiers. The role of the comic ›scapegoat‹ who stabilizes the court by absorbing its fury and ridicule is developed in Hartmann’s ›Iwein‹. This acting pattern of ›joking relationship‹ can be traced in non-European cultures up to the modern era. In Wolfram’s ›Parzival‹ though, facing the omnipotence of violence, no intervention is possible: Parzival’s Keie proves to be a protagonist of feudal honour and authority conflicts, not their counterpoint. He is part of this violence, but does not try to offend it.
Arnold Angenendt Die Epikie Epieikeia (e8piei0keia), as defined by Aristotle, is the ethical demand for appropriateness of action to the particular circumstances. In history, all societies with clearly defined, written laws have been acting in accordance with the category of epieikeia. Thus, an adequate application of these laws is incompatible with the idea of absolute law, since laws are created by and for individual members of society. It is therefore everybody’s duty to realize the situation intended by the legislator adequately, and eventually even better than the law
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provides. Only the liberal, educated and conscientious society, that is: ethical controlled liberty, offers these preconditions. Historically, the demand for epieikeia arose in the fifth century B. C. with the constitution of the Greek polis. In Early Christianity Paul taught the ›communion of saints‹ to respect the conscience of the individual. In consequence, it was the Christian’s duty to reflect the mercy of God by treating even the sinner mercifully. So the demand for epieikeia marks the inversion of the ›minor transgression with major consequences‹ as it can be defined as a ›major transgression without legal consequences‹.
Richard Newhauser Zur Zweideutigkeit in der Moraltheologie Although it has been maintained that moral taxonomies treat only publicly assessed behavior, the theme of vices masquerading as virtues offers a more differentiated view of the relationship between the private and the public, the intentional and the unintended, in examinations of the chief sins in medieval moral theology. The treatment of this theme by moral theologians reveals their great sensitivity to the ambiguous nature of defining morality, as it also shows their control over the task of identifying another’s inner state and assessing its social and moral appropriateness. The examination of vices masquerading as virtues also demonstrates that long before the twelfth century medieval thinkers developed an intentional ethics which differentiated between the appearance of an act and the intent which underlay it. The work of Evagrius Ponticus, Augustine of Hippo, Prudentius, Pope Gregory the Great, Amalarius of Metz, Hugh of St. Victor, Pope Innocent III, Thomas Aquinas, Heinrich of Friemar the Elder, Jean Gerson, and Henry Medwall all demonstrate a recognition of how permeable the border actually is between what is morally good, evil, or neutral. This recognition lies at the heart of medieval moral theology, which can be seen to be more responsive to the moral ambiguity of everyday actions, more complex, and more fundamental for the development of psychology than has been appreciated up to now.
Gerd Schwerhoff Fehltritt oder Provokation? German theology of the Late Middle Ages and the Reformation considered blasphemy, especially blasphemious oaths, as highly reprehensible offense against the glory of God. Criminal law threatened blasphemy with grave sanctions. Nevertheless, blasphemians were mostly punished mildly, and not seldom they were not punished at all. In certain social contexts, e. g. in conflicts between men, oaths seem to have represented a common accepted or even expected linguistic attitude. Consequently, a norm conflict arose
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between the social behaviour of daily life and the interpretation of law. For defusing this norm conflict theological and legal discourse developed criteria for treating certain kinds of blasphemy as negligent or involuntary actions; by this means the tension between dramatization and bagatellization of blasphemy was eased.
Karl-Siegbert Rehberg Der ›Fehltritt‹ als Heuristik bedrohter Integrität In this investigation ›blunder/faux pas‹ is defined as an interactive trace element of unintentional origin. As it requires ritualized actions and evidence, tactfully overlooking of violations of norm is often appropriate for avoiding sanctions. Therefore cases of blunder are seldom recorded in sources of official character. Blunders threaten the balance of a (mostly institutionally regulated) system of interaction and, as a consequence, the integrity of the actors as well. At first sight, it could be considered as an exclusively courtly phenomenon. But even though the semantic of ›transgression/blunder‹ seems to have emerged not before the age of the centralization of power, the idea of blunder as a situational, microstructural violation can be generalized. From the anthropological point of view, the faux pas bears the risk to reveal the brittleness of the social safeguarding of man, who is always in danger of being considered a ridiculous figure. The status and the consequences of blunder differ according to the differences of social systems. Nowadays, in the age of permanent observation by the media, we are confronted with the paradox of the invisibility of possible faux pas lying in wait. Nevertheless, the modern multiplicity of stages for selfperformance does not dissolve the sense of honour nor does it lead to an informalization of action. Instead, the expectations of appropriate behaviour are differentiated specifically. This is documented by the imposition of strict conventions as they can be experienced in applying situations or by new systems of commitment, for example the puritanical idea of ›political correctness‹. So even in modern management of interaction blunder remains a latent danger for self-integrity.
Register
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
A Aachen 113, 117, 431 Abaelard, Peter 13, 15–18, 21, 105–107, 154–155, 197–198, 201, 290, 435–436 Ablenkung 135, 185–186, 247–248, 379, s. auch Aufmerksamkeit Absicht s. Intention, Unabsichtlichkeit Abweichung, abweichendes Verhalten xv, xvii, 139, 178–181, 195–197. 323, 329, 419–420, 424–443 acceptio personarum 66, 86 Achilles 12 Adam und Eva 11, 13, 15, 17, 105–107, 151–176, 423, 434, s. auch Sündenfall Adel 22, 40, 42, 65, 79, 351, 420, 428, 432, s. auch Elite, Hof adiaphora 378, 383 Aegidius von Assisi, , O.F.M. 225, 227, 233 aequitas 7, 364, 367, 370, 371, s. auch Epikie aequitas canonica 370 affabilitas 40, 85 Affekt 49, 50, 76, 424, s. auch Angst, Zorn Affektkontrolle xvi–xxii, 76, 79, 88, 200, 283, 389 Agressionstoleranz 67, 79–80 akrasia 5, 9 Albert der Große 374 Alexander von Hales 169, 411 Alford, John 401 Alkohol xv, xxii, 116, 145, 223, 239, 349, 412–413, 416
Alkuin 18 Allegorie 395 Amalarius von Metz 390 Ambiguität, Mehrdeutigkeit 25, 32, 199–200, 382, 390, 397, 377–402 Ambrosius 18 Anachronismus xxiii, 1, 41, 51, 321, 413, 415 Anekdote xxiv, 36, 41, 47, 67, 70, 110, 235, 238, 244, 314–315, 365, 413 Anerkennungsverhältnis 85–86, 88 Angemessenheit, aptum 39, 40, 43, 69, 77, 83–86, 116–120, 144, 147, 181–182, 186, 209, 224–233, 276, 303, 312, 323, 339, 365, 367, 375, 385 Angst, Furcht xvii–xviii, 3, 5, 18, 28, 61, 66, 193, 201, 32, 373, 284, 343–344, 356, 420–423, 428 Anredeformen 23, 69 Anselm von Canterbury 371 Anstand, Höflichkeit 18, 21, 25, 37, 85–88, 273, 319, 322, 428, s. auch Etikette, Takt Anstandslehre 18–20, 24, 28, 31–32, 41, 43, 73, 77–78, 252–253, 273 Anthropologie, anthropologischer Zugang xiii, xvi–xvii, xx, 9–10, 26, 70–73, 87–97, 105–109, 154. 174–174, 379, 399, 420–423 Antonius, der Eremit 380 apatheia 379 Apophthegmata patrum 380 Apostasie 411
458 Archimedes 243 Aristoteles 3, 8, 26, 27, 363–365, 369, 384, 429 ars dictaminis 22, 33, 86 ars mechanica 164 Artusroman 322, 325, 326, 342, 343–361, 427 Askese xx–xxi, 20, 209, 213–214, 223, 280–281, 378–381, 392–393 Audienz 64 Auffälligkeit 76 Aufmerksamkeit 28–29, 70, 74, 78, 111, 145, 153, 185, 199–200, 235–250, 254, 260, 379, 405, s. auch Ablenkung, Konzentration Augsburg 140 Augustinus 16, 101, 152, 156, 167, 169, 218–219, 370, 379, 382, 409 Ausnahme, s. Regel Autonomie, Handlungskompetenz 166–176, 193, 197, 366, 379 Autostigmatisierung, Selbstbloßstellung 23, 63, 88, 177, 252, 323, 427 avaritia 382, 384
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
Bernhard von Clairvaux 105, 217, 221, 371, 391 Berthold von Regensburg 219 bestialité 57 Bestrafung s. Strafe Betrug 63–65, 84, 282, 293, s. auch List Billigkeit 364, 370, 371, s. auch aequitas Blamage, Gesichtsverlust xv, xvii, 5, 39, 58–59, 70, 88, 154 Blasphemie 312, 403–418, 436–437 blunder 5, 8–9, 33, 98 Boccaccio 29, 33, 160, 302–304, 313 Bonaventura 226–228, 231 Boncompagno da Signa 22–25, 34–35 Böse, das 366, 368, 391–394 Bourdon, Louis 110–111 Brant, Sebastian 438 Bühne, Theater 6, 31, 51, 75, 86, 200, 400–401, 420, 432, 442, s. auch Rolle Burckhardt, Jacob 172 Buße 16, 67, 72, 102, 104, 198, 204, 208–209, 225, 370, 374, 381, 391, 395, 407
C B Bacon, Francis 165 Bamberg 397 Barberino, Francesco da 43 Basel 140, 142, 403, 404, 405, 406 Beaudelaire, Charles 442 Begriffs-Differenzierung xxiv, 2–3, 7–11, 25–27, 32–33, 81, 153, 185, 190, 266–267, 318–319, 340, 433, s. auch Synonymie Begriffsgeschichte xxii–xiv, 1–33, 97–108, 204, 235–236, 248, 265–271, 317–321, 416 Beichte 189, 190, 191, 192, 193, 194, 201, 433 Bekenntnis, Geständnis 67, 179, 184, 186–193, 302 Beleidigung, Kränkung, Bloßstellung xviii, 9, 23, 26, 40, 49–50, 65–67, 69, 79–80, 88, 188, 190, 198–199, 216, 278, 303–304, 307, 336, 338, 343–344, 351, 354–355, 389, 408–411, 422 Bellegarde, Morvan de 5
Caesarius von Heisterbach 215, 221 captatio benevolentiae 34 Castiglione, Baldassare 28, 30–31, 55, 343–344, 426 Châlons-sur-Saône 390 Chastellain, Georges 28, 33, 43–53 Chrétien de Troyes 325, 347 Christine de Pisan 161 Cicero 7, 18, 43, 365 Clara von Assisi 226 clergie 38 Commynes, Philippe de 51, 53–65, 77, 121, 126, 136, 137, 140, 149 compassio 323 contemplatio, s. Meditation Cortés, Donoso 172 coulpe 25 culpa xxiii, 15, 98–101, 388 – felix culpa 11, 160–166, 169
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
D Darwin, Charles xxi deditio 47, 50, 53, 132 Della Casa, Giovanni 28–30, 33 Demut xx, 32, 203, 388, 399 Demütigung 46, 63, 65, 106, 360, 422 Denunziationspflicht 404 derisio 66–67 Deustesalvet von Florenz, O.F.M. 228 dignitas 85 Diplomat 59, 63–65, 76, 84 discretio 393 discrétion 40 disinvoltura 321 Diskretion 177–179, 183, 196–201, 294–299, 419, 433 Diskurs-Theorie und -Analyse xii, xvi, xx–xxiii, 7–35, 40, 65, 68, 85, 99–104, 139, 249, 267, 270, 275, 287, 291, 299, 314, 319, 329, 342, 345, 360, 405–416 Dispens, Dispensation 371, 374 Dissimulatio, s. simulatio Distanz 39, 81, 82, 86, 88, 421, 424, 442– 443, 425, 438 Distinktion 22, 66, 87, 239–240 Distinktionszeichen, Statuszeichen 235, 236, 240, 246 Disziplinierung, s. Sozialkontrolle donum 104 dörper 326 doxa 382 Drama 400–401 dulia 85 Dummheit 63 Durkheim, Emile xvi, 2, 180, 184, 249, 430
E Eckhart, Meister 105 Eduard III. von England 41 Eduard IV. von England 60 Ehe 67, 85, 160–161, 192, 282, 286, 297–298, 305, 308, 313, 369 Ehebruch 13, 257, 267, 268, 282, 283, 285, 287, 289, 292, 295, 296, 297, 301, 312, 313 Ehre xvii, xviii, xxiii, 23, 42, 49, 51, 65, 68, 78, 79, 82, 87, 88, 107, 253, 270, 272, 273, 274, 276, 279, 282, 286, 287, 290,
459 291, 297, 298, 302, 305, 307, 308, 312, 313, 319, 323, 338, 349, 359, 365, 422, 425–427, 444–445 Ehre Gottes 403 Ehrerbietung 85, 445 Ehrverlust 271, 272, 274, 275, 279, 285, 286, 294, 299, 312, s. auch Schande Einfalt 25, 214–216, 224, 232, 294, 439, s. auch simplicitas Einsamkeit 245, 246, 249 Eitelkeit 13–14, 18, 23, 256, 380–381, 386 Elias (Helias) von Cortona, O.F.M. 24, 210, 228–230 Elite 420, 424, 428, 440–441, s. auch Adel Emotion xxi, xxvii–xxviii, 27, 47–52, 74, 76, 177, 280, 289, 298, 302, 304, 380, 389, 412, s. auch Zorn, Angst, Verlegenheit, Erröten Emporkömmling, Aufsteiger 5–6, 22, 37, 40, 82, 340, 428 Entschuldigung 45–46, 50, 71, 74, 130, 137, 197, 202, 216, 237–238, 250, 268, 274–277, 410–415, 436 Epikie 363–376, s. auch aequitas Epochenvergleich (Mittelalter – Neuzeit) 73–89, 343–347, 424–425, 430–446 Erbsünde 155, 157, 168, s. auch Sündenfall Erasmus von Rotterdam 438 Erec 323, 325 Erfurt 396 Erinnerung, geschichtliche 179 error, errare 7, 13, 15–16, 98, 101 Erröten xxi, 20–22, 25, 69–70, 101 erubescentia 101 erubescibilia 21 Ethik xxiii, 18, 24, 363, 374, 375, 420, 428, s. auch Moral Ethos 364, 369 Etikette 30, 37–38, 40, 42, 47, 71, 80, 87, 270, 280, 298, 307f., 312, 376, 416, 421–423, 426–427, 435–437, s. auch Verhaltenscodex Euphemismus 9 Evagrius Ponticus 379, 386 Exempel, Exemplum xxiv, 13, 17, 29, 33, 48, 53, 215–216, 232, 239, 244, 251–264, 293, 296, 310, 313–314, 322, 342, 380–382, 406, 409, 415, s. auch Anekdote Exerzitien 29–30 Extension/Intension (linguist.) 3
460 F Fahnen zerreißen 115, 118 Fahrlässigkeit xv, 8, 22, 196, 412, 415, 412, 436 Fallhöhe xvii, 78 fama 381, 396 Fassungslosigkeit 69 fatuitas 21, 25, 66, 203–234 faux pas 27 Fauxpas 1–32, 73–89, 319, 321, 336, 340, 341, 342, 376, 419–420, 426, 428, 430, 434–438, 446 Fehde 323, 327, 328, 330, 331, 336 Fehlgriff 341 Fehlleistung s. Freud Fehltritt (konzeptuell) 1–96, 97–99, 107, 177, 180, 181, 188, 195, 197, 200, 201, 265, 317, 318, 320, 321, 325, 329–330, 336, 341, 421, 425–441, 444, 446 Fehltrittbücher xxiv Fehltrittreparatur 71, s. auch Entschuldigung Feigheit 57 felix culpa, s. culpa Figuration 241, 242, 443 Flaubert, Gustave 422 Fleischgenuß 158 Flexibilität 63, 76, 442 Florenz 24, 139, 142, 228–229 Flüche 289, 403, 436–437 folie 25, 27, 48, 57, 58 Folz, Hans 269, 294, 304, 309 Fortschritt 163 Fortuna 28, 47, 430 Frankfurt 116 Franz von Assisi 32, 203, 439 Franziskusgefährten, Franziskaner 203–234, 439 Frauen 34, 241–242, 251–263, 390, 394, 424, 433, 437–438, s. auch Mädchenerziehung Freiheit 168, 434 Fremde, das 34, 74, 84 Freud, Sigmund xv, 4, 8, 27, 74, 77, 88, 250 Freude, höfische 338 Freundschaft 85, 271, 273, 283, 300–305, 312 Friede 371, 375 Friedrich der Streitbare 341 Friedrich III., Ks. 30, 109, 115–117, 124, 134, 140, 431
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
Friedrich II. von Preußen 430 Friedrich von Hausen 328 Furchtlosigkeit 57 Fürstentreffen 58, 109–138, 432
G Gattung, literarische 268, 269, 288 Gastfreundschaft 143, 294, 276–277, 280, 301, 306 Gebärde, Gestik 19, 255 Gebot 369, 372 Geheimnis, Geheimhaltung 178, 183, 188, 191, 196, 200, 201, 256, 434 s. auch Schweigen, Tabu Gehorsam/Ungehorsam 151–176, 365, 372–373, 434–435, 446 Geiler von Kaysersberg 407 Geiz 383, 385 Geldstrafen 406, 436 Gelehrter 235–250 Gemeinschaft 82, 87, 421, 426–427, 433 Gerechtigkeit 364 Gerede, Gerücht, xvii–xviii, 39, 78, 256, 260, 297, 337, s. auch Klatsch, Meinung Geringfügigkeit (des Fehltritts) 2, 97, 178, 251, 255, 257, 317–342, 422, s. auch Verhältnismäßigkeit Gerson, Johannes 13, 372, 398 Gerstenberg, Wigand 115 Geschenk, Gabe 50, 60, 139–150, 434 Geschichtlichkeit/Geschichtslosigkeit 179–180, 183, 433 Geschlecht xvii, s. Frauen, Männer Geschmacklosigkeit 326–330, 340–341, 420 Geselligkeit 20, 67, 84 Gesellschaft 82, 86, 87, 420, 424–428, 433, 439–446, s. auch Individuum Gesetz 363–376, 429, 446 Gesetzesmilderung 367–369, 370, 374 Gewalt, Gewaltsamkeit 54, 117, 119, 130, 133, 147–148, 156–162, 185–189, 196, 268, 281, 296, 302, 311, 326–335, 339, 341, 343–361, 368, 417, 427, 437 Gewaltmonopol 188, 428 Gewissen ix, 8, 11, 30–31, 66, 77–78, 193–194, 209, 214, 231, 364, 366, 369, 372, 374, 378, 380–385, 391, 399–401, 420 Gewissensfreiheit 78
461
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe Ghars al-Niíma xxiv Gleichheitsprinzip 366 Glück/Unglück 151–176, 325, 430 Gnade 368, 369, 375, 390 Goethe, J.W. 17, 199 Goldene Bulle 112, 114 Gotteslästerung, s. Blasphemie Gracián, Balthasar 29–31, 72, 78 Gregor der Große 206, 379, 385, 387, 391, 393–394, 398, 436 Gregor IX. Pp., s. Hugolino von Ostia Gregor von Tours 371 Gruß, s. Anredeformen
H Habitus 235–250, 423, 446 Habsucht 380, 382, 385, 386, 398 hamartia 7, 8, 9, 12, 26, 32, 49 Handlungskompetenz s. Autonomie Häresie 411 Hartmann von Aue 325, 347–355, 357, 427 Hauptlaster 386, 399, 436 Hegel, G. W. F. 170 Heimlichkeit 307 Heine, Heinrich 171 Heinrich II., Kg. von England 124 Heinrich von Friemar 396–398 Heinrich von Langenstein 375 Heinrich von Morungen 335 heiße/kalte Gesellschaften 179 Hekaton von Rhodos 364 Helbling, Seifried 340 Heldenepik 12 Heloise 107 Herder, Johann Gottfried 169 Herdfall 407 Herrschaft (und Knechtschaft) 156–157, 420–429, 432, 442–443 Herrscherbegegnung s. Fürstentreffen Herrscherdarstellung 35 Heuchelei 377–402 Hieronymus 17, 155, 193, 204, 214. 384 Hinrichtungen 406 Historiographie 33–64 Hiob 40,13 386 histrio 218, 221 Hobbes, Thomas 421 Hochmut, Arroganz 23–24, 43, 129, 226, 230, 254, 380, 386,
389, 390, 397, 399, 401, s. auch Eitelkeit Hof, höfische Gesellschaft 32, 80, 98, 317, 319–321, 325–327, 329, 333, 338–361, 420–429, 432, 442–443 Höfische Literatur 317, 326 Hofkritik 317 Höflichkeit, s. Anstand Hofzeremoniell, s. Zeremoniell Homer 12 honestum et utile 18 honnête homme 38, 80 Honorius Augustodunensis 219 Horaz 20 Hosenbandorden 41 Hugo von St. Victor 18–20, 391 Hugo, Graf von Troyes 393 Hugolino von Ostia (Gregor IX.) 222, 224–225
I Idealtyp 431 Identität, Integrität 2, 31, 39, 49–51, 74–79, 87, 180, 185, 199–202, 248, 319, 323, 336, 391, 419–446, s. auch Individuum, Rolle ignorantia iuris/Normenunkenntnis xxiii, 3, 13–15, 35, 74, 107, 181, 254, 258–259 impair 3–5, 33, 98251–264 imprudentia xxiii, 7, 14, 33 Indiskretion 49, 71, 433, 440–443 Individualität, Individuum/Gesellschaft I, xiv–xxii, 2, 18, 51–53, 73–88, 106, 160, 169, 173–174, 183, 187–188, 190, 197, 234, 237, 241, 249, 253, 318, 325, 349, 352, 366, 374–379, 382, 389, 415 — Individualisierung Individualismus 17, 53, 82, 193–194, 242–244, 374, 379 Informalisierung xix, 75–76, 87–88, 425, 439–446 Innozenz III., Pp. 374, 394 Institution 2, 75, 81, 87, 105, 116, 148, 178–183, 186–187, 191, 193–194, 198, 201, 208, 214, 239–241, 391, 419–422, 428–440, 445 — totale Institution xv Intgegrität, s. Identität Intention, Intentionalität xvii, xxiii, 7, 10, 14–15, 18, 26, 33–37, 47–48, 66, 69–72, 74, 89, 104, 135, 153–154, 177–178,
462 (Intention forts.) 189, 197–202, 209, 216, 227, 231, 238, 257, 270, 273, 274, 277, 279, 282, 289, 296, 312, 364–365, 375, 378–382, 385–386, 394–395, 400, 401, 412, 427, 430, 435–436, vgl. auch Unabsichtlichkeit Intentionsethik xix, 10–12, 15, 66–67, 378–379, 420 Intentionshaftung/Tathaftung 10, 26, 197–198, 365, 417 Interaktionskompetenz xii–xxii, 74 Interiorität, Verinnerlichung 378–379, 382, 385, 390, 399 ioculator 216 Ironie 60, 353 Irrtum 7, 8, 12, 13–16, 55, 70, 257, 273, 300, s. auch error, hamartia Isidor von Sevilla 395 Ivo von Chartres 393 Iwein 323, 325
J Jenseits, das 370 Jesuiten 29, 80 Johann ohne Furcht von Burgund 124, 128–129, 132, 133 Johann von Stablo 115, 116 Johannes Cassianus 379, 386 Johannes Chrysostomos 384 Johannes Homo Dei 390 Johannes Parens, O.F.M. 210, 233 Joinville, Jean de 37–43, 47, 51, 53, 66, 80 Jordan von Giano, O.F.M. 211, 224, 232 Juden 409 Jugendsünde 15 Jungfrau 406 Juniper, O.F.M. 203, 227, 230–231, 233 Juvénal des Ursins 130
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
Karl VI. von Frankreich 122 Kaufmann, Handel 59, 63, 76, 204, 294 Kaufringer 269, 281, 282, 284, 299, 300, 304 Keie (Keu, Keiî), Seneschall 188, 343–361, 427 Kirche 65, 429, 431, 435 Klatsch 22, 23, 37, 433, s. auch Gerede Kleidung 39, 69, 252, 255, 435, 443, s. auch Nacktheit Knebel, Johann 125 Knigge, Adolf Freiherr von xix, 28, 32, 244 Kollektivscham xviii Kollektivschuld 168 Kollokationen (linguist.) 99–105 Köln 406 Komik s. Lächerlichkeit Kommunikative Gattung 73 Komplexität 51, 443 Konflikt, Konfliktvermeidung 39, 67, 69, 343–361, 427 Konrad von Gelnhausen 374 Konrad von Würzburg 342 Konstitutionen von Melfi 406 Kontingenz 7–16, 70, 74, 79, 180, 183–184, 289–293, 433–436 Konvention xx, xiv, 34, 439–440, 444, 446 Konzentration 237, 247, 248, 250 Körper (Symbolik, Kontrolle) xiv–xvi, xix–xxi, 10, 18, 20, 68, 73–75, 82, 86–88, 151, 158–164, 190, 202, 209, 211, 222, 239, 242, 278, 281, 360, 410, 412, 421–422, 424, 426, 432, 434, 443, s. auch Nacktheit Körperdefekt xiv Korruption 149 Kreuzigung 410 Krönung, Krönungsritual 111, 140, 431 Kunstfehler, Schnitzer xxiv, 4, 6–7, 18–19, 26 Künstler 164, 218, 243
K L Kaiser Sigismunds Buch 113, 116 Kant, Immanuel 168, 384, 430 Karl der Kühne von Burgund 44–51, 54, 124, 126, 135, 140 Karl IV., Ks. 117 Karl V. von Frankreich 375
La Bruyère, Jean de 79, 81, 200 La Rochefoucauld, François de xxiii Labilität 389, 395 Lachen, Gelächter 344, 347, 355, 357, 359, 427
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe Lächerlichkeit xvii, xviii, xxiii, 5, 19, 23, 35, 270, 274, 279, 343, 420–422, 426–427 Laien 394 Lampenfieber xvii, 18, 74 Lapsus, lapsus xxiii, 4–7, 13, 15, 98–100, 105, 153, 265–266, 416, 420, 435 Lasterlehre s. Tugend– und Lasterlehre Lastertarnung 377–402 Latenzschutz 181, 196, 198 Lebensklugheit 287, 291, 296, 429 Lehensverleihung 115 Leib s. Körper Leichtsinn, légèreté 17, 21, 25, 29, 48, 59, 110, 153, 254–257, 437 Leopold VI., Hg. von Österreich 406 Leutseligkeit 42 levitas 228 Lichtenberg, G. Chr. 235, 242 Liebe, Liebesverhältnis xxii, 6, 26, 68, 75, 78, 86, 107–108, 199, 267, 284–303, 331, 335, 360, s. auch Minne, Sexualität List 59, 63–64, 69, 76, 84, 281–282, 310–311, 395 logismoi 378, 380 Ludwig VII. von Frankreich 28 Ludwig IX. d. Hl. 37–43, 407 Ludwig XI. von Frankreich 45, 53–65, 121, 126, 134–135, 138 Ludwig von Heidelberg 113 Ludwig von Luxemburg 137 Lüge xviii, xxi, 4, 23, 29, 41, 63, 158, 198–199 Luther, Martin 159, 168 Lüttich 135 Luxus 382, 383
M Machiavelli, Nicolò 54–55, 150 Macht 27–28, 41, 111–112, 140, 147, 156–157, 188, 277, 345–348, 357, 376, 414, 424, 427, 433, 446 Mädchenerziehung 251–263 Majestätsbeleidigung 408 Männer, Männlichkeit xviii, 47, 241–242, 282, 286, 296, 307, 334, 389, 401, 405, 414, 417, 427, 437–438 Marbod von Rennes 231 Maria, Hl. 404
463 Märchen 325 Mären 265–316, 436 Markt 84 Martin von Braga 18 Maskierung 390 Maß, Mäßigung 343, 384 Maximilian I. Ks. 118, 125, 135 mediocritas (aurea) 384 Meditation 239, 247, 381, 386 Mehrdeutigkeit, s. Ambiguität, Begriffsdifferenzierung Meier Helmbrecht 340 Meinung, öffentliche 35, 128, 228–231, 412, 416, s. auch Gerede Ménagier de Paris, Le 296–298 Menschenbild xx–xxii, 290 Menschennatur 7, 15, 289–293 Menschenwürde 85 meschief 46 mesfaist, meffait 25, 46 mespas 27 Metz 394 Mikroverletzung 419–446, s. auch Minimalverfehlung Milton, John 167 Minimalverfehlung 317, 326, 342, 421, 425, 428, s. auch Geringfügigkeit Minne 357, 360 Minnelyrik 335 Mißverständnis 26, 34, 46 Mittelalter – Moderne s. Epochenvergleich Molière 5–6, 428 Mönchtum xx–xxi, 18, 21, 39, 41, 66, 160, 174, 203–234, 247, 372–374, 378–381, 386, 389–390 Monstrelet, Enguerran de 110, 129, 130, 133 Montaigne, Michel de 31–33, 54, 77 Montereau 133, 134 Moral 265, 268, 275, 285, 290, 291, 292, 293, 295, 297, 298, 300, 309, 314, 378–379, 402, 420, 429, 433, 435, s. auch Ethik – Alltagsmoral 295, 311, 315 – Amoral 311, s. auch Adiaphora Moraltheologie 377–402 Moralities 401 Mülich, Hektor 148 munus 104 Murner, Thomas 410
464 N Nachlässigkeit, negligentia xxiii–xxiv, 14, 42–43, 275, 277, 321 Nachsicht 270, 271, 274, 277, 278, 279, 280, 282, 283, 285, 290, 291, 292, 294, 296, 297, 298, 300–305, 310, 312, 313, 428–429, 435–436 Nacktheit 25, 32, 203, 280, 422, 434–435, 439 Narr Gottes 212–214, 221–223, 226, 231–233, 439 Natur xvii, xxii Naturrecht 364, 369 Nawer, Martin 113 Neid 386, 387, 398 Neidhart 326–328, 329, 330, 331, 333, 335, 336, 337, 339, 340, 341, 342, 424 Newton, Isaac 235 Nibelungenlied 320, 323 Nietzsche, Friedrich 441, 446 Nogarola, Isotta 151, 154 Norm, Normativität 252, 270, 280, 291, 292, 295, 297, 298, 299, 309, 385, 415, 424–430, 434, 435– 438, 442–444 Normalität 17, 438 Normverstoß 272, 274, 280, 290, 311 Novelle 39, 49, 310, 314 Nürnberg 113, 406 Nützlichkeit 285, 299
O Obrigkeit 403 Odo, Abt von Cluny 392 öffentlich/privat 18, 30, 45, 50, 62, 64, 69, 71, 75–83, 86–87, 181, 188, 192, 201, 228, 253, 257, 378–382, 388, 391, 394–401, 388, 391, 398 Öffentlichkeit 71, 86, 184, 272, 278, 289, 290, 307, 308, 381, 386–388, 390–392, 396, 432s. auch Meinung Opfer (des Fehltritts) 186, 198–199, 284–288, 423, 427, 436–437 Ordnung/Ordnungsstörung xii–xxii, 2, 10, 43, 52, 54, 66, 69, 71, 76, 86–89, 111–117, 123, 137, 140, 143, 149, 155–161, 184, 188, 195–196, 210, 225, 312, 321–330, 334–341, 345, 370–372, 382, 418, 419–443, s. auch Hof, Rangordnung
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
Oswald von Tierstein 133 Ovid 7, 15
P Parzival 12, 323, 325, 355–361 Pascal, Blaise 77 Paulus 166, 369, 375 peccatum, peccare 7, 13, 26, 98, 101, 319, 435 peccatum originale 331 peccatum veniale 13 pechier 25 Peinlichkeit xv, xvii, xxiv, 1–7, 14, 22, 27, 38–41, 62–89, 97–98, 154, 158, 177–179, 195, 200, 206, 224–227, 273, 275–276, 279, 307, 318–322, 339, 343, 415, 418, 428–429 Péronne 135 Person s. Individualität Personifikation 383 Perspektivität 268, 274, 313 Petrarca 245 Petrus Abaelardus s. Abaelard Petrus Damiani 392 Philipp August 124 Philipp der Gute 28, 43–49, 54 Philipp von Savoyen 144 Pico della Mirandola 163 Picquigny 127 Platon 366 pluralis maiestatis 22–24 Plutarch 36 Polysemie s. Ambiguität, Begriffsdifferenzierung Pragmatische, das 287, 290, 291, 292, 298, 305, 313 Praktik 63 Privatsphäre 76, 82, 87, s. auch öffentlich/ privat Proba 382 Profanierung 414 Proust, Marcel 72 Providenz 325, 326, 409 Provokation xxiii, 204, 233, 269, 273, 274, 275, 278, 279, 288–289, 294, 343–361, 403–418, 437 Prozession 139 prud’homme, prudhomie 38, 67, 80 Prudentius 383, 385, 391 Ps.-Konrad von Würzburg 269, 308, 309
465
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe Psychologie 385, 387, 397, 399, 402 pudor/pudicitia 21–3, 101, 103–104 pudeur 47, 65 Puritaner 192, 194
Q Quintilian, M. Fabius 245
R Rache 185, 186, 187, 188, 269, 273, 274, 277, 280, 282, 284, 301, 302, 303, 305, 306, 349–356, 359 Rangordnung 69, 78, 87, 327 Rangstreit xviii, 39 Ratgeber 55, 56, 149, 412 Ratswahl 111 Recht 341, 363–376, 420, 428–429, 434–436, 440 Rechtsbruch 327, 328, 330, 331, 337 Rechtsbuch des Bruders Berthold 412 Reflexivität 259–264 Reformation 404, 433 Regel und Ausnahme xiii, xiv, 139–150, 372, 429–430 Regula Benedicti 390 Reichsinsignien 113 Reichskleinodien 120 Reinmar von Zweter 328 Religieux de Saint-Denys, Le 110, 122, 129 Repräsentation 139, 442 Retz, Cardinal de 181 reverentia 85 Reuchlin, Johannes 133 Reziprozität 49 Rhetorik xxi, 18, 22–23, 33–34, 318, 363 Richard II. von England 122 risibilitas 23 Risiko 74, 78, 253, 424 Riten xiv Rittertum 48, 59 Ritual, Riten xiii, xxii, 37, 51, 64, 69, 111, 112, 115, 119, 122, 132, 133, 135, 136, 138, 140, 343–361, 407, 421, 425–427, 430–435, 439–440, 446 Ritualisierung xiv, 430 Rivalität 347–355 Robert von Arbrissel 231 Robert von Sorbonne 37–45
Roland, Rolandslied 12 Rolle xvi–xxi, 4, 11, 31, 39, 49–52, 69–79, 86, 111, 119–120, 133–138, 178, 233–239, 308, 334, 344–351, 421–422, 430, s. auch Bühne Rollendistanz 31, 76 Rollensegregation 75 Roman 12 Routine xiv, 73 Rufinus, , O.F.M. 208, 229, 374 ›run away‹–Effekt, Eigendynamik xvii, 49–50 rusticitas 22, 42, 228
S Sabbat 375 Sainte-Beuve, Ch. A. 53 Saint-Pol, connétable de 137 Säkularisierung 15, 29, 248–249, 368, 378, 435–439 Salimbene (de Adam) von Parma 24, 220, 228 Sanktion s. Strafe Sapir-Whorf-Hypothese 3 Satire 20 scandalum 14, 99–101 scelus 8–9 Schadenfreude 23, 39–40, 71, 354, 357, 360 Scham, Schamgefühl xvi–xviii, 3, 5, 20, 46–47, 65–66, 101–107, 151–154, 158–159,167, 211, 308, 339, 378–381, 386, 391, 421–422, 43–435, s. auch Erröten Scham– und Schuldkultur xix, 2, 11–12, 59, 66, 78, 101–102, 158, 365–366, 423, 443 Schamlosigkeit 65, 107, 390 Schande 11, 22, 57, 88, 274, 276, 277, 278, 279, 280, 284, 287, 291, 294, 295, 296, 297, 306, 354, 425 Schandstrafen 407 Scheinheiligkeit s. Heuchelei Scherz 16, 60, 63, 68, 71, 79, 128, 188, 198–200, 215, 228–229, 306, 328, 336, 354–355 Schicksal 47, 56 Schizophrenie 199 Schmeichelei 34 Schüchternheit 74, 208 Schuld, Schuldgefühl 8, 10, 12, 25, 32, 89,99–105, 178, 181, 185, 186, 188,
466 (Schuld forts.) 190, 193, 196, 197, 200, 266, 274, 275, 279, 281, 282, 284, 286, 288, 290, 297, 301, 378, 382, 387, 426, 433, 435 s. auch Scham Schuldbekenntnis, s. Bekenntnis Schwank 39, 59, 265–316 Schwankmoral 287, 291 Schwarz, Ulrich 146, 148 Schweigen, Verschweigen 66. 69–70, 256, 284, 418, s. auch Übersehen Schwüre 40 Selbstauffassung 382 Selbstbloßstellung, s. Autostigmatisierung Selbstdarstellung 235, 236, 238, 240–242, 246, 249, 440, 442 Selbstenthüllung 191–192, 250, 422 Selbsterniedrigung 72, 203–234, 280 Selbstinszenierung 59, 207, 210, 214, 224, 239, 242–245, 405, 414 Selbstkontrolle 192–194, 318, 328, 379–380, 424, 434, 443 Semantik 1–33, 97–108, 266 , 419–446, s. auch Begriffsgeschichte – distributive S. 99 –108 Umsemantisierung 98 sens 55 Sexualität xvii, 107–108, 160, 182–183, 209, 254, 267, 287–288, 299–309, 328–330, 334, 336, 338, 341, 433 Sichtbarkeit, Visibilität 432–433, 439–446 Simmel, Georg 43, 68, 84, 87 Situation 419–429, 432, 437, 444 simplicitas, simplesse 2, 25, 214 simulatio/dissimulatio xix, 81, 318, s. auch Lüge Skandal xviii, xxii, xxiv, 14, 32, 77–78, 110, 182, 203, 212, 224–225, 228, 230–233, 256–257, 378, 383, 385, 395–396, 401, 426, 438–439 Smith, Adam 423 Sombart, Werner 442 Sozialkontrolle, Disziplinierung xvii, xix, 40, 75, 81, 180, 280, 285, 311, 411, 415–416, 421, 423, 429, 443 Spannung, Widerspruch 420, 428, 432–436, 440 Sparsamkeit 383 Spengler, Oswald 442 sphalma 7 Spiegel 330, 334–335 339 Spiel 140–141, 198–200, 217–218, 301, 343–354
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
Spolienrecht 114, 117–118 Spott 344–347, 350, 354 Sprachgewohnheit 34–35, 86–87, 98–105, 414, 441 Sprachgeschichte 1–34, 99, 240, 253–254, 441, s. auch Begriffsgeschichte, Diskurs, Semantik Sprachzucht 416, 425, 441, 445 Sprachverfall 441 Sprechakt 50, 411–418 sprezzatura 42, 321 Sprichwort 396 Staat 188, 345, 346, 427–428, 442 Stadtrechnungen 144 Stand, ständisch 327, 425, 428, 438, 440 s. auch Rangordnung, Distinktion Strafe, Sanktion für Fehltritte xviii, 74, 78, 178, 184, 188, 191, 195, 196, 201, 270, 271, 273, 275, 281, 282, 283, 284–287, 292, 294, 298, 304, 311, 317, 321, 323, 326, 331, 337, 419, 424–425, 428, 435–437 Straßburg 407 stratifikatorische Gesellschaft s. Stand Stricker 270, 272, 277, 291, 292 Sünde xv, xxiii, 10, 12, 13, 23, 189, 190, 197, 233, 320, 339, 368–369, 375, 386, 432, 435–436 – läßliche S./Todsünde 14, 399–400, 436 Sündenbock 346, 351, 356, 360, 427 Sündenfall 7, 11, 13, 15–17, 26, 89, 105, 151–176, 266 s. auch Adam Supererogatorische Werke 369, 428 Symeon von Emesa 213 synderesis 30 Synonymie 2–6, 32
T Tabu xviii, xxiii, 9, 11, 41, 79, 189–190, 328, 345, 428 Takt xix, xxii,4–5, 39, 41–42, 46, 65, 68, 74, 80–81, 87–88, 177–178, 198–201, 423–429 Talion 365, 367 Tanz 5–6, 28, 41, 113, 278, 327–339, 425, 439 Tarde, Gabriel 81, 87, 428 Tathaftung s. Intentionshaftung Täuschung 63 Taxonomie 378, 436
467
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe Teufel 386, 393, 406 Thales von Milet 238 Thomas von Aquin 22, 85–86, 157, 372, 374, 395, 411 Thomas von Celano 204, 206, 216, 222 Thomas von Chobham 221 Thomas von Eccleston 210, 232 Tischzucht 322 Tod, Sterben xxi, 159–160, 168–174, 206, 420, 425, 434 Todsünde s. Sünde Toleranz xviii, 15–16, 67, 79–80, 174–175, 188, 200, 419, 435 Tönnies, Ferdinand 82 Torheit 32, 203, s. auch Wahnsinn Totschlag 417 Tragödie 8, s. auch hamartia Tradition/Innovation 68, 73, 76–77,143,144, 149, 174, 212–233, 249, 252, 261, 335, 340, 366, 408–, 424, 431, 438, 446 Tradition/Überrest 36, 108–109, 142 Tränen 46 transgressio 12, 16–17, 106 Transparenz 87 Treue 65 triuwe 322, 323 Troeltsch, Ernst 173 Trunkenheit s. Alkohol Tugend– und Lasterlehre 13, 377, 382, 392, 397, 437 turpia, turpitudo 13, 21–22, 102
U Übersehen xviii, 65, 70, 200, 419–420, 424, 428, 433, s. auch Nachsicht Ulrich von Liechtenstein 341 Ulrich von Zatzikoven 320, 326, 335 Unabsichtlichkeit XIV, XVIII, 1, 4, 7, 9, 11, 13–15, 18–19, 30, 33–35, 47–50, 66, 69–72, 82, 89, 97, 135, 153–154, 177–179, 190, 195–202, 230, 238, 245–246, 270, 272–283, 289, 312, 320–321, 336, 378, 387–388, 400–401, 410, 415–417, 426, 433, vgl. auch Intention Unfreiheit 157 Unglück 10 Unterwerfungsritual 49–50 Unvollkommenheit 299, 312
Unwissen 106, 435, 437 Unzucht 256 Utopie 304
V Valerius Maximus 243 Vasari, Giorgio 243 Verantwortung 11, 251–264, 273, 282, 285, 289 Verblendung 9, 11, 56, 79, 138 Verbrechen 178, 180, 318, 320, 322, 336, 337, 339, 341 verecundia 101 Verfehlung 322–323, 326, 330, 425, 433, 436 Vergehen, Verbrechen 6, 8–11, 28, 53, 154–155, 204, 216, 266–271, 277, 290, 296–297, 312, 326, 330, 341, 378, 380, 387, 395–396, 405–411, 416–417, 425, 428, 433, 436 Vergeltung 65, 429 Vergessen, Vergeßlichkeit 11, 58–59, 70, 135, 235–250, 273, 322 Verhaltendsidaktik , s. Anstandslehre Verhaltenscodex 317, 341, s. auch Etikette Verhältnismäßigkeit (von Fehltritt und Sanktion) xviii, 17, 28–29, 48–49, 77, 107, 154, 317–342, 375, 408 , 420, 435, s. auch Geringfügigkeit Verinnerlichung s. Interiorität Verlegenheit, embarras xv, xvii, 5, 39, 59, 70, 88, 154 Verpflichtung 372, 430 Verrat 45, 54, 57–58, 64–65, 129, 138, 304, 317, 323 Verschwörung 149 Versehen 3–11, 89, 198, 231, 253, 277 Versöhnung 269, 271, 273, 275, 277, 280, 287, 305 Versuchung 389 Vertrauen/Mißtrauen xviii–xix, 28, 32, 52, 57–59, 63–64, 132, 140, 177, 191, 300, 312, 397 vices 28, 55 vilénie 42 virgo/virginitas 104 virtus 19 vitia carnalia/vitia spiritualia 387 vitium 18–19 Völlerei 380
468 Vorderbühne/Hinterbühne 86 Vorsätzlichkeit s. Intention Vorsicht/Unvorsichtigkeit 59, 63, 127, 251–264, s. auch Fahrlässigkeit Vortrittsrecht 68, 88, s. auch Rangstreit vreude 338
W Wahnsinn, Verrücktheit xv–xvi, 25, 48, 79, 107, 203, 208, 211, 214, 222–223, 232, 324, 349 Waldenser 394 Walther von der Vogelweide 332 Weber, Max 11, 194–196, 440 Wien 406 Windeck, Eberhard 113 Wilhelm von Moerbeke 26 Willehalm 328 Willkür 373 Wolfram von Eschenbach 324, 328, 355–361, 427 Wollust 380, 437 Worms 115, 118 Wunden Gottes 403
Z Zeichensprache 140 Zeit, Zeitpunkt 431 Zentralgewalt 185 Zentralinstanz 180, 183, 187–188, 201, 428, 433, 442, 446 Zeremoniell xiv, 42, 59, 71, 110, 112, 116–117, 120, 139–143, 147–149, 188, 375–376, 423–438, 440, s. auch Ritual Zerstreutheit 235–250, 438 – distractio 247 Zisterzienser 393 Zivilisationsprozeß 284, 345, 416, 423, 428, 437 Zorn 19, 43–52, 54, 70,79, 158, 201, 284–287, 292, 380, 386, 389, 398–399, 401, 403, 412–413 Zufall 58 Zungensünde 253–263, 403–418 Zurechnung xxii Zwang 196 Zweideutigkeit, s. Ambiguität
Personen (bis ca. 1900), Sachen, Begriffe
Das Mittelalter erscheint uns als hohe Zeit ritualisierter Eine Rückseitedieser- oft ständischreSozialbeziehungen. gulierten - Verhaltensfixierungenist der "Fehltritt" (faux pas),eineVerletzungvon Rollenerwartungen,durch welche Anwendungsfehler institutionell geregelter Vorschriften sichtbar werden. IJnkenntnis,Kontrollverlusteüber den eigenen Körper, Zufälle und Fehlinterpretationender ,'Szenerie