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German Pages 192 Year 2019
Unsagbarkeit – Sprachen der Liebe in der Literatur der Vormoderne
Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 59
Unsagbarkeit – Sprachen der Liebe in der Literatur der Vormoderne Herausgegeben von Lea Braun und Felix Florian Müller
Dieser Band wurde gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.
ISBN 978-3-11-062394-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062892-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062701-5 ISSN 1864-5208
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer – SEQUENZ Cover design: Martin Zech, Bremen Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Lea Braun und Felix Florian Müller Sprachlose Liebe. Dimensionen der Unsagbarkeit von Intimität und ihre 1 Transformation Johanna Langer und Christoph Schanze Von der Unverfügbarkeit passionierter Liebe. Dido in der mittelalterlichen Lyrik 15 Matthias Standke Transformationen des Unsagbaren. Semantiken der Intimität in lateinischen und 47 volkssprachlichen Ordensgründerlegenden Antje Sablotny Die Minne Parzivals und Condwiramurs’. (Nicht-)Erzählen von Exklusivität und Intimität 63 Iulia-Emilia Dorobanţu Verstummen verlernen? Wege aus der Unsagbarkeit in der Minnerede
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Katharina Tugend Die Entgrenzung des Sagbaren in einer spätmittelalterlichen Ehe am Beispiel der 101 Datini-Briefe Laura Gemsemer All’acqua all’acqua, ché il foco s’accende! Versprachlichung von Liebe, Begehren und Koitus in Boccaccios Ninfale fiesolano 119 Christiane Hansen Sprachen des Unverfügbaren: Liebe zwischen Bewunderung, Verehrung und 143 Faszination im englischen heroic play Katharina Petra Wimmer Die eitle Liebe zum Ich. Unsagbarkeit in der Narziss-Episode bei Jörg Wickram 161 Register
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Sprachlose Liebe. Dimensionen der Unsagbarkeit von Intimität und ihre Transformation Auf den ersten Blick mag es paradox wirken, das Phänomen der Unsagbarkeit in Texten, also Sprachgebilden zu untersuchen, impliziert der Begriff un-sagbar doch selbst schon eine Verneinung der Versprachlichbarkeit. Das Sprechen oder Schreiben darüber scheint so stets in Gefahr, seinen Gegenstand entweder zu verfehlen oder aufzulösen. Diese paradoxale Struktur erweist sich jedoch als besonders fruchtbar gerade für das Sprechen über Liebe und Intimität – die Darstellung eines Momentes höchster Intimität, der unverfügbar und damit unsagbar bleibt und sich nur den Liebenden erschließt, gehört zum Standardrepertoire des Sprechens über Liebe. In literarischen Texten fungiert dieses Unsagbare oft geradezu als Motor des Sprechens; der nichtsprachlich bleibende Kern wird konturiert, markiert, dient zum Ausgangspunkt für nichteigentliches Sprechen, für amplificatio und melismatische Figuren. Solche literarischen Phänomene finden sich von Antike bis Neuzeit. Sie reflektieren neben rhetorischen und erzählerischen Traditionen auch kulturelle Wandlungsprozesse des Sprechens über die Liebe, denn was sagbar und was unsagbar ist, gestaltet sich stets historisch und kulturell spezifisch. Insofern lassen sich insbesondere an antiken Stoffen, Erzählkernen oder Motiven mit ihrer langen Geschichte des Wiedererzählens¹ die Transformationen des Sprechens über Liebe besonders fruchtbar untersuchen. Solche Wandlungen im Prozess des Wiedererzählens standen im Zentrum des Erkenntnisinteresses des SFB 644 Transformationen der Antike, aus dessen Teilprojekt B16² die diesem Sammelband zugrundeliegende Tagung hervorgegangen ist. Die im SFB 644 entwickelte Transformationstheorie³ erfasst transformatorische Operationen und Prozesse und untersucht sie in ihren Auswirkungen für Referenzobjekt und Aufnahmebereich. Sie versteht sich als „generalisierbares Modell für die Erforschung historischen Wandels“⁴ und stellt somit ein Instrumentarium bereit, mit dem prozessorientiert die Dynamik von Transformationsprozessen in ihren jeweiligen historischen Spezifika herausgearbeitet werden kann. Referenz- und Aufnahmebereich stehen in einem produktiven Wechselverhältnis der gegenseitigen Erzeugung, für den der SFB den Begriff ‚Allelopoiese‘ geprägt hat: Vgl. Worstbrock (1999). Unter dem Arbeitstitel Intimität im Wandel. Liebe, Freundschaft und Sexualität in antiken Epen und erzählenden Antikendichtungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wurden die Darstellungen von Intimität in den Troja- und Eneaserzählungen von Antike bis Früher Neuzeit untersucht. Vgl. Böhme (2011). Darin insbesondere Bergemann (2011). Böhme (2011) 8 https://doi.org/10.1515/9783110628920-001
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Transformationen sind dabei performative Akte von Beobachtern, die ihre Konstruktionen von Objekten kommunizieren. Im Effekt entstehen dabei zugleich eine Antike und eine kulturelle Identität, welche sich in Referenz auf eben diese Antike konstituiert.⁵
Die von Mitarbeitern des SfB entwickelte Typologie möglicher Transformationstpyen,⁶ die sich explizit als nicht abgeschlossenes heuristisches Angebot versteht, fasst dabei so unterschiedliche Operationen wie Appropriation, Einkapselung, Hybridisierung, Ignoranz oder kreative Zerstörung. Sie ermöglicht, bei der Untersuchung von Unsagbarkeitsphänomenen sowohl langwellige diachrone Prozesse als auch synchrone Transformationen, wie sie beispielsweise bei Gattungswechseln auftreten, in den Blick zu nehmen. Wandlungsprozesse der historischen Semantik können ebenso fokussiert werden wie die Transformationen in einzelnen Texten. Dies ermöglicht eine neue Perspektivierung auch des Phänomens der Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit von Kommunikationsphänomenen.⁷ Etwas unsagbar zu machen bedeutet häufig auch, den jeweiligen historischen Zugriff auf Phänomene der Intimität zu ontologisieren und damit zu enthistorisieren, denn was nicht sprachlich gefasst werden kann, ist dem Wandel der Redeordnungen entzogen. Transformationstheoretisch beschrieben erzeugen diese Operationen einen Effekt der Überzeitlichkeit gerade dadurch, dass der historische Referenzbereich je neu und dem eigenen Weltbild entsprechend erzeugt wird. Inszenierungen von Intimität als unmittelbarem und dem Moment der zwischenmenschlichen Begegnung einzigartigen Phänomen erweisen sich aus dieser Perspektive umso eindeutiger als Ergebnisse kultureller Wandlungsprozesse. Ziel des Teilprojektes B16 war es, im institutionellen und methodischen Rahmen des SFBs und in kritischer Auseinandersetzung mit den Arbeiten Niklas Luhmanns diese kulturellen Wandlungen in Bezug auf die Darstellung von Intimität zu untersuchen. Im Folgenden sollen zunächst diese Überlegungen, die auch als theoretisches Konzept in Beiträge dieses Sammelbandes eingeflossen sind, reflektiert werden, bevor mit den Begriffen der Überhöhung und Tabuisierung die Konturen des komplexen Phänomens Unsagbarkeit umrissen werden. Zum Abschluss werden die einzelnen Beiträge vorgestellt.
I Luhmanns Intimitätskonzept Niklas Luhmann ordnet Intimität als Untereinheit der Gesellschaft ein. Intimität entsteht für ihn als eine logische Notwendigkeit aus dem menschlichen Zusammenleben. Soziale Systeme unterscheiden sich im Grad, in dem das Individuum in sozialen Beziehungen berücksichtigt werden kann. Während gesellschaftliche Teilsysteme wie die Wirtschaft nur bedingt individuelle Merkmale in der Kommunikation berück-
Ebd., 15 Bergemann: Transformation, 47 ff. Vgl. zum Begriff der Unverfügbarkeit die Beiträge im Sammelband Kasten (2012).
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sichtigen, ist für Intimsysteme wie Liebesbeziehungen oder in der Familie das Individuum in all seinen Facetten relevant. Da Luhmann grundlegend davon ausgeht, dass „[d]as personale Moment in sozialen Beziehungen […] nicht extensiviert, sondern nur intensiviert werden“⁸ kann, ist es naheliegend, dass Intimbeziehungen diesen Aspekt der Kommunikation immer weiter verstärken. Darin liegt auch die Schwierigkeit intimer Kommunikation im Vergleich zur Kommunikation in anderen Teilsystemen: Potenziell muss jede Eigenschaft und der Horizont des Gegenübers berücksichtigt und mit dem eigenen Standpunkt verbunden werden, um dem intimen Kommunikationspartner gerecht zu werden. Dies bezeichnet Luhmann als „zwischenmenschliche Interpenetration“.⁹ Er formuliert, dass die Interpenetration nicht als eine Spiegelung von Eigenschaften in zwei Systemen zu verstehen ist, sondern als ein gegenseitiges Teilhabenlassen an den bereits entwickelten Strukturen der Weltsicht des Anderen.¹⁰ Der Vorteil des Mechanismus liegt also auf der Hand: Durch eine solche Intensivierung einer Beziehung entsteht die Möglichkeit einer Komplexitätssteigerung des eigenen psychischen Systems unter dem Einfluss eines anderen. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten, das Erleben und Handeln einer komplexen Umwelt anzupassen und so immer neue Anschlüsse für weitere Kommunikation zu schaffen. Doch das bedeutet nicht, dass ein Individuum sein Innerstes nach außen kehrt. Vielmehr ist es auf Möglichkeiten angewiesen, dem Gegenüber eine Ahnung davon zu vermitteln, was es fühlt. Diese Mittel bezeichnet Luhmann als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Sie sind keineswegs selbstverständliche oder gar natürliche Gegebenheiten, vielmehr sind sie das Ergebnis einer Vielzahl von Kommunikationsprozessen, die zu einer Selektion und Evolution der Kommunikationsmittel führen. Denn, so Luhmann, „[d]ie Kommunikation registriert einen Erfolg und wird ihn, wenn die Wiederholung hinreichend naheliegt, erinnern.“¹¹ Sie stellen also ein Repertoire an Ausdrucksformen zur Verfügung, die aufgrund sich einmal bewährter Akte erneut erfolgreich verwendet werden können. Ihre Funktion ist es, durch eine Konzentration bestimmter Formen eine Kommunikation auch in relativ abstrakten Situationen erfolgreich zu gewährleisten. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien der Intimität sind Liebe und Freundschaft, wobei Luhmann nur auf die Liebe näher eingeht. Jedes Medium hat eine bestimmt Struktur: Der Code ist das Kernstück eines jeden Kommunikationsmediums. Er ist jedoch nur eine binäre Unterscheidung; ja oder nein von Liebe im Falle der Intimität. Diese Codes sind historisch invariant.¹² Die Varianz und letztlich der Motor der Evolution der Liebessemantik sind die Programme, die sich um den Code herum bilden. Als Programme fasst Luhmann solche Strukturen, die zum einen verdeutlichen, welches Kommunikati Luhmann (1994), 14. Ebd., 14. Luhmann (1993a), 161 f. Luhmann: (1998), 316 f. Vgl. ebd. 360 ff.
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onsmedium in der Kommunikation überhaupt Verwendung findet, und zum anderen zu der binären Entscheidung hinführen, die durch den Code vorgegeben ist.¹³ Dies führt bei Luhmann zu einem Problem: Luhmann unterscheidet zwischen einer homosozialen Form der Intimität, der Freundschaft, und einer heterosozialen Form, der Liebe. Er sieht beide Formen in einem Konkurrenzverhältnis, das dadurch entsteht, dass sich beide einen Code ‚teilen‘, aber unterschiedliche Programme ausbilden. Aus einem solchen Konkurrenzverhältnis entsteht die Notwendigkeit, ein Mehr an Kommunikation zu bieten als die jeweils andere Ausprägung. Im Fall der Intimität ist besonders der Einbezug von Körperlichkeit in die Kommunikation relevant, was als symbiotischer Mechanismus zu bezeichnen ist. Luhmann argumentiert, dass sich im historischen Prozess die Semantik der Liebe gegenüber der Freundschaft durchsetzt, da sie in der Lage ist auch Sexualität, jenseits rein reproduktiver Zwänge, einzuschließen und somit auf körperlichem Wege dieses Mehr an Kommunikation gewährleistet. Ein entsprechendes Pendant für die Freundschaft formuliert Luhmann indes nicht, was eine der nicht unerheblichen Lücken in Luhmanns Theorie in Bezug auf die Freundschaft darstellt.¹⁴ Kommunikationsmedien sind an konkrete problemspezifische Konstellationen gebunden und nicht, wie beispielsweise die Moral, allgemein verbindlich. Die Medien ermutigen zu ihrer Verwendung in einem großen Spektrum von Situationen, während sie individuellere Ausdrucksmöglichkeiten tendenziell erschweren. Hier nun kommt bei Luhmann die Unsagbarkeit ins Spiel, die er unter dem Begriff der Inkommunikabilität fasst. Doch dies meint nicht nur „Beschränkungen des sprachlichen Ausdrucksvermögens“.¹⁵ Vielmehr ist dies die Feststellung, dass zunehmend komplexe Kommunikationsmedien zwar ermöglichen, mit einer höheren Anschlusswahrscheinlichkeit zu kommunizieren, allerdings aufgrund ihrer spezifischen Komplexität nicht mehr in der Lage sind, das individuelle Erleben abzubilden. Ohne eine ausreichend differenzierte Semantik von Individualität scheint ein solches Phänomen jedoch nicht fassbar zu sein.¹⁶ Tatsächlich beschreibt Luhmann es erst für das 18. Jahrhundert und sieht in der Inkommunikabilität eine Grundlage für die romantische Liebe. Sie entstehe als eine Reaktion auf die in der Epoche üblichen Kommunikationsformen der Paradoxierung und des Zynismus, die zunehmend so empfunden
Vgl. ebd. Zuletzt hat Kraß (2016) herausgearbeitet, dass das Fehlen dieser Dimension der symbiotischen Mechanismen problematisch ist, und hat vorgeschlagen, dass die Freundschaft lediglich andere Formen körperlicher Interaktion wie beispielsweise den Kampf als einen solchen Mechanismus verwendet. Diese Interaktionsformen können durch metaphorische Einbindung eine ähnliche Qualität bekommen wie die Sexualität und wären demnach als mindestens gleichwertig zu betrachten. Luhmann (1994), 155. Luhmann entwickelt diesen Gedanken beispielsweise in Zusammenhang mit der Entwicklung einer modernen Semantik der Frömmigkeit, die auf ähnliche Mechanismen zurückgreift, und zeigt, dass jede Form der höchsten Individualität mit dem Problem der Inkommunikabilität konfrontiert ist. Vgl. Luhmann (1993b), 187 f. Vgl. hierzu auch Schulte Eickholt (2015).
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werden, dass sie ihren eigenen Gegenstand, die Liebe, zerstören. Statt Intimität zu äußern, findet eine Umlenkung nach innen statt: Es hebt auch die alte Unterscheidung von aufrichtiger und unaufrichtiger Liebe auf. An die Stelle tritt eine neuartige Differenz von bewußten und unbewußten Neigungen, Trieben, Zielen. […] Über die „wahren Motive“ ist keine gezielte Verständigung möglich; das dazu passende Körperverhalten wäre Ohnmacht.¹⁷
Zu differenzieren ist Unsagbarkeit von Phänomenen des Schweigens¹⁸ insofern, als erstere eine markierte Auslassung darstellt, die gleichwohl mit Rede gefüllt sein kann.¹⁹ Das Unsagbare wird erst zum Unsagbaren, indem es als solches bezeichnet, also sprachlich markiert wird, welche Form diese Markierung auch annehmen mag. Im Rahmen des Teilprojekts B16 wurde der Versuch unternommen, Luhmanns Theoriegebäude durch konkretere Überlegungen zu Phänomenen des historischen Wandels zu erweitern. Luhmanns historische Semantik der „Liebe als Passion“ sieht Wandlungen der Codierung von Intimität explizit vor. Die Evolution dieses Codes vollzieht sich im Rahmen der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die aufgrund der höheren Komplexität des Verhältnisses von psychischem System und Welt ein spezifisches Kommunikationsmedium für Belange des Individuums und der Umwelt entwickelt. Aus dieser Koppelung von gesellschaftlicher Entwicklung und dem generalisierten Kommunikationsmedium Liebe ergeben sich zwangsläufig, wie Luhmann es in seiner Studie vorführt, Programmwechsel. Das Sprechen über die Liebe und die Darstellung von Liebe sind eben nicht überzeitlich, sondern historisch je different ausgeprägt und funktionalisiert. Die Kombination mit der Transformationstheorie bietet eine neue Perspektive, um Luhmanns theoretischen Ansatz selbst als einen Prozess zu analysieren, in dem Luhmann als Agent transformatorischer Operationen tätig wird. Luhmanns Zugriff auf die historische Semantik der „Liebe als Passion“, spezifischer auf die Literaturen der Intimität, hat demnach ebenfalls transformatorischen Charakter. Indem er eine langwellige Transformationskette gemäß seiner historischen Semantik nachzeichnet, weist er im Sinne einer transformatorischen Selektion ausgewählten Texten spezifische Funktionsstellen zu, unter Ausblendung möglicher alternativer Referenzobjekte einerseits, weiterer denkbarer Lesarten dieser Texte und Gattungen andererseits. Die langwellige Transformationskette, die Luhmann so durch seine Zugriffe auf die Literaturgeschichte herstellt, erzeugt einerseits eine kohärente und dynamische histori-
Luhmann (1993b), 159 f. Vgl. hierzu: Sass (2013), Schnyder (2003), Roloff (1973), Ruberg (1978), Benthien (2006) Krusche (1996). Zu möglichen Verknüpfungen von Artikulation und Schweigen vgl. Beatrice Michaelis’ Arbeiten, die in ihrer Dissertation die von (Dis‐)Artikulationen erzeugten Schweigeeffekte als „Verschränkung von Artikulation und Nichtartikulation“ differenziert diskutiert (vgl. Michaelis [2011]).
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sche Semantik. Andererseits lässt sich im Hinblick auf die wechselseitige Erzeugung von Referenzobjekt und Aufnahmebereich zeigen, dass Luhmann durch die Operationen Selektion, Ignoranz und Umdeutung die Stimmenvielfalt der historischen Gattungen und Einzeltexte zugunsten ebendieser kohärenten Semantik ausschließt und damit seinen Gegenstand ebenso wie das, was ihm historisch vorausgeht und so ausgeschlossen wird, recht eigentlich erst erzeugt.
II Luhmann und die Vormoderne Um literaturhistorisch die Entwicklung der Semantik von Liebe und Unsagbarkeit vor allem für die Vormoderne herauszuarbeiten sind einige methodische Vorannahmen zu klären. Luhmann selbst erarbeitet das Gerüst zu einer historisch arbeitenden Soziologie,²⁰ und vor dieser Folie ist seine Theorie zunächst zu diskutieren. Eine differenzierte literaturwissenschaftliche Methodik oder gar eine schlüssige Darlegung seiner Quellenauswahl fehlen aber. So gibt er zum Beispiel an, dass er anhand von „zweit- und drittrangiger Literatur“²¹ argumentiert, geht jedoch nicht darauf ein, was dieses Korpus definiert, in sich schlüssig oder gar vergleichbar macht. Außerdem fehlen weitestgehend Überlegungen, die eine direkte Kopplung von Literatur und Gesellschaft erfassen.²² Ebenfalls problematisch ist, dass Luhmanns Theorie für das Mittelalter und weite Teile der Frühen Neuzeit zwar stratifikatorische Gesellschaften als theoretischen Ausgangspunkt annimmt, auf diese aber nur stark selektiv zugreift. So bleiben seine Überlegungen zur mittelalterlichen Liebe sehr schematisch und beschreiben fast nur die hohe Minne des Minnesangs, deren Funktionsweise er mit der Notwendigkeit erklärt, einem überpersönlichen, idealen Habitus zu entsprechen.²³ Ist in diesem Fall überhaupt so etwas wie Interpenetration im Sinne seiner vorherigen Definition möglich? Diese stark begrenzende Sichtweise findet sich in vielen Aspekten von Luhmanns Überlegungen zur stratifikatorischen Gesellschaft und die dadurch entstehenden Probleme sind ihm durchaus bewusst.²⁴ Dies muss bei jeder literarhistorischen Arbeit mit Luhmanns Ansatz berücksichtigt werden und drängt zu einer umfassenden Historisierung, die allerdings nicht allein von Luhmann ausgehend geleistet werden kann. Einen möglichen Ansatz bietet Walter Haug, der in seiner Studie über „Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neu-
Aus Sicht der Soziologie ist ein solcher Ansatz keineswegs unproblematisch, da sie als beschreibende Gesellschaftswissenschaft primär in der Gegenwart arbeitet und deshalb ihren methodischen Zugriff reflektieren muss. Vgl. hierzu Elias (1983). Luhmann (1994), 12. Vgl. hierzu Gebert (2012), Jannidis (2004), 16. Vgl. Luhmann (1994), 50 f. Vgl. hierzu die Auseinandersetzung zwischen Oexle (1991) und Luhmann (1991).
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zeit“²⁵ sieben Argumentationszusammenhänge bzw. Denk- und Darstellungstraditionen unterscheidet, „in denen das Problem des Erotischen diskutiert worden ist“.²⁶ Haugs Begriff der Erotik scheint dabei Ausdrucksformen zu fassen, die eine Beziehung, vornehmlich von Mann und Frau, in einen weiteren sinngebenden, bedeutungstragenden Zusammenhang stellen. Diese zunächst unscharfe Definition nimmt ein weites Spektrum von Diskursen in den Fokus, die zum Teil sehr unterschiedlichen Prämissen folgen. Haug unterscheidet: 1. den kirchlich-kanonistischen Diskurs 2. den medizinischen Diskurs 3. den feudalen Diskurs 4. den philosophisch-theologischen Diskurs 5. den höfisch-literarischen Diskurs 6. den burlesken literarischen Diskurs 7. den theoretisch-didaktischen Diskurs.²⁷
Versucht man diese Diskursdifferenzierung in Luhmanns Theoriesystem zu übertragen, stellt man recht schnell fest, dass sie nicht streng in den Grenzen der von Luhmann beschriebenen spezifischen gesellschaftlichen Teilsysteme (Politik, Wirtschaft, Intimität, etc.) verbleiben. Ein Großteil der nicht primär literarischen Diskurse bezieht seine Diskussionszusammenhänge aus dem System der Religion. Medizin, Philosophie und Theologie entwickeln ihre Argumente ausgehend von den klerikalen Vorstellungen von der hierarchischen Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Diskurse, die der Schöpfungsgeschichte folgen, gehen von einer streng hierarchischen Beziehung zwischen den Intimpartnern aus. Den nicht-dominanten Partnerinnen sind klare Grenzen auferlegt; sei es bei den Möglichkeiten, Einfluss auszuüben oder im Ausleben und Entdecken des Eros. Der intensiven Liebe wird eine anzustrebende Qualität zugesprochen, die einen Aufstieg zum Höchsten und Guten impliziert. Doch wie Haug herausstellt, ist gerade die mystisch-philosophische Tradition, die sich auf das Hohelied stützt, ein Motor für die Entwicklung einer neuen Grundkonstellation intimer Beziehungen, die beide Partner auf eine gleichwertige Stufe stellt. Wie Haugs Zusammenstellung zeigt, sind jedoch die Verschränkungen und Wechselwirkungen zwischen den Systemen Religion, Politik, Wissenschaft, Literatur und Pädagogik immens, da nicht von einer Ausdifferenzierung im Sinne der modernen Gesellschaft ausgegangen werden kann. So ist die Differenz zwischen (gelebter) Religion, Philosophie und Theologie mit wissenschaftlichem Anspruch und dem kanonischen Recht, also dem juridischen System, vielerorts eingeschränkt bis gar nicht auszumachen. Die Stimmen des klerikalen Diskurses agieren politisch, wenn sie von den feudalen Akteuren eine Ehe fordern, die auf Einvernehmen beruht. Die Di-
Haug (2004). Ebd., 15. Vgl. ebd., 16.
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daktik greift auf Argumente der Religion zurück, wenn sie Mäßigung der literarischidealisierten Liebe fordert. Doch gerade dieses komplexe Zusammenspiel schafft im Mittelalter, wie Haug betont, etwas völlig Neues im Vergleich zur Antike: Aber alle Vorläufer, Quellen oder motivlichen Anregungen erklären das Phänomen dieses literarischen Aufbruchs nicht. Denn die innovative Wende ist im Prinzip radikal, so daß man sagen darf, es beginne hier einmal etwas kulturgeschichtlich völlig Neues. Konkret: es handelt sich um die Geburtsstunde der modernen Liebesidee, der Idee der Erfüllung des Lebens in einer personal verstandenen erotischen Beziehung zwischen Mann und Frau.²⁸
III Unsagbarkeit – Überhöhung und Tabuisierung Die bereits zu Beginn diskutierte ubiquitäre Indienstnahme des „Unsagbaren“ in der Darstellung von Intimität, insbesondere der Liebe, lässt sich auf der Basis dieser Überlegungen differenzierter darstellen. Zu unterscheiden ist einerseits zwischen rhetorischen Strategien des Nicht-Sagens oder Anders-Sagens, andererseits zwischen den diskursiven Formationen, die bestimmte Modi der Intimität als unsagbar bestimmen. Selbstverständlich sind diese heuristischen Kategorien in Texten eng miteinander verwoben und kulturellen Wandlungsprozessen unterworfen. Unsagbarkeit erscheint hier als graduelles Phänomen, das sich zwischen zwei Extrempolen bewegt, die mehr oder weniger prominent in nahezu allen Diskursen anzutreffen sind: die Überhöhung als Strategie der Nobilitierung bis hin zum transzendental Unverfügbaren sowie die Tabuisierung. Vom Höchsten kann man nicht sprechen. Die (uneigentliche) Sprache des Unsagbaren hat lange Tradition in religiösen Systemen nicht nur des Mittelalters, verwiesen sei nur auf die spätantiken Mysterienkulte. Die mystische Tradition des christlichen Mittelalters zielt nach Ingrid Kasten explizit „auf die unmittelbare Kommunikation mit dem Inkommunikablen, auf die Vereinigung der Seele mit Gott in der unio mystica“.²⁹ Für diese nicht sprachlich vermittelbare Kommunikation werden Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt, die sich um Aussagen im Modus der Unbegrifflichkeit bemühen, eine Sprache des Unsagbaren also, die ihre Kommunikationsmöglichkeiten vor allem „in der Negation, aber auch in sprachlichen Figuren der Übersteigerung und des Widerspruchs“³⁰ sucht. Auch in nicht-religiösen Systemen wird ein solches Höchstes in parallelen Strukturen zum Gegenstand von Kommunikation über und mit dem Unsagbaren.³¹ So setzt die laikal-adlige Gesellschaft des Mittelalters mit dem Modell der höfischen Liebe ein Leitkonzept ins Zentrum des eigenen Selbstverständnisses, welches die erotische
Ebd., 33 f. Kasten (1999), 15. Vgl. auch Schulte Eickholt (2015), 7– 10. Kasten (1999), 17. Vgl. ebd., 23 ff.
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Liebe zwischen Mann und Frau in Analogie zu dieser Kommunikation mit dem inkommunikablen Göttlichen überhöht, transzendiert und damit absolut und unverfügbar macht. Der wichtigste textuelle Träger dieses neuen Modells ist die weltliche, spezifischer höfische Literatur, die antike und biblische/religiöse Topoi aufgreift,³² aber auch ein eigenes Beschreibungsinstrumentarium für das Unbeschreibbare entwickelt.³³ Dies geschieht in permanenten wechselseitigen Austausch- und Transformationsprozessen zwischen weltlichen und geistlichen Systemen, so dass beispielsweise biblische Motive zur Beschreibung der weltlichen Erotik und Intimität refunktionalisiert,³⁴ aber auch Maria selbst als Minnedame schlechthin inszeniert werden kann.³⁵ Unsagbar bleibt die ekstatische Liebe in ihren imaginierten wie vollzogenen Höhepunkten nicht zuletzt, weil sie ausschließlich personal-individuell erfahrbar, nicht jedoch vermittelbar ist. Das Erlebte transzendiert die Kommunikation.³⁶ Diese derart begründete Unverfügbarkeit wird häufig als eine Doppelbewegung des Verhüllens und gleichzeitigen Präsentierens inszeniert – es wird gesagt, dass etwas nicht gesagt werden kann. Die gesetzte Lücke wird damit markiert und ausgestellt, die Leerstelle wird sozusagen gerahmt durch Verweise auf ihre Unfüllbarkeit. Wie diese Markierungen gestaltet werden, ist abhängig von Gattungstraditionen und historisch spezifischen Konventionen und reicht von der hymnischen Hyperbolik des Minnesangs bis zum parodierenden Zitat von Unsagbarkeitstopoi im Märe, die sexualisierend aufgeladen werden und damit die Obszönität, die der Topos umschiffen sollte, umso ostentativer vorführen. Diese Sprachen des Unsagbaren oszillieren zwischen rhetorischen Traditionen und intertextueller Verweisstruktur einerseits, andererseits Versuchen, dieses Unfassbare neu zu fassen und in der Innovation das Inkommunikable neu erfahrbar, anders lesbar zu machen. Dieses Spiel zwischen Wiederholung, Variation und Innovation reagiert auf den Redebedarf der Deutung, den das Unsagbare produziert. Ein solcher Deutungsprozess kann jedoch nicht abschließbar sein, denn das Unverfügbare zu fassen hieße, es seines numinosen Status’ zu entkleiden. So führen die Versuche einer Versprachlichung des Unsagbaren entweder in die Eskalation der Hyperbolik, in die Aporie, oder aber in die poetologische Reflexion, die das Scheitern einer sprachlichen Fassung des Phänomens zum Anlass macht, über Sprache und Zeichenfunktion selbst nachzudenken. Das Tabu ist in seiner Grundbedeutung die Essenz des Unsagbaren. Als ‚heilige Scheu‘ steckt das Tabu Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ab, die nicht gesagt,
Vgl. Ohly (1983). Für den Minnesang vgl. Bleumer (2010). Vgl. Schultz (2006). Vgl. Tervooren (2000). Diese Charakteristika entsprechen zwei der von William James entwickelten Kategorien mystischer Erfahrung, die er mit den Begriffen der „ineffability“ und „noetic quality“ bezeichnet (vgl. James [1963], 280 f.). Vgl. auch Krusche (1996).
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nicht getan, eigentlich nicht gedacht werden dürfen. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Tabus gerade in jenen Disziplinen von Interesse sind, die gesellschaftliches Leben beschreiben, wie Ethnologie und Soziologie.³⁷ Die Formen von Tabus reichen von sehr allgemeinen, wie dem Inzesttabu, bis hin zu sehr spezifischen, wie z. B. Nahrungstabus: Tabus sind […] in einer Grauzone zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem angesiedelt, sie werden als Phänomene beschrieben, die auratisch oder magisch aufgeladen sein können und sich durch eine besondere Ambivalenz auszeichen.³⁸
Gerade diese Ambivalenz ist es, die das Tabu in literarischen Texten so produktiv macht, denn sie verbindet das Tabu mit seinem Gegenstück, der Neugier.³⁹ Beide erzeugen eine Dynamik der Grenzüberschreitung und sind deshalb Generatoren von Handlung. Je nach Gattung nimmt das Tabu einen zentralen oder peripheren Status ein. Sehr präsent ist es beispielsweise in Feenerzählungen oder auch gestörten Marthenehen.⁴⁰ Das Geschehen dieser Texte entsteht letztlich gerade dadurch, dass die Neugier die Protagonisten dazu treibt, das von ihren Frauen aufgestellte Verbot zu brechen. Der sicher bekannteste Fall ist die Melusine, die einen ‚freien Tag‘ fordert, an dem sie sich unbeobachtet in ein Bad zurückzieht. Ihr Mann bricht dieses Tabu, und der Text ist bemüht dieses Fehlverhalten möglichst plausibel zu motivieren. Dass gerade der Tabubruch im Zentrum des Interesses steht, zeigt sich aber auch in anderen Gattungen.⁴¹ Diese Form der Tabudynamik ergibt sich aus der Auflösung und generiert das Tabu als Antrieb, es doch zu erzählen. Dies kann auch durch Einkapselungen geschehen, wie beispielsweise in der Götterburleske im Eneasroman, in der die Ehebruchsgeschichte von Venus und Mars nur durch einen Registerwechsel ins burlesk-komische auch innerhalb der sonst eher zurückhaltenden Gattung des höfischen Romans erzählbar wird. Dass solche literarischen Grenzüberschreitungen durchaus auch das Potenzial haben, selbst – zumindest zeitweise – wieder durch Zensur zum Tabu zu werden, beweisen Texte wie die Ragionamenti Pietro Aretinos oder, als Extrembeispiel, die Texte des Marquis de Sade. Eine andere Dynamik entfalten Texte, die gerade das Unsagbare des Tabus im Fokus behalten und immer wieder das Unaussprechliche betonen. Diese Texte nutzen die systematische Selbstverständlichkeit der Tabus, die eine Art common sense wiederzugeben scheint. Nicht selten findet sich diese Form in belehrenden Gattungen, wie z. B. in den Predigten Bertholds von Regensburg.⁴² Vgl. Braungart (2004). Kasten (2010), 238. Vgl. Baisch/Koch (2010). Kasten (2010), 235 f. sowie Lembke (2013). So spielt beispielsweise der Liebes- und Abenteuerroman unter anderem mit dem Inzesttabu, um seine eigene Handlung zu motivieren. Vgl. beispielsweise Hagemann (2013). Kraß (2009).
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Doch es zeigt sich an all diesen Beispielen, dass Tabus keinesfalls die natürlichen, festen, unveränderbaren Größen sind, als die sie inszeniert werden. Sie unterliegen stets einem Prozess der Transformation, der durch konsequente Transgression oder einen generellen Wandel gesellschaftlicher oder auch politischer Befindlichkeiten angetrieben wird. Ihre Verschiebungen sind daher ein fruchtbarer Gegenstand für die Untersuchung von Transformationen.
IV Die Beiträge dieses Bandes Die folgenden Beiträge stellen Versuche dar, die theoretischen Anregungen Luhmanns und der Transformationstheorie zusammen- und beispielhaft ihren analytischen Mehrwert vorzuführen. Es handelt sich um die Arbeitsergebnisse der Tagung Unsagbarkeit. Sprachen der Liebe in Literatur und Kunst der Vormoderne, die am 10. Juni 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit großzügiger Unterstützung des SFB Transformationen der Antike stattgefunden hat. Die Beiträge sind weitestgehend chronologisch geordnet und beleuchten das Spektrum der Unsagbarkeit aus vielfältigen Blickwinkeln. Johanna Langer und Christoph Schanze gehen in ihrem Beitrag der Transformation der Dido-Figur nach. Ausgehend von den verschiedenen Versionen des antiken Mythos, die jeweils unterschiedliche Elemente der Geschichte fokussieren bzw. diese beständig weiterentwickeln, untersuchen sie, wie der Stoff in der deutschsprachigen Lyrik des Mittelalters aktualisiert wird. Es zeigt sich, dass durch die Kombination verschiedener Elemente des Mythos, weiterer intertextuelle Bezüge sowie eine Angleichung an die Gegebenheiten der mittelalterlichen Rollenlyrik ein neues, differenziertes Bild der karthagischen Königin entsteht. Matthias Standke untersucht intime Semantiken in Ordensgründerlegenden und die durch sie etablierte Vertrautheit und Vertraulichkeit. Diese sind für die Ordensgemeinschaft notwendig für den Zusammenhalt, gleichzeitig erzeugen sie aber auch Ungleichheiten und Spannungen unter den Ordensmitgliedern. Anhand verschiedener Konstellationen von Ordensgründern, Gefährten und Institutionen zeigt er, wie sich diese Semantiken auf die sich jeweils herausbildenden Verhältnisse auswirken. Antje Sablotny wendet sich der Frage zu, ob ein gleichberechtigtes Liebeskonzept, wie Luhmann es in der romantischen Liebe herausarbeitet, bereits mittelalterliche Vorläufer hat. Mit der höfischen Liebesehe identifiziert sie ein Konzept, das diese Parameter zu erfüllen scheint. Am Beispiel der Ehe von Parzival und Condwiramurs zeigt sie nicht nur auf, wie ein solches Konzept in Wolframs von Eschenbach Parzival entwickelt wird, sondern auch, wie es durch die Spannungen zwischen dem Begehren nach der Frau und dem Begehren nach dem Gral zu Inkommunikabilitäten zwischen den damit verbundenen Sinnebenen im Text kommt. In ihrem Aufsatz über „Wege aus der Unsagbarkeit in der Minnerede“ arbeitet Iulia Emilia Dorobantu unter heuristischer Verwendung der Luhmannschen Be-
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grifflichkeit heraus, wie Unsagbarkeiten im Kontext der Minnereden zur Glättung von Übergängen und der Entgrenzung von (Minne‐)Kommunikation gegenüber Inkommunikabilität in Funktion genommen werden. Unsagbarkeiten werden in die Kommunikation über das Lehren und Lernen von Minne übersetzt und damit zugleich einwie ausgeschlossen. Katharina Tugend untersucht in ihrem historischen Beitrag den Briefwechsel des Ehepaars Datini, deren Eheleben sich zwischen den getrennten Haushalten in Prato und Florenz abspielt. Die durch die Briefe ermöglichte Kommunikation überträgt die Ehe von einer Nah- in eine Fernbeziehung, bringt aber auch kommunikative Herausforderungen mit sich. Immer wieder werden die Grenzen des Kommunikablen übertreten und müssen neu abgesteckt werden. Laura Gemsemers Analyse von Boccaccios Ninfale fiesolano arbeitet verschiedene modi des Sprechens über Liebe heraus. Das Renaissance-poemetto nimmt intertextuell auf Ovids Metamorphosen Bezug und transformiert dessen Liebeskonzeption, indem es den Realitätsstatus der Liebesgötter veruneindeutigt. Insbesondere die figurative Rede über Liebesbegehren und –vollzug zeichnet sich durch eine Oszillation zwischen Metaphorik und Konkretheit aus, die Erotik und Sexualität als etwas anders, nämlich nur uneigentlich Sagbares markiert. Anhand des heroic play diskutiert Christiane Hansen, wie sich das Theater der englischen Restaurationszeit von einem „unbedingten Vertrauen in das Admirative“ ablöst und stattdessen ein diffuses Feld von Ästhetik, Emotionalität, Politik und Transzendenz entwirft. Die Sprachen der Liebe werden als Konfigurationen des Unverfügbaren funktionalisiert und ermöglichen die Verhandlung dieses komplexen Feldes. In dramatischen Versuchsanordnungen führen sie die Grenzen des Kommunizierbaren vor. Katharina Wimmer schließlich zeigt in ihrem Beitrag, mit welchen Techniken und Erzählinteressen Georg Wickram die Metamorphosen Ovids für ein frühneuzeitliches Publikum transformiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Lieben und Begehren des Narziss. Besonders die homoerotischen Komponenten der antiken Vorlage werden den moralischen Vorstellungen des 16. Jahrhunderts angepasst.Wimmer weist nach, dass gerade diese Anpassungen eine spezifische Strategie der Unsagbarkeit darstellen.
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Johanna Langer und Christoph Schanze
Von der Unverfügbarkeit passionierter Liebe. Dido in der mittelalterlichen Lyrik 1 Dido zwischen Mythos und Literarisierung Die Liebesbeziehung zwischen Dido und Aeneas ist eine der großen love stories der Literatur- und Kulturgeschichte. Sie ist aber kein Bestandteil des ursprünglichen DidoMythos, der in seinen frühesten schriftliterarischen Fassungen im vierten vorchristlichen Jahrhundert in der griechischen Historiographie begegnet.¹ Der Mythos berichtet davon, dass die phönizische Königstochter Elissa vor ihrem Bruder Pygmalion fliehen muss, der aus Macht- und Geldgier ihren Gatten Sychaeus tötete. Sie findet Zuflucht in Libyen und gründet mittels einer List Karthago.² Dort erhält sie aufgrund ihrer langen Irrfahrt ihren ›römischen‹ Namen Dido.³ Nachdem sich Karthago zu einem mächtigen Stadtstaat entwickelt hat, will der einheimische Fürst Iarbas Dido heiraten. Ihr Volk versucht, sie gegen ihren Willen und gegen den Schwur, ihrem toten Ehemann treu zu bleiben, zu dieser Ehe zu zwingen. Um dem aus ihrer Weigerung resultierenden machtpolitischen und moralischen Dilemma zu entgehen, errichtet Dido schließlich einen Scheiterhaufen und stürzt sich in die Flammen. Wichtig für die Verbindung des Dido-Mythos mit der Geschichte des landlosen Trojaflüchtlings Aeneas, der an der libyschen Küste strandet und bei Dido Unterschlupf und die Aussicht auf eine neue Heimstatt findet, ist Vergils Aeneis (entstanden zwischen 29 und 19 v. Chr.).Vergil hat diese Verbindung aber nicht frei erfunden, denn bereits Gnaeus Naevius (ca. 269 – 195 v. Chr.) erzählt in seinem Epos über den ersten Punischen Krieg davon; auch die Annales des Quintus Ennius (ca. 239 – 169 v. Chr.) enthalten, wohl beeinflusst von Naevius, die Kombination des Dido-Mythos mit dem Bericht von der Flucht des Aeneas aus Troja.⁴ Vergils Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Dido und Aeneas ist ein Paradebeispiel für eine von Intimität geprägte, leidenschaftliche (›passionierte‹) Liebe mit tragischem Ausgang – zumindest für Dido, die am Ende der Episode alles verloren
Die früheste Fassung des Dido-Mythos findet sich in dem nur fragmentarisch erhaltenen historiographischen Werk des Timaios von Tauromenion (ca. 345 – 250 v. Chr.). Ausführlicher erzählt der römische Historiograph Justinus von ihr (3./2. Jahrhundert v. Chr.); vgl. Rossbach (1903), 426. Dido erbittet sich von dem libyschen Fürsten Iarbas das Recht, so viel Land in Besitz nehmen zu dürfen, wie sie mittels einer Ochsenhaut umspannen kann. Listig, wie sie ist, schneidet sie die Ochsenhaut in dünne Streifen und kann so viel mehr Grundbesitz erlangen als von Iarbas geplant. Dieses Detail findet sich noch nicht bei Timaios, aber in der Justinus -Fassung des Mythos; vgl. Rossbach (1903), 426. Vgl. Theisohn (2008), 218. Vgl. Rossbach (1903), 427. https://doi.org/10.1515/9783110628920-002
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hat: ihren Geliebten Aeneas, ihre politische Macht, ihre vorherige Existenz als selbstbestimmte weibliche Herrscherin und zuletzt ihr Leben. Didos Grundproblem ist in der Aeneis im Vergleich zur Mythos-Fassung der Geschichte drastisch verschärft: Nach dem Tod ihres Gatten Sychaeus und ihrer Flucht hatte sie geschworen, nie mehr einem Mann ihre Liebe zu schenken, und mit diesem Schwur hatte sie die Ablehnung aller Avancen der libyschen Fürsten begründet. In Vergils Ausgestaltung des DidoMythos hat sie dagegen erst durch ihre Liebesbeziehung mit Aeneas, durch die sie selbst ihren Schwur gebrochen hat, ihre Situation untragbar gemacht. Ihr Selbstmord ist hier nicht mehr lediglich ein Opfer für ihre Stadt Karthago und ihr Volk, er ist in erster Linie der tragische Liebestod einer verlassenen, unglücklichen und verzweifelnden Frau. Der narrativ verhandelte Kern des Dido-Mythos besteht also im Versuch der Ausbalancierung von Didos Doppelrolle als Herrscherin und liebender Frau, der aber von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. In Vergils Version des Stoffes ist dieses Problem durch die Konzentration auf die Dido-Aeneas-Episode deutlich gesteigert und zudem um die Problematik der (Un‐)Verfügbarkeit passioniert-erfüllter Liebe ergänzt. Als weiterer Aspekt tritt bei Vergil nämlich die Frage hinzu, wie von der Liebe zwischen Dido und Aeneas erzählt werden kann, deren Höhepunkt die körperliche Vereinigung während eines von einem Gewitter unterbrochenen Jagdausflugs ist und deren Ende mit Didos als furor ausgewiesener Liebeskrankheit und ihrem daraus resultierenden Selbstmord ähnlich stark wie die Darstellung des Liebesvollzugs während der Jagd auf Fragen der Körperlichkeit ausgerichtet ist. Bei Vergil wird zwar von Didos verführerischer Schönheit berichtet – und das durchaus in erotisierter Weise (z. B. Aeneis I,494– 506).⁵ Die passionierte, körperlich erfüllte Liebe an sich ist aber als unsagbar markiert: Die Liebesvereinigung in einer Höhle wird nicht auserzählt, sondern nur angedeutet (Aeneis IV,165– 172), wodurch die Unsagbarkeit des Ereignisses gerade betont wird. Damit ist ein Darstellungsmuster etabliert, das die Rezeption entscheidend beeinflusst hat. Das zeigt sich etwa in den beiden mittelalterlichen volkssprachigen Bearbeitungen der Aeneis, wenn der anonyme altfranzösische Roman d’Eneas (entstanden nach 1160) ebenfalls darauf verzichtet, das Beilager von Dido und Eneas zu schildern,⁶ und wenn Heinrich von Veldeke in seinem mittelhochdeutschen Eneas (entstanden zwischen 1170 und 1188) davon ausgehend die Liebesvereinigung mit Jagdmetaphorik verschleiert – zwar leicht zu decodieren, aber dennoch ebenfalls nicht ›explizit‹.⁷ Es geht aber auch hier – bei Vergil wie bei seinen mittelalterlichen
Benutzte Ausgabe: Götte (1994). Estes les vos andeus ensemble, / cil fait de li ce que li semble, / ne li fait mie trop grant force, / ne la reïne ne s’estorce, / tot li consent sa volenté; / pieça qu’el l’aveit desirré. / Or es descoverte l’amor (Roman d’Eneas, 1521– 1527: »jener tut mir ihr, was er will, er tut ihr keineswegs zu große Gewalt an, noch verweigert sich die Königin, sie gewährt ihm gänzlich seinen Willen; seit langem hatte sie ihn begehrt. Jetzt ist die Liebe zu Tage getreten«). Zitierte Ausgabe: Schöler-Beinhauer (1972). er tet daz er wolde, / […] ir wizzet wol, waz des gewielt. / […] daz tier was rechte getriben, / so der man so schivzet, / daz er sin genivzet, / so liebet ime div vart (Eneas, 1853 – 1867: »Er machte [mit ihr], was er
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Bearbeitern – nicht nur um die Liebe und das Reden über die Liebe, sondern ebenso sehr um das Verhältnis von herrscherlicher Verantwortung (›Politik‹) und persönlichem Glück (›Selbstverwirklichung‹) bzw. um die beiden als unvereinbar gekennzeichneten Seiten der Dido-Figur: Dido als Herrscherin und Dido als liebende Frau.⁸ Die Spannung zwischen diesen beiden Polen ist zentral für die antiken und vor allem die nachantiken Bearbeitungen des äußerst fruchtbaren Dido-Mythos (die annotierte Bibliographie von Thomas Kailuweit⁹ verzeichnet auf weit über 400 Seiten mehr als 1400 Rezeptionszeugnisse, ist aber nicht vollständig). Die mittelalterliche Rezeption, die die Geschichte einerseits produktiv narrativ aufgreift, andererseits als exemplarisch aufruft und entsprechend funktionalisiert, fußt dabei – neben Ovids siebtem HeroidesBrief – in der Regel auf Vergils Aeneis bzw. ab dem späten 12. Jahrhundert auf den beiden bereits erwähnten volkssprachigen mittelalterlichen Bearbeitungen von Vergils Aeneis: dem altfranzösischen Roman d’Eneas und dessen mittelhochdeutscher Übertragung durch Heinrich von Veldeke. Was diese beiden Texte aus der Dido-Geschichte und ihren Problemkernen machen, wäre eine eigene Betrachtung wert.¹⁰ Hier soll aber ein bisher so gut wie gar nicht systematisch beachteter Bereich der Dido-Eneas-Rezeption im Mittelalter im Zentrum stehen: die mittelhochdeutsche Lyrik (mit einem einleitenden Seitenblick auf einige lateinische Strophen der Carmina Burana), die Dido und/oder Eneas immer wieder als Exempel- oder Vergleichsfiguren anführt. Wir wollen nachzeichnen, wie das Exempel von Dido und Eneas als Ergebnis eines komplexen Transformationsprozesses¹¹ in verschiedenen lyrischen Liebesdiskursen aufgenommen und funktionalisiert wird. Interessant sind dabei vor allem die diskursiven Interdependenzen, die auftreten, wenn das Phantasma einer alle Grenzen überschreitenden, auch körperlich erfüllten, intimen Liebe – wie es in der Geschichte von Dido und Eneas entworfen und zugleich als einerseits unsagbar, andererseits nicht dauerhaft verfügbar ausgewiesen wird – in lyrischer Brechung auf verschiedene andere Liebeskonzeptionen trifft.¹² Unsere Leitfrage zielt darauf, was mit den antiken Figuren Dido und Aeneas passiert, wenn sie im Mittelalter nach einer »produktive[n] Anverwandlung«¹³ in lyrischen Diskursen als Exempelfiguren aufgerufen werden –
wollte, […] ihr wisst schon, was da vor sich ging. […] Das Wild wurde in rechter Weise gejagt, und wenn der Mann so zum Abschuss kommt, dass er seinen Spaß dabei hat, so erfreut ihn die Unternehmung«; die Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen stammen hier und im Folgenden von uns). Zitierte Ausgabe: Fromm (1992). Vgl. dazu z. B. Syndikus (1992) und Mühlherr (2007), v. a. 129 f. Vgl. Kailuweit (2005). Vgl. dazu z. B. Syndikus (1992); Mühlherr (2007); Hamm (2008). Zum theoretischen Rahmen vgl. Bergemann u. a. (2011). Zum methodischen Ansatz der ›Interfiguralität‹ vgl. allgemein Müller (1991), mit Blick auf die Mediävistik Reuvekamp-Felber (2011), der sich allerdings auf Figuren der matière de Bretagne konzentriert (zur Problematik von Reuvekamp-Felbers Vorgehen vgl. Schanze/Kirchhoff [2016]). Grundlegend zur Antikenrezeption Kern (1998). Bergemann u. a. (2011), 39.
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wenn sie also von Handlungsträgern zu Beispielen werden: Welche Elemente ihrer tragischen Liebesgeschichte zwischen der Unsagbarkeit einer passioniert-erfüllten Liebe und der Unverfügbarkeit einer dauerhaft glücklichen und gesellschaftlich sanktionierten Paarbeziehung werden aktualisiert? Welche positiven oder negativen Eigenschaften verkörpern sie? Und was bedeutet das jeweils für die Texte, denen sie als Exempel implementiert werden?
2 Dido in den Carmina Burana Unter den lateinischen Liebesliedern der Carmina Burana gibt es drei, die den DidoAeneas-Stoff zum Hauptthema haben (CB 98 – 100).¹⁴ In Hinblick auf unser Textcorpus handelt es sich in zweierlei Hinsicht um Ausnahmen. Zum einen sind sie sprachlich gesehen Sonderfälle: Wir haben die lateinische lyrische Rezeptions-Tradition im Mittelalter nicht systematisch untersucht,¹⁵ haben die Beispiele aus den Carmina Burana aber aufgenommen, weil sie in einer im deutschsprachigen Raum, vermutlich um 1230 im südbairischen Sprachgebiet (vielleicht in Südtirol) entstandenen Handschrift überliefert sind und damit in einem deutschen Literaturkontext stehen (verfasst wurden die meisten der Lieder wohl noch im 12. Jahrhundert). Sonderfälle sind sie zum anderen inhaltlich, weil in allen drei Carmina Dido und/oder Aeneas nicht als Exempelfiguren für etwas anderes funktionalisiert werden, wie es in den sonstigen lyrischen Rezeptionszeugnissen zumeist der Fall ist, sondern der Bericht von der Liebesgeschichte der beiden an sich im Mittelpunkt steht.
In drei weiteren Liedern des Codex Buranus begegnet Dido: In CB 59 wird in der dritten Strophe ihr Selbstmord erwähnt; der Sprecher, ein Voyeur, der im Frühling eine Gruppe junger Mädchen beobachtet, sichert ihr jedoch Straffreiheit zu. CB 99b ist ein Nachtrag am Ende von CB 99 (auf dem Außenrand von fol. 75r); es handelt sich bei dem elegischen Distichon um die Schlussverse aus Ovids siebtem Heroides-Brief mit der Grabinschrift, die Dido für sich selbst verfasst hat und in der sie Eneas eine zweifache Schuld an ihrem Tod zuweist. CB 102 erzählt in elegischen Distichen im Anschluss an CB 101 vom Trojanischen Krieg, der Flucht des Eneas, seiner Irrfahrt und schließlich von seinem Sieg über Turnus und seiner Vermählung mit Lavinia; die Verspaare 22 und 23 beinhalten in kürzester Form die Karthago-Episode (22: Karthago als Zufluchtsort für Eneas; 23: Didos furor und ihr Selbstmord, der als crimen eingestuft wird). – Die Gruppe der Dido-/Troja-Carmina wird von einer zweiteiligen Miniatur begleitet, die den thematischen Block als solchen kennzeichnet; sie steht auf fol. 77v im Anschluss an CB 102 und beschließt die Gruppe (vgl. Abb. 3 [Tafelteil nach 1296]; vgl. dazu Diemer/Diemer [1987], 1292 f., zur Frage der Gliederungsfunktion der Miniatur: 1294). – Benutzt wird hier und im Folgenden die Ausgabe von Vollmann (1987), die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von uns. In der sogenannten Bekynton-Sammlung (Oxford, Bodleian Library, Add. A 44) gibt es ein weiteres mittellateinisches Lied, das sich mit dem Dido-Stoff auseinandersetzt; es ist, wie CB 100 (siehe dazu unten), ein Planctus; vgl. zu diesem Lied Dronke (1986), 370 f. Ansonsten gibt es nur beiläufige Erwähnungen (vgl. die Übersicht bei Barth [1990], 173, Anm. 2).
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Das Carmen Buranum 98, ein neumierter Lai,¹⁶ spielt aus einem dritten Grund eine Sonderrolle: Das Lied erzählt – nahe an der Vergil’schen Vorlage, und das bis hin zu sprachlichen Detailentsprechungen¹⁷ – nicht vom tragischen Ausgang der Geschichte, sondern lediglich vom Erwachen der Liebe zwischen Dido und Eneas und als Höhepunkt von der körperlichen Vereinigung während der Jagd.¹⁸ Die positive Grundstimmung des Textes wird schon im ersten Versikel deutlich, und zwar durch einen freudig wirkenden Jubilus auf ei: si – ey ei ei – hospes felicior, hospita uix largior aliquo perci – ei ei ei ei ei ei ei ei ei ei – pitur. (I,7– 9) (»Vielleicht gibt es glückreichere Gäste, kaum aber eine großzügigere Gastgeberin, die sie [Dido] übertrifft.«)
Dann werden Eneasʼ Schönheit und seine Wirkung auf Dido beschrieben. Viel Raum nimmt Didos Zwiegespräch mit ihrer Schwester Anna ein, in der diese Dido überzeugt, ihre Skrupel abzulegen und sich der Liebe zu Eneas hinzugeben: nec resiste / Amori blando! (VI,2 f.: »wehre dich nicht gegen die Verlockungen Amors«). Die Folge: Elissa (Dido) wird von rasender Liebe (VII,2: furores) ergriffen. In den letzten drei Versikeln wird vom Liebesvollzug in einer Höhle während eines Gewitters berichtet. Die Schilderung der sexuellen Vereinigung ist auffällig: Sie wird nämlich ›uneigentlich‹ in Form einer scholastischen Disputation dargestellt, die von Ringkampf-Metaphorik ihren Ausgang nimmt:¹⁹ Propositionibus tribus dux expositis sylogizat; motibus fallit hec oppositis et quamuis cogentibus argumentis utitur, tamen eis breuibus tantum horis fallitur. (VIII) (»Der Fürst stellt drei Vordersätze auf und kommt sodann zum verbindlichen Schluß; sie sucht ihn durch gegensätzliche Beweggründe aus dem Feld zu schlagen. Aber obwohl sie sich zwingender Argumente bedient, wird sie binnen kurzem von ihnen im Stich gelassen.«)
Vgl. Vollmann (1987), 1073. Vgl. Vollmann (1987), 1073. Vgl. zu CB 98 auch Daub (2006), 151– 160. Die Darstellung des Geschlechtsverkehrs mittels Ringkampf-Metaphorik begegnet in den Carmina Burana öfters, vgl. Vollmann (1987), 1074 (die obenstehende Übersetzung von Str. VIII stammt von Vollmann). Vollmann versteht mit Bernt und Bischoff die logischen Termini als Metaphern für die männlichen Geschlechtsteile. Vgl. zu dieser Strophe auch Dronke (1986), 371 f., Barth (1990), 177– 179, sowie Daub (2006), 157 f.
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Die Schlussstrophe zeigt die positiven Folgen der Liebesvereinigung: Das Gewitter endet, der Himmel wird wieder heiter: Et sic amborum in coniugio lecta resplenduit etherea regia, nam ad amoris gaudia rident, clarescunt OMNIA. (IX) (»Und als die beiden sich so vereinigten, erglänzte hell der himmlische Thronsaal, denn alles lacht und strahlt zu den Freuden der Liebe.«)
Ende gut, alles gut – der tragische Schluss der Dido-Eneas-Liebe wird unterschlagen, die körperlich erfüllte, passionierte Liebe wird, auch wenn sie offensichtlich unsagbar und nur metaphorisch verbrämt darstellbar ist, als verfügbar und dauerhaft ausgewiesen. Das ist ein Sonderfall unter den Darstellungen der Dido-Geschichte, der hier aber dem Ausschnitt geschuldet ist, den das Lied wählt: Die verkürzte Erzählung, die wesentliche Punkte lediglich andeutet, zeigt, dass der Verfasser die Bekanntheit der Geschichte voraussetzt. Auf die Spannung zwischen dem mitten im positiv-überschwänglichen Liebesvollzug abbrechenden Lied und dem als gewusst anzunehmenden tragischen Ende der Beziehung geht der Text freilich nicht näher ein. Wesentlich konventioneller ist in dieser Hinsicht das Carmen Buranum 99.²⁰ Es erzählt in knappen, dreiversigen Strophen vom Untergang Trojas (Str. I), von Eneasʼ Flucht und seiner Landung in Karthago (Str. II) sowie von der Liebesvereinigung (Str. III), die in aller Kürze abgehandelt wird: moras non patitur iungi connubia (III,3: »den Beischlaf zögert sie nicht lange hinaus«). Zugleich wird eine Wertung dieser Liebesvereinigung vorgenommen: Dido sei mehr als für ihre Ehre gut von der Liebe versehrt (III,2: plus quam decuit amore saucia). Die Liebe wird hier also als eine entehrende, verletzende Macht eingestuft. Die folgende Strophe verstärkt diesen Aspekt noch: Die Liebe besiege alles, sie sei schädlich und zuletzt tödlich – omnia vincit amor, heißt es in Vergils 10. Ekloge (X,69), auf die das Lied hier anspielt.²¹ Die fünfte Strophe berichtet von Eneasʼ Abreise infolge des Göttergebots. Im Anschluss daran rücken die folgenden fünf Strophen Didos Klagemonolog und ihren Selbstmord (Str. X) ins Zentrum, den der Verfasser des Liedes folgendermaßen kommentiert: amantes miseri timete talia! (X,3: »Ihr unglücklichen Verliebten, fürchtet dasselbe!«). Die Dido-Geschichte bekommt dadurch einen moralischen Anstrich: Sie dient als Warnung vor besinnungsloser, leidenschaftlicher, mit Unvernunft einhergehender Liebe, die schreckliche Folgen zeitigte und daher nicht erstrebenswert ist. Dass das für alle Beteiligten gilt, zeigt der zweite Teil des Liedes, der allerdings eine andere Richtung einschlägt:²² Die Strophen XI–XX be-
Vgl. zu CB 99 auch Daub (2006), 160 – 167. Vgl. Vollmann (1987), 1075, der auf zwei weitere Vergil-Stellen verweist, die in die Formulierung eingeflossen sein dürften. Für den zweiten Teil des Liedes ist wohl ein anderer Verfasser anzunehmen, vgl. Vollmann (1987), 1074.
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richten in freier Ergänzung der althergebrachten Geschichte in Figurenrede von der maßlosen Trauer des Eneas, als dieser von den furchtbaren Folgen seiner Abreise aus Karthago erfährt. Eneas rechtfertigt Didos Tat als die einer großen Liebenden, beurteilt sein eigenes Handeln und damit das der Götter als falsch²³ (Str. XIX) und stilisiert Dido am Ende zu einer Art Heiligen (Str. XX) – »einmalig in der mittelalterlichen Literatur«.²⁴ Das Carmen Buranum 100, ein umfangreicher Planctus in Form eines sequenzierenden Leichs mit Versikel-Responsion und hexametrischer Einleitung,²⁵ bildet das komplementäre Gegenstück zur Klage des Eneas im vorausgehenden Lied.²⁶ Dido betrauert die Abreise des Geliebten sowie ihr Schicksal. Das Lied erzählt demnach, anders als die Carmina 98 und 99, nicht die vollständige Liebesgeschichte oder einzelne Abschnitte daraus, sondern stellt in dramatischem Zuschnitt und mit mehrmaligem Verweis auf die gleichzeitig stattfindende Abfahrt der Trojaner²⁷ Didos Lage nach Eneasʼ unmittelbarem Weggang in den Mittelpunkt. Der Fokus liegt dabei auf Didos doppeltem Dilemma: Sie hat ihren Geliebten verloren, und zwar an eine andere, wie ein Ausblick auf Eneasʼ zukünftige Partnerin Lavinia im Versikel IVa deutlich macht;²⁸ und sie hat durch diesen Verlust auch ihre politische Macht verloren. Der Planctus endet mit einer Ansprache Didos an ihre eigene Seele,²⁹ in der nochmals der Liebesschmerz im Zentrum steht. Unmittelbar danach darf man sich Didos Selbstmord denken, von dem aber nicht mehr berichtet wird, weil das Carmen einzig aus Didos Monolog besteht. Es konzentriert sich also ganz auf das tragische Ende der Liebesbeziehung und damit auf deren negative Folgen sowie die grundsätzliche ›Unverfügbarkeit‹ der passionierten Dido-Liebe. Sagbar ist diese Liebe hier nicht oder nicht mehr. Nur ihre schmerzhaften Folgen lassen sich beredt und eindringlich in Worte fassen. Erwähnt sei abschließend noch ein viertes Carmen Buranum, in dem eine weitere Dido-Referenz begegnet, die aber ganz anders geartet ist als in den Carmina 98 – 100. Das Carmen Buranum 155 ist ein dreistrophiges lateinisches Liebeslied, das die Eneas sagt in Bezug auf sein eigenes Handeln: Non semper utile est, diis credere, / nec, quicquid ammonent, uelle perficere (XIX,1 f.: »Nicht immer ist es nützlich, den Göttern zu glauben, noch das erfüllen zu wollen, was sie anmahnen«). Vollmann (1987), 1074. Zur Form vgl. Vollmann (1987), 1078. Zu CB 100 vgl. Dronke (1986), 364– 370 und 372– 374, sowie Daub (2006), 168 – 175. III,1– 3: hai dolant, / hai dolant! / iam uolunt carbasa (»Oh Schmerz, oh Schmerz! Schon fliegen die Segel«); Vb,1– 4: Seuit Scilla, nec tranquilla / se promittunt equora; / soluit ratem, tempestatem / nec abhorret Frigius (»Skylla tobt und das Meer verspricht nicht, ruhig zu sein; der Phryger [Eneas] macht das Schiff los, er schreckt nicht vor dem Sturm zurück«); VIb,1: Soluit ratem dux Troianus (»Der trojanische Fürst macht das Schiff los«). IVa,7 f.: et thalamos Lauinie / Troianus hospes sequitur (»und der Gast aus Troja sucht die Schlafkammer der Lavinia«). Vgl. dazu auch Daub (2006), 173 f., die den Dialog zwischen Dido und ihrer Seele als über den Selbstmord – »Höhepunkt einer lodernden Liebe« (173) – hinausreichende »Steigerung zu einem wahren und unerwarteten Furioso« (173) auffasst. Wir verstehen diesen Dialog hingegen eher als retardierendes Moment vor dem eigentlichen Selbstmord.
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Schönheit und die Verführungsmacht der unerreichbaren Geliebten des Sprechers preist und zugleich seine Qualen beim Versuch, sie zu erringen, schildert. In der dritten Strophe sieht er als einzige Chance, durch unablässiges Bitten die Unterstützung von Juno, Pallas, Helena und Venus zu erlangen und so schließlich die Geliebte doch noch zu erobern. Auf die lateinischen Strophen folgt eine deutsche Zusatzstrophe, die in freier Variation den Namenkatalog der letzten lateinischen Strophe aufnimmt und die Schönheit von ›ihr‹ mit einem Überbietungstopos preist, der zugleich den Katalog der dritten Strophe übertrifft: Si ist schœner den uro Dido was, si ist schœner denne vrowe Helena, si ist schœner denne vrowe Pallas, si ist schœner denne vrowe Ecuba; si ist minnechlicher denne vrowe Isabel und urœliche denne Gaudile; mines hercen chle ist tugunde richer denne Baldine. (IV) (»Sie ist schöner, als es die Herrin Dido war, sie ist schöner als die Herrin Helena, sie ist schöner als die Herrin Pallas, sie ist schöner als die Herrin Hekuba; sie ist liebreizender als die Herrin Isabel und heiterer als Gaudile; mein Herzensklee ist an Tugenden reicher als Baldine.«)
Dido steht hier als Exempelfigur für Schönheit, zusammen mit drei anderen Frauenfiguren aus der Troja-Aeneas-Sage – Helena, Pallas und Hekuba (die Gattin des trojanischen Königs Priamos).³⁰ Die antiken Gestalten werden durch drei mittelalterliche Frauennamen ergänzt. Letztere sind keinen historischen oder literarischen Figuren zuzuordnen, es handelt sich dabei vermutlich um erfundene Figuren mit Namen, die von ihren jeweiligen Eigenschaften abgeleitet sind:³¹ Isabel ist minneclich (bel = ›schön‹), Gaudile ist urœlich (gau- = ›froh‹) und Baldine ist tugunde rich (bald- = ›tugendhaft‹). Didos tragische, eindeutig negative Liebesgeschichte wird in dieser Strophe nicht thematisiert, entscheidend ist allein ihre verführerisch-positive Schönheit, die als exemplarisch eingestuft wird.
3 Drei Dido-Exempel in Liedern des 13. und 14. Jahrhunderts Ähnlich punktuell wie in der deutschen Zusatzstrophe zum Carmen Buranum 155 und ebenfalls in exemplarischer Funktion begegnet Dido in der zweiten Gruppe von Re Helena und Pallas sind aus der dritten Strophe von CB 155 übernommen, Ecuba dürfte aus Reimgründen eingefügt worden sein (reimt auf Helena), vgl. Sayce (2000), 7. Vgl. dazu Vollmann (1987), 1156, sowie ausführlicher Sayce (1992), 51– 53. Die Vermutung von Kern (1998), 127, Anm. 254, die fiktiven Namen könnten auf das »Motiv des Verstecknamens für die Minneherrin verweisen«, ist wenig plausibel.
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zeptionszeugnissen: drei Liedern aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die unterschiedlichen Genres entstammen und Dido jeweils als eine Exempelfigur unter mehreren (im ersten Fall unter sehr vielen) anführen. Den Anfang macht der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene vierte Minneleich des Tannhäusers.³² Der Text entfaltet in insgesamt 144 auf 30 Versikel verteilten Versen zunächst einen opulenten Frauenpreis, der in ein traditionell wirkendes Gewand gehüllt ist und mit einem Tanz-Abschnitt beschlossen wird. Traditionell ist der Frauenpreis des Anfangsteils aber nur auf den ersten Blick: Das Sprecher-Ich führt nämlich eine ausgesprochen ungewöhnliche, endlos lange Beispielreihe von vorwiegend weiblichen Exempelfiguren an, um den Ruhm seiner Minnedame zu illustrieren. Der Leich beginnt in konventioneller Weise mit einem hyperbolischen Lob der Dame, in dem vielleicht schon ein wenig Ironie anklingt:³³ Ich lobe ein wip, diu ist noch bezzer danne guot, sist schoene und ist schoener vil und hochgemuot, si hat vor allen valschen dingen sich behuot; ich hort nie wip so wol geloben, als man si tuot. (Versikel 1, V. 1– 4) (»Ich preise eine Frau, die noch besser als gut ist, sie ist schön und noch viel schöner und von hohem Sinn, sie hat sich von allem, was sie herabsetzen könnte, ferngehalten; niemals habe ich vernommen, dass man eine Frau so rühmt wie sie.«)
Ausgehend vom letzten Vers dieses ersten Versikels folgt in den nächsten 14 Versikeln als Beweis für die These, noch keine Frau sei so gelobt worden wie die Dame des Sprecher-Ichs, eine Kaskade von weiblichen, gelegentlich auch männlichen Beispielfiguren,³⁴ die den eigentlichen Schönheitspreis der Dame vorbereitet (Versikel 17– 24). Der Figurenkatalog des ersten Teils mischt mythologische und literarische Gestalten aus der Antike, aber auch aus dem mittelalterlichen höfischen Roman wild durcheinander; dazwischen kommen Figuren vor, die der Tannhäuser offenbar ad hoc erfunden hat. Fast alle der angeführten Exempelfiguren werden mit unbekannten, unerwarteten, unverständlichen und oft auch gänzlich unwahrscheinlichen Situationen und Geschichten in Verbindung gebracht.³⁵ Manches
Der vierte Leich ist – wie der Großteil des Tannhäuser-Œuvres – im Codex Manesse überliefert (Heidelberg, UB, Cpg 848, fol. 265v–266r). Zitiert wird die Ausgabe von Siebert; vgl. auch die im Entstehen begriffene Online-Edition von Ralf-Henning Steinmetz: http://www.lapidarius.de/Tanhuser/ (letzter Zugriff: 24.01. 2017). Vgl. Reuvekamp (2011), 259. Vgl. dazu grundsätzlich Kern (1998), 256 – 266, der von einem »literarische[n] Puzzle« (256) spricht, sowie Reuvekamp (2011), 259 – 261, der das Verhältnis der angeführten Exempelfiguren zu ihren Prätexten als »Travestie« (259) bezeichnet. Das Vorgehen des Tannhäusers – »bekannte Motive einzubeziehen und dabei andererseits zu verfremden, Traditionelles durch Spontanes zu ersetzen«– zeichnet für die Antikenreferenzen detailliert Kern (1998), 260 – 264, nach (Zitat 260).
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davon ist geradezu haarsträubend ›falsch‹,³⁶ etwa wenn beim letzten Exempel-Paar mit Bezugnahme auf die Tristan-Geschichte behauptet wird: Tristan erwarp die künegin von Marroch, als wir hoeren sagen. Ein moerin was diu heidenîn. der alden suln wir hie gedagen (Versikel 15, V. 59 – 62). (»Tristan eroberte die Königin von Marokko, wie man sagen hört. Die Heidin war eine Schwarze. Von den Alten³⁷ wollen wir hier nicht weiter sprechen.«)
Unter den zahlreichen Exempelfiguren findet sich – in einem Versikel zusammen mit Juno, einer gewissen Latricia (vielleicht Lucretia?) und einer ansonsten nicht nachweisbaren Palatrica³⁸ – auch Dido. Von ihr heißt es: swaz Dido hete, daz wart geteilet überal (V. 10). Worauf dieser Vers anspielt, ist unklar. Im Dido-Mythos und seinen verschiedenen Ausgestaltungen erfährt man nichts von einer Verteilung der Güter Didos,³⁹ es sei denn, man wertet die Formulierung des Tannhäusers als Anspielung auf den Verlust von Didos Herrschaftsmacht durch ihren Selbstmord. Die Dido-Figur steht hier jedenfalls nicht für Schönheit – die dann von der Schönheit der Minnedame des Sprechers übertroffen würde –, nicht für eine beglückend-erfüllte, auch körperlich vollzogene Liebe sowie deren Unsagbarkeit und auch nicht für deren tragisches Ende und mithin die Unverfügbarkeit passionierter Liebe, wie es zu erwarten gewesen wäre, sondern – als »Überraschungseffekt«?⁴⁰ – für etwas nicht wirklich Verständliches. Das aber passt zu den meisten der anderen angeführten Exempel-Figuren. Zwar zielt die Exempelreihe darauf, dass alle berühmten Damen mit ihren Geschichten neben der Minnedame des Sprecher-Ichs verblassen, aber ganz ernst gemeint sein kann das nicht. Es ist wohl eher davon auszugehen, dass der Tannhäuser mit seinem ausufernden, kruden »Anspielungs-Potpourri«⁴¹ die Konvention des Vergleichs mit Exempelfiguren spielerisch⁴² ironisieren will:
Kern (1998), 260, nennt den »Anspielungssermon […] einigermaßen verquer«; Reuvekamp (2011), 261, spricht treffend von »Absurditäten«, Cramer (1998), 182, sogar vom ersten »Nonsens-Gedicht in deutscher Sprache«. Der alden ist entweder auf die ›alten‹ Geschichten bezogen, die von der künegin / von Marroch und den anderen angeführten Exempelfiguren berichten, oder – eher wahrscheinlich – zusammenfassend auf die ›alten‹ Exempelfiguren. Mit diesem Vers endet dann auch die Exempelreihe. Nicht ganz auszuschließen ist, dass mit der alden die Königin von Marokko gemeint sein könnte (»Von der Alten wollen wir hier nicht weiter sprechen«; diese Übersetzungsvariante auch bei Reuvekamp [2011], 261). Zu Latricia/Lucretia (V. 11: diu lie sich tougenlichen sehen) und Palatrica (V. 12: sie raubte den frouwen vil der kinde) sowie zu möglichen etymologischen Wortspielen an dieser Stelle vgl. Cammarota (2009), 157. Kritisch zu einer möglichen etymologischen Erklärung (von lat. dido »ich verteile«) sicherlich zurecht schon Siebert (1934), 137. Kern (1998), 262. Kern (1998), 129. Vgl. dazu Kern (1998), 261 f.
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Mit dem zunehmend scheiternden Versuch, an der literarischen Tradition zu partizipieren und diese in einen sinnvollen Zusammenhang mit der eigenen Absicht (Frauenpreis und -werbung) zu setzen, bezichtigt das Ich sich selbst, nichts an literarischem Wissen zu besitzen außer den leeren Namen.⁴³
Zu einem ähnlichen Befund kam bereits Kern: Der Anspielungsreigen führt sein Eigenleben, er kapselt sich vom Text ab, arbeitet natürlich wie sonst mit Rezeption von Literatur, nicht aber, um den eigenen Text im weitesten Sinne zu legitimieren. Die Pointe steckt vielmehr in der Anspielungscollage und ihren Verfremdungseffekten selbst und impliziert eine radikale Entfunktionalisierung dieses Stilmittels.⁴⁴
Dieser durchaus unterhaltsame Nebeneffekt des ersten Leich-Abschnitts passt gut zur gelösten Grundstimmung der Fortsetzung in Form eines Tanzleichs im dritten Teil (Versikel 25 – 30) und auch zu dessen doppelt witzigem Schluss: Gegen Ende kippt der Tanzleich über Neidhart-Allusionen vom hohen Register des Frauenpreises ins Dörperliche.⁴⁵ Er endet abrupt, weil dem Fiedler der Bogen entzweibricht:⁴⁶ Nu singe ich aber hei! heia, nu hei! Nu ist dem videlaere sin videlboge enzwei! (V. 141– 144) (»Nun singe ich abermals hei! Heia, und nochmals: hei! – Nun ist dem Fiedler der Bogen zerbrochen!«)
Ein auf Komik abzielender Schluss wie dieser ist allerdings nicht einzigartig, ähnliche Motive begegnen auch in anderen Tanz-Leichs (im dritten und fünften Leich des Tannhäusers reißt die Saite, desgleichen am Schluss des dritten und vierten Leichs Ulrichs von Winterstetten). Festzuhalten bleibt, dass die Figur Didos hier gerade nicht als Minne-Exempel fungiert, obwohl der Kontext, in dem sie angeführt wird, diesen Anschein erweckt. Entscheidend ist dabei, dass das ›Spiel‹ des Tannhäusers nur aufgehen kann, weil mit der Nennung der Exempelfiguren bestimmte Erwartungen evoziert werden, die der Dichter dann gezielt und teils in komischer Brechung unterlaufen kann.
Reuvekamp (2011), 261. Ähnlich bereits Wachinger (1995), 603 (»parodistische[] Verwirrung«), sowie Sayce (2000), 17 (»clearly intended to satirize the convention of comparisons with exemplary figures«). Kern (1998), 264. Vgl. Wachinger (1995), 602, und Reuvekamp (2011), 263; zu den Brechungen der Neidhart-Anspielungen des Tannhäusers vgl. Kern (1998), 257 mit Anm. 465. Reuvekamp (2011), 264, fasst den Schluss poetologisch auf: »Das ironische Ende des Leichs spielt dann auch doppeldeutig mit dem Ende der Kunst, die der eigenen, aus der Lüsternheit geborenen Emphase nicht standzuhalten vermag.«
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Im Vergleich zum vierten Tannhäuser-Leich ist die Dido-Referenz in einem dreistrophigen, in der Weimarer Liederhandschrift (Q 564, fol. 7v–8v)⁴⁷ anonym überlieferten Lied in Frauenlobs Neuem Ton⁴⁸ wesentlich konventioneller. Auch hier entfaltet der Sprecher in geblümtem Stil und mit marianischen Anklängen ein ausuferndes hyperbolisches Lob der Geliebten, allerdings ohne den ironisch-spielerischen Gestus, der den Tannhäuser-Leich auszeichnet. In der zweiten Strophe wird die Schönheit der gepriesenen Geliebten mit derjenigen von drei bereits verstorbenen Schönheiten verglichen (II,2: die da der tot hat leider gar verhawen). Sie übertrifft sie allesamt: gen ir wer swach ir dreier schön auf erden (II,10: »im Vergleich zu ihr wäre die Schönheit der drei armselig«), ja, sie übertrifft sogar die Sonne (II,11: Der sunnen nimpt sie gar den preiß). Genannt werden als Schönheitsexempel drei aus der Literatur bekannte Frauenfiguren, und zwar als zweite Condwiramurs (in der Handschrift steht kunt Byramus), die susse, clar, achtpere (II,6) Gattin Parzivals, als dritte diejenige, die man im zu kinde iach, / dem reichen Terramere (II,8 f.) – das ist Arabel bzw. nach ihrer Taufe Gyburg, die Ehefrau Willehalms. Den Anfang macht Dido, allerdings ist der Text, den die Weimarer Handschrift hier überliefert, kaum verständlich: für weltlich ane schawen durch die Eneas floch von ir so werden, ob sie noch lebent schone were (II,4– 6).
Damit könnte gemeint sein – so Haustein/Stackmann – »›wenn sie, vor der Äneas flüchtete, um sich nicht den Blicken der Leute auszusetzen, noch in voller Schönheit lebte‹. Schwierigkeiten macht das von ir so werden«,⁴⁹ das Haustein/Stackmann denn auch unübersetzt lassen. Ettmüller hatte als Konjektur ›Tyrus‹ (Tir aus ir) vorgeschlagen und den vierten Vers der Strophe auf das Vorausgehende bezogen.⁵⁰ Sein Text durch die Ênêas vlôch von Tir sô werden, / Ob sie noch lebende schône wære (II,5 f.) ergibt Sinn, wenn man eine »kühne satzfügung«⁵¹ annimmt und von Tir sô werden auf durch die bezieht, was allerdings ausgesprochen ungewöhnlich wäre; gemeint wäre dann »Wenn sie, die überaus Edle, aus Tyrus Stammende, wegen der Eneas floh, noch in voller Schönheit lebte«. Ob sich so der Einwand von Haustein/Stackmann gegen Ettmüllers Konjektur entkräften ließe,⁵² sei dahingestellt. Sollte Ettmüllers Konjektur
Die Handschrift ist im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden und stammt wahrscheinlich aus Nürnberg. Zur Handschrift vgl. z. B. die Angaben bei Stackmann/Bertau (1981), 37– 48. Zitierte Ausgabe: Haustein/Stackmann. – Die ersten beiden Verse der ersten Strophe kombinieren die Ansage des Themas, die an den Beginn des vierten Tannhäuser-Leichs erinnert, mit einer Tonangabe: Ich lobe ein reinez wîp sô schône / vür al die werlt in disem niuwen dône (I,1 f.: »Ich lobe in diesem neuen Ton eine makellose Frau von großer Schönheit mehr als alles auf der Welt«). Haustein/Stackmann (2000), Bd. 2, 608. Vgl. Ettmüller (1843), 203. Ettmüller (1843), 370. Haustein/Stackmann (2000), Bd. 2, 608: »Man könnte versucht sein, mit von der Hagen und Ettmüller Tir (Tyrus) herzustellen. Dann müßte der Verfasser Tyrus und Karthago verwechselt haben.
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berechtigt sein, müsste freilich noch immer der Verweis auf die Flucht des Eneas erklärt werden. Gemeint sein könnte hier seine Flucht vor Dido (also vor ihrer verlockenden Schönheit), vielleicht aber auch seine Flucht aus Troja, die Eneas ja zu Dido geführt hatte: »Wenn sie, die ausgesprochen Edle, aus Tyrus Stammende, bei der Eneas – aus Troja kommend – Zuflucht fand, noch in voller Schönheit lebte«. All das muss aber angesichts der Problematik des überlieferten Textes offen bleiben. Zusammen mit Dido treten hier zwei Figuren aus Werken Wolframs von Eschenbach als Vergleichsfiguren auf, die jeweils als Gattin des Helden (Parzival und Willehalm) eine zentrale Stellung einnehmen. Das rückt das Dido-Exempel in eine interessante Perspektive: Anscheinend wird hier neben der Schönheit der drei Frauen-Figuren, die drei der wichtigsten Gattungen der hochmittelalterlichen Epik vertreten (Dido: Antikenroman, Condwiramurs: Artus-/Gralsroman, Arabel/Gyburg: Chanson de geste), auch jeweils auf ihre Rolle als vorbildliche Ehefrauen angespielt. Für Dido hieße das – geht man von dem zuletzt vorgeschlagenen Verständnis der Textpassage aus –, dass, ähnlich wie im Carmen Buranum 98, nur die erste Hälfte ihrer Liebesgeschichte mit Eneas für den exemplarischen Vergleich genutzt wird. Die problematischen Aspekte der Dido-Liebe – ihre Exzessivität und ihr tragisches Ende – treten in den Hintergrund, die Figur Didos wird auf ihre verführerisch-lockende Schönheit und indirekt auf ihre Rolle als Zufluchtspunkt und mögliche ideale Partnerin für Eneas reduziert. Nimmt man allerdings an, dass auf die Flucht des Eneas vor Dido angespielt wird, treten wieder die negativen Aspekte von Didos Schönheit in den Vordergrund. Klar ist jedenfalls, dass es die exzeptionelle Schönheit der drei genannten literarischen Figuren Dido, Condwiramurs und Arabel/Gyburg ist, die dem Vergleich zugrunde liegt: Die gepriesene Dame ist noch schöner. Nicht ganz auszuschließen ist eine dritte Verständnismöglichkeit der opaken Verse, die allerdings noch mehr literarisches Vorwissen voraussetzt. Verzichtet man auf die Konjektur und liest durch die Eneas floch von ir so werden, könnte diejenige, wegen der (durch die) Eneas floh, auch Lavinia sein,⁵³ deretwegen er die überaus edle (so werden) Dido (von ir) verlassen hat. Für Lavinia als eigentlich intendierte Vergleichsfigur könnte sprechen, dass die beiden anderen Figuren, wie oben erwähnt, jeweils die Ehefrauen der Protagonisten sind. Der Gegenstand des Vergleichs wäre dann Lavinias Schönheit, nicht diejenige Didos, und der Vergleich würde auf eine doppelte Überbietung zielen: Die im Lied gepriesene Dame ist schöner als Lavinia, und Lavinia ist Dido überlegen, weil Eneas ihretwegen Dido verlassen und am Ende Lavinia geheiratet hat. Die gestörte Überlieferung lässt aber auch hier keine eindeutige Entscheidung zu. Das dritte Beispiel für ein nur punktuelles Dido-Exempel ist ein im Berliner Fragment einer im niederdeutschen Sprachraum entstandenen Liederhandschrift
Denn von Tyrus war Dido nach Karthago geflüchtet, und dort wurde sie von Äneas verlassen. Das sollte jemand, der diese literarische Reminiszenz in sein Gedicht aufnahm, eigentlich gewußt haben«. Ohne nähere Begründung deutet auch Kern (1998), 129, an, dass es sich hier vielleicht um ein Lavinia-Exempel anstelle eines Dido-Exempels handeln könnte.
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(Mgq 795, fol. 6r–6v)⁵⁴ anonym überliefertes Tagelied in der ›Großen Tagweise‹ Peters von Arberg.⁵⁵ Das Lied ist in einer leicht modifizierten Fassung, allerdings mit deutlich abgeänderter Schlussstrophe und ohne den hier interessierenden Dido-Vergleich, auch in der Kolmarer Liederhandschrift (München, BSB, Cgm 4997, fol. 829v–830r) tradiert, wo sich auf fol. 828r auch die Tonangabe (Graff peters große tagwyß) findet. Am Beginn der ersten Strophe steht die Ankündigung des Tages durch einen Wächter sowie dessen Mahnung zur mâze, die er als ihm heraufziehenden Morgenstern verbildlicht darstellt: Ich se⁵⁶ den lechten sternen, de dar vm gat vnd des nicht lat, he ne kundighe vns rehte⁵⁷ mate. (fol. 6r) (»Ich sehe den strahlenden Morgenstern, der dort heraufzieht und nicht ablässt, uns an die rechte mâze zu erinnern.«)
Die Dame beklagt das Wächterlied und das Nahen des Tages, den sie in der zweiten Strophe als her vrowen rof (fol. 6v: »Herr Damenraub«) beschimpft. Mit ihren Tränen endet die zweite Strophe. In der dritten Strophe spricht dann ihr Übernachtungsgast, der ritter gut (fol. 6v). Auch er klagt, weil ihn der Kummer der vrouwe un sachte wecket (fol. 6v) hat. Die Folge: myn lef, myn trud, van dyr mod ik ⁵⁸ scheiden (III,8: »Meine Geliebte, mein Schatz, dich muss ich verlassen«). Den Schmerz, den ihm dieser Abschied bereitet, fasst er – allerdings nur im Berliner Fragment, in der jüngeren Kolmarer Handschrift weicht der Abgesang deutlich ab – in den bildhaften Vergleich mit zwei großen Liebespaaren. Die Strophe endet dann mit der finalen Liebesvereinigung der Dame und des Ritters, die aber aufgrund der gestörten Überlieferung nicht mehr vollständig rekonstruierbar ist. Als erstes der beiden Abschieds-Exempel wird die Tristram-Isalde-Liebe als Ideal einer rechtmäßigen Liebesvereinigung thematisiert:
Die Handschrift ist Anfang des 15. Jahrhunderts entstanden, vgl. z. B. die Angaben bei Stackmann/ Bertau (1981), 141 f., sowie in der Ausgabe von Schmeisky (1978). Wir zitieren das Lied nach der Handschrift, lösen aber die Abkürzungen und Diakritika auf und interpungieren (diplomatischer Abdruck bei Schmeisky [1978], 24– 27 [mit Faksimile], sowie bei Stopp/ Freund [1983], 75 f., allerdings mit Abweichungen). Der Textabdruck bei Hausner (1983), 46 f., entspricht der normalisierten und ins Mittelhochdeutsche rückübertragenen Fassung in HMS, Bd. 3, 427. – Die Frage, ob das Tagelied von Peter von Arberg stammt oder ob ein späterer Anonymus lediglich seinen Ton übernommen hat, wird kontrovers diskutiert, vgl. Röll (1968), 224, der sich für Peter von Arberg als Verfasser ausspricht; dagegen – sicherlich mit besseren Argumenten – Mertens (1972), 354– 357. Die Lesung ist unsicher, möglich wäre auch sa (so Schmeisky), aber die Präsensform scheint aus inhaltlichen Gründen passender. Schmeisky liest rechte (r’chte). ik fehlt bei Stopp/Freund.
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detz mot ik⁵⁹ in strystrammes mynne varn in scheiden van⁶⁰ ysalden, de so lusthich⁶¹ ghar in rechter leve […]⁶² hatten sich vor eynt. (fol. 6v) (»Deshalb muss ich nach Art der Tristram-Minne fort und von Isalde scheiden; beide hatten sich unbekleidet in wahrhafter Liebe voller freudigem Verlangen vereint.«)
Als ideale Liebe wird hier die auch körperlich vollzogene liebe eingestuft (vor eynt), die ›groß‹ ist, aber nicht von Dauer sein kann. Wie in der Tagelied-Liebe des Liedrahmens sorgen externe Faktoren für die Trennung der beiden Liebenden. Der Vergleich nobilitiert die Liebesbeziehung zwischen dem Ritter und der vrouwe des Liedes, weist sie aber zugleich als tageliedgemäß zeitlich begrenzt aus, und zwar durch ein Ende, das – im Gegensatz zur gemeinsam verbrachten Nacht und zur letzten Liebesvereinigung im Morgengrauen – Kummer und Schmerz statt Freude und lustvoller Intimität mit sich bringt, die im Tagelied ja grundsätzlich sagbar ist. Der Ritter fasst mit diesem Vergleich seinen Abschiedsschmerz in Worte: Sein Abschied ist der erzwungene der TristramMinne. Das zweite Exempel zielt in eine ähnliche Richtung. Angeführt wird als Beispiel Dido, allerdings mit einer offensichtlichen Verwechslung des Eneas mit Hector – eine »ziemlich erstaunliche Fehlleistung, auch wenn man sie dem Schreiber anlasten würde«:⁶³ Hettor ⁶⁴ van ⁶⁵ troyen schach alsam, / de he de schonen ⁶⁶ dido ⁶⁷ moste varen lan (fol. 6v: »Hector von Troja widerfuhr dasselbe, als er die schöne Dido aufgeben musste«). Der Vergleich bezieht sich – abgesehen von der Erwähnung von Didos allfälliger Schönheit als eines Kompliments für die Tagelied-Dame – natürlich auf den Weggang des Eneas aus Karthago. Er verschiebt aber den Fokus des angeführten Exempels weg von Didos Schmerz aufgrund des Verlusts des Geliebten hin zum lediglich behaupteten Abschiedsschmerz von Eneas-Hector, der in der Dido-Eneas-Geschichte nicht im Zentrum steht, hier aber – dem Tagelied-Rahmen und der Klage des männlichen Sprechers geschuldet – als Quintessenz des Exempels präsentiert wird. Anders als das Tristram-Isalde-Beispiel bekommt das Dido-Eneas-Exempel durch diese Verschiebung einen leicht schalen Beigeschmack, denn man könnte vermuten, dass dem Ritter der Abschied weniger schwer fällt als seiner geliebten Dame. Das ist aber ver-
Auch hier fehlt bei Stopp/Freund ik. Stopp/Freund lesen fälschlicherweise vo. Lesung unsicher; Stopp/Freund vermuten lutchich. Hier fehlt ein Reimwort, HMS ergänzt passend bar (»nackt«). Kern (1998), 237. Anders als Stopp/Freund angeben (Kommentar, 254), ist die Lesung nicht unsicher (Stopp/Freund lesen Heckor), vgl. hatten in derselben Zeile. Stopp/Freund lesen fälschlicherweise vo. Fleck; erkennbar ist am Wortanfang ein Schaft-s, am Wortende ein e mit Nasalstrich, Schmeiskys Lesung schonē ist überzeugend (auch HMS setzt schoenen ein). Stopp/Freund lesen dide.
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mutlich nicht die Intention des Ritters,⁶⁸ was verdeutlicht, dass man Exempel nicht immer ganz wörtlich nehmen darf. Illustriert werden soll nämlich – genau wie durch das Tristram-Isalde-Exempel – der schmerzhafte Abschied, der die Liebesnacht des Paares im Tagelied beendet. In gewisser Weise passt das Dido-Exempel (wie auch das Tristram-Exempel) mit seiner zunächst verfügbaren und erfüllten Liebe, der aber der Tagesanbruch ein unvermeidliches Ende setzt, mit Blick auf unsere Beispielreihe zum Liebeskonzept des Tageliedes am besten, denn einerseits ist das Sprechen über eine körperlich erfüllte, sexualisierte Liebe hier nicht tabuisiert wie in den meisten anderen lyrischen Diskursen, andererseits ist das Liebesglück nicht dauerhaft verfügbar: Ein schmerzlicher Abschied ist unumgänglich.
4 Dido bei Friedrich von Hausen Mit einer Hohe-Minne-Kanzone Friedrichs von Hausen schlagen wir den Bogen zurück ins 12. Jahrhundert. Dieses Beispiel ist das komplexeste und zugleich wohl auch das interessanteste in der Reihe der Dido-Lieder. Daher widmen wir ihm etwas mehr Aufmerksamkeit als den bisherigen exemplarischen Dido-Vergleichen. Das Lied Ich muoz von schulden sîn unvrô (MF 42,1) hat eine nicht ganz unkomplizierte Überlieferung.⁶⁹ In den Handschriften B und C finden sich drei verschiedene Fassungen: Die Weingartner Liederhandschrift (Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1) überliefert ein fünfstrophiges Lied (Str. 1– 3, 5 und 6), der Codex Manesse (Cpg 848) enthält zunächst ein vierstrophiges Lied (Str. 1– 4), wobei die ersten drei Strophen eng mit Str. 1– 3 der Handschrift B übereinstimmen. Damit kann ein »Liedkern von drei Strophen«⁷⁰ als gesichert betrachtet werden. In beiden Handschriften ist dieser Kern erweitert: Handschrift B ergänzt zwei Strophen (Str. 5 und 6), Handschrift C eine Strophe, die nicht in B steht (Str. 4); zusätzlich sind in C weiter hinten im Hausen-Corpus zwei weitere Strophen als eigenständiges Lied aufgezeichnet (Str. 5 und 6), die zwar die Strophenform variieren, inhaltlich aber weitgehend den beiden Strophen entsprechen, die in B den Liedkern erweitern. Wir legen unserer Analyse der Einfachheit halber die synthetische sechsstrophige Fas-
Auch wenn er ein »simple[s] Gemüt[]« sein sollte, wie Kern (1998), 237, augenzwinkernd schreibt, »um einfacherweise ihm die Schuld an der wohl auch aus höfischer Sicht gravierenden Bildungslücke [der Vertauschung des Eneas mit Hector, J. L./C. S.] zu geben«. Vgl. dazu die Angaben in MF sowie bei Schweikle (1984), 133, und Klein (2010), 354. Zitierte Ausgabe: MF. Erst nach Abschluss der Redaktion dieses Beitrags erschienen ist Veronika Hassels Neuausgabe der Lieder Friedrichs von Hausen, auf die wir hier leider nur noch hinweisen können; vgl. zu MF 42,1 Hassel (2018), S. 31– 58. Klein (2010), 354.
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sung zugrunde, die MF auf Grundlage von Handschrift B mit der ergänzten vierten Strophe des Codex Manesse bietet.⁷¹ Dieses Lied weist gleich in der Eingangsstrophe die »erste überlieferte Anspielung auf die Geschichte von Eneas und Dido im Minnesang«⁷² auf, womit das Thema des Liedes vorgegeben ist. Die Erwähnung der beiden antiken Figuren als Exempelfiguren eröffnet interessante Interpretationsspielräume, weil die Aktualisierung der DidoEneas-Geschichte in diesem Rezeptionsbeispiel äußerst vielschichtig eingesetzt wird, was wir im Folgenden im Rahmen einer Gesamtinterpretation des Liedes näher beleuchten werden. An den Anfang unserer Analyse stellen wir eine kommentierte Inhaltsparaphrase, um den Gedankengang des Liedes zu verdeutlichen und zu zeigen, dass auch die synthetische sechsstrophige Fassung einen konzisen und stringenten Argumentationsgang aufweist.⁷³ Ich muoz von schulden sîn unvrô, sît sî jach, dô ich bî ir was, ich mohte heizen Enêas und solte aber des wol sicher sîn, si wurde niemer mîn Tidô. wie sprach sie dô? aleine vrömidet mich ir lîp, si hât iedoch des herzen mich beroubet gar vür alliu wîp. (Str. 1 / BC1) (»Ich muss zurecht freudlos sein, da sie, als ich bei ihr war, sagte, ich könnte Eneas heißen und dürfte doch ganz sicher sein, dass sie niemals meine Dido würde. Warum sagte sie das da? Auch wenn sie mich meidet, hat sie mir doch mehr als alle anderen Frauen ganz das Herz geraubt.«)
In Str. 1 bekundet der Sprecher, freudlos zu sein, denn seine Minnedame habe ihm erklärt, dass sie niemals seine Dido sein werde, selbst wenn er Eneas hieße. Er fragt sich, warum sie das gesagt habe, und stellt fest, dass sie ihm – auch wenn sie sich jetzt entziehe – doch gänzlich das Herz geraubt habe. Bereits ganz am Anfang des Liedes wird die typische minnesängerische Klagehaltung und Freudlosigkeit des Sprechers als Grundmotiv eingeführt, und zwar unter Bezugnahme auf den Vergleich mit Dido und Eneas. Mit gedanken muoz ich die zît vertrîben, als ich beste kan, und lernen, des ich nie began, trûren unde sorgen pflegen. des was vil ungewent mîn lîp. durch alliu wîp
Eine Edition, die die drei Fassungen des Liedes transparent macht, findet sich bei Klein (2010), Nr. 15/15a. Kern (1998), 222. Zur inhaltlichen Kohärenz der verschiedenen überlieferten Fassungen vgl. Kern (1998), 224.
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wânde ich niemer sîn bekomen in sô rehte kumberlîche nôt, als ich von einer hân genomen. (Str. 2 / BC 2) (»Gedankenschwer muss ich mir die Zeit vertreiben, so gut ich kann, und lernen, womit ich niemals etwas zu tun hatte: trauern und Kummer haben. Daran war ich überhaupt nicht gewöhnt. Ich glaubte, ich wäre durch alle Frauen zusammen niemals in eine so große schmerzliche Notlage gekommen, wie ich sie wegen der einen auf mich genommen habe.«)
In der zweiten Strophe setzt der Sprecher diese Klage als Ausdruck seiner Trauer fort: Er vertreibe sich mit schweren Gedanken die Zeit und müsse sich mit seinem Kummer auseinandersetzen, was ihm neu sei. Er (bzw. sein Herz) sei niemals durch alle Frauen zusammen in solche Not geraten, wie es durch diese eine geschehen sei. Hier wird die Macht artikuliert, über die die Minne und die vrouwe verfügen: Die Minnedame hat eine starke, zerstörerische Wirkung auf das Sprecher-Ich, weil sie es mehr als alle anderen Frauen zusammen überwältigt hat. Mîn herze muoz ir klûse sîn, al die wîle ich hân den lîp. sô müezen iemer alliu wîp vil ungedrungen drinne wesen, swie lîhte sî sich getroeste mîn. nu werde schîn, ob rehte staete iht müge gevromen. der wil ich iemer gên ir pflegen, diu ist mir von ir güete komen. (Str. 3 / BC 3) (»Mein Herz wird ihre Klause sein, solange ich am Leben bin. Alle anderen Frauen werden sich niemals darin drängen, wie leicht sie auch auf mich verzichten mag. Nun soll sich zeigen, ob wahre Treue nicht doch etwas nutzen kann. Die will ich ihr gegenüber immer hegen, sie beruht auf ihrer Vortrefflichkeit.«)
Der Sprecher erklärt nun, seine vrouwe würde sein ganzes Leben lang in seinem Herz wohnen und es besitzen.⁷⁴ Dies deckt sich mit seinen weiteren Ausführungen, wenn er erklärt, dass alle anderen Frauen niemals einen Platz in seinem Herzen einnehmen könnten. Er klagt darüber, dass seine Minnedame so leicht ohne ihn leben könne. Dennoch wolle er sehen, ob wahrhaftige Treue, nämlich sein Dienst, den er wegen ihrer Vortrefflichkeit ausgeübt habe und immer ausüben werde, etwas an der Situation ändern könne. Indirekt lässt sich hier das Motiv des Preisens der Dame erkennen, das ein weiteres zentrales Element der hohen Minne bildet: Sie verfügt über außerordentliche Qualitäten und ist so begehrenswert, dass sie das Herz des Sprechers auf immer für sich einnimmt.⁷⁵ Es stellt sich die Frage, inwiefern der Sprecher etwas an
Zum weit verbreiteten Motiv des Wohnens im Herzen vgl. z. B. von Ertzdorff (1965) und Ohly (1977). Auch in vier weiteren Liedern Friedrichs von Hausen begegnet das Motiv des geraubten oder der Dame ausgelieferten Herzens. Vgl. dazu Schweikle (1984), 134.
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seiner Situation ändern will. Geht es ihm darum, die Dame für sich zu gewinnen, oder darum, über sie hinweg zu kommen? Da der Sprecher mit seiner Treue argumentiert, erscheint die erste Annahme plausibler, obwohl solch ein Verlangen im Rahmen der hohen Minne eigentlich unerfüllbar ist, auch wenn es als Phantasma und höchstes Ziel beständig thematisiert wird. Mich müet, daz ich der lieben quam sô verre hin. des muoz ich wunt belîben. dêst mir ungesunt. ouch solte mich wol helfen daz, daz ich ir ie was undertân. sît ichs began, sô enkunde ich nie den staeten muot gewenden rehte gar von ir, wan sî daz beste gerne tuot. (Str. 4 / C4) (»Es quält mich, dass ich so weit von der Geliebten entfernt bin. Deswegen werde ich weiter verwundet bleiben. Das ist schädlich für mich. Aber es sollte mir helfen, dass ich ihr immer untertan war. Seit ich damit begann, konnte ich niemals meine treue Gesinnung gänzlich von ihr abwenden, weil sie gerne das Beste tut.«)
In Str. 4, die in Handschrift C den Schluss des Liedes bildet, schildert der Sprecher seine Qualen und Schmerzen, die er durch die Distanz zur Geliebten erleidet. Erneut betont er, dass es ihm helfen könne, dass er ihr aufgrund ihrer Vorzüge stets untertan gewesen sei und ihr nie untreu wurde. Da seine Wunde durch die Distanz zu ihr entstand und bestehen bleibt, wäre eine Heilung wiederum nur durch eine Vereinigung der beiden denkbar. Dies ist jedoch, wie schon erwähnt, per se ein aussichtsloses Begehren. Ez waere ein wunneclîchiu zît, der nû bî vriunden möhte sîn. ich waene an mir wol werde schîn, daz ich von der gescheiden bin, die ich erkôs vür alliu wîp. ir schoener lîp der wart ze sorgen mir geborn. den ougen mîn muoz dicke schaden, daz sî sô rehte habent erkorn. (Str. 5 / B4) (»Es wäre eine herrliche Zeit, wenn man nun bei Vertrauten sein könnte. Ich glaube, an mir wird deutlich sichtbar, dass ich von der getrennt bin, die ich vor allen anderen Frauen erwählt habe. Sie in ihrer Schönheit wurde zu meinem Leid geboren. Meinen Augen wird das, was sie mit gutem Recht erwählt haben, sehr schaden.«)
In der Fortsetzung des Liedkerns in Handschrift B offenbart der Sprecher in Str. 5, es sei eine wonnevolle Zeit für denjenigen, der nun bei engen Vertrauten sein könne. Der Kummer des Sprechers ist sogar so groß, dass er sich vorstellt, seine wunderschöne Geliebte sei ausschließlich zu seinem Leid geboren. Die Wahl, die seine Augen ge-
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troffen haben, werde ihnen – und damit der gesamten Person – großen Schaden zufügen. Hier wird wieder auf die Schönheit der Dame angespielt: Einerseits ist sie so schön, dass seine Augen und damit auch er eine gute Wahl getroffen haben, andererseits tut ihm – in diesem Fall symbolisiert durch seine Augen – die Unerreichbarkeit dieser Schönheit weh und verwundet ihn. Gerade wegen ihrer Schönheit ist die Minnedame jedoch so unerreichbar bzw. ist sie wegen ihrer Unerreichbarkeit so reizvoll und schön für den Sprecher. Waere sî mir in der mâze liep, sô wurde ez umbe daz scheiden rât. wan ez mir alsô niht enstât, daz ich mich ir getroesten muge. ouch sol si mîn vergezzen niet. wan dô ich schiet von ir und ich si jungest an sach, ze vröiden muos ich urloup nemen. daz mir dâ vor ê nie geschach. (Str. 6 / B5) (»Wäre sie mir nicht so unmäßig lieb, dann gäbe es in Hinblick auf die Trennung Abhilfe, aber es ist nun einmal nicht so, dass ich auf sie verzichten kann. Ebensowenig soll sie mich vergessen, denn als ich von ihr schied und sie ein letztes Mal anblickte, da musste ich von jeglicher Freude Abschied nehmen. Das war mir zuvor noch nie widerfahren.«)
In der letzten Strophe wird nochmals die übersteigerte und ausweglose Liebe des Sprecher-Ichs zu seiner vrouwe verdeutlicht. Der Sprecher behauptet, er könne die Trennung verkraften, wenn er die Dame weniger schätzte. Daraus ist jedoch zu schließen, dass er sie über alle Maßen liebt, so dass die Trennung und der Verzicht auf sie eben gerade nicht zu verschmerzen wäre. Auch soll sie den Sprecher nicht vergessen, denn als er von ihr weggegangen sei, habe er sich von jeglicher Freude verabschieden müssen, was ihm zuvor noch nie passiert sei. Ohne seine Minnedame empfindet das Sprecher-Ich keine Freude mehr. Hier wird der Bogen zurück zum ersten Vers der ersten Strophe geschlagen: Ich muoz von schulden sîn unvrô. Auffällig ist in diesem Lied zunächst die unentwegte Klage des Sprechers, die sich durch alle Strophen zieht. Es wird deutlich, dass er ohne seine Minnedame keine Freude empfinden kann und ihm ein Leben ohne sie nicht lebenswert erscheint. Ihren Ausgang nimmt diese Klage im Bericht von der Begegnung mit der vrouwe in der ersten Strophe: »Die Erfahrung eines scheiternden Begehrens […] wird in der Erinnerung vergegenwärtigt.«⁷⁶ In Verbindung mit dem intertextuellen Bezug auf Dido und Eneas, auf den zurückzukommen sein wird, spricht Kern treffend von einem »Minneleid-exemplum«.⁷⁷ Des Weiteren fällt die Häufung der Begriffe lîp und wîp auf. Sie sind in Str. 1, 2, 3 und 5 jeweils Reimworte. In Str. 1 geht es dabei darum, dass sich die Minnedame dem Sprecher-Ich körperlich entzieht (I,7: vrömidet mich ir lîp) und Klein (2010), 355. Kern (1998), 222.
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ihm das Herz geraubt hat, so dass dieses allen anderen Frauen (I,9: vür alliu wîp) verschlossen bleibt. In Str. 2 wird ausgesagt, dass die Bedrängnis durch die eine Dame für seinen Körper nicht durch alle anderen Frauen zusammen hätte verursacht werden können. Str. 3 greift das Motiv der ersten Strophe auf: Keine anderen Frauen können in seinem Herzen Platz finden, solange der Sprecher am Leben ist (III,2: die wîle ich hân den lîp). In der fünften Strophe ist mit lîp schließlich die körperliche Schönheit der Minnedame gemeint. Durch das Spiel mit den beiden Begriffen wird die Trennungsthematik hervorgehoben, was die Wirkung der Minneklage noch verstärkt. Auch dieses Thema bekommt durch die Anspielung auf Dido und Eneas eine besondere Wendung, wie sich zeigen wird. Die gehäufte Kombination der Begriffe lîp und wîp geht einher mit einer Überhöhung der Dame, die dadurch von allen anderen Frauen abgehoben wird. Doch gerade diese Überhöhung sorgt auch dafür, dass die Dame unerreichbar bleibt: Die Erwähnung ihres Körpers geht mit Distanz, Schmerz und Unverfügbarkeit einher. Der Körper des Sprechers ist im Gegenzug in Abwehr gegenüber allen anderen Damen begriffen. Allein in seinem Herzen kann die Dame beherbergt werden, und nur in dieser Phantasie kann das Tabu des Beisammenseins aufgebrochen werden. Die Klagen des Sprecher-Ichs sind in diesem Lied fast immer an Körperliches, also konkret an die Körper der beiden Personen, geknüpft. In der ersten Strophe gibt der Sprecher vor, bei der Dame gewesen zu sein (I,2: dô ich bî ir was), und schildert, was sie im Zwiegespräch zu ihm gesagt habe (I,3 – 5: ich mohte heizen Enêas / und solte aber des wol sicher sîn, / sie wurde niemer mîn Tidô). Somit müssen sich die beiden einmal begegnet sein – zumindest wird diese Begegnung im Lied als ›real‹ imaginiert. Dazu passt, dass sich die Minnedame dem Sprecher-Ich nun körperlich entzieht: Bei dieser einmaligen Begegnung kam es zur Zurückweisung durch die Dame, weswegen sein Herz Schaden erlitten hat. Dass innerhalb der Fiktion des Liedes eine Begegnung stattgefunden haben muss, scheint auch mit Blick auf die letzte Strophe schlüssig. Die dort erwähnte kummerbringende Trennung ergibt nur vor dem Hintergrund eines vormaligen Beisammenseins Sinn: wan dô ich schiet / von ir und ich si jungest an sach, / ze vröiden muos ich urloup nemen (VI,6 – 8). Für das Verständnis des Liedes ist ein genauerer Blick auf die Erwähnung Didos und Eneas’ in der ersten Strophe nötig.⁷⁸ Durch eine intertextuelle Bezugnahme vergleicht die Dame sich und ihren lästigen Verehrer mit den epischen Figuren Dido und Eneas. Es ist davon auszugehen, dass Friedrich von Hausen und sein Publikum in den 1180er Jahren diese vor allem aus dem Eneas Heinrichs von Veldeke kannten:⁷⁹ Hausens Minnelied durfte […] die Bekanntschaft seines Publikums mit einem Werk voraussetzen, das unter sensationellen Umständen entstanden und wohl neulich erst in vollendeter Form an
Intertextuelle Anspielungen auf literarische Figuren werden in dieser Phase des Minnesangs üblich. Vgl. Schweikle (1984), 133, sowie Braun (1964), 209. Vgl. dazu z. B. Braun (1964) sowie Ashcroft (1999), 61 f., der über mögliche Kontakte zwischen Heinrich von Veldeke und Friedrich von Hausen im Umfeld der Staufer spekuliert.
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den kaiserlichen Hof gelangt war. Hausens kulturell anspruchsvolle literarische Anspielung auf Veldekes Epos […] schmeichelt dem kultivierten Publikum.⁸⁰
Dabei stellt der Dichter hohe »Ansprüche an seine Hörer, die Veldekes Dido und Aeneas hier in einer komplex gebrochenen Reflexion wiedererkennen und anders bewerten müssen.«⁸¹ In der »Roman-Rezeption im lyrischen Text«⁸² spiegelt sich das LiteraturRezeptionsverhalten der Mitte der 1180er Jahre: Auch das Personal des Minneliedes kennt Veldekes Werk und sucht darin Identifikationsangebote.⁸³ Diese Aktualisierung kommt hier deutlich zur Geltung. Das von Sinnlichkeit und zumindest kurzzeitiger Erfüllung geprägte Liebeskonzept des Eneas-Romans wird aufgerufen und für die aktuelle Situation des Minneliedes nutzbar gemacht. Mit der Aussage der Dame, sie werde niemals seine Dido sein, auch wenn sie es mit einem Eneas zu tun hätte, ist wohl zunächst gemeint, dass es von Anfang an keine Chance auf eine erfüllte, passionierte Liebe zwischen den beiden geben kann, selbst wenn das Sprecher-Ich ein so begehrenswerter und ›attraktiver‹ Mann wie Eneas wäre. Damit ist klar, dass sich die Minnedame niemals auf ein Verhältnis einlassen wird: »Hausens Minnedame argumentiert ihr distanziertes Verhalten dem Sänger gegenüber mit Dido«⁸⁴ und weigert sich, deren Rolle anzunehmen bzw. sich vollends mit ihr zu identifizieren. Dabei deutet sie auch an, dass sie »Verhalten und Schicksal des abgelehnten literarischen Vorbilds zu vermeiden weiß.«⁸⁵ Hieraus resultiert die Irritation des Mannes – wie sprach si dô? (I,6) –, und letztlich auch seine Verwundung. Dass sie nicht seine Dido sein wird, kann zudem bedeuten, dass die Minnedame nicht – wie Dido – kopflos sein und ihren Stand sowie ihre Pflichten vergessen wird, um letztlich verlassen zu werden. »Damit stellt sie den ethischen Anspruch des lyrischen IchSubjekts in Frage, welcher angibt, stæte und treuen Dienst zu verkörpern, ein neuer höfisch verbesserter Aeneas zu sein.«⁸⁶ In einer weiteren möglichen Deutung des Vergleichs versucht die Dame, das Sprecher-Ich als treulosen Verführer zu entlarven.⁸⁷ Sie will sich nicht blamieren und sich nicht durch »aus höfischer Sicht zu verurteilende[] maßlose[] Leidenschaft«⁸⁸ entehren, wie es Dido getan hat. Daher erteilt sie dem mit der Nennung der Romanfiguren verbundenen Liebeskonzept eine klare Absage.⁸⁹ Sie verhält sich damit gemäß
Ashcroft (1999), 62 f. Ashcroft (1999), 64. Kern (1998), 227. Vgl. dazu Kern (1998), 225 f. Kern (1998), 223. Ashcroft (1999), 63. Ashcroft (1999), 75. Vgl. Ashcroft (1999), 78. Ashcroft (1999), 63. Vgl. dazu auch Klein (2010), 356.
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dem Konzept der hohen Minne⁹⁰ und weist das auf passioniert-erfüllte Liebe zielende Liebeskonzept der Dido-Eneas-Geschichte ab, denn »die lyrische Konfiguration des Hohen Minnesangs steht geradezu im Widerspruch zum Minnecasus von Dido und Eneas.«⁹¹ Mit dem Transfer der Rolle Didos in die Minnelyrik muss diese anders ausgestaltet werden. Das erklärt, warum die Frau die Dido-Rolle ausschlagen muss, um weiterhin den an sie gestellten gesellschaftlichen Erwartungen, ethisch-sozialen Verhaltensnormen und der ihr gattungsmäßig zugeteilten Identität zu entsprechen.⁹² Durch eine Verbindung mit dem männlichen Sprecher-Ich würde sich die Dame entehren und wäre wegen ihrer dadurch bedingten Verfügbarkeit für das Ich nicht mehr begehrenswert. Dieses Paradoxon ist im Konzept der hohen Minne angelegt und wird hier mit den Figuren Dido und Eneas kontrastiert. Indem die Minnedame proklamiert, dass sie niemals seine Dido sein wird, erklärt sie, dass sie sich nicht wie Dido zum Minneopfer machen lassen wird und eine Verbindung unmöglich ist. So bleibt das Konzept der hohen Minne geschützt: Die Unverfügbarkeit der passionierten Liebe wird erneut untermauert. Durch die Art der Formulierung dieser Aussage, die der Sprecher in Str. 1 wiedergibt, wird die Erfüllung seiner Sehnsüchte gleich doppelt negiert und die Unerreichbarkeit der Dame manifestiert: Wenn die Minnedame ihren Gesprächspartner mit Eneas in Verbindung bringt, rückt sie ihn in dessen Nähe und stellt eine gewisse Übereinstimmung zwischen ihm und Eneas her. Durch den verwendeten Konjunktiv wird allerdings wiederum Distanz zwischen den beiden männlichen Rollen erzeugt. Letztendlich sagt die Dame aus, dass ihr Gegenüber eben nicht Eneas ist und sie auch dann nicht seine Dido werden würde, wenn jener Eneas wäre.⁹³ Die »erotische Niederlage« ist damit vollkommen, die Dame wird sich »ihm niemals hingeben«.⁹⁴ Eine Verbindung von Minnedame und Sprecher-Ich ist also undenkbar. Das Unsagbare wird durch das Ausweichen auf Exempelfiguren, die generische Grenzüberschreitung in Richtung der Narration, geschickt umgangen und dadurch indirekt tabuisiert. Die Aktualisierung des antiken Mythos legt den Fokus damit auf die Liebesbeziehung zwischen Dido und Eneas, die dem höfischen Publikum als »die höfische mâze (das rechte Maß) verletzend[], von Sinnlichkeit dominiert[]«⁹⁵ bekannt ist. Ferner wird klar gemacht, dass »die besungene Dame […] sich auf keinen Fall so verhalten [würde] wie die antike
Hier klingt auch ein möglicher Standesunterschied an, der aber in der konkreten Situation des Liedes nicht aktualisiert wird. Vgl. Haubrichs (1981), 73: »Die illegitime Liebe steigerte das soziale Prestige des Mannes, das Risiko einer Wertminderung vor den Augen der Gesellschaft trug der weibliche Partner«. Kern (1998), 224. Vgl. dazu auch Ashcroft (1999), 63 und 71 f. So übersetzt Haubrichs (1981), 74, die Passage. Kern (1998), 222, paraphrasiert sinngemäß: »hieße er auch Eneas«. Beide Zitate Haubrichs (1981), 74. Haubrichs (1981), 74.
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Dido, die sich beim Abschied des Aeneas das Leben nahm.«⁹⁶ Auch das Sprecher-Ich wählt diesen Ausweg nicht. Es schließt die Dame nicht aus seinem Herzen aus, wie es Dido notgedrungen mit Eneas machte, sondern proklamiert, sein Herz werde für den Rest seines Lebens ihre Klause sein, und beteuert trotz der räumlichen Trennung fortwährend seine stæte (III,7; IV,7), von der es sich letztlich wegen der güete der Dame doch noch den entsprechenden Lohn erhofft.⁹⁷ Denkt man die Verwendung der Exempelfiguren Dido und Eneas weiter, so wird deutlich, dass hier die Rollen der beiden im Grunde vertauscht sind. Der zunächst in die Nähe von Eneas gerückte Mann übernimmt den Opfer-Part, denn er ist es, der verlassen wird, trauert und sich für immer in einer ausweglosen Situation wiederfindet, während die Minnedame sein Herz bricht, die Trennung verursacht und daraufhin leicht auf ihn verzichten kann (III,5):⁹⁸ »Nicht er, sondern sie sei an der Trennung schuld, er, nicht sie leide daran. Indem er eine bis dahin nie erlebte Liebespein verkraften muß […], übernimmt er gleichsam die Rolle Didos.«⁹⁹ So wie Dido hat sich auch das Sprecher-Ich zu jemandem hingewendet, der ihn vrömidet (I,7), und alliu wîp (I,9; II,6; III,3; IV,5) abgewiesen.¹⁰⁰ Vor diesem Hintergrund bekommt die Feststellung der Dame, dass sie niemals seine Dido sein wird, noch eine neue Schattierung. Dies beantwortet auch die rat- und verständnislose Frage des Sprecher-Ichs an sich selbst (I,6: wie sprach sie dô?):¹⁰¹ Sie kann schlicht nicht seine Dido sein, denn sie spiegelt die Figur des Eneas und nimmt in gewisser Weise dessen Rolle ein. Damit bieten die Rollen Didos und Eneas’ alternative Identifikationsangebote für Sprecher-Ich und Dame.¹⁰² So scheint sie zwar vom Sprecher-Ich zunächst durchaus angetan – zumindest in seiner Imagination einer Begegnung –, sonst hätte sie nicht den Vergleich mit Eneas in den Raum gestellt, ist aber letztlich emotional bei weitem nicht so sehr involviert wie das Sprecher-Ich. Die Parallelen zur Geschichte von Dido und Eneas sind evident. Dies zieht sich bis zur Anspielung auf die Begegnung in der letzten Strophe durch, wenn der Sprecher nach der erzwungenen Trennung wie liebeskrank und besessen wirkt: Er liebt übermäßig, kann nicht vergessen und fühlt keine Freude mehr. Damit befindet er sich in einer ausweglosen Situation – genau wie Dido. Er hat noch niemals solch eine Enttäuschung erlitten. Die Liebeskrankheit des Sprecher-Ichs wird in Str. 4 sogar deutlich als solche benannt: des muoz ich wunt / belîben. dêst mir ungesunt (IV,2 f.). Auch Dido kann nach der Abreise des Eneas nicht glauben, was ihr widerfahren ist, und kann aus
Schweikle (1984), 135. Vgl. dazu auch Schweikle (1984), 133, sowie Kern (1998), 228, und Braun (1964), 214. In diesem Punkt erkennt auch Ashcroft (1999), 58, eine ›falsche‹ Verteilung der literarischen Rollen. Ashcroft (1999), 63; vgl. auch Braun (1964), 213. Schon in der vierten Strophe ist die Trennung vollzogen; in der fünften und sechsten Strophe wird das Trennungsthema immer präsenter, vgl. Ashcroft (1999), 73. Vgl. dazu auch Braun (1964), 213 f. Zur Unverständlichkeit des Dido-Exempels seitens des Sprechers vgl. Kern (1998), 222 f. Vgl. Kern (1998), 223 f.
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allen positiven Aspekten in ihrem Leben, ihrer Herrschaft über Karthago sowie ihrer Stärke und politischen Macht, keine Freude mehr ziehen, so dass sie jeden Lebensmut verliert. Die Klage des Sprechers in den Str. 2, 3 und 4 erinnert deutlich an die Worte Didos nach der Abreise des Eneas, so beispielsweise, wenn er beklagt, wie leicht sie auf ihn verzichten kann:¹⁰³ »Brennend vor Liebe […] muss auch Dido mit gedanke die zît vertrîben«.¹⁰⁴ Die körperlichen Auswirkungen der Liebeskrankheit werden im vorliegenden Lied deutlich hervorgehoben. Auch in den verschiedenen Ausgestaltungen der Dido-Eneas-Geschichte wird die Liebeserfahrung intensiv körperlich beschrieben. Schon bei Vergil wird Dido heiß und kalt, sie verspürt Schmerzen, leidet an Fieber, ist krank vor Sehnsucht und verzehrt sich in heimlicher Liebesglut (Aeneis IV,1– 5). Schließlich verliert sie den Verstand und nimmt sich das Leben. Das Sprecher-Ich des Liedes setzt sich von Eneas ab und präsentiert sich als »AntiEneas«,¹⁰⁵ der die frouwe weder verlassen will noch kann, schließlich hat sie sein Herz geraubt und hält es fest.¹⁰⁶ In dieser Konstellation erweisen sich die »Didosorgen«¹⁰⁷ der Minnedame als unbegründet.¹⁰⁸ Friedrich von Hausen kreiert damit einen »besseren Eneas«,¹⁰⁹ der im Vergleich zu Heinrichs von Veldeke Eneas sensibler und einfühlsamer ist und sich längerfristig binden will – er besitzt von vornherein »Einsicht in die emotionalen und sittlichen Bindungen der Liebe.«¹¹⁰ Die Eneasrolle wird so zwar nicht gänzlich abgelehnt, wohl aber umgestaltet zu einem »›modernen‹, empfindsamen Aeneas […], der private Tugend mit öffentlicher Pflicht zu versöhnen weiß«¹¹¹ und ein »christlich-ritterlich überhöhte[s] Minneverhalten«¹¹² zeigt: Statt des epischen Helden […], der von seinem göttlichen Auftrag genötigt trotz großer Liebe und Mitleidsgefühle Dido verlassen muss, stellt Hausen einen exemplarischen Minnehelden dar, der zwar die geliebte Frau verlassen muss – scheiden ist das Thema der zweiten Hälfte des Liedes –, ihr aber weiterhin treubleiben will.¹¹³
Auch Ashcroft (1999), 57, sieht die Klage über die »Gleichgültigkeit« der Frau bei beständiger Ergebenheit des Mannes als zentrales Thema des Minneliedes. Braun (1964), 214. Kern (1998), 224. Vgl. Ashcroft (1999), 58. Kern (1998), 224. Vgl. Kern (1998), 224. Kern (1998), 228. Ashcroft (1999), 64.Wie Ashcroft hier aufzeigt, deutet Friedrich von Hausen die Vorwegnahme von Eneas’ Minneerfahrung durch Zitate aus Heinrichs von Veldeke Eneas-Roman an, was darauf hinweist, dass er die literarische Kompetenz seines Publikums als äußerst hoch einschätzte. Zu Bezügen der uminterpretierten Eneas-Rolle zur Reichspolitik Barbarossas sowie Individualisierungs- und Sozialisierungsprozessen vgl. ebenfalls Ashcroft (1999), 78 – 84. Hier sind auch Anmerkungen zu weiteren vermeintlich autobiographischen Bezügen (als exemplarisch Minnender) zur Reichsgeschichte zu finden. Ashcroft (1999), 72. Ashcroft (1999), 78. Kern (1998), 228.
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Es kann festhalten werden, dass das Lied mit den Motiven der körperlichen und seelischen Trennung spielt.¹¹⁴ Innerhalb der Fiktion des Minneliedes hatten das Sprecher-Ich und die Minnedame eine Begegnung, so dass es zum Dido-Eneas-Dialog kommen konnte. Der Sprecher bleibt dem Konzept der hohen Minne insofern treu, als er eine verehrungswürdige, ›gute‹ Minnedame entwirft, die in gewisser Weise mit Dido verglichen wird, beispielsweise was ihre güete angeht (III,9: diu [seine rehte stæte, J. L./C. S.] ist mir von ir güete komen). Dieser Vergleich trägt zur Überhöhung der Dame und damit zu einer gesteigerten Unverfügbarkeit bei. Hier wird die gattungstypische Hyperbolik des Minnesangs mittels der Exempelfigur Dido zugespitzt; zugleich wird die Minnedame dadurch ›konkretisiert‹: »Der Vergleich mit der karthagischen Königin Dido gibt […] dem Publikum die sonst völlig blaß verbleibende Dame als Adelige, als frouwe, Herrin zu erkennen; ihre Fähigkeit zum Zitieren epischer, höfischer Dichtung erweist ihre höfische Qualität.«¹¹⁵ Aus dem Kontext des Liedes heraus lehnt die Dame diese Rolle jedoch ab und wird zunehmend in die Nähe der Rolle des gleichgültigen Eneas gerückt, während das Sprecher-Ich sie verehrt, unter seiner unerwiderten Minne leidet und diese beklagt. Es »sieht sich auf trûren, sorgen, kumberlîche nôt zurückgeworfen, auf jene Akzidentien der unerwiderten Liebe, mit denen im archaischen Minnesang die einsame Frau ausgestattet wurde.«¹¹⁶ So präsentiert sich das Ich zunächst als einen moralisch verbesserten Eneas, nimmt im Gesamtzusammenhang des Liedes jedoch die Dido-Opfer-Rolle ein. Übertragen auf die Sehnsüchte und Wünsche des Sprecher-Ichs in Hinblick auf die Erreichbarkeit der Dame und damit die Erfüllung einer passionierten Liebe steht der Vergleich mit der Liebe zwischen Dido und Eneas für genau diese positive, ideale Liebe. Offenkundig hat hier jedoch eine Umdeutung der ursprünglichen Geschichte dieser Liebe stattgefunden, da diese gerade kein glückliches, erfülltes Ende hat. Die Ursprungskonstellation wird in Richtung Erfüllbarkeit abgeändert. Das Unsagbare – die Vereinigung von Sprecher und Dame – wird mittels der Exempelfiguren und wechselnder Identifikationsangebote geschickt angedeutet, jedoch sofort wieder negiert, so dass sich das Ich letztendlich nicht angreifbar macht. Letztlich dient der Vergleich hier auch dazu, die minnesangtypischen Konstellationen zu verschärfen. Besonders »der exemplarische Rang und Wert«¹¹⁷ der aktualisierten Figuren ist hier entscheidend. Das Sprecher-Ich versucht auf diese Weise, seine ›Fallhöhe‹ glaubhaft zu demonstrieren und so seinen durch die Trennung von der Dame verursachten Schmerz und seine bislang ungewohnte freudlose Situation zu
Zum Aspekt der räumlichen Trennung zwischen Sprecher und Dame, mittels derer Friedrich von Hausen dem Liebeskonzept der frühhöfisch-donauländischen Minnelyrik eine Absage erteilt, vgl. auch Haubrichs (1981), 73 f., der verre sîn als typischen »Zustand der höfischen Minne« (74) ausmacht. Vgl. zudem Schweikle (1984), 133. Haubrichs (1981), 74. Haubrichs (1981), 74. In diesem Kontext arbeitet Haubrichs die »Absage an die Leiblichkeit und die Sängerrolle des archaischen Minnesangs« (73) als zentrales Motiv des Liedes heraus. Ashcroft (1999), 72.
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bekräftigen. Auch die Abweisung durch die Dame wird in dieser Konstellation fixiert, wenn sie die Rolle des durch Gottesweisungen gebundenen Eneas einnimmt, dem keine andere Möglichkeit bleibt als die endgültige Trennung.¹¹⁸
5 Dido zwischen exemplarischer Schönheit und Minnekasus Blickt man von der hochkomplexen Aktualisierung der Dido-Eneas-Geschichte im Minnelied Friedrichs von Hausen mit seiner das Konzept der hohen Minne affirmativ untermauernden Vertauschung der Handlungsrollen, durch die die passionierte Liebe als unverfügbar ausgewiesen wird, auf die anderen lyrischen Rezeptionszeugnisse zurück, so fällt auf, dass bei der doppelten Transformation des antiken Mythos in eine neue Zeit und in neue Gattungsrahmen jeweils nur einzelne Aspekte oder Ausschnitte der Geschichte für exemplarische Vergleiche gebraucht werden.¹¹⁹ Andere Elemente werden dadurch gezielt ausgeblendet, und es zeigt sich, dass es nicht zwangsläufig zu Interferenzen zwischen explizit aufgerufenen exemplarischen Eigenschaften und den verschwiegenen weiteren Charakteristika kommen muss. So kann Didos Name etwa als Chiffre für das Proprium ›Schönheit‹ gebraucht werden, ohne dass die tragische Liebesgeschichte, die mit Didos Namen verbunden ist, den Stellenwert Didos als eines Schönheitsexempels schmälern würde.¹²⁰ Von der intertextuellen Referenz ausgelöste Assoziationsketten seitens der Rezipienten lassen sich freilich nicht immer kontrollieren, aber der hier vorliegende Befund verweist doch darauf, dass eher die konkrete Ausgestaltung des exemplarischen Vergleichs als eventuell mitschwingende Präsemantisierungen für die Bewertung des Exempels ausschlaggebend ist: »Nicht was berichtet wird, macht ein Exempel aus. […] Exempel ist, was als Exempel für etwas anderes dient.«¹²¹ Insgesamt ergibt sich ein erstaunlich weites Spektrum an exemplarischen Aktualisierungen der antiken Liebesgeschichte von Dido und Eneas.¹²² Eine Sonderstellung
Auch Kern (1998), 224 und 228, hält fest, dass in diesem Lied auf der Basis der epischen Anspielung gängige Minnesangthemen bzw. typische minnelyrische Fragen in Variationen behandelt werden. Zum Transformationstypus ›Fokussierung/Ausblendung‹ vgl. Bergemann u. a. (2011), 50. Reuvekamp (2011) ist also nur eingeschränkt zuzustimmen, wenn er mit Blick auf die Verwendung von Figurennamen aus der matière de Bretagne in der mittelhochdeutschen Lyrik davon ausgeht, »dass zitierte Namen zu einer Anreicherung lyrischer Reflexivität mit narrativen Textwelten führen, die mit den sie verkörpernden epischen Figuren untrennbar verbunden sind. Verkörperte Namen haben nicht nur eine Identitätsfunktion, sondern rufen vor allem Bedeutung auf: In einem Wort verdichten sich der gesamte plot oder die mit der Figur verbundenen Handlungselemente des Prätextes« (248 f.). Wachinger (1988), 230. Allen hier besprochenen Beispielen ist jedoch gemein, dass sie dem Transformationstypus ›Assimilation‹ zuzurechnen sind; vgl. dazu Bergemann u. a. (2011), 48 f.
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nehmen dabei die lateinischen Lieder ein, die die Figuren nicht für exemplarische Vergleiche nutzen, sondern den Stoff nacherzählen, dabei aber jeweils ganz eigene Akzente im Hinblick auf eine ›Moralisierung‹ der Geschichte setzen. Stehen in den antiken Fassungen Didos Doppelrolle als Herrscherin und liebende Frau und die damit einhergehenden Probleme im Mittelpunkt, konzentrieren sich die mittellateinischen Lieder ganz auf die Liebesgeschichte. Dabei wird ihr fataler Ausgang entweder gezielt verschwiegen, indem nur von der erwachenden Liebe zwischen Dido und Eneas berichtet wird, die zwar als unsagbar, aber verfügbar und dauerhaft ausgewiesen ist (Carmen Buranum 98), oder der Verweis auf Didos tragisches Ende dient als Warnung vor besinnungsloser, leidenschaftlicher Liebe (Carmen Buranum 99). Lediglich im Carmen Buranum 100 wird Didos doppeltes Dilemma thematisiert, ansonsten spielt Didos Rolle als gescheiterte Herrscherin in den hier berücksichtigten lateinischen Liedern keine Rolle. Gänzlich losgelöst von ihrer tragischen Liebesgeschichte kann Dido ein Schönheitsexempel sein, so etwa in der deutschen Zusatzstrophe zum Carmen Buranum 155 oder in dem Preislied in Frauenlobs Neuem Ton. In beiden Beispielen wird Didos Name (oder im zweiten Fall eventuell auch der Lavinias) zusammen mit anderen Frauenfiguren in Form eines Überbietungstopos dazu genutzt, die Schönheit der eigenen Minnedame des Sprechers zu unterstreichen. Die Hyperbolik des Schönheitspreises dürfte dabei jeweils dem diskursiven Rahmen ›Minnelied‹ geschuldet sein. Eine Problematisierung von Didos verführerischer Attraktivität ist nicht zu erkennen. Nur am Rande aufgerufen wird der Aspekt von Didos Schönheit dagegen im Tagelied in der Großen Tagweise Peters von Arberg. Dido wird hier zwar ebenfalls als ›schön‹ apostrophiert, was damit indirekt auf die vrouwe des Tagelieds übertragen werden kann, wichtiger ist aber der Stellenwert ihres Namens als narrativer Chiffre für ihre passioniert-tragische Liebesgeschichte und damit für den Trennungsschmerz, den die Dido-Eneas-Liebe zusammen mit der Geschichte von Tristan und Isolde hier repräsentiert. Für solch einen Gebrauch des Dido-Exempels bedarf es im Rahmen des Tageliedes keines Rollentausches wie in der Hohen-Minne-Kanzone Friedrichs von Hausen: Die Konstellation der antiken Geschichte – eine an sich ›glückliche‹, körperlich erfüllte passionierte Liebesbeziehung endet mit dem notwendigen Abschied des Mannes – entspricht genau der Situation des Tageliedes. Dass der Schmerz des Mannes über den erzwungenen Abschied im Zentrum steht und nicht, wie im Falle Didos, das Leid der Frau, beruht auf der Sprecherperspektive des Tageliedes. Das zeigt einmal mehr, wie flexibel exemplarische Vergleiche gehandhabt werden können. Der vierte Minneleich des Tannhäusers führt mit seiner spielerisch-komisierten Ironisierung der Konvention des Vergleichs mit (literarischen) Exempelfiguren schließlich vor Augen, dass genau dieser Flexibilität Grenzen gesetzt sind, nämlich dann, wenn Dido im Rahmen eines Minneliedes nicht für Schönheit, Liebesglück oder eine tragische Trennung steht, mithin nicht als Minneexempel fungiert, sondern wenn ihr ein exemplarischer Wert zugesprochen wird, der mit ihrer Geschichte nur schwer oder gar nicht in Einklang zu bringen ist. Der Tannhäuser kann so mit den Erwartungshaltungen eines literarisch ›vorgebildeten‹ und mit konventionellen literarischen Gepflogenheiten vertrauten Publikums spielen. Dadurch wird der grundsätzlichen ›Unverfügbarkeit‹ der
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passionierten Dido-Liebe durch die »radikale Entfunktionalisierung des Stilmittels«¹²³ des exemplarischen Vergleichs in einer gewissermaßen ›literaturtheoretischen‹ Perspektive – augenzwinkernd – poetologische Qualität zugesprochen.
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Transformationen des Unsagbaren. Semantiken der Intimität in lateinischen und volkssprachlichen Ordensgründerlegenden Ordensgründerlegenden ist zu Eigen, dass sie ihre Protagonisten in ein mehrgliedriges Geflecht von Nahbeziehungen setzen.¹ Neben der erwartbaren Gottesfreundschaft erzählen die Legenden immer auch von der mitunter sehr persönlichen Freundschaft zwischen den Gründern und ihren Ordensgemeinschaften respektive einzelnen Gefährten und ebensolchen Freundschaften zu innerweltlichen Personen.² Die Erzählungen evozieren und legitimieren dabei diverse Geltungsansprüche, wie Heiligkeit, Charisma, Nachfolge des Gründers, Heilsanspruch des Ordens oder Gemeinsinn der Gemeinschaft, um nur einige zu nennen.³ Für narrative Ausgestaltungen dieser persönlichen und eben nicht allein vertrauten, sondern vielmehr vertraulichen Beziehungen greifen die Erzählungen auf Semantiken der Intimität zurück.⁴ Im Prinzip dient dieser semantische Einsatz der Codierung von Freundschaft, verstanden als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium.⁵ In seiner Ambiguität und Polyvalenz vermag dieses Medium gerade in narrativen Texten überaus konfliktträchtige Verhältnisse zu bearbeiten und insoweit jene Spannungen abzufedern oder gar zu camouflieren. Gleichzeitig birgt der narrative Einsatz dieser Semantik durchaus Probleme. Einerseits kann diese am Code der Intimität partizipierende und dementsprechend zu affektiven Konnotationen führende Semantik innerhalb der Legenden eine für monastische Gemeinschaften prekäre Annäherung an homo- oder heteroerotisches Begehren hervorrufen.⁶ Andererseits erzeugt die sich entwickelnde Sonderdyade zwischen Ordensgründer und Gefährten mitunter neidvolle Spannungen in der übrigen Ordensgemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gilt es Sagbares und Unsagbares innerhalb der legendarischen Erzählungen zu beleuchten und ihr Changieren offenzulegen, das auf einer Semantik des Unsagbaren basiert. Transformationen von Intimität werden insoweit auf synchroner Ebene perspektiviert. Das heißt, es werden keine Transformationen von der Antike zum Mittelalter oder vom Mittelalter in
Grundsätzliche Überlegungen dazu und den narrativen Modi der Legende bietet bereits Strohschneider (2002), 109 – 147. Siehe dazu Münkler (2013), 374– 394; außerdem Standke (2015), 329 – 355. Neben den bereits genannten Arbeiten sei hier zudem auf folgende ordensgeschichtliche Arbeiten verwiesen: Andenna (2009), 526 – 573; und dies. (2002), 177– 224. Vgl. Anm. 1– 3 sowie Standke (2016), 71– 95. Zu diesem systemtheoretischen Ansatz siehe Münkler/Standke (2015), 9 – 32; sowie im Kontext höfischer Erzählungen Kraß (2016), 71– 82. Vgl. dazu bereits die diskursgeschichtlichen Analysen von Kraß (2011), 4– 22.; und allgemeiner nochmals Münkler/Standke (2015), 9 – 32. https://doi.org/10.1515/9783110628920-003
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die Moderne untersucht.⁷ Viel eher werden innerhalb des Mittelalters auftretende semantische und zum Teil auch narrative Transformationen fokussiert und zwar in den volkssprachlichen und lateinischen Corpora sowie zwischen diesen.
I Legenden als kontrafaktische Erfolgsgeschichten Das legendarische Erzählen von Heiligen und vom Heiligen ist different. Es gibt zwar durchaus die makrostrukturelle Unterscheidung in syntagmatisches oder paradigmatisches Erzählen, doch eine generelle Zuordnung dieses Erzählens zu bestimmten Heiligentypen ist mit der innerhalb der Forschung mitunter behaupteten absoluten Passgenauigkeit nicht gegeben.⁸ Viel eher zeigt sich in der narrativen Diversität hagiographischer Texte des Mittelalters, dass dem legendarischen Erzählen ein immenses, wenn auch nicht mit dem höfischen Erzählen vergleichbares, kreatives Potential eignet und dieses durchaus in den zahlreichen Viten,Vers- und Prosalegenden entfaltet wird. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den immer wieder konstatierten, wechselseitigen Aufnahmen von Erzählmustern oder Motiven innerhalb des höfischen wie legendarischen Erzählens.⁹ Pauschal und etwas abstrakt betrachtet, verhandeln die legendarischen Narrationen in der Abbildung der Nahverhältnisse der Heiligen zu Gott und ihrem Orden die Gegensätze von Institution und Charisma, transzendenter und immanenter Verortung ihrer Figuren sowie stabilisierender und destabilisierender Wirkungen auf eine Gemeinschaft und deren Gemeinsinn.¹⁰ Das heißt, dass mit dem Anspruchs- und Auszeichnungsbegriff der Gottesfreundschaft ein bestimmtes Erzählmuster verknüpft ist. Dabei wird parallel von zwei sukzessiv entgegengesetzten Prozessen berichtet, nämlich der Aufgabe aller immanenten Beziehungen zu Gunsten einer immer stärker werdenden Beziehung zur Transzendenz.¹¹ Während auf der Ebene des discours der Protagonist dabei immer schon ein Gottesfreund ist und ihm die entsprechende Auszeichnungskategorie der Heiligkeit zugesprochen wird, zeigt sich innerhalb der histoire der prozessuale Verlauf der Gottesfreundschaft. Diesem Prozess stehen die übrigen, ebenfalls innerhalb der Legenden beobachtbaren, immanenten Nahverhältnisse in ihrer narrativen Darbietung entgegen. So etwa die Bindungen der heiligen Ordensgründerinnen und Ordensgründer gegenüber institutionellen Vertretern. In
Hierin liegt keine Differenz zum Transformationskonzept des Berliner SFB 644, sondern eher eine Anwendung seiner Ideen, die als Ergänzung und Probe zu verstehen ist. Zum Konzept des SFB 644 siehe grundlegend Hartmut Böhme (2011), 7– 37. Siehe dazu zum einen grundlegend Feistner (1995) und die rezente narratologische Forschung zur Legende reflektierend Hammer (2015). Nochmals Hammer (2015), 24– 29 und 387– 390. Siehe zu diesen Aspekten Strohschneider (2009), 571– 588; Münkler (2013), 390 – 394; Standke (2015), 329 – 355 und Andenna (2009), 526 – 573. Strohschneider (2010), 143 – 146.
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diesen Nahverhältnissen werden die Gegensätze und divergierenden Ansprüche von Heilscharisma der Heiligen und Amtscharisma der Institutionen und ihrer Repräsentanten reflektiert. Zum anderen gestattet das legendarische Erzählen von Freundschaftsverhältnissen des Gründers oder der Gründerin zum jeweiligen Orden oder einzelnen Mitgliedern die Narrationen als Gründungsgeschichten einer Gemeinschaft darzubieten, die in ihrem narrativen Kern zugleich Gemeinsinn evozieren.¹² Die Ordensgründerlegenden sind dazu in der Lage, gerade weil sie durch das Erzählen unterschiedlicher Nahverhältnisse zwischen Gründerfiguren und Ordensgemeinschaften etwaige Momente der Ordnungsstörung darbieten. Deshalb präsentieren diese legendarischen Erzählungen vor allem im Modus einer fürsorglichen Freundschaftserzählung die funktionalen Stabilisierungs- und Destabilisierungsmechanismen einer Gemeinschaft. Anders gesagt, Ordensgründerlegenden bieten in ihren Erzählungen dar, wie Vertrauen durch den Einsatz intimer Semantiken gestiftet wird. Vertrauen evoziert dabei grundlegend Verlässlichkeit und Erwartbarkeit. Es ermöglicht also zuallererst zukunftsgerichtetes Handeln innerhalb der Erzählungen,¹³ was insoweit auch wirksam für die rezipierenden Gemeinschaften erscheint. Dieser Einsatz von Intimität und im Speziellen der Freundschaft ist jedoch vor dem Hintergrund diskursiver Tabuisierungen gerade im Kontext monastischer Lebensentwürfe intuitiv nicht erwartbar.¹⁴ Gleiches gilt für die hochgradig exklusiv verstandene Gottesfreundschaft und die parallel dargebotenen Freundschaften zum Orden. Insofern die Legenden dennoch vor allem diese Aspekte erzählen, sie aber als problematisch oder als Brüche thematisieren, erzählen sie kontrafaktisch von der Norm.¹⁵ Der semantische Rekurs auf Unsagbares verweist also auf eben jene Grenzen des Sagbaren. Zugleich offenbart sich darin die Außeralltäglichkeit des legendarischen Erzählinhalts, die supererogatorischen Handlungs- und Beziehungsmuster eines Heiligen. So gesehen sind Legenden kontrafaktische Erfolgsgeschichten, deren funktionaler Einsatz von Intimität der Gemeinsinnevozierung, der Legitimierung, der Authentifizierung und der Vermittlung von Heiligkeit dient. Im Folgenden will ich dieses kontrafaktische Erzählen näher fokussieren und dafür auf einzelne Beziehungsverhältnisse (Gottesfreundschaft und Freundschaft zu institutionellen Vertretern), die mittels intimer Semantiken gestiftet oder erzählt werden, eingehen.
II Gottesfreundschaft Beginnen möchte ich mit einem Blick auf das wohl wesentlichste Nahverhältnis aller Heiligen, die Gottesfreundschaft. Dafür werde ich das homosozial gestaltete Verhält
Dazu auch im Folgenden am Beispiel des Dominikus, Standke (2016), 71– 95. Zu diesem soziologischen Ansatz siehe Luhmann (2000), 8 – 17. Kraß (2011), 4– 22 und Münkler (2013), 374– 394. Zur kontrafaktischen Stabilisierung der Norm siehe erneut Luhmann (1980), 40 – 63.
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nis von Norbert von Xanten und Gott sowie das heterosozial gestallte Verhältnis zweier im Hinblick auf Gott befreundeter Gottesfreunde, Franziskus und Klara von Assisi, betrachten. Diese Perspektive erlaubt mir zugleich beide Formen der narrativ ausgestalteten Gottesfreundschaft zu analysieren, also jenes Nahverhältnis zwischen Gott und Mensch und jenes zwischen zwei Menschen, das um der jeweiligen und insoweit geteilten Gottesfreundschaft geschlossen wurde. Norberts Gottesfreundschaft beginnt mit einem Konversionserlebnis, dass die beiden lateinischen Viten sowie der einzige volkssprachliche Text von John Capgrave widergeben. Erst in der Folge verstärkt und verstetigt sich dieses Nahverhältnis. Alle drei markieren so den Beginn einer persönlichen und sich noch entwickelnden Gottesbeziehung, die über das bereits bestehende Maß der institutionellen Beziehung als Subdiakon hinausgehen. Die persönliche Gottesfreundschaft steht hier – im Sinne Igor S. Kons – in einer komplementären Relation zum institutionellen Verhältnis.¹⁶ Die persönliche Freundschaft zu Gott wird zu einer Ergänzung der bereits institutionell gesicherten Beziehung, in die Norbert als Subdiakon gestellt wurde. Am deutlichsten offenbart dies jedoch die Vita B, die wie die Vita A auf eine Semantik der Intimität rekurriert, die entflammte Gottesliebe Norberts. Entgegen der Vita A verweist B jedoch auf den fortschreitenden Charakter dieses intim-vertraulichen Nahverhältnisses:¹⁷ Et ex tunc conceptum divini amoris ignem paulatim augmentans, nec subito mutavit habitum, nec statim reliquit seculum; sed asperitate cilicii membra domabat sub mollibus indumentis, et erigere se contra se praetentabat. (NoB, Cap. 1, 7,3)
Trotz der ihn umfangenden, sogar feurigen Gottesliebe – eine evidente Semantik des Codes der Intimität – bedarf die Gottesfreundschaft einer prozessualen Verinnerlichung, einer Habitualisierung.¹⁸ In der volkssprachlichen Verslegende, die eine Transformation der Vita B ist, fehlt indes die Gottesliebe und das Augenmerk liegt auf einem im Dialog angepriesenen Dienst gegenüber Gott, den Norbert erst in einem persönlichen und insoweit vertraulichen Lehrer-Schüler-Verhältnis sukzessive erlernt. […] A redy, a good skolere, To holy ordres he hastith now; in al wise His stody is now to lerne dyvyne seruyse.
(NoVL, V. 180 – 183)
Der sowjet-russische Soziologe stellt in Anlehnung an Beth Hess Freundschaft in ein viergliedriges Relationsschema, danach kann Freundschaft als Fusion, Substitution, komplementär oder kompetitiv zu anderen Verhältnissen auftreten. Siehe Kon (1979), 17. Zur Vita A, die vor allem auch die Rolle des Abt Kunos von Siegburg betont, siehe NoA, Cap. 1, 11: Domi vero positus concepto iam timore Domini spiritu salutis, sub exteriori habitu cilicio indutus est et proponens sibi vitae praeteritae sollicitudinem et poenitentiam, monasterio Segebergensi et sanctae conversationis abbati Cononi familiarem se reddidit, cuius doctrinis et institutionibus optimis in timore et amore Domini profecit. Zu diesem Konzept einer Habitualisierung, gerade im Kontext einer auf Armut basierten gelebten vita perfectionis, die, wie hier gezeigt, in der Narration der Darstellung einer Gottesfreundschaft dienen kann, siehe Hasebrink (2015), 452– 459.
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Damit bilden alle drei Fassungen ein nach der conversio einsetzendes, persönliches Nahverhältnis Norberts zu Gott ab, das nicht institutionell begründet ist. Offenkundig kommt es bei der Transformation in die Volkssprache jedoch zu Auslassungen jener Semantiken, die diskursiv unsagbar erscheinen. Die Semantik der Intimität – amoris ignem – wird durch ein klar hierarchisch konstruiertes Lehrer-Schüler-Verhältnis ersetzt. Der Erzähler einer heterosozialen Narration muss vor dem Hintergrund einer dezidiert homosozialen Gesellschaftsmatrix neben der Paradoxie der befreundeten Weltentsager, ferner das prekäre und mitunter als subversiv unterstellbare Changieren eines Verhältnisses zwischen vertraulicher Intimität und erotischem Begehren bearbeiten. Exemplarisch für ein solches heterosoziales Nahverhältnis wird der Fokus im Folgenden auf Klara und Franziskus gerichtet. Dazu gilt es bereits vorweg anzumerken, dass die lateinischen Textcorpora durchaus ähnliche Erzählungen bieten, was einerseits auf den gleichen Verfasser der jeweils ersten und wirkmächtigen Vita(e) beider Heiligen, Thomas von Celano, zurückzuführen ist und andererseits natürlich auf den Umstand, dass die beiden Gemeinschaften später als Zweige eines franziskanischen Ordens wahrgenommen werden.¹⁹ Bezogen auf die beiden Textcorpora muss ferner erwähnt werden, dass zum einen sehr früh ein bewusster Umgang mit den legendarischen Texten in den Gemeinschaften einsetzte, der zum anderen dazu führte, dass innerhalb der volkssprachlichen Überlieferung sehr umfangreiche Kompilationen entstanden, die sogenannten Franziskus- oder Klarabücher.²⁰ Innerhalb dieser Kompendien gibt es eine sehr eindrückliche Erzählung über die beiden befreundeten Gottesfreunde, die zuerst in den lateinischen Actus Beati Francisci et Sociorum (AFr) ausführlich geschildert wird und die in ihrer Gestaltung bereits eine Transformation eines noch älteren heterosozialen Gottesfreundespaars darstellt. Das in der abgelegenen Kirche von Santa Maria degli Angeli abgehaltene Mahl zwischen Franziskus und Klara wird vor der legitimierenden Schablone des Gastmahls des heiligen Benedikts und der heiligen Scholastika beim Kloster von Montecassino erzählt.²¹ Dabei entwirft der Erzähler der legendarischen Erzählung von Franziskus und
Zur Diskussion der Urheberschaft Thomas‘ von Celano siehe die differenten Ansätze und philologischen Arbeiten zusammenfassend Grau und Schlosser (2001), 113 – 116. Zu den Kompendien und ihren vermutlichen Ursprüngen (Lesefähigkeit des Lateinischen?) siehe einleitend mit Verweisen auf die einschlägige Forschung Johannes Schneider (2008), 32– 35. Da der Vergleich sich nicht auf die Legende des heiligen Benedikt richtet, sondern sich auf die Corpora des Franziskus und der Klara beschränkt, gebe ich nur in der Fußnote die entsprechende Passage wieder und hebe die für die Freundschaftssemantik wesentlichen Stellen hervor. Zur Wiedergabe der von Gregor dem Großen dialogisch gestalteten legendarischen Erzählung über Benedikt von Nursia: Quadam vero die venit ex more, atque ad eam cum discipulis venerabilis eius descendit frater. Qui totum diem in Dei laudibus sacrisque conloquiis ducentes, incumbentibus iam noctis tenebris, simul acceperunt cibos. Cumque adhuc ad mensam sederent et inter sacra conloquia tardior se hora protraheret, eadem santctimonialis femina, soror eius, eum rogavit, dicens: ‚Quaeso te, ne ista nocte me deseras, ut usque mane aliquid de caelestis vitae gaudiis loquamur.‘ Cui ille respondit: ‚Quid est quod loqueris, soror? Manere extra cellam nullatenus possum.‘ Tanta vero erat caeli serenitas, ut nulla in
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Klara freilich einen ganz eigenen Sinnhorizont für deren Gemeinschaft, der gerade vor dem Hintergrund der perspektivierten Freundschaftsnarrative und -semantiken weitere Transformationen erfährt. Die lateinischen Actus (AFr) berichten von mehreren und fast regelmäßigen Besuchen des Franziskus bei Klara dum staret Assisii […] frequenter illam […] visitaret (AFr, Cap. XV, 1) und sie betonen Klaras Wunsch nach einem persönlichem und insofern vertraulichem Mahl illa rogavit pluries […] semel insimul comederent (AFr, Cap. XV, 1). Diesem Ansinnen widerspricht Franziskus jedoch und erst nach einer argumentativen Auseinandersetzung mit seinen Brüdern, die als Fürsprecher von Klaras Bitte erscheinen, willigt er folgendermaßen ein: Ex quo vobis placet, etiam michi videtur; sed, ut plenius consoletur, volo quod hoc fiat in S. Maria de Angelis. Ipsa enim diu stetit in S. Damiano reclusa; unde letificabitur aliquantulum revidendo locum S. Marie, ubi fuit tonsa et facta sponsa D. Ihesu Cristi; et ibi comedemus simul in nomine Domini. (AFr, Cap. XV, 6 – 7)
Der Erzähler nutzt den vorgeschalteten und mittels mimetischer Rede als Dialog wiedergegebenen Disput, um die Entscheidung Franziskus’ zu einem solchen Treffen mit Klara seines subversiven Potentials zu berauben und zu legitimieren. Sein Placet zu dem vertraulichen Beisammensein mit Klara erscheint auf diese Weise rational und fern jeder affektgesteuerten Entscheidung, die die Unterstellung erotischen Begehrens durch die Verwendung intimer Semantiken ermöglichte. Zugleich betont Franziskus, dass das Mahl mit der sponsa D. Ihesu Cristi nicht nur ein Gastmahl sei, sondern dezidiert in nomine Domine stattfinde. Darüber hinaus verknüpft Franziskus das Mahl mit einem symbolischen Ort, denn neben San Damiano ist Santa Maria degli Angeli oder die sogenannte Portiuncula Kapelle eng mit seinem Wirken als Gottesfreund und Ordensgründer sowie der Aufnahme Klaras in die Gemeinschaft verknüpft. Das Treffen selbst findet im Beisein von Gefährten statt, denn Klara erscheint cum socia; et, comitantibus eamdem sociis s. patris (AFr, Cap. XV, 8), die auch während des Mahls anwesend sind et sedit ipse et beatissima Clara, et unus de sociis s. Francisci cum socia s. Clare; et omnes alii eius socii in mensa illa humili sunt locati (AFr, Cap. XV, 10). Der Erzähler changiert in seiner Darstellung zwischen einem Beweis exklusiver Vertrau-
aere nubes appareret. Sanctimonialis autem femina, cum verba fratris negantis audisset, insertas digitis manus super mensam posuit, et caput in manibus omnipotentem Dominum rogatura declinavit. Cumque levaret de mensa caput, tanta coruscationis et tonitrui virtus tantaque inundatio pluviae erupit, ut neque venerabilis Benedictus, neque fratres qui cum eo aderant, extra loci limen quo consederant pedem movere potuissent. Sanctimonialis quippe femina, caput in manibus declinans, lacrimarum fluvios in mensam fuderat, per quos serenitatem aeris ad pluviam traxit. Nec paulo tardius post orationem inundatio illa secuta est, sed tanta fuit convenientia orationis et inundationis, ut de mensa caput iam cum tonitruo levaret, quatenus unum idemque esset momentum et levare caput et pluviam deponere. […] Ipse autem exire extra tectum non valens, qui remanere sponte noluit, in loco mansit invitus, sicque factum est ut totam noctem pervigilem ducerent, atque per sacra spiritalis vitae conloquia sese vicaria relatione satiarent. Vgl. Gregor der Große: Der heilige Benedikt, hier Cap. XXXIII, 2– 4.
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lichkeit unter den immanenten Gottesfreunden und der Vermeidung kompromittierender Nähe. Das erweiterte Figurenpersonal des Treffens bezeugt dieses zuallererst und legitimiert die narrative Wiedergabe. Inhaltlich dienen die Gefährten daneben der Abbildung einer Öffentlichkeit, die zwar elitär ist, doch vor allem aber die prekäre Nähe des Treffens heterosozialer Gottesfreunde limitiert. Letztlich stellt die Einbindung von Gefährten auf diskursiver Ebene sogar Regelkonformität dar, denn das Verlassen des Klosters ist zumeist nur in Gemeinschaft gestattet.²² Während also die Actus das Mahl in eine Sukzession von mehreren Treffen der beiden Heiligen einordnen, steht die Zusammenkunft in der Portiuncula Kapelle, ein Mahl wird nicht erwähnt, bei den volkssprachlichen Erzählern und Thomas von Celano eher am Anfang der Freundschaft, was dieser bereits in der Kapitelüberschrift offenbart: De noticia et familiaritate beati Francisci (CCl, Cap. 3). Andererseits nutzt auch Thomas von Celano die Gefährtenfigur für seine legendarische Erzählung von Klara. Er verknüpft sie indes mit der sozial prekären, legendarisch aber wesentlichen Entscheidung Klaras zur Weltabkehr, die unter dem Einfluss Franziskus’ entsteht: Nam unica tantum familiari socia comitante, paternos lares puella egrediens, clandestinos ad virum Dei frequentabat accessus, cuius sibi verba flammantia, cuiusque ultra hominem opera videbantur (CCl, Cap. 3, 4).
Eine vertraute Gefährtin begleitet Klara bei ihren heimlichen Treffen mit dem Gottesfreund. Diese Figur löst einerseits die prekäre Spannung erotischen Begehrens innerhalb eines heterosozialen Verhältnisses, wie es zwischen Klara und Franziskus entsteht. Andererseits ermöglicht diese Vertraute nicht nur das Verhältnis, sondern bezeugt es ebenso durch ihre Anwesenheit. Demgegenüber verfahren die volkssprachlichen Legenden mit der heterosozialen Nahbeziehung anders. Grundlegend erzählen sie zwar durchaus kürzer von der Begegnung und sparen insofern häufig die subversiven Momente eines heimlichen Treffens oder Formulierungen über die Wirkung des Franziskus auf Klara aus,²³ doch mitunter nutzen sie gerade eine stark affektorientierte Darstellung zur Evozierung einer reziproken Vertraulichkeit. In der Passage des Der Heiligen Leben verwendet der Erzähler dafür bezogen auf beide Protagonisten fast identische Phrasen, die mit dem Verb begern konstruiert werden. Nachdem Klara von Franziskus gehört hat, heißt es:
Diese basale Vorschrift beinhaltet bereits die Augustinusregel (5,5), die gerade bei den Gemeinschaften, die der vita canonica folgen und zu denen auch die mendikantischen Orden zählen, in die jeweiligen Regeln oder Consuetudines aufgenommen wurden. Siehe dazu einführend Hoyer (2002), 320. Das prägnanteste Beispiel für eine solche Kürzung bietet die Fassung der Klaravita aus dem Sand Claren bvch, dort heißt es knapp (KlV, Z. 222– 229): In der selben zeit, da die selig Junkfrawe Sand Clar dennoch trug werltleicheve klaider, da waz si aines tages pei Sand Franciscen in dem walde pei vnser frawen kirchen, die da haizzet portiuncula, vnd rette si mit im von dem hail irr sel. da ward gesehen daz fewerein strel von den himel her ab gingen veber si paideve, do si stvnden, aber von dem willen gotes getorst niemant so kven sein, der zw in ginge.
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Do von begert si, das si in sehen scholt. Sant Franciscus hort auch von sant Klaren heiligen leben vnd begert auch, das er si sehen scholt vnd mit ir gereden moht, vnd kum zu ir. Do ward sant Klar gar fro. Sant Franciscus rett gar sueszekleich mit ir vnd lert si […]. Vnd kum oft zu sant Francisco durch sein gůteve ler vnd begert, das si got allain moeht gedienen, vnd aht niht aller werltleichen wollust. (HLKl, S. 387– 388)²⁴
Dem jeweiligen voneinander Hören folgt ein Begehren, den anderen kennenzulernen. Gerade in diesem Umstand zeigt sich die im Heilscharisma der beiden Figuren begründete Wechselwirkung. Die Faszination führt zu jener Gemeinschaft der Gottesfreunde, die sie im Hinblick auf Gott teilen.²⁵ Das entworfene wechselseitige Begehren gilt got allain, dem vor allem Klara durch die Hilfe des Franziskus näher kommt. Zwischen Franziskus und Klara wird insofern ein spirituelles Nahverhältnis entworfen und der Erzähler kann hier die auf Intimität abzielende Sprache verwenden, weil er bereits zuvor Klaras Absage gegenüber weltlicher Intimität offenbart hat.²⁶ Gleich im ersten Abschnitt der Legende berichtet der Erzähler des Der Heiligen Leben von der Tugendhaftigkeit der Protagonistin und schließt vor der zitierten Passage mit si […] enpfalh vnderm herrn ir kuesch (HLKl, S. 387). Insoweit greift der Erzähler am Ende des Absatzes über das wechselseitige begern diese Formulierung lediglich noch einmal auf und steigert sie zu vnd aht niht aller werltleichen wollust.
III Freundschaft zu institutionellen Vertretern Heilige Ordensgründerinnen und Ordensgründer stehen innerhalb ihrer legendarischen Erzählungen in einem polyrelationalen Beziehungsgeflecht. Dieses erstreckt sich innerhalb der narrativ entworfenen Welt der jeweiligen Diegese sowohl auf die Transzendenz als auch auf die Immanenz. Die Heiligenfiguren sind Freunde und Freundinnen Gottes und sie sind ebenso Freunde ihres Ordens respektive einzelner Gefährtinnen und Gefährten innerhalb dieser Gemeinschaften. Beide Beziehungsformen sind in der narrativen Wiedergabe geprägt von Funktionalisierungen, sei es für den Status der eigenen Heiligkeit der Gründer, sei es für die Übertragung ihres Heilscharismas auf den Orden, sei es für das Evozieren von Gemeinsinn oder für die Etablierung von stabilisierenden Normen und Regulierungen der Gemeinschaft, bis hin zur gesicherten Nachfolgeregelung. Im Folgenden stehen nun wiederum imma-
Die Fassung der Klaravita aus dem Sand Claren bvch bringt ebenfalls diese Passage und verwendet dabei auch die begern Phrasen. Allerdings wird sie dort der Vorlage der Vita Thomas‘ von Celano folgend wiedergegeben und die bereits zitierte, deutlich kürzere Portiunkula Episode wird nachgestellt. Diese wirkt fast wie ein Zusatz, siehe dazu KlV. Z. 163 – 221. Zu dieser Einschätzung siehe auch Schneider (2008), 43. Gerade im Begehren und der damit verbundenen Faszination zeigt sich das von Max Weber beschriebene Phänomen „emotionaler Vergemeinschaftung“ durch Heilscharismatiker. Siehe dazu bereits einleitend Weber (1972), 180. Dieser Chronologie folgen auch die weiteren volkssprachlichen Fassungen der Klaralegende.
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nente Freundschaftsrelationen im Fokus der Analyse, die allerdings außerhalb der Ordensgemeinschaft zu verorten sind. Sie dienen in besonderer Weise dem Heiligen, seinem Orden, aber eben auch jenen immanenten sowohl höfischen als auch klerikalen Vertretern von Institutionen wie der Kirche oder eines Herrschaftsraumes.²⁷ Papst Gregor IX. hat einen Heilscharismatiker zum Freund, Dominikus, und für diesen erbringt er einen solchen Dienst, wovon vor allem die legendarische Erzählung Jordans von Sachsen berichtet. Noch als Kardinal Hugolino d‘Ostia nimmt er als ranghöchster Vertreter der Amtskirche am Begräbnis des verstorbenen Freundes teil und leitet selbst, wie die verstärkte Wortwahl zeigt, willentlich die Totenmesse (eiusque sepulture per semetipsum explevit officium, JDo, Cap. 96). Der Erzähler der Vita schildert dabei vor allem das innere Bedürfnis Hugolinos, das dessen Vertrautheit mit Dominikus zur Vertraulichkeit steigert. Dafür nutzt er nicht nur familiale Semantiken (qui valde familiariter eum noverat, JDo, Cap. 96), sondern parallel die der Intimität (multo delixerat amoris affectu). Der Kardinal erlangt so ein besonderes, nicht institutionell gesichertes Nahverhältnis zum Heilscharismatiker. Gerade in dieser doppelten Funktion als Freund und Amtsperson wird er vom Erzähler im Folgenden für die immanente Legitimierung der Heiligkeit des Dominikus funktionalisiert, wodurch zugleich dessen Charisma eingehegt wird. Dabei entwirft die legendarische Erzählung ein Szenario, in welchem sich einerseits die Heiligkeit des Dominikus in bereits vollbrachten Wundern offenbart und andererseits ein Vergessen respektive eine Unachtsamkeit gegenüber dem Heilscharismatiker gerade auch innerhalb seines Ordens einsetzen. Entschuldigend führt der Erzähler dazu aus: Siquidem visum et plerisque, non debere receptari miracula, ne sub velamento pietatis speciem questus incurrerent. Sicque dum propriam opinionem inconsiderata sanctitate zelarent, communem ecclesie neglexere profectum et gloriam sepeliere divinam. (JDo, Cap. 98)
Die hier vom Erzähler gerühmte Demut der Brüder führt jedoch soweit, dass einige Jahre nach dem Tod des Dominikus der Sakralraum über dessen Grab zu Gunsten neuer Unterkünfte für den Orden abgerissen wird (Novis succedentibus vetera diruuntur et corpus dei famuli sub divo permansit., JDo, Cap. 124). Nur wenige der in Bologna lebenden Dominikaner erkennen die Missachtung gegenüber ihrem Gründer und sie beschließen eine legitime, von der Amtskirche bestätigte Umbettung (ad locum decentiorum transferretur, sed nec hoc absque Romani ponitificis licentia fieri volebant, JDo, Cap. 124). Selbst diese Maßnahmen werden von der Ordensgemeinschaft, so der Erzähler, nicht ernsthaft vorangetrieben (neglectum est […] diutius, JDo,
Institutionen werden im Folgenden mit Karl-Siegbert Rehberg gerade nicht als festgefügte und formalisierte Organisationen, wohl aber als Repräsentationsrahmen jener symbolisch generieten Ordnungsmuster von Organisationen begriffen: „Institutionen [sind so verstanden] kulturelle Vermittlungsinstanzen zwischen Sozialstruktur und Sinnproduktion, zwischen kollektiven Ordnungen und den sie bedingenden Menschen, also wirklich der Ort von ‚Wechselwirkungen‘; sie sind handlungsleitend und motivbildend.“ Rehberg (1995), 183.
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Cap. 125) und nach genau dieser narrativen Zuspitzung schreitet Hugolino, mittlerweile als Papst Gregor IX., ein. Mit dem Auftritt des Freundes und institutionellen Vertreters der Amtskirche sind zwei Aspekte verbunden, die eben jene doppelte Rollenzuweisung der Figur innerhalb der Dominikuslegende unterstreichen. Erstens tadelt er sofort und quasi einem Affekt folgend an Stelle des verstorbenen Freundes die Gemeinschaft für die unterlassene Ehrerweisung (durissime illos corripuit JDo, Cap. 125), wodurch er seine enge, persönliche Verbundenheit zu Dominikus über dessen Tod hinaus demonstriert. Gregor IX. handelt also erneut aus emotionalen Beweggründen, wie er es auch gegenüber Franziskus getan hat. Der Erzähler lässt seine Figur dazu in mimetischer Rede folgenden Satz äußern, der erneut die zweifache Rollenzuweisung Gregors zeigt (JDo, Cap. 125): ,Novi virum totius apostolice regule sectatorem, quem et in celis non est ambiguum ipsorum glorie copulatum.‘ Gerade weil Gregor IX. Dominikus persönlich kannte, kann er dessen Besonderheit einschätzen und zwar einerseits vor dem Hintergrund institutionell anerkannter Regularien und andererseits im Hinblick auf die Transzendenz, deren immanente Institution von ihm geleitet wird. Der emotional grundierte Tadel birgt also ebenso institutionelle Ansprüche. Diese werden noch durch den zweiten Aspekt verstärkt, denn dass der Leichnam des Dominikus nicht nur legitim umgebettet wird, sed et caconica fieret translatio gloriosi (JDo, Cap. 124) – also eine mit dem Kanonisationsprozess verknüpfte Elevation erfolgt – ist die Idee des Papstes. In der narrativen Darstellung ist der Freund als Amtsperson nicht nur für die legitime Feststellung und Anerkennung der Heiligkeit des Dominikus zuständig, die dessen Heilscharisma einhegt. Vielmehr geht sogar der Umstand, dass die Transzendenz in die Immanenz einbricht, also Heiligkeit überhaupt sichtbar wird, ebenfalls auf die immanente Institution und ihren höchsten Repräsentanten zurück. Volens itaque omnipotens Deus consilio universalis ecclesie pastoris segnitiei nebulas detegere, apperuit et ipse manum suam de alto, et miraculorum fragore intonuit de celo, ut manifeste daretur intelligi, totam illam celestis Ierusalem curiam immensa tunc letitia exultare et congratulari, gloriam sui magni concivis terrigenis declarari. (JDo, Cap. 126)
Die hier angedeutete Abhängigkeit des göttlichen Willens vom Beschluss Gregors IX. als Vertreter der Heilsinstitution Kirche, bestätigende Wunder zu wirken, offenbart klar den alleinigen Heilsanspruch. Allein der päpstliche Ratschluss erwirkt göttliches Handeln, das Heiligkeit hervorbringt, welche dann ferner von der Institution als legitim erachtet wird. Erst das Einschreiten des institutionellen Freundes lässt die Heiligkeit des bereits von Gott Erwählten hervortreten, was der Erzähler durch die passive Wiedergabe des Geschehens unterstreicht (JDo, Cap. 126): electi dei Dominici sanctitas luculenter demonastratur. Im Vergleich zu diesem homosozialen Verhältnis fällt der Blick nun auf ein heterosoziales. Weibliche Ordensgründerinnen sind in mehrfacher Hinsicht auf die Hilfe von institutionellen Vertretern angewiesen, um überhaupt innerhalb der Heilsinstitution Kirche wahrgenommen zu werden und wirksam aufzutreten. Dieses notwen-
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dige Unterstützungsverhältnis zu Repräsentanten der Institutionen lässt sich als homosoziale Kooptation beschreiben.²⁸ Eine der wohl wichtigsten Figuren für ein solches Verhältnis ist der Beichtvater.²⁹ Die Sozietät zwischen den Seelsorgern und den heiligen Frauen birgt jedoch die Gefahren eines unterstellbaren heteroerotischen Begehrens, was sich auch in den verwendeten Semantiken der Intimität widerspiegelt. Gerade im Kontext von Visionserfahrungen werden diese Figuren auch innerhalb der legendarischen Erzählungen funktional eingefügt. In den Legenden Birgittas von Schweden tritt unmittelbar nach ihrer ersten Audiovision Christi der Beichtvater das erste Mal seit seiner Einführung in die histoire auf.³⁰ Rat suchend flieht Birgitta nach der erhaltenen Vision zu ihm. Der Erzähler verweist sofort auf die Qualitäten des Beichtvaters, wente de was wol vorsocht yn deme gestliken leuende, also dat he wol wiste de vnderschedynge des argen vnde des guden gestes (CBi, Cap. 13, S. 26 – 27). Um überhaupt die Vision als Gott gegeben zu erkennen, bedarf Birgitta des Beichtvaters, der über ein notwendiges Differenzierungswissen verfügt. Er entscheidet als erster institutionell über „Begnadung und Besessenheit“ und damit letztlich sogar ebenfalls über Sagbares und Unsagbares.³¹ Doch zunächst wiederholt sich die Situation zweimal und Birgitta erhält lediglich strenge Maßregelungen sowie die Eucharistie von Mathias. Bei der dritten Erscheinung spricht die Stimme sie erneut parallel zu den vorherigen Malen an, jedoch ergänzt sie: ,Ik byn dyn got vnde wil myt dy spreken‘ (CBi, Cap. 13, 26 – 27). Da die Heilige dennoch erschrickt, fügt die Stimme diesmal noch vor Birgittas Flucht zum Beichtvater hinzu, dass sie genau dies tun solle. Dabei begründet die Gottesstimme sogar diese Anweisung und zwar ebenso wie es zuvor der Erzähler auf der Ebene des discours getan hat: ,[G]ha to meyster Mattya, dyneme bichtuader, de dar yn syk vorsocht heft beyder vnderscheit, vnde segghe emme van myner wegene, wat ik dy segghe!‘ Diese Aussage legitimiert nicht nur die Qualifikation des Beichtvaters, sondern vielmehr noch dessen Funktion für die Visionen Birgittas. Mathias wird insoweit innerhalb der legendarischen Erzählungen auch von göttlicher Seite für seine Aufgaben erwählt. Mit dem Beginn des als Brautschaft Christi repräsentierten Nah-
Siehe einleitend dazu Lutz Ohlendieck (2003), 171– 185. Zur Funktion des Beichtvaters siehe grundsätzlich Ursula Peters (1988), 181– 182. Für die volkssprachlichen Texte sei zudem auf die Studien Niklaus Largiers verwiesen, der feststellt, dass die volkssprachlichen Fassungen eine erweiterte Form der Sinnevozierung hervorrufen können, da die textimmanenten Normierungen, die gerade in den narrativ wiedergegebenen Gesprächen mit dem institutionellen Vertreter, dem Beichtvater, Ausdruck finden, abnehmen. Insoweit eröffnen diese Texte dann ihrem jeweiligen, nicht klerikal oder monastisch gebundenen Rezipienten die Möglichkeit „unabhängig von einem autorisierten Diskurs“ Sinndeutungen vorzunehmen.Vgl. Largier (2009), 967– 968. Dass es sich hier um den ersten Auftritt handelt, betonen vor allem indirekt die oberdeutsche und die niederdeutsche Fassung der Birgittalegende (nicht die des Der Heiligen Leben). Ihre Erzähler merken jeweils metaleptisch an, dass es sich bei dem Erwähnten um jenen handelt, dar ik van gesecht hebbe in deme soueden cappitele (hier CBi, Cap. 13, 26). Siehe zu dieser auf den Beichtvater übertragenen Funktion des Textes neben Peters (1988) auch Emmelius (2004), 65.
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verhältnisses Birgittas zu Gott tritt zugleich Mathias in Erscheinung. Offensichtlich hat die Figur des Beichtvaters nicht allein Authentizität stiftende und legitimatorische Funktionen, sondern er repräsentiert als Figur des Dritten eine den Verdacht zu starker Intimität in der heterosozial gestalten Beziehung zwischen Birgitta und Christus unterminierenden Öffentlichkeit. Mittels seiner Figur „wird die duale Konstellation [der Vision(en); M.S.] durch ein Drittes ergänzt, das in eigentümlicher Weise der Zweiheit äußerlich ist und doch in diese hineinreicht.“³² Gerade vor dem Hintergrund der zuvor homosozial weiblich gehaltenen Visionen Marias, die anscheinend kein Potential für subversive Deutungen bergen, ist das Hinzutreten des Beichtvaters bei den heterosozialen Visionen augenscheinlich. Zugleich tritt aber der Beichtvater in ein trianguläres Verhältnis ein, das ihn selbst in eine prekäre Situation bringt und das im „Konzept des erotischen Dreiecks“ präzisiert werden kann.³³ Seine Darstellung als vertrauliche Bezugsperson der Visionärin, lässt ihn ebenso als Rivalen gegenüber Christus als Bräutigam erscheinen, respektive als Rivale gegenüber Birgitta und deren Sonderdyade mit dem sich ihr offenbarenden Gott. Jene unterstellbare Rivalität birgt indes das Potential, die Beziehungen der Rivalen zueinander genauso intensiv zu entfalten, wie die zum Objekt der Rivalität. […] in any erotic rivalry, the bond that links the two rivals is as intense and potent as the bond that links either of the rivals to the beloved […]. For instance […], the choice of the beloved is determined in the first place, not by the qualities of the beloved, but by the beloved’s already being the choice of the person, who has been chosen as a rival. In fact, […] the bond between rivals in an erotic triangle as being even stronger, more heavily determinant of actions and choices, than anything in the bond between either of the lovers and the beloved.³⁴
Während die Figur des Dritten in der narrativen Repräsentation des Beichtvaters innerhalb der Birgittalegenden also einerseits das subversive Potential der Nahbeziehung von Birgitta und Christus verringert, bringt sie andererseits eben jene Funktion selbst in eine prekäre Situation. Das vertrauliche Verhältnis und die dabei zugleich unterstellbare Rivalität zwischen Birgitta und ihrem Beichtvater generieren in den Narrationen erneut ein zu bearbeitendes Problem erotischen Begehrens. Im narrativ entfalten Dreieck kommt es zu einer Verschränkung homosozialer und heterosozialer
So Christian Kiening über die wohl bekannteste Figur des Dritten innerhalb der mediävistischen Germanistik, den Boten oder Wächter im Tagelied. Siehe dazu Kiening (2003), hier 158. Dass die Beichtväter ihre Beziehung zu den religiösen Frauen selbst als prekär empfanden respektive das subversive Potential erkannten, zeigt Cristina Andenna bereits mittels Reflexionen Salimbenes de Adam; siehe dazu Andenna (2015), 182. Das Konzept des erotischen Dreiecks („erotic triangle“) geht auf Eve Kosofsky Segdwick zurück, die es freilich zur Beschreibung einer durch den gesellschaftlichen Diskurs auftretenden Differenzierung von Homosozialität und Homosexualität und der dabei erzeugten Spannungen respektive der daraus resultierenden Repressalien entwickelt hat. Siehe dazu einleitend Segdwick (1985), hier speziell 21– 27. Für die germanistische Mediävistik hat vor allem Andreas Kraß diese Konzeption fruchtbar gemacht; siehe dazu rein exemplarisch Kraß (2003), 277– 297. Vgl. mit Bezug auf René Girard, Segdwick (1985), 21.
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Beziehungen und dem ihnen eingeschriebenen Begehren. Grundsätzlich lösen die Erzähler der Birgittalegenden dieses Problem durch narratives Ausblenden und Reduzieren der Beichtvaterfigur auf ein absolutes Minimum. Der in seiner Funktion innerhalb der Erzählungen wesentliche Beichtvater tritt nur selten in den Fokus des Erzählers und letztlich wird er nur, wie bereits beobachtet, im Kontext legitimatorischer Fragen erwähnt. Erstens fokussiert ihn der Erzähler bei der Vernetzung Birgittas mit den hochrangingen Vertretern der Institution Kirche in Schweden, aber auch in Rom. Zweitens findet er wiederholt Erwähnung im Zusammenhang mit der Verschriftung respektive Verschriftlichung der Visionen.³⁵ Drittens perspektiviert der Erzähler immer auch – quasi ex negativo – das Fehlen des Beichtvaters durch die Einführung etwaiger Ersatzfiguren in die histoire.
IV Resümee Ordensgründerlegenden bedienen sich klar Semantiken der Intimität oder entwerfen narrativ intim-vertrauliche Szenarien, die im Prinzip unsagbar erscheinen sowohl im Hinblick auf monastische Diskurse über die Ordensgemeinschaft, als auch für die spirituelle Gottesfreundschaft. Dabei nutzen sie gerade die Eigenheiten der Unsagbarkeit, um außeralltägliche Aspekte der jeweiligen Verhältnisse zu betonen. Zugleich sind sie in der Lage, mögliche Probleme innerhalb der Erzählungen narrativ auf den Ebenen der histoire oder des discours zu lösen. Offensichtlich sind die dabei auftretenden Transformationen zwischen den einzelnen Textcorpora und den volkssprachlichen wie lateinischen Texten. Allerdings lässt sich hierbei keine eindeutige Tendenz feststellen. Weder kommt es zu einer Minimierung intimer Semantiken in volkssprachlichen Erzählungen gegenüber ihren lateinischen Vorlagen, noch kann man eine generell größere Anzahl dieser Semantiken in den lateinischen Legenden konstatieren. Grundsätzlich zeigt aber die Notwendigkeit der narrativen Bearbeitung
Ursula Peters spricht gar vom „Motiv des Schreibbefehls“ innerhalb der Visionsliteratur. Zur Figur des Beichtvaters merkt sie dazu an: „[D]ie Figur des Beichtvaters, der in zahlreichen Werken – im literarischen Motiv des Schreibbefehls – eine wichtige Rolle als Initiator und Förderer des Schreibens der begnadeten Frauen hat und zugleich in seiner vertrauensvollen Kooperation mit der schreibenden Schwester das Neben- und Ineinander von ‚privater‘ und ‚offizieller‘ Textentstehung zu garantieren scheint.“ Vgl. Peters (1988), 7. Interessanterweise wird die genaue Funktion des Beichtvaters Mathias im Kontext der textuellen Dokumentation zunächst nicht erörtert. Hingegen gibt gerade die niederdeutsche Birgittalegende (CBi, Cap. 19, 46 – 52) Auskunft darüber, dass sie erstens die Visionen bereits in ihrer Sprache festhält, zweitens ihr späterer Beichtvater Peter eine lateinische Fassung anfertigen soll und drittens dass dies vor allem dem Beichtvater Mathias in seinen Aufgaben unterstütze: […] he scholde scriuen de apenbarynge desser hilgen vrouwen yn dat lattyn. Wente se scref se suluen yn erer sprake, dat was gotlantdesche sprake. […] „Darvmme so hore de wort, du broder Petre, vnde scrif se yn latynscher tungen, alle de wort, de se dy van myner wegen secht! Vnde yk will dy geuen vor enen yewelken bokstaf nicht golt noch suluer, sunder enen schat de dar nicht wert vorderuende edder vorghande.“ […] „Wente ik will dy geuen to eneme hulpere mester Mattyam, de dar is en mester yn myneme rechte.“
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dieser Semantiken, dass die ihnen eingeschriebene Unsagbarkeit nicht unproblematisch ist. Die Verfasser der Legenden nutzen jedoch kreativ die prekären Momente unsagbarer Intimität als narratives Potential. Sie gestalten kontrafaktische Erfolgsgeschichten.
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Die Minne Parzivals und Condwiramurs’. (Nicht-)Erzählen von Exklusivität und Intimität Es ist das Verdienst Niklas Luhmanns, Liebe nicht nur als Gefühl, sondern als einen Code von Intimität beschreiben zu können, der unwahrscheinliche und risikobehaftete Kommunikation zwischen Alter und Ego wahrscheinlicher macht.¹ Die beiden einander undurchsichtigen Systeme können sich über das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Liebe intensiv strukturell koppeln und sich so möglichst dauerhaft wechselseitig als systemrelevante Umwelt zur Verfügung stellen – Luhmann bezeichnet diese Kopplung als zwischenmenschliche Interpenetration. Nach bestimmten kommunikativen Regeln, die er als Programme identifiziert, wird systemerhaltende Anschlusskommunikation geleistet. Diese Programme der Intimität sind es, an denen der Soziologe seine drei großen evolutionären Stufen von Liebe veranschaulicht; sie gehen einher mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft. So gilt für das stratifikatorisch organisierte Mittelalter der Code der höfischen Liebe, der zumindest in der selektiven Wahrnehmung Luhmanns vom Konzept der Hohen Minne der Minnesänger repräsentiert sei und daher Sinnlichkeit marginalisiere sowie von Formen der Idealisierung und Sublimierung getragen werde.² Die zunehmende funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft schaffe neue Anforderungen an die Liebe, deren veränderte Semantiken vor allem an zwei Epochen auszumachen seien: In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bilde sich der Code der passionierten Liebe heraus, welcher nicht nur das Element des Leidens an der Liebe kultiviere, sondern in der die Imagination statt die bloße Kenntnis der Eigenschaften des begehrten Objekts Liebe begründe. Sexualität werde im Verlauf des 18. Jahrhunderts insofern in das Konzept integriert, als sowohl die bloße Anspielung auf den Liebesakt als auch der Vollzug selbst – vorrangig in der Form des problematisierten Aufschubs – für die Intimbeziehung thematisiert werden. Luhmann nennt diese Referenz auf den Körper recht technisch symbiotischer Mechanismus.³ Elementare kommunikative Triebkraft für amour passion sei das Paradox, das sich in zahllosen sprachlichen Metaphern wie „erobernde Selbstunterwerfung, gewünschtes Leiden, sehende Blindheit, bevorzugte Krankheit, bevorzugtes Gefängnis, süßes Martyrium“ widerspiegelt – diese „verschiedenen Paradoxien […] münden in die Zentralthese des Code: die Maßlosigkeit, den Exzeß.“⁴ Insofern ist der Aspekt der Irrationalität gerade in Bezug auf die einseitige Passionserfahrung Kennzeichen dieses Codes. Die einzige Grenze der passionierten Liebe liege in der Zeit, sie sei nicht von Dauer und vertrage
Vgl. Luhmann (1994). Vgl. Luhmann (1994), 50 f. Luhmann (1994), 32 et passim. Luhmann (1994), 83. Hervorhebungen im Original.
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sich daher auch nicht mit der Institution der Ehe und ihren politischen, ökonomischen und genealogischen Implikationen. Das ändere sich dann ganz entscheidend mit dem Code der romantischen Liebe, der sich im 19. Jahrhundert etabliere und Liebe und Sexualität nun auch mit der Ehe in Einklang bringe. Gegenseitigkeit der Liebe, Orientierung des Selbst am Anderen, Intensivierung bzw. Aufwertung von Welterfahrung durch den Anderen, kurz: die Idee der Einheit einer Zweiheit seien Konstituenten jenes romantischen Codes von Intimität, der in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zur Ausbildung von Individualität stehe. Sein wichtigster kommunikativer Modus sei Selbstreflexivität – die Rechtfertigung der Liebe aufgrund von Liebe. Luhmann hält es für wahrscheinlich, „daß über die Aufwertung der Sexualität dann auch die Konkurrenz von ‚Liebe‘ und ‚Freundschaft‘ als Grundformeln für eine Codierung der Intimität entscheidbar wird. Liebe gewinnt.“⁵ Sie gewinne nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Annektierung des für das Dauerversprechen der Liebesehe entscheidenden partnerschaftlichen Modells der (Männer‐)Freundschaft.⁶ Die Defizite von Luhmanns Darstellung der Codierung von Intimität im Mittelalter treten selbst bei dieser holzschnittartigen Rekapitulation seiner Thesen zur Entwicklung der europäischen Liebessemantik zu Tage. Das kann in erster Linie methodischpragmatisch begründet werden; so zeigt etwa Luhmanns Studie Die Gesellschaft der Gesellschaft, in der die These von der zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft entfaltet wird, dass das Mittelalter hierfür als Kontrastfolie herhalten muss.⁷ Dass der tendenziösen Ausrichtung der Prämisse für seine Theorie der europäischen Moderne die Komplexität vormoderner Sozialsysteme notwendig zum Opfer fällt, reflektiert Luhmann durchaus.⁸ Auch der Titel seiner Abhandlung zur Liebe als Passion (1982) entsprechend der entscheidenden Liebeskonzeption des ersten modernen Epochenschwerpunkts markiert das per definitionem stete Vorwärtsdrängen seiner Evolution der Liebessemantik. Immerhin räumt Luhmann im Zusammenhang mit der passionierten Liebe und einem ihrer wichtigsten Momente – dem der Paradoxierung – antike, arabische und mittelalterliche Vorläufer ein.⁹
Luhmann (1994), 147. Vgl. Luhmann (1994), 145 – 151. Vgl. Luhmann (1997). Vgl. dazu die aufschlussreiche Stellungnahme Luhmanns „Mein ‚Mittelalter‘“ zu Oexles Problemaufriss „Luhmanns Mittelalter“ in Bezug auf die Oppositionsmarkierung von Vormoderne und Moderne, die unmittelbar nach Oexles Beitrag im selben Journal publiziert worden ist: „Wenn ich das Mittelalter, die mittelalterliche Gesellschaft, die mittelalterliche Semantik usw. erwähne, denke ich nur an eine eingeführte Epochenbezeichnung, die den Vorteil hat, daß man nicht genauer angeben muß, wovon man redet. […] Solche offene oder latente Markierung der Nichtmarkierung ist Voraussetzung für jeden Einsatz theoretischer Begrifflichkeit.“ Luhmann (1991), 66 f. Er schließt daher „nicht aus, daß man auch die bereits anlaufenden Trends zu funktionaler Differenzierung bis ins Mittelalter zurückverfolgen kann […].“ Luhmann (1991), 67 f. Vgl. Luhmann (1994), 57.
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Aussagen über Liebe in die Form von Paradoxien zu kleiden, das ist keine Erfindung des 17. Jahrhunderts, sondern antike und mittelalterliche Überlieferung. […] Auf der Ebene der Bilder, Formeln und Metaphern ist hier wie sonst auch schwer auszumachen, was denn wirklich ‚neu‘ ist.¹⁰
Insofern wird nicht nur im Konzept der Hohen Minne des Minnesangs die Dame idealisiert und überhöht, der Minnende durch seinen beständigen Dienst und nicht zuletzt durch den Ausschluss der Option sinnlicher Freuden nobilitiert. Diese am Vasallitätsprinzip orientierte vertikale Beziehung schafft auch jenen kommunikativen Raum des Liebenden, der ja auch Sänger ist,¹¹ für den Ausdruck seines Leidens einerseits und seiner Hoffnung auf eine positive Entgegnung der Angebeteten andererseits. Elemente also sowohl der Codierung passionierter als auch romantischer Liebe im Sinne Luhmanns etwa im Rahmen der Selbstreflexivität tragen insbesondere die zentrale Subgattung der Minneklage. Die Lieder Reinmars des Alten, deren programmatischer Schwerpunkt die Ästhetisierung des trûrens bildet, oder Walthers Problematisierung der Minne etwa in seinem berühmten Lied Saget mir ieman, waz ist minne? (La 69,1), schließlich auch die Lieder der sogenannte Reinmar-Walther-Fehde lassen sich als hervorragende Beispiele hierfür heranziehen.¹² Insbesondere der höfische Roman dann arbeitet sich an sehr verschiedenen Liebes- und Ehekonzepten ab, welche sicher nicht im Detail, doch aber in Bezug auf Wesensmerkmale sowohl passionierter Liebe als auch der Liebesehe repräsentieren. Zuletzt hat Andreas Kraß in seinem Aufsatz Höfische Liebe – Intimität und Sexualität in mittelalterlicher Dichtung diese Beobachtungen prägnant bündeln können.¹³ Den Idealtypus höfischer Liebe im Sinne Luhmanns beschreibt Kraß anhand eines Liedes von Albrecht von Johansdorf, den Typ der passionierten Liebe repräsentiere die Ehebruchsminne von Tristan und Isolde, das Ideal der ‚romantischen‘, partnerschaftlich ausgerichteten Liebe erreichen
Luhmann (1994), 71. Zur Doppelrolle von Sänger/Minner-Ich und deren Systematisierung vgl. insbesondere Strohschneider (1996). Passion und Paradox sind freilich Konstituenten des Konzepts der Hohen Minne, wie es insbesondere in der Subgattung der Minneklage repetiert wird: Der Minnende beklagt die Unverfügbarkeit seiner auserwählten vortrefflichen Dame, dient ihr aber unaufhörlich und hofft (vergeblich) auf einen Gruß, auf einen Moment der Aufmerksamkeit ihrerseits. Die Verweigerung der Dame aber ist es, die ihren Wert überhaupt erst artikuliert und die Werbung begründet. Über die huote werden z. B. Formen der obstacles für ein intimes Zusammensein entworfen. Aufgrund der Kopplung von Minnendem und Singendem bestimmt Selbstreflexivität den kommunikativen Modus von Minnesang – die ästhetische und ethische Vollkommenheit der Dame als Bedingungen des Singens und Liebens werden als literarische Gegenstände ‚produziert‘. Vgl. hierzu das Lied Walthers Lange swîgen des hât ich gedâht (L 72,31), der mit der Aussage, ir leben hât mînes lebennes êre; sterbet si mich, sô ist si tôt (L 73,16), unverkennbar auf Reinmar referiert (MF 158,1: ich mac wol sorgen umb ir leben: stirbet si, sô bin ich tôt.) und dessen Pathos der Hingabe konterkariert. Walther ist es auch, der das Modell der ebenen Minne, ein Charakteristikum der romantischen Liebe, in Saget mir ieman, waz ist minne? (La 69,1) diskursiviert. Vgl. Kraß (2014), zuvor u. a. schon Jaeger (1999), vor allem 157– 197, und Braun (2001), in Auseinandersetzung mit Luhmann: 189 – 192.
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schließlich Erec und Enite. Der Einfluss traditioneller Freundschaftsdiskurse bei allen im Fokus stehenden Texten und ihren Codierungen von Intimität sei nicht von der Hand zu weisen. Wie etwa Grundzüge der Ehetheologie Hugos von St. Viktor bestätigen, in der die Einheit von Liebe und Ehe auf dem Prinzip der societas begründet wird, orientiere sich der Code der Liebe nicht erst seit der Neuzeit am Code der Freundschaft. An diese Überlegungen möchte ich anschließen, wobei insbesondere das von Kraß entworfene Modell der Beziehung zwischen Erec und Enite Pate stehen soll; im Durchgang durch defizitäre Liebesphasen der im engeren Sinne höfischen und dann passionierten Liebe können die Protagonisten zu ehelichen Liebesgefährten werden.¹⁴ Luhmanns großer Entwurf einer evolutionären europäischen Liebessemantik schnurrt zusammen in der Liebesgeschichte eines durchaus prominenten Paares der mittelalterlichen Literatur. Nichtsdestoweniger – das zeigt der Beitrag auch – stellt jener ausdifferenzierte Entwurf eine Quelle analytisch fruchtbarer Kategorien zur Verfügung, um verschiedene Liebesregister unterscheidbar zu machen. Ein weiterer Vorteil einer nicht-psychologischen, sondern semiologischen Sichtweise auf das Phänomen Liebe für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung liegt im ‚Als-Ob-Status‘ psychischer Systeme im fiktionalen Text,¹⁵ deren Wahrnehmungen, Beobachtungen, Gedanken und schließlich Emotionen und Affekte aufgrund der sprachlichen Eigenheit von Dichtung nur als Kommunikation vermittelt werden können – und dies ist gewiss keine Besonderheit der vormodernen Literatur. Wenn nun im Folgenden die Intimbeziehung zwischen Parzival und Condwiramurs – ein Liebespaar wiederum eines sehr zentralen hochhöfischen Romans – im Mittelpunkt stehen soll,¹⁶ gilt es, zwei miteinander verzahnte Thesen zu exemplifizieren. Erstens integriert diese in der Forschung schon weit vor Liebe als Passion als höfische Liebesehe gekennzeichnete Bindung¹⁷ bei näherem Hinsehen auch Elemente der passionierten Liebe; über die Kopplung von Minne und Gral schließlich wird sie bekanntermaßen eingebunden in die signifikante religiöse Sinndimension der Dich-
Vgl. Kraß (2014), 82– 84. Vgl. Gutwald (2000), 282 f. Ich verweise lediglich auf die Fülle der Forschungsliteratur zu Ehe, Liebe und Geschlechterverhältnis im Parzival, die Heinzle (2011), 1090 – 1100, verzeichnet. Nach Schumacher (1967), 13 f., hier 14, sei die Parzival-Minne befreit von jeglicher Zweckhaftigkeit. Wolfram habe nicht nur „die ‚wâre minn mit triuwen‘ als den wesentlichen seelischen Gehalt der ‚rehten ê‘ dar[ge]stellt“, sondern mit „[s]einer Konzeption der höfischen Liebesehe […] der zeitgenössischen Minneproblematik eine ethisch unanfechtbare Lösung zu geben“ versucht. Auch Benkert (1972), hier 147, geht entsprechend ihres Anschlusses an Schumacher von der Liebesehe aus, ohne diese Voraussetzung noch in irgendeiner Weise zu reflektieren. Im Gegenteil, in ihrer freilich unter noch ganz anderen Forschungsprämissen verfassten Dissertation, in der sie anhand der ParzivalCondwiramurs-Minne die vorbildliche Synthese von Minnedienst und Ehe bzw. Eros und Agape aufzeigen möchte, tragen ihre diskursiv referenzlosen Beschreibungen der Ehe, die bspw. aus einem „Gleichklang der Herzen“ und Ähnlichem erwächst, eine heute eher unangemessene persönliche Note. Vgl. zudem Emmerling (2003), 299, Anm. 72.
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tung. Insgesamt lässt sich daher eine semantische Übercodierung ihrer Liebe beobachten, die an die Grenzen der Kommunikabilität führt. Medium dieser Unsagbarkeit – so meine daran anschließende zweite These – wird das Nicht-Erzählen von Parzival und Condwiramurs.¹⁸ Doch zunächst sei mir ein Prolog gestattet, der die Kennenlernszene in den Blick nimmt, da sich mit dieser das Luhmann’sche Konzept zwischenmenschlicher Interpenetration vorzüglich demonstrieren lässt: Als Parzival in Pelrapeire, der Hauptstadt von Brobarz, ankommt, ist nicht nur das ganze Land verwüstet, sondern die Bevölkerung, die Ritter und Damen sind sichtlich geschwächt. Zerstörung und Hungersnot gehen auf das Konto Clamides, der Condwiramurs mit Gewalt zur Ehe zwingen will – das allerdings erfährt Parzival erst später. Die Königin, deren Schönheit – so der Erzähler – keine Konkurrenz kennt und daher nicht nur die Schönheit Jeschutes, Enites und Cunnewares, sondern auch die der ersten und zweiten Isolde übertrifft (vgl. Pz. 186,17– 20; 187,12– 23),¹⁹ heißt den Gast mit Gruß und Kuss willkommen, lädt ihn ein, mit ihr in den Palas zu kommen. Auch Parzival ist fasziniert von der Schönheit Condwiramurs’, zugleich irritiert, denn zunächst löst ihr Anblick die Erinnerung an seine erste unschuldige Liebe zu Liaze aus (vgl. Pz. 188,1– 5).²⁰ Im Anschluss an die wörtliche Wiedergabe von Parzivals Gedanken, fasst der Erzähler den nachhaltigen Eindruck von Condwiramurs’ Schönheit in ein ausdrucksstarkes Bild; parallel zum besonderen Augenblick in der Geschichte der Liebenden wird der einzigartige Moment des Übergangs von der Rosenknospe zur Blüte zu beschreiben versucht: Lîâzen schœne was ein wint geint der meide diu hie saz, an der got wunsches niht vergaz (diu was des landes frouwe), als von dem süezen touwe diu rôse ûz ir bälgelîn blecket niwen werden schîn, der beidiu wîz ist unde rôt.²¹ daz fuogte ir gaste grôze nôt. (Pz. 188,6 – 14)²²
Vgl. Emmerling (2003), 309 – 311, die Idealisierung und Nicht-Ausgestaltung der Minne zusammenbringt, den Grund hierfür aber lediglich in der eigentlichen Aufgabe Parzivals, Gralsherrscher zu werden, sieht. Wolfram von Eschenbach, Parzival, im Folgenden lediglich mit Pz. abgekürzt. Zum Zusammenhang der Begegnungen Parzivals mit Liaze und Condwiramurs vgl. Bauer (1963), der zudem betont, dass die Eheminne über das konventionelle Minnekonzept hinausweist (ebd., 72 et passim). Das kontrastive Zugleich der Farben Rot und Weiß, welches auf die sogenannte Blutstropfenszene im sechsten Buch des Parzival verweist, kann als ein Element der Paradoxierung der passionierten Liebe aufgefasst werden. Insofern der höfische Topos von der tauigen Rose auf ein mariologisches Motiv zurückzuführen ist (vgl. Jeßing [1995], 129 – 131 und Fuchs-Jolie [2004], 250 – 252 mit Anm. 15, im Kontext von Wolframs Titurel), ist die erste Begegnung Parzivals mit Condwiramurs bereits mit einem semantischen Überschuss gekennzeichnet.
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Jene grôze nôt führt jedoch zum scheinbar prekären Schweigen Parzivals, das nur sekundär mit dem minnesängerischen Topos des Verstummens vor der Geliebten erklärt werden kann (vgl. Pz. 188,23 f.). Vielmehr ist es Gurnemanz’ Rat (vgl. Pz. 188,15 – 19), einfältiges Fragen zu unterlassen, der dazu führt, dass zunächst kein Wort über Parzivals Lippen kommt. Die für die Beziehungsinitiierung ausreichende Anschlusskommunikation löst diese Form der nonverbalen Kommunikation allemal aus.²³ Der dem Rezipienten gewährte Einblick in Condwiramurs’ Gedanken veranschaulicht die Funktionsweise von Kommunikationsprozessen, wie sie Luhmann als zwischenmenschliche Interpenetration beschrieben hat. Parzival und Condwiramurs sind tatsächlich einander opake Systeme, die sich gegenseitig als Umwelt zur Verfügung stellen und damit autopoietische Prozesse veranlassen, die hier im günstigen Falle zu einer dauerhaften Kommunikationsgemeinschaft führen: Condwiramurs hat keine Ahnung von Liaze,²⁴ keine Ahnung von der grôzen nôt, keine Ahnung von Gurnemanz’ Rat. Stattdessen fürchtet sie – völlig im Gegensatz zur Irritation, die ihre Schönheit bei Parzival ausgelöst hatte – ihm nicht zu gefallen. Wohlwollend schließlich interpretiert sie sein Schweigen zusammen mit seinem güetlîch[en] Blick als höfisches Verhalten, das damit zu erklären sei, dass sie als Gastgeberin das Gespräch zu eröffnen habe (vgl. Pz. 188,25 – 189,5). Wie Marina Münkler mit ihrer sehr genauen Lektüre der Szene plausibel macht, verfügt Condwiramurs über die Fähigkeit, Selbst- und Normreflexivität so zu verknüpfen, dass sie das kommunikative Problem lösen kann.²⁵ Mit ihrer Frage nach Parzivals letzter Reisestation haben sie offenbar ein Thema gefunden, das sie beide miteinander verbindet und so Anschlusskommunikation erzeugt. Gurnemanz nämlich, von dem der Held noch am selben Tag aufgebrochen war, ist Oheim von Condwiramurs, sie und dessen Tochter Liaze haben – wohl aufgrund des Todes ihrer Brüder – gemeinsam manegen sûren tac / mit nazzen ougen verklaget (Pz. 189,30 f. – „viele herbe Tage / mit nassen Augen durchgeklagt“). Wenn die Königin kurz darauf auf den Rat Parzivals hin Brot, Käse, Fleisch und Wein an die geschwächten Stadtbewohner verteilt und sie sich beide vil kûme ein snite teilen (Pz. 190,26 – 191,6 – „kaum eine Schnitte“), wird nicht nur im Sinne eines zukünftigen Herrschaftshandelns (milte – Freigebigkeit) ihrer gegenseitigen Bezogenheit Ausdruck
In der Übertragung von Dieter Kühn: „Doch war Liases Schönheit nichtig, / verglichen mit dem Mädchen hier – / mit ihm schuf Gott Vollkommenstes! / Dies war die Herrscherin des Landes: / es war, wie wenn im süßen Tau / die Rose aus der Knospenhülle / in ihrem frischen Schimmer bricht, / und zwar zugleich in Weiß und Rot – / das brachte ihn in Herzensnot.“ Vgl. Hahn (2006), 96, der das Diktum Watzlawicks, dass unter der Prämisse gegenseitiger Beobachtung auch Schweigen Kommunikation sei, allerdings einschränkt. Im Gegensatz zur Konkurrenz Herzeloydes, welche im Rahmen des Turniers von Kanvoleiz narrativ entfaltet wird, erfährt Condwiramurs im Sinne einer völligen Entproblematisierung im weiteren Handlungsverlauf nichts von Parzivals erster Liebe oder dessen zahlreichen Minneangeboten. Vgl. dazu Münkler (2008), 499 – 502, hier 498 f.: Condwiramurs zeichne sich dadurch aus, „dass sie Selbstreflexivität und Normreflexivität miteinander zu verbinden verm[ag], und zwar in einer Weise, die sie in die Lage versetzt, nicht nur klug zu agieren, sondern dabei auch eklatante Normbrüche in Kauf zu nehmen bzw. Verhaltensnormen situativ zu suspendieren.“
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verliehen.²⁶ Vielmehr möchte ich anhand dieser knapp erzählten Szene die Ausrichtung des eigenen Handelns am Anderen pointieren, welche auf jene strukturelle Bezogenheit der quasi psychischen Systeme im Sinne einer zukünftigen Intimbeziehung hinweist. Das Aufteilen der letzten Scheibe Brot ist dann ein Indiz für das Egalitätsprinzip, das ihre Beziehung kennzeichnen wird.²⁷ Der Grund, weshalb ich auf die Kennenlernszene so viel Wert lege, liegt darin, dass das Moment der Beziehungsanbahnung im Sinne einer sukzessiven Annäherung der Partner betont wird. Durch die Überwindung einer als unwahrscheinlich inszenierten Interaktion von Parzival und Condwiramurs wird ihre Verbindung als eine ‚individuelle‘ Beziehung ausgestellt – sie ist ‚individuell‘ insofern, als sie von Muster und Formular abgesetzt sein soll. Hierfür wird das konventionelle Modell der höfischen Liebe bzw. der Brauterwerbung, bei dem die schwache und umwerfend schöne Landesherrin gegen ihren Widersacher verteidigt und sie samt Landesherrschaft erobert wird, narrativ vorgeschaltet. Parzival kann den Seneschall des Königs Clamide und Befehlshaber über dessen Belagerungsheer, Kingrun, bezwingen und Pelrapeire befreien. Öffentlich umarmt ihn die Königin, druct in vaste an ir lîp und verkündet, keinen anderen als Parzival zum Ehemann nehmen zu wollen (Pz. 199,22– 28). Auch die Stadtbewohner sind sich einig, schwören Parzival Gefolgschaft und bitten ihn, Landesherr zu werden (vgl. Pz. 200,3 – 5), was bald darauf geschehen wird. Der Bruch aber mit dem epischen Muster des Minnedienstes bzw. die Distanzierung von Parzivals Kampf als exklusivem Minnedienst für Condwiramurs zeigt sich vor allem in der Szene, als der besiegte Kingrun zur Sicherheit verpflichtet wird. Seine Ehrerbietung gegenüber der Königin von Brobarz ist lediglich die zweite von insgesamt drei von Parzival vorgeschlagenen Optionen, die zugunsten der letzten – der Seneschall solle sich Cunneware, Artus und Ginover unterwerfen – abgelehnt werden darf (vgl. Pz. 197,28 – 199,14).²⁸ Offenbar hat diese Beziehung eine andere Qualität, die sich zunächst durch die schon in der Kennenlernszene angeklungene aktive Rolle der Dame
Vgl. die besonnene Rationierung der Nahrung für die ausgehungerten Städter (Pz. 201,10 – 18), mit der sich Parzival als „umsichtiger Landesherr (erweist).“ Nellmann (2006), 560. Bleuler (2012), hier 158 f., die das Verhältnis von Nahrungs- und Minnehandeln im Parzival beleuchtet, geht – ganz in meinem Sinne – noch einen Schritt weiter, wenn sie die Szene mit Blick auf ihre sakrale Konnotation als Ausweis der exklusiven Minnebeziehung deutet: „Durch die Ausklammerung des Nahrungshandelns bei der ersten Begegnung wird gezeigt, dass die Annäherung zwischen den beiden auf einer anderen Ebene stattfindet – einer Ebene, die sich dem Blick des Rezipienten entzieht. So gesehen ist die Askese des Paares, die zunächst durch die äußere Not bedingt ist, die aber bereits am ersten Tag nach Ankunft der Nahrungsmittel-Geschenke Kyôts und Manpfilijôt[s] selbst gewählt ist, auf der Handlungsebene Ausdruck der Herrschertugenden des Paares, auf diskursiver Ebene aber ist sie Ausdruck der Exklusivität dieser Beziehung. […] [M]it der Anspielung auf die Eucharistie wird hier die totale Vereinigung der Liebenden inszeniert.“ Dieser Vorgang wiederholt sich beim Sieg über Clamide, der ebenfalls seine von Parzival zuerst eingeforderte Ehrerbietung gegenüber Gurnemanz zugunsten der Reise zum Artushof ablehnen darf – die zweite Möglichkeit, sich Condwiramurs zu ergeben, wird bezeichnenderweise ausgelassen (vgl. Pz. 214,5 – 215,18).
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auszeichnet.²⁹ Die nachgeordnete lediglich rudimentäre Ratsszene, in der in der Regel die Zustimmung zur Heirat erfragt wird, betont umso mehr die bei Wolfram allerdings beliebte freie Partnerwahl der Frauen. Zusammen aber mit dem Angebot Condwiramurs’ gegenüber Parzival aufgrund seines Sieges über Kingrun, zunächst ihr âmîs zu werden (Pz. 200,6 – 9), liegen dann wesentliche Bedingungen für die Liebeskonzeption vor, welche nach Luhmann die Liebessemantik des 19. Jahrhunderts prägt: die Liebesehe. Dass diese Liebesehe – ganz im Sinne der Darstellungen des Soziologen – nicht primär auf Liebe und Begehren, sondern auf Freundschaft gründet,³⁰ markiert die Erzählung noch vor dem Kampf in der ersten gemeinsam verbrachten Nacht von Parzival und Condwiramurs. Die Sorge um die Bedrohung durch Clamide und der Kummer um die Toten lassen die Königin nicht schlafen; sie schleicht sich, von der Dienerschaft unbemerkt, in die Kemenate ihres Gastes und weckt ihn durch ihr Weinen. Bis auf einen einzigen Erzählerkommentar zur wêrlîch[n] wât, dem Seidenhemd Condwiramurs’ (vgl. Pz. 192,14– 17 – zum „wehrhafte[n] Gewand“), der eher der Gestaltung der oft frivolen Erzählerrolle dient, sind alle erotischen und sexuellen Anspielungen, welche vor allem das Ende der Szene in der Vorlage Chrétiens bestimmen, getilgt.³¹ Im Gegenteil wird gleich zu Beginn betont, dass dô gienc diu küneginne, niht nâch sölher minne diu sölhen namen reizet der meide wîp heizet, si suochte helfe unt friundes rât. (Pz. 192,9 – 13)³²
Es ist ihre Not, die sie dazu zwingt, mit solch ungewöhnlichen Maßnahmen um die Unterstützung Parzivals zu werben (vgl. Pz. 192,20).³³ Und sie findet im Gast einen angemessen Widerpart; auch er denkt wahrlich nicht an lîgende[] minne (Pz. 193,4 – „Beischlaf“), verspricht ihr sogar nicht übergriffig zu werden, damit sie – fest an Parzival geschmiegt – ihm ihre Sorgen erzählen kann. Aus der Gastgeberin und ihrem Gast werden Freunde, deren Vertrautheit und Nähe das gemeinsame Bettlager an-
Vgl. u. a. Münkler (2008), 499 – 502. Vgl. Luhmann (1994), 102 f. Im Conte du Graal verbringen Perceval und Blancheflor eine Liebesnacht miteinander (vgl. Perc. 2047– 2071), die der Held mit der Befriedung des Landes vergilt. Bei Chrétien heiraten die beiden Liebenden nicht; ob diese Option zum Schluss des Romans vorgesehen war, muss ob des Fragmentcharakters offen bleiben. „Die Königin brach auf, zur Liebe – / freilich nicht von jener Art, / die dazu führt, daß man die Jungfrau / danach als Frau bezeichnen muß; / sie suchte Freundesrat und -hilfe.“ In Bezug auf das Sicherheitsversprechen, das Condwiramurs Parzival abverlangt verdeutlicht Münkler (2008), 501 f., hier 502, das selbst- und normreflexive Verhalten der Königin. Ihr flexibler Einsatz von „Modi der höfischen Interaktion“ lassen „die ebenso hohe Normsouveränität wie extreme Risikobereitschaft erkennen“.
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zeigt – ein sehr gängiges Freundschaftsmotiv.³⁴ Wenngleich Parzival in der Terminologie der höfischen Dienstminne der vrouwe trôst und Schutz verspricht (Pz. 195,13; 27– 196,1), wird der Identifizierung ihrer frühen Verbindung als einer Liebesbeziehung durch einen weiteren Umstand entgegengearbeitet.³⁵ Denn die Minne ist offenbar sowohl bei Parzival als auch bei Condwiramurs noch an eine andere Partnerin bzw. an einen anderen Partner gebunden. Für die Königin wird dies nur angedeutet, wenn sie klagt, dass Clamides hant mir sluoc / Schenteflûrn, […] de[n] bruoder Lîâzen (Pz. 195,1– 6). Gleich im Anschluss und d. h. unmittelbar darauf bezogen ruft der Erzähler nochmals Parzivals erste Liebe in Erinnerung: dô Lîâze wart genant, nâch ir vil kumbers was gemant der dienst gebende Parzivâl. sîn hôher muot kom in ein tal: daz riet Lîâzen minne. (Pz. 195,7– 11)³⁶
Liebe zwischen Parzival und Condwiramurs kommt erst ins Spiel, wenn auch von ihrer Ehe die Rede ist, so etwa beim âmîs-Angebot der Königin nach dem Sieg über Kingrun. Mögliche Minnerivalitäten werden hiernach nicht mehr angedeutet. Stattdessen mündet der Freundschaftsdienst in die auf gegenseitigen Konsens beruhende Liebesehe (vgl. Pz. 201,19 f.),³⁷ in der auch die Sexualität integriert werden kann, insofern sie nicht als ein triebhaftes Begehren, sondern ganz im Sinne Luhmanns als Vollendung der ehelichen Liebe sublimiert wird.³⁸ Dieser Zusammenhang von Minne, Ehe und Sexualität hätte wohl nicht besser veranschaulicht werden können als im keuschen Beilager der beiden nunmehr Lie-
Vgl. die Beispiele bei Althoff (1990), 93 f., 100 und 106; vgl. insbesondere Oschema (2006), 538 – 554. Das anfängliche Vertrauen Condwiramurs’ wird mit Parzivals triuwe zu Vertraulichkeit gesteigert, die sich in der tränenreichen Offenbarung der Königin und schließlich in ihrer körperlichen Nähe äußert: si smouc sich an daz bette sân (Pz. 194,4 – „sie kuschelte sich in sein Bett“) und blieb dort bis zum nächsten Morgen. Inszeniert wird so ein außerordentlicher Moment von (keuscher) Intimität. Vgl. auf Grundlage von Luhmanns Überlegungen zum Vertrauen Möckel (2011), 135. Schon Emmerling (2003), 298 – 301, illustriert einen Zusammenhang zwischen dem freundschaftlichen Vertrauen in der Szene und der außergewöhnlichen Minnebeziehung von Parzival und Condwiramurs. Den Befund beschreibt Oonk (1976), 25, in seiner Negativität, wenn er für die Entstehung der Minne in Pelrapeire die „Abwesenheit der Minneakzidentien“, das Fehlen bestimmter Minnetopoi konstatiert. „Liase – als der Name fiel, / da wurde große Sehnsucht wach / in Parzival, dem Mann, der diente.“ Zu den Aspekten von Gegenseitigkeit und Konsens in den im Parzival entworfenen Minnebeziehungen vgl. Lienert (2004), 201 f. und 205 f. Die Institution Kirche spielt hier wie auch im gesamten Roman keine wesentliche Rolle – im Gegenteil liegt etwa mit Wolframs Votum gegen die Buchgelehrsamkeit in der sogenannten Selbstverteidigung (vgl. Pz. 115,23 – 116,4) oder mit dem Stellenwert der Klausnerin Sigune und dem Einsiedler Trevrizent für die Identitätsfindung des Helden die Betonung auf der laienfrömmigen Praxis. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die Dissertation von Knaeble (2011) hingewiesen. Jaeger (1999), 187– 191, liest die Unterordnung der Sexualität für die keusche Parzival-Minne ausschließlich im funktionalen Kontext von Parzivals und Condwiramurs’ Gralsbestimmung.
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benden. Zwei Nächte lässt Parzival seine Frau unberührt, denn kranc was sîn vreise (Pz. 202,20 – „sein Ungestüm war sehr gering“). Doch Condwiramurs, offenbar ebenso unerfahren wie ihr Mann, stört sich nicht daran. Im Gegenteil, für sie ist die Ehe vollzogen, daher legt sie sich am ersten Morgen den ehelichen Kopfputz an und überträgt die Herrschaft über Land und Leute auf Parzival. Ihre Liebe – wand er was ir herzen trût (Pz. 202,28 – „denn er war ihr Herzensliebster“) – ist als Legitimation ausreichend. [S]i wâren mit ein ander sô, / daz si durch liebe wâren vrô (Pz. 202,29 f.). Wolfram inszeniert hier überdeutlich, dass die gegenseitige Liebe, man könnte auch innige Freundschaft sagen, das Fundament ihrer ehelichen Bindung darstellt, in die Sexualität erst sekundär integriert wird. In der dritten Nacht nämlich denkt Parzival immer öfter an das Umarmen, das aber gerade nicht als triebhaftes Begehren, sondern als von Vernunft geleitetes Handeln dargestellt wird. Die Erinnerung an den Rat der Mutter zum Umgang mit höfischen Frauen und an die Worte Gurnemanz’ über das Ideal der Einheit von Mann und Frau führen schließlich zum körperlichen Vollzug der Ehe, der traditionsgemäß zumindest mit einem Versatzstück eines Unsagbarkeitstopos eingeleitet und dann poetisch umschrieben wird: ob ichz iu sagen müeze, er vant daz nâhe süeze: der alte und der niwe site wonte aldâ in beiden mite. in was wol und niht ze wê. (Pz. 203,7– 11)³⁹
Die unmittelbare Übertragung der partnerschaftlichen Identitätsformel⁴⁰ in den Kontext des Sexualakts nobilitiert jenen symbiotischen Mechanismus als Vollzug der Liebesehe: man und wîp wærn al ein. / si vlâhten arm unde bein (Pz. 203,5 f.).⁴¹ Soweit liest sich die Geschichte von Parzival und Condwiramurs als ein Paradebeispiel für den Typ der ‚romantischen‘ Liebe, dem man zumindest ab diesem Zeitpunkt in der Beziehung kaum noch eine narrative Triebkraft zuschreiben würde. Insofern scheint es folgerichtig, dass ihrer Liebe danach wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nach der recht umfangreichen und aufgrund von gleichzeitigen Erzählsträngen komplexen Schilderung des Sturmangriffs Clamides und dessen Niederlage durch Parzival (vgl. Pz. 203,12– 222,9), handeln lediglich wenige Verse das kurze, aber vollkommene Eheglück ab, indem die gegenseitige Liebe nochmals exponiert wird: [I]ewederz an dem andern vant, / er was ir liep, als was si im (Pz. 223,6 f. – „die beiden hatten sich gefunden. / Er liebte sie, sie liebte ihn“).⁴² Selbst als Parzival
„Falls ich euch das sagen darf: / er fand die nahe, süße Stelle. / Der alte, immer neue Brauch / harmonierte mit den beiden. / Und so fühlten sie sich glücklich.“ Zur Identitätsformel vgl. bspw. Kraß (2014), 80 f. Vgl. die bereits erwähnte Lehre Gurnemanz’ über die qualitative Bindung von Mann und Frau (vgl. Pz. 173,1– 6), aber auch den Vergleich des Einsseins zweier Brüder mit dem der Eheleute (vgl. Pz. 740,29 f.). Vgl. auch Emmerling (2003), 303.
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um urloup (Erlaubnis, Abschied zu nehmen) bittet, um zunächst herauszufinden, wie es seiner Mutter ergangen ist, vor allem um âventiure zu suchen, kann Condwiramurs dezidiert aus Liebe ihm diese Bitte nicht abschlagen (vgl. Pz. 223,15 – 30). Fortan und d. h. der Großteil der erzählten Zeit lässt sich ihre Ehe aufgrund der räumlichen Trennung als Sehnsuchtsminne charakterisieren, wodurch sie Elemente eines ganz anderen Liebesregisters, nämlich die der passionierten Liebe integriert. Dies zeigt sich schon unmittelbar nach Parzivals Abschied: ein dinc in müete sêre, daz er von ir geschieden was, daz munt von wîbe nie gelas noch sus gesagte mære, diu schœnr und bezzer wære. gedanke nâch der künegin begunden krenken im den sin: den müeser gar verloren hân, wærz niht ein herzehafter man. mit gewalt den zoum daz ros truog über ronen und durchez mos: wandez wîste niemens hant. (Pz. 224,10 – 18)⁴³
Die höfische Liebesehe, welche dennoch stark von der Idealisierung der Dame, also dem Code der im engeren Sinne höfischen Liebe getragen ist (Schönheit), wird schließlich überformt durch den Code der passionierten Liebe.⁴⁴ Dieser wiederum ist charakterisiert durch Momente der Irrationalität, worauf der drohende Verstandesverlust und die Zügellosigkeit des Pferdes verweisen. Abgelöst wird der Code der Liebesehe dabei nicht, er bleibt im Gegenteil insbesondere durch die Demonstration der triuwe und kiusche beider Ehepartner präsent.⁴⁵ Im Sinne des (gegenseitigen) Gedenkens⁴⁶ und des Exklusivitätsanspruches auch hinsichtlich der Sexualpartner-
„Was ihn ganz besonders quälte: / er war von jener Frau getrennt, / die schöner, edler war als alle, / von denen vorgelesen wurde / oder – ohne Buch – erzählt. / Die Sehnsucht nach der Königin / raubte ihm fast den Verstand; / den hätte er wohl ganz verloren, / wär er als Mann nicht so beherzt. / Sein Roß ließ wild die Zügel schleifen / über Stämme und durch Sumpf – / es war da keine Hand, die lenkte.“ Beide Codes überlagern sich im Grunde auch in der Konzeption des höfischen Minnesangs (siehe Anm. 12). Die kiusche Condwiramurs’ wird belohnt (vgl. Pz. 734,10 – 15): So irritiert der nachhaltige Eindruck der Gralsträgerin auf Parzival keineswegs (vgl. Pz. 246,13 – 22) und auch Orgeluses Heirats- und Herrschaftsangebot schlägt der Held aus (vgl. Pz. 618,19 – 619,14). Parzivals unbeirrbarer Dienst für Ehefrau und Gral gipfelt schließlich in seiner Berufung zur Gralsherrschaft und im Wiedersehen mit Condwiramurs. Zu den drei ‚Versuchungsszenen‘ (Repanse de Schoye, Orgeluse und die zwei Töchter des Pilgers) vgl. Emmerling (2003), 307– 309. Von Condwiramurs erfahren wir kaum etwas – lediglich in der Wiedersehensszene wird ihr Trennungsleid, ihr trûren und ihre sorge (Pz. 801,12 und 801,14) mit dem sogleich durch den Aspekt der Liebe relativierten Vorwurf nu solt ich zürnen: ine mac (Pz. 801,9 – „Ich müßt dir böse sein – ich kann’s nicht!“) angedeutet. Erzählt wird aus der Perspektive Parzivals, der aber dezidiert auf jene Gegensei-
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wahl realisieren diese Eigenschaften jene ideale Erwartung von der Dauerhaftigkeit ehelicher Liebe. Für Parzival wird dieser am symbiotischen Mechanismus identifizierte Exklusivitätsanspruch im Moment des Wiedersehens und sinnlichen Vollzugs der Ehe betont, denn – so der Erzähler – sîn lîp enpfienc nie anderswâ / minne helfe für der minne nôt: / manc wert wîp im doch minne bôt (Pz. 802,6 – 8 – „Er hatte nirgends Liebeslust / erhalten für die Lust auf Liebe – / trotz vieler Liebes-Angebote.“). Als ein von Sehnsucht getragener ehelicher Minnedienst, in dem Parzival seine unterlegenen âventiure-Gegner zu Condwiramurs schickt⁴⁷ und in der als ein Akt der Vollendung der partnerschaftlichen Liebe Sexualität als kurzwîle (Pz. 802,9) integriert werden kann,⁴⁸ lässt sich der hier entfaltete Liebesentwurf in Bezug auf Luhmanns Liebessemantiken nur als Hybride identifizieren. Doch damit nicht genug: Wolfram koppelt – ganz entgegen seiner Vorlage – Parzivals Liebe zu Condwiramurs nach dem ersten Aufenthalt auf Munsalvaesche mit seinem Gralsbegehren. Die doppelte Sehnsucht wird Leitmotiv und Handlungsmovens für die restliche Parzival-Geschichte und mündet schließlich in der Berufung beider Ehepartner zur Gralsherrschaft.⁴⁹ Für die Minne und Minnedame bedeutet dies ohne Zweifel eine Aufwertung; Parzivals Dienst für seine Ehefrau, der zugleich schildes ambet umben grâl (Pz. 333,27 – „Ritterkämpfe um den Gral“) ist, wird sozusagen in den religiösen Kontext seiner Identitätsfindung eingepflegt.⁵⁰ Insofern der Gral der Minne grundsätzlich übergeordnet ist,⁵¹ erklärt die Kopplung zumindest das disparate Wechselverhältnis von einer unproblematischen und erfüllten Eheminne einerseits und ihrer Unverfügbarkeit in der langen Zeit der schmerzlichen Trennung andererseits. Mit Parzivals Gralsâventiure wird nicht nur die narrative Spannung auf das Minneverhältnis, sondern auch ihr Transzendenzbezug
tigkeit hofft: er enbôt ir, ob si dæhte an in, / daz wære an freuden sîn gewin (Pz. 425,11 f. – „[e]r läßt ihr sagen: Denke sie / an ihn, so steigre dies sein Glück“). Vgl. Pz. 389,5 – 14; 425,2– 14. Der eheliche Beischlaf wird insbesondere in der Wiedersehensszene von seiner Reproduktionsfunktion gelöst – zwei männliche Nachkommen sind bereits auf der Welt. Vgl. Bumke (2001), vor allem 48. Das gelingt über die strukturelle Analogie der lôn-Logik: Weil Condwiramurs schon Ehefrau Parzivals ist, wird die für den konventionellen Frauendienst im höfischen Roman typische lôn-Erwartung unterlaufen. Beim Dienst an Gott ist jegliche Annahme auf einen Ausgleich prinzipiell ausgeschlossen, da sich die Gnade Gottes über ihre Unverfügbarkeit auszeichnet. (Im Grunde ist diese Prämisse das zentrale ‚Problem‘ Parzivals, welches mit seiner vasallischen Gottesauffassung im 6. Buch deutlich markiert wird und das der Roman in den Folgebüchern verhandelt.) Freilich sei darauf hinzuweisen, dass sich hier – mit Blick auf die Mariendichtung traditionsgemäß – die Semantiken religiöser Kommunikation mit denen des Codes der höfische Liebe des Hohen Sangs überschneiden. Während in der Blutstropfenszene noch die Minne-Sehnsucht überwiegt (vgl. Pz. 296,5 – 8), wird danach die Erlangung des Gral stets als primäres Ziel genannt. Besonders deutlich formuliert es der Held selbst, wenn er Trevrizent offenbart: ‚mîn hœhstiu nôt ist umben grâl; / dâ nâch umb mîn selbes wîp: / ûf erde nie schœner lîp / gesouc an keiner muoter brust. / nâch den beiden sent sich mîn gelust.‘ (Pz. 467,26 – 30 – „‚Den größten Schmerz macht mir der Gral, / dazu auch noch mein Eheweib. / Auf Erden nährte keine Mutter / je zuvor solch eine Schönheit. / Nach beiden sehnt sich all mein Wünschen.‘“)
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übertragen. Und dennoch: In Bezug auf das strenge Minne- und Heiratsreglement der Gralsgesellschaft fällt es schwer, ein wirklich kohärentes Gesamtbild zu zeichnen. Zwar erfolgt ‚von hinten‘ die Bestätigung ihrer Liebesehe durch höchste göttliche Instanz, wenn auch der Name Condwiramurs auf dem Gral erscheint – und auch die Forschung bemüht sich, anhand der kiusche (Keuschheit) Condwiramurs’ Idoneität für ihre Rolle als Gralskönigin zu erweisen.⁵² Doch die Diskrepanz von sinnlicher Wiedervereinigung der soeben zur Gralsherrschaft Berufenen scheint mir nachhaltig.⁵³ Diese von Gott legitimierte, auf Freundschaft basierende, auch passionierte höfische Liebesehe, die schließlich noch als minneclîche (Pz. 801,19) Elternschaft in Szene gesetzt wird,⁵⁴ ist quasi ein Superlativ einer Intimbeziehung: Ihr Kennzeichen ist die Übercodierung, die an die Grenzen ihrer Kommunikabilität stößt. Wolframs Parzival offeriert eine interessante Möglichkeit, diese Form der Unsagbarkeit der Minne dennoch zu kommunizieren: Das Medium ist das Erzählen bzw. Nicht-Erzählen; die Kommunikationsebene zwischen Erzähler und Publikum ‚wechselt‘ quasi von der histoire hin zum discours. ⁵⁵ Um meine zweite These zu veranschaulichen, sei mir gestattet, zum keuschen Beilager zurückzukehren. Denn die Brautnacht-Szene bzw. Brautnächte-Szene verweist in paradigmatischer Weise auf zwei miteinander verknüpfte Parameter jener spezifischen, semantisch übercodierten Liebeskonzeption von Parzival und Condwiramurs. Erstens ist die Logik der Verzögerung festzuhalten, welche sich durch die im Text auch thematisierte Erwartung des ehelichen Vollzugs noch in der ersten Nacht ergibt. Hieran knüpfen sich die beschriebenen semantischen Implikationen ihrer Liebe. Denn der Aufschub wird als Moment einer innigen Glückseligkeit inszeniert, da die Spannung von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit im Zeichen von Anwesenheit, der körperlichen Nähe der freundschaftlich Liebenden steht. Im Gegensatz dazu steht die lange, durch die Gralssuche unumgängliche Entsagung, welche im Zeichen der Abwesenheit, der räumlichen, fast fünf Jahre andauernden Trennung zur Passion wird Vgl. Emmerling (2003), 310, vor allem 313 – 320; Ghosh (2008). Die Diskrepanz von dem Ausdruck höchster göttlicher Erhabenheit im Rahmen der Gnade, die Parzival zu Teil wird, und der freudigen Eile des Helden, zu seiner Ehefrau zu kommen, wird schließlich in der kurzen Episode ausgestellt, in der Parzival auf dem Weg zu Condwiramurs für einen kurzen Besuch bei Trevrizent Halt macht, um ihm über das glückliche Ende Bericht zu erstatten. Nachdem der Einsiedler in einem langen Monolog die Allmacht und das unbegreifliche Wirken Gottes zelebriert, seine eigene Sünde gesteht und schließlich zur Demut aufruft (vgl. Pz. 797,23 – 798,30), hat der Liebende lediglich seine Bitte um Abschied zu verkünden, um si [zu] sehen, diech nie gesach / inre fünf jâren (Pz. 799,2 f.). So in der Wiedersehensszene: Als Parzival seine nun schon vier Jahre alten Kinder schlafend neben der Mutter liegen sieht, dô muose freude an im gesigen (Pz. 800,22). Als die Söhne schließlich aufwachten, Parzivâln des niht verdrôz, / ern kuste se minneclîche (Pz. 801,18 f.). Zur Einbeziehung des Kindes in das Eheglück, zum Kind als der minne fruht (Pz. 57,2) und Verwirklichung der Unio (vgl. Pz. 109,26 – 29) vgl. bereits Schumacher (1967), 171– 177. Die Unterscheidung von histoire und discours bzw. genauer mit Genette zwischen Geschichte, Erzählung und Narration ist freilich nur eine analytische, die stets ihre Wechselbeziehung im Blick behält. Vgl. Genette (2010), 13.
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und in der die Spannung von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit der Liebenden im ehelichen Minnedienst zum Tragen kommt. Während im ersten Vollzug der Liebesehe in der dritten Brautnacht Exklusivität und die Einheit von Liebe, Ehe und Sexualität noch durch die Unerfahrenheit der Partner zum Ausdruck kommt,⁵⁶ werden diese Ideale im Sinne der ehelichen triuwe und kiusche in der Zeit der Trennung vor allem mit Parzivals reflexivem Handeln und schließlich in der Wiedersehensszene bestätigt.⁵⁷ Nicht zuletzt ist der Aufschub sinnlicher Freuden in der Anspielung auf die sogenannten Tobiasnächte religiös konnotiert, weil sie als kirchliche Enthaltsamkeitsempfehlung auf eine alttestamentarische Erzählung zurückgeführt werden. Wenngleich völlig zurecht darauf hingewiesen wurde, dass jener religiöse Bezug aufgrund der mit ironischen Erzählerbemerkungen begleiteten inszenierten Unerfahrenheit von Parzival und Condwiramurs unterlaufen wird,⁵⁸ ließe sich jene dennoch aufgerufene Konnotation als ein Typus für die spätere Kopplung von Minne- und Gralsbegehren lesen. Die Logik der Verzögerung konkretisiert sich zweitens auf Ebene des narrativen discours, insofern die wenigen für die Darstellung der eigentlichen Handlung reservierten Verse mit Kommentaren des Erzählers überlagert und die mit Spannung erwarteten Ereignisse der ersten Brautnacht sogleich aufgeschoben werden. Die kritische und kontrastive Reflexion über die nur vorgetäuschte sexuelle Enthaltsamkeit bestimmter Frauen geht zunächst einmal über in einen weiteren Exkurs zum zurückhaltenden Liebhaber,⁵⁹ bis dann die Handlung am Ende der ersten Nacht der Vgl. Luhmanns „Modell ‚Pamela‘“, dessen Ideal von der Unberührtheit bis zur Hochzeit die Einheit von Liebe, Ehe und Sexualität zum Ausdruck bringe. Luhmann (1994), 159. Es ist immer wieder die Schönheit Condwiramurs’, ein wesentlicher Bestandteil des Codes der höfischen Liebe im engeren (Luhmann’schen) Sinne, die sich Parzival in Erinnerung ruft und welche ihn über jeglichen Treuebruch erhaben machen kann. Vgl. die Gedankenrede des Helden auf der Gralsburg, auf der Repanse de Schoye nachhaltigen Eindruck gemacht hat: wan stüende ir [Repanse – A. S.] gemüete / daz sie dienst wolde nemn! / des kunde mich durch si gezemn, / und doch niht durch minne: / wan mîn wîp de küneginne / ist an ir lîbe alse clâr, / oder fürbaz, daz ist wâr (Pz. 246,16 – 22 – „[w]äre sie doch bloß bereit, / meine Dienste anzunehmen. / Ich täte es um ihretwillen / und nicht für ihren Liebeslohn, / denn meine Frau, die Königin, / ist gewiß genauso schön – / eher schöner. Ja, das stimmt!“) Vgl. aber auch Parzivals Sehnsucht nach Condwiramurs’ kiuschlîche[m] umbevanc (Pz. 732,21 – ehelicher Umarmung), der den rein sexuellen Aspekt der Minne in den Hintergrund drängt – in der Übertragung von Dieter Kühn ist bezeichnenderweise vom Wunsch nach der „ehelichen“ Umarmung die Rede. Vgl. Nellmann (2006), 561, mit Verweis auf Schumacher (1967), 39 – 47. Auf die komplexe Verknüpfung des Exkurses mit der Parzival-Minne hat bereits Schumacher hingewiesen, die eine Art Überschreibung jener religiös-asketischen Prämissen der trinoctium castitatis durch ein höfisch-kultiviertes Minneprogramm konstatiert. Freilich werde mit dem getriwe[n] stæte[n] man (Pz. 202,3), aber eigentlich auch ohne sein Beispiel, eine „Sublimierung des erotischen Empfindens“ proklamiert, doch gerade weil seine Zurückhaltung mit der Parzivals nur äußerlich, nicht aber mit ihrem Grund übereinstimmt, bleibt der Exkurs mit den erzählten Ereignissen in der Diegese schwer harmonisierbar. Vgl. Schumacher (1967), 43 – 47, hier 46. Dagegen Emmerling (2003), 302, die den Exkurs als eine „Perversion des Konzeptes der Hohen Minne“ liest. Aufgrund der Diskrepanz sehe ich den Erzählerkommentar vielmehr als einen Reflexionsgegenstand für die Darstellung von der
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unverrichteten Dinge fortgeführt wird. Nun ließen sich die Abschweifungen als narrativ adäquater Ausdruck davon auffassen, was in der Nacht zwischen den Liebenden in puncto Sexualität passiert ist: nämlich nichts. Mit Blick auf die idealisierende Bewertung der keuschen Brautnächte insgesamt aber würde dieser Zusammenhang zu kurz greifen. Diese Form des Nicht-Erzählens kann nicht nur die Erfahrung von Dauer bzw. Dauerhaftigkeit vermitteln, sie ist vielmehr Ausdruck für die Unsagbarkeit jenes – wie es im Konzeptpapier zur Tagung treffend hieß – „Moments der Glückseligkeit höchster Intimität“, der sich insbesondere über seine Exklusivität auszeichnet. Sebastian Möckel, der u. a. im Kontext des mittelhochdeutschen Tagelieds sowohl die Semantiken und Strukturen von Intimität herausarbeitet als auch das Verhältnis von Intimität und Dialogizität beschreibt, prononciert das strukturelle Konstituens von Zweisamkeit vor allem über den notwendigen Ausschluss eines Dritten, der die „kommunikative Schließung innerhalb der Dyade“ realisiert.⁶⁰ Für eine literarische Inszenierung einer solchen Sonderkommunikation aber ist paradoxerweise die Vermittlung durch eine Beobachterinstanz erforderlich,⁶¹ die hier zweifelsohne Wolframs Erzähler übernimmt. Indem dieser einerseits durch zum Teil frivole Kommentare zur Unerfahrenheit Parzivals, aber auch zur vermeintlich spröden Geliebten ein durchaus zu erwartendes sexuelles Begehren als abgewiesene Alternative präsenthält, werden Parzivals und Condwiramurs’ lauteres Verhalten in den Brautnächten als Variation ihrer ersten gemeinsam verbrachten Nacht als Freunde nobilitiert. Andererseits werden mit dem Wechsel von histoire auf discours-Ebene die Liebenden dem direkten Blick entzogen und der beobachtende Dritte zugleich ausgeschlossen. Unmittelbar nach Vollzug der Ehe und kurzem Hinweis auf ihr Glück wird dann über das Arrangement gleichzeitiger Erzählstränge von den Kampfvorbereitungen Clamides und denen in Pelrapeire, von Kingruns Ehrerbietung vor der Tafelrunde, schließlich von der Niederlage des Belagerers und seiner Reise zum Artushof erzählt (vgl. Pz. 203,12– 222,9), um erst danach und verhältnismäßig knapp zu den Ereignissen in Pelrapeire zurückzukommen (vgl. Pz. 222,10 – 223,30). Rasch werden sie mit dem Abschied der ehelichen Liebenden beschlossen. In seiner paradigmatischen Funktion des keuschen Beilagers verweist diese Form des beredten Schweigens⁶² auf die ‚(Dis‐)Artikulation des Begehrens‘⁶³ in der langen Trennungsphase der Liebenden, schließlich auf die (Dis‐)Artikulation der Intimität zwischen Parzival und Condwiramurs überhaupt, die sich – wie ich gezeigt habe – über ihre übercodierte Liebessemantik auszeichnet. Ganz im Sinne des konzeptionellen Begriffs, wie ihn Beatrice Michaelis für Ihre Studie zu den Schweigeeffekte[n] in
sprachlichen Unverfügbarkeit der Parzival-Minne – auch in der Blutstropfenepisode wird ein solches Kommunikationsverfahren durch die gegenüber der Handlung disparaten Äußerungen des Erzählers umgesetzt (s. u.). Möckel (2011), 135. Vgl. Möckel (2011), 136. Vgl. grundsätzlich Hahn (2006). Vgl. Michaelis (2011).
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wissenschaftlichen und literarischen Texten des Mittelalters entwirft, beschreibt ‚(Dis‐) Artikulation‘ die Spannung zwischen den Möglichkeiten sprachlicher Vermittlung einerseits und der Nicht-Kommunikabilität ihres Gegenstandes andererseits.⁶⁴ Verwirklicht sehe ich diesen Zusammenhang im quasi Nicht-Erzählen von Parzival und Condwiramurs nach ihrem Abschied in Pelrapeire. Erst nach fast fünf Jahren erzählter Zeit und über 17000 Verse später dürfen sie sich wiedersehen. In der Zwischenzeit wird viel anderes erzählt – „[m]an schweigt über etwas, indem man über etwas anderes redet.“⁶⁵ Gemessen am gesamten narrativen Aufwand geben daher nur wenige und meist auch kurze Momente von Parzivals Sehnsucht nach Condwiramurs und seiner ehelichen triuwe Auskunft. Freilich ist nicht jedes Nicht-Erzählen Ausdruck von Unsagbarkeit, es bedarf zusätzlicher Markierungen, die das Schweigen auch als ein solches erkennbar machen.⁶⁶ In der dezidiert von der altfranzösischen Vorlage zu unterscheidenden Kopplung von Gralsbegehren und Minnesehnsucht sehe ich ein solches Signal, weil der Liebesehe damit ungeheure Handlungsrelevanz zugewiesen wird. Anders als bei einem konventionellen Unsagbarkeitstopos, bei dem in der Regel Markierung und Schweigen explizit miteinander in der Figuren- bzw. Erzählerrede verknüpft werden, organisiert der discours der Erzählung ein implizites Markieren des Schweigens, das sich erst im Rezeptionsprozess erschließt. Dies geschieht vor allem durch die zahlreichen Analepsen und einige Prolepsen, welche die unverbrüchliche Bindung zwischen Parzival und Condwiramurs immer wieder vergegenwärtigen, selbst in den Gawan-Büchern. Das prägnanteste Beispiel in dem Teil der Dichtung, in dem sogar der Held selbst in den Hintergrund der Erzählung rückt, ist seine Ablehnung Orgeluses, die ihm Ehe und Herrschaft anträgt. Wenn die Herzogin von Logroys im Vertrauen Gawan von dieser Kränkung erzählt, führt vor allem ihre direkte Wiedergabe der Antwort Parzivals zur Vergegenwärtigung jenes von Orgeluses erinnerten Ereignisses, darüber zur Aktualisierung des Helden und seiner Sehnsucht nach Ehefrau und Gral: ‚von Pelrapeir diu künegîn, sus ist genant diu lieht gemâl: sô heize ich selbe Parzivâl. ichn wil iwer minne niht: der grâl mir anders kumbers giht.‘ (Pz. 619,8 – 12)⁶⁷
Vgl. Michaelis (2011), 2 f. Hahn (2006), 95. Vgl. Hahn (2006), 95. „‚Die Königin von Beaurepaire / nennt man die blendende Erscheinung; / ich selber heiße Parzival. / Ich wünsche Eure Liebe nicht – / mich belastet schon der Gral.‘“ Neben der Blutstropfenszene im 6. Buch vgl. auch Pz. 224,10 – 21; 246,12– 22; 327,17– 20; (332,9 – 14); 333,23 – 30; 389,5 – 14; 425,2– 14; 441,4– 17; 460,1– 8; 467,26 – 30; 491,26 f.; 559,8 – 18; 586,16 – 18; (645,23 – 30; 700,9 – 14); 732,1– 733,30; 734,10 – 25; 737,29 f.; 740,19 – 22; 742,27– 30; 743,12– 744,6.
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Kulminationspunkt dieser komplexen (Dis‐)Artikulation der Intimität von Parzival und Condwiramurs ist die berühmte Blutstropfenszene, in der sich der Held aufgrund dreier Blutstropfen im Schnee an seine geliebte Ehefrau erinnert, er in Minnetrance gerät und nach erfolgreichen Kämpfen gegen Segramors und Keie erst durch Gawans Mantelwurf aus diesem Zustand von Bewegungslosigkeit und Verzückung befreit werden kann.⁶⁸ So wird nicht nur jene übercodierte Semantik ihrer ehelichen Minne in dieser Episode aktualisiert: Wiederholt und unmissverständlich wird Parzivals Minnebann als Ausweis seiner wâren, starke[n] und strenge[n] minne (Pz. 283,14; 283,18; 287,11) und im Moment der Bannlösung ihre enge Bezogenheit auf die eheliche Bindung akzentuiert. Parzival knüpft seine Identität an die Gewinnung Condwiramurs’ und ihre Befreiung von Clamide, dessen entscheidende Niederlage unmittelbar nach Vollzug der Ehe errungen werden kann – die Königin ist daher frowe unde wîp (Pz. 302,7). Parzivals Vergleich der drei Blutstropfen mit ihren Wangen und ihrem Kinn wiederum aktualisiert ihre topische Schönheit, die über das für die mittelalterliche Buchmalerei zu konstatierende „ikonische Minimalprogramm“ verstärkt wird.⁶⁹ Zugleich führt ihn seine Frage nach dem Urheber jenes Bildes zur Herrlichkeit Gottes und seiner Schöpfung (vgl. Pz. 282,26 – 283,3). Schon diese Frage leistet die unmittelbare Kopplung von Minne- und Gralsbegehren (vgl. Pz. 296,5 – 8), das heißt die Anbindung der Parzival-Minne an die göttliche Transzendenz. Daneben dürften die drî bluotes zäher rôt (Pz. 282,21 – drei Blutstropfen) an die zäher der Königin erinnern (Pz. 193,16 – Tränen), die sie während ihres ersten freundschaftlichen Nachtlagers in Pelrapeire vergossen hat. Schließlich variiert die Szene im Spannungsfeld von Unverfügbarkeit und Verfügbarkeit Elemente der amour passion, weil sie einerseits das paradoxale Zusammenspiel von Parzivals schmerzlicher Sehnsucht und beglückender Vergegenwärtigung der abwesenden Geliebten inszeniert, darin andererseits das Moment der Irrationalität stark macht – die passive Versunkenheit des Helden wird vor allem in den Erzählerkommentaren als Folge einer destruktiven Liebesmacht bewertet. Über diesen semantischen Überschuss hinaus, welcher aufgrund des dichten Bezügenetzes in einer solchen Schlüsselstelle des Romans vielleicht nicht überraschen kann,⁷⁰ (dis‐)artikuliert der discours die Unsagbarkeit der Liebe zwischen Parzival und Condwiramurs, des Moments höchster Intimität in der Blutstropfenszene. Mit Blick auf die makrostrukturelle Ordnung der Erzählung figuriert sie die Logik der Verzögerung, des Aufschubs, weil die plaine am Plimizoel der Ort sein wird, an dem sich die Ehelich-Liebenden und liebenden Eltern wiedersehen werden (vgl. Pz. 802,1– 5). Für das narrative Arrangement der Episode im sechsten Buch ist von Bedeutung, dass von der freilich zentralen Minneversunkenheit gerade nicht im en-
In diesem Rahmen kann ich den Gedanken nur noch als Ausblick formulieren. Unter den zahlreichen Forschungsbeiträgen zur Blutstropfenszene vgl. insbesondere Bumke (2001), Hasebrink (2005) und Mertens Fleury (2008). Hasebrink (2005), 242. Zum dichten Bezügenetz dieser Szene vgl. u. a. Jeßing (1995), 132– 142; Möhren (2000), 155 – 157, mit Verweis auf Wehrli; Hasebrink (2005), 241 f.
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geren Sinne erzählt wird. Zwar hat ein bewegungsloser Protagonist kaum narratives Potential, doch ließe sich ein (lyrisches) Erzählen über ausführliche Erinnerungsbilder oder Minnereflexionen des Helden realisieren. Stattdessen wählt Wolfram die Vermittlung über die Außenperspektive, über die Wahrnehmung und Deutung von Parzivals Versunkenheit durch andere Figuren und durch den Erzähler, der allein schon ein Drittel der Erzählzeit für seine Erläuterungen und Publikumsanreden in Anspruch nimmt.⁷¹ Hinsichtlich der narrativen Ordnung der Ereignisse dominiert – wie schon im Kontext des frühen Eheglücks beobachtet – das Arrangement von gleichzeitigen Erzählsträngen: Während Parzival unversunnen (Pz. 283,17; 287,9; 288,9 – gedankenversunken) auf die drei Blutstropfen starrt, wird der Fokus auf das Geschehen am nahe residierenden Artushof gelenkt, der das Problem des fremden Ritters mit ûf gerihtem sper zu bearbeiten versucht (Pz. 283,17; 284,3). Über die Bewegungen seiner Vertreter – Cunnewares Knappe, die Artusritter Segramors, Keie und Gawan – berühren sich die beiden Handlungsstränge immer wieder, bis sie schließlich mit der Einladung Gawans an den Artushof ganz zusammengeführt werden. Lediglich zwei kurze intern fokalisierte Textpassagen geben Auskunft darüber, wie Parzival in den Bann der Blutstropfen gerät und weisen jenen Zustand aus als einen der starken Liebe zu Condwiramurs, die zudem recht unvermittelt mit dem Gralsbegehren gekoppelt wird (vgl. Pz. 282,22– 283,15; Pz. 296,5 – 8). Darüber hinaus bietet der Erzähler keine weiteren Informationen, sondern ausschließlich Repetitionen, die zusammen mit den nach dem Prinzip der steigernden Wiederholung organisierten Kampfhandlungen und Konfliktlösungen diese Versunkenheit als einen dauerhaften und ‚inneren‘ Zustand erfahrbar machen.⁷² Das narrative Verfahren inszeniert dabei zugleich den eingeschränkten Zugriff auf das, was auf der plaine mit Parzival passiert. Neben den ganz offensichtlich falschen Annahmen von Parzivals Beweggründen durch den Knappen, durch Segramors und Keie markieren nachhaltig die Kommentare und der Minne-Exkurs des Erzählers aufgrund ihrer inhaltlichen Diskrepanz zur Geschichte jene Exklusion des Dritten.⁷³ Weder lässt sich Parzivals Minneglück und Kampfgelingen so recht harmonisieren mit der „Anklage gegenüber der kriegerischen Minne, die den Menschen in einen Zustand wehrloser Passivität zwinge“,⁷⁴ noch ist der Führungswechsel von Frau Minne und Frau Witze eine angemessene ‚Übersetzung‘ des Erzählers, welche die kämpferischen Erfolge trotz Versunkenheit erklären könnten – Parzival nämlich kann sich an keine Kämpfe erinnern (vgl. Pz. 302,7– 16).
Vgl. Bumke (2001), 111. Zum Wiederholungsmuster vgl. Hasebrink (2005), 244. Auch Gawans Minneerfahrung, welche für die Lösung des Minnebanns entscheidend ist, weist bloß eine Ähnlichkeit mit der Parzivals auf – der schmerzliche Verlust des arthurischen Musterritters, der bei ihm zu ganz anderem irrationalem Handeln geführt hat, steht im Kontext eines konventionellen Minnediensts (vgl. Pz. 301,7– 30). Linden (2008), 111.
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Hier werden also Grenzen der Kommunikabilität aufgezeigt, welche die Minne zwischen Parzival und Condwiramurs als unsagbar diskursivieren.⁷⁵ Im Kontext der Blutstropfenszene konstatiert bereits Dewald, dass es Wolfram um die Idee eines neuen Minnekonzepts gehe, das es noch zu formulieren gilt, um einen „neuen Sinn der Minne, den Wolfram einzukreisen sucht“.⁷⁶ Insofern weist die Kehrseite der Medaille von der Unsagbarkeit der Parzival-Liebe, die ich als semantische Übercodierung qualifiziert habe, zugleich hin auf eine noch nicht etablierte Semantik für das Konzept von Intimität, das für den Helden im Parzival entworfen wird.
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Verstummen verlernen? Wege aus der Unsagbarkeit in der Minnerede Im Traum küsst ein männlicher Ich-Sprecher seine schlafende Geliebte und muss dabei schlagartig vor Freude erwachen. Die Intensität seines Erlebnisses zwingt ihn aus der Vision des Verfügbaren heraus und in die Realität der Unverfügbarkeit zurück. Die Freude verwandelt sich in tiefste Verzweiflung über den Verlust der langersehnten Nähe. Gebrochenen Herzens verharrt der Liebende in der Hoffnung auf zukünftige Möglichkeiten der Erfüllung. Den Mut zum Kuss hatte er allein nicht aufbringen können. Es war die Liebespersonifikation Frau Minne selbst, die ihn verführen musste. Nach langem Klagen über seine Sehnsucht, die eigene Machtlosigkeit und Verstrickung in der paradoxen Verbindung von Liebesfreude und Liebesleid hatte ihn Frau Minne im Traum abgeholt und zum Bett der halbnackten Geliebten gebracht. Der Betrachtung ihres vollkommenen Körpers und der überwältigenden Erfahrung ihrer Schönheit konnte sich der Mann nicht mehr entziehen. So bezichtigte er Frau Minne des Betruges. Sie allein sei für seine Qual verantwortlich gewesen. Ein Streitgespräch folgte, Frau Minne gelang es schließlich, den Liebenden zum Kuss zu animieren, was in das bittere Erwachen überging. Die geschilderte Konstellation passionierter Liebe entstammt der Mitte des 14. Jahrhunderts unikal überlieferten Minnerede B210 Der Traum von der Liebe. ¹ Mit Niklas Luhmann lässt sie sich folgendermaßen beschreiben: Passion wird zur Handlungsfreiheit, die weder als solche noch in ihren Wirkungen gerechtfertigt zu werden braucht. Aktivität wird als Passivität, Freiheit als Zwang getarnt. Und man beutet die Semantik der Passivität rhetorisch aus, um die Frau zur Erfüllung anzuhalten: Schließlich hat ihre Schönheit die Liebe verursacht, und der Mann leidet unschuldig, wenn nicht abgeholfen wird.²
Da der einzige Überlieferungsträger von B210 die 1870 verbrannte Handschrift Straßburg, Stadtbibliothek Cod. A 94 ist, berufen sich meine Textbeobach tungen auf die Edition Myller (1784), XLII–XLVI, vgl. Klingner/Lieb (2013), 277– 280. Alle besprochenen Minnereden zitiere ich unter Angabe der Nummern aus dem ‚Handbuch Minnereden‘ (Klingner/Lieb [2013]) und mit Verweis auf die entsprechenden Einträge zur Texterschließung. Luhmann (1994), 73, allerdings bezogen auf die passionierte Liebe nach der Zäsur des 17. Jahrhunderts und auf ihre Neuerungen gegenüber früheren Liebesprogrammen. Meine Verwendung der Begriffe Luhmanns zur Analyse von Minnereden weicht nicht nur an dieser Stelle, sondern konsequent von der Periodisierung in Liebe als Passion ab. Von Luhmanns Verständnis und kulturhistorischer Einordnung der mittelalterlichen Literatur und der mittelalterlichen Liebesdiskurse distanziere ich mich und verweise auf die prägnante mediävistische Kritik von Schnell (2012), 41– 45. https://doi.org/10.1515/9783110628920-005
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Bei B210 handelt es sich um eine relativ frühe Verbindung der im heterogenen Minneredenkorpus häufig begegnenden Typen Minneklage und Traumerzählung.³ Während die Klage über Liebesleid besonders Aspekte rhetorischer Inszenierung aufrichtigen Ergriffenseins bietet, öffnet die inserierte Traumvision Räume, in denen inszeniertes Erleben, die Erfahrung von Körperlichkeit und Nähe sowie der Tabubruch möglich werden. Mein Beitrag gilt den Wechselspielen zwischen intimitätsbezogener Inkommunikabilität und Kommunikation in spätmittelalterlichen Minnereden – Texten, die diskursiv und narrativ das ‚symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium‘ Liebe anhand von konventionellen Szenarien simulieren.⁴ Der sich allelopoietisch konstituierende Gattungszusammenhang der Minnereden stellt eine schriftlich überlieferte ‚Muster-Minnekommunikation‘ dar,⁵ in der sich Literarizität und Didaxe verbinden.⁶ Inkommunikabilität verstehe ich zunächst mit Blick auf das, was Minnekommunikation ausschließt oder nicht leisten kann, also als grundlegenden Differenzbereich, der Minnekommunikation abgrenzt.⁷ In den besprochenen ‚Unsagbarkeiten‘ der Minnereden sehe ich hingegen die gespielte, in die Kommunikation integrierte Differenz. Die Terminologie Luhmanns und besonders seinen in Liebe als Passion formulierten historisierenden Erklärungsansatz zur Codierung von Intimität verwende ich heuristisch,⁸ um den Rahmen der in Minnereden transportierten Minnekommu-
Traumerzählungen kommen in Minnereden kaum ohne Elemente der Minneklage aus, in Minneklagen inserierte ‚Träume‘ stellen jedoch eine Besonderheit dar, indem sie eine engere Verbindung beider Typen voraussetzen. Vgl. Luhmann (1994), 21– 39. Zur Konventionalität der Minnerede besonders Wallmann (1985), 240 f., Lieb/Strohschneider (2005) sowie Lieb/Neudeck (2006). Den Begriff ‚allelopoietisch‘ verwende ich in Anlehnung an Bergemann/Dönike/Schirrmeister/ Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011). Als ‚allelopoietisch‘ bezeichne ich den minneredenspezifischen transformatorischen Umgang mit vorhandenen (besonders ritterlich-höfischen, inhaltliche wie formale) Gattungstraditionen, bei dem sich die Reduktion von Komplexität mit der Dynamik neuer hybriden Koherenzerzeugung verbindet. Vgl. besonders Glier (1971), 13 f. sowie Lieb/Neudeck (2006), 2– 13. Zur Differenz als Verhältnis von Kommunikation und Inkommunikabilität vgl. zuletzt Habermann (2012), 253 – 259. Liebe als Passion verwendet Tobias Bulang zur Untersuchung ‚episierter Minnereden‘ am Beispiel des Frauendienstes Ulrichs von Liechtenstein, vgl. Bulang (2014), besonders 323 f. Dabei steht das Spannungsfeld von Konventionalität in der Sprache und Exklusivität der Liebe im Mittelpunkt, das Minnereden im Roman zu bewältigen versuchten. Ausgehend von Luhmanns Differenzierung zwischen Liebe und Freundschaft als Formen der Intimität beschreibt Andreas Kraß den (heterosozialen) Liebesdiskurs der Minnerede am Beispiel von B423 Die neun Zeichen der Minne als transformierten (homosozialen) antiken Freundschaftsdiskurs, vgl. Kraß (2015), 73 – 82. Durch die akribische Cicero-Rezeption und den dezidierten Ausschluss von Sexualität stellt B423 allerdings trotz der gattungstypologischen Repräsentativität (Spaziergangseinleitung, Traum, Belehrung im Zelt der Liebespersonifikation) eine eher spektakuläre Randerscheinung innerhalb der Gruppe allegorischer Minnereden und im gesamten Minneredenkorpus dar.
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nikation zu skizzieren.⁹ Möglichkeiten und Funktionen von Unsagbarkeit stelle ich anhand von vier Textbeispielen vor, wobei ich drei Facetten des Unsagbaren in den Blick nehme: den Umgang der Minnereden mit dem Unsagbarkeitstopos, das kommunikationsfördernde minnebedingte Verstummen¹⁰ und das Zusammenspiel von Überhöhung und Tabuisierung.
Kommunikation und Intimität in den Minnereden „Einmal in der Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück“¹¹, so formuliert Niklas Luhmann pointiert den kommunikativen Sündenfall, der nicht rückgängig zu machen sei. Einmal verloren, könne der Zustand paradiesischer Unschuld nie wiedererlangt werden. Statt einer befreienden Versöhnung mit der Einfalt sei die in der Gesellschaft agierende Seele der Weiterverstrickung in die ‚Sündhaftigkeit‘ von Kommunikation, Anschlusskommunikation, Kommunikation über Kommunikation ausgeliefert. Biologische und psychologische Systeme, „Seelen“, die für soziale Systeme benötigt werden, könnten sich ihrer Partizipation an Kommunikation nicht mehr entziehen. Auch sie würden zur Voraussetzung der Kommunikation, die sie nicht selbst gestalten, sondern die durch sie stattfindet und jegliche Aufrichtigkeit der Differenz zwischen Information und Mitteilung entsprechend unaufrichtig macht.¹² Das „Paradies der einfachen Seelen“ kann also nur ein stummes Paradies sein, ein Ort des Unsagbaren, der von Kommunikation unberührt bleibt.¹³ Minnereden bedienen sich bei der Konstruktion kommunikativer Zusammenhänge stereotyper, dem Minnesang verpflichteter Rollen: Liebende, Sehnsüchtige, an Liebe Interessierte, Liebeserfahrene, Lehrinstanzen der Liebe, Liebeshelfer, Liebesfeinde als Aufpasser oder klaffer, untreue Liebhaber, Liebesverräter etc. Diese Rollen konstituieren sich und interagieren anhand ihres Bezuges zur Minne als zentrale
Die Minnerede als Ort der Minnekommunikation, die sich in erster Linie durch Verschwiegenheitsgebote nach außen abgrenzt und schützt, untersuchen Lieb/Strohschneider (2008). Da Minnereden meist klare Grenzen zwischen dem, was nicht zum Gegenstand der Mitteilung werden soll, und dem Unsagbaren ziehen, sind die zahlreichen Aspekte der Verschwiegenheit für eine Betrachtung der Spielarten der Inkommunikabilität weniger per se als hinsichtlich ihrer Verbindung mit dem Tabu relevant. Eine systematische, ausführliche Darstellung zum Schweigen in den Minnereden bietet Wallmann (1985), 239 – 246. Luhmann (1984), 207. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 155: „Es geht, viel radikaler noch, um das Problem, ob es nicht, und zwar gerade in Intimbeziehungen, Sinn gibt, der dadurch zerstört wird, daß man ihn zum Gegenstand einer Mitteilung macht.“
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gemeinsame Nenner innerhalb einer Reihe verschiedener typologischer Formen.¹⁴ Ihr Gegenstand ist ein Sprechen über die Liebe, das deutlich zwischen Information und Mitteilung differenziert.¹⁵ Elaborierte erzählende Minneredentypen und besonders Minneallegorien bieten Entwürfe einer Utopie der Liebe an. Sie liefern in sich geschlossene ‚Paradiesangebote‘ der Minnekommunikation.¹⁶ Hier trifft ein Ich – abwechselnd als Luhmanns Ego oder Alter zu verstehen – auf liebenserfahrene Konversationspartner mit auctoritas-Potential und -Ambitionen, ganze auf der Grundlage des Zugangs zur und des Umgangs mit Liebe konstituierte Gemeinschaften oder Personifikationen der Liebe und ihrer Werte oder Eigenschaften. Die notwendige Voraussetzung ist das Interesse an Liebe und am Lieben. Von Vorteil für das im weiten Sinne gute Gelingen solcher Gespräche zudem das Beherrschen des ritterlich-höfischen Tugendkanons sowie ein minimales rhetorisches Geschick. Durch die Einweihung in die erlernbare Kunst der Minne(rhetorik), die kompetente Beratung in Liebesangelegenheiten sowie in Macht und Ökonomie der Minne oder aber durch die Teilnahme an Minnegerichten, öffnen sich – mit Luhmann gesprochen – Systeme ihrer Umwelt. So findet auf ästhetisch-fiktionaler Ebene Kommunikation statt: Geschaffen und ‚kommuniziert‘ wird in den spätmittelalterlichen Minnereden ein festes rhetorisches Repertoire, ein spezifischer Code, ja eine ‚Liebes-Grammatik‘, die einen überschaubaren Motiv- und Bildbestand, bewährte Argumentationsmuster sowie einschlägige Beispielfiguren und andere rhetorische Versatzstücke enthält. All dies ist verfügbar für diejenigen, welche regelgerecht teilhaben wollen und damit auch teilhaben können am Minnediskurs einer gehobenen Gesellschaftsschicht.¹⁷
Die Minne als scheinbarer Gegenstand der Minnereden stellt bereits einen zentralen Bereich der Unsagbarkeit dar: Versuche, sie zu definieren oder ihr Wesen zu erklären, bewegen sich selbst in ausdrücklich als Belehrungen inszenierten Texten und Textabschnitten im Bereich bloßer Aneinanderreihungen von Bildern, Wiederholungen und Gegensätzen. Über Aporien wird die Minne „im Guten wie im beängstigend Totalitären“ verabsolutiert,¹⁸ als undurchdringliche ideale Notwendigkeit verhandelt und vermittelt. Darüber hinaus wird sie gegenüber Alternativentwürfen wie etwa der ‚objektlosen‘ beziehungsweise ‚objektübergreifenden‘ Liebe oder der gewollten wie
Zu den einzelnen typologischen Untergruppen innerhalb des Minneredenkorpus vgl. zuletzt den ‚Versuch einer neuen typologischen Ordnung‘ in Klingner/Lieb (2013), Bd. 2, 18 – 21. Am deutlichsten wird dies im Moment des Zweifelns an Worten, Absichten, Liebeserklärungen und Beteuerungen (besonders im Kontext von Werbungsgesprächen) sowie an Lehren, die eigenen Erwartungen nicht entsprechen oder gewissermaßen enttäuschen (wie in Streitgesprächen über die ‚rechte‘ und die ‚falsche‘ Minne). Zur Minne vor dem Hintergrund mittelalterlichen utopischen Denkens und anthropologisch fundierter Utopieentwürfe vgl. Tomasek (2002), 184. Lieb/Neudeck (2006), 15. Klingner (2010), 322.
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der ungewollten Abstinenz durchgesetzt.¹⁹ In ihrer ‚Sammelstätte‘ sind der Koexistenz verschiedener Programme von Intimität keine Grenzen gesetzt. Es gibt in der Minneredentradition keine Entwicklung von Idealisierung über die Paradoxierung bis hin zur passionierten Liebe. Die Liebe und die Geliebte werden hymnisch gepriesen. Versuche, sich dem Wesen der Minne zu nähern, enden zwangsläufig in Aporien. Die Erfahrung der Liebesbetroffenheit impliziert das unzertrennliche Miteinander von Freude und Leid. Liebe wird stets auch erlitten, ihr sind die Liebenden ausgeliefert. Es lässt sich also keine Einordnung in eine „Evolution der Liebessemantik“ vornehmen, wie sie Luhmann entwirft.²⁰ Periodisierungsversuche auf gattungstypologischer wie inhaltlicher Basis müssen am Minneredenkorpus scheitern.²¹ Stattdessen steht man vor einem Nebeneinander verschiedenster Möglichkeiten. Dies betrifft auch die Programme der Liebe, in denen Unsagbarkeiten ihren Platz einnehmen.²² Unsagbarkeiten werden im Kontext der Minnereden eingesetzt, so meine These, um Übergänge zu glätten und (Minne‐) Kommunikation gegenüber Inkommunikabilität zu entgrenzen. Sie zeigen Wege aus
Die soziale Notwendigkeit der Liebe heben Minnereden stark hervor. Die bisher unedierte, in der Handschrift ÖNB 2940* unikal überlieferte Minnerede B339 Was ist Liebe (vgl. Klingner/Lieb [2013], 519 – 521) verurteilt Unverfügbarkeit von, Mangel an oder Ablehnung der Liebe: Wer bis zu seinem 30. Lebensjahr keine Liebe erfahren habe, entspräche der menschlichen Natur nicht beziehungsweise handele wider seine Menschlichkeit und sei V. 179: vnnaturlich alß eyn swin.Wie ein grauer Esel kommt sich hingegen der einsame Sprecher der Minnerede B207 Rat eines alten Mütterchens vor, der auf eine fröhliche, aus Paaren bestehende Gruppe trifft und selbst auf die Gesellschaft einer beratungsfreudigen Alten angewiesen ist. Marginal bleibt in den Minnereden auch die Rhetorik der Liebesbetroffenheit ohne klare Ausrichtung auf ein Gegenüber, wie sie in B11 Der Allenfrauenhold (vgl. Klingner/ Lieb [2013], 14 f.) begegnet. An der Klage des viele Frauen begehrenden Mannes über seinen unerfüllten Wunsch, der einen, ihn ausschließlich liebenden Frau treu sein zu dürfen, zeigt sich jedoch die erlernte Rhetorik der Intensivierung und der zentralen in Minnereden propagierten Liebesprogramme. Vgl. Luhmann (1994), 50 – 55. Zu den Grenzen dieser „Evolution der Liebessemantik“ vgl. Schnell (2012), 45: „a) Luhmann hat die Liebeskonzeption eines einzigen volkssprachlichen Liedtyps einer einzigen literarischen Gattung (der Lyrik) für den Liebesdiskurs einer ganzen Epoche gehalten; b) er hat auch diese eine literarische Gattung aufgrund veralteter mediävistischer Forschungsliteratur falsch gedeutet; c) Luhmanns inadäquate Einschätzung der mittelalterlichen Literatur wird zusätzlich belastet durch den Umstand, dass er sich zum Teil auf die Urteile älterer Arbeiten der Renaissanceforschung verlässt, die das Mittelalter genauso verzeichnet wie er selbst.“ Zur Auffassung des Minneredenkorpus als Zusammenhang parallel entstandener und verlaufender Traditionsstränge vgl. besonders Klingner (2010), 24– 29. Einige Minnereden (so B19 Zufriedene Liebe, B30a Des Minners Klage, B30b Minneklage, B111 Bitte um Zusammenkommen [Karlsruher Liebesbrief XVI], B174 Liebesbrief [Römischer Liebesbrief VI], B175 Liebesbrief [Römischer Liebesbrief VII], B277 Lob der Frauen, B295 Die Unminne, B317 Belehrung eines jungen Mannes, B336 Der Minne Leben, B460 Der Minne Gericht, B512 Der Minne Falkner, vgl. Klingner/Lieb [2013], Bd. 2, 334) thematisieren zudem ‚Unschreibbarkeit‘, die jedoch mit der Unaussprechlichkeit als (quantitativer) Spielart des Unsagbaren funktional zusammenzufallen scheint. Unschreibbarkeit zielt auf die Unvollständigkeit rhetorischer Leistung gegenüber unsagbarer Fülle ab und beschränkt sich somit auf Bereiche der Unsagbarkeit, die sich etwa mit Bescheidenheitstopoi oder Überbietungstopoi verbinden lassen.
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dem Verstummen auf, indem sie Aufrichtigkeit rhetorisch verfügbar machen und in die Kommunikation integrieren.
‚Umfunktionalisierung‘ des Unsagbarkeitstopos Im eingangs vorgestellten Text, B210 Der Traum von der Liebe, findet keine Werbung des unglücklich Liebenden um die begehrte Frau statt. Mann und Frau reden weder miteinander noch übereinander. Im Traum des Mannes schläft die Geliebte und erwacht nicht. Sie lässt sich ausgiebig betrachten, inspiriert zu Reflexion, Schönheitspreis und Handeln, bekommt jedoch keine Chance, das um sie Stattfindende zu sehen, Stellung zu nehmen, zu sprechen oder selbst zu handeln. Im Streitgespräch mit der personifizierten Minne reflektiert der Mann über den Spielraum ihrer Reaktionen und die Gefahr einer Ablehnung. Er verhandelt darüber, wiederum mit Frau Minne. Der Passivität preisgegeben fungiert die Angebetete ausschließlich als Auslöser und Objekt der Liebe, der Sehnsucht, der Verehrung. Über das Geschehen entscheiden aber stets die Minne und der männliche Ich-Sprecher. Der Stummheit und Bewusstlosigkeit der Frau stehen die rhetorisch versierten Klagen und Reflexionen des Mannes über die eigene kommunikative Unfähigkeit gegenüber. Innerhalb der ausführlichen Schönheitsbeschreibung, die der Ich-Sprecher an ihrem Bett leistet, erschafft der Unsagbarkeitstopos eine Verkehrung der Machtverhältnisse sowie der Zuordnungen von Handlungsfreiheit und Passivität:²³ Verborgen in irem libe kluog Der balsam edel mich do truog In aller froeiden garte Wan mir do af der warte Wart das ich niht gesagen tar Daz ich in hoher froeden schar Gesetzet wart geswinde Von froeiden ich so zuo eime kinde Nach worden was an sinnen Wan mich die minne brinnen Begunde mit irme mehte [sic! Ich vermute und übersetze mehtec, Anmerkung von mir, IED] brunst. ²⁴ (V. 133 – 143)
Es ist die Schönheit der Dame, die den Sprecher verführt. Zunächst beteuert der Mann, weiteres Reden nicht zu wagen. Sein kommunikatives Unvermögen wagt er jedoch
Zitat nach Myller (1784), vgl. Anm. 1. „Verborgen in ihrer Feinheit trug mich der edle Balsam dann in den Garten aller Freuden, denn es wurde für mich zu diesem Zeitpunkt beim Betrachten so, dass ich es nicht zu sagen wage, sodass ich auf der Stelle in die Schar hoher Freuden hineinversetzt wurde. Vor Freude war ich dadurch an Verstand beinahe zu einem Kind geworden, denn die Minne begann mich mit ihrem gewaltigen Brand zu verbrennen.“
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durchaus zu begründen: Die Intensität der angesichts der Nähe zur Geliebten empfundenen Freude bringe ihn um den Verstand und versetze ihn schließlich beinahe in den Zustand der Kindheit zurück. Nicht nur die Kunst, sondern die Sprache und das Denken entkräfte der Anblick der geliebten Frau. Zweifelsohne erfolgt hier auch das Lob der Vollkommenheit der Geliebten. Die äußere Schönheit wie die Tugendhaftigkeit der Frau als Gegenstand des Preises werden mitimpliziert, spielen jedoch im Kontext des Unsagbarkeitstopos eine marginale Rolle. Der Text erlaubt einen leisen, unscheinbaren Übergang von der Rhetorik der descriptio pulchritudinis in die Rhetorik der Intimität: Der Unsagbarkeitstopos wird zum Ausdruck emotionaler Ergriffenheit umfunktionalisiert.²⁵ Die Rhetorik braucht dabei nicht mehr zu versagen, zumindest nicht mehr programmatisch. Stattdessen kommt das Problem der Mitteilung vom Ergriffensein durch die Liebe, der Erfahrung äußerer Vollkommenheit der Geliebten, ihrer Körperlichkeit, der tatsächlichen oder nur imaginierten Nähe zur ihr primär zur Geltung. Ohne negative Folgen und ohne Sinnverlust lässt sich dies – wie jede andere Aufrichtigkeit freilich auch – nicht der Kommunikation preisgeben. Das, was der IchSprecher weder auszusprechen wagt noch vermag, führt er jedoch mit allem rhetorischen Aufwand aus. Erweiterungen des Preises, der Klage, der Reflexion, die Anklage der Minne, das Gespräch mit ihr und die Klage nach dem Erwachen aus dem schönen Traum sind die Ergebnisse des beteuerten, in Aufrichtigkeit wurzelnden Versagens der Rhetorik, der Sprache und des Denkvermögens. Der Unsagbarkeit entspringt rhetorischer Exzess über die erzählte Traumvision hinaus. Lediglich die Erfahrung körperlicher Nähe und die daraus resultierende Ergriffenheit werden in die Traumvision projiziert und somit relativiert. Im Traum und darüber hinaus setzt sich die ‚Sagbarkeit‘ mit ihren zahlreichen Formen und Anschlussmöglichkeiten gegenüber aufrichtiger Erfahrung durch.
Verstummen als Mitteilung Dialogische Minnereden enthalten kommunikationsfördernde Momente des Verstummens, in denen Unsagbarkeit als Mitteilung aufgenommen wird und somit Anschlusskommunikation hervorrufen kann. Dies erfolgt besonders in belauschten Klagen, bei denen das Verstummen aus Liebesleid oder das Beenden des jeweiligen Klagemonologes vom Lauschenden als Mitteilung uminterpretiert wird und bei ihm Reaktionen auslöst, statt die Kommunikationskette abzubrechen beziehungsweise kommunikationshemmend zu wirken. So kann sich der Lauschende einer ins Ver-
Auf die Intensität von Erlebnissen und Gefühlen bezogene Unsagbarkeitstopoi sind in weiteren Minnereden zwar belegt, sie bleiben jedoch verhältnismäßig selten. Ähnlich wie im besprochenen Textbeispiel begegnet der Topos in B5 Schönheitspreis, in einer Beteuerung des Sprechers, die Geliebte nicht angemessen loben zu können, ohne dabei den Verstand zu verlieren, mit anschließendem Weitergeben der Aufgabe eines angemessenen Lobes an andere. Bezogen auf das existenziell gefährdende Liebesleid erscheint der Unsagbarkeitstopos beispielsweise in B199 Die rechte Art der Minne.
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stummen mündenden Liebesklage berufen fühlen, in die Rolle des Beraters oder Unterweisenden in Minneangelegenheiten hineinzuschlüpfen und Anschlusskommunikation in Gang zu setzen. Die so genannte Königsberger Jagdallegorie (B504) bietet in ihrer Verschachtelung der Interferenzbereiche von Hören, Schweigen und Reden einen solchen Entwurf:²⁶ Das Sprecher-Ich belauscht die Klage eines tugendhaften Minnejägers, dem der Erfolg nach langjährigen Mühen versagt bleibt. Außerdem belauscht gleichzeitig ein ‚Weiser‘, wie es im Text heißt, dieselbe Klage. Auf das anschließende leidbedingte Verstummen des Jägers reagiert der ‚Weise‘, indem er eine Belehrung anbietet und den Klagenden in ein Lehrgespräch, was später in ein Streitgespräch ausartet, verstrickt. Das nun den Streit der beiden belauschende Sprecher-Ich, das aus der Erzählerrolle heraus von der Szene berichtet, reagiert wiederum auf das Gehörte, indem es die vom Jäger begehrte Hirschkuh fängt und sie vor dem Gericht der Frau Minne wegen Untreue verklagt. Somit wird das Verstummen des Minnejägers zugleich zum Auslöser von Kommunikation und von Handlung: Sin klagen aller grossest waz. Er nieman getorste sagen daz. Er leite sich do nider Und wart im er noch sider Von müedi nie so we, Im geschehe do dristunt me: In herz und in gedenken Begund im sere krenken Der ungefuog, der im geschach. Daz leit im durch sin herze brach. Die klag erhort ein wiser man, Der von geschicht dort hare kann Gegangen für in hin. Er sprach: ‚gegrüsset muost du sin! Wie list du sus, daz sage mir.‘²⁷ (V. 63 – 77)
Der lauschende ‚Weise‘ nimmt zunächst die Beobachterrolle ein und hört die gesamte Klage des verzweifelten Jägers. Somit kann er die Situation einschätzen, Informationen sammeln und selegieren. Dem Minnejäger bereiten die Aufrichtigkeit seiner Liebe zur Hirschkuh und die Dauerhaftigkeit des Misserfolges angesichts der präzise befolgten Regeln rechten Jagens Schmerz und unerträgliche Müdigkeit. Der ‚Weise‘ stellt nun die Aufrichtigkeit seiner Klage und seine ethische Verpflichtung in Frage oder er Zitiert nach Dorobanţu/Klingner/Lieb (2017), 400 – 410, vgl. Klingner/Lieb (2013), 945 – 947. B504 bespricht ausführlich vor dem Hintergrund deutschsprachiger Minneallegorien Blank (1970), 188 – 190. „Sein Klagen war am allerheftigsten. Niemandem wagte er, dies zu sagen. Dann setzte er sich nieder und, was auch immer er früher oder seither an Müdigkeit erlitt, davon widerfuhr ihm nun dreimal mehr: Im Herzen und in Gedanken, schwächte ihn das Unrecht, das ihm widerfahren war, sehr. Das Leid brach ihm durch das Herz hindurch. Die Klage hörte ein weiser Mann, der zufällig dorthin auf ihn zukam. Er sagte: ‚Sei gegrüßt! Weshalb sprichst du so, erzähle mir das.‘“
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ignoriert diese Momente und reduziert die Information auf die Mitteilung der Hilfebedürftigkeit um des Erfolges willen. Als er nach Verstummen des Klagenden aus seinem Versteck heraustritt, fordert er jedoch unmittelbar nach dem Gruß zur erneuten Schilderung der ihm bereits bekannten Verhältnisse auf. Der sich anfangs dankbar zeigende Minnejäger bittet auch selbst um Rat. Sobald die erfolgsversprechende Belehrung seinen ethischen Erwartungen widerspricht, bricht er mit Gewaltdrohungen das Gespräch ab. Zerzausen wolle er den falschen Helfer, die Wut sei stärker als seine Erschöpfung nach der aussichtslosen Verfolgung seines Wildes. Die grundlegende Differenz zwischen Information und Mitteilung sowie die Selektivität im Umgang mit den Inhalten ist entscheidend für den Weg aus dem Schweigen und die Integrierbarkeit des Verstummens in die Kommunikation.²⁸ Kommunikationsförderndes Verstummen begegnet auch in B213 Der Liebesbrief von Gozold.²⁹ Es handelt sich um eine Erzählung von der Unfähigkeit einer wegen der langen Trennung von ihrem Geliebten schwer minnekranken Frau, dem von ihrer Schönheit beeindruckten Sprecher-Ich einen Liebesbrief zu diktieren. Der Sprecher bewundert und begehrt offenbar eine ihm bekannte Dame, die einen anderen Mann liebt und vermisst. Sobald die Frau in ihrer schönsten Kleidung auf den Sprecher zukommt, widerspricht sie all seinen Erwartungen. Der Spielraum vieler in Minnereden begegnenden Unterhaltungen zwischen Mann und Frau über die Liebe legt die Optionen nahe: Es könnte ein Lehrgespräch oder eine Minnewerbung folgen, ein Gespräch stattfinden, in dem entweder allgemein über Liebe reflektiert und gelehrt wie gelernt wird, oder aber eines, in dem der Sprecher sein Begehren artikulieren beziehungsweise um die Dame werben dürfte. Ex abrupto spricht das Objekt seines Begehrens stattdessen davon, wie sehr sie ihren abwesenden Geliebten küssen wolle, und klagt über dessen Fernbleiben. Die Frau bereut, den Sprecher und nicht ‚den Richtigen‘ angetroffen zu haben. Der Sprecher reagiert enttäuscht und irritiert. Jedoch gelingt es der Dame wenig später, ihn dazu zu verpflichten, als Helfer innerhalb ihrer Liebesgeschichte zu fungieren, indem er einen Liebesbrief nach ihrem Diktat schreibt. Ich sprach: ‚fraw, durch ewr gebätt, So will ich schreiben den brief.‘ Uß süsser stimm die fraw rief. Si sprach: ‚schreib alsust, Das ist meins hertzen gelust: „Lieb und lieb, ee lieb und noch lieb, Also bin ich dir hie
Vgl. Luhmann (1994), 154: „Inkommunikabilität: damit ist jetzt nicht mehr nur gemeint, daß die Passion die Rhetorik ins Stottern bringt, die eloquente Rede verwirrt – und sich dadurch verrät. […] Nicht das Versagen von Geschicklichkeit, sondern die Unmöglichkeit der Aufrichtigkeit wird zum Problem.“ Vgl. Klingner/Lieb (2013), 282– 284. Den Text zitiere ich im Folgenden in der ‚Fassung Prag‘ (Liederbuch der Clara Hätzlerin Prag, Knihovna Nárondního muzea Cod. X A 12) nach: Dorobanţu/Klingner/Lieb (2017), 358 – 367.
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Meines hertzen lieb on end“. Ich sprach: ‚fraw, mit meiner hennd Hab ich das pald geschriben. Seit ir bi sinnen beliben, So sagent mer, das schreib ich furt.‘ Si sprach: ‚wa ist witz und wort? Wa sind sinn? wa ist gedanck? Ach herre got, sein ist so langk, So lang, das ich in nie gesach!‘ Gar kaum si dise wort sprach!³⁰ (V. 102– 118)
Im Brief sollen Liebes- und Leiderfahrung mitgeteilt werden. Genuine Sehnsucht soll ausgesprochen und verschriftlicht werden. Zwar beginnt die Dame zu diktieren, doch können sich ihre Worte nicht zum erwarteten Brieftext konstituieren. Ihre Inkohärenz lässt den Sprecher an ihrem Verstand wie am Sinn seiner eigenen Zeitinvestition zweifeln. Ich sprach: ‚hab ir die sinn verloren?‘ Si sagt mer. Es tuott mir zoren. Ich solt tuon anders was. Si sprach: ‚Ei, laß mich ruoen bas, Wann ich des wol bedarff.‘ Vor zoren ich die vedern hin warff. Da si nit mer kunt kallen, Da sach ich empfallen Der zarten lid und leib. In onmacht viel das schön weib. Da sach ich an der selben stund Ain haissen flamm us irem mund, Das von der hitz der mund was truck.³¹ (V. 119 – 131)
Auf den ersten Blick liegt im zitierten Auszug ein eindeutiges Versagen der Minnekommunikation vor. Das Erleben der Frau, wie jede Aufrichtigkeit, ist nicht mitteilbar, es entzieht sich Worten und lässt sich nicht in die Kommunikation hineinbringen. Das
„Ich sagte: ‚Herrin, Eurer Bitte wegen werde ich diesen Brief schreiben.‘ Aus süßer Stimme heraus rief die Dame. Sie sagte: ‚Schreib so, das ist mein Herzenswunsch: „Liebster und Liebster, früher geliebt und immer noch geliebt, so stehe ich zu Dir hier, meines Herzens Liebe ohne Ende“. Ich sagte: ‚Herrin, mit meiner Hand, habe ich das schnell niedergeschrieben. Seid Ihr noch bei Verstand geblieben, so sagt mehr, dann schreibe ich weiter.‘ Sie sagte: ‚Wo sind Klugheit und Worte? Wo ist der Verstand? Wo ist das Denken? Ach Herrgott, es ist so lange her, so lange, dass ich ihn nicht mehr sah!‘ Überaus mühsam sprach sie diese Worte aus!“ „Ich sagte: ‚Habt Ihr den Verstand verloren?‘ Sie sagte mehr. Es macht mich zornig. Ich sollte etwas anderes tun. Sie sagte: ‚Ach, lass mich lieber ruhen, denn ich brauche das sehr.‘ Vor Zorn warf ich die Feder hin. Als sie nicht mehr daherreden konnte, da sah ich die Augenlider und den Körper der Zarten fallen. In Ohnmacht fiel die schöne Frau. Dann sah ich zugleich eine heiße Flamme aus ihrem Mund [hervorkommen], sodass der Mund durch die Hitze trocken war.“
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Verstummen tritt bald ein, von der Verbildlichung der Inkommunikabilität gefolgt: Die Dame bricht zusammen, fällt in Ohnmacht, aus ihrem Mund bricht eine Flamme heraus, die ihn mit ihrer Hitze austrocknet. Die vom Sprecher vermutete sprachliche Unfähigkeit wird also mehrfach bestätigt, zunächst auf rhetorischer und akustischer Ebene, dann sichtbar auf biologisch-organischer Ebene und schließlich visuell-metaphorisch. Aus Feuer kann weder Gesprochenes noch Geschriebenes entstehen, denn Feuer und Hitze beschädigen die biologischen und psychologischen Voraussetzungen der Kommunikation: Aufrichtigkeit trocknet die Sprache von innen aus. Der vom rhetorischen Versagen der Dame zunächst irritierte, dann entnervte und später vor dem psychologischen und schließlich körperlich-biologischen Versagen bewegte Sprecher wird nun zum Erzähler: Das ich das fewr nit entschluogk Mit meiner hannd, das ist mir laid. Ir nott und ir arbait, Die si von lieb gund pflegen, Das macht das ich underwegen Den brief ließ beleiben, Den ich da solt schreiben.³² (V. 132– 138)
Aus dem erkennbaren, in seinem Mitteilungswert gewürdigten nicht kommunizierbaren Leid entsteht die Geschichte vom Scheitern des Briefdiktats.³³ Dabei lässt sich ein Zusammenfall höchstpersönlicher Kommunikation als Kommunikation von Intimität mit der Kommunikation im weiten Sinne beobachten. Wechselwirkungen von Intensivierung und Extensivierung der Intimität treten in den Vordergrund: Was unter Liebenden verhandelt werden sollte, muss zwischen Liebender und einem Dritten besprochen werden, eine Liebesbotschaft soll zum Briefdiktat entfremdet werden, dessen Unmöglichkeit vom Dritten an die Gemeinschaft der an Liebe Interessierten weitererzählt wird. Modelle der Extensivierung von Minnekommunikation sind Minnereden nicht fremd. Besonders die Minnegemeinschaft einer ‚Anderwelt‘, die allegorisch als Kloster, Sekte oder Orden der Minne im Korpus vorkommt, trägt sie.³⁴ Sie werden in
„Dass ich das Feuer mit meiner Hand nicht auslöschte, das schmerzt mich. Ihre Bedrängnis und ihre Mühe, die sie durch die Liebe erfahren konnte, das bewirkt, dass ich vom Brief abließ, den ich dort hätte schreiben sollen.“ Dieses Scheitern erklärt Ludger Lieb diskursanalytisch als Signal der notwendigen Distanzierung bei der Thematisierung von Minne, da die Involviertheit zu trockener Wiederholung ohne Variation führe und dabei den Bereich der Vernunft verlasse. Die Dame „verkörpert den nicht diskursivierbaren Wahnsinn der Minne.“, vgl. Lieb (2008), 205 – 207, hier 207. Dem Wahnsinn, der sich nicht diskursivieren lässt, entspricht kommunikationstheoretisch die Aufrichtigkeit, die sich nicht zum Gegenstand der Mitteilung machen und in die Kommunikation integrieren lässt. Sehr ausgeprägt führen beispielsweise B302 Sekte der Minner, B336 Der Minne Leben, B438 Der Minne Porten, B439 Das Kloster der Minne, B440 Das weltliche Klösterlein, B480 Minne und Gesellschaft derartige Extensivierungsmodelle aus. Zu ‚Minnegemeinschaften‘ und Anderwelt der Minne zuletzt
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B213 jedoch nicht aufgegriffen: Zwar braucht die Dame einen Schreiber zur Kontaktaufnahme, die Präsenz eines Dritten stört jedoch die Kommunikation von Intimität. Gleichzeitig erweist sich das Verstummen als rhetorisch fruchtbar, als Anlass zum Erzählen von der Minne oder aber von der Unmöglichkeit des Sprechens über die Liebe. Aus der Beobachtung und Verarbeitung fremder Aufrichtigkeit entsteht Autorität mit Blick auf das Erzählen von Liebe und Aufrichtigkeit. Gleichzeitig wird dadurch fremde Aufrichtigkeit manipuliert und kommunikativ verwertet. Für die Kommunikation ist erst im Versagen der Aufrichtigkeit und im bewussten Umgang mit diesem Versagen ein Mehrwert enthalten. Die unverfälscht empfundene Nähe des Mitgefühls wiederum wird in ihrem Bekenntnis zur Information, die der Mitteilung preisgegeben wird, relativiert. Der Ich-Sprecher distanziert sich von seiner eigenen Ergriffenheit, indem er die Beobachter- und Erzähler-Rolle einnimmt.
Gebrochene Verschwiegenheit zwischen Überhöhung und Tabuisierung Die Formulierung und die ausführliche Erörterung von Regeln der Minnekommunikation nehmen in Minnereden eine zentrale Stellung ein. Geboten stehen Verbote, von Idealisierung wie Paradoxierung der Minne hervorgerufener rhetorischer Ausschweifung steht die radikale Exklusion von Indiskretionen aller Art gegenüber. Texte, die vom Interesse am ausgiebigen Reden über die Liebe und Liebesbeziehungen leben, schließen programmatisch die Weitergabe von Informationen zu Liebenden, Liebesbeziehungen und liebesbezogenen Erfolgserlebnissen als liebesgefährdendes Sprechen aus. Besonders parodistische Formen greifen dieses Spannungsfeld der Überhöhung und Tabuisierung auf,³⁵ wie beispielsweise in B23 Die Graserin. ³⁶ In einem Prolog-Epilog-Rahmen erfolgt die explizite, bildhafte und detailreiche Erzählung von zwei Liebesbegegnungen des Ich-Sprechers mit seiner aus einfachen Verhältnissen stammenden Geliebten. Mit konsequent eingesetzten Parallelen zur einseitigen, unerfüllbaren höfischen Minne leistet der Text die Überhöhung einer freiwilligen, gegenseitigen und erfüllten Liebesbeziehung, die sich frei von Widersprüchen und
Lieb (2012). Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die in Minnereden häufig vorkommenden minneorientierten Tanz- und Diskussionsgesellschaften, die Sprecherfiguren bei Ausritten oder auf Spaziergängen begegnen. Wechselspiele von Überhöhung und Tabuisierung bieten besonders Minnereden, die religiöse Bezüge ausbeuten, so beispielsweise B15 Glaubensbekenntnis eines Liebenden, Z44 Paternoster-Parodie oder Z45 Ave Maria-Parodie oder aber parodistische, negative oder obszöne Minne- und Werbungslehren, in denen die Referenz auf den Körper zum Gegenstand einer systematischen Enthüllung wird, wie B350 ‚Ironische Minnelehre‘, B351 Stiefmutter und Tochter, B353 Klage einer jungen Frau, B354 Der Minne Lehre, Z77 Das Clärlein, Z78 Grobianische Werbungslehre oder Z80 Lehren an einen Jüngling. Vgl. Klingner/Lieb (2013), Bd. 1, 30 – 32. Ich zitiere nach der Ausgabe: Dorobanţu/Klingner/Lieb (2017), 493 – 501.
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sozialen wie ethischen Hindernissen zelebriert. Es werden zwei Szenen geschildert, die eine im Sommer in der freien Natur, die zweite im Winter in einem geschlossenen Raum. Bei versiertem Einsatz der Motivik aus dem klassischen Minnesang (besonders Nachtigallengesang, ritterlicher Zweikampf zu Pferde im Turnier) zusammen mit Bildern aus dem Dorfbereich (Grunzen der Schweine im Morgengrauen, Garnspinnen), wird alles detailliert erzählt und kommentiert, was Verschwiegenheitsgebote der Minne nicht zuließen: Umstände der heimlichen Treffen, Aussehen, Gesten und Worte der Frau, Annäherungsschritte und Verlauf des Sexualaktes. Die Erzählung leitet eine Audite-Formel ein: Als ich selb bin ain man, Also hon ich mich gesellet. Ob ir es hören wöllet, So sag ich euch meinen gelingen Von minneklichen dingen, Wie mir gelingt mit meiner frawen. Zu holtz, zu wisen und inn den auwen Hatt mir gott gegeben Ain viel wunnekliches leben: Den summer ie ain graserin, Den winntter ain stubenhaitzerin.³⁷ (V. 30 – 40)
Auf die erzählten Szenen folgt eine dankbare Beteuerung der Aufrichtigkeit und Treue des Mannes zur Geliebten. Nach dezidierter Ablehnung der Paradoxien, Gefahren, Einschränkungen und Unverfügbarkeit der hohen Minne wird die Geliebte als Quelle der Glückserfahrungen in ihrer Frauenehre gepriesen und gesegnet. Der Segenswunsch für die Frau klingt mit einem schlichten Neujahrsgruß aus: So will ich von meiner graserin nicht wencken, Sunder mit fröuden an sie gedencken Von tag zu tag ie mer, Wa ich im landt hinker. Wann gott, der herr, der mer Ir güettig weiblich er. Das wünsch ich ir mitt trüwen Gen disem säligen guoten neuwen.³⁸ (V. 191– 198)
Die Rhetorik der idealisierten, die der paradoxierten und der passionierten Liebe greifen ineinander. Ein programmatischer Preis der gegenseitigen, sexuell erfüllten, „So wie ich selbst ein Mann bin, so habe ich mir Gesellschaft gefunden. Wenn ihr es hören wollt, dann erzähle ich euch von meinem Gelingen in den Angelegenheiten der Minne: Wie es mir mit meiner Dame gelingt. Im Wald, auf Wiesen und in den Auen hat mir Gott ein sehr freudenreiches Leben beschert: Im Sommer immer eine Grasmagd, im Winter eine Stubenheizerin.“ „Also will ich mich von meiner Grasmagd nicht abwenden, sondern mit Freude an sie denken, von Tag zu Tag immer mehr, wo ich auch im Land hinziehen soll. Nur möge Gott, der Herr, ihre gütige weibliche Ehre vermehren. Das wünsche ich ihr aufrichtig zu diesem glückseligen guten neuen [Jahr].“
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jederzeit verfügbaren Liebe steht konsequenten polemischen Bezügen zum Ideal hoher Minne gegenüber. Die erzählten Liebesszenen werden wie eine exemplarische Beweisführung für den Vorrang des vertretenen Liebesprogramms eingesetzt. Zum Schluss wird der rhetorische Aufwand jedoch als scherzhafter Neujahrsgruß entschärft und somit entschuldigt oder revoziert, denn ohne die karnevalesk fungierende Lizenz des Neujahrsgrußes wäre das Erzählte unsagbar geblieben.³⁹ Mit anderen Worten findet in der Graserin in einem ersten Schritt eine Überhöhung des gattungsspezifischen Tabus statt, in einem zweiten die erneute Tabuisierung des zuvor Überhöhten.
Fazit Durch das Vermitteln und Vorführen des Sprechens über Liebe wird das Verstummen verlernt. Der inkommunikable Gegenstand wird in den Mittelpunkt von Kommunikation gerückt und rhetorisch-didaktisierend transformiert. Unsagbarkeit birgt dabei die Rückkehr in die Kommunikation in sich.Wenn die Kommunikation durch Rhetorik das eigene Versagen simuliert, dann bestätigt sie sich selbst im Triumph gegenüber dem Unsagbaren. In diesem Rahmen kann erstens der klassische Unsagbarkeitstopos in der descriptio pulchritudinis oder aber in der Minneklage im Sinne der Kommunikation von Intimität umfunktionalisiert werden. Zudem wird das in seinem Mitteilungswert verstandene minnebedingte Verstummen als Anlass für Gespräch oder Erzählung von der Liebe und somit als Chance für Anschlusskommunikation genutzt. Nicht zuletzt können die Pole der Überhöhung und Tabuisierung mehrfach ineinandergreifen und Aspekte von Körperlichkeit und Sexualität aus der Unsagbarkeit in die Kommunikation übersetzen. Die Inkommunikabilität genuiner emotionaler Ergriffenheit mag zunächst kommunikationshemmend oder sogar -gefährdend erscheinen, in ihrer rhetorischen Aufbereitung kann und soll sie dennoch lediglich kommunikationsfördernd wirken und dabei ihren Gegenstand einbüßen. Jegliches Lehren und Erlernen von Minnekommunikation setzt einen beobachtenden wie utopischen Zugang zum undefinierbaren und unbeschreiblichen Gegenstand ‚Liebe‘ und zur Erfahrung der Liebesbetroffenheit voraus. In der minneredenspezifischen Utopie der sich überlappenden Programme der Intimität können ‚minnende Seelen‘ zwar ihr Paradies finden. Dieses Paradies des Erlernens und Vermittelns von Liebesprogrammen schließt aber Aufrichtigkeit in die (literarische) Kommunikation mit ein und somit aus. Dadurch bleibt es vom ‚Paradies der einfachen Seelen‘ weit entfernt.
Vgl. zu den kulturhistorischen Hintergründen des ‚verkehrten Festes‘ und ihrer literarischen Fruchtbarkeit im späten Mittelalter, auch mit vereinzelten Bezügen auf die Neujahrstradition besonders Röcke (1990).
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Myller (1784): Sammlung deutscher Gedichte aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert, hg. v. Christoph Heinrich Myller, Bd. 3, Berlin 1784. Dorobanţu/Klingner/Lieb (2017): Minnereden. Auswahledition, hg. v. Iulia-Emilia Dorobanţu, Jacob Klingner und Ludger Lieb, Berlin – Boston 2017.
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Die Entgrenzung des Sagbaren in einer spätmittelalterlichen Ehe am Beispiel der Datini-Briefe „Wäre ich euch zur Seite gewesen, hätte ich den Mund nicht soweit aufgemacht.“¹
Einleitung In jeder Beziehung gibt es Dinge, die sagbar, und Dinge, die unsagbar sind bzw. bleiben müssen. Auch im Spätmittelalter konnte ein Mann seiner Angetrauten nicht unverblümt alles mitteilen. Noch stärker galt dies für eine Ehefrau – zumindest, wenn sie dem ihr auferlegten Ideal der zurückhaltenden Dame des Hauses entsprechen wollte.² Diese Diskurse ziehen in pragmatischen Kommunikationssituationen eben jene kommunikativen Grenzen, welche gewahrt werden müssen, um Konflikte oder sogar das Scheitern einer Kommunikation³ zu vermeiden. Dieses Prinzip strukturiert auch die Korrespondenz zwischen dem Ehepaar Margherita (1360 – 1423) und Francesco di Marco Datini (ca. 1335 – 1410).⁴ Der Kaufmann heiratete 1376 die damals 16jährige Florentinerin adliger Herkunft in Avignon. Dort lebte das Paar in den ersten Ehejahren, blieb allerdings kinderlos. Im Winter 1382/83 entschloss sich Francesco nach mehr als drei Jahrzehnten in Avignon zur Rückkehr in die toskanische Heimat, um dort seine Geschäfte voranzutreiben und neue Filialen zu gründen. Infolge seiner umfangreichen Geschäftstätigkeit war Francesco oft längere Phasen vom gemeinsa-
Datini, Margherita: Lettere, 26, Brief 11 (Florenz, 23. Januar 1386): (…) se vi fosse a lato are’ favelato cholla bocha più picholina. Alle hier aufgeführten Übersetzungen sind – wenn nicht anders angegeben – von der Verfasserin vorgenommen worden, und sollen jeweils nur den Sinn des italienischen Originals widergeben. Die männlichen und weiblichen Idealtypen der Spätmittelalter sind sehr vielfältig und von zahlreichen Diskursen konstruiert. Diese Diskurse manifestieren sich auch in der Datini-Korrespondenz – insbesondere dann, wenn sie von Idealen oder Normen abweichen. Gleichzeitig reproduziert diese Korrespondenz nicht nur die bestehenden Diskurse, sondern wird Teil dieser. Margherita gibt sich in besonderem Maße diesen Idealtypen hin und bewegt sich zwischen der literarischen Idealisierung von Dantes Beatrice und Boccaccios Griselda. Vgl. hierzu Lundt (2003), 199 – 203. Auch wenn im Folgenden mit den Ansätzen Luhmanns gearbeitet wird, wird der Begriff ‚Kommunikation‘ wesentlich weiter gefasst als Luhmann es in seinen Überlegungen definiert, um die konkrete pragmatische Kommunikationssituation des Ehepaares Datini erfassen zu können. Hier sei nur auf die aktuellen biographischen Erscheinungen verwiesen. Zu Margherita: James (2008). James (2010). James (2012). Crabb (2015). Zu Francesco: Cassandro (2010). Crum (2004), 290 – 291. Über das Geburtsjahr Francescos herrscht in der Forschung Uneinigkeit. Hierzu Cavaciocchi 2009, 23 – 33. https://doi.org/10.1515/9783110628920-006
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men Haushalt mit Margherita in Prato abwesend und richtete schlussendlich einen festen Wohnort im 20 km entfernten Florenz ein.⁵ Durch diese besondere Lebenssituation begann das Ehepaar sich schriftlich auszutauschen. In insgesamt 433 erhaltenen Briefen,⁶ die zwischen 1384 und 1410 verfasst wurden, schreibt sich das Ehepaar über seine Haushalte, Politisches, Geschäftliches, Familienmitglieder, Mitarbeiter und Sklaven sowie Gesundheitliches, persönliche Empfindungen und Uneinigkeiten in all diesen Bereichen.⁷ In besonderen Situationen, wenn ein Konflikt entsteht und dieser ausgetragen wird, werden die kommunikativen Grenzen des Sagbaren überschritten, ignoriert oder rhetorisch gezielt eingesetzt, wodurch sie erst sprachlich durch die Verfasser sichtbar werden.⁸ Margherita und Francesco sahen sich besonders zu Beginn der neuen Lebenssituation mit solchen Streitigkeiten konfrontiert. In dieser Zeit hatte der Kaufmann noch nicht endgültig die Trennung der Haushalte bestimmt und seine 25 Jahre jüngere Ehefrau hoffte auf bzw. forderte immer wieder seine Rückkehr in den Palazzo in Prato.⁹ Die folgenden Ausführungen fokussieren die 23 erhaltenen Briefe, welche zwischen dem 23. Januar 1384 und dem 15. April 1386 verfasst wurden.¹⁰ Dieser Untersuchungszeitraum begründet sich darin, dass Francesco nach Einsetzen der Korrespondenz noch nicht die endgültige Entscheidung getroffen hatte, den zweiten Haushalt in Florenz einzurichten, auch wenn er schon die meiste Zeit dort lebte.¹¹ Dies beeinflusste auch die Kommunikation des Paares und die angesprochenen Themen, von denen einige – wie die Diskussion um die Rückkehr des Ehemannes und das Zusammenleben – zu Konflikten und zu Überschreitungen der Grenzen des
James und Pagliaro (2012), 8. Der Briefbestand wird im italienischen Archivio di Stato di Prato aufbewahrt und ist online zugänglich. Des Weiteren sind drei Editionen erschienen. Die 182 Briefe des Ehemannes sind enthalten in: Datini, Francesco di Marco: Lettere. Die italienische Edition der Briefe Margheritas umfasst 242 Schriftstücke: Datini, Margherita Lettere. Und die 2012 erschienene englische Übersetzung ihrer Briefe umfasst 251: Datini: Margherita: Letters. James und Pagliaro (2012), 1– 3. Crum (2004), 290 f. Glauch (2003), S. 149 f. Glauch exemplifiziert am Beispiel höfischer Romane wie Unsagbarkeit inszeniert wird. Dabei arbeitet sie heraus, dass immer auch Kommunikation erfolgen muss, um Schweigen und Unsagbarkeit kenntlich zu machen. Dieses Prinzip lässt sich ebenso bei der konkreten Kommunikationssituation des hier im Mittelpunkt stehenden Ehepaares ermitteln. Datini, Margherita: Lettere, 11 f., Brief 1 (Florenz, 23. Januar 1384): Voi avete mandato a dire que vi paremile ani que sia carnasale: così pare ancue a me, e se pùe state pareme que sia de non sufirire; mi pare esere sì pocho chamino que mi direbe el cuore se sevi e uno dì. Datini, Margherita: Letters, 31 f., Brief 1: „You sent a message that it seems to you a thousand years until it is Carnival time. I feel the same: if you can stay here a little longer once you get back, I don’t think it would do any harm.“ Die Jahre zwischen 1384 und 1386 können als erste von insgesamt drei Kommunikationsphasen dieser Korrespondenz bezeichnet werden. Die unterschiedlichen Abschnitte weisen deutliche Differenzen im Bereich der Kommunikationsthemen, des Duktus, der Reaktionen und Interaktion auf. Vgl. Crabb (2015), 18 – 22. James und Pagliaro (2012), 8. Crabb (2015), 18 – 22, 49 f. Francesco bestimmt 1386, dass ein zweiter Haushalt in Florenz eingerichtet wird. Dort hielt er sich oft wochenlang auf, kehrte aber immer wieder für kurze Zeitabschnitte nach Prato zurück.
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Sagbaren führten. Auf der einen Seite formuliert das Ehepaar symbolisch aufgeladene Sätze der Sehnsucht, die an bekannte Topoi aus den literarischen Werken dieser Zeit erinnern.¹² Auf der anderen Seite entstehen Spannungen. Margherita hofft auf eine baldige Rückkehr, die ihr ihr Ehemann immer wieder verspricht, um sie dann wieder zu vertrösten. Und obwohl sich das Ehepaar durchaus in diesen zwei Jahren immer wieder sieht, wogen die Zeiten der Abwesenheit für die junge Ehefrau schwerer und sie formuliert – oftmals rhetorisch sehr geschickt – ihren Unmut.¹³ Dies sind eben jene Grenzüberschreitungen, welche entsprechende Antworten von Francesco provozieren, und, anstatt in einer Vis-à-Vis-Kommunikation sofort zu verschwinden, auf Papier gebannt werden.
2 Methodische Vorüberlegungen Briefe gelten als „das wichtigste direkte schriftliche Kommunikationsmittel des Mittelalters“, wodurch sie als Kommunikationsmedium und Quelle für den Historiker einen speziellen Stellenwert einnehmen – insbesondere, wenn es sich um Privatbriefe handelt.¹⁴ Die Datinische Korrespondenz, die in Umfang und durch die erhaltene Überlieferung der Briefe Margheritas für das Mittelalter nahezu einmalig ist,¹⁵ bildet in einigen Lebensphasen des Paares die kommunikative Grundlage für das Fortbestehen der Ehe und den Austausch innerhalb derselben. Ohne dieses Medium wären die Datinis oftmals nicht in der Lage gewesen, ihre Haushalte zu organisieren und eine Ehe zu führen, weshalb sie thematisch weitaus mehr sind als reine Privatbriefe. Ebenso strukturiert das Medium Brief die pragmatische Kommunikation des Ehepaares, da sie bestimmten rhetorischen Regeln und Formalien unterliegen, welche sich aus poetischen und diplomatischen Bereichen entlehnen, worin sich die Hybridität dieser Quellengattung zeigt, die sich zwischen persönlichem Zeugnis, geschäftlichem Organisationswerkzeug und literarischem Werk bewegt.¹⁶ Ferner waren diese Briefe auch einer begrenzten Öffentlichkeit, also dem Haushalt, zugänglich, da
Origo (1993), 200. Augart (2006), 14. James (2008) und Pagliaro (2012), 23. Die Autoren der englischen Edition bewerten Margheritas Kommunikationsverhalten ebenfalls als stark, intelligent und eloquent. Zitat aus Mersiowsky (2015), 9. Wand-Wittkowski (2008), 11. Aichholzer (1997), 148. Die Definition des spätmittelalterlichen Privatbriefs gestaltet sich schwierig, da diese Dokumente nie nur dem Alltäglichen und Privaten zuzuordnen sind. Die Korrespondenz der Datinis ist in erster Linie die eines Arbeitspaares. Bensa 1928, 17– 71. Guasti 2012 (Nachdruck; 1880). James (2008), 43 f. James (2010), 53. Augart (2006), 14.Wand-Wittkowski (2008), 11, 22. Schmid (1988), 2 f. Schmid versucht sich an einer Definition der Quellengattung ‚Brief‘, u. a. indem sie eine Trennung zwischen historischer Quelle und literarischem Werk zu schaffen versucht. In der jüngsten Forschung wird eine Trennung der einzelnen Briefformen für das Mittelalter als obsolet bezeichnet: Kretzschmar 2015, 6.
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sie entweder einem Schreiber diktiert oder sogar bei wichtigen Haushaltsanweisungen mehreren Haushaltsmitgliedern vorgelesen wurden.¹⁷ Die spätmittelalterliche Familie, deren Zentrum durch die Institution Ehe das Ehepaar ist, stellt ein Interaktionssystem dar und ist zudem das für ein Individuum wohl seit der Antike bedeutendste und vor allem im sozialen Alltag fassbarste strukturgebende Funktionssystem.¹⁸ Diese grundlegende These der mediävistischen Familienforschung ermöglicht eine Anknüpfung an die Überlegungen Luhmanns. Die wechselseitige Kommunikation innerhalb einer Ehe konstruiert auf mehreren Ebenen das konjugale Band zwischen den Partnern und lässt durch verbale und nonverbale, die für den heutigen Betrachter nicht mehr nachzuvollziehen sind, das System entstehen. Wie Luhmann feststellt, ermutigt das Kommunikationsmedium ‚Liebe‘ innerhalb des Kommunikationssystems durch Verwendung bestimmter Worte und Floskeln eine Codierung, die zur Systementstehung beiträgt. Denn wenn kommuniziert werden würde, dass man sein Gegenüber nicht liebt und nicht vermisst, so würden die Kommunikationspartner keine Bindung eingehen.¹⁹ Auch wenn bei den Datinis nicht von Liebe im romantischen Sinne gesprochen werden kann, so halten sie sich doch an den zeitgenössische Diskurs, der die eheliche Kommunikation im Spätmittelalter strukturiert, jedoch noch einige Transformationen durchlebt, bis er sich dem annähert, was Luhmann für das 18. Jahrhundert beschreibt. Im Rahmen ihrer Beziehung, die sie gemeinsam eingehen, ist Intimität eine logische Konsequenz, unterliegt aber wie alle Beziehungen einer Begrenzung, obwohl eigentlich davon auszugehen wäre, dass man dem Partner alles sagen können sollte.²⁰ Durch das Unsagbare ist auf einer abstrakten Ebene in diesem Fallbeispiel ein Störmoment, welches Ambivalenzen verursacht und eine Anschlusskommunikation erschwert oder sogar zu verhindern droht. Teil dessen ist es, dass das Paar ebenso darum bemüht ist entsprechend der systemimmanenten Wechselwirkungen, dass das eheliche Band, welches durch Sprache entsteht, durch eben diese nicht gefährdet oder zerrissen wird. So kann ein Konsens, gemeinsamer Nenner oder eine Verstehenskommunikation gebildet werden. Dies entspricht jedoch nur ansatzweise dem von Luhmann definierten Code ‚Liebe‘²¹, und kann vielmehr – da der Übertragung dieses Ansatzes auf spätmittelalterliche Quellen unter historischer Fragestellung Grenzen gesetzt sind – mit dem Konzept ‚eheliche/r Zuneigung/Verbundenheit‘²² beschrieben werden.²³ So Origo (1993), 13. Eibach (2011), 622. Crabb 2015, 4. Herlihy (1983), 116 f. Mitterauer, Sieder (1991), 17. Mitterauer (2003), 160. Mitterauer (2004), 70 – 73. Vgl. hierzu auch Jussen (2009), 275 – 279. Auch wenn nicht jedes Individuum im Mittelalter eine Ehe einging, so hatte zumindest jeder Eltern, die im Idealfall ehelich verbunden waren und den sozialen Kontext bildeten. Luhmann (1994), 9, 14. Luhmann (2008), 41 f. Luhmann (1994), 14. Luhmann (1994), 14, 23 – 27. Luhmann (2008), 10 – 11. Auch diese Begriffe sind semantisch problematisch aufgeladen sowie von einer individuellen Interpretation eines jeden geprägt. Dies soll an dieser Stelle ausgeklammert werden, die Begriffe sollen lediglich eine Distanz zum noch problematischeren Wort ‚Liebe‘ schaffen und entsprechend des
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mit entsteht innerhalb der Korrespondenz ein kommunikativer Zwang, wenn die Partner versuchen nicht nur den äußeren sowie eigenen Erwartungen und Normen zu entsprechen, sondern sich ebenso den Erwartungen und dem innerehelichen Konsens verpflichtet fühlen, wodurch der Ablauf der Ehekommunikation reguliert wird.²⁴ Innerhalb der Datinischen Korrespondenz zeichnen sich direkt oder indirekt Diskurse²⁵ ab, die oftmals mit der Individualität der Schreibenden kollidieren, wodurch Konturen oder Grenzen dessen, was in einer spätmittelalterlichen Paarbeziehung sagbar ist und was nicht, sichtbar werden.²⁶ So entsteht innerhalb der Kommunikation die Situation, dass das Unsagbare gesagt oder durch Gesagtes kenntlich gemacht und somit Teil der Konversation wird.²⁷ Dabei gibt es verschiedene Ebenen: erstens die Ebene der pragmatischen Kommunikation, auf welcher im Prinzip Dinge sagbar sind, aber nicht gesagt werden sollten. Zweitens gibt es die tatsächliche Konversationsebene, die situativ bedingt ist, da man von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der ersten Ebene abweicht. Und drittens gibt es die abstrakte Ebene, auf welcher das System Familie entsteht bzw. gefährdet wird. Auf diesen Ebenen zeigt sich in unterschiedlichen Ausprägungen die Unsagbarkeit innerhalb der ehelichen Korrespondenz.
3 Sagbares und Unsagbares in einer spätmittelalterlichen Ehe Die Datinis versuchen stets ihren idealtypischen Rollen als Ehepaar, Ehefrau und Ehemann²⁸ sowie als Kaufmannsfrau und Kaufmann zu entsprechen, die sich vor konjugalen Bandes die sprachliche-systemische Verbindung der Ehepartner wiedergeben, ohne Emotionen zu implizieren, welche generell aus historischer Perspektive nicht fassbar sind. Vgl. hierzu Eckart (2009), 9. Luhmann (2008), 9. Luhmann (1994), 21. Zusammenfassend auch Becker und Reinhardt-Becker (2001), 21– 25; 136 – 145. Vgl. auch zur kommunikationstheoretischen Perspektive: Eibach (2011), 621. Landwehr (2008), 10 f. Luhmann (2008), 37– 41. Diese Diskurse rekurrieren insbesondere auf das Ideal der (Ehe‐)Frau und das des (Ehe‐)Manns, die zusammen das Ehe- und Arbeitspaar bilden, welches gemeinsam einen Haushalt führt und die dazugehörigen Personen versorgt. Gerade in den Diskursen um die toskanische Haushaltsfamilie ist dies ein äußerst zentraler Aspekt, welcher immer wieder in den Briefen der Datnis Erwähnung findet. So versucht Francesco der ideale Ehemann zu sein, der seine Familie als Oberhaupt versorgt, und Margherita steht ihm als geduldige Ehefrau zur Seite. Zudem zu den Diskursen der Ehefrau: Crabb 2015, 22, 30. Hayez 2005, 166. Nolte (2011), 54– 64. Lundt (2003), S. 199 – 203. Zu den Diskursen über Ehemänner: Ebenso Nolte (2011), 56 – 74. Cassandro 2010, 21. Dieser stellt vor allem die Ambivalenz zwischen den verschiedenen Rollen, denen Francesco gerecht werden musste (Ehemann, Kaufmann, guter Christ), heraus. Landwehr (2008), 21. Luhmann (1994), 154 f. Habermann (2012), 12. Aichholzer (1997), 148, hier gibt die Verfasserin die Bedeutung von Briefen als Spiegel für Diskurse und Mentalitätsgeschichte an. Vgl. hierzu auch Glauch (2003), 149. Dem Idealtypus des Ehemannes hat sich die Forschung noch nicht ausreichend gewidmet, besonders im Vergleich zur Literatur über die ideale Ehefrau. Ideale Herrscher, Theologen, Kaufmänner
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allem aus Literatur, Theologie und der daran gekoppelten Mentalitätsgeschichte entlehnen. Dabei werden sie selber Teil des Diskurses.²⁹ Dieser macht zudem deutlich, was in einer spätmittelalterlichen Ehe sagbar und was unsagbar ist bzw. ungesagt bleiben sollte. Insbesondere die idealtypische Ehefrau, die geduldig an der Zeite des Ehemannes stehen sollte ohne seine Position in Frage zu stellen, wird von beiden reflektiert. In der spätmittelalterlichen toskanischen Haushaltsfamilie kommt der Ehefrau eine wichtige Rolle zu und gerade Margherita fungiert als Vertreterin ihres Ehemannes, wenn dieser abwesend ist. Hier nimmt sie sich als gleichrangig mit ihrem Ehemann wahr, was durch die angespannte Situation der Abwesenheit Francescos zu Unstimmigkeiten führt, da es dem vorherrschenden Diskurs zur innerehelichen Hierarchie, dass die Ehefrau zwar an seiner Seite steht, ihm aber dennoch folgen muss, widerspricht und er zudem seine von ihn erwarteten Pflichten nicht erfüllt.³⁰ Margherita glaubt zwar selbst, dass es ihre Aufgabe ist, sich entsprechend der sozialen Normen als Ehefrau zu verhalten, sie sieht „wifehood as a profession“³¹, aber dennoch zeigt sie sich auf der situativ bedingten Konversationsebene selbstbewusst und bestimmend, wenn es um ihre Meinung oder ihre Position innerhalb der Ehe geht. Francesco konturiert dies, indem er seine Frau zurechtweist. Sie hingegen reflektiert die Probleme, die sich durch die Lebenssituation ergeben und bezieht die begrenzte Öffentlichkeit mit ein, die das Leben des Ehepaares kritisch kommentiert.³² Es ist im
und dergleichen wurden untersucht. Vater und Ehemann sind jedoch bisher nicht ausreichend historisch aufgearbeitet worden. Vgl. hierzu Mosher Stuard (1994), 61– 71. Eine treffende idealtypische Beschreibung gibt ein italienischer Gelehrter in seinem Werk. Leon Battista Alberti: Vom Hauswesen, S. 20 f.: „Es ist nicht die einzige Aufgabe des Hausvaters, wie man sagt, den Kornspeicher des Hauses und die Kufe zu füllen, vielmehr müssen die Häupter eines Geschlechtes auf alles achten, über alles wachen. Jede Gesellschaft muß er in Augenschein nehmen, alles, was innerhalb und außerhalb des Hauses Brauch ist, prüfen und jede Sitte, die nicht gut ist, es sei wessen immer aus dem Hause, rügen und abstellen; mehr mit verständigen Worten als mit Entrüstung, mehr durch sein Ansehen als durch Gewalt; sich den Anschein geben zu raten, wo es mehr hilft als Befehlen, aber auch streng, unerbittlich und schroff sein, wo es dringend not tut. Stets muß er in all seinen Gedanken das Wohl, die Ruhe und den Frieden seines gesamten Hauses vor Augen haben, gleichsam wie ein Himmelszeichen, nach dem er all sein Sinnen und Planen ausrichtet, um die ganze Familie tüchtig und löblich zu führen.“ Nolte (2011), 56 – 74. Diese Diskurse entlehnen sich aus den theologischen, philosophischen und medizinischen Diskussionen der Zeit. Hinzu kommen ebenso literarische und alltagsbedingte Diskurszusammenhänge, welche die Idealtypen von (Ehe‐)Mann und (Ehe‐)Frau in klaren hierarchischen Beziehungen zueinander sieht. Dieser zentrale Punkt kontrastiert sich durch die gerade im Hochmittelalter stattfindende theoretische Überlegung, dass Mann und Frau gleichgestellt sind. So wird als Argument von verschiedenen Scholaren angeführt, dass Eva nicht aus Haupt oder Fuß Adams entstanden ist, sondern aus seiner Seite und damit neben ihm stehe. Sie sei ihm nicht über- oder untergeordnet. Vgl. hierzu Signori (2011), 27– 31. Dass Briefe allgemein sehr gut als Quelle für Diskurse dienen, stellt fest: Aichholzer (1997), 148. Lundt (2003), 199. Nolte (2011), 56 – 74. Signori (2011), 15 f., 27– 31. Crabb (2015), 1. Datini, Margherita: Lettere, 12, Brief 1 (Florenz, 23. Januar 1384): Io sì sono piò motegata que se fose la dona novela e mi dicono chose que se fose una dona novela manchua alcuna chosa: se dìo sto trista, dichono quìo fo per galosia; si dìo lieta, dichono que sono sanari di Frangesco Marcho; eli mi dichono
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mittelalterlichen Kontext die von Gott gegebene Ordnung, dass die Frau dem Mann nicht übergeordnet ist.³³ Innerhalb von Streitsituationen zeigt sich auf der Konversationsebene bei den Datinis jedoch ein anderes Bild. So wird Francesco abweichend von den gängigen Idealen zum schwachen Melancholiker, wie er sich auch selbst in vielen Briefen bezeichnet, und Margherita zu einer selbstbewussten Frau, welche ihrem Mann mehr als einmal widerspricht. Sie sagt Dinge zu ihrem Mann, die sie nicht sagen sollte, was die Prinzipien einer pragmatischen Kommunikation und die Grenzen überschreitet, wie im Folgendem an Beispielen gezeigt wird. Denn, obwohl einem grundsätzlich alles an dem Partner interessieren bzw. der Kommunikation nichts Persönliches entzogen werden sollte, man ihm alles anvertrauen können sollte und Intimität vorhanden ist,³⁴ kann doch nicht alles ungefiltert gesagt werden. Nicht alles, was jemand denkt oder fühlt, kann mitgeteilt werden. Dabei wird dieses Unsagbare jedoch erst in der konkreten Konversationssituation konturiert.³⁵ Bei Margherita und Francesco lassen sich auf der situativen Kommunikationsebene drei zentrale Kommunikationsthemen ermitteln, die eigentlich nicht sagbar wären, aber dennoch ihren Weg auf Papier – was den Aspekt mindert, dass Worte im Affekt gesagt werden – und zum Ehepartner finden. Innerhalb einer Beziehung ist es erstens nur bedingt möglich, Kritik an seinem Partner zu äußern. Dies beinhaltet auch die meisten Situationen, in denen sich Margherita, wie sie selbst sagt, zu viel herausnimmt. Zweitens sind eine Verschriftlichung der Realität der Lebenssituation sowie Vorwürfe über deren Fortbestehen problematisch. Und drittens gehören Beleidigungen, um den anderen gezielt anzugreifen, die sowohl als Verursacher von als auch als Reaktion auf Konflikte formuliert werden, grundsätzlich in den Bereich des Unsagbaren. Im Kern lassen sich diese im System Ehe disartikulierbaren³⁶ Themen auch in jeder anderen Beziehung – und dies meint gewiss nicht nur Liebesbeziehungen oder Partnerschaften – finden. Sie erfahren nur eine jeweils andere Gewichtung. Doch wie wird eigentlich Unsagbares gesagt? Margherita und Francesco sind sich im Rahmen ihrer Ehe ohne Frage dessen bewusst, das der andere etwas schreibt, was er oder sie nicht hätte schreiben sollen, denn sie machen dies sprachlich kenntlich. Mit Hilfe von Markierungen innerhalb einer sprachlichen Inszenierung wird in den Briefen sichtbar, dass etwas Unsagbares ausgesprochen wird. Hier lassen sich im Datinischen Beispiel vier Arten eindeutiger Markierungen ermitteln. Die erste und
tante frascue di qustàe que se voi fose uno fanqulo bastarebe; in questa chasanon si fama motegare di me e di voi. Datini, Margherita: Letters, 32, Brief 1: „I am more teased than a newlywed, and they say things to me that they would not even say to a new bride. If I am sad, they say I am jealous. If I am happy, they say I can’t be missing Francesco di Marco. They talk such rubbish that if you were a young boy it would be bad enough. In this household all they do is joke about you and me.“ Signori (2011), 15 f. Luhmann (1994), 14 f. Luhmann (1987), 207. Luhmann (1994), 154 f. Michaelis (2011), 2– 4. Der Begriff (Dis‐)Artikulation wurde von Michaelis insbesondere im Hinblick auf die Verschränkung von sagbaren und unsagbaren Dingen gewählt und gibt diese wieder.
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eindeutigste ist die Entschuldigung bzw. der Hinweis, dass man etwas nicht hätte sagen sollen oder dürfen. Dies kann aber auch zweitens durch Rechtfertigungen kenntlich gemacht werden. Hiervon abzugrenzen sind rhetorische Wendungen, wie Praeteritio oder Paralipse, die zur Vorwarnung genutzt werden, dass etwas gesagt wird, was eigentlich nicht gesagt werden sollte. Die vierte und letzte Markierung ist eine gesonderte: die Anweisung zum Vernichten des Briefes und somit auch des unsagbaren Gesagten.³⁷ Eine redundante Floskel des Nicht-sagens, welche ergänzend zur dritten Markierung hervorgehoben werden muss, liest man am Ende einiger Briefe. So schreibt Margherita einige Male: „mehr werde ich dir nicht sagen“ (altro non vi dicho). ³⁸ Dies ist als Abschluss des Briefes und Überleitung zu den Grußformeln zu verstehen. Es stellt sprachlich nur eine Markierung dar, mit der gezeigt wird, dass alles gesagt wurde und nichts mehr hinzuzufügen sei. Hierfür spricht auch, dass Francesco zwar wesentlich seltener, aber dennoch eine ähnliche Formel benutzt: „dazu werde ich nicht mehr sagen“ (per questa farò sanza pùe dire). ³⁹ Manchmal fügt es sich im Falle Margheritas aber direkt an eine Kritik oder einen Ratschlag an, so dass auch eine andere Interpretation möglich wäre. Dies verweist auf die Komplexität, Widersprüchlich- und Vielschichtigkeit des Unsagbarkeitstopos⁴⁰ sowie seine mögliche Uneindeutigkeit, besonders, wenn eine historisch fragende Perspektive eingenommen wird. Es gibt in diesem Fallbeispiel eine ‚Unschreibbarkeit‘, wenn Dinge lieber persönlich mitgeteilt werden sollen. Francesco möchte dies zum Beispiel in dem Bewusstsein, dass seine geschriebenen Worte falsch verstanden werden könnten.⁴¹ Dennoch lassen sich rein sprachlich Pausen, Schweigen und Nicht-Gesagtes in der Briefkommunikation nur schwer ermitteln bzw. sind unsichtbar für den Leser, wenn eine solche Markierung fehlt, müssen jedoch ebenso als Möglichkeit mitgedacht werden. Auch die Verwendung von schriftlichen Aposiopesen⁴² lassen sich bei den Datinis nicht finden. Generell folgen viele verschiedene Themen aufeinander, ohne dass das vorherige abgeschlossen scheint. Dies geschieht jedoch nicht im Sinne eines
Die vierte Markierung ist in dieser Zeit nur einmal in einem Brief von Margherita erhalten. Es kann nicht gesagt werden, ob dies das einzige Mal ist, dass er darum bittet oder ob es das einzige Mal ist, dass so einer Bitte nicht Folge geleistet wird. Siehe Datini, Margherita: Lettere, 25, Brief 10 (20. Januar 1386): Sopra questo non voglo più dire, prieghovi che questa lettera ardiate quando l’avete letta, fatemi questo servigio e prieghovene. Datini, Margherita: Letters, 49, Brief 11: „Please burn this letter when you have read it. I beg you to do me this favor.“ Datini, Margherita: Lettere, 12, Brief 1 (23. Januar 1384). Datini, Margherita: Lettere, 13, Brief 2 (vor dem 05. April 1384). Datini, Margherita: Lettere, 17, Brief 5 (27. Februar 1385). Datini: Francesco di Marco: Lettere, 35, Brief 1 (23. Februar 1385). Aarnes (1985), 293 – 296. Das Paradoxe liegt schon in der Semantik des Wortes ‚Unsagbarkeit‘ an sich. Es bezeichnet das, was eigentlich nicht gesagt wird, nicht gesagt werden darf oder kann. Der Topos, der in der Literatur über die Epochen hinweg zu finden ist, entstammte bereits der griechischen und römischen Antike. Datini, Margherita: Lettere, 26 f., Brief 11. Datini, Margherita: Letters, 50 – 51, Brief 12. Zur Bedeutung von Aposiopesen für die Unsagbarkeit, siehe Aarnes (1985), 293.
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Abbruches des jeweiligen Sachverhaltes, sondern in Form einer Aufzählung, welche wiederum von Redundanzen geprägt ist. Bei diesem Ehepaar gilt somit: Nur über Inferenzen lässt sich die Unsagbarkeit konturieren, denn zu selten gibt es den direkten Ausspruch, dass „der Mund zu weit aufgemacht“⁴³ wurde.
4 Die Entgrenzung des Unsagbaren Drei große Kommunikationsthemen stellen sich auf der Ebene der pragmatischen Kommunikation der Datinischen Ehe als unsagbar dar und sind dennoch in den konfliktreichen Jahren von 1384 bis 1386 schriftlich auf der Konversationsebene fixiert. 23 erhaltene Briefe zeugen von den ersten turbulenten Jahren der Kommunikation – 15 von Margherita und acht von Francesco. Fügt sich Margherita in das idealtypische Verhalten einer zurückhaltenden und folgsamen Ehefrau, so vermag sie keine Kritik zu üben, sondern verweist explizit darauf, dass sie nichts mehr sagen (non dicho) wird, obwohl sie eine andere Meinung hat – in diesem Fall, dass Francescos Aufenthalt in Pisa aufgrund der schlechten Luft gesundheitlich bedenklich sei.⁴⁴ Dieses non dicho steht in einem deutlichen Bedeutungszusammenhang zum vorherigen und ist nicht gleichzusetzen mit der redundanten Schlussfloskel altro non vi dicho. Hier wird explizit darauf verwiesen, dass nun geschwiegen wird, und durch eine Paralipse markiert, wodurch eine Betonung dessen erfolgt, was eigentlich ungesagt bleiben sollte. In der Antwort auf einen nicht erhaltenen Brief von Francesco reagiert Margherita empfindlich auf eine Anweisung ihres Angetrauten, die sie offenbar als Kritik an ihren Fähigkeiten als Haushaltsvorsteherin auffasst. So nimmt sie sich heraus, indirekt Kritik an ihrem Partner zu üben und ihm einen – durchaus als ironisch zu interpretierenden – Ratschlag zu geben: Du hast mir eine Nachricht geschickt, damit ich einen genauen Blick auf die Haushaltswaren werfe: Ich habe besser nach ihnen geschaut als du dir wünschen könntest; aber ich bitte dich dringlich dasselbe hier zu tun, da es sonst keine Notwendigkeit gibt, sich um die Dinge hier zu
Dies entlehnt sich aus dem titelgebenden Zitat. Datini, Margherita: Lettere, 26, Brief 11 (23. Januar 1386): (…) se vi fosse a lato are’ favelato cholla bocha più picholina. Datini, Margherita: Letters, 50, Brief 12: „If you were here beside me, I would not have spoken so boldly.“ Datini, Margherita: Lettere, 16, Brief 5 (Florenz, 27. Januar 1385): Perché voi avesse ispacio de‘ fatti che v’avete a ffare che, se altro potesse fare, no‘ vorei che vi ci ritrovassono per queli gran chaldi, che ongn’anno mi pare che vi sia una mortalitade. Sopr’a questo più non dicho; siete savio e piglierete quel partito che migliore sarà (…). Datini, Margherita: Letters, 37, Brief 5: „That would allow you to finish what you have to do. Whatever else might happen, I would not like you to be there when the weather is very hot, because every year there are deaths. About this I will say no more. You are wise and will make the best decision.“
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sorgen. Wenn du besorgt bist, würde ich dir raten zurückzukommen und selbst auf alles zu schauen, weil du besser als jeder andere auf sie achten würdest.⁴⁵
Dieses Zitat verweist ebenso auf das zweite Kommunikationsthema, welches eigentlich ein Tabu wäre: die Realität der Lebenssituation. Dies verstärkt sich in den folgenden Zeilen, in denen sie Francescos Worten zustimmt, dass es noch wie 1000 Jahre bis zum nächsten Wiedersehen scheint, er aber das nächste Mal länger zu Hause bleiben könne und Pisa, wo er zu diesem Zeitpunkt einen neuen fondaco aufbaute, nicht so weit entfernt wäre.⁴⁶ Es ist jener eindrucksvolle erste Brief, der zeigt, dass Margherita mit der Abwesenheit ihres Ehemannes nicht einverstanden ist und dies auch sagt, obwohl sie sich den Normen entsprechend anders verhalten sollte, und in dem sie auch vom Spott ihrer Umwelt berichtet, die die Lebenssituation ebenso wenig als normal erachtet.⁴⁷ Gleichzeitig ist dies einer der wenigen spätmittelalterlichen Belege dafür, dass Frauen Meinung und Stimme hatten, jedoch diese vermutlich nur durch die lückenhafte Überlieferungssituation verstummten.⁴⁸ Margherita bittet oft um eine baldige Rückkehr⁴⁹ – mal verbunden mit bildhaften Phrasen, die einem Liebesbrief entstammen könnten, mal verbunden mit Vorwürfen an Francesco. Dabei wandeln sich die Worte und der Duktus, die sie wählt, im Verlauf der zwei Jahre deutlich. Zunächst bittet sie und argumentiert, dass es besser wäre zusammenzuleben.⁵⁰ Nach etwa anderthalb Jahren sind die Bitten wesentlich knapper und ohne Sehnsuchtsbekundungen: „Versuche so bald wie möglich zukommen und
Datini, Margherita: Lettere, 11, Brief 1 (23. Januar 1384): Voi m’avete mandato a dire qu’io guardi le masaricia di chasa: io v’ò fato buona guarda puo que voi non avresti volute, ma io vi prigo que voi fagiate masaricia di quele di custà; que di queste di quae no’ quale dare pensiere e, se pure ve ne dese penciere, io vi consilerei que voi ve le tornase a guardare, que ve le ganderesti voi più que veruna altra persona, (…). Datini, Margherita: Letters, 31, Brief 1: „You have sent me a massage to keep a close eye on the household goods. I have looked after them better than you could have wished; but I urge you to do the same there since there is no need to worry about things here. If you are worried, I would advise you to come back and watch over them yourself, since you would watch thembetter than anyone.“ Datini, Margherita: Lettere, 11– 12, Brief 1 (23. Januar 1384):Voi avete mandato a dire que vi pare mile ani que sia carnasale: così pare ancue a me, e se pùe state pareme wue sia de non sufirire; mi pare esere sì pocho chamino que mi direbe el cuore se sevi e uno dì. Datini, Margherita: Letters, 31– 32, Brief 1: „You sent me a massage that seems to you a thousand years until it is Carnival time. I feel the same; if you can stay here a little longer once you get back, I don’t think it would do any harm. I would be suprised if [Pisa] were more than a day’s travel from here.“ Datini, Margherita: Lettere, 12, Brief 1 (23. Januar 1384). Datini, Margherita: Letters, 32, Brief 1. Zur Überlieferungssituation von Quellen aus weiblicher Perspektive: James (2010), 53. Datini, Margherita: Lettere, 11 f., Brief 1 (23. Januar 1384). Datini, Margherita: Lettere, 13, Brief 2 (vor dem 05. April 1384). Herlihy (1983), 116. Familie definiert sich laut Herlihy vor allem auch durch das Zusammenleben. Dies ist auch im vorherrschenden Ehediskurs dieser Zeit enthalten.
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erinnere Dich, wo Dein Zuhause ist.“⁵¹ Allmählich wird die Grenze zwischen den Dingen, die für eine Ehefrau ihrem Ehemann gegenüber sagbar sind und eben jenen, die unsagbar sind, unscharf und Margherita nimmt sich immer mehr heraus. Francesco nutzt hingegen seine Briefe, um die Lebenssituation bzw. seine Abwesenheit stets zu rechtfertigen – vermutlich nicht nur gegenüber Ehefrau und Haushalt, sondern auch gegenüber sich selbst. Er formuliert oft das Versprechen, dass sich die Lebenssituation bald wieder ändern wird. Für ihn stehen jedoch seine geschäftlichen Bestrebungen an erster Stelle,⁵² was möglicherweise ein weiteres unsagbares Kommunikationsthema ist, als solches aber nicht anhand der Briefe belegt werden kann. Auch Francesco verwendet institutionalisierte Redeweisen: „Möge es bald sein, denn ich esse nichts was ich mag, und die Sachen sind nicht wie ich sie mag, und die Schüsseln sind nicht schön.“⁵³ Und zuvor: „Ich sehe keine Möglichkeit hier meine Arbeit gut zu tun, wenn ich nicht drei Monate oder länger hierbleiben kann (…).“⁵⁴ Beide Zitate stammen aus demselben Brief vom 23. Februar 1384, formulieren aber sich widersprechende Absichten. Die so liebevollen Worte der Sehnsucht tragen zur Inszenierung des leidenden Partners und des gemeinsamen ehelichen Schicksals bei. Sie kollidieren jedoch mit der Rechtfertigung, sodass weitere Konflikte provoziert werden. Auch diese immer wiederkehrende Rechtfertigung, weshalb er fernbleibt, markiert etwas, dass nicht frei ausgesprochen werden kann. Es wäre vielleicht zu viel zu behaupten und kann auch nicht belegt werden, dass er nicht nach Hause kommen möchte und eben dies nicht sagen kann. Definitiv ist aber, dass er seine Prioritäten im kaufmännischen Bereich hat – nicht ungewöhnlich für einen Geschäftsmann. Auch ist auffällig, dass Francesco selbst nach 18 Monaten weiterhin dieselben Floskeln nutzt, um seinen vermeintlichen Wiedersehenswünschen Ausdruck zu verleihen.⁵⁵ Bei ihm
Datini, Margherita: Lettere, 18, Brief 6 (31. Juli 1385): Sollecitate, il più tosto che vo‘ potete, di venire: rachordavi di Chasata (…). Datini, Margherita: Letters, 41, Brief 7: „Try to come as soon as you can. Remember your home (…).“ Datini: Francesco di Marco: Lettere, 31, Brief 1 (23. Februar 1385): Io no vegio modo volere fare bene ch’a me non chonvengha istare que 3 mesi o pùe, e parmi sarà il meglio du tutti. Que farò qualche chosa e atenderò a fare e‘ fatti miei e dare ordine di quello ch’i‘ òe intendimento di fare. E pertanto a me par eil meglo che noi siamo qua tutti insieme che stare l’uno qua e l’atro chostà: in ongni luogho ispendiamo, e io istarei male qua e tue non bene chostà.Vgl. auch Datini: Francesco di Marco: Lettere, 36, Brief 2 (10. März 1385): Io penso a spaciarmi il pùe tosto ch’io potrò, e veronne chostà, e prenderemo partito di stare tue qua o venire a Pisa e rimanere chostà. I‘ òe tante chose a fare che l’una mi fa dimentichare l’altra: quando piacerà a Dio, sarà altro di noi. Datini: Francesco di Marco: Lettere, 33, Brief 1 (23. Februar 1385): Se voi non ci siete tosto, no mangio chosa che mi piaca, e non sono le chose a mio modo e lle schodelle non belle. Datini: Francesco di Marco: Lettere, 31, Brief 1 (23. Februar 1385): Io no vegio modo volere fare bene ch’a me non chonvengha istare que 3 mesi o pùe (…). Datini: Francesco di Marco: Lettere, 37, Brief 3 (04. August 1385): Se tue non ti chontenti di stare sanza me, chosì foe io di stare sanza te: chonviensi fate chosì alchuna volta pet lo meglo insino a tanto che no siamo pùe in ordine che ora non siamo, che sarà tosto se piace a Dio.
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ist kein Wandel im Duktus oder der Wortwahl zu erkennen.⁵⁶ Seine Ehefrau zeigt hingegen ein wesentlich breiteres Spektrum innerhalb der Kommunikation. Die Überschreitung der Grenzen des Sagbaren wird besonders in den rhetorisches Wendungen Margheritas deutlich, wenn sie ihrem Mann die Stirn bietet. Zu Beginn des Jahres 1386 ist aber auch eine andere kommunikative Transgression Francescos zu verzeichnen, die einen Bruch in der Kommunikation markiert und die zum dritten Aspekt der in einer Ehe der Unsagbarkeit unterliegenden Dinge zuzuschreiben ist: Beleidigungen. Auf zwei nicht erhaltene Briefe von Francesco, worin offenbar ein persönlicher Angriff an seine damals 26-jährige Ehefrau enthalten ist, antwortet diese am 16. Januar 1386 mit sehr deutlichen Worten: Du sagst mir, ich solle nicht für immer ein Mädchen sein und sagtest, dass wir entsprechend des Guten, das wir hier auf Erden tun, belohnt werden. Du hast recht. Es ist schon eine Weile her, dass ich ein kleines Mädchen war, aber ich möchte nun, dass du nicht der Francesco bleibst, den ich damals kennengelernt habe, jemanden, der nichts getan hat, als seinem Körper und seiner Seele zu drangsalieren. Du sagst ja, du predigst sogar, dass du ein tugendhaftes Leben führen willst, und jede Woche eines jeden Monats ist es die gleiche Geschichte. Du hast das seit zehn Jahren gesagt, und jetzt scheint es mir, dass du weniger als je zuvor ruhen willst. Das ist deine Schuld. Gott hat euch Wissen und die Kraft gegeben, um zu handeln und hat für euch getan, was er nicht für tausend andere getan hat. Du denkst, du kannst dich weiterhin mit Ehre und Profit beschäftigen, bevor du dich zu einem tugendhaften Leben bekehrst. Aber wenn du länger wartest, wirst du dieses tugendhafte Leben nie erreichen. Wenn du sagen möchtest: „Schaue die Schwierigkeiten, die mich jeden Tag ereilen, es gibt keine Flucht vor ihnen in diesem Leben.“ Dies sollte dich nicht daran hindern, ein Leben zu führen, das gut für die Seele und für den Körper ist. Ich habe einen guten Geist und kann denjenigen⁵⁷ verfluchen, der Schuld an deinem Geschäft in Pisa ist. Hierzu will ich nicht mehr antworten.⁵⁸
Margherita sagt, was eigentlich für eine idealtypische zurückhaltende Ehefrau unsagbar ist und somit erneut situativbedingt den Grenzen einer pragmatischen Kommunikation widerspricht. Hier vermischen sich die inkommunikablen Kommunikationsthemen: Kritik und Beleidigung des eigenen Ehemannes. Nachdem alles Datini: Francesco di Marco: Lettere, 31, Brief 1 (23. Februar 1385): Ma se tue non ti chontentàsi bene di venire, non chale mandare tante chose. Istarò qua insino a Pasqua, poi andrò e verrò chome a punto verrà. Vermutlich meint sie Francesco selbst. Datini, Margherita: Lettere, 21, Brief 9 (16. Januar 1386): Tu mi di‘ ch’io non sia sempre fanculla e che quello bene che noi faremo, quello ne porteremo: tu di‘ vero. E gl’è una buona peza che degli anni io usd del fanculla; ma io vorei che tu non fossi sempre Francescho, che tu se‘ istato, da poi ch’io ti chongnobi, che mai non à‘ fatto se non tribolare l’anima e poscia il corpo. Tu di‘, sempre predichi, che temi una bella vita, e ongni mese e ongni settimana deb’essere questo. Questo à‘ detto già è diece anni e ogi mi pari aconcio a me riposare, che mai: questo è tua colpa. Idio t’à dato il sapere e ’l podere e àtti fatto quello che non ta a mille huommi l’uno. Tu pensi di riuscire di questi tuoi fatti con onore, con utile innazi che pigli questa bella vita. Se tu tti indugerai tanto, mai questa bella vita tu non piglare‘, e se tu voi dire „Ghuarda le travers(i)a che mi venoghono tutto di, mai non si vive in questo mondo senz’ese“: questa non è la chagione che non ti facia tenere una bella vita per l’anima e per lo corpo; e mi verebe vogla di maladire chi c’ebe colpa che voi aveste a fare a Pisa. S(o)pra questa più non dico. Datini, Margherita: Letters, 44– 45, Brief 10.
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Unsagbare doch niedergeschrieben wurde, endet sie mit der Floskel, dass sie nichts mehr sagen will – woran sie sich jedoch nicht hält, da sie unmittelbar danach ihren Unmut über die Lebenssituation erneut zum Ausdruck bringt.⁵⁹ In dem Bewusstsein etwas Unkommunizierbares an ihren Ehemann zu schicken, formuliert Margherita vorsorglich eine Entschuldigung: „Wenn ich etwas gesagt haben sollte, dass dich verärgert, dann bitte ich um Vergebung. Meine große Liebe lies mich dies sagen.“⁶⁰ Zunächst ignoriert Francesco weitgehend die Ausführungen seiner Ehefrau und schreibt nur, dass ihr Brief wohl formuliert sei, was er durchaus ironisch meint.⁶¹ Dies versteht sie als Kompliment, auch wenn sie sich unsicher ist, ob er es so meint,⁶² woraufhin er dies in einem weiteren Brief wiederholt und genauer sagt, was er eigentlich sagen wollte. Gleichzeitig macht er deutlich, dass seine junge Ehefrau etwas gesagt hat, was sie besser nicht hätte sagen sollen: Gestern hast du einen Brief geschrieben und ich antwortete dir zweimal; und das eine und auch das andere Mal sagte ich dir, dass ich Angst hatte, dass der Brief nicht von anderen für sie diktiert wurde, und auch die vielen anderen Dinge, die du sagtest. Bis dahin habe ich mit deinem Brief geholfen, und ob man dir gut diktierte, das andere ist besser, als das, was ich jetzt sehe und was du tust, auf der einen Seite ist es ein großer Genuss und auf der anderen Seite habe ich große Trauer. Und wo ich große Freude habe ist, dass Gott so viel Güte hat, dir so viel Wissen zu geben um solche Dinge zu sagen; aber ich habe auch große Angst, dass du in den Tod genommen wirst, weil du so vulgär sprichst wie ein Bengel, von dem man sagt, wenn er das tut oder sagt, dass er aus der Form geraten ist und Dinge sagt, die über sein Alter hinausgehen, und man sagt: „Sicherlich hat dieser Bengel nicht lange zu leben“; so oder so ähnlich sagen es viele Menschen. Und deshalb ist dieser Brief aus der Form einer jungen Frau wie du es bist, und ich möchte bezweifeln, dass du
Datini, Margherita: Lettere, 21– 22, Brief 9 (16. Januar 1386): Chom’io mi contrenterei di venire chostà, voi sapete bene i ragonamenti ch’abiamo auto insieme più volte, perch’io non me ne chontenteri potrebe eserre tanta la stanza vostra che d’io no‘ mi chontenterei punto di rimanere: e sopra quest aparte non chare più dire. Datini, Margherita: Letters, 45, Brief 10: „You well know that I would be glad to come there, given the many discussions we have had about how unhappy I am about you staying there while I remain here. It is pointless to talk about this any further.“ Datini, Margherita: Lettere, 21 f., Brief 9 (16. Januar 1386): S’io avessi detto chosa che vi dispiacesse, prieghovi che mi perdoniate: grande amore me lo fae dire. Datini, Margherita: Letters, 45, Brief 10. Datini: Francesco di Marco: Lettere, 40, Brief 5 (19. Januar 1386): Ieri ricevetti una tua lettera, la quale fue molto bene dettata. Non so donde si vengha questo fato: fami entrare in pensieri se avesi veruno amicho che cò t’insengni chosi bene dire. Ora io non ò agio di scrivere e pertanto dirò brieve. Siehe außerdem Datini, Margherita: Letters, 48. In Fußnote 9 gehen die Editoren ebenfalls auf diesen Brief ein und interpretieren ihn so, dass Francesco nicht die Formulierungen, sondern die Handschrift desjenigen meint, der den Brief für Margherita aufgeschrieben hat. Dem kann nicht zugestimmt werden, wenn man den folgenden Brief miteinbezieht. Hier zeigt sich, dass die Paarbriefe nur zusammen unter Berücksichtigung ihres Wechselspiels zu verstehen sind. Datini, Margherita: Lettere, 23, Brief 10 (20. Januar 1386): Voi dite, per una lettera ch’io vi mandai, fu chosì bene dettata: non so se ’l dite per lo chontradio; se gl’è chosl, mi piace. Datini, Margherita: Letters, 47, Brief 11: „You say that the letter I sent you was well composed. I don’t know if you mean it, but if so, I am pleased.“
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ein Wunder vollbringen und dem Tod ausweichen kannst. Was du mir schreibst ist genauso wahr wie das Vater Unser.⁶³
Diese Zeilen sollen Margherita in ihre Schranken weisen und sie zur Rückkehr zum für eine Ehefrau schicklichem Verhalten bewegen. Es stellt für sie jedoch eine Beleidigung dar. Einmal Gesagtes kann nicht mehr zurückgenommen werden und es bahnt sich eine Eskalation an, die das gesamte Kommunikationssystem gefährdet. Eindrucksvoll zeigt sich dies am 23. Januar 1386, als Margherita auf den Vorwurf ihres Ehemannes, der ansonsten nicht auf ihre vorherigen Angriffe eingeht, reagiert, dass sie ihren vorherigen Brief nicht selbst verfasst hätte, denn dieser wäre zu schön formuliert gewesen: (…) Ihr müsst mich für noch geringer achten, als ich es wusste, dass ihr glaubt, dass ich meine Briefe nicht selber verfasse. (…) Francesco, ich weiß, dass ich euch zu viel geschrieben habe und mir euch gegenüber zu viel herausgenommen habe, als ich euch die Wahrheit sagte. Wäre ich euch zur Seite gewesen, hätte ich den Mund nicht so weit aufgemacht (…). Ich habe doch ein wenig Blut der Gherardini, auch wenn ich mich dessen wenig rühme; aber ich weiß nicht, von was euer Blut ist!⁶⁴
Im Grunde sind hier alle Punkte des Nicht-Sagbaren konzentriert: Kritik am Partner und an der Lebenssituation sowie schlussendlich die rhetorisch geschickt formulierte Beleidigung, die den Ehemann an seine niedere Herkunft erinnern und Margherita gleichzeitig aufgrund des adligen Blutes erhöhen soll. Hinzu kommt die paradoxe Situation zwischen eigentlich angemessenem Schweigen und dem tatsächlichen Aussprechen der Wahrheit, dessen sich die junge Ehefrau offensichtlich sehr bewusst ist. Ebenso hervorzuheben ist die Wendung, dass sie den Mund zu weit aufgemacht
Datini: Francesco di Marco: Lettere, 41 f., Brief 6 (22. Januar 1386): Ieri ti scrisi una lettera e rispuosi a una auta da tte due volte; e per l’una e per l’altra ti disi chome io temeva che lla lettera non fòse dettata per altri che per te, e dìsiti molte altre chose. Di che da poi i‘ òe auta tua lettera, e se l’una fue bene dettata, l’altra è via melglo, di che io veggio ora di certto ch‘ ella fue detta per te, di che ò grande piacere d’una partte e d’altra partte ò grande dispiacere. E dirotti chome i‘ òe grande piacere che Idio t’abia data tanta bontà che tue sappi tanto di bene chome a dire simily chose; ma i‘ òe grande paura che tue no sia prèso alla mortte, in però ch’egl’è uno volghare che quando uno fan cullo fae o dice chose che a lui sia fuori di forma secondo la sua giovaneza, e l’uomo dice „di certto questo fan cullo no dèe vivere“; chosì, per simile modo, si dice di molte persone. E perché questa lettera è fuori d’una forma da femina giovane chome se‘ tue, e no ilo ài achostumato, dubito che tue vorai fare miracholi l prèso alla tua mortte. Or chome ch‘ ella di quanto mi scrivi è vero chome il patarnostro (…). Datini, Margherita: Lettere, S. 26, Brief 11 (20. Januar 1386): (…) voi mi tenete un da pocho, ch’io non chredea che io facessi dettare mie lettere a llui. (…) Francescho, io chonoscho ch’io v’ò scritto troppo largho e ò mostrata troppa signoria in chontra voi di dirvi il vero; se vi fosse a lato are‘ favelato cholla bocha più picholina. (…) i‘ ò pure un pocho del sanghue de Gherardini, che me ne pregio assai di meno; ma io non so chonoscere il sanghue vostro! Datini, Margherita: Letters, 50, Brief 12: „You very much underestimate me in thinking that I would get him to compose my letters. (…) ,Francesco, I acknowledge that I have written to you too freely and have demonstrated too much independence from you in telling you the truth. If you were here beside me, I would not have spoken so boldly(…) I may have a hit of the Gherardini temper, not that I’m proud of that, but I cannot work out yours!“
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hätte. Es beinhaltet das physische Bild des Nicht-Redens, des geschlossenen Mundes. Es ist die deutlichste und expliziteste Unsagbarkeit, die sich in den Briefen der Datinis ausmachen lässt und nur auf der Seite der Ehefrau zu finden ist. Begründet ist dies im Ideal der Ehefrau, die ihrem Mann folgt, was somit auf den betreffenden zeitgenössischen Diskurs rekurriert. Dies stellt eine entscheidende Zäsur auf der abstrakten Ebene dar, auf der das System Ehe entsteht. Margherita muss sich im Laufe der Kommunikation mehrfach auf diese Weise entschuldigen, wenn sie nach der erfolgten Transgression wieder in beziehungsflechtende und stärkende Kommunikation zurückkehren möchte. Aber auch Francesco muss sich entschuldigen, um das konjugale Band zu seiner Frau zu reparieren, nachdem er sie zu oft vertröstet hat: Noch nie warst Du über etwas so glücklich, wie Du es bei meiner Heimkehr sein wirst. Es hat Gott gefallen, mein Herz zu erweichen in vielen Dingen, die Dir Verdruss bereitet haben. Und Du hattest recht und ich widersprach Dir nie.⁶⁵
Dies schreibt er nach mehreren harschen Angriffen seiner Frau und zahlreichen Rechtfertigungen seiner Abwesenheit. Das Nicht-Widersprechen ist ebenso eine Form des Nicht-Sagens. Sozusagen eine rückwirkende und vor allem eine besondere in der Paarbeziehung, da er sich unterordnet. Dies mag darin begründet sein, dass er nach zahlreichen Entgrenzungen des Sagbaren nun viel investieren muss, um das Band wieder stärken zu können. Dabei vertrauen jedoch beide – vermutlich intuitiv – darauf, dass ihre Ehe als System funktioniert, was ihnen erst ermöglichte an die Grenzen des Sagbaren zu gehen, um das konjugale Band dann wieder zu reparieren und das System zu reproduzieren.
5 Schluss Es galt, die eingangs formulierte These, dass die Überschreitung der Grenzen des Sagbaren in einer Kommunikation unter Eheleuten durch Konflikte verursacht wird, auf die Probe zu stellen und zu zeigen, wie diese markiert werden. Hinzu kam der sprachliche Umgang mit dem Ausgesprochenen, welches das System ‚Ehe‘ bedroht, wodurch zum einen gezeigt werden konnte, dass es Formulierungen gibt, die Intimität und eheliche Verbundenheit codieren. Vielmehr jedoch zeigten die Quellenbeispiele, dass diese Konstruktion gefährdet wird, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt. Zum individuellen Kommunikationssystem der Datinischen Ehe gehört es ebenso, dass es eine spezifische Sprache der Unsagbarkeit gibt, welche sich zwischen den beiden entwickelt hat; sie bewegt sich zwischen Individualität und der rhetorischen
Datini: Francesco di Marco: Lettere, 44, Brief 8 (15. April 1386): Mai non fosti sìe contenta di pareche chose chome sarai della mia tornata, s’a Idio piace. De l’esere io bene disposto di pareche chose, di che giàe à‘ ’uto asai dispiacere, e ài auto ragione, e io non ti disi mai il contradio (…).
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Tradition der Quellengattung Brief. Konflikte verursachen oder führen zu kommunikativen Grenzüberschreitungen. Es gibt absichtliche und unabsichtliche Grenzüberschreitungen in der Kommunikation, welche jedoch immer auf die Diskurse der pragmatischen Kommunikationsebene rekurrieren. Ohne dies könnte nicht zwischen sagbar und unsagbar differenziert werden. Dies macht die Entgrenzung des Sagbaren in dieser Korrespondenz an sich zu einem rhetorischen Mittel, welches gezielt von den Kommunikationspartnern eingesetzt⁶⁶ werden kann. Jedoch ist dies nicht eindeutig systematisiert oder institutionalisiert und unterliegt innerhalb der Konversationsebene einer hohen Individualität sowie Situationsabhängigkeit. Hier erhalten die Verweise Margheritas und Francescos auf die Normen und Handlungsmaxime ihrer Zeit eine hohe Bedeutung, da diese ermöglichen das Fallbeispiel in einen historischen Gesamtkontext und in die Diskurse der Zeit zu verorten. Solche Konflikte bedeuten jedoch nicht, dass die Kommunikation grundsätzlich gescheitert ist, vielmehr gibt es zu viel Kommunikation mit dem Gesagten, das nicht sagbar gewesen wäre. Dies muss korrigiert werden und durch die Berichtigung wird erst deutlich, dass etwas Unsagbares gesagt wurde. Das kommunizierte Unsagbare muss wieder zurückgenommen oder auch zur ‚Ungesagtheit‘ zurückgeführt werden. Es muss möglich sein, danach wieder im Rahmen des Codes und auf der Ebene der Intimität zu kommunizieren, damit das eheliche Band gepflegt, repariert und wieder gefestigt wird. Die Wahrscheinlichkeit einer weiteren erfolgreichen Kommunikation und damit der Erhalt des konjugalen Bandes sind ansonsten gefährdet. Die Unsagbarkeit ist also nicht immer im Kommunikationsakt fassbar. Es handelt sich vielmehr um eine implizite, paratextuelle Unsagbarkeit, die den Text bedingt. Nur über diesen und über die beschriebenen Markierungen wird die Unsagbarkeit des Gesagten sichtbar.⁶⁷ Sowohl Francesco als auch Margherita ignorieren oder manipulieren regelmäßig diese Grenzen, um Gefühlen und Meinungen Ausdruck zu verleihen oder den Partner anzugreifen. Schlussendlich wird die Beziehung doch wieder entsprechend des Luhmannschen Ansatzes intensiviert und für folgende Kommunikation vorbereitet sowie Anschlussfähigkeit hergestellt. Kommunikation, die bereits erfolgreich war, wird erneut genutzt.⁶⁸ Hierauf vertrauen die Akteure intuitiv. So kann eine erfolgreiche Kommunikation trotz der besonderen Situation des Getrenntlebens dennoch gewährleistet werden und das System Ehe erfährt stets eine Bestätigung, Rekonstruktion und Strukturierung, wodurch es erst den Bedürfnissen, Erwartungen und Anforderungen der Datinischen Kommunikation gerecht werden kann.⁶⁹ Dies geschieht oftmals abweichend von den Diskursen, jedoch muss stets zu diesen zurückgekehrt werden. Somit erfüllt die Unsagbarkeit in gewisser Weise auch eine gesellschaftliche und soziale sowie regulierende Funktion, die zum Erhalt einer Ehe beiträgt.
Glauch (2003), 150. Habermann (2012), 13. Luhmann (1994), 154– 155. Luhmann, (1998), 316 – 318. Luhmann (1994), 217.
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Laura Gemsemer
All’acqua all’acqua, ché il foco s’accende! Versprachlichung von Liebe, Begehren und Koitus in Boccaccios Ninfale fiesolano Einleitung ‚Warum ist es so schwer, über Sex zu reden? Ich meine, wir alle tun es, aber keiner spricht darüber. […]‘ ‚Vielleicht, weil es keine guten Wörter gibt?‘ […] ‚Du hast recht. Es ist wie eine Sprache, die wir nicht beherrschen. […] Warum hat uns das niemand beigebracht?‘¹
Sprachphilosophisch betrachtet ist ‚Liebe‘ nur ein Wort. Seine Bedeutung entsteht im Gebrauch,² d. h. im Reden, Schreiben, Singen etc. über die Liebe, wobei ‚Liebe‘ im Grunde stellvertretend für ein komplexes Semantisierungs- und Diskursvierungsfeld steht, über das in der Regel in einem pars pro toto-Verhältnis gesprochen wird: Erotik, Begehren oder Intimität sind ebenso sehr Teile des Ganzen wie Freundschaft oder Caritas Teile davon sind. Aber auch das Sprechen über und der Vollzug von Sex innerhalb dieses soziokulturell ebenso kodierten wie wandelbaren Feldes sind grundlegende Teile des Ganzen. Bei der ebenso oft konstatierten wie unterlaufenen (Un‐) Sagbarkeit der Liebe handelt es sich dagegen um ein Diskursivierungsproblem, und das Schreiben darüber begründet einen ganz eigenen Diskurs, der sich aus dem umfassenderen Liebesdiskurs kaum mehr lösen lässt.³ Inwiefern (nichtfigurative) Unsagbarkeit in (figurative) Anderssagbarkeit umschlagen kann, wodurch die Unsagbarkeit zugleich negiert und bestätigt wird, wird Teil der folgenden Untersuchung sein. Die folgende Analyse widmet sich den verschiedenen Modi im Sprechen über Liebe am Beispiel von Giovanni Boccaccios (1313 – 1375) Ninfale fiesolano. Im Vordergrund stehen die Topoi und Tropen, die ein Autor wie Boccaccio, der bis heute vor allem als Verfasser erotischer Novellen bekannt ist, aktiviert, transformiert und kreiert, um das Entstehen von Liebe und den Ausdruck von Begehren bis hin zum Koitus
Dieser Aufsatz steht im unmittelbaren Kontext meiner Doktorarbeit im Rahmen des Exzellenzclusters 264 Topoi. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations und der Forschergruppe C-2 Space and Metaphor in Cognition, Language, and Texts. Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich für die Unterstützung bedanken. Freytag (2017), 119 f. Vgl.Wittgenstein (2001), aber auch Nobelpreisträger Bob Dylan mag hier mit seinem Song Love is just a four letter word augenzwinkernd zitiert werden. Vgl. z. B. den Band Neuhaus (2012). Darin etwa: Jahraus (2012). Vgl. außerdem grundlegend Barthes (1977) und Kristeva (1983). https://doi.org/10.1515/9783110628920-007
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zu verbalisieren. Ein besonderes Augenmerk soll darauf liegen, ob oder inwiefern diese partiellen Ausdrucksweisen der Liebe sich voneinander unterscheiden, ob Unsagbarkeit hierbei eine Rolle spielt oder nicht und inwiefern die Kategorie der Anderssagbarkeit als Modus der Unsagbarkeit oder doch eher der Sagbarkeit zu verstehen ist.
Texteinführung Boccaccios Fiesolanische Nymphendichtung ⁴ ist wahrscheinlich zwischen 1344 und 1346⁵ entstanden. Das 473 Oktaven lange und in 34 Episoden geteilte, sich zwischen verschiedenen Genres bewegende, sich mal tragisch, mal komisch und stets allusiv gebende pastorale poemetto (Kurzepos) erzählt zum einen die tragische Liebe zwischen der Nymphe Mensola und dem jungen Schäferssohn Africo und stellt sich zum anderen sowohl in textgenerierender als auch in thematischer Hinsicht in die direkte Tradition der Metamorphosen Ovids, indem es diese nicht nur intertextuell verarbeitet, sondern auch die Entstehung von Fiesole und seiner unmittelbaren Landschaft oberhalb von Florenz erzählt. Ursprungsmythos und Liebesgeschichte sind in doppelter Hinsicht eng miteinander verwoben: zum einen genealogisch, insofern der aus der Liebesbeziehung hervorgehende Sohn zur Gründung der Stadt Fiesole beiträgt, zum anderen in allusiv-ätiologischer Hinsicht, da die sterbenden Liebenden entweder namentlich (Africo) oder körperlich (Mensola) als Flüsse in die fiesolanische Landschaft eingehen. Außerdem wird der Übergang von einer mythisch-paganen Vorzeit zu einer neuen Ordnung erzählt, nämlich der des Christentums.⁶
Die einzige mir bekannte Übertragung ins Deutsche übersetzt den Titel mit Die Nymphe von Fiesole. Es handelt sich um eine von Rudolf Hagelstange (1957) vorgenommene Nachdichtung. Vgl. Ricci (1985) oder Balduino (1974). Angemerkt sei an dieser Stelle, dass ein tragischer Ausgang von Liebe ohne Heirat, wie ihn die Handlung des Ninfale fiesolano inszeniert (Mensola will nicht heiraten, sie fühlt sich Diana gegenüber verpflichtet) und gerade durch diesen tragischen Ausgang das Entstehen (Mensolas Bestrafung durch Diana) oder die (Um)Benennung von Landschaft (Africos Selbstmord), nach diesem Ordnungswechsel zum Christentum nicht mehr möglich ist. Nun müssen die Nymphen heiraten, nachdem sie ‚erjagt‘ wurden. Die unchristliche, d. h. uneheliche Lebensweise wird im wahrsten Sinne des Wortes als Fundament für das Entstehen von Zivilisation und (christlich-ehelichem) Zusammenleben inszeniert: Die (neue) Ordnung entsteht aus der Unordnung. Den Nymphen bleibt jedoch in beiden Systemen wenig Entscheidungsfreiheit, da es der Mann ist, der sie gewaltsam erobert – ob er sie danach nun heiratet oder nicht.
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I Sprache der Liebe Von Amor inspiriert Boccaccios Ninfale fiesolano beginnt mit der Überschriftsrubrik „Es beginnt das Buch genannt Ninfale, und zuerst zeigt es den Macher, dem zu machen dieses Amor Ursache ist.“⁷ Es ist Amor, der als „Ursache“ für das Entstehen des Buches angegeben wird. So beginnt das Proömium als Rahmen zur folgenden Erzählung direkt mit der Anrede des Erzählers an Amor, der ihn „sprechen macht“, ihn „führt und leitet“, ihm das Folgende „induziert“ und den Erzähler „zwingt/nötigt, eine amouröse Geschichte zu erzählen, die sehr alt ist.“⁸ Gott Amor wird folglich von Anfang an als Wortgeber und das poemetto als (amourös) inspiriert inszeniert. Amor wird außerdem durch das Verb sforzare ⁹ als eine Macht eingeführt, die zu Handlungen zwingen kann. Hier beginnt bereits die im Folgenden näher zu betrachtende Isotopie der Liebe bzw. des Begehrens als Jagd, welche sich durch die figura etymologica um die Verben sforzare und fuggire strukturiert. Die ersten zwei Oktaven richten sich zunächst an ein anonymes Publikum, das erst ab der dritten Oktave näher definiert wird. Diese nunmehr direkt an ein Publikum gerichtete Vor- und Anrede springt von der 4. zur 5. Oktave nahtlos in den Beginn der mythisch/a-temporalen Vorgeschichte Fiesoles und lässt die Nymphendichtung mit einer chronotopischen¹⁰ Landschaftsbeschreibung der Gegend „noch bevor Fiesole erbaut wurde“ beginnen: Noch bevor Fiesole erbaut wurde / aus Mauern oder aus Zäunen oder aus Festungen / wurde es von sehr wenigen Leuten bewohnt: / und diese Wenigen hatten die (An)Höhe eingenommen / der umliegenden Hügel, und verlassen / war die Ebene wegen der Rauheit / der vielen Wasser und weiten Seen, / die am Fuße der Berge einen großen Fluss machten (V,1– 8).¹¹
Comincia il libro chiamato Ninfale e primamente mostra il facitore che di far questo gli è cagione Amore. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, 639. Die Überschriftsrubriken werden im Folgenden mit der Seitenzahl nach der von Mario Marti hrsg. Ausgabe des Ninfale fiesolano von 1971 zitiert, während die einzelnen Verse mit Angabe der Oktave (in römischen Ziffern) und des Verses (in arabischen) zitiert werden. Bei den Übersetzungen aus dem Italienischen handelt es sich um eigene Arbeitsübersetzungen. Amor mi fa parlar […] Amor è que’ che mi guida e conduce […] Amor è que’ ch’a far questo m’induce […] Amor è que’ che mi sforza ch’io dica / un’amorosa storia molto antica. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, I,1II,8. Das Verb sforzare betont dabei den Aspekt von Kraft oder Stärke (forza) in der Nötigung oder dem Zwingen (sforzare), rein semantisch geht es um ein Überwältigen durch Kraft. Der Begriff des Chronotopos – die Raumzeit – stammt von dem russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin und bezeichnet das Ineinandergreifen von Raum und Zeit in literarischen Texten. Vgl. dazu etwa Bachtin (2008). Prima che Fiesol fosse edificata / di mura o di steccati o di fortezza, / da molto poca gente era abitata: / e quella poca avea presa l’altezza / de’ circustanti monti, e abbandonata / istava la pianura per l’asprezza / della molt’acqua ed ampioso lagume, / ch’a pié de’ monti faceva un gran fiume. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, V,1– 8. [Hervorh. L.G.]
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Dieses Setting wird zusätzlich topologisch markiert, indem der höchste und der niedrigste Punkt des folgenden Geschehens benannt werden. Erwartet man nun jedoch eine nähere Zeitangabe, so bleibt diese unbestimmt, und es folgen bloß vage Formulierungen im Sinne von: ‚Es war einmal …‘ Wann genau, bleibt offen.¹² Die einleitenden Verse der Nymphendichtung zeichnen sich folglich durch eine Asymmetrie zwischen konkreter, geographischer Ortsangabe und landschaftlichen Details auf der einen und ins Sagenhafte gleitender Atemporalität auf der anderen Seite aus. Es war also zu jener Zeit, als – so geht es im Text weiter – die Götter des (wörtlich:) „falschen Glaubens“ herrschten (bzw. sinngemäß: des Aberglaubens). Diese Götter werden in Anlehnung an Dante¹³ als schuldbeladen, lügnerisch und sündig betitelt,¹⁴ wodurch eine moralisch-ideologische Distanz des Erzählers zu allem Folgenden markiert wird. Rahmen- und Binnenerzählung driften dadurch einerseits in ihrem Realitäts- und Referenzstatus auseinander, andererseits wird hierdurch eine Ambivalenz – und ich schlage erneut den Begriff der Asymmetrie vor – in Bezug auf den als Indukteur der Fabel eingeführten Amor erzeugt.¹⁵
Visio amoris: Liebestopoi (Erste Begegnung) Die Sprache der Liebe ist eine Sprache der literarischen Tradition, der Topoi und der topischen Metaphern; auch im Ninfale fiesolano. Hierzu gehört auch, dass die Entstehung von Liebe über die Augen verläuft.¹⁶ Konsequenterweise ist Africos erste Begegnung mit den Nymphen Dianas, zu denen auch Mensola gehört, eine rein visuelle. So ist die visio derjenige Sinn, der in den Oktaven 24 und 25 durch die wiederholte Wortwahl des Erzählers von vedere (sehen) und mirare (betrachten/bewundern/zielen) nach dem ersten akustischen Eindruck betont wird,¹⁷ bevor in 26 dem deutlich als Voyeur markierten Africo eine Nymphe „vor die Augen läuft“. Während
Zweimal heißt es „Es war zu jener Zeit“ / Era ’n quel tempo, und ein weiteres Mal „zu jenen Zeiten“ / in que’ tempi. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, V,1, XVIII,1 u. VII,1. Vgl. auch nel tempo de li dèi falsi e bugiardi. Dante, Inferno, I,72. Era ’n quel tempo / la falsa credenza / degl’iddii rei, bugiardi e viziosi. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, VI,1– 2. Ich lese rei als Adjektiv pl. von reo, abgeleitet von lat. reus, also hier etwa schuldbeladen, aber auch angeklagt. Boccaccio ergänzt das Dante-Zitat um einen moralisch-juristischen Begriff. Diese interessante Änderung ließe sich hinsichtlich Boccaccios Narrativ vom Ordnungs- oder Systemwechsel lesen. Die Asymmetrie fungiert auch in anderer Hinsicht als generisches Strukturelement, so etwa, wenn das poemetto zwischen Ursprungsmythos qua pastoraler und von Liebesgöttern gelenkter Liebesbegegnung und sehr realistischen Beschreibungen von Landschaft oder lokalem Hausbau oszilliert. Für Letzteres ist dieser Text übrigens bekannt.Vgl. Hernández Esteban (1997).Vgl. zu diesen Aspekten auch weiter unten Anmerkung 25. Vgl. etwa A. Capellanus, De Amore. Vgl. vor allem auch Cline (1972) oder Camille (1998), Newman (2005). Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XXIII,7– 8; XXIV,1– 6; XXV,1– 3.
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Africo ihr „ins Gesicht sieht“, merkt er, dass Amor ihm ihretwegen „das Herz beißt“ und ihn die Liebesfackeln spüren lässt: Schon packt ihn das Seufzen und Sehnen und er kann sich nicht mehr „sättigen“, die Nymphe zu „betrachten“.¹⁸ Auch hier dominiert das Wortfeld um ‚Sehen‘ die Oktave, doch kommt nun Amor als Liebesgewalt hinzu, und mit ihm die Attribute des Gottes, hier die amourösen Fackeln, die Africo ‚entzünden‘ und in ihm die ersten sich als Seufzer äußernden Symptome der sogenannten Liebeskrankheit¹⁹ verursachen. Bemerkenswert ist dabei die Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks wie mirare, dem es im Italienischen gelingt, den Topos von Amors Pfeilen, die durch die Augen ins Innere des Liebenden dringen, in einem Wort zu verdichten, wenn mirare sowohl ‚zielen‘ als auch ‚sehen‘/‚betrachten‘ bedeutet. Nel viso mirando liest sich dann ebenso sehr als „ins Gesicht blickend“ wie „ins Gesicht zielend“, nur dass Africos Blicke/sein Zielen offenbar keine Wirkung bei der Nymphe zeigen, sondern nur seine eigene Verliebtheit bewirken, womit der klassische Topos wortspielerisch unterlaufen wird. Africos Verlieben wird außerdem von einer weiteren chronotopischen Asymmetrie gerahmt: Obwohl der Erzähler einen konkreten Monat nennt, nämlich den Mai, wird auf diese Art lediglich die klassische Liebesjahreszeit toposgerecht betont, wenn zugleich die Blumenwiesen oder die Nachtigallen und deren Liebesgesänge Erwähnung finden.²⁰ Der Ort wird stattdessen historisch-geographisch durch die Nennung der Quelle fixiert, die sich, so heißt es, noch immer am Fuße des ebenfalls benannten (und tatsächlich historischen) Berges Cécer befinde.²¹ Geographisch ist das poemetto eindeutig in der (innerfiktionalen) Gegenwart des Erzählers und zum Teil sogar des Autors verortet.²² Zwar scheint die Handlung zeitlich zunächst klar markiert, doch ist die Zeitangabe im Grunde bloß kanonisierter Topos der Liebesliteratur. Quelle, Mai und Nachtigallen sind unabdingbare Requisiten des amoenen Settings,²³ während eine temporale Präzisierung ausbleibt. Ebenso toposgerecht ist Africos Schmachten
Africo, stante costoro ascoltando, / fra l’altre una ninfa agli occhi li corse, / la qual alquanto nel viso mirando, / sentì ch’Amor per lei il cor gli morse / sì, che gli fé sentir già sospirando, / le fiaccole amorose: ché gli porse / un sì dolce disio, che già saziare / non si potea della ninfa mirare. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XXVI,1– 8. Bekannt als amor hereos oder aegritudo amoris. Vgl. hierzu grundlegend Livingston Lowes (1914), der als Wiederentdecker dieser Thematik gilt. Für den italienischen Kontext ist Dino del Garbos Glosse von Guido Cavalcantis Donna mi prega besonders wichtig. Vgl. dazu Quaglio (1964) oder Usher (2004). Era ’n quel tempo del mese di maggio, / quando i be’ prati rilucon di fiori, / e gli usignuoli per ogni rivaggio / manifestan con canti i lor amori. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XVIII,1– 4. Intorno ad una bella e chiara fonte […] la qual ancor dimora a piè del monte […] e fonte Aquelli è oggi nominata. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XIX,1– 6. Wie fiktiv der Hinweis auf die fonte Aquelli ist, muss ungeklärt bleiben. Eine solche Quelle kann heute nicht eindeutig identifiziert werden. Vgl. die Anmerkung von María Hernández Esteban in ihrer Übersetzung von 1997: Boccaccio, Las Ninfas de Fiésole, 56. Neben dem Berg Cécer sind sowohl Africo und Mensola als auch Mugnone (zu Mugnone vgl. S. 132) tatsächlich reale Gewässernamen der Gegend um Fiesole. Vgl. Klein (2011).
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petrarchesker Prägung,²⁴ die auftretenden Symptome der Liebeskrankheit (Seufzen, Schlaflosigkeit etc.) und die Charakterisierung Mensolas in stilnovistischen Gemeinplätzen als „blond und schön, weich, weiß, engelsgleich und anmutig“²⁵. Africos Liebesleiden, das als Martyrium bezeichnet wird – und das Wort martire fällt mindestens 15 Mal –, wird durch die Nachfrage der Eltern, was ihm denn geschehen sei, außerdem in eine ironisierend religiöse Richtung gerückt, wenn Africo über einen Schmerz in der Seite klagt, quasi eine Seitenwunde, die er sich angeblich bei einem Fall zugezogen habe.²⁶ Dieses Motiv wird später immer wieder von der Mutter aufgegriffen.²⁷ An dieser Stelle wird auch Unsagbarkeit auf eine sehr physische Art und Weise erstmals Thema, versichert Africo seiner Mutter doch, der Schmerz werde beim Sprechen größer, weshalb er schweigen müsse.²⁸ Africos Liebesleid äußerst sich hier wie auch im Folgenden im Rahmen bekannter Motive und Redeweisen und hebt sich höchstens dadurch hervor, dass es immer wieder ins Komische und Ironische kippt. Diese Komik entsteht einerseits gerade durch die zeit- und systemgerechte Sprache, die hyperbolisch gebrochen und damit subkutan ironisiert wird, und andererseits nicht zuletzt durch den augenzwinkernd metamorphischen Ton des poemetto, letztlich also durch die Ovid-Allusionen. So schreitet Africos Martyrium etwa fort und „schon war die rote Farbe geflüchtet / aus
Ausrufe wie lasso a me / „Ich armer“ (XXXI,5 oder XXIV,1) oder tapino / „Elender“ (XXXIV,4 oder XXXVII,6) häufen sich, Liebesfeuer plagt Africo (mi cresce più l’ardore, XXXVI), und weitere Symptome der Liebeskrankheit wie Gedankenfülle (pien di molti pensier […] così pensoso, XXXVIII,2,5) oder Schlaflosigkeit (XXXIX), aber vor allem erneut das Seufzen (sospirando, z. B. XXXI), machen sich vermehrt bemerkbar. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano. Sprachlich wird vor allem mit dem Ausruf lasso a me auf die Lyrik von Boccaccios Zeitgenossen Petrarca angespielt. ‚E tu sola, fanciulla, bionda e bella / morbida, bianca, angelica e vezzosa, / con leggiadro atto e benigna favella, / fresca e giuliva più che bianca rosa / e risplendente più ch’ogni altra stella, / se’, che mi piaci sopra ogni altra cosa, / e sola te con disidèro, bramo, / e giorno e notte ed ognora ti chiamo.‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CXLI,1– 8. Interessant und charakteristisch für Boccaccios Fiesolanische Nymphendichtung ist dabei, dass der Erzähler den Gemütszustand seines liebenden Protagonisten zunächst toposgerecht und ausgiebig beschreibt, um dann den Blick auf die Schlaflosigkeit und das Bett, indem Africo liegt, zu nutzen, um eine sehr realistische und sogar das Material der Wände fokussierende Beschreibung des Hauses (in XL und XLI), in dem Africo mit seinen Eltern wohnt, folgen zu lassen. Innerhalb der 41. Oktave folgt nun auf die wie oben bereits mehrfach gesehene Präzision des Räumlichen oder Örtlichen eine dem diametral entgegengesetzte Zeitangabe. Zurückkehren will der Erzähler nun, und zwar zurück vom lokal-häuslichen Kolorit der letzten Zeilen zu Africos (Liebes‐) Schmerzen, da dieser Mensola einen ganzen Monat lang nicht wiedergetroffen habe, obwohl er genug andere Nymphen gesehen habe.Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLI,5 – 8. Die Asymmetrie zwischen Zeit und Raum setzt sich fort und äußerst sich hier in einem Zeitsprung. ‚Madre mia, quando tornava, / istaman, caddi, e tutto mi fiancava. // Poi mi rizzai, e rimasemi al fianco / una gran doglia […].‘, Boccaccio, Il Ninfale fiesolano CXXXV,7-CXXXVI,2. Vgl. etw. Boccaccio, Il Ninfale Fiesolano, CXXXVIII,8, CLI,4, oder CLIII,8. ‚[…] ché ’l favellar mi dà gran penitenza […] che ’l più parlar m’è velenoso tosco.‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano CXXXVII,4– 8. Im Text außerdem etabliert durch weitere Aussagen der Mutter.Vgl. Boccaccio, Il Ninfale Fiesolano, etw. CXXXVIII,7 oder CLIII,8.
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dem schönen Gesicht, und mager geworden […] und verwandelt hatte ihn der Schmerz so sehr / dass man ihn kaum wiedererkannt hätte“.²⁹
Visio Amoris et Veneris. Traumnarrative Traum- und Visionspassagen sind ein weiteres und nicht nur bei Boccaccio immer wiederkehrendes Narrativ, das ich zum einen einer Sprache und zum anderen einer zeitspezifischen Rahmung der Liebe(sgötter) zuordnen würde. Spätestens seit dem Roman de la rose werden die Auftritte der antiken Liebesgötter in der Regel von Traumbzw. Visionsnarrativen gerahmt. Zwar treten Götterfiguren auch in der antiken Literatur dann und wann im Rahmen von Träumen auf, doch keineswegs ausschließlich und auch nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie in den Literaturen des Mittelalters. Im Laufe des Mittelalters werden Träume stattdessen immer mehr zur zentralen Kommunikationskonstellation zwischen Mensch und Gott. Für die Liebesgötter gilt dies ganz besonders. Hinzu kommt, dass der Realitätsstatus der Liebesgötter sich dabei bisweilen durch eine gewisse Fragilität auszeichnet, so etwa durch eine pare(v)a-che-Ästhetik und ein Vokabular, das die visio im Wortsinne betont, nämlich über das Visuelle. Africo träumt gleich zweimal von den Liebesgöttern, wobei der erste Traum explizit als visione bezeichnet wird.³⁰ In dieser Vision trägt Venus den mit Köcher, Pfeil und Bogen bewaffneten Amor als kleinen nackten Knaben auf dem Arm und muss ihn zunächst am Schießen hindern.³¹ Sie möchte erst reden. Im Grunde schimpft Venus zunächst mit Africo, dass er so schnell aufgegeben habe, Mensola zu suchen und nur jammernd vor sich hin seufze wie ein Feigling.³² Sie versichert dem träumenden Africo, er werde die Nymphe wiederfinden. Angst vor Diana brauche er nicht zu haben, da diese zurzeit anderswo und jedenfalls nicht in Fiesole sei.³³ Vor allem aber verspricht sie ihm ihre Hilfe.³⁴ Dann sagt sie: ‚Mein Junge, öffne die Arme [um den Bogen zu spannen], / lass ihn deine heiße Bedeutung [valore] spüren; / mach, dass du jedes versteckte Eis zerstörst, / drinnen in seiner Brust und im
Già fuggito era il vermiglio colore / del viso bello, e magro divenuto […] e trasformato sì l’avea il dolore / ch’a pena si saria riconosciuto. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CLXIV,1– 6 [Hervorh. L.G.]. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, 652 bzw. XLIII,2. Per ch’una notte, il giovine, dormendo, / veder in vision gli parea / una donna con raggi risplendendo, / ed un piccol garzone in collo avea, / ignudo tutto ed un arco tenendo; e del turcasso una freccia traea / per saettar, quando la donna: ‚Aspetta,‘ / gli disse ‚figliuol mio; non aver fretta.‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLIII,1– 8. ‚Qual mala ventura, / o qual pensier, o qual tua mente stolta, / t’ha fatto volger? Credo che paura / o negligenza Mensola t’ha tolta, / che di suo amor non par che facci cura, / ma, com’uom vile, stai tristo e pensoso, / quando cercar dovresti il tuo riposo.‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLIV,1– 8. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLV. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLVI,1.
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gefrorenen Herzen; / nun mach, mein Junge, mach es so, wie es mir gefällt, / wie du zu tun pflegst‘; und dann schien es, dass Amor, / durch so viel Kraft jenen Bogen spannte, / dass einander die zwei Enden sich näherten.³⁵
Noch während Africo um Erbarmen bitten will, fühlt er den Pfeil seine Brust erreichen und durchdringen. Das Herz wird ihm derart verletzt, dass Africo aufwacht und sich sogleich eilig an die Brust fasst, wo er den Pfeil zu finden vermutet, dann aber bemerkt, dass die Eintrittswunde unversehrt (salda) und verschlossen (ristretta) ist.³⁶ Die Hervorhebung der starken körperlichen Reaktion, die auch in den nächsten Zeilen noch fortgeführt wird und verantwortlich für das Aufwachen ist, betont einerseits – liest man diese Szene vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Traumdiskurse – die Echtheit des Traumgeschehens,³⁷ wobei zeitgenössische Diskurse letztlich fast immer dazu tendieren, die Unentscheidbarkeit zu betonen, ob es sich beim Traumgeschehen um Wahrheit oder Lüge handelt.³⁸ Die unübersehbaren Reminiszenzen vor allem an den Roman de la rose ³⁹ betonen andererseits die literaturgeschichtliche Einbettung der Traumsequenz und damit den fiktiven oder zumindest literarischen Charakter des Traumes (zumal die Allusionen dem zeitgenössischen Publikum vertraut waren).⁴⁰ Der Erscheinungscharakter und damit der fragile Realitätsstatus des Traumes wird durch die Häufung des Verbs parere (XLIII,2, XLVII,6, und
Poi disse: ‚Figliuol mio, apri le braccia, / fagli sentire il tuo caldo valore; / fa che tu rompa ogni celata ghiaccia, / dentro al suo petto e nel gelato core; / or fa, figliuol mio, fa sì che mi piaccia, / come far suoi‘; e poi parea ch’Amore, / per sì gran forza quell’arco tirasse, / che ’nsieme le duo cocche raccozzasse. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLVII,1– 8. Quando Africo volea chieder mercede, / sentì nel petto giunger la saetta, / la qual, dentro passando, il cor gli fiede / sì, che, svegliato, la man puose in fretta / al petto, ché la freccia trovar crede: / trovò la piaga esser salda e ristretta. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLVIII,1– 6. Vgl. etwa Speroni (1948) oder Newman (2005). In Boccaccios Fiammetta wacht die gleichnamige Protagonistin aus einem prophetischen Warntraum vor Schmerzen auf, als sie träumt, dass eine Schlange sie in die linke Brust beißt, wobei die Schlange sowohl mit dem zukünftigen (untreuen) Geliebten als auch mit Amor selbst zu identifizieren ist. Vgl. Boccaccio, Elegia di madonna Fiammetta, 427. Im Übrigen heißt es auch im Ninfale fiesolano: Amor per lei il cor gli morse. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XXVI,4. Vgl. dazu bereits S. 123. Vgl. z. B. Kruger (1992). Auch hier wundert sich der Amant darüber, die Wunde verschlossen und frei von Blut zu sehen, obwohl ihn doch gerade ein Pfeil getroffen hat. Vgl. G. de Lorris/J. de Meung, Roman de la rose, 1703 – 1709. Zum Spannen des Bogens vgl. außerdem weiterhin die Zeilen 1681– 1695. Vgl. aber auch Vergil, Aen., XI, 858 – 862. Hier wird der Bogen ebenfalls so gespannt, dass sich die Enden berühren. Das Bemerkenswerte an dieser Referenz ist, dass Amors Bogen dadurch zwischen den Zeilen und nur über die Intertextualität erkennbar in einem Diana-Kontext steht (Vergil, Aen., XI,857). Zur Überschneidung von Amor und Diana vgl. weiter unten S. 133. Vgl. z. B. Dante, Il Fiore. Es handelt sich um die italienische Nachdichtung des Roman de la rose des sogenannten Ser Durante, der von einigen Kritikern mit Dante identifiziert wird. Vgl. dazu auch Barański/Boyde (1997). Im Vergleich zum Roman de la rose wird im Fiore jedoch gerade das viele Blut betont (Del molto sangue ch’io avea perduto) und nicht die äußerliche Unversehrtheit. Innen und Außen entsprechen sich hier. Dante, Il Fiore, II,2.
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L,1) zusätzlich in einem spätestens seit Dantes Vita Nuova zeittypischen „es-schienmir-als-ob“-Narrativ verankert. Auf diese Art entsteht erneut eine Asymmetrie, die auch hier den Realitätsstatus einer Szene und der in ihr agierenden Figuren in Frage stellt. Der Realitätsstatus der Liebesgötter, die im Ninfale fiesolano zwar auffällig oft apostrophiert werden, aber ausschließlich im Rahmen von Traumvisionen als körperlich präsente Figuren auftreten, wird folglich immer instabiler. Diese im Grunde simple Beobachtung ist jedoch grundlegend für jede weitere Frage nach figurativer (Liebes‐)Rede. Diese ist bekanntermaßen häufig und untrennbar an die Liebesgötter Amor und Venus, die in der zeitgenössischen Literatur zwischen Personifikation, Allegorie und Konkretheit changieren, und an deren Attribute gekoppelt, so etwa, wenn die Rede von den Schlingen, Pfeilen oder Fackeln der Liebesgötter ist. Der Realitätsstatus dieser für die Liebeskasuistik unabdingbaren Paraphernalien hängt dabei selbstverständlich von ihren Trägern ab. Wenn Amor und Venus Figuren der Handlung sind, sind auch deren Attribute Requisiten der Handlung und die Rede vom Liebespfeil konkret und nicht übertragen zu verstehen, es sei denn, der ganze Text präsentiert sich als Allegorie. Aber auch dann handelt es sich bei der an die Attribute geknüpften Liebesrede höchstens um sekundäre Metaphern, insofern sie konsequenterweise aus der allegorischen Rede entstehen. Entweder man betrachtet Amor und Venus als Metapherngeneratoren und bloße Redefiguren oder sie sind (nicht bloß in allegorischer Hinsicht) handelnde Figuren des poemetto und ihre Attribute auch konkrete Waffen und Requisiten der Handlung. Letzteres zu entscheiden, scheitert jedoch an den Auftritten der Liebesgötter und deren instabilen Rahmungen. Generator bildlicher Rede bleiben die Liebesgötter aber in jedem Falle. Von Metaphorik zu sprechen wird jedoch problematisch, schließlich handelt es sich bei Liebespfeilen etc. zunächst einmal um gängige Attribute der Liebesgötter, die sowohl in eine visuelle als auch in eine literarische Tradition eingebettet sind bzw. durch diese etabliert wurden und werden. Wollte man diese Ambivalenz letztgültig auflösen, verfehlte man das Spezifische sowohl an literarischen Traumnarrativen als auch an der zeitspezifischen Darstellung der Liebesgötter, die nicht nur hier, sondern auch im Übrigen besonders häufig von solchen Narrativen gerahmt sind. In dieser speziellen Transformation mag man einerseits einen christlichen Modus der Unverfänglichkeit im Umgang mit paganen Götterfiguren sehen, andererseits verdeutlicht die religionswissenschaftliche Perspektive grundsätzlich die metapherntheoretische Relevanz des innerfiktionalen Realitäts- und Referenzstatus von Götterfiguren. Für den Fortgang der Handlung im Ninfale fiesolano ist es jedoch allein wichtig, was Africo aus diesem ersten und vor allem aus dem folgenden zweiten Traum⁴¹ macht: Er erhält nämlich die konkrete Anweisung, sich selbst als Nymphe zu verkleiden, um sich Mensola heimlich zu nähern. Diese werde zwar wie ein Vogel vor dem Falken in den Wald flüchten, aber er solle nicht zögern, sie zu nötigen (sforzarla), so
Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CXCVIII-CCIII; erneut mit pareva che eingeleitet.
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Venus. Ihr Sohn Amor werde für alles Weitere Sorge tragen, womit wohl die Auflösung von Mensolas Widerstand gemeint ist.⁴² Africo setzt diese Anweisung erfolgreich um.⁴³ Bereits der erste Traum erfüllte durch seinen Charakter der ‚Wiederentzündung‘ eine spezifische (narrative) Funktion, und die Liebesgötter waren Agenten dieser Funktion, wenn Amor Africo die amourösen Fackeln erneut fühlen lassen wollte.⁴⁴ Der zweite Traum treibt die Handlung durch die konkreten Anweisungen der Venus unmittelbar voran. Beide Träume dienen folglich nicht nur als Rahmung für die Auftritte der Liebesgötter, sondern sind handlungsinitiierend und verlagern die Ursache für die Folgehandlungen auf die göttliche Ebene und verorten sie damit außerhalb der Verantwortung des Protagonisten. Die Eindeutigkeit dieser Logik ist durch die onirische Unsicherheit der Liebesgötter jedoch grundsätzlich instabil.
II Sprache des Begehrens (Zweite Begegnung) Liebe als Jagd Im Gegensatz zur Sprache der Liebe arbeitet die Sprache des Begehrens im Ninfale fiesolano mit anderen Bildfeldern und Strategien.⁴⁵ Hier sticht vor allem das seman-
[Venus:] ‚[…] ella si fuggirà, sì come uccello / seguito dal falcon per la foresta […] // Non temer di sforzarla, ché ’l mio figlio / la ferirà in tal modo e tal maniera, / che non potrà uscir del tuo artiglio, / e di lei aria ogni tua voglia intera. […]‘ E poi sparì. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCII,3-CCIII,7. Vgl. dazu Abschnitt III. Durch den Traum will Amor Africo nunmehr mit einer größeren Kette binden und mit mehr Schlingen fesseln, sodass er die Fackeln erneut voller Martyrium spüren möge. Einleitend zur ersten Traumsequenz heißt es hier Amor, volendo crecser maggior pena, / […] al giovinetto, / parendogli ch’avesse alquanto lena / ripresa, e spento il foco nel suo petto, / legar lo volle con maggior catena, / e con più lacci tenerlo costretto, / modo trovando a fargli risentire / le fiaccole amorose con martire. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XLII,1– 8. Deutlich drückt sich die Wiederentzündung im Folgenden durch die Wortwahl und speziell das Präfix ri- aus: Africo erinnert sich (ri-cordava = „erinnerte sich“, wörtlich liest sich ‚zurück ins Herz kommen‘) an seine Geliebte (XLIX,4), und ins Herz kommen die „höfischen Gesten“ / atti gentili zurück / tornava[no] (XLIX,6), Africos Begehren ist „wiederentzündet“ / r[i]accesso (LI,1), seine amourösen Seufzer „erneuern sich“ / rinnovando (LII,2). Bereits aus dem Roman de la rose ist Amor als derjenige bekannt, der die Glut nicht nur verursacht, sondern anbläst und – man möge ergänzen: immer wieder neu – entfacht […] qui soffle et atise / la brese qu’il t’a au queur mise. G. de Lorris/J. de Meung, Roman de la rose, 6369 f. An Boccaccios Inszenierung und Transformation des Liebestraum-Narrativs fällt unter anderem das Verhältnis von Amor und Venus auf. Vielleicht in Anlehnung an Apuleius, Met., IV,28–VI,24 definiert sich deren Beziehung nämlich offenbar durch ein klares Mutter-Sohn-Verhältnis. Außerdem sind die Rollen eindeutig unterschieden in eine handelnde, gewalttätige, aber stumm bleibende (Amor) und eine listige, zur Handlung auffordernde, sprechende Rolle (Venus). Wie eingangs angemerkt, gehe ich von einem pars pro toto-Verhältnis hinsichtlich des Zusammenspiels von Liebe, Sexualität und Begehren aus. Die klaren Trennungen in unterschiedliche Sprachen der Liebe, des Begehrens oder des Koitus sind folglich mehr heuristischer denn ausschließlicher Art. Vgl. dazu aber auch S. 139 f.
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tische Feld der Jagd heraus, welches die Verbalisierung von Begehren nicht nur in sprachlicher Hinsicht prägt, wenn sich die Liebesrede in diesem semantischen Feld bewegt, sondern auch auf der Handlungsebene, wenn tatsächlich Verfolgungsjagden stattfinden. Das Gendering ist hierbei zunächst eindeutig: Der Mann wird als Raubtier oder Jäger bezeichnet, die Frau als Beutetier oder Flüchtende inszeniert. Er jagt, sie flieht. Strukturiert und generiert wird dieses Feld zum einen durch Jagd-Analogien, die ihrerseits intertextuell mit der Erzählung von Apoll und Daphne aus Ovids Metamorphosen verwoben sind.⁴⁶ Zum anderen dominiert auf der Seite der Gejagten das Wortfeld um fuggire in seiner Polyvalenz als konkretes Flüchten⁴⁷ sowie wortspielerisch als ‚Meiden‘, d. h. ‚jemanden fliehen‘, wobei das italienische l’uom fuggire in Hinblick auf die Verfolgungsjagden äußerst konkret wird,⁴⁸ oder als ‚schwer aufzufinden‘, d. h. ‚flüchtig sein‘.⁴⁹ Auf Seite des Jagenden häufen sich Ausdrücke wie pigliare (etw./jdn. schnappen) oder prendere (nehmen/ergreifen) bzw. sforzare (zwingen/nötigen). Dieses Vokabular verknüpft die verschiedenen Episoden des poemetto von Anfang bis Ende isotopisch, sodass ‚Liebe als Jagd‘ zugleich textgenerierendes Sujet ist. Die Eroberung des Liebesobjektes als Jagd zu strukturieren, ist für die zeitgenössische Literatur nicht unüblich.⁵⁰ Das Bemerkenswerte an Boccaccios Ninfale fiesolano ist meines Erachtens jedoch die subtile, bis zur Ironie reichende Komik, welche diese (Liebes‐)Jagdszenen begleitet. Diese entsteht im Spannungsfeld der Kombination von Analogien, die man als affirmativ bezeichnen könnte (X ist wie Y) und dem Aufgreifen derselben Analogien auf negierende Art und Weise (X ist nicht wie Y). Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Als Africo während der Suche nach Mensola auf eine Gruppe von Nymphen trifft, vergleicht der Erzähler deren Flucht vor Africo mit Schafen, die vor dem Wolf flüchten bzw. mit Hühnern, die vor dem Fuchs flüchten.⁵¹ Diese Analogien werden nun ironisiert, wenn Africo die zuvor seitens des Erzählers aufgemachte affirmative analogische Identifikation später während seiner Jagd auf Mensola dieser gegenüber aktiv verneint: Er folge ihr gerade nicht wie der
Vgl. Ovid, Met., insbesondere I,504 ff. So etwa in Formulierungen wie „heftig flüchtend wie ein wildes Tier.“ / forte fuggendo come fiera selvaggia. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXIV,8. Vgl. auch LXV,6. So wie in der Zeile „aufsparen die Jungfräulichkeit und den Mann flüchten/meiden“ / servar verginità e l’uom fuggire. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, VIII,7. ma ella è tanto fuggitiva e fera. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXII,5. Vgl. nach wie vor exzellent und u. a. mit zahlreichen Beispielen aus dem ital. 14. Jahrhundert: Koppenfels (1973). Vgl. außerdem Klein (2016). Quali sanza pastor le pecorelle, / assalite dal lupo e spaventate, / fuggon or qua or là, le tapinelle, / gridando bé con boci sconsolate; / e qual fanno le pure gallinelle, / quand’elle son dalla volpe assalite, / quanto più posson ognuna volando / verso la casa, forte schiamazzando. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXIII,1– 8. Die Analogien sind dabei größtenteils in der Apoll/Daphne-Episode Ovids verankert. Vgl. dazu etwa sic agna lupum, sic cerva leonem, sic aquilam penna fugiunt trepidante columbiae, hostes quaeque suos. Ovid, Met., I,505 ff.
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Falke dem Rebhuhn und auch nicht wie der räuberische Wolf dem bedauerlichen Schäfchen.⁵² Dieser auf Analogien und wechselnder Erzählperspektive basierenden Komik gelingt es, eine Erwartungshaltung aufzubauen, die im genauen Gegenteil besteht. Diese ironische Komik wächst während Mensolas Flucht durch den Kontrast zur vorherigen Flucht der anderen Nymphen weiterhin, indem Mensola als „Rebhuhn“,⁵³ die anderen nur als „Hennen“ bezeichnet werden,⁵⁴ sodass die Analogie Mensolas Besonderheit betont. Diese Analogie geht außerdem spielerisch in Konkretheit über, wenn Mensola sich vor Africo im Unterholz des dichten Waldes verstecken kann, „als wäre sie ein Vogel“,⁵⁵ er aber die Hand an die Stirn legt, wie die Jäger es tun, wenn sie den Himmel nach Vögeln absuchen, ganz so, als vermute er sie tatsächlich in einen Vogel verwandelt.⁵⁶ Dies wird weiterhin durch die bereits genannte Doppeldeutigkeit von di lei mirando als einerseits „nach ihr schauend“ und andererseits „nach ihr zielend“ betont.⁵⁷ Africo, der sie einige Verse zuvor noch als pernice bezeichnet hatte, scheint jedoch nicht zu bedenken, dass Rebhühner Bodenvögel sind. Mensola hingegen bestätigt ihre Identifikation mit einem Rebhuhn durch die Wahl ihres Verstecks im dichten Wald. Die Komik der Verfolgungsjagd wird durch Africos ausgefeilte und zum Teil unmittelbar an die Rede Apolls angelehnte Argumentation weiterhin verankert. So stellt Africo z. B. klar, dass es Amor ist, der verantwortlich dafür ist, dass er Mensola folgt,⁵⁸ so wie auch Ovids Apoll ausruft, Amor sei der Grund, weshalb er Daphne folge.⁵⁹ Weder Daphne noch Mensola lassen sich davon beruhigen, man möchte beinahe sagen: täuschen. Während Apoll Daphne vorschlägt, sie solle langsamer laufen, dann verfolge er sie auch langsamer,⁶⁰ ruft Africo, wenn Mensola auf ihn warte, dann werde er sie heiraten.⁶¹ Durch einen plötzlich folgenden Perspektivwechsel von Africos Re-
Io non ti seguo come falcon face / la volante pernice cattivella, / ne ancor come fa lupo rapace / la misera e dolente pecorella. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CI,1– 4. Dazu wieder Ovid: Met., I,504 ff.: ‚[…] non insequor hostis; nympha, mane! sic agna lupum, sic cerva leonem […].‘ Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CI,2. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXIII,5. E come fosse uccel, così rimessa / nel folto bosco fu, tra verdi fronde / di bei querciuol, che lei cuopre e nasconde. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CXV,6 – 8. E lassù giunto dopo molto affanno, / gli occhi a mirar di lei subito pone; / e come i cacciatori spesso fanno, / quando levata s’è la cacciagione, / e di veduta poi perduta l’hanno, / con la testa alta vanno baloccone, / correndo or qua or là, or fermi stando, / e come smemorati dimorando; // tal, Africo faceva in sul gran monte, / di lei mirando con alzanto volto. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CXX,1-CXXI,2. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CXXI,2. ‚[…] Amor mi ti fa seguitare […].‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, C,7. ‚[…] amor est mihi causa sequendi […].‘ Ovid, Met., I,507. ‚[…] moderatius, oro, / curre fugamque inhibe: moderatius insequar ipse […].‘ Ovid, Met., I,510 f. ‚Se tu m’aspetti, Mensola mia bella, / i’ t’imprometto e giuro sopra i dèi, / ch’io ti terrò per mia sposa novella […].‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CII,1– 3.
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de⁶² auf Mensolas Flucht erinnert der Erzähler den Leser daran, dass die ebenso schmeichelhafte wie hochtrabende und anspielungsreiche Rede voller Gemeinplätze sowohl der zeitgenössischen (Dolce stil nuovo) als auch der antiken Liebesliteratur (Hohelied, Acis und Galatea-Mythe) während eines derart schnellen Laufes gehalten wird, „dass es schien, als ob [die Nymphe] fliege“⁶³. Nicht nur wird erneut mit Mensolas Vogel-Qualität kokettiert, die Szene kippt auch deutlich – und zum wiederholten Male – ins Komische, wobei ein gewisses Schmunzeln bereits bei Ovid angelegt ist, hier aber noch verstärkt wird.⁶⁴ Angemerkt werden muss außerdem, dass die Erotik der Fluchtszene im Ninfale fiesolano noch etwas stärker betont wird als bei Ovid: Während Apoll sich zunächst an den Fingern, Händen, Armen Daphnes erfreut, da diese bis zu den Oberarmen entblößt sind und später explizit die Flucht dafür verantwortlich gemacht wird, dass die Kleider flattern und die Haare fliegen, was Daphnes Reize noch steigert,⁶⁵ geht Africos Blick unter die Gürtellinie, denn um schneller laufen zu können, hat Mensola ihre Gewänder am Gürtel befestigt und zeigt nun ab den Söckchen oder Schühchen (calzerin), die sie trägt, bis zu den Knien ihre nackten Beine, die noch in jedem Begehren geweckt hätten.⁶⁶ Von einer petrarchistischen, auf Gesicht und Hände reduzierten laus corporis kann im Ninfale fiesolano jedenfalls nicht die Rede sein. Darüber hinaus werden die allegorischen Qualitäten der Jagdanalogie auch selbstreferentiell ausgelotet, indem sie in eine Exemplum-Binnengeschichte gebettet werden. Dieses Exemplum wird durch die (allegorische) Lüge⁶⁷ Africos seinem Vater gegenüber, er habe eine Hirschkuh im Wald gejagt, wobei er eigentlich Mensola meint, eingeleitet.⁶⁸ Der Vater durchschaut sein „verdecktes Sprechen“⁶⁹ unmittelbar und begibt sich sprachlich auf dieselbe Ebene wie Africo, wenn er zunächst Allegorese betreibt, indem er sich Africos Rede quasi übersetzt⁷⁰ und dann, ebenfalls die Alle-
Africos Rede erstreckt sich über gut neun Oktaven. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XCIX,8CVIII,8. La ninfa correa sì velocemente,/ che parea che volasse. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CIX,1– 2. Unter allelopoietischen Gesichtspunkten wird deutlich, inwiefern etwa die unverkennbar überspitzte Argumentation und Rechtfertigung Africos hilfreich sein kann, um auch Ovids Verfolgungsszene noch einmal neu zu lesen. Zum Begriff der Allelopoiese vgl. grundlegend Bergemann u. a. (2011). Vgl. Ovid, Met., I,497– 502 und vor allem Ovid, Met., I,527– 530: tum quoque visa decens; dudabant corpora venti, obviaque adversas vibrabant flamina vestes, et levis inpulsos retro dabat aura capillos, auctaque forma fuga est. Vgl. hierzu auch Gödde (2009), 53. La ninfa correa sì velocemente, / che parea che volasse, e’ panni alzati / s’avea dinnanzi per più prestamente / poter fuggir, e aveasegli attacati / alla cintura, sì ch’apertamente / di sopra a’calzerin, ch’avea calzati, / mostra le gambe e ’l ginocchio vezzoso, / ch’ognun ne diverria disideroso. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CIX,1– 8. Africos Rede wird explizit als bugia bezeichnet. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXXV,8. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, ab LXXVI bis LXXXI,2. Parlar coperto. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXXXI,4. „Nymphen mussten diese gewesen sein / von denen er sagte, sie seien so schöne Hirschkühe.“ / ninfe state dovean esser quelle / ch’e’ dicea ch’eran cerbie tanto belle. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXXXI,7– 8.
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gorie des Sohnes zunächst aufgreifend und dann ins unübertragene Sprechen wechselnd, antwortet, er solle sich vor den Hirschkühen hüten, diese gehörten Diana, und er solle aufpassen, dass sich die Familiengeschichte nicht wiederhole, denn bereits sein Vater Mugnone sei von Diana in einen Fluss verwandelt worden, nachdem er sich an einer ihrer Nymphen vergriffen hatte.⁷¹ Vor allem das genealogisch-ätiologische Moment des poemetto sowie die durch die Wortwahl explizit als gewaltsame Eroberung markierte Sexualität werden durch das Exemplum weitergehend verankert, und die folgende Handlung von Flucht, Eroberung, Koitus und schließlich Selbstmord aus Liebe bzw. Verwandlung in Wasser (in Ovid’scher Manier) als Strafe seitens Diana wird durch die Wiederholungsstruktur vorweggenommen und weiterhin mythologisiert.
Liebes(jagd)pfeile Interessanterweise kehrt sich die Rollenverteilung während der Fluchtszene einen Moment lang ins Gegenteil, als Mensola, die ein wenig Vorsprung gewonnen hat, nunmehr einen Pfeil, der zu ihrer Jagdausrüstung als Nymphe gehört, auf Africo wirft. Dieser verfehlt ihn jedoch und spaltet stattdessen eine Eiche. Die Kraft, mit der der Pfeil die Eiche trifft, die tödliche Wunde, die er Africo hätte schlagen können und die er nun in der Eiche schlägt,⁷² entspricht außerdem der Kraft, mit der Mensolas Blicke bzw. das Licht aus ihren Augen Africos Herz verletzen, als sie sich umblickt, um den Pfeil zu werfen. Dabei blickt sie ihrem Verfolger nun zum ersten Mal bewusst ins Gesicht, und er erscheint ihr wahrhaft dem Paradies entsprungen, was dazu führt, dass sie ihn spontan vor dem Pfeil warnt.⁷³ Die doppelte Valenz dieser Szene wird durch den Perspektivwechsel zwischen den Oktaven 115 (Ende Mensolas Perspektive bzw. Fokussierung durch Erzähler) und 116 (Erzähler fokussiert nunmehr Africo) besonders bedingt. Mensolas Haltung wird während dieser Begegnung zwischen Ablehnung und Begehren oszillierend modelliert. Auch Africos Selbstmord wird hier im Grunde isotopisch vorbereitet, da die tödliche Waffe, mit der er sich am Ende des poemetto ersticht, ein sehr konkreter Pfeil sein wird, nämlich jener, der zum Nymphenkostüm gehörte, das ihm die erste Eroberung ermöglicht hatte, und den er seither Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, LXXXIII-XCV. Vgl. folgende Stellen: e ben l’arebbe morto, se non fosse / che ’n una quercia innanzi a lui percosse. CX, 7– 8 und: Il ferro era quadrato e affusolato, / e la forza fu grande, onde si caccia / entro la quercia, e tutt’oltre è passato, / come se dato avesse in una ghiaccia; ell’era grossa sì, ch’aggavignato / un uom non l’arebbe con le braccia; / ella s’aperse, e l’asta oltre passoe, / e più che mezza per forza v’entroe. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CXII,1– 8. Als dringe der Pfeil der Nymphe ins Herz der Eiche. E nella destra mano aveva un dardo, / il qual, quand’ella fu un pezzo fuggita, / si volse indietro con rigido sguardo, […] quello lanciò col buon braccio gagliardo, / per Africo dar mortal ferita; […] // Quando’ella il dardo per l’aria vedea / zufolando volar, e poi nel viso / guardò del suo amante, il qual parea / veracemente fatto in paradiso, / di quel lanciar forte se ne pentea […] e gridò forte: ‚Oh me, giovane, guarti, / ch’i’ non potrei omai di questo atarti!‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CX,1- CXI,8.
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bei sich trägt. Dies wiederum rückt die Pfeile der Nymphe, letztlich Dianas Pfeile, denen Amors nahe: Beide schlagen tödliche (Liebes‐)Wunden. Die Verkettung funktioniert über eine intrikate Gleichung: Die Blicke, das Licht der Augen oder die Pfeile der Geliebten lassen sich vor dem zeitgenössischen Hintergrund topischerweise mit den Pfeilen Amors gleichsetzen.⁷⁴ In dem Moment, da die Geliebte eine Nymphe Dianas ist, sind nicht nur ihre Blicke wie Liebespfeile, sondern sie trägt auch einen konkreten dianischen Pfeil, der hier tatsächlich auf das Gegenüber geworfen wird. (Dianischer) Pfeilwurf und (amouröser) ‚Blickwurf‘ verdichten sich in dieser Szene und werden zum ebenso konkreten wie übertragenen Liebespfeil, wenn Mensola Africos Herz während ihrer Flucht mit dem Licht ihrer Augen gerade dann verletzt, als sie sich zum Pfeilwurf umblickt, wodurch Africos Begehren erst recht geschürt wird.⁷⁵ Durch diese provokante Verkettung, die auf einer Neukonfiguration klassischer Topoi und göttlicher Attribute beruht, gelingt es Boccaccio, zwei so gegensätzliche Götterfiguren wie Diana und Amor qua Attribut-Gleichheit ineinandergreifen zu lassen. Da das Geschehen zugleich unmittelbar in die Daphne/Apoll-Geschichte Ovids gekleidet ist, die schließlich gerade aus dem Konflikt der Attribut-Gleichheit Amors und Apolls entsteht, verhält die Szene sich auf kreative Art und Weise ebenso anspielend wie abgrenzend zu Ovid.⁷⁶ Obwohl Keuschheit und Begehren durch die Verkettung von Diana und Amor auf Grund ihrer Attribut-Gleichheit bis zu einem gewissen Grade in eins fallen, liegt dennoch gerade in der Opposition dieser Götter die Ursache für die aus den Metamorphosen der Liebenden hervorgegangene Landschaft um Fiesole: Es sind die gewaltsamen Eroberungen der Familie Africos und anderer „Elender“⁷⁷, und damit der Konflikt zwischen Diana und den Liebenden bzw. Diana und den Liebesgöttern, welche konstitutiv für die Landschaft um Fiesole sind: „So könnt ich dir von Tausenden erzählen, / die in diesen Bergen Quellen und Vögel sind / und welche sich zu Bäumen gezwungen zu verwandeln, / die ihr [Diana] Übel getan haben […].“⁷⁸ Das ätiologische Motiv der Landschaftsentstehung ist ebenso untrennbar an die paganen Götterfiguren geknüpft wie an Ovids Metamorphosen.
Vgl. dazu etwa Camille (1998) oder Schmid [Unveröffentlichtes Manuskript]. Ich möchte der Autorin an dieser Stelle herzlich für die Einsicht in das Manuskript danken. Zum Pfeil/Augen-Topos vgl. bereits Anmerkung 16. […] con la luce degli occhi, che ’n un tratto / gli ferì ’l core e fecel più bramoso / di seguitarla, e più volonteroso. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CXVI,6 – 8. Ovid inszeniert die Attribut-Gleichheit, d. h. den Streit darum, wer der bessere Bogenschütze sei, als Auslöser für das folgende Geschehen, da Amor sich an Apoll rächen will, der ihn als lascive puer / „loser Knabe“ beschimpft hatte. Ovid, Met., I, 456. Tapinelli. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XCV,4. Così di mille te ne potre’ dire, / che ’n questi monti son fonti ed uccelli, / e qual in alber fatti convertire, / che misfatto hanno a lei [Diana], i tapinelli […]. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, XCV,1– 4.
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III Sprache des Koitus (Dritte Begegnung) Wie Messer Mazzone Monteficalli erobert (Erste Sexszene) Durch den zweiten Traum und die Anweisungen der Göttin findet Africo Mensola tatsächlich und letztendlich wieder. Die Travestie fliegt erst auf, als der bis zu dieser Stelle äußerlich zur Frau „umgewandelte“⁷⁹ gemeinsam mit den Nymphen in einer Quelle baden gehen will: Er zieht sich ebenfalls aus, „all das zeigend, was er vorne hatte“.⁸⁰ Africos fragwürdiger Ausruf, er folge Mensola nicht wie der Wolf dem Schäfchen, auf den ich oben bereits hingewiesen habe,⁸¹ wird spätestens an dieser Stelle – und sprachlich in unmittelbarer Verbindung zur vorherigen – widerlegt, indem dieselbe Analogie nunmehr bestätigt wird: Denn nicht anders als ein ausgehungerter Wolf sich auf eine Gruppe Lämmchen stürzen würde, um eines davon zu ergreifen, heißt es nun, so ergreift Africo jetzt Mensola, der es als Einziger nicht gelingt, zu fliehen.⁸² Africo hält Mensola mit aller Kraft fest, und weder ihre Kraft noch Verteidigung nützen ihr.⁸³ Die Analogien (lupo affamato) sowie die Wortwahl des Erzählers (forza, difesa, forte presa) lassen keinen Zweifel an der Gewalt, die hier im Spiel ist, wobei die Textanalyse zeigt, dass Gewalt im Ninfale fiesolano als Überwinden eines Widerstandes durch physische Überlegenheit (mit dem Wortfeld von sforzare und forza), als Angriff und Verteidigung (offesa vs. difesa), Raubtier und Beute (lupo vs. agnelli) inszeniert und bis zu einem gewissen Grade naturalisiert wird. Dieses Gewaltverständnis bereitet auch die nun folgende Allegorie für den ersten Geschlechtsakt vor und strukturiert ihn. Dieser wird mit einer zwar bildlichen, aber dennoch auf die Anatomie des männlichen Glieds fokussierten Beschreibung eingeleitet, wodurch die nun folgende Szene sich zwar im Bereich der figurativen, aber dadurch nicht weniger pornographischen Rede bewegt. Ganz so wie zuvor die Flucht die Begierde gesteigert hatte, ist es nun die „Auseinandersetzung“, welche dafür sorgt, dass „aufgeweckt wird / jenes, das zuvor melancholisch schlief, / und mit Hochmut nun aufrichtet seinen (Hahnen‐)Kamm“.⁸⁴ Tal, che prima dormia, also jenes, das zuvor schlief – und zum ersten Mal gibt es ein Moment der Selbstzensur, das sich im Pro-
E femina di maschio trasmutato. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXII,6. Mostrando tutto ciò ch’avea davante. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXXXIX,4. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CI,3 – 4. Siehe oben, S. 130. Non altrimenti lo lupo affamato / percuote alla gran turba degli agnelli, / ed un ne piglia, e quel se n’ha portato, / […] così correndo Africo per quell’acque, / sola prese colei che più gli piacque. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXL,1– 8. Ma nulla le valea forza o difesa, / ch’Africo la tenea pur forte presa. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLIII,7– 8. Per la contesa che facean, si desta / tal, che prima dormia malinconoso, / e, con superbia rizzando la cresta. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLIV,1– 3. In Anlehnung an Decameron III,10 könnte man vielleicht auch übersetzen: „sein Haupt mit Hochmut erhebt.“ Vgl. dazu quando egli per superbia levasse il capo. Boccaccio, Decameron, 325.
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nomen tal konzentriert und die Autonomie des männlichen Glieds personifizierend unterstreicht –, beginnt nun wie „wild“ gegen das „Tor“ zu „schlagen/pochen/stoßen“, und es gelingt ihm, den „Kopf“ so weit hinein zu stecken, dass es Einlass erhält, wenn auch „mit großem Kampf und Geschrei und vielleicht auch ein wenig Blutvergießen“,⁸⁵ gelingt es messer Mazzone (etwa zu übersetzen mit „Meister Knüppel“), Monteficalli ⁸⁶ einzunehmen und die Burg zu betreten.⁸⁷ Dort wird er freudig empfangen.⁸⁸ Der hier stattfindende (Um)Benennungsprozess vom anonymen tal, che dormia zu messer Mazzone oszilliert zwischen Metonymie (Handlung/Funktion für Name) und anatomisierender Metapher (Glied als Knüppel). Schließlich – nachdem man sich also lange „geschlagen“ (oder auch: „debattiert“) hatte⁸⁹ – verlässt messer Mazzone die Burg nunmehr aus Mitleid weinend und demütiger als ein Lämmchen,⁹⁰ wobei umil, also ‚demütig‘, erneut das anatomisierende Bild des nunmehr geneigten Kopfes (=Geschlechts) im Gegensatz zum Aufrichten des Hahnenkamms (=Erektion) nahelegt. Man beachte auch das Gendering, welches die oben diskutierte Wolf/LammAnalogie invertiert: Nun ist messer Mazzone das agnello. Auch fragt man sich, was es mit Tränen und Mitleid auf sich hat. Ich schlage vor, die Tränen auf ihre Flüssigkeit hin ernst zu nehmen und das Mitleid als Höhepunkt zu lesen. Die Assoziation von Wasser und Sex wird während der weiter unten zu diskutierenden zweiten Sexszene noch deutlicher wiederholt. Sowohl das Tor (uscio) als auch das Schlagen bzw. Klopfen/Pochen (picchiare) lassen sich innerhalb dieser Allegorie ebenso konkret wie übertragen lesen. Einerseits wird Mensola als Burg semantisiert, wie es spätestens seit dem Roman de la rose und vielen anderen Texten topisch für Eroberung im weiteren Sinne und vor allem für den Koitus geworden ist.⁹¹ Der Eroberer schlägt oder pocht dann an die Tür, bis man ihm Einlass gewährt. Wenn hier eine Metapher vorliegt, dann eine auf Substitution basierende und wenig verschleiernde, insofern sie nur knapp vorbei redet, da ‚Tor‘ sehr nah an einem konkreten Eingang zum Frauenkörper bleibt, als den man die Vagina nun einmal sachlich beschreiben kann. Da Mensola Jungfrau ist, was mehrfach betont wird,⁹² muss Africo im Grunde tatsächlich stoßen (picchiar), um den Eingang zu öffnen. Picchiare als ‚klopfen‘ und ‚schlagen‘ zugleich kann dabei wunderbar ambivalent bleiben, und egal wie man es auflöst, bleibt kein Zweifel an der eigentlichen Hand-
Cominciò a picchiar l’uscio, furioso; / e tanto dentro vi diè della testa, / ch’egli entrò dentro, non già con riposo, / ma con battaglia grande ed urlamento, / e forse che di sangue spargimento. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLIV,1– 8. Wörtlich „Feigenberg“. La Figa (die Feige) wird im Italienischen bis heute als Bezeichnung für das weibliche Geschlecht gebraucht. Eine zielsprachenorientierte Übersetzung wäre z. B. „Mösenberg“. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLI und CCXLV. Lietamente dentro ricevuto. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLV,3. Ma poi che molto si fu dibattuto. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLV,5. Per pietà lagrimò, e del castello / uscì poi fuor, umil più ch’un agnello. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLV,7– 8. Vgl. Klein (2006) sowie Klein (2004). Vgl. auch Trînca (2016). Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXLIV,8, CCXLII,3 und CCXLVI,3 f.
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lung. Diese hatte als Kampf begonnen und bewegt sich auch auf der allegorischen Ebene in diesem Bereich fort. Allegorie im Sinne der fortgeführten Metapher (metaphora continua) und konkrete Lesart gehen fließend und spielerisch ineinander über, verhüllen aber im Grunde nur halbherzig. Vielmehr geht es um ein Spiel zwischen Verhüllen und Entdecken, das zentral für das Sprechen über Sex ist;⁹³ von Unsagbarkeit im Wortsinne lässt sich jedoch nicht reden. Vielmehr präsentiert sich die figurative Rede als Modus des Sagbaren, sodass eigentlich die Rede von Anderssagbarkeit sein müsste und nicht von Unsagbarkeit, da die sexuellen Zusammenhänge uneigentlich letztlich doch sagbar gemacht werden. Zugleich „legimitiert und nobilitiert“⁹⁴ die Allegorie der Frau als Burg den Mann in seiner gesellschaftlich anerkannten Rolle als Krieger und Ritter und kann so als Rechtfertigungsstrategie dienen. Dieses Verfahren gilt im Grunde auch für die Wolf/ Lamm-Analogie und wird durch das den Wolf charakterisierende Attribut „ausgehungert“ / affamato ⁹⁵ zusätzlich unterstrichen. Der ausgehungerte Wolf, der sich auf das Lämmchen stürzt, folgt lediglich seinen rechtmäßigen animalischen Impulsen, handelt also gemäß seiner Natur,⁹⁶ so wie auch der Ritter, der eine Burg erobert, seiner soziokulturellen Rolle gemäß handelt. Durch die personifizierend arbeitende Sprache während der ersten Koitus-Szene wird zudem das männliche Glied als autonom inszeniert, was die Verantwortung Africos für sein Handeln weiterhin reduziert. Diese Rechtfertigungsstrategien erweitert Africo später, indem er Mensola gegenüber beteuert, er habe nur Gewalt angewendet, da auch ihm Gewalt durch Amor widerfahren sei: Wenn ich Gewaltanwendung gebraucht habe / dann habe ich das nur gemacht, weil mir Gewalt geschehen ist, / nicht weil es mich glücklich machen würde, dich zu belästigen, / sondern nur Amor, der mich deinetwegen gehalten hat / in diesen Qualen, / hat Schuld und Grund daran!⁹⁷
Es ist der Erzähler, der durch nahezu deiktische Gesten und seine Wortwahl immer wieder dafür sorgt, dass hinsichtlich der Rolle der Gewaltanwendung keine Ambivalenzen entstehen. Selbst die als Rechtfertigungsstrategien zu lesenden Analogien etc. bleiben durch ironische Kippmomente stets distanziert. Noch explizitere Rechtfertigungen, wie etwa die Schuld Amor zuzuschieben, werden Africo selbst in den
Vgl. dazu Trînca (2016). „Das Bild vom Angriff auf die Burg und ihrer Erstürmung zeigt den Mann in der gesellschaftlich weithin anerkannten Rolle des Kriegers. […] Die Metapher von der Eroberung der Burg legitimiert und nobilitiert deshalb solche Aggression, und sie behauptet damit zugleich die traditionelle Hierarchisierung der Geschlechterrollen mit der Suprematie des Mannes.“ Klein (2006), 118. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCXL,1. Vgl. dazu oben, S. 134. Vgl. dazu auch Klein (2016), 64 f. S’i’ho usato sforzamento, / l’ho fatto sol perché forza m’è suto, / non perch’i’sia di noiarti contento; / ma sol Amor, che m’ha per te tenuto / in queste pene, n’ha colpa e cagione; / duolti di lui, ché n’arai più ragione! Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCLXV,3 – 8.
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Mund gelegt. Auch wird seine Rede immer wieder explizit als Lüge oder Ausrede ausgewiesen.
„All’acqua all’acqua, ché il foco s’accende!“ (Zweite Sexszene) Zur zweiten Sexszene, die dieser ersten nach einer kurzen Ohnmacht Mensolas folgt, kommt es nach einer langen Schmeichel-Attacke Africos nunmehr im beiderseitigen Einverständnis. Dass Africo dennoch erneut oder noch immer einen Widerstand überwinden muss – diesmal durch Worte und Küsse –, wird dadurch angezeigt, dass zunächst erneut die Burg-Allegorie bemüht wird: Doch welcher Turm wäre je so gut am Boden befestigt, dass er nicht von so vielen anstürmenden Schlägen sich gebogen hätte und gefallen wäre?⁹⁸ Doch wird hier die Burg-Allegorie noch innerhalb derselben Oktave aufgelöst, und der Erzähler wechselt in ein unübertragene(re)s Sprechen, wenn er fortfährt zu fragen, welche jene sei, die je so erbarmungslos gewesen und so stählernen Herzens, dass sie Africos Schmeicheleien und Küssen, die sogar Berge hätten versetzen können, widerstanden hätte?⁹⁹ Die Sprache der zweiten Koitus-Szene benötigt keine ausgefeilten Rechtfertigungsstrategien mehr, und entsprechend wechselt das Bildfeld, bleibt aber figurativ. Nun wird statt Jagdanalogie oder Burgallegorie die Natur als Urheberin der Lust und Lehrerin der Liebe bezeichnet, und das Wortfeld der Gewalt wechselt zu einem der Vereinigung.¹⁰⁰ Ausrufezeichen weisen den exklamativen Charakter der Figurenrede aus, die sich jeglicher kohärenten Erzählung zu entziehen beginnt. Unsagbarkeit wird hier durch die Nähe zu mystisch-ekstatischer Erfahrung an Kohärenzverlust gebunden, findet letztendlich aber erneut ihren Modus der Anderssagbarkeit. So wird der Kohärenzverlust insbesondere durch die sprunghaft wechselnde Semantik des Wassers erreicht und liest sich als Hinweis auf die Lust der Liebenden. „‚Ins Wasser, ins Wasser‘“, rufen die beiden, „‚das Feuer entzündet sich!‘ Und es mahlte die Mühle so sehr sie konnte / und ein jeder ergeht sich und legt sich hin.“ Es folgt ein Lustruf, bei dem bereits nicht mehr gesagt wird, wer ihn von sich gibt,¹⁰¹ und dann „kommt das Wasser und das Feuer wurde gelöscht / die Mühle schweigt und ein jeder seufzt.“¹⁰²
Qual torre fu già mai sì ben fondata / in sulla terra, che, sendo ella suta / da tanti colpi percossa e scalzata, / che non si fosse piegata o caduta? Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCIV,1– 4. O qual fu quella mai sì dispietata, / col cor d’acciaio, che non fosse arrenduta / per le lusinghe d’Africo e ’l baciare, / ch ’arrebbon fatto le montagne andare? Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCIV, 5 – 8. Più da natura che da lor malizia / atati, s’alzar su le vestimenta, / faccendo che lor due parevan uno, / tanto natura insegnò a ciascheduno. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCIX,–5 – 8. Quivi l’un l’altro baciava e mordeva, / e stringean forte, e chi le labbra prende: / ‚Anima mia!‘ ciaschedun diceva. / ‚All’acqua all’acqua, ché il foco s’accende!‘ / Macinava il mulin quanto poteva, / e ciaschedun si dilunga e distende: ‚Attienti bene! Oh me, oh me, oh me, / aiuta aiuta, ch’i’ moio ’n buona fé!‘ Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCX,1– 8. L’acqua ne venne e ’l foco fu ispento, / il mulin tace e ciascun sospirava. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCXI,1– 2.
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Die Bedeutung des Wassers lässt sich in ihrer mehrfachen Konnotierung kaum eindeutig greifen. Ob der Ausruf All’acqua all’acqua, ché il foco s’accende! darauf hinweist, dass die Liebenden zurück in die Quelle rennen, oder ob das Wasser als Synonym für den Sexualakt steht, da nur durch ihn das (Liebes‐)Feuer gelöscht werden kann, lässt sich nicht letztgültig klären. Wobei letztere Lesart wieder einmal für eine auf sehr konkreten Vorgängen basierende Metaphorik sprechen würde. Zugleich ist es aber auch das Wasser, welches die Mühle erst zum Mahlen bringt, sodass sich das Wasser auch als Lust lesen ließe, was die Semantik des Wassers jedoch entweder ins Paradoxe oder in eine gewagt freizügige Lesart abdriften ließe, wenn Wasser (die Lust) nun mal nur durch Wasser (die Lust bzw. Ausleben derselben) gelöscht werden kann. Auch ließe sich das Mahlen der Mühle, bevor Africo und Mensola sich hinlegen, als Metapher für die Bewegung von Africos ‚Knüppel‘ identifizieren. Usw. Zumindest als das Wasser dann „kommt“ – ähnlich wie oben die Tränen –, scheint der Höhepunkt klar markiert zu sein, da sich nun das Feuer löscht und die Mühle stehen bleibt. Die Mühle schweigt. Offenbar zeigt das Schweigen das Ende der Lust an, während das Debattieren ihren Beginn angezeigt hatte. Deutlich zeichnet sich die Sprache des Koitus durch eine Überdosis an Bildlichkeit qua Überkonnotierung einzelner Wörter aus. Unverkennbar wechselt die Sprache des Koitus außerdem vom ersten zum zweiten Geschlechtsverkehr von einer destruktiven und aggressiven Redeweise (Meister Knüppel erobert den Mösenberg samt Blutvergießen) zu einer Sprache der natürlichen Fortpflanzung (Natur, Wasser, Schwangerschaft), ja vielleicht sogar der Zivilisation (Mühle) und in jedem Falle der Einswerdung, wenn nunmehr von Vereinigung / congiugnimento ¹⁰³ oder Einswerden (parevan uno)¹⁰⁴ gesprochen wird und sich die Betonung auf das Beiderseitige häuft (ciascheduno, ciaschedun, ciascun, l’un l’altro).¹⁰⁵ Der erste gewaltsame Koitus wird außerdem als Voraussetzung für die zweite freiwillige Vereinigung dargestellt. Diese wiederum wird als Voraussetzung für Gottes Zustimmung und infolgedessen für die Zeugung und letztlich die Geburt des Sohnes inszeniert, was letztendlich zur Gründung Fiesoles führt.¹⁰⁶
IV Sprachen der Liebe und Anderssagbarkeit Auf den ersten Blick inszeniert Boccaccios Fiesolanische Nymphendichtung eine eindeutige Liebeskasuistik. Aus der Perspektive des männlichen Protagonisten präsentiert sich Amor als diejenige Gewalt, welcher der Mann, hier Africo, ausgeliefert ist, und die er als Konsequenz am Objekt seiner Begierde, hier Mensola, gleichfalls ge-
Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCVI,7. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCIX,7. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCIX,8, CCCX,6, CCCXI,2, CCCX,1. Di Dio in piacimento. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CCCXI,3. Vgl. auch CCCVI,7– 8 bzw. CCCXI,4.
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waltsam ausagiert. Venus flicht (in griechisch-antiker Manier)¹⁰⁷ die notwendigen Listen hierzu und treibt die Handlung voran. Bei genauerer Betrachtung fällt diese Eindeutigkeit jedoch in sich zusammen, und Africos Handeln wird als gewaltsam, seine Reden als voll von Ausreden und Lügen entlarvt, während Gott Amor sich als rein rhetorische Wirkmacht entpuppt, und auch Venus bleibt auf der onirischen oder wunderbaren¹⁰⁸ Ebene. Kehrt man also zurück zur Ausgangsfrage, wie Liebe, Sexualität und Begehren versprachlicht werden, zeigt sich zum einen, dass sich verschiedene Verfahren, die sich innerhalb topischer Redeweisen bewegen, mehr oder weniger subkutan als Rechtfertigungsstrategien entpuppen. Zum anderen lassen sich drei sehr unterschiedliche Modi im Sprechen über die Liebe skizzieren, die sich wie folgt resümieren lassen: Die Sprache der Liebe ist einerseits untrennbar an die Rolle der Liebesgötter und andererseits an ganz eigene Raum-, Zeit- oder Realitätskonstruktionen gebunden, wie etwa Chronotopos oder Traum- und Visionsnarrative. Letztere können auch als Rahmungen der Liebe(sgötter) verstanden werden, was im Übrigen auch für die einleitenden Verse gilt, die das ganze poemetto als inspiriert inszenieren. Auch zeichnet sich die Sprache der Liebe am meisten durch zeitgenössische Topoi, topische Metaphern und ihre boccaccesken Spielarten und Transformationen aus. Doch kann gerade die figurative Rede, die ohnehin oftmals zwischen Metaphorik und Konkretheit oszilliert, im Grunde nicht betrachtet werden, ohne den auffällig instabilen Realitätsstatus der Liebesgötter zu problematisieren, der sich seinerseits durch eben diese speziellen Rahmungen ergibt. Die Sprache des Begehrens ist dagegen am konkretesten intertextuell durchwoben und führt außerdem durch verschiedene Techniken zu einer pfiffigen Verkettung von so unterschiedlichen Götterfiguren wie Diana und den Liebesgöttern Amor und Venus. Außerdem spiegelt sich die Sprache des Begehrens auch auf der Handlungsebene wider, indem die Jagdanalogien nicht allein auf der sprachlichen Ebene verbleiben, sondern der männliche Protagonist den Nymphen tatsächlich hinterherjagt und auf diese Art das Geschehen antreibt. Letzteres gilt auch für Africos Traumvisionen, die konkrete Handlungsanweisungen seitens der Liebesgöttin Venus enthalten und somit handlungsinitiierend sind. Die Sprache des Koitus ist genuin boccaccesk und doch traditionsgebunden. Auffällig ist jedoch, dass freiwilliger Geschlechtsverkehr und Sex aus Nötigung sich sprachlich deutlich voneinander abheben, so wie beide Sexszenen sich auch von den betrachteten Narrativen und Sprachen der Liebe und des Begehrens abheben. Gerade die Sprache des Sexualaktes äußert sich in einer Überdosis figurativer Ausdrücke. Vgl. etwa Sappho, Fr. 1. Africo betet zu Venus und opfert ihr ein Schäfchen (pecorella). Das Opfer wird vom Erzähler sowohl als sacrificio als auch als miracol bezeichnet. Als miracol wird aber vor allem wiederholt gesprochen, als sich während des Opfers die beiden Hälften der pecorella für einen Moment verbinden, was Africo als Zeichen der Göttin wertet. Vgl. Boccaccio, Il Ninfale fiesolano, CLXXX-CXCIV.
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Ähnlich wie zum Ende des Roman de la rose scheint es jedoch eher, als zögen sowohl Erzähler als auch Leser ihre Lust gerade aus der Eindeutigkeit der Metaphern und dem figurativen Überschuss.¹⁰⁹ Allen Teilaspekten gemeinsam ist, dass sie alle drei immer wieder von Asymmetrien und Kippfiguren gerahmt sind, die ins Ironisch-Komische gehen, den Realitätsstatus von Szenen in Frage stellen oder Bedeutungsüberschuss erzeugen. Auch wenn die Trennung in partielle Sprachen der Liebe zunächst forciert wirken mag und die Übergänge in der Tat fließend sind, wird dennoch deutlich, dass die Ironie gerade an jenen Stellen wirkmächtig ist, wo diese Trennung permeabel wird, so etwa, wenn Africo stilnovistische Gemeinplätze bemüht (Liebe), während er im wilden Lauf der völlig verschreckten Mensola hinterherjagt (Begehren). Von Schweigen kann in keinem Falle die Rede sein, und Unsagbarkeit präsentiert sich vielmehr als Anderssagbarkeit. Mögen bestimmte Themen auch in ihrem nichtfigurativen Wortlaut unsagbar sein, findet sich dennoch stets eine übertragene Art, darüber zu sprechen, sodass sich die Anderssagbarkeit figurativer Rede ebenso als Modus des Sagbaren wie des Unsagbaren präsentiert. Figurative Rede dominiert explizit erotische Szenen dadurch auf besondere Art und Weise. Doch führt der Begriff der Unsagbarkeit, der zunächst an Schweigen und Leerstellen denken lässt, im Grunde in die Irre, handelt es sich doch vielmehr um eine geschickte Navigation des auf den ersten Blick Unsagbaren: Sagbar ist alles, nur eben anders.
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Christiane Hansen
Sprachen des Unverfügbaren: Liebe zwischen Bewunderung, Verehrung und Faszination im englischen heroic play Das heroic play der englischen Restaurationszeit ist ein zwar kurzlebiges, aber sehr prägnantes Genre, das sich selbst als episch inspirierte, spektakuläre Neuformierung der Tragödie verstehen will – John Drydens programmatisches Traktat Of Heroick Plays (1672) definiert das Genre als an imitation, in little, of an Heroic Poem,¹ das seine Helden nicht nur anhand von bewundernswerten Taten profiliert, sondern auch mit großen Leidenschaften ausstattet. Die allgegenwärtigen Figurationen der Liebe greifen dabei auf dramatische und auch episch tradierte Muster zurück: So sollen exzessive Leidenschaften ausgeglichen werden, Helden erleben Konflikte zwischen ihrer Liebe und ihrer politischen Verantwortung, geliebte Frauen werden als Muster der Tugend inszeniert. Zugleich jedoch werden diese Muster ab- und umgelenkt; Bewunderung und Verehrung kreuzen sich oder rücken in die Nähe faszinierender oder dämonischer Macht. Fokussiert werden auf diese Weise die Wirkmechanismen und responsiven Strukturen des Bezogen-Seins: Das Theater der Restaurationszeit löst sich von einem unbedingten Vertrauen in das Admirative ab und beginnt von dort eine Kartierung des sehr diffusen Felds von Ästhetischem, Bewunderung, Staunen, Verehrung, politischer Loyalität und sakraler Transzendenz. Liebe, Freundschaft und erotische Attraktion dienen dabei als Dispositive, als Ressource des analytischen Zugriffs, oder als Kontrastmittel, die eben diese Unterschiede und Verflechtungen sichtbar machen. So eingesetzt erhellen sie zugleich die Prozessualität von transformatorischen Operationen in ihrer jeweils historisch spezifischen Ausprägung.² In meinem Beitrag möchte ich untersuchen, wie im heroic play der englischen Restaurationszeit Sprachen der Liebe als Konfigurationen des Unverfügbaren verhandelt werden. Dies, so meine Ausgangsüberlegung, geschieht im Spannungsfeld von Staunen, Bewunderung, Verehrung, Furcht und Faszination, somit vor-rationaler oder ästhetischer Modi des Erfahrens, die nicht nur die Grenzen des sprachlichen Ausdrucksvermögen berühren, sondern auch als kulturell Unverfügbares einem alltagsweltlichen Zugriff entzogen werden. Konfigurationen des Unverfügbaren werden so mithilfe von Formationen des nicht mehr Kommunizierbaren inszeniert und stabilisiert, Unsagbarkeit und Unverfügbarkeit bedingen sich gegenseitig. Erkennbar wird im Restaurationsdrama eine Verschiebung im System des Bezogen-Seins und des Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des SFB 948 ‚Helden, Heroisierungen, Heroismen‘, gefördert durch die Deutsche Forschungsgesellschaft. Dryden, Vol 11, 10. Vgl. zur Transformationstheorie Bergemann et al. (2011). https://doi.org/10.1515/9783110628920-008
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Verhaltens zum Unverfügbaren, in dem ‚Liebe‘ nicht isoliert zu betrachten ist, mit dem und auf das Sprachen der Liebe aber reagieren. Die perspektivische Anlage des Bühnenraums forciert dabei nicht nur Fragen der verbalen Kommunizierbarkeit, sondern auch Fragen der theatralen Sichtbarkeit und (Un‐)Darstellbarkeit, und nach der darin implizierten Position der Zuschauenden. Zu Figurationen des (Un‐)Sagbaren treten dramatische Techniken des Andeutens, Nicht-Vorführens und narrativen Ausweichens.³ Das heißt: neben Schweigeeffekte, die – wie Beatrice Michaelis beschreibt – eine Logik des Sagens durch eine Logik des Zeigens ersetzen,⁴ treten umgekehrt Formen des Sprechens, die theatral unmittelbare Modi des Zeigens unterdrücken. Meine Fragestellung zielt folglich nicht darauf, wie Liebe oder Liebesbeziehungen, Freundschaft oder erotische Attraktion in gegebenen Texten repräsentiert werden, sondern wie Figurationen der Liebe im Rahmen einer kulturellen Arbeit am Unverfügbaren eingesetzt werden. Eckpunkte dieser Aushandlungen sind Asymmetrien von Status und Macht, affektive Unmittelbarkeit und Ästhetisierung, sowie Fragen transzendentaler Geltung, die in der nur vordergründig stabilen politischen Ordnung der Restaurationszeit virulent werden. Ich möchte dem nachgehen in wesentlich drei Schritten. Anhand von John Drydens frühem Indian Emperour (1667) möchte ich untersuchen, wie adorative Strukturen zwischen (romantischer) Liebe, Sakralität und politischer Ehrerbietung zu changieren beginnen. In einem zweiten Schritt ist zu zeigen, wie in Elkanah Settles Conquest of China (1676) Muster der admiratio mit denen der ästhetischen und erotischen Anziehung überkreuzt und in den Bereich des Unverfügbaren verschoben werden. Dies verschärft sich im spektakulären horror play, welches die admirative Ästhetik zum Faszinierenden hin auflöst. Zuletzt möchte ich anhand von Thomas Otways Venice Preserv’d (1682) prüfen, wie in der Entwicklung hin zum pathetischen Drama Liebe und Freundschaft als geltungsstiftende Werte gegeneinander ausgespielt werden. Alle diese Varianten gehen zurück auf die wirkungspoetischen Entwürfe der frühen Restaurationszeit: So fordert William Davenant 1653 im Rückgriff auf die court masque ein Theater des audiovisuellen Spektakels, some Entertainment, where their Eyes might be subdu’d with Heroicall Pictures and change of Scenes, their Eares civiliz’d with Musick and wholsome discourses,⁵ welches die Zuschauenden durch sinnliche Überwältigung zu tugendhaften Untertanen formen könne. Die ethische oder epistemologische Unbestimmtheit des Staunens und die Zweifel an der Zuverlässigkeit des
Vgl. zur Rolle der perspektivischen Bühne in diesem Prozess Kolesch (2005), 43 f. und Peters (2000); zur epistemischen Bedeutung des Theaters in der frühneuzeitlichen Evidenzkultur außerdem Rößler (2012), zur Zuschauerposition Campe (2001). Allgemeiner zu Formationen des Staunens in Literatur und Philosophie der Frühen Neuzeit vgl. Gess (2013), Matuschek (1991), Leinkauf (2015). Michaelis (2011), 3. Im vorliegenden Textkorpus lassen sich nicht nur etablierte rhetorische Figuren und Topoi als Modi einer solchen (Dis‐)Artikulation nachweisen, sondern auch zunehmend eine radikale Entwertung des Sprechens, das keine Gewissheiten mehr zu etablieren vermag. Davenant, A Proposition for the Advancement of Moralitie, 245 (Hervorhebung im Original). Vgl. zum heroic play außerdem: Staves (1979), Hughes (1996), Chua (2014).
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Visuellen werden in einer solchen „politics of sensation“⁶ regelrecht unterdrückt. An diesen Punkten setzt das heroic play an, das ich – in Anlehnung an Susan Owen – weniger als monolithische Reaktion gegen Cromwells Commonwealth verstehen möchte denn als Medium einer kulturellen Standortbestimmung, welches den prekären Status der restaurierten Monarchie fortlaufend reflektiert.⁷ Die staunende Bewunderung im Sinne der cartesianischen admiratio erweist sich in diesem Kontext einmal mehr als Kippfigur, die sich der epistemischen, moralischen und politischen Vereindeutigung entzieht.
The Indian Emperour (1667): adorative Strukturen zwischen Liebe und Politik Mein erstes Beispiel zielt auf die emotionale Dimension des Politischen, wie sie für das frühneuzeitliche England unter anderem Victoria Kahn und – mit Blick auf das Drama – Brandon Chua herausgearbeitet haben.⁸ Drydens Indian Emperour ist ein Stück um die Eroberung Mexikos, das die Grausamkeit der conquistadores in unverkennbarer Polemik herausstreicht, sich aber zugleich scharfen kulturellen Dichotomien verweigert. So sieht Cortez als heroischer Protagonist seine Illusion einer Eroberung nach ritterlichem Ehrkonzept scheitern, der Brutalität seiner Landsleute steht er machtlos gegenüber.⁹ Ihm entgegengesetzt wird die Titelfigur Montezuma, die sich selbst als gottgleicher Herrscher inszenierten lässt, und im Verlauf des Stücks sowohl als affektgesteuerter Autokrat wie auch in Märtyrerpose auf der Folterbank zu sehen ist. Der politische plot wird überkreuzt mit einem Komplex von Liebeshandlungen: Cortez verliebt sich in Montezumas Tochter Cydaria; Cydaria aber ist dem aztekischen Adeligen Orbellan versprochen. Der alternde Montezuma wiederum ist besessen von Almeria, die im genretypischen Gegensatz zu Cydaria die Rolle der bösen, machtbesessenen und dabei vollkommen skrupellos handelnden Frau innehat. Sie selbst liebt jedoch Cortez, und will entsprechend ihre Rivalin Cydaria aus dem Weg räumen. Derweil konkurrieren auch die beiden Söhne Montezumas unglücklich um die gleiche Frau. In dieser Konstellation werden natürlich generisch gefestigte Erwartungen bedient. Sie dient jedoch, wie Cynthia Lowenthal gezeigt hat, nicht nur der unterhalt-
Zitat Dillon (2014), 86. Vgl. zu Davenant ebd., sowie Jacob/Raylor (1991). Susan Owen hebt vor allem die Künstlichkeit der im heroic play präsentierten Lösungen hervor: „In the divided society of the 1660s, in which Stuart ideology has to be reconstructed and reinstated after the rupture of the interregnum, the royalist heroic play represents an attempt to paper over ideological cracks. It is an attempt which, in its very artifice, reveals the constructed nature of late Stuart ideology“ (Owen [1996], 19). Vgl. dazu Chua (2014) sowie Kahn (2009) und (2006). Dryden, Indian Emperour; ich zitiere nachfolgend unter Angabe der Akt-, Szenen- und Versangabe. Die einflussreichste Studie zum Indian Emperour ist Hughes (1981), 38 – 58; vgl. außerdem Lowenthal (2003), 35 – 75, Orr (2001).
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samen Dekoration einer im Kern politischen Handlung, sondern bleibt als eine „series of displacements“¹⁰ stets auf jene perspektiviert. Dabei legt sie – wie ich ergänzen möchte – unterschiedliche admirative und adorative Muster des Bezogen-Seins frei: Gerade über die nie ganz klaren kulturellen Dichotomien wird die moralische und normative Offenheit der admiratio im cartesianischen Sinne einer staunenden VerWunderung ins Fließen gebracht. Liebe, erotisches Begehren und politisches Gehorsam werden miteinander verschränkt. In theoretischer Perspektive berührt dies den Kongruenzbereich von Bewunderung und Verehrung, um deren Unterscheidung sich Schindler et al. bemühen.¹¹ Dieser Studie zufolge gehen sowohl Bewunderung und Verehrung, wie auch Furcht und Überwältigung, auf ähnliche Stimuli zurück; sie formieren sich als Reaktion auf ein als überlegen wahrgenommenes Anderes. Beide Formen des Bezogen-Seins unterscheiden sich aber in der Prozessierung. So beruht die Bewunderung auf einem ‚analytischen‘ Ansatz, der letztlich auf Nachahmung zielt, die Verehrung aber impliziert eine relationale Komponente, als Art, ein Anderes zu adressieren oder sich dazu zu verhalten. Dabei wird ein Verehrtes holistisch, als ein ‚Ganzes‘ verarbeitet, das gar keine nachahmende Angleichung nach sich ziehen kann. Insofern rückt die Verehrung in die Nähe einer transzendentalen Geltungs-Stiftung, etwa im Sinne der Dresdner Forschungen zur kulturellen Funktion des Transzendentalen: Das verehrte Andere, so formulieren es Schindler et al., wird zum „meaning maker“, das gerade durch seine restlose Ausgrenzung auf die innerweltlichen Sinn-Gefüge einwirkt.¹² Die Asymmetrisierung ist in adorativen Mustern also disruptiv, im Sinne einer klaren und auch sprachlich markierten Unverfügbarstellung zu verstehen. Im Gegensatz dazu liegt admirativen Mustern zumindest grundsätzlich eine Art von Kontinuität zugrunde, was der Tendenz nach einer Immanentisierung des Bewunderten entspricht. Wenn man diesen sehr abstrakten Befund historisieren will, so zeichnet sich ab, dass die Überkreuzungen von Staunen, Furcht, Bewunderung, Verehrung, Ehrfurcht, Liebe historisch und kulturell ganz spezifische Konstellationen eingehen. Es werden Differenzierungen eingezogen, oder umgekehrt Überschneidungen thematisiert, die nicht notwendig gegeben, gerade deshalb aber als kulturelle Operationen hochgradig aufschlussreich sind.¹³ In der Arbeit an diesen Differenzierungen spielen Repräsentationen von Liebe eine bedeutende Rolle. Dies, möchte ich argumentieren, gilt be-
Lowenthal (2003), 42. Schindler/Zink/Windrich/Menninghaus (2013). Ich gehe darauf im letzten Teil dieses Aufsatzes näher ein. Die Überlegungen decken sich zu großen Teilen mit Veronika Zinks Studie zur Verehrung (2014), die Zink ebenfalls gebunden sieht an die Überschreitung vertrauter Kategorisierungen: aus dieser heraus entstehe die affektive Einfärbung. Im ausgehenden 17. Jahrhundert geschieht dies nicht zuletzt im Rahmen der verstärkten Auseinandersetzung mit Konzepten der ‚Innerlichkeit‘ und ‚Emotionalität‘, die sich unter dem Einfluss der cartesianischen Philosophie zu konsolidieren beginnt: Diese Entwicklungen haben Rüdiger Campe und Julia Weber (2014) kürzlich als die „great dichotomy“ in der Kulturgeschichte der Emotionen beschrieben.
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sonders im Einzugsbereich des Dramas, wo Liebeshandlungen und Liebesintrigen über die verschiedenen Genres hinweg außerordentlich produktiv blieben und so als Folie für Abwandlungen genutzt werden konnten. Dabei lässt sich in Anlehnung an Schindler et al. bestätigen, dass das Adorative in seiner Betonung der relationalen und der holistischen Komponente in die Nähe der Liebe (im romantischen Verständnis) gerückt wird und eine Re-Konzeptualisierung beider Konzepte im Lichte des je anderen ermöglicht. Eine Unterscheidung ist an dieser Stelle aber wesentlich: Adorative Figurationen, wie sie auch etwa Zink in ihrer Monographie über die Verehrung beschreibt, konstituieren sich ganz entscheidend als soziale Erfahrung, im Sinne eines verehrenden ‚Wir‘, das dem verehrte Anderen gegenübersteht.¹⁴ Figurationen der Liebe arbeiten an dieser Asymmetrisierung und Distanzierung gerade indem die soziale Ebene im Verehren ausgeklammert wird. Auf diese Weise bringen sie die (hermeneutische) Opazität des Unzugänglichen ins Spiel mit intimer Nähe und einer verstärkten Rückkopplung an das individualisierte, liebende Ich. Der Indian Emperour, der noch ganz im Rahmen einer admirativen Dramenästhetik zu verstehen ist, überkreuzt Sprachen der Liebe mit Figurationen des Staunens, der politischen Ehrfurcht und der sakralen Verehrung. Dies beginnt mit der Besetzung des Stücks: Montezuma, der titelgebende Indian Emperour, bleibt die statushöchste Person im Stück, sein natürlicher Gegenpart – Karl V. von Spanien – betritt die Bühne zu keinem Zeitpunkt. Montezumas Isolation wird bereits durch Kostüm und Requisiten stark betont, wobei im Vordergrund nicht die ethnographische Präzision steht, sondern eine Verklammerung von typisierter Alterität und erhabenem Status. Schon bei Montezumas erstem Auftritt berichten die aztekischen Priester, soeben das Menschenopfer zu seinen Ehren beendet zu haben – dem Herrscher steht somit nicht nur eine Masse an Untertanen, sondern eine leblose Masse von restlos anonymen Körpern gegenüber, die sich ihm nicht einmal mehr aktiv unterwerfen können. Dazu tritt die ständige Betonung seines Status durch zeremonielle Inszenierungen, die deutlich auf Sehgewohnheiten des zeitgenössischen Publikum abheben – so ließ sich auch Karl II. von England als ‚auratisch‘ ungreifbarer Herrscher inszenieren, um zugleich sein Publikum als eine von seinem Glanz gebannte Einheit zu konstituieren. Solche performativen Strategien der Herrscherinszenierung, wie sie Paula R. Backscheider als „Spectacular Politics“ beschrieben hat¹⁵ gewannen im Kontext der restaurierten Monarchie außerordentliche Bedeutung. Der spanische König hingegen wird von Cortez nur repräsentiert. Und wie Montezuma auf der Absolut-Setzung seiner Macht besteht, besteht Cortez darauf, ‚nur‘ die
„Bei der Verehrung handelt es sich somit um ein genuin sakrales Phänomen, das auf Grundlage der dargelegten theoretischen Überlegungen als eine emotionale Erfahrung begriffen werden muss, die mit kultisch-performativen Handlungsformen der Internalisierung und Externalisierung des Verehrenswerten einhergeht, innerhalb derer sich die handelnden Subjekte als Teil einer Sozialität erfahren“, Zink (2014), 59. So der Titel der Monographie von Backscheider (1993). Vgl. dazu auch Sharpe (2013), Jenkinson (2010), Spurr (2000), sowie Owen (1996), 110 – 156.
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Anweisungen seines Königs zu befolgen¹⁶ – er setzt damit konsequent die eigenen Handlungsspielräume, und auch den eigenen ‚heroischen‘ Status in der Stellvertreterrolle selbst herab. Entsprechend stehen sich in der Konfrontation von Cortez und Montezuma nicht zwei Vertreter zweier Reiche gegenüber, sondern der inszenierte Machttransfer wird aufgelöst in Verschiebungsfiguren der Repräsentation und Delegation, die gleichzeitig die räumliche Ablösung vom europäischen Kontext dieser (Macht)-Strukturen bloßlegen. Der Text entkomprimiert folglich das im Restaurationsdrama immer prekäre Verhältnis der heroischen Figur zur weltlichen Autorität, indem die heroische Figur und der Herrscher zwei unterschiedenen staatlichen beziehungsweise ethnischen Parteien zugeordnet werden: Was sich für Cortez auf individueller Ebene als tragisches Scheitern seiner Illusionen darstellt, berührt zentrale Fragen politischer Souveränität und politischen Gehorsams. Im Indian Emperour wird dies ganz entscheidend als emotionales Gefüge des Bezogen-Seins konturiert, und zwar über die Kopplung von Liebe und Furcht. So differenziert die politische Theorie, anlehnend an Augustinus und Thomas von Aquin, eine knechtische, selbstzentrierte timor servilis von der positiv bewerteten timor filialis, eine qualitative Verschiebung der existentiellen, zerstörerischen, unrechten Furcht in eine affirmative, liebende Gottesfurcht, über die sich – etwa bei Hobbes – auch der weltliche Souverän legitimieren soll.¹⁷ Im Indian Emperour werden diese politischen Dimensionen mit Figurationen der Liebe in Schwingung gebracht. Unter verschiedenen Gesichtspunkten nähert das Stück sich dabei den damit einhergehenden Zuschreibungen von Status, agency, und einer sakralisierenden Distanzierung – ein Aspekt, der gerade durch die Auslagerung der Handlung in die ‚Neue Welt‘ und die polemische Ausgrenzung der (katholischen) Spanier virulent wird. Liebe wird wiederholt erfasst als Form der Inszenierung von Bezogenheiten, die eine Asymmetrisierung, teils gar Inversion von Machtstrukturen herstellt. Entsprechend diskutiert Cortez mit Cydaria die Übersetzung von vermeintlich ‚natürlicher‘, affektiver Liebe in die höfische Inszenierung einer Anbetung (adore), die dem Liebenden als Vollendung der Ehre gilt: Our greatest Honour is in loving well (II.iii, 66); Cydaria kommentiert dies mit here Love is Nature, but with you ’tis Art (ibid., 68), formuliert also die Übersetzung von Emotion in eine (distanzierende) Ästhetisierung als Irritationsmoment. Gleichzeitig formieren sich – aus der Sicht des
If for my self to Conquer here I came / You might perhaps my actions justly blame. / Now I am sent, and am not to dispute / My Princes orders, but to execute (Indian Emperour II.ii, 24– 27). „Leviathan, der ‚sterbliche Gott‘, der Souverän, der sich aus den Untertanen konstituierte, die er beherrschte, legitimierte sich […] durch die Umlenkung einer anthropologisch und gesellschaftlich unhintergehbaren Furcht – durch eine Umlenkung jedoch, die politische Stabilität allein deswegen versprach, weil mit ihr eine qualitative Transformation einherging: die Verwandlung der in Gewalt mündenden Furcht vor Gewalt in den Affekt liebender Gottesfurcht“, Bähr (2011, hier 76), vgl. ders. (2013) sowie Naphy/Roberts (1997), Chua (2014), 111– 118, sowie Kahn (1999), die – mit Blick auf Gouge, Milton und Hobbes – insbesondere auf den Einfluss frühneuzeitlicher Liebes- und Ehediskurse auf die politische Theoriebildung hinweist.
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spanischen Priesters – Muster der Anbetung (hier „worship“) religionsübergreifend als Reaktion auf ein transzendental Anderes: All under various names, Adore and Love / One power Immense, which ever rules above. (V.ii 63 f.) Beide Formen der Asymmetrisierung überschneiden sich schließlich mit Mustern der Ehrerbietung, die wiederholt eingesetzt werden, um Intimität abzuwehren. Das Schwanken zwischen menschlichen und transzendentalen, affektiven und adorativen Ebenen manifestiert sich dabei bereits lexikalisch. So fordert Almeria die Gegenliebe des eingesperrten Cortez, der sich höflich ihrem esteem (IV.iv, 25) verweigert, er küsst aber in Anerkennung seiner Unterlegenheit ihre Hand: Take my devotion then this humbler way;/ Devotion is the Love which Heaven we pay. (IV. iv, 29 f.). Die Abwehr der Rolle als Liebender wird so mit einer sakral konnotierten Distanzierung überschrieben. Besonders deutlich wird die Frage nach den darin impliziten Status-Asymmetrien in der Folterszene im letzten Akt. Montezuma, von den goldgierigen Spaniern gefoltert, will scheinbar unberührt von physischem Schmerz der eigenen Vergöttlichung entgegengehen. Davor rettet ihn Cortez. Dies löst jedoch die eigentliche Krise erst aus, die sich vor allem in der (sprachlichen und performativen) Zuschreibung von Statusgefällen manifestiert.Vielsagend versetzt Cortez dabei Montezuma rhetorisch in die Vaterrolle und inszeniert sich selbst als hilflos (Mit‐)Leidenden: A Father, Father, what do I endure / To see these Wounds my pity cannot Cure! (V.ii, 117 f.). Die Umarmung, die die monarchische Un-Berührbarkeit des Gegenübers unterbricht, wechselt mit adorativen Posen: Indem er niederkniet, bestätigt er indirekt die idolatrischen Muster, die Montezuma für sich einfordert. Dieser jedoch verweigert sich dem Mitleid des Rettenden als radikalste Unterbrechung seiner (im Wortsinne) unantastbaren monarchischen Größe, die sich nicht in eine menschliche Gemeinsamkeit auflösen lässt. Montezumas Rettung mündet entsprechend in seinen Suizid, der als regelrecht naturgesetzliche Notwendigkeit inszeniert wird – wo seine Macht erlösche, erlösche auch sein Leben. Indem er demgegenüber Cortez als heroischen Protagonisten am verweigerten Mitleid (pity) scheitern lässt, schreibt sich Dryden in einen komplexen literarischen und wirkungsästhetischen Diskurs ein, der neben dem Stellenwert des Mitleids in der aristotelischen Ästhetik auch die epische Tradition aufnimmt, wo sich – wie Colin Burrow zeigt – Aushandlungen von ‚Mitleid‘ als Komplex von Affekten zwischen pity and piety über Vergil und das italienische Epos bis zu Spenser, Sidney und Milton fortsetzen.¹⁸ Entscheidend im literaturgeschichtlichen Kontext des Indian Emperour ist die Abwehr von Mitleid im elisabethanischen Epos, wo es mit Machtrelationen und politischer Unterwerfung verschränkt wird, bezeichnenderweise aber auch in Liebe oder erotische Attraktion übergehen kann: Dieses Abgleiten in ein „sexualized, false pathos“ hebt am Beispiel von Spenser unter anderem Cynthia Nazarian hervor.¹⁹ Gerade indem Dryden Mitleid, (verehrende) Liebe und die politi Burrow (1993). Nazarian (2016), Zitat 334. Spezifisch beobachtet auch Burrow (1993) für Spensers Faerie Queene (1590/96) das Eindringen von Machtrelationen in Figurationen des Mitleidens, die teils in sexuelles Begehren übergehen (122– 125).
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sche Extremsituation eines kolonialen Machttransfers überschneidet, kommt er zu einer Neubewertung eines Geflechts von politischen Modi des Bezogen-Seins, die sich nicht in einer royalistisch motivierten Vereindeutigung erschöpft.
Admiratio zwischen ästhetischer und erotischer Attraktion: Elkanah Settles Conquest of China, by the Tartars (1676) Während Drydens Indian Emperour stark auf die politisch-adorative Dimension abhebt, tendiert Settles Conquest of China, by the Tartars ²⁰ zur Ästhetisierung und Erotisierung einer ‚heroischen‘ Wirkung. Im Vordergrund der Dramenhandlung steht die Eroberung der chinesischen Ming-Dynastie 1644 durch die Mandschu. Gegen ein von Korruption und Putschversuchen geschwächtes chinesisches Reich wird Zungteus, der tartarische Thronfolger profiliert, dem am Ende der kinderlos sterbende chinesische Kaiser sein Reich überschreibt. Dies wird ebenfalls mit einer Liebeshandlung verschränkt: Zungteus liebt Amavanga, Herrscherin einer chinesischen Provinz, die als Amazone gegen die Tartaren ins Feld zieht. Diese Verkleidung perspektiviert Settle nicht nur als – metatheatral gedachte – Verstellungsleistung, sondern auch als Effekt, also als Wirkungsstruktur: Das amazonische gendering der Figur zielt folglich auf die Präsenz und Wirkung der heroischen Figur, ihre Inkommensurabilität entsteht aus gerade dem Grenzbereich von Identität und Rolle. So formuliert die Figur, sie wolle sich dem Blick der getäuschten Welt entziehen (th’Eye of a deluded World escape, 4); ihr Verschwinden bleibt jedoch unvollständig, sie geht nie restlos in der angenommenen Rolle auf. Dieses diffuse, sprachlich nicht auf den Punkt zu bringende Bewusstsein einer Nicht-Echt-Heit inszeniert Settle im Wechselspiel von Erotisierung und Ästhetisierung. Dabei artikuliert zwar der Held immer wieder seine Liebe zur (vermeintlich abwesenden) Amavanga, kann diese Gefühle aber eben nicht auf die als Krieger bewunderte, ‚männliche‘ Figur beziehen. Intimisierung wird so ausbalanciert mit admirativer Distanz: Die eingezogene Täuschung forciert eine analytische Lücke zwischen erotischer Affizierung und vorrational staunender Verwunderung. Schon bei der ersten Begegnung mit der Unerkannten reflektiert Zungteus ihre paralysierende, nicht aus sich heraus erklärbare Wirkung, wobei die admirative Reaktion in die Nähe zu Verunsicherung und Furcht, und zum stupor als Vernunft-Starre²¹ gerät. Dabei fokussiert er im dramatischen aside nicht sein Gegenüber, sondern sich selbst: Settle, Conquest of China; ich zitiere im Folgenden im Fließtext unter Angabe der Seitenzahl. Vgl. zum Stück die Beiträge Hughes (1996), 98 – 100; Orr (2001), 105 – 109, Yang (2011), 32– 74, Chang (2015), sowie Dalporto (2004). In meinem eigenen Beitrag (Hansen [2016]) gehe ich vor allem auf die kulturanalytisch perspektivierten Aushandlungen von Illusion und Authentizität ein. Vgl. zum Begriff des stupor ausführlich Matuschek (1991), sowie Weingart (2014), 73 f.
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Ha! There’s Enchantment there, and something stole Through that soft Circle, has surpriz’d my Soul. I cannot fear, and yet me thinks I quake: Dar’d by that breath, my trembling Spirits shake. Great God’s! what sudden Chill has seiz’d my blood; Something – no matter what; be’t ill, or good, I blush for’t, and ’tis gone. (4 f.)
Rhetorisch bedient Zungteus Figuren des Widerspruchs (I cannot – and yet); Auslassungsstriche (als Indikation eines Verstummens, oder Stockens im Redefluss) ergänzen diffuse Begriffe (something). Auch die Anrufung göttlicher Macht indiziert seine kognitive und affektive Überforderung. Die plötzliche disruptive Wirkung der Situation (has surpriz’d) fügt sich zu ihrer Flüchtigkeit (and ’tis gone). Dabei bleibt die ethische Qualität (ill, or good) des Auslösers in der Schwebe. Dieser Unentschiedenheit entspricht eine starke physische Affizierung, die sich zwischen topischen Manifestationen von Liebe und Furcht bewegt. Diese Situation geht aus gerade der kurzen Umarmung der Figuren hervor, deren Erotisierung in dramatischer Ironie nur dem Publikum evident wird: Ausgerechnet die unvermittelte physische Nähe und die physische Unmittelbarkeit der Reaktion darauf springen über in maximale Distanz, die Zungteus in Dimensionen des Magischen und Sakralen zu fassen sucht.²² Die Irritation entsteht also ganz zentral aus der für einen Augenblick gegebenen Berührbarkeit und der damit einhergehenden Intimisierung, die sich aber gleichzeitig einem erkennenden Zugriff entzieht. Es ergibt sich eine ‚auratische‘ Spannung von Nähe und Distanz, wie sie – als Operation an den Grenzen von Sichtbarkeit und Berührbarkeit – vor allem Doris Kolesch beschrieben hat.²³ Diese werden hier ausgelotet in der spezifisch theatralen Verschränkung von Strategien des gleichzeitigen Vorführens und Verbergens.²⁴ Eine solche Paradoxierung von Nähe-Distanz-Verhältnissen wird im Verlauf des Stücks weiter forciert. Vor allem wird die Gewalt der Amazone als Kriegerin in den Bereich der ästhetischen Wirkung übersetzt, so resümiert Zungteus im Rückblick, die Figur scheine sich auf Schlachtfeld und Bühne zugleich zu befinden (Seem both to act a Slaughter, and a Mask [22]). Es ist bezeichnend, dass diese Erfahrung des (hermeneutisch) Fremden nicht szenisch dargestellt, sondern nur im narrativen Rückblick erschlossen wird: Die Erfahrung des Inkommensurablen ist nicht szenisch, sondern nur in der sprachlichen Annäherung vermittelbar. Gerade der ostentative „Entzug des
So konstatiert Zungteus Something I feel so Sacred at thy sight (5); Some Divine pow’r has humane likeness worne (5), If supernatural pow’r this terrour draws (5). Kolesch (2006) definiert Aura, in Abgrenzung von Walter Benjamin, als „Nähe, so fern sie auch sein mag“ (72, Hervorhebung im Original), als „Produktion einer Erscheinung eines Eindrucks von Nähe“ (ibid.), die konterkariert wird durch nuanciert eingesetzte Distanzierungsstrategien. Ibid., 71. Dem entsprechen auf sprachlicher Ebene Schweigeeffekte und ein demonstratives Ringen um Sagbarkeit.
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Visuellen“²⁵ im spektakulär visuellen Restaurationstheater akzentuiert Fragen nach sprachlicher und szenischer Darstellbarkeit. Dabei generiert sich die Ästhetisierung konstitutiv aus der Erfahrung der epistemischen oder hermeneutischen Unzugänglichkeit, umgekehrt fungiert jene als Unterbrechung des analytischen oder funktionalisierenden Zugriffs im Sinne einer cartesianischen Definition des Schönen als das, was nicht bestimmt werden kann, und dessen Macht jeder erkennbaren Grundlage entbehrt.²⁶ Die Fremdheit der Figur, im Sinne einer epistemischen Krise oder Irritation, wird erzeugt durch diese letztlich ästhetisch formulierte Unterbrechung eines Verstehens-Prozesses: Aus der verdeckten Erotisierung der Figur, und aus der Diskrepanz zwischen Figur und angenommener Rolle, formiert sich ihre auratische Wirkung. Was in solchen Konstellationen erkennbar wird, ist eine Unverfügbar-Stellung nicht nur des als außerordentlich erfahrenen Gegenübers, sondern auch eine Unverfügbar-Stellung von Bezogenheiten, also der verbindenden Praktik einer Wirkungsund Rezeptionsstruktur, die sprachlich nicht aufgeschlüsselt werden kann. Die Sprache des Sakralen wahrt dabei, wie Veronika Zink argumentiert, genau diese Unantastbarkeit, indem sie Unsagbarkeit und Unverfügbarkeit miteinander verschränkt. Sie signalisiert eine prinzipielle Verunmöglichung des kommunikativen Zugriffs, welche kein oberflächliches Merkmal der Verehrung ist, sondern ihr integraler Bestandteil: Der rhetorische Rückzug auf eine prinzipielle Unmöglichkeit der Kommunizierbarkeit bestärkt […] den Glauben an die Inkommensurabilität des Phänomens, indem dargelegt wird, dass jeder Versuch der sprachlichen Annäherung mittels Signifikanten zwangsweise […] scheitere.²⁷
Es muss also nicht nur das verehrte oder bewunderte ‚Andere‘, sondern auch die Bedingungen des Bezogen-Seins müssen außer Reichweite gerückt werden, um den Status des Verehrten und die daraus womöglich abgeleiteten Macht- und Geltungsansprüche zu erhalten. Die bei Dryden und Settle im Ansatz schon nachvollziehbare erotische Perspektivierung des Admirativen radikalisiert sich im spektakulären horror play, das vor allem in den 1670er Jahren die Bühnen beherrschte und die admirative Fesselung des Zuschauers an die tugendhafte Größe seiner Protagonisten radikal scheitern lässt.²⁸ Stattdessen bedienen diese Texte Vorstellungen einer visuell induzierten Faszination, die in der Frühen Neuzeit – wie Andreas Degen herausgearbeitet hat – im Gegensatz zum heute üblichen Wortgebrauch transitiv aufgefasst wird: jemandem geschieht etwas durch eine äußere Macht. Mit der Bewunderung teilt die Faszination das Moment
Benthien (2014), 371. Vgl. Menke (2008); Gess (2013). Zink (2016), 27. Zink geht von einem wesentlich (post)modernen Begriff des Charismatischen aus, ihre Überlegungen zur Unverfügbar-Stellung von Bezogenheiten lassen sich aber durchaus auch für die Frühmoderne fruchtbar machen. Vgl. zum Genre Hermanson (2014).
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einer epistemischen Krise, bleibt aber unproduktiv, bannt also die RezipientInnen ganz radikal in eine passive Rolle.²⁹ Faszination rückt so in den Bereich dämonischer Macht und des ‚bösen Blicks‘ als visuelle Infektion, berührt sich aber auch mit Konzeptionen der Liebe, nicht zuletzt in der Annäherung von Faszination und Eros, wie sie wirkungsmächtig Marsilio Ficino vornimmt. Degen beschreibt dies als Wendepunkt in der konzeptuellen Geschichte des Begriffs, der bis in den heutigen Gebrauch wirksam bleibt: Insofern als das faszinierte Individuum in Reaktion nach der Quelle dieser Ansteckung sich zu sehnen beginnt, gründet die (erotische) Liebe wie auch die Faszination im Visuellen, und integriert daraus die metaphysische wie auch die physiologisch-sexuelle Ebene.³⁰ Das horror play knüpft genau hier an, überkreuzt also erotische Anziehung mit faszinierender Wirkung und reagiert so auf die Ästhetik einer sinnlichen Überwältigung, wie sie im Rückgriff auf die Renaissancepoetiken vor allem William Davenant formuliert.³¹ Die Bindung der Lesenden an die vorgestellten Tugenden wird dabei wiederholt als erotische Affizierung gelesen, die sich in der Bewunderung und ihrer Übersetzung in die aemulatio manifestiert. Entsprechend argumentiert Philip Sidneys Defence of Poesie (1595), die spezifische Macht der Dichtung liege in der Fähigkeit, Tugend als sinnlich wahrnehmbare Schönheit erfahrbar zu machen: who could see virtue would be wonderfully ravished with the love of her beauty. ³² Im horror play wird eine solche Erotisierung der Tugend, und die dämonische Macht des Faszinierenden auf eine gemeinsame Wirkungsstruktur zurückgeführt. Settles überaus erfolgreiche Empress of Morocco (1673) ist das bedeutendste Beispiel für dieses Genre, das gerade die erotische Attraktion zum Kipp-Punkt zwischen Bewunderung und Faszination inszeniert und dabei den Grenzbereich zwischen Staunen, Bewunderung, Verehrung und dämonischer Faszination im Licht von erotischer Wirkung ausleuchtet. Noch deutlicher überkreuzt Nathaniel Lees Nero, Emperour of Rome (1675) politische und erotische Macht, indem es Neros Einfluss in Modi der visuellen Ansteckung und der sexualisierten agency fasst.
Vgl. maßgeblich Weingart (2014) und (2009). „Ficino’s inversion of the physiological concept of fascination in the sense of value (sensual love) and goal orientation (reciprocal attraction) stands at the brink of a semantic re-evaluation of the term ‚fascination‘ in meaning of ‚power of attraction‘“, Degen (2012), 387. Vgl. Baumbach (2015); zu dämonologischen Diskursen auch Clark, (2007), 123 – 160. Vgl. neben den oben genannten Studien zu Davenant Junker (2011), sowie Weinberg (1961). Sidney, Defence of Poesie [An Apology for Poetry], 119; vgl. Junker (2011), 52 f. Deborah Shuger hat in diesem Zusammenhang den Begriff „ocular eroticism“ geprägt (Shuger [1994], 178).
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Liebe und Freundschaft in transzendentaler Perspektive: Thomas Otways Venice Preserv’d, or The Plot Discover’d (1682) Während im horror play jegliche transzendentale Orientierung unterdrückt wird, stellt Otways Venice Preserv’d (1682) genau dieses Moment der Unverfügbarstellung in den Vordergrund. Literaturgeschichtlich steht das Stück am Übergang zur pathetischen Tragödie oder she-tragedy, einem Genre, das der admirativen Distanz den mit leidenden Abbau von Distanzierungen entgegensetzt.³³ An die Stelle von episch konturierten Heldenfiguren oder historischen Potentaten treten vermehrt novellistische Stoffe, die – häufig weibliche – Opferfiguren in den Vordergrund stellen. Mitleid ist so verflochten mit erotisierenden oder voyeuristischen Blicken auf die leidenden Figuren. Otways Venice Preserv’d perspektiviert diese Entwicklungen in Hinblick auf Fragen der innerweltlichen Geltungsstiftung und transzendentalen Orientierung. Sprachen der Liebe und der Freundschaft dienen dabei als eine Art transzendentaler Rest, der auf seine Leistungsfähigkeit hin untersucht wird. Das Stück dramatisiert die Geschichte einer scheiternden Verschwörung gegen den Senat des republikanischen Venedig.³⁴ Es positioniert sich ostentativ vor dem Hintergrund der Exclusion Crisis, der Frage nach der dynastischen Nachfolge des offiziell kinderlosen Karl II., und dem Status seines offen katholischen Bruders James in der Thronfolgeregelung.³⁵ Das Stück lässt sich jedoch kaum auf eine solche politische Verschlüsselung reduzieren: Es bezieht weniger partisanisch Stellung, sondern vermisst Grundlagen politischer Loyalität, und zwar in der ständigen Gegenüberstellung von Liebe und (männlicher) Freundschaft. Jaffeir, der Protagonist, lässt sich von seinem Freund Pierre überzeugen, sich den Verschwörern anzuschließen, ist aber gespalten zwischen seiner Loyalität zu Pierre und seiner Liebe zu seiner Frau Belvidera, der Tochter eines venezianischen Senators. Im Zuge dessen verliert er Mut und Orientierung, verrät auf Belvideras Veranlassung seine Freunde, und um Pierre vor der Hinrichtung auf dem Rad zu bewahren, erdolcht er schließlich Pierre und dann sich selbst. Im Gegensatz zum frühen heroic play, welches die Furchtlosigkeit seiner Helden in den Vordergrund stellt, vermisst Venice Perserv’d dabei Schattierungen der Furcht und der Feigheit in persönlichen und politischen Bezugssystemen.
Der Begriff she-tragedy geht auf Nicholas Rowe zurück, ist aber notorisch unterdefiniert, nicht zuletzt als das Genre oft eher als ein kurzlebiges Übergangskonstrukt verstanden wird (vgl. de Pando [2014], Luis-Martinez [2008]). Thomas Otway, Venice Preserv’d; ich zitiere nachfolgend im Fließtext unter Angabe der Akt-, Szenen- und Versangabe. Quelle ist die schon in den 1670ern ins Englische übertragende Darstellung von César Vichard Abbé de Saint-Réal (1675). Grundlegend dazu Owen (1996).
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Während die Stücke im Einzugsbereich des heroic play und des horror play stark auf die Unzuverlässigkeit des Visuellen abheben, steht im Fokus von Venice Preserv’d das, was Douglas Canfield als „total breakdown of language“³⁶ bezeichnet hat: Es verhandelt in wechselnden Versuchsanordnungen die versagende Zuverlässigkeit von Bekenntnissen, Versprechen und frei flottierenden verbalen Etiketten. Besondere Schärfe gewinnt dies durch die Tatsache, dass die geplante Verschwörung gegen den Senat sich nie materialisiert, sodass die Handlung sich zu großen Teilen auf Antizipationen, Vermutungen und Möglichkeitsfigurationen reduziert. Liebe und Freundschaft werden als intime Formen des Bezogen-Seins der politischen Loyalität gegenüber in Stellung gebracht, keine der drei Ebenen gewährt jedoch die erhoffte transzendentale Gewissheit oder orientierende Geltung.³⁷ So wird das Komplott mit der Korruption und Degeneration des Senats legitimiert, der keine Verehrung mehr zulässt. Entsprechende asymmetrische Konstruktionen werden in einer Rhetorik des Unverfügbaren auf die Liebes- und Freundschaftsbeziehungen projiziert, erweisen sich aber als haltlos. Es bleibt unklar, wer wem Orientierung bieten soll, wo staatliche Ordnung offensichtlich nicht leistet, was sie leisten soll: Politische Un-Ordnung wird so profiliert in Systemen des zwischenmenschlichen Bezogen-Seins. Dabei spiegelt das Stück die Haupthandlung in der Handlung um den korrupten, masochistischen Senator Antonio und seiner Beziehung zu der Prostituierten Aquilina; Die Unverfügbarstellung von Liebe und Freundschaft wird also im denkbar schärfsten Kontrast auf die Ebene einer profanen käuflichen Erotik bezogen. Auf der Ebene der ‚heroischen‘ Handlung entsteht die krisenhafte Zuspitzung vor allem aus der rhetorischen Verschmelzung von Freundschaft und Liebe und der Kollision von adorativen und intimen Mustern, an denen sich auch hier je Statusrelationen und Konzepte von Macht oder agency niederschlagen.³⁸ So schwört Jaffeir by Love and Friendship (II.ii, 180) seine bedingungslose Loyalität zu Pierre, ganz ausdrücklich wünscht er, er könne den Freund lieben wie Belvidera: How I could pull thee down into my heart, / Gaze on thee till my Eye-strings crackt with Love (II.iii, 425 f.). Dem entsprechen (rhetorische und strukturelle) Spiegel-Figuren und Metaphern der Innerlichkeit, wie die wiederkehrende Metapher des geöffneten, dadurch lesbaren Herzens, die im Doppelmord der Schlussszene auf grausame Weise physisch ver-
Canfield (2000), 101. In dem am Dresdener SFB 804 erarbeiteten Modell wird Transzendenz verstanden als ein Bezug auf ‚Unverfügbarkeit‘, der sich als „kulturelle Hintergrundleistungen“ (Dreischer/Lundgreen/Scholz/ Schulz [2013], 1), von innerweltlichen Ordnungen und Geltungsansprüchen versteht, und damit einen symbolischen Sinnüberschuss erzeugt. Ein begriffliches Bindeglied ist dabei das kulturelle Konzept der Sakralisierung (dazu Vorländer [2013]). Zugrunde liegt die Differenzierung von ‚Liebe‘ bei Descartes auf Grundlage der je perzipierten Eigenschaften des Objekts, dem ‚estime‘: Zuneigung charakterisiert demnach solche Relationen, in denen man sich dem Anderen gegenüber überlegen fühlt, Freundschaft solche, die eine Gleichwertigkeit implizieren, ‚devotion‘ – also Hingabe – charakterisiert den Bezug auf das Göttliche oder den Souverän, wie sie Campe ([2014], 49) im Sinne einer „political theology of the Other“ beschreibt.
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wirklicht wird.³⁹ Zugleich sucht Jaffeir an Belvidera, der Geliebten, Orientierung, und bemüht Sprachen des Unverfügbaren, um aus ihrer transzendentalen Überhöhung heraus seine Abtretung von Entscheidungsmacht zu rechtfertigen: There’s in you all that we believe of Heav’n, Amazing Brightness, Purity and Truth, Eternal Joy, and everlasting Love. (I.i, 340 – 342)⁴⁰
Ähnlich wie in Lees Nero wird die Wirkungslosigkeit dieses Orientierungsversuchs durch eine Figur der Spiegelung herausgearbeitet – so versucht gleichzeitig Belvidera, sich an ihm als Freund zu orientieren, und fordert aus der intimen Nähe heraus eine Teilhabe: Look not upon me as I am, a Woman, But as a Bone, thy Wife, thy Friend; who long Has had admission to thy heart, and there Study’d the Virtues of thy gallant Nature; Thy Constancy, thy Courage and thy Truth, Have been my daily lesson: I have learnt them, Am bold as thou, can suffer or despise The worst of Fates for thee; and with thee share them. (III.ii, 119 – 126)
Bezeichnend ist, dass Belvidera sich nicht in der Position der (bewundernden) Zuschauerin versteht, sondern sich im Herzen des Geliebten selbst zu positionieren sucht, eine extreme Formulierung von Intimität, die die minimale Distanz des Beobachtens eliminieren will, und sich damit Jaffeirs eigener, distanzierender Haltung verwehrt (Look not upon me). Dies natürlich scheitert. Ihre eigene Orientierungslosigkeit generiert sich gerade daraus, dass sie den selbst Orientierung Suchenden zu spiegeln versucht. Entsprechend verschiebt Otways Stück die Bewunderung heroischer Größe und Furchtlosigkeit hin zum Konzept des Mitleids, dem die admirative oder adorative Komponente gänzlich fehlt, und das stattdessen auf eine Immanentisierung zwischenmenschlicher Bezogenheit zielt: Als auf sich selbst zurückgeworfene ‚fear for the self‘, so die cartesianisch geprägte Erklärung bei Hobbes,⁴¹ verweist das Mitleid so auf das Wegbrechen einer geltungsstiftendenden transzendentalen Ge-
For thou art so near my heart, that thou may’st see / Its bottom, sound its strength and firmness to thee (II.i, 143 f.). Diese Asymmetrisierung wird jedoch in der Schlussszene, nach Jaffeirs Verrat, überschrieben mit dem der Erbsünde: man ne’r was bless’d, / Since the first pair first met (V.i , 270 f.). Jaffeirs bedient so eine Kippfigur weiblicher Macht, die ihn aber gleichermaßen in einer passiven Rolle fixiert. Das Motiv des Mit-Leidens betont auch Weidle (2007): der Konflikt im Stück ergebe sich weniger aus unvereinbaren Loyalitäten und Allianzen denn aus verschiedenen Modi der Selbstwahrnehmung: berührt ist hier die von Campe herauspräparierte Übersetzung von Äußerlichkeit und Innerlichkeit, Selbst- und Fremdwahrnehmung, die sich am cartesianischen Begriff des ‚estime‘ kristallisiert.
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wissheit, wie sie Liebe und Freundschaft hätten leisten sollen.⁴² Der Zuschauer bewundert nicht länger eine heroisch imprägnierte Furchtlosigkeit, sondern wird von Jaffeir in einer denkbar radikalen Reformulierung der Zuschauerposition selbst zum Zeugen seiner Feigheit aufgerufen.⁴³
Fazit Wie die obigen Stichproben gezeigt haben, experimentiert das Drama der Restaurationszeit mit Figurationen der Liebe in verschiedenen Facetten zwischen Freundschaft, politischer Ehrerbietung, sakralisierender Verehrung und erotischer Anziehung, und gibt so unterschiedliche Perspektiven auf Kippfiguren des Ver- und Bewunderns, der Überwältigung, der Furcht und der Abwehr frei. Gerade im Theater überschneiden sich Sprachen des Unsagbaren mit Fragen der visuellen Darstellbarkeit, und werden wiederum zu Prozessen der kulturellen Unverfügbarstellung und transzendentalen Geltungsstiftung in Beziehung gesetzt. Am Übergang vom Adorativen zum Idolatrischen, und in der ‚auratischen‘ Repräsentation von Herrschaft werden diese Verhandlungen auch in politischer Perspektive relevant: Die Texte fügen sich in kulturelle Aushandlungen politischer Bezogenheiten in einer Phase drastischen gesellschaftlichen Wandels, eines, wie Victoria Kahn formuliert, „discourse of contract in the making“, „best thought of as a radically new poetics of the subject and the state“.⁴⁴ Deutlich wird in diesem Zusammenhang auch das kommunikative Schweben zwischen verschiedenen Ebenen des Bezogen-Seins – so zwischen Freundschaft und Liebe, sakraler Verehrung und Gehorsam, zwischen erotischer Attraktion und dämonischer Faszination. Diese Unbestimmtheit erweist sich nicht als akzidentelles Merkmal, sondern als ganz wesentliches Moment in kulturellen Aushandlungen und in Prozessen der Transformation. Als topische Entwürfe des nicht mehr Kommunizierbaren reflektieren dramatische Versuchsanordnungen der Liebe auf Strukturen der Wirkung in poetologischer, epistemologischer und politischer Perspektive, und fordern so auch Konzepte des vor-rationalen Staunens oder der cartesianischen admiratio immer wieder heraus.
Zu den Neukonzeptionen des Mitleids in der Wirkungsästhetik des 17. Jahrhunderts vgl. maßgeblich Ibbett (2008). I am, I am a Coward; witness’t, Heaven, / Witness it, Earth, and every being Witness (IV.i, 520 f.). Kahn (2009), 1.
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Die eitle Liebe zum Ich. Unsagbarkeit in der Narziss-Episode bei Jörg Wickram I Der Einfluss des Zeitgeistes auf die frühneuzeitliche Metamorphosen-Bearbeitung „Jedes Kunstwerk verrät die Absichten seines Schöpfers und reflektiert dessen Zeit. Kein Werk aber tut dies so sehr, wie dasjenige, das einen schon vorher bearbeiteten Stoff behandelt.“¹ Diese Feststellung gilt auch für die 1545 erstmals erschienene Metamorphosen-Bearbeitung des Elsässers Jörg Wickram. Statt sich für dieses Vorhaben mit dem ovidischen Originaltext auseinanderzusetzen, orientierte sich Wickram allerdings vor allem an der mittelhochdeutschen Übersetzung Albrechts von Halberstadt, entstanden um 1190 bzw. 1210. Der Einfluss dieser, an mittelalterliche Ansprüche angepassten, Version der ovidischen Metamorphosen darf nicht unterschätzt werden. Nach eigenen Angaben hat Wickram nur sprachliche Anpassungen an den Geschmack seiner Zeit vorgenommen und sich mit Veränderungen den Inhalt betreffend eher zurückgehalten.² Dies bestätigt auch die Forschung von Behmenburg zur Geschichte um Philomela, die im Oldenburger Fragment A überliefert ist.³ In Bezug auf das Zitat von Moog-Grünewald stellt Wickrams frühneuzeitliche Bearbeitung somit einen Sonderfall dar, da er zum Teil nicht nur den eigenen, sondern auch den mittelalterlichen Zeitgeist seiner Vorlage konserviert hat. Inwieweit die Narziss-Episode bei Wickram von Albrechts Bearbeitung vor allem in ihrer Ausrichtung beeinflusst wurde, lässt sich allerdings nur hypothetisch feststellen und in Anlehnung an die Studien zu anderen Episoden im Vergleich zwischen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Version ableiten, da sich die Geschichte um Narziss und Echo nicht unter den fünf erhaltenen Fragmenten von Albrechts Version befindet. Mittels dieser vorhandenen Teilstücke konnte unter anderem festgestellt werden, dass einige der Auslassungen von Stellen, die für ein christliches frühneuzeitliches Publikum moralisch als fragwürdig zu beurteilen gewesen wären oder volksmythologische Deutungen enthielten, bereits auf Albrecht zurückgehen.⁴ Doch nicht nur die Verchristlichung des antiken paganen Textes spiegelt sich in Wickrams Bearbeitung wider. Es finden sich weitere Komponenten, die durch verschiedene Strömungen seiner Zeit Moog-Grünewald (1979), 13. Vgl. Widmungsrede Wickrams an Wilhelm Boeckle von Boecklesaus, in: Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 5, 19 – 24 und 10, 1– 15. Vgl. Behmenburg (2009), vgl. des Weiteren Kipf (2012), 27– 29. Vgl. Schmitt (2008), 139; Behmenburg (2009), 149 – 158; Rückert (1997), 121– 139. Genauer dazu Heinzmann (1969) und Neumann (1969), 207– 257. https://doi.org/10.1515/9783110628920-009
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bedingt sind. Dazu zählt sein Impetus, ein lateinisches Werk für ein Publikum bestehend aus Laien zu öffnen, es für jederman zugänglich zu machen, wie er selbst im Titel schreibt.⁵ Diese Transformation des antiken Textes durch Wickram steht ganz im Zeichen der seit dem ausgehenden Mittelalter zunehmenden Aufwertung der Laienunterweisung, die vor allem durch die Ausweitung des Druckwesens im 15. Jahrhundert begünstigt und aufgewertet wurde und den neuen Bedürfnissen, der neuen Lebensweise des Bürgertums geschuldet war.⁶ Vor allem der Inhalt steht für Wickram im Fokus, den er als Inspirationsquelle für Maler, Bildhauer und Künstler im Allgemeinen sieht und der damit für ihn eine höhere Wertigkeit besitzt als die genaue und getreue Wiedergabe des lateinischen Textes.⁷ Dieses Anliegen des Humanismus vernachlässigt Wickram, obwohl die Beschäftigung seinerseits mit einem ursprünglich lateinischen Text durchaus eben diesem humanistischen Selbstverständnis entspricht. Durch die Nähe zu Erasmus von Rotterdam war Wickram durchaus mit dem für diese Strömung üblichen Verfahren der Bearbeitung antiker, lateinischer Texte vertraut.⁸ Allerdings geht die Forschung weitestgehend davon aus, dass sich Wickrams Lateinkenntnisse auf ein Minimum beschränkten,⁹ sodass es ihm in dem Maße, wie es der Humanismus forderte, nicht möglich war, den lateinischen Text Ovids zu übersetzen.¹⁰ Daraus erklärt sich auch die Wahl seiner Vorlage, der bis dato einzigen
Vgl. die Titelei zu Wickrams Metamorphosen-Bearbeitung: P. Ovidii Nasonis deß aller sinnreichsten Poeten Metemorphosis / Das ist von der wunderbarlicher Verenderung der Gestalten der Menschen / Thier / und anderer Creaturen. Jederman lustlich / besonder aber allen Malern / Bildhauern / unnd dergleichen allen Künstnern nützlich / Von wegen der ertigen Invention unnd Tichtung. Etwan durch den Wolgelerten M. Albrechten von Halberstat inn Reime weiß verteutscht / Jetz erstlich gebessert und mit fis guten der Fabeln gezirt / durch Georg Wickram zu Colmar. Epimythium. Das ist Der lustigen Fabeln deß obgemeltes buoches Außlegung / jederman kürzweilig / vornemlich aber allen liebhabern der Edeln Poesie stadtlich zu lesen Gerhadi Lorichii Hadamarii, in: Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 1. „Des P. Ovidii Nasonis, des einfallsreichsten Dichters Metamorphosen. Die da handeln von der wunderbaren Veränderung der Gestalten der Menschen, Tiere und anderen Kreaturen. Für jedermann unterhaltsam, besonders aber für alle Maler, Bildhauer, und dergleichen Künstlern nützlich, wegen des Erfindungsreichtums und des Stils. Vom Gelehrten M. Albrecht von Halberstadt in Reimen weise ins Deutsche übersetzt. Jetzt erst in verbesserter Weise und mit vielen guten Fabeln ausgeschmückt von Georg Wickram zu Colmar. Epimythion. Das ist die Auslegung der lustigen Fabeln des abgemalten Buches, für jedermann kurzweilig, vornehmlich aber höchst lesenswert für alle Liebhaber der edlen Poesie des Gerhard Lorichius zu Hadamar.“ [Hervorhebungen K.W.]. Vgl. Wåghäll (1996), 29, 33 und 38. Zur Transformationsforschung vgl. Bergemann (2011); Rombach (2012); Heinze (2013); Helmrath (2017). Vgl. Anm. 5. Vgl. Wåghäll (1996), 16. Vgl. Wickrams eigene Aussage dazu in der Vorrede zu den Metamorphosen in: Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 5, 22– 24; ebenso vgl. Schmitt (2008), 141 sowie Rückert (1997), 116 – 121 und Kleinschmidt (1982), 260, ebenso Kipf (2012), 25, Anm. 39: „[e]s kann ausgeschlossen werden, dass Wickram in der Lage war, ohne fremde Hilfe lateinische Werke größeren Umfangs zu verstehen.“ Wie viel humanistischer Gehalt tatsächlich in diesem und anderen Werken Wickrams steckt, haben unter anderem Kästner und Kleinschmidt kontrovers diskutiert: vgl. Kleinschmidt (1993), 500; dagegen Kästner (1998), 378.
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Übertragung der Metamorphosen ins Deutsche. Hinzu tritt noch Wickrams konservative Haltung, die vor allem durch den Straßburger Reformator Martin Bucer beeinflusst war.¹¹ Somit speist sich diese frühneuzeitliche Bearbeitung aus Einflüssen des rheinischen Humanismus sowie der Reformation und vereint diese in eigenwilliger Weise zu einem mittelalterlich geprägten Ganzen.¹² Schon Albrecht sah für seine Version der Metamorphosen keine interpretatio christiana vor, die ursprünglich die Rechtfertigung für eine Beschäftigung mit dem heidnischen und fiktionalen Text Ovids darstellte, und auch bei Wickram bleibt der Anteil an moralischen Auslegungen auf einzelne Phrasen beschränkt.¹³ Die eigentliche Auslegung der Passagen erfolgte durch Gerhard Lorich von Hadamer, genannt Lorichius, im Anschluss an die jeweilige Episodenreihe, wobei diese Kommentierung sich nicht als eine Gesamtinterpretation im Sinne einer mittelalterlichen Allegorese versteht, sondern als eine kritische Bewertung der dargestellten Eigenschaften.¹⁴ Die Art der Anordnung der Kommentare allerdings verweist auf die Tradition der mittelalterlichen Exegese,¹⁵ wenngleich es sich Behmenburg zufolge nicht um eine Auslegung gemäß des vierfachen Schriftsinns handelt.¹⁶ Somit werden hier im Druck zwei Werke miteinander vereint, die teilweise eine etwas andere Gewichtung in der Bewertung der Handlung aufweisen. Der Unterschied zwischen Wickrams und Lorichiusʼ Fokus wird auch in der Narziss-Episode deutlich. Gerade die Art und Weise der Darstellung und Wertung der Eigenliebe, beeinflusst durch die mittelalterliche Vorlage, die jeweilige Intention und die Zeitumstände mit ihrer mehr oder minder stark ausgeprägten humanistischen Ausrichtung spiegeln sich in Wickrams Text und dem Kommentar von Lorichius wider.
II Der Narziss-Mythos in Wickrams Metamorphosen Grundsätzlich gibt die Geschichte von Narziss und Echo mit der Thematisierung der fehlgeschlagenen Selbsterkenntnis und der Inszenierung der Selbstliebe einige An-
Vgl. Wåghäll (1996), 13 und 55. Zum Einfluss von Reformation und Humanismus vgl.Wåghäll (1996), 13 und 55; Schmitt (2008), 137. Der fiktionale Gehalt hemmte zunächst die Aufnahme der Metamorphosen in den Kanon der Werke lateinischer Dichter, die in Kloster-, Dom- und Stiftsschulen dazu genutzt wurden, die lateinische Grammatik zu erlernen, um dadurch die Bibel auf Latein verstehen zu können. Erst im 11. Jahrhundert trat Ovid und im 12. Jahrhundert seine mythologischen Geschichten von Verwandlungen hinzu, jedoch bedurfte es dabei einer Auslegung als Legitimierung des Textes. Davon zeugen die über vierhundert Handschriften aus der Zeit des 12. bis 15. Jahrhunderts mit ihren Glossierungen und Randkommentaren, vgl. Wheeler (2013), 91. Umso erstaunlicher ist es, dass Albrecht keine Kommentierung der antiken Quelle angestrebt hat, sondern bereits am Übergang des 12. zum 13. Jahrhundert darum bemüht war, eine originalgetreue ‚Verdeutschung‘ zu erstellen, deren moralischer Gehalt eher hintergründig bleibt. Vgl. Schmitt (2008), 139 und 153. Vgl. Stackmann (1967), 124 f. Vgl. Behmenburg (2009), 187.
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haltspunkte für eine moralische Auslegung gemäß der mittelalterlichen Tradition. Es sind vor allem zwei Stellen der ovidischen Erzählung, die einer solchen Interpretation eine Grundlage geben: zum einen der Zusatz, dass Narziss in der Unterwelt weiterhin leidet, da er seinem eigenen Spiegelbild bis über den Tod hinaus verfallen ist; zum anderen der Vers sed fuit in tenera tam dura superbia forma (III: 354. „Aber es wohnte in zarter jugendlicher Gestalt solch harter Hochmut.“). Durch diese Anknüpfungspunkte wird die Geschichte von Narziss als allgemeingültiges Exempel verwendbar, welches dazu genutzt werden kann, sündhaftes Verhalten, im Speziellen hochmütiges, eitles Gebaren ins Bild zu setzen. So wird die Eigenliebe, d. h. die Liebe des Ichs zu sich selbst, diskutierbar, aber auch damit einhergehend die negative Wirkung der Schönheit. Statt eine körperliche oder zwischenmenschliche Beziehung zwischen Mann und Frau zu inszenieren, bietet der Narziss-Mythos dem mittelalterlichen Bearbeiter und später auch Wickram und Lorichius die Möglichkeit der Thematisierung der philautia, der Selbstliebe. Die Intensität, mit welcher sie dies jeweils anstreben, unterscheidet sich dabei jedoch in ihrer Vehemenz deutlich. Da sich bereits der Verfasser seiner Vorlage, Albrecht von Halberstadt, mit der Problematik konfrontiert gesehen hat, dass sich die Geschichte von Narziss und Echo nicht immer mit dem christlichen Weltbild vereinen lässt, kann davon ausgegangen werden, dass dieser, wie beispielsweise für die Philomela-Episode von Behmenburg nachgewiesen wurde, bereits einige entschärfende Transformationen vorgenommen hat. Darunter ist sicherlich der Austausch des heidnischen Wortes Nymphe durch magt/maget oder auch (Waldt‐)Junckfraw. In dieser Abänderung verbirgt sich allerdings ein Paradoxon, denn während mit dem mhd./frnhd. Begriff junckfraw ein „lediges frauenzimmer von unbefleckter keuschheit“¹⁷ gemeint ist, wird den Nymphen der römischen Mythologie eine gewisse sexuelle Freizügigkeit zugeschrieben, die Echo ihre Fähigkeit zur selbstbestimmten und dynamischen sprachlichen Äußerung gekostet hat. Insofern wird durch die Umbenennung der Nymphen hier eine Verharmlosung vollzogen. Die Relativierung heidnischer Elemente – deren Assimilation – ist eine Veränderung, die auch in der Auslassung der Benennung der Rachegöttin Rhamnusia zu Tage tritt, die bei Wickram nur allgemein als Goͤt (XIII/1, 201, 989) bezeichnet wird, wobei dies auch ihrem in der Frühen Neuzeit geringen Bekanntheitsgrad zugeschrieben werden kann, denn Jupiter sowie Juno werden durchaus benannt und dies sogar mehrfach (XIII/1, 198, 885; 888; 890; 893; 895). Hingegen werden die Naiaden und Dryaden umbenannt und als waldgoͤttin und feyen all (XIII/1, 208, 1227: Waldgöttinnen und alle Feen) betitelt, was dem frühneuzeitlichen (bzw. auch dem mittelalterlichen) Laien sicher eher ein Begriff gewesen sein dürfte. Auch wenn diese Änderungen wohl Albrecht zuzuschreiben sind und seiner Höfisierung der Metamorphosen, so kann es Wickram nicht um eine Beseitigung der paganen Überreste gegangen sein, viel eher geht die Übernahme dieser Ersatzbegriffe auf seinen didaktischen Anspruch und sein Bestreben zurück, den Text für Laien zu vereinfachen, wie dies schon Albrecht beabsichtigte. Im
Lexer (1872), 1488.
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Verhältnis zu Albrechts Version hat Wickram seinen eigenen Äußerungen zufolge jedoch entsprechend seiner konservativen Einstellung noch stärker zensiert, was die aus seiner Sicht auch bei Albrecht noch vorhandenen ‚unsittlichen‘ Passagen anbelangt. So heißt es in Wickrams Prologus: So weit mir aber müglich / hab ich mich geflissen meine reimen zum verstentlichsten zů machen / auch hierinn alle unzucht vermitten / damit diß bůch von jungen und alten Frawen und Junckfrawen / sunder allen anstos gelesen werden.¹⁸
Auf sein Bestreben der Vereinfachung hingegen sind die redaktionellen Eingriffe zurückzuführen: So beginnt die Episode mit einer knappen Inhaltszusammenfassung, der ein Bild vorangestellt ist, welches im typischen Stil der Holzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts in szenischer Darstellung die wesentlichen Elemente der NarzissEpisode wiedergibt.
Abb. 1 Holzschnitt zur dritten Figur des dritten Buchs, Narziss und Echo, 1551
Dementsprechend findet sich hier in der Bildmitte und damit an zentraler Position der Versuch Echos Narziss zu berühren, wobei dieser sich flüchtend von ihr entfernt. In Leserichtung und damit am rechten Rand des Holzschnittes beugt sich der Jüngling über den Brunnen, die typische Darstellungsweise der Spiegelfläche ab dem 14./15. Jahrhundert, die anstelle der bei Ovid genannten Quelle einen eckig bzw. hier
Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 6, 11– 15. „Soweit mir aber möglich, habe ich mich bemüht, meine Reime verständlicher zu machen, dabei auch alles Unzüchtige vermieden, damit dieses Buch von jungen und alten Frauen und von Jungfrauen ohne allen Anstoß gelesen werden kann.“
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rund eingefassten Brunnen setzt.¹⁹ Die verhängnisvolle Spiegelung selbst ist hier allerdings nicht sichtbar. Auf der gegenüberliegenden Seite ist statt des Jünglings bereits nur noch die Blume dargestellt, in die er sich verwandelt, umringt von den trauernden waltgoͤttin und feyen all (XIII/1, 208, 1227) und der etwas abseitsstehenden Echo. Die nachfolgende Erzählung der Narziss-Episode wird durch einen achtzeiligen Versblock in aller Kürze zusammengefasst und im Weiteren in sechs Blöcke unterteilt, die durch zusammenfassende Tituli auch für einen oberflächlichen Leser die wesentlichen Etappen der Erzählung hervorheben und damit die im Holzschnitt gegebene Übersicht in einer weiteren Ebene in etwas umfangreicherer Weise erweitert. Entsprechend dem Anspruch einer leichten Vermittlung des carminis perpetui hat Wickram zudem manche Passagen gegenüber Ovid ausgeweitet und ihnen mehr Bedeutung beigemessen, was einer besseren Verständlichkeit des Textes dienen soll. Stellenweise ist die Nähe der Narziss-Episode Wickrams zu der Ovids sehr groß, wie in der Passage der entflammten Liebe Echos für Narziss deutlich wird: quoque magis sequitur, flamma propriore calescit, non aliter quam cum summis circumlita traedis admotas rapiunt vivacia sulphura flammas.²⁰
Hier ist von den Liebesflammen die Rede, die in Echo durch die zu Narziss entbrennende Leidenschaft auflodern; in diesem Sinne lautet es dann bei Wickram: Zustundt sich ir gmt zu im kart Mit liebes flamm was sie umbhagt Inn liebes feur erbrann die magt Den Jungling sachs innbrnstig ahn So mehrs ihn sach / sie fester bran.²¹
Ein weiteres Beispiel ist die Passage der Zurückweisung Echos durch Narziss, in der es heißt: ‚ante‘ ait ‚emoriar, quam sit tibi copia nostri‘; (III: 391 „‚Eher‘, sagte er, ‚werde ich vergehen, als dass dir unsere Zweisamkeit gehöre.‘“). Hier ist die Ähnlichkeit von Wickrams Text zu Ovid noch höher zu bewerten, denn beinahe wortwörtlich steht dort:
Vgl. dazu ausführlich den Bildanhang der Studie zur Verbindung zwischen der Darstellung der superbia und Narziss von Reidemeister (2006). Ovid, Met., III: 372– 374. „Und je weiter sie ihm folgte, desto stärker entbrannte die Flamme, nicht anders als wenn Flammen den lebendigen Schwefel, der von unzähligen Kiefernnadeln umgeben ist, ergreifen.“ Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 199, 909 – 913. „Im selben Moment wandte sie sich ihm zu, mit Flammen der Liebe war sie umgeben, in Liebesfeuer entbrannte das Mädchen. Den Jüngling sah sie inbrünstig an, je mehr sie ihn sah, desto heftiger brannte sie.“
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Und sagt „Mich mus vil eh der todt Gentzlich hinnemen von der erden Eh dann ich dir zu theil wil werden“²²
Obwohl es diese wörtliche Nähe zu Ovid gibt, hat sich Wickram in der Gesamtgliederung der Metamorphosen, d. h. bei der Anordnung der einzelnen Bücher, gegenüber der lateinischen Version autonomisiert und dies, wie der Vorrede zu entnehmen ist, auch gegenüber Albrecht.²³ Er ordnet sie neu an, was wiederum Teil seiner Strategie einer leichteren Verständlichkeit des Inhalts ist. Die Bücher selbst sind in kleinere Abschnitte, die sogenannten figuren, unterteilt, die ebenfalls in ihrer Anordnung neukonzipiert sind, sodass Narziss bei Wickram eine der Episoden der dritten ‚Figur‘ des dritten Buches darstellt, entgegen des ovidischen Aufbaus, der Narcissus und Echo an die fünfte Stelle des dritten Buches setzt. Weniger seinem didaktischen Vorhaben als vielmehr dem Zeitgeist sind wohl die auf den ersten Blick beinahe unmerklichen inhaltlichen Veränderungen zuzuschreiben, denen im Folgenden besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
III Die problematische Selbstliebe Während die anderen Episoden der Metamorphosen wie beispielsweise Pyramus und Thisbe eine personale Liebe zwischen Mann und Frau thematisieren, bezieht sich das „leidenschaftliche Gerichtetsein“²⁴ bei Narziss auf sich selbst bzw. auf sein Abbild, bei Echo hingegen sehr wohl auf ein männliches Anderes, verkörpert in Narziss, doch bleibt ihre Liebe unerwidert, denn Narzissʼ Aufmerksamkeit gilt ihm allein und richtet sich nicht auf ein anderes Individuum. Den Fluchtpunkt der Episode und der Liebe bildet somit Narziss. So wird hier Luhmanns Aussage „Liebe bezieht sich auf Liebe, sucht Liebe, wächst in dem Maße, als sie Liebe finden und sich selbst als Liebe erfüllen kann“²⁵ ad absurdum geführt, denn der Soziologe geht von einer Liebe zwischen zwei nichtidentischen Personen bzw. ‚personalen Systemen‘ aus, wohingegen Narzissʼ Liebe aber reflexiv und damit redundant statt zunehmend ist. Die Liebe bezieht sich bei Narziss zwar auf die Liebe, jedoch nicht auf die Liebe eines oder einer Anderen, sondern fälschlicherweise auf sich selbst. Damit kann sie auch nicht wachsen oder sich gar erfüllen, zumal Narziss sich selbst im Spiegelbild unerreichbar bleibt, da die Spiegelfläche als Barriere zwischen ihm und seinem Abbild steht. Da somit der natürliche Prozess der Liebesbezüglichkeit und -entwicklung gestört ist, steht in der Konsequenz die Selbstaufgabe des Jünglings, aber gleichzeitig auch die der Nymphe
Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 200, 959 – 961. „Und sagt: ‚Mich muss zuerst der Tod gänzlich von der Erde wegnehmen, ehe ich dir zu Teil werden will.‘“ Vgl. Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 6, 11– 15. Renger (2002), 11. Luhmann (1994), 36.
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Echo, deren Liebe ebenfalls unerwidert bleibt und somit nur redundant ins Leere läuft. Beide geben aus Verzweiflung das Sein auf, Narziss wird schließlich zur gleichnamigen Blume und Echo reduziert sich auf ein körperloses, klangliches Gebilde. Ausgelöst wird diese Problematik durch die Prophezeiung des Tiresias, die den ausdrücklichen Rat enthält: Bewar dein kindt und sich dich für Das es sein gestalt niemmer geseh Inn keynen weg wie das gescheh Sunst wirstus sehen niemmer mehr²⁶
Das si se non noverit (III: 348 „wenn er sich nicht erkennt“) des ovidischen Textes wird ausgeweitet und aus dem lateinischen kennenlernen/erkennen wird ansehen/erblicken. Diese veränderte Wortwahl koppelt den Ausdruck vom Erkenntnisprozess ab, der im lateinischen Begriff mitangelegt ist. Das aktive ‚Bewahren‘ des Narziss durch seine Mutter vor einer möglichen Selbsterkenntnis im Spiegel verhindert seine Sozialisation und macht die Prophezeiung zu einer self-fulfilling prophecy. Durch das Verhindern des Ansehens und damit des Erkennens des Ichs als Selbst wird der Prozess der Selbsterkenntnis unterbunden und dadurch auch später kein Erkennen im Du möglich. Das bedeutet, dass Narziss zur Liebe zu einem Ich, das sich von seinem eigenen unterscheidet, unfähig bleibt.²⁷ Die Wasseroberfläche, das Medium, welches das Abbild des Narziss und damit das vermeintliche ‚Andere‘ erst erzeugt, existiert für den Jüngling nur bedingt. Sie ist es, die das Andere für ihn erschafft, die das Ich zu einem Anderen macht und dies auch über die Erkenntnis des Spiegelbildes hinweg. So findet Narziss deshalb im Geliebten zwar in gewisser Weise ein Du, doch ermöglicht ihm dieses ebenfalls keine Ich-Konstitution, da es zuvor ein Bewusstsein vom Ich bräuchte. Dieses fehlt aber, was in spürbarem Maße zu Tage tritt, wenn Narziss die Erkenntnis ereilt: Ich seh wol / das do liebt meim sinn Ich eygentlichen selber binn Inn lieb bin ich gehn mir erbrent.²⁸
Er weiß somit, dass er es selbst ist, den er erblickt und zu dem er in Liebe entbrannt ist, doch führt dieser Umstand nicht zur eigentlichen Selbsterkenntnis und richtigen Konsequenz, nämlich der Bewusstwerdung, dass die Eigenliebe problematisch und
Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 197, 854– 857. „Bewahr’ dein Kind und sieh dich vor, dass es seine Gestalt niemals erblicke und zwar in keiner Weise wie das möglich ist, sonst wirst du es nie mehr wiedersehen.“ Vgl. Gemmel (2004), 67. Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 206, 1132– 1134. „Ich sehe wohl, dass das, was da meinem Sinn gefällt, eigentlich ich selbst bin. In Liebe bin ich gegenüber mir selbst entbrannt.“
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unerfüllbar ist und in der Folge zum Ablassen vom ‚Ich‘. Die Tatsache, dass er sein Spiegelbild nichtsdestotrotz für liebenswert hält, zeigt das fehlende Problembewusstsein. Die Einsicht in den Irrtum, dass es sich nicht um ein anderes Du handelt, führt Narziss nicht zur Selbstfindung, sondern vielmehr hat die verzerrte Einsicht Schuld an seinem tragischen Ende. Als sein Spiegelbild durch Tränen verschwimmt und das geliebte Andere nicht mehr sichtbar ist, führt die falsche Erkenntnis schließlich zur Selbstaufgabe, zum völligen Ich-Verlust, zum Vergehen vor Liebesschmerz wegen der Unerreichbarkeit des Geliebten und damit zum genauen Gegenteil des von Luhmann konstatierten Ergebnisses einer Liebe zwischen einem Ich und einem Du, das nach ihm auf gegenseitiger Kommunikation fußt.²⁹ Ähnlich erging es zuvor auch Echo, deren Begehren des Anderen ebenfalls zur Reduktion des Ichs führt, da die Liebe unerwidert blieb und damit genauso unerreichbar wie die des Narziss zu seinem Spiegelbild. In ihrem Fall handelt es sich allerdings um eine Reduktion auf akustische Signale, nicht aber um den Tod im eigentlichen Sinne. Diese Unerreichbarkeit der Liebe findet sich auch darin metaphorisch wieder, dass Narziss sich von niemandem berühren lässt, und zwar weder körperlich noch emotional. Dieses Verhalten fällt schließlich auf ihn selbst zurück. Seine Art, mit seinen Bewerbern und Bewerberinnen umzugehen, wird bei Ovid als dura superbia bezeichnet, was hier im Sinne der griechischen Hybris zu verstehen ist und laut Kaufmann den verwerflichen Charakter einer Handlung und keine lasterhafte Eigenschaft wie seit dem Frühmittelalter die Todsünde des Hochmuts meint.³⁰ Diese Stelle böte sich an, diesen Hochmut in der Verteutschung, sei es die von Albrecht oder Wickram, zu thematisieren und moralisch als verwerflich darzustellen, wie dies beispielsweise der Ovide moralisé aus dem 14. Jahrhundert unternimmt.³¹ Er verbindet den Narziss-Mythos mit dem Hochmut und der Eitelkeit, für die die Selbstbespiegelung des Narziss symbolisch geworden ist, sodass der Mythos bis hin zum „Exempel der christlichen Unmoral“³² umgedeutet erscheint. Stattdessen ist diese Stelle bei Wickram stark abgeschwächt zu Er aber achtet iren nicht (XIII/1, 197, 868: „Er aber [be‐] achtet sie nicht“) und damit zur Kritik an der Geringschätzung Anderer. Auch wäre zu erwarten, dass eine Verurteilung der zum Vergehen zweier Personen führenden Eigenliebe im Text vorgenommen würde oder dies aus der Vorlage übernommen worden wäre, wie auch die höfisierenden Elemente trotz ihrer zur Zeit Wickrams nicht mehr geltenden Aktualität weiterhin vorhanden sind. Die Äußerung des Alexander Neckam in De naturis rerum von etwa 1170 lässt dies zudem als naheliegende Interpretation im Zeitgeist des Mittelalters erscheinen, sodass von Albrecht durchaus zu erwarten wäre, dass er hier eine kritische Wertung eingebaut hätte. Eine solche Wertung der Eigenliebe könnte dann in Wickrams Zeit noch schärfer ausfallen, wie der Kommentar des Lorichius zeigt. Doch scheint der Anspruch von Wickrams Vorlage, sehr nahe am
Vgl. Luhmann (1994), 23. Vgl. Kaufmann (1980), 75. Ovide moralisé (1986). Reidemeister (2006), 99.
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Original zu bleiben und dieses nur in geringem Maße an den Geschmack der Zeit anzupassen, überwogen zu haben, auch wenn hier zu fragen ist, ob die Hervorhebung der Moral nicht eben genau diesem Geschmack entsprochen hätte; so schreibt denn auch Neckam in seiner naturwissenschaftlichen Abhandlung zum Spiegel: Arridet tibi, o homo, blandientis fortunae prosperitas, applaudet tibi favor popularis, fragillitatis tuae memor sis. Venustate elegantis formae praeditus es, vide ne cum Narcisso propria forma deludaris. Crede mihi, non mutabitur corpus tuum cum Narcisso in florem, sed in cinerem. Vis igitur expressum conditionis tuae speculum intueri, intuere testam capitis hominis jam putrefacti et in pulverem redacti. Vultum fratris tui in infirmaria in fata cedentis diligenter inspice, et memorare novissima tua. Frater moriens sit speculum tuum, in hoc teipsum agnoscas.³³
Dieser Kommentar zeigt deutlich, dass die Eitelkeit des Narziss verurteilt und das Schicksal des Jünglings als Negativexempel herangezogen wurde. Eine solche Wertung bleibt bei Wickram jedoch aus, von Eitelkeit ist bei ihm – und anzunehmend wohl auch bei Albrecht – nicht explizit die Rede. Die Selbstliebe wird nicht angeprangert, sondern vielmehr die Maßlosigkeit seiner Liebe, wie auch der Randkommentar der Druckausgabe besagt: Narcissus inn seim letsten abscheyt warnt uns vor der unmessigen liebe (XIII/1, 208: „Narziss warnt uns durch seinen letzten Abschied [gemeint: mit seinem Scheiden aus dem Leben] vor der unmäßigen Liebe“). Der letzte Ausruf des Narziss enthält, im Gegensatz zu seiner bisherigen Verblendung, eine erstaunliche Selbsterkenntnis, bzw. –reflexion. Er erkennt, dass er zu sehr geliebt hat, kann sich aber nicht mehr von der Liebe befreien und muss letztendlich den Konsequenzen der unerfüllten Liebe erliegen: Niemant niemant soll also sehr Lieben als ich armer hab gethan Dann ich zu sehr geliebet hon.³⁴
Mit dem hinzugefügten Randkommentar wird hier nicht nur eine Erklärung des Ausrufs geliefert und das Augenmerk auf diese moralische Nuance gelegt, sondern gleichzeitig durch das uns eine Unmittelbarkeit der Aussage für den Rezipienten erzeugt, mittels derer der Verfasser eine Verbindung zu seinen Adressaten herstellt und sich zu einem der ihren macht. Die ‚Moral‘ gilt somit für jederman. Von der hier festzustellenden relativen Neutralität der Wertung unterscheidet sich der Kommentar des Gerhard Lorich durch eine scharfe Kritik, die allerdings vor allem Echos Verhalten betrifft. Es wird davon ausgegangen, dass Lorichius nicht mit Alexander Neckam: De naturis rerum II 154, 240. „Bist du begabt mit der Schönheit einer eleganten Gestalt, siehe, daß du nicht mit/wie Narcissus durch die eigene Form getäuscht wirst. Glaube mir, nicht wird sich dein Körper wie bei Narcissus – in eine Blume verwandeln, sondern in Asche. Willst du also in einen Spiegel schauen, der deinen Zustand ausdrückt, betrachte die Schädeldecke eines Menschen, der schon verwest und zu Staub zerfallen ist.“ Übersetzung aus Walde (2002), 45 f. Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 208, 1215 – 1217„Niemand, niemand soll also sehr lieben wie ich Armer es getan habe, wie ich zu sehr geliebt habe.“
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Wickrams Text, sondern mit einer anderen, vermutlich glossierten lateinischen Ovidhandschrift gearbeitet hat, was die größere Nähe von Lorichius zu Ovids Textgestaltung und die damit einhergehende unterschiedliche Ausrichtung in Bezug auf die Moralität und den differierenden Tenor erklären würde.³⁵ Die Auslegung der Episoden findet sich als abgeschlossener, isolierter Zusatz am Ende jeder sogenannten figur, als eine assoziativ anmutende Wertung des Vorangehenden, die der chronologischen Nennung der Figuren folgt und nicht auf Vollständigkeit hin angelegt ist. Zu Narziss schreibt Lorichius im Gegensatz zu Wickram sehr wohl von der Schlechtigkeit der Eigenliebe, der philautia, und verurteilt nicht die Maßlosigkeit der Liebe des Narziss. Damit stehen der Egoismus und die Eitelkeit im Fokus, sodass sich Lorichius zudem an die traditionelle Art der Auslegung des Narziss-Stoffes hält. Mithilfe zweierlei Sprichwörter stellt er zudem eine Verbindung zu Erasmus von Rotterdam und damit dem Humanismus her, ohne sie jedoch weiter zu erklären. So schreibt er: Die Fabel Narcissi soll verstanden werden wider das Laster der Philautie / das ist / von der eygener Liebe / deren so sich selbst groß achten / von diesem Laster soll verstanden werden daz Sprichwort / Suus cuiq; crepitus bene olet, / Item thus pedere.³⁶
Wegen des Einflusses, den Erasmus auf Lorichius hatte,³⁷ liegt es nahe, dass er für seinen Kommentar auf die Adagia des Erasmus von Rotterdam, eine umfangreiche Sammlung griechischer und lateinischer Sprichwörter und ihrer Auslegungen, die im Jahr 1500 das erste Mal verlegt wurde und bis zur letzten Auflage 1536 stetig erweitert wurde, zurückgegriffen hat. Die von Lorichius erwähnten Proverbii stehen hier unter dem Schlagwort „Philautia“, der Selbst- oder Eigenliebe, direkt untereinander im Index Proverbiorum Iuxta Locos verzeichnet, sind jedoch nur zwei von vielen. Auffällig ist, dass Lorichius diese Redewendungen zwar als Erläuterung der Eigenliebe anführt, sie jedoch nicht für das vorgesehene Publikum bestehend aus überwiegend lateinunkundigen Laien übersetzt oder weiter ausführt, obwohl er, wie auch Wickram, an einem Zugang für Laien interessiert war. Er setzt damit ihre Kenntnis voraus.³⁸ Hinter dem Spruch Suus cuique crepitus bene olet verbirgt sich Erasmusʼ Kommentar zufolge,
Vgl. Behmenburg (2009), 180 – 182: Sie schlussfolgert in Anlehnung an Bolte, dass Lorichius’ Arbeit aufgrund der kurzen Zeit, die ihm zur Anfertigung seines Kommentars zur Verfügung stand – nur knapp ein halbes Jahr –, flüchtig gewesen sei und er den wickramschen Text nur oberflächlich gekannt habe. Hinzu trete, dass Lorichius selbst in seiner Zuschreibung äußere, dass er wenige Jahre zuvor Ovids Metamorphosen mit seinen Schülern durchgearbeitet habe und daher auf eine erneute Lektüre für die Erstellung des auslegenden Kommentars verzichtet habe. Eine Verwendung des ovidischen Textes seinerseits liegt daher nahe. Wickram, Sämtliche Werke XIII/2, 216. „Die Geschichte von Narziss soll gegen das Laster der philautia verstanden werden. Sie handelt von der Eigenliebe derer, die sich selbst für groß halten. Von diesem Laster aus soll das Sprichwort verstanden werden: ‚Eigene Fürze riechen wohl. Auch hält er seine Fürze für Weihrauch.‘“ Vgl. Kunzler (2006), 557; DBETh (2005); Kunzler (1993); Kunzler (1987). Vgl. ebd.
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dass jeder glaube, seine eigenen Fürze röchen so süß wie Äpfel und es niemanden gäbe, dem seine eigenen Fehler nicht wie seine hervorragendsten Qualitäten vorkämen.³⁹ Dies erscheint in Bezug auf Narziss als Erklärung der philautia unpassend, ebenso verhält es sich mit dem zweiten Proverbium Pedere thus. In Erasmus’ Kommentar findet sich dazu die Spezifizierung, dass Weihrauch zu furzen für jene angemessen sei, die ihre eigenen Laster genössen und ebenso für jene, die aufs äußerste verliebt seien.⁴⁰ Aufgrund der im Ganzen assoziativ zusammengestellten Auslegungen kann die Verwendung gerade dieser beiden Sprüche damit begründet werden, dass Lorichius bei der Anfertigung seines Kommentars die Adagia nicht direkt vorlagen, sondern er die Zuschreibung an die philautia seinem Gedächtnis entnommen hat. Dies würde auch begründen, warum er sich auf diese beiden allgemeinen Proverbien beschränkt, wo die Sammlung an Redensarten zur Eigenliebe bei Erasmus doch eine speziell auf Narziss zutreffende enthält, die die besondere Form der Selbstliebe in dieser Geschichte beschreibt und ihn im Kommentar explizit erwähnt: Multi te oderint, si teipsum amas („Viele werden dich hassen, wenn du dich selbst liebst.“),⁴¹ eine Anspielung auf die aus Narzissʼ Selbstliebe und Gleichgültigkeit gegenüber der Liebe Anderer resultierende Anrufung der Götter aus in Hass umschlagender Liebe heraus. Dazu kommt, dass Lorichius bei der Erstellung seines Kommentars an sich wenig auf die Stoßrichtung von Wickrams Text einging, sondern vielmehr auf traditionelle Wertungen und Zuschreibungen zurückgriff. Dies zeigt sich in der Anklage der superbia ganz in Anlehnung an den ovidischen Text, in dem sich diese namentlich als dura superbia in direkter Zuschreibung zu Narziss findet, wohingegen diese Stelle bei Wickram zu Missachtung abgeschwächt wurde. Damit finden sich im Kommentar zum dritten Buch der wickramschen Metamorphosen die traditionellen wertenden Elemente, die im Erzähltext hingegen fehlen. Dadurch verbleibt Lorichiusʼ Auslegung im Allgemeinen, beansprucht aber gleichzeitig eine größere Allgemeingültigkeit als es eine individuell an Narziss und Wickrams Auffassung der Episode angepasste Wertung könnte.⁴²
Vgl. Erasmus, Adagia, III iv 2, 4. „Eigene Fürze riechen wohl.“ Vgl. Erasmus, Adagia, III vii 33, 236 f. „Auch hält er seine Fürze für Weihrauch.“ Vgl. Erasmus, Adagia, II x 26, 138. Die Verbindung der Narziss-Episode mit diesen lateinischen Sprichwörtern, welche die Fokussierung auf das Ego illustrieren, war geläufig, wie sich beispielsweise darin zeigt, dass sie sich auch in einer naturwissenschaftlichen Abhandlung zu Naturphänomenen wie dem Echo von 1700 wiederfindet, die in ihrer Auslegung der Episode noch einen Schritt weitergeht und die Nymphe Echo als die alleinige unmäßig Liebende interpretiert, wohingegen Narziss weiterhin mit Stolz bzw. arogantia/superbia und die Eigenliebe mit beiden Figuren verbunden wird, bspw. in Acxelmeier, Des Aus der Finsternuß erretteten Natur-Liechts, 38: Im uͤbrigen / so schreibet Ovidius im dritten Buch der Verwandlungen / wie daß die Jungfrau Echo von dem stolzen Narcisso seye verachtet worden / und von derselbigen Zeit an / weil aus unmaͤssiger Liebe sie sich verzehret / und zu einem Schatten worden ist / in den Waͤldern / Wuͤsten/ Einoͤden / Gestaden und Klippen / Felsen oder Bergen wohne / welche Fabel soll verstanden werden von der Eigenliebe deren, die sich selber und allein groß achten / von welchen das Lateinische Spruͤchwort: Suus cujqua crepitus olet: Item, thus pedere. („Im Übrigen schreibt Ovid im
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Eine der theologischen Ausrichtung Gerhard Lorichs zuzuschreibende Komponente seines Kommentars ist die Kritik an Echo, die so explizit im wickramschen Teil des dritten Buches nicht vorkommt. Er verurteilt Echo schärfer als den hochmütigen, sich selbst liebenden Narziss, der hier zum ‚Beinahe-Opfer‘ Echos stilisiert wird: Echo ist inn eynen widerhall oder schal verwandelt umb zweyerley sünde wegen / erstlich das sie die Junonem offt betrogen hatt / die ander daß sie den Narcissum zur unkeuschheyt angereytzt hatt. Dise Fabel warnet die schwachen / mit den gewaltigen nit zu schertzen. Dann jener schertz / ist diser schmertz. Es soll auch eyn Jungfraw nit freihen / sonder sich lassen freihen. Virginalis pudoris non est eligere maritum. Es gehrt keyner Jungfrawen z ihr eynen mann zu welen / sagt Ambrosius / xxij. Quæstione 2. Honoratur.⁴³
Lorichius klagt Echo zweierlei Sünden an: Zum einen habe sie die Unzucht Jupiters gedeckt und so die Ahndung desselben verhindert, zum anderen habe sie um Narziss geworben und den Jüngling in Evamanier verführen wollen. Bereits in der antiken Version wird betont, dass Narziss sich weder berühren ließ, noch, dass er sich jemandem hingegeben hätte; er bleibt damit in doppelter Hinsicht unberührt und somit schuldlos. Dies hebt der Kommentar von Lorichius hervor, wenn er eben davon spricht, dass Echo ihn verführen wollte und nicht umgekehrt. Diese Kritik entspricht der in der Frühen Neuzeit wie schon im Mittelalter gängigen Interpretation der Genesis, auf deren Grundlage die Frau dem Mann als untergeordnet angesehen und ihr gleichzeitig die Alleinschuld für die Verführung und Vertreibung aus dem Paradies zugeschrieben wird.⁴⁴ So konstatiert Lorichius als Moral, dass es einer Jungfrau nicht anstehe selbst um einen Mann zu werben, was er erneut mit einem lateinischen Proverbium unterstreicht. Ganz anders sieht dies bei Wickram aus. Hier heißt es: Narcisse schoͤne und gestaldt / Hatt sie bezwungen mit gewalt (XIII/1, 201, 973 f. „Narziss’ Schönheit und Gestalt hat sie mit Gewalt bezwungen“), was Echo als Opfer beschreibt und der traditionelleren Wertung des Kommentars entgegenläuft. Aus dieser Gegenüberstellung lässt sich folgern, dass in Wickrams Version des NarzissMythos’ die übliche Kritik an der Selbstliebe unausgesprochen bleibt und zur Verur-
dritten Buch der Verwandlungen, dass die Jungfrau Echo vom stolzen Narziss verachtet worden sei und von da an, weil sie sich nach unmäßiger Liebe verzehrte, zu einem Schatten geworden ist, der in den Wäldern, Wüsten, Einöden, Gestaden und Klippen, Felsen oder Bergen wohne. Diese Fabel soll verstanden werden von der Eigenliebe derer, die sich selbst und sich alleine für groß halten, von denen das lateinische Sprichwort handelt: Eigene Fürze riechen wohl: Auch hält er seine Fürze für Weihrauch.“). Wickram, Sämtliche Werke XIII/2, 215. „Echo ist in einen Widerhall oder Schall verwandelt wegen zwei verschiedener Sünden: erstens, weil sie die Göttin Juno oft betrogen hat; zweitens, weil sie Narziss zur Unkeuschheit angeregt hat. Diese Fabel warnt die Schwachen davor mit den Gewaltigen zu scherzen. Denn jener Scherz ist diesem Schmerz. Auch soll eine Jungfrau nicht freien, sondern sich freien lassen.Von einer anständigen Jungfrau ist ein Ehemann nicht auszuwählen. Es gehört sich nicht für eine Jungfrau sich einen Mann zu wählen, sagt Ambrosius, xxij. Quæstione 2. Honoratur.“ Vgl. bspw. bei Andreas Capellanus (2. Hälfte 12. Jh.), 340; zum Frauenbild in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Ennen (1999), Schnell (1998), Kaminsky (1979), Morewedge (1975).
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teilung der Maßlosigkeit der Liebe umgewertet wird. Unsagbar zudem bleiben die Passagen, die bei Ovid von homoerotischer Liebe sprechen.
IV Das Unsagbare: Homoerotik im Narziss-Mythos Während Wickram die Moral stark in den Hintergrund rückt, geht er bezüglich der Tilgung all solcher Passagen, die für ein zeitgenössisches, christliches Publikum anstößig oder kontrovers sein könnten, äußerst konsequent vor. Seine Ankündigung im Prologus, in der er darauf hingeweist, dass er gegenüber Albrecht noch vehementer darauf geachtet habe, dass der Text auch für junge Frauen und Damen unbedenklich sei, ist in der Narziss-Episode besonders strikt umgesetzt.⁴⁵ Auf diese Absicht ist es auch zurückzuführen, dass die bei Ovid genannten Jünglinge, die sich ebenso wie die Mädchen scharenweise in Narziss verlieben, nicht mehr vorhanden sind und somit die Sodomie aus dem Text verbannt wurde. Entsprechend wird aus multi illum iuvenes, multae cupiere puellae (III: 353 „viele Jünglinge, viele Mädchen begehrten jenen“) bei Wickram Vil schoͤner Junckfrawen ihnen liebten (XIII/1, 197, 866 „viele schöne Jungfrauen liebten ihn“). Auch die weiteren Stellen bei Ovid (III: 355; III: 402– 404) werden entschärft und die Jünglinge gegen Jungfrauen ausgetauscht (XIII/1, 201, 984– 988; 203, 1038 f.). Zudem wird die sinnbildlich für Narziss stehende Blume bei Wickram entsprechend inszeniert: Die kessblume ⁴⁶ werde von Jungfrauen leicht erkannt. Damit wird selbst der Überrest von Narziss mit seiner anziehenden Wirkung explizit auf das weibliche Geschlecht hin geordnet und dadurch völlig unverfänglich. Besonders hervorzuheben ist jene Stelle, welche die Schattenbild-Sequenz auslöst. Hier heißt es bei Wickram: Narcissus der schne Jngling Vorhin nie geliept hat umb kein ding Und hatt verschmecht vil junckfraw schon So im freundlich noch theten ghon Er verschmecht alle die sein bgerten Biß die Gtt eyn under in gewrten Die hub gen Himel ire hendt Und batt die Gt ihn zu plagendt Das er Narcissus liebes prunst Solt gwinnen / aber gar umbsunst Dann das jenig so er liebet sehr Das solt im werden niemermehr Dieweil er all Junckfrawen rein
Vgl. Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 10, 11– 15. Es ist verwunderlich, dass gerade dieser Begriff gewählt wurde, wo sich Narziss der antiken Mythologie zufolge in eine Narzisse, eine Glockenblume, verwandelt. Dem grimmschen Wörterbuch zufolge ist unter kessblume wohl aber die Blüte der Moosbeere zu verstehen, vgl. Grimm (1913), 623.
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Verschmehet hat inn eyner gemein Eyn solcher wunsch geschach zu stundt.⁴⁷
Bei Ovid lautet die Stelle hingegen: Sic hanc, sic alias undis aut montibus ortas luserat hic nymphas, sic coetus ante viriles; inde manus aliquis despectus ad aethera tollens⁴⁸
Aus der geschlechtlich gemischten Menge an Verehrern und Verehrerinnen des Narziss wird eine Gruppe von reinen Jungfrauen, die er alle zusammen verschmäht. Unerwähnt bleiben die coetus viriles (III: 403), die Scharen von Jünglingen, und aus dem einstmals männlichen aliquis despectus (III: 404), einem der Verschmähten, wird „eine unter den Jungfrauen“ (XIII/1, 201, 987). Die ovidischen Männerscharen werden bei Wickram feminisiert, auch wenn in der etwas offener gehaltenen Wendung Er verschmecht alle die sein bgerten (XIII/1, 201, 986) noch die ovidischen Jünglinge mitgedacht werden könnten. Durch die Rahmung mit junckfraw und eyn under in […], die wird der Vers allerdings weiblich gefärbt, sodass hier eine vollständige Tilgung der homoerotischen Elemente zu konstatieren ist. Der frühneuzeitliche Text streicht damit jeglichen Anklang einer sodomitischen Handlung. Ein Sprechen von der Liebe zwischen Männern wäre (sowohl zu Albrechts als auch) zu Wickrams Zeit anstößig, die Homoerotik, die dem Original innewohnt, bleibt daher ungesagt und wird verschwiegen. Grund dafür ist, dass sowohl das ganze Mittelalter hindurch als auch in der Frühen Neuzeit Homosexualität als unaussprechliche Sünde galt und unter den Begriff der Sodomie fiel, der heutzutage wesentlich enger besetzt ist.⁴⁹ Ausschlaggebend waren hierfür die von den Kirchenvätern entsprechend interpretierten Bibelstellen wie Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib (Gen. 1,27) oder Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel (Lev. 18,22), aus denen gefolgert wurde, dass
Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 201– 202, 982– 996. „Narziss, der schöne Jüngling, der zuvor kein Ding geliebt hat, hat schon viele Jungfrauen verschmäht, die ihm doch freundlich nachgingen. Er verschmähte alle, die ihn begehrten bis die Götter einer unter ihnen gewahr wurden, die ihre Hände gen Himmel hob und die Götter bat ihn zu plagen, sodass er Narziss’ Liebesbrunst erlangen sollte. Aber ganz umsonst. Denn dasjenige, das er so sehr liebte, das sollte ihm nie mehr zu Teil werden. Dieweil er alle reinen Jungfrauen zusammen verschmäht hat, geschah ein solcher Wunsch zur selben Stunde.“ Ovid, Met., III: 403 – 405. „So hatte dieser mit jener, so mit anderen Nymphen abstammend von den Wellen oder den Bergen gespielt, so zuvor mit der männlichen Schar. Darauf (sagte) ein Verachteter, die Hände in den Himmelsraum emporhebend:“ Eigentlich müsste dort ’sie’ stehen. Der Befund ist somit ein Indiz für die Tilgung durch Wickram. Zur ‚stummen Sünde‘ im ausgehenden 15. Jahrhundert vgl. Hergemöller (1987). Allgemeiner vgl. Kraß (2009) und Spreitzer (1988), des Weiteren Gründel/Jescheck (1995), 3 – 4, Holderegger (1998); zum Begriff der Sodomie damals und heute vgl. insbes. Lexikon des philosophischen Alltags (2016), 115 – 121 und Puff (2003).
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das biblische Menschenbild heterotrop sei und homosexuelle Handlungen strafbar.⁵⁰ So sprechen schon Lactantius und Augustinus in Bezug auf Homoerotik von einer besonders schwerwiegenden Sünde, die auf den Teufel zurückgehe, und von einer Widernatürlichkeit.⁵¹ Benedictus Levita führt in den Pseudo-Kapitularen um etwa 850 gar Naturkatastrophen, Kriege und politische Niederlagen auf Homosexualität zurück und zieht daraus die Begründung der Ahndung selbiger mit der Todesstrafe.⁵² Der Prediger Berthold von Regensburg nennt die Homosexualität nur indirekt unter den vier ruofenden sünden, da sie so unaussprechlich sei, dass sie nicht einmal benannt werden könne.⁵³ Dies übertrug sich auch auf den weltlichen Bereich, der homosexuelle Handlungen kriminalisierte, davon zeugt bspw. die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, in der Verbrennung als angemessene Strafe für jene genannt wird, die gleichgeschlechtliche Unzucht treiben (Art. 116).⁵⁴ Auch Luther bediente sich solchen traditionellen Gedankenguts in seinem Angehen gegen die römische Kirche.⁵⁵ Wickrams Tilgung der in Narziss verliebten Jünglinge gründet demnach auf seiner zeitlichen Prägung. Die Heftigkeit, mit der seit der Spätantike bzw. dem Frühmittelalter gegen die gleichgeschlechtliche Liebe gehetzt und argumentiert wurde, führte dazu, dass bei Wickram diese kontroversen Stellen gar nicht erst zur Sprache kommen. Auch der Kommentar des Lorichius äußert sich nicht zur Homoerotik, obwohl er weitaus mehr an Ovid orientiert ist als Wickram und es in der lateinischen Version des Mythos genügend Möglichkeiten für eine Thematisierung geben würde. In diesem Punkt jedoch ist das Verschweigen scheinbar ein probates Mittel, um dem Zeitgeist entsprechend ein Sujet auszublenden, das als unsagbar gilt und dies, so ließe sich hieraus folgern, in so hohem Maße, dass es nicht einmal in einer Kritik zur Sprache kommen darf, sondern in Gänze ausgespart wird. Da sich in der Narziss-Episode keine kritische Umwertung der Liebe der Jünglinge zu Narziss vornehmen lässt, weil es die Prophezeiung und göttliche Gerechtigkeit sind, die für seinen Untergang verantwortlich sind und nicht eine etwaige homoerotische Neigung des Narziss, die ihn ins Verderben stürzt, lassen sich die Passagen auch nicht für moralische Zwecke nutzen, sind damit aus didaktischer Perspektive sinnentleert, somit hochproblematisch und werden getilgt. Eine Diskussion wird daher gar nicht erst ausgelöst. Während die Maßlosigkeit der Liebe von Narziss und Echo angeprangert wird bzw. die Eigenliebe als solche ebenso wie der Hochmut thematisiert werden, ist die seit dem 13. Jahrhundert als „Angriff auf die von Gott
Ebenso wurden weitere Stellen zur Begründung herangezogen Lev. 20,13; Röm 1,24– 32; 1 Kor 6,9 – 10; 1 Tim 1,8 – 11. Vgl. dazu Gründel/Jescheck (1985), 3; Peters (1960), 468 – 469. Lactantius, Divinae institutiones, VI, 23,8; Augustinus, De civitate Dei, lib. VI, c.8. Vgl. Bleibtreu-Ehrenberg (1978), 218 – 231. In diese Richtung argumentiert auch Thomas von Aquin, der Homosexualität zu den vitae contra naturam zählt. Vgl. Spindelböck (2004), 241– 265. Vgl. Berthold von Regensburg, Von ruofenden Sünden, VI, 92, diskutiert bei Lobenstein-Reichmann (2013), 68; ebenso bei Michaelis (2011), 106 – 109. Vgl. Schroeder (1998), 227. Vgl. Puff (2003), 124– 155; Brinkschröder (2006), 24.
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geschaffene Naturordnung, auf die Heiligkeit des Ehebandes und auf die Grundlagen von Staat und Gesellschaft“ geltende und verfolgte „schlimmste Unzuchtssünde“ so unsagbar, dass sie nicht einmal in einer negativen Wertung auftritt.⁵⁶ Der Einfluss der Reformation auf Wickram und die Zeitsicht auf Homosexualität lässt die Jünglinge zu unverfänglichen Jungfrauen werden. Die Vermeidungstaktik, die Tabuisierung der entsprechenden Stellen in Wickrams Metamorphosen war möglicherweise bereits durch Albrecht vorgegeben, wurde aber durch Wickrams zeitgenössische Prägung und die Aktualität der Verwerflichkeit des Sodomitischen sicher noch weiter vorangetrieben. Seltsam mutet daher an, dass Narziss sich in ein menschlich bildt (XIII/1, 203, 1056) verliebt, dass als der schoͤne (XIII/1, 203, 1060) bezeichnet wird und damit eindeutig männlich ist. Betrachtet man die Passage mit der Schönheitsbeschreibung, wie sie sich auch bei Ovid findet, sticht eine Abweichung ins Auge: Bei Wickram wird zwar auch Narzissʼ Äußeres als wunderschön, weil dem höfischen Schönheitsideal entsprechend mit elfenbeinfarbener Haut, goldenem Haar, klaren, leuchtenden Augen, erhabenem Mund und zartrosa Wangen usw. beschrieben, doch wird dies durchbrochen von Zeilen, in denen die Wirkung von Narzissʼ Schönheit auf die Jungfrauen beschrieben wird (XIII/1, 203, 1033, 1038). Durch den Einschub einer fingierten, direkten Rede des Narziss’ mittels der Phrase Als wolt er sagen sunder haß (XIII/1, 203, 1042: „als wollte er ohne Hass sagen“), in der eine imaginierte Jungfrau angesprochen und aufgefordert wird ihn zu küssen, wird der Ausdruck der schoͤne nachvollziehbar: Es benötigt ein ‚Er‘, um ein ‚Sie‘ auf diese Weise anzusprechen. Somit relativiert sich die Bezeichnung des Gegenübers als ‚Er‘ durch die Einbindung einer angesprochenen weiblichen Instanz und bezieht sich dadurch nicht mehr in erster Linie auf Narziss, sondern die imaginierte Jungfrau. Bedenkt man, dass Narziss sein Ich im Spiegel – oder mit der Terminologie des Textes gesprochen –, seinen Schatten betrachtet und die Worte an diesen richtet, spricht er sich zudem durch die fingierte Rede selbst als ‚Jungfrau‘ an. Dazu kommt, dass Narziss hier laut Erzähler sein[en] schein (XIII/1, 204, 1066) begehrt, also sein Aussehen, sein eigenes Abbild, einen Schatten und keinen Körper, D. h., die Selbstliebe ist hier zudem in gewisser Weise körperlos und damit unproblematisch, auch deshalb, weil sie unerfüllt bleibt. Hinzu kommt, dass in der Figurenrede von eym ding so [er] nit kenn[t] (XIII/1, 204, 1087: „einem Ding, das er nicht kennt“) gesprochen wird, wodurch das männliche Ich als Gegenüber zusätzlich verdinglicht und damit entmenschlicht und entsexualisiert wird. Das wird auch deutlich in der Anrede Ach liebs lieb (XIII/1, 205, 1110: „ach liebes Liebchen“), hinter der sich ebenso gut eine Jungfrau verbergen könnte, gerade auch deshalb, da daran anschließend von den Frauen gesprochen wird, die sich nach Narziss verzehren:
Hergemöller (1999), 73.
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So doch die schoensten tchtern sich Meiner lieb frewen wo ich bin Darzu auch vil der walt Gttin.⁵⁷
So wird das lieb der Anrede nachträglich weiblich konnotiert. Auch im weiteren Verlauf, sogar nach der Erkenntnis, wird nicht vom ‚Ich‘ gesprochen, sondern das Gegenüber bleibt ein ‚Es‘ und damit weiterhin entsexualisiert: das solt bleiben das ich lieb (XIII/1, 206, 1164: was ich liebe, das soll bleiben). Bei diesem Vorgehen des Verfassers – sei es in diesem Falle Wickram zuzuschreiben oder durch die Vorlage bedingt – handelt es sich um eine Strategie das Unsagbare, das Tabuisierte sagbar zu machen, indem es durch die Einbettung in ein ausdrücklich feminines Wortumfeld entschärft wird. Mittels der Entsexualisierung des ‚Gegenübers‘, der Verdinglichung des ‚Ichs‘ kann die Geschichte von Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, erzählt werden.
V Resümee Die verquere Situation des Verkennens des Ichs im Spiegel bietet Wickram die Möglichkeit, die für seine Zeit problematischen Stellen, die auf eine Liebe zwischen Männern hindeuten, nicht nur zu tilgen, sondern auch gekonnt zu umschiffen, indem er sich eines sprachlichen Tricks bedient und das ‚Er‘ zu einem ‚Es‘ macht. Die Selbstliebe wird nicht tabuisiert und umgearbeitet oder extrem moralisiert, wie man dies erwarten könnte – abgesehen von Narzissʼ letztem Ausruf, in dem er vor der unmäßigen Liebe warnt, jedoch nicht vor der eitlen Selbstliebe. Vielmehr liegt das Tabu und damit das Unsagbare auf jenen Elementen, welche die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern betreffen. Sowohl durch die tradierte moral-ethische Wertung als auch den rechtlichen Umgang mit Homosexualität im 16. Jahrhundert ist Wickrams Text frei von ‚anstößigen‘ Stellen, auch wenn es im Narziss-Mythos zu keiner Zeit zu einer tatsächlich ausgeführten sexuellen Handlung zwischen dem Protagonisten und einem seiner Verehrer kommt. Wickrams Anspruch jedoch, eine Version der Metamorphosen herzustellen, die auf der einen Seite für jedermann verständlich und auf der anderen Seite auch für weibliche Leser unverfänglich ist, hat dazu geführt, dass selbst kleinste Hinweise auf in der Frühen Neuzeit als sodomitisch geltende Neigungen vermieden werden. An diesem ‚Grundsatz‘ orientiert sich auch der Kommentar des Lorichius, der ebenfalls nicht von homosexueller Liebe spricht, stattdessen aber der zeitgenössischen Moralisierung folgend die Eigenliebe und den Hochmut sowie die Werbung seitens Echos kritisiert. Nichtsdestotrotz verrät uns das, was in Wickrams Text und dem beigefügten Kommentar im Vergleich mit dem Original von Ovid unausgesprochen bleibt, was zu ihrer Zeit problematisch und damit un Wickram, Sämtliche Werke XIII/1, 205, 1111– 1113 „So erfreuen sich doch herzlich an mir die schönsten Töchter, wo ich auch bin, daneben auch viele Waldgöttinnen.“
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sagbar ist. Eben dieses Ungesagte zeigt uns in diesem Fall die zeitgenössische Sicht auf die Homoerotik, die in dieser frühneuzeitlichen Metamorphosen-Bearbeitung tabuisiert wird.
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23,
congiugnimento Cromwell, Oliver
138 145
Dante 101, 122, 126 f. Daphne 129 – 131, 133 Datini, Francesco di Marco 12, 101 – 115 Datini, Margherita 12, 101 – 115 Davenant, William 144 f., 153 Der Traum von der Liebe 85, 90 Descartes, René 155 descriptio pulchritudinis 91, 98 Diana 120, 122, 125 f., 132 f., 139 Didaxe 86 Dido (Elissa) 11, 15 – 24, 26 – 31, 34 – 43 Dido-Eneas-Liebe 20, 42 Die Graserin 96 difesa 134 Disartikulation 5, 77 – 79, 107, 144 Dominici 56 – Dominikaner 55 Dominikus 49, 55 f. – Dominikuslegende 56 Dryaden 164 Dryden, John 143 – 145, 149 f., 152 Echo 161, 163 – 170, 172 f., 176, 178 Egalitätsprinzip 69 Ehe 7, 10 – 12, 15, 21, 24 f., 41, 48, 53, 64, 66 f., 70 – 74, 76 – 79, 86, 101, 103 – 107, 109, 112, 115 f., 120, 140, 154, 161, 163 f., 166 f. – Ehefrau 26 f., 73 – 75, 78 f., 101 – 103, 105 f., 109, 111 – 115 – Ehemann 15, 69, 102 f., 105 f., 110 – 114, 173 Ehelichen Liebe 67, 71, 74, 79 Eigenliebe 163 f., 168 f., 171 – 173, 176, 178 Eneas 16 – 19, 21, 26 – 31, 34 – 42 Erasmus von Rotterdam 162, 171 Erec und Enite 66 Erektion 135 Erkenntnisprozess 168 Eroberung 129, 132 f., 135 f., 145, 150 Erotik 6 – 9, 12, 37, 51 – 53, 58, 70, 76, 119, 131, 140, 143 f., 149 f., 152 f., 155, 157 erotisches Begehren 146 erotisches Dreieck 58 Exegese 163
184
Register
exempel 17 f., 23 f., 26 – 30, 38, 41 f., 164, 169 Exklusion des Dritten 80 exklusive Vertraulichkeit 53 Ficino, Marsilio 153 Fiesolanische Nymphendichtung 120, 124, 138 Florenz 12, 101 f., 106, 109, 120 Flucht 15 f., 18, 20, 27, 57, 112, 129 – 134 forza 121, 126, 132, 134, 136 Francisci 51 – 53 – Franziskaner 51 Franziskus 50 – 54, 56 Frauenlob (Heinrich von Meißen) 26, 42 Freund 28 f., 54 – 56, 70, 77, 154 – 156 Freundin 54 Freundschaft 1, 3 f., 47, 49 f., 53 f., 64, 66, 70 – 72, 75, 79, 86, 119, 143 f., 154 f., 157 – Freundschaftsdienst 71 – Freundschaftsdiskurs 66, 86 – Freundschaftsmotiv 71 – Freundschaftsnarrative 52 – Freundschaftsverhältnisse 49 Friedrich von Hausen: MF 42,1 30 – 41 fuggire 121, 129 Gefährten 11, 47, 52 – 54 Gemeinschaft 47 – 49, 51 – 54, 56, 88, 95 Gemeinsinn 47 – 49, 54 Gerhard Lorich von Hadamer 162 – 164, 169 – 173, 176, 178 Geschlecht 106, 135, 174 Geschlechtsverkehr 19, 138 f. Gnaeus Naevius: De Bello Punico 15 Gottesfreund 47 – 54, 59 Gottesliebe 50 Gouge, William 148 Gregor der Große 52 Gregor IX. 55 f. Habitualisierung 50 Hector 29 f. – Heilanspruch 56 – Heiligkeit 47 – 49, 54 – 56, 177 – Heilscharisma 49, 54, 56 – Heilscharismatiker 54 f. – Heilsinstitution 56 Heinrich von Veldeke: Eneasroman Hekuba 22 Helena 22 heteroerotisches Begehren 47
16 f.
heterosozial 4, 50 f., 53, 56, 58, 86 – Heterosoziale Verhältnisse 53 Hobbes, Thomas 148, 156 höfische Liebe 6, 8, 11, 63, 65 f., 69, 73 f., 76 Höfisierung 164 hohe Minne 6, 32 f., 37, 40 f., 63, 65, 76, 97 f. Homoerotik 12, 174 – 176, 179 Homosexualität 58, 175 – 178 homosozial 4, 49, 51, 56 – 58, 86 Hugolino d’Ostia 55 f. Humanismus 162 f., 171 Hybrid 74, 86 Iarbas 15 Immanenz 48, 53 – 56 – Immanente Freundschaftsrelationen 55 – Immanente Institution 56 Individualität 4, 64, 105, 115 f. Information 80, 87 f., 92 f., 96 Inkommunikabilität 4, 8 f., 11 f., 86 f., 89, 93, 95, 98, 112 Institution 2, 11, 48 – 51, 54 – 57, 59, 64, 71, 104, 176 – institutionelle Ansprüche 56 interpretatio christiana 163 Intimbeziehung 3, 87 intime Semantiken 49, 52, 59 Intimität 1 – 5, 7 – 9, 15, 17, 29, 47, 49 – 51, 54 f., 57 – 60, 63 – 66, 71, 77, 79, 81, 86 f., 89, 91, 95 f., 98, 104, 107, 115 f., 119, 147, 149, 155 f. – Intimbeziehung 63, 66, 69, 75 – intime Semantiken 11 Irrationalität 63, 73, 79 Jagd 16, 19, 121, 128 f., 132 Jagdanalogie 131, 137, 139 James II. von England 154 Jordan von Sachsen 55 Jörg Wickram 12, 161 – 178 Juno 22, 24, 164, 173 Jupiter 164, 173 Justinus 15 Karl II. von England 147 Karl V. 147, 176 Karthago 15 f., 18, 20 f., 27, 29, 39 Klage 21, 30, 32, 34 f., 39, 85 f., 89 – 92, 96 Klara von Assisi 50 – 54, 106, 128, 146, 177 Knüppel 135, 138
Register
Koitus 119, 128, 132, 134 – 139 Kolmarer Liederhandschrift, BSB München, Cgm 4997 28 Kommunikabilität 67, 75, 78, 81 Kommunikation 2 – 4, 8 f., 12, 63, 66, 68, 74, 86 – 96, 98, 101 – 105, 107, 109, 112, 115 f., 169 Königsberger Jagdallegorie 92 Lactantius 176 Laienunterweisung 162 Lavinia 18, 21, 27 f., 42 Lee, Nathaniel 153, 156 Legitimierung 49, 55, 163 Liebe 1, 3 – 12, 15 – 21, 24, 27, 29 f., 33 f., 37, 39 f., 42 f., 63 – 81, 85 – 96, 98, 104, 108, 113, 119 – 125, 127 – 129, 132 f., 137 – 140, 143 – 151, 153 – 155, 157, 161, 164, 166 – 178 – Liebesehe 64 – 66, 70 – 73, 75 f., 78 – Liebesgötter 12, 122, 125, 127 f., 133, 139 – Liebeskrankheit 16, 39, 123 f. – Liebesleid 85 f., 91, 124 – Liebessemantik 3, 64, 66, 70, 77, 89 Liebessemantik 74 Luhmann, Niklas 2 – 7, 11, 49, 63 – 68, 70 f., 74, 76, 85 – 89, 93, 101, 104 f., 107, 116, 167, 169 lupo 129 f., 134 Luther, Martin 176 Martin Bucer 163 martire 124, 128 Martyrium 63, 124, 128 Mathias 57 – 59 Mensola 120, 122 – 125, 127 – 138, 140 Metamorphosen 12, 120, 129, 133, 161 – 164, 167, 171 f., 177 – 179 Metapher 19, 63,65, 122, 127, 135 f., 138, 139 f., 155 Milton, John 148 f. Minne 12, 26, 29 f., 32, 40, 42, 63, 65 – 67, 70 f., 74 – 81, 85 – 92, 95 – 97 – Minnedienst 66, 69, 74, 76, 80 – Minneexempel 43 – Minnekommunikation 86 – 88, 94 – 96, 98 – Minnelehre 96 – Minneleich 23, 43 – Minnerede 11 f., 85 – 89, 91, 93, 95 f.
185
– Minnesang 6, 9, 31, 35, 37, 40, 65, 73, 87, 97 mirare 122 f. Naiaden 164 Narziss 12, 161, 163 – 178 – Narziss-Mythos 163 f., 169, 173 f., 178 Ninfale fiesolano 12, 119 – 139 Norbert von Xanten 50 Nötigung 121, 139 Nymphe 120, 122 – 125, 127, 129 – 134, 139, 164, 167, 172, 175 Öffentlichkeit 53, 58, 103, 106 offesa 134 Opake Systeme 68 Otway, Thomas 144, 154, 156 Ovid 12, 17 f., 120, 124, 129 – 131, 133, 162 f., 165 – 167, 169, 171 f., 174 – 178 – Ovid: Heroides 17 f. Pallas 22 Paradoxie 1, 4, 51, 63 – 65, 67, 79, 85, 89, 96 f., 108, 114, 138, 151 parea 125 f., 131 f. Parodie 96 passionierte Liebe 15, 20, 24, 36 f., 40 f., 63 – 67, 73, 85, 89, 97 – Passionierte höfische Liebesehe 75 Peter von Arberg 28, 42 Pfeile 123, 127, 132 f. philautia 164, 171 f. Philomela 161, 164 picchiar 135 poemetto 12, 120 – 124, 127, 129, 132, 139 Polyvalenz 47, 129 Prato 12, 102 proverbium 172 f. Psychisches System 66, 69 Pygmalion 15 Pyramus 167 Quintus Ennius: Annales
15
Reformation 163, 177 rei 4, 58, 76, 108, 121 f., 139, 174 Rhamnusia 164 Roman de la Rose 125 f., 128, 135, 140 Roman d’Eneas 16 f.
186
Register
Romantische Liebe 4, 11, 64 f. Rowe, Nicholas 154 Sagbarkeit 91, 119 f., 151 Saint-Réal, César Vichard Abbé de 154 Schattenbild 174 Selbsterkenntnis 163, 168, 170 Selbstliebe 163 f., 167, 170, 172 f., 177 f. Selbstreflexivität 64 f., 68 self-fulfilling prophecy 168 Settle, Elkanah 144, 150, 152 f. Sex 119, 135 f., 139 Sexualität 1, 4, 12, 63 – 65, 71 f., 74, 76 f., 86, 98, 128, 132, 139 sforzare 121, 127 – 129, 134 Sidney, Philip 149, 153 Sodomie 174 f. Sozietät 57 Spenser, Edmund 149 Spiegelbild 164, 167 – 169, 178 Straßburg 85, 163 stratifikatorisch 6, 63 superbia 134, 164, 166, 169, 172 Sychaeus 15 f. Symbiotischer Mechanismus 4, 63, 72, 74 Symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium 47, 63, 86 Tabu 2, 8 – 11, 35, 49, 87, 96, 98, 110, 177 f. Tagelied 28 – 30, 42, 58, 77 Tannhäuser: 4. Minneleich 23 – 26 Thisbe 167 Thomas von Celano 51, 53 Timaios von Tauromenion 15 Transformation 1 f., 11, 41, 47 f., 50 – 52, 59, 104, 119, 127 f., 139, 148, 157, 162, 164 Transzendenz 12, 48, 54, 56, 79, 143, 155 Traum 85 f., 90 f., 125 – 128, 134, 139 triangulär 58
Tristan und Isolde 42, 65 Troja 1, 15, 18, 20 – 22, 27, 29 Tyrus 26 f. Überhöhung 2, 8, 35, 40, 87, 96, 98, 156 Ulrich von Winterstetten 26 Unsagbarkeit 1 f., 4 – 6, 8, 11 f., 16, 18, 24, 59 f., 67, 75, 77 – 79, 81, 85 – 89, 91, 98, 102, 105, 108 f., 112, 115 f., 119 f., 124, 136 f., 140, 143, 152, 161 – Unsagbarkeitstopos 72, 78, 87, 90 f., 98, 108 Unverfügbarkeit 2, 9, 15, 18, 21, 24, 35, 37, 40, 43, 65, 74 – 77, 79, 85, 89, 97, 143, 152, 155 uscio 135 Utopie 88, 98 Vasallitätsprinzip 65 vedere 122 Venus 10, 22, 125, 127 f., 139 Verfügbarkeit 2, 16, 37, 75 f., 79 Vergil 15 – 17, 19 f., 39, 126, 149 Verkennen 178 Verstummen 68, 85, 87, 90 – 93, 95 f., 98, 151 Vertrauen 12, 49, 71, 78, 115 f., 143 Vertraulichkeit 11, 47, 50 – 53, 55, 58 f., 71 Vertrautheit 11, 33 f., 43, 47, 53, 55, 70, 126, 146, 162 visione 57 – 59, 125 Vita Nuova 127 Weimarer Liederhandschrift, Q564 26 Weingartner Liederhandschrift, LB Stuttgart, Cod HB XIII 1 30 zwischenmenschliche Interpenetration 67 f.
3, 63,