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German Pages [279] Year 2017
Stefan Seeber
Diesseits der Epochenschwelle Der Roman als vormoderne Gattung in der deutschen Literatur
Mit 5 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0760-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Alexander von Humboldt-Stiftung. 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der »Roman« in Anführungszeichen – Ausgangspunkt und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romanpoetik der (Frühen) Neuzeit . . . . . . . . . . . . . prodesse und delectare: Nutzwertästhetik . . . . . . . . . . Rhetorische Wirkungspoetik . . . . . . . . . . . . . . . . Ergänzungen zur Wirkungspoetik . . . . . . . . . . . . . . ludus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptionsästhetik und Wirkungspoetik . . . . . . . . . Wirkungspoetik, Rezeptionsästhetik und der Roman . . .
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Der ›Wilhelm von Österreich‹ und seine intendierten Rezipienten . . Einführendes zu Text und Fassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassungsspezifische Rezipientenlenkung . . . . . . . . . . . . . . . Das »Maximalprogramm«: ›Wilhelm von Österreich‹ in G . . . . . Der Erzähler und die Handlungswelt . . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur des ›Wilhelm von Österreich‹ in G: Hyperplastisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Wilhelm von Österreich‹ in S . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählerrolle und Figurenhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur des ›Wilhelm von Österreich‹ in S: Hypoplastische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prosa-›Wilhelm‹ von 1481 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erzähler und die Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur des Prosa-›Wilhelm‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ›Wilhelm von Österreich‹ durch die Zeiten . . . . . . . . . . .
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49 49 54 56 56
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Inhalt
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Johannes Zschorn und die neuen Möglichkeiten des Romans . . . . . Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die griechischen ›Aithiopika‹ als Grundlegung einer Romanpoetik . Die ›Aithiopika‹ als innovative Dichtung im 16. Jahrhundert und der deutsche »Sonderweg« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die europäische Wiederentdeckung Heliodors . . . . . . . . . . . . Zschorns Übersetzung und ihr paratextueller Rahmen . . . . . . . ›Vorred‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapiteleinteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marginalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zschorns Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zschorns ›Aithiopika‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die weitere Überlieferung von Zschorns ›Aithiopika‹ . . . . . . . . .
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Romane auf der Suche – die intendierte Rezeption vorbarocker Romane
205
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 1: ›Wilhelm von Österreich‹, Versverzeichnis Handschrift S . Anhang 2: ›Wilhelm von Österreich‹, Wilhelms Ausbildung . . . . . Anhang 3: ›Wilhelm von Österreich‹, Sittentadel Joraffins (Einschub nach Vers 4350) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 4: ›Wilhelm von Österreich‹, Prolog der Dichtung im Druck von 1481 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 5: Titel und Vorrede des ›Buchs der Liebe‹ von Sigmund Feyerabend, Frankfurt 1587, Exemplar der UB Basel, Signatur Wack. 688. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 6: Inhaltsangabe der ›Aithiopika‹ Heliodors . . . . . . . . .
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Die ›Magelone‹ zwischen Hof und Buchmarkt . . . . . . . . . Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527: Die ›Magelone‹ am Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . 1535: Die ›Magelone‹ für die Massen . . . . . . . . . . . . . 1587: Die »romantisierte« ›Magelone‹ im ›Buch der Liebe‹ . Exkurs: Die katholische Magelone als Alternativfassung . . Fazit: Die ›Magelone‹ zwischen Vielfalt und Vereindeutigung
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Vorwort
Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Freiburger Habilitationsschrift, die ich im Juni 2014 eingereicht habe. Die Alexander von HumboldtStiftung hat es mir ermöglicht, im Rahmen eines Feodor Lynen-PostdocStipendiums die Grundpfeiler der Studie am Somerville College in Oxford zu erarbeiten. Der Stiftung und meinen Oxforder Gastgebern Helen WatanabeO’Kelly und Nigel F. Palmer gilt mein tief empfundener Dank. Am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) konnte ich die Arbeit als Junior Fellow zu Ende bringen und die zentralen Thesen mit Rüdiger Schnell diskutieren. Für seine Hilfe und für die wichtigen Impulse möchte ich ihm herzlich danken. Hans-Jochen Schiewer hat mir an seinem Lehrstuhl in Freiburg die Freiräume eröffnet, die nötig sind, um ein solches Projekt zu beginnen und erfolgreich zu beenden – ich danke ihm für seine beständige Unterstützung und für das hervorragende Umfeld, in dem diese Arbeit entstehen konnte. Achim Aurnhammer hat mir immer wieder geholfen, über den altgermanistischen Tellerrand zu blicken. Für seine Hilfsbereitschaft und für das Zweitgutachten möchte ich ihm herzlich danken. Auch vom dritten Gutachten, das Uta Störmer-Caysa angefertigt hat, habe ich im Zuge der Überarbeitung des Textes ganz wesentlich profitiert und auch ihr möchte ich vielmals danken. Im Verlag V& R unipress haben Marie-Carolin Vondracek und Rashid Ben Dhiab mit großer Geduld und Freundlichkeit mein Buch betreut, wofür ich ihnen danke. Die Kindergärtnerinnen der Unikita Freiburg haben es mir ermöglicht, mit gutem Gewissen meine Arbeit zu tun und nachmittags zufriedene Kinder abzuholen, dafür danke ich ihnen sehr. Meinen Kindern Arthur, Elinor und Viola bin ich dankbar dafür, dass sie dieses Buch so lange als »Mitbewohner« geduldet haben. Meiner Frau Karin verdanke ich zu viel, um es in Worte zu fassen. Deshalb sei ihr dieses Buch gewidmet.
Der »Roman« in Anführungszeichen – Ausgangspunkt und Fragestellung
Der Roman ist eine komplizierte Gattung, der man sich vorsichtig und mit Bedacht nähern muss. Lange Zeit ist er nur in Anführungszeichen zu finden, da der Terminus erst spät in der Entwicklungsgeschichte auftaucht. Wenn mit Walter Haug gilt, dass Literatur sich »wesensmäßig immer in der Krise«1 befindet, so gilt das für den Roman potenziert, und es ist der Motor seiner poetologischen Produktivität. Über lange Zeit bleibt die Gattung, der die Dignität des Epos und des Dramas fehlt, als Neuling im Gefüge der Dichtungsarten undefiniert und volatil. Vormoderne, genauer vorbarocke2 Romane sind nicht nur von einer »transzendentalen Heimatlosigkeit« geprägt, wie sie Luk#cs für die Moderne ausmacht,3 sondern von einer umfassenden Obdachlosigkeit: Der volkssprachige Roman vor 1600 hat keinen Ort, er gehört nirgendwo hin und schwebt zwischen Epos, Drama und Historiographie umher, er ist verwilderte Literatur,4 sich bisweilen der einen, dann wieder der anderen Gattung annähernd und von allen Gattungen profitierend.5 Man bewegt sich in einer Zeit »vor der
1 Haug 2003, S. 19. 2 Den Begriff »vorbarock« benutze ich dabei zur (vorläufigen) Epochenabgrenzung zwischen barocker Romanproduktion und den Dichtungen, die in der Zeit vor dem Aufkommen einer neuen Romanpraxis im Gefolge von Opitz ›Argenis‹-Übertragung 1626 entstehen. Er deckt sich in dieser Hinsicht nicht mit Alewyns teleologischer Vorstellung einer vorbarocken Vorbereitung barocker Poetik (Alewyn 1962, S. 53). Zu Alewyns Epochenmodell und seiner Entwicklung hin zur Dichotomie von vormoderner und moderner Geisteshaltung mit dem Wendepunkt um 1750 vgl. Reinhart 2005, S. 413 und S. 416, zur Idee des Vorbarock bei Alewyn vgl. ebd., S. 417f., dort auch den Hinweis auf die neulateinische Literatur als Bindeglied zwischen den Literaturen des 16. und 17. Jahrhunderts. 3 Luk#cs 1971, S. 52. Ebd., S. 32 spricht er variierend von der transzendentalen »Obdachlosigkeit«. 4 Vgl. Stierle 1980 zur poetologischen Potenz der Verwilderung. 5 Zum Verhältnis zwischen Epos und Roman vgl. Fusillo 2006, bes. S. 41–46 mit dem Schwerpunkt »The Epic as Ennobling Form« (S. 41). Die Verortung des Romans funktioniert in den verschiedenen Volkssprachen je unterschiedlich, mir ist es im Folgenden allein um die deutschsprachige Entwicklung zu tun.
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Der »Roman« in Anführungszeichen
Poetik«,6 bzw. an der »Schwelle zur Literatur«,7 in der die modernen Definitionskriterien, die gemeinhin an den Roman als Gattung angelegt werden, noch nicht gelten. Wenn das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft den Roman als »Sammelbegriff für umfangreiche, selbständig veröffentlichte fiktionale Erzähltexte«8 fasst, ist weder das Veröffentlichungskriterium, das auf den modernen Verlagsbetrieb zugeschnitten ist, noch die Selbständigkeit der Textveröffentlichung für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werke in Anschlag zu bringen, die sich oft in Überlieferungsverbünden und thematischen Sammlungen finden. Auch das quantitative Argument trägt nicht, gerade wenn von ein und derselben Geschichte unterschiedlich lange, bisweilen auch radikal kürzende Fassungen in Umlauf sind.9 Der fiktionale Anspruch ist ebenfalls eine spezifisch moderne Forderung an die Textsorte, wie die neuere mediävistische Fiktionalitätsforschung herausgearbeitet hat.10 Wenn ich im Folgenden als Ausgangspunkt Romane als erzählende Texte in Vers und Prosa nur vage fasse, ist dies dem Umstand geschuldet, dass jede weitere Eingrenzung ohne umfangreiche Herleitung und Rechtfertigung dem Gegenstand nicht gerecht wird, und dass eine genauere definitorische Beschränkung nur anhand der Einzelanalysen und für den jeweiligen Text bzw. die jeweilige Textgruppe erfolgen kann. Vor dem Hintergrund dieser terminologischen Ungenauigkeit und scheinbaren poetologischen Unbestimmbarkeit des vorbarocken Romans ist es mein Ziel, ausgewählte mittelalterliche und frühneuzeitliche Romane als Vertreter einer Gattung in statu nascendi genauer zu bestimmen. Die Selbstbezeichnungen der Werke geben dabei einen ersten Hinweis darauf, was für die Romanproduktion wichtig ist – romanz bedeutet zuerst das volkssprachige Schreiben in Abgrenzung zum lateinischen und ist als poetologischer Begriff vor der Barockzeit nicht relevant;11 viel wichtiger ist es, dass sich die Romane selbst z. B. als maeren (etwa ›Iwein‹, V. 30 und ›Parzival‹, 2,7), aber auch als historia bezeichnen. So verorten sie sich in einem komplexen Spannungsfeld von Erfindung und Wirklichkeit, von Wahrheit und Lüge, von Abenteuer und Nachricht.12 Dieses 6 7 8 9 10
Robert 2007 (Titel). Dies der Titel der Studie von Glauch 2009. Steinecke 2003, S. 317. All diese Definitionskriterien finden auch keine Anwendung bei Schmid 2000. Vgl. umfangreich Glauch 2014 mit enzyklopädischen Hinweisen auf die aktuelle Literatur und die Debatten in der Forschung seit 2000. Vgl. dagegen die These von Haug 2009, S. 91 u. ö., der die Fiktionalität zum Definitionskriterium des mittelalterlichen Romans erhebt. Fundamentale Kritik an der Idee der Übertragung moderner Begrifflichkeit auf vormoderne Texte äußert Hübner 2014, S. 442, Anm. 61: »Was heute ›Fiktionalität‹ heißt, setzt Leibniz voraus und wird mit Kant denkbar […].« 11 Vgl. z. B. Bauer 2007, Sp. 264 und Klein 2015, S. 196–198. 12 Vgl. für die Erzähltexte des 15. und 16. Jahrhunderts Müller 1985, S. 15: Der Romanbegriff
Ausgangspunkt und Fragestellung
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Spannungsfeld ist für die weitere Untersuchung besonders wichtig, allerdings mit der Einschränkung, dass es vor allem in seiner Relevanz für die Rezeption der Texte in den Blick genommen wird. Da wir es nicht mit Literatur um der Literatur willen bzw. mit der »Selbstsakralisierung der ›schönen‹ Literatur«13 zu tun haben, die im Kontext der modernen Ästhetik zum definierenden literarischen Paradigma wird, spielt die Rezeption eine entscheidende Rolle für das Textverständnis: Alle vormoderne Literatur und vor allem der vorbarocke Roman ist ausgezeichnet durch das, was Haug als aktualistische Ästhetik14 bezeichnet – sie bezieht ihr Publikum aktiv in die Sinnstiftung mit ein, die Rezeption gehört zum Kunstwerk dazu, erst im Nachvollzug vermag der Text seine Sinnhaftigkeit zu entfalten und im Prozess der Rezeption »verschlingt sich das ästhetische Medium letztlich selbst«,15 wird es also über die Textgrenze hinaus transzendiert. Diese Aktualisierung des Sinnpotentials in der jeweiligen Rezeptionsumgebung wird von den Texten selbst immer wieder direkt angesprochen, etwa in Wolframs ›Parzival‹, in dem sich apodiktische Feststellungen zur untrennbaren Verbindung zwischen Autor, Text und Rezipient finden (sol ich des iemen triegen, / si müezt ir mit mir liegen [Pz. 238,11f.]).16 Diese spezielle Konstellation macht die »[p]oetische Kommunikation« sowohl am Hof als auch, obgleich unter anderen Bedingungen, im Druckzeitalter zu einem ganz besonders »riskanten Geschehen«.17 Den Dichtungen ist es nämlich nicht so sehr darum zu tun, sich als fiktionale Werke ästhetisch zu positionieren, auch wenn sie Hinweise auf das Potential bieten, das der fictio, also dem Inserieren augenscheinlich unwirklicher, erfundener Elemente in den Text innewohnt.18 Vielmehr gilt es, den praxeologischen Zusammenhang zwischen Dichtung und Rezeption zu erhellen,19 also auf die intendierte Rezeption zurückzugreifen, um den poetologischen Modus zu verstehen, in dem ein
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»umschreibt ein Feld, auf dem im 15./16. Jahrhundert mittelalterliche Erzähltraditionen umgeformt werden, neue literarische Typen und Formen ästhetischer Erfahrung sich ausbilden, die gesellschaftliche Bedeutung von Literatur sich verändert.« Die historia als schillernden Gattungsbegriff behandelt ausführlich Knape 1984, vgl. auch Braun 2004 und besonders den pragmatischen Zugriff von Müller 1981, S. 253–255. Zur »historischen Situierung« als »wesentliche[m] Neuansatz für die Verifikation in frühneuzeitlichen Prosaromanen« vgl. Schmitt 2005, S. 192. Glauch 2014, S. 138. Haug 1995, S. 27. Ebd. Vgl. dazu Seeber 2010, S. 216. Strohschneider 2014, S. 11. Glauch 2014, S. 105. Vgl. dazu Hübner 2012 und grundlegend Hübner 2015.
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Der »Roman« in Anführungszeichen
Roman operiert.20 Diese praxeologische Verortung bedeutet den Rückbezug auf den »Konzeptrahmen« der Werke,21 und dieser Rahmen kann für ein und denselben Stoff in unterschiedlichen Fassungen deutlich differieren. Da es nicht möglich ist, auf die außertextliche Wirklichkeit in Form von Rezeptionszeugnissen zurückzugreifen, um diesen Kontext zu beleuchten, ist es notwendig, die intendierten Rezeptionsweisen aus den metapoetischen Angaben und konzeptionellen Aufstellungen der einzelnen Romane in ihren Fassungen zu rekonstruieren. Hierfür fehlen wiederum die helfende Handreichung einer präskriptiven Poetik22 (die erste Romanpoetik dieser Art verfasst Huet 1682) und die Orientierung durch eine gattungshistorische Einordnung. Die Gattungsgeschichte lässt den Roman gemeinhin23 – in scharfer Abgrenzung von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Proto-Romanen oder »Romanen« in Anführungszeichen – in der Zeit um 1600 beginnen,24 um die ersten gattungstheoretischen Gehversuche im Barock,25 die Hochphase der Theoriebildung im 18. Jahrhundert oder den gattungstheoretischen Neueinsatz im Rahmen der Genieästhetik26 besonders zu betonen. So ist man für die Betrachtung vorbarocker Romane darauf angewiesen, die einzelnen Aussagen der jeweiligen Texte als Repräsentationen einer poetica in actu ernst zu nehmen, die als Einzeltextpoetik in enger Verknüpfung mit dem Rezeptionsprozess die Sinnhaftigkeit des jeweiligen Textes, seinen Anspruch und sein Selbstverständnis zugänglich macht. In einem zweiten Schritt wird es dann möglich, auf der Basis der Einzeltextstudien (vorsichtige) allgemeinere Schlussfolgerungen zu ziehen. Dabei wird augenscheinlich, dass die Zeit vor der Poetik eine Ära des poetologischen Wildwuchses ist, gekennzeichnet durch eine »Pluralisierung von Autoritäten«27 und eine Vielzahl einander widersprechender Romankonzepte, die sich nicht in eine teleologische Lesart auf dem Weg zu einer spezifischen modernen Poetik 20 Vgl. auch Glauch 2014, S. 91: »Der intendierte zeitgenössische Leser oder Zuhörer und sein intendierter Umgang mit dem Text muss das Kriterium sein.« 21 Strohschneider 2014, S. 28. 22 Vgl. allg. Seelbach 2000, S. 5: »Wichtiger als die Poetiken selbst sind erfolgreiche literarische Muster, die als Vorbilder dienen oder gar den Ausgangspunkt einer eigenständigen Gattung markieren.« 23 Anders Klein 2015, die eine Diskontinuität antiker Traditionen annimmt und den Roman zur mittelalterlichen Erfindung erklärt. 24 Z. B. Niefanger 2012, S. 201, trennt streng zwischen mittelalterlichem Epos und Roman. Vgl. auch bes. deutlich Stockhorst 2008, S. 12. Zur These vom grundsätzlichen Fehlen eines Paradigmenwechsels zu Beginn der Barockepoche vgl. Meid 2009, S. XIII sowie Meid 1974, S. 10 zur Überlieferungskontinuität vorbarocker Romane durch die Barockzeit. 25 Bauer 2005, S. 11. Die Existenz mittelalterlicher Romane wird hier nicht geleugnet, der Text bleibt aber, wie die meisten anderen Einführungen auch, für den Bereich zwischen Antike und Barock eher vage. 26 Voßkamp 1973, S. 162. 27 Vgl. dazu grundlegend Müller/Robert 2007.
Ausgangspunkt und Fragestellung
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hin bündeln lassen, sondern im Gegenteil Vielfalt, Experimentierfreude und die Unbestimmtheit der Gattung im Werden ausstellen. Die Prologe und Exkurse der Versdichtungen und die Paratexte der Prosaromane bleiben, was poetologische Terminologie angeht, außerordentlich vage. Immer wieder jedoch, das zieht sich als rote Linie durch die gesamte Romanproduktion der vorbarocken Zeit (und es wirkt weit darüber hinaus in die Zeit der normierenden Romanpoetik hinein), taucht das horazische Dictum vom prodesse und delectare als Anspruch der Dichtungen auf. Diese Begriffe erweisen sich einerseits als Hohlformen, die je neu durch jeden Text zu füllen sind, zugleich wirken sie andererseits als Katalysatoren für die Entwicklung eines romanpoetologischen Diskurses, der sich um das Begriffspaar sowie die Hierarchisierung der einzelnen Bestandteile ansiedelt.28 Im ersten Teil dieses Buches wird es mir darum gehen, dieses romanpoetologische Minimalpaar im Hinblick auf die Rezeptionswirkung der Texte zu fundieren – dies wird in drei Schritten geschehen. Zuerst blicke ich auf das, was die Romantheorie gemeinhin als Startpunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema nimmt, nämlich die Romandebatte des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, nur unter anderen Vorzeichen: Mir ist diese Debatte Ausdruck eines bereits lange zuvor implizit in den Dichtungen geführten Diskurses, ihre Kernpunkte will ich auf die Texte meines Corpus zurückprojizieren und so delectatio und utilitas bzw. prodesse und delectare schärfer konturieren. Hierbei kommt auch zweitens die grundlegend rhetorische Prägung der Poetik zum Tragen,29 diese will ich exemplarisch anhand einer Analyse der ersten deutschsprachigen Rhetorik der Neuzeit, des ›Spiegels der wahren Rhetorik‹ Friedrich Riederers von 1493 erhellen. Drittens ist es notwendig, die Perspektive auf die intendierte Rezeption deutlicher herauszuarbeiten, als dies gemeinhin in der Forschung geschieht: Die »alte« Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule ist entsprechend um neuere kognitionswissenschaftliche Modelle und um Überlegungen zur Empathie zu ergänzen und zu verfeinern, um den intendierten Rezeptionsprozessen, die in den Romanen und ihren Paratexten Niederschlag gefunden haben, näher zu kommen. Der zweite Teil der Arbeit ist einzelnen Fallstudien gewidmet, die das theoretische Instrumentarium nutzen, verfeinern und ergänzen. Ich habe mich bei der Auswahl der Texte auf das enge Corpus des sog. »Liebes- und Abenteuerromans« bzw. des »Minne- und Aventiureromans« beschränkt,30 der mit dem besonderen Vorteil aufwarten kann, aus antiken Wurzeln zu stammen und zu28 Vgl. allg. Till 2005. 29 Vgl. zur Romanpoetik Meuthen 2007, Sp. 286. 30 Die Benennung ist problematisch und provisorisch, das hat zuletzt Putzo 2013 noch einmal deutlich gemacht. Zum epocheübergreifenden narrativen Potential des Abenteuers vgl. z. B. Eming/Schlechtweg-Jahn 2017, zur Kontinuität der Stoffe im selben Band Eming 2017, S. 84 und S. 86f.
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Der »Roman« in Anführungszeichen
gleich der Neuentwicklung der europäischen Romanpoetik in den Volkssprachen und im Lateinischen ab dem 16. Jahrhundert einen entscheidenden Schub gegeben zu haben – hier liegt eine Kontinuitätslinie vor, welche die gesamte Zeit der vormodernen Romangenese umspannt und so besonders deutlich kontrastierende Einblicke in epochenspezifische Bearbeitungen der Stoffe zu geben vermag. Konkret werde ich unterschiedliche Fassungen des ›Wilhelm von Österreich‹ (verfasst 1314), der ›Magelone‹ (übersetzt 1525 bzw. 1527) und der ›Aithiopika‹ (übersetzt 1559) in den Blick nehmen, um Schlaglichter auf die Entwicklung der Romanpoetik zu werfen. Ich kann dabei auf umfangreiche Vorarbeiten besonders zum mittelhochdeutschen »Minne- und Aventiureroman« durch Ridder, Dietl und Herweg zurückgreifen, die es mir erlauben, mich in diesem Bereich auf eine exemplarische Fallstudie aus der Menge der Romane zu beschränken. Für das poetologisch besonders produktive 16. Jahrhundert greife ich mit der ›Magelone‹ und den ›Aithiopika‹ zwei grundsätzlich verschiedene Texte heraus, die Liebe und Abenteuer völlig unterschiedlich produktiv machen, die aber gleichwohl gemeinsam Eingang in die wohl wichtigste Romankompilation der Zeit, in das ›Buch der Liebe‹ Sigmund Feyerabends von 1587, gefunden haben. Das Ziel dieser Studie ist es nicht, erschöpfende Analysen vorzulegen oder in enzyklopädischer Fülle alle Romane des Themenspektrums aufzuarbeiten. Vielmehr ist es mir darum zu tun, ein methodologisches Handwerkszeug zu erstellen und in der Praxis zu erproben, das über die Grenzen der besprochenen Romane hinaus Geltung beanspruchen kann und das zu erhellen hilft, was bislang nicht zu erfassen war : die Poetik der Romane zu einer Zeit, als es noch keine Romanpoetik gab.
Romanpoetik der (Frühen) Neuzeit Im 16. und 17. Jahrhundert wird über Nutzen und Nachteile des Romans heftig debattiert – damit verbunden kommt das Bemühen auf, eine normative, explizite Romantheorie zu schaffen, allerdings hinkt die Theorie der Praxis immer hinterher, z. T. um Jahrhunderte,31 ebenso gibt es lange Phasen des theoretischen Stillstands bei gleichzeitig außerordentlich produktiver Romanpraxis.32 Die 31 So kodifiziert z. B. Blanckenburg 1774 in seinem ›Versuch über den Roman‹ die Romankunst nach Wieland in Abgrenzung zu den älteren Romanen vor allem des 17. Jahrhunderts. Er tut dies am Vorabend einer romanpoetologischen Revolution, die Goethe mit den ›Leiden des jungen Werthers‹ (erstmals gedruckt im September 1774) und ›Wilhelm Meisters theatralischer Sendung‹ (1776) einläutet und durch die Wielands Romankonzept obsolet wird. 32 Die ersten strukturierten Überlegungen zur Romanpoetik und Romangeschichte legt Jacques Amyot in seinem ›Proesme‹ der Heliodorübersetzung von 1547 vor; bis 1670 tut sich
Romanpoetik der (Frühen) Neuzeit
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Gemengelage ist außerordentlich komplex, zumal die Romanpraxis vor 1600 keineswegs theorielos arbeitet, nur weil ihre eine ausformulierte Poetik fehlt. Stattdessen ist mit einer poetica in actu zu rechnen, damit also, dass jeder Text seine eigenen Leitlinien befolgt, die wiederum in einem Raster intertextueller poetischer Verweisstrukturen stehen: Man bezieht sich auf Vorgängiges, man inspiriert Späteres und verortet den Einzeltext in einem übergeordneten, impliziten Rahmen, der zwar nicht kodifiziert und nicht terminologisiert auftritt, aber dennoch seine Wirkkraft entfaltet. Im Folgenden soll es (kurz) darum gehen, die romanpoetischen Eckpunkte der frühneuzeitlichen Debatte aufzuzeigen, um anhand dieser Schlagworte Rückschlüsse zu ziehen auf die Themen, die bereits den ersten Kodifizierungsbemühungen einer Romanpoetik vorausgegangen sein müssen und die in die Diskussionen des 16. und 17. Jahrhunderts gemündet sind. Die ›Amadis‹-Reihe kann dabei als besonders pointiertes Beispiel für diese Diskussionen gelten, vor allem auch deshalb, weil die Kritik an dieser »Serienproduktion«33 bereits einsetzt, bevor 156934 die erste Übersetzung aus dem Französischen erhältlich ist. Die Kritik dauert auch fort, lange nachdem der letzte ›Amadis‹-Band der insgesamt 24 Bände umfassenden Reihe gedruckt worden ist. Ab 1544 wird der ›Amadis‹ zum »Sündenbock[]«,35 »Prügelknaben«36 und Sinnbild für die unglaubwürdigen, unmoralischen und jugendgefährdenden Ritterromane,37 nach Abflauen der Mode steht er als schlechtes Beispiel für die Romanproduktion alter Zeit38 ein. Die ›Underweysung ayner Christlichen Frauwen‹ des Juan Luis Vives, von Christoph Bruno 1544 ins
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inhaltlich nichts, was über Amyot hinausreichen würde, dann erscheint Huets Vorrede zur ›Zayde‹ de la Fayettes, die durch Zusammenfassung des bisherigen Argumentationsstandes neue Perspektiven eröffnet. Die Debatte thematisiert dabei den französischen Roman, erst 1682 übersetzt Eberhard Happel Huets ›Trait8‹ ins Deutsche, integriert als Exkurs in sein ›Insulanisches Mandorell‹ – dass es dabei der deutschen Übersetzung an der notwendigen poetologischen Terminologie mangelt, legt Zeller 2012, S. 153 dar. Zur Rolle Scud8ries vgl. Lindhorst 1955, S. 66f., Winklehner 1989, S. 176 betont globaler Huets Verdienst, vorgängige Diskurse zusammengefasst zu haben. Schaffert 2015, S. 1. Dass der ›Amadis‹ nicht erst durch die Übersetzung ab 1569 dem deutschen Publikum zugänglich wurde, legt Weddige 1975, S. 128 dar. Meid 2009, S. 531. Weddige 1975, S. 244. Niefanger 2012, S. 208 weist auf die Differenzen zwischen ›Amadis‹ und der mittelalterlichen Romanproduktion hin. Schäfer 1965, S. 379 listet die entsprechenden Texte auf – der intensive akademische Diskurs über den ›Amadis‹ setzt deutlich nach der Phase ein, die mit Weddige 1975 als Zeit der aktiven Rezeption anzunehmen ist; dies ist ein Hinweis auf das erhöhte poetologische Bewusstsein der Theoretiker, aber auch Beleg für das Nachhinken der theoretischen Diskussion hinter der Romanpraxis. Zum Nachhinken der Theorie vgl. auch Stanzel 1981, S. 4 und Pabst 1960, S. 264. Schaffert 2015, S. 261 weist im Rückgriff auf Weddiges Studie auf das lange Nachleben der Serie in der Kritik ausführlich hin.
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Deutsche übertragen,39 gibt die Kernpunkte der Kritik des gesamten 16. und 17. Jahrhunderts vor, ähnliche Argumente finden sich noch in Breitingers ›Critischer Dichtkunst‹ (1740),40 es sei hier deshalb eine kompilierende Übersicht der Kritik durch die Jahrhunderte gegeben. Die zur Schau gestellte Wollust (Bruno, Underweysung, XIr) und die schlechten Helden, die zu Unrecht als Vorbilder gezeichnet werden, machen den ›Amadis‹ moralisch indiskutabel, die Unglaubwürdigkeit des ›Amadis‹ wird betont, das schoene Luegenbuch41 scheint voller wunderseltzame Zauberbossen42 und handwerklicher Mängel,43 unsittlich und unwahrscheinlich.44 Rezeptionsästhetisch resultiert hieraus, dass der ›Amadis‹ gar nicht anders kann, als sein unkritisches Publikum zu incantieren,45 zu korrumpieren46 und zu verderben, denn der »Wirkmechanismus der Leseridentifikation«47 führt dazu, dass das schlechte Vorbild der Literatur vom verstrickten Leser in die Tat umgesetzt wird. Das Zielpublikum ist jung und/oder weiblich,48 moralisch und intellektuell nicht gefestigt49 und deshalb leicht zu beeinflussen. 39 Bruno, Underveysung. Vgl. zu dieser Quelle Wahrenburg 1976, S. 16f. und Solbach 1994, S. 100–103. 40 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 138. 41 Rist, Zeitverkürzung, S. 378. 42 Rist, Zeitverkürzung, S. 377. 43 Bucholtz, Herkules, S. 1, wo betont wird, dass der Roman handgreifliche[] Contradictionen und Widersprechungen [bietet] / womit der Tichter sich selbst zum oftern in die Backen haeuet; samt den unglaeub-scheinlichen Faellen und mehr als kindischen Zeitverwirrungen / deren das ganze Buch durchgehend vol ist; […] auch der teils naerrischen / teils gotlosen Bezaeuberungen […] / [die] doch so wenig Geschmak als Glaubwürdigkeit haben. Der Wahrheitsbegriff bzw. die Authentifizierungsstrategie Bucholtz scheint dabei allerdings durchaus von gängigen Fiktionalitätskonzepten des Romans geprägt zu sein, ist der Gegenstand des Buches doch in einer historiographischen Überlieferungslücke angesiedelt und durch Herausgeberfiktion authentifiziert. Vgl. dagegen Wahrenburg 1976, S. 96f., außerdem Mach8 1966, S. 559. 44 Fidelinus, Engeländische Banise, Vorrede, 2v. Vgl. hierzu Meid 2009, S. 589. Fidelinus sieht den ›Amadis‹ dabei nicht als Schlusspunkt der Produktion der schlimmen Roma%nen (ebd.) an, sondern zeiht auch den Roman der Folgezeit der Unglaubwürdigkeit, z. B. die Robinsonaden (ebd., 3r). Bereits Bucholtz nutzt denselben Topos, um seine eigene Dichtung als Bemühen um das himlische[] Gemueth des Lesers (Herkules, S. 2) in helleres Licht zu rücken. Vgl. hierzu auch Mach8 1966, S. 545 und S. 551 zur Betonung des religiösen Aspekts im ›Herkules‹-Roman. Vgl. außerdem Mach8 1973, S. 11*. 45 Heidegger, Mythoscopia, S. 127; darin ähnelt der ›Amadis‹ den Geschichten von Tristan und anderen mittelalterlichen Helden. Den ›Tristan‹ verdammt auch Cornelius Agrippa, Heidegger bestätigt ihn. Zu Agrippa und seiner schwarzen Liste von Romanen vgl. Wahrenburg 1976, dort auch das Zitat S. 20. Vgl. auch Ader 2010, S. 31f. und S. 35. 46 Vgl. Voßkamp 1973, S. 67. 47 Solbach 1994, S. 101, vgl. auch ebd., S. 102: »Die Fiktion der Literatur hat direkten Einfluß auf das Verhalten, die literarische dissimulatio wird zur sozialen Verhaltensweise.« 48 Rist, Zeitverkürzung, S. 378 erzählt ausführlich, wie einer der Gesprächsteilnehmer seine ›Amadis‹-Ausgabe gegen 20 Reichstaler und ein paar Seidenstrümpfe an eine Dame veräu-
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Der Romanreihe wird damit nicht einfach nur vorgeworfen, Schund zu sein, mehr noch, man lastet ihr an, attraktiver Schund zu sein, der leicht sein Publikum zu finden und zu verderben vermag. Deshalb wird von den Kritikern in einem zweiten Schritt, gleichsam als Gegenstrategie, ein Didaktisierungsanspruch50 formuliert, der Unterhaltung nicht wie beim ›Amadis‹ als (unterstellten) Selbstzweck, sondern nur als Verzuckerung der bitteren Pille einer Lehre toleriert.51 Ganz im Sinne von Averroes’ Poetik haben wir es also nicht mit einer Nachahmung aus Freude, sondern mit Nachahmung zur Belehrung zu tun,52 delectatio und eine affektive, dem Romangeschehen nahestehende Rezeptionsweise müssen sich diesem Anspruch unterordnen, delectatio steht hierarchisch unter der utilitas:53 Der Roman als Gattung wird zur sittlichen Anstalt und zum »Instrument der moralischen Verbesserung«,54 es geht nicht um prodesse und delectare, sondern um die utilitas allein, die die gesamte Romanproduktion idealiter dominieren soll. Wahrscheinlichkeit der Handlung und ethischer Nutzen stehen im Vordergrund,55 und diesem Anspruch genügt der ›Amadis‹ nicht. Interessant an der Debatte ist dabei, dass die Serie selbst auf die Vorwürfe reagiert und sie zu entkräften versucht.56 Dies geschieht durchaus auch im
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ßert hat – vordergründig wird so die Lesebegeisterung der Frau verspottet, gleichzeitig wird aber deutlich, dass der ›Amadis‹ seinen Platz auch in Gelehrtenbibliotheken hatte und dort nicht allein stand, denn »der Rüstige« würde sich freuen, wenn er alle [s]eine Fabelbuecher so gewinnbringend veräußern könnte. Vgl. Melzer 1972, S. 168 mit dem Hinweis auf Gabriel Dupuyherbaults Streitschrift gegen verderbliche Schriften, die neben den üblichen Verdächtigen (Damen und Jugendlichen) auch Jus-Studenten, Handwerker und Bischöfe als Leser der schoene[n] buechlein über bueberey, ehebrecherey und Junckfraw schenden nennt: Dupuyherbault, Tractat, 26v. Bereits die Vorrede des Übersetzers Fickler weist auf die Fiktionalität der Geschichten hin (3r), die aber nicht verhindere, dass aus der Lektüre unanständiges Verhalten im ganzen Land resultiere. Eine ›Amadis‹-Kritik findet sich hier selbstverständlich auch (4v), für 1577 wird auch der Verkaufserfolg des Romans unter Bezug auf einen fuernemen Buchtrucker als Gewährsmann betont (5r). Vgl. auch Schmidt 1989, S. 383. Vgl. Wels 2009, S. 2 zu Lukrez, ›De rerum natura‹, I.935–950 und der topischen Reichweite dieser Feststellung in der Dichtungstheorie. Vgl. zur praktischen Anwendung z. B. Opitz, ›Argenis‹, S. 180 oder Grimmelshausen, z. B. in der Vorrede zum 2. Teil des ›Wunderbarlichen Vogel-Nests‹, S. 458f. Zur Topik vgl. außerdem Bauer 2007, Sp. 265. Wels 2009, S. 19. Vgl. außerdem Cordie 2000, S. 286f. zur Umwertung der Mimesis im Rahmen einer instrumentellen Vernunft bei Opitz. Wels 2009, S. 85–91, bes. S. 89 legt dies ausführlich anhand der Epostheorie von Maciej Kazimierz Sarbiewski (›De perfecta poesi sive Vergilius et Homerus‹, 1626/27) dar. Wels 2009, S. 4. Zur neuzeitlichen Entkoppelung von Wissensvermittlung und Sinn vgl. z. B. Schlaffer 1990, Kap. 4. Schmitt 2005, S. 195. Vgl. auch Schaffert 2011, Sp. 122. Plazenet 2002, S. 238 hebt hervor, dass im Französischen nur der erste Band der Serie ein Vorwort aufzuweisen hat, dass man dort also keinen Rechtfertigungsbedarf sieht – die paratextuelle Debatte über Wert und Nutzen
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Rückgriff auf topische, etablierte Bilder : Die Vorrede des ersten Bandes z. B. vergleicht den Text mit einem Kräutergarten,57 aus dem der Suchende sich das Passende zusammenstellen muss. So wird die Verantwortung dafür, die richtigen Schlüsse zu ziehen, an den Rezipienten abgegeben.58 Der Widerstreit von Gut und Böse lässt sich demzufolge besser und klaerlicher in einer erdichteten Narration / dan einer warhafften Hystory / darthun,59 der ›Amadis‹ ist somit geradezu verpflichtet, alle Facetten zu zeigen und nicht auszuwählen, er ist eine Rose mit Dornen60 und mit entsprechender Vorsicht zu behandeln. Gleichzeitig wird damit die erfundene Geschichte in ihr Recht gesetzt, im Übrigen mit Argumentationselementen, die sich später auch bei Scud8ry finden.61 Die ausgestellte Fiktionalität der fabula als Wirkkriterium der (vorgeblichen) Lehre dient also dem Nutzen der Dichtung.62 Alle ›Amadis‹-Bände bieten ähnliche Argumente und Legitimierungsstrategien, Buch 19 nennt in der Widmungsadresse den Roman einen Spiegel des Weltlaufs63 und betont im anschließenden Widmungsgedicht den fiktionalen Charakter der Dichtung: Drumb erstlich mercke / daß es nicht / Ist ein warhafftige Geschicht / Sondern es ist Poeterey / Auß freyer kunst gedichtet frey.64 Es folgt eine Einreihung des ›Amadis‹
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des ›Amadis‹ ist damit ein Rezeptionsphänomen der Übersetzung. Ebd., S. 260 stellt Plazenet zudem fest, dass Amyot seine ›Aithiopika‹-Übertragung demselben Verleger anvertraut, der auch für den französischen ›Amadis‹ verantwortlich zeichnet, auch dies darf als Zeichen dafür gewertet werden, dass keine tiefen Gräben zwischen den beiden Romankonzeptionen ausgemacht wurden. Vorreden erlangen im Lauf des 16. Jahrhunderts allgemein mehr Relevanz, vgl. dazu Wolf 1993, S. 136. Amadis 1, fol. iiiir. Harsdörffer, Gesprächspiele, bes. S. 261f.: So ist doch dem Reinen alles rein / dem Boesen aber auch das Gute ein Stein des Anstossens / und der Ergerniß: Jene ziehen aus den Blumen gleich den Bienen die Suessigkeit der Tugend / diese den leidigen Gifft der schnoeden Laster. Vgl. dazu auch Schmitt 2005, S. 198. Amadis 3, Widmungsvorrede S. [4]. Für Scud8ry vgl. Penzkofer 1998, S. 35f., zum Einfluss auf den deutschsprachigen Roman auch Voßkamp 1973, S. 11. Zur ›Amadis‹-Vorrede vgl. auch Schmitt 2005, S. 194–201, zur Rechtfertigung unter Rückgriff auf die antiken Dichtungen ebd., S. 200. Die Vorrede von Amadis 1 betont fol. iiiir, dass die Dichtung fabeln vnd erfundne sachen enthalte. Dasselbe Bild vom Spiegel bietet auch Amadis 24, Widmungsvorrede fol. iiiiv. Ebenda finden sich auch Anmerkungen zur standesübergreifenden Nützlichkeit des Textes. Zu fabula und argumentum vgl. Heßelmann 2012, S. 96, der betont, dass fabula in der Frühen Neuzeit Bedeutungsaspekte des argumentum inkorporiert, weshalb die Dichtungen der Zeit sich mehrheitlich nicht als argumenta, sondern als fabulae definieren. Zur Topik dieses Anspruchs vgl. Heßelmann 2012, S. 98, der Bezug auf dem ›Amadis‹ findet sich ebd., S. 101. Bereits für die Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts hebt Knapp 2014, S. 19 den Fiktionalitätscharakter der fabula hervor, d. h. die poetologische Tradition ist lang und wirkmächtig. Amadis 19, Vorrede, fol. iiiv : In summa hierin erfaehret man der welt lauff gleich als in einem Spiegel / so mit seinem Widerschein vnd klarheit alle sachen / wie sie an ihnen selbst seyen / representirt und fuer die Augen stellet. Vgl. zu dieser Passage auch Schmitt 2005, S. 205f.
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unter die antiken Klassiker, dann heißt es, dass die Dichtung als Poesie beurteilt werden müsse, aber dennoch auch Wahres, wenn auch in Verstellung enthalte, mit Fabuln sehr vermischt.65 Hier lässt sich greifen, was Haug als neue Wertigkeit der Fiktionalität nach 1500 fasst,66 aber eben nicht nur – erhalten bleibt der Spielcharakter, und ermöglicht wird die Vorstellung von der Literatur als »genuine[m] Medium von Erfahrung«67 dadurch, dass der delectatio eine spezifische, vom Rezipienten herzustellende utilitas eingeschrieben wird, was die beiden Eckpunkte des Rahmens miteinander verbindet. So stehen Freiheitsanspruch und Nutzwertanspruch68 auf engstem Raum nebeneinander, ohne dass diese Nähe jedoch zu einer expliziten theoretischen Synthese führen würde. Stattdessen lebt der ›Amadis‹ mit dem inhärenten Widerspruch der beiden konkurrierenden Systeme, er löst die Schwierigkeiten pragmatisch, indem er seine Rezipienten in die Pflicht nimmt. Das ist zugleich auch eine Reaktion auf die gelehrte Kritik,69 die ›Amadis‹-Rezipienten als Opfer der Dichtung zeichnet. Die Paratexte der Sammlung ermächtigen den Rezipienten in einer Art Gegenbewegung zur Kritik70 und machen sein Urteil zur Grundlage eines angemessenen Textverständnisses. Den Romanen ist es aus dieser Perspektive nicht anzulasten, wenn sie missverstanden werden. Spielerischer Umgang mit Fiktionalität, Unterhaltung und Belehrung gehen ein in eine ganz spezifische, poetologisch höchst wirksame Rezipientenfokussierung, denn nur der Leser kann das Gemenge je individuell entwirren.71 65 Amadis 19, Vorrede, fol. iiv. Hier kommt der erweiterte fabula-Begriff zum Tragen, der dichotomisch zu historia steht und wesentliche Elemente des argumentum mit umfasst, vgl. dazu Heßelmann 2012, S. 96. 66 Haug 1995, S. 30. 67 Ebd. 68 Zur gattungslegitimierenden Rolle des Nutzwertanspruchs des Romans in der Barockzeit vgl. Heßelmann 2012, S. 115. Zum allgemein belehrenden Anspruch der mittelalterlichen Dichtung vgl. Lähnemann/Linden 2009, S. 1. 69 Amadis 19, Vorrede, fol. iiiv bescheinigt den Kritikern den Verstand von Eseln und Rindern. Der 24. Band resümiert das gespannte Verhältnis der hier als Neider bezeichneten Kritiker zur Serie und betont: Dann unmueglich zuerzehlen (wie anfangs aller der andern trey vnd zwentzig Buechern ist angezeigt worden) was nutz darinnen begriffen wirdt / vnd damit sie ihres boesen verdachts vberwiesen werden / findet man außtruecklich /nicht schoenere / herrlichere / hoefflichere / vnd hochwichtigere Historien / darin mehr zucht vnd lehr fuergebildet wirdt / als eben diese (Amadis 24, Widmungsvorrede S. [4]). Der ›Amadis‹ wehrt sich mithin paratextuell gegen die omnipräsenten Anfeindungen. 70 Vgl. zur Aufwertung des Lesers im Prosaroman der vorbarocken Zeit ausführlich Hon 2011, dessen Ansicht, dass die Fiktionalisierung des Werkes aus den veränderten Rezeptionsansprüchen resultiere, ich jedoch nicht teile: m. E. arbeiten Romane nicht nur einer Rezeption zu, sondern bisweilen (gerade auch in ihren Paratexten, die Hon zur Verifizierung seiner These heranzieht) gegen eine Rezeption an, die vermieden werden soll – der Freibrief, den die ›Amadis‹-Vorrede des ersten Bandes der Reihe ausstellt, gehört in diesen Zusammenhang. 71 Zum belehrenden Anspruch des ›Amadis‹ in Frankreich vgl. Rothstein 1999, S. 39–45.
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Die omnipräsente Kritik wird so zum Katalysator für eine benennende, ordnende, paratextuelle Romantheorie,72 die auch topische Züge zeigt, wenn etwa Entspannung für den Adel nach hartem Tagwerk und das Vertreiben von Melancholie angepriesen werden.73 Anspruch des Paratextes und Inhalt des Textes gehen dabei vor allem in den späten ›Amadis‹-Bänden weit auseinander,74 gerade weil man vorgeblich utilitas bieten will, die sich als remissio nicht allein im Werkgenuss erschöpft. Die theoretische Fundierung der Texte in den Vorreden wirkt legitimierend und persuasiv, sie öffnet den Bestseller des 16. Jahrhunderts für die Diskussionen der Romantheorie, die sich abzuzeichnen beginnen,75 und macht das »Produkt« damit in besonderer Weise markttauglich:76 Der Paratext wird zur Werbung, ohne dass der Text halten würde (oder auch nur den Anspruch hätte, zu halten), was diese Werbung verspricht. Entscheidend ist, dass die Werbung wirkt und die Serie zum Bestseller des Jahrhunderts avanciert. Noch wichtiger ist es im romanpoetologischen Zusammenhang, dass die ›Amadis‹-Reihe die virulente Debatte der Romankritik aufgreift, weiterentwickelt und damit in Teilen bereits vorwegnimmt, was die französische Romantheorie des 17. Jahrhunderts sodann paradigmatisch als Verwendungsrahmen der delectatio im Sinne der utilitas festschreibt. In dieser französischen ›doctrine classique‹ werden sowohl ›biens8ance‹ als auch ›vraisemblance‹77 als Eckpfeiler des Romanverständnisses definiert:78 72 Vgl. Wahrenburg 1976, S. 85. 73 So etwa in der Widmungsvorrede von Amadis 2, Vorrede, fol. iiiir. Rist, Zeitverkürzung, S. 377 beschreibt die Rezeption des ›Amadis‹ als Mittel gegen die Melancholie gerade aufgrund der miserablen Konstruktion der Dichtung, die unwillkürlich zum Lachen reize; Happels Übersetzung von Huets ›Trait8‹ preist ohne Ironie die ›Arcadia‹ als Mittel gegen Melancholie und gibt dem höfischen Roman damit allgemein dieses Signum bei – hiergegen wiederum polemisiert Heidegger, Mythoscopia, S. 70, der Melancholie gerade durch die Romanlektüre verursacht sieht. 74 Weddige 1975, S. 292. Vgl. auch Schaffert 2011, Sp. 122. Auch Schmitt 2005, S. 201–204 kommt in ihrer Analyse spezifisch zur Umsetzung der Beglaubigungsstrategien der Vorrede des ersten ›Amadis‹-Bandes im Text zu einem ähnlichen Ergebnis. Vgl. allgemein zum »Etikettenschwindel« von Bezeichnungen wie historia Heßelmann 2012, S. 102. 75 Vgl. allg. Penzkofer 1994, S. 61 zum Einfluss des ›Amadis‹ auf den heroischen Roman des 17. Jahrhunderts. Rötzer 1972, S. 32 und bes. S. 34 wiederum sieht den Einfluss des hellenistischen Romans und vor allem der ›Aithiopika‹ auf die Formung des ›Amadis‹, der zwar die additive Abenteuerreihung beibehalte, ansonsten aber zahlreiche Merkmale des Heliodorschemas übernehme. Vgl. auch Geulen 1975, S. 31 und S. 14 zur Entwicklung der »Genrestruktur« im »Kräftefeld konkurrierender Strukturen«. Seine Argumentation fußt auf Müller 1929. 76 Schaffert 2011, Sp. 121 nennt als weiteren ökonomischen Faktor das bewusst offen gehaltene Ende der einzelnen Bände, das dazu dient, »den Leser zum Erwerb der Fortsetzung anzuregen«. 77 Zur ›vraisemblance‹ in der Theorie vor Scud8ry vgl. Wentzlaff-Eggebert 1973, S. 44–49, zu Scud8ry Penzkofer 1998 sowie die Bemerkungen bei Lindhorst 1955, S. 44–72, zur ›vraisemblance‹ v. a. S. 51f.
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Diese Setzung hat weitreichenden Einfluss auch auf die deutschsprachige Romanpoetik79 und wird z. B. durch den großen Erfolg von Huets Poetik dokumentiert.80 Das Urteil über die »alten«, vorbarocken Romane klingt dabei bisweilen harsch und apodiktisch, brennspiegelartig fasst die ›Amadis‹-Kritik das Unbehagen zusammen, das den Dichtungen entgegengebracht wird, die »nicht unbedingt vortäuschen, der empirisch-faktischen Wirklichkeit zu entsprechen«.81 Dennoch werden gerade auch in der Romantheorie des 17. Jahrhunderts alte Legitimierungsstrategien für die Verwendung erfundener Gegenstände aufgegriffen, die sich bereits im höfischen Roman finden lassen.82 So schaffen sich Autoren wie Scud8ry selbst auch Freiräume dazu, anhand von (unterhaltsamen) fiktionalen Elementen den reinen Belehrungsanspruch aufzuweichen: Zum Beispiel sieht die Theorie das dichterische Lügen dann gerechtfertigt, wenn es als durchschaubarer83 Betrug dem guten Zweck dient, wenn es also dazu beiträgt, die Wahrheiten, die der Roman zu vermitteln vermag, eingängig und angenehm zu präsentieren. Die fiktionale Lüge hat somit ihr Existenzrecht als »art du mensonge«84 und wird zu einem Gestaltungsprinzip,85 das zwar in der barocken Theorie eine strikte ›vraisemblance‹-Beachtung erfordert, in der Praxis des Erzählens aber durchaus Freiräume bietet. Die delectatio ist de facto Schlüssel zur utilitas, und das schafft Lizenzen »phantasmorgisch[en]« Erzählens;86 diese Lizenzen greifen genau das auf, was am vorbarocken Roman im Allgemeinen und am ›Amadis‹ im Besonderen abgelehnt wird, das Irrationale, 78 Zum aristotelischen Charakter dieser Forderung vgl. Hillebrand 1972, S. 29 sowie Meid 1974, S. 35. 79 Meid 2009, S. 529. Newald 1967, S. 354 hebt die Rückständigkeit der deutschen Romantheorie und -praxis im europäischen Zusammenhang hervor. 80 Zur Abhängigkeit Huets von den poetischen Überlegungen Scud8ries vgl. Lindhorst 1955, S. 66f., Winklehner 1989, S. 176 betont globaler Huets Verdienst, vorgängige Diskurse zusammengefasst zu haben. 81 Klein 2015, S. 202. 82 Vgl. auch die Anmerkungen zu den Beglaubigungsstrategien des Prosaromans, die Schmitt 2005, S. 194 aufführt: Die Dichtung als »Spiegel der Welt«, als »Verhüllung eines wahren Kerns« und als »argumentum« sowie der Anschluss an die Exempeltradition führen in ihren Beispieltexten (›Amadis‹, Ziely, Wickram) genau die Tendenzen weiter, die bereits für die Fiktionalitätsdebatte des 12. und 13. Jahrhunderts in Stellung gebracht worden sind; vgl. dazu ebd., S. 158–162, bes. S. 161f. Letztendlich geht die Diskussion auf die frühesten Auseinandersetzungen über den Status von Dichtung zurück. Vgl. Blumenberg 1969, S. 9: »Die Tradition unserer Dichtungstheorie seit der Antike läßt sich unter dem Gesamttitel einer Auseinandersetzung mit dem antiken Satz, daß die Dichter lügen, verstehen«, wobei allerdings im 17. Jahrhundert Modifikationen vorgenommen werden, etwa indem der Wirklichkeitsbegriff neu besetzt wird, vgl. dazu grundlegend Blumenberg 1969, S. 21. 83 Penzkofer 1998, S. 25 mit Bezug auf Scud8ry. 84 Vgl. Penzkofer 1998, S. 25. 85 Vgl. Wahrenburg 1976, S. 71 zur Bevorzugung der Fiktion in Harsdörffers ›FrauenzimmerGesprächspielen‹ und dem Pioniercharakter seiner Einschätzung für seine Zeit. 86 Hillebrand 1983, S. 35.
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den Hang zu Zaubereien und Wundergeschichten, so dass sich hier durchaus Kontinuitätslinien finden, verbrämt durch einen Belehrungsanspruch der Theorie. Wir haben es also mit neuer Legitimation (und durchaus auch mit einer Neuetikettierung) von altbekannten Wirkstrategien des Romans im 17. Jahrhundert zu tun, auch wenn der neue Roman die alten Romane ablehnt,87 denn ohne begrenzte Lizenzen für das Irrationale und Wunderbare kommt auch der barocke Roman nicht aus. Als Ventil werden hier folgerichtig bewährte Techniken im neuen Gewand genutzt.88 Wichtig ist, dass dabei Fiktionalität und Lügenhaftigkeit zusammen gesehen werden, während verisimilitudo, also die Wahrscheinlichkeit, einen eigenen, legitimen Status als Modus des romanhaften Erzählens erhält. Dichterische Erfindung steht damit auch in der Debatte des 17. Jahrhunderts »nicht im Widerspruch zur Verbürgung«,89 vielmehr wird ihre Wahrscheinlichkeit als skalierbares Phänomen begriffen,90 denn es gibt wahrscheinliche und unwahrscheinliche Dichtungsbestandteile, und die unwahrscheinlichen sind nur durch den Dienst am Nutzwert der Dichtung zu rechtfertigen – ohne dass dabei dieser Nutzwert genau determiniert würde. So bleibt das Absonderliche, d. h. der Bezug auf die unterschiedlichsten Wissensordnungen, ebenso virulent wie die bereits dem höfischen Roman des Mittelalters eigene Tendenz dazu, das »Ausdenken unvorhersehbarer, bedeutungsvoller Konstellationen und die kunstvolle Entfaltung des Erzählmaterials in komplexer Tektonik«91 in Konkurrenz zur Wahrscheinlichkeit des Dargestellten treten zu lassen. Die Romantheorie dreht sich, genauso wie die Romankritik, um das adäquate Verhältnis von delectatio und utilitas, so dass unter diesen Vorzeichen die Trennungslinie zwischen vorbarockem und barockem Roman deshalb bei weitem nicht so strikt zu ziehen ist, wie dies bis in die gegenwärtige Forschungsdiskussion hinein immer wieder geschieht.92
87 Im Sinne von Gumbrecht 1980, S. 100 könnte man von einer »symmetrischen Negation« der vorbarocken Romankonzeption durch die barocke Theorie sprechen, die nur deshalb nicht in die ebd., S. 101 für diese Negationsform in Anspruch genommene »Orientierungslosigkeit« mündet, da parallel zu der theoretischen Konzeption praktische Kontinuitäten in Disposition und Gestaltung zu erkennen sind. 88 Hinterhäuser 1966, S. 16*, vgl. Meier 1999, S. 300 zu wunderbaren Elementen im heroischen Roman. 89 Glauch 2014, S. 90 mit Blick auf mittelhochdeutsche Dichtung. 90 Zur Skalierbarkeit von Fiktionalität in mittelalterlicher Literatur vgl. Müller 2004, S. 295. 91 Schmid 2000, S. 69. 92 So etwa bei Stockhorst 2008.
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prodesse und delectare: Nutzwertästhetik Mit der paratextuellen Betonung seiner Qualität, aber auch mit dem Gefälle zwischen Paratext-Schein und Text-Sein steht der ›Amadis‹ nicht allein da.93 Vorreden sind, gerade in der Zeit vor der kodifizierten Poetik, nicht nur als (paratextuelles)94 »Medium der Genese, Konkretisierung, Fortbildung und Verwerfung von Normen«95 zu lesen, sondern haben eine eigene »Suggestivwirkung auf das Publikum«,96 die rhetorisch funktioniert97 und persuasiv wirkt.98 Dabei formulieren sie allerdings kein bedingungslos gültiges dichtungstheoretisches Programm als Schlüssel zu den Romanen.99 Vielmehr dokumentieren sie eine offenkundig virulente Debatte über Wert und Nutzen von Dichtung und zeigen ein spezifisches Verständnis vom Verhältnis zwischen delectatio und utilitas.100 Dieses Verhältnis ist Ausdruck einer eigenen Nutzwertästhetik: Denn es geht dabei gerade nicht im Sinne von Kant um ein interesseloses Wohlgefallen,101 sondern um einen rhetorisch fundierten Rezeptionsbezug, der docere, delectare und movere als Wirkziele formuliert.102 Das bedeutet, dass wir es beim vormodernen Roman (im Barock wie vor dem Barock)103 mit Dichtungen zu tun haben, die ihren Sinn nicht aus sich selbst schöpfen, sondern offenkundig den Anschluss an dem eigentlichen Text externe Diskurse (der Erholung, der Belehrung, der Reinigung etc.) suchen müssen, um sich zu behaupten. Nur selten finden sich dabei Dichtungen, die die Synthese der Ansprüche von delectatio und utilitas erreichen, die Haug in seinem Konzept der 93 Schwitzgebel 1996, S. 139 weist für die Schwankromane des späten Mittelalters darauf hin, dass hier die Vorreden insbesondere dann Harmlosigkeit des eigentlichen Buches versprechen, wenn die Sammlung selbst besonders obszön und derb angelegt ist. 94 Zur Problematik des Paratextbegriffs im Zusammenhang mit der Vorrede vgl. Wolf 2008, bes. S. 80–82. 95 Stockhorst 2008, S. 5 klammert diesen Bereich aus ihrer Betrachtung der barocken Poetiken als »Reformpoetik« aus. 96 Weinmayer 1982, S. 10, dort ebenfalls in Anführungszeichen. 97 Weinmayer 1982, S. 16. 98 Insofern ist die Einschätzung von Babenko 1997, S. 291, dass Vorreden als Begleittexte anhand der Texte zu klassifizieren seien, denen sie voranstehen, zu spezifizieren: Die Vorreden sind nicht nur anhand der Gattung des Haupttextes, sondern auch ihrer Einstellung dem Text gegenüber zu bewerten. Vgl. zu den Vorreden auch Wolf 1993, an dessen Beitrag Babenko anschließt. 99 Thomasius, Januarius, S. 28 weist auf das Ärgernis hin, wenn die großen Ankündigungen von Autoren im Vorwort keine Widerspiegelung im eigentlichen Text finden und die Anschaffung eines Buches sich als Fehlinvestition erweist. Zur allgemeinen Lenkung der Erwartungshaltung durch die Paratexte vgl. Rothstein 1999, S. 31. 100 Vgl. Kiening 2007, S. 175. 101 Vgl. dazu ausführlich Klinkert 2002, S. 50–57. 102 Vgl. zu letzterem Aspekt Wiegmann 1992, Sp. 1136. 103 Vgl. dazu schon Vi[tor 1922, S. 87 und S. 91–98.
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performativ entfalteten Romanpoetik als Ideal skizziert.104 Dass gerade der aktive Genuss eines Romans das Seelenheil sichert (wie dies Gottfrieds ›Tristan‹ im Prolog insinuiert),105 ist eine Ausnahme. Die Regel ist vielmehr, dass Romane sich durch einen Nutzwert zu legitimieren haben, hinter den die delectatio zurücktritt, dass also Nutzen und Vergnügen getrennt erscheinen und die »Kulturarbeit« der Texte darin besteht, einen Wirklichkeitsbezug aufzubauen. Damit »wird der Text in dieser Zeit zu einem instrumentalen Kommunikationsmedium« und zur »auf Wirkung hin106 kalkulierte[n] Literatur«.107 Neben die produktionsorientierte »rhetorisierte Poetik«108 der Zeit tritt so eine rezeptionsorientierte »rhetorische Ästhetik«, die das Kunstwerk rezeptionsästhetisch, d. h. auf Teilnahme des Rezipienten am Prozess ästhetischer Erkenntnisstiftung in der Auseinandersetzung des Publikums mit dem Text ausrichtet. Diese rhetorisch fundierte Wirk- oder Nutz-Ästhetik ist dabei nur für moderne Vorstellungen (»modern« im Sinne eines Zeitalters, in dem sich die Ästhetik von der Rhetorik und ihren Wirkansprüchen gelöst hat) widersprüchlich und ungewöhnlich.109 Vormodern gilt grundsätzlich, dass die »Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung als Erkenntnis«110 in der Verbindung von »sinnlichem Reiz und intellektueller Einsicht«111 bzw. als »sinnlich-affektive ›ästhetische‹ Erfahrung«112 auf die rhetorische Vermittlung angewiesen ist, um zu überzeugen und Erkenntnis zu ermöglichen. Die Begegnung mit dem literarischen Werk hat ihren Sinn vor Kant und Baumgarten deshalb nicht einfach in sich selbst,113 literarische Texte sind nicht allein »Partituren der ästhetischen Wahrneh104 Haugs These ruht maßgeblich auf der Idee einer hochhöfischen »Erfindung« von Fiktionalität (Haug 2009, S. 105 mit Bezug auf die MatiHre de Bretagne), vgl. dazu Brinker-von der Heyde 2009, S. XV, die auf die Modifikation dieser These durch die nachfolgende Forschung hinweist – mir ist es in diesem Rahmen nicht darum zu tun, den ästhetischen Wert der Dichtungen zu eruieren und die Debatte um Haugs Konzept nachzuverfolgen. Stattdessen interessiert im vorliegenden Zusammenhang sein rezeptionsästhetischer Ansatz, der den Roman als »Medium der Sinnerschließung und -erfahrung« ausmacht (Haug 2009, S. 92 zum ›Erec‹) und so die »Sinnvermittlung im literarischen Medium selbst« verortet (Haug 2009, S. 171 zum ›Parzival‹). 105 Vgl. die pointierte Interpretation von Haug 2009, S. 209 mit Bezug auf Gottfried, ›Tristan‹,V. 37–40. Vgl. weiters Huber 2014, S. 283 zur Einübung von Empathie im Rezipienten durch die Erzählerrede (von Huber auf den ersten Minneexkurs bezogen, aber auch auf den Prolog zu übertragen). 106 Simon 1990, S. 191. 107 Roloff 1997, S. 221. 108 Braun 2007, S. 9 mit Verweis auf Klopsch 1980, S. 109f. Barner 2000, S. 33 spricht von Poetik und Rhetorik als »ideale[n] Doppelgänger[n]«. 109 Braun 2007, S. 22. 110 Wiegmann 1992, Sp. 1134. 111 Braun 2007, S. 19. 112 Largier 2007, S. 43. 113 Vgl. Seel 2003, S. 42: »Die Begegnung mit dem Besonderen […] hat ihren Sinn in sich selbst. Das ist die bescheidene Botschaft der Ästhetik seit den Tagen von Baumgarten und Kant.«
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mung«,114 sondern tragen einen Überschuss an Bedeutungspotential in sich, der diese Wahrnehmung zusätzlich verortet. Das »Zusammenspiel von Anschauung, Affekt und Imagination«115 auf der Rezipientenseite verknüpft rhetorisch-wirkungsästhetische Aspekte mit der Inhaltsseite der Romane und steht für die Interaktion von Text und Rezipient ein, die diese Romane auszeichnet. Das gilt vor allem auch deshalb, weil eine »Unterscheidung zwischen Ästhetik und Hermeneutik«116 in vormoderner Zeit nicht einfach vorausgesetzt werden kann, wir uns also in einer Zeit bewegen, die noch dabei ist, Grenzen der Wahrnehmung, ihrer Funktionalisierung und Instrumentalisierbarkeit auszutesten. Das alles macht die besondere Rolle aus, die die Rezipientenlenkung in den Romanen und in ihren Paratexten spielt. Und das ist auch der Grund dafür, dass Gefahr und Nutzen der Dichtungen für ihre Rezipienten Fixpunkte der Gattungsdiskussion in der Romankritik und den Paratexten der Romane sind. Der Aufmerksamkeit des Rezipienten gilt die höchste Priorität – die Texte sind im Wortsinne »engagierte[] Dichtung«,117 ihre Kritiker sind nicht minder engagierte Gegner. Die Romane machen mit dem Rezipientenbezug in ganz besonderer Weise ernst, gerade weil sie in ihrer Sinnstiftung nicht autark und selbstgenügsam sind: Sie schweben in einem Netz der »poetics of interlace«,118 das die Verknüpfung von sinnstiftenden Elementen durch den Rezipienten mit besonderem Genuss belohnt und so die ästhetische Wirkmacht der Dichtungen potenziert.119 Die intertextuellen Verbindungen zu anderen Romanen, aber auch zu den poetologischen Diskursen und Bereichen wie z. B. der Enzyklopädie, deren Wissensbestände Eingang in die Romane finden und deren Erscheinungsbild maßgeblich prägen können,120 machen sie zu einer ästhetischen Herausforderung eigener Art. Der Rezipient hat in der aktiven Auseinandersetzung mit dem Roman nicht nur Erinnerungsarbeit (»work of memory«)121 zur 114 115 116 117
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Seel 2003, S. 209, kursiv im Original. Seel spricht ebd., S. 208 auch vom »Körper der Texte«. Largier 2007, S. 44. Kiening 2007, S. 176. Roloff 1988, S. 220 mit spezifischem Bezug auf die Inkunabelzeit: »Wir haben es bei den Publikationen der frühen Druckzeit in besonderem Maße mit einer »engagierten Literatur« zu tun, die auf den Leser, auf das Publikum, auf die Außenwelt und nicht auf die Binnenräume der Fachwelt bezogen war. Es ist eine Literatur, die den Leser sucht und braucht, um im eigentlichen Sinne existent und effizient zu werden […].« Rothstein 1999, S. 63. Das Bedürfnis, in einem Text Sinn zu sehen, betonen Christmann/Schreier 2003, S. 256 mit Bezug auf Arthur C. Graesser et al.: Inference Generation during the comprehension of narrative texts, in: Sources of coherent reading, hg. v. Robert F. Lorch u. Eduard J. O’Brien, Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates, 1995, S. 295–320. Vgl. dazu Bulang 2011, der für die Texte seines Korpus eine enzyklopädische Aufschwellung diagnostiziert, die auch Rezeptionserschwernis bedeutet (worauf Bulang allerdings nicht weiter eingeht). Rothstein 1999, S. 70–75 mit Bezug auf den französischen ›Amadis‹.
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Verortung des Einzeltextes und der internen Sinnstiftung im Textverlauf zu leisten, sondern ist zugleich auch in eine übergeordnete Lesearbeit (»work of reading«) eingebunden, die den Rezeptionsprozess bestimmt.122 Die entscheidende Differenz zwischen Theorie und Praxis der Romanlektüre liegt in der Hierarchisierung von delectatio und utilitas. Für die Theoretiker erscheint Romanlesen als ein notwendiges Übel, um ein geistig minderbemitteltes Publikum in den Genuss von Lebenslehren kommen zu lassen. Das ist der Grundtenor der Debatten um das Verhältnis delectatio und utilitas, die die Auseinandersetzung mit dem Roman bis ins 18. Jahrhundert prägen. Die Gefahr der delectatio besteht dabei für die Kritiker darin, dass affektiv und anteilnehmend mit dem Text umgegangen wird, dass den Rezipienten (gemeint sind vornehmlich Leserinnen) also die Distanz zum Dargestellten fehlt. Noch Huet differenziert deshalb zwischen affektiver, anteilnehmender Lektüre und dem Kunstgenuss aus der Distanz.123 Für Huet muss ein guter Rezipient seinen Eckel124 vor den Fabeln,125 also der offensichtlichen, unwahrscheinlichen Erfindung, erst überwinden, um den Nutzwert der Dichtung erkennen zu können – das Fiktive ist dabei explizit nicht Teil eines ästhetisch fundierten Wertes, sondern unumgänglicher Katalysator der Lehrvermittlung. Deshalb spricht die Theorie der Rezipientenlenkung durch Unterhaltung und durch Sympathiesteuerung,126 also durch affektive Annäherung, auch eine besondere Wirkmacht zu. Es finden sich rezeptionspsychologische127 Überlegungen etwa in Christian Weises ›Politischem Näscher‹ (1678), der das Mitfiebern mit der Handlung in den Dienst der utilitas stellt, da auf der Basis von Sympathie und Antipathie128 der Rezipient »gute« Figuren belohnt und »schlechte« bestraft sehen will:129 Solche »poetische Gerechtigkeit«130 bringt den Rezipienten Befriedigung.131 Im122 Rothstein 1999, S. 75–78, wiederum mit Bezug auf den französischen ›Amadis‹. Rothstein arbeitet nur mit dem für die Lektüre vorgesehenen Text, mein Korpus umfasst auch die intendierte hörende Rezeption, das »work of reading« wäre demnach zum »work of perception« zu erweitern. 123 Hillebrand 1972, S. 79. Solbach 1994, S. 112: »Huets Überlegungen laufen auf eine Theorie des Romans als sensualistisches Identifikationsmuster hinaus […].« 124 Happel, Uhrsprung, S. 622. 125 Happel, Uhrsprung, S. 619. Der entsprechend enthusiasmierte Rezipient wird dann auch den Kindern und Einfaeltigen (ebd., S. 621) gleich gesetzt. 126 Vgl. allgemein Dimpel 2011 auf der Basis von Hübner 2003 und Dimpel/Velten 2016. 127 Wahrenburg 1976, S. 214. Vgl. auch Voßkamp 1973, S. 22: »Das Spektrum der Romanbelustigung wäre nur vollständig beschreibbar als Komplement zu einer genauen Analyse der affektpsychologischen Gegebenheiten.« Hillebrand 1972, S. 73 spricht von Weises »rezeptionspsychologische[m] Gespür«. 128 Weise, Näscher, S. 86: da man sich in solche Faelle verliebt / die nach unsrer Freundschafft und Barmhertzigkeit wohl abgelauffen sind. 129 Vgl. zu Weises Roman auch Krämer 2016, der die Differenzen zwischen poetologischem Anspruch und Romanpraxis bei Weise betont (dort auch Hinweise auf weitere Literatur). 130 Wahrenburg 1976, S. 214.
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mersion132 ist in dieser Vorstellung die ideale Form der Rezipientenbindung und kann für höhere, belehrende Zwecke ausgenutzt werden. Dies fordert explizit z. B. Birkens Dichtkunst (1679),133 und bereits Scaliger hebt heraus, dass der Zweck der Dichtung darin besteht, cum delectatione zu arbeiten, um das docere zu erreichen.134 Nur extreme Stimmen wie die des Romanhassers Gotthard Heidegger in seiner ›Mythoscopia Romantica‹ (1699) trennen scharf zwischen utilitas und der affektiven Ebene der Rezeption. Heidegger sieht die Liebesgeschichten, die wie ein Schwitzbad der Passionen135 den Curieusen Appetit136 von einfältigen Rezipienten befriedigen, als Anleitung zu lasterhaftem Leben. Das Lesen von Liebesgeschichten stellt er dem körperlichen Liebesgenuss gleich,137 die affektive Rezipientenbindung sieht Heidegger als Korrumpieren von Opfern,138 die dem unrettbar sündhaften und verdorbenen Roman ausgeliefert sind.139 Noch bei Blanckenburg, dessen ›Versuch über den Roman‹ (1774) neue Horizonte hin zu einer »in ihrer Geschlossenheit und Konsequenz bis dato unerreichten Theorie der Gattung«140 eröffnet, werden abwägende Überlegungen zum Verhältnis von Unterhaltung und Belehrung angestellt. Der ›Versuch‹ steht am Ende einer langen Reihe solcher Versuche (auch wenn Blanckenburg selbst seine Vorgänger ostentativ ignoriert). Er fasst, am Vorabend von Goethes ›Werther‹,141 der ein neues Zeitalter des Romans einläuten wird, die »alten« Denklinien noch einmal zusammen, um sie einer Synthese zuzuführen. 131 Weise, Näscher, S. 32. Vgl. auch Weise, Näscher, S. 35 und S. 36: Und eben aus dieser Ursache werden die Liebs=Historien so begierig gelesen / absonderlich von jungen unverheyratheten Personen / welche sich in dem kuenfftigen Ehestande desto mehr Gluecke versprechen / je mehr Lustigkeit durch ein frembdes Exempel ist moeglich gemacht worden. 132 Vgl. zu diesem Sich-Versenken bereits Lugowski 1994, S. 3, für die Mediävistik neu entdeckt ist das Konzept im Sammelband Bleumer (Hg.) 2012. 133 Birken, Dichtkunst, Das XI Redstuck. Von den Feld= Helden und Straff-Gedichten- De Eclogis, Epicis & Satyris, hier S. 307/§ 211. Vgl. Voßkamp 1973, S. 21. 134 Scaliger, Dichtkunst, I.I 1b, vgl. dazu Eusterschulte 2001, Sp. 1265. 135 Heidegger, Mythoscopia, S. 70. 136 Ebd., S. 63. 137 Ebd., Mythoscopia, S. 56. 138 Vgl. auch Nicopompus in Opitz’ ›Argenis‹, der seine schriftstellerischen Pläne mit der Absicht der affektiven Einflussnahme verbindet und betont: Ich kenne vnsere Gemueter (S. 181). Vgl. zu dieser Passage und Nicopompus’ Plan, der im Übrigen nicht weiter verfolgt wird und so besondere Signifikanz als theoretische, abgesonderte Aussage erhält, Geulen 1975, S. 52. Vgl. weiters Hon 2011, S. 397f. 139 Vgl. Solbach 1994, S. 116 zur Identifikation und der Einbildungskraft des Rezipienten. Ebd., S. 115–117 bringt Solbach die Affektenlehre Heideggers mit dessen »religionspädagogische[m] Ansatz« (S. 117) zusammen. Wahrenburg 1976, S. 16 spricht von der Absorption des Lesers durch den Stoff, die komplementär die »Absorption des Stoffes durch den Leser« begleite. 140 Bauer 2005, S. 29. 141 Zu Blanckenburg und dem ›Werther‹ vgl. Hillebrand 1983, S. 36.
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Blanckenburg formuliert seine präskriptiv gemeinte Nutzwertästhetik142 am Beispiel des ›Agathon‹ und schätzt alles zuvor Erschienene als »voraufklärerisch[]«143 gering. Immer noch gilt, dass der Roman einen Nutzen jenseits der Unterhaltung haben muss, Blanckenburg geht es um die »Erziehungsanstalt«144 Roman im Dienste der »Intellektualisierung des Lesers«.145 Die Affektion bleibt nach seiner Lesart auf der Ebene der Äußerlichkeiten des Romangeschehens stehen, sie muss eine kognitive Auseinandersetzung induzieren, die erst diesen Nutzen zu bringen vermag. Der Rezipient muss sich aktiv mit dem Roman auseinandersetzen, um zu hoechstguten […] Thaten voranzuschreiten146 und – aufklärerisch147 – das menschliche Geschlecht seiner Vervollkommnung naeher [zu] bringen.148 Blanckenburg kombiniert also Romanethik und Romanästhetik: Er lässt das prodesse aus dem delectare hervorgehen, indem er die Innerlichkeit als Katalysator für das Romanverstehen betont.149 Der Weg zum Verstand und zur Belehrung führt über die Seele und das Gefühl des Rezipienten.150 Dabei wird die Entwicklung des »werdenden Menschen«151 performativ vom Rezipienten nachvollzogen, Leser und Held wachsen gleichermaßen durch die Dichtung hindurch,152 und das macht den Roman zum sehr lehrreiche[n] Zeitvertreib[].153 Der intellektuelle Überbau schützt vor übermäßiger Anteilnahme,154 Unterhaltung und Belehrung sind versöhnt und ein guter Roman bedient beide Seiten gleichermaßen, ohne dass Lehrhaftigkeit von außen an ihn herangetragen werden müsste:155 Die aktive Rolle des Rezipienten für die Sinnhaftigkeit der 142 143 144 145 146 147 148 149 150
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Lämmert 1965, S. 545. Schlimmer 2005, S. 213. Schlimmer 2005, S. 220. Ebd., S. 219. Ebd., S. 41. Wölfel 1968, S. 54, vgl. auch Schlimmer 2005, S. 216. Vgl. Schlimmer 2005, S. 216 zur Konzeption von Privatheit bei Blanckenburg, die mit diesem Lektürekonzept einhergeht. Ebd., S. XV. Vgl. auch Heinz 1996, S. 131 zur Idee der Geschmacksbildung des Lesers in der Aufklärung. Vgl. zur damit verbundenen Frage nach der Unmittelbarkeit und dem Fokus auf die direkte Rede neben Heinz 1996, S. 145–150 auch Tarot 1990, S. 260. Wels 2009, S. 173 nennt den ›Versuch‹ die »Gründungsurkunde des psychologischen Romans«. Blanckenburg, Versuch, S. 373: Es ist wirklich seltsam, daß Dichter sich vorzueglich gefuehlvolle, weichgeschaffne Seelen zu Lesern wuenschen, und hernach eben diese sanften Seelen so gleich wieder in die fuehllosen Stoiker verwandeln wollen. Ebd., S. 438 spricht Blanckenburg von der Macht, die der Autor über die Emotionen des Rezipienten hat. Heinz 1996, S. 138. Blanckenburg, Versuch, S. 58. Blanckenburg, Versuch, S. VII. Vgl. dazu Lämmert 1965, S. 550: »Wer anschaulich unterwiesen wird, so argumentiert er, der lernt mit Vergnügen; und die Lektüre guter Romane ist die unterhaltendste Form, Verstand und Empfindungskraft zu bilden.« Blanckenburg, Versuch, S. 26f. Vgl. auch Hahl 1971, S. 12: »Blanckenburg fragt von neuem nach dem Verhältnis von Unterhaltung und Belehrung, von Vergnügen und Unterricht. Er macht einen beachtlichen
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Dichtung wird ebenso anerkannt wie die rezeptionsbezogene Anlage des Romans, die notwendig ist, um den Rezipienten in die rechte Richtung zu lenken. Deutlich wird bei der Durchsicht von Romankritik ebenso wie von Romanpoetik zweierlei. Erstens ist es augenscheinlich, dass der Rezipient ganz wesentlich in die Poetik in actu einbezogen ist, die den Roman ausmacht. Romane sind rezipientenbezogen verfasst, und sie zielen immer auf eine Wirkung ab, die im Spektrum von Unterhaltung und Belehrung angesiedelt ist. Augenscheinlich ist auch der Bewertungsunterschied, der bei der Einschätzung von delectatio und utilitas zutage tritt: Es wird (in der Kritik noch wesentlich stärker als in der Poetik) unterstellt, dass Rezipienten vor allem an delectatio interessiert sind und dass diese vornehmlich emotional und affektiv funktioniert,156 der Nutzen hingegen wird einer rational-kognitiven Ebene beigeordnet. Das bedeutet eine schematisierende Vereinfachung, bei der die »Lust am Lesen« abgewertet wird und der Nutzwert des Romans in den Vordergrund rückt. Die Idee einer kognitiven Freude an der Rezeption findet sich nicht, auch wird der aristotelische Gedanke der remissio nicht in Betracht gezogen:157 Dass die Unterhaltung Nutzen bringen kann, da sie den Geist für zukünftige ernste Aufgaben schärft, indem sie ihn entspannt, wird nicht diskutiert.158 Zweitens und darauf aufbauend ist deutlich, dass der Rezipient erzogen, geformt und beeinflusst werden soll. Die Unkontrollierbarkeit der Rezeption bereitet vor allem der Kritik große Sorge, die Poetik in actu mit intensivem Rezipientenbezug macht den Roman zum poetischen Sicherheitsrisiko. Die rhetorische Basis der Wirkziele delectatio und utilitas verbindet sie untrennbar mit dem wirkungspoetischen Anspruch, Rezipienten zu lenken und zu beeinflussen. Das gibt der Poetik eine »wirkungspsychologische[]« Komponente159 von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die Versuche, die Interaktion der Romane mit dem Publikum streng zu normieren, lassen sich durch alle theoretischen Äußerungen nachverfolgen, eine »Poetik der delectatio«, wie sie Wirtz für das
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Versuch, diese traditionelle Formel mit einem neuen Sinn zu füllen«, indem gerade die Kausalität der Figurenzeichnung und -entwicklung als der Rezeption besonders zuträglich gesehen wird. Vgl. grundlegend Keen 2010. Eine Sonderstellung haben die von Bulang 2011 behandelten enzyklopädischen Romane, denen Bulang ebd., S. 497 jedoch keine gattungstheoretische Relevanz zubilligt. Für den Barockroman allerdings hebt Meierhofer 2012, S. 34 hervor, dass seine enzyklopädische Struktur ihm eine Dignität verleiht, die in die Richtung der gebundenen Rede deutet, dass also Wissensvermittlung als Legitimation der Gattung dient – ob und wenn ja welche Entwicklungslinien hier vorliegen, bleibt noch zu erhellen; vgl. weiters den spezifisch »deutschen« Konnex zwischen Wissensvermittlung (u. a. via Enzyklopädistik) und Romanpoetik, auf den Zeller 2012, S. 157f. hinweist. Vgl. dazu Suchomski 1975, S. 170. Suchomski 1975, Zitat S. 167, zur utilitas ebd., S. 168.
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17. Jahrhundert postuliert,160 ist dabei noch in weiter Ferne. Stattdessen wird immer wieder neu ausbalanciert, wie sich das (vermeintlich) »lapidare«161 horazischen aut prodesse aut delectare162 in die Romanrealität übertragen lässt.163 Dabei wird utilitas vor allem als Vermittlung von Wissen und Moral gefasst, delectatio wird (rhetorisch) stark auf die persuasio, also das Erregen von Wohlwollen, reduziert und um den ludischen Aspekt bereinigt.164 Die ›Amadis‹Vorreden machen hingegen das prodesse als Lernenlassen stark, um die Rezipientenverantwortung für das Gelesene zu betonen. Zentral ist also für Theorie und Praxis die »Leserfunktion«,165 wie sie in Paratexten, Poetiken und Kritiken formuliert wird. Der ›Amadis‹ macht auch deutlich, wie weit Anspruch und Wirklichkeit von Romanen auseinanderklaffen können. Entscheidend ist der rhetorische Rahmen aller Überlegungen, also die persuasive Kommunikation mit den Rezipienten, die sich belehrt, informiert, unterhalten fühlen sollen; rhetorische Ideen des delectare, prodesse, aber auch des (bislang nicht angesprochenen) movere spielen hierbei eine wichtige Rolle.
Rhetorische Wirkungspoetik Ich weiß mich guenstiger Leser zuerinneren vor vilen Jahren / bey dem vortrefflichen Poeten vnd moralischen Philosopho, Quinto Horatio Flacco gelesen zuhaben / in dem Gedicht / welches er de arte po[tica intituliert, vnnd darinn ex professo tractiert, was einer / der Buecher schreiben wil / vornemblich in obacht nemmen / vnder anderm wie er jede materiam, damit er dessen ein ehr hab / außfuehren sol: Nachdem er nun die 160 Wirtz 2009, S. 106 sieht diese Poetik der delectatio vor allem in der Gleichstellung von Unterhaltung und Belehrung bei etwa Harsdörffer und Rotth realisiert. Dass Gleichstellung nicht Amalgamierung bzw. Synthese bedeutet, ist dabei für meinen Untersuchungszusammenhang besonders wichtig, vgl. dazu unten. Zu Rotths ›Vollständiger Deutscher Poesie‹ (1688) und ihrer Relevanz für den Roman vgl. Zeller 2012, S. 152. 161 Naumann 1973, S. 60. 162 Horaz, De arte poetica, V. 333f: aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. (»Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter, oder zugleich, was erfreut und was nützlich furs Leben ist, sagen« [Schäfer 1997, S. 25]). Das Argument wird wieder aufgenommen in der Passage omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci / lectorem delectando pariterque monendo (»jede Stimme erhielt, wer Süßes und Nützliches mischte, indem er Leser ergötzte und gleicherweise belehrte« [Schäfer 1997, S. 27]). 163 Die Geltung der Formel ist durchs ganze Mittelalter nachzuverfolgen, vgl. den Überblick in Quint 1988, S. 41–45 und zur Orientierung der Dichtungslehren an Horaz ebd., S. 204–241 mit dem Hinweis auf die programmatische Eigenständigkeit von Galfreds ›Poetria nova‹. Vgl. außerdem Friis-Jensen 2007, bes. S. 300–302. 164 Vgl. zur rhetorischen Fundierung der delectatio-Vorstellung Suchomski 1975, S. 74. 165 Ehrenzeller 1955, S. 37 umschreibt mit diesem Begriff die Anrede des Lesers sowie die captatio benevolentiae und die möglichen Interpretationshinweise für das Werk.
Rhetorische Wirkungspoetik
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praecepta artis mit vilen versen erklaert / setzt er zu end seines discurs, gleichsamb an statt einer recopilation, deß gantzen tractats / sagend: omne tulit punctum, qui miscuit vtile, dulci, gleichsamb als wolte er sprechen / Ob wol die Eloquentia, vnnd daß einer secundum praecepta Rhethorices, die materiam, so er jme außzufuehren vorgenommen / deduciere, nicht zuverachten / der jenig auch / der ein Buch außgehn laest / vnnd sich darinn der grauitet / mit zierlichen phrasibus befleist / billich zu loben / vnd daran nicht vnrecht thue / so sey aber der jenig / der das vtile vnd das dulce recht wiß vndereinander zu mengen / also daß er nit nur grauiter, sonder auch jocosH, die Laster / so hin vnnd wider im schwung gehen / straffe / dem andern / der das vtile allein / vnd zwar grauiter, außzufuehren jhme vorgesetzt / weit vorzuziehen. (Ulenhart, ›Vorrede‹, S. 7–9).
Die ›Vorrede‹ Niclaus Ulenharts zur ›Historia von Isaac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid‹, die 1617 die Übertragung des ›Lazarillo de Tormes‹ (aus dem frühen 16. Jahrhundert) und von Cervantes’ ›Rinconete y Cortadillo‹ (1613) einleitet,166 steht vor einer Sammlung, einen barocken mit einem vorbarocken Text verbindet. Sie zeigt deutlich auf, welche Rolle die Rhetorik über die Epochengrenzen für die Poetik spielt:167 Denn damit das vtile vnd das dulce tatsächlich zusammen kommen, prodesse und delectare die richtige Balance finden, ist vor 1600 genauso wie nach 1600 eine rhetorische Verfasstheit der Texte vonnöten, die die rhetorische Tradition ins poetische Werk hineinträgt, in ihm spiegelt und ihm anverwandelt. Das geschieht im Rahmen persuasiver Strategien.168 Hier greift eine Grundidee der Rhetorik: Dass das Belehren ebenso wie das Unterhalten eine Überzeugungsangelegenheit ist. Der Hörer bzw. Leser muss das Gefühl haben, belehrt zu werden, damit die Lehre wirksam wird,169 und er muss das Gefühl haben, unterhalten zu werden, sonst verpufft jeder entsprechende Effekt – alle Reaktion auf den Text ist das Ergebnis von persuasio. Deshalb bilden docere, delectare und movere als »drei steigende Grade der Persua-
166 Die Frage, ob Ulenhart auch für die ›Lazarillo‹-Übertragung verantwortlich zeichnet, interessiert in diesem Zusammenhang nicht, vgl. zu den Zweifeln das Nachwort zum Neudruck von Hoffmeister 1983, S. 267. 167 Vgl. Solbach 1995, S. 82 zur »grundlegenden rhetorischen Verfaßtheit der Literatur« der Frühen Neuzeit; für die englische Entwicklung vgl. die Feststellung von Müller 1993, S. 227: »daß die Dichtkunst sui generis einen eminent rhetorischen Charakter, eine persuasive, ins Handeln wirkende Macht besitzt«, bezogen auf Puttenham und Sidney. 168 Vgl. auch Hildebrandt-Günther 1966, S. 11. 169 Dies ist unabhängig von dem tatsächlichen »Wert« einer Lehre – dasselbe gilt für das Mehrwissen bzw. Wissen der Rezipienten über den Text, das gefühlt werden kann, ohne de facto vorhanden zu sein. Romane wie z. B. der ›Parzival‹ spielen auf dieser Basis ein Verwirrspiel mit ihren Rezipienten, deren Wissensvorsprung sich immer wieder als Wissensdefizit entpuppt, in Seeber 2010, S. 165–168 habe ich das für den Fall der Orgeluse exemplarisch ausgestellt.
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sion«170 letztendlich eine »Effekttrias«,171 sie gehören zusammen und werden (in unterschiedlicher Gewichtung) eingesetzt, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Das bedeutet wiederum auch, dass die geplanten Wirkungen der Texte eng miteinander verbunden sind: Der kognitive Nutzen ist verknüpft mit der affektiven Attraktion, der Affekt befördert die Rezipientenbindung und damit auch den kognitiven Nutzen; das formt die Wirkungsästhetik der Texte.172 Das gilt nicht nur für die Zeit der »Barockrhetorik«173 mit ihrem etablierten Konnex zur Poetik, Vorläufer finden sich bereits vor 1600.174 Dabei geht es um die ganze Breite des Dichtungsaufbaus, nicht nur um ornatus175 und auch nicht nur um die narratio176 als Teil der inventio, die üblicherweise betrachtet wird, wenn man delectatio analysiert.177 Die elokutionäre Ebene rückt ins Zentrum, die Rhetorik durchdringt die gesamte dichterische Praxis.178 Poetischer Nutzen und poetische Wirkung der Rhetorik werden in Mittelalter und Früher Neuzeit selbstverständlich immer wieder diskutiert – allerdings nicht in der Volkssprache, sondern auf Latein.179 Scaligers sieben Bücher zur Poetik, das »Sammelbecken der gesamten rhetorischen Überlieferung«,180 sind der Höhepunkt der poetologischen Auseinandersetzung mit der Rhetorik,181 die Breite ihrer Wirkung über (elitäre) intellektuelle Zirkel hinaus ist jedoch schwer zu bestimmen.182 Das macht den (Wieder-)Einsatz183 einer volk170 Plett 1975, S. 100. Vgl. Plett 2000, S. 258: »Das Prinzip der Persuasion beherrscht alle Rhetorizität, auch die literarische«. 171 Plett 1975, S. 18. 172 Vgl. zur Wirkungsästhetik auch die Bemerkungen bei Schnell 2008, S. 48–51. Schnell definiert Wirkungsästhetik dabei als Suggestionsimpetus der Darstellung von Emotionen im Text. 173 Barner 2002, S. 71. 174 Dyck 1969, S. 4f.: »Zu den Selbstverständlichkeiten der Literaturtheorie des XVII. Jahrhunderts gehört die Einsicht, daß die Poetik in Form und Gehalt ein Sprößling der Rhetorik ist.« 175 Vgl. bereits Dockhorn 1968, S. 97 zur affektbasierten elocutio. 176 In dieser Hinsicht ist über Solbach 1995, S. 83 hinauszugehen, der vereinfachend Dichtung als narratio ohne anschließende argumentatio klassifiziert – es geht um inventio (zur Gänze), dispositio und elocutio gleichermaßen. 177 Zur Ordnung der Rede gemäß der antiken Rhetorik vgl. Curtius 1993, S. 77–81. 178 Plett 1993, S. 11. Mit Blick auf die affektrhetorische Ausgestaltung betont dies auch Barthel 2008, S. 8. 179 Hildebrandt-Günther 1966, S. 11: »Die entscheidenden theoretischen Äußerungen sind lateinisch geschrieben; deutsche Theorie ist nur sehr bedingt gleich deutschsprachige Theorie.« 180 Dyck 1969, S. 5. 181 Zu Scaligers Affektenlehre und ihrem Einfluss auf Vossius vgl. Rotermund 1968, S. 248f. 182 Vgl. dazu Knape 2006, S. 7. Zur Verwissenschaftlichung der Poetik durch Scaliger vgl. Barner 2000, S. 37–39. 183 Knape 2006, S. 22. Vgl. auch Knape 2002, S. 11. Eis 1960, Sp. 1133 weist zusätzlich auf die Tradition der ars memorativa hin, für die bereits 1430 ein deutscher Vertreter (Hartlieb,
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sprachigen Rhetoriktradition im Deutschen umso wertvoller,184 die mit dem Jahr 1493 und dem ersten Druck von Friedrich Riederers ›Spiegel der wahren Rhetorik‹ verbunden ist. Der ›Spiegel‹ überschreitet die Grenzen der bis dato für deutsche Rhetoriken üblichen »kanzlistischen Funktionalbestimmungen«,185 wie man sie in Briefstellern und Formularbüchern wie dem Geßlers186 vorfindet, und er eröffnet neue Denkräume. Als theoretische Grundlage übersetzt und amalgamiert Riederer dabei187 im ersten Buch des ›Spiegels‹ die ›Rhetorica ad Herennium‹188 und Ciceros ›De inventione‹.189 Damit werden die beiden Hauptquellen mittelalterlicher Rhetorik190 erstmals auf Deutsch verfügbar, eklektizistisch191 ergänzt nicht nur um die aufgrund der juristischen Grundlage der Rhetorik naheliegenden Exempla der rechtsetzer (Widmung, S. 5),192 sondern auch der poeten meynungen (ebd.):193 Der ›Spiegel‹ will ein aktuell verständliches Handbuch sein, in dem auch gelegentliche Hinweise auf poetische Aspekte Platz finden.194 Fünf Drucke halten ihn über mehrere Jahrzehnte präsent195 und
184 185 186
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›Kunst der Gedächtnüß‹, vgl. dazu Weidemann 1964 und Grubmüller 1981, Sp. 484f.) auszumachen ist. Zum europäischen Kontext der Neuerung vgl. Murphy 1961, S. 201f. Knape 2006, S. 21f. Zu Heinrich Geßlers ›New practiziert rhetoric und brieff formulary des adels / stetten / vnnd lendern der hochtuschen yetzlouffenden stylums vnnd gebruchs‹ (Straßburg 1493) als traditioneller Konkurrenz zu Riederers innovativem Ansatz vgl. Kleinschmidt 1983, S. 303 sowie Knape/Luppold 2009, S. XI. Knape/Luppold 2009 (Textband) und Knape/Luppold 2010 (Kommentarband). Riederer rechnet die Herenniumsrhetorik noch Cicero zu: Nüßlein 1994, S. 328 datiert den ersten fundiert und nachdrücklich geäußerten Zweifel an Ciceros Autorschaft auf 1491 (Rafael Regius). Daneben werden auch Herennius-Kommentare und v. a. Albertanus Brixiensis ›Tractatus de arte loquendi et tacendi‹ genutzt: Knape/Luppold 2009, S. XXI. Riederer, Vorrede, S. 7 betont die Benutzung des Traktats aus Wissbegier. Zu Albertanus von Brescia vgl. Silagi 1980, Sp. 290f. Eine Edition des lateinischen Textes bietet Navone 1998. Vgl. Murphy 1974, S. 109. Knape/Luppold 2009, S. XX. Riederer zitiere ich nach Knape/Luppold 2009. Der Kommentarband bietet keine Erläuterung zu dieser Passage. Dieser Formulierung eignet dabei gewisse Topik, vgl. etwa die Vorrede zur bei Bämler erschienenen Übersetzung des Traktats von Albertanus, fol. 1r und auch der Verweis bei Quintilian auf die allerdings alten Dichtungen (I,8 10). Vgl. zum grundsätzlichen Zusammenhang von Dichtung und Rhetorik in der Antike die Ausführungen von Kallendorf 1994. Vgl. etwa I.III.2.2 ›Von klarer verkündung‹, S. 44: Aber Poeten bruchend zuo zyten ander ordnung der narration – der Satz steht nicht in der ›Rhetorica ad Herennium‹ I.IX.15 und ist von Riederer aus dem Herenniumskommentar zur Stelle übernommen, vgl. Knape/Luppold 2010, S. 52. Cicero, ›De inventione‹ I.XIX.27, auf den die ›Rhetorica ad Herennium‹ sich an der entsprechenden Stelle bezieht, differenziert ausführlich in fabula, historia und argumentum – so weit, dies zu ergänzen, reicht Riederers Interesse an der Dichtung allerdings nicht. Knape/Luppold 2009, S. XXXf. zählen fünf Drucke aus den Jahren 1493, 1505, 1509, 1517 und 1535. Vgl. zur Bedeutung Kleinschmidt 1983, S. 307: »Ein so erfolgreiches Werk wie das
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transferieren das rhetorische Handbuchwissen des lateinischen Mittelalters in die Volkssprache. Das hat Signalcharakter : Nicht nur in der Praxis, auch in der Theorie196 ist die Rhetorik endgültig in der Volkssprache angekommen.197 Riederer bereitet sie paratextuell lenkend (Kapiteleinteilungen, Marginalien etc.) und mit transparenter Terminologie pädagogisch auf (Vorrede, S. 6), um sie leichter verständlich zu machen. Dieser Neueinsatz volkssprachiger Rhetoriktheorie steht selbstverständlich in keinem Vergleich zur lateinischen Tradition und Behandlung des Themas. Er hat aber auch mehr als nur Symbolwert und macht den ›Spiegel‹ zum Kronzeugen eines theoretischen Rhetorikbewusstseins, das die Grenzen lateinischer Schriftlichkeit überschreitet. Das zeigt sich bereits programmatisch am Beginn von Riederers erstem Buch der Rhetorik.198 Seine Arbeitsgrundlage sind die (von Cicero inspirierte und von Quintilian perfektionierte)199 Ethik des Redners sowie die Angemessenheit des Gesagten, die sich immer am Publikum zu bemessen hat, an Zeit, Ort und Umständen der Darbietung. Seine Anweisungen wollen allgemeingültig sein; anders als Cicero setzt Riederer keine Begabung voraus, yeder kann eine angemessene Rede erstellen (I.I.6, S. 15),200 das gilt auch für die iungen lesenden (Vorrede, S. 6). Das präsentierte Wissen fußt in der Tradition und wird durch Beigaben im Detail spezifisch ergänzt. Dies geschieht auch im Kontext der Strategien glouben ze machen (I.III.2, S. 39); das Überzeugen gehört, ebenso wie das Vorspiegeln von Dingen im Bereich der narratio, zu den Standardaufgaben. Riederer zieht für die digressio, die besondere delectatio bringt, ganz speziell auch die poeten (I.III.2, S. 39) heran: Das dritt geschlächt der verkündung ist abgescheiden von Burgerscher handlung vnnd geschefften vnd wirdt gegründt / vff lustbarkeit vnd kurtz wyl zemachen. Als zesagen. fablen / historien vnd argument: darinn mag sich aber yeder so dis kunst vnd practic lernen wil · flyssig u˘ben: dadurch / in worten vnd verstentniß geschickt vnd dapfer zewerden: damit Er des fruchtsamer vnd möglicher die ersten zwey geschlächt der verkündung wiß zuouolfu˘ren dis geschlächt · streckt sich vff person vnd hendel der personen halb in fabelen. historien vnd argument zerteilung beschicht.
196 197 198 199 200
Handbuch Riedrers, das bis 1535 nachgedruckt wurde, vermittelte mehr an Prinzipien gelehrter, humanistischer Denk- und Schreibweise in die feudale und stadtbürgerliche Alltagswelt als die literarischen Eindeutschungen und Originalwerke deutscher Humanisten, deren Wirkung beschränkt blieb.« Zur Differenz zwischen Theorie und Praxis im Bereich der rhetorischen Literatur vgl. Behrens 1982, S. 12. Zu Vorläufern vgl. Knape 2002, S. 20. Buch 2 umfasst einen Briefsteller, Buch 3 behandelt Gerichts- und Verwaltungssachen; nur das erste Buch, das der Rhetorik im allgemeinen Sinn der antiken Tradition gewidmet ist, hat deshalb für den vorliegenden Kontext Relevanz. Zur Ethik des Rhetors bei Quintilian vgl. Seel 1987, S. 19–89. Vgl. Hildebrandt-Günther 1966, S. 19 zum Nutzwert des Buches.
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Fabel ist ein anzöigung ettlicher geschicht · die nit warheit noch der warheit glych vff ir treit. Anders dann ettlich fabel schynt der warheit glych als Terentius setzt Histori ist ein geschehen sach: aber by vnsern zyten nit Sunder dauor ergangen. Argument ist erdicht anzögung: die wol möglich ist zegeschehen […] (I.III.2, S. 40).
Er betont dabei, dass nur poeten anzeregen vermögen, wie historia, fabula und argumentum adäquat angewandt werden können, um dem gemu˘t (ebd.) entsprechend eingesetzt zu werden: Poetisch dienen diese drei Sphären zur emotionalen Affektation des Publikums, sie gehören nicht dem Bereich der warheit (ebd., S. 41) an, auf den er seinen Arbeitsschwerpunkt legt. Dieser eigene Zusatz Riederers zur Herenniumsrhetorik, ergänzt zusätzlich um die zeitgenössisch angepasste Definition von historia, die im Angesicht des breiten Feldes von Historien den ursprünglich engen Begriff aufweicht, zeigt dennoch den Stellenwert auf, der fiktionalem Erzählen im ›Spiegel‹ zukommt.201 Es ist wichtig genug, um klassische Definitionen der veritas und verisimilitudo zu verschieben, und es ist integraler Bestandteil der Redelehre, hat aber seine eigenen Dichter-Autoritäten, die die inventio unter dem Aspekt der persuasio und der Affektion zu nutzen verstehen. Die kurtz wyl erhält so zusätzliche poetische Relevanz – verortet im rhetorischen System ist sie allerdings schon immer.202 Dem genus medium zugehörig,203 ist sie eines der drei officia des Redners. Sie steht neben dem docere und dem movere, mit denen sie verbunden ist,204 u. a. da sie für Auflockerung und für das sorgt, was Quintilian allicere nennt (V.14.29), indem sie also als Lockmittel für den Rezipienten dient, auch über die Grenzen des ihr angestammten genus medium hinaus: So wird delectatio zu einer rhetorischen Allzweckwaffe, die auch und gerade eingesetzt werden kann, um das docere zu befördern. Ihr Gegenstück findet sie im Pathos, das ebenfalls den Nutzen unterstützt. Das docere ist somit gebunden an die Affektion und wird durch diese Bindung befördert: nec doceri tantum, sed etiam delectari volunt (Quint., Inst. or. IV.1.57). Das verlangt vom Produzenten von Rede und Text Abwägung: et est difficilis huius rei moderatio (ebd.), weist aber vor allem darauf hin, dass nicht die Sache, sondern die Vermittlung wichtig ist, die »effektrhetorische Wirkung setzt eine affekt-
201 Zur Begriffstrias in der mittelalterlichen Poetik vgl. Grünkorn 1994, S. 43–48, bes. S. 48 zum fehlenden Bezug zu einer Fiktionalitätstheorie. 202 Vgl. allg. Ueding/Steinbrink 1994, S. 280. 203 Vgl. auch Suchomski 1975, S. 74. 204 Z. B. Quintilian, Institutio oratoria III.V.2: tria sunt item, quae praestare debeat orator, ut doceat, moveat, delectet. Vgl. allg. Adam 1971, S. 109–117, dort auch zur Differenzierung zwischen conciliare und delectare, die Quintilian nicht mehr bietet (S. 109).
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rhetorische Darstellung«205 voraus, um zu funktionieren. Diese affektrhetorische Darstellung folgt etablierten Regeln und kann sich auf die lange und überdauernde Tradition der Rhetorik berufen.206 Denn die Rhetorik als Lehre von der persuasiven Rezipientenorientierung207 ist auf dieser Basis der einzige Maßstab für die systematisch-poetologische Analyse vorbarocker Literatur überhaupt, und zwar in Form einer »Wirkungspoetik auf rhetorischer Grundlage«.208 Ihren Ursprung hat diese Idee in der Typologie der Affekte,209 die Aristoteles in der ›Rhetorik‹ erstellt und in der den Grundaffekten, ihrer Erregung und ihrer gezielten Nutzung eine praxisorientiere Übersicht gewidmet ist.210 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht dabei das flexible Eingehen auf das Publikum, dessen Affekte beeinflusst und gelenkt werden sollen211 – je nach Alter, Situation und Verhältnissen verschieden und den Bedürfnissen angepasst.212 Der Nutzen einer solchen rhetorischen Emotionstypologie für die Poetik liegt auf der Hand. Denn wenn Dichtung Nachahmung von Wirklichkeit ist, wie Aristoteles in der ›Poetik‹ betont,213 kann für die Dichtung dasselbe Instrumentarium angewendet werden wie für die Rede; es bedarf lediglich einiger Anpassungen, um der Besonderheit der fiktionalen Texte gerecht zu werden,214 z. B. die »Freude« an der 205 Plett 1975, S. 182. Eine konkrete wirkungspoetische Lektüre auf rhetorischer Basis legt Christ 1977 für den ›Tristan‹ vor. 206 Zum Zusammenhang zwischen affektrhetorischen praecepta und neuzeitlicher Theoriebildung zur Emotionsanalyse vgl. z. B. Anz 2007. 207 Vgl. auch Solbach 1995, S. 83. Solbach 2003, S. 2 spricht von der »rhetorische[n] Struktur persuasorischer Strategien«. 208 Plett 1975, S. 2. 209 Copeland 2013, S. 2. 210 Zu Aristoteles Argumentation vgl. Campe 2010, S. 6–76 mit Fokus auf die Empathie, die angestrebt wird. Vgl. Copeland 2013 zur Anwendung in der pastoralen Praxis in England. Die Wirkung der ›Rhetorik‹ von Aristoteles in Europa im Mittelalter ist nicht genau zu bestimmen – dem Text war keine Präsenz wie der ›Rhetorica ad Herennium‹ vergönnt, er ist aber durch die reiche arabische Kommentartradition (Copeland 2013, S. 4) und die lateinischen Übersetzungen bewahrt und seit Moerbeke auch einem breiteren gelehrten Publikum zugänglich, ohne allerdings die etablierten rhetorischen Schultexte zu ersetzen. Die auf der ›Ethik‹ fußende aristotelische Emotionstheorie etwa eines Thomas von Aquin zeichnet Perler 2011 (Kap. 1) nach. 211 Vgl. auch Campe 2010, S. 70. 212 Vgl. auch allg. Kasteley 2004, S. 223. Zu Aristoteles vgl. auch seine einführenden Bemerkungen ebd., S. 223–227. 213 Zur didaktischen Umwertung der Mimesis in der Aristotelesexegese vgl. die bereits zitierten Ausführungen von Wels 2009, S. 4. Zur Relevanz der ›Poetik‹ des Aristoteles ab dem 16. Jahrhundert allg. vgl. Spörl 2012, S. 75f., zum blinden Fleck im deutschen Diskurs vgl. Zeller 2012, S. 147, die heraushebt, dass noch Happel Huets ›Trait8‹ in der Übersetzung um Referenzen auf Aristoteles reduziert. 214 Die Diskussion um die Fiktionalität mittelalterlicher volkssprachiger Texte, auch in Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Theorie, kann ich hier weder nachzeichnen noch aufrufen – mir geht es allein um den grundsätzlichen Konnex zwischen Dichtung und Wirklichkeit, wie er bei Aristoteles angelegt ist und sich in der rhetorischen Formung der
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Nachahmung von Dingen, die »wir in Wirklichkeit nur ungern erblicken«.215 Deshalb können die Affekte hier in anderem Zusammenhang instrumentalisiert und kann auch das movere im Sinne der delectatio nutzbar gemacht werden.216 Zudem gibt es die Möglichkeit, delectare und didaktische Relevanz217 zu kombinieren. Weiters muss der Autor literarischer Texte ebenfalls spezifisch auf sein Publikum und dessen Anforderungen eingehen.218 Das wird bei Romanliteratur mit ihrer räumlichen und zeitlichen Distanz zwischen Produzent und (zunehmend anonymem Lese-) Publikum zu einer besonderen Herausforderung, der etwa begegnet werden soll, indem bestimmte Qualitätsstandards für die Charakterzeichnung (Tüchtigkeit, Angemessenheit, Gleichmäßigkeit) mit einer Ähnlichkeit der intendierten Rezipienten kombiniert werden.219 Die Wahrscheinlichkeit als auszeichnendes Kriterium guter Dichtung weist ebenfalls auf die Rezipientenbindung hin, denn Wahrscheinlichkeit ist eine extrinsisch bestimmte, nicht intrinsische Qualität und wird durch den Rezipienten und dessen Vorstellungswelt gesetzt.220 Deshalb sind auch Jammer und Schauder, die prominentesten Reaktionen auf Dichtung, die sich an der Tragödienrezeption ablesen lassen,221 von dem Verstehen des Rezipienten abhängig, dem sie sich erschließen und an dessen Vorstellungswelt sie anknüpfen müssen.222 Die überschaubare Anlage der Handlung gehört in diesen Kontext,223 auch wenn dem Epos bei Aristoteles größere Freiheiten zugestanden werden als dem Drama,224 da der umfangreichere Text auch parallele Handlungen einzubinden vermag und so Spannung und Abwechslung für seine Rezipienten schaffen kann.225 Ebenfalls gibt es größere Lizenzen im Bereich des Wunderbaren, das mit dem »Ungereimte[n]«226 zusammenhängt und das als Faszinosum Vergnügen zu bereiten vermag. Es ist also nicht Regelmäßigkeit, sondern Abweichung, die die Rezipienten besonders fesselt. Selbst
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vormodernen Poetik bis ins 18. Jahrhundert hinein niederschlägt. Vgl. auch Christ 1977, S. 24f. Aristoteles, Poetik, 4 [1448b], S. 11. Zum movere vgl. Wöhrle 2001, Sp. 1498f. Aristoteles, Poetik, 4 [1448b], S. 13. Aristoteles, Poetik, 13 [1453a], S. 41: »Denn die Dichter richten sich nach den Zuschauern und lassen sich von deren Wünschen leiten«. Aristoteles, Poetik, 15 [1454a], S. 47. Aristoteles, Poetik, 15 [1454a], S. 49. Die Literatur hierzu ist unüberschaubar, vgl. für den vorliegenden Zusammenhang die knappe Behandlung des Themas bei Barthel 2008, S. 7. Das macht die aristotelische Vorstellung von Dichtung zu einer inferenzbasierten Angelegenheit im Sinne der Idee von Jannidis 2004; vgl. dazu unten. Aristoteles, Poetik, 24 [1459b], S. 81. Vgl. Fuhrmann 1994, S. 132, Anm. 2 zur Gleichheit der Wirkungsintention in Drama und Epos. Aristoteles, Poetik, 24 [1459b], S. 81. Aristoteles, Poetik, 24 [1460a], S. 83.
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Narrations- und Konzeptionsfehler können als Widerhaken funktionieren227 und die Rezipienten zur Analyse und damit zu einer Interaktion mit dem Text herausfordern. Die Rhetorik als Ausgangspunkt vormoderner Poetik und Ästhetik ist zwar nicht letztgültige Instanz. Sie bietet aber die notwendigen Impulse, die es erlauben, poetologisch zu denken, sei es, indem affirmativ mit rhetorischen Vorgaben gearbeitet wird, sei es, dass durch die Reibungsflächen, die bei der Übertragung rhetorischer Prinzipien auf poetische Texte entstehen, neues Potential freigesetzt wird. Den »Legitimationsdruck«228 des Romans als neuer, nicht poetisch normierter Gattung hilft die rhetorisch fundierte Rezipientenlenkung in jedem Falle zu reduzieren, denn sie baut eine Brücke zwischen Text und Rezipienten und macht zugleich deutlich, wie eng Affekt und kognitive Auseinandersetzung mit den Romanen zusammenhängen, wie intensiv die ratio vom affectus abhängig ist.229 Unmittelbar damit verknüpft ist die Bandbreite von Kombinationen von delectatio und utilitas in den Romanen. Sinn und Wertigkeit dieser unterschiedlichen Kombinationen werden in den (Proto-)Poetiken der Frühen Neuzeit intensiv debattiert230 und in den Texten selbst eigenständig durchexerziert, so dass die »Rhetorik als Instrument einer Wirkungspoetik« für die sich entwickelnde Gattung von zentraler Relevanz ist.231 Die Rhetorik schafft damit die Grundlagen dafür, dass der Text den Rezipienten zu erreichen vermag, kognitiv-rational ebenso wie affektiv-anteilnehmend. Die persuasive Lenkung der Emotion bietet die Basis: Denn auch das Gefühl, informiert und ernst genommen zu werden, ist ein Gefühl.232 Die Rhetorik nimmt damit in großem Umfang Einsichten der modernen Kognitionstheorie vorweg, die erst in jüngster Zeit die Abhängigkeit der Kognition von der Emotion produktiv zu nutzen beginnt – auf diese Theorien sei im Folgenden knapp eingegangen, um den bisher erarbeiteten theoretischen Horizont zu ergänzen und zu erweitern.
227 Aristoteles, Poetik, 25 [1461b], S. 93. 228 Krämer 2009, S. 66. 229 Zur terminologischen Breite von ratio vgl. Kible 1992, Sp. 37. Es geht mir im Folgenden um die kognitive, ordnende, auch abstrahierende Kraft, die im Gegensatz zum affizierenden Zugang zur Literatur steht. 230 Für die niederen Romane des 17. Jahrhunderts betont das Späni 2004, S. 108. 231 Christ 1977, S. 14 mit Bezug auf den ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. 232 Vgl. auch Till 2007, S. 302.
Ergänzungen zur Wirkungspoetik
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Ergänzungen zur Wirkungspoetik ludus Die remissio, also der Nutzen, den die Unterhaltung zu bieten vermag, wurde bereits angesprochen. Die moderne Forschung hat sie zum Anlass genommen, die aristotelische Idee233 zum Konzept des »ludic reading«234 weiter zu entwickeln und die »Literatur als Spiel«235 in den Blick zu nehmen. Damit rückt genau das Element der Romanrezeption, das die Romankritik der Frühen Neuzeit geringschätzt, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, geht es doch um die Freude an der Rezeption und das ludische Element im Umgang mit Romanen.236 Mellmann spricht, eine Formulierung Karl Bühlers aufgreifend und weiterdenkend, von der mit dem Lesen verbundenen »Funktionslust«,237 die nicht nur hedonistisch das funktionslose Vergnügen an einer Tätigkeit beschreibt,238 sondern eine lustprämierte Übung des Geistes für den Ernstfall bedeutet239 und um »der Tätigkeit willen« betrieben wird: Denn Erholung stellt die Arbeitsfähigkeit wieder her und sorgt so für das Gleichgewicht des Menschen.240 Diese aristotelische Ansicht ist bereits seit dem 13. Jahrhundert weit verbreitet und bietet eine Art epochenübergreifende Legitimierung von Unterhaltung,241 die auch kombiniert werden kann mit der ebenfalls bereits seit dem 13. Jahrhundert präsenten Vorstellung von der heilsamen Wirksamkeit von Unterhaltung bei
233 Zur Differenzierung zwischen »art as a pastime and art as a rational employment of leisure«, auch in Auseinandersetzung mit Platon, vgl. Butcher 1902, S. 206f. 234 Vgl. dazu Anz 1998, S. 33 mit Rekurs auf Nell 1988. 235 So der Titel des grundlegenden Sammelbandes Anz/Kaulen 2009, vgl. aber auch Anz 1998. Zum homo ludens vgl. Huizinga 2013, der S. 17 das Spiel als ein »Intermezzo im täglichen Leben« bezeichnet. 236 Auf eine Diskussion des »Spiel«-Begriffes (v. a. im Kontext der ›Philosophischen Untersuchungen‹ Wittgensteins) möchte ich in diesem Zusammenhang verzichten; ich orientiere mich mit meiner Begriffsverwendung an der eher allgemeinen Vorstellung von Spiel bei Nell 1988, vgl. auch die terminologische und definitorische Eingrenzung bei Anz 1998, S. 33–56 mit Hinweis auf die wesentlichen theoretischen Stationen (u. a. Freud, Wittgenstein, Huizinga) der Begriffsbildung. 237 Mellmann 2006, S. 71 und S. 73. 238 Vgl. dazu Mellmann 2002. 239 Ebd. Vgl. auch Tooby/Cosmides 2001, einen der zentralen Referenztexte Mellmanns, dort bes. S. 10 und S. 11 mit Hinweis auf die evolutionsbiologische Relevanz des Spiels. Vgl. weiters Anz 1998, S. 56f. 240 Aristoteles, Nikomachische Ethik, X, 6, 1176b, S. 286. Eybl 2009, S. 11 ordnet die Unterhaltung im Barock in den Kontext einer protestantischen Arbeitsethik ein, die auch Erholung vorsieht, und greift damit – ohne explizit auf Aristoteles zu rekurrieren und mit einem anders besetzten Arbeitsbegriff, als ich ihn hier voraussetze – dieselbe Idee für die Zeit des 17. Jahrhunderts auf. 241 Olson 2009, S. 282.
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Krankheit (etwa bei Galen und Hugo von St. Viktor).242 Das eigentlich autotelische, selbstbezogene Ludische hat also zugleich einen über sich selbst hinaus reichenden Sinn und ist per definitionem nicht wertfrei.243 Das legitimiert seine Existenz und verbindet es mit der Idee einer funktionalen Rechtfertigung der Lektüre,244 wie sie im Rahmen einer vormodernen Ästhetik anzunehmen ist. Die Lektüre als Spiel muss, obwohl sie »Muße und Kurzweil«245 bietet, denselben Anforderungen genügen wie das Leben selbst. Außerdem darf das Lesen weder unter- noch überfordern, da es sonst nicht Lust, sondern »Unlust« nach sich zieht.246 Lust und Nutzen stehen also in einem Abhängigkeitsverhältnis und bedingen sich gegenseitig – genau diesen Konnex bietet die frühe Romankritik, aber auch die Romantheorie nicht, die sich allein auf den Romannutzen konzentrieren wollen. Die Konsequenz dieser Einseitigkeit ist ein Bruch zwischen Theorie und Praxis, der sich entlang ideologischer Grundsatzdebatten durch die Romangeschichte nachverfolgen lässt.247 Moderne Spielvorstellungen ergänzen die Rolle des selbstverantwortlichen Rezipienten, der ganz grundsätzlich in die Poetik in actu einbezogen erscheint. Die Frage nach der Mündigkeit des Rezipienten wird so zum Prüfstein der vormodernen Debatte über den Roman. Dieser Rezipient ist immer ein intendierter, dem Paratext bzw. Text eingeschriebener Rezipient, die Romane unterbreiten Rezeptionsangebote und wollen ihr Publikum entsprechend lenken. Anhand der vergleichenden Lektüre etwa der ›Magelone‹ und ihrer als ›Sendbrief‹ vom Herausgeber vorangestellten Leseanweisung lässt sich der Spagat deutlich vor Augen führen, der zwischen Paratext und Text bisweilen zu vollbringen ist (und auf den ich im entsprechenden Teil dieses Buches noch detaillierter eingehe): Während Spalatins ›Sendbrief‹ die Dichtung als Beleg dafür liest, dass kein lust noch freude auff erdenn ewig ist / sonder leychtlich zuo 242 Ebd., S. 278. 243 Dementsprechend ist auch die mit dem ludus verbundene delectatio nicht wertfrei, wie Wehrli 1985, S. 195 (allerdings in anderem Zusammenhang) betont. 244 Zur Kombination von ethischer und gesundheitlicher Argumentation vgl. ebenfalls Olson 2009, S. 282. 245 Aristoteles, Nikomachische Ethik, IV, 14, 1127b, S. 115. 246 Anz 1998, S. 70, vgl. auch ebd., S. 109f. Relativierend betont hingegen Mellmann 2015, S. 176, dass der Lust kein direkt entsprechender »Unlustmechanismus« entgegengestellt werden kann: »das Gegenteil von einer Motivierung durch ›Lust‹ ist vielmehr einfach das Ausbleiben einer solchen Motivierung«. 247 Dies ist ein Phänomen, das seit dem Aufkommen der Literatur in allen Gattungen zu beobachten ist: Während sich mittelalterliche Dichtung wegen ihrer delectatio gegen kirchliche Kritik zu behaupten hat (vgl. dazu grundlegend und umfangreich Suchomski 1975, der allerdings einen relativ engen, auf das Lachen begrenzten delectatio-Begriff nutzt), hat es der Roman des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit mit der (nun auch protestantischen) Kirche ebenso wie mit dem Bedürfnis zu tun, eine sinnerfüllte Gattung zu konstituieren und das romanhafte Erzählen zu legitimieren.
Ergänzungen zur Wirkungspoetik
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truebsal vnnd unglück geraten kan (Müller 591,19f.), also eine didaktische Lesart induzieren will, führt der eigentliche Text ein Happy End vor Augen, das dieser Lektion entgegensteht. Um Einsicht in die intendierte Rezeption der Texte zu erreichen, reicht es also nicht aus, sich nur auf die Paratexte und deren Anleitungen zu verlassen, die Romane selbst müssen vergleichend und auch kontrastierend in den Blick und als das ernst genommen werden, was sie im Rahmen des Anspruchs einer Wirkungspoetik sind: Literatur für Leser (bzw., allgemeiner : für Rezipienten).
Rezeptionsästhetik und Wirkungspoetik Die Rezeptionsästhetik als Gegenmodell zur Genieästhetik und der Werkästhetik ist wesentlich mit der Konstanzer Schule um Hans Robert Jauß verknüpft,248 sie hat in den 1970er und 80er Jahren auch eine politische249 und eine polemische250 Debatte ausgelöst und konnte ihre Wirkung weit über die Grenzen der Literaturwissenschaft hinaus entfalten.251 Wesentlich ist, dass mit Jauß Gattung252 und Rezeption253 als prozessuale Phänomene neu definiert werden, dass also ein je zeit- und personenspezifischer Erwartungshorizont die Lektüre prägt.254 Diese Begegnung mit der Literatur wird durch den Text selbst angeleitet, indem er affektrhetorisch zur Aisthesis255 oder Katharsis256 anzuregen ver-
248 Vgl. auch Raters 2006, S. 432. 249 Vgl. dazu Jauß 1977, S. 10. Giacomuzzi-Putz 1994, S. 99 und S. 101 weist auf die gleichzeitig zur Rezeptionsästhetik aufkommende, neuerliche poetologische Auseinandersetzung der Autoren mit ihren Lesern hin. 250 Dies betont auch Hempfer 1987, S. 13. Vgl. z. B. die polemischen Kritiken von Wittkowski 1979 und Wyss 1974. 251 Ähnliche Neuorientierungen unter anderen Auspizien und mit anderen wissenschaftlichen Prämissen bieten Fishs »affective stylistics« (Fish 1980, S. 3: »the reader’s response is not to the meaning; it is the meaning« [kursiv im Original]), Crosmans Theorie (Crosman 1980, S. 154: »a poem really means whatever any reader seriously believes it to mean«) und der semiotische Ansatz Ecos (Eco 1977, Eco 1988) auf die ich hier nicht weiter eingehe. Eine Übertragung der Thesen der Konstanzer Schule auf die Wahrnehmung von literarischen Gärten nimmt z. B. der Gartenkunsthistoriker Hunt 2007 vor – was die langfristige Wirkung der Prinzipien über die engeren Fachgrenzen hinaus unter Beweis stellt. 252 Jauß 1970a, S. 164. 253 Jauß 1977, S. 212. 254 Jauß 1970, S. 9 spricht von einer »im Prozeß der Rezeption fundierten Literaturgeschichte« auf der Basis des zu rekonstruierenden »Erwartungshorizonts« der Rezipienten. Kritisch zum Erwartungshorizont, der nur schwer von der literarischen Repräsentation zu trennen ist, äußert sich z. B. Link 1976, S. 45. Vgl. v. a. auch Grimm 1975, S. 50f. 255 Von Jauß 1977, S. 62 definiert als der rezeptive »Genuß des erkennenden Sehens und sehenden Wiedererkennens«. 256 Jauß fasst Katharsis in diesem Zusammenhang vor-aristotelisch mit einem Schwerpunkt
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sucht.257 Die »Faszination des Imaginären«,258 das Spiel des Textes mit Nähe und Distanz des Lesers führt für Jauß zu exemplarischen Positionierungen des Lesers zum Helden der Dichtung, konkret zur assoziativen (sich in den Helden hineinversetzenden), admirativen, sympathetischen (mitleidenden), kathartischen und ironisch-dissoziierenden Identifikationshaltung, die im Text selbst angelegt sind259 und den Leser steuern wollen.260 Die lesersoziologischen Fragestellungen von Jauß sind für vormoderne Texte nur von untergeordneter Bedeutung, kann doch nie die Summe der Rezeptionen als Manifestation eines Werkes ermittelt werden, da die notwendige Materialbasis für ein solches Vorgehen fehlt. Stattdessen kann die Mediävistik Jauß’ Theorie ein implizites »concept of the reader«261 als Frage danach, wie ein Text Rezeption »vorformt«, entlehnen und mit dem zweiten Konstanzer Theoretiker, Iser, nach der »Appellstruktur der Texte« suchen. Ähnlich wie schon die Romankritiker des 17. Jahrhunderts unterstellt Iser dem literarischen Text, seine Rezipienten in eine literarische »Welt [zu] verstrick[en]«262 und affizieren zu wollen.263 Um dies zu erreichen, werde der »implizite Leser« als Rollenangebot entwickelt. Es handelt sich nach Iser um eine »strukturierte[] Hohlform«,264 welche der tatsächliche Rezipient in der Interaktion mit dem Text performativ hinterfragt bzw. affirmiert, wenn Vorerwartungen des Lesers und Sinnstiftungsangebote des Textes aufeinander treffen,265 Iser spricht von »Konstitutionsakte[n]«.266 Kritik an der Herangehensweise der Konstanzer Schule ist aus wissenschaftshistorischer Perspektive wohlfeil. So wird der Kanon der HöhenkammLiteratur, der mit der Genieästhetik Einzug in die Literaturwissenschaft gehalten hat, durch die Hintertüre wieder ins Recht gesetzt, wenn nur sperrige und »schwere« Texte für die Analyse in Frage kommen, da nur hier die notwendigen Leerstellen zu finden seien. Die pauschale Unterstellung, dass reibungsarme
257 258 259 260 261 262 263 264 265 266
auf ihrer kommunikativen Funktion bzw., mit Gorgias, ihrem affizierenden Charakter: Vgl. Jauß 1977, S. 137. Zu Gorgias vgl. etwa Ueding/Steinbrink 1994, S. 16. Jauß 1977, S. 50. Jauß 1977, S. 139. Vgl. das Schaubild in Jauß 1977, S. 220. Differenzierungen zur vom Standpunkt der modernen Emotionspsychologie de facto obsoleten Idee einer »Identifikation« bietet z. B. Mellmann 2006, S. 105–112. Culler 2001, S. xxi. Iser 1979, S. 7. Barthes 1974, S. 10 spricht in anderem Zusammenhang davon, dass der Text seinen Leser »angeln« müsse und die »Verführung« (ebd., S. 11) des Lesers zu betreiben habe. Iser 1994, S. 40. Iser 1994, S. 60 & 61. Iser 1975a, S. 234 nennt dies eine »eigentümliche Schwebelage […] zwischen der Welt realer Gegenstände und der Erfahrungswelt des Lesers«. Iser 1994, S. 265.
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Literatur trivial sei,267 ersetzt zwar das alte Geschmacksurteil, klassifiziert aber den Großteil der Literatur weiter als »Romanbefriedigung«268 ab und schätzt die Rezipienten gering, deren Vorlieben den »trivialen« Texten große Erfolge bescheren. Bleibende Geltung hat jedoch die Idee der Interaktion zwischen Text und Rezipient erreicht, die voraussetzt, dass Romane immer auch ein Rezeptionsangebot sind, das wahrgenommen werden will. Die neuere269 rezeptionsbezogene Forschung270 hat von diesem Ausganspunkt zum einen den Modell-Rezipienten271 historisiert und differenziert zwischen dem Hörer in Gesellschaft und dem stillen, einzelnen Leser, zwischen dem Profiteur eines mäzenatischen Literatursystems und dem Käufer272 eines Produkts auf einem sich entwickelnden Markt. Zweitens ist der inferenzbasierte Kommunikationsprozess erarbeitet worden, an dem der Rezipient teilhat.273 So lässt sich die in der spezifischen Nutzwertästhetik angelegte Interaktion zwischen Text und Rezipient fassen, die sich nicht im bloßen Rezipieren und Reagieren auf das Gebotene erschöpft, sondern die Rezeptionshaltung im Prozess des Rezipierens immer wieder neu anpasst. Der Modell-Rezipient ist dabei zu heuristischen Zwecken als der ideale Erstrezipient konzipiert, der Bedeutungen angemessen, d. h. im Sinne des Textes zu entschlüsseln vermag und das Funktionieren der im Text angelegten literarischen Kommunikation gewährleistet.274 Das bedeutet, dass er beim Rezipieren 267 Iser 1975, S. 257. 268 Barthes 1974, S. 17, dort im Kontext abwertend gemeint. 269 Zum Fortwirken der rezeptionsästhetischen »Provokation« vgl. den Überblick in Müller 2005, S. 199–202. 270 Einen neuen, auch neu systematisierenden Überblick über unterschiedliche Lesermodelle in der Literaturwissenschaft bietet Willand 2014, dessen rein rezeptionsorientiertes Konzept von Fiktionalität (S. 34: »[…] so liegt die Entscheidung, ob ein Text als fiktional oder nicht-fiktional rezipiert wird, in buchstäblich »letzter Instanz« beim jeweiligen Rezipienten«) und Vorstellung von textbeeinflussendem Weltwissen (das er aus zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen extrahieren will, ebd., S. 44) seinen Zugang zum Rezipienten allerdings als nicht geeignet für die Analyse vorbarocker Literatur ausweisen. 271 Jannidis 2004, S. 81. 272 Den Einschnitt am Beginn dieser Entwicklung markiert wohl Diebold Lauber mit seiner Produktion von Handschriften, die ihre Abnehmer finden müssen, vgl. Müller 1988, S. 155. Brandis 1984, S. 179 geht davon aus, dass Laubers Käuferkreis dem der auf Bestellung gefertigten Handschriften entsprochen habe, genauere Angaben bietet Viehhauser-Mery 2009, S. 24f. (vgl. dort auch die Zusammenfassung der Forschung). Vgl. Müller 1983, S. 434 zu den Anfängen der Marktentwicklung bei Lauber. Zum Buch als Ware vgl. Röcke 2004, S. 463. Leipold 1974, S. 269 spricht vom »Warencharakter des Buches«, Lange 1974, S. 34 betont den spezifischen, anderen Waren nicht vergleichbaren Status des Buches, dessen Leser niemals nur Konsument ist. Vgl. auch Flood 2001, S. 175 zum wirtschaftlichen Aspekt des Buchdrucks. 273 Jannidis 2004, S. 52. Vgl. auch Jannidis 2006, S. 138–141. 274 Vgl. Jannidis 2004, S. 28 mit Anm. 23 zur abweichenden Positionierung des Literaturwissenschaftlers zum Text.
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all das aktualisiert, was der Autor dem Text an rezeptionslenkenden Strukturen eingeschrieben hat; ein solcher Rezipient arbeitet also vorbildlich mit dem Text.275 Um dies zu gewährleisten, müssen Autor und Rezipient dasselbe Weltwissen voraussetzen und auch Genrewissen (also eine angemessene Erwartungshaltung) teilen,276 denn nur dann kann der Rezipient die »semiotischen Trigger«277 des Textes optimal nutzen. Und nur diese Trigger wiederum erlauben es dem Rezipienten, sekundäre Bedeutungsmerkmale abzuleiten, also den Text gegen den Strich zu bürsten und zu hinterfragen.278 Der Text ermächtigt seine Rezipienten auf diese Weise zum selbstbestimmten Umgang mit dem Rezipierten.279 Auf dieser Grundlage wird es z. B. möglich, die Jaußsche Idee der »Identifikation«280 zu verfeinern, die nun in ein umfassenderes Konzept von »Wirkungspotenziale[n]«281 eingebettet erscheint:282 Wirkungspotentiale ruhen auf dem Zusammenspiel von Gefühl und Verstand sowie auf der je unterschiedlichen Gewichtung von Spannung, Empathie und Sympathie in der Rezeptionslenkung. Die Vernetztheit der unterschiedlichen Rezeptionsangebote bzw. der fließende Übergang zwischen verschiedenen Konzepten der Identifikation wird dadurch besonders betont.283 Die Neurologie hat anhand der »Attrappentheorie« herausgearbeitet, dass der erste Zugang zu einem Text, sei er fiktional oder nicht, emotionaler Natur ist – und genau das ist es, was den Romankritikern des 17. Jahrhunderts eine solche Angst einjagt. Erst nach kaum messbar kurzer Wahrnehmungszeit (»Latenzphase«)284 wird die Information kognitiv eingeordnet und weiterverarbeitet,285 entweder mit Schwerpunkt auf einer affektiven Reaktion oder aber auf einer rationalen Ebene – und das ist etwas, was die Romankritiker dem Publikum wiederum nicht zutrauen, weil sie dessen Fähigkeiten und Intelligenz anzweifeln. Wenn Kognition durch Emotion ausgelöst erscheint und wieder in eine 275 Vgl. auch Schnell 2008, S. 51: »Aber an einem Text arbeiten eben auch die Rezipienten mit – und dies haben Autoren schon oft in ihre Erzählstrategie eingearbeitet.« 276 Jannidis 2004, S. 70f. 277 Jannidis 2004, S. 78, dort kursiv. 278 Vgl. dazu aus narratologischer Perspektive Fludernik 2013, S. 126f. 279 Vgl. auch Christmann/Schreier 2003, S. 247. 280 Differenzierungen bietet z. B. Mellmann 2006, S. 105–112. 281 Vgl. zum Begriff Hillebrandt 2011, S. 47–51. 282 Erste Einblicke gewähren z. B. Gross 1994, Alfes 1995, Levinson 1997, Benthien et al. 2000, Tooby/Cosmides 2001, Kasten 2003, Ridder 2003, Winko 2003, Herding 2004, Jannidis 2004, Mellmann 2006, van Holt/Groeben 2006, Eder 2007, Schnell 2008, Mellmann 2010 & 2010a, Baisch 2010, Hillebrandt 2011, Schnyder 2013. Zu Mellmann 2010 vgl. auch die Einschätzung von Schnell 2014, S. 138f., bes. S. 139. 283 Vgl. Gross 1994, S. 2. 284 Mellmann 2006, S. 32. 285 Vgl. auch Christmann/Schreier 2003, S. 247 zur Definition kognitiver Textverarbeitung.
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emotionale Reaktion münden kann, verwischen die Grenzen zwischen den Wahrnehmungsweisen eines Textes zusätzlich, das Vorwissen des Rezipienten spielt eine Rolle ebenso wie seine Fähigkeit, sich auf die dargestellten Sachverhalte einzulassen, obwohl sie erzählt und nicht erlebt werden.286 Die Möglichkeiten des Rezipienten, inferenzbasiert an der Sinnstiftung des Textes teilzuhaben287 und mit ihm zu interagieren,288 geht weit über das hinaus, was die Analyse der bloßen Anlage von Wirkpotentialen erhellen kann: Ob und wenn ja auf welche Weise z. B. »pragmatische Bezüge«289 hergestellt werden, ist (lesersoziologisch) nicht zugänglich, da die entsprechenden Daten fehlen. Konstatiert werden kann nur der Impetus des (Para-)Textes, solche Bezüge herzustellen. Dass dabei nicht strikt zwischen einer affektiven und einer kognitiven Anteilnahme getrennt werden kann, ist augenscheinlich; zu eng sind die Ebenen miteinander verwoben, zu schnell können sie ineinander übergehen bzw. einander ablösen,290 Rezeptionsangebote sind nicht unbedingt kohärent für einen ganzen Text festgelegt, sondern können situativ differieren. Unterschiedlichste Möglichkeiten der Rezipientenlenkung kommen in Betracht, so z. B. das »Foregrounding«,291 Fokalisierung,292 codierte Emotionsdarstellungen293 oder auch Wissenshierarchien zwischen Figuren, Erzähler und 286 Vgl. zum Themenfeld »Lesen als Vertrag« den entsprechenden Abschnitt bei Gross 1994, S. 22–25. Zur Freude an der fiktionalen Darstellung von Dingen, die im realen Leben unangenehm empfunden würden, vgl. Mellmann 2006, S. 26f. und Mellmann 2006a, S. 151f. Vgl. ebenfalls Winko 2003, S. 38. Knapp 2014, S. 16, Anm.15 betont, dass der Fiktionsvertrag für mittelalterliche Erzähltexte nicht einfach vorausgesetzt werden kann: »Die damalige Poetik gibt dazu nicht den geringsten Anlaß«. Zu bedenken bleibt allerdings, dass die damalige Poetik auch keinen Anlass gibt, von der Existenz volkssprachiger Romane auszugehen, so dass jenseits der kodifizierten Vorgaben Spielräume für ein individuelleres Verhältnis zwischen Leser und Text denkbar sind. 287 Christmann/Schreier 2003, S. 268 sprechen vom »Leserfaktor« in der Sinnkonstitution des Textes. 288 Vgl. Gross 1994, S. 1. 289 Eming 2013a, S. 240. 290 Dies ist vorbereitet z. B. bei Keitel 1996, S. 14, zur graduellen Anlage vgl. etwa van Holt/ Groeben 2006, S. 111. 291 Zum Begriff vgl. van Holt/Groeben 2006, S. 127. 292 Vgl. dazu umfangreich Dimpel 2011 auf der Basis der grundlegenden Arbeit von Hübner 2003, und auch Barthel 2008, S. 53–65, bes. S. 56. 293 Vgl. zur rezeptionslenkenden Rolle von literarisch präsentierten Emotionen Kasten 2003, S. XV, außerdem Eming 2006, S. 65f. und Schnell 2008, bes. S. 51 sowie Winko 2003a, S. 338–341 mit Präsentation und Thematisierung als möglichen »Typen von Bezugnahmen auf Emotionen in literarischen Texten«. Ich setze mit Schnell 2008 voraus, dass die verschiedenen Emotionen literarisch doppelt codiert präsentiert werden (Schnell 2008, S. 22f.), d. h. es wird die lebensweltlich bekannte und von einer größeren sozialen Gruppe geteilte Emotion mit ihren sozialen und situativen Voraussetzungen (Tod führt zu Trauer etc.) als »Emotionswissen des Publikums« (Schnell 2008, S. 40) aufgegriffen und literarisch neu funktionalisiert, um eine Beeinflussung der Rezipienten in verschiedenem Maße zu erreichen. Diese Beeinflussung kann – je nach Situierung der codiert dargebotenen Si-
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Rezipienten.294 Daneben ist auch die »antizipatorische[] Empathie«295 zu berücksichtigen, die zugleich eine spezifische Form von Spannungserzeugung mit sich bringt. Gerade die Empathie und die Sympathie haben in der jüngeren Forschung intensive Aufmerksamkeit erfahren, die über den engen Rahmen der mediävistischen Analyse hinausreichen.296 Als Themenfeld ist die Empathie dabei in der Altgermanistik ein junges Phänomen,297 Sympathiesteuerung hingegen hat auch in der Mediävistik bereits umfangreiche Aufmerksamkeit gefunden,298 obschon sie – im Vergleich zur Empathie – nur einen begrenzten Ausschnitt der möglichen Reaktionen auf literarische Texte in den Blick nimmt. Empathie als Prozess, durch den »texts invite readers to feel«,299 definiert hingegen breit gefasst und allgemein eine Affektion,300 ein »einfühlendes Verstehen«,301 das bis zur »emotional contagion« reichen kann.302 Während Empathie als emotionale Reaktion auf den Text zu bestimmen ist, operiert die Spannung303 hingegen an der Schwelle von emotionaler und kognitiver Reaktion auf den Text und basiert auf dem Wissensmanagement der Dichtung. Der Rezipient verspürt einen »Mangel an Information«, und dies ist
294 295 296 297
298 299 300 301 302 303
tuation im Gesamt der Darstellung – von der Erregung von Aufmerksamkeit über Sympathie bis hin zu Mitleiden, also Empathie im eigentlichen Sinne, reichen. Das bedeutet, dass keine direkte Gleichung zwischen textintern inszenierten Emotionen und textexternen emotionalen Reaktionen auf diese Inszenierung möglich ist, sondern dass im Gegenteil die literarischen Emotionen im größeren Zusammenhang der Rezipientenbeeinflussung instrumentalisiert werden. Zusätzlich gilt, dass Emotion und Kognition nicht in Opposition zu sehen sind, vgl. grundlegend Perler 2011, S. 36 zu den mittelalterlichen Grundlagen einer solchen kognitiven Verortung von Emotionen. Vgl. dazu auch Stanzel 1981, S. 25. van Holt/Groeben 2006, S. 123. Breithaupt 2009, S. 52 weist darauf hin, dass Empathie da möglich wird, »wo wir den anderen auf bestimmte Art und Weise narrativieren können« – das macht deutlich, wie eng literarische Darstellung und Weltwahrnehmung in der Empathie verknüpft sind. Vgl. Türk 2010, S. 98 und ebd., S. 85: Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert wurde nicht Empathie analysiert, sondern wurden die Affekte in den Mittelpunkt einer auf der antiken rhetorischen Tradition stehenden Analyse gestellt; Mitleid wird dabei von Türk als Methode der »Affektbegrenzung« (Breger/Breithaupt 2010, S. 16) vorgestellt. Zu den antiken Grundlagen vgl. Campe 2010, S. 65–84. Vgl. grundlegend Dimpel 2011 sowie Dimpel/Velten 2016 mit Hinweisen auf neuere Literatur. Keen 2010, S. 69, Mellmann 2015, S. 179f. Vgl. deshalb auch zur Kritik an der Anwendung des Empathiebegriffs Hillebrandt 2011, S. 75. Mellmann 2006, S. 111 spricht von der Fähigkeit, »eine Parallelisierung von eigenen und Figur-Emotionen« vorzunehmen. Barthel 2008, S. 3f. Keen 2010, S. 63. Zur emotionalen Ansteckung vgl. auch Breithaupt 2009, S. 30–35. Zur Spannung als Rezeptionsphänomen vgl. Mellmann 2007, S. 245. Zur Notwendigkeit, die Bedeutung von Spannung je situativ zu bestimmen, vgl. Mellmann 2006, S. 138 u. S. 139f.
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verbunden mit dem Wunsch, diesen Mangel zu beheben.304 Das hat nichts mit Spannung im Sinne moderner Kriminalliteratur zu tun,305 die Spannung vormoderner Texte306 ist stattdessen mit Lugowski307 im Spektrum von Wie-Spannung und Ob-Überhaupt-Spannung zu verorten.308 Damit ist die Wissensdistribution im Text für die Spannung entscheidend: Die Spannung des »Ob überhaupt« legt den Schwerpunkt auf das »Dunkel-Undurchschaubare[] alles Zukünftigen«,309 stellt also den Ausgang der Handlung zur Disposition und arbeitet mit kausaler Motivation. Die Wie-Spannung hingegen fokussiert die konkrete Hinleitung zu einem vorab bekannten Ergebnis im Sinne der finalen Motivation.310 Diese kategoriale Zweiteilung schließt Mischungen nicht aus, sie sind eher die Regel als die Ausnahme. In der Theorie zur Rezipientenlenkung schlägt sich die Spannung im Rahmen der empathielenkenden Möglichkeiten der Wissensdistribution durch Erzählerkommentare, Vorausdeutungen u. ä. nieder,311 die den Rezipienten zu Vorannahmen und Vermutungen verleiten und auch in die Irre führen können.312
Wirkungspoetik, Rezeptionsästhetik und der Roman Der »Zettel« (Heidegger) des Romans führt in der Frage nach der Spannung somit exemplarisch zusammen, was die intendierte Rezeption bestimmt und lenkt: Wissenshierarchien und emotionale Bindung, analytisches Interesse und anteilnehmendes Sich-Einlassen auf das Romangeschehen, Affektation und kognitive Ansprache. Die Rezeption ist nicht auf einen Zugang zum Text festgelegt, sondern wird situativ je neu ausgehandelt erstens durch das Angebot des Textes und zweitens in der durch unterschiedliche Faktoren bedingten Reaktion des Rezipienten (im Sinne einer inferenzbasierten »Kommunikation« zwischen Text und Rezipient). 304 Anz 2003, S. 464. Vgl. allg. auch Gross 1994, S. 23. 305 Zu Suspense, Mystery und Surprise vgl. Junkerjürgen 2002, S. 67 und S. 72, zu Suspense und Tension vgl. Langer 2008, S. 17f. 306 Vgl. grundsätzlich Schuhmann 2008 unter Rekurs auf die Kategorien Lugowskis (ebd., S. 138). Ackermann 2008, S. 37 bringt mit dem angenommenen Epochenwechsel zur Moderne eine Wandlung des Spannungsbegriffs in Anschlag. 307 Zur Bedeutung Lugowskis für die Mediävistik allg. vgl. Haustein 1999, zur Spannung bei Lugowski einleitend Anz 1998, S. 157f. 308 Vgl. dazu auch Schulz 2010, S. 209. 309 Lugowski 1994, S. 40. 310 Vgl. die prägnante Zusammenfassung bei Müller 1999, S. 148f. 311 Vgl. dazu Langer 2008, S. 26. 312 Nur am Rande sei angemerkt, dass im Rahmen der Wie-Spannung auch Elemente »thematischer Überfremdung« (Lugowski 1994, S. 24) bzw. aggregativer Überdetermination (Schulz 2010, S. 217) genutzt werden können – ein Überangebot an Erklärungen verleitet die Rezipienten hierbei zu eigenmächtigen Vereindeutigungen.
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Die Übergänge sind fließend, Angebote ergänzen sich, können situativ wirksam sein und einander auch widersprechen (etwa im Zusammenspiel von paratextueller Anleitung und Rezipientenlenkung im Text). Die Methodenvielfalt im Bereich der Rezipientenlenkung verbietet jede systematische Erfassung über die Einzeltextanalyse hinaus, als rhetorische Kunst ist die vormoderne Poetik prinzipiell dazu in der Lage, jede rhetorische Strategie und jede poetische Strategie anzuwenden, um mit ihren Rezipienten in Kontakt zu treten. Auch wird nicht jede Reaktion der Rezipienten vorausberechnet, und nicht jede Interaktion mit dem Text glückt. Entscheidend ist vielmehr erstens, dass Literatur vor der Zeit des selbstbezogenen Kunstgenusses und der modernen Ästhetik Literatur im Gebrauchszusammenhang ist, also Literatur für Rezipienten. Damit gilt zweitens, dass ein Nutzwert intendiert wird, dass eine Wirkungspoetik darum bemüht ist, Lehren zu bieten – im Sinne einer praxeologischen Lesart wird damit auch die Frage nach dem fiktionalen Status der Romane ihrem Nutzwert untergeordnet und erhalten fiktive Elemente ihre Rechtfertigung im Dienste der utilitas. Das hebelt die Fiktionalitätsdebatte der Mediävistik nicht aus, ergänzt aber den Fokus, da metapoetische Reflexionen, wie sie schon Gottfried dem ›Tristan‹ und Wolfram dem ›Parzival‹ einschreiben, in einen größeren praxeologischen Zusammenhang eingebettet erscheinen: Auch das Spiel mit der Fiktionalität erhält so einen rezeptionsbezogenen Sinn und erweist sich als wirkungspoetisch relevant. Drittens und letztens präsentieren die Romane eine Poetik in actu, die in Interaktion mit der zunehmenden paratextuellen und kritischen Debatte der Grenzen und Lizenzen der Gattung zu sehen ist: Jeder Roman, jede Romanfassung aktualisiert ein spezifisches Muster intendierter Rezeption, das individuell auf den anvisierten Gebrauchszusammenhang und das vorgestellte Publikum zugeschnitten ist, und jeder der Texte bezieht die Rezipienten aktiv in die Sinnstiftung mit ein. Die Schlaglichter aus der Entwicklung der Gattung, die nun im zweiten Teil der Arbeit geboten werden sollen, können eine umfassende, enzyklopädische Darstellung nicht ersetzen, sondern nur erste Ansätze dazu bieten, die Geschichte des Romans »vor dem Roman« zu schreiben. Dabei kommt es mir vor allem darauf an, den Details der jeweiligen Romane gerecht zu werden und die Feinjustierungen nachzuvollziehen, die zu finden sind. In einem zweiten Schritt will ich die Ergebnisse in den größeren Verständniszusammenhang der sich entwickelnden Gattung einordnen und große Linien ausmachen, die den Wandel des Rezeptionsverständnisses zeigen, der sich im Übergang von der Handschrift zum Druck, von Vers zu Prosa und vom mäzenatischen Literaturbetrieb zum Buch als Ware vollzieht. Dabei werden die Grauzonen und die Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen von zentraler Bedeutung sein – auf diese Weise spiegelt die Literatur die langsame, nicht stringente und nicht teleologische Entwicklung der Rezeption wider, die sie im gleichen Atemzug mit zu formen unternimmt.
Der ›Wilhelm von Österreich‹ und seine intendierten Rezipienten
Einführendes zu Text und Fassungen Der ›Wilhelm von Österreich‹, datiert auf 1314, steht an einer Umbruchstelle der spätmittelalterlichen Literatur :1 Im beginnenden 14. Jahrhundert ist nicht nur die produktive Hochphase der höfischen Romane / la Hartmann und Wolfram lange vorbei, auch wenn die Texte in Abschriften und Kurzfassungen weiterhin präsent bleiben und eine Art Motiv- und Strukturrepertoire für die nachklassischen Romane bieten.2 Vor allem kommt die Gruppe der Minne- und Aventiure-Romane3 mit dem ›Wilhelm‹ zu einem Höhepunkt und Abschluss,4 nur der ›Friedrich von Schwaben‹ folgt ihm noch nach.5 Johanns von Würzburg Dichtung präsentiert die Fülle der Erzählmöglichkeiten ebenso wie die Verfügbarkeit narrativer Muster, er reflektiert das romanhafte Erzählen allgemein und den eigenen Status als epigonale Dichtung: Das alles macht den Text ganz besonders geeignet für eine Analyse der intendierten Rezeption, zumal er in den hundertsiebenundsiebzig Jahren zwischen Datierung des Werks und dem letzten 1 Schneider 2004, S. 11 erwähnt den Bezug zur Artus-Dichtung mit Verweis auf Kiening 1993, S. 476, der von einem »im Umbruch begriffenen« Erzählen um 1300 ausgeht. Vgl. auch Vollmann-Profe 1991, S. 124. Auf die Verbindungen zwischen mittelalterlichem Minne- und Aventiure-Roman und barockem Liebes- und Staatsroman weist Juergens 1990, S. 358, Anm. 42 eher kursorisch hin; dass die Motivtradition nicht mit der Gattung des Minne- und Aventiure-Romans endet, möchte ich im Folgenden für die vorbarocke Zeit plausibel machen. 2 Strohschneider 1991 zu Kurzfassungen der höfischen Romane, ebenso Schnell 1984. 3 Ridder 1998, S. 1 nennt die Gattungsbezeichnung eine »Verlegenheitslösung« für eine außerordentlich ambige Textgruppe. An der Ambiguität hat sich nichts geändert und auch neue Versuche, die Texte z. B. als »Fürsten- und Herrschaftsromane« (Herweg 2010, S. 38) zu klassifizieren, ändern daran nichts. Vgl. zur Binnendifferenzierung Röcke 1984, eine neue Übersicht über die Gruppe und ihre Ränder bietet Putzo 2013. 4 Vgl. Herweg 2010, S. 24. Meyer 2013, S. 113, Anm. 2 nennt ihn einen »Nachzügler der Produktionswelle des späten 13. Jahrhunderts«. 5 Datierung in Vers 19576f. Ich zitiere nach der von Regel 1906 besorgten Ausgabe unter Angabe der Verszahl in Klammern im Text. Abweichende Zitate aus den Handschriften werden gesondert mit Angabe der Sigle gekennzeichnet.
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Der ›Wilhelm von Österreich‹ und seine intendierten Rezipienten
bekannten Prosadruck von 1491 immer wieder bearbeitet, neu aufgestellt und verändert wird, um unter immer neuen Auspizien Rezipienten zu gewinnen, zu behalten und zu lenken. Die Gruppe der Minne- und Aventiure-Romane unterscheidet sich vom »klassischen« Roman aus der Zeit um 1200 cum grano salis dadurch, dass sie vorhandene Elemente, nämlich Liebe und Abenteuer, neu diskutiert und neu aufeinander bezieht.6 Davon macht auch der ›Wilhelm‹ keine Ausnahme: Er »privatisiert«7 das Auftreten von Liebe und Abenteuer. Es geht ihm nicht mehr um die Gemeinschaft als ethischen Fluchtpunkt, sondern um die Liebenden selbst. Damit verschiebt der Minne- und Aventiure-Roman allgemein und der ›Wilhelm‹ im Speziellen das vorgängige narrative Gefüge (etwa des Artusromans) grundlegend, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens: Die »Subjektivität des egomanen Protagonisten«8 dominiert über das höfische Ethos. Und zweitens: Die neue Hierarchisierung von Minne und Aventiure macht das Abenteuer de facto zu einer Angelegenheit, die um der Liebe willen zu bestehen ist.9 Die Aventiure ist ihrer ursprünglichen Funktion beraubt, zwischen Held und Gesellschaft zu vermitteln.10 Das alles hält den Erzähler jedoch nicht davon ab, seinen Protagonisten als idealen Helden über den grünen Klee zu loben,11 und in diesem Lob klingt das Ethos der höfisch-klassischen Romane als Bezugspunkt weiter an. Alles in allem liest sich die Liebes- und Abenteuergeschichte im ›Wilhelm‹ auf dieser Basis wie folgt: Leopold von Österreich wallfahrt zum heiligen Johannes, den er um einen Erben bittet; auf der Fahrt begegnet ihm der heidnische König Agrant von Zyzya, der sich ihm mit demselben Ansinnen anschließt. Unter dem Stern der Venus werden nach erfolgreicher Wallfahrt Wilhelm von Österreich und Aglye von Zyzya geboren, die füreinander bestimmt sind. Früh macht sich Wilhelm, der durch ein von der Minne eingegebenes Bild geleitet wird, auf, um seine Minnedame zu suchen – nach einer abenteuerlichen Fahrt auf dem Rücken eines bewaldeten Fisches12 wird er von Agrant unerkannt als Ziehsohn
6 Vgl. mit Blick auf die Funktionalisierung von Aventiure auch Häberlein 2015. 7 Dies unterscheidet die Texte von der Tristan-Tradition, der die gesellschaftliche Bindung der Minne problematisch geworden ist und in der die Spannung aporetisch auserzählt wird, ohne eine Glättung zu erfahren. 8 Herweg 2011, S. 96. Zur Subjektivität der Figur vgl. Schneider 2004, S. 23, die die »Vielstimmigkeit des Textes« in den Selbstreflexionen Wilhelms ausgedrückt sieht. Zur Egomanie als Signum spätmittelalterlicher Helden vgl. auch die Bemerkungen von Podleiszek 1964, S. 34. 9 Anders argumentiert Kiening 1993, S. 483 für den ›Wilhelm von Österreich‹; vgl. Röcke 1984, S. 398. 10 Zu den Ausdifferenzierungen des Aventiure-Konzepts in der mittelhochdeutschen Literatur allg. vgl. die Einblicke in den einschlägigen Beiträgen im Sammelband Dicke et al. (2006). 11 Zu Wilhelm als Mörder vgl. etwa Meyer 2013, S. 130f. 12 Vgl. Egidi 2004, S. 95 zum Charakter der Grenzüberschreitung.
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aufgenommen. Er tarnt sich als Heide und nennt sich Ryal.13 Darin ist das Scheitern seiner Kinderminne14 zu Aglye angelegt, denn die Eltern wollen, als sie die unbotmäßige Liaison bemerken, ihr Kind lieber einem ständisch angemessenen Bräutigam geben, als es einem Dahergelaufenen ohne lineage zu überlassen. Die Liebenden umgehen das in der Folge verhängte Kommunikationsverbot durch Briefe, die das Vermissen zelebrieren, die Lage aber nicht beeinflussen können.15 Nur der Umstand, dass der erfolgreiche Brautwerber Walwan durch einen Angriff auf seine Heimat an der Hochzeit mit Aglye gehindert wird, verschafft ihnen Aufschub. Ryal alias Wilhelm muss den Bräutigam begleiten, als dieser zur Kriegsvorbereitung nach Hause zieht – so soll er von seiner Geliebten ferngehalten werden. Er wird als Bote zum Gegner, dem König Melchinor von Marroch entsandt, der im Ruf steht, Überbringer von Kriegserklärungen hinzurichten. Auf diese Weise will sich Walwan des Nebenbuhlers entledigen. Der Weg nach Marroch wird für Wilhelm eine Reise durch Anderwelten: Er begegnet dem Hauptmann der Aventiure und erfährt von seiner Bestimmung zum Helden, er durchfährt einen Feuerberg, in dem er den Weltursprung zu Gesicht bekommt und mit einem besonderen Helm ausgestattet wird. Begleitet von einem Bracken, der Aventiure aufspürt, gelangt er an sein Ziel, wo er durch Zufall seine Tugend unter Beweis stellt: Als er sich auf den Stuhl des Virgilius setzt, fährt dieser mit dem tugendhaftesten Mann in einen symbolischen Himmel auf. Folgerichtig wird der Held trotz der schlechten Botschaft von Melchinor begnadigt und kämpft zusammen mit ihm und dessen Sohn Wildomis, dem er in geselleschafte (5837) gleichgeordnet ist, gegen Walwan. Er tötet den Nebenbuhler, erringt aber trotzdem nicht die Braut, die aus politischen Gründen Wildomis versprochen wird. Wieder zelebrieren Wilhelm und Aglye in Briefen ihre Verzweiflung, und beim Turnier vor der Hochzeit gelingt es Wilhelm, auch den zweiten Bräutigam zu töten. Vor der bevorstehenden Hinrichtung für die Freveltat rettet ihn eine Botin der Königin Crispin, Parklise, die auf einem Drachen heranfliegt und den König von Marroch zur Herausgabe des Gefangenen überredet: Sie überlistet ihn mit einem Brief, den angeblich Mohammed selbst geschrieben hat und der die Überantwortung des Delinquenten in ihre Hand verlangt. Für Crispin muss Wilhelm in der Folge gegen den Teufelssohn Merlin kämpfen, den Preis für seinen Sieg – die Hand Crispins – verschmäht er jedoch. Die zurückgewiesene Herrscherin vermählt ihn im Inkognito mit Aglye, er gibt sich dabei als Crispins Neffe (und damit als Heide) aus. Nach Bekanntwerden des Betrugs kommt es zu einer Monumentalschlacht zwischen Christen und Heiden, an deren Ende der Sieg der Christen und die Bekehrung der Heiden stehen. Bis zur Geburt seines Sohnes Friedrich weilt Wilhelm in Österreich, sein zweiter Aufenthalt in Zyzya endet schnell tödlich: Bei einer Einhornjagd aus curiositas wird er von einem aufständischen, nicht bekehrten Heiden ermordet, seine Frau stirbt ihm nach, der Sohn Friedrich wird nach Österreich gebracht, wo er die 13 Das macht ihn zum Begehrenden und zum Hindernis des Begehrens in einer Person und ist anschlussfähig an den »Begehrenskonflikt«, den Wenzel 2013, S. 218 für den ›Reinfried von Braunschweig‹ beschreibt. 14 Zur Spezifik dieser Minne, die den denkbaren Vorbildern der Konstellation fehlt, vgl. Schneider 2004, S. 40. 15 Vgl. Röcke 1996, S. 98 zur Artifizialität der Kommunikationssituation und der Briefe.
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Der ›Wilhelm von Österreich‹ und seine intendierten Rezipienten
Nachfolge seines zwischenzeitlich ebenfalls verstorbenen Großvaters antritt. Nach eigenem Bekunden im Epilog hat Johann von Würzburg seinen ›Wilhelm von Österreich‹ in der Karwoche 1314 vollendet (19549); die Geschichte erhält so einen vorösterlichen Charakter, der zum erstaunlichen Ende passt, das gerade kein Happy End ist und eigentlich eine Fortsetzung herausfordert (vgl. dazu 19478f.).16
Wilhelm kämpft für sich, er liebt gegen die Gesellschaft und bleibt auch nach dem Happy End selbstbezogen – so selbstbezogen, dass er das glückliche Ende aufs Spiel setzt, seine Frau allein lässt und einem Attentat zum Opfer fällt. Das tragische Ende ist selbstverschuldet, hat aber keinerlei Relevanz für das Herrschaftsgefüge in Österreich, denn ob nun Wilhelm oder sein Sohn regiert, ist letztendlich gleichgültig: Wilhelm agiert, reagiert, siegt und scheitert in einem Zwischenraum, der nur ihm gehört und nur auf ihn bezogen ist. Das neue Zusammenwürfeln17 von – den Zeitgenossen mutmaßlich aus älteren Dichtungen – bekannten Elementen, das im ›Wilhelm von Österreich‹ auf Schritt und Tritt begegnet, bringt unweigerlich Spannungen mit sich. Die neuere Forschung versucht, diesen »absichtsvollen bricolage«18 nicht nur eben als absichtsvoll zu verstehen, sondern auch als sinnstiftend, indem sie auf die Hybridität,19 die Ambiguität,20 den Summencharakter21 sowie die enzyklopädische Anlage des Textes hinweist und auch die Spannung betont, die zwischen Fiktion und historia besteht.22 So wird der ›Wilhelm‹ als Imagination zweiten Grades erkennbar, die Spielräume über die Grenzen des realistisch Möglichen hinaus auslotet.23 Überschussphänomene, die sich durch das umfangreiche, sammelnde Anhäufen von Fakten und Perspektiven ergeben, führen zu einem Deutungsüberangebot, im letzten Ende zu einem Durcheinander an konkurrierenden Möglichkeiten, Kohärenz zu erreichen – das ist der Kern der hybriden Lesart des ›Wilhelm von Österreich‹ (im Sinne eines »poetologischen Kon-
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Vgl., allerdings mit anderer Deutung der Datierung, Herweg 2010, S. 437. Mayser 1931, S. 17 erkennt eine »mosaikartig[e]« Konzeption des ›Wilhelm‹. Mertens 1996, S. 85. Herweg 2010, S. 54 und Huschenbett 1983, S. 254. Herweg 2011, S. 88. Vgl. auch schon Mayser 1931, S. 118: »Johann hängt mit hundert Fäden mit den geistigen und literarischen Strömungen des 13. Jahrhunderts zusammen«. 22 Herweg 2010, S. 56. Zum Aspekt der Historisierung im Minne- und Aventiure-Roman vgl. allg. Ebenbauer 1985 sowie Müller 1985, S. 70. Friedrich 2012, S. 80 betont zudem die Rolle von Erfahrung für den Prosaroman als historia. Es ist mit Glauch grundsätzlich zwischen Fiktion und Fiktionalität »im modernen Verständnis einer ›literarischen Autonomie‹« (Glauch 2009, S. 181) zu unterscheiden. Letztere ist nicht einfach als konstituierendes Kriterium einer vormodernen Romanpoetik vorauszusetzen und bleibt eher Akzidens als Konstituens des Romans im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. 23 Allg. Müller 2007, S. 12.
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zept[s] reflexiver Sinnstiftung«)24, der in dieser Hinsicht paradigmatisch für die »Gattung« bzw. Textreihe der Minne- und Aventiure-Romane steht. Die Tendenz zur hybriden (Über-)Forderung der Rezipienten scheint allen Romanen der Reihe eigen; was den ›Wilhelm‹ vor (fast) allen anderen auszeichnet, ist seine große Beliebtheit bis ans Ende der Inkunabelzeit.25 11 Handschriften und 8 Fragmente der Versfassung26 sowie drei handschriftliche und zwei gedruckte Zeugen in Prosa27 (Handschrift Zürich 1477, Handschriftenfragment München 2. Hälfte 15. Jahrhundert, Handschrift Karlsruhe 16. Jahrhundert, Drucke 1481 und 1491) belegen dies,28 wobei allerdings keineswegs immer derselbe Text in derselben Form überliefert wird – stattdessen kennzeichnet den ›Wilhelm‹ eine Varianz, die für die vorbarocke Arbeit am Roman als entstehender Gattung exemplarisch einstehen kann,29 und das macht ihn auch als Untersuchungsgegenstand besonders geeignet. Die Vielfalt von Fassungen ist dabei von Anfang an in der Überlieferung greifbar. Zwei Hauptredaktionen, repräsentiert durch die Gothaer Handschrift aus den 1320er Jahren30 und die Heidelberger Handschrift (Cpg 143),31 die gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden sein dürfte,32 stehen dafür ein. Die Redaktionen unterscheiden sich zum einen prominent im Bereich der Gönneradressierung,33 zum anderen aber auch poetologisch: Die Gothaer Redaktion bringt eine zweite Autorfigur namens Dieprecht ein, die am Text mitarbeitet (9098);34 Dieprecht ist Aventiurensammler und Schreiber : der hat ditz buoch mir auch geschriben 24 25 26 27 28 29
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Wenzel 2013, S. 209. Die Überlieferung schlüsselt Dietl 1999, S. 13–33 detailliert auf. Dietl 1999, S. 13 betont die relativ weite Verbreitung in relativ kurzer Zeit. Mit dem Prosaroman beschäftigen sich Sharma 1969, Brandstetter 1971, Melzer 1972, Straub 1974. Zu einem möglichen dritten Druck aus den 1520er Jahren vgl. Beckers 1974, S. 156. Diese komplexe Überlieferungslage macht es auch nötig, die inzwischen mehrfach (zuletzt 2003) nachgedruckte Edition Regels, die sich selbst explizit nicht als kritische Textherstellung versteht (Regel 1906, S. VII), zu ersetzen. Entsprechende Bemühungen, die Rohr 2002 angekündigt hat, haben bisher zu keinem Ergebnis geführt. Regel arbeitet mit der Gothaer Handschrift und zieht die Heidelberger Redaktion nur ergänzend heran (Regel 1906, S. XXI). Datierung nach Schneider 1987, Bd. I, S. 256, Anm. 211. Nicht Cpg 145, wie Regel 1906, S. X angibt. Das Digitalisat der Handschrift ist online zu finden, vgl. dazu die Angabe im Literaturverzeichnis. Zimmermann 2003, S. 314. Vgl. auch die Hinweise bei Dietl 1999, S. 25. Die Heidelberger Redaktion nennt die Habsburger als Gönner und rekurriert auch auf die Babenberger (Mertens 1996, S93 nennt dies eine »Pluralität mäzenatischer Masken«), die Gothaer Redaktion kombiniert die Nennung der Habsburger mit den Hohenberg-Haigerlochern (vgl. hierzu wiederum Mertens 1996, S. 86) und sucht die Anbindung an den Deutschorden. Dietl 1999, S. 43 sieht Dieprecht in einer »Verfasserrolle«, berücksichtigt aber die Apostrophe durch die Minne nicht. Vgl. dagegen Mertens 1996, S. 90, der Dieprecht als eine Erzählermaske liest und so eine Kritik an der Minne, die in der Passage geäußert wird, vom Erzähler weg auf eine andere Figur gelenkt sieht.
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(13271).35 Er tritt als entschuldigende und vom ethisch bedenklichen Handlungsverlauf ablenkende Instanz auf, Dieprecht der werde (13278) bürgt ebenso wie Johannes der tugend schribaer (13228) für die Ehrhaftigkeit der Handlung, als der Held seine Braut durch einen Betrug von ihren Verwandten gewinnt.36 Diesen Dieprecht gibt es in der Heidelberger Redaktion nicht, damit fehlt auch die ethisch fundierende Aufspaltung der Schreibkonzepte aus G, die zwischen Erzähler und »besserem« Erzähler Dieprecht unterscheidet. Im Folgenden will ich auf die Gothaer Redaktion des ›Wilhelm‹ zurückgreifen, die in der Edition Regels auch die Grundlage der bisherigen Forschung zu Johann darstellt;37 sie formuliert eine Art »Maximalprogramm«, dem die späteren Bearbeitungen dann entgegen zu stellen sind. Vergleichen will ich diese Fassung mit der Stuttgarter Kurzfassung in Versen, die auf 1472/4 datiert (S) und mit der Prosafassung des ersten Druckes von 1481, um so einen Eindruck von den Bearbeitungstendenzen im medialen Umbruch von der Handschrift zum Druck anhand zweier zeitlich nah beieinander liegender Zeugnisse zu vermitteln.
Fassungsspezifische Rezipientenlenkung Rezipientenlenkung wurde – für den von Regel edierten Text – vor der »Erfindung« der Hybridität zumeist über die (natürliche) Prozesshaftigkeit der Rezeption und eine (unterstellte) Distanzlosigkeit des Rezipienten gefasst.38 Inzwischen wird für den hybriden Text in der Gesamtschau auf das Ganze der Dichtung eine prinzipielle Unabschließbarkeit der Rezeptionsmöglichkeiten angenommen:39 Der Rezipient erscheint dabei umfassend herausgefordert, wird er doch vom Er-
35 Eine Übersetzung der Passage findet sich bei Mertens 1996, S. 89. Zur Forschungsdiskussion vgl. Dietl 1999, S. 44–46 und Scholz 1987, S. 32–44. Mertens 1996, S. 90f. liest Dieprecht als Rolle eines städtischen Rezipienten, die als Hommage an den Typus des Literatursammlers fungiert. Frenzel 1930, S. 19 will den entsprechenden Dieprecht in einer Urkunde gefunden haben. 36 Zum Heidenbild im ›Wilhelm von Österreich‹ vgl. Herweg 2011, S. 91 und S. 95. Da kein negatives Bild von den Heiden gezeichnet wird, ist das Listhandeln Wilhelms nicht durch den Unwert des Gegenübers gerechtfertigt, es bedarf ausführlicher Legitimierung. Mertens 1996, S. 90 weist darauf hin, dass die Apostrophe Dieprechts durch die Minne im Kontext einer weiteren causa turpis, nämlich der Anklage gegen die Minne wegen ihrer Tatenlosigkeit zu lesen ist. 37 Z. B. Juergens 1990, Ridder 1998, Dietl 1999, Schulz 2000, Schneider 2004, Herweg 2010. Vgl. zu früheren Texten die Forschungsübersicht bei Dietl 1999. 38 Vgl. etwa Ridder 1998, S. 277 und Kiening 1993, S. 475. Mertens 1996, S. 87 spricht vom »Mitvollzug der Lebensfahrt der Protagonisten« durch den Rezipienten. Vgl. auch Geisthardt 2009, S. 43 zur multiplen Lesbarkeit der impliziten Poetik. 39 Herweg 2010, S. 23 fasst den idealen Leser als implizite Struktur des Textes.
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zähler immer wieder im Stich gelassen und zugleich mit der Aufgabe konfrontiert, eigenständig Sinn aus dem hybriden Angebot des ›Wilhelm‹ heraus zu stiften. Unter dieser Prämisse ist jede tatsächliche Rezeption vereinfachend und unterkomplex im Vergleich zu der unabgeschlossenen Masse von Rezeptionsmöglichkeiten, die der Text einem idealen Rezipienten bietet.40 Die Aktualisierung eben dieses Angebotes in der empirischen Rezeption ist allerdings nicht nachzuvollziehen; die Hybridität als produktionsästhetische Diagnose erfährt keine korrespondierende rezeptionsästhetische Einsicht. Der ›Wilhelm‹ erscheint in dieser Lesart vielmehr wie ein Kessel Buntes, der seinen konkreten Sinn erst in der einzelnen, spezifischen Lektüre konkretisiert, die allerdings dem Blick des modernen Interpreten verschlossen bleibt.41 Notwendig ist es deshalb, Hybridität nicht als End-, sondern als Ausgangspunkt der Analyse zu setzen und danach zu fragen, welche Rezeptionsmöglichkeiten und vor allem auch welche Kombinationen von Rezeptionsmöglichkeiten einem hybriden Text eingeschrieben sind, der mehr bietet als eine einsinnige, »einfache« Lesart. Es geht darum, nachzuvollziehen, wann welche Rezeption bevorzugt angeboten und wie die unterschiedlichen Rezeptionsmodi und -ziele zu einander in Bezug gesetzt werden. Da der ›Wilhelm‹ so umfangreich und über einen langen Zeitraum überliefert wird, sind hierfür Vergleich zwischen Vers und Prosa sowie Handschrift und Druck in geradezu paradigmatischer Weise möglich. Als Vergleichspunkte dienen erstens die Erzählerrede mit ihren metapoetischen Qualitäten und zweitens die Ausgestaltung des Handlungsrahmens mit Kürzungen und Aufschwellungen des Dargebotenen. Drittens und auf den beiden Fragestellungen aufbauend kommen zuletzt die Sinnfrage42 und die Tiefenstruktur in den Blick. Das bedeutet die Frage danach, ob für den ›Wilhelm‹ wirklich eine »Poetik des Hybriden« veranschlagt werden kann oder ob, wie ich im Folgenden argumentieren möchte, nicht im Gegenteil die inferentielle Kommunikation zwischen Rezipient und Text immer neu angepasst werden muss, so dass der ›Wilhelm‹ dynamischen Wechselprozessen unterliegt, die sich nicht in einer »merkwürdige[n] Sinnstruktur«43 erschöpfen. Der Bogen, den ich schlage, setzt beim »Höchstmaß der Bezugsvielfalt«44 der Gothaer Redaktion an
40 Vgl. allgemein zum Minne- und Aventiure-Roman Herweg 2010, S. 434f. 41 Vgl. Mayser 1931, S. 7 und zum Anspruch an den Rezipienten Herweg 2010, S. 233 sowie zur Differenz zwischen Anspruch und Realität – allgemein auf die Romane um 1300 bezogen – ebd., S. 435. 42 Vgl. Kiening 1993, S. 493f. zu den neuen »Sinnbildungsprozesse[n]« im Zusammenhang einer »multiplen Verfügbarkeit des Imaginären« (Iser). 43 Cieslik 1990, S. 100. 44 Herweg 2010, S. 58.
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Der ›Wilhelm von Österreich‹ und seine intendierten Rezipienten
und erschließt die einzelnen Fassungen des Stoffes als Ausdrucksformen einer »interne[n] Poetologie«45 im Wandel.
Das »Maximalprogramm«: ›Wilhelm von Österreich‹ in G Der Erzähler und die Handlungswelt Der Erzähler ist – darin Wolframs Erzähler im ›Parzival‹ nicht unähnlich46 – ein heimlicher Protagonist des ›Wilhelm von Österreich‹ in der Gothaer (und, mit metapoetischen Abstrichen, in der Heidelberger) Redaktion; schon allein deshalb lässt sich die Dichtung nicht durch eine Inhaltsangabe, wie sie oben gegeben wurde, ganz fassen. Der Roman lebt in der umfangreichen Versfassung von den zahlreichen Exkursen des Erzählers, von digressiones und metapoetischen Äußerungen, die immer wieder eine neue Perspektive auf die Narration eröffnen. Umfangreiche descriptiones, etwa der Schlachtreihen vor dem Kampf zwischen Melchinor und den Christen, machen die Handlung in manchen Teilen des ›Wilhelm‹ sogar zur Nebensache.47 Ein entscheidendes Element, das die gesamte Dichtung wie ein roter Faden durchzieht, ist dabei die Frage nach der Didaxe bzw. dem Verhältnis, das der Erzähler zu den Rezipienten unterhält. Dies zeigt sich bereits im Prolog48 (den nur die G-Redaktion überliefert), der alchemistische Kenntnisse49 des Erzählers zur Feuervergoldung mit allegorischer Ausdeutung verbindet: So wie das Gold im Gegensatz zu Quecksilber nicht flüchtig ist und deshalb Silber vergoldet, sind die Tugendhaften beständig und überdauern sie die Tugendlosen. Katalysator hierbei ist die Arbeit der Goldschmiedin Beschaidenhait (112). Der komplexe Prolog verunklart diese eigentlich einfache Bildlichkeit, indem er das Publikum, nicht von ungefähr als edel hertze (3) apostrophiert, als ideale Rezipienten zeichnet:50 Wer tugendhaft ist, bedarf eigentlich keiner Vergoldung bzw. Besserung. Wenn jedoch das Publikum ethisch hochstehend und unproblematisch ist und auch der Gegenstand der Dichtung als lehrreich ausgezeichnet ist, wird die Figur des Erzählers zur Schwachstelle einer poetischen Konstruktion, die auf 45 46 47 48
Schulz 2000, S. 27 und S. 40. Vgl. auch Geisthardt 2009, S. 33. Vgl. zu Wolframs Erzähler allg. immer noch Nellmann 1973. Vgl. zur Schlachtenreihe und ihrem Realitätsbezug Herweg 2010, S. 253–258. Der Prolog ist umfangreich analysiert worden, vgl. neben Juergens 1990 z. B. auch Ridder 1998, S. 88–96. 49 Vgl. auch Juergens 1990, S. 315, der von einer »Inszenierung als alchemistischer Fachgelehrter« spricht. 50 Vgl. Ridder 1998, S. 89.
Das »Maximalprogramm«: ›Wilhelm von Österreich‹ in G
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Läuterung hin zur Idealität abzielt.51 Und so inszeniert sich Johann im Prolog kunstreich (und die »Kognitionslust«52 via ornatus reizend) als unfähig, nur um diese Unfähigkeitsbeteuerung sogleich als dissimulatio auszustellen. Der Erzähler betreibt also ein intellektuelles Spiel mit einem (impliziten) tugendhaften Publikum, ein Spiel, das bereits früh im Text einsetzt und den ganzen Roman durchzieht. Der Anspruch, tugende, aventuer, minne (134) wahrhaft zu vermitteln, wird dabei mit einem sehr funktionalen Wahrheitsverständnis verknüpft, das in einer Verbindung von Gegensätzen programmatisch aufscheint: Früh wird die Verpflichtung Johanns auf die war rede (81)53 betont, kaum vierzig Verse später wird der didaktische Wert der wilde[n] sage (129) ergänzt, die ebenfalls Tugenden zu vermitteln vermag,54 wenn nur die zunge es versteht, sie angemessen zu lenken (ebd.).55 »[K]ompositorisches Prinzip« der Dichtung56 und ethisches Fundament des Erzählens fallen in der Trias von Tugend, Minne und Aventiure in eins und greifen auch auf den Rezipienten aus, der sie durch bescheidenlich (137) Benehmen, das zur saelde (138) führt, erreichen kann: Die Werte bilden so zyklisch Anlass und Ziel des Romans, insbesondere die Tugend ist Voraussetzung und Ergebnis der Rezeption.57 Das hebt die Verbindung von delectatio und 51 Herweg 2010, S. 63 spricht von einem unzuverlässigen Erzähler nach Booth 1983, den er als Dissoziation der Erzählerfigur versteht; ich möchte ohne Rückgriff auf Booths Konzept einfach nur eine Inkonsistenz mancher Perspektivierungen durch den Erzähler konstatieren und vermeide den Begriff der Unzuverlässigkeit, auch wenn er – vortheoretisch und ohne Booths Deutung – passend wäre. 52 Mellmann 2015, S. 174. 53 Ridder 1998, S. 92 spricht für Vers 81 von einer »programmatische[n] Verpflichtung des Erzählens auf die Wahrheit«. 54 Ridder 1998, S. 94 liest die wilde sage als stilistisches Bekenntnis zum »Erzählprinzip der wildekeit«, wie es für Konrad von Würzburg in Anspruch genommen wird (ebenso Dietl 1999, S. 103). Der abrupte Wechsel von der inhaltlichen Bewertungsebene hin zu einer stilistischen Ebene spricht allerdings gegen diese Lesart. Die Menge wilder aventuer (19479), die der Erzähler noch vorrätig hat, ebenso wie seine Klassifizierung von Wundergeschichten als wilde[] maere (3983) lassen eher den Bezug auf Erfundenes, nicht Faktuales durchscheinen, das in den Dienst der Tugenderzählung gestellt wird. Ähnlich deutet Juergens 1990, S. 324–326, insbesondere mit Anm. 18 und dem Verweis auf den bei Brackert 1968, S. 238f. entwickelten Wahrheitsbegriff, der Lehrhaftes als wahr, Nichtlehrhaftes als Lüge kategorial differenziert. 55 Dass das Wunderbare die Aventiure erst interessant mache, betonen auch die Verse 12634– 12637, hier wird der Publikumsbezug besonders deutlich hervorgehoben. 56 Ridder 1998, S. 94. 57 Im weiteren Verlauf des Textes wird die wirde als weiteres didaktisches Ziel ergänzt, das Streben nach wirde und ere macht immun gegen Böses (11343–11351), explizit wird außerdem betont, dass das Ziel des Buches sei, die Wirkung und den Nutzen von wirde zu betueten (11616), wobei Wilhelms wirde exemplarisch stehen soll (11629). Das macht wirde zur Antriebskraft der erzählenswerten Aventiure (13206f.). Paradigmatisch wird deshalb auch auf die wird (18326) von Wilhelms Sohn Friedrich verwiesen.
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Der ›Wilhelm von Österreich‹ und seine intendierten Rezipienten
utilitas besonders heraus: Denn nur der Tugendhafte kann genießen, und nur im Genuss kann die Dichtung bereichern. Das ist die programmatische Umsetzung der horazischen Formel in Dichtungsanspruch und gibt dem ›Wilhelm‹ eine spezifische Poetizität. Der Roman will seine Rechtfertigung aus seiner eigenen Existenz, aus der bereichernden Interaktion mit dem Publikum ziehen. Allerdings sind Abstriche zu machen, das horazische Ideal des gleichzeitigen Belehrens und Unterhaltens bleibt nicht unangefochten, da Johann sich im Dichtungsverlauf immer stärker auf die didaktische Komponente seines Bezuges zu den Rezipienten zu konzentrieren scheint. Dass dieser Wandel von einer unzuverlässigen Erzählerfigur veranlasst wird, bedeutet eine zusätzliche Komplexitätssteigerung im Verhältnis der Dichtung zu ihren eingangs als ideal stilisierten Rezipienten. Am Anfang des ›Wilhelm‹ wird der Rezipient als urteilender Kenner und wissender Richter umschmeichelt – so wird er gleichsam in die Dichtung hinein geholt und an die Erzählung herangeführt. Später wird Didaxe zuerst mit Bezug auf junge Leute (10489f.), dann auf hochstehende Personen allgemein (11607– 11611; 12331–12333) eingeführt. Die hervorragenden Rezipienten sollen, mit hyperbolischem Anspruch, weiter verbessert werden, zugleich bietet der Text Anleitung zur Tugend auch für Anfänger (11617). Er wird so, peu / peu, zum didaktischen Instrument, das nicht nur seine Rezipienten umschmeicheln, sondern in zunehmendem Maße auch belehren will. Anfangs unbemerkt und in kleinen Dosen inseriert der Erzähler diesen Anspruch, um ihn dann weit aufzufächern. Passagenweise wird der »Lehrauftrag« sogar konkret formuliert.58 Die Gratwanderung im fragilen Zusammenspiel von delectatio und utilitas, die dieser vermehrte didaktische Anspruch bedeutet, versucht der Text durch eine Aufspaltung der Erzählerrollen und -perspektiven zu meistern, die sich als intellektuelles und emotional-affizierendes Spiel zu erkennen gibt. Die Perspektivenwechsel zwischen allwissendem Erzähler und bloßem Schreiber bzw. Protokollant des Geschehens finden sich dabei ebenso ad hoc wie die zwischen gestaltendem Künstler und bloßem Betrachter der Handlung, wenn etwa beim Zusammentreffen der Helden ein überrascht-begeisterter Erzähler ausruft: vrau Minne! si sint zesamen komen! (15635), nachdem er selbst zuvor bewusst und
58 Dies geschieht etwa im Zusammenhang des Vortrags eines Liebesbriefes von Aglye, wenn es heißt: derz gern hoert, so wil ich / sagen ir getihte, / daz sich dar nach rihte / vrawe diu ie lieben man / ze lieber trutschaft ie gewan. (7534–7538). Vgl. zu dieser Passage Huber 2008, S. 139: »Damit sind hier explizit Leserinnen als Rezeptionspublikum angesprochen! […] Wenn hier in die intime Briefkommunikation ein potentiell offenes Publikum eingebunden wird, sogar nach Geschlecht von Adressaten unterschieden, erfolgt das über das Konzept einer Gemeinschaft von Liebenden, die empathisch mitfühlen, wobei sich die Lebenden an literarischen Figuren als Vorbildern ausrichten.«
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umfangreich dieses Zusammentreffen durch bluemen (15420) in der Beschreibung des Zeltes, in dem sich beide begegnen, hinausgezögert hat. Auf der einen Seite steht also die anteilnehmende, distanzlose Stilisierung des Erzählers. Seine Rolle ist affizierend angelegt, um situativ ein intensiveres Einfühlen in die bzw. Anteilnehmen an der Handlung zu ermöglichen. Das geschieht z. B. wenn Turniere oder Kämpfe geschildert werden, wobei sich reportergleiche Kommentare, aber auch das Kampfgeschehen nahe an die Rezipienten heranrückende Ausrufe finden (etwa in 15587 oder in 17993). In solchen Passagen ebenso wie in den Bemerkungen, die Johann zum Leid der Liebenden fallen lässt,59 fehlt eine Distanz zum Geschehen und macht sich der Erzähler mit seinen Rezipienten gemein, deren Sorgen und Wünsche er teilt: So wird für den Rezipienten die Illusion geschaffen, mit dem Erzähler gemeinsam nahe am Geschehen zu sein und nicht durch eine vorab geplante Erzählwelt geführt zu werden.60 Komplementär zur Distanzlosigkeit wägt der Erzähler poetologisch-distanziert seinen Status und seine Kompetenzen ab und bringt dadurch auch den Rezipienten in eine beobachtende Distanz zum Geschehen. Die im Stile eines subabsurdum61 vorgetäuschte Inkompetenz, kombiniert mit stolzem Ausweis eigener Fähigkeit (171f., 14341–14343 gegen 3495–3501), erlaubt es, differenziert über Vor- und Nachteile nachklassischen Erzählens zu reflektieren, das inhaltlich auf umfangreiches Vorwissen zurückgreifen (15126–15137), stilistisch aber nichts Neues bringen kann. Das bringt den Erzähler z. B. dazu, sich in formal-rhetorischer Hinsicht als stupfelman (1497) auf dem abgeernteten Acker der Klassik wahrzunehmen. Die Widersprüchlichkeit der Aussagen wird auch in diesem Kontext immer wieder dadurch besonders hervorgehoben, dass diametral einander entgegengesetzte Bekenntnisse räumlich nah zusammengestellt werden – kurz bevor er sich stupfelman nennt, huldigt Johann noch der eigenen Kompetenz zu bluemen und florieren (1454).62 Auch der Umstand, dass der Erzähler seinen Helden in der Gralswelt verortet und sich mehrfach auf Wolfram, in der Heidelberger Handschrift auch auf Rudolfs von Ems ›Willehalm von Orlens‹ bezieht, gehört in diesen Zusammenhang: Ganz topisch soll das eigene Werk an die Klassiker angeschlossen und, im Fall Wolframs, in ihre Genealogie eingewoben werden.63 Die Erzählerfigur mit ihren Intentionen entzieht sich auf diese Weise bewusst 59 Vgl. etwa seine Beschimpfungen der Minne, die als Kommentar des Dieprecht ausgegeben werden (9060–9089) oder sein Bedauern über die eigene Hilflosigkeit (6689–6691). 60 Ridder 1998, S. 277 spricht für solche Passagen von einer Vorstellung prozessualen Erzählens. 61 Vgl. zum subabsurdum als rhetorischer Kategorie Quintilian, Institutio oratoria VI.3. 62 Dietl 1999, S. 108. 63 Vgl. dazu auch die Schaubilder bei Schindler 2011, S. 105f.
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jedem Klassifizierungsversuch. Das macht sie zur Symbolfigur für die Verknüpfung aller Ebenen der Produktion, Rezeption und Anwendung des aus der Dichtung Gelernten und führt zum Zirkel des Prologs zurück, der Unterhaltung und Belehrung als einander wechselseitig befördernde Phänomene vorstellt. In der Art eines Wolfram im ›Parzival‹ rückt sich Johann als magister ludi, als poetologisch potente Figur in den Vordergrund; er verhandelt den didaktischen und ethischen Gehalt des Romans und macht sich selbst und damit die gesamte Erzählung zum Gegenstand von Reflexion. Als quasi-Wolfram geriert sich der Erzähler des ›Wilhelm‹ allerdings nur passagenweise (und er reicht vor allem in Sachen Biographisierung und im Bereich der Komik nicht an sein Vorbild heran; generell fehlt dem ›Wilhelm‹ die komische Brechung des ›Parzival‹ fast vollständig).64 Viel stärker als der ›Parzival‹ setzt der ›Wilhelm‹ zudem darauf, ostentativ zu thematisieren, worum es ihm geht, das Implizite explizit zu machen und an die Stelle des performativen Nachvollzugs die gelenkte Aufmerksamkeit der Rezipienten zu setzen. Das führt den Text in manchen Bereichen über das hinaus, was im ›Parzival‹ als implizitem Vorbild angelegt ist, in anderen Zusammenhängen bleibt der Roman, gerade durch sein plakatives Ausstellen des eigenen Erzählkonzepts, unterkomplex. Der Erzähler eröffnet in diesem Verwirrspiel von Selbstkritik und Selbstüberhöhung multiple Zugänge zum Text, was sich an der sukzessiven Hinwendung zur Didaxe und an ihrer Unterminierung durch die Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur, die zu belehren versucht, deutlich festmachen lässt. Er kanalisiert den emotionalen wie kognitiven Zugang zum Erzählten und schafft ein Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe. Auf der Handlungsebene hingegen steht, solange es um das Schicksal der Liebenden geht, die emotionale Affizierung der Rezipienten, also die Anteilnahme, im Vordergrund. Die parteiische Distanzlosigkeit, die der Erzähler gegenüber »seinen« Helden an den Tag legt, befördert dies und verwischt die Grenzen zwischen Erzählen und Erzähltem.65 Johann bringt sich so aktiv in die Handlung ein, dass er als Teil des Geschehens und wertende Instanz fungiert und seine eigentliche Rolle als Vermittler passagenweise zugunsten einer aktiven Parteinahme und Teilnahme aufgibt. Dadurch ist oftmals nicht mehr klar, wo Reflexion und wo Handlung vorherrscht.66 Auch umgekehrt, von der Figurenebene ausgehend, funktioniert diese Strategie: Wenn Wilhelm wünscht, wie Gottfried von Straßburg schreiben
64 Zur Biographisierung vgl. Ridder 1998, S. 170, zur Komik etwa Pörksen 1971, S. 184–188 sowie Ridder 2001. Einen Überblick über die poetologische Relevanz der Komik und des Lachens im ›Parzival‹ habe ich in Seeber 2010, S. 211–217 zu geben versucht. 65 Auch die personifizierte Minne interagiert mit der Figurenebene (9184). Vgl. dagegen Aglyes unbeantwortete Anrufung der Minne in 7338–7354. 66 Schneider 2004, S. 250.
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zu können (2062–2069), um seinen Liebesbrief entsprechend zu gestalten, wird auch das Figurenhandeln intensiv poetologisch aufgeladen. Die intendierte Rezeption bleibt bei dieser komplexen Gemengelage von Erzählerrede und Handlung nicht allein auf die Anteilnahme begrenzt. Vielmehr tritt eine grundlegende Verunsicherung ein, der Rezipient ist gezwungen, selbst zwischen Reflexion und Handlung zu trennen, und bisweilen ist er mit der Aufgabe konfrontiert, Handlungen und ihre Bewertung durch den Erzähler in Einklang zu bringen, die z. T. in krassem Widerspruch zu einander stehen. Denn das Idealbild der Helden, das der Erzähler zeichnet (vgl. z. B. 6689–6691, 15625, 15640 u. ö.)67 wird gezielt durch deren Krisen68 und Fehlverhalten konterkariert. Das gibt den Figuren eine zweideutige, unklare Position. Wilhelm z. B. wird immer wieder auf den Prüfstand gestellt und wandelt mehr als einmal am Rande des Todes; einmal bestimmt er bereits seinen Grabspruch (5273f.). Er tötet zwei Nebenbuhler,69 lügt, betrügt und durchlebt Krisen, und doch wird diese wechselvolle Geschichte des Helden konstant begleitet von dem Loblied, das ihm der Erzähler singt. Dieses Loblied steht nicht nur in deutlichem Widerspruch zum Verhalten des Helden, sondern übertüncht gleichermaßen die Neuordnung höfischer Werte, die der ›Wilhelm‹ bietet: Minne wird über Ethos, Recht, Gesetz und höfisches Verhalten im Allgemeinen gestellt, ohne dass dies explizit thematisiert und offengelegt würde. Das alles schafft Reibungsflächen und schreibt der Figurenzeichnung ebenso wie dem Handlungsgang zusätzliche Komplexität ein. So wird die paradoxe Gleichzeitigkeit von Fehlverhalten und Affirmation der Helden zum Ausgangspunkt dafür, eine Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des Textes auf Seiten der Rezipienten zu initialisieren. Dieses Aufrauen steht im Kontrast zu einer affektrhetorisch pointierten Fi67 Mertens 1996, S. 87 spricht von einer Pluralität der Erzählermasken, die nur in der »bedingungslosen Loyalität« mit den Helden ihr einigendes Band finden und eine Orientierung des Lesers ermöglichen. 68 Die Krise des Helden ist dabei keine arthurisch inspirierte Läuterung zum besseren Ritter, sondern im Gegenteil immer durch Minne verursachtes Leiden an der Trennung von der Geliebten und an der Unmöglichkeit der gewünschten Beziehung. 69 Kiening 1993, S. 484 nennt den Tod des Wildomis »ein[en] kaltblütige[n], ja heimtückische[n] Mord, der dem Helden nicht ohne Berechtigung die Todesstrafe einbringt« und konstatiert ebd.: »das Faktum bleibt bestehen: ein ritterlicher Held tötet unritterlich«. Der Text setzt in diesem Zusammenhang eine komplexe Leerstelle, indem er die Tat überplausibilisiert und zugleich unerklärt lässt, denn die vergiftete Lanze, derer sich Wilhelm im Kampf bedient, hat keine Auswirkungen, der Gegner stirbt vom Lanzenstoß und nicht vom Gift. Zugleich löst die Tötung Wilhelms Problem nicht, denn er kann nur einen weiteren Nebenbuhler aus dem Weg räumen, die gesellschaftliche Anerkennung seiner Zuneigung zu Aglye kann er so aber nicht erringen. Um »unritterlich« zu handeln, wie Kiening das moniert, müsste Wilhelm zudem Teil des alten ritterlichen Tugendsystems sein, das er aber durch seine Minnebindung (die ein Ego-Bezug ist, wie Schneider 2004, S. 123 hervorhebt), hinter sich gelassen hat – Wilhelm weist in seiner Rechtfertigung der Tötung explizit auf seine Minnebindung hin, vgl. 10378f.
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gurengestaltung, die sich um ein distanzloses Einfühlen des Rezipienten in das Leid der Liebenden bemüht. Der ›Wilhelm von Österreich‹ scheint dabei zu emotional-affektiver Begleitung der komplizierten »Lebensfahrt«70 des Helden einzuladen, indem umfangreiche Monologe, aber auch die Liebesbriefe von Wilhelm und Aglye intensiv das Liebesleid ausstellen. Insgesamt dreizehn Briefe sind in die Handlung inseriert; sie sind nicht so sehr Gegenmittel gegen eine »kommunikative Krise«71 als vielmehr die Verlagerung von »vertrauten Zwiegesprächen« mit ihrer eigenen »Beziehungsdynamik« in die Briefform.72 Es geht in diesen Briefen nicht um Informationsvermittlung, sondern um den Ausdruck (und das Erzeugen) von Stimmungen. Das heißt: Die Briefe sind inhaltsleer und gefühlvoll, sie bringen die Handlung nicht voran, sondern stellen im Gegenteil eine Art emotional-affektive digressio dar. Ostentativ sind die Texte (v. a. die ersten Briefe vor der Wildomis-Episode)73 an den artes dictaminis orientiert, was sie zu (hybriden) Gebilden zwischen Formkunst und Affizieren macht und die Rolle der Rhetorik für das Affizieren besonders deutlich ausstellt. Auf die Helden wirken die Briefe umfassend:74 Schreiben und Lesen geht bei Aglye und Wilhelm alias Ryal mit Tränen (2585), Seufzen (7002) und Ohnmacht (6821f.) einher, verursachen also immersive, emotionale Präsenzeffekte.75 Der ›Wilhelm‹ schafft auf diese Weise in den Liebesbriefen, aber auch in den Monologen der Protagonisten eine Zweiteilung der erzählten Welt: Es gibt das Innen, in dem sich Wilhelm und Aglye befinden, und das Außen, dem die übrigen, feindlichen oder helfenden Figuren der Dichtung angehören. Die Sphären sind hierarchisch geordnet, d. h. der innere Zirkel dominiert den äußeren, und die Handlungen im äußeren Bereich bleiben immer auf das Innere bezogen – so ist Wilhelm auch im Kampf und in Todesgefahr allein um Aglye besorgt (z. B. 5273f. u. ö.) und die Minne zwischen beiden dominiert das Geschehen umfänglich. Diese Hierarchisierung bedingt nicht nur eine Aufmerksamkeitsverteilung des Rezipienten, der sich vornehmlich mit den Protagonisten und ihren Taten und Gedanken beschäftigt, sondern führt auch zu einer Erwartungshaltung, bei der Minne als Markstein für die Auseinandersetzung mit den gebotenen Inhalten vorausgesetzt wird. Dies nutzt Johann auch, um die 70 Mertens 1996, S. 87. 71 Muschick 2012, S. 208. Alle Kommunikation der Liebenden nach der ersten Entdeckung durch Aglyes Eltern ist krisenhaft, sei sie brieflich oder mündlich. Das macht den Brief auch weniger zur Liebesgabe, wie Muschick annimmt, als vielmehr zur Bühne einer spezifischen, traurigen Zweisamkeit, die nicht stattfinden darf und sich in Briefform ihr Ventil sucht. 72 Hasebrink 2002. 73 Das macht sie zu formalen Kunstwerken, die Lehrcharakter für Minnekommunikation haben können, vgl. 7534–7539. 74 Vgl. auch Baisch 2013, S. 203f. 75 Vgl. zur Fiktion von Gegenwärtigkeit, die gerade coram publico hergestellt wird und so die Intimität auch an die Rezipienten vermittelt, Huber 2008, S. 140.
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Minne als didaktisches Instrument zu etablieren, wenn er sie zum Spiegel erklärt und durch sein Angebot eine Besserung der Rezipienten erstrebt (2712f.). Als zweites Gravitationszentrum der Handlung neben der Minne etabliert der ›Wilhelm‹ die Enzyklopädie: Immer wieder überwuchern z. B. ausufernde Schlachtenschilderungen die Minnehandlung und rücken die eigentlichen Helden und ihre Liebesgeschichte in den Hintergrund. Enzyklopädische Einlassungen finden sich auf der Ebene der Erzählerrede durchgehend; ihr belehrender Anspruch (junger man, nu lerne / und auch du, jungiu vrawe [2712f.]) ist ebenso omnipräsent wie der Selbstbezug des Erzählers und seine Interaktion mit der Handlung.76 Paradigmatisch für das enzyklopädische Erzählen Wilhelms kann die Schilderung der großen, kreuzzugsähnlichen Schlacht zwischen Christen und Heiden stehen. In ihr kommt beispielhaft die Allgegenwart der Erzählerkommentare zum Tragen (16711–16721 u. ö.), vor allem aber besticht sie durch ihren exorbitanten Umfang. Mehr als 2000 Verse werden darauf verwendet, die Reihen der beiden Seiten zu beschreiben77 und den Kampf wiederzugeben, der sich entspinnt. Die Lüge, die Wilhelm zur Braut Aglye verholfen und ihn unerkannt zum Schwiegersohn Agrants gemacht hat (15980f.), verblasst zum bloßen Anlass einer Auseinandersetzung, die von Vers 16049 bis 18120 reicht. fabula und historia vermengen sich, wenn die die Mappa[] Mundi (16329) als Quelle und Gewährstext herhalten muss.78 Die Schilderung wird als lange descriptio entfaltet, die anders als die Mehrzahl der übrigen enzyklopädischen Exkurse keinen belehrenden Mehrwert transportiert, sondern allein dem metapoetischen Zweck dient, die Grenzen zwischen Dichtung und Geschichte zu verwischen, den ›Wilhelm‹ also als historia zu positionieren. Hier geht es nicht um Minne oder Didaxe, sondern darum, das Programm der Dichtung als Hybrid zwischen Wirklichkeit und Erfindung zu entfalten und die Grenzen des Romans auszutesten: Und so steht der Bezug auf den Geburtsort des Erzählers, Würzburg (16715) neben dem Hinweis auf historische und literarische Schwergewichte wie Richard Löwenherz (16793), Ithers kuenne (17096) und Artus (16988). Diese digressio sprengt den Rahmen und macht auch dem Erzähler Sorgen, der sie immer wieder durch Neueinsätze (16933f., 17135 u. ö.) und brevitasVersicherungen zu gliedern versucht (16866f., 17027–17032, 17235 u. ö.), ihre Schwerfälligkeit aber auch nicht durch Vergegenwärtigung des Geschehens zu beheben vermag (Ruma rum! nu dar! [17993]). Der Text ist ein »geschlossenes 76 Juergens 1990, S. 216 spricht von der »Totalität der aedificatio« des Rezipienten, die angestrebt werde. 77 Huschenbett 1993, S. 416 spricht von einer »Revue von Adelsvertretern«. 78 Herweg 2010, S. 245 sieht dies als Beleg für den »hohen transfiktionalen Anspruch« des ›Wilhelm von Österreich‹. Hirt 2012, S. 113f. identifiziert die Familien der Auflistung im ›Wilhelm‹, die an den Kreuzzügen teilgenommen haben.
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enzyklopädisches Teilkapitel innerhalb des historisierend-allegorisierenden Weltbuchs«,79 das macht ihn, wie die Folgeredaktionen eindrücklich belegen, auch zu einem exponierten Kandidaten für tatsächliche, nicht nur rhetorisch vorgeschützte brevitas – er fällt, da er nicht dem Oberthema der Minne zugehörig ist, leicht dem Rotstift zum Opfer. Gleichwohl sind die 2000 Verse für das poetische Selbstverständnis des ›Wilhelm‹ in G bedeutsam, denn sie brechen die Fokussierung allein auf die Liebenden auf und geben der enzyklopädischen Fülle des Erzählerwissens Raum, das sich als selbstbezogenes Spiel zu entfalten vermag. Gleichzeitig verweist die historische Anbindung bereits deutlich vor dem Ende des ›Wilhelm‹ darauf, dass der bricolage80 die Anlage zu mehr Komplexität bietet, als sie ein simples Happy End zu gewährleisten vermag.81 So wie die Handlung nach der Hochzeit die Liebenden kurzfristig verlässt, wird auch nach dem Sieg über die Heiden – zumindest für kurze Zeit – die Einheit der Liebenden wieder aufgegeben, die zuvor umfangreich hergeleitet, erarbeitet und erkämpft worden war. Auf diese Weise widerspricht die Realität der Ehe der Sehnsucht der getrennten Liebenden: Wilhelm reist ohne Not nach Hause und kehrt erst nach der Geburt seines Sohnes nach Zyzia zurück. Er dissoziiert sich dabei von Aglye, die er vor seiner Abreise manipuliert: Er bedient sich persuasiver Rede (18455– 18475), um den Aufbruch vor seiner skeptischen Ehefrau zu rechtfertigen. Zuerst nimmt er in Form einer Prolepse ihre Bedenken vorweg, dann dreht er die Sachlage um, indem er seinen Wunsch als den ihren deklariert: ich wolt varn, ob du wilt (18461), seine bereits getroffene Entscheidung legt er vorgeblich in ihre Hand. Dass er Vater und Mutter zu ihren Gunsten zurückstellen will, macht eine Selbstverständlichkeit (Mat 19,5) zum Scheinargument des Aufbruchswilligen und treibt Aglye in die Enge – folgerichtig antwortet sie [m]it wainden augen (18476) und bittet ihn darum, Gefolgsleute dazulassen, wenn er geht. Ähnlich ist auch der Aufbruch zur Einhornjagd legitimiert, der aus curiositas resultiert und zu Wilhelms Tod führt. Da er für die Jagd die Hilfe einer Jungfrau benötigt, kommt seine Ehefrau als Begleiterin nicht mehr in Frage, und er muss das Interesse, das jenseits der Minnebindung liegt, persuasiv rechtfertigen. Wilhelm tut in der entsprechenden Unterredung so, also ob er der Erlaubnis seiner Frau bedürfe, um das Einhorn zu suchen (18906–18915), obwohl er de facto bereits alle Vorbereitungen getroffen und sogar eine Jungfrau für das Unternehmen
79 Herweg 2010, S. 258. 80 So liest Herweg 2010, S. 58 die Gruppe der »Minne- und Aventiureromane« insgesamt. 81 Vgl. Mertens 1996, S. 91: »Die These [des Romans, Verf.] besagt nicht einfach, daß Liebesglück nicht dauern kann, sondern daß es Liebe nur als Idealprojektion in der Innerlichkeit der Sehnsuchtsspannung geben kann«. Vgl. dazu auch, anders gewichtend, Schneider 2004, S. 123 zur Egozentriertheit der Minnesuche Wilhelms.
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begeistert hat (18876–18882). Der fait accompli wird durch Aglyes Zustimmung (18919) nur unterstützend bestätigt, sie hat keine Einspruchsmöglichkeit. Sowohl die Fahrt nach Österreich als auch die Suche nach dem Einhorn82 brechen damit die Einheit der Liebenden auf und ersetzen die gegenseitige, affektive Sehnsuchts- und Vermissensrhetorik durch persuasive Rede des Helden, der seinen Willen durchzusetzen weiß. So divergieren am Ende die Selbstwahrnehmungskonzepte der Liebenden. Aglye steht, bis in ihr Nachsterben hinein, für die unauflösliche Minnebindung ein.83 Für Wilhelm rückt nach dem Gewinn der Dame hingegen der Ego-Bezug in den Vordergrund und erweist sich die Minne als eine Station seines Weges, der weitergeht und ihn, von seiner Sehnsucht bzw., im Zusammenhang mit dem Einhorn, auch seiner curiositas getrieben von Aglye wegführt. So erklärt sich auch die eigentümliche Präsenz der Jungfrau Belfant im Schlussteil des Romans. Die Idealität der Minnebindung, die die Handlung getragen hat, löst sich dadurch – für den ›Wilhelm von Österreich‹ typisch: teilweise – auf und macht einer stärker auf den Helden und seine Suche bezogenen Sichtweise Platz. Der Tod von der Hand eines nicht bekehrten Heiden und aus einer Verschwörung heraus ist dabei nur folgerichtig. Die Einheit der Liebenden ist aufgegeben (Wilhelm verschiebt sein Minneinteresse gleichsam von der Ehefrau weg auf die Einhornjagd und allegorisiert sein Begehren in der curiositas), so dass die Politik Einzug halten kann.
Die Struktur des ›Wilhelm von Österreich‹ in G: Hyperplastisches Erzählen Der ›Wilhelm‹ erscheint hybrid, uneinheitlich und von Unklarheiten ebenso wie Inkonsistenzen geprägt: eine Dichtung voller Reibungsflächen und Komplexität, die den Rezipienten in besonderem Maße dazu herausfordert, aktiv an der Sinnstiftung des Textes mitzuwirken, aus der Fülle Ordnung zu destillieren, Vieldeutigkeit zu vereindeutigen. Den Sinn des ›Wilhelm‹ festzumachen, wird erschwert durch den Umstand, dass der Erzähler die Lizenzen, die bereits seit der höfischen Klassik für die Erzählerfigur etabliert wurden, immer weiter treibt: Johann ist Formkünstler und stupfelman, magister ludi und Getriebener 82 Mit Mertens 1996, S. 91 und gegen Schausten 2004, S. 171 ist eine allegorische Deutung des Einhorns wohl zugunsten der ostentativen Betonung von leidenschaftlicher Liebe zurückzustellen; allerdings ist es paradigmatisch für den ›Wilhelm von Österreich‹, dass der Gotes helt (18504) nach einem in seiner Bedeutung außerordentlich ambiguen Tier ausfährt. Vgl. auch Dietl 1993, S. 179: »Das Einhorn als Bild – nicht aber Allegorie – der höchsten Liebe ist eine Steigerung Aglyes«. Gerade wegen der Vielschichtigkeit des Bildes ist es deshalb zu vereinfachend, wenn Juergens 1990, S. 54 vom »Heiligentod des Helden« spricht, der zum Märtyrer werde. 83 Vgl. zum Liebestod allg. Huber 2013 – Aglyes Sterben zitiert vorgängige Muster lediglich an, gerade weil die Bindung zuvor problematisch geworden ist.
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in einem, er präsentiert sich als »allgegenwärtiger Dialogpartner der Musen, des Autors und des Publikums«.84 In der Gothaer Redaktion dürfen zudem Dieprecht und der Tugendschreiber ebenfalls Erzählerautorität beanspruchen, auch Minne und Aventiure scheinen die Dichtungskomposition mitzubestimmen (auch dies ist bereits in den Romanen der höfischen Klassik angelegt und durchgespielt); so wird die Erzählebene zu einer hybriden Angelegenheit. Sie ist uneinheitlich, aus verschiedenen Traditionen komplex neu zusammengesetzt und mehr als die Summe ihrer Teile. Da zudem die Grenzen zwischen Erzähler und Erzähltem verwischen, der Erzähler nicht nur Partei für seine Helden ergreift, sondern beizeiten auch mit den Figuren zu interagieren scheint und sich intensiv in die Handlung einbringt, werden Distanzierung und Distanzlosigkeit in schnellem Wechsel betrieben. Dieser ständig wechselnde Erzählerstandpunkt macht auch kontinuierliche Neuorientierungen des Rezipienten erforderlich, der mitdenken und sich positionieren muss. Die Basis der intendierten Rezeption sind deshalb die zahlreichen Reibungsflächen: zwischen allwissendem und unwissendem, gestaltendem und nur ausführendem Erzähler, der seinen Figuren anteilnehmend-distanzlos und seinem Dichten poetologisch bewusst und distanziert gegenübersteht. Die Helden sind idealisiert und krisenhaft zugleich, sie versagen vor dem Anspruch »ihres« Erzählers und offenbaren Schwächen, die eng mit der neuen hierarchischen Werteordnung des Minne- und Aventiure-Romans im Allgemeinen und des ›Wilhelm von Österreich‹ im Besonderen zusammenhängen. Da die Minne alles dominiert (in den Schlusspassagen wird sie von der konkreten Zweierbeziehung zur Suche nach dem Einhorn transzendiert und so zur reinen Ego-Fokussierung oder Selbst-Liebe des Helden umgestaltet), fügt sich der Text nicht in die besonders in den Artusromanen etablierte und durchgespielte höfische Ethik, die ein Amalgam aus Zweierbeziehung und höfischem Leben zu erreichen versucht:85 An die Stelle eines einheitlichen Konzepts tritt konzeptionelle Vielfalt, die nur mehr der Anspruch, delectatio und utilitas zu vereinen, mit dem Artusroman verbindet. In dieser Vielfalt lassen sich verschiedene Grundtendenzen der intendierten Rezipientenlenkung ausmachen: Der Text bevorzugt die distanzlose Haltung zu den Helden, deren Liebesgeschichte Mitleid erregen und Sympathien der Rezipienten binden soll. Die Fehlbarkeit der Helden macht sie »menschlich« und weicht die tugendhafte Idealität auf, die ihnen vom Erzähler zugeschrieben wird. Befördert wird diese Rezeptionshaltung dadurch, dass der ›Wilhelm‹ umfang84 Ridder 1998, S. 293. 85 Müller 2007, S. 472 spricht in anderem Zusammenhang von der »Desintegration von minne und Rittertat«, das trifft hier ebenfalls zu.
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reich einen emotionalen Innenraum der Figuren konstituiert.86 Dieser Raum öffnet sich z. B. in der elaborierten Briefkommunikation in rhetorisch gezielt affizierender Form persuasiv für die Rezipienten und führt eine Leidensperformanz der getrennten Liebenden vor. Diese wiederum lädt zur Anteilnahme ein und reduziert die Distanz zum Schicksal der Liebenden. Die Hierarchisierung von Minne und Aventiure oktroyiert zudem eine spezifische Lesart der Abenteuer Wilhelms, die nicht den Ausgleich zwischen den Sphären von Liebe und Gesellschaft, Minne und Ethos anstrebt, sondern die Ambivalenz und »Vielschichtigkeit«87 explizit ausstellt: Der Liebende kämpft gegen den Teufel, er wird zum Gejagten, zum Mörder, ist Opfer und Täter und macht sich in keiner Weise um andere als um sich selbst und seine Geliebte verdient.88 Dies bedeutet, dass die anteilnehmende, distanzlose und affektive Lektüre untrennbar verknüpft ist mit der immer wieder geforderten Distanzierung, und diese Spannung macht der Text poetologisch produktiv. Hergestellt wird sie zum einen durch die Konfrontation des Helden mit den etablierten, intertextuell vorausgesetzten Heldenidealen, zum anderen durch die Diskrepanz zwischen dem Heldenbild des Erzählers und den Taten des Helden auf der Handlungsebene. Beides macht den ›Wilhelm‹ hinterfragbar, der Text bietet Möglichkeiten dazu, ihn, seine Setzungen und Werte zu evaluieren und vor dem Hintergrund eines intertextuell gegebenen Vorwissens zu rezipieren. Der Minne- und Aventiure-Roman funktioniert nicht ohne die Anbindung an die Tradition des höfischen Romans, bei der er sich »bedient« und von der er sich zugleich absetzt. Gerade der Umstand, dass die performative Entfaltung des Sinns vor den Augen der intendierten Rezipienten aus dem klassischen höfischen Roman übernommen wird, spielt hierfür eine zentrale Rolle.89 Denn dieses performative Entfalten wird kombiniert mit der Allmacht des Erzählers, der sich zugleich immer wieder selbst in Frage stellt – so wird der ›Wilhelm‹ in seinen Voraussetzungen brüchig, durchsichtig und im letzten Ende sowohl auf der Ebene der Handlung als auch auf der Erzählerebene bipolar rezipierbar : Als affektiv ansprechende, Nähe und Anteilnahme herstellende Dichtung ebenso wie als Experiment zwischen Tradition und Innovation, das den eigenen Status und die der Handlung zugrunde liegenden Werte immer neu reflektiert und hinterfragt. Das ist die Basis dafür, dass sich der Roman einer produktionsästhetischen
86 Zum Innenraum als Ort der Minne vgl. Schneider 2004, S. 117. 87 Schneider 2004, S. 191. 88 Dies hat Schneider 2004, S. 20 dazu veranlasst, von der figur als dem »Sammelpunkt der Vielstimmigkeit des Textes« zu sprechen. 89 Vorausdeutungen fehlen fast vollständig. Die wenigen Vorausdeutungen, die Johann bietet, sind mit emotionaler Wertung verbunden, so etwa die Ankündigung von Wilhelms Tod: Nu wellent sich diu maer / enden mit jamers swaer. / wafen, Got, daz ie geschach! (18841–18843).
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Festlegung auf einen Sinn verweigert,90 deshalb scheint er sich in einer hybriden Vielstimmigkeit zu erschöpfen. Der Blick auf die Rezeptionsangebote offenbart hingegen ein differenzierteres Bild: Zyklisch verbindet der ›Wilhelm‹ Nutzwert und Unterhaltung zu einer untrennbaren, sich gegenseitig affirmierenden und befördernden Einheit. Er forciert einen ständigen Wechsel zwischen Distanz und Nähe. So drängt der Text den Rezipienten einerseits durch die Affektrhetorik und die Exposition der (seelischen) Innenräume der Helden zur empathischen Identifikation. Andererseits exponiert er ostentativ seine Artifizialität und die Rolle seines Erzählers, er stellt Brüche und Inkohärenzen gezielt aus und fordert zur kritischen, intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Gebotenen auf.91 Es handelt sich bei der Struktur des ›Wilhelm von Österreich‹ folglich weniger um eine »Poetik des Abundanten«92 oder eine »Poetik der Kontamination«.93 Viel eher haben wir es mit einer Poetik der Widersprüche und der multiplen Verknüpfungsmöglichkeiten zu tun. Das ermöglicht unterschiedliche Lesarten und Schwerpunktsetzungen, privilegiert dabei jedoch die lectio difficilior, die komplexe, dialektisch die Widersprüche auflösende Lesart, der vor allem durch die chiastischen Setzungen von Gegensätzen zugearbeitet wird. Entscheidend dafür ist die Grenzüberschreitung zwischen den Ebenen von Erzähler, Erzähltem und Publikum, die in zyklischen Prozessen miteinander verbunden werden und gemeinsam die Sinnstiftung des Romans erst möglich machen. Das verändert die Tektonik des Textes und sein Gewebe: Wir haben es nicht einfach mit einer hybriden Aufschwellung von Material zu tun, nicht mit bloß quantitativem94 Wachstum, sondern mit neuen Vernetzungen und einer neuen Qualität des sinntragenden Gewebes.95 Mit einer der Medizin entlehnten Metapher könnte man deshalb von der Hyperplasie des Textes sprechen. Hyperplasie bezeichnet in der Medizin die (reversible, im Gegensatz zur Neoplasie) qualitative Steigerung des Zellmaterials, also kein bloßes Aufschwellen des
90 Die Eigenständigkeit der Romankonzeption nimmt Schneider 2004, S. 31 im Rückgriff auf Tradiertes an. 91 Vgl. auch Ridder 1998, S. 293: »Die Vermittlungstechnik des Romans befördert die Illusion, die Erzählung entstehe im Akt des Erzählens und mittels des Erzählers schrieben neben dem Autor auch die Musen – also die Erzählung selbst – sowie das Publikum an ihr mit.« 92 Schulz 2000, S. 129. 93 Schausten 2004, S. 179. 94 Ein solches Erzählen wäre, um in der Metapher zu bleiben, hypertroph zu nennen. 95 Der ›Wilhelm‹ bietet deshalb auch keine dilatatio materiae im Sinne der amplificatio, vgl. dazu Worstbrock 1985, bes. S. 9f. u. S. 12: Es handelt sich nicht um vorlagenbezogenes Wiedererzählen mit neuem Fokus, sondern um eine genuin eigene Schöpfung mit spezifischem Charakter: Wo bei der dilatatio der qualitative Zugewinn aus der quantitativen Erweiterung im Vergleich zur Vorlage geschöpft wird, resultiert hier quantitative Erweiterung umgekehrt aus der qualitativen Neuaufstellung des Materials. Zum Begriff des Wiedererzählens vgl. Worstbrock 1999.
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vorhandenen Gewebes, sondern das Erschaffen von neuem Gewebe:96 Genau dies geschieht in der G-Redaktion des ›Wilhelm von Österreich‹. Der Gesamtkomplex des Erzählens wird vor dem Hintergrund der intertextuell verfügbaren höfischen literarischen Tradition neu geordnet. Die überkommenen Funktionen Autor, Erzähler, Schreiber,97 Rezipient werden neu gewichtet und gehen neue Kombinationen ein, ebenso werden die Wirkansprüche der Dichtung, delectatio und didaktische utilitas, neu ausbalanciert. In diesem Zusammenhang hat der Anspruch der »transfiktionalen Sinnstiftung« und »Lebensbrisanz«98 ebenso seinen Platz wie die Idee der prozessualen Konzeption von Erzählen und Rezeption –99 es geht um das Einreißen alter Grenzen und darum, ein neues Ganzes auf einer metapoetischen Grundlage zu errichten, die in ihrer theoretischen Ausrichtung durchaus auf eine neue Romankonzeption hinzudeuten scheint.100 Das Kunstwerk wird organisch geordnet als lebendiger, interagierender Organismus. Die Rezeption ist integraler Bestandteil dieses Organismus, das macht die Besonderheit des Konzepts aus. Das bedeutet jedoch nicht, dass ursprüngliche, insbesondere didaktische Ansprüche der Erzählerfigur aufgegeben werden, nur werden diese (pointiert etwa im Mariengebet vorgetragenen) Ideen, die Dichten als einen Akt tätiger Nächstenliebe legitimieren (10472–10506), ergänzt um den Aspekt der wissenden, aktiven und deutenden Rezeption, die den Leser bzw. Hörer bei einem seiner wichtigsten Affekte packen und in die Dichtung hineinziehen soll.101 Geformt wird ein neues Gesamt, das über die traditionelle Poetik, die gewohnte dichterische Selbstrechtfertigung und den üblichen didaktischen Anspruch hinausgeht, gerade indem es die üblichen Topoi des Erzählens zitiert und im Zitieren aushebelt. Der Epilog fasst diese Entwicklung abschließend und prägnant zusammen, wenn die Widersprüchlichkeit des Werkes erneut aufs Tapet gebracht wird: Eine lateinische Quelle wird fingiert, die angeblich im Auftrag König Agrants geschrieben worden sei (19561–19565).102 Johann erscheint binnen 100 Versen sowohl als schribaer (19561) wie auch als selbstbewusster Erfinder von Ge96 Siegenthaler/Blum 2006, S. 998: »Die Hyperplasie entspricht einer Volumenzunahme eines Organs oder eines Gewebes durch Zunahme der Zellzahl«. 97 Die Artifizialität des Konzepts und die ostentative intellektuelle Reflexion des Produktionsprozesses zeigen sich auch an der Differenzierung von Erzähler- und Schreiberrolle. 98 Herweg 2010, S. 19. 99 Ridder 1998, S. 277. 100 Vgl. mit Blick auf die Gattungsmischungen Dietl 1999, S. 259, die von einer »neue[n] Form des Romans« als Zielpunkt der Entwicklung spricht. 101 Weise umschreibt dies im ›Näscher‹, S. 32 als dritten von vier Affekten: Zum dritten / bildet man sich grosse Klugheit ein / und wil an frembden Sachen was zu tadeln / oder zu verbessern finden. Hierauf zielt der ›Wilhelm von Österreich‹ ab, wenn er den tugendhaften Rezipienten umgarnt. 102 Allusionen an die ›Nibelungenklage‹ dürften beabsichtigt sein. Herweg 2010, S. 141f. weist auf die legendarischen Muster hin, an die die Passage eventuell anknüpfen will.
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schichten (19478f.: in mir ist noch beslozzen / vil wilder aventuer) und formuliert noch einmal deutlich seinen »Bildungsauftrag« mit dem Schlagwort der bezzerunge, das im gesamten Text nur zwei Mal auftaucht, und zwar ausschließlich an dieser Stelle: ich han den werden vorgesait dits durch bezzerunge, si sin alt oder junge, die gern hoern werdekait: ez si luege oder warheit, sagt auch ez von eren tat, ain ieglichs daz sich verstat, bezzerunge nimt da von: wiser muot ist des gewon. (19502–19510)
Das Ziel, Tugend zu befördern und untugend geswinden (19500) zu machen, wird im Anschluss an den Prolog hier nochmals formuliert, ein Anspruch, qua Rezeptionsangebot gegen suntliches leben (19514) zu wappnen, scheint zwar vom Handlungsgang her gesehen eine sehr bemühte Schlussfolgerung zu sein, knüpft aber an die Romanapologie des Mariengebets an und betont den grundlegend »transfiktionalen« (Herweg) Nutzen der Dichtung: Das Spiel erschöpft sich nicht in artifizieller Übung, sondern bezieht Rezeption integral in die Sinnstiftung ein, der Text will wirken, indem er unterhält. Der Kreis schließt sich, wenn den Tugendhaften die tugendhafte Dichtung zur Tugendsteigerung vorgelegt wird und zugleich erneut betont wird, dass die Dichtung allein um eben der werden willen, der mannen und wiben / die eren walten (19566f.) geschrieben worden ist – tugendhafte Rezipienten befördern die Möglichkeit tugendhafter Dichtung, ein elitärer Zirkel, der nur denjenigen offen steht, die sich dem ethischen Ideal anpassen. Die Anlage von Gottfrieds ›Tristan‹-Prolog, in dem edele herzen (Tr 47)103 als Rezipientenelite wahren Gefühls und jenseits geltender moralischer Ansprüche konzipiert werden, schimmert als Grundidee bei Johann durch; sie ist jedoch zu einem moralisierten, allgemeingültigen Anspruch umfunktionalisiert worden, der (im eigentlichen Widerspruch zum Elitegedanken) jede Rezipientin und jeden Rezipienten als tugendhaft und ideal apostrophiert und so in den Kreis der idealen Rezipienten einbezieht – gerade in der Behauptung der Außergewöhnlichkeit wird das Exzeptionelle allgemein verfügbar. Die Grenzen zwischen Erzähler und Rezipient fallen, es wird eine Offenheit der Komposition inszeniert, die experimentell erscheint. Konventionell erhalten bleibt dabei das Privileg des Erzählers, Wissen zu rationieren, Wissen preiszugeben und gezielt bisweilen widersprüchliche poetologische Postulate und un103 Den ›Tristan‹ zitiere ich nach der Ausgabe Ranke 1969.
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vereinbare Erzählprinzipien zu kombinieren.104 Der Rezipient wird vom Erzähler intellektuell gefordert, die Auseinandersetzung mit dem ›Wilhelm von Österreich‹ (intertextuell) vor dem Hintergrund seines eigenen Wissens um Literaturmuster und Gewohntes zu suchen. Zugleich trägt die Zeichnung der Erzählerfigur als potentiell unzulänglich und besserungswürdig dazu bei, dass der Rezipient sich nicht als abhängiger Empfänger einer Botschaft versteht, sondern durch seine eigene Tugendhaftigkeit aktiv den Rahmen der Dichtung mit vorgibt. Diese Neuerung kommt nicht ex nihilo zustande, sie setzt Tendenzen fort, die bereits in den »höfischen Klassikern« zu finden sind: Neben Gottfrieds Prolog und seinem Stilideal scheint vor allem Wolframs ›Parzival‹-Erzähler als Vorbild für Johanns Gestaltung des ›Wilhelm‹ gedient zu haben. Hier wie dort findet sich Verwirrung der Rezipienten und ein Vexierspiel der Rezeption. Bei Wolfram geschieht dies, indem er Omnipotenz des Erzählers mit Unfähigkeitsbekundungen vermengt, drastische Differenzen zwischen Handlungsebene und Erzählereinschätzung bietet und eine Rezeption intendiert, die auf die primäre, affektive Reaktion auf den Text eine zweite, von kognitiven Widerhaken des Geschehens und seiner Präsentation getragene intellektuelle Reaktionsebene folgen lässt.105 Johann streicht der Erzählerfigur die z. T. drastische Komik des Vorbilds Wolfram und reduziert sie auf eine ständig abwägende, sich selbst widersprechende, digressive Instanz. Sein Erzähler verbindet metapoetische Distanz zum Dichten mit der größtmöglichen Nähe zur Handlung und erweist sich als engster Verbündeter des Helden. Der Verzicht auf Komik hängt ursächlich genau hiermit zusammen, denn Komik als Distanzphänomen würde die Nähe zu den Helden unterlaufen und eine wesentliche Komponente des Gesamtbildes unterminieren. So erschöpfen sich die launigen Einlassungen des Erzählers in subabsurda zur eigenen (In-)Kompetenz, ohne die Ebene der Handlung zu berühren. Gerade auch diese Umwertung im Vergleich zum großen Vorbild führt dazu, dass das hyperplastische Erzählen Johanns in G zwar in der Tradition des ›Parzival‹ zu lesen ist, aber um eine wesentliche Ebene reduziert vor den Rezipienten tritt: Es fehlt Ironie, welche die Auseinandersetzung mit dem Gebotenen um eine weitere Abstraktionsebene bereichern und es den Rezipienten erlauben würde, eine 104 Zu den Postulaten gehören auch die Verweise auf Wolfram von Eschenbach und Gottfried, die die Ebenengrenzen von Handlungsschilderung und Handlung wiederum verwischen (s. u.) und im Zusammenhang der Protagonistenidentität eine stärker distinguierende Rolle spielen, als dies für die Erzählerfigur und ihre Konstitution der Fall ist – dass ein Erzähler sich auf Wolfram beruft (14517–14519, wobei Wolfram als Blümer verehrt wird) oder Wolfram ähnliche Züge aufweist (Feigheit und Zurückweisung durch die Damen in 12028) ist um 1300 kein Alleinstellungsmerkmal für einen Roman. 105 Vgl. dazu die ›Parzival‹-Analyse in Seeber 2010.
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Metaposition zum Dargebotenen einzunehmen. Stattdessen ist es Johann offenkundig darum zu tun, sein wirkungsästhetisches Konzept unverblümt und direkt auf seine Rezipienten einwirken zu lassen. Auf diese Weise kommt ein unberechenbarer Wechsel zwischen Nähe und Distanz zustande, den Johann mit quasi-immersiver Erzählhaltung einerseits und enzyklopädischer Aufladung andererseits konnotiert: Die ideale Verbindung von delectatio und utilitas, die der Prolog postuliert, wird besonders in Momenten enzyklopädischer digressio fragil, was sich an den Versuchen des Erzählers ablesen lässt, dem taedium der Rezipienten durch brevitas-Versprechen oder auflockernde Interjektionen entgegenzuwirken. Die Stärke der Romankonzeption liegt hingegen in der gezielten Weiterentwicklung der klassischen Erzählkonzepte in hyperplastischer Übersteigerung. Die zyklische Verschmelzung von Distanz und Nähe, von Affekt und ratio führt zu Kippphänomenen in der Rezeption, durch die eine eigene Dynamik des Rezeptionsprozesses entsteht: Der »Mehrwert« als qualitative Vergrößerung des Erzählens schöpft produktionsästhetisch seine Dynamik aus derselben Quelle, die auch die Dynamik des Rezeptionsprozesses steuert. Der ›Wilhelm‹ steht in dieser Hinsicht nicht epigonal, sondern weiterdenkend und weit blickend auf der Schulter von Riesen, er ist uf riesen ahseln ein getwerch (15126), das seinen Blick auf eine neue, den Artus- und Gralroman transzendierende Romankonzeption richtet. Er kombiniert etablierte Schemata der Rezipientenlenkung mit einem neuen Anspruch, nämlich mit der Idee, im permanenten Wechsel zwischen Distanz und Nähe, zwischen Affekt und ratio eine Dynamik der intendierten Rezeption zu generieren, die sein Erzählen legitimiert: Der Anspruch, delectatio und utilitas zu kombinieren, kann nicht mehr qua Erzählinhalt eingelöst werden – die fundierende Ethik und die Konzeption von Minne, die den Artusroman auszeichnet, sind weggebrochen und im ›Wilhelm‹ (wie im Minne- und Aventiure-Roman überhaupt) durch eine neue Sicht auf Gesellschaft und Liebende ersetzt. Die zyklische Dynamik von delectatio und utilitas soll deshalb aufgefangen werden, indem die Positionierung des Rezipienten zum Text dynamisiert und als Kippphänomen angelegt wird. Das Wirkziel wird mit der spezifischen Wahrnehmungsweise verknüpft und so zu einem vollständig und umfänglich rezeptionsbezogenen Phänomen umcodiert. Der ›Wilhelm‹ in der Gothaer Redaktion baut in dieser Weise auf den Errungenschaften des klassischen höfischen Romans auf, ohne sie noch weiter entwickeln zu können. Die Verbindung der Wirkziele ist ein im Prolog gesetzter Anspruch, dem der Rest des Romans hinterhereilt und gerecht zu werden versucht. Das ist die Grundlage für das hyperplastische Erzählen, das den ›Wilhelm‹ auszeichnet und aus dem die neue, außerordentlich abstrakte und in ihrer Übersteigerung letztlich inhaltsleere Tugendlehre erwächst. Die Dynamisierung des Erzählens füllt die Leere, die durch die Ablösung der etablierten Idee von Minne und Aventiure im post-arthurischen Roman entsteht.
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Die größte Gefahr für ein solch komplexes Konstrukt besteht in der Vereinfachung bzw. der Vereindeutigung, mithin in der Reduktion auf den Inhalt des Gesagten zulasten des Modus der Aussage – und genau danach ist, mit Blick auf die Konsequenzen für das hyperplastische Erzählen und für die Rezipientenlenkung nun zu fragen. Ich will dazu in den folgenden Vergleichen erst die kürzende Versredaktion und dann die kürzende Prosafassung heranziehen.
›Wilhelm von Österreich‹ in S Erzählerrolle und Figurenhandeln Die Gothaer Redaktion repräsentiert den Löwenanteil der ›Wilhelm von Österreich‹-Überlieferung; 10 der 19 Überlieferungszeugen gehören ihr zu, hingegen nur fünf der Heidelberger Redaktion, vier Textzeugen sind nicht eindeutig einer Redaktion zuzuweisen.106 Die Stuttgarter Handschrift S (entstanden 1472/4), die Kurzfassung des ›Wilhelm von Österreich‹ in Versform, die mich im Folgenden interessieren wird, gehört zur Heidelberger Redaktion, d. h. sie kennt nicht die schillernde Figur Dieprecht und die metapoetischen Zusätze der Gothaer Linie. S ist nicht nur eng mit der Leithandschrift dieser Gruppe verwandt,107 sondern auch mit der Darmstädter Kurzfassung Da (entstanden entweder um 1449 oder um 1470/80).108 S und Da haben ebenso wie H keinen Prolog, wie H enden auch beide Kurzfassungen im Vergleich zur Gothaer Handschrift früher und abrupt, wobei allerdings Blattverlust in S eine genaue Berechnung dessen, was an gekürztem Text fehlt, erschwert. Nicht nur die poetologische Varianz der Heidelberger Redaktion macht S zu einem besonders interessanten Studienobjekt – wichtig ist die Handschrift auch deshalb, weil sie spät, kaum 10 Jahre vor dem Auftauchen des ersten Prosadruckes des ›Wilhelm von Österreich‹ und nur kurz vor der Zürcher Prosahandschrift von 1477 geschrieben wurde. Dies ist ein deutlicher Beleg dafür, dass Prosa und Vers koexistieren, darüber hinaus auch dafür, dass Kurzfassungen109 106 Dietl 1999, S. 15–33. 107 Vgl. Regel 1906, S. XX: »S teilt die meisten interpolierenden Erweiterungen von H; doch kann keine der beiden Hss. unmittelbar auf der anderen beruhen, da sie sich hinsichtlich einzelner fehlender Verse wechselseitig ergänzen.« 108 Literatur zur Datierung der drei Handschriften listet Dietl 1999, S. 26–28 auf. Zu Handschrift S vgl. weiters Rohr 2002. Inzwischen ist Da von der Hessischen Landesbibliothek als Digitalisat online gestellt worden (vgl. den Link im Literaturverzeichnis), vgl. zur Handschrift Staub/Weimann-Hilberg 1987, dort S. 271 zu den Abweichungen zwischen S und Da sowie den Abhängigkeitsverhältnissen, die sich nicht abschließend klären lassen. 109 Da ist in dieser Hinsicht noch aufschlussreicher – die Handschrift war früher wohl mit ›Alpharts Tod‹ und dem ›Nibelungenlied‹ n in einem Faszikel zusammen gebunden (Dietl
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nicht nur in Prosa, sondern auch in Versen angefertigt werden.110 Im Folgenden wird es mir darum gehen, die Besonderheiten von S vor dem Hintergrund der Ergebnisse herauszustellen, die für die Gothaer Redaktion festzuhalten waren. Zuerst ist eine grundlegende Reduktion metapoetischer Komplexität festzustellen, denn S bietet weder Prolog noch Epilog.111 Die Handschrift setzt in Vers 173 mit Eyn herzoch / was in os / terreich / Gesessen der / waz lobicleich / vnd was / an allen eren lobesam (1ra) ein,112 also zu Beginn der Vorgeschichte. Der Verzicht ist programmatisch für das Folgende: Es fehlt die verschachtelte Bildlichkeit, es fehlt die komplexe Konstellation von allmächtig-ohnmächtigem Erzähler und tugendhaftem Rezipienten und es fehlt nicht zuletzt das poetologische Postulat, mit dem G delectatio und utilitas als Zyklus beschreibt: Die Kernbegriffe der Dichtung – Minne, Aventiure und Tugend – werden nicht gesondert eingeführt. Der Fokus liegt auf dem Erzählten, nicht auf seiner intendierten Wirkung oder auf der Präsentation des Erzählers als problematischem Vermittler. Umgekehrt entfällt mit dem Epilog (sei es durch absichtliche Kürzung, sei es mechanisch durch Blattverlust) die umfängliche Rechtfertigung der Romanpoetik des ›Wilhelm von Österreich‹, die den Nutzen des Gesagten höher schätzt als seinen Wahrheitsgehalt (19506–19509), außerdem fehlen das Erzählereigenlob (19478–19487) und die Quellenfiktion (19561–19569) sowie die Datierung (19576f.). Diese Rahmung erscheint auf den ersten Blick, vor allem vor dem Hintergrund des ›Wilhelm von Österreich‹ in G, als eine Art poetologischer Paukenschlag und als Indiz für eine reduktionistische Darstellung in S. Die Stuttgarter Handschrift könnte so im Kontext der auf brevitas, Vereinfachung und Vermeidung komplexer Bilder bedachten Anlage gelesen werden, die vor allem dem
1999, S. 27), also der Fassung des ›Nibelungenlieds‹, die den ersten Teil der Dichtung nur knapp zusammenfasst und damit ebenfalls kürzende Tendenzen aufweist. 110 Zudem ist jedoch zu bedenken, dass in dieser Übergangszeit des späten 15. Jahrhunderts durchaus auch Langfassungen von höfischen Romanen parallel zu den Kurzfassungen kursieren können, im Falle des ›Wilhelm von Österreich‹ etwa die Heidelberger Handschrift H (Cpg 143, aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts) oder die Werningeroder Handschrift Wg, die jetzt in Halle liegt (Cod. Stolb.-Wernig. Zb 17, datiert auf 1474), vgl. dazu Dietl 1999, S. 20f. und S. 26. 111 Es handelt sich um mechanischen Verlust am Ende der Handschrift, ob und wie der Epilog aufbereitet worden wäre, lässt sich nicht rekonstruieren: Rohr 2002, S. 251 nimmt einen Verlust von ca. 900 Versen an. 112 Den Text der Stuttgarter Handschrift HB.XIII.4 zitiere ich nach dem Scan, den die Württembergische Landesbibliothek mir zur Verfügung gestellt hat; die Handschrift ist inzwischen auch via DFG-Viewer allgemein zugänglich gemacht worden, vgl. dazu den Link im Literaturverzeichnis. Um eine Vergleichbarkeit mit dem edierten Text zu gewährleisten, zähle nach den Versangaben der Ausgabe Regels, in Anhang 1 liefere ich tabellarisch den Textbestand von S parallel zum Bestand des edierten Textes.
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frühen Prosaroman zugesprochen worden ist.113 Sie böte damit auch größere »Benutzerfreundlichkeit« im Sinne eines eingängigeren Unterhaltungstextes. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Dinge nicht so einfach liegen und dass die S-Redaktion vielmehr zweigespalten ist: Bis zu Aglyes fünftem Brief bietet die Handschrift mit wenigen Abweichungen den Text, den auch die Edition Regels gibt.114 Dies gilt insbesondere auch für die Präsentation der Erzählerfigur, die nur minimal verändert wird. Selten wird eine Anrede der Rezipienten gestrichen (etwa in 990), ebenso selten wird eine solche Anrede verändert im Vergleich zur Gothaer Redaktion, und wenn solche Änderungen stattfinden, sind sie über den Befund einer sprachlichen Anpassung des Textes hinaus meist marginal.115 Es finden sich somit keine Eingriffe in das Bild der selbstbezogenen Erzählerfigur, die ihren Auftraggebern Minne, Aventiure, Natur huldigt und immer wieder zwischen Unfähigkeitsbetonung (6868) und Selbstbewusstsein (7276ff.) schwankt. Johann im ersten Teil der Handschrift S bietet dieselben Quellenbezüge (etwa 1071) und dieselben Grenzen seines Wissens (1048), er gibt sich als Beauftragter von Minne und Natur zu erkennen (1620, 7259) usf., wie dies auch für G zu konstatieren war. Ganz anders schaut es im zweiten Teil der Stuttgarter Handschrift aus. Ab Aglyes fünftem Brief an Wilhelm (7556ff.) wird in zunehmendem Maße gekürzt116 und grundlegend geändert, gerade was die Erzählerfigur angeht.117 Das stellt den zweiten Teil auf eine andere Basis als den ungekürzten Beginn. Die Darstellung wird gerafft, die Handlung wird auf das Wesentliche konzentriert. Schlüssel zu dieser Vereinfachung ist der Erzähler Johann; er wird zu einer Art Chronist mit sehr geringer persönlicher Beteiligung am Geschehen umgearbeitet.118 Die Ebene emotionaler Publikumsaffizierung, des Hineinziehens des 113 Brandstetter 1971, S. 162. 114 Regel listet Abweichungen von S nur unregelmäßig im Apparat seiner Ausgabe auf, er orientiert sich stärker an H. Vgl. auch seine abwertende Sicht auf S im Rahmen seiner Handschriftenbeschreibung (Regel 1906, S. XX). 115 Wenn etwa in der Edition eine Rezipientenanrede lautet: vernemt, ob min zunge / kain aventuer betiht / diu mich wise und riht / ze vraeuden und ze tagaldi! (1674–1677), dreht S den Spieß um: Vernemet ob mein zunge / Kein obentüre betichte / Die euch weise vnd richte / Zu freuden vnd zu dageldey¨e. So wird die produktionsästhetische Problematik in ein rezeptionsästhetisches Faszinosum verkehrt und der Blick vom schillernden Erzähler stärker auf das Publikum gewendet. Ein anderes Mal kundet euch mein zunge, statt dass kundet hie min zunge (3928) stehen würde, was ebenfalls den Bezug auf den Rezipienten intensiviert. 116 Nur in diesem Sinne kann Juergens 1990, S. 105 von einer Kürzung in »steigender Dosierung« sprechen. 117 Vgl. auch die Auflistung bei Schnell 1984, S. 223 und Anm. 49, S. 242: »Der Grund für diese Bearbeitung ist im Original selbst zu suchen, da dort größere Exkurse, Beschreibungen, Briefszenen erst in der größeren zweiten Hälfte begegnen«. Es wird allerdings nicht nur gestrichen, sondern auch Neues eingeschrieben, so dass die Begründung aus der Textstruktur des »Originals« (d. h. der Vorlage) allein nicht ausreicht, vgl. dazu unten. 118 Eine Ausnahme stellt etwa die direkte Anrede Wilhelms in Vers 16138 dar.
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Publikums in die Dichtung, entfällt durch diese Neubewertung der Erzählerfigur fast vollständig, vor allem auch deshalb, weil Johann nicht mehr mit den Protagonisten fühlt, spricht und interagiert. Er scheint von ihrem Schicksal abgetrennt zu stehen.119 Die Liste entsprechender Fehlstellen und Auslassungen ist lang und umfasst alle Bereiche des ›Wilhelm‹ in S. So entfallen sowohl zahlreiche direkte Publikumsanreden (z. B. 7875–7877,120 8057–8080121) als auch Auseinandersetzungen des Erzählers mit den personifizierten Damen Minne, Aventiure und Tugend (Aventiure etwa in 8212–8215 und 8240–8251), Apostrophen der Helden (8264– 8268) und emotional aufgeladene Passagen wie die Schilderung des Kampfes mit Alyant (8449–8694) sowie Mitleidsbekundungen des Erzählers für seine Helden (10301–10312).122 Am auffälligsten ist die reduzierte poetologische Präsenz der Figur : Der Erzähler blendet den metapoetischen Diskurs, der in der Gothaer Redaktion so dominant erscheint, mehrheitlich aus, die Dichtung erscheint weniger komplex, ebenso wie die Erzählerfigur selbst. Es handelt sich dabei nicht um ein explizit gemachtes neues Konzept des Erzählens, viel eher um ein Muster von Auslassungen und Streichungen, die zusammen einen neuen Sinn generieren. So wird z. B. der Name des Erzählers kein einziges Mal genannt,123 Bekenntnisse zur slihte (14614) oder zur Rolle des Wunderbaren für die Attraktivität der Aventiure (12634–12637)124 werden ausgelassen. Gerade an Kernstellen des poetologischen Diskurses, wie sie die Gothaer Redaktion bietet, zeigt S deutliche Leerstellen, so z. B. fehlt der sog. zweite Prolog125 (10793–10860) vollständig, ebenso die Reflexionen über den Tugendadel der Rezipienten (12316–12333) und vor allem auch die Scharnierstelle zwischen möglichem 119 Vgl. etwa das fehlende Einfühlen in Wilhelms Lage, das durch das Weglassen der Verse 12184–12187 zustande kommt. 120 Diese Auslassung betrifft die Aufforderung des Erzählers an seine Hörer, aufmerksam zu sein, wenn sie vom Töten im Krieg hören wollen – eine Aufmerksamkeitsheische, der im Text der Gothaer Redaktion bezeichnenderweise keine Kampfesschilderung folgt, sondern eine fortgesetzte Darstellung des Truppenaufmarsches. Während die Gothaer Redaktion durch solche Einwürfe die Aufmerksamkeit der Rezipienten über deskriptive Durststrecken zu retten versucht, braucht S diese Strategie nicht, da die entsprechenden Passagen fast vollständig fehlen. 121 Hier entfällt die Aufforderung, Wilhelms Kampfesmut anzuschauen (8076f.). 122 Wenn solche Mitleidsbekundungen erhalten bleiben, werden sie oft gekürzt, so etwa in 9060–9068, die Passage wird in S auf zwei Verse reduziert. 123 13228, 13692, 13727 (nur in H, vgl. Regel 1906, S. 191), 15103 werden gestrichen, vor der letzten Nennung in 19561 bricht S ab. 124 Voran geht ein ebenfalls gestrichener Rezipienteneinwurf, den der Erzähler mit einem pfi! (12632) beantwortet. In der Gothaer Redaktion steht das Bekenntnis zum Wunderbaren im Zusammenhang der Reflexion über ficta und facta, wie sie in Prolog und Epilog geboten werden – Aventiure wird als Rezipienten umwerbendes Phänomen deklariert, das gefallen muss. 125 Dietl 1999, S. 105.
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Happy End und dessen Verweigerung durch die Aventiure. An dieser Stelle erscheint gerade wegen der vorangegangenen Auslassungen die Komplexitätsreduktion plausibel, denn wo in der Gothaer Redaktion der Erzähler ein unerwartetes Weitererzählen rechtfertigen muss (16034–16039), findet sich die Problematik in der Stuttgarter Handschrift überhaupt nicht: Der Text ist tatsächlich nach dem Ideal der brevitas geformt und muss sie nicht umständlich heraufbeschwören. Vor allem aber fehlt der Erzählerfigur hier die notwendige Relevanz, um über das Ende der Dichtung zu reflektieren – auf der Erzählerebene wird der Fortgang der Handlung einfach hingenommen, die Dynamik hat sich auf die Handlungsebene verlagert. Auch der vom Erzähler dominierte Epilog der Dichtung fehlt in S. Der brevitas-Anspruch, der in Vers 17964 formuliert wird, steht jedoch in jedem Falle auch hier nicht topisch (wie in G), sondern mit gutem Recht. Dass gegen Ende der Dichtung eine wieder verstärkte Präsenz des Erzählers zumindest angedacht war,126 lässt sich aus den Apostrophen des Publikums (18055, 18159) sowie persönlichen Einlassungen (18010) und einer Anrede des Helden Wilhelm, den der Erzähler zum Kampf ruft (16138), erkennen – doch bricht S ab,127 bevor die Handlung zu einem Ende kommt, die poetologische Selbstrechtfertigung, die die Gothaer Redaktion im Sinne eines didaktischen Nutzens fiktionaler Dichtung formuliert, geht so verloren. Dies dürfte weniger einem konzeptionellen Schnitt am Ende der Handschrift128 als vielmehr dem Blattverlust geschuldet sein: Auch wenn vor dem Hintergrund des fehlenden Prologs ein absichtliches Auslassen des Epilogs nicht undenkbar erscheint, macht es die fragmentarische Überlieferungssituation unmöglich, den Text hierauf festzulegen. Insgesamt gilt damit, dass der Erzähler im zweiten Teil des ›Wilhelm‹ in S so weit zurückgenommen wird, dass die Dichtung im Vergleich mit der Gothaer Redaktion bisweilen ortlos erscheint. Hierzu trägt auch bei, dass intertextuelle Verweise etwa auf die Gralswelt fehlen (17696, 17784, 17919 finden sich nicht). Es geht dabei mitnichten um ein bloßes »Beschneidungsgeschäft«,129 vielmehr akzentuiert S gezielt neu, indem z. B. der Exkurs um den Esslinger Bürger (13278, komplett gestrichen) und auch der tugendhafte Schreiber fehlen. So stehen die Tendenzen der beiden Dichtungsteile auf den ersten Blick unversöhnlich gegeneinander :130 Dem omnipräsenten, ambivalenten Erzähler des 126 Dies passt auch zum Befund von Rohr 2002, S. 251, der für den Schluss der Dichtung eine abnehmende Frequenz und Quantität der Kürzungen insgesamt betont. 127 Dasselbe gilt für die verwandte Darmstädter Handschrift, die mit Vers 18276 mitten im Satz abbricht. 128 Juergens 1990, S. 106. 129 Regel 1906, S. XX. 130 Vgl. auch Rohr 2002, S. 253: »Es bleibt aber problematisch, eine Gesamtstruktur des neuen Romans aufzuzeigen, d. h. den ungekürzten mit dem konzentrierten Teil zusammenzu-
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ersten Teils wird ein zurückhaltender, nicht mit der Handlungsebene und kaum mit dem Publikum interagierender Erzähler des zweiten Teils zur Seite gestellt. Der Wandel ist mit den Händen zu greifen – trotzdem scheint er für den Redaktor kein Problem dargestellt zu haben, denn offenkundig ist er am Erzähler als Rolle nicht interessiert: Die einzige Passage des ersten Teils, die ausschließlich der Erzählerfigur gewidmet ist, der Prolog, fehlt, einen umfangreichen Exkurs über den Sittentadel, den S in Anlehnung an H in die Dichtung inseriert,131 legen die Stuttgarter und die Heidelberger Handschriften nicht dem Erzähler, sondern einer Figur der Handlung in den Mund: Dies bringt, im Kontext der übrigen Kürzungen in S, deutlich das Desinteresse an den Vermittlungskompetenzen der Erzählerrolle zum Ausdruck. S behält Johann nur als Teil eines umfangreichen, über die Figur hinausreichenden Gesamtkomplexes der Dichtung bei, solange die Geschichte reproduziert wird: Die initiale Reise des Helden, die Entstehung der Liebe, die Trennung und die sehnsuchtsvollen Briefe werden en detail geboten, dabei wird der Erzähler als emotionalisierende und den Handlungsgang affirmativ unterstützende Instanz genutzt. Aglyes Aufforderung an Wilhelm in ihrem fünften Brief, der den Übergang zwischen den Teilen markiert: la dich in ritterschefte sehen! / din wird hoer ich gerne jehen (7623f.) nimmt der Redaktor ernst, er beschleunigt in der Folge die Darstellung und konzentriert sich auf den Helden und sein Handeln. Der Erzähler ist dabei weniger wichtig für den Fortgang der Handlung als Wilhelm, Johanns metapoetische Unentschlossenheit und zur Schau getragener programmatischer Aussagewille erscheinen für die Dynamisierung hinderlich und werden zurückgestellt.132 Als neue strukturierende Instanz bietet S im Gegenzug paratextuelle Gliederungen an, die den Zugang zur Handlung erleichtern sollen. Es finden sich gliedernde Zwischenüberschriften,133 vor allem ist jeder Brief in dieser Weise bringen« – gleich von einem neuen Roman zu sprechen, halte ich vor dem Hintergrund von Bumkes Fassungsbegriff für zu gewagt, dennoch bleibt die Frage nach dem Zusammenhang der Teile bestehen, vgl. dazu unten. 131 Vgl. dazu Regel 1906, S. 281–283 und die Ausführungen unten. 132 Dass die Zweiteilung ausgerechnet im fünften Minnebrief erfolgt, bedeutet dabei nicht, dass der Text bis zu diesem Zeitpunkt nicht bereits Längen solcher Art aufzuweisen hat, wie sie im zweiten Teil dann konsequent gestrichen bzw. gekürzt werden: Als Melchinor seine Verwandten gegen Walwan sammelt, bietet S die entsprechende Aufzählung in der gleichen Länge wie G (5773–5819). Vgl. auch eine rechtfertigende Quellenberufung vor der Schlacht in 6102, die die Dokumentation der Kampftruppen legitimieren soll. 133 Vgl. zur Tradition der gliedernden und strukturierenden Überschrift in der mittelhochdeutschen Literatur Stolz/Viehhauser 2006, S. 318f. und bes. S. 319 zur »mediale[n]«, d. h. rezeptionssteuernden Funktion. Vgl. weiters den Beitrag von Backes 2006 im selben Band zur ähnlich gelagerten Funktion von Rubriken. Ähnlich wie die Zwischenüberschriften funktioniert auch die Hervorhebung der Fachbegriffe aus der Humoralpathologie in Vers 3226ff.
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ausgestellt,134 im zweiten Teil der Dichtung werden sogar nur noch Briefe markiert, aber keine Handlungsstationen mehr hervorgehoben: Die Diskussion über die Liebe, die die Briefe (in S verkürzt und um Elemente der Affektrhetorik bereinigt) vorführen, betont den Schwerpunkt des ›Wilhelm von Österreich‹, der eindeutig auf der Minne und dem minnenden Verhalten insbesondere Wilhelms liegt. Offenkundig versucht S, die Fülle des vollständig erhaltenen ersten Handlungsteils durch ordnende Zwischenüberschriften mit inhaltlichem Bezug besser zugänglich zu machen (etwa Hie reit wildehelm in daß donder gepirge [vor 3437] oder auch nur Ein onder obenteure [vor 4891]). Diese Paratexte machen deutlich, wie S gewichtet. Der erste Teil der Dichtung, der einem »kulminierenden Bauprinzip« folgt, wird konservierend überliefert und entsprechend dokumentiert, ganz einfach, weil Auslassungen hier die Tektonik der sinnstiftenden Anordnung stören würden. Für den zweiten Teil, der mit einem »additiven Bauprinzip«135 arbeitet, wird eine andere Dynamik der Geschichte unterstellt: Die Handlung kann hier auf den Grundlagen des ausführlichen ersten Teils eine schnelle Entwicklung nehmen, es wird gerafft und gekürzt. Insgesamt zeigen die Erzählerfigur und die paratextuelle Ordnung einen Fokus auf die Minne, der im Vergleich zu G noch intensiviert wird, während Elemente des Kampfes und auch der poetologischen Reflexion zurückgenommen werden. Kürzungen im ersten Teil des ›Wilhelm‹ zielen auf die situative Reduktion inhaltlicher Komplexität (Prolog) oder reduzieren die Bedeutung der Erzählerfigur (Joraffin-Exkurs), daneben finden sich andere, eher kleine Justierungen. Im zweiten Teil des Romans, der die Trennung der Liebenden (aus Sicht von S rein quantitativ, ohne qualitativen Mehrwert) verlängert, wird das herausgenommen, was den Weg zur Zusammenführung der Liebenden behindert und vom Themenschwerpunkt Minne ablenkt. Dies betrifft vor allem die Schlachtenbeschreibungen durch den Erzähler, der dadurch weiter in seiner Präsenz eingeschränkt wird. Die mirabilia, denen Wilhelm auf seinem Weg begegnet, bleiben dagegen erhalten, sie haben offenkundig einen eigenen Wert und verweisen darauf, dass in der Stuttgarter Handschrift die Figuren- und Handlungsebene anders behandelt werden als die Ebene der Erzählerrede. Die späte Versfassung, so lässt sich festhalten, reduziert die Rolle des Erzählers, weil die Handlung dynamischer gestaltet wird und auch weil die Minne deutlicher in den Fokus des Romans rückt. Die paratextuellen Ergänzungen der Handschrift können allerdings die Vakanzen nicht besetzen, die sich durch diese 134 Sie stehen vor Vers 460, 523, 555, 657, 771, 1930 (Brief), 2004 (Brief), 2095 (Brief), 2547 (Brief), 2596 (Brief), 2875 (Brief), 2993 (Brief), 3113, 3437, 3537, 3585, 4469, 4891, 6697 (Brief), 7007 (Brief), 7423 (Brief), 7539 (Brief), 9795 (Brief), 9989 (Brief), 11044 (Brief). 135 Begriffe nach Voelkel 1978, S. 55–62, die allerdings keine Vermengung der Bauprinzipien in ein- und derselben Dichtung annimmt.
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Zurücknahme der Erzählerfigur ergeben; auch die Dominanz des Erzählten über das Erzählen136 reicht nicht aus, um die Lücke zu füllen. Das hat weitreichende Folgen: Die zyklische Verbindung von delectatio und utilitas der Gothaer Redaktion fehlt hier, da das wesentliche Element ihrer Anlage, die ambigue Erzählerposition, nicht ausgefüllt wird. Das Verhältnis zwischen Erzähler und Figuren, das in G eine intensive und vor allem affektive Auseinandersetzung des Rezipienten mit der Handlung befördert hat, entfällt ebenfalls. In der Konsequenz muss auch die Figurenebene neu bewertet werden. Auch im Hinblick auf die Figuren findet sich ein Bruch in S – im ersten Teil werden nur wenige Akzente neu gesetzt,137 größere Eingriffe in die Handlungskonzeption im Vergleich zur Gothaer Redaktion fehlen, S folgt jedoch der Heidelberger Redaktion und lässt Wilhelms Mutter das Kind zuerst Liupold nennen.138 Bisweilen sorgt die Änderung einzelner Worte für minimale Sinnverschiebungen; so ist Aglye in einer Erzähleranrede an Wilhelm nicht mehr din gefuer (6394), sondern dein figure (fol. 49ra), was an den Bilddiskurs zu Beginn der Dichtung anknüpft. Auch die veränderte Helmzier des Cupido-Helmes, der einen Smaragd anstelle eines Diamanten aufweist, ohne dass dies die Ausdeutung des Helmes ändern würde, bleibt ohne größere Relevanz. Deutliche Verschiebungen finden sich erst im zweiten Teil der Dichtung, nach Aglyes fünftem Liebesbrief. Wie für die Erzählerfigur gilt auch für die Figurendarstellung und die Handlungsführung in diesem zweiten Teil, dass der Text mit seinen Eingriffen vornehmlich zusammenfasst und kürzt, wobei die Kunst des Weglassens hier darin besteht, durch die Auslassungen neuen Sinn zu stiften. Betroffen hiervon ist vor allem der Held. Während Wilhelm in der Gothaer Redaktion als
136 Rohr 2002, S. 253. 137 So wird z. B. Wilhelms Ausbildung gerafft und bereinigt geboten und um die septem artes reduziert. Die ausgelassenen Fähigkeiten gehen Wilhelm dabei nicht verloren, sie werden nur nicht erwähnt, sein Unterricht ist ein Minimalprogramm, das ihn dennoch nicht daran hindert, sich mit den Zeichen der menschlich complexione (3226) auszukennen und Bildung auszustellen: Die Kürzung in S hat somit keine weitreichenden Konsequenzen, sondern setzt lediglich situationsgebunden einen Schwerpunkt auf künstlerisches Schaffen sowie Lesen und Schreiben, d. h. die Kernkompetenzen für einen Liebesbriefschreiber. Vgl. zur Passage Anhang 2. 138 Das verweist auf einen Anspruch historischer Anbindung der Figur, die über eine Scharnierfunktion zwischen zwei Dynastien hinausgeht: Wo die Gothaer Redaktion das fiktive Zwischenglied zwischen Babenbergern und Habsburgern vorstellt (Liupold – Wilhelm – Friedrich), macht S den Helden zu einem Babenberger mit einer Art zweiter, außerhalb der Abenteuerzeit angesiedelter Identität, die für den eigentlichen Verlauf der Handlung aber keine Rolle spielt. Müller 2007, S. 48 spricht davon, dass Johann den Romanhelden zwischen die Herrschergeschlechter »interpoliert« (dort ebenfalls in Anführungszeichen). Zu Wilhelms Namen vgl. ebd., S. 215f. Dietl 1999, S. 56 spricht für die zweite Nennung des Namens Liupold für Wilhelm in Vers 5425, die in S, H und Da auftaucht, von einer »Entfiktionalisierung«.
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ambivalenter, bisweilen auch weinerlicher Ritter erscheint, macht ihn die Stuttgarter Handschrift zu einer starken, ungebrochenen Figur. Dies gelingt auf dreierlei Weise: zum einen durch das Kürzen affektgeladener Monologe (9476–9505)139 sowie von Beschreibungen seines Jammers und seiner Schwäche (etwa in 9306f., 10991). Wilhelms Klagen werden verknappt, etwa sein Gespräch mit Parklise, das von mehr als 300 Versen auf etwas mehr als 60 reduziert und um alles Selbstmitleid bereinigt wird (ab 11182). Die Briefe stechen dabei als besondere Fälle heraus. So ist etwa Wilhelms Trauerbrief Nr. 7, der sich in der Gothaer Redaktion durch absolute Verzweiflung auszeichnet, in S zwar stark gekürzt (88 Versen in G stehen 24 in S gegenüber), aber dabei nicht aller rhetorischen Mittel der Affizierung beraubt (fol. 66va): Wilhelm konstatiert bewegt, wie sehr er unter der Trennung leidet und bringt zum Ausdruck, dass er bereit ist, für Aglye in den Tod zu gehen. So wird sein Leiden auf ein verständliches Maß reduziert, das Überbordende der Gefühle wird nicht ersatzlos gestrichen, sondern zurechtgestutzt und in ein homogenes Gesamtbild der Figur integriert. Die Minne als leitende Instanz wird gerade durch dieses Maßhalten so akzentuiert, dass sie es Rezipienten leichter macht, Anteil zu nehmen, sie ist »normal« und nachvollziehbar. Zweitens wird Wilhelms Hoffnungslosigkeit reduziert und sein Profil als Macher, als tätiger Ritter geschärft. G schildert umfangreich das hoffnungslose Liebesleid der beiden Helden, die sich Innenräume gegen das feindliche Außen erschaffen, um in diesen Residuen ihrer Phantasie und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Dies ist auch Bestandteil einer differenziert argumentierenden, auf Nuancen und Gefühlsschwankungen verweisenden Individualitätskonzeption.140 Solches Schwanken im Innern des Helden nimmt der zweite Teil des ›Wilhelm von Österreich‹ in S deutlich zurück, und so wird auch die Spannung zwischen innen und außen abgeschwächt. Gerade in Aglyes fünftem Brief fehlt, im Vergleich zur Gothaer Redaktion, in S die Aufforderung an den Geliebten, sich etwas auszudenken, was die Heirat mit Walwan verhindern könnte (7596), die Situation wird lediglich konstatiert, ein Handeln wird nicht eingeklagt, und das verbessert Wilhelms Position ungemein: Denn egal was er tut, er wird die Anforderungen übertreffen, die an ihn gestellt sind (es gibt keine). Wenn Walwan von Wilhelm im Zweikampf getötet, brutal verstümmelt und mit dem martialischen Ausruf noch laestu mir Aglyen! (8412) bedacht wird, so gewinnt dieses Verhalten des Helden vor diesem Hintergrund neues Gewicht: Wilhelm ist
139 Nicht nur Wilhelms Klage entfällt, sondern folgerichtig auch Aglyes Aufforderung an ihn, Contenance zu wahren, so wird die Situation umfassend entschärft. 140 Schneider 2004, S. 58 kontrastiert folgerichtig den Helden als »Vertreter der menschlich figur«, als den sie Wilhelm liest, mit dem perfekten Ritter, der ein »makelloses Tugendsystem« vertritt.
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nicht so sehr passive Figur, die in eine Situation gerät, sondern erscheint als tapferer Macher. In S wird Wilhelm zum Kämpfer. Drittens werden Wilhelms Handlungen disambiguiert, so dass das »Unbehagen an seinem Verhalten«141 schwindet. Dies geschieht besonders deutlich dann, wenn er den zweiten Bräutigam seiner Geliebten, Wildomis, zwar im Turnier tötet, wie dies auch in der Gothaer Redaktion geschieht, dafür aber keinen vergifteten Speer nutzt – so wird die gedoppelte Tötung auf einen normalen Sieg zurechtgestutzt,142 dem Wilhelms innerer Monolog als martialische Ankündigung seiner Tat vorausgeht: Wildehelm gedocht ich engan dir / Das du aglien wolst nemen mir (10254f. statt: Wildehelm daht: ›ich erbander / Des hailes min, Aglyen‹). Solche Feinjustierungen machen Wilhelm zum wesentlich konsistenteren, da eindimensionalen Helden, dessen innere Konflikte zurückgefahren werden und der stringenter zu agieren vermag. Da zudem das Lob seiner Tapferkeit in der Regel nicht gekürzt wird,143 bleibt bei aller brevitas genügend Raum, den kämpfenden Wilhelm mit einem Erdbeben zu vergleichen (17646). Aglyes Redeanteile und ihre Präsenz leiden unter den Kürzungsbestrebungen der Stuttgarter Handschrift stärker als die Wilhelms. Sie ergibt sich deutlicher in ihr Schicksal, wenn es aussichtslos erscheint (7589–7596). Wenn es an Wilhelm ist zu handeln, zeigt sie klar, dass ihm die Entscheidungsgewalt zukommt: waz du wilt daz sol geschehen (9601 anstelle von waz wiltu lieber man daz ich tuo?). Insbesondere der Wegfall des Kampfes mit Alyant, der auch umfangreiche Vergleiche zwischen dessen Geliebter Elena und Aglye umfasst, schwächt ihr Profil, aber auch das Ende der Geschichte, in dem sie in G deutlich größere Präsenz in der Paarbeziehung zeigen kann (bis hin zum Isolde-ähnlichen Nachsterben), fällt Kürzungen und Blattverlust in S zum Opfer. Die Dichtung rückt so, teils gezielt, teils durch mechanische Außeneinwirkung, die zum Fehlen des Schlusses beiträgt, den Helden zulasten der Heldin stärker in den Vordergrund. Erzählt wird in S eine Geschichte der treuen Liebe und tapferen Bewährung, die mit Hilfe von List zur Ehe führt. Besonders in der Handschrift S trägt der Roman den Namen seines Helden als Titel zu Recht, während in der Gothaer Redaktion gerade die Interaktion des Paares grundlegend für die Dichtung und auch die Auseinandersetzung des Rezipienten mit der Minne und ihren Entwicklungen ist.
141 Vollmann-Profe 1991, S. 130. 142 Zu dieser Passage vgl. z. B. Meyer 2013, S. 130, Anm. 50 und Scholz 1987, S. 90–93. 143 Es sei denn, sie werden als Teil einer umfassenderen Kampfbeschreibung weggelassen, wie dies etwa bei Wilhelms Kampf mit Alyant (8449–8694) der Fall ist.
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Die Struktur des ›Wilhelm von Österreich‹ in S: Hypoplastische Reduktion S zeigt damit eine eigene und spezifische »Sinnkonstitutionsleistung[]«144 im Vergleich zur Gothaer Redaktion des ›Wilhelm‹. Eine eigene Fassung des Stoffs erschafft die Stuttgarter Handschrift aber nicht. Dafür bleibt sie trotz aller Kürzungen inhaltlich nicht nur zu nah an der Gothaer, sondern auch an der Heidelberger Redaktion. Sie weist dabei alle vier Typen redaktioneller Kürzung auf, die Henkel für die spätmittelalterlichen Kurzfassungen höfischer Romane herausgearbeitet hat:145 Reduktion der Metaebene (Fehlen des Prologs),146 »kleinere Reduktionen um ein bis drei Reimpaare« (621–623, 681f.),147 sodann eine »Kürzung von größeren Handlungsabschnitten im Umfang von etwa 10– 400 Versen«,148 wenn dreizehn Verse149 in der Beschreibung von Wilhelms Ausbildung fehlen. Daran, dass auch umgekehrt Plusverse (z. T. gemeinsam mit der Leithandschrift der Heidelberger Redaktion) zu finden sind, zeigt sich, dass Reduktion allein die Stuttgarter Handschrift nicht ausmacht. Neben Joraffins didaktisch aufbereitete 102 Verse zum Sittentadel (mit rubrizierter Überschrift das mercke man und weib als didaktische Zugabe ausgezeichnet)150 treten zudem 28 zusätzliche Verse zur Namensfrage Liupold/Wilhelm (nach 567), es finden sich auch einzelne Plusverse (501) und Verspaare (6440f.): Es wird gekürzt und gespart, aber eben nicht nur. Im ersten Teil von S bleibt viel »altes« Material erhalten, erst im zweiten Teil, wenn der Spannungsaufbau nicht mehr durch eine kausale Verknüpfung von Einzelelementen erfolgt, sondern auf additiver Reihung von Abenteuern basiert, wird stärker gekürzt, vor allem bei dilatationes, digressiones und descriptiones, die allesamt im ersten Teil unangetastet bleiben. Die »Kürzungen innerhalb der Handlung selbst«151 machen im zweiten Teil einen wesentlichen Bestandteil der Überarbeitung aus. Diese auf den ersten Blick disparate Mischung provoziert die Frage nach dem Bauprinzip der Handschrift. 144 Strohschneider 1991, S. 430. 145 Vgl. auch Rohr 2002, S. 252: »In den Auslassungen sind alle vier Typen Henkels vertreten«. Hinzuzufügen ist, dass man für diese Diagnose die beiden Dichtungsteile differenziert betrachten muss. Henkel 1992 erstellt seine Studie unter Einbeziehung auch der Stuttgarter Handschrift des ›Wilhelm von Österreich‹. 146 Henkel 1992, S. 7 spricht von »Verknappung bzw. Streichung von Passagen, die nicht Teil des Handlungsgangs sind, sondern ihn begleiten und reflektieren: Erzählerkommentare und Exkurse« und weist darauf hin, dass hier Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zum Publikum beschnitten werden. 147 Ebd. 148 Ebd. Die Größenordnung ist problematisch, was natürlich mit der Relativität aller quantitativen Angaben zusammenhängt. 149 12 Verse zählt die Abkürzung, wenn man das Zusammenziehen von Vers 642f. in eine Zeile nicht berücksichtigt. 150 Vgl. die Transkription in Anhang 3. 151 Ebd.
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Da literarische Werke auf eine vorgängige Interessenbildung des Publikums rekurrieren und die weitere Interessenbildung selbst mit gestalten helfen,152 also interaktiv mit der Umwelt verwoben sind, in der sie entstehen und rezipiert werden,153 muss die S-Redaktion des ›Wilhelm von Österreich‹ als ganz besonderer Repräsentant der von Henkel angesprochenen »Mehrschichtigkeit« literarischer Interessensbildung gelten.154 Denn der Text kombiniert brevitas, Handlungs- und Ergebnisorientiertheit sowie Vereinfachung gerade im Umgang mit komplexen Sachverhalten auf der einen Seite mit rhetorischem Ornat, diffiziler Poetik und der Hyperplasie einer in sich verschachtelten und über sich hinaus wuchernden Liebes- und Abenteuergeschichte auf der anderen Seite. Dabei wird die Handlung inhaltlich bis zu dem Moment, in dem der Text vorzeitig abbricht und zum Fragment wird, zwar verkürzt, aber doch den Hauptlinien der älteren Redaktion folgend erzählt. Strukturell findet hingegen ein Bruch zwischen Teil I und II des Romans statt, weil gegen Ende das tragende Gerüst des hyperplastischen Erzählens gekürzt wird, das der erste Teil noch (mit nur leichten Reduktionen) ausstellt – eine Art hypoplastische Rücknahme der Komplexität zugunsten eines eingängigen Rezeptionsangebotes. Ganz offenkundig trägt diese Form des Eingriffs der inneren Tektonik des ›Wilhelm‹ Rechnung, wie sie die G-Redaktion darstellt: Teil I konstruiert (im Sinne einer Wie-Spannung) die Grundlagen der Handlung und exponiert die Helden in ihrem Liebesleid. Teil II ergänzt additiv Proben und Herausforderungen, die zudem durch Exkurse, neue Schwerpunkte u. ä. in ihrer Prägnanz verwässert und damit weniger eingängig geschildert werden. Die Wie-Spannung ist über 2000 Verse Kampfschilderung kaum aufrecht zu erhalten, wenn strukturell vereinfacht die Frage nach der Minne und ihrer Verwirklichung im Vordergrund steht. Teil II wird deshalb in S knapper, stromlinienförmiger und eingängiger gestaltet, stellt man ihn vergleichend neben die Gothaer Redaktion. Die zusammengestutzte Präsenz des Erzählers ist dabei mehr als nur ein Kollateralschaden der allgemeinen Tendenz zur Kürzung, sie ist programmatisch gemeint: Poetologischer Überschuss wird gestrichen, die Vieldeutigkeit wird vereindeutigt. 152 Vgl. allg. zum Roman in dieser Hinsicht Bauer 2005, S. 5. 153 Ridder 1998, S. 356: »Im Rahmen eines erweiterten Literaturbegriffs wäre auch den bewußten redaktionellen Umformungen Aufmerksamkeit zu widmen, die in gleicher Weise wie die autorgebundenen und autornahen Werkfassungen als Formen des Gebrauchs die Tradierung und Veränderung des Werktyps dokumentieren.« Dieser erweiterte Literaturbegriff hat hier zu gelten. 154 Henkel 1992, S. 9: »Ein literarisches Werk antwortet in Stoffwahl, Inhalt, Darstellung und poetischer Faktur auf eine vorfindliche oder vom Autor vorausgesetzte literarische Interessenbildung. Deren Mehrschichtigkeit zeigen die Kurzfassungen, die neben dem Werk oder in zeitlichem Abstand dazu entstehen und die prozeßhaft die Werkrezeption begleiten.«
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Das zyklische Verhältnis zwischen delectatio und utilitas wird dadurch zugunsten der delectatio verrückt, welche ohne die zahlreichen kognitiven Stolpersteine wesentlich leichter zu erreichen ist.155 Dass mit den Kürzungen auch innere Konflikte, politische Allusionen und intertextuelle Bezüge (v. a. zu Wolfram von Eschenbach) verloren gehen, stört S nicht, die Handschrift stutzt das hyperplastische Erzählen zurück und reduziert es auf die Überhöhung der Minne (mit vermindertem Pathos), die Qualität des Helden (mit vermindertem Jammer), sowie die Größe der Prüfungen, die ins Allegorische ausgreifen (mit verminderter Gefährdung). Da sie den Erzähler aus dem Scheinwerferlicht nimmt, fehlt der Handschrift S jedoch ein zentrales Moment, das der multiplen Anknüpfungsmöglichkeiten für den Rezipienten, der vom Erzähler zwischen distanzierter Betrachtung und Identifikation hin- und hergeführt und zu einer affektiven wie auch intellektuell wachen Rezeption im Spannungsfeld von emotional wahrgenommenen Inhalten und hochstehender, artifiziell ausgezeichneter Form, die vom Kenner zu genießen ist, angeleitet wird. Entscheidend in dieser Konstellation ist, dass der metapoetisch wache erste Teil der Dichtung mit nur geringen Änderungen beibehalten wird, dass gleichsam zu Beginn die poetologische Grundlage des ›Wilhelm‹ nachvollziehbar bleibt, bevor im zweiten Teil eine Beschleunigung des Geschehens und eine Vereinfachung der Darstellung geboten wird. Greifbar wird der Versuch, eine komplexe Dichtung zu vereinfachen, ohne sie allein auf die summa facti und die relevanten Erzählkerne zu reduzieren. Die hyperplastische Anlage wird zum Aufbau der narrativen Tektonik genutzt, um in einem zweiten Schritt in der vereindeutigenden Fokussierung auf den Helden reduziert zu werden:156 S führt gleichsam das Angebot der Dichtung und eine spezifische Deutungsauswahl paradigmatisch vor Augen. Dass S mit dieser Deutung nicht allein steht, sondern in der Darmstädter Handschrift ein weiterer Beleg für diese Lesart des ›Wilhelm‹ zu finden ist, weist die Stuttgarter Interpretation als ein zeitspezifisches Phänomen aus. Offenkundig verursacht die Kombination von hochkomplexer An155 So verortet G z. B. den Merlinkampf umfangreich und schwer nachvollziehbar, S vereinfacht (wie alle Zeugen der Heidelberger Redaktion) Parclises Herkunftsbericht (10862ff.), also die Erläuterung der Gründe für den Kampf, und kürzt große Teile der Kampfbeschreibung selbst und beschränkt sich auf Highlights. Wilhelm erscheint als tapferer Kämpfer, der Kampf ist vereinfacht und klarer strukturiert, ohne dass der Spannungsbogen zerstört würde. 156 Die sich anschließende Frage danach, wie die Minne und ihr Verhältnis zur Gesellschaft in diesem neuen Kontext zu bewerten sind, kann ich im vorliegenden Zusammenhang nicht abschließend beantworten – es fällt allerdings auf, dass der Innenraum, den G affektrhetorisch aufgeladen in den Briefen entfaltet, umfangreich eingeschränkt wird. Es scheint in S nicht nötig zu sein, das Minnekonzept des Minne- und Aventiure-Romans scheint ausführlich aufzufächern und den Innenraum der Figuren zu präsentieren. Dies könnte darauf hindeuten, dass das novum des späten 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts im 15. Jahrhundert nicht mehr hergeleitet und erläutert werden muss.
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lage und vereinfachender Ausführung den zeitgenössischen Rezipienten geringere Schwierigkeiten als dem modernen Leser, der die lectio difficilior der Gothaer Redaktion präferiert (wie sich an den Schwerpunktsetzungen der Forschung ablesen lässt). Dass die lectio facilior, die mit Kürzungen arbeitet, keine vollständige Vereinfachung bietet, sondern die komplexe Grundstruktur der Dichtung beibehält, um sich in einem zweiten Schritt mit ihr auseinanderzusetzen, weist die Stuttgarter Handschrift (und ihre Darmstädter Schwester) als Zeugen einer aktiven Rezeption des ›Wilhelm‹-Stoffes im späten 15. Jahrhundert aus. Die Neuerungen, die vorgenommen werden, erinnern in einigen Bereichen an Spezifika von Prosifizierungen (Kürzungen, Vereinfachungen etc.), vor allem aber belegen sie eindrücklich, dass die Hyperplasie des »Maximalprogramms«, wie es in der Gothaer Redaktion entfaltet wird, zur produktiven Auseinandersetzung einlädt – diese poetologisch fruchtbare Anlage dürfte mit ein Grund für die lang anhaltende Beliebtheit des Werkes und die zahlreichen Bearbeitungen sein, die es erfahren hat und für die S als eine Lesart des Stoffes einsteht.
Der Prosa-›Wilhelm‹ von 1481 Vorbemerkungen Während die Stuttgarter Handschrift eher am Rande der ›Wilhelm‹-Forschung steht, hat die gedruckte Prosaversion des Textes viel Aufmerksamkeit gefunden.157 Im Vergleich zu G und auch H158 entrhetorisiert,159 vereinfacht160 und kürzt161 der Druck erheblich, das Fazit der Forschung ist mehrheitlich niederschmetternd: »Lustlosigkeit und Verdruß« machten das Gesamtbild aus,162 von »Trivialisierung«163 ist die Rede, wobei die Relation zu den Versvorlagen unterschiedlich eingeschätzt wird: Bisweilen wird von völliger Abhängigkeit ausgegangen (die die relative Erfolglosigkeit des Druckes mit lediglich zwei Auflagen erklären soll),164 immer wieder wird aber auch eine künstlerische Auto157 Vgl. z. B. Sharma 1969, Melzer 1972, Straub 1974, außerdem die Betrachtungen in Ridder 1998, S. 355–372, Dietl 1999, S. 294–331. 158 Eine genaue Zuordnung der Druckfassung zu einer Redaktion des ›Wilhelm von Österreich‹ ist dabei nicht möglich, der Druck steht der Heidelberger Redaktion aber nahe, vgl. Straub 1974, S. 51. 159 Z. B. Straub 1974, S. 87, allg. Brandstetter 1971, S. 145. 160 Brandstetter 1971, S. 149. 161 Sharma 1969, S. 50. 162 Straub 1974, S. 65. Straub sieht darin im Übrigen eine Gemeinsamkeit zwischen Prosadruck und Handschrift S. 163 So der Titel von Melzer 1972. 164 Koppitz 1963, S. 53: »Diese Fassung läßt kaum ein Geschehnis, eine Schilderung aus,
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nomie erkannt.165 Mir geht es im Folgenden um den engen literarhistorischen und strukturellen Konnex166 zwischen spätem Vers und früher Prosa, also um die Gemeinsamkeiten ebenso wie die Differenzen zwischen den Versbearbeitungen und den Prosifizierungen des 15. Jahrhunderts, wobei von den fünf Prosatextzeugen167 nur einer berücksichtigt werden soll – der Erstdruck von 1481, mit dem der ›Wilhelm‹ den Schritt ins neue Medium gemacht hat.168 Als Vergleichspunkt eignet sich dieser Druck dabei aus zweierlei Gründen besonders: Zum einen zielt er auf ein größeres, nicht genau eingegrenztes Publikum ab, das den Text erwerben soll: Das bedeutet den marktwirtschaftlichen »Ernstfall« für die Prosaversion, die sich unter den Bedingungen von Angebot und Nachfrage behaupten muss. Zum anderen bietet der Druck ein Zusammenspiel von Text und Bild, das die Rezeption neu ausrichtet, wird doch, gerade im zweiten Teil der Dichtung, ein umfassendes illustratives Begleitprogramm zum Text geboten – Vergleichspunkte aus der handschriftlichen Überlieferung der Zeit fehlen, da die kostbaren Illustrationen der Zürcher Prosa-Handschrift bis auf eine verloren sind.169 Die beiden170 zehn Jahre auseinander liegenden Drucke Sorgs gleichen sich
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schleppt oft den ganzen Apparat abstruser ›Aventüren‹ kaum verändert mit, weswegen normalerweise zu erwarten wäre, daß es bestenfalls bei einem Versuch eines Druckes, damit ein Geschäft zu machen, bleiben würde.« Straub 1974, S. 66: »Die Autorität der Quelle erachtete er [der Prosabearbeiter ; d. Verf.] nur insoweit als verbindlich, als er es nicht wagte, den Stoff in seinem Grundgefüge anzutasten: Er hat weder neue Episoden oder Motive eingefügt, noch einzelne Szenen, die thematisch etwas Neues brachten, einfach übersprungen. Auf formalem Gebiet aber scheute er sich nicht, nach eigenem Ermessen zu schalten.« Brandstetter 1971, S. 26–29 spricht von »Individuation« in der Bearbeitung. Ridder 1998, S. 355. Die Prosafassung des ›Wilhelm von Österreich‹ ist in fünf Textzeugen überliefert, davon zwei Handschriftenfragmente. Zum einen handelt es sich um München, BSB, Cgm 5250/78 (2. Hälfte 15. Jahrhundert) (vgl. Schneider 2005, S. 238f.), zum anderen um Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 153 (16. Jahrhundert) (vgl. Barack 1865, S. 156), letzteres bezeugt eine handschriftliche Verbreitung über die Inkunabelzeit hinaus. Die Zürcher Handschrift Cod. C 108 von 1477 (vgl. Dietl 1999, S. 294f.) dokumentiert den vollständigen Text mit wenigen Lücken (vgl. dazu auch Straub 1974, S. 41), ist aber wohl nicht als Vorlage der beiden von Anton Sorg 1481 und 1491 in Augsburg besorgten Drucke anzusehen, obwohl zahlreiche Übereinstimmungen bestehen, wie Straub 1974, S. 41–50 und affirmierend Dietl 1999, S. 295 betonen. Die Handschrift und die Fragmente belegen in jedem Fall ein Interesse an der prosifizierten Geschichte im »alten« Medium; die Grenzen zwischen Handschrift und Druck sind nicht klar zu ziehen, der »»Normaltyp« erzählerischer Darstellung« (Schnell 1984, S. 225), also die Prosa, setzt sich ab dem Ende des 15. Jahrhunderts sukzessive durch, ohne auf die Mediengrenze zwischen Handschrift und Druck Rücksicht zu nehmen. Vgl. die Edition von Podleiszek 1964, S. 191–284. Vgl. dazu Straub 1974, S. 41. Zum rekonstruierten Druck der 1520er Jahre vgl. Koppitz 1963, S. 59 und Dietl 1999, S. 295.
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dabei inhaltlich,171 so dass die Wahl des Erstdruckes nicht einen eingeschränkten Blickwinkel auf den Prosatext bedeutet.172 Die Drucke sind jedoch durch den Überlieferungsverbund, in dem sie jeweils stehen, unterschieden, und das ist zu berücksichtigen: Der Druck von 1481 (GW 12843) verbindet den ›Wilhelm von Österreich‹ mit Marco Polos Reisebeschreibungen,173 die Ausgabe von 1491 (GW 12844) überliefert den Prosatext zusammen mit dem ›Willehalm von Orlens‹, der allerdings in einer Reimpaarfassung geboten wird174 und trotzdem hystori heißt:175 Im Erstdruck wird der Kontext einer Reisebeschreibung evoziert, mithin der naturkundliche Charakter des Textes betont,176 beim Zweitdruck wird hingegen explizit das literarische Gewicht hervorgehoben, gerade in der Kombination mit dem gattungsprägenden Prätext ›Willehalm von Orlens‹:177 Dies macht auch deutlich, dass Vers und Prosa nicht in Konkurrenz stehen, wenn es um die Vermittlung von Minne- und Aventiure-Romanen geht, sondern sich offenkundig ergänzen können – zumindest 1491. Beide Vergesellschaftungen zeigen deutlich die Spannbreite von Aktualisierungsmöglichkeiten, die dem ›Wilhelm von Österreich‹ innewohnt, wenn er als Prosafassung auf den Markt gebracht wird. Um eine solche Spannbreite zu erreichen, ist es notwendig, Spezifika des Erzählens zu reduzieren und möglichst viele Anknüpfungspunkte für die unterschiedlichsten Lesarten des Textes zu erstellen. Das bedeutet auch eine massive Umfunktionalisierung der Erzählerfigur.
171 Beide Drucke sind online zu finden, vgl. die Angabe im Literaturverzeichnis. Zur Gleichheit der beiden Drucke vgl. Sharma 1969, S. 32 und Dietl 1999, S. 295. 172 Damit weicht der Prosa-›Wilhelm‹ deutlich etwa vom Prosa-›Tristrant‹ ab, für den Ader 2010, S. 347, »gravierend[e]« Differenzen zwischen Erst- und Zweitdruck konstatiert, woran sie einen Wandel der Rezeptionsbedingungen und -ansprüche festmacht. Im Prosa›Wilhelm‹ wird dagegen eher eine Anschlussbreite an andere literarische Diskurse durch die Kombination mit anderen Texten unterschiedlicher Gattungen angestrebt. 173 Vgl. das Explicit der Ausgabe: hie enndet sich herczog Wilhalm von oesterreich vnd das buoch des edeln ritters vnd landtfarers Marcho polo […]. Vgl. dazu auch Huschenbett 1993, S. 433, der in den geographischen Phantasien einen Vorverweis auf den »modernen Prosaroman« ›Fortunatus‹ erkennt und so eine zumindest implizite Kontinuitätslinie zwischen Minne- und Aventiure-Roman und Prosa des 16. Jahrhunderts herstellt. 174 Dieser Text liegt in der Edition von Leiderer 1969 vor, dort S. 35f. Auch die Zürcher Handschrift bietet ›Wilhelm von Österreich‹ und ›Willehalm von Orlens‹ zusammen. 175 Leiderer 1969, S. 35. Vgl. zum Konnex zwischen Terminus und Prosaform Knape 1984, S. 282. 176 Juergens 1990, S. 61. 177 Juergens 1990, S. 62 will die Kompilation durch die Affinität beider Texte zum Fürstenspiegel erklären, was m. E. nicht weit trägt – die Kompilation steht viel stärker im Kontext der Gattungstradition des Minne- und Aventiure-Romans, die die Zusammenstellung hier rechtfertigt. Zum Publikum des ›Willehalm von Orlens‹ in der Druckfassung von 1491 vgl. die kursorischen Bemerkungen von Fechter 1935, S. 57, der dafür plädiert, nicht nur die Druckfassung als Möglichkeit zur Erschließung neuer Publikumsschichten zu sehen.
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Der Erzähler und die Figuren Ausgangspunkt soll das geltende Urteil über den prosifizierten Versroman im Allgemeinen178 und über den Prosa-›Wilhelm‹ im Besonderen sein: Prosabearbeitungen von Versromanen tendieren zur Kürze und der Konzentration auf die summa facti.179 Das minimiert im konkreten Fall den Anspielungsreichtum des ›Wilhelm von Österreich‹ und reduziert zudem den Erzähler (vornehmlich) auf die Rolle eines Berichterstatters.180 Die Besonderheit der Prosa besteht damit – auf den ersten Blick – vor allem im Weglassen und Streichen, konkret im Weglassen der zahllosen Anrufungen von Autoritäten und Musen, im Wegfall der Zweifel, die der Erzähler der Versfassung hegt, und im Verzicht auf poetologische Reflexion etwa zum Epigonentum oder zum fiktionalen Erzählen. Auch intertextuelle Verweise fehlen.181 Kontakt zwischen Erzähler und Figuren der Handlung gibt es nicht. Die Kürzungen sind dabei gleichmäßiger als bei der Stuttgarter Kurzfassung über den gesamten Text verteilt, es findet sich keine Bruchstelle wie in der Stuttgarter Handschrift: Denn während S die ersten knapp 7600 Verse genau wiedergibt, um dann radikal zu kürzen, paraphrasiert der Erzähler der Prosafassung von Anfang an kürzend und zusammenfassend, er intensiviert seine Kürzungsarbeit allerdings nach 6000 Versen der Vorlage noch einmal.182 Das bedeutet auch eine strukturelle Zurücknahme der hyperplastischen Anlage der Gothaer Fassung, auf die zurückzukommen sein wird; die Prosa trennt augenscheinlich nicht zwischen kulminierendem und additivem Bauprinzip, sondern durchforstet den gesamten Text gleichmäßig nach Einsparmöglichkeiten. Dabei hat der Bearbeiter, darin dem Vorgehen in S nicht unähnlich, die langen Exkurse und Aufzählungen des zweiten Handlungsteiles nicht für wichtig befunden. Während S damit das hyperplastische Erzählen der Vorlage stückweise immer weiter zurückfährt, verfährt der gedruckte Prosaroman jedoch strukturell anders, da er von Anfang an das Erzählen in andere Bahnen lenkt. Es fehlt 178 Vgl. z. B. Kellermann 2010, S. 465, die folgende Strategien von Prosifizierungen anhand des ›Tristrant‹ erarbeitet: brevitas, Konzentration auf reine Handlung, Linearität, Reduktion auf substanz, »das Einrücken der Prosa in den Kreis lebenspraktisch verbindlicher Interessen«, Schlüssigkeit, Umständlichkeit, Verzicht auf höfische Situierung (Aussparen von Festen und Zeremonien), Verzicht auf Autor-Hörer-Gemeinschaft, Desinteresse an rhetorischen Schmuckformen, Lehrhaftigkeit. 179 Schnell 1984, S. 220: »Es drängt sich der Eindruck auf, daß das wesentlichste Kennzeichen der spätmittelalterlichen Prosa-Romanliteratur die knappe, handlungsorientierte Darstellung ist.« 180 Vgl. zur reduzierten Erzählerpräsenz auch die Hinweise bei Müller 2010, S. 114. 181 Vgl. auch Dietl 1999, S. 319. 182 Vgl. Sharma 1969, S. 36f. mit einer vergleichenden Zusammenstellung der Elternvorgeschichte in Vers und Prosa. Vgl. zur Art der Kürzung im Prosa-›Wilhelm‹ auch Straub 1974, S. 70f. Besonders kritisch äußert sich der Herausgeber Podleiszek 1964, S. 33.
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dem Prosatext vor allem eine paradigmatische Verpflichtung der Handlung auf die Minne,183 deren Personifizierung sich ebenso wie die von Aventiure und Tugend im Prosaroman gar nicht findet. Auch wenn dies quantitativ den Verlust von nur wenigen Versen bzw. Zeilen bedeutet, ist die Konsequenz für die Gesamtaufstellung des Prosatextes doch grundlegend.184 Gleiches gilt für die fehlenden Erzählerreflexionen über das eigene Dichten, auch hier reicht einfaches Verse- bzw. Zeilenzählen im Vergleich nicht aus. Es geht vielmehr um die qualitative Entscheidung der Prosa für ein klar strukturiertes Erzähler-RezipientenVerhältnis und gegen die vielen Ebenen der Erzählerperspektive, die die Gothaer Redaktion auszeichnen. Straub hat dem Erzähler des Prosa-›Wilhelm‹ wegen seiner Fokussierung auf die Handlungsschritte und seiner geringen emotionalen Beteiligung am Geschehen »faktenfrohe Nüchternheit«185 attestiert, was an den Befund eines ausgehebelten hyperplastischen Erzählens anzubinden ist. Die Prosa stellt sich gegen die Vieldeutigkeit und die Indienstnahme des Rezipienten für die Sinnstiftung des Textes. Straub hat ebenfalls hervorgehoben, dass sich der Text bei aller Konformität mit Mustern, die sich etwa im ›Wigoleis‹ und im ›Tristrant‹ finden lassen, durch eine besondere Ortlosigkeit auszeichnet – der Bearbeiter bleibt (wie im Prosaroman der Zeit üblich) anonym,186 er verzichtet aber vor allem auf paratextuelle Hinweise zu seiner Tätigkeit und benimmt sich so der Möglichkeit, seine Rezipienten stärker an seinen Text zu binden.187 Diese Beobachtung kann als Ausgangspunkt für das Folgende dienen. Betrachtet man die spärlichen Paratexte des Prosa-›Wilhelm‹, so zeigt sich selbstverständlich, dass Straubs Feststellung richtig ist – es fehlt ein Titelblatt, es fehlen Hinweise auf den Autor, die Gründe für die Übertragung etc. Allerdings greift Straubs conclusio zu kurz. Denn obschon eine solche Indizierung des neuen, im Druck zum Ausdruck kommenden Verhältnisses zwischen Text und Rezipienten fehlt, wie sie im Prosa-›Tristrant‹ etwa durch die Vorrede geboten wird,188 ist der Prosa-›Wilhelm‹ nicht ortlos, ganz im Gegenteil (und ganz anders 183 Vgl. auch Dietl 1999, S. 319. 184 Vgl. Dietl 1999, S. 321 zur Arbeitsweise des Prosaisten: »Er übernimmt fast wörtlich Formulierungen des Versromans, indem er aber einige Verse ausläßt und die stehengebliebenen syntaktisch neu verknüpft, wird ihr Sinn zum Teil völlig verkehrt.« 185 Straub 1974, S. 69 als Zitat übernommen aus Roloffs Bewertung der ›Melusine‹ Thürings (Roloff 1970, S. 67). 186 Vgl. Müller 1988, S. 151. 187 Straub 1974, S. 59. Vgl. auch Weinmayer 1982, S. 10 zur Suggestivwirkung von Vorreden auf das Publikum. 188 Prosa-›Tristrant‹, S. 1: Hienach volget die histori von herren Tristrant vnd der schoenen Jsalden von irlannde / weliche histori einer vorrede wol würdige waere / vnd doch vnnutz / dann die lesenden vnnd zuohoerenden / in langen vorreden verdriessen nemend Darumb sag ich die histori auff das kürtzt / die also lawt […]. Vgl. Müller 1988, S. 153 zu den Anfor-
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als z. B. die Handschrift S). Der Druck insinuiert in Aufmachung und Einstieg die Zugehörigkeit zu einer als bekannt vorausgesetzten Textgruppe, von der er sich explizit nicht absetzt; eine Alleinstellung ist offenkundig nicht beabsichtigt. Zuerst wird der Titel genannt,189 der die Genealogie der Familie betont (aber die dritte Generation nicht erwähnt), den Helden benennt und die Funktion der hystori herausstreicht,190 die angenehm und kurzweilig sein soll, was als topische Formel zu lesen ist, aber eben auch deutlich und am Anfang den Unterhaltungsanspruch betont, der den Prosa-›Wilhelm‹ bestimmt und der auch mit der Vorrede zusammen gesehen werden muss.191 Diese vorrede192 ist orientiert am Prolog der Gothaer Versredaktion, kürzt aber umfangreich und spitzt außerdem die Aussage zu. Einleitend steht eine Sentenz: Wol dem menschen, wer der ist, der sein hercz, sin und gemuet darnach richt, was man guots vor im sagt, das behept und dem nach volget, desgeleichen daz arg meidet unnd under wegen laßt (191,6–9). An die Stelle des edel hertze (12) und der menschlich figur (1) tritt so der Mensch – tugendhaft, aber nicht zum Prinzip überhöht. Es geht nicht um gelehrten Duktus wie in der Gothaer Redaktion, die den Prolog als Bildungsschau des Erzählers (und des verständigen Rezipienten) inszeniert, sondern um breite Verständlichkeit. So wird auch die schnörkellos erklärte Quecksilbervergoldung eingängig aufgeschlüsselt: Gold und Tugend gehören zusammen, Quecksilber und Untugend gehören zusammen, das Feuer ist eines der gerechtikeit (191,24),193 der Goldschmied ist die bescheidenheit (191,23); während die Gerechtigkeit des Feuers in der Gothaer Redaktion fehlt, hat der Goldschmied dort sein Vorbild, er hat in der Prosa aber sein Genus gewechselt.194 Die Gleichsetzung von Gold und Tugend wird in eine Konversationssituation eingebettet: Wenn die Tugendhaften von Tugend und Aventiuren reden, will der Tugendlose ablenken, dagegen hilft die Verständigkeit bzw. das kluge Handeln, und die Untugend verpufft. Die Position des Silbers wird wie auch schon in der
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derungen der Verortung und claritas an die Prosifizierungen, vgl. außerdem Kellermann 2010, S. 459–463 zu dieser Passage. Ich zitiere nach Seite und Zeile der Ausgabe von Podleiszek 1964: Hie hebt sich an eine schoene vnd kurczweilige hy¨stori zelesen von herczog Leuppold vnd seinem sun Wilhalm von oesterreich wie die jr leben vollenndet haben vnd wiuiel herczog Wilhalm erlitten hat (191,1– 5). Zur Konventionalität der Benennung als historia vgl. Knape 1984, S. 282. Dietl 1999, S. 320–327 bietet eine Gegenüberstellung der Prologe von Vers- und Prosafassung mit Übersetzung. S bietet keinen Prolog und setzt mit dem Beginn der Handlung ein. Vgl. Anhang 4. Dies gegen den Prolog der Versfassung, vgl. Dietl 1999, S. 326. Das hat wohl damit zu tun, dass die ansonsten in der Versfassung so präsenten weiblichen Personifikationen von Minne, Aventiure, Natur und Tugend in der Prosa aufgegeben sind, so dass ein Anknüpfen an diese Instanzen in Form eines weiblichen Goldschmieds nicht sinnvoll erscheint.
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G-Redaktion nicht besetzt,195 dennoch findet durch die Kürzung eine Vereindeutigung statt, die es erlaubt, Rückschlüsse auf diese Position zu ziehen. Denn offenkundig ist das Gespräch die zu vergoldende Instanz, die von Untugend rein gehalten wird. Die Untugend ist dabei keine wirkliche Gefährdung, sie kann keinen Einfluss nehmen, sondern wird ausgetrieben und dient nur als Katalysator für die Vergoldung.196 Die Ethik ist unangezweifelt und vorab gesetzt, das literarische Werk ist nicht dazu da, sie zu stabilisieren oder herzustellen, sie ist conditio sine qua non des Werkes und seiner Rezeption. Das macht die ganze Angelegenheit des Dichtens und des Rezipierens wesentlich weniger existentiell herausfordernd, als dies in der langen Versfassung inszeniert wird, die Harmlosigkeit des Zeitvertreibs wird im Gegenteil durch die unhinterfragte Verortung im Bereich der Tugend abgesichert, an die Stelle des »transfiktionalen« (Herweg) Nutzens tritt die Idee der Unterhaltung, die auf die konkrete Rezeption des Textes beschränkt bleibt und nicht über seine Grenzen hinausreichen will. Diese Vereindeutigung wird möglich vor allem durch den Verzicht auf die prominente Position des Erzählers: Während in der Versfassung die tugendhaften Menschen tugendhaften Geschichten zuhören wollen, die ihnen erzählt werden, also einer dritten Instanz lauschen (57), reden sie in der Prosafassung selbst miteinander (191,21), der zwischen Genie und Unfähigkeit schwankende Erzähler hat in diesem Bild ebenso wenig Platz wie die alles verkomplizierende Frage nach Wahrheit und Lüge im Erzählten und die Anrufung weiterer Autoritäten (165). Der Kürzung ist dabei nicht nur die komplexe fiktionalitätstheoretische Grundlegung von wahrer und erfundener Rede zum Opfer gefallen, sondern auch die pragmatische Problematik des tihtens (171f.) selbst. Stattdessen steht der Text als Setzung seines Erzählers schlicht und ergreifend da. Der als Einzelperson angesprochene Rezipient (Das wil ich dir bewaeren [191,9]) baut direkten Kontakt zum Erzählgegenstand auf, der Erzähler ist unhinterfragte (und auch alternativlose) Autorität für die Präsentation des Geschehens, der kommunikative Akt des Gesprächs wird als Ausgangsbild für die bevorstehende Geschichte genutzt. Das Thema ist angemessen und grob durch die Bereiche Aventiure und Tugend bestimmt, es wird durch bescheidenheit vergoldet und ist über alle Zweifel erhaben. Diese Ausgangslage erlaubt der Prosa dreierlei: Sie kann erstens ihren Gegenstand als dem genus honestum 195 Dietl 1999, S. 326 liest die Passage anders und sieht eine Verwechslung des QuecksilberGold-Gemisches mit dem Silber gegeben, sie kommt zu dem Ergebnis, dass das Bild »in sich unschlüssig« sei (ebd.). Entscheidend ist die Lesart von 190,23f., wo das Silber nicht erwähnt, aber logisch ergänzt werden muss: der zweite Teil wiederholt die Aussage des ersten, darauf bezieht sich das von Dietl ebd. monierte wider-Auftragen des Goldes, das Bild wird aus dem ursprünglichen Verwendungsbereich in den übertragenen transportiert. 196 Vgl. auch Dietl 1999, S. 327: »Der Konflikt zwischen tugent und untugent wird zwar vorgeführt, doch der Erzähler weist weder sich noch seinem Werk eine Rolle darin zu.«
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zugehörig auszuweisen, zweitens den Rezipienten aktiv als Partner einbinden, dem etwas mitgeteilt wird und drittens eine performative Entfaltung der Geschichte ankündigen, d. h. eine Art Durchgang durchs Thema, wobei dem Rezipienten von Anfang an versichert wird, dass die Tugend überwiegt. Die Themensetzung wird dabei entscheidend eingegrenzt, in der ganzen Vorrede fällt kein einziges Mal das Wort Minne bzw. Liebe. In der Folge tritt der die Handlung mehr vorführende als tatsächlich erzählende Erzähler bisweilen in Erscheinung, um mirabilia und andere Dinge, die eventuell auf Unverständnis oder Unwissenheit treffen könnten, zu erklären: Nun soellent ir wissen, das Baldag ein hauptstat ist in aller heydenschafft (239,18f.).197 Vornehmlich geht es ihm aber darum, bei Handlungsabschnitten überzuleiten und die Rezipienten durch direkte Hinweise auf den Wechsel aufmerksam zu machen.198 Gerade in den Passagen gegen Ende der Dichtung, in denen stark gerafft z. B. von der Kampfordnung im Turnier die Rede ist, sticht der Erzähler als ordnende und strukturierende Figur hervor (269,31f., 270,15– 18 u. ö.). Er zeigt sich vornehmlich um Knappheit bemüht, etwa wenn er nicht durch Sprünge in der Handlungschronologie Doppelungen verursachen und generell Wiederholungen vermeiden will;199 auch diese Selbstverpflichtung zur brevitas ist Teil seiner strukturierenden Arbeit. Dabei kann diese Begeisterung für die Kürze auch seltsame Blüten treiben, etwa wenn eine Schilderung der Massentaufe nach dem Sieg der Christen über die Heiden verweigert wird mit der simplen Feststellung: Die groß freüd, die die 197 Vgl. auch die Einführung Cupidos auf dem Helm: Nun merckent alle, ich will eüch sagen von dem kindlin (223,20, wesentlich schwächer als in der Versfassung: Nu, wol gemuoten tugent rich, / tuot uf diu orn, merket mich! [3935f.]) und die Quellenberufung zur Erklärung von Forthaspinacht: Unnd was gemachett auß metallin, von woellichen metallin uns die buecher sagent also (261,28f., vgl. in der Versfassung: diu buoch sagent […] [11998]). Als Parclise angewiesen wird, dem im Kampf gegen Merlin erfolgreich gewesenen Wilhelm ein besonderes Gewand zu bringen, wirft der Erzähler ein: Von dem selben ich etwas sagen wil (264,13), ähnlich Nun wil ich sagen von dem pferd, das Wilhalmen under geben wart (268,12). 198 Nach der Vorrede spricht der Erzähler die Rezipienten konsequent im Kollektiv der 2. Person Plural, nicht mehr als du an (vgl. auch Dietl 1999, S. 320), was einerseits den Sonderstatus der Anrede am Anfang deutlich heraushebt, zum andern aber auch als Komplementärphänomen zur häufig verwendeten Wir-Formel (Nun lassen wir das beleiben [256,23]) fungiert. Beispiele für die thematisierte Überleitungen sind zahlreich, vgl. etwa 269,13f. 199 Ab der red [Crispins, die ihn zum Turnier schickt und für die Zeit seiner Abwesenheit verspricht, den Heiratsbetrug voranzutreiben; d. Verf.] ward Wilhalm also fro, daz es unaussprechlichen ist. Das woellen wir also beleyben lassen, biß das sein zeit wirt (267,31– 33), vgl. auch: Die selben [Teilnehmer des besagten Turniers] all ich umb kürcze willen nicht nennen wil (268,32). Besonders Wiederholungen werden explizit vermieden, etwa wenn Parclise den gerade aus Melchiors Händen geretteten Wilhelm über ihren Auftritt aufklärt: Unnd saget im da, warumb sy auß gefaren was, als ir vor gehoeret habent, darumb wir es umb kürcze willen underwegen lassen woellen (259,13–16).
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cristen empfiengent, do sy den heyden obgelegen warent und darnach, das sich so vil heyden tauffen liessent, kan niemant alles geschreiben, darumb wir es nun zemal underwegen lassen woellent (279,2–5). Diese Aussage ist entlarvend gerade durch ihre Position im Text: Voraus geht eine umfangreiche Auflistung der Kriegsparteien, die zwar bei weitem nicht den Umfang der Gothaer Rundumschau hat, aber immerhin mehrere Seiten des Druckes füllt. Und das ist bei der kurzen Aufmerksamkeitsspanne, die der Prosa-›Wilhelm‹ den einzelnen Ereignissen entgegenbringt, außerordentlich erstaunlich. Der Erzähler verweigert topisch eine abschließende Glücksbeschreibung und stellt dabei quantitatives Übermaß an Freude und Taufwillen einer qualitativen Schreibverweigerung anheim.200 So wird das Bewusstsein für Erzählökonomie, das die Prosafassung auszeichnet, drastisch ins Licht gerückt: die Kartierung des Konflikts, die ins Allgemeine zielt, ist dem Erzähler viel Raum wert, Freudebekundungen und Emotionalität hingegen fallen dem brevitas-Gebot zum Opfer. Kürze ist also kein allgemeiner Maßstab, sondern wird selektiv genutzt und wirkt umgekehrt auch selegierend. Vor allem Emotionsäußerungen sind betroffen, sie werden ausgelassen oder komprimiert und summarisch geboten, etwa wenn Agley hören muss, dass sie Walwan als Ehefrau gegeben werden soll (211,8–13). Die direkte Apostrophe ey tot, du grimmer (2354), mit der Aglye in der Versfassung nach G den Tod herbeiwünscht, wird in der Prosa in indirekte Rede umgewandelt und so ihres Pathos beraubt. Zugleich wird betont, dass von dem jamer (211,11) nicht mehr weiter geredet und stattdessen der Handlungsgang verfolgt werden soll. Ein Erzähler-Ich wird bei diesen Kommentaren und Überleitungen immer wieder sichtbar,201 doch geht die Figur auch häufig im kolloquialen Wir auf, das die Rezipienten mitnimmt und die Dichtungsgestaltung zu einer konsensualen Angelegenheit macht.202 So wird Rezipientenbindung im Fortschreiten der Handlung nachgerade performativ verwirklicht. Dabei spielt allerdings die Anteilnahme eher eine untergeordnete Rolle, da nicht nur auf affektive Äußerungen weitgehend verzichtet wird, sondern das Geschehen immer wieder auch in seiner Gemachtheit und in seinem Erzähltsein als Fiktion aufgezeigt wird. So wird Distanz hervorgerufen und der Rezipient in eine Lage versetzt, die von der des Lesers oder Hörers der Versfassung vollkommen verschieden ist. Man hat es im Prosa-›Wilhelm‹ folgerichtig eher mit einem Kommentator des Geschehens als mit einem Erzähler zu tun, das Erzähler-Ich geriert sich wie ein Führer durch einen Text, dessen Einzelteile mit Aufmerksamkeit betrachtet 200 In der Versfassung der Gothaer Redaktion findet sich keine Verweigerung des Erzählens und auch ein brevitas-Versprechen fehlt (18159–18233). 201 So z. B. in 199,10; 200,17; 201,30; 202,5; 206,25 u. ö. bis 277,10. Am Ende des Textes fehlt jede Präsenz des Erzählers, vgl. dazu unten. 202 Vgl. etwa 196,25f.; 204,20f.; 211,10f.; 211,24; 282,28; 283,17 u. ö.
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werden sollen, aber an denen der Rezipient auch nicht übermäßig lang zu verweilen hat; es wird eine Art »Tatsachenbericht«203 geboten. Das Erzähltempo zeichnet den Text besonders aus, es prägt die gesamte Darstellung: Auf Ergebnisse wird schnell hin erzählt, es geht nur um Höhepunkte der Handlungsentwicklung, digressio und retardatio sind genauso wie Wiedererzählen als künstliche Verlängerungen verpönt.204 Die Handlung spielt sich auf einer dem Erzähler untergeordneten Ebene ab und ist vom Rezipienten Stück für Stück, kontinuierlich, nacheinander und strukturiert zu erschließen. So werden Erzähler und Rezipient zu »Komplizen« im Abgehen der Handlungsstationen der Erzählung von Tugend und Abenteuer – ohne dass eine didaktische Intention gegeben wäre, ganz im Einklang mit der Vorredenidee, dass Tugendhafte untereinander reden und dass Tugendloses verpufft im Feuer der gerechtikeit. Eine Belehrung (die über geographische Erläuterungen oder Erklärungen von mirabilia, also situative inhaltliche Erläuterungen hinaus geht) braucht die Dichtung nicht, wenn sie als schoene vnd kurczweilige hy¨stori reüssieren will. Zur Struktur seines Werkes äußert sich der Erzähler kaum. Abgesehen davon, dass jedes Handlungselement seinen Platz hat und erst zur rechten Zeit eingebracht werden soll (267,31–33), findet sich nur noch die Aussage über den geringen erzählerischen Wert von Glück. Harmonie ist nicht erzähltauglich, weshalb es nicht alles ze schreiben ist (281,24f.), was die Liebenden an Glück erlebt haben. Nur die Folge des Glücks, das Leid, ist beachtenswert: Aber die lieb wert nit lang, dann sy sich mit großem leydt endet, als ir jecz hoeren werdent (281,25f.). Dieselbe topische Feststellung (dass auf Liebe Leid folgt) veranlasst Johann in der Gothaer Redaktion des Versromans zu umfangreichen emphatischen Ausrufen: ach, Wildehelm und Agly, / erliebet iuch! daz ist min rat: / laider liep mit laide zergat! (18802–18804) und Trauerbekundungen: wafen, Got, daz ie geschach! (18843) – im Prosaroman findet sich nichts dergleichen. Insbesondere am Ende seiner Geschichte wirkt der Erzähler völlig von der Handlung abgekoppelt, bedauernde Erzählerkommentare, emotionale Affizierung und pathetische Apostrophen fehlen völlig. Stattdessen wird das Tempo der Erzählung nochmals gesteigert, ohne dass die abgehakten Todesmeldungen eine besondere Wirkung entfalten würden, es fehlt jede Tragik: Die klag, die junckfraw Belfant ob im [Wilhelm; d. Verf.] thet, kan niemant geschreiben, darumb wir es von kürcze willen underwegen lassen woellen (283,14–16),205 stattdessen, so fährt der
203 Podleiszek 1964, S. 32. 204 Vgl. z. B. Wilhelms Tötung des Wildemis: Unnd legten gegen einander ein, rantend baid auff einander, das Wilhalm dem breitgam Wildems durch sein schilt curset unnd den leib rant, daz er tod ab dem pferd viel auff dye erden (255,9–11). 205 Diese Kürzung gehört zu dem, was Podleiszek 1964, S. 33 als übertriebene Kondensation des Geschehens bewertet, die »geradezu plump« erscheinen muss.
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Erzähler fort: woellen wir sagen, wie Aglei klaget umb iren allerliebsten herrn und man (283,17f.) – auch das trägt nur über fünf Zeilen (283,21–25). An die Stelle einer Rezipientenlenkung ist die Rezipientenführung getreten, in der der Erzähler den Text mit dem Rezipienten zusammen abschreitet und die einzelnen Aspekte nach einander in den Blick nimmt. Anteilnahme wird nicht angestrebt, stattdessen wird bewusst auf Distanz gesetzt, die dem Text eine völlig neue Wirkungsabsicht einschreibt; es geht nicht mehr um ein Berührtwerden oder ein Belehren, sondern um delectatio im Sinne von kurczweil. Funktionieren kann diese Neubesetzung im Bereich des Erzähler-Rezipienten-Verhältnisses nur auf der Grundlage einer unhinterfragten (und unhinterfragbaren) Autorität des allwissenden Erzählers und auf der Basis eines Verzichts sowohl auf poetologische Spekulationen wie auch didaktische Intentionen:206 Spekulieren wie Belehren setzen tiefergehende Betrachtung und Synthetisierung voraus, die im Text bewusst nicht geleistet werden.207 Die Folgen sind weitreichend: Während etwa der ›Wilhelm‹ in G umfangreich über das Dichten reflektiert und das Erzählen in der Erzählung selbst inszeniert, reduziert der Prosa-›Wilhelm‹ die Geschichte auf das Erzählen selbst: weg von der Reflexion hin zur reinen Darstellung. So ist der Rezipient dem Text ausgeliefert, der ihm keine Anhaltspunkte dafür gibt, sich vertiefend mit ihm auseinanderzusetzen; man muss nehmen, was man geboten bekommt.208 Diese Reduktion geht einher mit neuen paratextuellen Steuerungsmitteln. Es finden sich Zwischenüberschriften, die (und das ist ein grundsätzlicher Unterschied zu S) dem Erzähler zuarbeiten. Denn so wie der Erzähler eher summarisch und distanziert die Handlungsabschnitte mit Blick auf eine Bilanz aufbereitet, strukturieren die Überschriften das Geschehen und machen sie es erschließbar, deutbar und verständlich. Wenige Ausreißer, bei denen der Inhalt des Teilkapitels nicht mit der Ankündigung der Überschrift konform geht, bestätigen als Ausnahmen eher die Regel. Wenn es heißt: Wie künig Walwan so erlich empfangen ward von künig Agrand und seiner frawen, der künihin (211,6f.), das lange Kapitel aber vor allem Agleys emotionale Reaktion sowohl auf die Ankunft des ungeliebten Bräutigams als auch auf einen Brief ihres Geliebten umfasst, dann zeigt die Überschrift die Prioritätensetzung des Druckes an. Das äußere 206 Die Zurschaustellung von Nichtwissen, das dem Schweigen der Quelle geschuldet ist, fällt dagegen als einmaliger, topischer Beleg nicht ins Gewicht, vgl. 201,7. 207 Vgl. zum Epilog und den Abweichungen von der Versfassung (mit anderen Schlussfolgerungen) Dietl 1999, S. 327f. 208 Umgekehrt ist aber zugleich auch der Text dem Rezipienten ausgeliefert, da der Erzähler kaum mehr moderierend und lenkend eingreift. Die Konzentration darauf, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, schränkt den Text in seiner »Freiheit« ein, zu gestalten, Schwerpunkte zu setzen, poetologisch zu reflektieren, der Rezipient kann sich deshalb seine eigenen Gedanken ganz unabhängig von der Erzählerfigur machen. Für den Hinweis auf diese Korrelation zwischen Erzähler und Rezipient danke ich Rüdiger Schnell herzlich.
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Geschehen bestimmt die Wahrnehmung; das, was sich im Innern der Figuren abspielt, hat sich dem unterzuordnen. Was geboten wird, ist eine hystori,209 die dem Zweck der Kurzweil dient und schön, also angenehm zu lesen sein soll:210 Keine Belehrung, keine Längen, keine Spekulationen sind intendiert. Der Erzähler hält sich zurück, moderiert Übergänge, überdeckt Brüche und sorgt dafür, dass die Geschichte von ihrem Anfang an ihr Ende kommt. Zu fragen bleibt, was diese Schwerpunktsetzung im Erzählen für die Figuren- und Handlungsebene bedeutet und ob die dargestellte Liebe, Tugend und Aventiure die theoretische Leerstelle füllen, die der Text setzt. Dabei fällt ins Auge, dass vor allem die mirabilia, die der Text enthält, faszinieren sollen: Sie werden (darin ähnelt der Druck der Handschrift S) nicht weggekürzt, und um sie zu erläutern und zu erschließen, schaltet sich der Erzähler immer wieder in den Erzählfluss ein. Wilhelms Fahrt durch den Orient ist auch in der verknappten Form der Prosafassung eine wundergesättigte Angelegenheit. Das Fehlen der allegorischen Ausdeutungsebene, die in der Gothaer Redaktion des Versromans oftmals die Wunderdinge überwuchert, verstärkt diesen Eindruck zusätzlich. Die reduzierte Komplexität und das fehlende Ausdeutungsangebot macht Greifen, Merlin, Vergilstuhl usf. zu staunenswerten Dingen neuen Zuschnitts, die Wunderwelt als »Sinnenkitzel und kuriose[s] Panoptikum«211 wird eher noch eingängiger gestaltet als in den Redaktionen der Versfassung. Diese Vereinfachung bevorzugt eine Rezeption, die Wunder um der Wunder willen zu würdigen weiß und sich ganz auf die Handlungsebene der Dichtung konzentriert; diese Form der curiositas-affinen212 Rezeption ist in der kurczweil-Nennung der Überschrift wohl angedacht (191,1). Vor allem aber wird den nach kurczweil suchenden Hörern bzw. Lesern ein eingängiger Held präsentiert, der wenige Facetten und damit auch geringe Reibungsflächen für die Rezeption bietet. Wilhelm ist reduziert auf Ritterlichkeit und Liebesleid. Beide hängen eng miteinander zusammen, sie sind durch die Rolle der Minne für den Text verknüpft. Denn dadurch, dass die Minne viel von ihrer Bedeutung einbüßt und ihren lenkenden Status verliert, ist der Held nicht mehr fremdgesteuertes Opfer von Minne, Venus und Amor, die allesamt im 209 Gegen Dietl 1999, S. 328 gehe ich nicht von einer Historiographisierung der Dichtung aus, die in der Terminologie zum Ausdruck komme. Vgl. etwa für den Prosa-›Tristrant‹ die Bedenken von Ader 2010, S. 72 gegen eine vereindeutigende Lesart des Historienbegriffs. 210 Die intendierte Rezeptionsform schwankt ebenso wie die Quellenberufungen und Präsentationsformen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, es wird sowohl zum Lesen wie zum Hören aufgefordert, der Erzähler will sagen, aber auch schreiben. Dieses Schwanken ist nicht ungewöhnlich, gerade für die frühen Drucke der Prosifizierungen: Vgl. Ader 2010, S. 179 für den Wechsel der intendierten Rezeptionsformen im Lauf der Druckgeschichte des Prosa-›Tristrant‹. 211 Herweg 2010, S. 278. 212 Vgl. allg. die Bestimmung bei Müller 1981 und Krüger 2002.
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Versroman aufgefahren werden und ihn schon in jungen Jahren in den Dienst nehmen (662f.). Stattdessen wird beiden Liebenden inprinstige[] liebe (197,7) von Venus eingepflanzt, eine Anlage, die sie sodann selbst entfalten. Deshalb wird Wilhelm im Prosaroman auch nicht von der Minne bedaehtich (781) gemacht, er denkt selbst nach. Das erlaubt dem Helden gewisse Freiheiten im Umgang mit der Liebe: Nicht Amor und Venus (1908) lenken ihn, als er seinen ersten Sehnsuchtsbrief schreibt, sondern er ergreift selbständig die Gelegenheit, Aglye einen Ball mit einem Brief zuzuwerfen (207,4). Der Brief selbst ist – anders als im Verstext – in der ersten Person Singular abgefasst, zeigt also die Verbundenheit mit der Geliebten direkt auf, Ich ist sogar das erste Wort (207,14).213 Zugleich verliert der Brief fast vollständig seinen rhetorischen Schmuck und seinen affektiven Charakter, die Mitteilung wird auf ihren Nachrichtenwert reduziert und bietet neben der Liebesversicherung die Bitte um Antwort, ohne dass auf höhere Mächte verwiesen würde. Liebe wird so zur Angelegenheit zwischen den Liebenden und ist nicht mehr vermittelt durch höhere Instanzen. Die Briefe bedürfen deshalb auch keiner Inspiration durch Gottfried von Straßburg (2062–2064),214 und alles Reden über die Liebe verliert generell an Pathos. Der semantische Wechsel von Minne zu Liebe offenbart die Neugewichtung deutlich,215 wobei allerdings ein Konzept im Wandel vorgeführt wird und noch keine neuzeitliche »Liebe als Passion« angedacht ist:216 Das soziale Konzept der Minne wird nicht durch eine moderne Liebesvorstellung ersetzt, stattdessen kann der neue Liebesbegriff nicht vollständig die Vakanz füllen, die die ›alte‹ Minne hinterlässt. Insgesamt gilt dabei, dass der Fokus der Dichtung nicht mehr auf der minneinduzierten Tapferkeit des Helden liegt, der mit Hilfe der Minne und um der Minne willen seine Abenteuer besteht. Stattdessen wird ein Ritter gezeigt, der einer Dame dient (vgl. 256,2). Zu fragen ist deshalb, was passiert, wenn die »Liebesgeschichte […] auf ein für das Verständnis und den kontinuierlichen Fortgang der Erzählung 213 Vgl. zum Fokuswechsel auch Brandstetter 1971, S. 106f. 214 Die Feststellung von Braun 2001, S. 210, dass die Briefe keine Handlung hervorbringen, gilt nicht nur für den Prosatext, sondern auch für die Versfassungen. 215 Eine Ausnahme stellt die Diskussion der Kinder über Charakter und Qualität der Minne dar (204,22–205,19), die als eine Art literarisches Zitat fungiert (die ›Titurel‹- bzw. ›Jüngerer Titurel‹-Anspielungen stehen bereits in der Vorlage) und gerade dadurch, dass der Dialog umrahmt wird von Beschreibungen des Erzählers davon, wie sehr die beiden in der liebe enczündt (204,25) sind (vgl. auch 205,20), einen archaisierenden Charakter erhält. Die Diagnose Dietls, dass der Prosabearbeiter Minneredenelemente so weit wie möglich streiche, fügt sich in diesen sich abzeichnenden Wandel ein: Dietl 1999, S. 318f. 216 Bezeichnend ist es, dass die Stuttgarter Handschrift sich nicht recht zwischen Minne und Liebe zu entscheiden weiß und die Begriffe gleichwertig nutzt. Da in der gekürzten Versfassung durch die inhaltlich nicht überarbeitete Übernahme des ersten Dichtungsteils das ›alte‹ Konzept der Minne angelegt ist, kann es nicht zugunsten des ›neuen‹ Liebeskonzeptes einfach ad acta gelegt werden, die Semantiken überschneiden sich.
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unerläßliches Minimum reduziert« wird.217 Die Liebesbriefe etwa werden, wie bereits angedeutet, gekürzt,218 die »inhaltslose[] Künstlichkeit«219 der Briefe in der Versfassung wird vermindert, um die Liebesversicherungen stringenter in den Handlungsfortgang einzubinden. Der Verzicht auf Pathos und affektive Rhetorik beeinflusst die Wirkmöglichkeit der Briefkommunikation und verweigert emotionales Affizieren. Ähnlich funktioniert die Entladung allegorisch aufgeladener und bildmächtiger Abschnitte, etwa wenn vor der geplanten Hochzeit mit Walwan ein Falke zum Postboten gemacht wird. Während in der Versfassung die z. T. abstrusen Übermittlungswege der Briefe ein Faszinosum eigener Art sind,220 wird im Prosadruck radikal vereinfacht. Agley wird vom Postfalken gerade nicht blutig gekratzt, als sie ihm den Brief unter dem Flügel entfernt,221 sie wird nicht zum Äquivalent der Turteltaube, die Bildebenen vermengen sich nicht und laden die Situation nicht zusätzlich auf. Stattdessen eröffnet der »Falkenexpress« einen bequemen Weg für weitere Briefsendungen: Darnach wurdent czuo beyden seytten vil brieff bey dem falcken wider unnd für gesendet (248,32f.), über den Inhalt dieser Briefe wird aber nichts berichtet – die Kommunikation gleitet ins »Private« ab, und dieses Private der ungezählten zusätzlichen Briefe ist das, was nicht mitteilenswert, d. h. nicht relevant für den Fortgang der Handlung ist. Der semantische Wandel von Minne zu Liebe bringt damit den Verlust einer umfangreich vernetzten und die Dichtung tragenden Bezugsebene mit sich, die Liebesgeschichte wird mit einem neuen, abgetrennten Innenraum versehen, der nicht zugänglich ist und nur in seiner groben Grenzsetzung skizziert wird. Der Ritter Wilhelm ist damit weniger dominiert von seiner Liebe und seinem Liebesleid. Doch auch im Bereich seiner Aventiure222 wird durch den distanzierten Blick auf die Figuren und die Handlung affizierendes Potential signifikant reduziert. Das geschieht vor allem im zweiten Teil der Dichtung: Die aufgezählten und knapp beschriebenen Todesgefahren der Prosa bergen nicht so viel Affektpotential wie die performativ ausgestalteten Kampfesschilderungen, 217 Straub 1974, S. 129. 218 Einen schnellen Vergleich der Briefe erlaubt die Untersuchung von Brandstetter 1971, S. 120–134, die die Briefe 2 bis 10 parallel in Vers- und Prosafassung bietet. Brief eins wird vergleichend ebd., S. 105f. abgedruckt. Straubs Ansicht, dass die Briefe 1 bis 5 und 7 »fast wörtlich« übernommen worden seien, geht dabei zu weit: Straub 1974, S. 97. 219 Brandstetter 1971, S. 112. 220 Vgl. Röcke 1996, S. 98 zur Briefübermittlung als eigentlich zentralem Moment des Briefeschreibens in der Versfassung und Muschick 2012, S. 210f. zur »Vermittlungsform« der Briefe. 221 Der Bote ist währenddessen damit beschäftigt, eine Turteltaube zu töten (248,11–13 gegen 7399–7409, dort mit der Vermischung der Bildebenen). 222 Schnyder 2002 hat den Wandel des Aventiure-Begriffs herausgearbeitet und ebd., S. 272 auf den Bedeutungsüberschuss im Wandel hingewiesen, der von der Dichtung weg und in die Welt des Rezipienten hineinführt, also den literarischen Charakter relativiert.
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die der Erzähler der Versfassung zudem distanzlos und emotional begleitet. Im Prosaroman wird Wilhelm vom widersprüchlichen zum eindimensionalen Helden auch dadurch, dass er z. B. Wildemis nicht mit einer vergifteten Lanze anreitet (wie dies auch in S nicht geschieht) (255,9–11).223 Noch stärker als in S steht im Kontext der Prosa diese Vereinfachung der Verweisstrukturen dafür ein, dass Determination keine so große Rolle spielt, dass der Bedeutungsüberschuss keine wirkliche Relevanz hat und dass Verständlichkeit und Eingängigkeit der Erzählung wichtiger genommen werden als eine komplexe Mehrfachmotivation: Komplexität weicht der Eingängigkeit. Die reduzierte Emotionalität trägt darüber hinaus stark dazu bei, Wilhelm als unkomplizierten, leidenden, aber dennoch starken Ritter zu zeichnen. Dem Prosa-›Wilhelm‹ geht es mithin vornehmlich um Distanzierung und interessiertes Betrachten durch den Leser oder Hörer ohne ein Einlassen auf die Handlung. Dennoch gibt es auch affizierende Momente: Affektive Stärken der Prosafassung liegen in den Dialogpassagen, die eine Unmittelbarkeit des Geschehens vermitteln und eine Dynamik in Gang setzen, welche das GeführtWerden durch den Erzähler und die zahlreichen Schauplatzwechsel vergessen lässt. Zu den »innersten Gedanken«224 der Figuren wird der Rezipient aber auch in diesen Zusammenhängen nicht hingeführt. Diese Tiefenebene bleibt im Prosa-›Wilhelm‹ verschlossen und mit ihr auch der gesamte Bereich der affektiven Rezipientenlenkung durch Einfühlen in die Figuren. Dies ist vor allem bedingt dadurch, dass die Sprache, die zwar um rhetorisch-affizierende Elemente bereinigt erscheint, zugleich in eine außerordentlich formale und gezierte Adelssprache überführt wird, die von pluralis maiestatis, Ihrzen und anderen distanzschaffenden Formalia geprägt ist.225 Darüber hinaus wird Agley als Heldin, ähnlich wie in der Stuttgarter Handschrift, deutlich zurückgenommen, ihr Darstellungsraum in den Briefen ist geschrumpft und auch ihre Rolle als Ehefrau wird stark reduziert: Als Wilhelm nach Österreich zurückfahren will, erpresst er sie, statt sie persuasiv zur Zustimmung zu bewegen (280,5f.). Lediglich bei seinem Plan, das Einhorn zu jagen, kommen die Überredungskünste noch zum Einsatz, ergänzt aber um einen entscheidenden Zusatz, den die Versfassung weder in G noch in S bietet: Wir woelten ungeren thuon, das wir taechtent wider eüch sein (282,19f.) ist eine Erpressung ähnlicher Art wie in 280,5 – Agley ist kein Konterpart für ihren Ehemann, der seiner vom Erzähler geringgeschätzten curiositas ohne viel Gegenwehr frönen kann.
223 Wilhelm wird auch nicht mit einer vergifteten Lanze ermordet, vgl. 283,6. 224 Straub 1974, S. 84 nimmt das Gegenteil an. 225 Zu Übernahmen aus der Kanzleisprache vgl. Koppitz 1979, S. 557.
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Die Struktur des Prosa-›Wilhelm‹ Die Liste dessen, was dem Prosa-›Wilhelm‹ im Vergleich mit G und auch, mit Einschränkungen, S, fehlt, ist lang: Rhetorischer ornatus, ein delectatio-Konzept in zumindest angedachtem Spannungsverhältnis mit utilitas, eine Ebene der rhetorischen Affizierung, die mit dem Erschließen von Innenräumen differenziert gezeichneter Figuren verbunden ist. Überhaupt fehlen Reibungsflächen zwischen metapoetischem Anspruch und erzählter Wirklichkeit, was dadurch bedingt ist, dass die metapoetische Ebene bis zur Unkenntlichkeit reduziert erscheint. Zwei Fragen stellen sich als Resultat dieser »Negativliste«: erstens die, ob die Befunde tatsächlich »negativ« sind, oder ob nicht vielmehr von einer Neuaufstellung des ›Wilhelm‹ in einem neuen Medium auszugehen ist. Zweitens und damit verbunden ist zu fragen, was die »Positivliste« der Prosafassung beinhaltet, wie es ihr also gelingt, Rezipienten zu finden, zu binden und zu lenken. Die Eindimensionalität, das Stromlinienförmige des Helden und die geringe Bedeutung der Frauenrolle, die Dominanz der Aventiure über die Liebe, der Fokus auf Erfolge, nicht auf Krisen, die Vorliebe für mirabilia, das alles weist in Richtung einer Rezeption ohne große Widerstände, auf einen schnellen, direkten und einfachen Zugang zum Text. Das ist der Kern der Neuaufstellung, die die Prosafassung bietet: Ein vergleichsweise komplexer Plot wird als leicht zugängliche Abenteuergeschichte neu strukturiert erzählt. Die Portionierung in kleine »Häppchen« mit kurzer Aufmerksamkeitsdauer für die einzelnen Elemente der Handlung passt in dieses Muster, ebenso wie der Verzicht auf alles, was quantitativ wie qualitativ vom Kerninteresse der Prosafassung – das ist der Held Wilhelm mit seinen Abenteuern, nicht mit seiner Liebe – wegführen könnte. Die Mehrdeutigkeiten, Übermotivierungen, Unsicherheiten, Abwägungen, Exkurse, Abschweifungen und langen, bisweilen für den modernen Leser langatmigen Beschreibungen aus G finden sich deshalb in der Prosa nicht. Die Neuaufstellung zielt auf eine reibungslose kurczweil, die es leicht macht, sich dem Text zu widmen. Dieser Fokus führt auch dazu, dass das ungewöhnliche und eigentlich nicht schemakonforme Ende der Geschichte schnell und emotionslos abgehandelt wird. Zwei Methoden der Rezipientenlenkung kommen in diesem Rahmen zum Tragen. Zum einen nimmt eine Erzählerfigur den Rezipienten (ob Leser oder Hörer, wird vom Druck in den Adressierungen nicht festgelegt) an der Hand und führt ihn an der Abfolge der Ereignisse vorbei, wie bei einem Schaufensterbummel: Durch die Distanz, die die häppchenweise Aufbereitung und die autoritativ agierende und nicht hinterfragbare Erzählerfigur zum Geschehen haben, wird auch eine Distanz des Rezipienten hergestellt. Er steht vor dem Schaufenster, dahinter wird ihm, in einer Entfernung, die durch das Glas der
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Scheibe unüberbrückbar ist, eine Handlung dargeboten. Die Geschichte kann bei dieser intendierten Rezeption keine »Widerhaken«, kein Aufrauen und keine Reibungsfläche bieten, denn der Rezipient kommt nicht unmittelbar mit ihr in Kontakt. Stattdessen bestimmt ein spezifisches Erzähltempo der Prosafassung die Rezeption: Die einzelnen Stationen werden zügig, aber ohne Hast abgeschritten, und es entfaltet sich das Panorama der Handlung vor den Augen des Rezipienten, unbeeinträchtigt durch metapoetische Einlassungen oder ein Bemühen des Erzählers darum, seine Geschichte in irgendeiner Form didaktisch zu legitimieren. Auf diese Weise wird eine Unmittelbarkeit der Rezeption hergestellt, die eine Wegmarke im Vergleich zu den anderen analysierten Bearbeitungen des Stoffes darstellt: Der Prosa-›Wilhelm‹ entwickelt gerade dadurch, dass er die Handlung in ungeschönter, nicht rhetorisch geschmückter Art und Weise bietet, einen Sog der unmittelbaren, nicht artifiziell überformten Rezeption, die in der Wahrnehmung der Handlung nicht den Kunstgenuss als solchen zu reflektieren hat: Der Rezipient des Prosaromans macht sich um die Legitimation des Erzählens, den fragilen Status der Fiktion, die Rolle des Erzählers, die Gewichtung von Minne und Aventiure untereinander keine Gedanken. Denn die Vereindeutigungen, die der Rezipient von G und, in anderem Umfang und in anderer Qualität, aus S eigenständig vorzunehmen gezwungen ist, entfallen in der Prosafassung des ›Wilhelm‹: Diese Fassung steht eindeutig und fertig vor ihrem Publikum, sie fordert nicht dazu heraus, ihren Sinn mit zu gestalten. Der Erzähler lenkt nicht, er führt und setzt die Rezipienten dem Geschehen aus, das vor ihren Augen abläuft, ohne mit ihnen in Kontakt zu treten – an die Stelle der inferentiellen Kommunikation tritt der Konsum einer Geschichte, die beginnt, geschieht und vorbeigeht. Mit dieser spezifischen Haltung des berichterstattenden Erzählers geht einher eine phasenweise vollständige Konzentration auf die Dialoge der Figuren. Die Unmittelbarkeit, die dabei entsteht, dient einerseits dem für den Prosatext typischen Tempo-Management der Rezeption, sie steht zum anderen aber auch für die spezifische Form der Ekphrasis ein, die den Prosa-›Wilhelm‹ auszeichnet: Hier geht es um ein Vor-Augen-Stellen, das den artifiziellen, gemachten Charakter des Werkes niemals leugnet, aber eben auch niemals problematisiert: Der Prosa-›Wilhelm‹ fingiert keine Entstehung der Geschichte vor den Augen des Rezipienten und keine performative Entfaltung des Narrativs im Zusammenspiel von Autoritäten, Erzähler und Publikum. Stattdessen gibt es eine Handlung, es gibt einen Erzähler, dem die Autorität zukommt, diese Handlung zu erzählen, und es gibt die Rezipienten, die anschauen, was ihnen geboten wird. Die Rezipienten, sofern sie die intendierten Wege beschreiten und nicht – unbehindert durch einen Erzähler, der nicht zu lenken, nur zu führen vermag – ihre eigenen Wege gehen, verfolgen die Handlung gespannt und interessiert, aber sie müssen keine edele[n] hertzen (12) sein, um sie goutieren zu können.
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Anstand und Tugendhaftigkeit als allgemeiner Anspruch, der an alle Menschen gestellt wird, reichen vollkommen aus, um der Geschichte gerecht zu werden. Der ›Wilhelm‹ braucht in der Prosafassung umgekehrt auch keinen Marienpreis mit Hinweis auf den fragilen Wahrheitsstatus der Geschichte, es reicht ein handfestes Gebet konventioneller Prägung: Got helf unß zuo einem end, das wir darnach ewigklich bey im reichßnen werden! Amen (284,19f.). Die Hyperplasie wird ersetzt durch schnörkelloses, unhinterfragtes Erzählen, das streng linear das Publikum durch eine Geschichte lotst, die ihm kurczweil und nicht Anlass zum Nachdenken, Nachhaken oder Reflektieren über das Präsentierte bieten soll. Stattdessen steht die Dynamik der Handlung im Vordergrund.226 Das ist kein Manko des Textes, sondern eine poetologische Leerstelle, die vor den umfangreichen Bemühungen von G und (in anderem Maße) S sich als eigenständiger Beitrag zur Frage nach der Legitimität des Erzählens ausweist: Es gibt kein Problem mit diesem Text, er muss nicht hinterfragt werden. In diesem Zusammenhang kommt auch das Bildprogramm des Druckes ins Spiel, das die Struktur des Romans maßgeblich mit prägt: 53 Holzschnitte auf 150 Seiten bieten eine dichte Präsenz von Bildmaterial, das den Text ergänzt227 und die Sinnstiftung, die der Prosadruck betreibt, genauer zu bestimmen erlaubt. Denn abgesehen von der Hochzeitsnacht, die in der Bebilderung ausgespart ist, werden die Wegmarken der Handlung allesamt illustriert: Es werden alle Reisen, alle Turniere und auch kriegerischen Auseinandersetzungen ebenso wie alle mirabilia (Tecum, Joraffin, Vergilstuhl, Greif, Drache, Merlin und Einhorn) bildlich festgehalten. In Verbindung mit den strukturierenden Überschriften, denen die Holzschnitte am jeweiligen Kapitelanfang beigegeben sind, ergibt sich so ein gerafftes Panoptikum der wichtigsten Handlungszüge in Bild und Schrift.228 Minnesehnen und Liebesschwüre hingegen werden ausgeklammert, auch ist nie das Abfassen eines Briefes abgebildet, während sogar der Botenbesuch bei Crispin zur Ankündigung eines Turniers ein Bild wert ist (61r). Die Dynamik der Erzählung spiegelt sich im Bildprogramm, dieselbe Stringenz, Eindimensionalität der Darstellung und der gleiche Fokus auf die Kern226 Für wichtige Hinweise in diesem Zusammenhang danke ich Rüdiger Schnell (Basel). 227 Die Holzschnitte sind reproduziert bei Dietl 1999, S. 358–384, wobei die Blattangaben (die dem Reutlinger Exemplar folgen) von denen im von mir benutzten Münchner Exemplar abweichen, ich gebe hier die Orte der Holzschnitte im Exemplar der BSB München: 2r, 3r, 4r, 4v, 7r, 7v, 9r, 9v, 11r, 13v, 16r, 19r, 21r, 23r, 25r, 28r, 29v, 30v, 31v, 32r, 33v, 34v, 35v, 38r, 40r, 42r, 45r, 46r, 48v, 49v, 50r, 51r, 52r, 53v, 54v, 55v, 57r, 58v, 61r, 62v, 63v, 64v, 65v, 67r, 69v, 70v, 71v, 72r, 73r, 73v, 74r, 74v ; der Prosa-›Wilhelm‹ endet auf fol. 75r des Druckes, d. h. die Holzschnitte reichen von Anfang bis Ende mit geringerer Frequenz zwischen fol. 10r und 29v. Vgl. auch Schneider 1915, S. 102f. 228 Zu Bildfunktionen allg. vgl. Meier 2010, übertragen auf den ›Wilhelm‹-Druck könnte man mit ihrer Terminologie von einem »narrativ-diskursive[n] Illustrationstyp« (S. 169) des Druckes sprechen.
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elemente des Narrativs finden sich in Text und Bild. Bilder und Überschriftentexte formen eine paratextuelle narratio, die nicht in Konkurrenz zur eigentlichen Erzählung steht, sondern deren Inhalt und Duktus in konzentrierter Form wiederholt. Bis ins Detail werden Handlungselemente der Dichtung bildlich umgesetzt, sogar die Ermordung des Helden, die im Prosaroman hinterrücks geschieht (283,5f.) wird entsprechend bildlich geboten (73v). Allenfalls kleinere Unklarheiten schleichen sich ein: So wird im Text der Bracke Fürst als inaktiv geschildert, als Melchior nach Frigia aufbricht – Wilhelm hat den Hund hinter sich auf dem Pferd, das Tier springt nicht neben ihm her ; auf dem Bild hingegen läuft der Hund neben dem Pferd (38r). Es überwiegt jedoch Genauigkeit in der Darstellung, von der gewechselten Helmzier beim Anreiten gegen Wildemis (50r) bis hin eben zum Verschwinden des Bracken Fürst aus der Handlung – als er im Text nicht mehr auftaucht, geht er auch auf den Bildern verloren. Dies alles deutet darauf hin, dass durch die Illustrationen die im Text eröffnete Sinnebene unterstützt und forciert, aber keinesfalls um weitere Dimensionen der Ausdeutbarkeit ergänzt werden soll. So wird im Bild betont, was auch dem Text wichtig ist: Reisen, Wunder, Kämpfe. Der Druck präsentiert damit eine in sich abgeschlossene Komposition.
Der ›Wilhelm von Österreich‹ durch die Zeiten Der ›Wilhelm von Österreich‹ illustriert beispielhaft, was Terenz meint, wenn er von den fata der Bücher spricht: pro captu lectoris habent sua fata libelli.229 Die Beweglichkeit des Textes, die anhand der zwei Versredaktionen und der Prosafassung nachzuvollziehen war, eröffnet ein Spektrum der Interpretationsmöglichkeiten weit über die bekannten Schlagworte von der Hybridität (für G) und der Vereinfachung (für den Prosaroman) hinaus. Wenn Braun davon ausgeht, dass ab der Mitte des 16. Jahrhunderts die unterhaltende Literatur zunehmend als ein »einheitliches Feld«230 überblickt wird, dann zeigt der ›Wilhelm von Österreich‹ die Turbulenzen der vorangehenden Zeit überdeutlich auf. Die früheste Handschrift G steht weniger für einen epigonalen Rückblick auf die Inhalte hochhöfischer Romankunst, als vielmehr für eine eigenständige Setzung ästhetischer und poetischer Prinzipien, die ich mit dem Begriff der Hyperplasie gefasst habe. Es handelt sich um eine Neuentwicklung auf der Basis des bereits vorhandenen literarischen Gewebes, keine bloße Aufschwellung, sondern eine qualitative Neugestaltung. Diese greift etablierte Muster der inferentiellen 229 Vgl. dazu oben das Kapitel zur Rezeptionsästhetik und die Auseinandersetzung mit dem dictum in rezeptionsästhetischer Hinsicht bei Roloff 1988, S. 219 und Milde 1988, S. 13. 230 Braun 2001, S. 46.
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Kommunikation zwischen Text und Rezipient auf und passt sie den neuen Anforderungen des Minne- und Aventiureromans an, der Abenteuer als Effekt einer »privatisierten« Minne inszeniert und den Anforderungen einer kollektiv geltenden Ethik entzieht: Die Beziehung der Rezipienten zu den Protagonisten muss neu vermittelt werden, weil der Held als einzelner kämpft, siegt und liebt. Rezeptionsästhetisch betrachtet, bedeutet die hyperplastische Ausrichtung des Textes in G eine Multiplikation der Sinnangebote für den Rezipienten, der unterschiedlichen Lektüren den Vorzug geben und sich situativ immer neu zum Geschehen positionieren kann. Damit werden automatisch andere Leseweisen ausgeblendet, aus der Vielfalt wird in der einzelnen Rezeption jeweils reduzierend und kohärenzstiftend ausgewählt. Die Aufgabe, eben diese Vereindeutigung des Vielfältigen und die Kohärenz des auf den ersten Blick Disparaten herzustellen, liegt damit beim Rezipienten. Der Text macht Angebote, die auch stark vereinfachende Lektüren zulassen, privilegiert aber durch die zahlreichen Reibungsflächen und rauen Stellen in der Kombination von Erzählerebene und Handlungsebene eine kritische Auseinandersetzung mit dem Text. Wie unproblematisch es Rezipienten des 15. Jahrhunderts erscheint, dieses komplexe Erzählkonzept in der Kombination mit einer starken Vereinfachung zu lesen, machen S und Da deutlich, die lectio difficilior bleibt nur eine und bei weitem nicht die einzige Rezeptionsweise. Vorgeführt werden in den Redaktionen und Fassungen unterschiedliche Konzepte des Dichtens und Fingierens, des Erzählens in seiner Multiperspektivität und mit der Ambiguität nicht nur der Helden, sondern auch der Erzählerfigur. Diese Vielfalt von Ansatzpunkten für eine kritische Rezeption reicht weit über das bloße Themenfeld von Minne und Aventiure hinaus, sie nutzt dieses Themenfeld vielmehr, um die grundsätzliche Frage danach zu stellen, wie Rezipienten sich zur Dichtung und ihren Helden (dazu gehört, zumindest in der Gothaer Redaktion, auch der Erzähler) positionieren. Besonders im »Maximalprogramm« in G wird eine Romanpoetik erprobt, die apologetisch und theoretisch bewusst die Grenzen und Lizenzen romanhaften Erzählens nicht nur vorführt, sondern regelrecht austestet: Dies geschieht in der verweigerten brevitas ebenso wie im verweigerten Happy End, in der potentiellen Offenheit des Schlusses ebenso wie in der Multiplizierung der Erzählautoritäten und Lesarten, die in einem übergeordneten, metapoetischen Diskurs aufgehoben erscheinen. Die Romanapologie ist dabei zum einen in der utilitas, im sehr abstrakten didaktischen Anspruch verortet, zum andern religiös fundiert, wenn der Erzähler sich im Mariengebet die Vergebung für die Sünde des fiktionalen Erzählens um der Besserung der Rezipienten willen erbittet. Hier wird also nicht innovativ, sondern außerordentlich konservativ argumentiert. Jedoch der Umstand, dass diese Argumentation transparent gemacht wird, bricht diese konservative Sichtweise auf: Der ›Wilhelm von Österreich‹ macht die Romanapo-
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logie durchsichtig für den Rezipienten, der sich an dem hier angestoßenen Diskurs aktiv zu beteiligen vermag. Die aufgerufenen konservativen Muster und Strukturen werden in ihrer Aktualisierung bisweilen augenzwinkernd, dann wieder brachial ausgehebelt; dies alles geschieht vor den Augen des Rezipienten, dessen Konsens der Erzähler immer wieder zu erheischen versucht. Entscheidender Kernpunkt dieser Anlage ist die zyklische Verbindung zwischen delectatio und utilitas, die sich gegenseitig voraussetzen, bedingen und befördern. Mit dieser spezifischen Konstruktion verbindet der ›Wilhelm‹ die Kippphänomene, die zwischen rationaler und affektiver Wahrnehmung bzw. zwischen Distanz und Anteilnahme auszumachen sind. Alle Bestandteile der Komposition in G sind ausgerichtet darauf, den Rezipienten als zentrales Element der Romanpoetik ins Spiel zu bringen, seine Haltung zum Geschehen und zur Darbietung dieses Geschehens als Katalysator der Romanpoetik auszustellen und so die immer brüchigen, immer problematischen und immer neu zu rechtfertigenden Konzepte von Sinn und Nutzen der Dichtung innovativ aufzustellen. Das Erschließen des Textes trägt zur Sinnstiftung bei, der Nutzen ist im Rezipienten angelegt und kann nur dann realisiert werden, wenn Text und Rezipient interagieren. Das bedeutet eine Perspektivenverschiebung im Vergleich zur produktionsästhetischen Hybridität, die immer wieder konstatiert worden ist. Die Vielfalt, die Mischung wird erkennbar als ein Rezeptionsangebot, das lose Enden nicht einfach nur ausstellt, sondern ihre Verbindung durch den Rezipienten selbst herausfordert. Es werden Romanpoetiken vorgängiger Dichtungen zusammengeführt gerade mit dem Ziel, nicht einfach zu mischen und eine hybride Neuform zu erschaffen, sondern mit der Absicht, die Rezipienten in die neue Sinnstiftung einzubeziehen, die auf der Basis der innovativen Kombination möglich wird. Das macht den ›Wilhelm‹ in G zu einem poetologischen Experiment, das beispielhaft für die Romane der Gattung und der Zeit um 1300 stehen kann: Hier wird poetologische Grundlegung betrieben. Die Stuttgarter Handschrift dokumentiert als Rezeptionszeugnis, wie diese Hyperplasie, das Fortschreiben des Textes über die bisherigen Grenzen der Sinnstiftung hinaus, aktiv in der Rezeption genutzt wird. S trennt handlungsorientiert und auf den Inhalt fixiert zwischen dem ersten Teil des ›Wilhelm‹, der unter den Rezeptionsbedingungen, die für die Handschrift angedacht sind, keine Kürzung zu vertragen scheint, und den vermeintlichen Längen des zweiten Teils, die dem Rotstift anheimfallen können. Die poetologische Potenz des in G präsentierten »Maximalprogramms« wird hier monothematisch fokussiert und konzentriert sich auf die Minne, ihre Entstehung und Fundierung. Das zeigt, dass die hyperplastische Anlage des ›Wilhelm‹ kein Selbstzweck ist, sondern zur aktiven Auseinandersetzung auffordert – genau eine solche Auseinandersetzung bietet S, zugleich regt die Handschrift als Zeugnis aktiver Rezeption auch zu
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neuer Beschäftigung mit dem Stoff an, sie will ihrem Publikum eine komplexe Liebesgeschichte und ein nicht unnötig hinausgezögertes Happy End bieten, metapoetische Reflexionen und theoretische Erwägungen zur Wirkmacht von Dichtung treten hinter diesen Anspruch zurück. Der Prosadruck des ›Wilhelm‹ wiederum schafft eine neue Version der Geschichte und eine Art konzeptionellen Quantensprung im Vergleich zu S. Die Rezipienten werden zu Konsumenten einer unterhaltsamen hystori (191,1). Mit viel Elan und Tempo, aber ohne die intrikaten Beziehungsgeflechte zwischen Erzähler, Handlung und Publikum wird die Geschichte entfaltet, das wesentliche Moment der Rezipientenlenkung besteht in der Dynamik, die die Fassung zu bieten versteht. Ob und inwiefern die Prosa damit eine aktive Auseinandersetzung mit dem ambitionierten Programm von G sucht, lässt sich nicht erhellen.231 Der Prosatext steht vor den Rezipienten als Fassung eigenen Rechts, ortlos im Hinblick auf die Tradition des Stoffes, zugeschnitten auf eine spezifische Art der Rezeption, die keinerlei Rechtfertigung braucht und die einfach stattfindet. Diese Rezeption ist insofern passiv zu nennen, als der Rezipient am Stoff vorbeischreitet, ihn (begeistert, gespannt, interessiert) zur Kenntnis nimmt – und nach dem Ende diese Geschichte hinter sich lässt. Er ist dem Text ausgeliefert in einer auf den Rezeptionsvorgang beschränkten Zeitspanne, die nicht nachhallt – denn es fehlt die Anbindung an die außertextliche Wirklichkeit der Rezipienten, es fehlt die Einbindung der Rezipienten in die Sinnstiftung und es fehlt eine poetologische Ambition, das Erzählen theoretisch zu erhellen und weiter zu entwickeln. Der Erzähler ist Autorität und wird nicht hinterfragt, die Geschichte ist in sich abgeschlossen und ohne Bedeutungsüberschuss erzählt, wobei die Vereinfachungen bisweilen den Charakter des Holzschnittartigen, Unausgeführten annehmen (z. B. bei der Figurenzeichnung Aglyes). Da der Erzähler sich nicht um Vermittlung bemüht, sondern nur führt, taugt er nicht als metapoetischer Katalysator, das reduziert ihn auf eine sehr oberflächliche, aber offenkundig erzähltechnisch effektive Präsenz als Leiter eines Schaufensterbummels. Die Kurzfassungen des Stoffes tun sich mit Selbstrechtfertigung und Rezipientenlenkung viel weniger schwer als die zeitlich früher anzusetzende Langfassung des ›Wilhelm‹. In Vers und Prosa, in Handschrift und Druck wird in den 1470er und 1480er Jahren vorausgesetzt, was in G umfangreich hergeleitet werden muss: eine Rechtfertigung der Rezeption, ein Sinn des Textes. Es zeigt sich, dass in den späten Fassungen theoretischer Ballast abgeworfen wird zugunsten einer Lesart, die delectatio über utilitas privilegiert. Diese Neuaufstellung geht so weit, den Sinn der Dichtung gar nicht mehr in einer wie auch immer gearteten Didaxe zu sehen, sondern sich mit dem vagen Verweis auf Tugend231 Anders Sharma 1969, S. 21, der vom »Werdegang« (i. O. auch in Anführungszeichen) des Prosaromans ausgehend von der Versfassung spricht.
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haftigkeit zu beschränken, die allgemein vorausgesetzt werden kann. Der Roman wird gerade in einer Zeit des medialen Umbruchs, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die doch eigentlich Innovation herausfordern müsste, vollkommen unproblematisch, einfach zugänglich und präsent, im Falle des Prosadrucks geschieht dies sogar in polyfunktionaler Weise, kann der Stoff doch sowohl mit Reisebeschreibungen als auch mit Minne- und Aventiureromanen in Versform vergesellschaftet werden. Das nachklassisch-epigonale Erzählen verliert sein kritisches Selbstbewusstsein und seine Einbettung in den außerliterarischen Kontext, es wird als Produkt zur Unterhaltung verfügbar und transportiert delectatio nicht nur auf dem Grundreflex emotionaler, affektiver Anteilnahme mit den Helden und ihren Schicksalen, sondern auch über die distanzierte Beobachtung des Geschehens.
Die ›Magelone‹ zwischen Hof und Buchmarkt
Ausgangspunkt Der ›Wilhelm‹ gehört dem engen Kreis der sogenannten Minne- und Aventiureromane zu, die aus dem klassischen Vorstellungsrepertoire von Minne und Aventiure schöpfen. Die ›Magelone‹ hingegen rekurriert nicht allein auf höfische Ideen, um ihr Thema zu bearbeiten, sondern greift weiter aus.1 Es finden sich Hinweise auf orientalische Quellen,2 Brautwerbungsepik und Legende, vor allem aber sind auch hellenistische Elemente3 präsent. Durch diese Kombination wird die Liebeskonzeption4 der ›Magelone‹ ebenso wie ihr Abenteuerverständnis offener, als dies im mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureroman der Fall ist. Die Gewichtung der Handlungsrollen verschiebt sich im Rekurs auf hellenistische Muster, die generell die starke Frauenrolle mit dem schwachen, passiven Mann kombinieren und der Heldin mehr Raum geben, als dies in der mittelalterlichen Dichtung möglich ist. Den Konnex zwischen ›Magelone‹ und antikem Roman hat bereits das 16. Jahrhundert erkannt; Martin Crusius hat in seiner ›Epitome‹ der ›Aithiopika‹ 1584 die französische Fassung der ›Magelone‹ als Vergleichspunkt zur Liebesgeschichte von Theagenes und Chariklea bemüht.5 Auch im Bereich der Topographie lehnt sich die ›Magelone‹ mit der Trennung der Liebenden, der Orientfahrt und der Sklaverei eng an das antike Erzählen an. Im Kontext dieses hellenistischen Einflusses findet außerdem eine Umwertung der Erzählerinstanz 1 Burrichter 2013 nennt Gründungslegende, Ritterroman, erbaulichen Liebes- und Abenteuerroman und Heiligenlegende als Einflüsse auf die französische Fassung des Textes, zur abweichenden Terminologie in der Romanistik vgl. ebd., S. 360, Anm. 5. 2 Vgl. dazu die Hinweise etwa bei Birner 1978, S. 101f. 3 Vgl. Schulz 2000, S. 197–216, Berger 1995, S. 273, Buschinger 2010, S. 123, Müller 1990, S. 1234; in größerem Rahmen Röcke 1985 und Bachorski 1993. 4 Röcke 1985, S. 199 und Röcke 1993, S. 223f. Vgl. auch Eming 2006, S. 289 mit einer Forschungsübersicht zum ›privaten‹ Charakter der Liebe. 5 Vgl. Bolte 1894, S. XVIII mit Hinweis auf Crusius 1584, S. 96, S. 100, S. 137 und S. 203.
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statt; nicht nur werden verschachtelte Erzählungen in Erzählungen geboten und wird parallel von den Schicksalen der getrennten Liebenden erzählt. Der Erzähler verliert – im Vergleich etwa zu Johanns ›Wilhelm‹ in der Gothaer Redaktion – seine Rolle als »heimlicher Held« und wird zum Chronisten einer Geschichte, die es zu berichten gilt. Das alles macht die ›Magelone‹ aber nicht zu einem Roman antiker Prägung – zu deutlich bleiben Muster der Brautwerbung, legendarische Stilisierung und höfische Elemente in der Nachfolge des Minne- und Aventiureromans präsent und zu sehr ist die Dichtung ein mixtum compositum unterschiedlicher literarischer Traditionen. Entsprechend uneinheitlich gestaltet sich der Bezug auf Muster und Vorlagen: es finden sich im Text Beispiele für Reduktion,6 für neue Kontextualisierung und bisweilen auch für Ironisierung.7 Dies ist für die Forschung die Voraussetzung dafür, die ›Magelone‹ als hybriden Text8 auf der Basis »eigentümliche[r] Gattungsmischung«9 zu lesen. Dass der Roman zudem (und wohl auch resultierend aus der Kombination von Versatzstücken aus einer Vielzahl literarischer Traditionen) Bedeutungsüberschüsse, fehlende Motivationen, Übermotivation, Reibungsflächen zwischen den einzelnen Handlungsteilen sowie logische Inkonsistenzen bietet, die es schwer machen, die ›Magelone‹ als Dichtung aus einem Guss zu lesen, gibt der These von der Hybridität des Textes zusätzliche Relevanz. Bereits ein Handlungsüberblick zeigt die Sollbruchstellen der Erzählkonzeption deutlich auf: Gegenstand der Geschichte ist die Liebesbeziehung zwischen Peter von Provincia und Magelone von Neapel. Er hat sich als hervorragender Turnierteilnehmer in seiner Heimat ausgezeichnet und von ihrer Schönheit gehört, deshalb reist er an den Hof von Neapel. Dort verschweigt er seine hohe Abkunft und seinen Rang und kämpft stattdessen als Ritter mit den zwei Schlüsseln in den allfälligen Turnieren (»echte« Kämpfe gibt es in der ›Magelone‹ nicht),10 wobei er durch seine Fertigkeiten Magelone beeindruckt. Beide verlieben sich ineinander, Magelones Amme vermittelt zwischen den Liebenden und verhindert, dass sich ihr Schützling voreilig einem Anonymus hingibt (wogegen Magelone, die Peters Tugend- und Herkunftsadel problemlos erkennt, die Ängste ihrer Amme nicht teilt). Peter beschwört seine ehrlichen Absichten und bekräftigt sie durch die Gabe von insgesamt drei Ringen von immer größerer Kostbarkeit, die für seinen Reichtum und Adel ebenso einstehen wie für seine Treue. Beide verloben sich in einem intimen Gespräch ohne Zeugen miteinander, halten ihre Beziehung und Peters Identität aber geheim. Peter will sodann Magelones Liebe auf die Probe stellen und droht mit seiner Abreise von Neapel. Sie offenbart ihm Ehepläne, die ihr Vater für sie geschmiedet haben 6 7 8 9 10
Berger 1995, S. 273. Vgl. bes. Bachorski 1993, S. 79–83, speziell S. 81 zur »Gattungsmodifikation«. Paradigmatisch formuliert bei Schulz 2000, S. 153. Berger 1995, S. 283. Vgl. dazu Berger 1995, S. 273 und Schulz 2000, S. 155.
Ausgangspunkt
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soll, von denen aber im Text zuvor nie die Rede gewesen ist,11 sodann fliehen beide aus Neapel. Auf der Flucht schläft Magelone auf Peters Schoß ein, er berührt sie unzüchtig an der Brust. Dabei werden die drei Ringe, die er ihr als Liebesgabe überlassen hat und die sie an ihrem Herzen trägt, von einem Vogel gestohlen. Auf der Suche nach den geraubten Ringen gerät Peter erst in einen Seesturm und dann in heidnische Gefangenschaft, er wird Lieblingsdiener eines Sultans. Magelone erwacht zwischenzeitlich, kann ihren Geliebten nicht finden und macht sich in Pilgerkleidern erst nach Rom und dann in die Provence auf, wo sie in der Nähe von Peters elterlichem Schloss auf einer Insel ein Spital mit Kirche eröffnet, um sich der Krankenpflege zu widmen.12 Mit Peters Eltern unterhält sie unerkannt regen Austausch. Als die drei Ringe im Bauch eines Fischs gefunden werden, verzag sie nicht (anders als die Eltern). Peter macht sich mit Erlaubnis des Sultans, dem er vorspiegelt, nur seine Eltern besuchen und danach zurückkehren zu wollen, auf den Heimweg. Die Schätze, die sein Herr ihm zur Finanzierung der Reise mitgibt, versteckt er in Salzfässern. Auf seiner Rückreise erinnert ihn eine Blume an Magelone, er weint und schläft erschöpft ein, sein Schiff fährt ohne ihn weiter. Die Fässer kommen so vor ihm in Provence an; Magelone nutzt die Reichtümer für den Ausbau ihres Spitals. Und hier taucht nach einiger Zeit auch der Geliebte auf, der unerkannt als Patient seiner Pflegerin Magelone seine Geschichte erzählt. Es folgen verzögertes Wiedererkennen, Hochzeit und Happy End.13
An vielen Stellen der Handlung finden sich Fragezeichen und scheint der Text nicht ausreichend im Sinne moderner Anforderungen an Handlungslogik motiviert: So steht sich Peter als Werber mit seiner selbstgewählten Anonymität im Weg,14 ohne sein Inkognito könnte er Magelone problemlos heiraten. Auch die Flucht der Liebenden vom Hof entbehrt eines konkreten Anlasses, die Trennung des Paares, die Jagd Peters nach den geraubten Ringen, seine Flucht vom Sultanshof und die unterbrochene Rückreise entbehren der Plausibilität – kurzum, die Geschichte könnte wesentlich »glatter« und zielführender erzählt werden. Dies geschieht allerdings nicht, mehr noch: Die Brüche scheinen für die zeit-
11 Vgl. dazu z. B. Schulz 2000, S. 162. In diesem Zusammenhang weicht die frühere anonyme Fassung von Warbecks Text ab, vgl. dazu unten. Auch Tiecks Bearbeitung der ›Magelone‹ von 1799 (Tieck, Magelone, Kap. 9, S. 28) erwähnt einen anderen Bewerber um Magelones Gunst und die Heiratspläne ihres Vaters; da Tieck Peters Liebesprobe beibehält, ist die Stelle auch in seiner Fassung problematisch. 12 Auf diese Weise kann sie ehelos leben, ohne ins Kloster gehen zu müssen, vgl. Schulz 2000, S. 205, Anm. 109. 13 Ich nutze die Ausgaben Bolte 1894 (Handschrift von 1527), Müller 1990 (Erstdruck 1535) und Degering 1922 (anonyme Übersetzung von 1525). Für Warbecks Text nutze ich außerdem das ›Buch der Liebe‹ (1587), dessen ›Magelone‹ Roloff 1969 ediert hat. Zitate werden im Fließtext unter Angabe des Herausgebernamens, der Seite und ggfls. der Zeile gekennzeichnet. 14 Vgl. Schulz 2000, S. 156 zu den internalisierten höfischen Regeln, die auch die heimliche Werbung prägen.
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genössischen Rezipienten, so sie sie denn wahrgenommen haben,15 kein Hindernis gewesen zu sein. Der Roman ist ein »Bestseller«16 des 16. Jahrhunderts und ein »Longseller«,17 der bis zur ersten Edition durch Bolte im Jahr 1894 eine ununterbrochene Druckgeschichte vorzuweisen hat.18 Die ›Magelone‹ wirkt damit über die Epochengrenzen hinweg, auch der junge Goethe gehört zu ihren Lesern.19 Bereits Görres hat die ›Magelone‹ »Volksbuch« genannt,20 was zwar terminologisch problematisch erscheint,21 aber doch die große Beliebtheit über mehrere Jahrhunderte hinweg pointiert fasst. Im Folgenden interessieren mich drei Textzeugen, die den raschen Wandel der Rezeptionsanforderungen an den immer gleichen Stoff dokumentieren. Bekannt sind zwei handschriftlich erhaltene Übersetzungen:22 Eine katholische Übertragung ist um 1525 unikal überliefert, die andere, protestantische, wurde 1527 von Veit Warbeck23 angefertigt und ist Grundlage der deutschen ›Magelone‹-Tradition.24 Warbecks Text entsteht im Zusammenhang der Hochzeit des Kronprinzen Johann Friedrich von Sachsen mit Sibylle von Jülich-Cleve.25 Er kommt kurz nach dem Tod des Übersetzers in 15 Vgl. für den französischen Text Burrichter 2013, S. 372: »Der hybride Charakter von ›Pierre de Provence et la Belle Maguelonne‹ erschließt sich nur aus der Geschichte der Bestandteile, die einem französischen Erzähler des 15. Jahrhunderts nicht bewusst gewesen sein muss. Aus der Sicht des 15. Jahrhunderts kann man ›Pierre de Provence et la Belle Maguelonne‹ auch als erbauliche Gründungslegende »aus einem Guss« lesen […].« 16 Graf 1986, S. 139. 17 Beide Begriffe verwendet Schmitt 1973, S. 197. Einen »Longseller« nennt auch Berger 1995, S. 269 die französische Fassung. 18 Zu weiteren Bearbeitungen vgl. Steinhoff 1996, Sp. 1416f. Schmitt 1973, S. 202 betont, dass die ›Magelone‹ auf einer im 16. Jahrhundert »qualitativ neue[n] Stufe« im Vergleich zu den übrigen Romanen stehe, was die Überlieferungsdichte und -breite angeht. 19 Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 42, Z. 31. 20 Noll-Wiemann 1975, S. 6. Görres 1807, S. 151–154. 21 Vgl. grundsätzlich Kreutzer 1977, Müller 1977, S. 29 und Müller 1985. 22 Verwandt mit der ›Magelone‹ ist die italienische Novelle von Phyloconio und Eugenia des Sabadino degli Arienti, die Peter Wernher wohl 1475 ins Deutsche übersetzt und von der sich Nürnberger Drucke aus dem Jahr 1515 erhalten haben, vgl. dazu Roloff 1969, S. 89. Die Handlung des ›Phyloconio‹ ist wesentlich stärker von Magie geprägt als die der ›Magelone‹, so dass zwar Verwandtschaft, aber keine Identität der Erzählungen anzunehmen ist. Zu diesem Text vgl. Ullmann 1907, zu den Abweichungen von der ›Magelone‹ dort S. 690. 23 Vgl. zur Person Warbecks neben Bolte 1894, S. XIX–XXXIII auch Noll-Wiemann 1975, S. 8– 11 und Graf 1986 sowie Müller 1990, S. 1235–1239. 24 Simmler 1983, S. 138 zählt 21 weitere Drucke im 16. Jahrhundert. 25 Steinhoff 1985, Sp. 1145. Der Ausstellungskatalog 1986 nimmt an, dass die Umstände der Fürstenheirat in der komplizierten Geschichte von Peter und Magelone gespiegelt wurden und dass dem Text deshalb eine dynastische Lesart eingeschrieben sei als »literarisches Kabinettstück zur Verklärung einer zwar konsequenten, aber etwas erklärungsbedürftigen Heiratspolitik« (S. 33). Vgl. dagegen für den französischen Text Berger 1995, S. 274, der gerade die Paarbeziehung mit dem heimlichen Eheversprechen als das »größte Skandalon« für die Rezipienten bis in die Neuzeit versteht.
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Druck (1535 bei Steiner in Augsburg), für diese Ausgabe verfasst Warbecks Freund Georg Spalatin eine rezeptionssteuernde Vorrede.26 Damit dokumentiert der Übergang von der Handschrift in den Druck in relativ enger zeitlicher Nähe den (intendierten) Wahrnehmungswandel, dem die ›Magelone‹ unterliegt.27 Zwei grundlegend verschiedene Konzeptrahmen sind zu erkennen: eine höfische ›Magelone‹ steht der einem breiteren Publikum zugänglichen ›Magelone‹ gegenüber, und es konkurrieren eine katholische und eine protestantische Fassung.
1527: Die ›Magelone‹ am Hof Warbecks Übertragung aus dem Französischen ist wohl ursprünglich nicht für eine Verbreitung im Druck vorgesehen. Die Handschrift zirkuliert am Hof Friedrichs von Sachsen, dem Warbeck bereits als Erzieher gedient hatte und der – ausweislich des Bücherkatalogs, den Bolte im Vorwort zu seiner Edition der Handschrift aufführt – mit französischer Romanliteratur durchaus vertraut gewesen sein dürfte.28 Der Name des Übersetzers ist auf dem Titel nicht vermerkt, er ist bekannt, der Kreis der Rezipienten ist beschränkt. Es handelt sich mithin um ein exklusives Produkt für wenige Vertraute, die primäre Rezeptionssituation ist rein höfisch.29 Der Titel: Ein sehr Lustige Histori, von dem Ritter, mit den silbern schlusseln, vnd der schonenn Magelonna, fast lieplich zuo lesenn, in kurtzs auß der frantzosischen sprache, in die Teutschen versetzet, a. 1.5.2.7. (Bolte 1,1–5) erinnert an Druckwerke der Zeit, das Genre der lustigen Histori ist den Rezipienten augenscheinlich vertraut. Wie im gedruckten Buch erleichtert auch in der Handschrift die Unterteilung in Kapitel die Rezeption; mit einer Ausnahme sind den 32 Kapiteln inhaltszusammenfassende Überschriften beigegeben, die skizzieren, wovon man gleich lesen wird: Der Unterschied zwischen Handschrift und Druck scheint hier nivelliert, Warbeck nutzt die mise en page der Druckpraxis für die Handschrift. Es fehlt allerdings ein rezeptionsdeterminierender, die Moral der Geschichte herausarbeitender Paratext, wie er dem Druck von 1535 beigegeben wird. Stattdessen finden sich eine floskelhafte Einleitung mit der Datierung der Vorlage auf 1453 (Bolte 1,8) und eine religiöse Ausdeutung der Rolle der Dreifaltigkeit für die Menschen am Ende der Dichtung (welche uns wollen erfrewen jn vnsern anfechtungen jn dieser welt vnd endlichen 26 Vgl. allg. McDonald 1994. 27 Vgl. auch die Feststellung von Eming 2006, S. 291: »Die ›Magelona‹ bietet dabei den interessanten Fall eines Romans, der diese Veränderungen in Überlieferung und Textgestalt selbst dokumentiert.« 28 Bolte 1894, S. XXXIII–XLII (Kap. IV: »Die französische Litteratur am kursächsischen Hofe«). Vgl. auch Ausstellungskatalog 1986, S. 30. 29 Vgl. Ausstellungskatalog 1986, S. 33.
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vns furen zuo besitzen das ewige leben. Amen. [Bolte 73,1–3]),30 gefolgt von einem Explicit (Hier endet sich das buoch vnd die historia von dem Peter, der ein son gewesen des graffen von Prouincia, vnd der schonen Magelonna, die do ist gewesen ein tochter des konigs zuo Neapels. 1.5.2.7. [Bolte 73, 4–8]), das die Buchform der historia betont und auffällig darauf verzichtet, eine Entwicklung der Helden, die ja nach 32 Kapiteln nicht mehr die Kinder von Herrschern, sondern selbst Herrscher geworden sind, anzudeuten. Peter ist und bleibt der Grafensohn, Magelone ist und bleibt die Königstochter, das sind die festgelegten Rollen am Anfang wie am Ende der Geschichte. Die Paratexte helfen mithin nur, die historia zu kategorisieren und ihre Protagonisten holzschnittartig zu benennen, Verständnishilfen bieten sie nicht. Im Folgenden sollen die Rolle der Erzählerfigur und die Figurenkonzeption beleuchtet werden, um herauszustellen, wie die ›Magelone‹ ihrem höfischen Publikum gegenübertritt, was sie voraussetzt und welche Deutungsangebote sie unterbreitet. Die Erzählerfigur zeichnet sich dabei vor allem durch das aus, was sie nicht ist: Sie ist nicht geschwätzig, sie bietet keine digressiones, dilatationes und keinerlei metapoetische Seitenbemerkungen. Stattdessen erscheint sie außerordentlich kurz angebunden, sie fungiert mehr als Chronist denn als Erzähler und nimmt im Vergleich zur überdimensional stark vertretenen Figurenrede eine eher dienende, erläuternde, unterstützende und nur bisweilen auch moderat lenkende Rolle ein. Sie bleibt namenlos und steht mehrheitlich hinter dem Geschehen zurück, von dem sie berichtet; dies gilt gerade auch an den Stellen des Werkes, die neuzeitlichen Rezipienten Signale auf die Hybridität der Anlage zu geben bzw. Sollbruchstellen der Konzeption aufzuweisen scheinen.31 Immer dominiert die Figurenrede, sei es bei den Aufbruchsplänen Peters, der nach Neapel ziehen soll (Ir sollten wandern vnd die welt suchen [Bolte 4,12]) oder beim Gespräch der frisch Verliebten am Hof, bei dem der Erzähler nur knapp anmerkt, dass Magelone es ungerne (Bolte 12,5) beendet, um sie dann sogleich in direkter Rede weitere Treffen anmahnen zu lassen. Besonders in Passagen, die für das Voranschreiten der Handlung wichtig sind, beschränkt sich die Rolle des Erzählers auf solche knappen Einschaltungen; selbst Magelones prophetischer Traum ist in Dialogform gehalten (Bolte 18,23–32). Der Erzähler kommt nur dann zu Prominenz, wenn raffend größere Zeitspannen und Räume zu überbrücken sind und nicht zu viel Platz auf das Geschehen verwendet werden soll: (Bolte 22,24–31 oder Bolte 29,26–30,7). Die entsprechenden Beschreibungen erinnern in einigen Momenten an den späten Adalbert Stifter, so lakonisch und knapp sind sie gehalten: Also nam der Peter vrlaub von der schonen Magelonna vnd ging stille widder jn sein herberge, doch frolicher, wan er gewonet was (Bolte 30 Diese Passage fehlt im Druck von 1535. 31 Vgl. dazu auch Müller 1990, S. 1242f.
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28,7–9), und so viel Bedeutungsspielraum eröffnen sie: Denn in den wenigen Worten versteckt sich jeweils ein Spektrum an Emotionen, das nicht auserzählt, aber angedeutet wird. Selbst in Passagen, die eigentlich zur descriptio einladen (etwa die Aufzählung von Turnierteilnehmern und die Turniervorbereitung [Bolte 30,12–31,38]), bleibt der Erzähler zurückhaltend. Das wirklich Wichtige darff nicht fragens (Bolte 32,25f.) und steht allen Rezipienten klar vor Augen – in diesem Falle die Sympathie der Königstochter für ihren heimlichen Verlobten, der sich beim Turnier nicht nur als bester, sondern auch als anständigster Kämpfer beweist, indem er es ablehnt, inkognito gegen seinen Onkel anzureiten und diesem selbst in der passiven Kampfverweigerung überlegen ist (Bolte 33,1–39). Während das textinterne Publikum über den Helden staunt, weiß Magelone es bald, war vmb der Peter solchs thet (Bolte 33,37f.), und der textexterne Rezipient teilt ihren Kenntnisstand nicht nur, er ist ihr sogar voraus, da er die Herkunft ihres Geliebten kennt. Dank der Erzählerrede sind die Rezipienten immer über die wesentlichen Koordinaten der Handlung und den neuesten Stand der Information im Bilde.32 Alles Wichtige wird vom Erzähler in kleinen Hinweisen ohne besondere Emphase ausgesprochen, wenn es nicht direkt aus der Figurenrede heraus entwickelt wird. Der Erzähler interagiert nicht mit den Figuren, er lässt sich auch nicht vom Geschehen, das er erzählt, mitreißen, wie es etwa Johann im ›Wilhelm von Österreich‹ tut (Vnd das ichs kurtzs mache [Bolte 34,21]), er konstatiert und blickt aus der Distanz auf die Bestandteile der Liebesgeschichte, die die Handlung und ihren Fortgang ausmachen. Dabei gibt er keine Vorausdeutungen und er zieht auch nicht die – z. T. offenkundigen – Verbindungslinien zwischen den einzelnen Teilen der Handlung, stattdessen beschränkt er sich auf knappe Einlassungen, die der Figurenrede zuarbeiten. Von den Figuren selbst wird das Entscheidende mitgeteilt. Widersprüche und Inkonsistenzen dieser Selbstdarstellungen hinterfragt der Erzähler nicht – zu Peters Inkognito bezieht er keine Stellung, er gibt nur den Hinweis, das sein präsumtiver Schwiegervater die Selbststilisierung als armer Fremder als Höflichkeitslüge enttarnt (Bolte 9,16f.). Konsequenzen zieht er aus diesem Widerspruch zwischen Selbstpräsentation und Fremdwahrnehmung jedoch nicht.33 Auch als Peter Magelones Gefühle auf die Probe stellt, positioniert sich der Erzähler nicht explizit zu diesem Versuch; er betont lediglich zwei Mal, dass es Peter um ein versuochen (Bolte 36,10) der Geliebten geht:34 Solchs thet 32 Vgl. auch Burrichter 2013, S. 369. 33 Vgl. zum Konnex von Identitätskonstitution und Raumordnung Winst 2007, S. 156f., vgl. auch Bennewitz 1991, S. 206. 34 Vgl. auch Eming 2006, S. 311: »Der Konflikt ist subjektiviert, indem er aus den Zweifeln an den Emotionen des anderen hervorgeht«. Die weit reichenden Folgen dieser Feststellung diskutiert Eming ebd. nicht – wenn am Partner gezweifelt wird (und das tut Magelone nach
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allein der Peter zuo erfaren, wie sie sich dar jnne wolt halten (Bolte 36,18f.), das muss als Hinweis auf die Außergewöhnlichkeit des Geschehens offenkundig reichen. Er schildert sodann Magelones emotionalen Ausnahmezustand (Bolte 36,20–25) und Peters entsprechende Reaktion auf ihre Rede (Bolte 37,5–8). Die Eigendynamik, die die Handlung im Folgenden ganz gegen Peters willen entfaltet, wird in der direkten Rede dargelegt: Magelone ignoriert Peters Rückzieher (Bolte 37,10f.) und macht die Abreise zum notwendigen nächsten Schritt wegen Peters angeblichem Heimweh und – sie betont explizit: es ist war (Bolte 37,24) – der Pläne ihres Vaters, sie zu verheiraten. Beide Unstimmigkeiten werden vom Erzähler mit keiner Silbe wieder aufgegriffen: Weder Peters widerrufene Reisepläne noch die ansonsten nie erwähnte Sorge um eine anderweitige Verheiratung sind ihm einen Kommentar wert, Magelone beglaubigt ihre Behauptung vielmehr selbst. Der Erzähler konstatiert stattdessen die konspirativen Reisepläne (Bolte 37,36–38) und berichtet von den Vorbereitungen, dies geschieht raffend, da es um uninteressante Handlungsteile geht (Bolte 38,8–18). Eine herausragende Ausnahme von dieser Zurückhaltung des Erzählers stellt die Trennungsszene dar, die insgesamt mit Bedeutungspotential überfrachtet ist. Da Magelone schläft, fehlt Peter der Konversationspartner, um in direkter Rede die Handlung zu entwickeln. Die Möglichkeit eines Soliloquiums zieht der Text nicht in Betracht, stattdessen wird vom Erzähler zuerst dreifach eine Publikumsapostrophe geboten (Bolte 41,4f., Bolte 41,6 und – in einer ungewöhnlichen Vorausdeutung auf künftiges Unheil – Bolte 41,19). In der Folge schildert der Erzähler Peters Gefühlszustand und steigende Erregung, er verzichtet aber konsequent darauf, Peters Missgeschick als Strafe für sein unzüchtiges Verhalten auszustellen. Es wird explizit keine Relation zwischen dem Vergehen und dem Verlust der Ringe hergestellt, sondern im Gegenteil der Topos bemüht, dass auf Freude Leid folge: Aber gott der almechtig erzeiget jm, das in dieser welt kein freude were on traurigkheit, vnd schicket do hin ein vogell (Bolte 41, 32f.). Der Vogel wird von Gott gesandt, um die Freude durch Leid auszugleichen, nicht um zu strafen. Dadurch entzieht sich der Erzähler einer wertenden Betrachtung der Ereignisse und reduziert seine Einlassungen auf topische Weisheiten. Einen signifikanten Bedeutungszuwachs erhält der Erzähler im zweiten Teil der Dichtung, der mit der Trennung der Liebenden einsetzt: Denn nun verlieren Peter und Magelone das Privileg, mehr zu wissen als ihre Umwelt. Zuvor kennt allein der Trennung noch einmal, als sie Peter unterstellt, sie absichtlich verlassen zu haben), wird die Identität der Liebenden zeitweilig aufgehoben und vereinzeln die Figuren vollständig, bevor sie sich wieder zu einer emotionalen Einheit zusammenfinden. Das bedeutet, dass nicht nur eine Dichotomie von Paar und Gesellschaft (mit der bekannten Überblendung der Sphären, auf die Schulz 2000, S. 156 unter dem Stichwort der internalisierten Normen und Werte hinweist [vgl. dazu auch Mertens 1994, S. 124]) besteht, sondern dass auch das Paar emotional geschieden ist und der Wiedervereinigung bedarf.
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Magelone Peters Namen und planen sie beide unter Ausschluss der Öffentlichkeit (selbst unter Ausschluss der Amme [Bolte 38,10–15]) ihre Flucht – jetzt sind beide auf sich gestellt, von ihren Wissensdefiziten und den Unsicherheiten des Vermissens geplagt. Magelone weiß nicht, was geschehen ist, als sie erwacht (das aufgeschnürte Mieder scheint sie nicht zu stören, ebenso wenig der Verlust der Ringe),35 zuerst zweifelt sie an ihrem Geliebten (Bolte 47,15f.: Jason-Medea-Vergleich),36 dann erkennt sie die auenteur (Bolte 47,25) als Ursache der Trennung, also eine externe Macht, die gerade keine ethische Komponente in sich trägt, sondern schicksalhafte Fremdbestimmung bedeutet. In der Folge affirmiert die Erzählerrede immer wieder, wie trostbedürftig und verlassen Magelone ist: Sie bräuchte mehr Beistand als Peters Eltern, die sie, in Provincia angekommen, immer wieder seelsorgerisch betreut (Bolte 53,34f.; 56,23–26; 61,14–26). Peter hingegen, dessen Schicksal der Text weniger Aufmerksamkeit widmet als dem Magelones, spendet für die Armen und sorgt sich um seine Geliebte (Bolte 45,34– 36). Der Erzähler wechselt zwischen den Schauplätzen hin und her, rafft die Handlungsstränge (etwa Bolte 53,4–20 u. ö.) und hebt einzelne, markante Szenen aus dem Einerlei heraus, die in dialogischer Ausbreitung als besonders bedeutsam markiert werden, so etwa, wenn die Ringe im Bauch des Fisches gefunden werden (Bolte Kap. 22). Entscheidend ist, dass er immer wieder das Nichtwissen der Protagonisten und, damit verbunden, das Schwanken vor allem Magelones zwischen Hoffen und Verzweifeln hervorhebt. Diese Konstellation könnte Anlass bieten für eine umfangreiche emotionale Affizierung der Rezipienten über distanzvermindernde Kommentare, rhetorische Ausschmückung des Leidens usw. – de facto verharrt der Erzähler aber in solchen Passagen im distanzierten, knappen Duktus, der ihn auch sonst auszeichnet. Als etwa Magelone wieder einmal die verzweifelten Eltern Peters tröstet, macht der Erzähler eine Rechnung auf: Die Eltern haben danach »nur« den Sohn eingebüßt, Magelone hingegen ihr Königreich, die Gnade ihrer Eltern und iren aller liebsten gemahel Peter (Bolte 61,24), es steht also 1:3, kein Wunder, dass Magelone wol billich betrupt was (Bolte 61,25). Über dieses Maß geht die Anteilnahme des Erzählers nicht hinaus, was mit den spezifischen Wissenshierarchien der Dichtung zusammenhängt: Der Erzähler teilt mit den Rezipienten das Mehrwissen darum, wo sich der jeweils andere Teil des Liebespaares aufhält, während der eine Teil ihn beklagt und vermisst. Die Rezipienten wissen um Peters Wohlergehen beim Sultan, sie wis35 So auch Schulz 2000, S. 198, Anm. 97. 36 Dieser Ausweis von Literaturkenntnis funktioniert nur, wenn das Publikum denselben Referenzrahmen hat und die Anspielung zu verstehen vermag – es handelt sich hierbei um den einzigen so gearteten Hinweis, den die ›Magelone‹ gibt, vgl. zur Anspielung Müller 1990, S. 1257.
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sen um Magelones karitative Arbeit, und sie zweifeln nicht daran, dass beide wieder vereint werden. Denn die Welt der beiden Liebenden kennt keinerlei existenzielle Gefährdung,37 gott der almehtig, der die seinen nicht verlasset (Bolte 62,33f.) verhindert das Schlimmste, so dass sich die Handlung in einem relativ kleinen »Ausschnitt«38 der Welt abspielt, der ganz auf die Figuren zugeschnitten und durch Trennung und Wiedervereinigung strukturiert ist. Am Ende, als die Liebenden wieder vereint werden, scheint der Spielcharakter dieser Konstellation zwischen Figuren, Helden und Erzähler besonders deutlich durch: Nach Peters Ankunft erkennen sich die beiden Liebenden nicht, er vermisst Magelone, nennt in seiner Sehnsuchtsrede ihren Namen (Bolte 65,2), gerade als sie im Spital an ihm vorbeigeht, sie hört das nicht, nur den Seufzer, den er seinem Monolog anschließt, bekommt sie mit (Bolte 65,17) und das initiiert das einseitige Wiedererkennen. So tappen beide Figuren die ganze Zeit im Dunkeln, während der Rezipient alles weiß. Das ist ein Spiel der ›Magelone‹, das die herausgezögerte Anagnorisis auf die Spitze treibt. Schließlich kommt es zum Wiedererkennen, jedoch nur einseitig. Magelone fordert Peter auf, seine Geschichte zu erzählen und (wieder gibt nicht der Erzähler, sondern die direkte Figurenrede das Wesentliche preis), dann hält sie ihn im Unklaren über ihre Identität und inszeniert das Wiedererkennen mit besonderer Aufmachung, in ihren herrschaftlichen Kleidern (Bolte Kap. 28), zuletzt wird auch noch das Wiedersehen mit den Eltern ähnlich vorbereitet und inszeniert (Bolte Kap. 30). Die Figuren holen auf diese Weise, peu / peu, den Wissensstand ein, den Erzähler und Rezipienten bereits haben, erst am Ende sind alle wieder auf Augenhöhe – das war zuletzt der Fall, als die Liebenden ihre Flucht aus Neapel planten. Diese Aufholbewegung wird ausführlich vorgeführt und immer wieder neu akzentuiert, mit besonderem Fokus auf Magelones Inszenierung (Bolte Kap. 28), auf Peters Erkennen (Bolte Kap. 29), auf der Begegnung mit den Eltern und dem Erkennen (Kap. 30). Die Anagnorisis ist damit zerdehnt.39 Für einen Text, der ansonsten auf Raffung, Knappheit und Geschwindigkeit wert legt, ist 37 Peter muss sich nie im Kampf bewähren, auch im Turnier kommt es nie zu echten Auseinandersetzungen: Weder gegen Heinrich von Crappana (Kapitel 4) noch gegen Friedrich von der Krone (Kapitel 12) muss er antreten – Heinrich wird von ihm nach einem unguten Kampfverlauf gerächt und zu seinem Freund (Bolte 9,35 und 31,6), im zweiten Fall besiegt er Lancelot, den Bezwinger Friedrichs. Auch Magelone kann als Spitalerin ihre Unschuld bewahren und ist nie mit neuen Bewerbern um ihre Hand konfrontiert (vgl. dazu Schulz 2000, S. 205). 38 Schulz 2000, S. 166: »Es verändert sich somit nicht die dargestellte Welt, sondern der den Figuren zugängliche Ausschnitt dieser Welt.« 39 W,ghäll Nivre 2011, S. 205 sieht im Hinauszögern der Heimkehr die Grundlage dafür, dass ein »romanhafter Text« entstehen kann, ich würde umgekehrt die zerdehnte Rückkehrsituation als Ausweis der romanhaften Anlage, inspiriert von den hellenistischen Strukturen, lesen wollen.
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das eine Besonderheit. Dennoch: Tränenreich geht es auch hier nicht zu, obwohl eigentlich alle Voraussetzungen gegeben wären; ganz im Gegenteil wird jede Beschreibung von Emotion sogar explizit verweigert: Ich weyß die helfften nicht zuo erzelen der freuden, so sie hetten; dan ich solches gib einem jtzlichen selber zuo bedencken. Solche ding lassen sich auch baß zuo bedenken dan zuo schreiben (Bolte 68,13–16).40 Das ist mehr als eine erklärte Auslassung, und es fügt sich in das Bild, das die anderen Weigerungen, immersionsfördernd zu erzählen, bereits entworfen haben. Deutlicher als sonst wird hier unterschieden zwischen der Niederschrift von Emotionszuständen und der gedanklichen Auseinandersetzung mit ihnen. Der Erzähler sieht sich für solche Dinge nicht zuständig, spricht aber der Szene zugleich nicht das affektive Potential ab; die Wahrnehmung wird lediglich in die individuelle Rezeption ausgelagert und von der Erzählerrede getrennt. Dies ist insofern programmatisch für die gesamte ›Magelone‹, als dem Rezipienten neben der eher kargen Prägnanz der Erzählerrede vom Faktischen41 die Rezeption als Ermöglichungsraum auch emotionaler Affizierung zugestanden wird: Nur weil von freuden nicht die Rede ist, nur weil Emotionen schwer zu verbalisieren sind, heißt das noch lange nicht, dass man nicht daran denken darf, mehr noch: Was man imaginieren kann, muss nicht erzählt werden. So wird außerdem zugleich die Rolle der Erzählerfigur legitimiert: Sie moderiert, gewährt Einblick in die Befindlichkeit der Protagonisten, enthält sich aber aller Kommentare und Wertungen. Der Erzähler hat nur den Anspruch zu lenken, zu begleiten, nicht zu vertiefen und zu interagieren, weder mit dem Publikum noch mit der Handlung. Aber es gibt ganz deutlich nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch das Ausgelassene, nicht Erzählte, Angedeutete, das in das Verstehen der Geschichte ebenso mit einzufließen hat, auch wenn es nicht verbalisiert wird.42 Der Erzähler der ›Magelone‹ benennt keine Wirkungsabsicht und lässt keine eindeutige Wertungstendenz erkennen; er erzählt knapp, zügig und bündig: Hier wird inferentielle Kommunikation zwischen Text und Rezipient als Spiel vorgeführt, das in der Verknappung besteht, die ›Magelone‹ ist eine Reduktionsform des Liebes- und Abenteuernarrativs. Die »semplicit/ della narrazione«43 ist programmatisch und hat zur Folge, dass die Rezeption ganz 40 Vgl. zur Idee des eigenständigen Nachvollzugs von Figurenemotionen auf der Basis von »kulturelle[m] Wissen« der Rezipienten allg. Schnell 2008, S. 39. 41 Theiß 1979, S. 134: »Handlungsstruktur und Motivik dieser Erzählung sind ganz auf ein bildhaft-gegenständliches Erzählen konzentriert«. 42 Aus diesem Grund stimme ich auch nicht mit der Bewertung der Erzählerfigur bei Theiß 1979, S. 140f. überein, wo eine Exemplarizität der Figuren im Erzählerkommentar als didaktische Idee der ›Magelone‹ angenommen wird. Der Text bietet mehr als die verkürzt dargestellte Idealität der Helden. 43 Babbi 1997, S. 447.
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anders als im ›Wilhelm von Österreich‹ zum Ort der Sinnstiftung wird: Während Johann von Würzburg seine Rezipienten aus der Fülle der Rezeptionsangebote entscheidend auswählen lässt, eine Hyperplasie des Erzählens bietet, reduziert Warbecks ›Magelone‹ das Angebot – in der medizinischen Bildlichkeit gesprochen: hypoplastisch – auf das minimal Mögliche. Die Geschichte bleibt erhalten, sie ist nicht defizitär, sie erscheint jedoch nicht auserzählt und vor allem nicht ausgedeutet. Vom Prosa-›Wilhelm‹ unterscheidet sich die ›Magelone‹ dabei dadurch, dass sie Möglichkeiten zur Vervollständigung und zu Weiterdenken lässt, den Rezipienten also ermächtigt und nicht in seinem Handlungsspielraum beschneidet. Zu diesem Eindruck trägt auch die Figurenzeichnung bei. Die Helden sind spröde, kontrolliert, zudem minimalistisch in ihren Äußerungen. Ihre Sprache ist außerordentlich formalisiert, rhetorisiert, stilisiert, besticht durch Ihrzen und schafft Distanz, so dass man leidenschaftliche, affizierende Gespräche vergeblich sucht,44 alles bewegt sich im »wohltemperierte[n]«45 Bereich. Die »praktische[n] Aporien«46 zwischen Tugendhaftigkeit und Liebessehnsucht werden in diese spezifische Redeweise gespiegelt, wobei das Sprechen mit Kontrolle zusammen gesehen wird, Ohnmacht und Verstummen hingegen für Kontrollverlust stehen. So sprechen die Liebenden auch gegen die Gefahren der Leidenschaft an; erst wenn sie schweigen, tauchen schwerwiegende Probleme auf, wie zum Beispiel in der Trennungsszene. Wenn solches Schweigen eintritt, füllt die Erzählerrede nur unzureichend die entstehende Lücke, Probleme werden auf diese Weise nicht diskursiviert, sondern bleiben unausgeleuchtet. Der Rezipient wird somit wiederum in die Rolle eines distanzierten Betrachters gedrängt, wobei die Figurenrede die Erzählerrede ergänzt bzw. auf der sekundierenden Arbeit der Erzählerrede aufbaut: Denn der Erzähler bereitet die wesentlichen Aussagen vor und begleitet sie. Die Figuren sprechen das Notwendige aus, um die Handlung voranzubringen und um ihre Liebe zu bekunden, die zwar topische Elemente der Minnekrankheit und der Sehnsucht aufruft (Bolte 21,5 u. ö.), aber dennoch immer im Rahmen des Anstands bleibt. Selbst im – stummen – Fehlgriff Peters wird Erotik in dem Moment, in dem sie aufgerufen wird, sofort wieder zurückgenommen.47 Es geschieht nichts Unerwartetes, nichts, was den Rahmen sprengen würde, der ganz im Gegenteil immer wieder affirmiert wird. Besonders erhellend für diese Tendenz der ›Magelone‹ ist der Bericht, den Peter als Erzählung in der Erzählung im Spital gibt und in dem er sein Leben zusammenfasst: 44 45 46 47
Vgl. Schulz 2000, S. 156 zu den verinnerlichten Werten. Eming 2006, S. 307. Schulz 2000, S. 172. Schulz 2000, S. 189.
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Es ist gewesen ein reicher son, der horet reden von einer schonen junckfrawen jn frembden landen; der verließ vatter vnd muotter vnd zoch hinwegk, die selbigen zuo sehen. Also gab jm das gelucke, das er jr liep erlanget gantzs heimlichen, das es nyemands vername. Er nam sie zuo der ehe vnd furet sie heimlichen hinwegk von vatter vnd muotter. Darnach verliesse er sie jn einem wilden walde schlaffend ligen, zuo vberkommen seine ringe. (Bolte 65,30–38)
Die Nacherzählung ist nicht nur ein Strukturzitat des hellenistischen Romans, in dem sich der Erzähler zurücknimmt und den Bericht in die Figurenrede »auslagert«.48 Bei Peters Nacherzählung handelt es sich zugleich um ein Umdeuten im Wiedererzählen, eine moralische Lesart des unfreiwilligen Abschieds der Liebenden und um eine Typisierung der Geschichte, die anonymisiert und auf ihre topischen Eckpunkte (Brautwerbung, Flucht, Trennung) reduziert wird. Die Konsequenzen dieser Passage sind weitreichend: Nicht nur erkennt Magelone anhand dieser Basiserzählung ihren verlorenen Geliebten wieder, auch der Rezipient wird in die Lage versetzt, einen neuen, moralischen Blick auf Peter zu werfen, der sich hier nicht als Entführter und ehemaliger Sklave, sondern als Überwinder der eigenen Schwäche zu erkennen gibt. Diese moralische Deutung bestimmt auch die Lesart der anschließenden sukzessiven Anagnorisis, bei der es so züchtig zugeht, dass die wiedervereinten Liebenden in getrennten Zimmern schlafen (Bolte 69,2). Die Moral der Geschichte wird folglich nicht so sehr durch Erzählerkommentare oder Paratexte vermittelt, diese wirken eher unterstützend für die Haupttendenz des Textes. Im Zentrum der Didaxe stehen die Figuren selbst, die in ihrem Reden einen moralischen Anspruch affirmieren, der weit über die normale Triebkontrolle und Tugendhaftigkeit hinausreicht: Es werden Selbstbeherrschung bis hin zur Selbstüberwindung (Peters nachträgliche Stilisierung) ebenso wie Selbstlosigkeit im Trösten (Magelones Verhalten im Spital) und Keuschheit in den Vordergrund gerückt. So entsteht ein Idealbild der Helden,49 das kaum zur affektiven Anteilnahme einlädt, sondern die Bewunderung solcher Idealität anregen will: Es gilt also nicht, dass »jeder, der liebt«50 mit den Helden zu fühlen vermag, im Gegenteil wird die größtmögliche Distanz zwischen den Helden und den Rezipienten aufgebaut. Bereits die Vorrede, die betont, dass Peter mehr gottlich dan menschlich (Bolte 3,20) erscheint, gibt hierbei die Richtung vor. Peters Tugendprobe im Orient sodann, die nicht das Bestehen von heroischen Abenteuern umfasst, sondern als »Bewährungsprobe« sein Vertrauen auf Gott beweist, hebt die hohen ethischen Standards hervor,51 ebenso wie 48 Diese Erzählstruktur ist besonders prominent in den ›Aithiopika‹ vertreten, vgl. dazu unten das nächste Analysekapitel. 49 Theiß 1979, S. 136. 50 Schulz 2000, S. 202. 51 Baltes 2013, S. 383.
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Magelones karitative Arbeit im Spital. Wir haben es mit überhöhten Figuren zu tun, die herausragende Tugenden darstellen und deren Herausforderungen und Taten das normale Maß bei weitem übersteigen. Die Figurenreden werden ergänzt durch die Stilisierung der Liebenden, die der Erzähler bietet und durch die er Tugendhaftigkeit, Nächstenliebe, Demut, Beständigkeit,52 kurzum die Idealität Magelones und Peters betont. Die Helden agieren im geschützten Raum, ohne eine existentielle Gefährdung, immer in Sublimation, und fernab von außertextlicher Realität. Die Wahrnehmung durch den Rezipienten ist gefiltert durch das Vorwissen um den guten Ausgang der Handlung, die göttliche Fügung und die existenzielle Geborgenheit der Liebenden, die trotz aller Herausforderungen zu einem Happy End führen muss. Darauf arbeiten die Hinweise hin, die in Erzähler- und Figurenrede durch den gesamten Handlungsverlauf der ›Magelone‹ gegeben werden und die der Rezipient nur wie thematische Punkte miteinander verbinden muss, um ein vollständiges Bild zu zeichnen und den Ausgang der Handlung antizipieren zu können: Die Figuren sind statisch angelegt53 (weshalb im Explizit dasselbe stehen kann wie in der Vorrede), ihr Gehabtsein in der Liebesbeziehung und vor allem auch in der von Gott gegebenen Herausforderung (Bolte 43,13), für die auch Gott eine Lösung gibt, macht sie zu idealen, wenn auch nicht unbedingt exemplarischen54 Helden: Es kann nicht darum gehen, dem Beispiel zu folgen, sondern nur darum, die herausragenden Protagonisten zu bewundern und sich durch sie an die Tugenden erinnert zu fühlen, die sie verkörpern – um dies zu erreichen, wirken Erzählerrede und Figurendarstellung zusammen und ergänzen sie einander gegenseitig. Diese Hypoplasie zeigt die ›Magelone‹ als eine auf die Essenz reduzierte Dichtung: Weder wird die Moral expliziert, die aus der Darstellung allein erschlossen werden muss, noch wird delectatio durch Immersion geboten. Alles bleibt angedeutet, unausgesprochen, und alles scheint Vervollständigung und Ausdeutung provozieren zu wollen. Das kann nur funktionieren, wenn ein entsprechender Hintergrund und ein Vorwissen bei den Rezipienten vorausgesetzt werden können. Die höfische Ethik, die gelten muss, um den minimalen, kaum auserzählten Verstoß Peters angemessen zu würdigen, setzt Warbeck ebenso voraus wie die Kenntnis der Erzählschemata, aus denen sich die Brautwerbungselemente und die hellenistischen Passagen der ›Magelone‹ entwickeln. Der Text steht in Interaktion mit diesen Vorbildern, er kombiniert sie neu und stellt innovative Verknüpfungen etablierter Muster her, die nur erkennen kann, wer literarisch versiert mit historien vertraut ist. Das macht es auch möglich, die 52 Vgl. zu diesem Tugendkatalog Theiß 1979, S. 136. 53 Schulz 2000, S. 193. 54 Anders wertet Theiß 1979, S. 138.
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rauen Stellen in der Verbindung zwischen den einzelnen traditionellen Erzählschemata als Ironiemarker zu lesen und die ›Magelone‹ als Literatur zweiter Ordnung zu rezipieren: als eine raffende, kürzende Reproduktion von bekannten Mustern der Brautwerbung und des Minne- und Aventiureromans, deren Prinzipien in dem Moment, in dem sie aufgerufen werden, ad absurdum geführt werden und die mehr als einmal mögliche Komplexitätssteigerungen und klassische Konfliktkonstellationen ignorieren, etwa wenn kein ernstzunehmender Gegner für Peter zu finden ist.55 Die Brautwerbung muss deshalb anderweitig schwierig gemacht werden, sie ist zu einfach und bedarf des korrigierenden Eingreifens durch den Werber, die Liebe ist völlig ihrem ursprünglichen ethischen Kontext enthoben und nutzt die internalisierten höfischen Muster dazu, gerade die Vereinzelung der Liebenden, die Aussonderung aus der Gesellschaft, vorzuführen. Das macht es möglich, die ›Magelone‹ auch als literarische Parodie56 in ironischer Brechung zu rezipieren – ganz einfach deshalb, weil die Rezipientenlenkung durch den Text und seinen Erzähler so minimiert ist, dass sich breite Deutungsspielräume eröffnen, die von den Rezipienten individuell aufgefüllt werden können. Diese potentiell ironische Lesart verhindert keineswegs eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Moral, welche die ›Magelone‹ wie ein roter Faden durchzieht. Es geht um Anstand, Ehrbarkeit, caritas, Demut und Gottvertrauen und darum, dass Gott die Seinen prüft, aber nicht im Stich lässt.57 Die »Beherrschung der Affekte«58 wird implizit vorausgesetzt, die Tugenden, die hier ausgestellt und überhöht werden, sind als moralischer Anspruch mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit, sie werden nicht »gelehrt«, sondern eben ausgestellt und in besonderer Ausschmückung vorgeführt. delectatio und utilitas stehen somit in einem intrikaten Verhältnis zueinander, denn die utilitas besteht offenkundig in der Affirmation eines Wertekanons, der nicht gelehrt werden muss, sondern bereits bekannt ist. Das Element des docere, der didaktische Anspruch der Unterweisung, wird verschoben zur Affirmation allgemeiner Tugenden in der konkreten Überhöhung, wie sie in der Figurenzeichnung von Peter und Magelone begegnet. Die delectatio erscheint doppelt motiviert, zum einen als Freude an der Geschichte, zum anderen als Freude an ihrer Verortung und Einbettung. Sie ist verbunden mit der besonderen Distanz, die der Rezipient zum Geschehen hat, wenn er dem Erzähler durch die Handlung folgt. Es findet mithin keine Anteilnahme, kein Sich-Einlassen statt, sondern eine Unterhaltung, 55 Vgl. dazu Thomas 1971, S. 200. 56 Zur Parodie des Liebes- und Abenteuerromans allg. vgl. Bachorski 1993, bes. S. 60f. 57 Vgl. auch Burrichter 2013, S. 367: »Es ist der Gott Hiobs, der prüft und Geduld verlangt, aber der Seele nicht schaden will.« 58 Theiß 1979, S. 137. Vgl. dagegen allerdings Scheuer 1982, S. 161 mit Fokus auf »die neuen Mittelschichten« als Publikum der gedruckten ›Magelone‹.
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wie sie Huet in seinem Traktat von der Romanpoetik skizziert: als Freude an der formalen Gestaltung,59 als kenntnisreicher Umgang mit Materie und Gattung. Das bietet ebenfalls Nutzen und geht über den reinen, von der Romanpoetik des 17. Jahrhunderts abschätzig betrachteten Unterhaltungscharakter hinaus. Es dominiert die rationale, distanzierte Präsentation des Geschehens, aus der sich Nutzen und Unterhaltungscharakter der ›Magelone‹ ableiten lassen. Anteilnahme ist in diesem Muster nicht vorgesehen, die affektive Ebene wird erst über die beobachtende Anschauung »aktiviert« und ist als eine Art »Ermöglichungsraum« jenseits des Gesagten zu verstehen – darauf möchte ich im Folgenden näher eingehen, wenn der Erstdruck der ›Magelone‹ von 1535 in den Vordergrund rückt. Warbeck zielt mit seiner Handschrift von 1527,60 die ganz offenkundig auf einen kleinen, kenntnisreichen Rezipientenkreis ausgerichtet ist,61 auf eine spezifische, gattungs- und schemabewusste Rezeptionsform ab, die er nicht zu lenken braucht. Es reicht, den Text vor die Rezipienten zu stellen, die Warbeck gut kannte und die auch mit dem Stoff vertraut gewesen sein dürften.62
1535: Die ›Magelone‹ für die Massen Als Spalatin 1535 in Augsburg bei Heinrich Steiner die ›Magelone‹ in den Druck bringt, hebt er sie gleichsam aus dem höfischen Rezeptionskontext heraus in den Zusammenhang eines buchmarktmäßigen Umfeldes: Im Vergleich zum gedruckten ›Wilhelm‹ der Inkunabelzeit kann die gedruckte ›Magelone‹ auf ein potentiell größeres und diversifiziertes Lesepublikum hoffen, das anders als die Rezipienten des kursächsischen Hofes, allerdings keinerlei Bindung an den Übersetzer hat und mit den Rezeptionsbedingungen, die Warbeck 1527 für seine Übersetzung voraussetzte, nicht vertraut ist. Das Risiko, das mit dieser Erweiterung des Rezipientenkreises einhergeht, ist in der Widmungsvorrede Georg Spalatins mit Händen zu greifen: Sie ist, neben der von ihm auch selbst konstatierten protestantischen Durchsicht des handschriftlichen Textes, der noch einige Katholizismen enthalten hatte, die editorische Leistung des Herausgebers. Den Inhalt der ›Magelone‹ hat Spalatin hingegen nicht angetastet, die narrative Hypoplasie mit ihrem Deutungsspielraum versucht er allein paratextuell zu domestizieren. 59 Happel, Uhrsprung, S. 622, vgl. dazu Hillebrand 1972, S. 79. 60 Zum Themenkomplex »Roman und Buchdruck« vgl. Kreutzer 1984. 61 Dieses Verständnis von handschriftlicher Verbreitung liegt im Trend der Zeit, vgl. dazu Schnell 2007, S. 108. 62 Am Rande sei bemerkt, dass dies eine Elitisierung eines im Französischen bereits umfangreich und breit rezipierten Textes bedeutet, vgl. für die französische Rezeption Burrichter 2013, S. 372.
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Spalatin widmet die Edition Elisabeth von Einsiedel auf Gnanstein. Er adressiert damit eine höfische Rezipientin aus dem engeren Kreis, dem Warbeck seine ›Magelone‹ zugänglich gemacht hatte,63 er öffnet den Text aber zugleich für eine breitere Rezipientengruppe. Die ›Magelone‹ soll Vorbildcharakter für andere teütsche Buecher (Müller 590,13) haben und auf diese Weise umfassend und angemessen frawen vnd junckfrawen (Müller 590,13f. und 23f.) belehren. Das typische Publikum von frühmoderner Romanliteratur64 soll so vor gefährlichen Schriften bewahrt und vor sich selbst in Schutz genommen werden. Diese Idee von verantwortungsvoller Romanarbeit für geistig unambitioniertes und leicht zu beeinflussendes Publikum teilt Spalatin mit Kritikern des Romans von Dupuyherbault bis Heidegger. Die ›Magelone‹ ist nach seiner Ansicht als Zeitvertreib bzw. erliche[] kurtzweyl (Müller 590,24) anderen Texten vorzuziehen, die wesentlich Schlimmeres anrichten könnten, denn immerhin transportiert sie eine angemessene Ethik. Deshalb betont die Widmung auch, dass die katholischen Elemente, wo nicht ganz aufgegeben, doch so weit zurückgedrängt sind, dass es keinen Schaden verursacht, den Text zu lesen.65 In einem zweiten Schritt erweitert Spalatin das anvisierte Publikum auch um die große Gruppe der Eltern allgemein, aber insbesondere um die Eltern von jungen Mädchen (Müller 591,4f.), da die Mädchen ohne rechte Aufsicht leicht mit einem jungen Mann durchbrennen könnten, wie dies in der ›Magelone‹ geschieht: Der Verstoß gegen das vierte Gebot wird durch vnachtsamkeit (Müller 591,15) der Eltern befördert,66 für die der Roman ein Negativbeispiel bietet. Zuletzt wird der allgemeine Wert des Romans betont, der die für jede und jeden 63 Vgl. Müller 1990, S. 1247. 64 Vgl. auch Müller 1990, S. 1248. Zum Publikum allg. vgl. Fechter 1935. 65 Die Dramatisierung des Stoffes: Die Historia Magelone Spielweiß in Teutsche reimlein gebracht, Durch einen Studenten. Mit einem nutzlichen vnderricht Georgij Spalatini, Augsburg: Steiner, 1540 (VD 16 H 3871) steht auch online zur Verfügung (vgl. den Hinweis im Literaturverzeichnis). Sie setzt in Spalatins Vorrede mit dem Hinweis auf die fast gänzlich entfernten Katholizismen ein und spricht als Rezipientengruppen nicht die durch exempla belehrten Frauen, sondern allein die Eltern und die Allgemeinheit derer an, die durch den Hinweis auf die Verbindung von Freude und Leid belehrt werden sollen. Dies stellt eine Verkürzung der Widmung dar, die Spalatins Aussage um eine komplexe Ebene reduziert und so vereinfacht; zugleich belegt diese Übernahme, dass Spalatins Name als Beglaubigungsfaktor für die Qualität des Textes so wichtig ist, dass mit dem Namen auch die Moral kopiert wird. 66 Anders als McDonald 1994, S. 170 annimmt, geht es also nicht um ein Negativexemplum, das junge Mädchen von der Flucht aus dem Elternhaus abhalten soll – vielmehr wird für Damen allen Alters die ›Magelone‹ als unterhaltender Text unzweifelhafter Ethik empfohlen, Eltern wird er ans Herz gelegt, um ein Ausreißen der jungen Mädchen zu verhindern, das wesentlich schlimmer enden könnte als in Magelones eher harmlosem Fall (Dann wiewol es ye rein vnnd züchtig gehet / so würt die doch dennoch entfueret [Müller 591,9f.]). Es handelt sich um zwei distinkte Rezipientengruppen mit je eigenen Rezeptionsinteressen. Vgl. auch Theiß 1979, S. 147, der wie McDonald nicht zwischen jungen Mädchen und Eltern als Rezipienten trennt.
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wichtige Lehre transportiert, dass kein lust noch freude auff erden ewig ist (Müller 591,19). So zielt Spalatin darauf ab, eine protestantische Ethik zu vermitteln, welche die Zeit nützlicher vertreibt als andere Romaninhalte. Ihm geht es darum, Eltern zu belehren, Töchter zu schützen und auch darum, die allgemeine Nützlichkeit der ›Magelone‹ auszustellen (darin folgt er dem generellen Trend der zeitgenössischen Vorreden): Die ›Magelone‹ zu kennen ist nützlich, andere Texte hingegen sollen gemieden werden, weshalb die Widmung auch nicht versucht, den Roman an die Tradition anzubinden, die ›Magelone‹ steht als Solitär da. Das didaktische und das ethische Moment dominieren in Spalatins Lesart den unterhaltenden Charakter. Gleichwohl unterschlägt er nicht, dass die ›Magelone‹ zu unterhalten vermag (ein seer lustig vnnd lieblich buechlein [Müller 590, 11]), das ist für ihn allerdings eher ein Nebeneffekt und nicht wirklich entscheidend.67 Dass die ›Magelone‹ in Spalatins Lesart belehren und unterhalten will und dass ihr ein ethischer Mehrwert zuerkannt wird, weist ihn nicht als innovativen Romantheoretiker mit eigener Agenda aus: Diese Art und Weise, Romane anzupreisen, ist topisch und grenzt ans Gewöhnliche. Wenn er die ›Magelone‹ als »Lehrdichtung«68 verkaufen will und sich dabei auf das vierte Gebot beruft, das hier in der Praxis in seinen Grenzen und Möglichkeiten ausgetestet werde, rückt er einen Aspekt der Dichtung zulasten der übrigen in den Vordergrund, er interpretiert den Text und betreibt eine eigene Schwerpunktbildung. Die ›Magelone‹ nimmt die Eltern nicht so wichtig, wie Spalatin dies tut, Magelones Eltern bleiben gar namenlos, die Amme übernimmt ihre Aufgaben gegenüber dem Mädchen.69 Dass diese ebenfalls namenlose Amme im Verlauf der Liebesgeschichte zur »Kuppelmutter« degradiert wird,70 hebt das Ansehen der Eltern ebenso wenig wie die Hilflosigkeit von Magelones Vater (der die Suche nach ihr irgendwann ergebnislos abbricht und aus dem Text verschwindet).71 Magelone und Peter kehren auch nicht nach Neapel zurück, erst ihr Sohn wird auch dort herrschen (Müller 677,17). In der Interaktion mit Peters Eltern erweist sich Magelone zudem als »erwachsener« und reifer als die verzweifelnden Eltern, deren Verhalten menschlich (Müller 665,11) ist, denen es aber eben an Gottvertrauen und Zuversicht mangelt – im Gespräch zwischen Magelone und Peters 67 68 69 70 71
McDonald 1994, S. 170. Schulz 2000, S. 160. Vgl. Thomas 1971, S. 202. Schulz 2000, S. 182. Magelones Vater liebt sie und wäre auch Peters Werbung um seine Tochter nicht abgeneigt – da der präsumtive Schwiegersohn sich der einfachen Brautwerbung widersetzt und der Vater nichts dagegen ausrichten kann, muss er (schemagerecht) die Entführung der Tochter zu ahnden trachten und Peter eine brutale Strafe androhen (Müller 641,5f.).Vgl. zur Zusammenfassung der beiden »konträre[n] motivische[n] Modelle« Thomas 1971, S. 204.
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Eltern wird die Schwiegertochter in spe als ideale Heldin herausgearbeitet, die Eltern sind lediglich die Negativfolie, von der sich Magelone mit ihrer Idealität absetzt. Auch Spalatins allgemeine Lehre, dass auf Freude Leid folgt und dass dies an der ›Magelone‹ nachzuvollziehen sei, passt nicht recht zum Handlungsverlauf, der mit viel Mühe und Aufwand die Anagnorisis und das Happy End auf den Weg bringt. Die Geschichte, so wie Spalatin sie liest, endet mit der Trennung der Liebenden (Müller 643,6f.) und der Verzweiflung der Getrennten, ignoriert aber, dass ihnen ein freüntlichs vnd glückseligs leben (Müller 677,19) gegeben ist, sobald sie sich wiedergefunden haben. Es ist also alles nicht so moralisch-düster und durch Schrecken didaktisch wertvoll, wie es Spalatin glauben machen will. Das vierte Gebot wird in der ›Magelone‹ vielmehr benötigt, um die Handlung in Gang zu bringen – eine Rolle für die Liebenden und ihre Trennung spielt es nicht. Stattdessen baut der Roman die Elternwelt so auf, dass sie nur mit dem vernetzt ist, was Bachtin als biographische Zeit im Gegensatz zur Abenteuerzeit charakterisiert.72 So wird ein struktureller Widerspruch zwischen Gehorsam gegen die Eltern und Immersion in die Abenteuerzeit aufgemacht, die Handlungslogik erlaubt Gehorsam ebenso wenig, wie sie eine gefahrlose Brautwerbung oder eine Heirat ohne den Umweg der Trennung gestattet. Spalatins Deutung hebt folglich die Grenzen zwischen den Sphären der biographischen und der Abenteuerzeit auf73 und verwandelt den Liebes- und Abenteuerroman in eine Eltern-KindGeschichte. Der Fokus auf die »religiöse[n] Züge«74 lässt den Eindruck einer »grämlich-engen Lehrausdeutung«75 entstehen und zielt vor allem darauf ab, »unerwünschte[]« imitatio zu verhindern.76 Deshalb wird Magelone als Negativexemplum für Ungehorsam aufgeführt. Diese Schwerpunktsetzung sagt viel über Spalatins Romanverständnis und seine Vorstellung vom intendierten Publikum der historia aus. Romane sind nach seinem Begriff dazu geeignet, unreflektierte Nachahmung anzuregen, was darauf hinweist, dass er nicht davon ausgeht, dass der Kunstcharakter des Erzählten erkannt und in Rechnung gestellt wird. Dem Publikum traut er nicht zu, mit Vieldeutigkeit, Ambiguität und Widersprüchlichkeit umgehen zu können, er will die ›Magelone‹ als exemplarisch-didaktischen Text verkaufen.77 Hierzu 72 73 74 75 76 77
Vgl. dazu Schulz 2000, S. 31. Zur Abenteuerzeit allg. vgl. Schulz 2012, S. 295f. von Ertzdorff 1989, S. 60. von Ertzdorff 1989, S. 61. Theiß 1979, S. 148. Wenn McDonald 1994, S. 175 Spalatins Einschätzung der ›Magelone‹ in einem Atemzug mit Vives’ Romankritik nennt, legt dies eher unabsichtlich offen, wie gering beide Kenner des Romans die kognitiven Fähigkeiten der Rezipienten einschätzen. Vives zählt die ›Magelone‹ zu den verdammenswerten Büchern, Spalatin versucht, sie vor genau diesem Verdikt zu retten, indem er ihr eine Moral aufoktroyiert, die am Textbefund vorbei konstruiert wird.
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passt auch der neue Titel des Romans: Aus dem Titel von 1527 Ein sehr Lustige Histori, von dem Ritter, mit den silbern schlusseln, vnd der schonenn Magelonna, fast lieplich zuo lesenn, in kurtzs auß der frantzosischen sprache, in die Teutschen versetzet, a. 1.5.2.7. (Bolte 1,1–5) wird: Die schoen Magelona. Eine fast lustige vnd kurtzweilige Histori / vonn der schoenen Magelona / eins künigs tochter von Neaples / vnd einem ritter / genannt Peter mit den silberin schlüsseln / eins graffen son aus Prouincia / durch magister Veiten Warbeck / auss frantzoesischer sprach in die teütschen verdolmetscht / mit eyenem sendbrieff Georgij Spalatini (Müller 589,1–11). Spalatin nennt nicht nur den Übersetzer und sich selbst, was den Text für ein größeres, nicht dem Hof von Kursachsen zugehöriges Publikum identifiziert, er stellt den Titel auch um und nennt zuerst Magelone, dann Peter. Theiß hat dies als »Indiz für die Ausrichtung auf das neue Zielpublikum« gelesen, das die Widmungsvorrede (neben den Eltern) aufführt, nämlich Frauen und Mädchen.78 Ergänzend ist jedoch festzuhalten, dass der Titel erstens »griffiger« wirkt als sein handschriftliches Pendant, d. h. eine gewisse Marktorientierung verrät, und dass zweitens eben auch Peters Name fällt, während sich Warbecks Titel mit dem Hinweis auf die Schlüssel begnügt – offenkundig geht es hier auch darum, zu vereinfachen und die Dichtung leicht verständlich zu erschließen, denn das Spiel mit den Schlüsseln (Petri) wird bereits im Titel aufgelöst. Vor dem Hintergrund, dass der Paratext sich so intensiv darum bemüht, Didaxe als dominierende Lesart der ›Magelone‹ zu etablieren, muss Spalatins Umgang mit dem Text selbst überraschen. Er greift nicht weiter ein, die Reduktion aufs Moralische wird außerhalb der Widmung nicht weiter verfolgt. Weder gibt es Marginalien noch lenkende Zwischenüberschriften, es findet sich keine ergänzte moralisatio – sogar die allgemein gehaltene Bitte am Ende der Handschrift, in der die heylige[] drifaltigkjeit um Hilfe gegen die anfechtungen des Diesseits und um ewiges Leben gebeten wird (Bolte 73,1–3), entfällt. Auch das recht umfangreiche, stereotype Bildprogramm,79 das nicht immer auf die illustrierten Situationen zugeschnitten erscheint und nur in »loser Beziehung zum Text«80 steht, hilft nicht weiter, da es das Textverstehen nicht beeinflusst.81 Titeländerung und Holzschnitte sind der Versuch, die ›Magelone‹ möglichst gut zu verkaufen, sie günstig am Markt zu platzieren. Durch einen eingängigen Titel wird Aufmerksamkeit erregt, die Bilder lockern das Erscheinungsbild auf, sie sind schmückend, ohne Sinn für das Textverständnis und nicht zuletzt, da es sich um wiederverwendete Stöcke handelt, günstig anzubringen.82 Spalatins Name auf dem Titel dürfte ebenfalls ein Verkaufsargument (weil ein Qualitäts78 79 80 81 82
Theiß 1979, S. 145. Müller 1997, S. 343. Müller 1997, S. 351. Müller 1990, S. 1228. Müller 1990, S. 1228.
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zeichen) gewesen sein – seine Vorrede selbst ist aber nicht mehr als ein »nachträglich moralisierende[r] Begleittext[]«,83 der schönredet, was hier breitenwirksam angeboten wird. Deshalb knüpft Spalatin an etablierte Moralvorstellungen an und nutzt er auch das Vokabular der Romankritik, denn er will die »Verführungskraft«84 der ›Magelone‹ bändigen und versucht dabei den Spagat zwischen Lob für den Roman (der belehrt und unterhält) und der Mahnung, ihn als Negativexempel zu lesen.85 Eher unfreiwillig offenbart der Paratext zudem die Geringschätzung des Publikums, die Spalatins Vorstellung prägt, ebenso wie seine kritische Distanz zum Text (weshalb man ihm die eigentlich topische Versicherung, nur auf Drängen von Dritten die Mühe der Veröffentlichung auf sich genommen zu haben, abnimmt). Spalatin geht es darum, das Werk zu rechtfertigen und sich als Herausgeber zugleich davon zu distanzieren. Daraus resultiert der erstaunliche metapoetische Spagat, den er zu leisten hat. Er schreibt gegen seine eigene Furcht davor an, die ›Magelone‹ in die Hände unreflektierter Leserinnen und Leser zu legen, deren affektive Immersion und imitatio er abwenden will, indem er die belehrende Lesart propagiert – eine Art romanapologetisches Feigenblatt, das den Nutzwert der Dichtung in einem Zeitalter der Romankritik betont und als solches in der Überlieferung bis ins späte 17. Jahrhundert untrennbar mit der ›Magelone‹ verbunden bleibt.86 Entscheidend ist dabei, dass die Lesart, die Spalatin fürchtet und gegen die er in seiner Widmungsadresse anschreibt, der ›Magelone‹ mit ihrer hypoplastischen Reduktion der narrativen Struktur gar nicht explizit eingeschrieben ist. Es finden sich auch in der Druckausgabe keine Hinweise auf eine Rezipientenlenkung, die zur immersiven Beschäftigung und emotionalen Anteilnahme einladen würde. Spalatin fürchtet mithin das Potential des Romans, das im Unausgeführten, Unausgesprochenen liegt und das von den Rezipienten aktualisiert 83 Müller 1985, S. 82. 84 Weide 2011, S. 115. Weide paraphrasiert v. a. bekannte Forschungsmeinungen (etwa von Müller 1990), auf S. 103 übernimmt Weide unmarkiert einige Formulierungen von Bolte 1894, S. XVII, allerdings ohne das Zitat zu kennzeichnen. 85 Diesen Aspekt betont McDonald 1994, S. 170. 86 Dies ergibt die Trefferanzeige im »VD 16/17«-Onlinekatalog: Sowohl für die Ausgaben Augsburg 1536 (VD 16 ZV 15953), 1537 (VD 16 H 3868), 1539 (VD 16 H 3879), 1541 (VD 16 H 3872), 1544 (VD 16 H 3873), 1545 (VD 16 H 3874), Frankfurt 1548 (VD 16 H 3875), 1549 (VD 16 H 3876), 1550 (VD 16 H 3877), 1553 (VD 16 H 3878), 1558 (VD 16 ZV 15952), 1560 (VD 16 H 3880), 1565 (VD 16 H 3881), Leipzig 1598 (VD 16 H 3882), die niederdeutsche Übersetzung Hamburg 1601 (VD 17 7:667487X) und die Ausgaben Nürnberg 1660 (VD 17 12:635396X; VD 17 32:635916C; VD 17 39:120174X). Der Katalog nennt allein VD 16 H 3879 (s.l., wohl Augsburg 1559) als Text ohne Widmung Spalatins. Hinzu kommt der Druck im ›Buch der Liebe‹ 1587. Die Druckgeschichte bis zum ›Buch der Liebe‹ listet Veitschegger 1991, S. 35–38 auf, dort sind auch im VD 16/17 nicht verzeichnete Drucke aufgelistet: drei undatierte und nicht lokalisierte Drucke sowie eine Ausgabe von 1575 aus Frankfurt (gedruckt bei Kilian Han).
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werden kann. Und genau in dieser Möglichkeit des Weiterdenkens auf der Basis der knappen Rahmenerzählung, die die ›Magelone‹ bietet, dürfte der Grund für den andauernden Erfolg des Romans gelegen haben: Es wird ein Gerüst von basalen Informationen gegeben, Widersprüche werden geboten, aber nicht aufgeklärt, eine eindeutige moralisatio fehlt, und die Rezipienten sind – je nach ihrer Vorbildung und ihren spezifischen Rezeptionsinteressen – dazu in die Lage versetzt, zu vervollständigen, was bei Warbeck nur angedeutet wird. Das Potential der ›Magelone‹, das stellt Spalatins Paratext klar, liegt bei den Rezipienten, deren Umgang mit dem Stoff vom Text selbst so wenig determiniert wird, dass sie zusätzlicher Führung bedürfen. Warbecks höfische ›Magelone‹, von wenigen kurchsächsischen Kennern goutiert, die ausweislich ihrer Bibliothek mit entsprechenden literarischen Mustern und Traditionen vertraut sind, wird zum Massenprodukt, für das nicht garantiert werden kann, dass die hypoplastische Struktur auf ihre Vorbilder und Ausgangspunkte zurück bezogen wird. Die entscheidende Rolle für die Poetik der ›Magelone‹ spielt aus diesem Grund auch nicht die Widmungsvorrede mit ihrer intendierten Rezipientenlenkung, sondern der Anteil, den die Rezipienten an der Sinnstiftung der Dichtung haben. So offenbart sich das poetologische Potential in der Spannung, die zwischen Spalatins paratextuellem Anspruch und dem eigentlichen Text entsteht: Der Zielpunkt allen Bestrebens ist der Rezipient, ohne den die ›Magelone‹ nicht vollständig ist.
1587: Die »romantisierte« ›Magelone‹ im ›Buch der Liebe‹ Wenn Röcke betont: »Spalatin hat den Erstdruck der ›Schönen Magelone‹ mit einer moralisch-didakt. Leseanleitung für Eltern und Kinder versehen. In der weiteren Rezeptionsgeschichte trat dieser didakt. Aspekt immer weiter in den Hintergrund«,87 dann nimmt er an, dass die Didaxe in den Abdrucken der Vorrede aktualisiert, von den Rezipienten aber nicht zur Kenntnis genommen bzw. ausgeblendet worden ist. Zu finden ist die Widmungsadresse Spalatins tatsächlich in der Mehrzahl der Drucke,88 sie kann aber auch ausfallen; das prominenteste Beispiel für ein solches Streichen des Paratexts bietet Sigmund Feyerabends ›Buch der Liebe‹ von 1587.89 87 Röcke 2011, S. 141. 88 Vgl. oben, Anm. 86. 89 Ich nutze das Basler Exemplar des ›Buchs der Liebe‹, Signatur Wack. 688 (vgl. den Link zum Digitalisat im Literaturverzeichnis) und zitiere die ›Magelone‹ nach Roloffs Edition unter Angabe der Seitenzahlen im Fließtext. Das Basler Exemplar des ›Buchs der Liebe‹ ist eines der fünf, die die Widmung Feyerabends an die hessische Landgräfin Hedwig enthalten, vgl. Flood 1987, S. 214.
1587: Die »romantisierte« ›Magelone‹ im ›Buch der Liebe‹
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Feyerabend war ein umtriebiger und geschäftstüchtiger Verleger der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts,90 prominent vor allem wegen seiner ›Amadis‹Drucke, die seit 1569 den populären Stoff aus Frankreich einem breiteren deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich machten.91 Zudem machte er sich mit Sammelausgaben einen Namen,92 das ›Buch der Liebe‹ war die letzte von ihm verlegte Kompilation nach einer Schwanksammlung, einem Heldenbuch, dem ›Reyßbuch des Heiligen Lands‹ und einem ›Theatrum Diabolorum‹. Das ›Buch der Liebe‹ versammelt dreizehn Romane93 unterschiedlichster Provenienz, es ist zur Herbstmesse 1587 erschienen.94 Für die Kompilation konnte Feyerabend auf Vorlagen aus dem Frankfurter Verlagsbetrieb zurückgreifen, die er wohl z. T. unrechtmäßig nachdruckte,95 und diese kommerziellen Gründe dürften dazu geführt haben, dass der Verleger eine Art Querschnitt der jüngeren Romangeschichte vorlegt: Er druckt, was beliebt und sicher zu verkaufen ist. Für die ›Magelone‹ hat Veitschegger zwei Frankfurter Drucke als Vorlage glaubhaft machen können, die die zwischen 1556 und 1575 erschienen. Mit ihnen teilt Feyerabends ›Magelone‹ die Kapiteleinteilung, die von der in den Augsburger Drucken abweicht.96 Eine genaue Quellenbestimmung wird erheblich erschwert dadurch, dass Feyerabend bei allen von ihm abgedruckten Romanen die Paratexte gestrichen hat,97 dasselbe Schicksal ist auch der ›Magelone‹ widerfahren, die im ›Buch der Liebe‹ ohne Spalatins instruktive Einleitung auskommen muss. Dieser Verzicht auf Leseanweisungen ist deshalb wohl auch nicht poetologisch-programmatisch zu verstehen.98 Dennoch ist seine Sammlung eine Momentaufnahme an der »Schwelle zum Romanbewußtsein der
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Vgl. Benzing 1961, S. 119. Vgl. dazu ausführlich Weddige 1975, S. 42. Vgl. Veitschegger 1991, S. 5 zu den Sammelbänden Feyerabends. Es handelt sich dabei um ›Kaiser Octavian‹, Bll. 1–31; ›Magelone‹, Bll. 32–44; ›Ritter Galmy‹, Bll. 45–78; ›Tristrant‹, Bll. 79–107; ›Camillo und Emilia‹, Bll. 108–118; ›Florio und Bianceffora‹, Bll. 119–179; ›Theagenes und Charikleia‹, Bll. 180–228; ›Gabriotto und Reinhard‹, Bll. 229–262; ›Melusine‹, Bll. 263–284; ›Ritter vom Thurn‹, Bll. 285–314; ›Pontus‹, Bll. 315– 347; ›Herzog Herpin‹, Bll. 348–381; ›Wigoleis‹, Bll. 352–395. Flood 1987, S. 206. Vgl. dazu Veitschegger 1991, S. 7 u. passim, der einen Großteil seiner Dissertation der Fahndung nach den Vorlagen widmet. Veitschegger 1991, S. 38: »Die Vergleiche zeigen eindeutig die Nähe von Feyerabends Textfassung zu diesen vier, dem ›Buch der Liebe‹ zeitlich am nächsten stehenden Frankfurter Einzelausgaben«. Flood 1987, S. 206, Anm. 5 stellt Bezüge zu zwei Drucken her, die Weigand Han (mit-)verantwortete. Zeller 2010, S. 148: »Dass er die Vorwörter der Vorlagen weggelassen hat, versteht sich von selbst.« Flood 1987, S. 206 argumentiert, dass für Feyerabend wohl keine »hochtrabenden literarästhetischen Erwägungen« für die Auswahl der Texte im ›Buch der Liebe‹ entscheidend waren, sondern eher die einfache Verfügbarkeit der Drucke.
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Neuzeit«,99 und die ›Magelone‹ darf hier offenkundig nicht fehlen, sie steht an zweiter Stelle der Sammlung von dreizehn Texten. Im Folgenden soll es darum gehen, Feyerabends Ausgabe mit dem Erstdruck von 1535 zu vergleichen, um nachzuverfolgen, in welchem Kontext sie von Feyerabend paradigmatisch und verkaufsfördernd verortet wurde. Exemplarisch lässt sich so ermitteln, in welchem Maß Feyerabend ökonomisch, und in welchem er poetologisch bewusst arbeitet (und ob sich beides bei ihm überhaupt trennen lässt). Anders als bei den früheren Einzeldrucken wird die ›Magelone‹ hier in einem Sammlungskontext präsentiert, der ihr keine Hauptrolle zuweist, sondern sie nur als einen Text unter vielen anbietet. So spielt Warbecks Werk z. B. auf dem Titelblatt keine werbende Rolle. Hier wird explizit nur der erste Text, ›Kaiser Octavian‹, beim Titel genannt, implizit wird auf den ›Galmy‹ angespielt. Für alle dreizehn versammelten Texte gilt pauschal, dass sie Exempel (Titel, Z. 5)100 aus dem Spannbogen von ehrlicher und Bulerische[r] (Titel, Z. 7) Liebe geben, adliges Personal vorführen und mit Abenthewren / vnd grosser Leibs vnd Lebens gefahr (Titel, Z. 8f.) angefüllt sind, der gute oder schlechte Ausgang wird durch Gluecks schickung (Titel, Z. 9) erreicht. Die behandelten Themen sind bekannt, einiges erinnert auch an Spalatins Widmung zur ›Magelone‹: liebs vnd leyds nahe verwandtschafft / Gluecks vnd Vngluecks wunderbarliche wechssel (Titel, Z. 27f.) sind keine innovative Idee. Feyerabend präsentiert die gängigen Topoi und sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner einer eher heterogenen Textgruppe, die er durch das Oberthema der »Liebe« zumindest im weitesten Sinne zusammengehalten sieht.101 Zielgruppe sind Alle[] hohen Standes personen / Ehrliebende[] vom Adel / zuechtige[] Frauwen vnd Jungfrauwen (Titel, Z. 26), aber die Texte sind generell iederman in gemein so wol zu lesen lieblich vnd kurtzweilig (Titel, Z. 27), so dass topisch alle »üblichen Verdächtigen« und die breite Öffentlichkeit angesprochen werden. Der Titel ist mithin mehr Aufruf von etablierten Titelfloskeln, als dass er auf Neues in Aufmachung, Ankündigungspraxis oder Zielgruppenbestimmung ausgerichtet wäre. Es stellt sich dabei die Frage, wie weitgehend diese Topik als Code wirkt, als ein Versatzstück, das eher das Gegenteil von dem anzeigt, was es behauptet, ob also lediglich als nützlich bemäntelt werden soll, was in Wahrheit vor allem unterhaltend ist. Die Widmung an die Landgräfin von Hessen ist im Vergleich zum Titel we99 Kreutzer 1984, S. 208. Kreutzer 1977, S. 87 nennt das ›Buch der Liebe‹ eine »recht spezielle Auswahl aus dem Gesamtspektrum an Romanen im engeren Sinne«. 100 Alle Zitate beziehen sich auf das Titelblatt, das zusammen mit der Widmung in Anhang 5 abgedruckt wird, vgl. auch Veitschegger 1991, S. 233f. und S. 248–258. 101 Flood 1987, S. 206 – und selbst dieses Oberthema ließe sich bei manchen der Texte in Zweifel ziehen. Der Liebesbegriff Feyerabends wäre eine eigene Studie wert, ich kann ihn im vorliegenden Rahmen nicht thematisieren, vgl. aber Seeber 2014 zu Einzeltextuntersuchungen.
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sentlich aufschlussreicher102 – nicht, was die ›Magelone‹ angeht, die ebenso wie die anderen im Band versammelten Texte auch hier mit keinem Wort erwähnt wird, sondern im Hinblick auf die beabsichtigte Rezipientenlenkung des ›Buchs der Liebe‹. Feyerabend muss einen Spagat meistern: Nicht alle Texte bieten eine positive Botschaft, und es ist auch kaum zu leugnen, dass Liebesromane nur geringe Relevanz für den Alltag haben, ihren Nutzwert also nur schwer rechtfertigen können. Die Gefahren und Vorwürfe werden gleich zu Beginn der Widmung aufgeführt: die zarte Jugendt zu wolluesten vnd leichtfertigkeiten verfueren (S. 1, Z. 10f.) zu können, scheint zu den Hauptproblemen eines Buches zu gehören, das von ansehen schlechte Historien vnnd Gedicht (S. 1, Z. 6) reproduziert. Feyerabend betont die Verantwortung des Lesers. Dieser soll sich den Texten vorurteilsfrei nähern (S. 1, Z. 18). Außerdem versucht der Verleger, die Realitätsanbindung der Geschichten zu gewährleisten und ihnen so einen Sinn zu geben: Die Allgewalt der Liebe ist allgemein bekannt (S. 1, Z. 24f.) und schafft Paradoxien (in Summa ein lebendiger Todt vnd todtes Leben [S. 2, Z.14]), weshalb immer schon von Weisen vnd Scharffsinnige[n] Poeten (S. 2, Z. 21) die Liebe in den Blick genommen worden ist. Weil Liebende jrer vernunfft so viel nicht maechtig (S. 2, Z. 49) sind, lohnt es sich, diesen Mangel durch den Rekurs auf Liebesromane auszugleichen. Sie gehören zu den besten Lehrmitteln für das angemessene Verhalten (S. 2, Z. 54f.) und bieten die aller schoensten lehren (S. 3, Z.10) für Verliebte sowie ausreichend abschreckende Negativexempel für solche Leute, die ansonsten durch ihre falsche Liebe in Gefahr kommen würden; bei ihnen kommen die Romane dem gewisse[n] verderben zuvor (S. 3, Z. 20). Dies alles wird mit der Spiegelfunktion des Textes verbunden, die eine unmittelbare Realitätsanbindung und didaktische Funktionalisierung bedeutet (S. 3, Z. 50– 60), wobei die Lehren – dieser Topos darf nicht fehlen – im Zweifel zu vberzuckern (S. 4, Z. 9) sind. Einen eigenen Absatz widmet Feyerabend allein dem Nutzen, den die Geschichten über die Exemplarizität in Liebesdingen hinaus zu bieten haben: Für zwischenmenschlichen Umgang, Politik, Krieg und das ehrenvolle Bewegen in fremden Ländern können die Romane Exempel geben (S. 3, Z. 26); diese sind umso wertvoller, als das Personal adlig und hochstehend ist. Dass die Texte zudem die Unbeständigkeit des Glücks als allgemeine Lebenslehre bewähren (S. 3, Z. 36), ist nach dem Vorangegangenen fast selbstverständlich. So schwankt die Widmung zwischen dem Herbeizitieren altbekannter Topoi und dem im Vergleich dazu innovativen Ansatz, anhand der Spiegelmetaphorik einen direkten Realitätsbezug der Dichtungen zum Leben herzustellen, ihnen also im Guten wie im Bösen Beispielcharakter beizumessen und den Einfluss auf die Rezipienten anzustreben, die im Genuss der Lektüre belehrt werden, denn die 102 Vgl. zur Widmung auch Zeller 2010, S. 154f.
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Texte sind so wol nuetzlich / als zu lesen lieblich und kurtzweilig (S. 1, Z. 21). Das schafft einen direkten Konnex zum Rezipienten: Die Liebesromane haben Lebensbezug und sind die Lektüre wert, das ist die Botschaft, die Feyerabend an den Beginn seiner Sammlung stellt. So affirmiert er die Idee einer Nutzwertästhetik und kombiniert sie mit dem konkreten Verhältnis zum Text, das der Rezipient herzustellen vermag, solange er verantwortlich mit den Romanen umgeht und sie nicht mit schelen augen ansieht (S. 1, Z. 19). So vorbereitet, kann der geneigte Leser mit der Lektüre der Liebesromane beginnen. Feyerabends ›Magelone‹ steht an zweiter Stelle der dreizehn Texte, vor ihr findet sich der ›Kaiser Oktavian‹, an sie an schließt der ›Galmy‹, ohne dass diese Ordnung allerdings ein intertextuelles, sinnstiftendes Netz kreieren würde.103 Der Text der ›Magelone‹ ist in 42 nummerierte Kapitel eingeteilt, gegen die 32 nummerierten Kapitel der Handschrift (der Erstdruck von 1535 übernimmt die Kapiteleinteilung der Handschrift, allerdings ohne Nummerierung). Die zehn zusätzlichen Kapitel stellen die wesentliche Neuordnung des Stoffes dar, die sich in Feyerabends Druck zeigt (der hierin wiederum die »Frankfurter Linie« der ›Magelone‹-Drucke repräsentiert und keine Eigenleistung bietet, sondern nur reproduziert). Weniger innovativ ist die Bebilderung:104 Insgesamt fünfzehn Holzschnitte sind unregelmäßig über die Kapitel verteilt (einen illustrativen Schwerpunkt bilden die drei Schnitte in den letzten drei Kapiteln). Sie gehören dem Repertoire zu, das Feyerabend im gesamten ›Buch der Liebe‹ immer wieder nutzt und haben rein ornativen Charakter, der Bezug zur Handlung des jeweiligen Kapitels ist, wenn überhaupt, nur lose gegeben – die Bilder sind keine Bedeutungsträger. Wie auch schon im Erstdruck von Steiner spielen die Illustrationen also keine Rolle für das Textverständnis, sondern dienen eher der Auflockerung des Textblocks, besonders in Verbindung mit den Kapitelüberschriften, mit denen sie in der Mehrzahl der Fälle zusammen auftreten. Der Text selbst ist bis auf kleinere sprachliche Änderungen und Anpassungen mit dem identisch, den Spalatin 1535 in den Druck gab.105 Feyerabend ändert in Details, so lässt er etwa Peter nicht meß (Müller 600,4) hören, bevor er Magelone trifft, sondern die Predigt (Roloff 7) – die Protestantisierung ist also noch mit Spalatins Text nicht abgeschlossen.106 Andere Dinge, wie den Rückbezug auf das 103 Anders liest Zeller 2010, S. 159f. die Anordnung der Texte. 104 Vgl. dazu allgemein Veitschegger 1991, S. 183–194. 105 Die komplexe Satzkonstruktion des Druckes von 1535 (Müller 604,27) wird bei Feyerabend aufgelöst (Roloff 9), es gibt stilistische Abweichungen wie zu Müller 615,18f., wo Feyerabend so bin ich der vnglückseligest Ritter zu acht ich mich fuer den unglueckhafftigsten ritter (Roloff 20) umformt, ähnlich auch die vereinfachte amplificatio (Müller 616,14 zu Roloff S. 21). 106 Das grundsätzliche Problem – das Sakrament der Ehe – tasten weder Warbeck (Bolte 45,33)
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»oben Gehörte« behält Feyerabend in seiner explizit auf Leser ausgerichteten Ausgabe bei (Roloff 44). Wirkliche Eingriffe in den Text finden sich an seinen Rändern: Neben Spalatins Widmungsbrief wird auch der Einstieg in die Geschichte (›Vorred‹) gestrichen, der prologartigen Charakter hat und eine historiographische Verortung insinuiert (Müller 593,1–23). Es ist deshalb weder klar, wer die ›Magelone‹ übersetzt noch wer sie in den Druck gebracht hat (auch die Tatsache, dass es sich um einen übersetzten Text handelt, wird nicht erwähnt). Man erfährt nicht, wann die Handlung spielt und auch nicht wo. Die Namen der Protagonisten sind aus dem Kurztitel, den Feyerabend dem Text gibt, zu erschließen, Johan Cerise (Müller 593,12) bleibt hingegen namenlos. Unter dem Titel: Ein fast schoene und kurtzweilige Histori / von der schoenen Magelona / eines Koenigs Tochter von Neaples / und einem Ritter / genannt Peter mit den Silbern Schluesseln / eins Graffen Son auß Provincia wird zunächst eine Verortung durch die Kapitelüberschrift gegeben: Wie einsmals ein Thurnier geschach / durch die Edlen und Freyherrn deß Graffen auß Provincia, um dann einzusteigen mit: Die Freyherrn und Edlen deß Lands hielten eines Tags ein Thurnier / in welchem Peter erlanget den Preiß vor allen andern (alle Zitate Roloff 3). Das bedeutet einen zügigen Einstieg in die Geschichte, ohne Vorlauf, ohne Vorwissen und vor allem ohne bewertende Maßnahmen vorneweg. Feyerabend schafft uneingeschränkten und unmittelbaren Zugang zum Erzählten und zwingt den Leser, sich in der Handlung, die er abrupt beginnen lässt, zu orientieren. So wird Distanz abgebaut und ein direkter Zugang zum Geschehen angestrebt – sofern es sich beim Leser nicht um einen Wieder-Leser handelt, der den Text schon aus anderen Zusammenhängen kennt. Ein solcher Rezipient wird die Paratexte als Beiwerk nicht vermissen, sich aber problemlos in der Geschichte orientieren können. Die Kapiteleinteilungen sind besondere Gliederungselemente; Feyerabend (bzw. seine Vorlage) erhöht die Zahl der Einschnitte ins Geschehen und schafft so mehr und kleinere, leichter zu konsumierende Einheiten. Alle Kapitel aus Handschrift und Erstdruck bleiben erhalten, auch die Kapitelüberschriften werden fast ohne Änderung übernommen,107 hinzu kommen zehn neue, eigene noch Spalatin (Müller 647,18f.) noch Feyerabend (Roloff 49) an. Der Sakramentstatus ist wichtig als Kontrast: a) zum Leben im Heidenland und b) zur vagen, unehelichen Verbindung der Liebenden, er dient als Zielpunkt und legitimiert in der Überhöhung das Zusammensein. 107 Hier die Änderungen, die im Vergleich von Bolte, Müller und Roloff in den edierten Texten zu finden sind, in der Folge ihres Auftretens: Die Überschrift bei Roloff 26 (Das XI. Cap.) übernimmt die Kürzung, die sich bereits bei Müller 622,7 findet und erwähnt anders als Bolte 24,25 nicht, dass Peter durch den Garten zu Magelone gelangt. So wird die Symbolik der Pforte betont. Mit Müller 628,10 differenziert auch Kapitel 12 bei Roloff 32 gegen Bolte 30,10 (ritterspil) zwischen Ritterschafft unnd Spiel, ohne dass Spiel und Ritterschaft in irgendeiner Weise getrennt zu sehen wären – denn alle ritterliche Bewährung ist auf das
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Die ›Magelone‹ zwischen Hof und Buchmarkt
Einschnitte, die der Druck im Vergleich zum Erstdruck setzt und die mit neuen gliedernden Überschriften ohne Vorlage versehen sind. Neu ist das zweite Kapitel mit seiner Überschrift. Sie wird allerdings falsch formuliert, denn die Überschrift zeigt den Ausritt Peters in Richtung Neapel zu Magelone an, aber erst im Folgekapitel 3 erhält er die Erlaubnis zu gehen: Statt Wie Peter außreit / die schoene Magelona zu besehen müsste also der Plan angekündigt werden, diesen Schritt zu wagen. Abgesehen davon gilt: Die Überschrift vereindeutigt zugleich den im Text ambivalenten Bezug auf Magelone und stellt sie als einziges Ziel Peters in den Mittelpunkt, während im Text das Kennenlernen der Welt als ausgesprochenes Thema über das Interesse an Magelone als implizites Thema dominiert (Roloff 4). Das lange 17. Kapitel des Erstdrucks wird bei Feyerabend zweigeteilt. Peters Jagd nach dem Vogel wird als siebzehntes Kapitel von einem neu eingeführten Kapitel 18 abgetrennt, das die Gefangennahme Peters und seine Verschickung zum Sultan umfasst (Roloff 48). So wird der umfangreiche und ereignisreiche Text leichter verständlich gemacht. Dasselbe geschieht während Peters Rückfahrt nach Hause. Hier findet sich in Handschrift und Erstdruck das umfangreiche Kapitel, das bei Bolte die Nummer 23 trägt, Feyerabend teilt es in zwei Abschnitte. Der Schilderung der Heimkehrbitte ist hier Kapitel 24 gewidmet, hinzu tritt als Kapitel 25: Wie der Peter wolt gen Provincia fahren (Roloff 64). Gleich drei Zwischenkapitel werden eingefügt, um die unterbrochene Rückfahrt detaillierter zu gliedern (Roloff 68 und 70 in Ergänzung zu Roloff 69). Das Wiedererkennen Magelones durch Peter wird ebenfalls in zwei Teilkapitel untergliedert (Roloff 73, Kapitel 34: Wie sich die schoene Magelona ihrem allerliebsten Peter zu erkennen gab wird eingefügt vor der aus dem Erstdruck beTurnier beschränkt. Kapitel 14 ist Gegenstand einer Beschreibungseskalation über drei Stufen. Bei Bolte 38,20 wird angegeben, dass Peter die schon Magelonna wegführt, bei Müller 638,10 wird ergänzend hervorgehoben, dass sie des Künigs Tochter ist, und Roloff 41 zeigt auf, dass der Edle Peter der Täter ist, der dies vollbringt: Dies zeigt das Spannungspotential, das diesem Wegzug innewohnt: Der Druck von 1535 betont den Stand der Frau, der Druck von 1587 ergänzt das Ethos des Täters. Bei Kapitel 16 kürzen Müller 642,3 und Roloff 44 den Verweis von Bolte 41,4f., dass man über das unangenehme Schicksal Peters hernach horen wird – da der Kapitelbeginn mit dem Rückverweis auf bereits Gehörtes einsetzt (Bolte 41,6; Müller 642,4, Roloff 44) handelt es sich um eine Doppelung des Bezugswortes, die gestrichen wird, gleichzeitig wird die Intensität des intendierten Rezipientenbezuges zurückgefahren. Als Magelone in Kapitel 18 (bei Feyerabend 19) allein erwacht, wird in beiden Drucken nicht erwähnt, dass sie sich alleine in dem holtz (Bolte 46,3) wiederfindet, sie ist einfach nur alleyn (Müller 648,2, vgl. Roloff 50). Bei der Kapitelüberschrift 21 (bei Bolte Nr. 20) wandelt Feyerabend den Paratext im Vergleich zu Handschrift und Erstdruck ab, indem das Gebet, das Magelone in Rom tut, nicht erwähnt, dafür ihre Einkehr bei einer fromme[n] Fraw hervorgehoben wird. Zusammen mit dem Erstdruck wiederum hebt Feyerabend gegen die Handschrift in Kapitel 2 (bei Bolte Nr. 21 [52,24f.]) hervor, dass Magelone im Spital ihre Jungfräulichkeit bewahrt, so wird das entscheidende Element des Sich-Aufsparens betont.
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kannten Folgeüberschrift Wie der Peter erkennet die schoene Magelona / seinen getreuwen Gemahel [Roloff 74 zu Müller 672,1; bei Bolte trägt das Kapitel die Nummer 29]). Auch die Zeit vor der Ankunft von Graf und Gräfin, den Eltern Peters, im Spital, wird durch zwei zusätzliche Überschriften gegliedert, die beschreiben, dass Magelone zu den Eltern geht (Kapitel 36, Roloff 76) und dass sie nach dem Ausflug zu Peter ins Spital zurückkehrt (Kapitel 37, Roloff 77). Diese mikroskopische Binnengliederung hebt die Bedeutung des Vorgangs besonders heraus und bereitet das Ende, die Anagnorisis der Eltern, dezidierter vor, als es die Kapiteleinteilung in Handschrift und Erstdruck tun – es wird auf diese Weise paratextuell Dynamik erzeugt. Dass Magelones Identität vor Peters Eltern gelüftet wird, ist dem Druck Feyerabends ebenfalls ein eigenes Kapitel mit Überschrift wert (Kapitel 39, Roloff 78), ebenso der Eheschluss (Kapitel 41, Roloff 79). Die letzte, 42. Überschrift bei Feyerabend betont sodann das gleichzeitige Sterben der Liebenden nach zehn Ehejahren deutlicher als Handschrift (Bolte 72,21, Müller 677,9) und setzt einen zusätzlichen paratextuellen Schlusspunkt. Die zusätzlich eingefügten Zwischenüberschriften bei Feyerabend verfolgen demnach zwei Ziele: Zum einen wollen sie lange Abschnitte durch Binnenunterteilung leichter lesbar und verständlich machen; es wird den Lesern eine Pause, ein Einschnitt gegeben, der es ihnen erlaubt, »Luft zu holen« um dann weiter dem Text zu folgen. Das spricht für eine Vereinfachung und eine lesergerechte Aufbereitung des Romantextes durch paratextuelle Mittel. Diesem Ziel dienen auch die rein ornativen Illustrationen, die als Schmuck ohne Sinn nur lockende und lockernde, d. h. rezeptionserleichternde Funktion haben. Zum anderen aber, und das hat eine andere Qualität als die bloße Unterteilung um der Lesbarkeit willen, erzeugen die kleineren Sinnabschnitte am Ende des Textes eine Dynamik, die Handschrift und Erstdruck fehlt. Die dreifache Anagnorisis (erst erkennt Magelone Peter, dann Peter Magelone, dann die Eltern Peter und Magelone) bedeutet, dass die Spannung der Rezipienten spätestens nach dem zweiten Schritt, dem Wiedererkennen der Geliebten abfällt, denn dass die Eltern den Sohn mit offenen Armen empfangen werden, steht zu erwarten. Diesem Spannungsabfall steuert die ›Magelone‹ im ›Buch der Liebe‹ dadurch entgegen, dass mit kleineren Sinneinheiten gearbeitet wird und so neue Blickwinkel durch paratextuelle Unterbrechungen gegeben werden. Auch der Übergang aus der »Abenteuerzeit« in die »biographische Zeit«108 wird auf diese Weise aufgewertet: Die Hochzeit wird als eigenständiges Kapitel paratextuell markiert und so herausgehoben, bevor dann das Ende der Geschichte folgt. Feyerabends Ausgabe der ›Magelone‹ betreibt damit Rezipientenbindung auf 108 Vgl. dazu Bachtin 2008, S. 12, Schulz 2000, S. 217.
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makro- und mikrostruktureller Ebene der Paratexte. Während Kernaussagen aus Spalatins Widmungsbrief sich in der Topik des Titelblatts und der Widmung an die Landgräfin von Hessen finden, fehlt der quasi-historiographische Einstieg der prologartigen Vorrede ersatzlos. So wird die ›Magelone‹ unmittelbarer verfügbar. Damit ist auch dem Zweck Feyerabends gedient, einen direkten Bezug zur Lebenswirklichkeit der Rezipienten herzustellen. Denn die ›Magelone‹ wird so allein auf das Gefühlsleben und die Schicksale der Liebenden reduziert und um erläuternde und deutende Kontexte verkürzt. Dieses Vorgehen verringert die Distanz des Rezipienten zum Text, dazu trägt auch die Dynamik bei, die durch die zusätzlichen Kapitel erreicht wird. Das alles lässt denselben Text in neuer Gestalt erscheinen und anders wirken: An die Stelle von Distanz tritt der (postulierte) lebensweltliche Bezug, der über das allen Rezipienten zugängliche, breit gefasste Thema Liebe hergestellt wird. Der Anspruch von Feyerabends Sammlung ist es, delectatio und utilitas zu verbinden und die Distanz durch affektive Nähe zu ergänzen, um eine auf allen Ebenen ansprechende Textgestalt der ›Magelone‹ im Rahmen seiner Sammlung zu offerieren. Dieser Anspruch hebelt selbstverständlich nicht die ursprüngliche Setzung Warbecks aus, es handelt sich aber um eine graduelle Verschiebung hin zu einem inklusiven, alle Ebenen der Rezipientenansprache berücksichtigenden Zugang zum Text. Feyerabend bereitet die ›Magelone‹ als Teil eines Romankompendiums auf, er reduziert chronikalische Elemente und den in Spalatins Vorrede so ostentativ ausgestellten didaktischen Anspruch, er stellt die Moral zurück und betont den Lebensbezug der Dichtung. So rückt er die ›Magelone‹ (noch) näher an das Publikum heran. Der enge Zusammenhang von Unterhaltung und Nutzen, den die Widmung Feyerabends betont, ist dabei von zentraler Bedeutung: Liebende sollen durch die Historien vnd Gedicht (S. 2, Z. 60) Exempels weiß (S. 2, Z. 59) belehrt werden – der literarische Text hat einen konkreten Nutzwertanspruch, sein Sinn ist ihm qua Thema inhärent und nicht zu leugnen. Hier wird die horazische Gleichung aufgegriffen, die die Gleichzeitigkeit von Unterhaltung und Belehrung als Ideal ausstellt, diesem Ideal will auch Feyerabend folgen, und sein Anspruch ist paradigmatisch gemeint: Nicht umsonst geht es ihm im ›Buch der Liebe‹ um das zentrale Thema, das die Romanpoetiker des 17. Jahrhunderts noch definitorisch als Grundlage aller Beschäftigung mit dem Roman ausmachen, eben um die Liebe. Das ›Buch der Liebe‹ wird so zu einem ›Buch der Romane‹, das macht den poetologischen Mehrwert der Sammlung aus, in deren Dienst auch die ›Magelone‹ gestellt wird. Feyerabend zeigt in der Art der Kompilation und der Einbettung der Einzeltexte in das Gesamt der Sammlung auf, wie Dichtung nach seinem Verständnis auf die Rezipienten zu wirken hat, unbehindert durch belehrende Hinweise und im besten Falle so dynamisch, dass man mit den einzelnen Kapiteln leicht mitzugehen vermag. In dieser Hinsicht erweist sich die
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Kompilation ebenfalls als maßgeblich: Alle Didaxe, alles lenkende paratextuelle Beiwerk wird am Anfang der Sammlung konzentriert (und die Widmungsadresse ist nur in einer Teilauflage des ›Buchs der Liebe‹ enthalten, sie ist also durchaus verzichtbar!), auf die Rezeption des konkreten Einzeltextes hat sie damit keinen Einfluss, mehr noch: Indem Feyerabend darauf verzichtet, in seinen Paratexten bestimmte Lehren für einzelne Texte herauszuarbeiten, entbindet er die Romane von jeder konkreten Verpflichtung, sie müssen nur im breiten topischen Rahmen der utilitas dienen, mehr als das wird nicht von ihnen verlangt. Der Rest der »Arbeit« bleibt den Rezipienten überlassen, die wieder als maßgeblicher Faktor der Romanpoetik in den Blick geraten. Das ›Buch der Liebe‹ als Spiegel der Liebe (S. 3, Z. 48f.) kann seine Funktion nur dann erfüllen, wenn man in es hineinblickt, ohne Leser ist es nutzlos. Romane sind folgerichtig nicht einfach nur als Liebesgeschichten zu definieren, sondern als Liebesgeschichten für Leser.
Exkurs: Die katholische Magelone als Alternativfassung Warbecks Fassung der ›Magelone‹ legt den Grundstein für ihren Erfolg im deutschsprachigen Raum. Eher unbemerkt steht daneben eine Alternativfassung, die nur einmal, um 1525 herum, aufgeschrieben wurde und keinen Einfluss auf die weitere Geschichte des Stoffes gehabt hat.109 Ihr Herausgeber Degering hat sie als Übersetzung aus dem Italienischen identifiziert und damit an die Vorform der französischen Fassung angeschlossen, auf der Warbecks Übersetzung beruht.110 Er datiert diese ›Magelone‹ auf die Zeit um 1470,111 um den Text im Umfeld der humanistischen Übersetzungen etwa eines Albrecht von Eyb verorten zu können. Wichtiger als diese spekulative Angabe112 ist die weniger strittige Datierung der einzig erhaltenen Handschrift auf die Zeit um 1525,113 denn das bedeutet, dass diese Alternativübersetzung zur selben Zeit wie Warbecks Übertragung zu Papier gebracht worden ist.114 Der Stoff liegt in der Luft, das Interesse ist da, nicht nur am kursächsischen Hof. Geboten wird in der katholischen Fassung dieselbe Geschichte, wobei die Abweichungen zwischen Warbecks Text und der anonymen Übersetzung im 109 Westermann 1943, Sp. 211. 110 Degering 1922, S. 130. Zur Stoffgeschichte in der Romania vgl. Birner 1978, S. 99f., dort auch mit Bezug auf Degering 1922. 111 Degering 1922, S. 130. 112 Vgl. auch Steinhoff 1996, Sp. 1417, Anm. 6, wo betont wird, dass Degerings Datierung »ohne Begründung« geschieht. 113 Degering 1922, S. 130. 114 Eine Beschreibung der Handschrift gibt Degering 1922, S. 126.
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Detail größer sind als in der Forschung gemeinhin angenommen.115 Ein kurzer, ausschnitthafter Überblick soll genügen, um einige Tendenzen der Fassung aufzuzeigen. Der unbekannte Übersetzer teilt seinen Text in 27 Kapitel ein, die durch rote Überschriften hervorgehoben werden. Die Sinneinschnitte stimmen im Wesentlichen mit denen in Warbecks Handschrift überein: Beide Texte beginnen mit einer quasi-chronikalischen Verortung (Degering 9, Bolte 3), doch umfasst der erste Sinnabschnitt bei Degering das Äquivalent von zwei Kapiteln bei Bolte: Es wird ein langer, umfassender Einstieg gegeben, der als Block präsentiert wird (Degering 9–13). Auch das Hin und Her der Amme, die in der anonymen Handschrift eine Hofmeisterin ist, zwischen Kirche und Kemenate als Vermittlerin der Liebenden wird in zwei Kapitel zusammengefasst (anstelle von drei bei Bolte, dessen Überschrift 22,33 kein Gegenstück bei Degering hat). Aus Peters unterbrochener Heimreise und der Ankunft des Schatzes wird bei Degering ebenfalls ein Kapitel (Nummer 21, Degering 89 vs. Bolte 57,1–4 und 60,22–25). Die Rückkehr zu Magelone wird mit dem Wiedererkennen zu Kapitel 24 (Degering 100) zusammengefasst, das gegenseitige Erkennen wird nicht durch eigene Kapitelüberschriften hervorgehoben wie bei Warbeck (Bolte 66,9– 11 und 68,1–3). Umgekehrt wird mit zwei Überschriften versehen (Degering 55 und 57), was bei Bolte unter einer Überschrift steht (Bolte 38,20): Die Flucht der Liebenden wird in Absichtserklärung und ausgeführte Tat unterteilt und so differenzierter aufgeschlüsselt (dies korrespondiert auch mit inhaltlichen Änderungen im Text). Außerdem benutzt die Handschrift auch einmal eine ihrer 23 Federzeichnungen zur Abtrennung von Sinneinheiten: Die 3 figur (Degering 19) steht ohne begleitende Überschrift und trennt die Freundschaft Peters zu Heinrich von den nächsten Turnieren ab. Es gibt also weniger Kapitel als in Warbecks Text, die Sinneinheiten sind tendenziell größer und länger gestaltet. Das macht die Rezeption schwieriger, denn die Handschrift verlangt mehr Aufmerksamkeit des Rezipienten, dem auch nicht durch informative Kapitelüberschriften bei der Rezeption geholfen wird: Die Paratexte decken zumeist nur einen Bruchteil des Kapitelinhalts ab.116 Die dreiundzwanzig Illustrationen sind auf die Überschriften abgestimmt und fas-
115 Meines Wissens nutzt nur Thomas 1971 die Edition von Degering, vgl. Thomas 1971, S. 193, Anm. 417. Richtig ist, dass (fast) »keine Unterschiede in Motivik und Handlungskonstruktion« zu finden sind. Die Aussage: »Auch sonstige Abweichungen sind geringfügig« (ebd.) bleibt allerdings zu sehr an der Oberfläche. 116 Die umfangreiche Überschrift Degering 82 (Kapitel 19) bleibt die Ausnahme: Wie Magalona on daß gestatt des mereß kam, daß do genent wirtt das gestatt der tzigeuner zwo meyl von mompelier gelegen, do selbst den armen in eym cleyn spittal zu dienen vnd ir reinigkeitt tzu beschutzen, piß sie von irem aller liebsten waß vernemen mocht.
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sen den Inhalt des Kapitels brennspiegelartig zusammen.117 Sie unterstützen die Gliederung und dienen dem Schmuck der Handschrift,118 mit Degering kann zudem davon ausgegangen werden, dass sie auch zur intensivierten Beschäftigung mit dem Gelesenen einladen,119 also den jeweiligen Handlungsschwerpunkt vertiefend visualisieren. So wird ein Text-Bild-Zusammenspiel geboten, das keine neuen Sinndimensionen eröffnet, aber durch das gezielte Abstimmen von Bild und Text den Eindruck einer geschlossenen, stimmigen Konzeption vermittelt. Das zeichnet diese Fassung vor den illustrierten Drucken der Warbeckschen Fassung von 1535 und 1587 aus, wo die Illustrationen ohne direkten Bezug zum Text stehen und rein ornativen Charakter haben. Die Handschrift von 1525 erhält so das Gepräge eines »Liebhaberexemplars«.120 Eine weitere, vierundzwanzigste Zeichnung steht vor dem Textbeginn,121 ein Titelblatt, wie es Degering in seiner Ausgabe bietet, hat die Handschrift allerdings nicht: Der Herausgeber hat den Titel aus dem Explicit extrahiert und mit der Zeichnung zu einem Titelblatt kombiniert. Realiter funktioniert die Illustration als allein stehende »Titelzeichnung«,122 die den Inhalt der Handschrift allerdings nicht aufzeigen kann. Ihr folgt die erste Kapitelüberschrift (Degering 9: Piro de Prouence vnd Magelonna), die den Romantitel bietet;123 so macht die Titelzeichnung die Grenzen der illustrativen Praxis und der Deutbarkeit der Illustrationen augenfällig. Neben diesen paratextuellen Merkmalen, die die Handschrift auszeichnen, finden sich auch Elemente, die den Text auf der Handlungs- und Erzählerebene zumindest situativ von Warbecks Fassung der ›Magelone‹ unterscheiden: Die anonyme Handschrift zeigt eine Tendenz zur Plausibilisierung und dazu, an den identifizierten Sollbruchstellen der hybriden Konstruktion erklärend einzugreifen. Dies beginnt schon mit der Einführung des Helden, der eben nicht mehr gottlich dan menschlich (Bolte 3,20), sondern von wolgepilten glidmassenn, tugentsamen sytten und ritterlichen tatten (Degering 9) gekennzeichnet ist – ein idealer Held ohne übermenschliche Züge. Es braucht nicht zwei Informanten, sondern nur einen, um in Peter curiositas und das Interesse an Magelone zu 117 Vgl. Degering 1922, S. 126–128 und S. 144–152. Degering liest die Bilder als Ausdruck einer Emotionalisierungsstrategie (S. 145) und sieht eine Vertiefung der Textinhalte im Bild gegeben. 118 Westermann 1943, Sp. 210. Westermann geht ebd. davon aus, dass die Zeichnungen nicht als Vorlage für einen Druck bestimmt waren; Steinhoff 1985, Sp. 1144 vermutet mit Loßnitzer 1914 das Gegenteil. 119 Degering 1922, S. 151. 120 Ebd., S. 146. 121 Ebd., S. 125. 122 Ebd., S. 125. 123 Zu Augustin Hirschvogel als Illustrator vgl. Baumeister 1938/9, S. 204. Pilz 1972, S. 231 datiert die Zeichnungen in der ›Magelone‹ auf um 1530.
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wecken (Degering 10) – der Ablauf wird vereinfacht und erscheint logischer. Auch versucht Peter bei Degering in der Folge nicht den Spagat zwischen Welterfahren und Kennenlernen Magelones zu meistern, beides wird, anders als bei Warbeck (Bolte 4,23), zusammen gesehen: die welt vnd suenderlich die schon Magelona zcu sehen (Degering 11) ist sein Ziel (nur dürfen das weder bei Warbeck noch im anonymen Text die Eltern erfahren, die jeweils mit der Neugierde als Reisegrund abgespeist werden). Wenn Peter zudem die Angst vor dem verligen anführt (Degering 11 und 13), geht der Text über das hinaus, was Warbeck bietet, und lässt er zudem an den ›Erec‹ denken, ohne konkreter zu werden. Allein der Blick auf das erste Kapitel zeigt mithin, dass sich zwar nicht gravierende, aber doch auch nicht zu vernachlässigende Unterschiede zwischen der anonymen Fassung und dem Text Warbecks finden. Dies setzt sich auch in der weiteren Folge fort: Die Nürnberger Fassung hebt stärker als Warbeck auf den Tugendadel des Helden ab, durch den er sich auszeichnet (z. B. Degering 19: an sele ist dießer junge ritter von grossem geschlecht, vgl. auch Degering 23) und der die selbstgewählte Anonymität überbrücken hilft, da die Exzellenz des unbekannten Ritters noch stärker als bei Warbeck betont wird. Und auch in symbolträchtigen Details weicht der Druck von dem Bild ab, das Warbecks Fassung gibt: Nach dem Erhalt des zweiten Ringes betrachtet Magelone die Kostbarkeiten selig und küsst sie (Degering 36) – sie steckt sie aber nicht an den Finger (Bolte 22,30). Die Flucht der Liebenden wird, anders als bei Warbeck, auch damit motiviert, dass eine heimliche Liebe andere Räume als die Öffentlichkeit des Hofes suchen muss (Degering 56 vs. Bolte 37) und sich nur außerhalb Neapels erfüllen kann. Die Flucht selbst wird auf Mitternacht angesetzt (Degering 58) und gewinnt dadurch an Dramatik. Der Vogel, der auf der Flucht die Ringe Magelones stiehlt, ist ein geyer (Degering 62), was dem Bild zusätzliche Drastik verleiht. Anders als bei Warbeck lässt der Geier im anonymen Text außerdem das Bündel mit den Ringen nicht ins Meer fallen, sondern deponiert es auf einem Felsen, nachdem er es als wenig nahrhaft erkannt hat (Degering 63) – damit wird Peters verzweifelter Versuch, per Boot zum Felsen zu gelangen, hinreichend motiviert und es entsteht nicht die logische Lücke, die in Warbecks Fassung zu finden ist. Indem Magelone nach der Trennung immer wieder von ihrem gemahel (z. B. Degering 75) spricht, statt Peter beim Namen zu nennen, wird die intensive Liebesbeziehung zwischen beiden besonders betont. Eine ausführliche Rede, die Magelone an Peters Mutter richtet, als diese sie im Spital besucht (Degering 84f.) und für die sich bei Warbeck kein Gegenstück findet, verstärkt den Eindruck des Gottvertrauens und der Hingabe der Heldin. Diese Hingabe wird kontrastiert mit der bösen Vermutung von Peters Kapitän, der den Schatz in den Salzfässern an Magelone übergibt und ihr von seiner Befürchtung be-
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richtet, der junge Mann were ermoerdt worden (Degering 94), auch dies ist eine Zuspitzung. Der Freiraum zum eigenen Ausmalen der Gefühle, die die Liebenden bei der Anagnorisis bewegen, wird von der Handschrift gleich doppelt betont. Nicht nur koentt in vil zeitt nitt ertzelt werden (Degering 105), was sie einander zu sagen haben, auch gilt: Als dan eyn jedes auch selbs gedencken mag, wie freunthlich eyn jedes dem andern sein groß leyden erzelt hatt, vnd was das ander mißfallens oder mittleidens gehabt hatt, das das mag paß pey eynem jeden gedacht werden dan geredt oder geschrieben (Degering 106).124 Während bei Warbeck hier die Lizenz angedeutet wird, ausgeklammerte Emotionalität in der Rezeption imaginativ nachzuvollziehen, steht das Statement in der anonymen Handschrift nicht allein da: Bereits nach der Flucht wurden die Gefühle der Hofmeisterin ausgelassen: do fieng sie an mit grossem hertzenlaidt zu clagen, das nit mueglichen were zu schreiben (Degering 59 vs. Bolte 39,26). Der Unsagbarkeitstopos verweist auf eine umfangreiche Emotionalität, und im Falle des Wiedersehens von Peter und Magelone ist es auch das decorum, das die Auslassung erfordert. So wird der ›Magelone‹ anders als bei Warbeck die Ebene emotionalen Affizierens eingeschrieben, die sich auch in kurzen Hinweisen auf die emotionalen Befindlichkeiten der Figuren finden lässt (allesamt ohne Gegenstück bei Warbeck): Z. B. kniet Peter in dieser Fassung mitt zehernden augen (Degering 13) bittend vor seinen Eltern, um die Erlaubnis für die Ausfahrt zu bekommen,125 sein zorn, der habituell die Prädisposition des bereiten Kämpfers anzeigt, wird durch den Hinweis darauf ergänzt, dass er mit grymmen in den Zweikampf in seinem ersten Turnier reitet (Degering 18), er schembt sich, nach dem Turnier zu Magelone zu gehen, die ihn ruft (Degering 21). Als er das erste Mal mit der Hofmeisterin über Magelone spricht, erschluchtzet er (Degering 27), das Versprechen, Magelone heiraten zu wollen, gibt er der Hofmeisterin bei der nächsten Begegnung auf Knien und mit Pathos (Degering 37). Während er bei Warbeck nur meint, sein Herz würde zerbrechen, als er Magelone traurig sieht (Bolte 37,7), übernimmt der Erzähler hier den Standpunkt Peters (Degering 55f.: felt clein, im were sein edels hertz zersprungen), der nur in der katholischen Fassung mögliche Treueschwur auff das heilig ewangelium (Degering 57) erhöht wiederum das Pathos, ebenso sein Todeswunsch während der unterbrochenen 124 Vgl. dazu oben die Ausführungen zu Bolte 68,12 sowie allg. Schnell 2008, S. 39, der betont, dass es Passagen wie diesen darum geht, »das Publikum in das emotionale Geschehen zu involvieren«. 125 Diese Gefühlsdarstellung lässt sich auch an die »Spielregeln« mittelalterlichen Bittverhaltens anschließen, die Althoff 1997 herausgearbeitet hat, vgl. zum Weinen als Druckmittel auch Althoff 1996, S. 76. Zur literarischen Indienstnahme von als bekannt vorausgesetzten Ritualen im Spätmittelalter vgl. neben Althoff 1999 z. B. auch allg. Witthöft 2004, S. 311– 316, bes. S. 312f.
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Rückreise (Degering 98): Der Held wird emotional aufgewertet und (zumindest in Ansätzen) um eine Komponente ergänzt, die bei Warbeck fehlt. Er ist nicht allein weinerlicher, schwacher Held antiken Zuschnitts,126 sondern vor allem eine Figur, deren Emotionen nicht gefiltert durch den distanzierten Erzähler wiedergegeben werden: In den entscheidenden Momenten macht sich der Erzähler die Position des Helden zu eigen und relativiert nicht dessen emotionale Zustände. Das verringert die Distanz zum Geschehen und macht die Figur nahbarer. Da der Text nicht protestantisch, sondern katholisch geprägt ist, finden sich zudem zahlreiche Rekurse auf Maria (z. B. Degering 78 u. ö.), aber eben auch die Idee, dass sich Magelone ihrer Hofmeisterin in peichtweiß anvertraut (Degering 24). Das schafft nicht nur einen anderen symbolischen Bezugsrahmen, sondern eine andere kommunikative Voraussetzung für das Gespräch zwischen Zögling und Elternersatz: Die Beichtform bietet zusätzliche Intimität und macht das Bewahren des Geheimnisses zu einer noch deutlicher herausgestellten Pflicht der Hofmeisterin. Diese Elemente ergänzen das Absolutheitspathos, das die Schwüre auf Evangelium und Heilige erreichen. Insgesamt eignet der katholischen Form eine spezifische Dynamik, mit deren Hilfe auch die affektive Rezeptionsebene stärker betont wird. Auf diese Weise fügen sich die einzelnen auszeichnenden Elemente zu einem Gesamtbild zusammen, das von Warbecks Fassung abweicht. Der anonyme Bearbeiter bietet situativ eine andere Symbolik, schafft Plausibilität durch stringente Motivation im Detail und formt eine Symbiose aus Text und Bild, welche die Rezeption zusätzlich erleichtert und den Eindruck intensiviert, den die ›Magelone‹ beim Leser (denn auf diesen zielt die Handschrift trotz der Verweise auf Mündlichkeit ab [vgl. Degering 62 u. ö.])127 hinterlässt. Stärker als Warbecks (unbebilderte) Handschrift zielt die anonyme Übersetzung auf glättende, vereinfachende, in der Symbolik vereindeutigende und das Verständnis erleichternde Darstellungen. Es geht hier deutlich darum, eine interessante Geschichte eingängig zu präsentieren.128 Ganz besonderes Gewicht hat hierbei die Tatsache, dass der katholische Bezugsrahmen der Fassung mit dem Rekurs auf die Beichte, die Heiligen, aber auch auf den Festkalender (Degering 47) ein anderes kulturhistorisches und auch intimitätstheoretisches Konstrukt erlaubt, 126 Vgl. aber Degering 106, wo sich Peter ausdrücklich Magelones Willen unterordnet. 127 Diesen Fokus auf den lesenden Rezipienten folgere ich aus den knappen, nicht ausreichend informativen Paratexten und dem Bildprogramm, das auf einzelne Textszenen Bezug nimmt, sich aber nicht ohne die Basis einer vorangehenden Textlektüre erschließt. 128 Die Inszenierung der Figurenrede und auch die allgegenwärtigen, emphatischen und explikativen Doppelformeln untermauern diesen Eindruck zusätzlich. Die Handschrift ist bislang von der Forschung weitgehend vernachlässigt worden und lohnt eine detaillierte Analyse auch über den Rahmen ihrer intendierten Rezipientenlenkung hinaus.
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denn die Beichtrede hat eine andere Qualität als das »normale« vertraute Gespräch, und die Anrufung von Heiligen ist in ihrem Bezugsrahmen von einer pauschalen Anrufung Gottes, wie sie sich bei Warbeck findet, geschieden. Das bedeutet auch, dass Katholizismus im Erzählen der ›Magelone‹ mehr umfasst als die Elemente, die Warbeck und Spalatin mit ihren Versuchen der protestantischen »Reinigung« des Textes auf bloße politisch unkorrekte Folklore reduzieren. Auch der Umstand, dass sogar die protestantischen Fassungen konsequent das Sakrament der Ehe beibehalten, weist in diese Richtung: Offenkundig haben einige »katholische« Elemente eine weit über die Religionspolemik hinausreichende, sinnstiftende Bedeutung, die nicht oder nur unter der Hinnahme von Sinnverlust reduziert werden kann. Indem der Text der Handschrift in einer Art Epilog die immer noch existenten Gebräuche des Klosters und Spitals schildert,129 bietet er zuletzt nicht nur eine Anbindung des Erzählten an die Gegenwart, er macht es auch leichter zugänglich und eingängig. Die ›Magelone‹ mündet so in eine kulturhistorische Betrachtung, das gibt ihr eine zusätzliche Dimension und überträgt die Barmherzigkeit der Heldin in einen größeren, institutionell und rituell abgesicherten Rahmen. Diese Perspektivierung des Textes an seinem Ende trägt zu einer leichteren Verständlichkeit bei und ordnet die Geschichte in die Praktiken von Demut und caritas ein, die den (vermeintlichen) lebensweltlichen Bezugsrahmen bzw. das angestrebte Ideal darstellen, das den Rezipienten vor Augen steht. Die ›Magelone‹ in der Nürnberger Handschrift zeichnet sich somit dadurch aus, dass sie die affektive Rezeptionslenkung stärkt, Distanz abbaut und Plausibilität herstellt. Die anteilnehmende Sicht auf die Geschichte ist der ›Magelone‹ hier, deutlicher als bei Feyerabend und vor allem deutlicher als bei Warbeck und Spalatin, eingeschrieben. Das bedeutet: Die Anteilnahme steht als zweiter explizit intendierter Rezeptionsmodus neben der rational-distanzierten Sicht, und das in der Tendenz zum Pathos neigende Konzept der katholischen Elemente stellt eine eigene, intensive Verbindung zwischen Anteilnahme der Rezipienten und der utilitas des Textes her. Degerings ›Magelone‹ gibt dem affektiven Resonanzraum einen etablierten Platz in der ausgestellten intendierten Rezeption des Textes, vor allem auch, indem die katholischen Elemente der Dichtung beibehalten und sinnstiftend genutzt werden, besonders das Element der 129 Degering 113: alle tag, ßo der prister ewangelier vnnd epistler vom grossen ampt geen, muessen sie alßo inn den selben claidern, das ist dem ornat, in daß spital kumen, do die armen essenn, vnd do den armen menschen, ßo frembd sein, die fueß vnd hendt weschen, truecknen vnd kuessen. Darnach ider der selben prister eyner tregt eyn richt auff den tisch den armen. darnach tziehen sie sich erst auß. Die armen haben genug essen vnd trincken, in sunder gutt wein. vnd welcher pilgram drey tag do leitt vnd wider wegk zeucht, ßo fult man im sein fleschen vol weinß vnd furt die selben pilgram wider vber mehr an daß landt, dan der e spital leyt pey eym clein puchsen schuß ins mer. Es darff aber kein fraw in daß spittal.
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Beichtrede und die Einbettung des Sakraments der Ehe in den katholischen Kontext stechen dabei heraus. Die Plausibilisierung auf der Mikroebene, die den Helden zugänglicher und das Geschehen nachvollziehbarer gestalten, als dies bei Warbeck der Fall ist, bedeuten keine grundsätzlich neue Anlage der Dichtung. In der Kombination mit der eingängigen, sinnunterstützenden Bebilderung sorgen sie jedoch für eine reibungslosere Rezeption, als sie für Warbecks Text von 1527 vorstellbar erscheint und als sie sich aus den Druckfassungen des Warbeckschen Textes von 1535 und 1587 rekonstruieren lässt. Produktionsästhetisch kann man von einer verminderten Hybridität oder einer verbesserten Verfugung der einzelnen Textbestandteile sprechen, rezeptionsästhetisch lässt sich beobachten, dass die Lektüre vereinfacht und nicht durch Widersprüche im Detail behindert werden soll. So wird es leichter, sich auf die Geschichte von Peter und Magelone einzulassen und ihr zu folgen.
Fazit: Die ›Magelone‹ zwischen Vielfalt und Vereindeutigung Die ›Magelone‹ dokumentiert in engster zeitlicher Folge eine intensive Auseinandersetzung mit den Fragen danach, was ein hypoplastischer, mit Reduktionen und Andeutungen arbeitender und nicht unbedingt immer genau gefugter Text für seine Rezipienten bedeuten kann und was er in ihnen auszulösen vermag. Es werden 1525, 1527, 1535 und 1587 unterschiedliche Ansätze einer Romanpoetik verwirklicht, die im Falle der Fassung Warbecks in den verschiedenen Textzeugen eindeutig mit dem jeweils intendierten Publikum zu korrelieren sind. Während die Warbecksche Handschrift von 1527 auf höfische Literaturkenner und einen kleinen Zirkel ausgewählter, dem Übersetzer namentlich bekannter Rezipienten abzielt, versucht Spalatins Vorrede zum Erstdruck das zu bändigen, was den Text für Warbeck und den kursächsischen Hof wohl erst interessant gemacht hat: Das Unverfugte, Vieldeutige, Andeutungsreiche, das ein (ggfls. auch unkeusches) Weiterdenken und Herstellen intertextueller Bezüge erlaubt, soll in der Vorrede eingedämmt werden. Dabei zeigen Spalatins Formulierungen ebenso wie seine Idee vom zu erwartenden Publikum des Druckes enge Verwandtschaft mit den Vorstellungen und Topoi der beginnenden Romankritik des 16. Jahrhunderts. Es geht um Vorurteile und das Lenken unbedarfter Leserinnen, denen der Wert der Dichtung im Stil einer vorangestellten moralisatio erschlossen werden soll. Der Schwerpunkt auf dem vierten Gebot betont dabei genau den Aspekt, der für Warbecks Übersetzung keine Rolle spielt, und versucht die literaturtheoretisch interessanten Perspektiven des Stoffes ebenso wie seine frivolen Passagen auszublenden. Da Spalatin sich auf einen Lenkungsversuch in der Vorrede beschränkt, aber nicht in die Überschriften oder die Bildkomposition eingreift,
Fazit: Die ›Magelone‹ zwischen Vielfalt und Vereindeutigung
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werden seine Bemühungen nur begrenzt wirksam – sie sind zwar in der Mehrzahl der Drucke des 16. Jahrhunderts und bis ins 17. Jahrhundert hinein zu finden, stehen aber im Kontrast zur Eigenwirkung, die die ›Magelone‹ intendiert und die in Feyerabends Abdruck des Textes in seinem ›Buch der Liebe‹ deutlich nachzuvollziehen ist. Feyerabends Idee, beliebte und damit leicht zu verkaufende Texte zu kompilieren und als Sammlung auf den Markt zu bringen, geht mit einer weit gefassten Rechtfertigung des Unternehmens in der Widmungsvorrede des ›Buchs der Liebe‹ einher. In dieser sticht vor allem der Versuch heraus, die Dichtungen mit ihrer Liebesthematik an die Lebenswirklichkeit eines Publikums heranzuführen, das in irgendeiner Form schon einmal mit der Macht der Liebe konfrontiert gewesen ist und in den Texten Lehrmittel und Anschauungsmaterial für den besseren Umgang mit solch prekären emotionalen Situationen finden soll. Feyerabend trennt seine theoretische Absicht noch stärker von den Einzeltexten ab, als dies für Spalatins Vorrede zur ›Magelone‹ zu konstatieren war : Es gibt den (nicht allen Exemplaren des ›Buchs der Liebe‹) beigebundenen theoretisierenden Einleitungsteil, und es gibt die Texte, vorredenlos und mit schmückenden Illustrationen versehen. Die Romane wollen unterhalten, ihr emotional affizierendes Potential soll aktiviert werden, soweit dies ohne grundlegende Eingriffe in den Text möglich ist. Feyerabend macht durch seine Paratexte und die neue Aufteilung des Textes die zentrale Rolle der delectatio für die utilitas geltend, nicht nur als Überzuckerung einer bitteren Lehre, sondern in der Ansicht, dass mit den Liebesromanen den Rezipienten ein belehrender Spiegel geboten werde, der didaktische und bessernde Qualitäten im Erzählen zu bieten hat: Das Erzählen rechtfertigt sich damit nicht mehr als dienende Instanz für den Nutzen der Rezipienten, sondern wird als Modus ernst genommen und von Feyerabend, indem er unterschiedliche Liebeskonzepte in nahtloser Abfolge aneinanderreiht, diskursivierend ausgestellt: Die kontrastive Lektüre der unterschiedlichen Texte kann dazu angelegen sein, sich interpretierend mit den verschiedenen Konzepten auseinanderzusetzen und ihre Relevanz für die eigene Rezeption zu erarbeiten. Die katholische Alternativfassung der ›Magelone‹ setzt in besonderem Maße auf Eingängigkeit auf mikrostruktureller Ebene. Hier wird durch distanzlose Betrachtung der Figurenemotion ebenso wie durch vereinfachende Lektüremöglichkeiten eine Anteilnahme des Rezipienten angelegt, die auch in einer spezifisch katholischen Kultur des Schwurs und der Heiligenanrufung ruht und besonderes, quasi-sakrales Pathos abzurufen in der Lage ist. Die Verschmelzung von Text, Paratext und Bildprogramm zu einer eingängigen Einheit prägt diese ›Magelone‹. Und das macht sie zu einem Text, der delectatio und utilitas gerade dadurch verbindet, dass die Widerspenstigkeit, die Präsenz der Sollbruchstellen eingedämmt und die Heldenfigur Peter mit zusätzlicher Emotionalität ausge-
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Die ›Magelone‹ zwischen Hof und Buchmarkt
stattet wird. Die Anbindung an eine rituelle Armenpflege der zeitgenössischen Gegenwart gibt dem Text eine Bedeutung, die über die chronikalische Verortung am Anfang des Textes hinaus geht und für eine distanzlose Rezeption sorgen will. Die legitimierende Funktion der Fiktion für eine kulturelle Praxis der eigenen Gegenwart gibt dem geschilderten Geschehen außerdem zusätzliche Glaubwürdigkeit und bindet die ›Magelone‹ an den Erwartungshorizont eines entsprechend geprägten Publikums an. Was die verschiedenen Fassungen vorführen, ist damit das Ringen um die Balance zwischen delectatio und utilitias und zwischen Nähe (Anteilnahme) und Distanz (ratio). So steht die ›Magelone‹ mitten im Diskurs einer sich herausbildenden Romanpoetik, sie wird zum Spielball der verschiedenen Kräfte und bewahrt sich, wohl wegen der in ihr angelegten Lizenzen dazu, das nur Angedeutete weiterzudenken und weiter auszumalen, ihre große Popularität. Sie wird zum Echoraum der unterschiedlichsten Interpretationen gerade dadurch, dass sie nur einen Rahmen vorgibt und in ihrem hypoplastischen Erzählen knapp genug bleibt, um der Phantasie Spielraum zu lassen, der sowohl intellektuell wie auch emotional genutzt werden kann, um delectatio zu erreichen, denn man kann das Werk mit Blick auf seine Prätexte und seine strukturelle Verfasstheit ebenso lesen wie als Liebesgeschichte, deren ausgesparte Details man sich selbst auszudenken hat; gerade auch der (topische) Hinweis, manche ding lassen sich auch baß zuo bedenken dan zuo schreiben (Bolte 68,13–16) ist genau in diese Richtung zu interpretieren als Lizenz zum Nachvollzug der nicht auserzählten Emotionen. Den emotionalen Spielraum fürchtet Spalatin, und Feyerabend will ihn ökonomisch nutzen, während die Nürnberger katholische Fassung versucht, den Rahmen zu verstärken und eine eingängige, alle Elemente der Rezipientenlenkung einbeziehende Lektüre zu gestatten. Die ›Magelone‹ hat damit Anteil an der Gattungsgenese des Romans gerade dadurch, dass sie als sehr kurze Erzählung Freiräume zur Auseinandersetzung schafft und sich einer rein unterhaltenden Lektüre nicht verschließt, sondern durchaus unabhängig von Moral und Didaxe gelesen werden kann.
Johannes Zschorn und die neuen Möglichkeiten des Romans
Voraussetzungen Die ›Aithiopika‹ stehen nach Ansicht der Romanforschung am Anfang der modernen Gattungsentwicklung: Mit der Wiederentdeckung des spätantiken Textes 1534 und dem anschließenden »Siegeszug«1 des Romans durch die europäischen Literaturen wird der Diskurs über die Gattung bis weit in das 17. Jahrhundert hinein maßgeblich geprägt. Die anderen spätantiken Romane2 werden (besonders in deutscher Übersetzung)3 erst später und nicht im selben Umfang rezipiert, »Heliodorus Homericus«4 hingegen, wie ihn sein erster Exeget Martin Crusius 1584 nennt, avanciert zum Gründungsvater der Gattung, dessen Loblied auch die neuere Forschung singt: »Blessing be upon you, Heliodorus, for
1 Weinreich 1962, S. 60. 2 Bekannt sind die folgenden Texte: Chariton: ›Kallirho[‹, Xenophon von Ephesos: ›Ephesiaka‹, Achilleus Tatios: ›Leukippe und Kleitophon‹, Longos: ›Daphnis und Chlo[‹, vgl. zur Chronologie etwa Weinreich 1962, S. 9 oder Holzberg 1986, S. 98f. und Holzberg 2001, S. 323. Ebenfalls gehören zwei lateinische Texte in die Reihe der antiken Romane, die ›Satyrica‹ des Petronius und die ›Metamorphosen‹ des Apuleius. Sieben griechische Romane sind verloren und nur durch Fragmente und Erwähnungen in anderen Texten zu rekonstruieren, vgl. Stephens 1994, S. 409 und Sandy 1996, S. 737 mit dem Hinweis darauf, dass die Texte wohl ihrer Drastik und Indezenz wegen »verloren« gegangen sein könnten: »Historical romance, murder and mayhem, cannibalism, fantasy, viragos, philosophical procurers and picaresque adventures – these are only some of the elements available to readers in Roman Egypt substantially absent from the models of prose fiction that reached post-mediaeval Western Europe«. 3 Vgl. Möckel 2010 zur Übertragung von ›Leukippe und Kleitophon‹ von 1644. Im Französischen überträgt Amyot nicht nur die ›Aithiopika‹, sondern auch ›Daphnis und Chlo[‹ (1559), im Englischen finden sich Übersetzungen von ›Leukippe und Kleitophon‹ (durch William Burton, 1597) sowie, zehn Jahre zuvor, von ›Daphnis und Chlo[‹ (durch Angell Day, 1587). Zu den Vorredenpoetiken der englischen Übersetzungen vgl. von Contzen 2016, zur Antikenübersetzung im elisabethanischen England, s. dort auch den Hinweis auf Julia G. Ebel: A Numerical Survey of Elizabethan Translations, in: Library 22 (1967), S. 104–127. 4 Crusius, Epitome, Widmungsbrief, S. 10 (Marginalie).
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bringing the novel into full intellectual maturity and for showing what this newfangled genre could be in the hands of a master«.5 Heliodor schreibt seinen Liebes-»Roman« (die Gattungsbezeichnung ist auch hier anachronistisch) wohl im 2. Drittel des 3. Nachchristlichen Jahrhunderts,6 er erlebt zwei Renaissancen: Zuerst entdeckt das Byzanz des 12. Jahrhunderts die Liebesgeschichte neu, unterwirft sie in der Bearbeitung jedoch einem »homogenizing process«, der ein »saccharine product«7 hervorbringt – da aus der Zeit vor dem 12. Jahrhundert nur ein Papyrusfragment des 6. Jahrhunderts erhalten geblieben ist,8 lassen sich allerdings keine Vergleiche zum »Original« Heliodors anstellen.9 Zum zweiten Mal wiederentdeckt werden die ›Aithiopika‹, als ein Soldat den Text aus der Bibliothek des Martin Corvinius in Buda raubt und nach Deutschland bringt – 1534 wird der Roman in Basel das erste Mal gedruckt.10 Damit beginnt eine umfassende Erfolgsgeschichte, eine zweite, »durch den Buchdruck entscheidend gestützte«11 Renaissance, die bis ins 18. Jahrhundert andauert und ganz Europa erfasst:12 154713 übersetzt Jacques Amyot die ›Aithiopika‹ direkt aus dem Griechischen ins Französische,14 sein Text erlebt bis 1700 einundzwanzig Auflagen und wird zur Vorlage für eine spanische Übersetzung von 1554.15 1552 übersetzt Warschewiczki den griechischen Text ins Lateinische.16 Der lateinische Text ist wiederum Vorlage für die Übersetzungen ins Deutsche (1559) und ins Englische (Erstdruck 1577).17 Das Besondere an dieser Konstellation, und das macht die ›Aithiopika‹ für die Frage nach der Genese der Romanpoetik außerordentlich wertvoll, ist eine si5 Moore 2011, S. 100. 6 Holzberg 2001, S. 323. Zur Datierung und den damit verbundenen Kontroversen vgl. auch Holzberg 2006, S. 136. 7 Beide Zitate aus Sandy 1996, S. 735. 8 Vgl. z. B. Holzberg 2006, S. 136, allg. Hägg 1987, S. 52. 9 Zur Überlieferung der ›Aithiopika‹ vgl. Mazal 1966 und Rattenbury/Lumb 1935, S. XXIVf. 10 Vgl. auch die Textgeschichte, die Obsopoeus in seiner Vorrede Bl. 2v erzählt. Zur Handschriftengrundlage der editio princeps vgl. Morgan 1996, S. 424–426. 11 Eming 2013, S. 257. 12 Vgl. grundlegend Oeftering 1901. 13 Vgl. zur Datierung der Übersetzung Plazenet 2008, S. 17–21, die den Kalenderwechsel in der fraglichen Zeit hervorhebt und den Text neu auf 1548 datiert, ebd., S. 20f.: »En effet, la premiHre 8dition d’H8liodore est achev8e d’imprimer le 15 f8vrier 1548.« Einen ersten Nachdruck gibt es 1549, eine korrigierte Neuauflage 1559, der weitere Auflagen und Neuübersetzungen folgen: ebd., S. 106–111. 14 Ediert von Plazenet 2008. 15 Vgl. dazu Plazenet 2002, S. 251. 16 Vgl. Der Erstdruck von 1552 ist als Digitalisat der BSB München zugänglich, vgl. das Literaturverzeichnis. 17 Die Ausgabe von 1587 liegt – ohne Marginalien, aber mit Inhaltsangaben des Registers – als Edition von Saintsbury o. J. vor. Die Drucke von 1577 und 1587 liegen als Teil der Bibliothek der »Early English Books online« vor.
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gnifikante Differenz zwischen der Präsenz der verschiedenen Textfassungen im intellektuellen Diskurs und auf dem Buchmarkt der Zeit. Es gibt gleichsam eine europäische Rezeption der zwei Geschwindigkeiten: Während vor allem in Frankreich18 und in England19 die ›Aithiopika‹ schon kurz nach ihrem Erscheinen die Gattungsentwicklung entscheidend beeinflussen20 und zum »Prototyp«21 der Gattung werden, rezipiert man Heliodor im deutschsprachigen Gebiet zeitversetzt, die deutsche Übersetzung von 1559 wird dabei von allen Protagonisten der Romandebatte der Zeit ignoriert. Die deutsche Diskussion um die Möglichkeiten der Gattung setzt deshalb erst im 17. Jahrhundert ein und fußt auf den französischen romantheoretischen Erwägungen,22 der deutschsprachige theoretische Diskurs braucht lange, um aus dem Schatten der französischen Romanpoetik herauszutreten. Zugleich ist Zschorns Text, dem im Übrigen auch die germanistische Forschung bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat,23 allerdings über mehr als einhundertzwanzig Jahre hinweg immer wieder auf dem Buchmarkt zu finden und erst 1750 durch eine neue Übersetzung (von M.C.W. Agricola)24 abgelöst worden. Die Übersetzung Zschorns erfreut sich somit über lange Zeit anhaltender Beliebtheit,25 eine Präsenz, die im Gegensatz zur osten18 Vgl. Plazenet 2008, S. 51 zu den bereits im 16. Jahrhundert durch Amyot und seine Poetik beeinflussten französischen Werken wie ›Alector‹ von Barth8lemy Aneau u. a. 19 Vgl. hierzu die pragmatischen Ausführungen von Mentz 2006, die der englischen Tradition in Vielem eher gerecht werden als die apodiktischen Wertungen von Plazenet 1997. 20 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der englischen und französischen HeliodorTradition vgl. grundlegend und umfangreich Plazenet 1997. 21 Berger 1984, Titelzitat mit Bezug auf den französischen heroisch-galanten Roman. 22 Wiggin 2011 macht den französischen Einfluss bis mindestens in die 1720er Jahre plausibel, abebbend bis ins 19. Jahrhundert hinein. 23 Ausnahmen sind die Untersuchungen Röckes (1993, 2009) und Bachorskis (1993) sowie Emings (1999, 2013a, 2017) und Möckels (2007, 2009). Vgl. auch Lafond-Kettlitz 2005 und die kursorischen Erwähnungen in den einschlägigen Literaturgeschichten, etwa Ruppich 1973, S. 206. Vgl. zudem Seeber 2016 zur Vorredenpoetik. 24 Agricola, ›Aethiopische Liebes- und Helden-Geschichte‹. Bereits 17 Jahre später erscheint eine zweite Neuübersetzung (Meinhardt, ›Theagenes und Chariklea‹ [1767]). 25 Als gesichert gelten die folgenden Ausgaben: – Straßburg: Messerschmidt, 1559 – Frankfurt: Bass8e, 1580 (VD 16 ZV 7604) – Frankfurt: Feyerabend, 1587 (im ›Buch der Liebe‹) – Leipzig: Nerlich, 1597 – Leipzig: Nerlich, 1601 – Straßburg: Heyden, 1624 (VD17 1:088933K) – o. O.: o. J. [ca. 1630] (VD17 23:324556T) – Hamburg: Dosen, 1641 – Nürnberg: Endter, o. J. (Gotzkowsky 1994, S. 74 datiert um 1680, Lindhorst 1955, S. 158 auf ca. 1660). Teichmann 1905, S. 10 kennt einen weiteren Druck von 1559, ebenfalls von Messerschmidt in Straßburg gefertigt, in dessen Vorrede die Überlegenheit der ›Aithiopika‹ gegenüber ›Tris-
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tativen Nichtbeachtung steht, mit der die theoretische Debatte die deutsche ›Aithiopika‹ straft.26 Im Folgenden wird es darum gehen, Zschorns Besonderheit im Vergleich zu den anderen ›Aithiopika‹-Übersetzungen herauszustellen. Dabei werden besonders die Paratexte der unterschiedlichen Editionen in den Blick zu nehmen sein; vorangestellt sei jedoch ein kurzer Überblick über die grundsätzliche Anlage des Werkes selbst, seines Aufbaus und seiner Struktur.
Die griechischen ›Aithiopika‹ als Grundlegung einer Romanpoetik Der Erfolg der ›Aithiopika‹ im 16. Jahrhundert hätte den antiken Autor wohl überrascht, im 3. nachchristlichen Jahrhundert dürften Romane ein Randphänomen gewesen sein, zielend auf ein kleines,27 gebildetes, aber nicht elitäres Publikum, das allgemeines literarisches Vorwissen besaß und auch intertextuelle Vergleiche zwischen den einzelnen Texten der »Gattung« anstellen konnte.28 Heliodor erzählt voraussetzungsreich und theoretisch bewusst; es handelt sich bei den ›Aithiopika‹ um (Unterhaltungs-)Literatur für Kenner, die sich Anspielungen und metapoetische Experimente erlauben kann.29 Das macht ihren Wert aus. Es geht um mehr als die Liebesgeschichte von Theagenes und Chari-
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tan‹ und ›Amadis‹ betont wird (eine ähnliche Aussage bietet die Vorrede Bass8es zum Druck von 1580): »Wir sehen die AeH auf dem Wege, den beliebten Unterhaltungsbüchern jener Zeit an die Seite zu rücken« (ebd.). Der Druck ist allerdings nicht im VD 16 nachgewiesen. Veitschegger 1991, S. 76 geht von insgesamt drei 1559 erschienenen Auflagen der ›Aithiopika‹ aus, die nicht erhalten sind. Nur bibliographisch zu erschließen ist ein Druck von 1562, der in Frankfurt erschienen sein soll, vgl. Veitschegger 1991, S. 77. Lindhorst 1955, S. 6 betont zurecht, dass die Auflagenzahlen Zschorns nicht mit denen Amyots verglichen werden dürfen, da im deutschen Sprachraum noch stärker als im französischen die lateinische Übersetzung frequentiert wurde – der Stoff war mithin bilingual umfassend bekannt, sowohl im Einzugsgebiet der klassischen litterati als auch der die deutschsprachige Ausgabe Lesenden. Schäffer 1984, S. 42*. Insbesondere die Dramatisierungen des 17. Jahrhunderts nennen Zschorn nicht, sondern berufen sich im Titel allein auf Heliodor, so Scholvin in seiner ›Aethiopissa‹ von 1608, und in seiner komischen Fassung von 1620, ebenso Brülows ›Chariclia‹ (1614) und Brülow folgend Beckhs ›Erneuerte Chariclia‹ (1666) sowie Paters ›Chariclea‹. Vgl. Stephens 1994, S. 407 und S. 415. Vgl. außerdem allg. Treu 1989, S. 196f. Vgl. zur antiken Rezeption allg. Hunter 2008 und Morgan 1991, dort auch S. 89 zur literarischen Wachheit Heliodors: »Recent criticism seems agreed that Heliodoros was concerned in an almost theoretical way with problems of literary hermeneutics«. Zu Heliodors Text als Endpunkt des antiken Liebesromans vgl. Hunter 1998, S. 48. Zur Problematik der Arbeit mit Übersetzungen des griechischen Textes vgl. Laird 2008; eine Untersuchung, die nicht mit dem griechischen Text im Original arbeitet, muss notwendigerweise mehr an der Oberfläche bleiben und kann Tiefenschärfe nur sekundär, durch die Aufnahme von Forschungsmeinungen, erreichen, dies ist auch im Folgenden der Fall.
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klea, es geht um die Reflexion über die Grenzen und Lizenzen einer Gattung im Entstehen. Für das 16. Jahrhundert bietet Heliodor damit alle Voraussetzungen, ein Bestsellerautor zu werden: Es handelt sich um einen mythenumrankten, nicht fassbaren Autor30 mit homerischem Anspruch31 an sich und seine Dichtung und um eine Erzählung32 von keuscher, treuer Liebe,33 deren Helden belohnt werden, während ihre Gegner die gerechte Strafe trifft. Das sind allesamt Zutaten für eine »beispiellose Erfolgsgeschichte«.34 Heliodor wählt einen homerischen Einstieg in seine Dichtung und gestaltet den Eingang medias in res35 als eine Art rezeptionsästhetischen Paukenschlag: Ein heiterer Tag kam herauf, und die ersten Strahlen der Sonne fielen gerade auf die Berge über der Heraklesmündung des Nils. Da spähten Männer – sie waren wie Räuber bewaffnet – von den Höhen nieder. Eine Weile wanderten ihre Augen über das Meer, das unter ihnen lag, aber umsonst suchten sie auf der weiten Fläche; sie war von keinem Segel belebt, das ihnen Beute versprach. Ihre Blicke senkten sich zur nahen Küste hinab. Dort bot sich ihnen ein seltsames Schauspiel.36
Der Leser wird ins kalte Wasser geworfen37 und mit einem einprägsamen, geradezu ikonischen Bild konfrontiert, das zunächst als Chiffre erscheint:38 Eine 30 Von Heliodor ist nur bekannt, was er am Ende der ›Aithiopika‹ (in der Sphragis) selbst über sich preisgibt: X.XLI.3, S. 127 [dt. S. 322]: »[…] ein Mann aus Emesa in Phönizien, aus dem Geschlecht des Helios, der Sohn des Theodosios, Heliodoros«. Ich zitiere Heliodors Text nach der Ausgabe von Rattenbury/Lumb 1935–1943 inkl. der dortigen Kapitelangaben, die deutsche Übersetzung ist die von Reymer 2001, der allerdings keine Kapiteleinteilungen bietet. Früh stellte man sich Heliodor als Bischof vor, vgl. auch Beck 1994, S. 144 und Weinreich 1962, S. 39. Auch Achilleus Tatios wurde in ähnlicher Weise pontifiziert, vgl. Reeve 2008, S. 287. 31 Vgl. Kövendi 1966 zu den homerischen Grundlagen des Romans. 32 Vgl. die umfangreiche Nacherzählung bei Rohde 1914, S. 453–460 und (etwas knapper) meine Skizze in Anhang 6. Rohde 1914 bleibt eine Pionierarbeit, ist in ihren Wertungen aber weitestgehend überholt. 33 Lindhorst 1955, S. 13 sieht die Attraktivität der ›Aithiopika‹ in ihrer Eigenschaft als »Prüfungsroman« angelegt und betont ebd., S. 20, dass das Wiederauftauchen des Textes mit einer ihm gewogenen geistigen Grundhaltung zusammengeht. 34 Eming 2013, S. 256 (Kapitelüberschrift). 35 Psellus, Essays, S. 92f. vergleicht diesen Werkeingang mit einer Schlange, die ihren Kopf verbirgt und nur ihren Körper zeigt. Vgl. auch Crusius, Epitome, Widmungsbrief, S. 4 zur Technik und ihren Vorlagen sowie zum Effekt auf den Rezipienten, der zu Lektüre und Aufmerksamkeit angehalten bleibt. 36 I.I.1, S. 1 [dt. S. 9]. 37 Zur sprachlichen Gestaltung der Anfangsszene vgl. Morgan 2004, S. 533 und Bartsch 1989, S. 47. Die Übersetzung Reymers fasst nicht das Lächeln des Tagesanbruchs des griechischen Textes, vgl. dazu die englische Übersetzung von Morgan 1989, S. 353: »The smile of daybreak was just beginning to brighten the sky […]«, vgl. auch I.I.1, S. 1: »Le jour commenÅait / sourire […]«. Die lateinische Übersetzung Warschewiczkis verändert das Lächeln der Vorlage zu einem Cum primum dies illucesceret (S. 8). Dieser Vereinfachung folgen Zschorn, der englische Übersetzer Underdowne – und Reymer.
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junge Frau sitzt am Strand, auf ihrem Schoß liegt ein schwer verwundeter Jüngling, um sie herum herrscht Chaos. Der Erzähler agiert vorsichtig, moderierend und gibt nur wenige Hinweise,39 um das blutige und leidvolle Anfangstableau voller »Verrätselung und Mystifizierung«40 nicht zur unüberwindbaren Rezeptionshürde werden zu lassen. Die Liebesgeschichte von Theagenes und Chariklea ist dabei denkbar einfach angelegt und zugleich sehr komplex:41 Chariklea ist die Tochter des äthiopischen Königs, sie kommt mit weißer Hautfarbe zur Welt, da ihre Mutter bei der Empfängnis ein Bild der Andromeda nach ihrer Rettung durch Perseus betrachtet hatte.42 Deshalb wird sie vor dem Vater versteckt und für tot ausgegeben, sie wächst bei verschiedenen Erziehern auf und will Priesterin werden, in Delphi verliebt sie sich auf den ersten Blick in Theagenes und brennt mit ihm durch. Am Ende, nach zahlreichen Gefährdungen der keuschen Liebe, denen mit List und Verstellung begegnet wird, erreichen Theagenes und Chariklea den äthiopischen Königshof: Hier werden sie nach weiteren, das zehnte Buch der ›Aithiopika‹ ausfüllenden dilatationes,43 erkannt, verheiratet und in den Priesterstand erhoben. Inseriert sind der Liebesgeschichte politische Ausführungen über gute und schlechte Herrschaft, Seeräubergeschichten, eine Totenbeschwörung und zahlreiche Reisen voller Abenteuer, die einen Großteil der Handlung ausmachen. Anfangs verhindern die digressiones eine schnelle Orientierung des Rezipienten in der Geschichte, in der zweiten Dichtungshälfte zögern sie das sich immer deutlicher abzeichnende Happy End heraus, so dass mit der Aufmerksamkeit des Rezipienten gleichsam gespielt wird. Überwiegt damit im ersten Teil die Überraschung, wird das Vergnügen im zweiten Teil aus der Antizipation des Happy Ends und aus den Verzögerungen auf dem Weg dorthin bezogen.44 Wichtiger noch als die vielen Seitenarme der Handlung und die »over-ab-
38 Zum homerischen Gehalt der Bildlichkeit vgl. Telk 2011, S. 583 mit Blick auf die ekphrastischen Elemente der Passage. 39 Dies beachtet Morgan 1991, S. 85f. nicht, der von einer personalen Erzählhaltung ausgeht: Der Erzähler sorgt dafür, dass der Rezipient, anders als die Seeräuber, deren Blickwinkel der Leser mehrheitlich teilt, nicht mit den Sprachproblemen zu kämpfen hat, die eine Verständigung zwischen Seeräubern und Chariklea unmöglich machen. 40 Effe 1975, S. 150. 41 Vgl. für einen genaueren Überblick über den Inhalt die ausführlichere Inhaltsangabe in Anhang 6. 42 Vgl. Whitmarsh 2011, S. 128: »mimetic artefacts possess an unopposable reproductive force, which can exceed mere nature«. 43 Zur dilatatio als »one of the primary features of romance« allg. vgl. Fuchs 2004, S. 15. 44 Vgl. hierzu ebenfalls Fuchs 2004, S. 19: »The narrative thrust of romance is constantly undone by narrative suspension, yet the latter sustains the story even as it postpones resolution.«
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undance of narrative material«,45 die sich am Ende der Haupthandlung um Theagenes und Chariklea unterordnen, ist deshalb die Rezipientenlenkung, die Heliodor dadurch erreicht, dass er sein Erzählen ganz außerordentlich verschachtelt. Nicht nur wählt er den ordo artificialis für seine Geschichte, so dass fast die Hälfte der ›Aithiopika‹ notwendig ist, um das bildmächtige Anfangstableau narrativ einzuholen. Er delegiert das Erzählen zusätzlich an textinterne Instanzen und schafft so eine Multiperspektivität46 ebenso wie eine Verschachtelung bis in die dritte Ebene47 der Erzählung-in-der-Erzählung-in-derErzählung.48 Maßgebliches Werkzeug dieser Erzählorganisation ist das alter ego49 des Erzählers, Kalasiris, ein zwielichtiger ägyptischer Geistlicher, der die Liebenden verkuppelt, ihr Durchbrennen initiiert und organisiert und sie über weite Strecken ihres Weges begleitet. Es ist kein Zufall, dass Kalasiris im Traum von Odysseus heimgesucht wird50, ausführlich über eine ägyptische Herkunft Homers spekuliert51 und so an die homerischen Erzählerqualitäten anknüpfen will.52 Kalasiris hat teil am diegetischen wie am metadiegetischen »universe«53 der Dichtung, er ist Figur der Handlung und zugleich ihr unzuverlässiger Erzähler, seine »mendacity«54 stellt zentrale Probleme der ›Aithiopika‹ ebenso aus wie wichtige Erzählziele: Immer wieder geht es darum, ein textinternes Publikum zu lenken (auch in die Irre), zu begeistern und in den Bann zu ziehen. Das betrifft den (topisch) vergnügungssüchtigen Athener,55 der Kalasiris lauscht oder gar den textinternen Erzähler selbst, der von seiner eigenen Ekphrasis in den Bann 45 Pinheiro 1998, S. 3154. 46 Vgl. Stark 1983, S. 257 zur Erzählperspektive als »Kernproblem« und ebd., S. 265 zum Dichtungseingang bei Heliodor. 47 II.XXX, S. 86 (dt. S. 73). Vgl. auch allg. Holzberg 2006, S. 132. 48 Vgl. Hefti 1950, S. 38 zur Problematik, Erzählerwechsel in der Binnenerzählung des zweiten und dritten Buches zu erkennen. 49 Dieses alter ego, der »heilige[] Schwindler[]« (Paulsen 1992, S. 184) Kalasiris, zieht auch moderne Betrachter in seinen Bann, so z. B. Doody 1997, die S. 99 seinen Tod betrauert: »We have all come to rely upon Kalasiris. He is our guide, philosopher, and friend, our narrator and interpreter« (Kursiv im Original). Fundierter argumentiert Baumbach 2008, S. 183, der auf Anknüpfungspunkte für eine Identifikation mit der Figur des Kalasiris hinweist. 50 V.XXII.1, S. 66, (dt. S. 151). 51 II.XXXIV.5, S. 94, (dt. S. 80) und bes. III.XIIIf., S. 116f., (dt. S. 94f.). Vgl. zu dieser Passage Quack 2005, S. 63 mit weiteren Literaturhinweisen. Zschorns Übersetzung streicht diese Passage ersatzlos, vgl. dazu unten. 52 Vgl. Morgan 1996, S. 436f. zum Odysseus-Bezug. Pointiert formuliert Whitmarsh 2011, S. 114: »›Charicleia and Theagenes‹, then, can be read as the ›Odyssey‹ that Homer would have written had he lived his days on the fertile banks of the Nile.« Zum Homerbezug als konstitutivem Merkmal der antiken Romane allg. vgl. Zimmermann 1997. 53 Pinheiro 1991, S. 79. 54 Winkler 1982, Titel. 55 Zu diesem bis auf Thukydides zurückreichenden Topos vgl. Hardie 1998, S. 24.
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gezogen wird.56 Zudem wird metapoetisch auf die Bühne und ihre Aufführungspraxis Bezug genommen, wenn sich Figuren beklagen, dass der »Bühnenvorhang« zu schnell geschlossen werde57 oder wenn sie betonen, dass eine vollkommene Ekphrasis ein audio-visuelles Spektakel sei.58 Die »schönen Geschichten«59 werden dabei auch mit einer Theorie des Erzählens verknüpft, wenn etwa über den Wert des Neuen im Vergleich zum Bekannten nachgedacht60 und die Wirkweise der Ekphrasis kritisch erfasst wird. Heliodor räsoniert über das Dichten, bezieht sich direkt und indirekt auf Homer61 und auf die Techniken des Dramas, speziell der Tragödie, indem er die Ekphrasis überdeutlich als Stil- und Gattungsmuster zitiert; so schafft er seine eigene Romantheorie und eine Rechtfertigung für sein Dichten. Vor allem die Ekphrasis mit ihrem Effekt, der unmittelbaren, durch enargeia gekennzeichneten Rezeption ist dabei zentral in Theorie wie Praxis von Heliodors Erzählen. Praktisch verschwindet der Erzähler in solchen Ekphraseis (fast) vollständig hinter dem Geschehen, was in der Kombination mit dem homerischen ordo artificialis und der »jigsaw narrativity«62 des »narrative as a riddle«63 ganz neue Möglichkeiten der Rezipientenlenkung eröffnet – und diese werden auch theoretisch reflektiert, etwa im Bühnenbezug oder der Affizierung der Figuren. Ekphrasis ist dabei nicht im Sinne moderner Bildbeschreibung zu verstehen.64 Stattdessen geht es, antik-rhetorisch, um das Generieren von mentalen Bildern im Kopf des Rezipienten, dessen Lektürevorgang durch die enargeia, d. h. die Lebendigkeit der Dichtung eine ganz besondere Unmittel-
56 Hardie 1998, S. 28 umschreibt die entsprechende Passage als Aufrufen von »ekphrastic surrogates for real people«, diese verselbständigen sich in der Erzählung sodann. 57 III.I.1, S. 97, (dt. S. 82). 58 III.II.3, S. 99, (dt. S. 83). Vgl. zu dieser Stelle auch Beil 2010, S. 53f. 59 III.IV.11, S. 105, (dt. S. 87). 60 III.IV.8, S. 104, (dt. S. 86]). 61 Vgl. zur allgemeinen Rolle Homers für den spätantiken Liebesroman z. B. Hunter 2008, S. 832, zu Zitaten allg. Beil 2010. Vgl. auch Whitmarsh 2011, S. 115 zur von den ›Aithiopika‹ insinuierten Gleichung Kalasiris = Homer = Heliodor. Mentz 2006, S. 49 betont, dass Heliodor einen »anti-epic status« hat, mithin die Homer-Anspielungen nutzt, um eine Gegenbewegung zum Epos zu legitimieren. 62 Lowe 2000, S. 245. 63 Morgan 1994 (Titel). 64 Webb 2009 & Webb 1999. Telk 2011, S. 581 listet ältere Literatur zur Thematik auf. Anders wertet der in der germanistischen Mediävistik einschlägige Beitrag von Wandhoff 2003, S. 21, Anm. 5 der das Konzept der Bildbeschreibung, nicht der mentalen Bilderscheinung im Kopf des Rezipienten nutzt. Für meinen Ansatz ist Webbs von den Progymnasmata abgeleitete rhetorische Ekphrasis-Konzeption maßgeblich. Vgl. als Gewährsmann für Wandhoffs Wertung der Progymnasmata auch Becker 1995, S. 2, Anm. 1. Vgl. weiters Bußmann 2011, bes. S. 19–30 zur begrifflichen Unschärfe in der Mediävistik und ebd., S. 65–137 zur Theoriebildung, bes. S. 129–137.
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barkeit erhält.65 enargeia wird in diesem Sinne eingesetzt als »jene Qualität, die für die Anschaulichkeit und Plastizität der literarischen Darstellung bürgt, die den Text nicht nur zum Bild macht, sondern ihn auch in Bewegung versetzt; enargeia, so scheint es, ist die ›Energie‹ des literarischen Textes«.66 So wird nicht nur descriptio geboten, sondern der Rezipient in den Text selbst integriert und emotional ebenso wie rational mit der Handlung verbunden. Er folgt der Handlung, weil er sich von ihr umgeben und in sie einbezogen fühlt. Heliodor gelingt es, »to convert novel-reading from a passive experience to an active one«.67 Diese Dynamik der Spannungserzeugung hat einige moderne Rezipienten soweit gebracht, die ›Aithiopika‹ gar als »a well-constructed detective novel«68 zu lesen: Dies bezeugt zwar die Eindrücklichkeit der Spannungslenkung im Roman, die bis heute ihre Wirkung nicht verfehlt, das Urteil wird aber dem Anspruch der Dichtung nicht gerecht, die mehrdimensional angelegt ist.69 Für Heliodor entscheidend ist die kunstvolle Nutzung von Wissenshierarchien (die in der sog. Warum-Spannung resultiert) einerseits70 und der Wie-Spannung, die zwar auf das Happy End hinweist, dieses aber weiter aufschiebt und den Roman gerade in der zweiten Hälfte ebenfalls als »story that is ›under construction‹« präsentiert.71 Heliodor macht zudem metapoetisch seine Vorgehensweise transparent, gerade indem er die Rolle der Ekphrasis und der Bühnenmetaphorik in die Erzählung selbst mit einbringt und ihre Wirkung vor Augen führt.72 So erhält der Rezipient Einblick in die Verfertigung der rezeptionslenkenden Prozesse, die ihn beeinflussen sollen. Ihm wird gleichsam von der Erzählung der Spiegel vorgehalten und das Verhältnis zwischen Text und Rezipient wird um eine abstrakte Ebene bereichert, die wiederum auf die Rezeption selbst Einfluss 65 Webb 2009 S. 75: »To ›lead someone around‹ (perie¯geisthai) a subject is to relate it more fully, in more detail than simply to ›lead someone through it‹ (die¯gesthai)«. 66 Gödde 2001, S. 246. Grundlegend für die enargeia-Konzeption und den Konnex von enargeia und Ekphrasis ist der Beitrag von Zanker 1981, bes. S. 298. 67 Moore 2011, S. 97. 68 Pinheiro 1998, S. 3170. 69 Vgl. zur Spannung im Kriminalroman allg. Nusser 2009 – es fehlt den ›Aithiopika‹, bei allen (erstaunlichen) Übereinstimmungen im Spannungskonzept der ersten fünf Bücher an zwei zentralen Elementen, die den Detektivroman auszeichnen: Es gibt weder einen Mord noch einen Ermittler. 70 Mentz 2006, S. 50 spricht von einem »pattern of generic misdirection« der ersten Bücher. 71 Nimis 1999, S. 230. Nimis meint damit – produktionsästhetisch –, dass Heliodor seinen Roman z. T. während des Erzählens erfinde (was sich nicht beweisen lässt); ich lese seine Umschreibung rezeptionsästhetisch als Eindruck, den der Text auf den Rezipienten machen will. 72 Vgl. Fuchs 2004, S. 26: »Heliodorus further complicates the narrative exposition by constantly reminding the reader of the tale’s theatricality«.
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nimmt: Die Geschichte zieht den Rezipienten in ihren Bann,73 nicht ohne ihm diesen Umstand immer wieder deutlich vor Augen zu halten,74 Immersion und Reflexion wechseln sich beständig ab. Heliodor treibt auf diese Weise ein transfiktionales Spiel, das die Grenzen der Erzählung bewusst macht, um sie im nächsten Augenblick wieder zu verwischen. Lange Zeit hat die klassische Philologie deshalb aus den ›Aithiopika‹ Leseanleitungen destillieren wollen. Diese mündeten in prototypische Modellfiguren wie den »romantic reader«75 oder auch die Vorstellung, dass der Autor sich sein Spiegelbild als Rezipienten suche.76 Auch die Aufführung realer Rezeptionssituationen ist in den Text hineingelesen worden.77 Erst mit Whitmarshs These vom Lesen als Begehren und der Annahme, dass Heliodor in den ›Aithiopika‹ eine emotionale wie rationale Haltung des Lesers zum Text intendiere und diese als interagierende Rezeptionsmodelle in die Narration einwebe, ist die metapoetische Relevanz der Konzeption Heliodors erkannt worden.78 Der Text wird durch seine Komposition zur »»ultimate« romance«.79 Hier wird das Tor zu einer Romanpoetik (und Romanpraxis) aufgestoßen, die das Romanschreiben im Vergleich zu Heliodors Vorgängern neu interpretiert als Hinwendung zu einem Rezipienten, der umworben, geführt und beeindruckt werden will und der in ein vorkonstruiertes narratives Universum eingebunden wird. Bereits Crusius betont in seiner ›Epitome‹, dass bei Heliodor delectatio und utilitas gleichzeitig auftreten,80 und diese Kombination ist in der spezifischen Ausformung der ›Aithiopika‹ ein innovativer Impuls, der über Jahrhunderte trägt, mit dem sich Theoretiker und Praktiker auseinandersetzen, den sie weiterentwickeln und an dem sie sich reiben. Denn die Dichtung oszilliert zwischen Immersion und metapoetischer Selbstschau, sie kombiniert die unterschiedlichen Formen der Spannung gekonnt und präsentiert sich über weite Strecken als
73 Dies konstatiert auch Morgan 1982, S. 261, der allerdings die theoretisierende Ebene von Heliodors Darstellung nicht berücksichtigt. 74 Während die Erzählerfigur damit in dem Bereich zu verorten ist, den Kayser 1954, S. 430 »unpersönlich[…]« genannt und dem Epos zugeordnet hat, ist die Rezipientenbindung eine dezidiert romanhafte, bei der »wir uns als […] Leser selber zuschauen« (ebd.). Ein Romanerzähler im Sinne des modernen Romans ist nach Kayser der »persönliche Erzähler mit seinem persönlichen Blick auf das Dargestellte und seinem persönlichen Verhältnis zu dem (fiktiven) Einzelleser« (ebd., S. 431). 75 Winkler 1982, S. 139. 76 Pinheiro 1991, S. 74. 77 Bartsch 1989, S. 121, vgl. auch Morgan 1996, S. 443, der von der »emblematic significance« der Aufführungssituation in der Szene zwischen Kalasiris und Knemon spricht. 78 Whitmarsh 2011, S. 173. Vgl. auch Hardie 1998, S. 30 zu den »erotics of narrativity« (Begriff nach Halperin), die in der Spannung zwischen dilatatio und d8nouement angesiedelt sind. 79 Whitmarsh 2011, S. 135. 80 Crusius, Epitome, Widmungsepistel, S. 6f.
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ein Rätsel, das die Rezipienten zu lösen haben, um das Ende der Geschichte zu erfahren. Das bedeutet eine grundsätzlich andere Aufstellung als im ›Wilhelm von Österreich‹ oder der ›Magelone‹: Denn anders als im Minne- und Aventiureroman wird der Rezipient nicht Mitgestalter des Dichtungssinnes, ist er nicht integraler Bestandteil der Werkpoetik, der vervollständigend, ergänzend und kombinierend mithilft, das Werk als Ganzes vor seinem Auge und seinem Geist entstehen zu lassen. Heliodor gründet den Sinn des Werkes im Werk selbst, der Rezipient ist aufgerufen, es zu entschlüsseln und sich zu erschließen. Der Kosmos, in den er sich dabei begibt, ist in sich abgeschlossen und muss erarbeitet werden, er ist nicht grundsätzlich offen oder dazu geeignet, in neuen Aktualisierungen je neue Schwerpunktsetzungen zu erfahren. Der Weg durch die zehn Bücher spannungsreich und mitreißend, intellektuell anspruchsvoll und herausfordernd, aber eben in vorgezeichneten Bahnen, der Text ist »minutely scripting the responses of its implied reader«81 und lässt Irrwege nicht zu. Die inferentielle Kommunikation zwischen Text und Rezipient wird gleichsam eingehegt in einem literarischen Universum, das sich durch eigene Komplexität auszeichnet und durch nichts an die außertextliche Realität angeschlossen erscheint. Ist ein Text wie der ›Wilhelm‹ inferentiell strukturiert in dem Sinne, dass der Rezipient an der Sinnstiftung mitwirkt, geht es in den ›Aithiopika‹ darum, den Sinn zu rekonstruieren. Das klingt im ersten Moment nach einer Reduktion im Vergleich zum »mittelalterlichen« Erzählen, in Wirklichkeit handelt es sich um eine Innovation: Heliodor setzt nicht nur ein literarisches Universum, er macht es auch metapoetisch dergestalt transparent, dass der Text kein praxeologisches Wirkziel benötigt, um sich zu legitimieren: Wir greifen mit den ›Aithiopika‹ einen Roman, der in den Bann zieht und zur immersiven Lektüre einlädt. Gleichzeitig gibt das Werk sich als Kunstform zu erkennen, das ist notwendig, um die neue Gattung durch den Rekurs auf die etablierten Gattungen Epos und Drama zu legitimieren und mit einer gewissen Dignität zu versehen. Das Wechselspiel zwischen Immersion und Distanz wird zum Selbstzweck, der Nachvollzug der Dichtung zieht seinen Sinn aus sich selbst und weist voraus auf ästhetische Konzepte der Neuzeit. Mit dieser Neuaufstellung verliert auch die Idee einer Verkürzung oder Vergrößerung (Hypo- bzw. Hyperplasie) ihre Bedeutung: Der Text ruht in sich, er lagert die Sinnstiftung weder durch Vervollständigung noch durch Reduktion des narrativen Angebotes in die Rezeption aus. Die Rolle des Rezipienten wird damit grundlegend neu definiert: Er bewegt sich im abgeschlossenen Raum der Dichtung, die ihn in ihren Bann zieht und ihm zugleich deutlich macht, dass er es mit einem Kunstwerk zu tun hat; er interagiert mit 81 Morgan 1991, S. 99.
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dem Text und legt ihn nach Beendigung der Lektüre (die für die ›Aithiopika‹ als dominierende Rezeptionsform vorausgesetzt werden darf) zur Seite. Das bedeutet nicht, dass es keine Anspielungen auf außertextliche Sachverhalte, keine Allusionen im Spannungfeld der »Trias von Historie, Topographie, und vita et mores« geben würde, allein es fehlt der praxeologische Anspruch, die Dichtung für die Realität nutzbar zu machen – stattdessen inkludiert Heliodor Weltwissen in seinen Text und funktionalisiert es im Dienste seiner narratio.82 Es bedarf deshalb einigen Aufwandes, um diese Neudefinition der Rezipientenrolle im 16. Jahrhundert paratextuell einzuhegen und so zugänglich zu machen, dass die ›Aithiopika‹ nicht nur als Faszinosum, sondern auch – im traditionellen praxeologischen Denkzusammenhang – als nützliche Dichtung gelesen werden können.
Die ›Aithiopika‹ als innovative Dichtung im 16. Jahrhundert und der deutsche »Sonderweg« Die europäische Wiederentdeckung Heliodors Das lateinische Mittelalter kennt Heliodor nicht. Antike Liebesromane allgemein, ihre Muster und Strukturen sind allerdings indirekt über die apokryphen Apostelakten und direkt über den Apollonius-Stoff sowohl auf Latein als auch auf Deutsch im späten Mittelalter präsent:83 allgemein im Minne- und AventiureRoman, konkreter in spezifischen Werken wie dem ›Wilhelm von Wenden‹ oder der ›Guten Frau‹ –84 auf die hellenistischen Elemente der ›Magelone‹ und die Anklänge im ›Wilhelm‹ habe ich bereits hingewiesen. Die Kennzeichen der ›Aithiopika‹, die den Text vor den anderen Romanen der griechischen Antike auszeichnen, sind damit aber nicht ausreichend erfasst, denn der Roman Heliodors geht auch weit über das hinaus, was die anderen antiken Romane bie82 Neuber 1991, S. 45, hier zitiert nach Eming 2013, S. 263. 83 Vgl. dazu zuletzt Röcke 2013 und zuvor bereits Röcke 2009 sowie Röcke 2010, außerdem Weitbrecht 2010 und Weitbrecht 2011, S. 29–59, bes. S. 30–33 zur Forschungsgeschichte sowie Weitbrecht 2012, S. 65, Anm. 12 zu älterer Literatur, z. B. mit Verweis auf die Studie von Söder 1969 (dort S. 1–3 die Vorkriegsliteratur zum Thema). Vgl. weiters Morgan 1982, S. 265 sowie ausführlich mit Blick auf strukturelle Ähnlichkeiten der Texte Konstan 2010, bes. S. 252 und S. 265. Vgl. außerdem Lindhorst 1955, S. 32, der die Rolle der ›Apollonius‹-Texte als gering einschätzt. Zu den Apostelakten vgl. auch Aubin 1998; zurückhaltender in Bezug auf die Korrelation zwischen antikem Roman und christlicher Literatur der Spätantike argumentiert Thomas 1998, vgl. hier auch den Forschungsüberblick auf S. 273, Anm. 1. Vgl. weiters Konstan 2009 und Lienert 2001, S. 12f. 84 Vgl. zu den Motivkorrespondenzen, vermittelt über die Eustachiuslegende, z. B. Honemann 1993.
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ten,85 er überbietet die antike Tradition. Erst ab 1534 wirkt Heliodor mit seinem rezeptionsästhetischen Quantensprung auf die europäische Literatur. Das geschieht nicht kommentarlos oder unreflektiert; bereits mit der editio princeps beginnen Vereinnahmung und Sinnzuweisung, wird also versucht, explizit zu machen, was der Text ursprünglich selbst in seiner Struktur aufgehoben hatte. Heliodor wird in die zeitgenössischen Legitimierungs- und Nutzbarmachungskontexte eingepflegt, um ihn verständlich zu machen. Die Widmungsbriefe der verschiedenen Ausgaben entwickeln das Bild der nützlichen Unterhaltung, die der Roman zu bieten vermag, und sie etablieren die Geschichte als besonders reizvoll durch ihren Spannungsaufbau, ihre Leserlenkung und die Vermischung von Erfundenem und Wahrem. Der historia-Anteil wird dabei überproportional betont. Das beginnt mit der Widmung der editio princeps durch ihren Herausgeber Vincentius Obsopoeus an die Nürnberger Senatoren und noch stärker für die Widmung der lateinischen Übersetzung des Stanislaw Warschewiczki.86 »Much more than Obsopaeus, Warschewiczki thoroughly politicises Heliodorus, using his model of kingship as a propagandist icon«.87 Im Französischen wiederum geht Amyots Romanpoetik88 einen anderen Weg,89 denn der französische Übersetzer hebt nicht nur delectatio, sondern auch den ebahissement, also die Verblüffung des Rezipienten als Effekt des Romans hervor: Die Verblüffung wird in der Folge zum zentralen Differenzkriterium, das den wiederentdeckten antiken Roman mit seinen Nachahmungen vom bekannten mittelalterlichen Roman unterscheidet.90 Heliodor wird unter diesen Auspizien im 16. Jahrhundert schnell populär, und seine Berühmtheit reicht weit, sowohl im lateinischen als auch im volkssprachigen, im theoretischen wie im praktischen Bereich. Der Nutzen der Dichtung ist dabei ebenso zentral wie ihre Formkunst, Scaliger z. B. nennt die ›Aithiopika‹ das Muster epischer Dichtkunst (III,95),91 auch Huet erkennt den Modellcharakter des Romans, ebenso wie die Mehrzahl der französischen Theoretiker des 17. Jahrhunderts.92 So kommt eine intensive Diskussion über die 85 Vgl. z. B. auch Moore 2011, S. 96. 86 Vgl. dagegen Crusius, Epitome, Widmungsbrief, S. 5, der die Glaubwürdigkeit des komplett erfundenen Stoffes als besondere Qualität betont. 87 Skretkowicz 2010, S. 115. 88 Vgl. Plazenet 1997, 2002, 2008 aber auch die einschlägigen Beiträge von Stone 1979, Berger 1984, Reeve 2008, S. 287 u.a.m. 89 Plazenet 2002, S. 268, vgl. auch Stone 1979, S. 322. 90 Dass Amyot damit gegen Warschewiczki und auch Obsopoeus das philosophische Element unterbelichtet und einen »lighter approach« wählt, betont Skretkowicz 2010, S. 22. 91 Vgl. Möckel 2007, S. 144. Scaliger schreibt: Quem librum epico [scl. Aethiopica historia Heliodori] poetae censeo accuratissime legendum ac quasi pro optimo exemplari sibi proponendum. 92 Vgl. dazu Esmein 2004, S. 25.
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Dichtung zustande, die auch Ausdruck in Crusius’ ›Epitome‹ findet, die 1584 nicht allein Ausschnitte des Textes, sondern eine lateinische Kommentierung und Aufbereitung des Stoffes bietet. Die deutschsprachige Tradition allerdings hat nichts aufzuweisen, was an die theoretische Durchdringung Amyots und Crusius’ heranreichen würde oder mit derselben autoritativen Deutlichkeit wie Scaligers Poetik wirken könnte. Diese theoretische Lücke ist programmatisch, denn offenkundig gibt es im 16. Jahrhundert, wie auch in den Jahrhunderten davor, kein Bedürfnis, eine Romanpoetik abseits des konkreten Textes zu formulieren. Zumindest eine Vorrede, eine Widmung oder eine andere paratextuelle Hinführung zu diesem besonderen Werk, das Johannes Zschorn 1559 ins Deutsche übersetzt, wäre allerdings zu erwarten. Der deutsche Übersetzer unterläuft all diese Erwartungen und präsentiert den Stoff in einem für die Heliodor-Rezeption des 16. Jahrhunderts ungewöhnlichen Gewand: als einfache historia.93 Diese Ausrichtung lohnt einen genaueren Blick, der vom Übersetzer seinen Ausgang nehmen und über die Paratexte der Ausgabe hin zur eigentlichen Übersetzung führen soll.
Zschorns Übersetzung und ihr paratextueller Rahmen Johannes Zschorn gehört nicht zu den prominenten Übersetzern des 16. Jahrhunderts. Er ist – abgesehen von den ›Aithiopika‹ – nicht als Übersetzer antiker Romane in Erscheinung getreten, anders als z. B. Amyot, der 1559 auch Longos ins Französische übertrug.94 Das Meiste von dem Wenigen, das über Zschorn bekannt ist, geben die Vorreden zu den ›Aithiopika‹ und zu seinen beiden anderen Werken über ihn preis;95 neben dem Roman Heliodors hat er auch Bartolomej Georgijevic´s ›De afflictione tam captivorum quam etiam sub Turcae tributo viventium Christianorum‹ unter dem Titel ›Tuercken Buechlin‹ (VD 16 D 3017) übersetzt (gedruckt 1558 in Straßburg von Messerschmidt, der auch die deutschen ›Aithiopika‹ veröffentlichte), weiters eine ›Chronica oder Kayserbüchlein‹, 1559 ebenfalls bei Messerschmidt gedruckt.96 Ob dies alle der etliche[n] Opuscula sind, auf die die ›Aithiopika‹-Vorrede [A ijv] mit diminuierendem Understatement verweist, lässt sich allerdings nicht mit letzter Gültigkeit sagen; wir greifen, so viel ist sicher, nur eine kurze produktive Zeit eines 93 Es gibt strukturelle Parallelen zwischen der paratextuellen Einhegung der ›Aithiopika‹Übersetzungen ins Englische und ins Deutsche, vgl. dazu von Contzen 2016 und Seeber 2016 – die ›Aithiopika‹ haben allerdings im Englischen wesentlich breiteren Einfluss entfalten können, vgl. dazu allg. Mentz 2006. 94 Vgl. dazu Plazenet 2002, S. 246. 95 Zu Zschorn allg. vgl. auch Seeber 2017. 96 Beide Texte sind online verfügbar, s. dazu den Hinweis im Literaturverzeichnis.
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Autors, der mit einem literarischen Zentrum des 16. Jahrhunderts, Straßburg, in engstem Kontakt stand, welche Konsequenzen das für seine Biographie hatte, welche Kenntnisse er erwarb, lässt sich nicht aus seinen Werken schlussfolgern. Die Forschung hat ihn von Anfang an als mediokre Gestalt eingeordnet und ihm wenig Beachtung geschenkt.97 Lafond-Kettlitz hat die spärlichen Erkenntnisse zur Biographie Zschorns zusammengefasst98 und zeichnet das Bild eines um 1520 in Eilenburg geborenen Lateinschülers und späteren Autodidakten. In den 1530er Jahren hat er sich wohl in Straßburg aufgehalten, 1556 konnte er, begünstigt durch die Entwicklungen der Reformation, eine Stelle als Diakon in Westhofen im Elsass antreten. In der Vorrede zum ›Tuercken Buechlin‹ gibt sich Zschorn weitgereist und sprachkundig, was ihn auch als Übersetzer eines Werkes über fremde Völker qualifiziere: das ich derselben land etlich gesehen / darinn gewesen / auch mehr sprachen dann Teutsch (ohne rhuom geredet) gelernet, dennoch äußert er im selben Zusammenhang Skrupel davor, einen lateinischen Text zu übersetzen: vnd wiewol ich mich zuo klein fueg / nicht genuogsam geleret darzuo befunden / hab ichs doch gewogt / vnnd dem sprichwort gefolget /»Audaces fortuna iuuat«.99 In der Vorrede zu den ›Aithiopika‹ weist Zschorn ebenfalls topisch auf seine beschränkten Übersetzermöglichkeiten hin, was ihn aber – im einen wie im anderen Falle – nicht von der Arbeit abgehalten hat. Dominierend ist in allen Vorreden jedoch das biographische Element: In der Widmung der ›Aithiopika‹ weist er auf eine schwere Krankheit hin, die ihm das Reisen aus schwaeche meines leibs (Vorred, [A iijr]) unmöglich mache, für 1560 ist sein Tod urkundlich belegt.100 Auch im ›Kayserbüchlein‹ ist von einer (allerdings überstandenen) langwierigen Krankheit die Rede, die Zschorn dem Adressaten seiner ›Vorred‹, Jonas Graner, seinem Gönner, noch einmal in Erinnerung ruft. Er zeichnet das Bild des angeschlagenen, gleichwohl viel beschäftigten Mannes, der auf umfangreiche Lebenserfahrung zurückblicken kann. Diese Verbindung von Leben und Werk lädt dazu ein, Zschorns Arbeit gering zu schätzen und seine paratextuelle Aufarbeitung der übersetzten Texte als – gerade im Vergleich mit den zeitgenössischen Diskussionen, die in Widmungen sonst geführt werden – unterkomplex abzutun. Um Zschorns Arbeit allgemein und den Paratexten der deutschen ›Aithiopika‹ im Speziellen gerecht zu werden, ist es aber notwendig, diese Paratexte einer genaueren Prüfung zu unterziehen. 97 Teichmann 1905, S. 2 begründet seine biographischen Bemühungen lokalgeschichtlich und aus dem Bedürfnis einer Vollständigkeit der literarischen Reihe, an deren Spitze Brant, Murner und Fischart zu stehen hätten, deren Ende jedoch Zschorn bilden müsse. 98 Lafond-Kettlitz 2005, S. 187f. Sie wertet hierfür Nessmann 1917 und Teichmann 1905 aus und berücksichtigt (wie ihre Vorlagen) die Vorrede des ›Tuercken Buechlin‹ nicht. 99 ›Tuercken Buechlin‹, ›Vorred‹, [A ijv]. 100 Schäffer 1984, S. 15*.
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Zschorns Übersetzung ist in ihrer Wirkintention und in ihrem poetischen Anspruch anders angelegt als Amyots oder Warschewiczkis Text, das macht der paratextuelle Rahmen der deutschen ›Aithiopika‹ von Anfang an deutlich. Zschorns Idee vom Paratext ist dabei zugleich weiter und enger als die Vorstellung, die man sich seit Genettes Buch über die Schwellen zum Text gemeinhin macht. Enger ist sie deshalb, weil Genettes komplizierte Aufschlüsselung von Peri- und Epitext, also näherem und weiterem »Umfeld des Textes«101 mit zeitlichen Abstufungen und Authentizitätsklassifizierungen nicht greift: Wir haben es in Zschorns ›Aithiopika‹ mit dem Text des Übersetzers zu tun (den der Übersetzer nicht vom Autortext trennt). Diesem Text sind vom selben Übersetzer Anmerkungen der unterschiedlichsten Art und Weise beigegeben: Das Ich der Vorrede ist auch das der Marginalien, der Verfasser der Vorrede zeichnet auch für die Inhaltsangabe des Registers, das der Übersetzung vorangestellt ist, verantwortlich. Das lässt sich nicht durch eine namentliche Kennzeichnung dieser Paratexte belegen; doch zumindest für die Marginalien ist aufgrund ihrer für Zschorn typischen Hinweise auf Krankheiten eine solche Verbindung relativ leicht plausibel zu machen (vgl. dazu unten). In diesem Bereich ist Zschorns Idee des textbegleitenden paratextuellen »Beiwerks« weiter gefasst als die detaillierte Auflistung Genettes: Er bietet neben Titel und Vorrede auch eine allgemein gehaltene Inhaltsangabe, die er ›Register‹ nennt; zudem unterteilt er die zehn Bücher der ›Aithiopika‹ selbständig und von der griechischen Anlage unabhängig in Kapitel, denen er erklärende Überschriften beigibt. Und er ergänzt zusätzlich den Text um marginale Anmerkungen – eine Kategorie, die Genette nicht kennt. Der »auktoriale Valorisierungsdiskurs«102 ist umfassend angelegt, der Paratext umspannt wie ein Korsett den Körper des Textes, er begleitet den Leser zur Lektüre103 und durch die Lektüre hindurch.104 Der Übersetzer Zschorn ist in den Paratexten durchgehend als gliedernde, wissensvermittelnde105 und den Textsinn aufschlüsselnde Autorität präsent und erhebt einen dialogischen Anspruch: Dem Roman wird eine weitere Stimme hinzugefügt, die den Rezipienten direkt anspricht,106 das verleiht Zschorns Übertragung ein eigenes, distinktes Gepräge.107
101 Genette 2001, S. 12. 102 Genette 2001, S. 201. 103 Wagner 2008, S. 135 betont, dass Rezipientensteuerung auch vor Beginn der Textlektüre anhand von Paratexten betrieben wird, da der zu erwartende Inhalt nicht nur vorgestellt, sondern auch qualifiziert und in seiner Attraktivität hervorgehoben wird. 104 Zur Textgliederung als Erleichterung der Lektüre allg. vgl. Chartier 1985, S. 268. 105 Eming 2013, S. 265 nennt Zschorns Anspruch mit Bezug auf Müller 1985, S. 26 den der Wissensvermittlung. 106 Dies in Anlehnung an Eming 2013, S. 266f., sie rekurriert mit der Formulierung von der »Dialogisierung von Wissensformen« (ebd., S. 267) auf das Romankonzept von Bachtin.
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Zschorn übersetzt108 aus dem Lateinischen (der Titel benennt dies konkret: Aus dem Griechischen ins Latin / vnnd yetzundt newlich ins Teutsch bracht), und es kommt hierfür nur die 1559 einzig verfügbare Edition Warschewiczkis als Vorlage in Betracht.109 Ergebnis dieser Bemühungen ist ein Translat (im Sinne von Reiss und Vermeer als eine kulturelle ebenso wie eine sprachliche Leistung), das Rezeptionsliteratur110 jenseits einer »einfachen« Übersetzungsleistung darstellt: Zschorn appropriiert111 und rekonstruiert112 den Text für die Zielsprache,113 und seine paratextuelle Rahmung der ›Aithiopika‹ trägt maßgeblich dazu bei, dieses Ziel zu erreichen. Zschorns Übertragung will gleichwertig neben dem Original stehen; folgerichtig fällt weder der Name Warschewiczkis noch der Heliodors in den Paratexten,114 es geht allein um Zschorns Aufbereitung der ›Aithiopika‹ für ein Publikum, das hier mit einem Text konfrontiert wird, den es so in der deutschen Literatur noch nicht gegeben hat.115 Die Kombination aus Paratext und Text gibt der Übersetzung in der Ausgabe von 1559 zudem einen besonderen Status, der nun zu erhellen ist.
›Vorred‹ Zschorns Vorrede zu seinen ›Aithiopika‹ enttäuscht auf den ersten Blick durch ihre Theorieferne. Er will durchaus mehr bieten als nur eine schoene vnnd Liebliche Histori (Titel), macht aber nicht explizit, was genau das sein soll. Genau
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Vgl. zur Modifizierung von Bachtins Abenteuerzeitkonzept in den ›Aithiopika‹ auch Eming 2017, S. 100. Lindhorst 1955, S. 8 wertet die Marginalien ebenso wie die Vorrede Zschorns als Ausdruck des Umstandes, dass er dem höfischen Roman fern steht und »dem Geiste Heliodors« widerspricht. Vgl. zur Frage nach dem geistesgeschichtlichen Rahmen, in dem Zschorns Übersetzung entsteht, den Überblick in Bußmann (Hg.) 2005 und besonders Toepfer 2005. Vgl. Schäffer 1984, S. 11*. Roloff 2012, S. 18f. mit Bezug auf Reiß/Vermeer 1991. Dies im Rekurs auf Möckel 2007, S. 140, der den Begriff von Klaus Reichert übernimmt. Dies wiederum gegen Möckel 2007, S. 140, der mit Reichert nur den appropriierenden Charakter der Übersetzungsleistung betont. Schäffer 1984, S. 18*. Vgl. zur Differenz von Übersetzung und Überarbeitung (in deren Rahmen auch die Umarbeitung semantisch steht) Schlelein 2009, S. 170–174, bes. S. 171. Vgl. weiters allg. Burke 2007, S. 91: »Translators aimed at domestication, making the text intelligible and relevant to the reader at the expense of its foreign qualities.« In dieser Hinsicht ergänzt Zschorns Herangehensweise die Möglichkeiten, die Schnell 2007, S. 87, Anm. 71 für das Verhältnis zwischen Nennung von Autor- und Übersetzernamen im 16. Jahrhundert aufführt (v. a. Verschweigen des Autornamens, der dem informierten Publikum sowieso bekannt ist). Hier geht es um das absichtliche Ausblenden eines nicht bekannten Autornamens. Vgl. auch Schäffer 1984, S. 31*. Zur Anbindung der deutschen ›Aithiopika‹ an die anderen Antikenübertragungen des 16. Jahrhunderts s. u.
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diese theoretische Schweigsamkeit macht es schwer, Zschorns Intention aus seinen Paratexten herauszudestillieren. So ist die ›Vorred‹ ein Widmungsschreiben nicht an einen Gönner, sondern an die Vettern des Übersetzers, die er krankheitsbedingt nicht besuchen kann und denen er schöne Grüße aus dem Elsass sendet. Zschorn biographisiert, woraus die Forschung auf sein Heimweh116 und ein Arbeiten »plutit par plaisir personnel que par ambition sociale«117 geschlossen hat. Viel eher aber geht es in der Vorrede darum, das paratexuelle Genre zu persiflieren.118 Zschorn macht sich auf diese Weise über die Ernsthaftigkeit lustig, mit der die ›Aithiopika‹ behandelt werden (etwa bei Warschewiczki, aber auch bei Amyot und Obsopoeus). Zu diesem Zwecke vermengt er implizite poetologische Anspielungen und Topoi zu einer Vorrede ganz eigener Art. Er will den Text übersetzt haben, weil er ihn auf Latein zur Verfügung hatte und ihm die Geschichte gefiel, die Übertragung ins Lateinische ist dabei das entscheidende Qualitätskriterium neben der eigenen, persönlichen Präferenz. Das ich aber dise Poetische Histori / vnnd nichts anders für mich genummen / thuot dis / das mich für guot angesehen (dieweil sie aus dem Griechischen ins Latein transferiert ist) sie sey auch werdt in das Teutsch zuobringen / welches ich aus einfeltigem verstandt mein vermoegen gethan […] (›Vorred‹, [A iijv]).
Der Sinn und Zweck der Übersetzung soll der Nutzen für Alt und Jung, Mann und Frau, schlichtweg für alle Menschen aller Stände daheim und in der Fremde sein: […] das diese Poetische Histori / souil schoener Moralia in sich hatt / welche hohem vnnd niderm stand / Alten vnnd Jungen / ihre tugend vnd laster anzeigen / vnnd guote lehr geben / wie beide junge gesellen vnd junckfrawen / sie seyen bey ihren aeltern oder in der fremde / einen feinen züchtigen / keuschen vnnd frommen wandel fueren sollen / welches Gott gefellig / vnd ihnen nütz vnd glücklich ist / auch wie man sich in glück vnd vnglück / in lieb vnnd leid / vnder feinden vnd freunden halten soll. (›Vorred‹, [A iijr]).
Mit beiden Stellungnahmen sagt Zschorn nichts aus, was über Topik und Understatement hinausgehen würde. Wo Amyot und Warschewiczki philologische Hemmschwellen und eine Erwartungshaltung des Rezipienten und an den Re116 Vgl. Röcke 1993a, S. 343: »[Die Vorrede] eröffnet über die weite Distanz die Fiktion eines persönlichen Gesprächs, das realiter gerade wegen der faktischen Trennung der Gesprächspartner nicht möglich ist, an dem aber auch noch der Leser des Romans teilhaben soll. […] Zschorns vorrangiges Interesse also, zumindest die Fiktion einer unmittelbaren und personalen Bindung an Freunde und Familie aufrecht zu erhalten, ist nur außerordentlich widersprüchlich realisierbar«. Zum Aspekt der Dauerhaftigkeit und Bindung, der von Handschriften gewährleistet und im Zeitalter des Buchdrucks problematisch wird, vgl. allg. Müller 1988a, S. 215. 117 Lafond-Kettlitz 2005, S. 188. Ähnlich wertet Röcke 1993a, S. 343. 118 Vgl. zu Zschorns parodistischem Ansatz Seeber 2016.
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zipienten aufbauen, stapelt Zschorn tief. Der abstruse Einfall, die Vorrede als eine Art Postkarte an die Verwandtschaft zu nutzen, ist dabei als literarisches Spiel zu sehen. Der Paratext stellt Zschorn als überaus erfolgreichen Autor vor (was er nach dem heutigen Kenntnisstand nicht gewesen sein kann), der für seine launige Vorrede einen Zoilus fürchtet, die Homergeißel (Home¯rom#stix),119 ein topischer Hinweis, der im 16. Jahrhundert oft zu finden ist und sprichwörtlich für den überkritischen, mäkelnden Leser steht: Were aber das etwan ein Zoilus diese Epistolam Dedicatoriam euch oder mir / Per Petulantiam vel Arrogantiam auffzwacken wolt / als ob ich vnser geschlecht vnnd freundtschafft wol berhuempt vnnd kantlich machen wolt / (wie ich mit ehren wol befuegt) ist meines vorhabens nicht / dann ihr sunsten gnuogsam kantlich (›Vorred‹, [A iijvf.])
Die Überheblichkeit des eigenen Berühmtheitsanspruches wird aufs Korn genommen, Zschorn macht sich über die Übersetzerarbeit lustig, gerade auch, indem er den gelehrten Verweis auf Homer einfügt und so seine Vorrede an den Diskurs Heliodors zurück bindet, mithin seine humanistische Bildung durchscheinen lässt. All dies erweckt den Eindruck einer absichtlichen Reduktion von Komplexität, eines gewollten Einreißens von Rezeptionshürden. Der Text wird als gewöhnliche Übersetzung vorgestellt, deren Übersetzer zudem nichts besonders Schwerwiegendes zu sagen hat. Die theoretische Blässe der Vorrede von 1559120 ist vor dem Hintergrund der Bemühungen Warschewiczkis und Amyots als programmatische Stellungnahme und Vereinfachung zu lesen, mithin als bewusst niedrig gewählte Schwelle im Sinne Genettes: Zschorn lädt mit einer Mischung aus Unernst und Konventionalität zur Lektüre eines außerordentlichen und epochalen Textes ein.
Register Den in der Vorrede topisch weit gefassten Anspruch, Nutzen zu bringen,121 füllen die folgenden Paratexte konkreter aus; die Bewegung geht dabei vom Allgemeinen zum Speziellen. Das ›Register‹ unter dem Titel Ein kurtzer Innhalt dieser Historien durch alle Buecher vnnd Capitel macht den Anfang ([A iiijv] – [Aviijv]). 119 Vgl. Matthaios 2002, Sp. 825. 120 Der Text erscheint 1559 in Straßburg; die immer noch kursierende Datierung 1554 (so auch bei Riedel 2000, S. 66) beruht auf einem Lesefehler der Datierung in der Vorrede, wo M D Liv statt richtig M D Lix gelesen wurde, was der geschweiften x-Type des Druckers Messerschmidt geschuldet ist. 121 Das macht den Anspruch von Zschorns Übersetzung dem von Heliodor dem Text eingeschriebenen und auch von Underdowne übernommenen Impetus ähnlich, vgl. Mentz 2006, S. 41.
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Es teilt die Geschichte in kleine Portionen ein, zugleich wird ganz basal die Handlung skizziert, sogar ohne Namen zu nennen: Es agieren Junckfraw, Jüngling, magt, alter mann etc.122 Die Lektüre des Textes ersetzt die Durchsicht dieser Zusammenfassung nicht, vielmehr geht es darum, die Aufmerksamkeit der Leser zu erregen. Sogar das Happy End wird zwar allgemein vorweggenommen, aber nicht detailliert ausgeführt, es bleibt bei der allgemeinen Beruhigung, dass alles gut gehen wird.123 So meistert Zschorn den Spagat zwischen notwendiger Basisinformation und dem Spannungserhalt für die Lektüre, und auf diese Weise stellen sich die ›Aithiopika‹ in Opposition zu dem z. B. von Spalatin hochgehaltenen didaktisch-moralisierenden Muster, dass kein lust noch freude auff erden ewig ist (Müller 591,19): Im nicht mehr praxeologischen Universum der ›Aithiopika‹ ist das weltliche Happy End problemlos zu rechtfertigen, die Geschichte dient der Unterhaltung, nicht der moralischen Erbauung ihrer Rezipienten. Die Zugangsmöglichkeit zum Text via Inhaltsangabe unterscheidet Zschorns Konzept grundsätzlich124 von dem seiner Vorlage, die einen Index bietet:125 Warschewiczki listet hier, alphabetisch geordnet, Namen, Handlungsschritte, Textdeutungen und verallgemeinernde Einschätzungen auf, die unterschiedliche Nutzungen seiner ›Aitiopika‹ erlauben. Man kann Passagen finden, in denen einzelne Figuren auftauchen, man kann aber auch Exempla für das Wirken der Liebe und die Launen des Schicksals nachschlagen – der Text wird (selektiv) verschlagwortet und für die handlungsorientierte ebenso wie für die abstrahierende Rezeption aufbereitet. Der Index arbeitet den Schwerpunkten zu, die Warschewiczki bereits in seiner ›Praefatio‹ nennt: er weist die uirtutum imagines, die laus fortitudinis und geographische Exempla aus und versucht so, den Nutzwert des Textes zu steigern – auch wenn sein Index nicht den modernen Vorstellungen an Vollständigkeit genügen kann.126 Zschorn setzt im Register wesentlich basaler an, da es ihm um einen Einstieg und ein erstes »Kennenlernen« der Geschichte zu tun ist, bevor der Text beginnt. 122 Vgl. auch Eming 2013, S. 266. 123 wie nach vil kummer vnnd truebsal alle freud vnd wolust kumpt / dessen sich niemandt versehen hatt (A viijv). Schäffer 1984, S. 19* weist darauf hin, dass die Kapitelüberschriften im Werk selbst sodann »der zunehmenden Lesereinsicht in den Gang der Handlung Rechnung« tragen, mithin ebenfalls auf eine aktive Beteiligung des Rezipienten ausgerichtet sind, dessen Lektüre der ›Aithiopika‹ als Prozess wahrgenommen wird. 124 Dies gegen Eming 2013, S. 265, die Zschorn hier als Fortsetzer einer paratextuellen Praktik von Warschewiczki sieht. 125 Vgl. Doody 1997, S. 238 zur grundlegenden Bedeutung des Index in der lateinischen Ausgabe. 126 Das ist auch nicht der Anspruch, der an ihn gestellt werden darf – wesentlich wichtiger ist die Rolle, die der Index als enzyklopädische Aufschlüsselung der ›Aithiopika‹ spielt, im Sinne von Doody 1997, S. 238 als »a mine of information«.
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Das auszeichnende Kriterium seiner Übersetzung ist dabei auch die Unterteilung der z. T. recht langen Bücher in einzelne Sinnabschnitte, für die sich im lateinischen Text keine Vorlage findet; auch dies ist eine Methode, um den umfangreichen und komplexen Text leichter verständlich zu gestalten. Es handelt sich damit keineswegs ein bloßes Herrichten der ›Aithiopika‹ nach »den Usancen des Buchdrucks«,127 sondern ganz im Gegenteil ein Alleinstellungsmerkmal Zschorns in der frühneuzeitlichen Heliodor-Tradition, das Signalwirkung für die Rezeption hat: Hier wird ein grundsätzlicher, dem Leser entgegenkommender Zugang zu einem grundlegenden Text geboten.128
Kapiteleinteilungen Das mit zehn Büchern außerordentlich voluminöse Werk Heliodors129 wird zu diesem Zweck durch 76 Kapitel leichter verständlich gemacht – und das ohne Vorbild. Denn die 272 kurzen Leseeinheiten der griechischen ›Aithiopika‹ fehlen im lateinischen Text, den Zschorn nutzt.130 Er bietet Leseabschnitte und setzt Einschnitte nicht willkürlich, sondern produziert bisweilen rechte »Cliffhanger«,131 also künstliche Unterbrechungen des Erzählflusses durch paratextuelle Einwirkung, die zum Weiterlesen auffordern.132 Jedem Kapitel ist eine kurze, höchstens drei Sätze umfassende Inhaltsangabe beigegeben, welche die wesentlichen Punkte des folgenden Abschnitts zusammenfasst. Hier stellt sich für Zschorn ebenso wie bei seinem Register die Aufgabe, dem Spannungsaufbau der ›Aithiopika‹ gerecht zu werden und nicht zu viel zu verraten. Die Kurzbeschreibungen als paratextuelles Narrativ im Klei127 Möckel 2007, S. 146. 128 Zur Verortung von Zschorns ›Aithiopika‹ in der paratextuellen Praxis der Antikenrezeption der Zeit vgl. unten. 129 Vgl. dazu Whitmarsh 2011, S. 109 und S. 111. 130 Zur griechischen Abschnittsunterteilung vgl. Weinreich 1950, S. 381f.. Wieckenberg 1969, S. 96, Anm. 36 wertet diesen Unterschied zwischen lateinischer und deutscher Übersetzung als Indikator für den Bildungsunterschied der jeweils angesprochenen Publika: »Bezeichnend ist, daß die erste deutsche Übersetzung der ›Aethiopika‹ (1559) durch ihren Verfasser, Johann Zschorn, offensichtlich nach dem Vorbild der zeitgenössischen Ritterromane mit Kapitelüberschriften ausgestattet wird, während die vom gebildeten Publikum bevorzugte lateinische Fassung überschriftenlos bleibt.« 131 Vgl. etwa den Übergang von 2.5 zu 2.6 auf Bl. xxxvjr oder den Übergang von 2.7 zu 2.8 auf Bl. xlijr. Um die Zählung der Zschornschen Ausgabe von der des griechischen Textes zu unterscheiden, wähle ich für Zschorns Text arabische Ziffern für Buch und Kapitel. 132 Vgl. zum wenig erforschten Cliffhanger-Phänomen in der mittelalterlichen Literatur Däumer 2010, S. 31 und S. 32, Anm. 29 zur Serialität der ›Amadis‹-Reihe als frühneuzeitlichem Beispiel.
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nen133 geraten so zum Balanceakt (viel stärker noch, als dies bei Überschriften zu »konventionellen« Romanen der Fall ist) und lohnen eine intensivere Betrachtung. Zuerst fällt auf, dass die Überschriften den jeweiligen Kapitelinhalt unterschiedlich tief durchdringen, zumeist rufen sie lediglich wesentliche Stichworte des Folgenden auf.134 Im ersten Teil des Romans zeichnen sie den Spannungsbogen nach, der den Haupttext prägt, und unterstreichen die Warum-Spannung.135 Bisweilen wird der Einleitungscharakter mit dem Hinweis darauf, dass man nur weiterlesen solle, explizit gemacht: Es schreibt Thisbe Cnemoni einen brieff / den innhalt wirst136 hie finden (2.4, xxxiir), in den meisten Fällen regt die vage Unbestimmtheit der Aussagen im Paratext dazu an, das Fehlende aus dem Haupttext zu ergänzen, etwa wenn es heißt: es kumpt Calasiri zuo nacht ein gesicht fuer (2.3, lvjr) oder wenn Kalasiris’ ambivalentes Verhalten gegenüber den Verliebten mit dreigt jn ein nasen (2.5, lixv) umschrieben wird (ähnlich gegen Charikles in 4.5, lxxiijr). Die einleitende Beschreibung übernimmt dabei vereindeutigend die Tendenz, die auch der Text selbst aufzeigt, was Kalasiris’ List angeht oder seine Haltung gegenüber Charikles, als dessen Ziehtochter entführt wurde: Calasiris klaget den vnfahl Chariclis aus falschen hertzen (4.6, lxxvjv). Ähnlich verfährt der Paratext auch im Vorfeld des Kampfes zwischen Thiamis und Petosiris (7.2, cxviiv). Der Ausgang des in der Überschrift vorab beschriebenen Abschnitts wird im ersten Dichtungsteil nicht preisgegeben – es sei denn, es handelt sich um Banalitäten wie die Hochzeit Knemons in 6.2 (cvr)137 –; stattdessen wird der Prozess betont, der im Gange ist, wenn etwa Kalasiris die Hochzeitspläne des Seeräubers Trachinos hintertreiben will (5.6, xcvjv). Herausgehoben steht der (in seiner Art 133 Genette 2001, S. 287 behandelt diese Beschreibungen als »deskriptive Zwischentitel in Gestalt von Ergänzungssätzen« und versteht die Beschreibungen in dritter Person als Autoräußerungen, die in erster Person hingegen als subtileres Spiel mit der Autorfunktion, die näher an den Erzähltext herangeführt wird. 134 Vgl. zum vorausdeutenden Charakter von Kapitelüberschriften allg. Wieckenberg 1969, S. 18 mit Verweis auf Lämmert 1955, S. 144. 135 So etwa 2.1, xxvv : Hie wirt weitters gemeldet / wie Theagenes meint Chariclia sey inn der Insel verbrunnen / Cnemon sagt wie er sie inn eine hoele verborgen hab / wie sie darein kummen / finden sie in der hoele ein todt weibs bild. Ähnlich funktionieren z. B. auch 5.2, lxxxijr, 5.4, lxxxviijv u. a.m. 136 Der Erzähler ist hier wie auch sonst, wenn er den Rezipienten direkt anspricht, mit diesem per Du – das fördert die Bindung an den Text und verweist auf das stille Lesen als Rezeptionsmodus. 137 Hier ist das wichtige Element Charikleas Reaktion auf diese Eheschließung, ihre Verzweiflung und der damit verbundene Monolog, auf den die Überschrift nicht verweist. Ähnlich arbeitet 6.5, wo der Tod der alten Frau, die widerrechtlich ihren toten Sohn nach der Zukunft befragt, schon in der Überschrift angekündigt, die wesentlich wichtigere Prophezeiung für Chariklea aber nicht erwähnt wird (cxiiiir).
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einmalige) Rückverweis auf den Dichtungsbeginn, der dem siebten Kapitel des fünften Buches vorangestellt wird und das Anfangstableau der ›Aithiopika‹ in den Stand der Ereignisse einbindet: vnnd ist das der krieg / welcher im anfang dises buochs gemeldet würdt / von dem schoenen jüngling / vnnd der schoenen vnbekanten junckfrawen (5.7, xcixv). Die Chronologie der Handlung wird auch in einer Marginalie zu diesem Kapitel betont: Da werden sie gefangen wie inn dem anfang gemeldet worden (cjr). Diese Hinweisdichte ist Zeugnis dafür, wie sehr der medias in res Beginn Zschorn Sorgen bereitet und wie intensiv er sich bemüht, seine Leser, die offenkundig Anderes gewohnt sind, für diese Besonderheit zu entschädigen. Zschorn ist allerdings nicht der einzige, der mit diesem Romananfang Probleme hat: Crusius z. B. anerkennt zwar die Besonderheit des Romananfangs, konstruiert für seine Inhaltsangabe jedoch trotzdem eine chronologische Abfolge der Ereignisse, um sie leichter zugänglich zu machen.138 Ein Wandel ist danach in der zweiten Hälfte der ›Aithiopika‹ auszumachen: Sobald der narrative Zirkel der medias in res-Strategie geschlossen ist und die Dichtung ihren Anfang eingeholt hat, bemühen sich die Kapitelbeschreibungen nicht mehr so sehr darum, das Ende des jeweiligen Abschnittes offen zu halten, sondern arbeiten im Gegenteil eher summarisch. Man muss z. B. das neunte Kapitel des siebten Buches nicht lesen, um zu wissen, dass Theagenes Arsake dazu bewegen kann, die geplante Hochzeit seiner Geliebten mit Achämenes abzusagen, der Paratext gibt das Ergebnis bereits vorab preis (cxlv).139 Ähnlich schaut es aus, wenn in der Folge Achämenes bei Oroondates vorspricht (cxlvjv) oder Thiamis sich um Theagenes und Chariklea bemüht, von Arsake aber abgewiesen wird (cxlvijv). Stakkatohaft arbeitet der Paratext die Handlungsfortschritte ab, so hastig, dass dabei der Widerspruch zwischen dem Verhalten der Kybele und ihren wahren Absichten gar nicht benannt, sondern nur auf seinen schlechten Ausgang hin betrachtet wird.140 Arsakes Selbstmord (8.5, clvijv), Hydaspes’ Strategien bei der Belagerung des Oroondates (9.2, clxijv) inklusive Oroondates’ doppeltem Spiel, sein heimlicher Abzug (9.3, clxvijr) und seine Niederlage (9.4, clxixv) werden ebenso summarisch aufgezählt, ein Spannungsaufbau in dem Sinn, wie er im ersten Teil der Dichtung gegeben war, wird nicht mehr angestrebt. Diese Eile im Durchlauf der Ereignisse reagiert auf das, 138 Crusius 1584, S. 3 (Widmungsepistel) betont bereits die besondere Anordnung des Stoffes, ebd., S. 15–17 wird eine Ordnung des Stoffes in der chronologischen Reihenfolge mit Hinweis auf die Bücher gegeben, in denen die Inhalte tatsächlich von Heliodor behandelt werden. 139 In der Hast des eiligen Durchlaufs unterläuft in der Kapitelbeschreibung von 7.10 ein Fehler, die Namen von Achämenes und Kybele werden vertauscht – dies ist ein Versehen, das z. B. Feyerabend im ›Buch der Liebe‹ korrigiert, vgl. dort Bl. 214ra. 140 Theagenes würt gefangen vnnd gegeislet / Chariclien will die alt vergeben / vnnd kumpt sie selber vom gifft umb. Chariclia würt gefangen / verklagt vnd zuom fewr verurtheilet / aber das fewer kan ihr nicht schaden / warde wider in gefencknus gelegt (8.2, clrf.).
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was als Wechsel der narrativen Technik in Heliodors Werk bereits herausgestellt wurde: Der ebahissement tritt zurück, stattdessen geht es jetzt um den verzögerten d8nouement des Romans, um den Weg zur vorhersehbaren, immer wieder aufgeschobenen Auflösung. Hier beschleunigt der Paratext und erscheint bisweilen ungeduldig in seiner hastigen, zusammenfassenden Auflistung der Ereignisse. Das ändert sich erst im zehnten Buch, als das Happy End bevorsteht und die letzten Verzögerungen die Geduld auf eine erneute Probe stellen. Insbesondere Theagenes’ Schicksal, der Ausgang seiner Prüfungen und die letztendliche Rettung werden in keiner Beschreibung vorweg genommen. Bereits die Kapiteleinleitungen zeigen, wie eng Zschorn Paratext und Text verknüpft und in welchem Umfang der paratextuelle Rahmen der ›Aithiopika‹ zur Verständnissicherung herangezogen wird. Zugleich machen sie deutlich, wie sehr Zschorn darum bemüht ist, die Struktur des Textes unterstützend zu begleiten und sie nicht einfach aufzuschlüsseln: Seine Kapiteleinteilungen bieten ebenso wie sein Register Hilfestellungen für die Rezeption eines ungewohnten Textes, dessen spezifische Eigenheiten sorgfältig bewahrt und paratextuell unterstützt werden sollen. Dieselbe Funktion haben die den Text begleitenden Kommentare, die noch intensiver als die Kapiteleinteilungen die Lektüre lenken wollen.
Marginalien Insgesamt 384 Marginalien stehen neben dem Erzähltext.141 Sie sind unregelmäßig über die Handlung verteilt und fransen »den als homogenen Block wahrgenommenen Satzspiegel an den Rändern« aus.142 Der Bezugstext ist klein, die Wirkung der Aussage ist lokal beschränkt.143 Es geht um situative Verständnis- und Interpretationshilfen sowie um Stellungnahmen zum Geschehen, 141 Hinzu kommen zwei Einschübe in den Text, die durch Asteriske an Anfang und Ende des jeweiligen Absatzes als Hinzufügungen ausgewiesen sind. Bei diesen Einschüben handelt es sich nach Art und Anlage – es findet ein Sprecherwechsel hin zu einem Ich statt, die Handlung wird zugunsten einer digressio oder einer Vertiefung ins Detail unterbrochen, die dem Rezipienten ein Mehrwissen vermitteln soll – um Marginalien, die wohl wegen ihres besonders großen Umfangs nicht am Seitenrand platziert werden konnten und deshalb dem Text als Absätze eingefügt wurden: Zum einen wird eine Anekdote zum Verhältnis zwischen Bauer und Edelmann (5.4, xcr) geboten, zum andern Ausführungen zu Theagenes’ Herkunft, als dieser für einen Sklaven gehalten wird (7.8, cxxxixr/v). Hier wird die Grenze von der Marginalie zur Fußnote berührt, vgl. dazu allg. Kaestner 1984, S. 207f. 142 Neuber 2000, S. 178. 143 Dies im Sinne von Genette 2001, S. 304f., der über Anmerkungen allgemein spricht; Neuber 2000, S. 177 betont, dass die Marginalie als spezifisches paratextuelles Phänomen von Genette nicht erfasst wird. Vgl. zum engen Bezugsrahmen der Marginalie allg. Kaestner 1984, S. 208.
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die lektürebegleitend und mithin konsekutiv funktionieren. Sie zeigen eine Interaktion des Kommentators mit dem Text ebenso auf wie eine intendierte Beeinflussung des Rezipienten, dem ein Geschehen strukturiert, näher erläutert oder mit einer bestimmten Deutung versehen nahe gebracht werden soll. Dies hat auch eine praxeologische Komponente, wird der Text doch auf seinen Wirklichkeitsbezug hin durchleuchtet und entsprechend dem von Zschorn unterstellten Kenntnishorizont seiner Rezipienten aufbereitet. Als Einzelelemente wirken die einzelnen Marginalien situativ, in der Summe erscheinen sie als textbegleitender Kommentar über die gesamten ›Aithiopika‹ hinweg. Sie können Elemente der Handlung hervorheben, sentenzhaft belehren, Sacherklärungen oder moralische Kommentare bieten sowie Zeitkritik üben, auch religiöse und literarische Anspielungen finden sich.144 Die Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien sind dabei fließend: Wenn es etwa von Chariklea in einer Anmerkung zu ihrem Klagemonolog gegen Apollo heißt: Solcher Junckfrawen findt man nit vberal (vjr), hat diese moralisch-zeitkritische Äußerung auch einen Zug ins Ironische, der nicht zu verkennen ist. Der Paratext sucht in enger Anlehnung an den Text selbst in unterschiedlicher Weise den Kontakt zum Rezipienten. In Form eines verbalisierten nota-Zeichens geschieht dies etwa, wenn im Text Gesagtes durch variierende Wiederholung unterstrichen wird, wie etwa in Ein heimlicher gang vnd hoele der rauber (vxiijr) und bei anderen Hinweisen dieser Art, z. B. Cnemon erzelt seins vatters handlung weitter (xxxjr) oder Des traums auslegung (xxxvjr). So wird die Handlung der einzelnen Kapitel weiter in einzelne Ereignisabschnitte gegliedert, ohne dass jedoch wertend in das Textverständnis eingegriffen würde, bisweilen beschränken sich die Anmerkungen sogar auf einzelne Schlagworte (Thisben [xljv]). Es geht um die Aufmerksamkeit des Lesers, die hier strukturiert auf die Textelemente gelenkt werden soll,145 wozu bisweilen auch eine verdeutlichende Bildlichkeit genutzt wird (Calasiris laufft vmb wie der teufel auff dem gerüst [xcviijr]). Ähnlich, allerdings intensiver mit der narratio interagierend, funktionieren Sacherklärungen.146 Hier soll die kulturelle Kluft zwischen antiker Ausgangskultur und frühneuzeitlicher Rezeption überbrückt werden,147 die Marginalien 144 Einteilung nach Schäffer 1984, S. 20*-24*, der den sechs Gruppen eine siebte, von den restlichen Kategorien nicht erfasste Mischgruppe hinzufügt, die er als »urwüchsige Glossen« (S. 24) bezeichnet, vgl. Aussagen wie Theagenes ligt jmmer auff seiner geigen (clxxvjr). Diese Einteilung wird auch übernommen von Eming 2013, S. 266f., Anm. 54. 145 Was Schäffer 1984, S. 22* »exklamatorisch[e]« und »imperativisch[e]« Aussagen nennt, gehört mit Abstrichen ebenfalls in diesen Bereich: zu den misogynen Aussagen, die er hier ebenfalls subsumiert, vgl. die Ausführungen unten. 146 Vgl. die Auflistung bei Schäffer 1984, S. 21*f. Entgegen seiner Einschätzung sind die Sacherklärungen keine marginale Gruppe, sondern durchaus prominent vertreten. 147 Die Marginalien haben mithin nicht nur die Funktion, die »Alterität« des Romans auszu-
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wollen Stolpersteine im Textverstehen beseitigen und die Rezeption erleichtern.148 Außerdem werden fremdartige mirabilia als besonders faszinierende Dinge besonders hervorgehoben und in ihrer Andersartigkeit betont. In diesem Sinne werden Orakel (Zuo Delphi ist ein loch / welcher darinn gewesen / vnd wider heraus kummen ist / der hatt verborgne heimliche ding koennen offenbaren [xxxiijr]),149 aber auch Tischgebete (xlv), religiöse Überzeugungen (clvv) und abweichende kulturelle Praktiken (In Egypten bettet man die thier an, xliiijv) sowie Sitten und sogar die Haartracht (cxxijr) des antiken Orients erläutert. Daneben finden sich Erklärungen etwa zum Nil als Gottheit (cxlviijv),150 Parce (lvijr), Phenicopter (ciiijr), Pan (clxxxr) oder dem Krokodil (cijv), das Knemon in Angst und Schrecken versetzt. Hier wird der zoologisch erklärende Hinweis um eine touristische Anmerkung ergänzt, wenn die Marginalie hervorhebt, dass ein ausgestopftes Krokodil im alten Rathaus von Brno zu bestaunen ist.151 Das mirabilium reicht so über die Grenzen nicht nur des Textes, sondern auch des Paratextes hinaus in die erfahrbare Welt hinein. So wird eine Verbindung zwischen Textwissen und Weltwissen hergestellt und die Alterität des Orients an die eigene Wirklichkeit angenähert – ähnlich, aber ohne touristischen Einschlag, funktionieren die Ausführungen über die Herstellung von Seide (cxcvv).152 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, was nicht erklärt, sondern vorausgesetzt wird: Während ein Krokodil sogar den Hinweis auf Brno nach sich zieht, bleibt Achill als Vorfahr Theagenes’ unerklärt, die Marginalie zur Einführung des Haupthelden vermerkt lediglich knapp und im Sinne eines nota
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stellen, wie Eming 2013, S. 266 annimmt: Es geht auch um eine Aneignung des Fremden durch das Mittel der Kommentare. Es finden sich Grenzfälle dann, wenn die alte Kultur abgewertet wird, indem sie mit der katholischen Praxis der eigenen Zeit gleichgesetzt wird, so etwa im Kommentar zur Versuchung des Kalasiris durch Rodopi (xliijv). Eming 2013, S. 266 nennt diesen Kommentar einen Ausdruck von »anrührender Unbeholfenheit«. Der Verweis auf den Nil als Gottheit funktioniert affirmierend zur Feststellung dieser Tatsache in der narratio selbst: Die Autorität der Marginalie soll diese Ungeheuerlichkeit beglaubigen helfen, indem sie sie aufgreift und nochmals betont. Schäffer 1984, S. 21* geht davon aus, dass der Kommentar »anscheinend ein eigenes Erlebnis mit hineinbezieht«, ähnlich argumentiert Teichmann 1905, S. 165. Allerdings dürfte die Brünner Sage vom die Stadt bedrohenden Drachen weit verbreitet gewesen sein. Das ausgestopfte Krokodil im alten Rathaus gilt auch als heimliches Wahrzeichen der Stadt, jedoch datiert auf 1608, 49 Jahre nach dem Druck der Marginalie. Zur Verbreitung von ausgestopften, aufgehängten Krokodilen vgl. Daston/Park 1998, S. 100, sowie die Abb. ebd., S. 99. In ähnlicher Weise wie die Sacherklärungen funktionieren die ordnenden bzw. strukturierenden Kommentare, die intratextuelle Verweise herstellen. Ein solcher Verweis bezieht sich auf Theagenes’ Abkunft, die in der narratio ohne Vorlage noch einmal thematisiert und im Text durch Asteriske an Anfang und Ende des Abschnitts als Hinzufügung gekennzeichnet ist (cxxxixr), zuvor steht der Rückverweis im fünften Buch auf den medias in res Beginn (cjr), vgl. dazu die Ausführungen oben.
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bene: Achillis geschlecht (lr). Die Kenntnis der ›Ilias‹ wird damit vorausgesetzt, wie bereits die Vorrede setzt auch die Marginalie darauf, dass den Lesern Homer zumindest in groben Zügen vertraut und geläufig ist. Ähnlich funktioniert die marginale Hervorhebung von Odysseus, als dieser Kalasiris im Traum erscheint: Hier nimmt der Kommentar die Identität des Traumbesuchers vorweg, die die narratio erst später preisgibt, und vereindeutigt die Figur, Vlisses erscheint Calasiri im traum (xcjv), was den Rezipienten wiederum auf seine (oberflächlichen) Homerkenntnisse zurückverweist und keine weiteren Erklärungen bietet.153 Die wichtigste und quantitativ größte Gruppe der Marginalien umfasst wertende Kommentare, die das Geschehen der narratio deuten, einordnen und zwischen Belehrung, vertiefender Erläuterung und aktiver Interaktion mit dem Text schwanken. Bisweilen tritt gar ein Ich hervor, um den Wahrheitsgehalt der vorgetragenen Lebensweisheit zu unterstreichen: Schnelle freud bringt etwan den tod Auch so wirt mancher durch freud aus einer schweren kranckheit schnell gsund wie ich selbst erfaren (xxxr) – wie in der Vorrede scheint der Gesundheitszustand hier des Kommentators der Marginalien ein wichtiges Beglaubigungselement des Textes zu sein.154 Mehrheitlich werden jedoch mehr oder weniger launige Sentenzen offeriert, die Gemeinplätze wie den eben aufgeführten ohne intensivere Beglaubigung vor den Leser stellen. Dabei wird die emotionale Kälte von Mördern und Räubern betont (xxviiijr) oder eine Weisheit wie Gelt macht schaelk (xxvr) vorgetragen, ähnlich funktionieren Aussagen wie Grosser vnmuot ist ursach der verzweyflung vnnd des tods (xxvv) oder Ein guot lob bey der gemein / hilfft manchem zuo recht (xxivv). Diese Kommentare abstrahieren Lebensweisheiten aus der narratio und stellen sie als allgemeingültige Lehre neben den Text, als Ergebnis der Reflexion in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Material, an dem die Erkenntnis gewonnen wurde, z. T. in konsekutiver, argumentativer Abfolge: Gelt macht recht vnrecht / vnd vnrecht recht steht direkt vor Weisheit ist vber gelt und bringt so eine hierarchisierende Wertung in den Paratext ein, der dynamisiert erscheint (lxxxvijr). Bisweilen kommt auch eine Drastik und Derbheit in den Paratexten 153 Anders verfährt der Kommentar hingegen bei einem eher nebensächlichen Detail, den antiken Längenmaßen: Als es darum geht, die Größe der Insel Meros zu beschreiben, wird die Fläche in Stadien gegeben (clxxxjr), wie bei einer antiken Vorlage zu erwarten – die narratio hingegen rechnet Stadien in Meilen um (ebd.), so dass der Paratext an dieser Stelle die ursprünglichen Einheiten gegen den aktualisierten Text der narratio konserviert. 154 Teichmann 1905, S. 166 liest den Hinweis biographisch und bindet ihn zurück an die Vorrede der ›Chronica‹, in der von Krankheit und Gesundung während Zschorns Straßburg-Aufenthalt in den 1630er Jahren die Rede ist. Die zweite Ich-Nennung findet sich auf Bl. lvjv : Der hecken junckern kenne ich auch so einer nicht bescheid thuot jres fallens woellen sie inem die glaeser ins angesicht werffen, die dritte auf Bl. cxxvijv handelt davon, dass der Papst nach seinem Tod zum Teufel geht und ein Gebet für seine Seele unnütz ist.
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zum Tragen, die die intendierte Lehre veranschaulichen und diese einprägsamer gestalten soll (lxxjv). Solche Marginalien interagieren mit der narratio, sie nehmen Handlungselemente auf und offerieren dem Leser Interpretationen und Lesarten, die über das bloße Extrahieren von Sentenzen, also eine einseitige Bewegung vom Text in die Marginalie, hinausgehen. Dabei zeigt sich auch ein Abweichen von der Linie, die in den Kapitelbeschreibungen zu erkennen war : Die Marginalien vereindeutigen, nehmen Ergebnisse von Entwicklungsprozessen vorweg oder beenden frühzeitig Spekulationen: Nicht nur wird Odysseus im Paratext identifiziert, bevor der Text den Namen preisgibt (s. o., xcjv), auch Chariklea wird korrekt benannt, während sie sich im Text als Thisbe bezeichnet und über die Gefangenschaft bei Nausikles in tiefer Verzweiflung verharrt.155 Als Chariklea des Mordes an Kybele angeklagt wird, deren Giftanschlag durch eine Verwechslung der Becher zu ihrem eigenen Ende geführt hatte, entscheiden die Richter auf Verbrennen statt einen bluotigen grausamen todt (cliijv), eine Entscheidung, die ihr wegen eines Edelsteins, der sie vor Feuer schützt, das Leben rettet. Der Paratext kommentiert und betont damit zugleich die Reichweite der Entscheidung noch einmal: Were sie anders dann zuo dem fewr geurtheilt worden / so hette man si vnschuldig umb bracht (ebd.). Als im neunten Buch Charikleas Vater Hydaspes erstmals seiner tot geglaubten Tochter begegnet, ohne sie zu erkennen, hebt der Paratext dies nochmals hervor, wenn er die Verwandtschaft betont, also den Umstand, dass Chariklea und Theagenes für Hydaspes unerkannt dochter / vnd […] dochterman sind (clxijr). Hier stehen Text und Paratext gegen die Vorlage, die die Verhältnisse nicht so klar benennt.156 Ähnlich unterstützt eine Marginalie im weiteren Handlungsverlauf eine zusätzliche Änderung Zschorns in der narratio, bei der Hydaspes’ Willen, seine wiedergefundene Tochter zu opfern, betont wird: Wieder dient der Kommentar dazu, eine neue Interpretation zu festigen und den Schwerpunkt zu bestätigen, den Zschorn setzt (cxvjv). Ganz besonders auffällig ist diese erklärende und interpretierende Tendenz auch in der Auseinandersetzung mit der Problematik der Traum- und Orakeldeutung zu lesen. Hier bringt ein Kommentar das Grundproblem der Dichtung auf den Punkt (betont derb, was wohl als eine Art rhetorisches Ausrufezeichen zu verstehen ist): Solcher narren findt man noch vil die vff treum halten / deutens vnnd legens jn selber aus vnnd treffens beim ars an kopff (xvijrf.). Der Kommentar ist engagiert und ergreift Partei, wobei dieser Einsatz zugleich auch eine interpretatorische 155 Vgl. lxxxjr. Der Text hat hier einen Übersetzungsfehler, statt »wie du mich nennen musst«, nämlich Thisbe, steht wie du mich genent hast: Sed superstes sis tantum, & conspicias aliquando Thisben tuam. Ita enim me uocabis etiam nolens (Warschewiczki 82B). 156 Warschewiczki 155A.
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Festlegung bedeutet: Der Zweifel, den Heliodor gegen Orakel- und Traumdeutung hegt, hebt die Marginalie auf eine neue, vereindeutigende und damit verabsolutierende Stufe. Für eine weitere Gruppe von Kommentaren liegt es nahe, sie in ähnlicher Form als Ausdruck von Anteilnahme des Kommentators am Text zu lesen; hier werden Dynamik und ein performatives Element in den Paratexten spürbar (lauff hencker lauff [xvjr]), das auch, durch die emotionalen Wertungen, als Affizierungsmodell für die Rezipienten gedacht gewesen sein kann. Solche Tendenzen finden sich etwa, wenn das Dargestellte auf die eigene Zeit bezogen (xliijv, xlixv, cxxvijr, cxlvv) oder zum Anlass für politische Kommentare genommen wird (cxixr, clijv, clxxxr) – hier setzt sich der Kommentator über die reine Sentenz hinaus in Bezug zum Geschehen. Er begleitet die Handlung affirmierend (cxlijr), bewundernd (ccr) oder auch offen parteiisch; bisweilen geht er förmlich in der Handlung auf, so dass die Grenze zwischen narratio und Kommentar verwischt. Einmal ist von einem vns die Rede: Sie erfordern vns zuo ergeben (xciiijv) bezieht sich auf die Aufforderung des Seeräubers Trachinos an das Schiff, auf dem sich Chariklea, Theagenes und Kalasiris befinden, der Kommentator scheint so von der Handlung absorbiert, dass er in der Gruppe aufgeht und sich zu den Bedrohten hinzurechnet. Ein andermal, als Kalasiris’ Söhne zum Kampf schreiten, findet sich der aufgeregte Kommentar : Yetzundden gilt es gleich (cxxr).157 Ausrufe wie O recht auff die meus (cxiiijv, im Zusammenhang der Totenbeschwörung der alten Frau) erscheinen kryptisch, weisen aber emphatisch auf ein Mitgehen des Kommentators mit dem Grauen der Handlung hin, das er zuvor schon hervorgehoben hatte (cxiijr): Die Dynamik schwappt in den Paratext hinein. Ähnlich engagiert reagiert der Kommentator auf Kybeles Falschheit (cxxvijr), die er auch beschimpft (cxxxjv, cljr, clijr). Kybele ist zudem Anlass dafür, eine zeitgenössische Teufelsgeschichte anzuführen, die ebenso wie der Verweis auf das Krokodil von Brno über die Grenzen von Text und Paratext hinaus verweist, indem die Missachtung für die Figur an den Brand von Schiltach im Schwarzwald von 1553 zurückgebunden wird, um die Bösartigkeit der Kybele deutlicher vor Augen zu führen: Die alt war vnmuessig wie der teufel zuo Schiltach (cxxxvijv).158 Gerade den in der narratio negativ besetzten Figuren begegnet der Kom157 Diese Spannung vor dem Kampf wird verbunden mit einer politischen Analogie. 158 Für diesen Brand am Gründonnerstag 1553 wurde eine Dienstmagd aus Oberndorf am Neckar verantwortlich gemacht, die kurz vor dem Ereignis aus Schiltach weg und nach Hause geschickt worden war. Man warf ihr vor, der Teufel habe sie fliegend nach Schiltach gebracht, um den Brand zu legen, so dass ihr Alibi, in Oberndorf gesehen worden zu sein, nicht ausreichte. Vgl. zu diesem Vorfall und der umfangreichen publizistischen Aufbereitung durch die Zeitgenossen sowie die Literarisierung des Falls: Harter 2005 (ohne Verweis auf Zschorn) und Harter 2008 (mit entsprechendem Hinweis).
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mentar damit äußert ungnädig (vgl. auch zu Arsake: Arsace name ein froelichen abscheid wie Judas [clivv]), womit die Bewertung des Textes im Paratext affirmiert und affektiv untermauert wird. Dabei schreckt der Kommentator auch nicht vor eher handfesten Vergleichen zurück: Oroondates ist zuo gach mit der geiss auff den marckt (clxxjv), was den Feldherrn der Lächerlichkeit preisgibt. Positiv besetzte Figuren wie Hydaspes können hingegen auch im Paratext mit Lob rechnen (clxxxvijv, cxcv), obwohl auch hier nicht mit eher robusten Vergleichen gespart wird (clxxxixv). Die Sympathien des Kommentators stimmen immer mit denen des textinternen Publikums bzw. mit den vom Erzähler geäußerten Präferenzen überein (cxcixr). Nur in einem Kontext versagt sich der Paratext den Vorgaben des Textes – immer wieder wird versucht, mit misogynen Kommentaren neue Akzente zu setzen, die in einer Dichtung mit so starker und selbstbewusster Heldin159 seltsam deplatziert erscheinen.160 Und so stehen die deutlich misogynen Äußerungen im Kommentar in einem krassen Missverhältnis zu den geschilderten Vorgängen, verpackt in sentenzhafte Formulierungen (cixv) und umfassendere Belehrungen (vijv) – das Fehlverhalten der sexuell überambitionierten Frauenfiguren (Demenäte, Arsake) und der Kupplerin Kybele wird als Ausgangspunkt für Verallgemeinerungen benutzt, eine Strategie, der umgekehrt die begehrlichen Bewerber um Chariklea niemals als Basis dienen müssen. Dass sich im Zusammenhang der misogynen Ausfälle auch ein performativ den Leser einbeziehendes Hie merck vff (vijv) findet, macht die Emphase und persönliche Involviertheit des Kommentators deutlich. Die paratextuellen Kommentare, so lässt sich abschließend festhalten, dienen dazu, Aufmerksamkeit zu kanalisieren bzw. aufrecht zu erhalten (nota-Funktion), erfüllen eine – eher oberflächliche – Lehraufgabe (dicta und Sentenzen) und sollen die Faszination von mirabilia vertiefen, die der Text bietet (Sacherklärungen). Am wirkmächtigsten erscheinen die Kommentare, in denen ein emotional-affektives Verhältnis zur narratio durchscheint, in denen Partei ergriffen und eine Dynamik entwickelt wird, die aus dem Mitgehen mit der Handlung, dem Hingerissensein vom Text entsteht. Diese Marginalien wirken affizierend und lenken die Rezeption der ›Aithiopika‹ in die Bahnen, die der Text vorsieht: 159 Zu den Geschlechterrollen bei Zschorn vgl. Eming 1999, die allerdings den Text in der Fassung des ›Buchs der Liebe‹ interpretiert und deshalb die Marginalien (die in dieser Ausgabe fehlen) nicht in ihre Untersuchung einbezieht. 160 Nur in einem Fall nähert sich die Bewertung der Marginalie der der narratio an, nämlich wenn Charikleas Tränen im achten Buch als eher gewohnheitsmäßige Äußerungsform der Heldin angenommen und nicht ernst genommen werden (cxlixr). Der Spott des Kalasiris über das ständige Weinen zielt dabei weniger auf die genderspezifische Emotionalität der Heldin ab, sondern ist eher als allgemein ironisch-distanzierter Kommentar zur großen Gefühlslastigkeit der Helden insgesamt zu lesen, vgl. zur Emotionalität Eming 1999, S. 167 und Lafond-Kettlitz 2005, S. 204.
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Sie ergänzen, unterstreichen und vervollständigen paratextuell die im Text angelegte Rezipientenlenkung. Nur selten scheren Kommentare wie bei den misogynen Einsprengseln aus und verlassen sie die Deutungslinie, die die narratio etabliert. Einen besondere Funktion haben die Paratexte, die über die Grenze des Buches (im Sinne von Genette als Gesamt von Text und Paratext verstanden) hinaus reichen und das Welt- und Allgemeinwissen der Rezipienten ansprechen (das Rathaus in Brno) bzw. auf ihre Kenntnis von Klatsch und Schauergeschichten bauen (Schiltach). In diesen Zusammenhang gehören auch die literarischen Verweise, die Achill und Odysseus herausheben und den homerischen Prätext der Gattung Roman in Erinnerung rufen.161 Doch arbeiten die Kommentare auch mit Hinweisen auf volkssprachige Literatur. So verweist eine Marginalie auf Neidhart, als nach dem Kampf zwischen Oroondates und Hydaspes die Beute verteilt wird (9.6, clxxvr). Eine zweite Marginalie kurz zuvor will hervorheben, dass Oroondates, der gerade seinen unehrlich geführten Kampf gegen Hydaspes verloren hat, seinem Herrn treu ergeben ist, und tut dies anhand eines sprichwörtlich gewordenen literarischen Zitates: Des brot ich iss / des lied ich sing (clxxiijr), was wohl allerdings den modernen Betrachter stärker an literarische Verweise erinnern dürfte als die lesenden Zeitgenossen. Solche Kommentare greifen über die Textgrenzen hinaus, um die Handlung der ›Aithiopika‹ an den Leser zu bringen. Dabei werden unterschiedlichste Bedürfnisse (Gliederung, Orientierung, Bewertung, Emotionalisierung, Belehrung, Vertiefung des im Text Gebotenen) anvisiert und befriedigt. Auf diese Weise wird die Geschichte von Theagenes und Chariklea um eine in sich diversifizierte Kommentarebene bereichert. Ziel ist es, die »composite audience«,162 auf die die ›Aithiopika‹ abzielen, umfassend zu bedienen und durch den Text zu lenken. Die Kommentare legen sich zusammen mit den Kapitelbeschreibungen wie ein Korsett um den übersetzten Text. Sie stützen ihn, unterteilen ihn aber auch in Einzelaspekte, sie bereiten auf, vereindeutigen, perspektivieren und unterbreiten Deutungsangebote. Bereits für die griechischen ›Aithiopika‹ ist hervorgehoben worden, dass es sich um einen »particularly directive text« handele, »armoured against misreading and minutely scripting the responses of its implied reader«.163 Zschorns Paratexte nehmen diese Stoßrichtung auf und verstärken den lenkenden Charakter des Textes, und diese Veränderung greift ganz gravierend in die Poetik der ›Aithiopika‹ ein, denn Zschorn intensiviert die Kontrolle über einen Text, der für die volkssprachigen Rezipienten den althergebrachten, ihnen gewohnten Sche161 Vgl. unten die Ausführungen zu den Homer-Allusionen im Text. 162 Mentz 2006, S. 41. 163 Morgan 1991, S. 99.
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mata des Erzählens entgegen steht und ihnen zumindest formal außerordentlich viel abverlangt (inhaltlich dürften Werke wie der Prosa-›Lancelot‹, die Werke Füetrers und der ›Amadis‹ ähnliche Ansprüche an die Fähigkeit gestellt haben, mit komplexen Kompositionen umzugehen): Zschorn bereitet mit seinen Kommentaren die Dichtung praxeologisch auf und löst die komplexe Verbindung von Immersion und metapoetischer Bewusstheit, indem er die Kommentatorenstimme als weitere vermittelnde Instanz auf paratextueller Ebene installiert. Es geht mithin nicht so sehr um eine allgemein dialogische Funktion der Marginalien als vielmehr darum, dass sich der Übersetzer als Kommentator deutlich positioniert. Zschorn greift eine Tendenz auf, die bereits bei Heliodor angelegt ist, indem er in den Kommentaren extensiv auf die bereits angesprochene »Trias von Historie, Topographie, und vita et mores« rekurriert.164 Er geht aber über die Anlage bei Heliodor hinaus165 und forciert den Wissensaspekt in den Marginalien, und die wenigen Befunde, die auf den Versuch deuten, Affizieren und das Mitgehen mit der Handlung zu befördern, können dieser fiktionsdurchbrechenden Präsenz des Kommentators kein Gegengewicht entgegenstellen. Zschorn nimmt Einfluss auf das Rezeptionstempo166 und ergänzt den Text paratextuell um zusätzliche Informationen. Auch wenn der Kommentator emphatisch die Handlung verfolgt, bedeuten seine Marginalien immer ein Verlassen der Erzählebene, ein Auftauchen aus einem Text, der durch seine Anwendung von Ekphrasis und durch die spezifische Spannungsökonomie zu immersiver Lektüre zu animieren versucht. Die zusätzlich eingebrachte Stimme, der Wahrnehmungsfilter der Marginalien, mag zwar die im Text vorhandenen Anlagen en detail und situativ unterstützen (besonders in den Fällen, in denen der Kommentator affiziert mit der Handlung mitgeht), im Großen bremst er ein wesentliches Spezifikum der Textanlage bei Heliodor jedoch aus: die sogartige Wirkung einer Geschichte, die den Leser zur aktiven Anteilnahme am Geschehen bewegen will. In allen Marginalien, unabhängig von der intendierten Rezeptionslenkung, bleibt das paratextuelle Übersetzer-Ich konstant präsent. Logisch legitimiert ist diese Allgegenwart des Übersetzers zum einen durch die Erklärungsbedürftig164 Neuber 1991, S. 45, hier zitiert nach Eming 2013, S. 263. 165 Dies gegen Eming 2013, S. 263. 166 Vgl. zur Lesegeschwindigkeit von literarischen Texten allgemein Gross 1994, S. 31. Zum Konnex von Marginalien und Lesetempo allg. vgl. Slights 1989, S. 697. Slights betont ebd., S. 685f. als zentrale Funktionen der Marginalien: »Amplification«, »Annotation«, »Appropriation«, »Correction«, »Emphasis«, »Evaluation«, »Exhortation«, »Explication«, »Justification«, »Organization«, »Parody«, »Pre-emption: filling marginal space so as to prevent insertion of unauthorized, handwritten text«, »Rhetorical gloss«, »Simplification« und »Translation«. Die Dokumentation der Sprecheraffizierung kommt hier nicht vor. Zu Slights vgl. auch die Arbeit von Gohrbandt 1998, dort bes. S. 71–73.
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keit der fremden Kultur, zum anderen durch die Herausforderung, die die durcheinander gewirbelte Chronologie für den Leser darstellt. Der Paratext ordnet, gliedert, erschließt und bietet Deutungen für den Text an, welche die Rezeption erleichtern sollen. Dies geschieht nicht im Sinne einer akademischkommentierenden Aufschlüsselung, wie sie etwa Crusius in seiner ›Epitome‹ betreibt, wenn er zuallererst die Handlung chronologisch ordnet, um sie zugänglich und überschaubar zu machen.167 Auch Crusius ist darum bemüht, die »pragmatische Dimension«168 des antiken Textes für ein frühneuzeitliches Publikum zu erschließen, nur bricht er hierfür Textkohärenz und Stil der ›Aithiopika‹ auf.169 Zschorn will nicht akademisch aufschlüsseln wie Crusius, sondern die ›Aithiopika‹ performativ, in der Lektüre, erfahrbar und verständlich machen, und sein Anspruch ist seinem intendierten Publikum angepasst: Es geht ihm um eine gelenkte Rezeption, die den Leser in die Lage versetzt, Spannungsaufbau und Gestaltung der ›Aithiopika‹ zu erfassen. Dies will er durch sein paratextuelles Gerüst ermöglichen, das den Text verständlich macht und in die eigene Zeit holt. Dass dieses Unterfangen, sowohl das inhaltliche einer verständlichen Übersetzung ins Deutsche, als auch das paratextuelle einer angemessenen Aufbereitung und Einbettung der Geschichte, ein unabgeschlossenes (letztlich unabschließbares) Problem darstellt, macht der das Buch beschließende Spruch: Welchers yetzt besser machen kan / Dem günn ichs gern nuor dappfer dran (ccvjv) pointiert deutlich.170 Zschorns Textverständnis ist nicht autorfokussiert, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auf Vermittlung und Verbesserung des Werkes ausgerichtet. Hierzu passt, dass er Heliodors Namen verschweigt, anders als dies seine Vorlage tut, bei der der Name sowohl auf dem Titelblatt als auch in der Sphragis erscheint:171 author est uir Phoenix Emesenus, ex genere Solis, Theodosij filius, Heliodorus (Warschewiczki 195A). Bei Zschorn wird der Leser auf dem Titel nur über die griechische Abkunft des Textes informiert, aber nicht über den Autor. Heliodor hat durch die Übersetzung offenkundig seine Bedeutung eingebüßt – der Text wird in einen Übersetzungs- und vor allem Rezeptionsprozess eingespeist, 167 168 169 170
Epitome, S. 15–17. Berger 1988, S. 488. Berger 1988, S. 489. Vgl. Müller 1988, S. 153 zum Hinweis im Prosa-›Tristrant‹, der ebd. als Anachronismus bezeichnet wird, da der Druck insinuiere, man könne ihn wie eine Handschrift bessern. 171 Hefti 1950, S. 131 hat den Hinweis in Warschewiczkis griechischer Vorlage als nachträglichen ›Buchhändlervermerk‹ gedeutet, im Sinne von Genette 2001, S. 331 als verlegerischen Epitext, der nicht mehr dem Text bzw. seiner direkten Umgebung zugehört und deshalb noch stärker fakultativ zu sehen ist, als dies schon für Paratexte anzunehmen ist. Vgl. hierzu allg. die Kritik von Weinreich 1962, S. 32, der polemisch (ohne direkten Verweis auf Hefti) die »Superklugheit« des 19. Jahrhunderts tadelt, die die Autornennung insgesamt angezweifelt und für nicht authentisch erklärt hat.
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der auf die Aktualität und die Anknüpfungsmöglichkeiten der zeitgenössischen Rezeption hin ausgelegt ist und für den der Name des Übersetzers eine größere Relevanz hat als der des Autors. Deshalb schwingt in der Schlussformel auch eine gewisse Ironie des Übersetzers mit, der zwischen toposhafter Bescheidenheit und zoiloswürdigem Größenwahn zu schwanken scheint.
Zschorns Übersetzung Die Paratexte sind klar als eigene Leistung der deutschen ›Aithiopika‹ zu erkennen und spiegeln Zschorns Bemühen um sein Publikum wider. Schwieriger gestaltet sich die Bewertung der Übersetzungsleistung, die Zschorn als eher selbstverständliche Sache überhaupt nicht problematisiert. In seiner theoriearmen Vorrede fällt nur ein Satz zu diesem Problemkreis, und diese Einlassung macht deutlich, dass der Wert des Deutschen als Literatursprache für Zschorn unhinterfragt besteht: Die ›Aithiopika‹ sind seiner Ansicht nach werdt (Vorred, [2v]), nicht nur auf Griechisch und Latein gelesen zu werden, sondern sollen auch einem deutschen Publikum zugänglich sein. Zschorn begreift damit die ›Aithiopika‹ als kulturelles Produkt mit gesellschaftlichem Mehrwert, dem er einen neuen Leserkreis eröffnen möchte, und nicht als sprachliche Herausforderung für einen Übersetzer. Der kulturelle Transfer, den die ›Aithiopika‹ durchlaufen müssen, um dem deutschen Publikum verständlich zu werden, sticht deshalb auch als Änderungsgrund im Vergleich zur lateinischen Vorlage heraus. Zschorn überträgt idiomatische Wendungen »treffsicher[]«172 ins Deutsche und bemüht sich ansonsten darum, kulturelle Besonderheiten auszugleichen und dem Vorstellungsrahmen der eigenen Zeit anzunähern. Er übersetzt nicht unreflektiert anhand der Vorlage, sondern ändert zahlreiche Details, bewahrt aber den großen Spannungsbogen und die Merkmale des Ausgangstextes mehrheitlich vorlagengetreu. Er aktualisiert behutsam, und er übernimmt bewusst die Ziele von Spannung und verzögertem d8nouement, die auch für die antiken ›Aithiopika‹ gelten. Schäffer hat zahlreiche Beispiele für die Übersetzung idiomatischer Wendungen aufgelistet.173 Zusätzlich finden sich – wie sich anhand einer knappen Betrachtung nur der ersten beiden Bücher exemplarisch zeigen lässt – unzählige weitere Eingriffe auf der Mikroebene des Textes: So würde sich Chariklea bei Zschorn mit einem Strick das Leben nehmen, ehe sie sich einem Seeräuber hingeben würde (1.4, xjr), was sich bei Warschewiczki nicht findet, der sie dafür 172 Schäffer 1984, S. 30*, Anm. 27. 173 Schäffer 1984, S. 25*-32*.
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jedoch ausführlicher lamentieren lässt (12B). Thisbe verabredet sich mit Aristippus im garten da man die bilger begrabt (1.6, xiijv) und nicht beim monumentum Epicuraeorum (19B). Als Thyamis Chariklea um ihre Meinung zur geplanten Hochzeit fragt, lässt Zschorn sie zwar die Augen niederschlagen (1.7, xviijv), aber – anders als Warschewiczki (23A) – nicht erröten. Diese letzte Änderung reduziert die fingierte Emotionalität der Passage auf ein Minimum: Wo Warschewiczki die List betont, stellt Zschorn durch den Hinweis auf das Niederschlagen der Augen und die Sprachbarriere zwischen dem Piraten und Chariklea die Distanzierung in den Mittelpunkt. Als der Piratenhäuptling Thyamis beim Angriff seiner Gegner Chariklea sodann eher töten will, als sie herzugeben, weist das Warschewiczki seinem barbaricum ingenium (28A) zu, während Zschorn konstatiert, dass er sich für das Unglück, das ihn heimsuche an ihr rechen, also Chariklea töten und damit die Göttin austricksen will (zuo lugen machen), deren Prophezeiung seine Beziehung zu Chariklea bestimmt (1.9, xxiiijr). Das auch im griechischen Text herrschende Urteil über den Barbaren: »So sind die Barbaren: Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben, davon lassen sie nicht so leicht wieder ab«,174 wird also durch eine persönliche Motivation des Thyamis ersetzt. Andere Änderungen muten eher kurios an, so etwa wird erst verspätet davon berichtet, dass Kalasiris vegetarisch lebt,175 davon erfährt Zschorns Leser erst in 3.3 (lvjv). Ähnlich seltsam erscheint die rüde Art und Weise, auf die Knemon das ohnmächtige Liebespaar wiederbelebt. Er benetzt Theagenes und Chariklea nicht nur mit Wasser, sondern zog sie bey der nasen / vnd ohren / wie man dann einem onmaechtigen zuothuon pflegt (2.3, xxxr) – für dieses brutale Hausmittel findet sich keine Vorlage bei Warschewiczki (33A), dessen Knemon sanfter zu Werke geht und die Ohren auslässt. Bisweilen fügt Zschorn auch dicta ein, die seine Vorlage nicht kennt, so z. B. wenn er Knemon philosophieren lässt: Es fallen dem menschen vil treum für / sprach Cnemon / die nicht all ihre bedeutung haben […] (2.5, xxxvjr, vgl. dagegen Warschewiczki 39B) und so Skepsis gegen Traumdeutung allgemein in seinen Text einschreibt. Ähnlich verfährt er mit Göttern, die ebenfalls ins Wahrsagerische und damit Vage transponiert werden, so wenn von einem warsager gott (2.3, xxxijr) die Rede ist, der notwendig wäre, um Thisbes Leiche in der Höhle des Thyamis zu erklären (vgl. dagegen Warschewiczki 34B). Umfänglichere Ergänzungen finden sich ebenfalls, etwa wenn Zschorns Knemon die Liebenden explizit nicht befragt und sie im Gegenteil 174 I.XXX.6, S. 43 (dt. S. 41). 175 Als sie vielerley speys die für getragen ward genossen / darzuo der alt wasser vnnd Cnemon wein getruncken (2.7, xljr), vgl. dagegen bei Warschewiczki: Cum igitur comedissent nuces, & ficus, & recens decerptas palmulas, & alia id genus, quibus uesci senex consueuerat (anima enim nihil unquam gratia priuabat) sorbebant quoque is idem aquam, Cnemon autem & uinum (43B-44A).
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schonen will, als beide in Tränen ausbrechen und O Pytho / O Delphi (2.5, xxxiijr) rufen: Er wolt sie nicht fragen / dann sie waren vorhien gantz betruebt / kundt wol erachten si weren in der selbigen gegne gewesen / oder hetten sunst gros vnfahl von der zweyer namen erlitten / schwig also ein weil still gedenckendt / wie er sie moechte wider froelich machen (ebd., xxxiijrf.)
Dieser Einschub, für den Warschewiczki keine Vorlage bietet (36A findet sich nur die tränenreichen Ausrufe der Namen Python und Delphi), verstärkt das Moment der Anspannung des Lesers: Hier wird explizit die Leerstelle, d. h. die noch unbekannte Vorgeschichte der Liebenden betont, Zschorn unterstreicht das Desiderat des nachzutragenden Wissens durch Knemons explizite freundschaftliche Zurückhaltung noch einmal. Besonders pointiert erscheint die Übersetzung des Orakelspruches am Ende des zweiten Buches, der den bereits zurückgelegten und noch bevorstehenden Weg der Liebenden schlaglichtartig aufzeigt. Bei Warschewiczki finden sich drei Distichen: Gratia cui orditur, sed finit gloria nomen, Hanc canite i Delphi, progeniemque deae. Qui mea linquentes delubra, salumque ruentes Ad Solis venient torridum ab igne solum. Magna ubi praecipue uirtutis praemia tandem Temporibus fulcis, candida serta gerent. (53A)
Zschorn hingegen schreibt: Welchem anfacht gunst mit ehren Der thuot seinen namen mehren/ Würt verlassen die Tempel mein Vnd vber Merr schiffen so fein/ In frembde land ein weitte reis Welchs von der Sonn durr ist vnd heis/ Der würt entpfahen grossen lohn Inn schwartzer zeit weisse kraentz han (2.9, lv).176
Hier wird der prophetische Spruch seiner etymologischen Sprachspiel-Qualität entkleidet und in der Verkürzung zu einer eindimensionalen Aussage ohne in176 Vgl. II.XXXV,5, S. 96 (dt. S. 81): »Achtet auf sie, die erstens die Anmut und dann auch den Ruhm bat, / Delphier, und dann auf ihn, der einer Göttin entstammt. / Meinen Tempel verlassen sie, teilen die Wogen des Meeres, / Erreichen das dunkle Land, das die Sonne durchglüht. / Dort dann finden sie reichlichen Lohn für ihr rechtliches Leben, / Ein weißleuchtendes Band um die schwärzliche Stirne«. Vgl. zu diesem Orakelspruch die Anmerkungen oben und Whitmarsh 2011, S. 202 zum Wortspiel mit den Namen Theagenes und Chariklea (dazu auch die Anm. in der Edition).
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tensiven Bezug auf die Helden. Als Fixpunkte bleiben, dass man über Meer reisen muss und dass es ein Happy End geben wird, aber die am Namen ablesbare Exzellenz der Helden und ihre Bestimmtheit für ein großes, glückliches Ende wird nicht beibehalten. Offenkundig will Zschorn seinen Lesern die zugrunde liegende Verweisstruktur nicht zumuten, ganz im Sinne seines paratextuell immer wieder geäußerten Unmuts über Träume und Orakel.177 Dies sind nur Beispiele aus den ersten beiden Büchern, die sich durch weitere Blicke auf die übrigen acht Bücher vermehren ließen.178 Zschorn ändert im Detail; er fügt hinzu und lässt aus, es handelt sich um Feinjustierungen. So verändert er die Figurenzeichnungen der Vorlage, ohne das große Ganze anzugreifen, er setzt in der Szene neue Akzente, z. B. indem er größere emotionale Intensität hervorruft oder Emphase befördert, ohne dass diese Tendenzen sich zu einer übergeordneten Bearbeitungsrichtung vereinigen, die einem System oder einer gezielten Anlage folgt. Eine rezeptionsorientierte Umschreibung, die den Text grundsätzlich einem deutschsprachigen Publikum anpassen würde, fehlt. Ansätze sind lediglich in der »Entschärfung« von Orakeln, Träumen und dicta zu erkennen, die ihren prophetischen Charakter wenn nicht verlieren, so 177 Vgl. Kommentare auf Bl. lxxiiijr (zur Manipulierbarkeit der Traumdeutung) und programmatisch auf Bl. clviv. 178 A) Ergänzungen Zschorns: Zu denken wäre z. B. an einen misogynen Einschub im fünften Buch (5.2, lxxxiijr), für den sich bei Warschewiczki (84A) keine Vorlage findet. Im selben Zusammenhang ändert Zschorn indirekte in direkte Rede und erhöht so die Eindringlichkeit der Notfallplanung von Theagenes und Chariklea, kurz bevor sie in die Hände des Oroondates fallen (ähnlich funktioniert ein Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede in 9.3, clxvijv gegen Warschewiczki 159A). In 5.3 spricht Zschorns Nausikles von Alchimey oder Nigromancey (lxxxvijr), während Warschewiczkis Nausikles über die vermuteten Geldquellen des Kalasiris nur vage Vermutungen anstellt (ex machinatione, 87B). Weitere kleine Zusätze finden sich immer wieder über den Text verteilt – zuletzt, emphatisch, bei Charikleas Bekenntnis zu Theagenes vor dem äthiopischen Königshof, das ohne Vorlage ist, wenn Zschorn betont: dann das hertz brach yetzt mit gewalt heraus (10.7, cxcijv gegen Warschewiczki 183B). B) Auslassungen Zschorns: Die umfangreiche Beschreibung des Ringes, den Kalasiris Nausikles als Belohnung dafür schenkt, dass dieser Chariklea freilässt, fehlt bei Zschorn, der sich auf die bloße Übergabe des Schmuckstücks beschränkt (5.3, lxxxviijr gegen Warschewiczki 88B). Auch wird das ionische Meer nicht so umfangreich beschrieben wie in der Vorlage, beim Aufbruch von Theagenes, Chariklea und Kalasiris wird die Erklärung der Umstände stattdessen auf ein Minimum reduziert (5.4, lxxxixr vs. Warschewiczki 90A/B) Eine weitere Auslassung findet sich ebenfalls in 5.4, wenn die phytischen Spiele nicht beschrieben werden, die den nächsten Bewerber um Chariklea, den Kaufmann, bei Warschewiczki herausheben aus der Masse seiner Gefährten (xcv gegen Warschewiczki 92A). Nicht erwähnt wird die voluntas divina (149B), die den Stein Pantarbes so beschaffen macht, dass er Chariklea vor dem Feuertod rettet (8.4, clvijr) – so wird der Charakter einer göttlichen Lenkung der Ereignisse relativiert. Ähnlich verfährt Zschorn, wenn er Hydaspes, den Vater der Chariklea, seine Rede an das Volk mit dem Vorschlag, die wieder gefundene Tochter trotz aller Freude zu opfern, ohne Hintergedanken halten lässt (10.6, cxvjr gegen Warschewiczki 182B).
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doch zu großen Teilen einbüßen.179 Diese Veränderung resultiert aus der Unübertragbarkeit von Sprachspielen und Doppeldeutigkeiten, liegt aber durchaus auch im Interesse des orakelskeptischen Bearbeiters, dessen christliche Grundüberzeugungen stärker wiegen als das Faszinosum heidnischer Bräuche. In zwei Bereichen ändert der Übersetzer, wenn auch nicht vollständig und in sich stimmig, mit größerer Konsequenz: Betroffen sind alle Passagen der ›Aithiopika‹, die von Homer handeln oder Theatermetaphorik metapoetisch nutzbar machen. Mit der Theatermetaphorik verbunden werden auch die ekphrastischen Präsenzphänomene in der Handlung reduziert. Zschorn greift mithin an der metapoetischen Grundlegung des Textes an, auf die er in der deutschen Fassung der ›Aithiopika‹ Einfluss nimmt. So übernimmt er nur einen Bruchteil der markierten180 Homerverweise seiner Vorlage. Die überhöhte Autorfigur verliert damit viel von ihrer Vorbildfunktion für den Text: Auffällige Exkurse wie die umfangreiche Herkunftsgeschichte des »Ägypters« Homer streicht Zschorn ersatzlos (vgl. Warschewiczki 62A),181 aber auch an anderen Stellen fällt die Nennung als Autorität weg (2.7, xlv gegen Warschewiczki 43A). Zschorn streicht Homer zwar nicht konsequent und nicht überall,182 doch fallen vor allem Zitate weg,183 wenn sie nicht »anonymisiert« werden. Scamanders und Achilles’ Gegnerschaft aus der ›Ilias‹ wird von Zschorn etwa vorlagengetreu als Beispiel für die Heftigkeit des Zweikampfes angeführt, den Theagenes zu bestehen hat, um einen Kuss der Chariklea als Siegpreis zu erlangen: Da war ein schoen zuosehen / es ware nicht anders dann wann Achilles und Scamander solten mit einander kempffen (4.1, lxijr)184 – mit minimaler inhaltlicher Abweichung von Warschewiczki: Praeclarum quoddam erat spectaculum, & conspicuum, & quale Homerus, in quo Achilles praelio ad Scamandrum certat, introducit (66A). Der Begriff des spectaculum, also der Bühnenverweis, entfällt ebenso wie die Nennung des Namens Homer. Homers Bedeutung wird in der Übersetzung reduziert, es handelt sich um eine Art Depotenzierung durch Reduktion der Verweise. Wesentlich radikaler als mit Homer verfährt Zschorn mit den Theateranspielungen der ›Aithiopika‹. 179 Hierher gehört auch die Zurückhaltung bzgl. der Hilfe des Zufalls, wie sie etwa in 3.3, lvijv zu finden ist. 180 Ganz anders schaut es bei den nicht markierten und fiktiven Anlehnungen an Homer aus, die Heliodors Text in der Figurenrede bietet und die Zschorn (evtl. unerkannt) übernimmt. Vgl. zu den Zitaten Beil 2010, dort S. 45 zur sinntragenden Funktion der Verseinschübe. 181 Dies ist wohl der Annahme geschuldet, dass das Publikum sich für diesen Seitenarm der Erzählung nicht interessieren wird. 182 Vgl. z. B. den Homer-Verweis in 3.3, lxijvf. zu Warschewiczki 66B und das Homer-Zitat in 4.2, lxvjr vereinfachend zu Warschewiczki 69A, die beide erhalten bleiben. 183 Vgl. 3.3, lvijv im Vergleich zu Warschewiczki 61A, wo marginal sogar die ›Ilias‹-Stelle des Zitats benannt wird. 184 Mit Verweis auf ›Ilias‹ XX, 73/74.
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Dient Homer Heliodor als Vorbild und Rechtfertigung für das eigene romanhafte Erzählen, so sind die Theaterbezüge dort im Gegenteil stärker im Zusammenhang des ekphrastischen, dramatischen Erzählens angesiedelt: Die zahlreichen Hinweise auf Drama, Bühnenhandlung und auch die Komödie dienen dazu, die Strategie der Ekphrasis auch theoretisierend zu erfassen und die Fiktion der Unmittelbarkeit, die Heliodor seinem Text einschreibt, selbst deutlich und kategorial vor Augen zu führen. Diese Strategie ist offenkundig nicht mit Zschorns Konzeption seiner ›Aithiopika‹ kompatibel. Fast ausnahmslos entfallen alle Bemerkungen, die in irgendeiner Form Bühnen- oder Theateranspielungen enthalten.185 Besonders sinnfällig ist dies der Hinführung zu Knemons Herkunftserzählung am Ende von Kapitel 1.3 (vjv): Die Unterredung der gefangenen Griechen im Lager des Thyamis ist fast wie in einem Theaterstück markiert, was Dynamik und Unmittelbarkeit suggeriert, im Gegensatz zu Warschewiczki verzichtet Zschorn jedoch darauf, den Tragödiencharakter der Helden durch Knemon hervorheben und damit explizit werden zu lassen. Heliodor (Reymer) […] »Wie heißt du?« fragte Theagenes. »Knemon.« »Und woher bist du?« »Aus Athen.« »Und wie kommst du hierher?« »Ach, laß nur. Was willst du dieses alles aufwühlen, wie es in den Tragödien heißt? Es wäre ein unangebrachtes Zwischenspiel.« (I.VIII.6f., S. 13, [dt. S. 16])
Warschewiczki Sed quem te appellare oportet? inquit Theagenes. At ille: Cnemonem. Cuiatem autem agnosci: Atheniensem. Porro qua fortuna usum? Desine, inquit. Quid haec moues, & eruere conaris? Tragoedis ista relinquamus. Neque enim per tempus hoc auctario meorum malorum uestra cumularem. (13A)
Zschorn Theagenes fragt / Lieber wie heistu? Der jüngling sagt / ich heiss Cnemon. Aus welcher statt sprach Theagenes? Cnemon von Athen186. Theagenes. Welches glück hatt dich hieher getragen? Cnemon. Frag yetzund nit dann ich moecht euch eweren schmertzen mehren […] (vjv)
Es entfällt das »Kennwort« Tragödie (ebenso wie das »Zwischenspiel« bzw., bei Warschewiczki, die »Zugabe«), das die Strategie aus der bloßen Anwendung, der zu folgen ist, in das abstraktere Bewusstsein heben würde. Dadurch wird die Erzählstrategie nicht angetastet, sie verliert lediglich ihre verdeutlichende, terminologisch eindeutige Erklärung. Ähnlich geht Zschorn auch in anderen Passagen vor. So streicht er aus einer der Klagen des Theagenes die programmatische Formulierung zum artifiziellen Anschein und dramatischen Ausmaß des Leidens ersatzlos: Tale bellum quasi per lusum contra nos suscepit, nostras rationes non secus quam scenam aut 185 Zur Bühnenterminologie Heliodors vgl. Walden 1894. 186 Hier ist durch die Wiederholung des Namens wiederum eine Abweichung zur Vorlage gegeben: Der Name wird in kurzer Zeit doppelt genannt und ist so einprägsamer.
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fabulam representans. Cur non igitur praecidimus & abrumpimus hoc tragicum ipsius poema, & nos ijs qui uolunt interficere, tradimus? (85A).187 Tragödie, Spiel und Bühne kommen im deutschen Text an dieser Stelle nicht vor, damit wird der plakative Hinweis auf den ekphrastischen Charakter des Romans wieder gestrichen. Auch Charikleas entsprechende Äußerungen fallen Zschorns Rotstift zum Opfer (cviijr). Als sie sich im sechsten Buch darüber beklagt, dass Knemon heiratet, ihr ähnliches Glück hingegen verwehrt bleibt, wird im lateinischen Text chorea als bühnenentlehnte Metapher für den entbehrten Hochzeitstanz gewählt (103B),188 Zschorn streicht diesen Verweis und konzentriert sich ganz auf die Negativgestaltung der Passage bis hin zur Paradoxie (vnsere fackel / zünden finster, cviijr). Auch der inszenatorische Charakter ganzer Textpassagen wird nicht explizit gemacht, so z. B. wenn Kalasiris den Kampf zwischen seinen Söhnen Petosiris und Thyamis unterbricht und das Volk von Memphis wie im Theater die Tragödie betrachtet,189 die eine Art aemulatio der fabula darstellt. Bei Zschorn wird ein erklärtes Nichtwissen an die Stelle der programmatischen Erklärung gesetzt: Ich wais nit wie es zuogieng in disem kampff / ob die goetter oder sunst ein glück vorhanden ware / welches die menschlichen sachen vff erden fürdert vnd hindert (7.3, cxxjr) – die Ablehnung der expliziten Theatermetaphorik wird verbunden mit der Skepsis gegenüber jeder Form von heidnischem fatum, die Zschorn immer wieder zeigt. Wieder geht es nicht darum, den tatsächlichen Aufführungscharakter zu negieren oder durch eine Umarbeitung auszuhebeln, die in die Substanz der Erzählung eingreifen müsste. Nur das Explizitmachen, der offene Verweis auf die augenscheinliche Nähe des Gebotenen zum Theater wird gestrichen. Dass es für die Wiedererkennungsszenen Zuschauer gibt, ist auch bei Zschorn unumgänglich, lässt er doch seiner Vorlage folgend den Kampf von Petosiris und Thyamis vor den Stadttoren stattfinden. Theagenes und Chariklea haben bei ihrer Wiedervereinigung von dem volck mehr zuoschawer / dann die anderen (7.4, cxxiijv), was aber nicht als Theatersituation, sondern durch die selbstverständliche Anwesenheit der schaulustigen Stadtbewohner erklärt wird: dann es war thor vnd feld foll leut / lieffen hauffechtig zuo (ebd.). Der glückliche Ausgang der Situation für alle Beteiligten (außer der eifersüchtigen Arsace, die das nächste Unheil über die Liebenden bringen wird) wird deshalb von Zschorn auch nicht als glückliche Wendung von der Tragödie zur Komödie gefasst, wie 187 Vgl. V.VI.3f., S. 45, [dt. S. 135]. 188 VI.VIII.3, S. 97, [dt. S. 175]. 189 Ciuitate autem, tanquam ex theatro, iudice & arbitra spectaculi constituta: tunc sane seu numen, seu fortuna quaedam, gubernans res humanas, noua accesione tanquam in tragoedia auxit ea quae agebantur, quasi aemulatione quadam initium alterius fabulae afferens (119B), vgl. VII.VI.4, S. 121, [dt. S. 189f.].
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dies bei Warschewiczki steht: in comicum finem ex tragico (120B) mündet die Stelle nicht, der Aufführungscharakter wird gestrichen. Nur eine Ausnahme von dieser Regel findet sich: Zschorn nutzt im neunten Buch einmalig den Terminus specktakel (9.2, clxvjr), als Siene (das heutige Assuan) belagert wird. Der Begriff, erst im 16. Jahrhundert ins Deutsche eingebürgert, bezeichnet nach Grimms Wörterbuch das Schauspiel ebenso wie den Auffallen erregenden Vorfall,190 ist also weit genug von der engen Bühnenterminologie entfernt, um auch Zschorn »unverdächtig« zu sein – im selben Kontext streicht er wiederum das theatrum illorum calamitates (157B) der Feinde rigoros, auch wenn es hier nur um die Inszenierung von Handzeichen geht, die dem weit entfernt stehenden und überlegenen Kriegsgegner Hydaspes den Kapitulationswillen der Siener signalisieren sollen. theatrum ist für Zschorn ein Signalwort, das zu vermeiden bleibt. Dasselbe gilt für scena (181B), wie z. B. am Ende der ›Aithiopika‹, als es darum geht, Charikleas Identität kundzutun und als ihr Vater ihren möglichen Opfertod mit seinem Volk besprechen muss: Hydaspes inszeniert sich nicht, sondern tritt wie ein stier tapfer vor sein Volk (9.5, clxxxixv). Das Vor-Augen-Stellen, das in den griechischen ›Aithiopika‹ seinen Höhepunkt in der Vergegenwärtigung des abwesenden Liebespaares hat, als Kalasiris Knemon vom Schicksal Theagenes’ und Charikleas berichtet, wird von Zschorn ebenfalls abschwächend bearbeitet. Diese Kernstelle der ›Aithiopika‹ verdient deshalb besondere Beachtung:
190 Art. ›Spektakel‹, in: DWB 16, hier Sp. 2131.
190 Heliodor (Reymer) »Das sind sie, Theagenes und Chariklea !« rief Knemon. »Wo in aller Welt sind sie? Zeig sie mir! Ich bitte dich bei den Göttern!« bat Kalasiris in der Annahme, Knemon sehe sie wirklich. »Väterchen«, entgegnete dieser, »mir war, als sähe ich sie, obwohl sie nicht da sind. So lebendig, wie ich sie von Angesicht zu Angesicht kenne, hast du sie mir durch deine Schilderung vor Augen geführt.« […] »[…] Doch welch schöner Trug, welch holder Wahn! Wie hast du mich aufgeregt, Knemon, ich glaubte schon, du hättest die geliebten Menschen gesehen und könntest sie mir zeigen!« (III.IV.7/9, S. 104, [dt. S. 86])
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Warschewiczki Illi ipsi, Theagenes & Chariclia, exclamauit Cnemon. Vbi nam terrarum sunt isti? ostende: dicebat, per deos obtestans, Calasiris, conspici eos a Cnemone arbitratus. Ille autem: Videre me, inquit, pater etiam absentes putabam: adeo illos proprie, & quales uisos noui, animoque retineo, tua narratio expressit […] Sed o dulcem deceptionem, o suauem opinionem, quomodo me in spem sustulisti, cum te uidere charissimos, & ostensurum esse expectarem, Cnemon? (56A)
Zschorn Cnemon sprach / mir ist als wann ichs also sehe. Dar auff Calasiris sagt / ich bitt dich durch die goetter / sag mir doch an welchem ort der weldt sie sind / zeig mirs doch / du hast mich vertroest ich werde sie bald sehen / Ach wie ein suesser betrug ist das / wie hast du mich in hoffnung bracht / da du mir von anfang vnsers gespraechs verheissen hast / mir noch heut meine aller liebste zuosehen lassen […]. (3.1, liijr).
Der lateinische Text bietet, darin seiner Vorlage folgend, ein tatsächliches VorAugen-Erscheinen; Knemon wird von der Ekphrasis getäuscht und affiziert sogar denjenigen, der ihn getäuscht hat, nämlich Kalasiris. Zschorn reduziert das Ereignis auf einen Als-Ob-Vergleich, ein Vor-Augen-Stellen findet bei ihm nicht statt. So ist die Enttäuschung seines Kalasiris auch allein darauf bezogen, dass die Liebenden noch nicht eingetroffen sind, obwohl ihm das zuvor von Knemon angekündigt worden war. Diese Änderung ist – in Bezug auf den Handlungsgang – minimal, auf die metapoetische Ebene des Textes bezogen jedoch weitreichend: Nicht umsonst hat man in dieser Passage des antiken Textes einen Schlüssel nicht nur zu Heliodors Konzeption der Ekphrasis, sondern auch zu seinem Erzählverständnis erkennen wollen.191 Zschorn entledigt sich des ostentativen Ekphrasis-Bezuges,192 der ihm offenkundig im Wege steht. Er macht die Passage auf diese Weise unspektakulärer, formt sie aber vor allem
191 Vgl. dazu die Ausführungen oben und Whitmarsh 2011. 192 Dass diese Reduktion auch eine Verringerung des Homer-Bezuges darstellt (wegen der durch Heliodor von Homer übernommenen ekphrastischen Strukturen), lässt sich nach Telk 2011, S. 583 sowie S. 594 schlussfolgern.
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in seinem eigenen Gestaltungssinn um, der die Ekphrase zu reduzieren versucht, wo ihm dies möglich ist.
Zschorns ›Aithiopika‹ Bereits die wenigen poetologischen Kommentare, die Zschorn seinen ›Aithiopika‹ mitgibt, deuten deshalb darauf hin, dass hier nicht einfach nur eine Übersetzung vorgelegt wird. ein fleyssiger auffmercker / macht einen lustigen erzeler (2.8, xlijv), das Erzählen von Geschichten ist keine arcana[] res (Warschewiczki 90A),193 sondern harte didaktische Arbeit. Diese Arbeit findet ihren Niederschlag sowohl im Text wie auch im Paratext, und alle Veränderungen im Großen wie im Kleinen weisen darauf hin, dass Zschorn nicht nur ein »von seinem Stoff ergriffene[r] Übersetzer[]«,194 sondern ein nachgerade ins Detail versessener Bearbeiter ist. Er ändert in weiten Teilen zwar nur oberflächlich, in grundsätzlichen Dingen wie der ekphrastischen Ausgestaltung jedoch drückt er dem Stoff seinen eigenen Stempel auf. Es geht ihm ganz offenkundig nicht darum, ein Surrogat des lateinischen Textes zu bieten, eine deutsche Fassung für des Lateinischen unkundige Leser.195 Seine ›Aithiopika‹ wollen als Übertragung der Geschichte von Theagenes und Chariklea gelesen werden, die aus eigenem Recht ihren Platz im Bücherregal und in der Hand des Lesers beansprucht, wie schon die Vorrede betont. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Zschorn den Text für deutschsprachige Rezipienten zugänglich machen, ihn also dem Erwartungshorizont an historien annähern, der aus anderen Texten zu rekonstruieren ist, allen voran aus der paratextuellen Praxis der Romane Wickrams.196 Was Zschorn betreibt, hat es 193 Eine von Zschorn in 5.4, lxxxiijv nicht übersetzte Bemerkung Knemons. 194 Schäffer 1984, S. 31*. 195 Zu Latein als Sprache der Gebildeten und der Volkssprache als Verständigungsmedium des gemeinen Manns im 16. Jahrhundert vgl., aus dem Blickwinkel der Humanistenübersetzungen, Galle 2012, S. 224f. 196 Wickram bietet in seinen bei Knobloch in Straßburg gedruckten Texten ›Jrr reitend Bilger‹ (1555) und ›Von guoten und boesen Nachbaurn‹ (1556) (nachgedruckt bei Messerschmidt, der auch Zschorns Texte verlegte, vgl. dazu die Übersicht bei Knape 1988, S. XVI–XVIII, hier S. XVIII, die allerdings nicht Zschorns ›Aithiopika‹ verzeichnet) Widmungen, die Zschorn zumindest inspiriert haben könnten: Den ›Nachbarn‹-Roman dediziert Wickram Dem Ersamen Kunstliebhabenden Caspar Hanschelo / burger und des Goldtschmidt handtwercks zuo Colmar / meinem lieben gevattern (›Nachbarn‹ S. 5, Z. 1–3), den ›Pilger‹ hingegen Dem Ersamen und Achtbaren herren Georgen Tüffe / Meinem früntlichen lieben Vettern, der in Ensisheim wohnt (›Pilger‹ S. 5, Z. 1f.): Auch wenn Wickrams Widmungen wesentlich informativer als Zschorns Grüße nach Eilenburg sind, bleibt doch die Ähnlichkeit der Widmungsart auffällig. Wickrams Texte zitiere ich nach der Ausgabe von Roloff, vgl. die detaillierten Nachweise im Literaturverzeichnis. Für den Hinweis auf den
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schon zuvor gegeben, und es ist gut möglich, dass er die Vertrautheit gerade eines Straßburger Publikums mit solcher Art der Kommentierung voraussetzt, wenn er den komplexen Text Heliodors mit Marginalien versieht,197 wie sie sich ähnlich auch z. B. bei Wickram finden ließen.198 Zudem haben Antikenübersetzungen zu dieser Zeit Hochkonjunktur,199 besonders Schaidenreisser und Sieder kommen wegen ihrer aktiven Nutzung von Marginalien als Vorbilder für Zschorn in Betracht. Schaidenreisser bietet umfangreiche Reflexionen zu Sinn und Zweck seiner Übersetzung200 und ergänzt seinen Text durch einen umfas-
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›Nachbarn‹-Roman danke ich Martina Backes, vgl. zu Wickram auch Backes 2012, S. 458. Der ›Pilger‹ stellt dem eigentlichen Text zudem ein Register voran (eine Zusammenschau aller Kapitelüberschriften mit Verweis auf die Seitenzahlen im Werk [›Pilger‹ S. 11f.]), und beide Texte, ›Pilger‹ und ›Nachbarn‹, arbeiten mit Marginalien, im ›Pilger‹ finden sich diese bereits in der Widmung. Auch Wickrams Marginalien, die im ›Nachbarn‹-Roman die »Literatur als Schule des Lebens« positionieren und didaktische Zwecke verfolgen, haben ein weites Spektrum. Von Quellenangaben und unterweisenden Kommentaren über Sprichwörter (Wann die katz aus dem haus ist / haben die meus einen freyen dantz [›Nachbarn‹, S. 132], Recht lieben macht rechte künstler [›Nachbarn‹, S. 108]), Sacherklärungen (Pallas die Goettin / ist eine sundere künstliche wirckerinn gewesen / Darumb Lasarus setzt / sie hab sein junckfraw mit der honig suessen milch künstlicher arbeit getrenckt [›Nachbarn‹, S. 108]) und involvierte Ausrufe des Kommentators (O weh. [›Pilger‹, S. 103]; Ach Got dieser ungehorsamen Absolon sind noch viel uff erden / solt an yeder eychen einer hangen es müst ein groesser wald sein dann der Hartz / Behemmer oder Schwartzwalt. [›Pilger‹, S. 105]) mit z. T. unsinnigen Inhalten (Muos o muos / das ich muos essen muos [›Pilger‹, S. 94]). Vgl. zum Fehlen einer Marginalienpraxis in volkssprachigen Romanen der Zeit Kipf 2008, S. 58. Der ›Nachbarn‹-Roman bildet eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Auch Wickrams Bearbeitung der Ovid-Übertragung Albrechts von Halberstadt (1545) wäre als Inspirationsquelle denkbar, vgl. dort die Widmung Wickrams an Wilhelm Boeckle: wiewol eüwer Veste nit meynen soll / mich so erfaren sein inn Latinischer spach / daß ich dies Buch aus dem Latein transferiert hab / dann ich deß Lateins gar unkundig binn (›Metamorphosen‹, S. 5, Z. 21–24), vgl. dazu das Nachwort von Roloff 1990, S. 885. Den lohnenswerten Vergleich zwischen Wickram und Zschorn kann ich hier nur anreißen – notwendig ist es, beide Autoren umfassend zueinander in Beziehung zu setzen und zu eruieren, ob Wickram ggfls. direkten Einfluss auf Zschorn gehabt haben könnte. Da hierfür alle Werke beider Autoren heranzuziehen wären, sprengt das den Rahmen eines solchen Kapitels, das sich allein den ›Aithiopika‹ widmet. Worstbrock 2012, S. 363, Anm. 5 zählt »mehr als 60 Drucke von dt. Übersetzungen antiker Autoren […], die in den 1530er und 1540er Jahren Heinrich Steiner in Augsburg, Ivo Schöffer in Mainz und Jakob Cammerlander in Straßburg herausbrachten«. Schaidenreissers ›Odyssea‹ wurde 1537, 1538 und 1570 aufgelegt, es handelt sich um eine humanistische Übertragung (vgl. dazu Toepfer 2009, S. 107, Anm. 17) der Schullektüre, der lateinischen ›Odyssee‹ (vgl. Zehetmeier 1961, S. 43–47 zur Vorlage und Toepfer 2005, S. 334). Schaidenreisser reflektiert über sein Zielpublikum ebenso wie über sein Übersetzen. Erreichen möchte er einen deutschsprachigen Leserkreis, der normalerweise kurtzweil auß Teütschen buechern vnd historien suochen will (›Vorred‹, S. 7, Z. 23; ich zitiere den Text nach der Ausgabe von Weidling 1911, vgl. weiters Weydt/Sodmann 1986 und Coupe 1988). Schaidenreisser reflektiert über das horazische prodesse und delectare, das er in seiner Übersetzung widerspiegeln will (›Vorred‹, S. 5, Z. 21–26), die nit vnlustig zuolesen sein soll (Titel). Die Aufgabe ist umfangreich, denn Homer zeichnet sich dadurch aus, dass er die
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senden Anmerkungsapparat,201 sowohl marginal (lateinisch und deutsch) als auch in petit-Druck in den Text inseriert (deutsch). Schaidenreisser lenkt mit Hilfe der Paratexte bewusst seine Leser durch den Text, wobei für die umfangreiche Erläuterung ein Vorwissen der Rezipienten ebenso wie ein Interesse am berühmten Stoff vorausgesetzt wird. Die Übersetzung lädt zur Metareflexion ein und zielt auf ein kundiges Publikum ab, das sich intertextuell sicherer zu bewegen weiß, als man dies Zschorns Publikum zutrauen würde. Das unterscheidet Schaidenreissers Übersetzung von der Zschorns – der Anspruch an Vorwissen und an Textdurchdringung ist wesentlich größer, der Konnex zur Tradition des gelehrten Kommentars ist intensiver. Ähnliche formale Vorlagen bieten Zschorn die ›Aeneis‹-Übersetzung Murners202 und v. a. Sieders Übertragung des ›Goldenen Esels‹, mit der erstmals ein antiker (wenn auch ein lateinischer und zudem ein komischer)203 Roman einem Natur hervorragend abconterfeyet (›Vorred‹, S. 3, Z. 37), dies macht ihn zur Grundlage für die Erziehung von Fürsten und zum Urgrund der Philosophie. mit fleiß zuo Teütsch tranßferiert (Titel) kann Homer nur werden, weil zu Schaidenreissers Zeit das Deutsche sich zu einer Wissenschaftssprache entwickelt hat (vgl. dazu Toepfer 2009, S. 112f.) und neben Latein und Griechisch stehen kann (›Vorred‹, S. 6, Z. 55). Schaidenreisser bekennt sich zur Methode Steinhöwels und übersetzt sinnsweiß (›Vorred‹, S. 7, Z. 20). Gerade auch wegen dieser Freiheit im Mikrobereich ist Schaidenreisser um eine bewusste und gezielte Rezipientenlenkung bemüht, die umfassende Information bieten und falsches Verstehen (gerade beim Vergleich mit der Vorlage, den Querverweise immer wieder ermöglichen) ausschließen soll. Bereits die Vorrede soll als Lektüreanweisung unwissendes iudiciere[n] durch den Leser verhindern (S. 1, Z. 11) und als Einstieg in das Werk dienen. Er ergänzt eine knappe Biographie Homers (S. 7, Z. 33-S. 8, Z. 42) und ein Summarium der vier vnd zwaintzig buecher Odyssee Homeri (S. 8, Z. 43-S. 10, Z. 26). Allen 24 Büchern ist außerdem ein Argumentum, das ist, ain kurtzer begriff (Buch 1, S. 11, Z. 4f.) des Inhalts vorangestellt, der Mehrzahl der Bücher ist auch ein illustrierender Holzschnitt beigegeben (vgl. Sodmann 1986, S. 8; sie fehlen zu Beginn des 9. bis 12., des 20. und 24. Buches). 201 Vgl. Coupe 1988, S. 512: »On the crudest level, the factual information provided by Schaidenreisser’s marginal notes must have contributed materially to the spread of knowledge of classical mythology in the sixteenth century. Similarly, the commentaries give a fascinating insight into the way in which the translator wished the work to be understood«. Vgl. auch Toepfer 2005, S. 345. Zu den poetologischen Äußerungen Schaidenreissers in den Marginalien vgl. Toepfer 2009, S. 124–127. 202 Kipf 2008, S. 51f. Vgl. außerdem Redzich 2009, S. 109: »Auf die intendierte Funktion als Lehrwerk ist auch das Layout des Drucks abgestimmt. Jedem Buch wird ein kurzes argumentum vorangestellt. An den Rändern des zweispaltig gesetzten Textes werden in regelmäßigen Abständen lateinische Versinitien angegeben, die die Orientierung im Original erleichtern. Zusätzliche Überschriften gliedern den deutschen Text in kleinere Erzählabschnitte […]. Die besondere Markierung von Dialogen und Monologen zielt auf die praxisorientierte Vermittlung exemplarischer Formen der Rede, und dazu bietet die Übertragung ein volkssprachiges Repertoire von Metaphern, Bildern und Vergleichen, die in der juristischen Redepraxis der eigenen Zeit ihre spezifische Wirksamkeit entfalten können.« 203 Vgl. Hägg 1987, S. 204; ebd. S. 206 weist Hägg auf die Bedeutung der beiden Dichtungen für die Entwicklung des Pikaro-Romans hin und stellt sie deshalb mit Heliodor auf eine Stufe, was die Wirkung in der frühen Neuzeit anbelangt. Vgl. auch Sandy/Harrison 2008, S. 309
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breiteren volkssprachigen Publikum zugänglich wird.204 Den Druck von 1538 hat der Übersetzer, der den Text bereits 1500 handschriftlich niederlegte,205 nicht erlebt.206 Auch Sieder bietet, wie Schaidenreisser, eine Inhaltsangabe vorab und versucht, durch »Interpretationshinweise«207 im Paratext die Rezeption zu lenken. Im Erstdruck finden sich zudem Marginalien in den beiden ersten Büchern, die Sieder als enzyklopädische Erklärungen aus dem lateinischen ApuleiusKommentar von Beroaldo direkt in lateinischer Sprache übernimmt.208 Es geht ihm augenscheinlich um die Verortung im intellektuellen Diskurs und die Rückbindung an die lateinische Apuleius-Exegese.209 Zschorns paratextuelle Arbeit steht damit nicht allein, sondern kann auf Vorgänger zurückblicken, die ihm zumindest in formaler Hinsicht umfangreiche Vorlagen zu bieten haben. Doch wichtiger als die Tradition paratextueller Begleitung von Antikenübersetzungen ist die Abweichung, die Zschorns Kommentare im Vergleich zu den »Vorbildern« aufweisen. Es finden sich in seinen ›Ai-
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passim, wo allerdings die deutsche Übersetzung Sieders nicht erwähnt wird. Vgl. Häfner 2009, S. 9 mit Hinweisen auf weitere Literatur und Plank 2004, Kapitel VII. Zur Kenntnis von Apuleius im (romanischen) Mittelalter vgl. Rollo 1994. Worstbrock 1992, Sp. 1196. Vgl. Häfner 2009, S. 29f. mit einer knappen tabellarischen Auflistung von Unterschieden der Vorredenfassung von 1500 und der von 1538 sowie ausführlicher Häfner 2003, S. 94–136. Vgl. zu den Umständen der Drucklegung Worstbrock 2012, S. 363. Zu den Ausgaben des 17. Jahrhunderts vgl. Küenzlen 2005, S. 188–190 und Plank 2004, S. 136. Sieder ruft Wyle als Gewährsmann für sein Übersetzen genaw dem latein nach auf (ich zitiere nach dem Druck von 1538, vgl. dazu die Angabe im Literaturverzeichnis) und hat mit der Obszönität seiner Vorlage zu kämpfen, die ihm Bürde und Herausforderung ist. Entsprechend betont Sieder nicht die Literaturfähigkeit der deutschen Sprache, stattdessen bemüht er sich darum, die literarische Qualität des Werkes hervorzuheben, das philosophisch unterfüttert und dem eine didaktische Wirkabsicht unterstellt wird (vgl. dazu Häfner 2003, S. 120). Sieder sichert sich zusätzlich durch die Bemerkung ab, dass kein schrifft besser / dann ir leser zu sein vermag. Dieser Vermerk rechtfertigt die Zensur allzu freizügiger Stellen durch den Übersetzer, überträgt aber vor allem die Verantwortung für das rechte Lesen dem Rezipienten. Dies ist ein Kunstgriff, der auch in den ›Amadis‹Vorreden zu finden ist und der es erlaubt, zwischen Darstellung und Wahrnehmung zu unterscheiden; außerdem hilft er (in begrenztem Umfang) ästhetisch und moralisch Fragwürdiges zu legitimieren. Übersetzung als Rezeptionsleistung und das Lesen der Übersetzung als Rezeptionsleistung werden so eng verknüpft: Der Übersetzer Sieder ist ebenso wie der Autor Apuleius für die Steuerung des »Affektverlauf[s]« (ebd.) verantwortlich, die letzte Verstehensentscheidung liegt jedoch beim Leser. Küenzlen 2005, S. 183. Vgl. zu diesem ausführlich Küenzlen 2005, S. 59–129, zu den enzyklopädischen Übernahmen vgl. Plank 2004, S. 102. Erst im Frankfurter Druck von 1605 finden sich weiterreichende und auch die Grenze des zweiten Buches überschreitende Marginalien, die die Orientierung im Text erleichtern sollen und auf besonders interessante Passagen hinweisen, vgl. dazu Plank 2004, S. 103. Zu den Holzschnitten vgl. Häfner 2003, S. 96 mit Anm. 6 sowie Küenzlen 2005, S. 143, vgl. auch ebd., S. 143–152 die weiteren Ausführungen zu den Holzschnitten und die Hinweise auf ältere Literatur.
Zschorns ›Aithiopika‹
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thiopika‹ keine Reflexionen über das Übersetzen, den Wert und Status der Vorlage, die Valenz des Deutschen als Medium und Wissensspeicher oder über die Einbettung des Textes in die intellektuelle Landschaft der Zeit. Das Instrumentarium, dessen sich Zschorn bedient, ist etabliert (und geht letztendlich auf die wissenschaftliche Arbeit mit Texten zurück).210 Er füllt es jedoch mit unterkomplexen, nicht-wissenschaftlichen Inhalten und gibt ihm auf diese Weise einen neuen Sinn: Zschorn agiert im Zwischenraum zwischen »gewöhnlichem« Roman und wissenschaftlich fundierter Übersetzungsliteratur und schafft in dieser Grauzone eine eigene Form der Rezipientenlenkung. Ihm geht es nicht um vertiefende, metapoetische Informationen in den Marginalien oder um ein instruierendes Vorwort, sondern um eine Einhegung des komplexen Textes in einer vereinfachenden Rezipientenlenkung, die die ›Aithiopika‹ als »normale« historia erscheinen lässt. Zschorn kappt alle intertextuellen und intellektuellen Verbindungslinien zur Antikenrezeption und schafft einen eigenständigen Text, der die ›Aithiopika‹ im Kontext der zeitgenössischen Romanproduktion verortet. Seine Paratexte etablieren auf der Basis der langen Geschichte entsprechender Lenkungsmechanismen211 eine innovative Stimme im komplexen Text des Romans. Nicht der Vergleich mit der Vorlage im Hinblick auf etwaige Fehler des Übersetzers212 ist deshalb wichtig, vielmehr ist die neue paratextuelle Stimme, die Zschorn inseriert, die zentrale metapoetische Neuerung. Heliodor schafft ein selbstgenügsames, nicht-praxeologisches Werk, das nicht als Hypo- oder Hyperplasie auf die Kooperation der Rezipienten im Rahmen der inferentiellen Kommunikation angewiesen ist, um zu wirken: Der Rezipient ist bei Heliodor genau das, eine aufnehmende, nachvollziehende Instanz, die gelenkt werden soll. Während der lateinische Übersetzer Warschewiczki paratextuell die praxeologische Ebene in die ›Aithiopika‹ einbringt, indem er den politischen Nutzen der Lektüre der 210 Vgl. dazu grundlegend Kaestner 1984. 211 Zur langen Tradition der Unterteilung des »hierarchisch gegliederten Buchs« (Palmer 1989, S. 56) anhand von Einzelbüchern, Überschriften, Kapiteln und Registern vgl. Palmer 1989, S. 53 (Übersicht). 212 Zu den wenigen Übersetzungsfehlern gehört Charikleas Selbstbezeichnung als Thisbe, während sie sich in der Gefangenschaft des Nausikles befindet und von Knemon belauscht wird (lxxxjr), s. dazu die Ausführungen oben. Missverständlich ist auch die Beschreibung des Obdachs, das Kalasiris, Chariklea und Theagenes nach der Fahrt über das ionische Meer beim schwerhörigen alten Fischer finden: Nicht nur bringt Zschorn die Anzahl der Personen im Haushalt durcheinander, er lässt den alten Fischer auch noch den weniger[en] theil (5.4, xcv) für die Gäste reservieren statt die partem calidiorem domus wie bei Warschewiczki (91B). Beim Wechsel von erster in dritte Person Singular während der Schilderung von Calasiris’ erstem Abendessen mit Theagenes hingegen (3.3, lvjvf.) liegt wohl kein Übersetzungsfehler vor, sondern Zschorn dürfte die Erzählebenen durcheinandergebracht und fälschlich die Perspektive des allwissenden Erzählers gesetzt haben: Wie aber Theagenes vernam das er [recte ich, lat. me (66B)] ein Egypter vnd oberster priester war. Dies ist ein Beleg für die Komplexität, welche die Verschachtelung der Erzählebenen mit sich bringt.
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Johannes Zschorn und die neuen Möglichkeiten des Romans
Dichtung betont, verfährt Zschorn grundlegend anders. Seine paratextuelle Stimme bricht die heliodorische Konstruktion aus delectatio und utilitas auf und integriert das neue Werk in den etablierten, vorauszusetzenden Verstehenskontext. Statt die Rezipienten dem Werk anzunähern, nähert er das Werk den intendierten Rezipienten an. Zschorn führt den Text auf die etablierten, bereits aus der ›Magelone‹ und dem ›Wilhelm‹ bekannten Muster der Rezipientenlenkung zurück, indem er ein hyperplastisches Netzwerk an Kommentaren über den Text zieht, das eine neue Bedeutungsebene erschafft – nicht mehr der Erzähler der ›Aithiopika‹ lenkt (der ja schon bei Heliodor mit einer Aufspaltung seiner Kompetenz in unterschiedliche Erzählinstanzen im Rahmen der narratio konfrontiert war), ein paratextueller Kommentator bringt sich immer wieder ein, bindet die ›Aithiopika‹ im Duktus gelehrter Marginalien an den Alltag der intendierten Rezipienten zurück und schafft eine Hyperplasie von Deutungsangeboten. Dadurch domestiziert Zschorn einen poetologisch wilden, weil innovativen und so im Deutschen noch nie dagewesenen Text, er verständigt sich mit den Rezipienten über den Inhalt und die Deutung und nimmt so dem Erzähler zentrale Kompetenzen; er gemeindet zugleich einen unbekannten, in seiner Anlage innovativen und zudem hoch komplex aufgebauten Roman in eine literarische Landschaft ein, die so etwas wie das Heliodorschema noch nicht gesehen hat – und auch wenn die Romane vor 1600 die unterschiedlichsten Erzählformen und die verschiedensten Stoffe aufzuweisen haben, Heliodors medias in res Zugang mit seiner speziellen Dynamik, die sich aus der Verbindung von epischer Dignität, dramatischer Ekphrasis und spannungsreicher Verschachtelung ergibt, gibt es so noch nicht. Zschorn bietet auf diese Weise eine Art Heliodor mit angezogener Handbremse: Die Effekte, Ansprüche und Wirkweisen des Textes bleiben, auch wenn sie in der Übersetzung beschnitten werden, erhalten, sie sind aber moderiert in ihrer Präsenz durch einen Kommentator, der paratextuell Schwellen zum Text setzt, über die sich der Rezipient den ›Aithiopika‹ nähern kann. Der paratextuelle »intermediary of an assertive narrator«213 ist Zschorns eigene Erfindung und sonst so in der Heliodor-Tradition nicht zu finden. Das ist Zschorns Markenzeichen, und diese Setzung bedingt auch das Schicksal seines Buches.
Die weitere Überlieferung von Zschorns ›Aithiopika‹ Für die Romantheorie existiert die Übersetzung schlechterdings nicht, Zschorns Text bleibt unbeachtet von der Kritik, ist aber bis weit ins 17. Jahrhundert im Druck zu finden, d. h. er hat über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren 213 Morgan 1982, S. 260.
Die weitere Überlieferung von Zschorns ›Aithiopika‹
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seine Käufer und Leser. Nach dem Druck von 1559 mit evtl. bis zu zwei Nachdrucken im selben Jahr finden sich weitere Drucke aus den Jahren 1580, 1587, 1597, 1601, 1624, ca. 1630, 1641 und ca. 1660, hinzu kommt ein verloren gegangener, nur bibliographisch erschließbarer Druck von 1562.214 Nach einer langen Pause von etwa 90 Jahren erscheint 1750 eine neue Übersetzung der ›Aithiopika‹ von M. C. W. Agricola, der dann zügig (1767) eine weitere Übersetzung von Johann Meinhardt in zwei Bänden nachfolgt.215 Beide Neuübersetzer schätzen Zschorn gering (Meinhardt) bzw. nennen ihn nicht (Agricola),216 sie reagieren mit neuen Kompetenzen auf neue Anforderungen und Interessen eines literarisch gebildeten und informierten Publikums, und sie nutzen jeweils den durch das 17. Jahrhundert in Editionen immer weiter optimierten griechischen Text als Grundlage für ihre Übertragungen. Die ›Aithiopika‹ kommen damit im 18. Jahrhundert im volkssprachigen akademischen Kontext an und werden vor einem neuen geistes- und bildungsgeschichtlichen Hintergrund gelesen. Zuvor steht Zschorns Übersetzung allein da, sie überdauert die Zeit der romanpoetologischen Grundlegung des Barock und wird zum letzten Mal aufgelegt, als gerade Huets ›Trait8‹ Wellen schlägt (1670 in Frankreich gedruckt, 1682 ins Deutsche übersetzt). Zschorns Paratexte überdauern in der Mehrzahl der Drucke seiner ›Aithiopika‹.217 Dass Heliodors Text ohne solche Kommentare nur schwer zu verstehen ist, zeigt sich auch an dem Umstand, dass beide Übersetzer des 18. Jahrhunderts ebenfalls Anmerkungen zu ihren Texten hinzufügen (in Fußnoten, nicht in Marginalien, das entspricht dem Zeitgeist).218 Nur Zschorns eigentümliche Widmung geht nach dem Erstdruck verloren. Zwei Beispiele dafür, was an die Stelle des Verwandtengrußes nach Eilenburg treten kann, seien kurz vorgestellt: der Druck 214 Vgl. dazu die Ausführungen oben sowie Veitschegger 1991, S. 76f. 215 Noch im 19. Jahrhundert wird der Text drei Mal neu übersetzt: Theagenes und Charikleia. Ein Roman aus dem Griechischen des Heliodores, übers. v. Karl Wilhelm Göttling, Frankfurt: Andrea, 1822; Heliodor’s zehn Buecher Aethiopischer Geschichten. Aus dem Griechischen übersetzt von Friedrich Jacobs. Erstes Bändchen, Stuttgart: Metzler, 1837, Zweites Bändchen, Stuttgart: Metzler, 1838 (Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen 162); Heliodorus: Aethiopische Geschichten. Aus dem Griechischen übers. v. Theodor Fischer. 2 Bde., Berlin/Stuttgart: Langenscheidt: 1867f. (Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen 31). 216 Meinhardt Band 1, Vorbericht, 3*v : Eine deutsche Uebersetzung haben wir schon vor zweyhundert Jahren gehabt, die izt ganz unbekannt ist. Aber unsere Sprache der damahligen Zeit, die zwar schon ihre stärkern Farben und ihren maennlichen Charakter, aber noch nicht ihre feinern Tinten hatte, war noch nicht geschickt, ein Gemaehlde, wie dieses, zu kopiren. 217 Es gibt drei Ausnahmen: Das ›Buch der Liebe‹ nimmt den ›Aithiopika‹ wie allen aufgenommenen Texten die Paratexte jenseits von Kapitelüberschriften. Außerdem fehlen in den beiden Ausgaben von Nerlich in Leipzig (1597 und 1601) die Anmerkungen, vgl. dazu Schäffer 1984, S. 19* mit Anm. 23. 218 Vgl. allg. Kaestner 1984, S. 214–216.
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Johannes Zschorn und die neuen Möglichkeiten des Romans
des Textes, den Nikolaus Bass8e 1580 in Frankfurt auf den Markt brachte219 und Feyerabends ›Buch der Liebe‹. Der Druck von Bass8e, der Feyerabend eventuell auch als Vorlage für seine Ausgabe diente,220 weist auf dem Titel korrekt Heliodor als Autor der ›Aithiopika‹ aus: Heliodori Historia Aethiopica – der Erstdruck hatte den Namen des Autors unterschlagen. Bass8e, dessen Widmungsbrief an Bartholomäus Schönkapp221 die Widmung Zschorns ersetzt, schlüsselt sodann den Text und seine Geschichte (relativ) detailliert auf: Zuerst identifiziert er Heliodor als alten vnd beruehmten Scribenten (a ijr). Dann betont er den Wert seines Werkes, gerade auch vor dem Hintergrund, dass man zeitgenössisch ja auch die Getichte von dem Tristrant / Amadiß / etc. zu lesen wirdig achtet: wie viel mehr sind der alten Historien / so vor etlichen vnd tausendt jaren bey vnsern Vorfahrn / vnd frembden fuernemmen Nationen / fuer gut geachtet zu lesen / vnd in billichem wert zu halten (a iijv). Bass8e rekapituliert sodann den Weg der byzantinischen Handschrift in den Westen und in den Druck: Vnd damit ich eigentlich von disem Buechlein kuertzlich allhie meldung thue / hat solchs wolverschienener jaren ein Soldat oder Landsknecht / vnter weiland dem Durchleuchtigen Hochgeborn Fuersten vnnd Herrn / Herrn Casimiro Marggrauen zu Brandenburg / etc. hochloeblicher Christlicher gedaechtniß / im Land zu Vngern / vn den Reliquijs, vnd gleich vbergeblibenen brocken der stattlichen / vnd mit grossem vnkosten erzeugten Bibliotheca, deß auch weiland Großmaechtigen Koenigs Mattiasch / etc. zu handen bekommen / vnd weil solchs Buch in Gold gebunden gewesen / mit sich in Teutschland / vnd gen Onoltzbach gebracht / da es denn ferrners dem hochgelehrte Herrn Vincentio Obsopoeo seligen zukommen / vnd also in Teutschland erst in Truck verfertiget worden. Vnd hat den solchs Opusculum, so bald es durch den Truck / wie erstgemeldt / an den tag kommen / allen Gelehrten / vnd der Griechischen Sprach verstendigen dermassen gefallen / daz sie oeffentlich schreiben vnd ruehmen doerffen / wie sie in Griechischer Sprach keinen lieblichern vnd luestigern Autorem nie nit gesehen noch gelesen. (a iijvf.)
Bass8es Einleitung weist damit über den Rahmen hinaus, den Zschorn seinem Text gesetzt hat, und bindet die ›Aithiopika‹ an eine gelehrte Diskussion an, die bis dato nicht auf Deutsch geführt wurde: Die Geschichte vom Manuskriptraub findet sich bei Obsopoeus222 und Warschewiczki (A iiv), auch Amyot erwähnt sie in seinem ›Proesme‹.223 Zschorn verschweigt dieses Detail, ebenso wie den be219 Ich habe das Exemplar mit der Signatur Wolfenbüttel 572 Hist. eingesehen und danke der Bibliothek für die Herstellung eines Digitalisats. Der Druck ist inzwischen auch online verfügbar, vgl. dazu den Link im Literaturverzeichnis. 220 Veitschegger 1991, S. 80. 221 Bartholomäus Schönkapp war von 1575 bis 1617 Kanzlist der fürstbischöflichen Schreibstube in Würzburg, d. h. während der Amtszeit des Julius Echter von Mespelbrunn; seit 1585 war er zudem Keller von Dettelbach. Vgl. zu ihm Schock-Werner 2005, bes. S. 153. 222 Vgl. dazu Gelzer 2008, S. 121. 223 Im Druck von 1553 auf Bl. 5r.
Die weitere Überlieferung von Zschorns ›Aithiopika‹
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sonderen Stellenwert des Autors, den Bass8e hervorhebt und den Crusius kurz nach Erscheinen dieses neuen Drucks der deutschen Übersetzung prägnant fassen wird in der Formel: Nemo ex Heliodoro offenditur (Marginalie auf S. 9 der Widmungsepistel): Wo in der übrigen Überlieferung Heliodor zum Synonym für sein Werk wird und als eine Art Gütesiegel steht, fokussiert Zschorn allein auf den Text der ›Aithiopika‹, und diese Verkürzung hebt Bass8e im Einklang mit der gelehrten Rezeption auf. Zusätzliche Dignität erhalten die ›Aithiopika‹ im Nachdruck dadurch, dass Bass8e sie mit Verweis auf Obsopoeus und Melanchthon nit fuer ein lauter Geticht / sondern fuer eine Historien (a iiijv) hält, die an der Seite von Herodots Werk stehen kann, dem eben auch zu zeiten vnglaeublichs vnd vnerhoerts dings […] mit vnterlaeufft (ebd.). Die ›Aithiopika‹ werden also aufgewertet, denn ein Geticht ist der terminologisch eng gefassten Historie inferior. Zwei weitere Aspekte finden Bass8es Aufmerksamkeit: der Wert der Dichtung und der Wert der Übersetzung. Zu letzterer betont er, dass er gern selbst eine Neuübersetzung vorgenommen hätte, dann aber bei der vorigen Version deß Johann Zschorn (a vr) geblieben sei, den er explizit nennt, damit man ihm nicht unterstellen kann, deßselbigen Namen obscuriren vnd vnterdruecken zu wollen (ebd.). Diese Übertragung ist genau wie die in andere Volkssprachen nicht mit dem griechischen Original zu vergleichen, aber auch nit zu uerachten (a iiijv). Diese Wertschätzung für die Übersetzungen speist sich auch daraus, dass sie einen ethisch-moralisch außerordentlich wertvollen Text zugänglich machen (a iiijr), der die Leser zudem bildet, indem er historiographische, geographische und andere Details bietet (a iiijv). Das alles legitimiert die neue Auflage des Textes von Zschorn in konventionell praxeologischem Sinne, wie er auch in den Vorreden der lateinischen und griechischen Ausgabe zu finden ist. Bass8e übernimmt sodann Zschorns Inhaltsverzeichnis (4v-7v) und seine Marginalien, er akademisiert nur den Vorredenbezug, lässt die Marginalien aber unverändert. Der Umstand, dass Bass8e den Text mit 76 Holzschnitten versieht,224 fügt den ›Aithiopika‹ eine weitere paratextuelle Dimension hinzu, die rein ornativ funktioniert (die Illustrationen passen nicht unbedingt zu den im Text verhandelten Inhalten und scheinen »recycelt« zu sein) und keine Verständnishilfe bereitstellt. Bass8e begreift die deutsche Übersetzung des berühmten Buches als notwendiges Übel, um den wichtigen Text einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Das bedeutet eine Umwertung im Vergleich zu Zschorns Übersetzungsintention, wie sie in der ironischen Vorrede von 1559 zum Ausdruck kommt, wenn nicht die Zielsprache sich des Werkes, sondern das Werk sich der Sprache als würdig erweisen muss. Zschorns Text wird von Bass8e in die Rolle gedrängt, die ihm auch in der Folgezeit von den litterati zugeschrieben worden 224 Vgl. Schäffer 1984, S. 49*.
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sein dürfte, nämlich die des Substituts, der Ausweichmöglichkeit für Ungelehrte, die sich mit Heliodor beschäftigen wollen – aus diesem Grund dürfte sich die Übertragung auch so lange auf dem Markt behauptet haben; die diskursprägenden Eliten brauchten sie nicht (weil sie sich am griechischen bzw. lateinischen Text orientierten), für die Ungelehrten wurde die Übersetzung als ausreichend angesehen, zumal sie verhältnismäßig genau arbeitet und im Rahmen ihrer Möglichkeiten kongenial zum lateinischen Text steht, das lässt sie massenkompatibel erscheinen. Ein deutlicher Beleg für diese Popularität findet sich im ›Buch der Liebe‹. Hier werden Theagenes und Chariklea mit ›Ritter Galmy‹, ›Tristrant‹, ›Melusine‹ und anderen Historien bzw. »alten« Romanen vergesellschaftet, zu denen auch die ›Magelone‹ gehört, mehr noch: Die ›Aithiopika‹ stehen in der Mitte von Feyerabends Sammlung der dreizehn Liebesromane, die er 1587 auf den Markt brachte. Der Übersetzungscharakter des Textes wird dabei im Titel der ›Aithiopika‹ unterschlagen.225 Dem Leser wird im Gegenteil durch die Textumgebung suggeriert, es mit einer Liebesgeschichte gewohnter Machart zu tun zu
225 Vgl. hierzu die tabellarische Gegenüberstellung der Titel, die vermuten lässt, dass Feyerabend den Druck von 1559 ebenfalls gekannt haben könnte: Titel der Ausgabe Straßburg 1559
Titel der Ausgabe Frankfurt 1580
Aethiopica Historia. Ein schoene vnnd Liebliche Historie / von einem großmuetigen Helden aus Griechenland / vnd einer vber schoenen Junckfrawen / eines Koenigs dochter der schwartzen Moren (der Jüngling Theagenes / vnnd die Junckfraw Chariclia genant) darinn Zucht / Erbarkeit / Glück vnnd Vnglück / Freud vnd laid / zuo sampt vil guoter leren beschriben werden. Aus dem Griechischen ins Latin / vnnd yetzundt newlich ins Teutsch bracht / ganz kurtzweilig vnnd nutzlich zuo lesen.
Heliodori Historia Aethiopica. Das ist: / Ein schoene liebliche Histori / von dem fuertrefflichen tapffern Helden auß Griechenland / Theagene / vnd der vberauß schoenen Jungkfrauwen Chariclia / der schwartzen Moren Koenigs Tochter. Darinnen Zucht / Erbarkeit / Glueck vnd Vnglueck / Freud vnd Leyd / vnd sonsten vil guter Lehren vnd Exempel / beschrieben werden. Erstlich auß dem Griechischen ins Latein / vnd dann jetzundt auffs nuwe in vnser Teutsche Sprach mit sonderm gleiß transferirt. Ganz kurtzweilig vnnd nuetzlich zu lesen.
Titel der Ausgabe Frankfurt 1587 (›Buch der Liebe‹) Eine schöne vnd liebliche Histori / von einem großmütigen Helden auß Griechenland / vnd einer vberschönen Jungfrawen / eines Königs Tochter der schwartzen Moren (der Jüngling Theagenes / vnd die Jungfraw Chariclia / genannt) darinn Zucht / Ehrbarkeit / Glück / vnd Vnglück / Frewd vnd Leyd / zu sampt viel guter Lehren / beschrieben werden.
Die weitere Überlieferung von Zschorns ›Aithiopika‹
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haben – auch wenn der nähere Blick auf die Mehrzahl der Texte den oberflächlichen Eindruck von thematischer Homogenität der Sammlung schnell zunichtemacht; insbesondere für die ›Aithiopika‹ erscheint die Reihung mit ›Tristrant‹, ›Wigoleis‹ und den Übersetzungen aus dem Französischen unpassend. Doch verrät die Kompilation, die aus verlegerischem Kalkül226 mit Blick auf ein zahlungskräftiges Publikum227 zusammengestellt worden ist, deutlich, wie die ›Aithiopika‹ gelesen werden sollen: als problemlose Liebesgeschichte, nicht mit den vorsichtigen Verständnishilfen, mit denen sie Zschorn 1559 in die deutsche Literatur eingeführt hat, sondern ohne paratextuelles Korsett – nur die gliedernden Kapitelüberschriften werden beibehalten. Feyerabend betreibt eine Romanvergesellschaftung, bei der durchaus auch die »Schwelle zum Romanbewußtsein der Neuzeit« nachzuvollziehen ist,228 und deren Ziel darin besteht, das zusammenzuführen, was gern gelesen wird. Das wirft ein besonderes Licht auf die ›Aithiopika‹ und ihren literarischen Stellenwert im späten 16. Jahrhundert; nicht nur ist Feyerabends Druck der mindestens dritte von Zschorns Übersetzung binnen dreißig Jahren. Hier geht es offenkundig auch darum, den Text zu vereinfachen und eingängiger zu präsentieren. Wie Bass8e bietet auch Feyerabend Illustrationen als weitere paratextuelle Dimension von ornativem Charakter.229 Das Bildprogramm des ›Buchs der Liebe‹ ist dabei nicht spezifisch auf die ›Aithiopika‹ abgestimmt, vielmehr finden in der Romanillustration die Schnitte Verwendung, die durch das ganze Buch hindurch immer wieder auftauchen. Der ungewöhnliche Text ist hier gewöhnlich geworden und Teil eines Kanons erfolgreicher Liebesgeschichten, die die Literaturlandschaft ihrer Zeit prägen. Dass Feyerabend zur Gänze darauf verzichtet, das poetologische Potential seiner Zusammenstellung auszunutzen oder aus den divergenten Liebeskonzepten der von ihm versammelten Liebesromane einen Erkenntnisgewinn und Nutzen zu ziehen, der über die bloße Idee der Didaxe hinausgehen würde,230 zeigt dabei deutlich, dass es vor allem um ein
226 Vgl. Flood 1987, S. 206. 227 Zum Publikum des ›Buchs der Liebe‹ vgl. z. B. Skow-Obenaus 1998, S. 105: »Only the very wealthy could be counted upon to purchase an anthology like ›Das Buch der Liebe‹« und ebd., S. 113 zur intendierten weiblichen Leserschaft und den (möglichen) Lektüreanreizen durch die Präsentation prominenter Frauenfiguren in der Sammlung. Die Aufmachung (Folio, Illustrationen etc.) wird von Skow-Obenaus vornehmlich im Kontext einer offenkundigen Wertigkeit des angebotenen Produkts gelesen, insbesondere die Illustrationen liest sie nicht im Hinblick auf mögliche inhaltliche Relevanz. Vgl. zur kostspieligen Aufmachung des ›Buchs der Liebe‹ auch Zeller 2010, S. 160, dort auch der Hinweis auf die analoge Aufmachung von Feyerabends dreizehnbändiger ›Amadis‹-Ausgabe von 1583. 228 Kreutzer 1984, S. 208. 229 Vgl. zu den Illustrationen im ›Buch der Liebe‹ Veitschegger 1991, S. 183–194. 230 Vgl. dazu die Ausführungen in Feyerabends Widmung des ›Buchs der Liebe‹ an die Landgräfin von Hessen in Anhang 5. Vgl. die Auflistung der erhaltenen Exemplare mit
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intellektuell niedrigschwelliges Lektüreangebot für betuchte Käufer geht. Diese können das explosive Potential der Kompilation in ihrer Lektüre aktualisieren und durchspielen – oder sich auf das bloße Vergnügen der Rezeption einlassen. Der Rezipient als konstituierender Bestandteil einer vormodernen Romanpoetik ist auch bei Feyerabend vorausgesetzt und nicht aus dem Gesamt der Konstruktion wegzudenken. Damit treten in den beiden Drucken von 1580 und 1587 paradigmatisch zwei Rezeptionsweisen der ›Aithiopika‹ vor die Leser : Die akademische, mit Marginalien und vertiefender, erläuternder Vorrede ausgestattete Ausgabe Bass8es, welche die im Druck Messerschmidts angelegten Spezifika aufnimmt und ergänzt – und eine vereinfachende, den Text zur bloßen Unterhaltungslektüre reduzierende Lesart im ›Buch der Liebe‹, die auf Anmerkungen verzichtet und den Text ohne Verständnishilfen vor die Rezipienten stellt, mehr noch, die ihn einbettet in einen Rahmen von anderen Texten, die allesamt dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit entstammen. Bei Feyerabend wird der antike Solitär vergesellschaftet und mit der Romanproduktion der eigenen Zeit gemein gemacht. Wo Bass8e paratextuell den kulturhistorischen Wert ausstellt, geht es Feyerabend darum, das Werk im zeitgenössischen Romankontext zu lesen. Auch wenn die Druckgeschichte der deutschen ›Aithiopika‹ noch zu schreiben ist,231 können ihre Anfänge und die ursprünglichen Ansprüche des Übersetzers deutlich herausgearbeitet werden: Zschorn strebt eine leicht zugängliche, den Leser vorsichtig durch die Lektüre begleitende Ausgabe des komplexen und neuartigen Textes an. Er will Hemmschwellen der Rezeption beseitigen und akademische Hürden gerade nicht aufstellen: Nicht die Leser sollen an den Text, sondern der Text soll an die Leser herangeführt und ihnen im Stil einer annotierten und kommentierten historia präsentiert werden. Die intendierte Rezipientenlenkung weist deutlich darauf hin, dass hier ein breites Publikum gesucht wird, das nicht zu sehr gefordert werden soll. Die Vorrede dokumentiert dieses Understatement des Übersetzers durch ihren ironischen Zuschnitt – stellt man Zschorns ›Vorred‹ neben Amyots ›Proesme‹, wird deutlich, wie weit die romantheoretischen Diskurse divergieren, wie unterkomplex der deutsche Text daherkommt und mit wie geringem Anspruch sich Zschorn seinen Rezipienten nähert. Mit diesem Versuch, den Roman neben gewöhnliche historien zu stellen, hebelt Zschorn die Poetik Heliodors nicht nur aus, er verwandelt den Text Widmungsvorrede bei Veitschegger 1991, S. 236 und den Abdruck des Schreibens ebd., S. 248–258. 231 Die Analyse der verschiedenen Vorreden und der detaillierte Vergleich der unterschiedlichen Drucke der deutschen ›Aithiopika‹ bedarf einer umfangreicheren Studie, als ich sie hier vorzulegen vermag – dies ist insbesondere auch im Zusammenhang der poetologischen Entwicklungen des 17. Jahrhunderts wichtig, deren Erforschung gemeinhin das, was als »Volksbuch« abqualifiziert wird, nicht berücksichtigt und auch Zschorns Übersetzung außen vor lässt. Vgl. dazu auch Gelzer 2008 und Lindhorst 1955.
Die weitere Überlieferung von Zschorns ›Aithiopika‹
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zugleich in ein hyperplastisches, überdeterminiertes Konstrukt, das Heliodors Leserlenkung vereindeutigt und ein Oszillieren zwischen Immersion und distanzierter Betrachtung nicht mehr zulässt. Der Zuwachs an Sinn durch den Paratext ist reversibel, er etabliert die deutschen ›Aithiopika‹ allerdings dauerhaft als Unterhaltungsprodukt und den Rezipienten als außenstehenden Betrachter, dem Immersion vorenthalten bleibt und der sich nicht mit metapoetischen Fragestellungen aufhalten soll. Dass die Rezeption von Zschorns Text zwischen den Polen der vereinfachenden Vergesellschaftung mit den übrigen Romanen der Zeit (Feyerabend) und der akademisierenden Aufbereitung anhand einer neuen Vorrede (Bass8e) changiert, zeigt das breite Wirkungsspektrum seiner Übersetzung in einem langen Zeitraum an.232 Dass er keinen Einfluss auf die romantheoretische Debatte nehmen kann, ist die Kehrseite dieses kommerziellen Erfolges, der sich in zahlreichen Neudrucken dokumentiert: Zschorn hat die ›Aithiopika‹ ihrer Besonderheit beraubt und sie als einen Prosaroman gewöhnlichen Zuschnitts verkleidet. Ihr Potential verbirgt er, statt es zu offenbaren, und er trägt zu ihrer Verbreitung, nicht aber zu ihrer metapoetischen Erschließung bei. Während sich in Frankreich ein romantheoretischer Diskurs anhand der Auseinandersetzung mit Heliodor etabliert, verharrt die deutschsprachige Romanpraxis in einer praxeologischen Aufbereitung, die die Gegenwartsanbindung und Sacherklärung der Inhalte über ihr poetologisches Potential stellt.
232 Noch der letzte bekannte Druck des Textes, bei Endter in Nürnberg zwischen 1660 und 1680 erschienen, bedient die Aspekte, die Bass8e in seiner Vorrede aufzeigt und empfiehlt die ›Aithiopika‹, die bei Endter unter dem Autorennamen als ›Heliodorus‹ laufen, als Exempel tugendhaften Verhaltens (Exemplar aller Tugenden, 1r). Endter behält die Marginalien, wegen des Seitenspiegels als Anmerkungen in eckigen Klammern in den Fließtext integriert, bei und bietet auch Zschorns Inhaltsangabe (am Ende des Bandes, nicht am Anfang, wie das 1559 und 1580 der Fall war).
Romane auf der Suche – die intendierte Rezeption vorbarocker Romane
Walter Haugs These von der »aktualistischen Ästhetik«1 vormoderner Literatur bildete den Ausgangspunkt meiner Überlegungen; zum Abschluss des Buches möchte ich noch einmal auf sie zurückkommen: Es handelt sich um die Idee, dass Romane des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ihre Rezipienten aktiv in die Sinnstiftung mit einbeziehen, dass Dichtungen nicht allein Produkt eines Autors sind, sondern in eine inferentielle Kommunikation mit ihren Lesern bzw. Hörern eintreten. Das bedeutet, dass Dichtungen dieses Zuschnitts prinzipiell unabgeschlossene Konstrukte sind, grundlegend auf die Interaktion der Rezipienten angewiesene Texte. Hieraus wiederum resultiert, dass solche Texte ihre Rezipienten nicht nur für die Rezeption gewinnen wollen (wie dies auch heute noch jedes literarische Werk über paratextuelle Werbung und Aufmerksamkeitsheische tut), sondern existentiell davon abhängen, die Rezipienten adäquat durch den Text zu lenken, ihnen Verstehens- und Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen und ihnen vor Augen zu führen, dass die aufgewendete Zeit und Energie lohnend investiert sind. Da der Sinn der Dichtungen nicht vorgegeben ist, sondern sich in der Aktualisierung manifestiert, ist dieses Lenken der Rezipienten und das Eröffnen von Sichtachsen nicht als ein Gang durch ein vorkonzipiertes Labyrinth zu verstehen, dessen Erschaffer den einzigen Ausgang zur richtigen Erkenntnis des Textsinns vorgeben würde – vielmehr entwickeln sich die Wege während des Durchgangs durch den Text im Rahmen der inferentiellen Auseinandersetzung mit der Geschichte, aber auch mit ihrer Darbietung durch den Erzähler. Die aktualistische Ästhetik ist deshalb mit einem wirkungspoetischen Anspruch der Dichtungen untrennbar verbunden, der auf rhetorischer Grundlage die Rezipienten in das Dargestellte ebenso wie in den Modus der Darbietung involviert – kognitionstheoretisch lässt sich dies als Entfaltung von Wirkungspotentialen fassen, die rational wie emotional angelegt sind und die kognitive Auseinan-
1 Haug 1995, S. 27.
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dersetzung mit dem Text in einer emotionalen Erstreaktion eingebettet sehen. Der Text affiziert, erst dann provoziert er weitergehende Reaktionen. Das ist die Grundlage für die spezifisch vorbarocke Aktualisierung des horazischen Diktums von der Dichtung, die nützt und unterhält: Aut prodesse volunt aut delectare poetae, / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.2 Idealiter kommen beide Aspekte zusammen und geht der Nutzen aus der Unterhaltung hervor. Walter Haug hat dies für die Klassiker der höfischen Dichtung, allen voran den ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, gezeigt. Dabei stellt er die Fiktionalität in den Mittelpunkt seiner Überlegungen; er arbeitet heraus, wie der spezifische Kunstcharakter der Dichtungen ihre Wirkungsästhetik formt, indem Kunstreflexion in die Werke eingebettet erscheint.3 Allerdings sind immer auch praxeologische Erwägungen auszumachen (auch der ›Tristan‹ Gottfrieds will diejenigen erreichen, die unmuoze (V. 90) brauchen, und gibt sich damit einen praxeologischen Anstrich), und dieser Fokus bringt eine Umwertung der Wirkziele mit sich. Für die utilitas ist der praxeologische Weltbezug der Dichtungen zentral, die, wie der ›Tristan‹, das Seelenheil sichern4 oder die einfach Weltwissen vermitteln wollen, wie dies für die enzyklopädischen Passagen des ›Wilhelm von Österreich‹ von Herweg plausibel gemacht worden ist.5 Das bedeutet auf lange Sicht eine Neubewertung des Nutzaspektes, der zunehmend praktisch verstanden wird, und genau diesen praktischen Nutzen bewerben frühneuzeitliche Romandrucke als Mehrwert der Bücher. Umgekehrt gilt für die delectatio in immer größerem Maße der Verdacht des Zeitvertreibs ohne Sinn und der potentiell gefährlichen emotionalen Affiziertheit.6 Unterhaltung dient in der Konsequenz als Überzuckerung der bitteren Pille der Belehrung, diese Sichtweise verfestigt sich in der Romankritik des 16. und 17. Jahrhunderts zum Topos und reduziert delectatio vom intrinsischen Dichtungsbestandteil auf ein notwendiges Übel.7 Damit einher geht eine fast schon dichotomische Trennung der Wirkziele von Dichtung ebenso wie eine Hierarchisierung dieser Wirkziele in den Paratexten: Unterhaltung ist der Belehrung untergeordnet und hat keinen eigenständigen Wert in der Romankritik der Frühen Neuzeit, zugleich ist sie aber augenscheinlich ein zentrales Movens für die Rezeption von Romanen. Immer wieder spiegelt sich das auch in den Vorreden von Texten wider, etwa in Messerschmidts Widmung des ›Brissonetus‹ (1559), die moralgesättigtes erluestigen und Be2 Horaz, ›Ars poetica‹, V. 333f. 3 Vgl. Haug 2009, S. 227 (mit Bezug auf den ›Tristan‹): »Die Wahrheit des fiktiven Romans im 12./13. Jahrhundert dagegen ist die des literarischen Experiments«. 4 Ebd., S. 209: »Das richtige Verständnis des Werkes ist ein Weg zur Rettung der Seele.« 5 Herweg 2010, S. 56. 6 Vgl. dazu die Ausführungen oben zur ›Amadis‹-Kritik. 7 Vgl. Eybl 2009, S. 11 und Roßbach 2015, S. 24–27.
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lehrung verspricht8 bis hin zum ›Ismenius‹ (1573), dem Artopoeus voranstellt, dass er melancolische gedancken vertreibet / vnd die gedaechtnüß erfrischet.9 Die Begleitrede als »rhetorisches Forum«10 wird zum Ort ebenso wie zum Instrument der Legitimierung von delectatio durch utilitas, nur die praxeologische Funktionalisierung erlaubt es, Unterhaltung beizubehalten – nicht als Wirkziel, aber als Mittel zum Zweck. Dieser theoretische Diskurs hemmt die Entfaltung einer Romanpoetik in der Frühen Neuzeit nachdrücklich: Rezipienten werden in der Theorie und Kritik der Gattung auf den Status von Konsumenten oder gar (wie im Falle der ›Mythoscopia romantica‹ von 1699) Opfern der Literatur reduziert, die den Texten mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Der Streit über die Rolle der delectatio, der in den Paratexten und Romankritiken ausgefochten wird, kann dabei als Code für die Frage nach der Beteiligung der Rezipienten an der Sinnentfaltung und Sinnstiftung der Texte gelesen werden – die wirkungsbezogene, aktualistische Ästhetik kann nur funktionieren, solange Rezipienten von den Texten dazu aufgefordert werden, sich aktiv zu positionieren, also an der poetica in actu, welche die Texte bieten, mitzuarbeiten. Konsumenten hingegen erhalten fertige Ware zum Genuss geliefert. Die Strategien, mit deren Hilfe eine ganze Bandbreite von Positionierungen der Rezipienten von aktiver Teilnahme bis hin zum Konsum ermöglicht wird, habe ich anhand einer Beispielreihe von drei Romanen analysiert, die den Oberthemen von Minne/Liebe und Aventiure/Abenteuer zuzuordnen sind. Die Beschränkung auf ein minimales Corpus aus der umfangreichen Romanliteratur rechtfertigt sich nicht allein durch praktische Gründe der Überschaubarkeit und Bearbeitbarkeit, sondern ist vor allem durch die Traditionslinie vorgegeben, in der sich die Romane bewegen. Minne- und Aventiureromane des 13. und 14. Jahrhunderts nehmen als nachklassische Texte klassisch-höfische Elemente der Poetik auf und entwickeln sie weiter, d. h. sie stehen in der längeren Tradition mittelalterlichen romanhaften Schreibens,11 das durch sie eine weitere Zuspitzung und Ausgestaltung erfährt: Der ›Wilhelm von Österreich‹ stellt z. B. ein explizites Epigonalitätsbewusstsein (stupfelman, 1497) aus, verbindet diese Standortbestimmung aber zugleich gezielt mit eingesetzter Stilistik, die im überbordenden ornatus, in der amplificatio und der besonderen Aktivität der Erzählerfigur ihr Heil sucht. Inhaltlich ist eine Loslösung der Minne- und Aventiure-Idee aus den Grenzen etwa arthurischer Denkmuster auszumachen. Die Liebe und das Abenteuer stehen nicht mehr gleichwertig nebeneinander, das 8 9 10 11
Brissonetus, S. 4, Z. 36. Ismenius, Vorrede, S. [2]. Weinmayer 1982, S. 16. Vgl. allg. Klein 2015.
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Abenteuer dient der Liebe, und die Liebe hat die Verbindung zum Hof als sozial determinierender Kraft verloren, sie ist losgelöst von ethischen Verpflichtungen und befindet sich auf dem Weg in die Individualisierung. Der Prozess der Minne-Individualisierung findet sich in der ›Magelone‹ in verstärktem Maße, hier tritt die Aventiure gänzlich zurück und gibt einem Liebesdenken Raum, das sich allein auf die Befindlichkeiten der Helden konzentriert. Höfische Normen tauchen lediglich als internalisierte moralische Richtlinien auf, mit denen zuerst gebrochen werden muss, damit die Liebe ihren Weg gehen und zuletzt wieder in den höfischen Kontext integriert werden kann. Mit den ›Aithiopika‹ schließlich treten Einzelschicksale ohne jede gesellschaftliche Anbindung der Helden vor die Rezipienten, allein Theagenes und Chariklea stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sie werden zum Spielball fremder Mächte und behaupten ihre Liebe gegen alle Gefahren von außen, das Innen der Liebenden wird damit zu einem abgeschlossenen, der Außenwelt gänzlich entzogenen Raum und zu einer Privatangelegenheit. Mit den ›Aithiopika‹ tritt zudem der zentrale Urtext der Gattung Roman in die Literatur der Frühen Neuzeit ein. Die mittelalterlichen Minne- und Aventiureromane und auch die frühneuzeitliche ›Magelone‹, die noch stark mittelalterlichen Erzählmodellen der Legende und des Minne- und Aventiureromans verpflichtet ist, sind mit den Erzählmustern des antiken Romans nur über die Umwege der apokryphen Apostelakten vertraut und mediävalisieren sie. Deshalb ist mit Heliodors Dichtung auch ein Neueinsatz im romanhaften Erzählen verknüpft, der metapoetische Anspruch der Romanliteratur seit dem späten Mittelalter wird hier auf eine neue Bewusstseinsebene und eine neue Stufe der Artifizialität gehoben. Das Bemühen sowohl der lateinischen paratextuellen Praxis (Obsopoeus, Warschewiczki) als auch der volkssprachigen Übersetzung (Zschorn) darum, dieses innovative Potential in gewohnte Bahnen der historia-Wahrnehmung einzuhegen, bezeugt die Wirkkraft, die den ›Aithiopika‹ dabei innewohnt. Immer wieder habe ich mich im Verlauf der Analyse einer aus der Zellbiologie entlehnten Metapher bedient: Die Hyperplasie als reversible Zellzunahme und die Hypoplasie als Gewebsschwund bezeichnen dabei im Rahmen meines Ansatzes die Vorstellung, dass dem Gewebe der Texte etwas hinzugefügt und weggenommen werden kann, wodurch der Charakter der Romane mit geprägt wird: Diese Eingriffe sind nicht einfache Aufschwellungen oder Kürzungen, sondern strukturelle Veränderungen der poetischen Textur mit dem Ziel, wirkungsästhetischen Nutzen zu erzielen. Als Beispiel für die Hyperplasie habe ich den ›Wilhelm von Österreich‹ herangezogen, der die überkommene höfischklassische Poetik substantiell ergänzt, sowohl auf inhaltlicher Seite wie auch im Hinblick auf die metapoetische Reflexion der komplex angelegten Erzählerfigur. In der hyperplastischen Struktur wird ein Überangebot von Sinnstiftungsmöglichkeiten für den Rezipienten erkennbar, welches dieser zum Ausgangs-
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punkt seiner Rezeption nehmen muss, um vereindeutigende Entscheidungen zu treffen: Wie der Roman gelesen werden soll, entscheidet nicht der ›Wilhelm‹ selbst, sondern ist Gegenstand der jeweiligen Aktualisierung in der Rezeption. Dieses Angebot an den Rezipienten geht weit über das hinaus, was die Forschung gemeinhin mit Hybridität des ›Wilhelm‹ beschreibt. Die Ermächtigung des Rezipienten macht ihn zum gleichberechtigten Teilnehmer an der inferentiellen Kommunikation mit dem Text: Der Roman ist, so könnte man zugespitzt formulieren, das, was der Rezipient aus ihm macht. Im Verlauf der Rezeptionsgeschichte des ›Wilhelm‹ erfährt dieses umfassende Konzept paradigmatische Veränderungen. In den beiden späten Textfassungen wird der inferentielle Charakter des Erzählens signifikant reduziert: So trennt die Stuttgarter Handschrift zwischen einem ersten Dichtungsteil, welcher der Grundlegung der Minnehandlung dient und in seiner Form in der Handschrift fast unverändert übernommen wird, und den Abenteuern zur Gewinnung der Geliebten, die umfangreiche Kürzungen erfahren. Das zeigt zum einen, wie deutlich die Aventiure als der Minne untergeordnete, ihr zuarbeitende Kraft angesehen wird. Zum anderen wird erkennbar, dass vor allem metapoetische Aspekte der Erzählerrede (allen voran der Prolog), aber auch affizierende Elemente der Dichtung zurückgefahren werden: Der Held wird durch wenige Eingriffe in die Struktur des ›Wilhelm‹ stärker als Kämpfer und Macher akzentuiert, die emotionalen Innenräume, die etwa in der Briefkommunikation eröffnet werden, fallen dieser Tendenz zum Opfer. Der Stuttgarter ›Wilhelm‹ zeigt, wie die hyperplastische Anlage der Erzählstruktur vereindeutigend genutzt und im Zuge dieser Nutzung reduziert werden kann, ohne dass dadurch die Grundanlage der Dichtung in Frage gestellt würde. Wo die Gothaer Redaktion im hyperplastischen Erzählen ein Maximalprogramm des ›Wilhelm‹ präsentiert, bietet die Stuttgarter Handschrift Hypoplasie, also die partielle Reversion der hyperplastischen Anlage. Diese Vereinfachung macht den Roman eingängiger, weniger sperrig und zielt auf eine delectatio ab, die sich nicht mit umfangreichen utilitas-Erwägungen aufhält, also die Freude der Rezeption nicht aus der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Dichtungsanlage, sondern aus dem direkten Nachvollzug der Handlung heraus ableitet. Fast zeitgleich verschiebt die Prosafassung des Stoffes die Koordinaten der ›Wilhelm‹-Poetik ebenfalls: Der Erzähler wird auf die Rolle eines Moderators reduziert, der Rezipient schreitet an der Hand dieser moderierenden Figur wie bei einem Schaufensterbummel die einzelnen Szenen der Handlung ab und erfährt nur das Notwendigste zur Verortung der Abschnitte, die Figuren übernehmen ihre Charakterisierung selbst und rücken den wesentlichen Fokus der Rezeption auf die Handlung und ihr Vorankommen. Im Rahmen dieses erzählökonomisch orientierten Konzepts erfährt die Kommunikation des Textes mit seinem Publikum eine entscheidende Wandlung: Die Rezipienten sind nicht
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mehr an der Sinnstiftung beteiligt, sie bewegen sich nicht eigenständig in der Sinnstruktur der Dichtung, die sich ihnen performativ im Nachvollzug erschließen würde. Stattdessen bietet der Prosa-›Wilhelm‹ sich einer konsumierenden Rezeption an, emotionale Innenräume werden durch die verweigerte Einsicht in den Briefwechsel der Liebenden unzugänglich, das Erzähltempo wird gesteigert und die Problematisierung des Erzählens, die in der Gothaer Redaktion des Vers-›Wilhelm‹ noch eine zentrale Stellung einnahm, spielt hier keine Rolle mehr. Für den Prosa-›Wilhelm‹ gibt es keine poetologischen Probleme, nur Handlungsstationen, die abzulaufen sind, um zum Ende der Dichtung zu gelangen. Das Erzählen ist der Prosa ebenso unproblematisch wie das Rezipieren, und der Text überschreitet dadurch die Schwelle weg von der aktualistischen Ästhetik und Wirkungspoetik hin zu einem Roman, der delectatio und utilitas hierarchisiert, und dabei der Unterhaltung den Vorzug bietet. Der Weg der Prosa ist dabei ein reduktionistischer : Poetologisches Potential wird vom Redaktor erkannt und ausgeschaltet, das resultierende Produkt ist im Vergleich zu seiner Vorlage ein »einfacher« Text. Mein zweites Textbeispiel, die ›Magelone‹, bietet einen im Vergleich zum ›Wilhelm‹ umgekehrten Ansatz: Sie fußt ebenfalls auf einer langen Tradition des Erzählens und ist in ihrer Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeit als hybrider Text identifiziert worden. Doch setzen ihr anonymer Autor und ihr Übersetzer Warbeck anders als Johann von Würzburg nicht auf die Überfülle der Deutungsmöglichkeiten, sondern auf eine radikale Reduktion, die ich als komplementäres Phänomen zur Anlage des Gothaer ›Wilhelm‹ als Hypoplasie bezeichnet habe. Die Elemente der vorgängigen Texte und Gattungen, auf die sich die ›Magelone‹ bezieht, werden verkürzt und nur schlecht bzw. oberflächlich miteinander verbunden vorgeführt. Hieraus resultieren Übermotivierungen ebenso wie Motivierungslücken, es finden sich inkompatible Strukturzitate (z. B. wenn legendarisches Erzählen und die romanhafte Beschäftigung mit erfüllter, diesseitiger Liebe kombiniert werden). Die ›Magelone‹ geht nicht einfach über diese Widersprüche hinweg, sie stellt sie aus. Es fehlt jedoch eine Erzählerfigur, die sich aktiv zu diesem Problem positioniert und es unternimmt, den Rezipienten zu lenken: Der Erzähler deutet an, gibt Hinweise, erklärt aber nicht, was aus dieser hybriden Konstruktion zu machen ist. Das macht die reduktionistische, hypoplastische Struktur des ›Magelone‹-Romans aus. Es werden zentrale Elemente der Rezipientenlenkung zurückgefahren und das Publikum wird aufgefordert, sich zu dem Dargestellten zu positionieren, einen eigenen Weg durch die Dichtung zu finden und die einzelnen Bestandteile miteinander zu verknüpfen. Für die Handschrift der ›Magelone‹ hat der Herausgeber Bolte gezeigt, dass sie an einem lesefreudigen und mit französischer Romanliteratur vertrauten Hof zu verorten ist, dass der Übersetzer Warbeck also auf ein Pu-
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blikum von Kennern hoffen konnte, die sich auf der Basis ihres literarischen Vorwissens mit der ›Magelone‹ beschäftigen würden.12 Ganz anders ist die Rezeptionsvoraussetzung des ›Magelone‹-Drucks beschaffen. Spalatin kennt das Publikum nicht, das den Roman lesen wird. Deshalb bemüht er sich in seiner Widmungsvorrede um eine paratextuelle Leseanleitung, die ganz im Sinne der zeitgenössischen Romankritik Unterhaltung dem didaktischen Nutzen unterordnet und eine moralische Lesart der Dichtung anempfiehlt. Er sieht die Leserinnen (und Leser) als potentiell gefährdete Persönlichkeiten, die vor Schlimmerem bewahrt werden können, wenn sie sich der ›Magelone‹ zuwenden. Spalatins Vorrede ist nicht so sehr als Rezeptionsanleitung relevant, da sie augenscheinlich den Sinn des Werkes nicht berücksichtigt und zum tatsächlichen Rezeptionsangebot in Widerspruch steht (das lässt sich so eindeutig konstatieren, weil Spalatin die Deutungsarbeit mit der Trennung der Liebenden beendet und das Happy End der Dichtung nicht in seine Lektüreanleitung mit einbezieht). Vielmehr ist sie Ausdruck des zeitgenössischen Rezeptionsklimas, der intellektuellen Geringschätzung für volkssprachige Romanliteratur, gegen die Spalatin das Werk seines Freundes Warbeck verteidigt, indem er zentrale Argumente gegen Romane in seiner Widmung der ›Magelone‹ vorwegnimmt und entkräftet: Der Erstdruck des Romans steht in Verteidigungshaltung. Spalatin ordnet die ›Magelone‹ in genau die Kategorien der (gering geachteten) delectatio und praxeologischen utilitas ein, die den Kunstcharakter von Dichtung, die idealiter zyklische Verbindung der beiden Wirkziele, aufkündigt und sie stattdessen hierarchisiert. Die ›Magelone‹ tritt – abgesehen von ihrem Abdruck im ›Buch der Liebe‹ – durch das 16. und 17. Jahrhundert nicht ohne Spalatins Vorrede in Erscheinung, beide bilden eine untrennbare Einheit und spiegeln darin paradigmatisch die Kluft zwischen Theorie und Praxis der Romanliteratur : Der Text selbst ist anspielungsreich und ausdeutbar, er bietet Freiräume zur Konkretisierung und zum Weiterdenken; der Paratext vereindeutigt und, was noch wichtiger zu sein scheint, verschlagwortet das Werk, so kann man es kategorisieren und einer grundsätzlich »problematischen« Gattung zuordnen, als deren vermeintlich harmloser Vertreter es Karriere zu machen vermag. Der ›Wilhelm‹ (in der Gothaer Redaktion) wird so als hyperplastischer Text lesbar, der zur Reduktion auffordert, die ›Magelone‹ als hypoplastischer Text, der Ergänzung verlangt. Beide involvieren ihre Rezipienten in die Sinnstiftung und ermöglichen eine inferentielle Kommunikation zwischen Roman und Rezipient. Der Rahmen dieser Kommunikation ist außerordentlich weit gesteckt, die Unterhaltung kann in der Konzentration auf die Liebesgeschichte und ihre 12 Das macht den Hof in Sachsen zu einem späten Beispiel für den elitären Rezeptionsraum, den Lutz 1999 skizziert.
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Hindernisse ebenso zu finden sein wie in dem Bemühen, das metapoetische Spiel der Dichtungen aufzulösen, das in intertextuellen Verweisen, ironischen Brechungen, Systemreferenzen etc. besteht und die Themenfelder von Liebe und Abenteuer je neu in der literarischen Tradition zu verorten unternimmt. delectatio und utilitas sind dabei keine dichotomische Setzung, sondern ergänzen sich, sie gehen auseinander hervor und befördern sich gegenseitig, indem die Romane die aktive Auseinandersetzung und Involvierung ihrer Rezipienten verlangen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Werke als artifiziell und metapoetisch komplex rezipiert werden müssen – offen steht immer auch der einfache Zugang, der allein auf den zügigen Nachvollzug der Handlung gerichtet ist und Reibungsflächen, wie sie etwa die Kommentare des Erzählers im ›Wilhelm‹ oder die hybride Verknüpfung unterschiedlicher literarischer Traditionen in der ›Magelone‹ eröffnen, nicht nutzbar macht. Im Vergleich zu den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Beispielen verfahren die ›Aithiopika‹ anders und innovativ : Sie revolutionieren die Romangeschichte und werden zum Referenztext der französischen und englischen Gattungsentwicklung ab dem 16., und, vermittelt über Frankreich, im deutschsprachigen Roman des 17. Jahrhunderts. Heliodor übersteigert die Artifizialität der Anlage seines Textes im Vergleich zu dem, was vorgängige mittelalterliche und frühneuzeitliche Liebes- und Abenteuerromane bieten. Seine verschachtelte Erzählweise, die Binnenhandlungen, Seitenarme und Rückblenden machen sein Werk außerordentlich unübersichtlich und konstruieren, unterstützt durch den medias in res-Eingang, einen großen Spannungsbogen. Die ersten fünf Bücher des Romans sind notwendig, um das Eingangstableau einzuholen, danach dominiert die Wie-Spannung der Frage danach, auf welche Weise das Happy End zustande kommen wird, das die Liebenden erwartet. Heliodor kreiert ein in sich geschlossenes literarisches Universum, das auf praxeologische Rechtfertigung verzichtet und sich selbst genügt: Der Rezipient wird von ihm durch den Text geleitet, seine Verwirrung zu Beginn, als die Figuren namenlos auftreten und der Roman mitten in der zu erzählenden Geschichte einsetzt, ist ebenso kalkuliert wie die Erwartung des Happy Ends, das Heliodor im zehnten Buch durch umfangreiche Prüfungen für den Helden herauszögert. Der Rezipient gestaltet den Sinn nicht mit, er kann keine eigenen Schwerpunkte setzen, wenn er Heliodors Erzählung über die Fährnisse von Theagenes und Chariklea verfolgt, er kann nur den vorgezeichneten Weg durch die Handlung nehmen. Er wird zusätzlich mit metapoetischen Reflexionen des Erzählers wie auch der Figuren konfrontiert (allen voran des Alter ego des Erzählers, Kalasiris), in denen der Roman als Kombination von Elementen des homerischen Epos und der Tragödie vorgestellt wird. Mit der Liebesgeschichte wird zugleich ihre innovative Position zwischen den etablierten Gattungen inszeniert, die Verweise auf die von Aristoteles in
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seiner ›Poetik‹ beschriebenen Gattungen verleiht dem Neuankömmling auf dem literarischen Parkett der Spätantike zudem poetologische Dignität. Dieses metapoetische Programm erlaubt keine Deutungsspielräume auf Seiten des Rezipienten, sondern verlangt die Geschlossenheit der Konzeption, ebenso wie der Spannungsbogen nur dann funktionieren kann, wenn ihm gefolgt wird: Heliodors Roman gibt die Rezeptionshaltung vor, mehr noch, er bereitet ihr den Boden und sorgt dafür, dass die inferentielle Kommunikation zwischen Text und Rezipient sich in Bahnen bewegt, die dem Roman die bestmögliche Aufnahme sichern. Hier steht metapoetische Programmatik im Vordergrund, die aktualistische Ästhetik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit würde eine solche Fokussierung nicht erlauben und fällt im Vergleich hinter Heliodors Konzeption zurück. Die Grundanlage der ›Aithiopika‹ prädestiniert sie dazu, zur Gründungsurkunde des modernen Romans zu werden. Paradigmatisch hierfür steht der ›Proesme‹, den der französische ›Aithiopika‹-Übersetzer Jacques Amyot seiner Edition beigibt: Er liest den Roman als unterhaltsames Gegenmodell zum etablierten Ritterroman, zugleich nennt er Heliodor in einem Atemzug mit Horaz und Strabo und gliedert seinen Roman dadurch in die abgesicherte Sphäre der nützlichen Literatur ein.13 Dass in Amyots Lesart ebahissement und d8nouement die ›Aithiopika‹ auszeichnen, sichert ihnen den entscheidenden Einfluss auf die Romangeschichte des 17. Jahrhunderts – die französische Übersetzung stellt sich programmatisch gegen die konventionelle Interpretation der Widmungsvorreden, die der griechischen editio princeps (1534) und der ersten lateinischen Übersetzung (1552) beigegeben sind, in denen der politische Wert Heliodors betont und also ein praxeologischer Deutungsansatz gewählt wird. Amyot stellt die delectatio in den Vordergrund, die utilitas fließt aus dieser gehobenen Unterhaltung, beides geht auf in einer Romankonzeption, die nicht einem Weltbezug verpflichtet ist, sondern sich ihre eigene literarische Welt erschafft. Anhand der deutschen Übersetzung der ›Aithiopika‹ durch Johannes Zschorn (1559) lässt sich nachverfolgen, wie schwer sich die deutsche Romanliteratur des 16. Jahrhunderts mit diesem Potential der heliodorischen Setzung tut. Zschorn kreiert eine neue, paratextuelle Hyperplasie, indem er die ›Aithiopika‹ in ein Erklärungssystem aus Inhaltsangabe, Kapitelzusammenfassungen und marginal inseriertem Kommentar einbettet. Die Paratexte umschließen den Text wie ein Korsett, sie erlauben es den Rezipienten, den Roman besser zu verstehen und ihn auf ihre Gegenwart zu beziehen – zugleich zerstört 13 Vgl. Plazenet 2008, S. 40 und S. 42f. zum besonderen Horazbezug Amyots. Vgl. weiters Plazenet 2002 mit einer detaillierten Analyse des werkübergreifenden poetologischen Programms Amyots. Zur Anbindung des antiken Romans an die Tradition der Historiographie vgl. allg. Hägg 1987, S. 141–144.
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Zschorn durch die neu hinzugefügte paratextuelle Kommentatorenstimme das komplexe Gefüge aus Erzählinstanzen, das Heliodor seiner Dichtung einschreibt und das die metapoetische Grundlegung der Gattung betreiben helfen soll: Zschorns ›Aithiopika‹ sind nicht innovativ, sondern machen den Text konventionell, sie führen ihn zurück auf das bekannte Muster von anderen historien der Zeit, indem sie das geschlossene poetische System Heliodors, das literarische Universum, praxeologisch zur konkreten Rezeptionssituation volksprachiger Leserinnen und Leser um 1560 öffnen. Zschorns Paratext schließt an ähnliche Konstrukte z. B. bei Wickram an, imitiert aber auch den gelehrten Kommentardiskurs, der vorgängigen Antikenübersetzungen (allen voran Schaidenreissers ›Odyssea‹) beigegeben ist und den Zschorn in eine volkstümliche, unwissenschaftliche Kommentarpraxis überführt. Erst im 17. Jahrhundert wird der ebahissement, den die ›Aithiopika‹ bieten, auch im deutschsprachigen Raum zum ästhetischen Faszinosum. Bei Zschorn erscheint diese Qualität des Texts eine poetologische Unbekannte zu sein, die es paratextuell einzuhegen und zu zähmen gilt. Seine Übersetzung bleibt bis weit ins 17. Jahrhundert hinein im Druck und erweist sich als ausgesprochen populär – auf den entstehenden romantheoretischen Diskurs des Barock nimmt sie genau wegen der Limitierungen keinen Einfluss, die ihr den Erfolg als sogenanntes »Volksbuch« garantieren. Diese Schlaglichter erhellen Ausschnitte der Romangeschichte vor 1700. Sie ergänzen die Befunde anderer Studien, allen voran Wirtz’ These von der delectatio-basierten Romanpoetik des 17. Jahrhunderts14 und Herwegs Idee von der enzyklopädischen Poetik der Minne- und Aventiureromane des Spätmittelalters,15 die stärker einer Nutzwertästhetik zugeneigt sind. Die Analyse der Romanpoetik in dieser Übergangszeit des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit zeigt, dass die Romane nicht allein einem der beiden Pole (Unterhaltung oder Nutzen) zugeneigt sind, sondern im Idealfall beide Sphären untrennbar miteinander vermengen. Urteile wie die von der Verflachung oder Trivialisierung des Prosaromans tragen in diesem Blickwinkel nicht weit, denn sie treffen nicht den entscheidenden Punkt: Wenn Texte wie der ›Prosa‹-Wilhelm vereindeutigen und vereinfachen, zielen sie auf eine Poetik ab, die reibungslose Rezeption intendiert und keinen metapoetischen Beitrag zur Gattungsgestaltung leisten will. Das macht den Prosa-›Wilhelm‹ nicht schlechter als etwa die Gothaer Redaktion des Vers-›Wilhelm‹, sondern nur anders, die Schwerpunktsetzung gibt Auskunft über den Wirkanspruch, vor allem darüber, ob der Rezipient aktiv an der Sinnstiftung des Textes mitzuwirken hat oder nicht. Der Blick auf die verschiedenen Fassungen und Redaktionen der hier vor14 Wirtz 2009 bietet eine Kurzfassung der nicht im Leihverkehr zugänglichen Habilitationsschrift. 15 Herweg 2010.
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gestellten Texte macht zudem deutlich, dass es keine eindeutige Epochenschwelle hin zu einem »modernen« Roman gibt, der die aktualistische Ästhetik ad acta legt und die Rezeption allein auf den gespannten Nachvollzug einer vorgegebenen Handlung reduziert. Die ›Magelone‹ leistet als Handschrift anderes, als sie es im Druck tut, der ›Wilhelm‹ in Prosa entsteht zeitgleich mit einer Kurzfassung in Versen, und er ist im Druck ebenso wie als Handschrift überliefert, die ›Aithiopika‹ können im 16. Jahrhundert entweder poetologisch-innovativ (im Französischen) oder praxeologisch-konservativ (im Deutschen) gelesen werden, keine dieser Lesarten schließt die andere aus oder wertet sie ab. Die Entwicklung der Gattung vollzieht sich damit nicht stringent und nicht teleologisch, sondern auf Umwegen, sie ist geprägt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und spiegelt den Versuch wider, auf veränderte Rezeptionssituationen durch neue Angebote intendierter Rezeption zu reagieren. Das führt dazu, dass immer wieder Uneindeutigkeit durch Eindeutigkeit und Komplexität durch Einfachheit ersetzt werden, dass den Rezipienten mithin von den Romanen Rezeptionsarbeit abgenommen wird, indem Angebote reduziert und mit Tendenzen verknüpft werden, wie der Text zu rezipieren ist. Dies bedeutet aber nicht eine grundlegende Tendenz zur Vereinfachung und Vereindeutigung etwa im Übergang zum gedruckten Prosaroman. Vielmehr ist eine Schwelle in der Romanentwicklung dort angesetzt, wo die Rezipienten nicht mehr inferentiell zur Sinnstiftung aufgerufen werden, sondern ein hochkomplexes, vorgefertigtes poetisches Universum rezeptiv-nachvollziehend durchschreiten sollen, statt es aktiv zu konstituieren. Romane wie die ›Aithiopika‹ Heliodors bürden ihren Rezipienten viel Arbeit auf, da es um das Nachvollziehen des Spannungsbogens und die Decodierung des metapoetischen Manifests der Romanpoetik geht, die den Dichtungen eingeschrieben ist – aber anders als die ›Magelone‹ und der ›Wilhelm‹ bieten Texte in der Tradition Heliodors nicht mehr die Freiheit, eigenständig aus der Fülle des Dargestellten auszuwählen oder umgekehrt sparsame Hinweise der Erzählinstanz eigenmächtig zu ergänzen und weiterzudenken: Dies ist der Schritt, der hin zu einer modernen Ästhetik getan wird, als Heliodor die Bühne der Gattungsgeschichte betritt und beginnt, den Roman als »Partitur[] der ästhetischen Wahrnehmung«16 vorzuformen. Diese Entwicklung wird flankiert von einer romantheoretischen und vor allem romankritischen Debatte, die die zyklische Anlage der poetischen Wirkziele auflöst und – das ist der erstaunlichste Befund der Untersuchung – in praxeologische Bahnen der Interpretation zu lenken versucht genau in dem Moment, in dem sich der Roman als Kunstform von der Anbindung an einen Nutzwert abzulösen beginnt, um als eigenständiges Kunstwerk mit poetischen Lizenzen zu erstaunen und zu unterhalten. Die romantheoretische Debatte führt 16 Seel 2003, S. 209, kursiv im Original.
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im 17. Jahrhundert gleichsam Diskurse der Romanpraxis des (Spät-)Mittelalters fort, die vor allem auf einen ethischen Nutzwert der Dichtungen abheben, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Während allerdings im mittelalterlichen Diskurs diese Nutzwertvorstellung direkt in die Idee der zyklischen Verbindung von Unterhaltung und Belehrung mündet, trennen die Theoretiker und Kritiker des 17. Jahrhunderts beide Wirkziele und ordnen die Unterhaltung der Belehrung unter – so wird jede Dichtung per definitionem anrüchig, Romane sind nur durch moralisationes zu rechtfertigen, wie sie schon Spalatin der ›Magelone‹ beifügt, Dichtungen können aus dieser Perspektive einsinnig der utilitas oder, im 17. Jahrhundert, der delectatio dienen. Die Geschichte der Gattung beginnt damit nicht erst im 17. oder gar 18. Jahrhundert, der Roman ist kein Produkt der Neuzeit, sondern hat seinen Ausgangspunkt in den terminologisch noch unbestimmten epischen Artefakten höfischen Erzählens, die Walter Haug als Ursprung einer Literaturtheorie des Mittelalters herausgearbeitet hat. Der Weg hin zur Dichtung als anerkannt fiktionalem Text ist allerdings wesentlich langsamer und mühsamer, als Haug dies in seiner These annimmt, der Umweg ist ein doppelt praxeologischer, denn die Romane müssen sich sowohl im späten Mittelalter als auch in der Romankritik der Frühen Neuzeit unter unterschiedlichen Vorzeichen einem Test auf Praxistauglichkeit stellen, der die ideale, zyklische Verbindung der Wirkziele hinterfragt und remissio nicht als eigenständiges ästhetisches Ziel der Dichtungen anerkennt. Deshalb entwickeln sich enzyklopädische Züge in der Dichtung des Spätmittelalters, die entweder amplifikatorisch-aufschwellend weitere Informationen zum Text addiert oder hyperplastisch eine metapoetische Struktur in den Text inseriert. Der entscheidende Wandel in dieser praxeologischen Ausrichtung liegt darin begründet, dass der Rezipient der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dichtungen eigenständig das Wirkziel der utilitas aus dem Gebotenen zu abstrahieren und zu erarbeiten hat; die Romankritik des 16. und besonders des 17. Jahrhunderts gibt diesen Nutzen verstärkt vor und gesteht der Rezeption nicht den Charakter eines autonomen Beitrags zur Poetik der Werke zu. Rezipienten erscheinen dabei als Konsumenten, für die es Konsumentenschutz geben muss. Die Geschichte des Romans als Gattung kann kaum abschließend geschrieben werden; sicher ist, dass sie durch den Blick auf die Romane der höfischen, nachhöfischen und frühneuzeitlichen Jahrhunderte signifikant erweitert werden muss. Der intendierte Rezipient als Mitarbeiter am Romansinn rückt dabei schlaglichtartig in den Vordergrund, das zeigt, wie sehr die aktualistische Ästhetik sich auch poetologisch in der Struktur der Dichtungen niederschlägt. Die Wegmarke einer zunehmend in die Konsumation von Literatur gedrängten Rezeption ist dabei Fluch und Segen zugleich: Zum einen erlaubt die Konzentration auf Literaturkonsumenten die konsequente Vermarktung von Büchern
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als Ware, zudem wird es möglich, das literarische Universum, in das die Rezipienten eintauchen, wenn sie sich auf die Lektüre einlassen, genau vorzustrukturieren. Zum anderen jedoch verliert das romanhafte Erzählen eine Artifizialität, die den Rezipienten als aktiven Partner einer inferentiellen Kommunikation mit einbezieht und so voraussetzungsreicher, dichter und – für den modernen Betrachter – wesentlich enigmatischer zu arbeiten vermag. Die Kluft, die zwischen einem Minne- und Aventiureroman einerseits und einem Liebesund Abenteuerroman des späten 16. Jahrhunderts andererseits klafft, ist nicht unüberwindbar ; vielmehr lässt sich zeigen, wie und wo die Risse entstehen, die die vormoderne Gattungsentwicklung von ihrer modernen Entwicklung trennen, und es wird deutlich, dass eine umfassende Gattungsgeschichte auch eine Geschichte der Rezeption zu sein hat. Im Falle der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Romane muss der moderne Betrachter sich auf die intendierte, in den Texten selbst angelegte Rezeption verlassen, die er zum Maßstab der Analyse zu nehmen hat und die den intendierten Rezipienten als integralen Bestandteil der Romanpoetik im Werden zeichnet. Die Bücher haben damit ihr Schicksal tatsächlich pro captu lectore, vor allem aber bilden Leser und Roman eine Schicksalsgemeinschaft von ungemeiner poetologischer Produktivität.
Literatur
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Literatur
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durch Gottes deß gerechten Richters versehung ihre vnschuldt hell an Tag kommen / So auch vnzehlich viel anderer hohen standts Personen / als Königin / Fürstin / Gräuin / vnd vom Adel / deren diese Historien meldung thun / augenscheinlich zu ersehen. Demnach / welcher gestallt die vom Adel / vnd andere so zu Hof seyn / Ritterschafft vben / oder sonst nach hohen Ehren streben / sich zu verhalten / damit sie bey grossen Potentaten gnad vnd gunst erwerben / so auch bey menniglich Lob vnd Preiß erlangen mögen. Ferrner / wie in allen Weltlichen Händeln / bevorab in Liebssachen vnd Ritterspielen / das Glück so gar wanckelmütig vnd vnbestendig / vnd jetzt durch offentliche gewalt / dann mit heimlichen Tücken der Tugendt vnd Frömbkeit zu zusetzen pflegt / vnd dadurch von ihrem guten fürsatz abwendig zu machen vermeynet. Letzlich / wie in solchen Fallen / Tugendt vnd Frömbkeit / jre Nachfolger vnd Liebhaber / vngehindert allerhand anstöß vnd widerwertigkeit / allwegen herauß zureissen / vnd endlich mit grossen Freuden in Ehrenstandt zu bringen vnd setzen pflegen. Allen hohen Standt personen / Ehrliebenden vom Adel / züchtigen Frawen vnd Jungfrauwen / Auch jederman in gemein so wol zu lesen lieblich vnd kurtzweilig / als liebs vnd leyds nahe verwandtschafft / Glücks vnd Vnglücks wunderbarliche wechssel / vnd dann die kräfftige Hülff Gottes in nöten / hierauß zu erkennen / vnd in dergleichen fällen sich desto bescheidener zu verhalten / fast nützlich vnd vorträglich. In gegenwertiger Form vnd zierlicher Teutscher Sprach / mit kurtzen verständlichen Summarien vber alle Capitel / auch schönen Figuren / auffs new zugericht / vnd in Druck geben / dergleichen vor nie gesehen, Frankfurt: Sigmund Feyerabend, 1587. Exemplar der UB Basel, Wack 688, http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-21652. Fidelinus, Engeländische Banise = Die engeländische Banise: Oder Begebenheiten der Prinzeßin von Sussex, in einer Liebes- und Helden-Geschichte der curiösen Welt mitgetheilet von C. E. F. [Christian Ernst Fidelinus], Frankfurt und Leipzig 1754. Exemplar der Staatsbiblitohek zu Berlin, http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/ werkansicht/?PPN=PPN615841937. Fischer 1867f. = Heliodorus: Aethiopische Geschichten. Aus dem Griechischen übers. v. Theodor Fischer. 2 Bde., Berlin/Stuttgart: Langenscheidt: 1867f. (Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen 31). Göttling 1822 = Theagenes und Charikleia. Ein Roman aus dem Griechischen des Heliodores, übers. v. Karl Wilhelm Göttling, Frankfurt: Andrea, 1822. http://books. google.de/books?id=ixs0AQAAMAAJ& printsec=frontcover& hl=de& source=gbs_ ge_summary_r& cad=0#v=onepage& q& f=false. Gottfried, Tristan / Ranke 1969 = Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold, hg. v. Friedrich Ranke. Text, Dublin/Zürich: Weidmann, 1969. Grimmelshausen, Vogel-Nest = Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Das Wunderbarliche Vogel-Nest. Zweiter Teil, in: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Werke 1.2, hg. v. Dieter Breuer, Frankfurt: Deutscher Klassiker-Verlag, 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 73), S. 449–650. Happel, Uhrsprung = Pierre Daniel Huet: Trait8 de l’origine des Romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser, Stuttgart: Metzler, 1966 (Realienbücher für Germanisten, Abt. G: Dokumentationen, M 54).
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Literatur
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Literatur
nandum / mit eygentlicher abconterfeytung / wie sie auff den alten pfenningen gfunden werden / sampt der zeit jrer Regierung / Leben / Thaten / Auch Wunderzeichen / Finsternissen / Cometen / Monstras / so under eynem yeden ergangen / aus alten warhafftigen Chronicken / die fürnemisten stuck gezogen / vffs kürtzst inn Reimen gestelt / yedem liebhaber der Historien kurtzweilig zuo lesen / vormals nie gesehen. Beschrieben durch Johan Zschornen Eylenbergensem, Straßburg: Messerschmidt, 1559. Exemplar der BSB München, Sig. 1183257 Eur. 864, http://reader.digitalesammlungen.de/resolve/display/bsb10176333.html. [Johannes Zschorn, Erstdruck] Heliodorus Emesenus: Aethiopica Historia. In der deutschen Übersetzung von Johannes Zschorn. Faksimiledruck der Ausgabe von 1559, hg. u. eingel. v. Peter Schäffer, Bern etc.: Lang, 1984 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jh.s, Bd. 30). [Johannes Zschorn] Heliodori Historia Aethiopica. Das ist: Eine schoene liebliche Histori / von dem fuertrefflichen tapffern Helden auß Griechenland / Theagene / vnd der vberauß schoenen Jungfrauwen Chariclia / der schwartzen moren Koenigs Tochter. Darinnen Zucht / Erbarkeit / Glueck vnd Unglueck / Freud vnd Leyd / vnd sonsten vil guter Lehren vnd Exempel / beschrieben werden. Erstlich auß dem Griechischen ins Latein / vnd dann jetzundt auffs neuwe in vnser Teutsche Sprach mit sonderm fleiß transferirt. Gantz kurtzweilig vnnd nüetzlich zu lesen, Frankfurt: Bass8e, 1580. Exemplar der HAB Wolfenbüttel, Sig. 572 Hist, urn:nbn:de:gbv :23-drucke/572-hist1. [Johannes Zschorn] Heliodorus, Das ist / Die ueberaus liebliche und nuetzliche Histori / in welcher Hoefflichkeit und Tugend / Zucht und Erbarkeit / Glueck und Unglueck / Freud und Leid / Gunst und Neid / mit vielen guten Lehrn / Bericht und Exempeln gar anmuthig dargestellt werden. Sehr kurtzweilig und nuetzlich zu lesen. Mit gantz neuen Figuren gezieret, Nürnberg: Johannes u. Wolfgang Endtner Erben, [ca. 1660]. Exemplar der SUB Göttingen, http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN740909320. Johannes Zschorn, Tuercken Buechlin = Türcken Büchlin. Ganz warhaftige vnnd aber erbaermkliche beschreibung / von der pein / marter / schmertzen vnd Tyranney / so die Türcken / den gefangnen Christen / mann vnnd weib / jungen vnnd alten an thuon / Auch von ihren Ceremonien / Policien / Kriegen / Feldtbaw / Gebreuchen / vnnd ein Disputatz eines Christen vnnd Türcken / vom glauben / mit angehenckten Dialogis / Türckisch / Sclauonisch / vnd das Pater noster Arabisch / Türckisch vnd Sclauonisch / Jetzund widerumb von Neuwem vberlesen vnd gebessert / Mit angehenckten Historien / so vorhien in disem buechlin nit begriffen, Straßburg: Messerschmidt, [1558]. Exemplar der Staatlichen Bibliothek Regensburg, Sig. 999/Hist.pol.3149, http://reader.digitale-samm lungen.de/de/fs1/object/display/bsb11097921_00002.html.
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Literatur
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Anhänge
Anhang 1: ›Wilhelm von Österreich‹, Versverzeichnis Handschrift S Fol. Versangaben Fol. Versangaben
Fol. Versangaben
1r 1v 2r 2v 3r 3v 4r 4v 5r 5v 6r 6v
173–233 234–297 298–362 363–428 429–493 494–557 558–602 603–694 695–761 762–827 828–895 896–963
27r 27v 28r 28v 29r 29v 30r 30v 31r 31v 32r 32v
53r 53v 54r 54v 55r 55v 56r 56v 57r 57v 58r 58v
6909–6973 6974–7038 7039–7101 7102–7165 7166–7227 7228–7292 7293–7358 7359–7422 7423–7488 7489–7553 7554–7627 7628–7692
7r 7v 8r 8v 9r 9v 10r 10v 11r 11v 12r 12v 13r 13v 14r
964–1029 1030–1096 1097–1162 1163–1229 1230–1295 1296–1361 1362–1426 1427–1493 1494–1556 1557–1621 1622–1685 1686–1751 1752–1816 1817–1887 1888–1953
33r 33v 34r 34v 35r 35v 36r 36v 37r 37v 38r 38v 39r 39v 40r
59r 59v 60r 60v 61r 61v 62r 62v 63r 63v 64r 64v 65r 65v 66r
7693–7799 7800–7958 7959–8397 8398–8788 8789–8860 8861–8922 8923–8986 8987–9055 9056–9161 9162–9237 9238–9408 9409–9533 9534–9684 9585–9805 9806–9988
3600–3665 3666–3731 3732–3797 3798–3863 3864–3929 3930–3994 3995–4059 4060–4122 4123–4186 4187–4250 4251–4318 4319–4351, dann [Exkurs] [Exkurs] 4353–4416 4417–4479 4480–4545 4546–4611 4612–4676 4677–4740 4741–4804 4805–4870 4871–4934 4935–5001 5002–5069 5070–5136 5137–5203 5204–5271
264
Anhänge
(Fortsetzung) Fol. 14v 15r 15v 16r 16v 17r 17v 18r 18v 19r 19v
Versangaben 1954–2020 2021–2084 2085–2150 2151–2217 2218–2285 2286–2350 2351–2417 2418–2482 2483–2546 2547–2608 2609–2672
Fol. 40v 41r 41v 42r 42v 43r 43v 44r 44v 45r 45v
Versangaben 5272–5336 5337–5403 5404–5470 5471–5535 5536–5602 5603–5664 5665–5728 5729–5797 5798–5862 5863–5926 5927–5993
Fol. 66v 67r 67v 68r 68v 69r 69v 70r 70v 71r 71v
20r 2673–2736 20v 2737–2803
46r 5994–6058 46v 6059–6124
72r 72v
21r 2804–2868 21v 2869–2937 22r 2938–3004
47r 6125–6190 47v 6191–6257 48r 6258–6321
73r 73v 74r
22v 3005–3071 23r 3072–3135
48v 6322–6385 49r 6386–6448
74v 75r
23v 24r 24v 25r 25v 26r 26v
49v 50r 50v 51r 51v 52r 52v
75v 76r 76v 77r 77v
3136–3201 3202–3267 3268–3333 3334–3400 3401–3465 3466–3532 3533–3599
6449–6512 6513–6577 6578–6642 6643–6707 6708–6771 6772–6837 6838–6908
Versangaben 9989–10243 10244–10340 10341–10652 10653–10929 10930–11058 11059–11171 11172–11282 11360 (Lücke)–11718 11361–11942 11943–12100 (Vers geändert) 12105 (Lücke)–12245 (12105 ist modifizierter Vers) 12246–12469 12479–12994 (plus zwei Verse ohne Vorlage)–ca. 13037 ca. 13095 (Lücke)–13389 13390–14210 14223 (Lücke)–ca. 14896 (Vers so nicht in Edition) 14937 (Lücke)–15261 15269 (davor ein summierender Vers ohne Vorlage)–15859 15860–16002 16003–16215 16216–18000 18001–18096 18097–18185
Anhang 2: ›Wilhelm von Österreich‹, Wilhelms Ausbildung
265
Anhang 2: ›Wilhelm von Österreich‹, Wilhelms Ausbildung
Vers Edition
S
632 633 634 635 636
Es wart von natur weiß
637 638 639 640 641 642 643 644 645 646 647 648 649 650
er wart von natur wis, daz er kand von rehter part alle stain und auch ir art und ir natur besunder ; der kunst wunsch da, besunder! in sines hertzen sinnen. die schrift ward er minnen dar nach tageldie1 vil, baizzen, birsen, saitenspil traib er in richer kuenft; die besten vernuenft
Yn seines herzen sy¨nnen Die schrifft er wart mynnen
Die beste vernufft gewann das kint in seinen tagen
gewan daz kint in sinen tagen: tihten, singen und sagen Vf tihten singen und sagen kund ez und wiser kuenst gnuoc ez wart in artibus so cluoc und in phylosophie kunst, daz die maister ire gunst im gaben in dem lande. sus wuochs er ane schande Also wuchs er an alle schande
1 G bietet tage alten, die Edition folgt hier der Wiener Handschrift.
266
Anhänge
Anhang 3: ›Wilhelm von Österreich‹, Sittentadel Joraffins (Einschub nach Vers 4350) Überschrift: das mercke man und weib [rubriziert] [32va] Ich muß die jungen straffen Waffen immer waffen [32vb] Wie seint so verboset Ir merer teil laster koset Von den reinen weiben Die sie doch in ire leiben Betragen haben alle Ire wechsel reden schalle Das kan y¨en laster wincken Wol den zem wein drincken Wire sollen werden weines val Das stunt nicht jungen lewtten wol hie vor bey¨ alten zeitton Man sicht ir lutzel beitten Der messe bis an das ende Schenda her schende Die weip y¨en es gelimpfen So erkompt richen timpfen Von speise und auch von wein So spricht er frawe mein Wie bin ich euch so recht holt Durch euch erbeit ich euch gedolt Von deß solt ir sagen danck Ich slieff heint vff einer banck Vnd was nechten also vol Wire wurden druncken speise vol Wire schulten swuren so greulich Dor von sol ire mynnen mich Ich bin auch einn schurpfere Thut auch y¨ man kein swere Das darff ich wol gerechen Mit meinen gesellen frechen Die seint auch vbelere slat euch sein nit swere Was ire durch meinen willen thut Nemet mich es dunckt mich gut Ich kan den rock wol schurzen [33ra] Den gern neider sturzen So drag ich auch einn messer lang Das hore ich schutteln manchen swang Komme ich durch die strassen pfey¨ seint verwachsen Die die selben liep hon [H: mynnen] Die selben schurpferan Ich nicht gleich zu weiben Dis werben sie sus treiben
5
10
15
20
25
30
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40
45
Anhang 3: ›Wilhelm von Österreich‹, Sittentadel Joraffins
Nu mercke solich mynne Laß dir sein unmere Wo du bist reine jugent An mannen an weiben an tugent Lerent werben dich vil baß Wolcher junger sey¨ an tugenden laß Von dem kerte ewer antlitze Ir weip es wird euch nutze Habt liep zu mannen die sich versten Vnd loßt die bosen schelck gen Sie farent ewer ere Ich kan euch baß gelere Seit froe durch tugenthaffte man Wer sich nicht baß versten kann Dem ist sawr alß susse Teilet ewer grusse Den die euch mogen geben mut So wird euch leip vnd ere behut Lat gen die sich ruemen sere Mit lugenlichen meren Rummen sie sich der geschicht Die gutten frawen fugen nicht Sie wenent ere laster sein [33rb] Ey¨a junger man biß tugent bey¨ Vnd auch ir jungen frawen Lost euch bey¨ solchen schawen Die wiessen wen wie vnd war Sie teilen sollen trewe gar Wo bey¨ der jugent sey¨ vernufft Die haltent wert lat y¨n ewre gunst Zu fliessen das nicht missestat Dis ist der jungen lewt rat Den gib y¨en zu lere daß Das sie sich huten desterbaß Vnd laster vermeiden Man sol die wort besneiden Mit zuchten von dem munde Bescheidenheit ich gunde Allen gutten lewtten Lat schein [H: scham] in herzen rawtten Die birt euch tugende frucht Seit frolich mit rechter zucht Diß ist der weisen lere So wird euch selden und ere Vff erden vnd in himel dort Nu greiff ich an die eher wort Vnd loß diese rede stan Wan ich mocht nit gelan Ich must die gutten warnen Mit tichten must es arnen Manig het ich die stunde Bey¨ rosenlichtem munde
50
55
60
65
70
75
80
85
90
95
267
268 Dem sich der schalck bewtet Nu merckt was bedewtet Das hewpt grolich do ichs lie Wie dem ist daß sage ich hie [33va] Das vierde hewp teufelich
Anhänge
100
Anhang 4: ›Wilhelm von Österreich‹, Prolog der Dichtung im Druck von 1481 Zitiert nach der Ausgabe von Podleiszek, S. 191, 6–25 unter Berücksichtigung des Exemplars der BSB München, 2 Inc. c. a. 1067 (gegen Podleiszek übernommene Schreibungen werden kursiv markiert). _ und s werden unterschieden, a wird zur Erleichterung des Lesens einheitlich als z wiedergegeben, der Text bietet nur eine Form. Die vorrede Wol dem menschen, wer der i_t, der _ein hercz, _in und gemuet darnach richt, was man guots vor jm _agt, das behept vnd dem nach uolget, des geleichen daz arg meidet vnnd vnder wegen laßt. das wil jch dir bewaeren, das du müge_t erkennen, wo tugentloß leüt _eind vnder den tugentreichen; vnd bewaer das bey¨ dem gold. So man auff _ilber vergulden wil, _o laßt man das gold vnder das queck_ilber, dauon das queck_ilber ge_tad vndgetoedt wirt. doch _o überwindt das quecksilber daz gold, das es nach jm _ilber weiß muoß werden. zehand ny¨mpt man das gold vnd _treicht es an das _ilber vnnd legt man dann das _elb in ein gluot, _o verprinnt das queck_ilber vnd verreucht vnd beleibt das edel gold da in _einer vermügend vnnd in _einem alten _chein. Nun mügend die tugent reichen mercken wie jr leben dem gold zuo geleichen i_t; dann ein y¨eklich men_ch, in dem tugent i_t, das ha__et alle vntugent. Do nun vil tugenthaffter bey¨ einander _ind vndvon aller hand tugent vnnd abenteür _agent, i_t dann ein tugentlo_er bey¨ in, der mag von _oelichen dingen nit hoeren _agen vnnd hebt ein andere red an, das die andern all jm nachuolgent. _o kompt dann der gold_chmid be_cheidenheit vnd _treicht das gold der tugend wider an vnd legt es dann in das feür der gerechtikeit. _o verprinnt vnd verreucht alle vntugent von den men_chen.
Anhang 5: Titel und Vorrede des ›Buchs der Liebe‹
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Anhang 5: Titel und Vorrede des ›Buchs der Liebe‹ von Sigmund Feyerabend, Frankfurt 1587, Exemplar der UB Basel, Signatur Wack. 688. Siehe folgende Seiten; der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Basel.
270
Anhänge
Anhang 5: Titel und Vorrede des ›Buchs der Liebe‹
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Anhänge
Anhang 5: Titel und Vorrede des ›Buchs der Liebe‹
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Anhänge
Anhang 6: Inhaltsangabe der ›Aithiopika‹ Heliodors
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Anhang 6: Inhaltsangabe der ›Aithiopika‹ Heliodors Die trauernde Chariklea (in der Eingangsszene namenlos auftretend) hält, am Strand sitzend, den blutenden Theagenes im Arm. Sie ist umgeben von Leichen in bizarrer Szenerie, denn der der Szene vorausgehende Kampf hat offenkundig während eines Festes stattgefunden. Ein reich beladenes Schiff ankert ungeschützt im Hintergrund und wird zum Gegenstand von Seeräuberbegehrlichkeit. Der Blick am Anfang wird fast ausschließlich durch die Augen einer beobachtenden Räuberbande gewährt, die verbale Verständigung zwischen den Parteien scheitert an der Sprachbarriere (Chariklea spricht griechisch, die Räuber ägyptisch). Der allwissende Erzähler ist nur sporadisch erkennbar, etwa wenn er die nonverbale Verständigung zwischen Chariklea und dem zweiten Räuberhäuptling Thyamis kommentiert, dessen Truppen die erste Seeräuberbande vertreiben und Theagenes und Chariklea gefangen nehmen.2 Ansonsten wird hier mehr verhüllt als preisgegeben, geboten sind »Verrätselung und Mystifizierung«.3 Thyamis plant, Chariklea zu heiraten, diese gibt in der Gefangenschaft ihren Geliebten Theagenes als ihren Bruder aus und erbittet sich eine Frist, bis die geplante Hochzeit im angemessenen Rahmen veranstaltet werden kann – zum ersten Mal wird der Leser dabei mit ihrem Talent zur List und zum strategischen Handeln konfrontiert, das ihr jeweils durch vermeintliche Zugeständnisse und Kompromisse Zeit verschafft, um alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die Wartezeit verbringen Theagenes und Chariklea mit einem weiteren Gefangenen des Thyamis, Knemon, der ihnen während ihrer ersten und einzigen Nacht in Gefangenschaft seine Lebensgeschichte erzählt, in der die intrigante Dienerin seiner Stiefmutter, Thisbe, eine prominente Rolle spielt: Sie hat im Auftrag ihrer Herrin die Vertreibung des jungen Mannes in die Wege geleitet, als sich dieser seiner Stiefmutter verweigerte, um dann als eine Art Doppelagentin gegen ihre Herrin zu intrigieren – der Rezipient, der auf eine Herkunftsgeschichte der Liebenden gewartet hat, wird enttäuscht und muss sich mit der von Chariklea und Theagenes begeistert und emotional verfolgten Schilderung des Knemon begnügen. Als Thyamis am nächsten Tag von einem Angriff überrascht wird und Chariklea (als sein zukünftiges, vom Orakel vermeintlich bestätigtes Eigentum) in seine Schatzhöhle sperrt, befindet sich auch eben diese Thisbe, die ebenfalls in Gefangenschaft geraten ist, in derselben Höhle. Als Thyamis Cha2 Wie (fast) alle Details hat auch diese Doppelung einen spezifischen Sinn: Die vertriebenen Räuber schließen sich in der Folge mit Thyamis’ Bruder Petosiris zusammen, der ihn aus dem Amt des Oberpriesters von Memphis vertrieben hat (I.XIX.3, S. 30, [dt. S. 31]) und ihm weiter zu schaden versucht (I:XXXIII.1f., S. 46, [dt. S. 43]). 3 Effe 1975, S. 150.
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riklea töten will, da ihm die militärische Niederlage droht und er sie nicht preisgeben will, erdolcht er im Dunkel der Höhle versehentlich Thisbe und nicht Chariklea – so wird die zuerst als digressio wahrgenommene Geschichte des Knemon letztendlich doch mit der Geschichte des Liebespaares verknüpft. Knemon und die Liebenden müssen sich nach der Niederlage des Thyamis trennen und verabreden ein Treffen in Chemmis (II.XVIII.5, S. 68, [dt. S. 60]), wo allerdings nur Knemon sicher ankommt. Das Liebespaar fällt direkt zu Beginn des Weges den nächsten Räubern in die Hände. Während des vergeblichen Wartens auf Chariklea und Theagenes begegnet Knemon dem ägyptischen Propheten Kalasiris, eine Art »heilige[r] Schwindler[]«4 (der sich als Vater des Thyamis erweisen wird) – dieser berichtet ihm von der Vorgeschichte des Liebespaares in einer umfangreichen, in Anspielung an Homer die Grenze zwischen Tag und Nacht überschreitenden Erzählung. In einer komplex-verschachtelten Komposition von Erzählungen in der Erzählung wird die Geschichte des Paares von Kalasiris sukzessive nachgereicht: Chariklea ist die Tochter der äthiopischen Königin Persinna und des Königs Hydaspes; sie wurde weiß geboren, da ihre Mutter bei der Empfängnis ein Bild der Andromeda nach ihrer Rettung durch Perseus betrachtet hatte.5 Die Mutter setzt das Kind aus, um dem Verdacht des Ehebruchs und der Unehelichkeit der Tochter zuvorzukommen, Charikleas Herkunft wird auf einem Stirnband berichtet, außerdem hat Persinna ihr Edelsteine und einen Ring als Erkennungszeichen mitgegeben (II.XXXI.2, S. 86f., [dt. S. 75]). Sisimethres nimmt das Kind auf und erzieht es bis zu dessen siebtem Lebensjahr, dann kommt es in die Obhut des Charikles in Delphi. Dort lernt Chariklea zehn Jahre später im Rahmen einer religiösen Zeremonie Theagenes kennen, es ist – topisch – Liebe auf den ersten Blick (III.5.7, S. 105f., [dt. S. 88]). Kalasiris berichtet dabei von seiner eigenen Rolle beim Verlieben des Paares und von seiner Fluchtidee, wobei er durchaus ironische Brechungen nicht nur der religiösen Ernsthaftigkeit, sondern auch seiner Figur selbst in Kauf nimmt und sich als alter ego des Erzählers entpuppt – nicht umsonst sucht ihn Odysseus im Traum heim (V.XXII.1, S. 66, [dt. S. 151]), eine deutliche Reminiszenz an seine homerischen Qualitäten als Erzähler der Handlung. Chariklea und Theagenes fliehen unter seiner Anleitung vor der drohenden Verheiratung des Mädchens mit einem anderen Mann; sie fallen zwei Mal Seeräubern in die Hände, insgesamt acht Bewerber wollen Chariklea z. T. gewaltsam zur Ehe zwingen,6 was sie jeweils nur durch List (die sie sukzessive 4 Paulsen 1992, S. 184. 5 Vgl. Whitmarsh 2011, S. 128: »mimetic artefacts possess an unopposable reproductive force, which can exceed mere nature«. 6 Der Seeräuber Trachinos (1) raubt Chariklea dem Kaufmann aus Tyros, der sie zuvor umgarnt hatte (2) (V.XIX.3, S. 62, [dt. S. 148]), Trachinos wird sodann von seinem Untergebenen und Nebenbuhler Peloros (3) (V.XXX.3. S. 78 [dt. S. 159]) am Strand ermordet, Peloros wiederum
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von Kalasiris als Strategie und Verhaltensmuster erlernt) abzuwenden vermag. Auch Theagenes wird zum Opfer sexueller Begehrlichkeiten, als das Liebespaar vom ägyptischen Statthalter Oroondates gefangen gehalten wird, dessen Frau Arkane für ihre Promiskuität berüchtigt ist. Im Falle des Theagenes, den sie ebenso wie Chariklea foltern lässt, als er sich ihr verweigert, bleibt Arsakes Begehrlichkeit vergeblich und endet sie tödlich: Aus Angst vor dem Groll ihres Ehemanns nimmt sich die Frau das Leben. Letztendlich gelangen Theagenes und Chariklea nach Äthiopien, wo sie als Kriegsgefangene, die den Ägyptern abgenommen wurden, den Göttern zu Ehren des militärischen Erfolgs geopfert werden sollen. Voraus gehen im neunten Buch der ›Aithiopika‹ umfangreiche Schilderungen des Krieges zwischen Oroondates und Hydaspes, die Charikleas Vater als hervorragenden Herrscher skizzieren und detailliert Einblicke in politische wie militärische Entscheidungen gewähren, was dem Text einen didaktischen, in Richtung eines Fürstenspiegel weisenden Charakter verleiht. Chariklea gibt sich sodann als Gefangene kurz vor ihrer Opferung im 10. Buch zu erkennen und wird, nach einer umfangreichen Befragung des äthiopischen Volkes, in die Königsfamilie aufgenommen; Theagenes muss wesentlich länger um Leib und Leben bangen, wird dann aber mit seiner Geliebten verheiratet und ebenso wie sie zum Priester gemacht.
wird von Theagenes getötet. Thyamis (4) versucht sodann, Chariklea zu ehelichen. Nausikles befreit Chariklea aus den Händen von Thyamis Widersachern (5), um sie als »eine bessere Thisbe« (V.I.7, S. 38, [dt. S. 130]) selbst zu behalten, er muss sie Kalasiris überlassen, der sie als seine Tochter identifiziert. Als Arsake Theagenes verführen will, versucht sie Chariklea durch eine erzwungene Ehe mit Achämenes, dem Sohn ihrer Amme Kybele, aus dem Weg zu schaffen (6) (VII.XXIII.5, S. 152, [dt. S. 215]). Zuletzt bestimmt Hydaspes seinen Neffen Mero[bos zum Ehemann seiner Tochter (7) (X.XXIV.1., S. 105, [dt. S. 306]), der aber ebenso wie der ursprünglich von Charikles für Chariklea vorgesehene Bewerber Akamenes (8) (II.XXXIII.4, S. 92, [dt. S. 78]) keine wesentliche Rolle spielt.