Revisionen des Mythos: Hiob als Denkfigur der Kontingenzbewältigung in der deutschen Literatur 3110363747, 9783110363746, 9783110365344, 9783110391305

Hiob hat die deutsche Literatur inspiriert wie keine andere Figur des Alten Testaments. Der Band nimmt die Varianten der

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German Pages 262 [260] Year 2015

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Inhaltsverzeichnis
Danksagung
1. Hinführung
2. Das Buch Hiob
2.1 Thema und Struktur
2.1.1 Kontingenzerfahrung als Thema
2.1.2 Figurenkonzeption: Hiob als Topos
2.1.3 Kontingenzbewältigung als zweites Thema: Das Hiobbuch als selbstreflexives Mythem
2.2 Topos und Typologie: Hiob in christlicher Rezeption
3. Die Hybris der Selbstbeschuldigung. Hartmann von Aue: ,Der Arme Heinrich‘ (um 1200)
4. Diskussionen als Geduldsprobe. Johannes Lorichius: ,Iobus patientiae spectaculum‘ (1543) und Hans Sachs: ,Ein Comedi […] der Hiob‘ (1547)
5. Lizenz zur Ungeduld. Johann Christian Günther: ,Geduld, Gelaßenheyt, treu, fromm und redlich seyn‘ (1720)
6 Theatrale Anthropodizeen
6.1 Johann Wolfgang von Goethe: ,Faust. Eine Tragödie‘ (1808/1831)
6.2 Heinrich Heine: ,Romanzero‘ (1851) und ,Geständnisse‘ (1854)
6.2.1 Der ,Romanzero‘
6.2.2 Die ,Geständnisse‘
7. „Herankommen lassen“. Alfred Döblin: ,Berlin Alexanderplatz‘
8. Hiob-Lyrik im 20. Jahrhundert: Drei kontrastive Lektüren
8.1 Entäußerung und Selbstfindung: Karl May und Yvan Goll
8.1.1 Karl May: Hiob (um 1905)
8.1.2 Yvan Goll: Hiob (1948)
8.1.3 Hiob bei May und Goll
8.2 Dialoge nach Auschwitz: Nelly Sachs und Paul Celan
8.2.1 Nelly Sachs: Hiob (1949)
8.2.1.1 Exkurs: Margarete Susman
8.2.2 Paul Celan: Zürich, Zum Storchen (1960)
8.2.3 Hiob bei Sachs und Celan
8.3 Vom säkularen Heilsweg ins heillose Säkulum: Johannes R. Becher und Günter Kunert
8.3.1 Johannes R. Becher: Hiob (1949)
8.3.2 Günter Kunert: Biblische Geschichte II (1977)
8.3.3 Hiob bei Becher und Kunert
9. Resümee
10. Bibliographie
11. Index
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Revisionen des Mythos: Hiob als Denkfigur der Kontingenzbewältigung in der deutschen Literatur
 3110363747, 9783110363746, 9783110365344, 9783110391305

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Clemens Heydenreich Revisionen des Mythos

Hermaea

Germanistische Forschungen Neue Folge

Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

Band 135

Clemens Heydenreich

Revisionen des Mythos Hiob als Denkfigur der Kontingenzbewältigung in der deutschen Literatur

ISBN 978-3-11-036374-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036534-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039130-5 ISSN 0440-7164 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung „[I]m Hiob erbeiten wir also, das wir yn vier tagen zu weilen kaum drey zeilen kundten fertigen.“ Martin Luther¹

Dieser Band enthält den Text einer Arbeit, die im Dezember 2011 an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte angenommen wurde.² Seit jenem Zeitpunkt sind, um die Erstfassung für den Druck aufzubereiten, nur noch kursorische Überarbeitungen nötig gewesen. Rechnet man diese jedoch, über die Dauer des Promotionsprojekts hinaus, ebenso zur Gesamtzeit meiner Befassung mit dem Thema „Literarische Hiob-Rezeption“ hinzu wie die Vorgeschichte des Projekts, so ergeben sich reichlich fünfzehn Jahre – beginnend mit einem Oberseminar-Referat bei Peter Horst Neumann anno 1998 über eine thematisch verwandte Magisterarbeit bis hin zur Drucklegung dieses Buchs. Wie jede kulturwissenschaftliche Studie ist auch diese in der fixierten Form, die sie nunmehr zwischen ihren Buchdeckeln erhalten hat, kontingent: ein Ergebnis mannigfacher produktiver Aberrationen und Revisionen in der Fragestellung, und ein Sedimentfeld aus Einfällen und Beobachtungen, die der Autor nicht nur aus seinen Lektüren gewonnen hat, sondern nicht minder aus Impulsen seitens der Menschen, die ihn im Leben begleitet, seine Denkart und Weltsicht mit- und immer neu geprägt haben. All jenen Menschen namentlich zu danken, deren sachlich-fachlicher Rat und/oder deren Freundschaft und/oder deren Liebe mich während dieser langen Zeit getragen hat und deren Spuren tausendfach im Text präsent sind, ist unmöglich. Die, deren Namen hier stehen würden, wenn es möglich wäre, wissen freilich auch ohnedies, dass sie gemeint sind. Schon leichter fällt es da, diejenigen aufzulisten, in deren Schuld ich ob wichtiger pragmatischer Hilfestellungen stehe: Mein Doktorvater Gunnar Och hat die Jahre der Arbeit vertrauensvoll begleitet und zudem bereichert, indem er mir immer wieder kleinere Nebenprojekte anvertraute, die thematisch just so knapp außerhalb der „Hauptbaustelle“ lagen, wie es nötig war, um zu ihr mit jenem berühmten fremden Blick zurückzukehren, der ein geschärfter für Art und Ziel des eigenen Tuns ist. Mein Zweitbetreuer Dirk Niefanger trieb die Arbeit durch Einladungen in sein Doktorandenkolloquium voran. Lenka Jírousková machte mir

1 Luther, Martin: Sendbrief vom Dolmetschen. In: Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, XXX/2. Weimar 1909, S. 636. 2 Der ursprüngliche Titel lautete: „Deutsche Hiob-Texte von Hartmann von Aue bis Günter Kunert als Wegmarken literarischer Kontingenzbewältigung“.

VI   

   Danksagung

eine wichtige Quelle aus dem Archivbestand der Universitätsbibliothek Freiburg zugänglich. Christine Lubkoll setzte sich für die ehrenvolle Aufnahme der fertigen Arbeit in die Reihe „Hermaea“ ein. Jacob Klingner und Anja-Simone Michalski vom Verlag De Gruyter haben den Band mit Umsicht (dem Projekt gegenüber) und Langmut (mir gegenüber) auf den Weg gebracht. Besonderer Dank für ihre besonders langjährige, besonders dichte, interessierte und konstruktive Begleitung, aber auch dafür, dass sie mir immer wieder mit wahrer Hiobsgeduld so manche Phase der Zerstreutheit nachsahen, gilt meinen Eltern, meinem Bruder und meiner Frau. Die Unerbittlichkeit, mit der die Zeit verrinnt, bringt es mit sich, dass in diese Zeilen des Dankes auch Worte des Gedenkens zu fügen sind. Mein Vater Titus Heydenreich und mein langjähriger akademischer Mentor Peter Horst Neumann hätten dieses Buch gerne in Händen gehalten. Stattdessen muss es ihnen nun in ganz eigener Weise gewidmet sein. Vor allem und allen anderen aber ist es – in Dankbarkeit für vieles, das erschöpfend aufzuzählen ein zweites Buch füllen würde – für Aura. Erlangen, März 2015

Inhaltsverzeichnis Danksagung | V 1

Hinführung | 1

2 Das Buch Hiob | 17 2.1 Thema und Struktur | 18 2.1.1 Kontingenzerfahrung als Thema | 18 2.1.2 Figurenkonzeption: Hiob als Topos | 32 2.1.3 Kontingenzbewältigung als zweites Thema: Das Hiobbuch als selbstreflexives Mythem | 36 2.2 Topos und Typologie: Hiob in christlicher Rezeption | 40 3

Die Hybris der Selbstbeschuldigung. Hartmann von Aue: ,Der Arme Heinrich‘ (um 1200) | 45

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Diskussionen als Geduldsprobe. Johannes Lorichius: ,Iobus patientiae spectaculum‘ (1543) und Hans Sachs: ,Ein Comedi […] der Hiob‘ (1547) | 77

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Lizenz zur Ungeduld. Johann Christian Günther: ,Geduld, Gelaßenheyt, treu, fromm und redlich seyn‘ (1720) | 111

6 Theatrale Anthropodizeen | 131 6.1 Johann Wolfgang von Goethe: ,Faust. Eine Tragödie‘ (1808/1831) | 131 6.2 Heinrich Heine: ,Romanzero‘ (1851) und ,Geständnisse‘ (1854) | 146 6.2.1 Der ,Romanzero‘ | 149 6.2.2 Die ,Geständnisse‘ | 162 7

„Herankommen lassen“. Alfred Döblin: ,Berlin Alexanderplatz‘ | 173

8 Hiob-Lyrik im 20. Jahrhundert: Drei kontrastive Lektüren | 187 8.1 Entäußerung und Selbstfindung: Karl May und Yvan Goll | 187 8.1.1 Karl May: Hiob (um 1905) | 187 8.1.2 Yvan Goll: Hiob (1948) | 193 8.1.3 Hiob bei May und Goll | 198 8.2 Dialoge nach Auschwitz: Nelly Sachs und Paul Celan | 200

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8.2.1 8.2.1.1 8.2.2 8.2.3 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 9

   Inhaltsverzeichnis

Nelly Sachs: Hiob (1949) | 201 Exkurs: Margarete Susman | 208 Paul Celan: Zürich, Zum Storchen (1960) | 210 Hiob bei Sachs und Celan | 219 Vom säkularen Heilsweg ins heillose Säkulum: Johannes R. Becher und Günter Kunert | 221 Johannes R. Becher: Hiob (1949) | 221 Günter Kunert: Biblische Geschichte II (1977) | 224 Hiob bei Becher und Kunert | 229

Resümee | 231

10 Bibliographie | 239 11 Index | 251

1 Hinführung Die Figur Hiobs hat seit Anbeginn der künstlerisch produktiven Bibelrezeption so stark wie kaum ein anderer Protagonist des Alten Testaments zur deutenden Auseinandersetzung provoziert. Grund hierfür ist die paradoxale Situation, von der das biblische Buch erzählt, das seinen Namen trägt: Just über Hiob, den frömmsten und mithin gottgefälligsten Menschen auf Erden, verhängt Gott die schlimmsten denkbaren Leiden. Warum? Dieser Heimgesuchte ist der Prototyp des leidenden Menschen und auch der Empörung gegen die ungerechte Verteilung der Glücksgüter und des Leids  – hier schreit sie zum Himmel. Seine Wanderung und historische Modifikation durch die Literatur in verschiedenen Epochen ist auch ein faszinierendes Seminarthema für Germanisten.¹

Prominente Texte des deutschsprachigen Literaturkanons, deren intertextuelle Bezugnahmen auf das Hiobbuch augenfällig sind und in der Rezeptionsforschung seit längerem wahrgenommen werden, sind etwa der Arme Heinrich Hartmanns von Aue, Goethes Faust oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Sie sollen in der vorliegenden Arbeit anhand ihrer Hiobbuch-Referenzen neu gelesen werden, ebenso wie einige weitere Texte, die bislang kaum oder gar nicht in den einschlägigen Fokus der Forschung gerückt sind  – so Heinrich Heines autobiographischer Essay Geständnisse oder das lateinische Drama Iobus patientiae spectaculum des Marburger Humanisten Johannes Lorichius. Gleichwohl ist diese Studie nicht die erste, die sich dem Nachhall des Hiobbuchs in der deutschen Literatur widmet. Warum sollte es ihrer bedürfen? Haben doch die deutschen Hiob-Posttexte des Mittelalters bis zum 15. Jahrhundert bereits um 1970 herum unabhängig voneinander Karl-Heinz Glutsch² und Ulf Wielandt³ gesichtet. Weiter bis in die Frühneuzeit hatte sich schon 1930 Josef Hügelsberger vorgetastet.⁴ Den Zeitraum „seit der frühen Aufklärung“ deckt Ulrike Schrader 1992 in ihrer Bibliographie annähernd vollständig ab und im Verlaufstext zwar ‚nur‘ exemplarisch, dafür aber mit Ausgriffen auch auf europäische

1 Neumann, Peter Horst, in: Ritter, Werner H./Schoberth, Ingrid: „Was mich staunen macht“. Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Peter Horst Neumann. In: Religion und Phantasie. Von der Imaginationskraft des Glaubens. Hrsg. von Werner H. Ritter. Göttingen 2000, S. 46–59; S. 55. 2 Glutsch, Karl-Heinz: Die Gestalt Hiobs in der deutschen Literatur des Mittelalters. Karlsruhe 1972. 3 Wielandt, Ulf: Hiob in der alt- und mittelhochdeutschen Literatur. Diss. masch., Freiburg/Brsg. 1970. 4 Hügelsberger, Josef: Der Dulder Hiob in der deutschen Literatur. Ein Beitrag zur Geschichte des biblischen Stoffes in Deutschland. Graz 1930.

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   Hinführung

Nachbarliteraturen.⁵ Georg Langenhorst schließlich hat für das 20. Jahrhundert kein geringeres Korpus dokumentiert als die ganze (westliche) Weltliteratur.⁶ Die Gründe, die mir einen erneuten Blick auf bereits analysierte – und einen gänzlich neuen auf einige unanalysierte  – Texte verschiedener Gattungen und Zeitstufen der deutschen Literatur unter dem Gesichtspunkt ihrer Hiobbuch-Referenzen geboten erscheinen lassen, können demzufolge keine sein, die noch mit etwelchem Bedarf an einer grundsätzlichen Sichtung des Materialkorpus oder gar mit einem  – ohnedies methodisch fraglichen  – nach einer geschlossenen oder exemplarischen rezeptionshistorischen Einflussgenealogie zusammenhängen könnten. Vielmehr liegen die Gründe (es sind deren zwei) vor allem in den Zugriffsweisen bisheriger Studien auf a.) den Prätext, also das Hiobbuch, und b.) seine Posttexte beschlossen. Den ersten Grund verdeutlicht eine lose Auswahl von Zitaten zur thematischen Relevanz des Hiobbuchs: „Das Problem des ‚Schuldlos Leidenden‘ bildet, zusammengefasst, das zentrale Thema des Buches Hiob“,⁷ so resümiert Tausky. In Hiob stehe ein exemplarischer Mensch „fassungslos vor der Frage der Ungerechtigkeit, fassungslos vor einer höheren Macht, die straft, ohne zu begründen, […] ohne Ansehen von Gut und Böse, Schuld und Unschuld“, fasst Brita Steinwendtner zusammen.⁸ Im Hiobbuch werde das „Thema des Duldens und Aufbegehrens gegen Gott“⁹ verhandelt, sagt Ulrike Schrader, während Langenhorst darin „die Schwierigkeit“ gestaltet sieht, „Erfahrungen unschuldigen Leidens mit den Erwartungen zu vereinbaren, die sich aus dem zuvor fraglos akzeptierten Weltbild und der Annahme eines […] Tun-Ergehen-Zusammenhangs ableiten“.¹⁰ Keiner dieser Perspektiven soll hier widersprochen werden; jede davon ist – zumal in Relation zu den je wechselnden Fachinteressen mal theologischer, mal literaturhistorischer Natur, der sie entstammen  – gleichermaßen legitim. Doch scheint mir das thematische Raster, das sie anlegen, unter neueren kulturwissenschaftlichen Blickwinkeln erweiterungsbedürftig. Das „Leid des Gerechten“ ist ein literarischer Topos, die „Frage nach dem Ursprung des Übels“ eine theo-

5 Schrader, Ulrike: Die Gestalt Hiobs in der deutschen Literatur seit der frühen Aufklärung. Frankfurt u.a. 1992. 6 Langenhorst, Georg: Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung (=Theologie und Literatur Bd.1). Mainz 1994. 7 Tausky, Robert: Hiob. Ein Mann im Lande Utz und seine Wege durch die Welt. Würzburg 2004, S. 16. 8 Steinwendtner, Brita: Hiobs Klage heute. Die biblische Gestalt in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Innsbruck/Wien 1990, S. 8. 9 Schrader (s. Anm. 5), S. 2. 10 Richter, Michael: Das narrative Urteil. Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant. Berlin 2008, S. 152.

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logisch-erkenntnistheoretische Problemstellung, die auf die Theodizee verweist. Der Aspekt des „Duldens und Aufbegehrens gegen Gott“ schließlich ist ein offenkundig ambivalenter, der in einer stark motivhistorisch orientierten Rezeptionsforschung dazu geführt hat, dass bislang nur Teil-Kanones zusammenfassend untersucht wurden, die sich mit Fug auf die Rezeption je einer Hälfte des genannten Doppelaspekts beschränkt haben. Hiob tritt im selben Text disparat in Erscheinung: zu Beginn und zum Ende des Buchs als glaubensfrommer Dulder, im Mittelteil als erkenntnisheischender Rebell gegen Gott. Das Figurenmotiv des ‚Dulders im Leid‘ ist bis in die frühe Neuzeit hinein in literarischen Posttexten das einzige rezipierte, während ab dem 18. Jahrhundert zunehmend – und in der Gegenwart überwiegend – das Figurenmotiv des ‚Rebellen‘ aufgegriffen wird, der die Theodizeefrage stellt. Nicht von ungefähr endet daher die Chronologie dreier der genannten Studien an der Epochenschwelle zur Neuzeit, während zwei weitere bewusst erst mit (bzw. nach) dem Jahrhundert der Aufklärung einsetzen. Nun scheint sich mir aber im Lichte eines kulturanthropologischen Thesenund Debattenkomplexes, der in den letzten 30 Jahren an Konjunktur gewann, ein neuer Zugang sowohl zum Hiobbuch als auch zu seinen Posttexten aufzudrängen, der die genannten Teil-Themen durch ein abstrakteres, weiter gefasstes und deutlich weniger motivgebundenes Raster ergänzt oder gar ersetzt: Thema des Hiobbuchs, so meine These, ist das Problem der Erfahrung und Bewältigung von Kontingenz. Ihre Erfahrung ist eine anthropologische Universalie in monotheistischer Ausprägung, die die enger gefassten Mythologeme und Philosopheme der Religionen und Konfessionen übersteigt. Und ihre Bewältigung ist eine Grundfunktion der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen. Steht der Arme Heinrich des Hartmann von Aue ‚fassungslos vor der Frage der Ungerechtigkeit‘? Ist Goethes Faust ein ‚schuldlos Leidender‘? Behandelt Döblins Berlin Alexanderplatz das ‚Thema des Duldens und Aufbegehrens gegen Gott‘? Interpretatorische Angestrengtheiten wie diese könnten sich, so hoffe ich, mit einem thematologisch-kulturanthropologischen Zugang als obsolet erweisen und einem Blick weichen, der Posttexte verschiedener Rezeptionsphasen kommensurabel macht und andererseits jedem einzelnen von ihnen analytisch insofern gerechter wird, als er die spezifische Funktion der Hiob-Reminiszenzen für das ästhetische Gesamtgefüge des Textes selbst betont und dabei auch die metaliterarische Reflexion des Textes auf sich selbst als Instrument ästhetischer Kontingenzbewältigung mit einbezieht. Die Kontingenzbewältigung als kulturelle Grundfunktion der Religion wie der Literatur ist, angeregt durch die systemtheoretische Trennschärfe, die dem Begriff in den 80er Jahren Niklas Luhmann verliehen hatte, von der Gruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ 1994 zum Thema ihres letzten großen Aufsatzbandes erhoben worden. In ihm bereits ironisiert Franz Josef Wetz seine Konjunktur: „Kontin-

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genz“, so stellt er fest, „ist ein Schlagwort der Gegenwartsphilosophie, unter dem sich die einen dieses, die anderen jenes, die dritten gar nichts vorstellen“.¹¹ Dies gilt noch immer und ist allenfalls um einen Zusatz zu aktualisieren: Das Schlagwort ist längst nicht mehr nur eines der Philosophie, sondern eines der Kulturwissenschaft schlechthin. Die unübersichtliche Semantik des Begriffs rührt auch daher, dass er für kategorial Unterschiedliches in Anschlag gebracht worden ist und wird: Grob vereinfacht, überlagern sich in ihm eine modallogisch-ontologische Bedeutung (die, was die Sache nicht einfacher macht, in sich bereits schillernd ist) und eine theologisch-anthropologische. Einschlägig für Zusammenhänge der Kulturwissenschaft – mithin auch den dieser Arbeit – ist die letztere. Im modallogisch-ontologischen Sinne bezeichnet ‚Kontingenz‘ die Sphäre der Ereignisse oder Sachverhalte, die einerseits nicht notwendigerweise eintreten müssen, andererseits nicht unmöglich sind. In diesem Sinne schillert sie, weil sie den – naturgemäß nur teilweisen – Überlappungsbereich zweier Eigenschaften bildet, deren eine sich nur ex negativo aus einem Gegensatzpaar definiert – als das Nicht-Notwendige –, während die andere auch positiv fassbar ist: als das Mögliche.¹² Zur ‚Bewältigung‘ indes fordern den Menschen im Alltag seiner Lebenswelt keine Probleme der Modallogik heraus, sondern solche, die sein Handeln betreffen. Kulturelle Praktiken der ‚Kontingenzbewältigung‘ beziehen sich also naturgemäß auf den theologisch-anthropologischen Geltungsbereich des Begriffs. Für meinen Zusammenhang sei die Kontingenz daher zunächst einmal – vorbehaltlich späterer Präzisierungen  – grob definiert als Die Sphäre aller Sachverhalte, die zwar so sind, wie sie sind, die aber nach menschlichem Ermessen auch anders hätten kommen können, was die Frage aufwirft, ob und inwieweit es im Spielraum menschlichen Handelns liegt (oder gelegen hätte), sie anders kommen zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass diese Sphäre immer dann zum Gegenstand existenzieller Fragen wird, wenn große Krisen auf- und mithin Sachverhalte eintreten, die dem Menschen die Grenzen seiner Handlungs- und Wirkmächtigkeit aufzeigen. Zu Strategien der ‚Bewältigung‘, der Sinnstiftung, fordert Kontingenz heraus, wenn sie Leiden bedeutet, allgemeines oder im exemplarischen Einzelfall. Religion als Kontingenzbewältigungspraxis ist die lebensmäßige Bewältigung derjenigen Kontingenz, deren Verarbeitung zu Handlungssinn unmöglich ist, sofern die Wirklichkeit 11 Wetz, Franz Josef: Kontingenz der Welt – ein Anachronismus? In: Kontingenz (=Poetik und Hermeneutik Bd. 17.) Hrsg. von Gerhart v. Graevenitz und Odo Marquard: München 1998, S. 81– 106; S. 81. 12 Vgl. Luhmann, Niklas: Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft. In: Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, S. 93–127, S. 96.

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weiter als unsere individuelle oder auch kollektive Handlungsmacht reicht. […] Religion ist die Kultur des Verhaltens zu allem, was nicht in unserer Disposition steht […]. Religiöse Praxis als Kontingenzbewältigungspraxis stabilisiert angesichts der absoluten Differenz zwischen dem, dessen wir mächtig sind, und dem, dessen wir nicht mächtig sind, und sie stabilisiert überdies angesichts fortdauernder Unsicherheit über den Grenzlinienverlauf.¹³

Die literarische Bewältigung von Unverfügbarkeit in Gestalt menschlichen Leidens hat erstens beschwörend-bannenden Charakter – in einem gleichsam schamanischen Sinne: das Böse beim Namen zu nennen, um es von sich fernzuhalten –, zweitens eine kathartisch-‚entlastende‘ Funktion, die es dem Leser – so, wie es Blumenberg ins Bild des ‚Schiffbruchs mit Zuschauer‘ fasst  – gestattet, sich der eigenen Ungefährdetheit zu versichern, indem er die Situation Gefährdeter betrachtet, und dient drittens der einfühlenden Vorbereitung auf das potenziell künftig eintretende Übel. Zum mindesten aber kanalisieren die Kulturtechniken des Schreibens und Lesens das Verlangen nach Aussprache des Leidens bzw. nach mitvollziehender Teilhabe an dieser Aussprache – so wie es auch außerliterarische Kulturtechniken tun, die ihrerseits ästhetischen Strukturen gehorchen (etwa Trauerrituale). Literatur also betreibt Kontingenzbewältigung. Zugleich aber ist Kontingenz einer ihrer immanenten Wesenszüge als Medium: Sowohl der phänomenologische Begriff der Intentionalität als auch der strukturalistische Begriff des Paradigmas setzen […] Kontingenz als Anders-Sein-Können voraus […]. Somit ist der Begriff […] nicht nur der klassischen Sprachtheorie nicht fremd, sondern geradezu deren Basiskomponente.¹⁴

Da zum Wesen jeder Geschichte der Zeitverlauf gehört, ist die konstitutive Grundstruktur jeder noch so handlungsarmen Erzählung (und erst recht jeder dramatischen Bühnenhandlung), sozusagen das Basis-Narrem schlechthin, dass sich ein Sachverhalt A, bei dem sie einsetzt, bis zu ihrem Ende in einen abweichenden Sachverhalt B verwandelt. Überdies lässt speziell beim epischen Erzählen – und nicht nur, aber allzumal im fiktionalen Erzählen  – das Ebenenspiel zwischen Geschichte und narrativem Diskurs den Leser stets im Blick behalten, dass die Handlung so, wie sie eintritt, zu jedem Zeitpunkt davon abhängt, wie der Erzähler über seine Zeichensysteme verfügt (oder auch die Zeichensysteme über

13 Lübbe, Hermann: Vollendung der Säkularisierung – Ende der Religion? In: Lübbe: Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart. Freiburg/Brsg. 1975, S. 169–181; S. 178 f. 14 Wellbery, David E.: Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus. In: Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne. Hrsg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 1991, S. 161–169, S. 161.

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ihn). In der Lyrik schließlich, die weniger von diegetischen Inhalten lebt als von der irreduziblen Übercodierung ihres Wortmaterials, und die ihren Leser auf die sprichwörtliche Arbitrarität des Einzelzeichens ständig schon dadurch verweist, dass sie die semantischen Wechselbeziehungen jedes ihrer Einzelzeichen changieren lässt, tritt Kontingenz auf der bei Wellbery genannten paradigmatischen Ebene zutage. Meine These ist nun, dass in der Zone zwischen Religion und Literatur das Hiobbuch als ein Urtext steht, der Kontingenz nicht nur bewältigt, sondern auch konkret von ihr erzählt: davon, wie menschliches Bewusstsein für das Problem der Kontingenz allererst aufkommt und sich stufenweise verfestigt, davon, welche disparaten Ansätze es dazu geben kann, mit ihr umzugehen, aber auch davon, als wie unlösbar dieses Problem letztlich verbleibt – und nicht zuletzt davon, dass es die Literatur selbst ist, der die kulturelle Funktion zusteht, seine Aporien wenn nicht zu lösen, so doch gestaltet abzubilden. In meiner Arbeit lese ich das Hiobbuch bewusst ‚textimmanent‘ als geschlossenes narratives Gefüge, also im Stil der narrativen Exegese, die – anders als die theologische Systematik – keine Rücksicht auf seine redaktionelle Entstehungsgeschichte zu nehmen braucht.¹⁵ Um eine differenzierende Lektüre des Hiobbuchs unter dem genannten Aspekt zu ermöglichen, habe ich den Begriff der Kontingenz im anthropologischtheologischen Sinne nochmals in zwei Sphären aufgespalten. Und zwar so, wie es bereits Walter Haug und Michael Makropoulos getan haben, an deren Begrifflichkeiten ich mich anlehne: Beide unterscheiden eine (ausgedehnte) Zone der Nicht-Verfügbarkeit für den handelnden Menschen von einer (eng begrenzten) Zone dessen, was frei nach Hans Blumenberg als ‚Handlungs- und Bewirkbarkeitsoptionen‘ zu bezeichnen ist. Die erstere nennt Haug ‚objektive Kontingenz‘ und Makropoulos ‚Weltkontingenz‘, die letztere heißt bei Haug ‚subjektive‘ und bei Makropoulos ‚Handlungskontingenz‘.¹⁶ Mit der animalischen Furcht vor Leid und Tod, die sich im Menschen – bezogen auf den ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘, den „unbesetzten Horizont dessen, was herankommen mag“¹⁷  – zum Ohnmachtsgefühl der Angst universalisiert 15 Als deutschsprachigen Vorstoß in diese Richtung, das Hiobbuch betreffend, vgl. Kaiser, Gerhard/Mathys, Hans-Peter: Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie. Neukirchen-Vluyn 2006, und die Genesis betreffend vgl. Schmidt, Hans-Peter: Schicksal Gott Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk. Paderborn u.a. 2005. 16 Vgl. Makropoulos, Michael: Kontingenz und Handlungsraum. In: Kontingenz (=Poetik und Hermeneutik Bd. 17.) Hrsg. von Gerhart v. Graevenitz und Odo Marquard: München 1998, S. 23– 25, und Haug, Walter: Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, im selben Band, S. 151–172. 17 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 51999, S. 12.

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habe, sieht Hans Blumenberg die menschliche Geistes- und Erkenntnisgeschichte beginnen. Letztlich ziele sie darauf, den ‚Horizont‘ so weit mit berechenbaren Sinnkonstrukten (etwa göttlichen Instanzen) zu besetzen, dass die Angst wieder in Furcht weiche und kontrollierbar sei. In Absetzung also von anderen MythosTheorien, die auf je eigene Weise die Entwicklung der menschlichen Erkenntnisse und ihrer Kriterien als einen Prozess offensiver Weltbemächtigung verstehen, beschreibt Blumenberg sie als Defensive – als perpetuierten Versuch, sich dem Zugriff des ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ zu entziehen. Distanzstiftende Maßnahme hierzu ist der Mythos. Da die „Gefährdung […], auf die Stufe der Ohnmacht […] zurückzusinken“,¹⁸ eine zeitlose Konstante ist, muss der Mythos tradiert und im Wandel der Weltwahrnehmungen stets so modifiziert werden, dass ihm „nicht von der Wirklichkeit widersprochen werden“¹⁹ kann. Dies ist die ‚Arbeit am Mythos‘, unter der die Umformung von Märchen und religiösen Dogmen ebenso zu verstehen ist wie die Ausformung dezidiert rationalistischer, säkularer ‚Totalentwürfe‘ und überhaupt aller – poststrukturalistisch gesprochen – ‚grands récits‘. Wogegen sich Blumenberg mit diesem seinem Mythos-Konzept verwahrt, ist der altgeläufige Antagonismus von ‚Mythos‘ und ‚Logos‘ als zweier Konzepte, die der gleichen Kategorie angehören – nämlich jeweils die Funktion einer Antwort auf menschliche Fragen erfüllen, die invariant und beiden vorgängig sind  –, wobei der Mythos eine dem Logos chronologisch vorausgehende, durch ihn als suspendiert zu betrachtende Vorform darstellt. Die klassische Desinformation […] in der Formel vom Mythos zum Logos […] liegt darin, dass sie im Mythos selbst nicht eine der Leistungsformen des Logos anzuerkennen gestattet. […] Die Vergleichbarkeit der Formeln trägt die Fiktion, es ginge dort wie hier um dasselbe Interesse, nur um grundverschiedene Mittel, es zu bedienen.²⁰

Das richtet sich – unter anderem – gegen die marxistische Perspektive, zwischen Mythos und Logos eine geschichtsphilosophische Dialektik walten zu sehen. Die ,Dialektik der Aufklärung‘ konstruiert diese, gerade indem sie bereits dem Mythos ein aufklärerisches Potenzial und Erkenntnisinteresse einschreibt: So wird es in einer Aufklärungs-Historie, die mit dem Mythos einsetzt und die als Kontinuum progredierenden Erkenntnisgewinns verstanden wird, geradezu zur Notwendigkeit, anzunehmen, „irgendwo in der Ferne der Vergangenheit sei der irreversible Fortsprung“ getan worden, der Sprung vom Mythos zum Logos, von

18 Blumenberg (s. Anm. 17), S. 13. 19 Blumenberg (s. Anm. 17), S. 13. 20 Blumenberg (s. Anm. 17), S. 33 f.

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der Spekulation ins gesicherte Wissen, von der statischen Ver- in die stufenweise Entzauberung der Welt. Diese Annahme weist Blumenberg als erkenntnistheoretisch voreingenommen zurück: „Die Theorie sieht im Mythos ein Ensemble von Antworten auf Fragen, wie sie selbst es ist oder sein will. Das zwingt sie bei Ablehnung der Antworten zur Anerkennung der Fragen.“²¹ Ein Kernproblem nun, das einzig den monotheistischen Schöpfungsreligionen gegenüber anderen Mythen gemeinsam ist, ist eben das Problem der Kontingenz: „Gott hat die Welt erschaffen, obgleich er über die Möglichkeit verfügte, es auch zu unterlassen, und nur deshalb kann von der Schöpfung gesagt werden, dass sie überhaupt nicht existieren müsste, eben kontingent ist.“²² Der Gedanke, dass alles, was ist, theoretisch auch gar nicht sein könnte oder auf unüberschaubar vielfältige Weise anders hätte entstehen können, als es das tat – dieser Gedanke ist in Weltbildern, in denen eine Vielzahl von Göttern ihrerseits gestaffelten Vorstufen der Kosmogonie entstammen und/oder genealogisch auseinander hervorgegangen sind, nicht virulent. Koexistierende und konfligierende Götter, die nicht als Schöpfer des Universums gedacht werden, sondern als seine den Menschen an Macht und Lebenserwartung übertreffenden Miteinwohner, allenfalls (wie etwa im alten Ägypten) als seine Verkörperungen, ‚besetzen‘ den ‚Horizont‘ in verlässlich entlastender Weise. Konzepte, die dem Menschen den unberechenbaren Machtanspruch der ‚Wirklichkeit‘ durch Antagonismen berechenbarer Götter vom Leibe halten, machen ihn „zum Nutznießer einer Ordnungsform, ohne deren legitimer Bezugspunkt zu sein“.²³ Denkt man jedoch einen einzelnen Gott als chronologischen Ausgangspunkt alles Seienden und unterstellt man ihm einerseits prinzipielle Güte dem Menschen gegenüber, andererseits, dass sein Schöpfungsakt eine punktuelle Entscheidung für eine mögliche Welt aus der Vielzahl aller möglichen war, dann ist als ‚Entlastungsmaßnahme‘, die dem Menschen die Berechenbarkeit der individuellen Zukunft sichert, eine Vertragsbindung nötig. Diese belädt wesentlich stärker (weit über ventilmäßige Opferrituale hinaus) das Feld der menschlichen Handlungsethik mit Bedeutung, sie richtet das Tun und Lassen des Menschen stets auf sein Verhältnis zum einen Gott aus und setzt ihn in eine strenge Verantwortlichkeit für dieses Tun und Lassen. Der Monotheismus ist überdies konstitutive Voraussetzung für den Gedanken, eine Theodizee zu formulieren. Eine vom Menschen zu leistende Rechtfertigung der Transzendenz ist erst nötig, wenn das Verhältnis zwischen ihm

21 Blumenberg (s. Anm. 17), S. 34. 22 Wetz (s. Anm. 11), S. 84. 23 Blumenberg (s. Anm. 17), S. 38.

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und einem einzelnen, ‚vertragsfähigen‘²⁴ Gott zentraler Fluchtpunkt des Weltverständnisses ist, also „Ursprung und Zustand der Welt durch und durch dem Gott zugeschrieben werden müssen und seine Weisheit und Güte in Frage stellen würden“.²⁵ Unter solchen Umständen ist die Unversehrtheit des Menschen in seine eigenen Hände gegeben – partiell: „Die schmale Zone realistischen Verhaltens ist immer umgeben von einem Umfeld der Handlungs- und Bewirkbarkeitssuggestionen. Die Beweislast dafür, wo die Grenzen der Beeinflussbarkeit der Welt fassbar wären, lag immer beim Misserfolg“.²⁶ Das Hiobbuch leistet Arbeit am Mythos, indem es den Krisenfall eines solchen Misserfolgs durchspielt: Ich werde im folgenden Kapitel zu zeigen versuchen, dass sich seine Erzählung als ein diskursiver Prozess des anwachsenden Kontingenzbewusstseins lesen lässt. Es schildert einen Störfall (den maximal denkbaren) in der vertraglich geregelten Koexistenz von Mensch und Schöpfergott. Es erzählt, wie eine ‚Handlungs- und Bewirkbarkeitssuggestion‘, die sich zuvor als Konzept der Sinnstiftung und Kontingenzbewältigung bewährt zu haben schien, durch den schmerzhaften Einbruch der Wirklichkeit in Frage gestellt und revidiert werden muss. Den Widerspruch zwischen der Prämisse eines allmächtigen und gerechten Gottes und dem empirischen Leiden des gerechten Menschen diskutiert der Text vielstimmig, schöpft alle Varianten logischen Schließens aus, die geeignet scheinen, ihn zu überbrücken, und läuft doch auf die Kapitulation menschlichen Sinnstiftungswillens vor der Unauslotbarkeit Gottes hinaus. Das Buch Hiob zählt im alttestamentarischen Kontext zur ‚Weisheitsliteratur‘, zu der man auch das Buch der Sprüche Salomos, den Prediger, die apokryphe Weisheit Salomos und einige Psalmen rechnet.²⁷ Die ‚weisheitliche‘ Lehrtradition des alten Orient, die über den israelitischen Kulturraum hinaus auch im ägyptischen und mesopotamischen Raum verbreitet war, sucht nach dem „Erkennen, Formulieren und Tradieren von Weltordnung schlechthin, im ethischen wie im kosmischen Bereich“,²⁸ und verbindet dabei zwei Aspekte: die Erkenntnis von Ordnung einerseits, eingebettet in das […] „altorientalische Weltordnungsdenken“ […], und die daraus resultierende Verhaltensorientierung, die Formulierung und Tradierung von Verhaltensregeln und ethischen Grundsätzen andererseits.²⁹

24 „Daß er der Einzige ist, wird zum ersten Artikel seiner ‚Dogmatik‘. Vertragsfähigkeit begründet seine Geschichte mit den Menschen; wer seine Bedingungen hält, kann seiner Verheißungen sicher sein“. Blumenberg (s. Anm. 17), S. 29 f. 25 Blumenberg (s. Anm. 17), S. 39. 26 Blumenberg (s. Anm. 17), S. 18. 27 Es sind dies insbesondere die Psalmen 37, 49, 73; 112, 127, 128, 133, 139; 107,33–42. 28 Preuß, Horst Dietrich, zit. nach Langenhorst (s. Anm. 6), S. 38. 29 Richter (s. Anm. 10), S. 166.

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Weltordnung und Verhaltensethik: Diese beiden Sphären sind deckungsgleich mit den beiden von mir unterschiedenen Zonen der ‚objektiven‘ und der ‚subjektiven Kontingenz‘, also hier des dem Menschen unverfügbaren, da des dem Menschen verfügbaren Optionenpluralismus. Konstitutiv für die weisheitliche Ethik ist das, wofür sich im Theologendeutsch der etwas ungelenke Begriff ‚Tun-Ergehen-Zusammenhang‘ eingebürgert hat: Das Postulat eines Bedingungszusammenhangs zwischen der moralischen Entschließung des Menschen und seinem glücklichen Schicksal. Klassisch formuliert ist er in Ps. 37,37–38: „Bleibe fromm und halte dich recht; / denn einem solchen wird es zuletzt gutgehen.  // Die Übertreter aber werden miteinander vertilgt,  / und die Gottlosen werden zuletzt ausgerottet.“ Ihm zufolge darf der ethisch korrekt handelnde Mensch darauf vertrauen, dass Gott ihm zur Belohnung ein glückliches Leben gewähren wird, der schlecht Handelnde indes hat mit Sanktion zu rechnen. Dieses Axiom kann, so meine ich, als ein primäres – oder besser: als ein, im nicht-pejorativen Ursprungssinne, primitives  – Modell religiöser Kontingenzbewältigung gelten. Es bringt Handlungs- und Weltkontingenz in einen versöhnlichen Einklang, indem es ein Junktim zwischen menschlichem und göttlichem Handeln konstruiert. Gemeinsam mit den Psalmen 37, 49 und 73 sowie dem Prediger zählt das Hiobbuch zur nachexilischen ‚Krise der Weisheit in Israel‘. In solchen Texten geht darum, dass wichtige Elemente der weisheitlichen Weltdeutung und Lebenspraxis fraglich geworden sind  – siehe Psalm 73,12–13: „Siehe, das sind die Gottlosen; / die sind glücklich in der Welt und werden reich. // Soll es denn umsonst sein, daß ich mein Herz rein hielt / und meine Hände in Unschuld wasche?“ Eine neue Theologie, die mit neuen Sprach- und Denkformen experimentiert, dämmert herauf. Das Hiobbuch nun, unter den ‚weisheitskritischen‘ Texten der einzige narrative, zeigt den Tun-Ergehen-Zusammenhang gleich eingangs außer Kraft gesetzt. Daraufhin durchläuft sein Protagonist – in der Wechselrede mit seinen ‚Freunden‘, die als unverdrossene Anwälte der alten Theologie figurieren – mehrere gedankliche Perspektiven, aus denen er die Welt- und die Handlungskontingenz jeweils in eine neue Korrelation zueinander setzt. Liest man diesen gleitenden Perspektivenwechsel als eine konsekutive Abfolge von Phasen, in denen Hiob versucht, ein allgemein-abstraktes Gottesbild abzugleichen mit seinen persönlichempirisch erfahrenen Lebensumständen, so ergibt dies – wie gesagt – einen Prozess zunehmenden Kontingenzbewusstseins. Liest man jedoch Aussagen Hiobs, die verschiedenen dieser Phasen entstammen, synchron, dann ergeben sich unversöhnliche Widersprüche zwischen ihnen. Das ist für unseren Zusammenhang bedeutsam, weil die (theologische wie literarische) Rezeptionsgeschichte des Hi-

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obbuchs auch die Geschichte wechselnder versuchter Harmonisierungen jener Widersprüche durch Tilgungen einzelner Teilaspekte ist. Zu zeigen ist, dass das Hiobbuch, im Ganzen betrachtet, Kontingenzbewältigung nicht nur betreibt – wie das wohl jedes Stück Literatur tut, zumal jedes mythisch-religiöse –, sondern just hiervon auch erzählt. Das macht es im Rahmen des monotheistischen Mythos zu einem Meta-Mythem. Es führt den exemplarischen Fall eines Menschen vor, dessen altgewohntes Gottes- und Weltkonzept in die Brüche geht und der darum ringt, zu verstehen, warum dies so ist – und welches neue, revidierte Konzept er gegebenenfalls annehmen müsste, um seine persönliche Lebenspraxis dann wieder im altgewohnten (oder eher: in einem neuen) harmonischen Einklang mit dem allgemeinen Weltlauf zu wissen. Auf dieser Basis wiederum möchte ich anschließend ausgewählte ‚HiobTexte‘ der deutschsprachigen Literatur quer durch die Zeit anhand ihrer HiobReferenzen lesen (bei manchen ist eine solche Lesart unausweichlich, bei anderen legt sie sich nicht auf den ersten Blick nahe) – annehmend, dass ein solcher Text immer auch von einem jeweiligen zeitgenössischen Bedarf daran erzählt, ein überkommenes, aber fragwürdig und funktionsunfähig gewordenes Modell der Kontingenzbewältigung zu revidieren. Mit Blumenberg verstanden, erweist es sich somit als ein Meta-Mythem, nämlich als eine mythische Erzählung davon, wie ein Mensch seinen altgewohnten Mythos (hier: eine notwendige Schöpfungsordnung) neu überdenken muss, weil er ihn vor dem ‚Ansturm des Absoluten‘ nicht mehr hat schützen können, und ihn nun durch einen neuen Mythos ersetzen muss, der Lebensumstände und Weltordnung wieder zu integrieren vermag. Das Mythem von Hiob ist das Mythem von der (Neu-)Verortung des Menschen in Gottes Schöpfungsordnung. Insoweit Hiob sein Leiden unhinterfragt lässt und es hinnimmt, erzählt dieses Mythem von der – klassischen – Ordnung, die dem Menschen die privilegierte Stellung einräumt, Gottes moralisch-didaktische Aufmerksamkeit zu genießen (hier anhand des exemplarischen Extremfalls: dass sich nämlich die Aufmerksamkeit Gottes in der schlimmstmöglichen Prüfung manifestiert und das Wissen des Menschen um seinen Stellenwert darin, dass er sie besteht). Insoweit Hiob dies hinterfragt, dokumentiert der Mythos das Ringen des Menschen um ebendiese Stellung. Insoweit Gott Hiob darob in der dargestellten Art zurechtweist, erzählt der Mythos von einer neuen, beunruhigenden Verortung des Menschen: nämlich am Rande der Schöpfungsordnung statt in deren Zentrum, und zugleich jenseits jeglicher Möglichkeit von Einflussnahme auf sein gottgegebenes Schicksal. Einen denkbar arbeitsreichen Prozess bildet die literarische Rezeptionsgeschichte dieses Mythos eben deshalb, weil das biblische Hiobbuch die Ambivalenz Hiobs nicht auflöst. Eine derart komplexe Figur kann in der (theologischen

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wie volkstheologischen, philosophischen wie literarischen) Nachwelt mit jeweils gleich gutem Recht entweder in aller Komplexität präsent bleiben oder aber in ‚dekomplizierter‘ Version – und zwar entweder als reiner Dulder oder als reiner Streiter. Entfaltet doch jede der beiden letztgenannten Varianten noch in ihrer reduzierten, vereindeutigten Fassung ein Charisma von hinreichender ‚Unerhörtheit‘, mithin exemplarischer Einmaligkeit: der Dulder-Hiob durch seine übermenschliche Leidensfähigkeit, der Streiter-Hiob durch seinen blasphemischen Wagemut. Hiobs Ambivalenz also gestattet es der literarischen Weiter-Arbeit, je nach zeitdiskursiver Priorität das eine oder andere Figurenmerkmal zu aktualisieren und zu privilegieren und das andere zu unterdrücken und zu ignorieren – oder, insofern sie beide zugleich aufruft, das unweigerlich sich damit wieder auftuende Paradox in neue, zeitbedingte Kontexte zu stellen: sei es, um es als Paradox stehenzulassen und damit auf Sinngebungsdefizite der Zeit zu referieren, oder – umgekehrt –, um es anhand zeittypischer Sinnzuschreibungen aufzulösen. Literarische Hiob-Reaktualisierungen also zeichnen je nachdem, ob sie Hiob als Dulder, als Streiter oder als beides zugleich zeigen, immer auch ein Bild von der zeitgenössischen Sicht auf den Handlungs- und Bewirkbarkeitsspielraum des Menschen gegenüber Gott – zum Ersten darauf, wie weit oder wie eng dieser bemessen ist, zum Zweiten darauf, weshalb dies so ist, und zum Dritten stets auch darauf, welche handlungsethischen Konsequenzen sich hieraus für den Menschen ergeben; vorgelebt von Hiob als menschheitsexemplarisch überhöhter Figur, agiere er nun als einsames Vorbild oder als stellvertretendes Negativbeispiel. Damit aber exemplifiziert Hiob immer auch den Status des Menschen im Handlungs- und Bewirkbarkeitsspielraum Gottes. Unter der ersten Prämisse, dass Literatur immer auch Kontingenzbewältigung ist (zumal mit einem steten Überschuss an Ironie ob ihrer eigenen Kontingenz) und unter der zweiten, dass das zentrale kulturanthropologische Thema des Hiobbuchs die Kontingenzbewältigung ist, lassen sich literarische Posttexte zum Hiobbuch insofern immer als Kontingenzbewältigung auf potenzierter Ebene lesen, weil sie einen Mythos bearbeiten, der sich bereits per se autoreferenziell zu seiner eigenen anthropologischen Funktion verhält. Eine solche Perspektive legt  – wie eingangs angedeutet  – notwendig auch an die Hiob-Posttexte ein gröberes Raster, man kann auch sagen: einen stärker abstrahierenden Maßstab an als verschiedene vorliegende rezeptionshistorische Studien. Sie stellt keine nachgeordneten Strukturelemente in den Vordergrund, die einem historischen Durchlauf den Beigeschmack des Motivgenealogischen verliehen: Nicht etwa den griffigen Topos vom ‚Leidenden Gerechten‘, an dessen Paradoxalität sich die Literatur abarbeite. Auch verfängt sie sich nicht in der Konturierung einzelner, heterogener Motive, die dem Text gleichermaßen einge-

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schrieben sind, die im Laufe der Rezeptionsgeschichte aber abwechselnd privilegiert und unterdrückt wurden: Speziell ist das vor allem einerseits das Motiv des ‚frommen Dulders‘, der eine göttliche Prüfung seiner Frömmigkeit vorbildlich besteht und dafür belobigt wird – dieses Motiv kennzeichnet bis in die frühe Neuzeit hinein eine christlich-stoizistische Hiobbuchrezeption, die den Text vom glücklichen Ende her (und über jedwede blasphemische Rebellion großzügig hinweg-)liest. Andererseits herrscht das konträre Motiv des ‚Rebellen‘, der die Theodizeefrage stellt, angesichts des Leids an Gottes Gerechtigkeit zweifelt und der die Intelligibilität göttlichen Handelns zum Gegenstand einer Rechtsverhandlung macht – dieses Motiv betont die Literatur erst seit der ‚Neuzeit‘, besonders stark seit der Aufklärung. Die genannten beiden Stufen literarischer Hiobbuch-Rezeption sind bislang nur jeweils gesondert zum Gegenstand literaturhistorischer Untersuchungen geworden. Das im besten Sinne anachronistische, weil ‚überzeitliche‘ Modell von Kontingenz, das ich dem Hiobbuch als Thema unterstelle, macht beide Stufen kommensurabel, weil es den Blick defokussiert von den Ebenen des Erzählstoffs, der Figuren oder einzelner Motive und Narreme des Prätextes, und überdies auch sein poetologisches ‚Meta‘-Potential mit einbezieht. Zudem kann es das – gleichwohl aus Gründen des unhintergehbaren hermeneutischen Horizontabgleichs nie auf Null zu reduzierende – Risiko zumindest verringern, dem sich jede chronologisch-lineare Auffädelung von Texten mit Bezug auf einen gemeinsamen Nenner aussetzt: das Risiko, als Teleologie verstanden zu werden, die in diesem Fall eine begriffsgeschichtliche wäre und etwa  – im Geiste der berühmten Abschlussthesen der Forschungsgruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ von 1994ff. – die mähliche Genese eines ‚Kontingenzbewusstseins‘ im gegenwärtigen Verständnis behaupten. Eine solche Teleologie tendierte per se dazu, ätiologische Herleitung des gegenwärtig Geläufigen zu sein, dem mithin notwendig  – ob gewollt oder nicht – das Privileg eines (vorläufigen) Endzustandes beigemessen wird. Hinzugefügt sei also ausdrücklich: Hiobbuch-Posttexte unter dem Begriff der Kontingenzbewältigung aufzufädeln, hat selbstredend kaum weniger arbiträren  – um nicht zu sagen: kontingenten  – Konstrukt-Charakter, als ihn eine Auffädelung unter einem anderem Oberbegriff hätte. Doch kann und soll es um eine verlaufsgeschichtliche Erzählung ohnehin allenfalls am Rande gehen; im Vordergrund steht die Einzelanalyse. Sie soll erfolgen, indem – mutatis mutandis – an jeden Text eine Matrix von Kriterien angelegt wird, die die Aktualisierung oder eben auch Nicht-Aktualisierung der von mir postulierten Strukturelemente des Prätextes abfragt: und zwar dessen

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a) thematische Ambivalenz: Wie geht der Posttext mit der im Hiobbuch beschriebenen Polarität aus verfügbarer Handlungszone und unverfügbarer Weltzone um? Welche der beiden wird in welchem Sinne als kontingent gezeigt? b) Ambivalenz in der Perspektivierung: Was wird aus der Rolle des ‚darüberstehenden Beobachters‘, die das Hiobbuch dem Leser zumisst, indem es ihm die ‚wahren‘ Hintergründe der Situation eröffnet? c) Metapotenzial: Aktualisiert der Posttext  – und wenn ja, wie?  – das metasprachliche, autoreflexive Potential, das im Hiobbuch angelegt ist? d) Ambivalenz in der Figurenzeichnung. Weil die Figur Hiob ambivalent erinnerbar ist (nämlich als ‚Dulder‘, als ‚Rebell‘ oder – in Überblendung – als beides), verspricht sie eine geeignete literarische Exemplifikationsfigur zu sein, um den jeweiligen zeithistorischen Diskursstand darüber abzubilden, wie viel oder wenig, wie ernsthaft oder ironisch der Mensch seinesgleichen an ‚Handlungs- und Bewirkbarkeitssuggestionen‘ zugesteht. Je nachdem, ob ein Posttext den Dulder- oder den Streiter-Hiob (oder beide, und wenn ja, in welchem Verhältnis) aktualisiert, steht die Figur Hiob für einen hohen oder niedrigen Status des Menschen in jenem ‚Kontingenzfeld‘, das er sich zeitaktuell zubilligt, und für den Grad seiner Zufrieden- oder Unzufriedenheit mit diesem Status. Die ‚Arbeit am Mythos‘ des Monotheismus wird ablesbar an der ‚Arbeit am Meta-Mythem‘ Hiobbuch in seinen Posttexten, die an seine Figuren, Topoi und Themen all das anlagern, was in den jeweiligen Diskursen ihrer Zeit an theologischen und philosophischen Beunruhigungswerten, aber auch an ästhetischen und poetologischen Innovationen hinzugekommen ist: HiobbuchPosttexte markieren neue Etappen in der Diskursgeschichte der Kontingenzbewältigung. Für die Auswahl der zu behandelnden Texte war deren entstehungschronologische Diversität insofern wichtig, als es galt, erstmals Hiob-Texte von vor und nach der Schwelle zur Neuzeit in einer Studie zu vereinen. Letztlich gewählt wurde eine Streuung vom 12. bis ins 20. Jahrhundert. Darüber hinausgehend konnte für die Bedürfnisse eines thematologischen Zugriffs, der auf umfassende motivhistorisch-systematische Vorarbeiten bereits zurückgreifen kann und die Funktionalität der Verbindung von Stoff und Thema des Prätexts für den jeweiligen Einzelposttext fokussiert, leichten Herzens eine gleichsam spielerische Streuung erfolgen: Unsere Textauswahl repräsentiert größtmögliche Diversität nach den Kriterien a.) der Textgattungen, die jeweils für ihre Entstehungszeit innovationstragend sein sollten (Lyrik, Drama, fiktionale und autofiktionale Prosa), b.) des Grades an bisheriger Aufmerksamkeit durch die Forschung (von gar keiner bis sehr hoher) und c.) der Intertextualitätsmarkierung. Für die letztere galt als Auswahlkriterium Peter Stockers Definition:

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Die Beziehung zwischen einem Text („Posttext“) und einem oder mehreren anderen Texten („Prätexten“) oder einer Textklasse ist dann und nur dann intertextuell, wenn (a) ein desintegratives Intertextualitätssignal vorhanden ist, das den Modell-Leser zu einer Änderung der Leserichtung (Digression) veranlasst (Signalbedingung) und wenn (b) die Berücksichtigung bestimmter Prätexte bei der Lektüre des Posttexts (Reintegration) zu dessen vertiefter Deutung führt (Funktionalitätsbedingung).³⁰

Diese Kriterien schienen sich mir gleichermaßen für Texte zu erfüllen, die die jeweils stärksten – und mithin initial leserlenkenden – unter ihren Referenzen aufs Hiobbuch in verschiedener Weise markieren: Sei es die zitierende, palintextuelle Beziehung, die gegeben ist, wenn „ein Text (‚Palintext‘) spezifische Textelemente eines anderen […] im Wortlaut oder in abgewandelter Form zitiert“,³¹ sei es die thematisierende metatextuelle Beziehung – gegeben, wenn „ein Text (‚Metatext‘) einen oder mehrere […] Texte […] thematisiert, namentlich indem er Prätexte als ganze oder in Teilen metasprachlich benennt“³² – oder die imitierende hypertextuelle, die zwischen zwei oder mehreren Texten stattfindet, „wenn einer dieser Texte (‚Hypertext‘) den anderen […] in augenfälliger Weise imitiert“.³³

30 Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien. Paderborn 1998, S. 105. 31 Stocker (s. Anm. 30), S. 54. 32 Stocker (s. Anm. 30), S. 58 33 Stocker (s. Anm. 30), S. 60. Den drei weiteren Klassifikationen Stockers – „Similtext“, „Thematext“ und „Demotext“ – braucht hier nicht gefolgt zu werden, da sie jeweils nicht – wie in unserem Fall gegeben – Referenzen auf einen einzelnen Prätext beschreiben, sondern solche auf größere Textklassen oder deren allgemeine poetische Muster. Vgl. Stocker (s. Anm. 30), S. 60–72.

2 Das Buch Hiob Die altorientalische ‚Weisheit‘ verbürgt einerseits die Intelligibilität einer unwandelbaren, kosmologisch-ontologischen objektiven Ordnung und gibt andererseits ethische Maßregeln für eine dem menschlichen Handeln anheimgestellte subjektive Ordnung. Ihr zentraler Fluchtpunkt ist, wie gesagt, der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang, dem zufolge es dem gut Handelnden nur gut ergehen kann, dem schlecht Handelnden nur schlecht  – was, wenn es die Bewertung lebensweltlicher Widerfahrnisse gilt, den induktiven Umkehrschluss gestattet (bzw. erzwingt): Glück ist ein Zeichen des Einklangs mit Gott, Leid ist Strafe Gottes. Als klassische Formel für diesen gleichsam mechanischen Bedingungszusammenhang zwischen der moralischen Entschließung des Menschen und seinem glücklichem Schicksal gilt – wie erwähnt – Psalm 37,37–38 („Bleibe fromm und halte dich recht; / denn einem solchen wird es zuletzt gutgehen. // Die Übertreter aber werden miteinander vertilgt, / und die Gottlosen werden zuletzt ausgerottet.“). Das Hiobbuch nun aber zählt, gemeinsam mit den Psalmen 37, 49 und 73 sowie dem Prediger, zu den Dokumenten der sogenannten ‚Krise der Weisheit‘. Diese Texte, entstanden unter dem traumatischen Eindruck des babylonischen Exils, handeln davon, dass wichtige Elemente der weisheitlichen Weltdeutung und Lebenspraxis fraglich geworden sind  – gerade auch der Tun-Ergehen-Zusammenhang, wie Psalm 73,12–13 zeigt: „Siehe, das sind die Gottlosen; / die sind glücklich in der Welt und werden reich. // Soll es denn umsonst sein, dass ich mein Herz rein hielt / und meine Hände in Unschuld wasche?“ Eine neue Theologie, die mit neuen Sprach- und Denkformen experimentiert, dämmert herauf.¹ Wie fraglich die überkommene geworden ist, das wird im Buch Hiob anhand der

1 Zum sozialhistorischen Kontext vgl. Borck/Paefgen: „Sprachliche und inhaltliche Beobachtungen lassen die Vermutung zu, daß die Verfasser des Buches Hiob, auch wenn es ein scheinbar allgemein menschliches Problem anspricht, in den aristokratischen Kreisen des antiken Israel zu vermuten sind. Das Buch Hiob ist Oberschichtsliteratur. Denn eben für sie […] wurde in nachexilischer Zeit ein Problem virulent, das das Buch Hiob vordringlich zu verhandeln versucht. Träger der Erzählung sind Menschen, die, vormals zur Oberschicht gehörend, in nachexilischer Zeit an Besitz und Ansehen verloren haben und diesen Verlust als Leiden vor Gott bringen und Rechenschaft einfordern. Gerade für die frommen Aristokraten war es ein Balanceakt, zwischen den politischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit (persische Steuerpolitik) und den Verpflichtungen für das judäische Gemeinwesen ein jahwetreues Leben zu gestalten. Sie erleben eine Veränderung der Verhältnisse, in denen die alten Traditionen und die neuen Erfahrungen nicht mehr zusammenpassen.“ Borck, Karin/Paefgen, Elisabeth: Leben und Leiden. Hiob, Josef K., Franz Biberkopf und Mendel Singer aus theologischer und literaturwissenschaftlicher Sicht. In. Wirkendes Wort 2/1999, S. 249–272, S. 256.

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   Das Buch Hiob

dogmatischen Verhärtung ihrer Verfechter betont, die den weisheitlichen Bedingungszusammenhang zum Vergeltungsglauben ausbaut – den Glauben an einen notwendigen, mechanischen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen (d.h.: dem gut Handelnden kann es nur gut, dem schlecht Handelnden nur schlecht gehen). Das Hiobbuch umfasst 42 Kapitel, die sich nach stilistischen wie strukturellen Gesichtspunkten in einen Prolog (1,1–2,13), einen Dialog- oder ‚Redeteil‘ (3,1– 42,6) und einen Epilog (42,7–42,17) gliedern lassen. Stilbrüche und inhaltliche Unstimmigkeiten zwischen Rahmen- und Redeteil legen nahe, den überkommenen Text des Hiobbuchs als Montage aus heterogenen Texten zu betrachten, die verschiedenen Zeitstufen entstammen. Rahmenerzählung und Dialogteil des Hiobbuches sind zwei urspünglich eigenständige, zu verschiedenen Zeiten entstandene Textelemente. Eine […] Mehrheitsmeinung geht davon aus, dass der Dialogteil […] in den älteren Rahmen eingefügt wurde.²

Langenhorst stellt in seiner Strukturanalyse des Buches Hiob acht Befindlichkeiten bzw. Redehaltungen des Protagonisten fest, die einander im Erzähl- und Gesprächsverlauf ablösen, und setzt diese als Reaktionen in Bezug zu sieben praktischen bzw. verbalen Einflussnahmen auf Hiob – seitens Gottes und Satans, der Ehefrau Hiobs und der drei Freunde. Auf diese Weise ergeben sich 15 Module, die sich zum „essentielle(n) Handlungsgerüst“³ des Gesamttextes summierten. Die genannten acht Basisnarreme werde ich im folgenden (fett markiert) übernehmen, weil sie sich als Referenzpunkte für die zu behandelnden Posttexte eignen.

2.1 Thema und Struktur 2.1.1 Kontingenzerfahrung als Thema Die Exposition  – „Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob.“ (Hiob 1,1)⁴  – stellt den Protagonisten als einen ‚Gerechten‘ vor, in dessen Leben Tun und Erge-

2 Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 35. 3 Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 30. Langenhorst selektiert strikt nach Maßgabe der Unverzichtbarkeit dieser Module für den narrativen Nexus, wobei einige Textpartien durchs Raster fallen, die „inhaltlich nichts qualitativ Neues“ brächten (S. 33). Unter dieses Verdikt fallen etwa das Weisheitslied (Hiob 28) und die Reden Elihus (Hiob 32,1–37,24). 4 Bei Bibelstellenangaben im laufenden Text werde ich im Folgenden, soweit sie sich auf das Hiobbuch beziehen, auf den Kurztitel ‚Hiob‘ verzichten und mich auf Kapitel- und Versnummer beschränken. Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, nach der revidierten Lutherbibel: Die

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hen idealtypisch zur Deckung kommen: Fromm und mit allen irdischen Gütern (Besitz, Kinderreichtum, Freunden und Ansehen) ausgestattet, genießt er Glück in Gottesfurcht. Dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang, eine empfundene Vertragsbindung an Gott also, dem Helden eine sehr bewusste Grundlage seiner Lebensführung ist, zeigt sich darin, dass er gleichsam präventiv auch für seine Söhne Opfer darzubringen pflegt – um sie für den Fall, sie könnten beim Zechgelage „Gott abgesagt“ (1,5) haben, vor unausweichlicher Sühne in Form schlechten Ergehens zu bewahren: Eine Lebenspraxis, die auf der Prämisse einer – wie Ebach es leicht flapsig bezeichnet – „Assekuranzethik“⁵ fußt. In seinem Ausgangstableau also bereitet das Hiobbuch, der einzige überkommene narrative Text, der der ‚Weisheitsliteratur‘ zugerechnet wird, das weisheitliche Dogma als erzählte Handlung auf, genauer, als iterative Schilderung: „So tat Hiob allezeit“. (1,7) Man könnte, was da geschildert wird, auch einen Urzustand aus Harmonie zwischen Menschen- und Gottessphäre nennen, einen Zustand, der keine streng getrennten und schon gar keine disparat auseinanderklaffenden Sphären des (aus menschlicher Sicht) Verfügbaren und des Unverfügbaren erkennen lässt. Interessant ist nun aber – und es scheint mir eine triftige Rechtfertigung dafür zu bieten, an den Gesamttext ein binäres Raster aus ‚Handlungs‘- und ‚Weltkontingenz‘ anzulegen –, dass bereits der nächste Abschnitt diesen Urzustand dekonstruiert. Und zwar vor den Augen des Lesers, nicht aber vor denen des Helden, dem der Leser bis zum Schluss eine entscheidende Information voraushaben wird. Die Figuren- und Darstellungsebene wechselnd, schildert der Text nämlich nun den Prüfungsbeschluss durch Gott und Satan im Rahmen zweier Szenen, die in einem himmlischen Hofstaat spielen. Satan ist Teil dieses Hofstaates (und nicht etwa Gottes dualistischer Widerpart) und tritt in der Funktion eines skeptischen Chefanklägers mit Jahwe in Dialog. Ein im Alten Testament äußerst rares Moment, das bereits die Rahmenhandlung in der uns bekannten Form als einen nachexilisch inspirierten Text ausweist: „Die himmlische Harmonie ist ernsthaft gefährdet. Diese Konstellation spiegelt eine tiefgreifende Wandlung des Gottesverständnisses“.⁶ Satan nun veranlasst Jahwe zu einem Experiment: Hiob soll trotz seiner Gerechtigkeit ins Leid gestoßen werden. These Satans ist, dass Hiobs frommes Tun sich nur durch die Spekulation auf ein komfortables

Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart 1985. 5 „Ist der Schadensfall eingetreten, kompensieren die Opfer den Schaden; ist er nicht eingetreten, bringen die Opfer gleichsam ein religiöses Plus auf dem himmlischen Konto.“ Ebach, Jürgen: Der „Fall Hiob“ und das „Hiobproblem“. In: Warum? Hiob interdisziplinär diskutiert. Mainzer Universitätsgespräche Wintersemester 1997/98. Mainz 1998, S. 7–34, S. 13. 6 Richter (s. Kap. 1, Anm. 10), S. 185.

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Ergehen erkläre, seine Rechtschaffenheit also nicht mehr sei denn eigennützige Vasallentreue gegenüber einem spendablen Schutzherrn. Ebenso exemplarisch, wie Jahwe seinen „Knecht“ als Gerechten anführt, verdächtigt ihn Satan, den Tun-Ergehen-Zusammenhang unter dem Kalkül des Do ut des zu verstehen: „Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: was gilt’s, er wird dir ins Angesicht absagen“ (1,11). Bemerkenswert scheint mir: Diese Szene gewährt dem Leser Einblick in eben jene Sphäre, in die Einblick zu gewinnen im folgenden Text ein – unerfülltes – Grundanliegen Hiobs werden wird, weil sich in ihr das für ihn Existenzielle, aber eben Unverfügbare abspielt – die Entscheidung über seine Befindlichkeit im speziellen und die conditio humana im allgemeinen. Und mehr noch: Während Hiob eine Reihe disparater Vermutungen über jene Sphäre, ihre Ordnung oder Unordnung und ihre Relation zu seiner eigenen irdischen anstellen wird, bleibt dem Leser stets die Einsicht präsent, dass sich jene Entscheidung über Hiobs Schicksal unter den Bedingungen trivialster Handlungskontingenz abgespielt hat: Als ein Spiel numinoser Mächte mit der Frage: ‚Was, wenn es anders wäre?‘. Jahwe erteilt Satan die Vollmacht, über Hiobs materiellen Besitz zu verfügen. Auf den ersten Dialog im Himmel folgt nun die Schilderung der über Hiob hereinbrechenden Übel. In teichoskopischem Verfahren, sich überlappend und als Klimax angeordnet, ereilen den Gerechten die ‚Hiobsbotschaften‘: Vier Boten geben Kunde von vier mörderischen Ereignissen, die Hiob seines Acker-, Klein- und Großviehs und schließlich seiner sieben Söhne und drei Töchter beraubt haben. Ihre stereotype Schlusswendung („…und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte“) unterstreicht einerseits das Ausmaß der einzelnen Übel, andererseits ihre synoptische Überlappung zu einem einzigen großen. Diese Schicksalswende zum Leiden indes, sein unverschuldet schlechtes Ergehen also, nimmt Hiob zunächst als Fügung hin, ohne sein Tun zu ändern: Er bleibt gottesfürchtig, übt sich in wortkarger Dulderschaft (ohne daraus einen Anspruch auf Belohnung abzuleiten) und enthält sich jeder Reflexion über eigene Handlungsspielräume und etwelche Zusammenhänge zwischen Tun und Ergehen: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ (2,16). In dieser Phase seines Kontingenzbewusstseins – ich nenne sie ‚Phase 1‘ – sieht Hiob sein Schicksal (noch) im Einklang mit der göttlichen Ordnung. Indem er die letztere als maximal ausgedehnte ‚Weltkontingenzzone‘ in der totalen Verfügung Jahwes anerkennt, verzichtet Hiob darauf, eine ‚subjektive Kontingenzzone‘ in Anschlag zu bringen, die eines eigenen Handlungsspielraums also, innerhalb dessen sein aktuelles Ergehen mit einem vergangenen Tun in Zusammenhang stehen könnte – oder auch nur irgendeine sinnstiftende Erwägung über einen solchen Zusammenhang möglich wäre. Erklärlich ist dies daraus, dass Hiob in der Rahmenhandlung (in deren ursprünglicher Funktion als einer exemplarischen No-

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velle über das rechte Verhalten im Leid) eben nicht als autark Räsonnierender, sondern als schematisch – und zwar gerecht – Handelnder figuriert, dessen Duldertum rein antizipatorisch auf die bald erfolgende Restitution bezogen bleibt: So bezeugt der Text einen funktionierenden Tun-Ergehen-Zusammenhang in toto und vom Ende her gelesen. Es folgt ein zweiter und parallel aufgebauter Himmels-Dialog, in dem Satan weiterhin „Hiobs Verhalten nach den Äquivalenzregeln des Tauschhandels diaund prognostiziert“⁷ und diesmal von Jahwe die Verfügung über die leibliche Gesundheit des Geprüften zugesprochen bekommt. Auf die Erkrankung Hiobs an ‚bösen Geschwüren‘ (die, was im Text nur implicite mitschwingt, Unreinheit und eine Verstoßung aus der Gesellschaft bedeutet), reagiert Hiobs Frau mit einem Verfluchungsratschlag: „Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb!“ (2,9). Auch diesem Höhepunkt der Heimsuchung freilich hält Hiob in Demut stand: „Haben wir Gutes von Gott empfangen und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (2,10). Auch weiterhin also sieht er die neue Lebenssituation nicht im Widerspruch mit alten Ordnungsvorstellungen: Sein konsequenter Glaube absorbiert auch die Leiderfahrung. Die Figur der Ehefrau taucht nur in diesem einen Vers auf – und im Folgetext nie wieder. Gleichwohl erfüllt sie eine unverzichtbare Funktion: Indem sie Hiob eine Handlungsoption vorschlägt, die dieser dann verwirft, markiert der Text an dieser Stelle eine subjektive Kontingenzzone, die Hiob zu Gebote steht: Es ist der schmale, binäre Spielraum einer zumindest theoretisch möglichen Entscheidung zwischen der Treue zu Jahwe und einer Absage an ihn. Im übrigen wird auch später, nach Hiobs Abrücken von der Demut, das durch die Ehefrau postulierte, polare Gegen-Extrem zur Demut nie wieder zur Debatte stehen. Vielmehr gerät ebendiese Debatte, die sich nun mit dem Besuch durch drei Freunde erhebt, eben dadurch, dass eine mögliche Absage an Jahwe ihre äußerste Tabu-Grenze bildet, zu einer Art verbalen Handlungszone, innerhalb derer Hiob schrittweise alle möglichen Denkoptionen ausloten wird, die eine neue Form von Treue zu Jahwe unter neuen Bedingungen ermöglichen könnten. Die Freunde, Elifas, Bildad und Zofar, sind zunächst über Hiobs Unglück so erschüttert, dass sie sieben Tage lang mit ihm schweigen; hier endet der erste Teil der in Prosa abgefassten Rahmenhandlung. In sie eingebettet ist ein Mono- und Dialogteil in gebundener Sprache und direkter Rede – die Erzählerrede beschränkt sich gänzlich auf inquit-Formeln –, der sich von Kap. 3,1 bis 42,6 erstreckt, also von den 42 Kapiteln des Buches über 40 ausmacht. Seine Dulderschaft gibt Hiob 7 Ebach, Jürgen: Die „Schrift“ in Hiob 19,23. In: Ders.: Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, zu Themen biblischer Theologie und zur Methodik der Exegese. Neukirchen-Vluyn 1995, S. 32–54; S. 37.

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darin schlagartig auf: In einem Monolog der Selbstverfluchung wünscht er die Daten seiner Empfängnis und Geburt getilgt: Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin […]! (3,3) Siehe, jene Nacht sei unfruchtbar und kein Jauchzen darin! / Es sollen sie verfluchen, die einen Tag verfluchen können, und die da kundig sind, den Leviatan zu wecken!  / […] Die Nacht hoffe aufs Licht, doch es komme nicht, […]  / weil sie nicht verschlossen hat den Leib meiner Mutter und nicht verborgen hat das Unglück vor meinen Augen! / Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? (3,7–10)

Bereits diese Selbstverfluchung enthält eine Frage nach der Ordnung des Kosmos. Zu kritischem Kontingenzbewusstsein im Sinne einer ‚Theodizee‘ wird sie aber erst im späteren Verlauf des Textes führen. Vorerst befindet sich Hiob hier auf einer Reflexionsebene, die ich seine ‚Phase 2‘ nenne: Er diagnostiziert nun ein Missverhältnis zwischen dem Allgemeinzustand der Welt und seinem eigenen Einzelschicksal. Auch benennt er beide Zustände bereits als Kontingenzzonen: Doch während er die Zone der Weltkontingenz weiterhin positiv als sinnhaften Kosmos betrachtet, als einen von Gott als Optimum aller Möglichkeiten gesetzten und in sich intakten Ordnungszustand, erkennt er im eigenen Erfahrungsraum erstmals Kontingenz im Sinne der Willkür, des Nicht-so-sein-Müssens. Eine Irritation, die er zwar sehr wohl bereits als Indiz für ein Moment der Unordnung im Kosmos versteht, die er freilich vorderhand als unerklärlich hinnimmt, ohne die Frage zu stellen, wie intelligibel sie sein könnte. Er sieht sie als unerklärliche Ausnahme in einer Ordnung, in der jeder Mensch und seine Handlungen prinzipiell Gegenstand göttlicher Beurteilung und Gerichtsbarkeit sind, nur – warum auch immer – er selbst nicht. So leitet er aus der ‚ordnungswidrigen‘ Leidfülle seiner Existenz den Wunsch ab, sie ausgelöscht zu sehen, auf dass sie die Stabilität des Ganzen nicht länger störe: den Wunsch, den Tag der eigenen Geburt nicht mehr als lichten Ort eines positiven Ordnungsaktes betrachten zu müssen, sondern ausgelöscht und – von denen, „die da kundig sind, den Leviatan zu wecken“ – in die Dunkelheit des vorschöpferischen Chaos zurückgenommen zu sehen. „Die Logik der Umkehrung der Schöpfungstheologie“, so Jürgen Ebach, folge „darin der Logik der Schöpfung, das sie nicht historisch, sondern ätiologisch ist, d.h. nicht berichtet, was einmal war, sondern begründet, was ist.“⁸ Noch kommt dem Leidenden nicht in den Sinn, dass Gott „als Urheber und als Löser der Adressat der Frage sein kann“.⁹ Nun folgt der Dialog: Anders als etwa ein klassischer maieutischer Diskurs der Wahrheitssuche schreitet er „nicht in Einwänden fort, als gemeinsam su8 Ebach (s. Anm. 7), S. 50. 9 Ebach (s. Anm. 7), S. 49.

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chende Unterredung“, sondern setzt sich „aus Angriff und Verteidigung“¹⁰ zusammen und lässt sich in drei ‚Redegänge‘ gliedern. Der Reihe nach wenden sich Elifas, Bildad und Zofar jeweils einmal an Hiob, worauf dieser je eine Antwort gibt. Seine drei Repliken im ersten Redegang haben gemeinsam, dass sie je zunächst dem Gegenüber gelten, dann aber den Adressaten wechseln, sich direkt an Gott wenden und so in der intensivierten Form dreier zielgerichteter Monologe an die Klage anknüpfen – in Inhalt, Gestus und in der Leitfrage ‚Warum?‘. Als Verteidigungsrede der Freunde lässt sich zusammenfassen, wie die Genannten im ersten Redegang Hiob „mit einer Theologie des gerechten Gottes traktieren.“¹¹ Sie sind es, die nun den weisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang ins Spiel bringen und  – jeder nach seiner Weise  – auf dessen Gültigkeit pochen. „Bedenke doch“, mahnt etwa Elifas, „Wo ist ein Unschuldiger umgekommen? Oder wo wurden die Gerechten je vertilgt? Wohl aber habe ich gesehen: Die da Frevel pflügten und Unheil säten, ernteten es auch ein.“ (4,7–8). Dieses Axiom einerseits und die empirische Situation andererseits – Hiobs schlimmes Ergehen – bilden die Prämissen, aus denen sie drei Schlüsse ziehen, die den Widerspruch erklären und zugleich helfen sollen, ihn zu beseitigen: 1. Hiob ist zweifellos gut, also kann die Empirie nur Schein und das Schlimme nicht von Dauer sein: „In sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in sieben wird dich kein Übel anrühren“ (5,19). 2. Hiobs schlechtes Ergehen ist zweifellos von Dauer, also kann Hiob nicht so gut sein, wie es scheint: „Meinst du, dass Gott unrecht richtet oder der Allmächtige das Recht verkehrt?“ (8,3) 3. Wenn Hiob aber nicht gut ist, bleibt ihm die Chance, es (durch ein reuiges Eingeständnis) wieder zu werden, so dass es ihm auch wieder gut ergehen wird. In ihren Appellen an das Gottvertrauen setzen die Freunde unterschiedliche Schwerpunkte:¹² Elifas betont, vor Gott sei kein Mensch gerecht (und beruft sich dabei auf eine Offenbarung¹³), Bildad stellt die Unwandelbarkeit der göttlichen Gerechtigkeit in den Vordergrund (unter Berufung auf die Tradition¹⁴), während Zofar die Erhabenheit Gottes über jedes menschliche Verstehen prononciert.¹⁵

10 Bloch, Ernst: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Frankfurt/M. 1968., S. 150. 11 Safranski, Rüdiger: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Frankfurt/M. ³1999, S. 296. 12 Vgl. Preuss, Horst Dietrich und Klaus Berger: Bibelkunde des Alten und Neuen Testaments. Teil 1: Altes Testament. Heidelberg 1993, S. 125. 13 „Zu mir ist heimlich ein Wort gekommen, und von ihm hat mein Ohr ein Flüstern empfangen“. (4,12 ff.) 14 „Denn frage die früheren Geschlechter und merke auf das, was die Väter erforscht haben“. (8,8) 15 „Die Weisheit ist höher als der Himmel: was willst du tun?, tiefer als die Hölle: was kannst du wissen?“ (11,8)

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In all diesen Argumenten erweist sich noch ein weiteres Axiom, dem alle drei gleichermaßen anhängen: Gottes Gerechtigkeit. Hiob indes weist die Rede der Freunde zurück – „wollt ihr Gott verteidigen mit Unrecht und Trug für ihn reden?“ (12,7) Seine beiden Prämissen sind die der Allmacht Gottes und – gleichwohl – die der eigenen Untadeligkeit, und so gelangt er zu einem gegenläufigen Schluss: Angesichts der Allmacht Gottes lasse sich Gerechtigkeit von ihm weder behaupten noch gar einklagen. „Geht es um Macht und Gewalt, er hat sie. Geht es um Recht: Wer will ihn vorladen?“ (9,19) An diesem Punkt sehe ich Hiob in eine ‚Phase 2a‘ seines Kontingenzbewusstseins eintreten: Weiterhin – wie zuvor – diagnostiziert er einen Widerspruch im Gefüge zwischen objektiver Welt- und subjektiver Handlungskontingenz. Doch trachtet er nun – da seine Dialogpartner den Tun-Ergehen-Zusammenhang als Konnex zwischen beiden Zonen ins Gespräch gebracht haben – gerade nicht mehr danach, ihren Widerspruch unerklärt auf sich selbst zu nehmen und durch Selbstauslöschung aufzuheben. Vielmehr ist es nun die Unerklärtheit des Widerspruchs, auf die er abhebt. In dieser Phase greift Hiob das altweisheitliche Postulat der Freunde auf. Bemerkenswert aber, dass er auf deren argumentativem Boden nun nichts Geringeres mehr anstrebt als eine juristische Auseinandersetzung mit Gott selbst: Ihm lastet er in einer Anklage die Bringschuld an, den Widerspruch als nur scheinhaft zu erweisen, indem er seine Hintergründe für menschliches Ermessen intelligibel macht: „Siehe, ich bin zum Rechtsstreit gerüstet! (…) dann rufe, ich will dir antworten, oder ich will reden, so antworte du mir! Wie groß ist meine Schuld und Sünde? Lass mich wissen meine Übertretung und Sünde!“ (13,18–23) Man beachte, dass diese Worte – verglichen mit dem selbstgenügsamen „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen“ – inhaltlich und gestisch-performativ auch für ein radikal neues Verhältnis Hiobs zum eigenen Aktionsradius stehen. Jenen Kontingenzraum, als der ihm sein Dasein soeben bewusst geworden ist  – und zwar im negativen Sinne anhand der scheinbaren Willkür seines voraussetzungslosen Leidens –, reizt er sogleich im positiven Sinne eines Raums der Entscheidungsoptionen aus, und dies gleich maximal: durch eine Selbstermächtigung zum Dialog mit Gott auf intellektueller Augenhöhe. Auf diese Provokation hin schließen sich die Freunde im zweiten Redegang zu einer Einheitsfront der Beschuldigung zusammen. Elifas nimmt Anstoß an Hiobs Redegestus und knüpft daran eine Argumentationskette, die diejenige Hiobs umkehrt: In der Ablehnung unbedingten Gottvertrauens zeige sich eine Selbstüberschätzung bezüglich eigenen Wissens, die wiederum Hiobs uneingestandene Schuld erweise – „du selbst zerstörst die Gottesfurcht und raubst dir die Andacht vor Gott“ (15,4). Aus der Empirie überlegenen Alters schöpft Elifas eine Reihe von Bildern, die das notwendige Zugrundegehen jedes Gottlosen zeigen; Bildad und Zofar schließen sich dem an. Hiob wiederum  – „Ihr seid allzumal

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leidige Tröster!“ (16,2) – hält in seinen Antworten symmetrisch dagegen: Er gibt zwei lange Auflistungen seiner eigenen Leiden (und schaltet darin einen Anruf Gottes als Bürgen seiner Gerechtigkeit ein) und weitet sie aus in eine Aufzählung von Missständen in der Welt, die den allgegenwärtigen Triumph der unrecht Handelnden illustrieren: „Warum bleiben die Gottlosen am Leben, werden alt und nehmen zu an Kraft? […] Sie werden alt bei guten Tagen […], und doch sagen sie zu Gott: ‚Weiche von uns, wir wollen von deinen Wegen nichts wissen!’“ (21,7–14). Indem er so den von seinen Freunden postulierten Tun-Ergehen-Zusammenhang als kontrafaktisch und wirklichkeitsfern erweist, gibt er deren Ausgangsvorwurf der Lüge und Verblendung an sie zurück. Somit erreicht Hiob eine wiederum neue Ebene des Kontingenzbewusstseins, nämlich ‚Phase 3‘: Ausgehend von der wahrgenommenen Willkür innerhalb seines Einzelschicksals wertet er nun jene Weltkontingenz, die er zuvor noch als Raum gottgefügter Notwendigkeit aufgefasst hatte, zum Willkürraum um. Gleichwohl beharrt er auf der Unrechtmäßigkeit dieser Willkür und sieht sich als Exempelträger ermächtigt, Gott aufzurufen, sie zu erklären. Im dritten Redegang wiederholt Elifas unbeirrt seinen Schuldvorwurf, wobei er Hiob konkrete Fälle der Gier und Hartherzigkeit unterstellt, drängt ihn dann aber, versöhnlicher werdend, erneut zum Frieden mit Gott: „Denn er erniedrigt die Hochmütigen, aber wer seine Augen niederschlägt, dem hilft er.“ (22,29) Mit gleicher Unbeirrtheit bleibt Hiob dabei, im direkten Rechtsstreit mit Gott auf dessen Einsicht rechnen zu können. Umso lauter beklagt er nun, dass Gott sich einer solchen Konfrontation in die schweigende Absenz eines deus absconditus entziehe: „Aber gehe ich nun vorwärts, so ist er nicht da; gehe ich zurück, so spüre ich ihn nicht. Ist er zur Linken, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich zur Rechten, so sehe ich ihn nicht.“ (23,8–9). Ein mehrschichtiger Vorwurf: Für die Bösen bedeutet die Unachtsamkeit Gottes eine Lizenz zum straflosen Frevel als Ausbeuter, Mörder, Diebe und Ehebrecher (vgl. Kap. 24), für den indes, der mit Gott rechten will, bedeutet sie eine Ungleichheit der Mittel: Gott kennt seine Wege, er diejenigen Gottes jedoch nicht. Der Redegang endet mit einer letzten Kurzrede Bildads, der Gottes Allmacht betont, und einer Antwort Hiobs, der erneut seine Unschuld beschwört und sie ex negativo untermauert, indem er seine Feinde für gottlos erklärt. Die Rede Zofars im letzten Redegang fehlt; an ihrer Stelle steht – ohne Hinweis darauf, wem es in den Mund gelegt wird – ein ‚Lied über die Weisheit Gottes‘. In einer resümierenden, dreiteiligen und zunächst ungerichteten Rede kontrastiert Hiob ausführlich sein früheres frommes Tun mit seinem Leiden in der Gegenwart: Einst standen sein Glück, Reichtum und sozialer Rang in angemessenem Verhältnis zu seiner Milde und Wohltätigkeit. Schmerzen und alle Drangsale der gesellschaftlichen Ächtung, Armut und Krankheit bestimmen nun sein

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Leben. In einer zweiten Klage, der an Gott gerichteten Prozessbitte, verlangt er die Klärung des Verhältnisses zwischen früherer und jetziger Situation. Hatte er in der ersten Klage, seiner umfassenden Selbstverfluchung, noch die ganze eigene Existenz zur Disposition gestellt, so leistet er nun einen Reinigungseid, der eine ‚bedingte‘ Selbstverfluchung enthält: Sie ist rein rhetorisch und gilt für den Fall, dass sein Unschuldsbewusstsein auf einem der zahlreichen Felder möglichen Fehlhandelns, die er nun aufzählt, ihn trügen sollte. „Gott möge mich wiegen auf rechter Waage, so wird er erkennen meine Unschuld.“ (31,6) Mit dieser Prozessbitte und dem deus-absconditus-Vorwurf, der ihr vorausgeht, stößt Hiob auf die reflektierteste Stufe seines Kontingenzbewusstseins vor, die ich als ‚Phase 3a‘ bezeichne: Der „Versuch, Gott vor den Richterstuhl menschlicher Einsichtsfähigkeit zu ziehen“,¹⁶ bedeutet nichts weniger als das diametrale Gegenstück zum klassischen Tun-Ergehen-Zusammenhang: Nicht mehr ist das menschliche Handeln Gegenstand göttlicher Beurteilung, sondern umgekehrt. Weiter als bis hin zum Anspruch, mit dem Obwalter der Weltordnung auf Augenhöhe zu rechten, lässt sich die Sphäre des menschlichen Handlungsspielraums schwerlich ausreizen – und, komplementär: Enger als auf einen Raum dubioser Willkürentscheidungen, die gegenüber den davon Betroffenen zu rechtfertigen sind, aber wahrscheinlich gar nicht gerechtfertigt werden können, lässt sich die Sphäre der göttlichen Gestaltungsmacht kaum eingrenzen. Bemerkenswert ist: Als mögliches Medium des geforderten Interessenabgleichs zwischen beiden Sphären setzt Hiob  – in der Metapher des Rechtsstreits  – die Sprache voraus, nämlich den mündlichen Dialog. Die gesprochene Rede also wird zum Träger der Handlungsfreiheit bestimmt, über Fragen der menschlichen Handlungsfreiheit zu verhandeln. Hier sehe ich das Hiobbuch eine Meta-Ebene sprachlicher Autoreflexion erreichen, an der literarische Posttexte anknüpfen können – zumal Hiob bereits zuvor die Exemplarizität seines Falles in eine metaliterarische Forderung gegossen hat: „Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, / mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben, zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen!“ (19,23–24). Nun endlich erfolgt eine Antwort auf Hiobs Herausforderung: In einer Theophanie erscheint Gott „im Wettersturm“ und hält zwei Reden. Darin geht er nicht auf Hiobs Reflexionen über das eigene Leid ein, wohl aber auf dessen gleich in der ersten Klage aufgeworfenen Zweifel an der kosmischen Ordnung. In der ersten Rede liefert Gott einen umfangreichen Katalog von Naturphänomenen, die illustrieren, dass die Pluralität der Schöpfung zu groß ist, als dass Hiob sie über16 Braungart, Wolfgang: Die Geburt der modernen Ästhetik aus dem Geiste der Theodizee. Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Hrsg. von Wolfgang Braungart. Bd. 1: Um 1800. Paderborn u.a. 1997, S. 17–34; S. 19.

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blicken könnte. In der zweiten Rede beschreibt Gott die menschenfeindlichen Ungeheuer Behemoth und Leviathan, die ebenfalls zu seiner Schöpfung zählen und zu gefährlich und übermächtig sind, als dass Hiob sie bezwingen könnte. „Natur ist nicht mehr ein Boden oder bloßer Schauplatz menschlichen Geschehens, wie im 1. Buch der Genesis, sondern ein Kleid, mindestens eine Chiffer göttlicher Erhabenheit – Jachwes Werke sind nicht mehr anthropozentrisch“.¹⁷ Gott macht klar, dass die Welt nicht Chaos, aber eben auch kein Kosmos sei, der auf den Menschen hin organisiert wäre, sondern einer, der widerstreitende Interessen umfasst und unter seiner steten Herrschaft steht – auch wenn sich all das der defizienten menschlichen Wahrnehmung streckenweise entzieht. Insbesondere das Motiv der personifizierten Chaosmächte, des Leviathan, den Gott allein bändigen könne, und des Behemoth, den Gott gleichermaßen wie den Menschen geschaffen habe, erhellt die Verklammerung der Gottesrede mit der ersten Hiobklage. „Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter“ (38,11): Das Wort, mit dem Gott das chaotische Meer bändigte, verweist auch den Zweifler in die Schranken. Es folgt Hiobs Einlenken: Unter dem Eindruck der Gottesreden enträt er dem Zweifel und gesteht zweierlei ein: mangelnde Kraft – „Siehe, ich bin zu gering, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen“ (40,4) – und mangelnde Einsicht: Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen hast, ist dir zu schwer. […] Darum hab ich unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe. […] Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche. (42, 2–6)

In einer neuen und abschließenden Neuausrichtung seiner Sicht also  – hier ‚Phase 4‘ genannt  – nimmt Hiob die göttliche Handlungssphäre, die er zuletzt als Kontingenzraum im Sinne von Willkürraum gebrandmarkt hatte, erneut als Raum der notwendigen Ordnung an – jedoch nunmehr ohne jenen Transmissionsriemen hin zur menschlichen Handlungssphäre, die der Tun-Ergehen-Zusammenhang gewesen war. In jenem gewandelten Weltbild, in das Hiob sich hiermit fügt, ist der Mensch in seinen Handlungen zwar weiterhin Gegenstand göttlicher Beurteilung und Gerichtsbarkeit, doch ist er mit der altweisheitlichen Vertragsbindung auch seiner zentralen Stellung im göttlichen Gesichtsfeld verlustig gegangen, an die Peripherie gerückt und jedes Handlungsspielraums beschnitten, der Erkenntnis über die andere Sphäre bedeuten würde. Indem Gott sein monologisches Macht-Wort über das dialogische, erkenntnissuchende menschliche Wort erhoben hat, scheint der Rechtsstreit zwischen

17 Bloch (s. Anm. 10), S. 154.

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beiden Fronten zum Nachteil des Menschen entschieden. Doch ergibt sich auf der autoreflexiven Ebene der Narration ein weit günstigeres Ende, quasi ein Vergleich: Der abschließende Teil der Rahmenhandlung, wieder in Prosa gehalten, schildert die Rechtfertigung Hiobs durch Gott gegenüber den ersten drei Freunden. Elifas bekommt zu hören: „Mein Zorn ist entbrannt über dich und deine Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ (42,7) Dieser hingegen erlebt eine neuerliche Schicksalswende zum Glück und mithin seine Restitution. Die verlorenen Güter werden ihm doppelt zurückerstattet – offenbar einschließlich der Gesundheit: „Und Hiob lebte danach hundertundvierzig Jahre“. (42,16) Was Gott an Hiobs Argumentation belobigt, ist nicht die Erkenntnis des Ordnungsbruchs, sondern der Wunsch, die Ordnung möge sich als doch nicht gebrochen herausstellen, der letztlich ja auch in Erfüllung geht: Gott bestätigt die Existenz einer stimmigen Ordnung, die aber eine andere ist als die herkömmlich postulierte: keine anthropozentrische nämlich, sondern eine, die seitens des Menschen – der sie nicht selbst dem Chaos abgerungen habe, sondern vielmehr nur eines unter vielen ihrer Teile sei – nicht erkennbar und daher auch nicht einklagbar ist. Was Gott an Hiobs Rede also sanktioniert, ist nicht der Gestus oder der juristische Inhalt seiner Anklage, wohl aber sein Ausgangspunkt (nämlich der Wunsch nach sinnstiftender Überbrückung des Widerspruchs zwischen Theologie und Wirklichkeit) und sein Ziel (nämlich die direkte Adressierung seines rednerischen Widerspruchs an Gott,¹⁸ mit der sich dieser schon dadurch implizit einverstanden erklärt, dass er – wenn auch spät – tatsächlich selbst antwortet). Allerhöchst bestätigt also wird Hiob im impliziten Inhalt seiner ersten Klage und in der Rederichtung seiner zweiten Klage. Und nicht zuletzt wird den Freunden gegenüber – dieser Punkt verdient in der ganzen Relevanz seiner relativen Schlichtheit nochmals gesonderte Betonung  – Hiobs Unschuld bestätigt: „Gott versetzt die Freunde ausdrücklich ins Unrecht und spricht Hiob von Schuld frei. Damit ist die Kausalkette von Schuld und Strafe unterbrochen. Hiobs Leiden, von Gott zugefügt, sind durch keine Schuld zu begründen.“¹⁹ An dieser Stelle seien noch einmal gerafft – und zusätzlich tabellarisch – die Schritte zusammengefasst, in denen Hiob nach meiner Lesart die Relation zwischen seiner eigenen und der göttlichen Verfügungssphäre stetig um- und neubewertet.

18 Vgl. Ebach, Jürgen: Leviathan und Behemoth. Eine biblische Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch das Prinzip der Zweckrationalität. Paderborn u.a. 1984, S. 164. 19 Tausky (s. Kap. 1, Anm. 7), S. 34.

kontingent (binäre Entscheidung)

||

(unterstellt) kontingent (binäre Entscheidung)

Weltsphäre (Jahwe)

|| (Einklang)/ ←→ (Kontrast)

Handlungssphäre (Hiob)

Prolog

kein Entscheidungs-/ Reflexionsbedarf

||

notwendige Ordnung

erfahrene Kontingenz als Ausnahme, binäre Entscheidung/ Reflexion

←→

notwendige Ordnung

erfahrene Willkür,

←→

notwendige Ordnung, aber punktuell verletzt

Selbstverfluchung Anklage

Demut

2a

2

1

erfahrene Willkür, Anspruch auf Fähigkeit und Recht zur Intelligibilität

||

allgemeine Willkür

bedingte Selbstverfluchung

3

erfahrene Willkür, Sprache als großer Verfügungsraum (Option zum Ringen mit Gott)

←→

allgemeine Willkür und Hermetik

Prozessbitte

3a

Reflektierter Verzicht auf Handlungs- und Erkenntnisoptionen

||

notwendige Ordnung

Unterwerfung

4

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Zunächst übt er sich in Demut (Phase 1), respektiert die Zone der Weltkontingenz als Raum einer notwendigen und unhinterfragbaren göttlichen Ordnung und bescheidet sich innerhalb seines eigenen Handlungsraums mit schierer Passivität. Seine Selbstverfluchung dann (Phase 2) klingt zwar drastisch, lässt sich aber vorerst noch immer unter dem Vorzeichen der Demut und gar als deren Steigerung lesen  – steht sie doch unter dem Vorzeichen eines ungebrochenen Vertrauens in die weisheitliche Weltordnung und unterstellt, diese ließe sich restituieren, wenn Hiobs Einzelschicksal als erkannte Ausnahme daraus getilgt würde. Als von dieser Erkenntnisphase abhängige, nachgeordnete Phase 2a bezeichne ich den Schluss, den Hiob mit seinen Anklagen an Gott zieht: Bestehen bleibt in ihr die Prämisse, die Zone der Weltkontingenz sei nur punktuell verletzt, doch zieht Hiob hieraus nun die bereits deutlich ‚handlungsorientiertere‘ Konsequenz, Gott nach seinen Gründen dafür zu fragen. In den Phasen 3 und 3a hat sich seine Prämisse radikal verschoben: Nun diagnostiziert Hiob, induzierend aus seinem Einzelschicksal, einen allgemeinen Weltzustand der Willkür und Ungerechtigkeit und leitet hieraus (3) für sich selbst den Anspruch darauf (und die Fähigkeit dazu) ab, sie von Gott intelligibel gemacht zu bekommen. Unter dem Eindruck schließlich, Gott entziehe sich diesem legitimen menschlichen Anspruch als ein deus absconditus, weitet Hiob (3a) mit seiner Prozessbitte (samt bedingter Selbstverfluchung als Reinigungseid) den Verfügungsraum, den er sich selbst zumisst, maximal aus – und zwar im Medium der Sprache, die auch das Medium des gedachten Prozesses sein müsste. Nach Gottes Antwort aus dem Wettersturm schließlich fällt der Restituierte (Phase 4) in eine neuerliche Demut zurück, die nun freilich eine auf reflektierterer Grundlage ist: Die weisheitliche – und letztlich anthropozentrische – Vertragsbindung zwischen Mensch und Gott hat sich als nichtig erwiesen, und Hiob beugt sich der Allmacht eines göttlichen Kontingenzraumes, in dem der Mensch nur randständig stattfindet und mit unberechenbaren Schicksalsschlägen umzugehen hat. Gott restituiert seine Allmacht, indem er sich des Eindrucks der Berechenbarkeit erwehrt  – den Satan auch mit den Worten Horkheimer  / Adornos über Odysseus hätte vorbringen können: „Alle menschlichen Opferhandlungen, planmäßig betrieben, betrügen den Gott, dem sie gelten: sie unterstellen ihn dem Primat der menschlichen Zwecke“.²⁰ Hierin liegt nun die Konsequenz zwischen dem Beschluss Gottes, Hiob zu prüfen, und dem, ihn vor den drei Freunden trotz aller Anklagen zu privilegieren. Denn just durch deren Versuch, Gott zu rechtfertigen, sind sie selbst in Hybris verfallen: erfüllt doch die Theodizee

20 Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. 1997, S. 68.

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die heimlichste Sehnsucht des Mythos […], das Machtgefälle zwischen Göttern und Menschen nicht nur zu mildern […], sondern umzukehren. Als Verteidiger des Gottes, als Subjekt der Geschichte tritt der Mensch in die Rolle seiner Unentbehrlichkeit ein.²¹

Der Mythos, so Blumenberg, erzählt „vom Ungeheuren als dem längst Vergessenen und an den Rand der Welt Abgedrängten“.²² Indem Gott in seiner zweiten Rede klarstellt, dass das, was Blumenberg die „Weltentscheidung gegen die Schreckgestalten“²³ nennt, nicht etwa unhintergehbar abgehakt ist, sondern beständig (im Niederhalten von Behemoth und Leviathan) stabilisiert werden muss, behauptet er die „Rolle der Unentbehrlichkeit“ auch gegen seine Exegeten. Und: Gott reinstalliert sich im Blumenbergschen Sinne als Ordnungsmacht mit neuerlich entlastender, distanzstiftender Potenz, wenngleich auf höherer und weniger intelligibler Ebene als von Hiob erhofft. Dies tut er, indem er auf Figurationen des Urchaos, der Unberechenbarkeit zurückgreift, gegen deren ‚Herankommen‘ Gott als Bollwerk den Menschen schützt. Gott ist es, der den Horizont besetzt hält und den Repräsentanten einer menschenschädlichen Form von Kontingenz die Grenze setzt. Wenn also Safranski  – dem hierfür in späterem, anderen Zusammenhang durchaus zuzustimmen sein wird  – formuliert, die Frömmigkeit Hiobs in ihrer neuen Qualität am Ende des Textes habe „keine guten Gründe“,²⁴ so ist dies einzuschränken: Sie hat keine – im Sinne des Streiter-Hiob – argumentationslogisch guten Gründe, keine intelligiblen also. Zu bedenken ist jedoch, dass die Argumentationslogik an diesem Punkt des Textes ihre Rolle ausgespielt hat. Sie hat in gleichsam katalytischer Funktion ihren Beitrag dazu geleistet, den ‚alten‘ Mythos so zu bearbeiten, dass er auf einer neuen, die Grenzen menschlicher Erkenntnis mitbedenkenden Reflexionsstufe weiterfunktioniert – nämlich seine entlastende, distanzstiftende Funktion neu ausfüllt. Das Urvertrauen Hiobs in einen Gott, der nicht Quelle, sondern Abwender existenzieller Ängste ist, hat sich erneuert. Insofern ist  – selbstverständlich  – der Hiob im intertextuell zum Schlussteil des Hiobbuchs transformierten zweiten Teil des Volksmärchens nicht derselbe Hiob, der am Ende des ursprünglichen Volksmärchens belohnt wurde.

21 Blumenberg (s. Kap. 1, Anm. 17), S. 39. 22 Blumenberg (s. Kap. 1, Anm. 17), S. 33. 23 Blumenberg (s. Kap. 1, Anm. 17), S. 75. 24 Safranski (s. Anm. 11), S. 299.

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2.1.2 Figurenkonzeption: Hiob als Topos Leo Baeck wird mit der Bemerkung zitiert, „das wichtigste in dem ganzen Buch sei sein erster Satz“.²⁵ Dieser nennt Hiob beim Namen und bei seiner exemplarischen Tugend, situiert ihn im nomadischen Kolorit des ‚Ostens‘, des ‚Landes Uz‘, und hebt ihn so aus der Aktualität des Verfassers²⁶ heraus – ein märchenhaft-neutrales Erzähltableau für die Geschichte eines exemplarischen Falles. Im Gegensatz zu anderen Personen des Alten Testaments trägt Hiob deutlich den Charakter einer gleichnishaften Verweisfigur: Er ist die einzige positive Figur des Alten Testaments, die ausdrücklich als nichtisraelisch bezeichnet wird. Zwar ist auch er (als ferner Verwandter)²⁷ über biblische Querverbindungen dem Organisationsprinzip der Stammesgenealogie eingeschrieben, jedoch nur so lose, dass seine Zeit unfixiert bleibt. Auch im hebräischen Wort für ‚Osten‘ verbindet sich mit der räumlichen Dimension eine (entrückende) zeitliche: Es kann auch für ‚Ursprung‘ oder ‚Urzeit‘ stehen.²⁸ Exemplarisch auch der Name ‚Ijob‘ (die landläufige Schreibweise ist eine Eindeutschung Luthers): Er ist anhand hebräischer Etymologie deutbar, und zwar im Sinne von „Wo ist der Vater?“.²⁹ Dass die Hiobfigur und ihr Name auf Überlieferungen aus der Zeit der Erzväter Israels zurückgehen und vom Autor oder Redakteur wahrscheinlich aus dem Buch Hesekiel entlehnt worden sind (wo Hiob mit Noah und Daniel eine Troika exemplarisch beschworener Gerechter bildet³⁰), spricht nicht dagegen, den Namen auf die Kernthemen des Hiobbuches zugeschnitten zu sehen.³¹ Das Hiobbuch in der uns überlieferten Fassung ist also nicht nur ein Stück ‚Arbeit am Mythos‘, sondern bereits selbst ein Stück Rezeptionsgeschichte seiner

25 Ebach, Jürgen: Streiten mit Gott – Hiob. Neunkirchen-Vluyn 1995, S. 9. 26 Ebach setzt die Entstehungszeit des auf uns gekommenen Textes „zwischen dem 5. und 4. […] vorchristlichen Jahrhundert“ an, in der „nachexilischen Zeit, in der Israel eine Provinz des persischen Reichs geworden war“. Ebach (s. Anm. 25), S. 3. 27 Uz, der namenstiftende Ahnherr des Landes, wird in Gen 22,20 f. als Neffe Abrahams genannt, an anderen Stellen als Sohn Edoms bzw. Sohn Arams. Vgl. Ebach (s. Anm. 25), S. 4. 28 Vgl. Ebach (s. Anm. 25), S. 3. 29 Vgl. Schmoldt, Hans: Kleines Lexikon der biblischen Eigennamen. Stuttgart 1990, S. 98 s. v. „Ijob“. Die hebräische Silbe ‚I‘ (‚wo?‘) ist gemäß Schmoldt „Bestandteil von Eigennamen […], in denen durch die Klage: ‚Wo ist…?’ der Gedanke zum Ausdruck kommt, daß der Namensträger ein verstorbenes Familienmitglied neu verkörpert.“ Schmoldt (s. o.), S. 89 s. v. „I“. 30 Vgl. Ez. 1,14. 31 Ebach (s. Anm. 25), S. 4 f., wendet sich dagegen, begründet freilich nicht weiter, weshalb ein Autor – unterstellt, er habe die freie Auswahl gehabt – den Namen ‚Ijob‘ für einen nach Gott fragenden Protagonisten nicht aus programmatischen Gründen adaptiert haben sollte.

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Hauptfigur: der Autor und/oder Redakteur des Gesamttextes griff auf Hiob als eine mythisch überlieferte Gestalt zurück: [J]ene vorisraelitischen archaischen Mythenstoffe [wurden] gerade in der Spätzeit des alttestamentlichen Israel rezipiert und rezitiert […]. Offenbar musste nun thematisiert werden, was zuvor verschüttet sein konnte. […] In späten Texten […] wird nun kanonisch, was zuvor vergessen, verdrängt oder marginalisiert worden war.³²

Welche Geschichte und welche Eigenschaften mit ihr konnotiert waren, lässt sich nur indirekt erschließen – anhand der Prämisse, dass der Rahmenteil der rezipierten Überlieferung näher steht als der Dialog, und anhand der logischen Brüche zwischen beiden. Auffällig ist an ihren beiden Nahtstellen der Bruch in Hiobs Disposition gegenüber dem Leiden und gegenüber Gott: vom Dulder zum Rebellen und zurück. Das legt die Vermutung nahe, dass dem Prosarahmen eine Erzählung über einen Leidgeprüften zugrundeliegt, dessen Gerechtigkeit sich im Dulden beweist und am Ende belohnt wird. Auch das entscheidende Figuren-Attribut der sozialen Hochrangigkeit definiert nicht nur Hiobs materielle Fallhöhe, sondern illustriert überdies seine Gerechtigkeit: „Als ein durch Besitz, Ansehen und Kinderreichtum von Gott gesegneter Mann hat er die Funktion als Zentralfigur, Ratgeber und Stütze einer in Harmonie lebenden Gemeinschaft.“³³ Die Intention des Dialog-Autors oder Redakteurs, dieses Attribut auch in seiner Neubearbeitung präsent zu halten und wiedererkennbar zu machen, zeigt sich just in einer weiteren Unstimmigkeit zwischen Redeteil und Rahmen: Dem auffälligen Kontrast verschiedener Zeitkolorite und Sozialisationen in den beiden Beschreibungen des hierarchischen Ranges Hiobs.³⁴ Zwei Dinge erhellen aus dem Genannten: Zum einen, dass die Figur eines ‚leidenden Gerechten‘, womöglich gar bereits mit dem Namen Hiobs verknüpft, älter ist als das Hiobbuch in der kanonischen Form. Zum anderen, dass der Redakteur der biblischen Fassung auf diese ältere Figur gezielt zurückgreift, um die mit ihr konnotierten sinnstiftende Zusammenhänge zwischen Gerechtigkeit und Leid mit seinen eigenen entweder zu kontrastieren oder zu amalgamieren. Das polare Grundgerüst von Charaktereigenschaft (Gerechtigkeit) und Schicksal (Lei-

32 Ebach, Jürgen (s. Anm.18), S. 16. 33 Schorlemmer, Helmut: Hiob auf der Bühne. Die dramatischen und theatralen Elemente des alttestamentarischen Buchs Hiob. (Diss. Masch.) München 1984, S. 75. 34 Seines vergangenen Glücks auf gehobenem Posten in einer urbanen Hierarchie, „wenn ich ausging zum Tor der Stadt und meinen Platz auf dem Markt einnahm“, entsinnt sich Hiob in Kap. 29,7. Die materiellen Attribute seines Glücks im Prolog hingegen sind die eines nomadischen Großbauern: „er besaß siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder“ (1,3) und einiges mehr.

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den) der Figur Hiob, das sich ‚der Redakteur‘ zunutze macht, soll im Folgenden als ‚Hiob-Topos‘ bezeichnet werden. Trotz aller Problematik des von Ernst R. Curtius mit der Etablierung dieses Begriffs verknüpften, geistes-psychologie-komparatistischen Ansatzes³⁵ und trotz der zeichentheoretischen Unschärfe noch bei Bornscheuer³⁶ scheint mir der Begriff ‚Topos‘ in diesem Zusammenhang geeigneter als andere, in Einzelfällen der Hiob-Rezeption „die Dialektik zwischen traditionsbildender Normativität und schöpferischer Produktivität zu erfassen“:³⁷ Der ‚Leidende Gerechte‘ ist im Curtiusschen Sinne eine anthropologisch universale Denkfigur, die dem klassischen Beispiel vom puer senex³⁸ an oxymoronischer Spannung nicht nachsteht und auch die von Bornscheuer postulierten ToposMerkmale (Potentialität, Intentionalität, Habitualität, Symbolizität)³⁹ erfüllt. Seine Symbolizität erfüllt sich im Namen ‚Hiob‘, in typischen Zitaten, Redegesten oder Figurenkonstellationen. Dass er ebenso habituell wie intentional fungieren kann, werden die beiden folgenden Kapitel zeigen. Unter dem Dach der chronologischen Extension des Hiob-Buchs lassen die Entwicklung der Handlung und der argumentativen Wechselreden logische Widersprüche aufkommen, ohne sie befriedigend zu erklären – an erster Stelle die Entwicklung der Titelfigur vom Dulder zum Rebellen und zurück. Die spürbaren Bruchstellen in der Charakterisierung der Hiob-Figur am Ende und insbesondere am Anfang des Dialogteils sind freilich im Erzählton und Rezeptionskontext des Alten Testaments nicht ungewöhnlich. Etwelchem figurenpsychologischen Nexus sind seine Bücher nicht verpflichtet, vielmehr bildet den verbindenden Fluchtpunkt auch für ihre narrative Binnenstruktur letztlich das transzendentale Signifikat – so wie es Erich Auerbach für die Gesamtkomposition des Alten Testaments feststellt: So viel vereinzelter, horizontal unverbundener die Erzählungen […] nebeneinanderstehen […], so viel stärker ist ihre gemeinsame vertikale Bindung, die sie alle unter einem Zeichen zusammenhält […]. In jeder der großen Gestalten des Alten Testaments, von Adam bis zu den Propheten, ist ein Moment der gedachten vertikalen Verbindung verkörpert. Gott hat sich diese Personen für den Zweck der Verkörperung seines Wesens und Willens auser-

35 Zur Kritik an Curtius vgl. Bornscheuer, Lothar: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/M. 1976, S. 138–149. 36 Zur Kritik an Bornscheuer vgl. Spillner, Bernd: Thesen zur Zeichenhaftigkeit der Topik. In: Breuer, Dieter und Helmut Schanze (Hrsg.): Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion. München 1981, S. 256–263., S. 257 f. 37 Pekar, Thomas: Killy Literaturlexikon Bd. 14, S. 434–436 s. v. „Topos“. 38 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen/Basel 11 1993, S. 108 f. 39 Vgl. hierzu Bornscheuer (s. Anm. 35), S. 95–108.

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wählt und geformt – doch fallen Auserwählung und Formung nicht zusammen; denn die letztere vollzieht sich allmählich, in geschichtlicher Weise, während des irdischen Lebens.⁴⁰

Wie der im Text omnipräsente Widerspruch zwischen Leid und Gerechtigkeit, so fordert auch die Ambivalenz der Hiob-Figur, die sich erst in der Diachronie des Textes aufbaut, den Rezipienten zur Sinnstiftung auf. Wortwörtlich auf das Hiobbuch übertragbar ist, was Auerbach über die Figurenzeichnung in 1 Mos 22 sagt: Es sei „nicht allein das Eingreifen Gottes am Anfang und am Schluss, sondern auch dazwischen sowohl das Tatsächliche wie das Psychologische, welches dunkel, nur angerührt, hintergründig ist; und darum verlangt es nach grübelnder Vertiefung und Ausdeutung“.⁴¹ Die theologische Systematik führt die genannten und weitere logisch-stilistische Widersprüche⁴² auf Bestrebungen zurück, die weisheitskritische Sprengkraft des Textes durch redaktionelle Eingriffe zu entschärfen: Der Dialogteil für sich genommen, so Victor Maag, „forderte nichts geringeres als die Abkehr der Synagoge von dem Existenzverständnis, das sich seit dem Exil immer kompakter verfestigt hatte. […] Die Synagoge […] blieb bei ihrer Theologie […] und zog gegen die Dichtung zu Felde.“⁴³ Kohärenz zu stiften, ist indes die Aufgabe der Exegese. Folgt man etwa Jürgen Ebach, dann äußert sich im Wunsch des ‚rebellischen‘ Hiob nach Auslöschung der eigenen Existenz in 3,3 dasselbe Verlangen nach Stimmigkeit in der Welt, wie der ‚duldende‘ Hiob es durch seine Hinnahmebereitschaft vorgeführt hat.⁴⁴ Hiobs Leiden – das wird in beiden Facetten seiner Bewältigung klar – hat nicht physische, sondern metaphysische Gründe; es ist das Leiden an der Unerklärbarkeit des Kosmos, das freilich physisches Leiden zum Anlass hat. Bei aller Plausibilität kohärenzstiftender Lesarten wie dieser bleibt dennoch der Eindruck, dass Hiobs

40 Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen/Basel 91994, S. 19. 41 Auerbach bezieht sich auf die Prüfung Abrahams in Moira. Auerbach (s. Anm. 40), S. 17. 42 Innerhalb des Redeteils (27,13–22; 28) überrascht Hiob mit einem plötzlichen Bekenntnis zu weisheitlichen Gemeinplätzen wie der Unergründlichkeit des göttlichen Ratschlusses und der verlässlichen Gerechtigkeit des Herrn; auch das Lied von der Weisheit Gottes, „die doch gerade zuvor in ihren Grundfesten erschüttert wurde“ (Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 42), sowie das unvermittelte Auftreten Elihus, der Reden ohne Gegenrede hält, und die scheinbare göttliche Bestätigung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs durch Hiobs Belohnung für seine „Einsicht“ bereiteten stets exegetische Probleme. (Vgl. ebd.) 43 Vgl. Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 41 f. 44 Vgl. Ebach (s. Anm. 7), S. 45–54.

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schlagartig wiederhergestellte Frömmigkeit am Ende des Gesamttextes „keine guten Gründe“ hat, „sie erhält sich über einem Abgrund.“⁴⁵ Die Konzeption der Figur Hiob, wie sie dem Leser des Gesamttextes vor Augen und der literarischen Aktualisierung zu Gebote steht, beinhaltet also einen Widerspruch per se. Seine Pole markieren zwei unterschiedliche Möglichkeiten des ‚Leidenden Gerechten‘, sich seinem Schicksal, nämlich der (scheinbaren) Unabwendbarkeit eines andauernden, äußersten Leidens zu fügen und diese mit dem eigenen Glauben zu vereinbaren: entweder duldend (durch Gleichmut, der die neuen Umstände als Bestätigung dem eigenen Glauben einpasst) oder rebellierend (durch intellektuelles Ringen, das den eigenen Glauben den neuen Umständen anpasst). In der Figur Hiobs, wenn sie im Posttext alleine die Implikationen des Prätextes stellvertritt, stehen die beiden Pole des Widerspruchs als Konnotationen nebeneinander und gerinnen zur Ambivalenz: Hiob, der duldend und/ oder rebellierend Leidende. Diese grundsätzliche Ambivalenz kennzeichnet die vierte Eigenschaft des Topos: seine Potentialität. Wie im folgenden kurz zu umreißen ist, hat die Tradition der neutestamentarischen und der christlichen Hiob-Rezeption diese Ambivalenz für einige Zeit aufgelöst. Noch Daemmrich sagt 1995 mit Blick auf das Gros der bis heute überkommenen Hiob-Gestaltungen: „Die Figurenkonzeption zeigt eine konsequente Verengung auf eine hervorstechende Eigenschaft. Hiob ergibt sich demütig seinem Schicksal, leidet im festen Vertrauen auf eine göttliche Ordnung und findet daher Gnade vor Gottes Augen.“⁴⁶

2.1.3 Kontingenzbewältigung als zweites Thema: Das Hiobbuch als selbstreflexives Mythem Mit Blumenbergs anthropologisch-dynamischem Mythosbegriff gelesen, erscheint das biblische Hiobbuch  – eine ‚intellektuelle Problemmythe‘  – als ein Mythos von der Notwendigkeit, den Mythos neuzuformulieren und zu adaptieren. Dies auf mindestens – vereinfachend gesagt – zwei Ebenen: Zum einen auf der des Inhalts, den ein dogmatisch-exegetisch vorgehender Leser dem Text in seiner kanonischen Gestalt abzuringen gefordert ist, ohne hierbei etwelchen Bruchstellen, die sich der Konstruktion eines solchen Textsinns widersetzen könnten, eine historisch-kritische Würdigung zu widmen und auf redaktionelle, textgenetische Gesichtspunkte hin zu untersuchen. Zum anderen jedoch auf 45 Safranski (s. Anm. 11), S. 299. 46 Daemmrich, Horst S.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Tübingen/Basel ²1995, S. 197.

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eben jener Intertextualitäts-Ebene, auf der sich das Hiobbuch als eine kollationierte Gemengelage verschiedener, durchaus disparater Versatzstücke anderer, älterer Texte erweist – was wiederum mindestens zwei Fragen aufwirft: erstens die nach den Kontexten, denen wiederum diese Prätexte entstammen, und zweitens die nach der Zielsetzung, die es ‚dem Redakteur‘⁴⁷ angemessen scheinen ließ, just die gegebenen (und keine anderen) Texte zu kollationieren (statt sie wegzulassen). Fragen wie diese, die zu beantworten bibelsystematischen Arbeiten zukommt – so dem gründlichen Hiob-Kommentar Jürgen Ebachs –, können in unserem Zusammenhang nicht ausführlich weiterverfolgt werden. Gleichwohl ist es unverzichtbar, auf die intertextuelle Ebene des Hiobbuchs, auf der sie sich erheben, mit Nachdruck aufmerksam zu machen: Denn so wird deutlich, dass und inwieweit im Sinne Blumenbergs bereits das biblische Hiobbuch als jener ‚Urmythos‘, der dem stets unabschließbaren Bearbeitungsprozess der Nachwelt als frühester retrospektiv erfassbarer Referenztext gilt, natürlich höchstselbst kein ‚Ur‘-Text im strengen Sinne ist, sondern seinerseits eine historisch bedingte Manifestationsvariante älterer, vorgängiger Mythologeme.⁴⁸ Das Hiobbuch evoziert die Notwendigkeit, den Mythos neu zu formulieren und zu adaptieren (samt der damit einhergehenden quälenden Schwierigkeiten), anhand ausführlicher Dialoge, die ihrerseits nichts anderes betreiben als just ‚Arbeit am Mythos‘ – und gelangt schließlich zwar nicht zu einer argumentationslogisch fundierten Konklusion, wohl aber zur höchstrichterlichen Absegnung des Versuchs Hiobs, den als kontrafaktisch empfundenen alten Mythos zu revidieren. Hiob, der die Theologie der Freunde als eine nicht mehr haltbare Handlungs- und Bewirkbarkeitssuggestion gebrandmarkt hat, wird von Gott einerseits hierin bestätigt, andererseits und darüber hinaus aber darüber belehrt, dass sein – Hiobs – eigener, den Freunden entgegen gehaltener Anspruch auf einen Rechtsstreit mit Gott eine nicht minder vermessene Handlungs- und Bewirkbar-

47 ‚Der Redakteur‘ steht hier als gedachte personale Instanz als Metapher für eine Vielzahl redaktioneller Einzelhand- bzw. kunstgriffe, die sich gewiss auf verschiedene Menschen, Generationen und Intentionen verteilte und die wir hier, der Einfachheit halber, bewusst finalistisch als Prozess denken wollen, der im Ergebnis jenen hebräischen Text entstehen ließ, den wir auf Neuhochdeutsch ‚Hiobbuch‘ nennen und hier in seiner Eigenschaft als Grundlage einer literarischen Rezeption interessiert, die über die längste Zeit ihrer Dauer hinweg keinerlei textgenetische Kategorien an ‚ihren‘ Bibeltext herantrug. Hier einmal ganz davon zu schweigen, dass sie sich niemals auf das hebräische Hiobbuch bezog, sondern auf Teile von Übersetzungen dieses Buches ins Lateinische bzw. ins (Früh-)Neuhochdeutsche, die zudem häufig ‚nur‘ in oraler und durch institutionelle, ritualpragmatische Interessen gebrochener Vermittlung rezipiert wurden. 48 … die im übrigen (theoretisch) von der Nachwelt des Hiobbuchs auch ohne Kenntnis von der Existenz des Hiobbuchs, quasi ungefiltert und ‚an ihm vorbei‘ rezipiert werden könnten.

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keitssuggestion gewesen ist, von der sich Hiob qua Erkenntnis seiner peripheren Rolle im Schöpfungszusammenhang zu verabschieden habe. Wenn Gott sich dagegen verwahrt, von Hiob zum satisfaktionsfähigen Rechtsgegner herabgestuft zu werden, so zielt dieses Sich-Verwahren zugleich pars pro toto auf die Meta-Ebene der Hiobschen Rebellion schlechthin: auf die menschliche Sprache und Begrifflichkeit, von der sich Hiob implizit erhofft hatte, sie könne ein Feld der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Gott sein. Man könnte also auch sagen: Die absolute Metapher ‚Gott‘ verteidigt – in persona auftretend, bzw. konsequenterweise nicht in persona, sondern wetter-metaphorisch verhüllt  – den Absolutheitsanspruch, mit dem sie bislang den menschlichen Horizont besetzt gehalten hatte, gegen den menschlichen Versuch, sie durch einen – sprachlich – stärker als zuvor differenzierten Komplex von Zuschreibungen abzulösen, die den theoretischen (wie praktischen) Ausgriff des Menschen auf ebendiesen Horizont Vorschub leisten könnte. Der Trostwert des Buches Hiob nun mag sich daraus speisen, dass sich jener Horizont des menschlichen Erfahrungs- und Erkenntnisraums, den als besetzt zu denken  – mit Blumenberg gedacht  – das anthropologische Grundbedürfnis ist (zumal der Horizont diesen Raum erst als Raum definiert) immerhin tatsächlich als besetzt erweist und nicht – wie im Zusammenhang der deus-absconditusKlagen zeitweise zu befürchten stand  – als leer. Somit bietet das Hiobbuch im Sinne der Entlastungsfunktion des Mythos ein leidlich befriedigendes Ende: Die Ordnungsmacht, als die Gott sich reinstalliert, behält ihre entlastende, distanzstiftende Funktion, wenngleich auf höherer und weniger intelligibler Ebene als von Hiob erhofft. Dies stellt Gott klar, indem er (und stellt der Text klar, indem er intertextuellerweise) auf Figurationen des Urchaos (bzw., was den Text betrifft: auf Figurationen alter Mythen vom Urchaos) zurückgreift, denen jene Bedrohlichkeit zugesprochen wird, gegen deren ‚Herankommen‘ Gott als Bollwerk den Menschen schützt. Gott ist es, der den Horizont besetzt hält und den Repräsentanten der menschenschädlichen Form von Unberechenbarkeit die Grenze setzt: „bis hierher sollst du kommen und nicht weiter“ (38,11). Die Position Hiobs, dem Gott in analoger Weise seine eigene Grenze setzt, verbleibt in einem aporetischen Schwebezustand: nämlich zwischen, einerseits, der göttlich anerkannten Berechtigung – gar Notwendigkeit – seines Versuchs, den allzu klar als anthropozentrisch erkannten Mythos in Frage zu stellen, und andererseits der Hybris, den an dessen Stelle zu setzenden neuen Mythos nach dem erst recht anthropozentrischen Maßstab der Handhabbarkeit und Intelligibilität für den Menschen zu formulieren – geäußert im Wunsch nach Gerechtigkeit (der ja nicht nur intelligible, sondern gar einklagbare Prozessrichtlinien voraussetzt). Just diese Aporie hält der Text offen. Er tut es auch, indem er an jener Stelle, an der sich die Frage nach ihr erheben könnte und müsste, seinen Prota-

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gonisten freiwillig zurückstecken lässt („Darum will ich meine Hand auf meinen Mund legen“), und er verlagert – nicht zuletzt anhand dieser Schlusseinsicht, die Hiobs Position in Gottes Blick nochmals stärkt – seinen Gegenstand: Der Hiob ins milde Licht relativer Vorbildhaftigkeit tauchende Direktvergleich zwischen seiner Position und der seiner Freunde bildet den narrativen Kitt, der das happy ending, die zweite Hälfte des ‚aufgeschnittenen‘ Volksmärchens, anzufügen gestattet. Mit dieser redaktionellen Montage setzt der Text zwei ‚ungleichzeitige‘ Stufen der Reflexion seines Mythos konfrontativ gegeneinander: stehen sich bereits im Dialogteil für sich betrachtet die Vertreter eines älteren, naiven, vertrauensvollen mythologischen Distanzierungsmusters (die Freunde) und ein Verfechter der adaptiven Umdeutung – sprich: Bearbeitung – dieses Mythoskonzepts (Hiob) gegenüber, so steht der Dialogteil insgesamt für die Position seines Titelhelden jenem Rahmenteil gegenüber, der dieses alte Muster vertritt. So wiederholt sich im Gesamttext, synoptisch als Aussagenmenge gesehen, jene ideologische Frontlinie, die sich im Dialogteil diachron durch die Rede und Gegenrede zwischen den Figurationen ‚Hiob‘ und ‚Freunde‘ zieht. Über die zu unterstellenden Intentionen dieser Montage ist seit jeher trefflich streiten gewesen und wird es wohl immer bleiben: Vexierbildhaft bestärken sich hierbei wechselseitig die Sichtweise, der Dialogteil diene der Kritik des Rahmens, und die Sichtweise, der Rahmen diene der Entschärfung des Dialogteils. Ohne jeden Anspruch, dem weiter nachgehen zu können, sei hier jedoch konstatiert, dass der Text des Hiobbuchs seit jenem (hier hypothetisch zu unterstellenden) Zeitpunkt, an dem er in seiner bis heute kanonischen Form vorlag, eine jeden exegetischen Meinungsstreit derart überstrahlende Autorität entfaltet haben muss, dass er seither weder von weisheitskritischen Innovatoren seiner konservativen Restelemente beraubt noch von Konservativen um sein revolutionäres Potential beschnitten worden ist. Fest steht jedenfalls, dass er eine Bearbeitungsstufe des Mythos ‚Hiob‘ darstellt, die im Blick eines historisch-kritischen Lesers jene früheren Bearbeitungsstufen, die sie ablöst, nicht – zumindest nicht gänzlich – tilgt und überschreibt, sondern diese – zum Teil – konserviert und mithin auch ihren eigenen Konflikt mit ihnen. Wem der begütigende Ausgang des Hiobbuchs von erzwungener Schleunigkeit zu sein scheint, den erinnert er umso nachhaltiger an jene Aporie Hiobs und an die Leerstelle in Gottes Argumentation, deren retrospektive Auflösung in Harmonie mutmaßlich (im unterstellten Sinne des ‚Redakteurs‘) der Zweck der auf uns gekommenen Textgestalt gewesen sein mag. Was allemal bleibt, ist eine Erzählung über den Bedarf des Menschen an Kontingenzbewältigung und zugleich ein eigener Beitrag zu ihr. Sie diskutiert vielstimmig den Widerspruch zwischen der Prämisse eines allmächtigen und gerechten Gottes und dem empirischen Lei-

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den des gerechten Menschen, schöpft alle Varianten logischen Schließens aus, die geeignet scheinen, ihn zu überbrücken, und läuft doch auf die Kapitulation menschlichen Sinnstiftungswillens vor der Unauslotbarkeit Gottes hinaus. Dieses unaufgelöste ‚Restgeheimnis‘ und diese den Erkenntnisdrang reizende Leerstelle sind es nicht zuletzt, die in der Hiob-Literatur der Neuzeit rezeptionslenkende Wirkung entfalten. The critics have suggested every possibility: the prologue, the epilogue, or both (in part or in toto), were written by the author of the poem, or before him, or after him. […] The evidence is not conclusive. Nonetheless, all this has to be balanced by the book´s generally unembarassed acceptance through the ages by less scholarly readers.⁴⁹

2.2 Topos und Typologie: Hiob in christlicher Rezeption In seinem Brief „an die zwölf Stämme in der Zerstreuung“ mahnt Jakobus (5,7–12) zur Geduld: „Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer.“ Die Geduld, um die es im Kontext geht, betrifft das Ausharren bis zur nahen Wiederkehr Jesu Christi. Diese Textstelle ist die einzige im Neuen Testament, die den Namen Hiobs explizit erwähnt. Dem Brief des Jakobus liegt eine pragmatische Intention zugrunde: die religiöse Erbauung der adressierten Glaubensgenossen in der Diaspora. In rhetorischer – also wirkungsästhetischer – Funktion steht auch der Verweis auf Hiob: Jakobus erhebt ihn zum exemplarischen Vorbild in Fragen der Geduld. Der Name des Mannes aus Uz verweist auf dessen Geschichte,⁵⁰ die der Autor als historisch versteht, als bekannt voraussetzt und konnotativ mit-aufruft: einen beispielgebenden Modellfall für klagloses Erleiden, dessen Ausgang die These von der Barmherzigkeit

49 Richards, Ivor A.: Beyond. The sources and aims of the Western tradition from the Iliad and Job to Plato, Dante, and Shelley. New York/London 1974, S. 47. 50 Hinzuzufügen ist, daß sich Jakobus vermutlich nicht auf das Hiobbuch, sondern auf das apokryphe Testament Hiobs bezieht. Meiner Annahme einer topischen Verengung der alttestamentarischen Hiob-Figur tut dies freilich keinen Abbruch, denn die hierfür ausschlaggebenden Kirchenväter hatten es mit dem kanonischen Hiobbuch zu tun; die Autoren des Testaments Hiobs wohl ebenso. Es ist wahrscheinlich eine freie christliche Bearbeitung einer essenischen Vorlage und schildert Hiob, der mit dem Edomiterkönig Jobab aus Gen 36,33 gleichgesetzt wird, als Asketen, der durch seine unerschütterliche Geduld den Heimsuchungen Satans widersteht – wohlgemerkt: im Wissen darum, daß er restituiert werden wird. Eine deutsche Übersetzung ist nachzulesen in Pfabigan, Alfred: Die andere Bibel. Frankfurt/M. 1991, S. 70–89.

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Gottes mit jenen belegt, die Geduld zeigen. Jakobus wendet den Hiob-Topos im Rahmen einer rhetorischen Figur an – des argumentum ad auctoritatem. In der Hiob-Tradition des Christentums gerät die rebellische, ungeduldige Facette des Leidenden aus dem Blickfeld. Zunächst einmal aus zwei paradigmatischen Gründen: Erstens wandelt sich durch das Vorbild der Passion Christi die Haltung zum Phänomen physischen Leidens. Die Auffassung des Alten Testaments, das das Leiden in aller Regel als Strafe für Sünde und Aufforderung zur Buße verstand, tritt hinter der – allerdings auch schon in den Elihu-Reden des Hiob-Buchs formulierten – Auffassung von Leiden als Prüfung zurück. In Joh 9,2 und Lk 13,2 tritt Christus selbst dem überkommenen Leidensverständnis explizit entgegen.⁵¹ Der weisheitliche Tun-Ergehen-Zusammenhang also, der Hauptgegenstand des alttestamentlichen Buches, ist keine gültige Denkkategorie mehr. Die ‚Geduld‘ Hiobs, wie der Christ Jakobus sie ausdrücklich verstanden wissen will, rechtfertigt sich weder aus einer Anerkennung des eigenen Leidens als einer Strafe heraus (wie es die Freunde vom Hiob des Dialogteils fordern) noch aus demütiger Indifferenz gegenüber Gottes unergründlichem Ratschluss (wie der Hiob des Rahmenteils sie vorlebt), sondern vom antizipierten Ende seines Leidens her – aus christlicher Heilsgewissheit. Zweitens ist mit der Ankunft Christi die Frage des Rebellen Hiob nach Stimmigkeit oder Widersprüchlichkeit der göttlichen Weltordnung gegenstandslos. Die Unergründlichkeit des göttlichen Ratschlusses, die Hiob verzweifelnd als Gottesferne empfunden hat, wird gemildert durch das Auftreten Jesu als eines Vermittlers, der Gott nahe erscheinen lässt: sowohl räumlich (durch seine körperliche Präsenz auf Erden) als auch zeitlich (durch die Setzung einer Teleologie, die Verkündigung einer heraufdämmernden Zeit der Gottesherrschaft) als auch intuitiv (durch die Proklamation der unbedingten und gütigen Zuwendung Gottes). Mit Christus tritt, alttestamentlich betrachtet, ein Schiedsmann zwischen Gott und Mensch, der die Güte Gottes verkündet. Dass diese Güte wiederum, neutestamentlich betrachtet, gerade ihre Bestätigung durch das von Christus durchgemachte Leiden findet, rückt menschliches Leiden in ein neues Licht: An die Stelle der Frage nach seiner Ursache tritt die positive Gewissheit seiner Zielausrichtung und mithin seiner Tugendhaftigkeit als Teil der imitatio Christi. Dem lei51 „Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, daß diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen“ (Lk 13,1ff). „Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“ (Joh 9,1ff).

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denden Mann aus Uz wächst so die Rolle eines Typos zu, dessen Antitypos der leidende Erlöser selbst ist. Entscheidend freilich für die prominente Rolle, die das Bild eines geduldig leidenden Hiob für die patristische Typologie und Hermeneutik – und, sich sukzessive fortpflanzend, auch für die liturgische Praxis, die Ikonographie,⁵² den volkstümlichen Heiligenglauben⁵³ und letztlich die volksliterarische Rezeption – erlangt, ist die Vulgata-Variante des Hiob-Abschnitts 19,25–27. Hieronymus übersetzt ihn so, dass Hiob als alttestamentlicher Kronzeuge für die neutestamentliche Heilsgewissheit erscheint: [S]cio enim quod redemptor meus vivat et in novissimo de terra surrecturus sim / et rursum circumdabor pelle mea et in carne mea videbo Deum / quem visurus sum ego ipse et oculi mei conspecturi sunt et non alius reposita est haec spes mea in sinu meo.

Im gleichen Sinne wird später Luther übersetzen: Aber ich weis das mein Erlöser lebet / vnd er wird mich hernach aus der Erden auffwecken. Vnd werde darnach mit dieser meiner haut vmbgeben werden / vnd werde in meinem fleisch Gott sehen. Den selben werde ich mir sehen / vnd meine augen werden ihn schawen / vnd kein frembder. ⁵⁴

Ihre eschatologische Lesart macht diese Textstelle „zu einem, ja zu dem alttestamentlichen Auferstehungszeugnis mit einem christologisch gedeuteten ‚Erlöser’ im Zentrum“.⁵⁵ Die vermeinte Heilsgewissheit Hiobs und seine schlussendliche Restitution geben der patristischen Allegorese den Rahmen einer „Aufschlüsselung von hinten“⁵⁶ vor, die zu entschärfenden Deutungen auch für die rebellischen Aussagen Hiobs führt, ganz besonders für die Existenzverwünschung zu

52 Vgl. z.B. Huber, Paul: Hiob – Dulder oder Rebell? Byzantinische Miniaturen zum Buch Hiob in Patmos, Rom, Venedig, Sinai, Jerusalem und Athos. Düsseldorf 1986. 53 Vgl. z.B. Kretzenbacher, Leopold: Hiobs-Erinnerungen zwischen Donau und Adria. München 1987. 54 Zusatz am Rand: „(Erlöser) Retter, uindex  / Quia Christus uindicat nos contra Homicidam nostrum Diabolum.“ Luther, Martin: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hrsg. von Hans Volz / Heinz Blanke. München 1972; S. 937. Zum Vergleich die heute gültige Lesart: „Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und als letzter wird er sich über dem Staub erheben. / Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen.“ 55 Ebach (s. Anm. 18), S. 162. 56 Glutsch (S. Kap. 1, Anm. 6), S. 33.

Topos und Typologie: Hiob in christlicher Rezeption   

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Beginn des Dialogteils (3,3):⁵⁷ Gregor der Große etwa liest sie schlicht als „Verfluchung des Bösen, der Sünde und der Versuchungen“.⁵⁸ Überdies galt Hiob – was ihn in inoffiziellen Volkskulten zum alttestamentarischen Heiligen prädestinierte, angerufen etwa gegen Hautkrankheiten – bis ins 18. Jahrhundert hinein als historische Person: Lange war Hi 19,23 nämlich die Stelle des Hiobbuches, die die Frage nach seinem Verfasser zu beantworten half. Das Verlangen Hiobs, seine Worte in einem Buch […] aufgezeichnet zu sehen, deutete man wie selbstverständlich auf Hiob als den Verfasser seines Buches, bzw. dessen Vorlage.⁵⁹

Für den poetologiegeschichtlich signifikanten Rezeptions-Neuansatz Johann Christian Günthers wird dies eine entscheidende Rolle spielen, und auch Herder noch wird – ungeachtet der Tatsache, dass dem geographisch entrückten Lande Uz ja nicht recht eigentlich ein ‚ebräischer Poet‘ entstammen kann – die Frage nach der Autorschaft zumindest unentschieden lassen.⁶⁰ Gregors des Großen Moralium libri XXXV seu expositio in librum Job, die seit ihrer Entstehung um das Jahr 600 über Jahrhunderte hinweg als kanonisches Lehrbuch christlicher Moraltheologie rezipiert wurden, statuieren den Dulder Hiob als moralisches Exempel für die christlich-stoische Tugend der humilitas (Demut). Sie galt als kennzeichnend für die vorbildhafte Lebensform Jesu – und mithin als Maßstab für die imitatio Christi⁶¹ – und wurde seit Augustinus als Urtugend und Wurzel aller sonstigen Tugenden gesehen – im Gegensatz zur superbia, der Selbstüberschätzung, die Gregor wiederum als „radix cuncti mali“⁶² einstuft.

57 Vgl. Glutsch (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 84–92. 58 Glutsch (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 88. 59 Ebach (s. Kap. 2, Anm. 7), S. 35. Hervorhebung im Original. 60 „Und wo ist dein Grab, du früher Weiser, der diese Theodizee und Epopee aussann (…)? Oder warst Du der Geschichtsschreiber deiner Leiden und deines Triumphs, deiner überwindenden und überwundnen Weisheit, Du der glückliche Unglückliche, der Gequälte und Belohnte selbst?“ Herder, Johann Gottfried: Vom Geist der ebräischen Poesie. 5. Gespräch. In: Herder: Schriften zum Alten Testament. (=Werke Bd. 5.) Hrsg. von Rudolf Smendt. Frankfurt/M. 1993, S. 779. 61 „In der Nachfolge Jesu ergreift der Jünger seine sünde- und todverfallene, kreatürliche Existenz, übergibt und überantwortet sie der noch größeren Liebe Gottes und erlangt in dieser Gottanheimgegebenheit den Frieden, das Heil. In der Demut, nicht in der Selbstanalyse und Selbstüberhebung findet Augustinus sein wahres Selbstsein.“ Auer, J.: LexMA Bd. 3, Sp. 693 f. S. v. „Demut“. 62 Vgl. Hempel, Wolfgang: Übermuot diu alte … Der Superbia-Gedanke und seine Rolle in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bonn 1970, S. 226.

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Das Ertragen des Leidens auch unter schwierigsten Bedingungen – ohne die Frage nach der Berechtigung des Leidens oder die Suche nach eigenmächtigen Auswegen, das ist wohl das zentrale Motiv der Aneignung des Buches Hiob durch das Christentum.⁶³

Mit geringfügigen Akzentverschiebungen bleiben „die frühen typologischen Verweise durch das gesamte Mittelalter hindurch wirksam“, bleibt die Figur Hiobs auf den Duldergestus reduziert und die Rezeption des Hiobbuchs auf jenen finalistischen Handlungsstrang des Volksmärchens, der sich umweglos von der Prüfung im Pro- zur Belohnung im Epilog spannt und die vom Redakteur dazwischengeschalteten Irritationen ausblendet.⁶⁴ Gleichwohl regt Geyer an, „zu fragen, ob diese Hiob-Exegese nicht doch über gleichsam ‚verborgene’ Theodizeemotive verfügt“,⁶⁵ und sieht solche beispielsweise angedeutet in der moralischen Allegorese des Basilius (330–379): Zerbrich dir nicht den Kopf über das Gericht des Herrn! Liebe nur die Verfügungen seiner Weisheit! Was immer er dir gibt, das nimm mit Freuden an! Beweise in den Widerwärtigkeiten, daß du der früheren Freude würdig warst! […] Das, glaube ich, ist der Grund, weshalb der Herr dem Job den übrigen Reichtum doppelt zumaß.⁶⁶

Dass – wie Geyer diesem speziellen didaktischen Zungenschlag anhört – bereits im patristischen Zeitalter des Christentums durchaus „Irritationen […] vom Problem des ungeschuldeten Leidens ausgingen“,⁶⁷ und zwar umso stärker, je mehr Zeit nach der erfolgten Erlösungsbotschaft verstrich, erhöhte sogar zunehmend die didaktische Unverzichtbarkeit des Hiob-Topos als Verhaltensexempel aus vorchristlicher Zeit: „[D]ie Stilisierung Hiobs zum moralischen Paradigma dient der Eindämmung jener Zweifel, die aus der offensichtlichen Inkompatibilität von erfolgter Erlösung und fortdauernder Defizienz der menschlichen Natur resultieren.“⁶⁸ Von einer an den Hiob-Topos geknüpften Theodizee im aufklärungsrationalistischen Sinne freilich, die eine Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels betreibt und damit zugleich, ob gewollt oder ungewollt, notwendig den Menschen selbst in die Richterrolle setzt, kann hier noch keine Rede sein.

63 Geyer, Carl-Friedrich: Das Hiobbuch im christlichen und nachchristlichen Kontext. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte. Kairos 28 (1986), S. 174–195, S. 174. 64 Glutsch (s. Anm. 56), S. 89. 65 Geyer (s. Anm. 63), S. 178. 66 Zit. nach Geyer (s. Anm. 63), S. 177. 67 Geyer (s. Anm. 63), S. 178. 68 Geyer (s. Anm. 63), S. 179.

3 Die Hybris der Selbstbeschuldigung. Hartmann von Aue: ,Der Arme Heinrich‘ (um 1200) nû sehent wie genæme / er ê der werlte wære / und wart nû als unmære, / daz in niemen gerne sach: / als ouch Jôbe geschach, / dem edeln und dem rîchen, / der alsô jæmerlîchen / dem miste ward ze teile / mitten in sînem heile. / dô der arme Heinrich / alrêst verstuont sich, / daz er der werlde widerstuont, / als alle sîne gelîchen tuont, / dô schiet in sîn bitter leit / von Jôbes geduldikeit. / wan ez leit Jôb der guote / mit geduldegem muote, / dô ez im ze lîdenne geschach, / durch der sêle gemach / den siechtuom und die swacheit, / die er von der werlde leit; / des lobete er got und vreute sich. / dô tete der arme Heinrich / leider niergent alsô: / er was trûrec und unvrô.¹

Es ist eine zentrale Stelle im Handlungsverlauf des ,Armen Heinrich‘, an der sich diese metatextuelle Bezugnahme auf den biblischen Hiob findet. Bereits sie würde es rechtfertigen, dem Text Hartmanns von Aue einen Platz in der Geschichte der Hiobbuch-Rezeption zu sichern. Dreierlei zeigt bereits ein noch wenig vertiefender Blick: Erstens, dass der Text Hiob als einen Topos aufruft – als Eigenschaftsträger, nämlich als denjenigen, dem im stoizistischen Sinne ‚Jôbes geduldikeit‘ anhaftet, die ihn im typologischen Sinne zur Präfiguration Christi macht –, um dem Leser in knappstmöglicher Art nahezulegen, wie er das Verhalten Heinrichs, seiner Hauptfigur, zu bewerten habe. Zweitens, dass er jenen Topos so, wie er ihn hier appliziert, auf die äußerste denkbare Spitze treibt, indem er nämlich jener Geduld des Rahmenteil-Hiob, die bei treulicher Missachtung des Dialogteils und seiner Blasphemien verbleibt, gar noch eine Note von Leidensglück aus Heilserwartung hinzufügt, die sich nicht einmal auf das Verhalten des neutestamentlichen Antitypus Hiobs in den Stunden seiner Passion berufen kann, geschweige denn auf die altorientalische Hiobserzählung selbst. Und drittens, dass er Heinrich dem Mann aus Uz als eine weitere Postfiguration an die Seite stellt  – zunächst nur betreffs der Leidenssituation und noch nicht betreffs der daraus zu ziehenden Schlüsse, doch dies wird sich ändern. Im eingangs Zitierten erschöpft sich der Hiob-Bezug in Hartmanns Text bei weitem nicht. Bereits Wackernagel und Stadler identifizierten in ihrem Textkommentar von 1911 diverse Hiobbuch-Referenzen. Werner Fechter proklamierte also 1955 das „Recht, den Armen Heinrich auch vom Buch Job her zu interpretieren“,² 1 Hartmann von Aue: Der Arme Heinrich, Z. 124–148. Textgrundlage für alle folgenden Zitate aus dem Armen Heinrich – ich weise sie aus Platzgründen nur per eingeklammerter Verszahl nach – ist die von Volker Mertens verantwortete Variante: Hartmann von Aue: Gregorius  – Der Arme Heinrich – Iwein. Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt/M. 2004. 2 Fechter, Werner: Über den „Armen Heinrich“ Hartmanns von Aue. Euphorion 49 (1955), S. 1–28; S. 2 f.

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ebensowenig voraussetzungslos, wie es dann unter anderen 1972 Karl-Heinz Glutsch und 1973 Günter Datz in Anspruch genommen haben. Insgesamt viermal erwähnt Hartmanns Text in metatextueller, expliziter Weise den Namen Hiobs. Aber auch palintextuelle, also (nahezu) wörtliche Referenzen auf der Mikroebene der Einzelformulierungen finden sich: Wackernagel/ Stadler und später Glutsch haben – wenn auch teilweise mit interessierter Angestrengtheit – mehrere Dutzend möglicherweise einschlägige Referenzen benannt. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist jedoch zunächst einmal das, was sich mit Stocker als hypertextuelle Referenz bezeichnen lässt: Hartmanns Text lehnt sich  – wofür das oben Zitierte als leserlenkendes Signal fungiert  – auch auf handlungsdramaturgischer Ebene an das Hiobbuch an. Augenfällig hat Glutsch die Analogien auf dieser Ebene in einem tabellarischen Direktvergleich aufgelistet.³ Diese Analogien – zwar nicht für sich allein genommen, ganz zwingend jedoch im Zusammenspiel mit den palin- und metatextuellen Referenzen – berechtigen dazu, das Hiobbuch als einen privilegierten Intertext des ,Armen Heinrich‘ zu behandeln. Der Text führt Heinrich, seinen Helden, mit einem Tugendkatalog ein, der so umfassend ist, dass Cormeau/Störmer ihn heranziehen, um daraus „wesentliche Elemente adeliger Ruhmesvorstellungen“ bzw. (zeitlich vorgreifend) des „ritterli3 Glutsch (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 100 ff.; hier insb. S. 125, Anm. 15: Hiob

Armer Heinrich

Prolog und Wette im Himmel

fehlt

Vorstellung Hiobs als eines reichen Mannes (Ortsangabe)

Vorstellung Heinrichs als eines strahlenden Ritters (Ortsangabe)

Armut und Krankheit

Krankheit

anfängliche Geduld

fehlt

Klage und Verfluchung der Geburt

Klage und Verfluchung der Geburt

Dispute mit den Freunden ohne Schuldbekenntnis

fehlt; dafür Suche nach Heilung; Schuldbekenntnis

Theophanie und Demütigung unter Gottes Macht

Erscheinung des Mädchens, Demütigung unter den Willen Gottes

Erlösung – Gesundung

Erlösung – Gesundung

Vergrößerung des Reichtums

Herbeieilen der Bekannten

Herbeieilen der Bekannten

Vergrößerung des Reichtums

Langes Leben und seliger Tod

Langes Leben und seliger Tod

Der Arme Heinrich   

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chen Tugendsystems des 12. und 13. Jahrhunderts“⁴ zu extrapolieren. Dieser Induktivschluss vernachlässigt zwar, dass jener Katalog in seinem Originalumfeld zuvörderst eine textinterne Funktion hat – nämlich: die Fallhöhe zu maximieren, aus der Heinrich ins Unglück sinkt –, doch darf man in den genannten Elementen gewiss zeitgenössische höfische Wertvorstellungen repräsentiert sehen, als da wären die nobilitas carnis (samt gloria und fama) sowie die nobilitas mentis.⁵ Wenn der wertende Erzähler dem Ritter bescheinigt, sein Geburts- wie sein Verhaltensadel („sîn geburt unt sîn leben“, Z. 55) stünden jeweils „ân alle missewende“ (Z. 54) da, dann ist damit – unbeschadet der Reihenfolge ihrer Nennung – gewiss auch behauptet, dass zwischen beiden eine Balance besteht: Der Ritter, so wird impliziert, führt sein begünstigtes Erdendasein in vollem theologischen Bewusstsein dafür, dass dem fleischlich-irdischen Adel der geistige Adel stets kategorial zugrundeliegt, der erstere also ohne letzteren keine Rechtfertigung hätte. Soweit nun in der Ausgangslage der erzählten Geschichte eine Theologie (mit) zu lesen ist, die als eine zeitgenössisch etablierte zu denken wäre (schon aus narrationspragmatischen Gründen – würde doch dem höfischen Publikum sonst schon eingangs eine Irritation zugemutet) und die in unserem Sinne ein Feld der Handlungskontingenz absteckt, also einen Spielraum des Menschen zum Einfluss auf seine Stellung vor Gott wie vor den Mitmenschen, so ähnelt dieser Spielraum dem altorientalischen Tun-Ergehen-Zusammenhang. Wenn auch differenziert und sozial spezifiziert: Die Geburtsadeligkeit eines Menschen bildet nicht etwa (im besten Wortsinne ‚von Haus aus‘) ab, dass er zur Gottgefälligkeit prädestiniert sei, sondern sie muss – was aber auch heißt: sie kann – durch tätiges Wohlverhalten gerechtfertigt werden. Es ist nicht tautologisch, hier zu erwähnen, dass der Text von Handlungsoptionen einer Person ohne Geburtsadel vorderhand schweigt, denn just eine solche Person führt er alsbald als zweite Hauptfigur ein. Heinrich nun, der untadelige Ritter, muss erfahren, dass „sîn hôchmuot wart verkêret / in ein leben gar geneiget“ (Z. 82/83) – er stürzt vom Glück ins Unglück, oder besser (wie es auch die Passivkonstruktion ausdrückt): er wird hinabgestoßen. Und zwar vermittels der miselsuht: Das Motiv der Hautkrankheit, insbesondere aber das Handlungselement der negativen Schicksalswende von maximaler Fallhöhe aus – „mitten in sînem heile“ (Z. 133) – sind jene Momente, deren Analogie zur Geschichte Hiobs das obige Zitat herausstreicht. Und für die Leidensgeschichte Heinrichs wie Hiobs bildet die anfängliche Schicksalswende einen dramaturgischen Rahmen gemeinsam mit einer zweiten Wende am Schluss, die den Helden erlöst, restitutiert und erhöht. 4 Cormeau, Christoph und Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche  – Werk  – Wirkung. München 1985, S. 58 f. 5 Vgl. Cormeau/Störmer (s. Anm. 4), S. 59.

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Die Ursachen für diese zweite Wende indes sind gänzlich andere als im Hiobbuch. Anders als in dessen  – in Hartmanns Zusammenhang ohnedies nicht rezipierten – Streiter-Reden wächst sich Heinrichs Existenzverfluchung nicht zu einer Debatte um die Ursachen seiner Situation aus; vielmehr fügt sich der Sieche in seine Lage, trennt sich von seinen Gütern und zieht sich in die Isolation zurück. Anders auch als dem – insoweit ja scheinbar doch zu seinem Rollenvorbild geratenden – Dulder-Hiob des Rahmenteils stellt sich dem armen Ritter eine innerweltliche Möglichkeit der Heilung in Aussicht: das freiwillige Selbstopfer einer mannbaren Jungfrau, deren Herzblut ihm zur arzenei werden kann. Eine solche maget findet sich denn auch, und sie gerät zur gleichrangigen Protagonistin an Heinrichs Seite – sie ist Tochter des letzten leibeigenen Meiers, der dem Ritter verblieben ist und auf dessen Hof und in dessen Fürsorge er sich von der spottenden Welt abgeschieden hat. Und sie steigert sich so sehr hinein in den eigenen Opferwillen (den sie freilich nicht nur auf den Nächstendienst an Heinrich richtet, sondern zugleich auf die Aussicht eigenen ewigen Lebens), dass die ungekannte Beredsamkeit, die sie dabei entwickelt, selbst ihren widerstrebenden Eltern als gottesinspiriert, mithin autoritativ erscheint. Auch Heinrich willigt ein. Doch schließlich ist er es, der in letzter Sekunde – eine weite Reise zum behandelnden Arzt ist getan, und dieser setzt bereits das Messer an – einschreitet und seinen Willen widerruft, das Opfer anzunehmen: „ich enwil des kindes tôt niht sehen“ (Z.  1256). Dieser Ausdruck einer selbstlosen Nächstenliebe, die epiphanisch über ihn gekommen ist, bedeutet auch seinen Verzicht auf eigene Heilung. Was er aber nicht hat wissen können: Gerade jener willentliche Verzicht ist es, der nun seine Erlösung erst möglich macht. Und in deren Zusammenhang fällt im Text zum vierten und letzten Male der Name Hiobs: „sît er“, so heißt es über Gott bzw. über „Krist“, durch sînen süezen list / an in beiden des geruochte, / daz er si versuochte / rehte alsô volleclîchen / sam Jôben den rîchen, / dô er in des siechen hant / bärmde unde triuwen vant / und ouch diu vil reine maget / an triuwen vant sô unverzaget / daz si benamen ir leben / in gotes güete wolde geben / dô erzeicte der heilec Krist, / wie liep im triuwe und bärmde ist, / und schiet si dô beide / von allem ir leide / und machete in dâ zestunt / reine unde wol gesunt. (Z. 1360–1370)

Diese neuerliche Nennung des biblischen ‚Dulders‘ erfüllt textintern eine rückverweisende, mithin rahmende Funktion: Der Bann, der mit Heinrichs Fall eingesetzt hatte, ist gebrochen. Jetzt – erst jetzt – erweist sich der Geschlagene des biblischen Vorbildes als würdig, in das er sich zuerst „leider niergent“ (147) hat fügen wollen. In Hiobs Gleichnis steht nun nicht allein er selbst, sondern auch die opferbereite maget.

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Wie oben gesagt, bieten m. E. die dramaturgischen Analogien allein noch keine zwingende Rechtfertigung, Hartmanns Text in einer Verkürzung, wie sie in unserem Zusammenhang geboten ist, gleichsam bilateral mit dem Hiobbuch und nur mit diesem kurzzuschließen. Für sich genommen ergeben diese Analogien ein finalistisches Handlungsschema (weltliches Glück – Schicksalswende – weltliches Leid – conversio – erneute Schicksalswende – transzendierende Seligkeit), das nicht zwingender auf das Hiobbuch verweist denn (beispielsweise) auf zahllose Heiligenviten der zeitgenössischen Hagiographie. An dieser Stelle ist daher ein knapper Verweis auf theologische Zeitkontexte nötig. Die cluniazensische Kirchenreformbewegung des 12. Jahrhunderts, aus dessen letzten Jahren Hartmanns Text stammt, hatte in der christlichen Theologie ein ‚personales‘ Menschenbild bestärkt: Zunehmend galt der einzelne Mensch als „das freie Geschöpf, in dem die Welt zu sich kommt und das durch sein Ja zum Schöpfer die Rückkehr der Welt zu Gott ermöglicht, durch sein Nein aber verstellt“.⁶ Mit anderen Worten: Die Zone der Handlungskontingenz wurde – wie eng auch immer sie begrenzt blieb auf ein duales Entscheidungsschema – zum zentralen Bewährungsfeld des Menschen, der auf ihm kraft freien Willens sein eigenes Heil und zugleich das Gesamtheil der Welt befördern konnte. Auch die Kreuzzüge hatten ein diskursives Klima begünstigt, in dem sich der Einzelmensch zu der Verantwortung aufgerufen sah, sein Handeln gottgefällig zu gestalten und seine Lebensgeschichte in die Analogie des Lebens Christi zu stellen: Sie hatten einerseits über die zuvor etablierten, per definitionem dem Klerus reservierten Aktionsfelder einer frommen ‚vita activa‘ hinaus neue generiert, auf denen sich gerade für Laien unterer sozialer Ränge die ungekannte Chance einer Aufwertung durch moralisch-tugendhafte Bewährung bot – und diese schuf (Stichwort: Ritterideal) auch eine neue Osmose zwischen den Standesgrenzen. Zudem konkretisierte sich in sinnlicher Weise die Imago des ‚Heiligen Landes‘, das zuvor eher textallegorisch verstanden worden, nun aber ein bereisbarer Ort war, und dies wiederum veranschaulichte auch die Vorstellung vom irdischen Leben Jesu, auf dessen Nachvollzug jene vita activa ja angelegt war. Gegenüber den immanenzund schöpfungsfeindlichen Traditionen der Gnosis  – seit der Patristik latent, aber wirkmächtig überkommen  – bedeutete die Option innerweltlicher Gottgefälligkeit eine deutliche moralontologische Aufwertung ‚der Welt‘, die nun nicht mehr zuvörderst Schauplatz der steten Abwehr ihr innewohnender Dämonen

6 Greshake/Weismayer, zit. nach Dahlgrün, Corinna: Hoc fac, et vives (Lk 10/28)  – vor allen dingen minne got. Theologische Reflexionen eines Laien im Gregorius und in Der Arme Heinrich Hartmanns von Aue. Frankfurt/M. u.a. 1991, S. 12.

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sein musste, sondern Ort christlichen Triumphs sein konnte.⁷ Ein Ausdruck jener neuen Verhaltensethik ist der Katalog ritterlicher Tugenden im ,Armen Heinrich‘ ebenso wie das oben genannte, aus Heiligenviten bekannte Konversionsschema, das nicht zu denken wäre ohne das Konzept einer linearen, durch Entscheidung ‚so oder so‘ gestaltbaren Einzelbiographie. Im selben Zusammenhang aber färbte das aufkommende Rittertum einen bestimmten Begriff in positiver Weise neu ein, den die Kirche noch im 9. Jahrhundert als Synonym für eine Todsünde eingedeutscht hatte, jene, die laut Gregorius die radix cuncti mali war: den hochmuot (superbia). Die Egozentrik oder superbia besteht in der Tendenz zur absoluten Autonomie der Person, die sich aus jeder überpersönlichen Ordnung löst und selbst in das Zentrum einer subjektiven Welt- und Werteordnung rückt. Diese Verabsolutierung des Ich zum Bezugspunkt aller Wertmaßstäbe bedeutet eine grundsätzliche Negation aller universellen Ordnungen. Der Superbia-Gedanke und der Ordo-Gedanke sind von Ursprung an konträre Korrelate.⁸

Der Begriff ‚hochmuot‘ oder ‚hôher muot‘, der zuvor als Synonym der superbia klar abschätzig konnotiert gewesen war (wie die superbia der christusgleichen humilitas entgegenstand, so galt ‚hochmuot‘ als Gegenteil zur ‚Demut‘), bezeichnete nun ein „auf persönlichen Vorzügen beruhende[s] freudige[s] Selbstwertgefühl und [eine] ‚beherrschte Schwellung des Ich’“⁹, zu dem berechtigt zu sein man ableitete aus der neuen Option, sich innerhalb der Welt sittlich zu bewähren. Dies erregte tiefes Misstrauen seitens der kirchlichen Moraltheologie. Im Folgenden will ich nun den ,Armen Heinrich‘ als zeitgebundene Variante der ‚Arbeit am Mythos Hiob‘ zu lesen versuchen, die die biblische Figur als Topos aufruft, um mit ihrer Hilfe Kontingenzbewältigung zu leisten, indem sie von Kontingenzbewältigung erzählt. Beachtenswert scheint mir von dieser Warte aus der – nicht unspekulative, aber sehr einleuchtende – Ansatz, den 1976 Karl Dieter Goebel im Rahmen der Diskussion möglicher theologisch-anthropologischer Kontextualisierungen vorschlug. Goebel (dem sich gewiss auch dann folgen lässt, wenn man nicht den Anspruch erhebt, aus Hartmanns Text ein geschlossenes theologisches Wertesystem extrapolieren zu wollen) setzt den ,Armen Heinrich‘ – genauer: den Aspekt der Schicksalswende vom Glück ins Leiden – in Bezug zu einem Text, der in der Geschichte des Kontingenzdiskurses von Rang ist, nämlich

7 Wie nachhaltig (erst) im 12./13. Jahrhundert die defensive Apologetik der ecclesia militans dem befreiten Aufspiel der ecclesia triumphans weicht, zeigt sich wohl am anschaulichsten im Übergang vom burgenhaften romanischen Kirchenbaustil durch den glanzvoll-verspielten gotischen. 8 Hempel (s. Anm. 62), S. 226. 9 Hempel (s. Anm. 62), S. 229.

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zur ,Consolatio Philosophiae‘ des Boethius. Hierauf wird gegen Ende zurückzukommen sein. Die Passage, in der das Leiden Heinrichs am ausführlichsten einer Wertung und Sinngebung unterzogen wird, ist eine Selbstanklage des Leidenden in V. 383–406: „Ich hân“, so gesteht Heinrich dem mitleidigen Meier, den schämelîchen spot / vil wol gedienet umbe got / wan du saehe wol hie vor, / daz hoch offen stuont min tor / nach werltlicher wünne / und daz niemen in sinem künne / sinen willen baz hete dan ich: / und was daz doch unmügelich, / wan ich in het mit vrevil gar. / do nam ich sin vil kleine war, / der mir daz selbe wunschleben / von sinen gnaden hete gegeben. / daz herze mir do also stuont, / als alle werlttoren tuont, / den daz raetet ir muot, / daz si ere unde guot / ane got mügen han. / sus trouc ouch mich min tumber wan, / wan ich in lützel ane sach, / von des gnaden mir geschach / vil eren unde guotes. / do des hohen muotes  / den hohen portenaere verdroz,  / die saelden porte er mir besloz.  / da kum ich leider niemer in: / daz verworhte mir min tumber sin. / got hat durch rache an mich geleit / ein sus gewante siecheit, / die nieman mac erloesen. / nu versmahe ich den boesen,¹⁰ / die biderben ruochent min niht.

Friedrich Maurer berief sich 1951 bei seinem Vergleich literarischer Gestaltungen von theologischen Leidenskonzeptionen des Mittelalters zuvörderst auf diese Passage, als er Hartmanns ,Armem Heinrich‘ bescheinigte, er stelle das Leiden so entschieden wie kaum ein anderer Text als eine „Folge der Sünde“ dar.¹¹ Zwar vollzieht Heinrich hier gewiss einen klaren Kausalschluss: Sich selbst bezichtigt er, in seinem glücklichen Leben vor der Schicksalswende der superbia verfallen gewesen zu sein, die ihn glauben ließ, das eigene Glück selber verdient statt aus Gottes Hand empfangen zu haben – womit er sich dieses Glücks als unwürdig erwiesen und Gott dazu herausgefordert habe, es ihm als poena peccati (‚rache‘) wieder wegzunehmen.¹² Wenn nun aber Maurer hieraus unumwunden folgert, die in Heinrichs Figurenrede gefundene Sinngebung des eigenen Leidens 10 Vgl. Hiob 19,13. Hervorhebung C.H. 11 Maurer, Friedrich: Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den großen Epen der staufischen Zeit. Bern/München 1951, S. 39. Nur seiner besonderen Entschiedenheit in dieser Frage wegen beziehe mich hier just auf Maurer, der freilich nur exemplarisch stehen soll für eine seinerzeit gängige Forschungsauffassung vom Leiden Heinrichs als einer poena peccati (zu den zahlreichen sonstigen Vertretern dieser Meinung – darunter Nagel, Neumann, Ohly, Schirokauer – vgl. Datz, Günther: Die Gestalt Hiobs in der kirchlichen Exegese und der „Arme Heinrich“ Hartmanns von Aue. Göppingen 1973, S. 203 f., und Verweyen, Theodor: Der „Arme Heinrich“ Hartmanns von Aue. Studien und Interpretation. München 1970, S. 22 FN 31), die spätestens seit Cormeaus Einwänden jedoch deutlich modifiziert worden ist. 12 Schön im übrigen, wie der Text die Plausibilität dieses Kausalschlusses noch unterstreicht, indem er Ursache und Folge durch suggestive Wortspiele verschränkt: Das offene „tor nach werltlicher wünne“ weidlich nutzend, hat der Anmaßende sich selbst als „werlttôr“ erwiesen,

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als einer poena peccati sei auch die Leidenskonzeption des Erzählers bzw. des Gesamttextes, und der wiederum verfolge mithin das narrative Schema „Sünde – Leid – Buße – Gnade“,¹³ so ist diesem (mindestens) dreierlei Entscheidendes entgegenzuhalten, das m. E. in eine andere Richtung weist. Und hierbei bedarf es der Berufung auf annähernd keine weiteren Textstellen denn auf jene, die es gestatten, den Text vom Buch Hiob her zu interpretieren. Erstens nämlich die erste Stelle, die den Namen Hiobs nennt – vor allem unter dem entscheidenden Gesichtspunkt, dass sie nicht ihn alleine nennt, sondern ihm den einer zweiten alttestamentlichen Figur gegenüberstellt: Absalom. Zweitens die Rahmenfunktion, die diese erste gemeinsam mit der späteren zweiten Erwähnung Hiobs erfüllt (im Verbund mit einigen dazwischen liegenden Passagen, das Hiobbuch palintextuell alludieren). Und drittens die Passage rund um ein lateinisches Zitat, die zwischen der ersten Hiob- und der Absalom-Erwähnung vermittelt. Ganz unzweideutig klar macht der Erzähler bei der ersten Schicksalswende nur eines: Sie kommt von Gott. Und zwar unmittelbar: Anders als im Hiobbuch ist und bleibt keine Rede von Satan, an den Gott etwelche Verantwortung delegieren könnte, und erhält der Leser generell durch keine Meta-Szene – wie die im ‚himmlischen Hofstaat‘ – einen Informationsvorsprung vor dem Helden. Vielmehr hält bereits die Formel, an Heinrich werde „die swaeren gotes zuht“ (Z. 120) offenbar, durch ihre Doppeldeutigkeit in der Schwebe, ob Gottes Absicht damit nun Strafe oder Prüfung sei.¹⁴ Für ersteres führt Maurer die Formel „sîn hôchmuot wart verkeret“ (Z. 82) ins Feld, verkennt damit aber: Auch diese Formel ist im Zusammenhang von Vers 82 (noch) doppeldeutig und nicht schon per se eine moralische Wertung im Sinne einer kausalen Strafvoraussetzung. An jenem Begriff, der im zeitgenössisch neueren, weltlichen Zusammenhang positiv besetzt ist und eine ‚Hochstimmung‘ bezeichnet, die als höfisches Haltungsideal angestrebt wird und gerade nicht sündhaft ist, aktiviert der Text die ältere theologische Konnotation sträflicher superbia erst später, bei seiner zweiten Erwähnung im Rahmen der Selbstbezichtigung Heinrichs.¹⁵ Vorerst indes heißt es: „sîn hôchmuot wart verkeret / in ein leben gar geneiget. / an im wart erzeiget, / als ouch an Absalône, / daz diu üppige krône / werltlîcher süeze / vellet under vüeze / ab ir besten werdekeit, / als uns diu schrift hât geseit.“ (Z. 82–90)

und zwangsläufig musste sein „hoher muot“ dem „hohen portenaer“ so verdrießlich sein, dass er es ihm wieder verschloss. 13 In Maurers Argumentationszusammenhang bildet diese Reihe einen Kontrast zur (einen anderen Leidbegriff bedingenden) Reihe ‚Ehre – Leid – Rache‘ aus dem Nibelungenlied. Vgl. Maurer (s. Anm. 11), S. 39. 14 Vgl. Mertens (s. Anm. 1), S. 912. 15 Vgl. Mertens (s. Anm. 1), S. 908.

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Die ‚Kronen‘-Metapher, die hier die Brücke zwischen Heinrich und Absalom baut, ist dem Hiobbuch entlehnt¹⁶ und liefert insofern schon einen impliziten Vorverweis auf dessen Helden. Und nur 38 Zeilen später folgt dann unser Eingangszitat: „daz in niemen gerne sach:  / als ouch Jôbe geschach“. Auf engem Textraum also werden Heinrich gleich zwei alttestamentliche Typen zugeordnet: Absalom und Hiob. Diese Zuordnung fungiert – über ihre topische Funktion als Gelehrsamkeitsnachweis des Erzählers hinaus  – als eine Interpretationsund Wertungsvorgabe, die da lautet: Heinrichs Schicksal ist zu verorten in der Schnittmenge der Schicksale Absaloms einerseits und Hiobs andererseits. Als tertium comparationis zwischen beider Schicksalen kommt nur eines in Frage: die „Antithese von Höhe und Fall“.¹⁷ Was nun aber die narrative Herleitung, mithin auch die Sinngebung des Falls vom Glück ins Leiden angeht, ist eine stimmige solche just im Schnittfeld der beiden Präfigurationen ‚Hiob‘ und ‚Absalom‘ eindeutig ausgeschlossen, wenn man von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang ausgeht: Kaum divergenter sein könnten das dem Fall vorausgehende Handeln des ‚guoten‘ Hiob, des Typus der humilitas,¹⁸ und das des Absalom, der in der hochmittelalterlichen Literatur gern als Typus der superbia gesehen wurde.¹⁹ So unzweideutig, wie bei Hiob (aus Sicht der zeitgenössischen Theologie) die gottgewollte Schicksalswende vom Glück ins Unglück als Prüfung gedacht ist, ist sie bei Absalom eine Strafe. Der Fall Hiobs wird zurückgenommen, der Absaloms indes ist irreversibel.²⁰ Hartmann also konstruiert gleichsam quer zu jener Antithese ‚Höhe – Fall‘, die den beiden Typen (als einzige Gemeinsamkeit) gleichermaßen eingeschrieben ist, eine weitere Antithetik, nämlich die wechselseitige der beiden Typen selbst. Ungeachtet weiterer Diversifizierungen der zeitgenössischen imago Absaloms bzw. Hiobs – und entgegen dem Versuch, sich auf diese Vielfalt zu berufen, um die eine ganz konkrete Nennung Absaloms bei Hartmann ins moralisch Wertneu-

16 Vgl. Wackernagel, Wilhelm: Der Arme Heinrich Herrn Hartmanns von Aue und zwei Prosalegenden verwandten Inhalts. Mit Anmerkungen und Abhandlungen. 3. Aufl., neu hrsg. von Ernst Stadler. Basel 1911, S. 64, und Glutsch (S. Kap. 1, Anm. 6), S. 108. 17 Cormeau/Störmer (s. Anm. 4), S. 151. 18 Vgl. Hempel (s. Anm. 62), S. 216. 19 Vgl. hierzu Fechter, Werner: Absalom als Vergleichs- und Beispielfigur im mittelhochdeutschen Schrifttum. Beiträge zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprache 83 (1961/62), S. 303–316, insb. S. 316. 20 Ihn ereilt (verdientermaßen, wie laut Fechter die meisten mittelalterlichen Kommentatoren urteilten) der Tod, und zwar sogar gegen den Willen Davids, der dem Sohn Vergebung zugedacht hatte.

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trale zu rücken,²¹ was seiner Parallelisierung mit Hiob jede Schärfe nähme – lässt sich gewiss sagen: Die Typen Hiob und Absalom erfüllen ihre spezielle textinterne Funktion an speziell dieser Stelle just und nur dadurch, dass sie gemeinsam auftreten. Nur so nämlich können sie ihr Typenprofil wechselseitig so schärfen, dass klar wird: Es geht um eine Antithetik zweier Modelle zur Sinngebung des Topos ‚negative Schicksalswende‘, nämlich ‚Bestrafung des Schuldigen‘ versus ‚Prüfung des Schuldlosen‘. Beim Leser wirft diese Polarität die Frage auf: Wird sich Heinrich im weiteren Verlauf der Erzählung einem der beiden Modelle zuordnen lassen, und wenn ja, welchem? Vorsichtig legt sie aber zugleich bereits nahe, dass hier wohl eher von einem Leid erzählt wird, das verhaltensunabhängig motiviert und also nicht als Strafe zu verstehen ist. ²² Wenn nun aber Heinrich selbst  – wie erwähnt  – in Vers 383ff. sein Leiden klar als eine Strafe auffasst und auf die Sünde der superbia bezieht, dann scheint zwar an diesem Punkt einer linearen Rezeption dem Leser, dem Heinrichs Leiden eingangs noch als interpretationsoffen vorgestellt worden war, das Pendel eindeutig in Richtung Absalom auszuschlagen: In der Figurenrede des Protagonisten selbst hat sich die Sache so dargestellt, der Erzähler hat nicht widersprochen, und nicht zuletzt scheint die suggestive Logik des Wortspiels die Frage nach dem Sinnzusammenhang des Leidens geklärt zu haben, die Gleichung ‚Sünde – Rache‘ scheint restfrei aufzugehen. Es bleibt aber festzustellen: Weder lässt sich der Erzähler irgendwo kommentierend auf Heinrichs Sicht ein, die mithin seiner eigenen, eingangs vollzogenen Wertung – ‚âne missewende‘ – entgegengerichtet bleibt, noch malt er etwelches konkretes Fehlhandeln des Helden irgendwo narrativ aus. Was nun die textinterne, argumentative Funktion Hiobs als Exempelfigur betrifft, so hat sich bereits zwischen deren erster Erwähnung in Zeile 128 bis hin zu ihrer zweiten in Zeile 139ff. eine Verschiebung abgezeichnet. Die Passage „… als ouch Jobe geschach …“ (Z. 128) hatte Hiob, wie gesagt, als eins von zwei antithetischen Exempeln für die Schicksalswende genannt, mit allen Implikationen eines (mindestens zweifach deutbaren) Kausalnexus’ zwischen dem leidvollen Schicksal eines Menschen und dessen vorgängigem Tun. Diesen Akzent indes haben dann die Verse 133ff. buchstäblich hinter sich gelassen:

21 Vgl. Cormeau, Christoph: Hartmanns von Aue „Armer Heinrich“ und „Gregorius“. Studien zur Interpretation mit dem Blick auf die Theologie zur Zeit Hartmanns. München 1966, S. 8. Dagegen: Datz (s. Anm. 11), S. 213. 22 Cormeau sieht dadurch, dass als Leidens-Typus bereits vorab Hiob aufgerufen worden ist, Heinrichs Leid klar „außerhalb des Schuld-Strafe-Bekehrungs-Zusammenhangs“ verortet: Es „gibt keine kausale Verknüpfung von Gnade und Glück; Leid ist nicht allein Folge der Sünde.“ Cormeau (s. Anm. 21), S. 134.

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Dô der arme Heinrich / alrêst verstuond sich, / daz er der werlte widerstuont, / als alle sîne gelîchen tuont, / dô schiet in sîn bitter leid / von Jôbes geduldikeit. / wan ez leit Jôb der guote / mit geduldigem muote, / dô ez im ze lîdenne geschach, / durch der sêle gemach / den siechtuom und die swacheit, / die er von der werlde leit: / des lobete er got und vreute sich. / dô tete der arme Heinrich / leider niergent also: / er was trûrec und unvrô. (Z. 133–148)

Hier tritt jedwede Frage nach der Herleitung des Leidens zurück hinter jenen Aspekt, der fortan der wichtigste bleiben wird: die Frage, wie sich der Leidende im Leid verhält. Die Verschiebung verläuft also vom retrospektiven zum prospektiven Umgang mit dem Leiden. Stand in der Reihe ‚Heinrich – Absalom – Hiob‘ der Leidenszustand als Kehrseite eines vorangegangenen Glückszustandes da, so geht es nun um Heinrichs Verhalten infolge des Leidens – und zwar um ein Verhalten, in dem er abweicht vom Exempel Hiobs. Hiob, dessen Leid der Text klar nicht als Strafe interpretiert, sondern als eine Prüfung „durch der sêle gemach“, also um des Seelenheils willen, zeigt ein angemessenes Leidverhalten: ein freudiges – offenbar in christlicher Gewissheit der letztlich zu gewinnenden Erlösung. Heinrich indes vermag es nicht, diesem Exempel gerecht zu werden. „[L]eider niergent“, so wertet der Text – und mehr noch: Just im Anschluss (Z. 133) an die Nennung Hiobs als Vergleichsfigur (Z. 128) verleiht er seinem Helden, der noch kurz zuvor (Z. 112) als „der herre Heinrich“ firmiert hat, erstmals das Attribut ‚arm‘. Ein Attribut, das seinem Namen von nun an – und zwar punktgenau bis zu seiner zweiten Schicksalswende – nicht mehr von der Seite weichen wird: „Die ‚Armut’ der Titelfigur“ also „legt sich auch in der ausdrücklichen Gegenführung zu [ihrem] Vorbild aus“.²³ Wenn Heinrich für ‚arm‘ just im Vergleich mit Hiob erklärt wird, dann ist damit der erste seinem Attribut dauerhaft eingeschriebene Aspekt der des ‚Henricus miser‘ – im Sinne eines verhaltensethischen Defizits. Zu einem auch materiell armen ‚Henricus pauper‘ wird er erst im Nachhinein. Als machtloses Opfer der Weltkontingenz, so könnte man sagen, steht Heinrich an der Seite Hiobs. Als ein mündiger Walter auf dem (wiewohl eng abgesteckten) Feld der Handlungskontingenz indes, also als ein zur Reaktion Herausgeforderter, der zwischen richtiger und falscher Reaktion wählen darf, bleibt er hinter Hiob zurück – vorerst. Dass es um Bewährung auf diesem Felde geht, zeichnet sich ab. Fortan steht und fällt die Spannung der Handlung mit der erwartungsvollen Frage des Rezipienten, ob (oder eher: unter welchen näheren Umständen)

23 So völlig zu Recht Verweyen, der freilich – wenn er formuliert, Heinrich sei „nicht nur ein ‚Henricus pauper’“, sondern „zugleich ein ‚Henricus miser’“ (Verweyen (s. Anm. 11), S. 23)  – die Textchronologie zum Nachteil seines eigenen Arguments verkehrt: In Wahrheit ist die moralische miseritas des Ausgestoßenen der – nicht nur chronologisch – vorgängige Aspekt seiner Armut, die materielle paupertas erst deren Folgeerscheinung.

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Heinrichs Verhalten späterhin in Bahnen einschwenken wird, die der Erzähler wird gutheißen können. Festzuhalten also ist: Die zweite jener frühen Textstellen, in denen Heinrich in die Hiob-Analogie gerückt wird, trifft nicht nur bereits eine sehr deutliche Entscheidung zugunsten der Wertung des Leidens als Prüfung, sondern erklärt diese Prüfung – indem sie den Leser implizit in die Rolle einer begutachtenden Instanz einsetzt – bereits recht unverhohlen zum Thema der folgenden Handlung. Ein palintextuelles Hiob-Zitat, das bereits Wackernadel/Stadler identifiziert haben, findet sich in V. 412–417, wo Heinrich über seine soziale Ächtung Klage führt: „nû versmâhe ich den boesen,  / die biderben ruochent mîn niht.  / swie boese er ist der mich gesiht, / des boeser muoz ich dannoch sîn. / sîn unwert tuot er mir schîn, / er wirfet diu ougen abe mir.“ (Z. 412–417)²⁴ Klar zutage liegt die bis ins Einzellexem reichende Analogie zur Klage des Geächteten in Hiob 30, 1–10 darüber, sich vom einstigen, führenden Rang aus verschlechtert zu haben bis zum Spottgegenstand selbst noch der zuunterst Stehenden. Mir scheint, dass diese Analogie es rechtfertigt, ausgeweitet zu werden auf das unmittelbare Umfeld der analogen Stellen in Text bzw. Prätext: In beiden Fällen steht sie im Rahmen eines Vergleichs zwischen gegenwärtigem Unglück und vorangegangenem Glück. Vergleichen wir beide Vergleiche textübergreifend, so erhellt dies die textimmanente Funktion der Stelle für die Dramaturgie Hartmanns: Der biblische Hiob führt den Vergleich zwischen Einst und Jetzt in der ‚Phase 3‘ seines Kontingenzbewusstseins, also in jener, die die Maximierung seines Handlungsspielraums einleitet, und er tut es, um ein letztes Mal die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen (einstigem) Handeln und (jetzigen) Ergehen zu behandeln und die eingetretene Verwerfung zwischen beidem zu problematisieren, um dann in Reinigungseid und bedingter Selbstverfluchung zu konzedieren: Falls Gott ihm doch noch werde plausibel machen können, dass ein Strafzusammenhang zwischen Leid und Fehlhandeln bestehe (etwa einem unbeabsichtigten, vergessenen oder unbewussten), so werde Hiob seine Situation hinnehmen. Der Glücks-Unglücks-Vergleich ist also Teil einer apologetischen Strategie: Solange die daran geknüpfte Frage noch ohne Antwort im Raum steht, entlastet sie Hiob und schiebt Gott die Beweislast zu.

24 Hiob 30,1–3: „nunc autem derident me iuniores tempore quorum non dignabar patres ponere cum canibus gregis mei / quorum virtus manuum erat mihi pro nihilo et vita ipsa putabantur indigni / egestate et fame steriles qui rodebant in solitudine squalentes calamitate et miseria“. Hiob 30, 8–10: „filii stultorum et ignobilium et in terra penitus non parentes / nunc in eorum canticum versus sum et factus sum eis proverbium / abominantur me et longe fugiunt a me et faciem meam conspuere non verentur“.

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Diametral anders bei Hartmann: Bei ihm dient der Vergleich der Selbstbeschuldigigung, und er kommt als Kausalkette daher. Das frühere Glück Heinrichs ist, so wie er selbst es beschreibt, ein von ihm seither als ‚weltliches‘ Trugspiel durchschautes und die eindeutige Ursache seines Unglücks. Pointiert gesagt: Wenn Heinrich sein Leid als Strafe wertet, diese Strafe hinnimmt und mithin einen Tun-Ergehen-Zusammenhang zu eigenen Ungunsten anerkennt, so dient ihm als Hauptargument dafür just jene Prätextstelle, in der Hiob die Fragwürdigkeit eines solchen Zusammenhangs am schärfsten pointiert. Als bewusst kontrafaktorischer Kunstgriff lässt sich dies in Anbetracht der zeitgenössischen Hiobbuch-Rezeption freilich nicht werten. Doch auch in deren Rahmen zurückkehrend, können wir eine kleine, aber wichtige Verwerfung feststellen. Einerseits nämlich scheint Heinrich mit jener Selbstverurteilung, die ihn seinen Zustand als gerechtfertigt erscheinen lässt, einen Schritt auf jene Leidensfrömmigkeit hin gemacht zu haben, für die Hiob steht. Diese seine Akzeptanz aber kommt weder mit dem erklärtermaßen (vgl. Z. 145) für einzig hiob-konform geltenden Gestus der ‚Leidensfreude aus Erlösungsgewissheit‘ daher (stattdessen gipfelt sie im Wunsch nach einem baldigen Tod), noch bezieht sie sich – was eine so verstandene geduldikeit ja erst ermöglicht – auf ein demütig unhinterfragtes Leid, sondern vielmehr auf eines, das klar als Strafe für eigene superbia interpretiert wird. Pointiert gesagt: Hier wird erzählt, wie eine absalomische Sündenstrafe beim Bestraften auf hiobsche Hinnahme stößt – eine paradoxe Engführung also jener beiden zuvor aufgerufenen Typen der Leidens-Sinnstiftung. Ein Leser, der – wie wir – die Hiob-Absalom-Passage als interpretationsleitend versteht, stößt an diesem Punkt der Erzählung auf eine Aporie, die einen hohen narrationsfunktionalen Stellenwert der Passage erahnen lässt. Mit seiner (retrospektiven) Reue wächst Heinrich in positivem Sinne über Absalom hinaus, durch mangelnde (prospektive) Demut indes bleibt er hinter Hiob zurück. Es wird sich später zeigen: Seine Einsicht in die superbia ist – insofern, als sie diese als Strafgrund identifizierte – selbst noch ein Teil und Ausdruck jener superbia, entstammt sie doch Heinrichs ungebrochener Befangenheit in Bewirkbarkeitssuggestionen. Schon in diesem Zusammenhang wird überdeutlich, dass es unstatthaft wäre, Heinrichs ‚poena-peccati‘-These als die des Gesamttextes zu verabsolutieren. Zwar wird ihr vom Erzähler nicht widersprochen. Wäre aber das Modell ‚Sünde/ Strafe‘ nicht nur Kernthema der Selbsteinschätzung Heinrichs, sondern auch gleich die moralische Kernaussage des Textes, dann könnte der an dieser Stelle abbrechen. Dann bliebe Heinrichs reuiger Einsicht in einen derart aufgefassten Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht mehr viel hinzuzufügen. Die Geschichte könnte damit enden, dass Heinrich – wie er es tut – seine Schuld bekennt und in

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tätiger Reue für sein Seelenheil nach dem Tode sorgt.²⁵ Damit ist er im Zustand der Leidensfrömmigkeit angekommen: retrospektiv wie prospektiv auf den Zusammenhang seines Tuns mit seinem Ergehen bedacht. Doch führt über diesen Zusammenhang bereits – wie gezeigt – die erste Hiob-Erwähnung hinaus, und spätestens die zweite wird deutlich machen: Das über Heinrich verhängte Schicksal hat allenfalls sekundär Straf-, primär jedoch Prüfungscharakter. Um dies zu verdeutlichen, sei zunächst noch einmal zurückgekehrt zu Heinrichs erster Schicksalswende. Der Zeitpunkt nämlich, mit dem Heinrich zu leiden beginnt, fällt nicht mit dem seiner Erkrankung zusammen – oder zumindest nicht exakt: Sein „bitter leit“ ergreift ihn erst kurz danach, als er „alrêst verstuond sich, / daz er der werlte widerstuont“ (134/135). Das eigentlich auslösende Moment für Heinrichs Bitterkeit ist also die Erkenntnis, sein standesgemäßes Ansehen verloren zu haben. Die dies bedingende miselsuht, also die unheilbare Lepra, nennt der Text nur einmal beim Namen, und zwar bei ihrem althochdeutschen. Anhand dessen etymologischer Konnotationen – und zumal er auf jegliche mimetische Beschreibung der Aussatzsymptome verzichtet  – reduziert der Text die Krankheit geradezu tautologisch²⁶ auf ihre funktionale Rolle als jenes Merkmal, das den Ritter Heinrich zum ‚Armen‘ Heinrich macht. Die Modellierung des Leidens, so könnte man sagen, ist sehr zeitgenössisch: Im höfischen Umfeld genügt eine einzige der vielfältigen Plagen Hiobs – die letzte, die diesen ereilt –, um Heinrichs ‚Fall‘ irreversibel zu machen: Das Leiden gibt ihn „als alle sine gelîchen“ (ein zwangsläufiger und allgemeingültiger sozialer Automatismus also) der Ächtung der Mitmenschen preis, es „widerspricht seinem höfischen Streben

25 Nach der Einsicht in die Hoffnungslosigkeit und vor seinem Rückzug ist Heinrich darauf bedacht, durch Wohltaten – zunächst an armen Freunden, dann an den Armen schlechthin und schließlich an der Kirche  –, zwar nicht eine irdische Schicksalswende, aber sein jenseitiges Seelenheil zu erwirken: „bescheidenlichen“ (etwa: wohlbedacht, angemessen) sucht er zu erreichen, „daz sich got geruochte“. Weil sich Heinrich mit diesen Werken selbst die Bedingungen für einen Lebensabend als isolierter Büßer auf dem Meierhof schafft – „arm“ zuvor nur im Sinne der miseritas, wird Heinrich nun auch zum ‚Henricus pauper‘ –, sieht ihn Schirokauer in diesem Tun die Voraussetzungen erfüllen für den Vollzug eines dreiteiligen Buß-Schemas von contritio, confessio und satisfactio, das auf Petrus Lombardus zurückgeht: In drei Jahren auf dem Meierhof reift seine ‚Zerknirschung‘, die Heinrich erstmals mit der in Z. 381 bekannten „riuwe“ zeigt. Diese wiederum motiviert sein (Schuld-)Bekenntnis, ohne das wiederum die „maget“ nicht jenen Opferplan fassen könnte, der dann letztlich Heinrichs demütige Verzichtsgeste bedingen wird, mit der er seine vorherige superbia ablege und Gott Genugtuung schaffe. Vgl. Schirokauer, Interpretation S. 66–70. Dagegen jedoch Verweyen (s. Anm. 11), S. 22, FN31. 26 ‚Miselsuht‘ geht auf lat. ‚misellus‘ (der Arme, Bedauernswerte) und ahd. ‚suht‘ (Krankheit) zurück. Vgl. (neben den geläufigen etymologischen Lexika) auch Mertens (s. Anm. 1), S. 911, und Schwarz, Ernst: Hartmann von Aue: Gegorius/Der Arme Heinrich. Text, Nacherzählungen, Worterklärungen. Darmstadt 1967, S. 243–245.

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nach Weltfreude“ und „raubt ihm die Voraussetzung seiner ritterlichen Existenz, den gesunden Körper“.²⁷ Erzähler wie Protagonist werten dessen Leid denn auch wiederholt als ‚smahelich‘ bzw. ‚schemelich‘. Gewiss mit Recht betont Maurer also, dass Hartmann in Heinrichs Leiden den vorchristlichen Aspekt der Schande und Unehrenhaftigkeit akzentuiert. Fraglich ist allerdings, ob er hier notwendig in einem Junktim mit dem theologischen Konzept des Leidens als poena peccati zu sehen ist.²⁸ Denn wiewohl die ‚miselsuht‘ den Zeitgenossen tatsächlich als Gottesstrafe, mithin Indiz der Sündhaftigkeit galt, scheint mir dieser Aspekt hier nicht vordringlich – denn gerade die Berufung des Erzählers auf die Figur Hiobs ist es, die hier eine Alternativdeutung ermöglicht: „In der theologischen Literatur erscheint die Lepra […] auch als heilsame Prüfung Gottes, so beim Hiob und […] Lazarus“.²⁹ Der Hiob nun, der hier als Verhaltensexempel im Kontrast zu Heinrich herangezogen wird, ist die Hiob-Figur in ihrem topischen Aspekt als klagloser Dulder im Leid (‚Phase 1‘). Wie sehr die Hiob-Rezeption in Hartmanns Text auf diesen Aspekt fixiert ist, das zeigt in bemerkenswerter Weise die Tatsache, dass der Erzähler zwar betont, wie stark sein Held hinter Hiobs Vorbild zurückbleibe, indem er „trûrec unde unvrô“ (Z. 148) sei – ihn andererseits aber seinem Herzen in wiederholten Geburtsverfluchungen³⁰ Luft machen lässt, für die als biblisches Vorbild – neben Jeremia 20,14–18 – nur just jene Selbstverfluchung in Frage kommt, mit der Hiob (3,3–11) in die Streiterrolle seiner ‚Phase 2a‘ findet. Nicht nur, dass der Text diesen Originalzusammenhang aus dem Hiobbuch ignoriert und Heinrichs Geburtsverfluchung gar als Endpunkt einer Klimax erklärt un-hiobischen Leidverhaltens fungieren lässt. Darüber hinaus spricht er Heinrichs Selbstverfluchung eine eigene Qualität zu: Bildet Hiobs Klage den Auftakt zu transzendenten Fragen nach der juristischen Angemessenheit des ihm Widerfahrenden, so zeigt Heinrichs Unleidlichkeit symptomatisch an, wie fixiert Hartmanns Held auf die Sphäre der weltlichen, also immanenten Dinge ist – konkret: auf das nicht mehr genossene Glück der êre. Dieser Begriff fällt allein zwischen der ersten Erwähnung Heinrichs in Z.  30 und der ersten Erwähnung seiner Schicksalswende in Z. 83 sechsmal, und in Z. 157–159 heißt es: Heinrich „sente sich vil sêre / daz er sô manege êre / hinder im muose lâzen“ (Z. 157–159). Anders als Hiob, der in unterstelltem Wissen um seine sicher zu gewinnende Erlösung freudig „den siechtuom und die smacheit“ erträgt, „die er von der werlte leit“ (Z. 142–144).

27 Fechter (s. Anm. 2), S. 1. 28 Vgl. Maurer (s. Anm. 11), S. 39–42, insb. S. 41. 29 Mertens (s. Anm. 1), S. 911. 30 „vervluochet und verwâzen / wart vil ofte der tac / dâ sîn geburt ane lac“ (AH, Z. 160–162).

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Deutlich wird: Die erste Reaktion Heinrichs auf seinen ‚Fall‘ dokumentiert, wie stark seine Bindung an die werlt nicht nur zuvor gewesen, sondern auch weiterhin ist. Hinter sich lässt Heinrich diese Bindung scheinbar in jenem Moment, als er zur Interpretation seines Leidens als Sündenstrafe gelangt und sich selbst der superbia bezichtigt. Was nun aber ist davon zu halten, dass der Erzähler dieser Einschätzung weder widerspricht noch sie bestätigt? Meine These mit Blick auf die weitere Entwicklung ist: Zur Gelenkstelle wird diese Selbstanklage dadurch, dass Heinrich hier ausdrücklich die moraltheologische Kategorie der superbia ins Spiel bringt und sein Leiden mit ihr verknüpft – jedoch aus dieser Verknüpfung vorerst falsche Schlüsse zieht. Denn in der Tat ist es, wie ich meine, superbia gewesen, deretwegen Heinrich ins Leid gestürzt ist: jedoch nicht im Sinne irgendeines konkreten Fehlhandelns, sondern als eine problematische Disposition, aus der heraus sich jederzeit ein Fehlverhalten konkretisieren könnte.³¹ Heinrichs Denkfehler nun besteht in der Kausalverknüpfung: In Wirklichkeit ist sein Leid nicht etwa eine ‚rache‘, mit der Gott ein solches Fehlverhalten vergolten hätte, sondern ein Anlass zur Bewährung. Diese nun wird erfolgen, indem Heinrich auf seine superbia hin einer ‚Einzelfallprüfung‘ am konkreten Handeln unterzogen wird  – in einer Situation, in die er gar nicht erst kommen könnte, wenn er um den Prüfungscharakter seines Leidens wüsste. Dieses sanktioniert in Wahrheit nicht (oder nur sekundär) vorausgegangenes Fehlverhalten, sondern schafft vielmehr das Umfeld für eine nachfolgende, binäre Entscheidungssituation für oder gegen ein richtiges Verhalten. Die hierin liegende Prüfung ist nicht bereits damit bestanden, dass Heinrich den Status demütiger Leidensfrömmigkeit erreicht. Auf dem Höhepunkt einer superbia, die sich noch nicht im Einzelfall konkreten Handelns manifestiert hat, aber in den erreichten Lebensumständen allgemein angelegt ist, wird Heinrich einer Prüfung unterzogen, die ihn zu solch

31 Weil der Erzähler an keiner Stelle konkrete sündhafte Taten Heinrichs erwähnt, scheiden sich die Forschergeister an der Frage, ob die Kategorie superbia auf Heinrichs Vorleben anwendbar sei. Cormeau stellt strikt in Abrede, daß von superbia nur aufgrund einer Geistesverfassung zu sprechen sei, wie sie Heinrich sich selbst als ‚tumber wân‘ attestiert, jedoch ohne den bewussten, willentlichen Vollzug einer bösen Tat: „Denn die superbia ist ja kein Erkenntnisproblem, sondern eine ethische Entscheidung. […] Eine Entscheidung zu solcher Verkehrung kann […], wenn sie die schwere Schuld sein soll, nicht ohne eine gewisse Bewußtheit geschehen, nicht ohne eben jene geistige Präsenz, die erst die volle personale Wahl ausmacht. Eine Wahl zwischen irdischen Werten und Gott kann nicht verantwortlich vollzogen werden, wenn dabei der Bezug zu Gott nicht bewußt übergangen, sondern nur vergessen wird.“ Cormeau (s. Anm. 21), S. 129. Hiergegen hält Datz die zeitgenössische (und genuin moral-)theologische Vorstellung von der „Gesinnungssünde“, aus deren vielen sich ebensogut eine Todsünde summieren könne wie aus einer Reihe von „Tatsünden“. Vgl. Datz (s. Anm. 11), S. 220–223.

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konkretem Handeln verleitet – und zwar erst, nachdem er auf den Gedanken mit der superbia bereits selbst gekommen ist, diese aber für abgebüßt hält. Just die schiere Tatsache, dass ihn der Entzug weltlicher Glücksattribute (noch) nicht dazu veranlasst, diese – im Sinne Hiobs – als ohnedies nichtig und kontingent verachten zu lernen, sondern im Gegenteil dazu, ihren Entzug als Strafe zu betrachten, indiziert, dass seine Bindung ans Materielle ungebrochen ist und er die Sicht Gottes noch nicht einzunehmen vermag. Eben Heinrichs Fehleinschätzung nun ebnet den Weg für einen Prozess, an dessen Ende jener Einzelfallnachweis aktiver superbia steht, wie er zuvor noch nicht vorgelegen hat. Prämisse jeder superbia ist die – angesichts guten weltlichen Ergehens entstehende  – Überschätzung des eigenen Handlungsspielraums durch den Menschen. Zwar hat Heinrichs Einsicht in die eigene superbia ihn bereits daran erinnert, dass dieser Handlungsspielraum ein von Gott eingeräumter und stets auf ihn bezogener ist. Doch ungebrochen ist gleichwohl seine Bereitschaft, anzunehmen, er könne sein eigenes Ergehen kraft eigenen Willens durch eine Wahl zwischen rein innerweltlichen Handlungsoptionen beeinflussen. Dieser unterstellte Handlungsspielraum ist es nun, der an jenen Punkt führt, an dem Heinrichs Disposition zur superbia in konkretes Handeln umschlägt. Ist doch der Clou der Erzählung, dass sie solch eine vermeintliche Handlungsoption eingebaut hat: das Opfer des Mädchens. Heinrichs Vermutung, der Grund seiner Krankheit liege in vorangegangener sündhafter Weltverfallenheit, sowie die daraus folgende Selbstanklage (251ff.) dessentwegen, sind erst Folge der beim Arzt in Salerno gewonnenen Einsicht, dass diese ‚Arznei‘ nicht seinem eigenen Willen und seinen weltlichen (materiellen) Kräften zu Gebote steht, sondern dem der sich Opfernden, letztlich also dem Willen Gottes, der diese inspiriert  – „got enwelle der arzat wesen“ (204). Die damit verbundene freiwillige Fügung in sein Schicksal aber steht auf tönernen Füßen: Heinrich gibt sie auf, als die Option unverhoffterweise aktivier- und greifbar erscheint. Nun ließe sich einwenden, dass – wie gesagt – jene Bewirkbarkeitsoption, wie der Arzt sie beschrieben hatte, ja eigentlich eher in den Händen des Mädchens liegt denn in denen Heinrichs. Gleichwohl schaltet der Text nun eine Handlung Heinrichs ein, an die im Gespräch des Arztes mit ihm noch nicht zu denken war und die aber – worauf erst die Tatsache vorbereitet, dass das Mädchen seinen langwierigen Argumentationsdialog mit den Eltern zu führen hat  – für die Opferung die conditio sine qua non ist: Heinrichs Einwilligung. Dass zu einem solchen Opfer nicht nur die sich hingebende Partei, sondern auch die begünstigte ihr ‚Ja‘ zu geben habe, wäre noch zur Zeit des Gesprächs zwischen Heinrich und dem Arzt tautologisch und keiner Rede wert erschienen. Doch hatte Heinrich ja just infolge seiner im Arztgespräch gewonnenen Einsicht

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in seine Ohnmacht der Krankheit gegenüber scheinbar eine retrospektive Einsicht in die schlechthinnige Vermessenheit jeden weltlich-menschlichen Handlungsanspruchs induziert. Dass er nun sein ‚Ja‘ gibt, kann  – eben weil er sich mit dem Leiden ja scheinbar längst abgefunden hatte  – nicht als tautologisch, weil als zwingende Übereinstimmung mit einer alternativlosen Handlungsoption bezeichnet werden, sondern muss als Ergebnis einer freien Wahl zwischen zwei verschiedenen Optionen gelten. Und: Jenes ‚Ja‘ lässt auch Zweifel an seiner Auffassung des eigenen Leidens als Strafe aufkommen, da er es nun ja offenbar doch für aufhebbar hält – und zwar aufhebbar nicht etwa durch Buße (die ja immerhin mit der unterstellten Ursache der Strafe zu tun hätte), sondern kraft einer vorchristlich-rituellen Bluttat, die weltimmanent von Menschen vollzogen wird und in einem geradezu mechanistischen Beschwörungsdenken Gottes Mitwirkung einkalkuliert.³² In der Annahme des Opfers durch Heinrich sehe ich mit Datz denn auch die „Manifestation und Konkretisation von Sünde“,³³ also jenes Grundzustandes von superbia als eines Potentials noch unverwirklichter Akte, um dessentwillen Heinrich mit Leid belegt worden ist. Wenn Datz sagt: „diese Selbstüberschätzung war schon in ihm, und die Krankheit hat nur aufgedeckt, wozu er notfalls imstande ist“,³⁴ dann meint er zwar nicht jene allgemeine Selbstüberschätzung des menschlichen Handlungsspielraumes, sondern die, die in der Bereitschaft zur Opferung eines anderen Lebens für das eigene liegt – doch fügt sich auch dies gut in unseren Zusammenhang. Unter diesen Umständen jedenfalls erscheint die Tatsache, dass der Text Heinrich selbst den superbia-Gedanken ins Spiel bringen lässt, umso bedeutsamer: zunächst nämlich als narrativer Anlass, auch die Frage der Willensfreiheit als Thema einzuführen  – und dann als Ausgangspunkt eines Handlungsparadoxons, das sich ergibt, sobald Heinrich hinter seine scheinbar gewonnene Erkenntnis zurückfällt. Die Sinnzuschreibung hingegen, in deren Zusammenhang Heinrich seine superbia stellt  – nämlich die reine Kausalität von Sünde und Strafe – lässt sich desto weniger als vom Erzähler stillschweigend geteilt denken. Die Reise nach Salerno treten zwei Menschen an, die sich je eine verlässliche Bewirkbarkeitsoption zum jeweiligen Eigennutz ausrechnen. Doch haben ihre beiden Eigeninteressen polar verschiedene Fluchtpunkte: Dasjenige Heinrichs ist

32 Dabei hatte doch bereits der Arzt impliziert, dass jene Heilungschance zwar zunächst einmal nicht ohne den Willen des menschlichen Opfers, erst recht aber auch nicht ohne denjenigen Gottes zu haben sei: „des sît ir iemer ungenesen,  / got enwelle [!] der arzât wesen“ (203–204, Hervorhebung C.H.). 33 Datz (s. Anm. 11), S. 226. 34 Datz (s. Anm. 11), S. 225.

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ein Eigennutz, der den höchsten Grad seiner ‚Weltverfallenheit‘ markiert, das der maget indes markiert den höchsten Grad von Weltverachtung. Mit Blick auf Hiob ist es hier bemerkenwert, dass der Text die Verhaltensdisposition des Mädchens (anders als die diejenige Heinrichs) auch dadurch qualifiziert, dass er ihr nicht weniger als achtmal die Eigenschaft der güete bescheinigt³⁵  – also die erklärte Eigenschaft Hiobs. Der Moment erst, in dem beider willentliche Absichten so dicht wie irgend denkbar vor ihrer Einlösung stehen, gerät zu jenem Augen-Blick, in dem sie sich wechselseitig aufheben. Die Inspiration hierzu ist die Nächstenliebe, und ihr Träger ist Heinrich. Das Mädchen, „dem es ganz egoistisch um die eigene Seligkeit zu tun ist, [erwirbt] dem armen Heinrich dadurch das Himmelreich, dass sie ihm die Möglichkeit zur Nächstenliebe gibt, durch die er gesundet.“³⁶ Die Zentralszene mit der conversio, in der der Arme Heinrich, von außen durchs Türloch das nackte und gefesselte Mädchen erspähend, „sin altez gemüete / in eine niuwe güete“ verkehrt, ist mit penibler Exaktheit formuliert. Wie Datz scharf beobachtet,³⁷ handelt Heinrich selbst noch in jenen Momenten, da er aus dem abgesperrten Saal die Wetzgeräusche hört und daraufhin ein Blickloch sucht, nicht etwa aus Mitleid, sondern aus Eigennutz: Es „erbarmete in vil sêre, / daz er [!] si niemer mêre / lebende solde gesehen“ (Z. 1225–1227). Erst der Anblick selbst – „nu sach er si an unde sich“ – bewirkt eine Rückkoppelung, einen Rückschluss von der (physischen wie geistig-moralischen) Verfassung seiner ‚Nächsten‘ hin auf seine eigene. Damit einhergehend und textuell aufs engste gekoppelt ist die Ausrichtung seiner Hoffnung auf Christus. Dies zwar formuliert der Text nicht explizit, doch vollzieht sich (wie Verweyen mit Recht gegen Cormeau angeführt hat) die conversio nicht – nicht nur – aus dem doch reichlich ‚weltlichen‘ Grund der erotischen Attraktion des ‚minneclichen‘ Kindes heraus. Der Leib des Mädchens, der (wie der Text durch dreifache Wiederholung des Verbs ‚sehen‘³⁸ klar markiert) als visuelles Zeichen zu lesen ist und den Heinrich in einem epiphanischen Moment auch als solches wahrnimmt, hat – „nacket und gebunden“ das Selbstopfer hinnehmend  – zum Signifikat natürlich den Leib Christi am 35 Vgl. Hempel (s. Anm. 62), S. 216. 36 Bertau, Karl: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. 1: 800–1197. München 1972, S. 711. 37 Vgl. Datz (s. Anm. 11), S. 231. 38 Mit dem ersten Mal wird motiviert, weshalb Heinrich ein Blickloch sucht (es „erbarmete in vil sere, / daz er si niemer mere / lebende solde gesehen“ (1225 ff.). Das zweite Mal beschreibt den christologisch-epiphanischen Moment: Heinrich „ersach si durch die schrunden / nacket und gebunden“. (1231 f.) Und mit dem dritten Mal vollzieht er die geistige Konsequenz: „nû sach er sie an unde sich / und gewan einen niuwen muot: / in duhte do daz niht guot, des er dô ê gedahte“ (1234–1237).

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Kreuz.³⁹ Und wenn die hierdurch ganz unmittelbar ausgelösten Gedanken Heinrichs in die Formeln des Gegensatzes zwischen ‚ê‘ und ‚nû‘, zwischen ‚alt‘ und ‚niuw‘ gekleidet daherkommen, sieht Verweyen dies plausiblerweise „in schöpferischem Bezug auf die paulinische Dichotomie ‚vetus – novus’“ gestaltet und mithin als Indiz dafür, dass von jener Erfahrung, die Heinrichs conversio auslöst, als von einem „aktualisierten […] Christusereignis zu sprechen“ sei.⁴⁰ Gleichfalls auf der lexikalischen Mikroebene erweist sich, dass diese conversio – sie ist Auslöser der zweiten Schicksalswende, wenngleich bis dahin aus noch zu zeigenden Gründen eine kleine Verzögerung erfolgt – das eigentliche strukturelle Gegenstück zur ersten Schicksalswende ist: Nur ein einziges Mal greift der Text das Verb aus „sin hochmuot wart verkeret“ wieder auf – und dies eben nicht anlässlich der zweiten Wende, sondern anlässlich der conversio. Aus der Passivkonstruktion wird ein Activum: Heinrich selbst ist es nun, der „verkerte vil drate / sin altez gemüete / in eine niuwe güete“. Heinrich, der seit der Schicksalswende stets ein Objekt der Weltkontingenz war, hat sich gewandelt zum tätigen Subjekt der Handlungskontingenz, wenngleich diese nur ein begrenztes Aktionsfeld eröffnet: nämlich die Entscheidung zur humilitas und willentlichen Unterwerfung unter Gottes Willen. Indem ihn dies in den Zustand der güete versetzt, so erklimmt er schlussendlich jene verhaltensethische Stufe, die ihm längst schon durch das Exempel Hiobs vorgegeben – und durch das Mädchen tätig vorgelebt – worden war, zu der er sich aber nicht hatte verstehen wollen. Erst jetzt, indem der Text betont, dass hierzu jenes gemüete, aus dem sich Heinrichs Verhalten bis unmittelbar zuvor noch gespeist hatte, diametral ‚verkert‘ werden muss, stellt er (im Rückbezug auf die Hiob-Erwähnung) eindeutig klar, dass jenes Verhalten stets im Zeichen jenes „leider niergent also“ (147) gestanden hatte, also des schuldhaften Abweichens von Hiobs Geduld. Und in der grammatischen Wendung – von „wart verkeret“ hin zu „[er] verkerte“  – spiegelt sich jene „Entdeckung des Selbst“⁴¹ wieder, die ihren Kontext im aufkommenden personalen Menschenbild des 12. Jahrhunderts hat. Wer aus Salerno wieder abreist, sind zwei Menschen, die ihre Bewirkbarkeitsoption nicht genutzt haben – Heinrich aus freien Stücken, die maget wider ihren Willen. Dass deren zornige Vorhaltungen auf dem Rückweg an Heinrichs

39 Eine „Kreuzigungsgeste“ sah hierin bereits Schirokauer 1951. Vgl. Schirokauer, Arno: Zur Interpretation des Armen Heinrich. ZfdA 83 (1951/52), S. 59–78. 40 Verweyen (s. Anm. 11), S. 77. 41 Vgl. Mertens (s. Anm. 1), S. 929, und allgemein Dahlgrün, Corinna: Hoc fac, et vives (Lk 10/28) – vor allen dingen minne got. Theologische Reflexionen eines Laien im Gregorius und in Der Arme Heinrich Hartmanns von Aue. Frankfurt/M. u.a. 1991, S. 12.

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Entschluss nichts mehr ändern können,⁴² erst das beweist vollends die Unumstößlichkeit seiner „niuwe[n] güete“. Und zwar nicht nur, weil Heinrich mithin um ihres Lebens willen – noch über seine bereits erwiesene Bereitschaft hinaus, das Leid seiner Krankheit zu tragen – in Kauf nimmt, die bleibende Verachtung seines so ‚minneclichen gemahels‘ ertragen zu müssen. Besonders aufschlussreich ist m. E. vielmehr, was für Vorhaltungen Heinrich nunmehr unwidersprochen zu dulden bereit ist: si sprach: ’ich muoz engelten / mînes herren zageheit. / mir hânt die Iiute misseseit: / daz hân ich selbe wol ersehen. / ich hôrte ie die liute jehen, / ir waeret biderbe unde guot / und hetet vesten mannes muot: / sô helfe mir got, si hânt gelogen. / diu werlt was ie an iu betrogen: / ir wâret alle iuwer tage / und sît noch ein werltzage! (Z. 1310–1320) dô vuor er also drate / wider heim ze lande. / swie wol er dô erkande, / daz er dâ heime vunde / mit gemeinem munde / niuwan laster unde spot: / daz liez er allez an got. (Z. 1346– 1352)

Zur Erinnerung: Nicht die Krankheit selbst war es gewesen, mit der der Erzähler Heinrichs leit hatte einsetzen lassen – sondern der damit einhergehende Ehrverlust in den Augen der werlt. Diese Vokabel ist es nun, die an dieser Stelle erstmals seit Heinrichs Schuldbekenntnis wieder im Zusammenhang mit ihm selbst erwähnt wird. Dass er sein ‚altes gemüete‘ hinter sich gelassen hat, erzeigt sich nun darin, dass er anstandslos sogar den Gedanken erträgt, das Mädchen – und potentiell alle ‚Welt‘, der es davon noch erzählen wird – könne, noch über die seit dem Fall erlittene Schande hinaus, auch noch seine zuvor gehabte êre für entwertet, negiert und zurückgenommen halten. In den Augen der ‚Welt‘ würde somit seine ritterliche Untadeligkeit nicht nur vergangen und vorbei sein, sondern sie hätte sogar eigentlich niemals bestanden. Nû hâte sich diu guote maget / sô gar verweinet und verclaget, / vil nâch hin unz an den tôt. / dô erkande ir triuwe und ir not / cordis speculâtor, / vor dem deheines herzen tor / vürnames niht beslozzen ist. / sît er durch sînen süezen list / an in beiden des geruochte, / daz er si versuochte / rehte alsô volleclîchen / sam Jôben den rîchen, [dô er in des siechen hant / bärmde unde triuwen vant / und ouch diu vil reine maget / an triuwen vant sô unverzaget / daz si benamen ir leben / in gotes güete wolde geben] / dô erzeicte der heilec Krist, / wie liep im triuwe und bärmde ist, / und schiet si dô beide / von allem ir leide / und machete in dâ zestunt / reine unde wol gesunt. (Z. 1360–1370)

An dieser Stelle nun ist Heinrich dem Exempel Hiobs, das er so lange nicht erreichen hatte können, gerecht geworden. Die letzte Erwähnung Hiobs deckt recht

42 Vgl. Datz (s. Anm. 11), S. 232.

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eigentlich erst auf, was die ersten – durch ihre Parallelkoppelung mit dem antithetischen Absalom – noch in der Schwebe gehalten hatten: die Prüffunktion des gottgesandten Leidens. Erst als Heinrich die Prüfung durchs Leiden eindeutig bestanden hat – und so nicht mehr nur im Ergehen, sondern auch im Verhalten die Analogie mit Hiob vollendet hat  –, wird dem Leser ganz zweifelsfrei expliziert, dass es eine Prüfung gewesen war, um deretwillen er hatte leiden müssen. Bezeichnend, dass es nun nicht mehr ‚got‘, sondern erstmals der ‚heilge krist‘ ist, der die Erlösung veranlasst. Direkter Grund sind die erwiesene „triuwe und bärmde“ nicht etwa nur Heinrichs, sondern beider Beteiligten, die sich durch ihre solcherart ‚im Werk‘ erwiesenen Tugenden in die imitatio Christi gestellt haben. Auf Seiten Heinrichs honoriert er die selbstlose Nächstenliebe, zu der sich der potentielle Profiteur des Opfers beim Anblick der christusgleich sich Opfernden verstanden hatte; im Fall der sich Opfernden honoriert er offenbar die Nächstenliebe gegenüber Heinrich sowie den Eltern in Verbindung mit ihrer Verachtung der weltlichen Kontingenzsphäre. Zu betonen ist hier, welch entscheidende Rolle dem liberum arbitrium zukommt, jenem gemäß Augustinus  – in der binären Entscheidungssituation  – freien Willen, den als Thema aufzubringen Heinrich in seiner Selbstbezichtigung vorbehalten war – bei Gelegenheit seiner Klage über den einstmaligen falschen Gebrauch desselben: Auf sein vergangenes Glück blickt er da zurück als auf eine Zeit, da „niemen / sîn willen baz hât“ (Z. 390) denn er selbst, der dabei jedoch gewähnt habe, er könne „êre unde guot / âne got“ (Z. 399f.) haben. Mit seinem Heilungsverzicht hat Heinrich von seiner Entscheidungsfreiheit ‚rechten‘ Gebrauch gemacht, und zwar irreversibel. Durch eine Willensentscheidung, die die finale Abkehr von weltlichen Prioritäten bedeutete, hat er den ihm zustehenden Spielraum subjektiver Kontingenz in gottgefälliger Weise genutzt. Mit dem selbstlosen Verzicht auf jene Handlungsoption, die ihm jene superbia, in der er weiterhin befangen gewesen war, bis zuletzt in Aussicht gestellt hatte, hat er sich auch von dieser superbia abgewandt – und zwar ebenso unwissentlich, wie er, der sie ja bereits büßend reflektiert zu haben glaubte, seither dennoch in ihr befangen gewesen war. Das Ausmaß der dadurch erzeigten Demut stellt sich umso größer dar, als Heinrich ja im Moment seines Verzichts keinerlei Erwägungen dahingehend verfolgt hat, sein Handlungsspielraum sei möglicherweise ohnedies kleiner, als er sich das eingeredet habe – vielmehr hat er sich die volle von ihm selbst präsupponierte Breite seines Handlungsspielraums willentlich beschnitten (und mithin verworfen), indem er darauf verzichtete, sie auszureizen. Und Gott „bestätigt […], dass sein Wollen richtig war: er prämiert die autonome Entscheidung.“⁴³

43 Mertens (s. Anm. 1), S. 886.

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Wenn Mertens im selben Sinne als theo-anthropologische Moral des Textes formuliert: „Was der Mensch leisten kann und muss, ist die willentliche Annahme der eigenen Ohnmacht – darin liegt seine Autonomie“,⁴⁴ so schließe ich mich dem umso lieber an, als es sich auch durch ein Postulat Karl Heinz Borcks stützen lässt. Im Vorfeld seiner standesübergreifenden⁴⁵ Liebesehe mit dem Mädchen bemerkt Heinrich über seine verhinderte Retterin: „Nû ist sie vrî als ich dâ bin“ (Z. 1497). Diese Feststellung wird gern als standesrechtliche Aussage gelesen, wobei die Interpretationen dahingehend differieren, ob sie im Indikativ eines einklagbaren Rechtsanspruchs zu verstehen sei oder im Optativ eines kontrafaktischen, aber dem Geist der Kirchenreform sehr nahestehenden Postulats. In unserem Zusammenhang ist interessant, was Borck für Letzteres votieren lässt. Er liest in dem Attribut ‚vrî‘ – darauf beharrend, dass im sozialhistorischen Kontext jegliche Ebenburt zwischen Edelfreien und Freibauern ausgeschlossen sei  – einen Freiheitsbegriff im paulinischen wie augustinischen Sinne des ‚Tugendadels‘: „ubi autem spiritus Domini, ibi libertas“ (2 Kor, 3,17). Frei sei demzufolge, „wer gelernt hat, vom liberum arbitrium den rechten Gebrauch zu machen, und unter der Mitwirkung der Gnade Gottes ein neues Dasein gewonnen hat. Freiheit besteht und bewährt sich gerade in der Bindung an Gott.“⁴⁶ Hinzuzufügen wäre dem nur noch eines: Wenn sich, wie hier mit Borck angenommen sei, die standesunabhängige Freiheit der dignitas hominis im Gegensatz zur Freibürtigkeit der nobilitas carnis im besagten Sinne erweist, dann wäre es

44 Mertens (s. Anm. 1), S. 886. 45 Diese kann nach rein ständischen Gesichtspunkten zwar womöglich für das Mädchen, das sich gesellschaftlich verbessert, als innerweltlicher Lohn gelten (vgl. Mertens, S. 882, der vermutet, dass es eben dieser anzupeilende narrative Schlusspunkt ist, um dessentwillen Hartmann den Standesunterschied zwischen Erlösungsbedürftigem und Erlöserin überhaupt erst einführt – der an sich nicht notwendig wäre, weder mit Blick auf die dem Text vorgängige ToposTradition anderer „Opfergeschichten“ – vgl. Ruh – noch auf die im Text selbst genannten Bedingungen für Heinrichs Heilung), für Heinrich indes, da er sich verschlechtert, nach demselben Maßstab gerade nicht. Nicht unerwähnt soll hier bleiben, daß dieser Aspekt für Lesarten, die anders als unsere nicht textimmanent, sondern (mit eigenem Recht) sozialpsychologisch vorgehen, von eigenem Gewicht ist: Verbreitet ist die Annahme, der ‚Ministeriale‘ – also niedere Adelige – Hartmann habe in seinem „von ouwe gebor[enen]“ Heinrich einem leiblichen Vorfahren die passende Legende zur Überhöhung einer nicht standesgemäßen Eheschließung gestrickt, als deren Folge die Nachkommen – und somit auch Hartmann – in einen niedrigeren Rang geboren wurden als ihr Ahn selbst. Vgl. u.a. Mertens (s. Anm. 1), S. 993. 46 Borck, Karl Heinz: Nû ist sie vrî als ich dâ bin. Bemerkungen zu Hartmanns „Armem Heinrich“, v. 1497. In: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dietrich Huschenbert u.a. S. 37–51; S. 45.

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zum Schluss mit mindestens ebenso gutem Recht an der maget, zu sagen: ‚Nû ist er vrî als ich dâ bin‘. Denn wen von beiden der Text als Träger eines gottgefälligen Willens privilegiert, das zeigt – eindeutig und durchgängig – wiederum die Lexem-Ebene: von Wille, Wollen und Willentlichkeit spricht der Text insgesamt 49-mal. Allein 26 dieser Stellen beziehen sich auf das Mädchen – auf Heinrich indes nur sechs. Die erste unter diesen sechs Stellen ist die zitierte aus der Selbstanklage, Z. 389, in der Heinrich rückblickend seinen einstigen ‚willen‘ zwar bereits in die Nähe des erkannten superbia-Problems rückt, aber noch zu sehr in der Fehlmeinung befangen ist, ihn als reines Privileg innerweltlicher Durchsetzungsstärke zu sehen, als dass er in dieser Fehlmeinung selbst den Kern seines wahren Problems erkennen könnte. Seine erste autonome Willensbekundung folgt dann erst in Zeile 1256 – und sie ist keine geringere als jene, mit der sich sein Schicksal wendet: „ich enwil des kindes tot niht sehen“. In den vier dann noch folgenden Stellen steht Heinrichs Wille jeweils im Einklang mit der „niuwe[n] güete“ des Geläuterten. An dieser Stelle sei nun noch einmal zurückgekehrt zur Engführung von Hiob und Absalom. Wir haben sie oben behandelt als einen narrativen Kunstgriff, der den Rezipienten zunächst in Unklarheit darüber lässt, ob Heinrichs Leid als Strafe oder Prüfung zu verstehen sei. Sie erfüllt aber auch noch eine weitere Funktion, und zwar im Zusammenhang mit einem Zitat aus der ‚schrift‘: sîn hôchmuot wart verkeret  / in ein leben gar geneiget.  / an im wart erzeiget,  / als ouch an Absalône, / daz diu üppige krône / werltlîcher süeze / vellet under vüeze / ab ir besten werdekeit, / als uns diu schrift hât geseit. ez sprichet an einer stat dâ: / ’mediâ vîta / in morte sûmus’.  / daz diutet sich alsus,  / daz wir in dem tôde sweben,  / sô wir aller beste waenen leben. (Z. 82–96, Hervorhebung C.H.)

An dieser Stelle also weist Hartmanns Text die Erzählung, die er liefert, als einen Metatext zur schrift aus (was an sich nicht überrascht, schon angesichts des Exordialtopos mit den buochen) und zwar konkret zu einer Sentenz, die er palintextuell und wortwörtlich zitiert. Klar wird: Das lateinische Zitat und die ihm direkt voraufgegangene Parallelisierung von Heinrich und Absalom stehen im Verhältnis von allgemeiner Lehre und konkreter Exemplifizierung. Dass sich ein und dieselbe Didaxe sowohl „an im“ erfüllt „als ouch an Absalone“ (und am anschließend genannten Hiob), unterstreicht ihre invariante Gültigkeit: Weder die langen historischen Zeiträume noch die diametralen verhaltensethischen Gegensätze, die zwischen den Figuren liegen, bedingen, dass eine von ihnen jenem Grundsatz nur im geringsten mehr oder weniger verpflichtet wäre als die übrigen. Eine Zeitund Verhaltensneutralität, die ohnedies bereits in der pauschalierenden ersten Person Plural steckt (‚sumus‘/‚wir‘). Um welche Didaxe aber geht es? Dem als ‚diu schrift‘ bezeichneten Korpus wurden zu Hartmanns Zeiten auch deuterokanoni-

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sche, etwa patristische Texte zugerechnet;⁴⁷ in diesem Fall geht es um den Text einer Antiphon,⁴⁸ die aus häufigem liturgischem Gebrauch heraus sehr bekannt war und Notker von St. Gallen zugeschrieben wird. Wie man sieht, behält sie die universalisierende Pluralform auch im Kontext bei: Media vita in morte sumus, / quem quaerimus adjutorem / nisi te, domine, / qui pro peccatis nostris / jure irasceris. / Sancte deus, sancte fortis / sancte et misericors salvator, / amarae morti ne tradas nos.⁴⁹

Umso mehr durch die Konnotation dieses Prätextes, die Hartmanns Zitat beibringt, kann man mit Mertens ein Leid-Verständnis dahingehend vorgegeben sehen, dass Heinrichs „Verhalten in der Todesdrohung“ entscheidend sei, nicht hingegen „eine vorgängige Fehlhaltung Heinrichs“.⁵⁰ Zu ergänzen wäre: nicht eine spezifische Fehlhaltung Heinrichs, sondern die, die er zum narrativen Zeitpunkt des Zitats mit beiden antipodischen Bibeltypen gemein hatte – ein Leben auf dem Gipfelpunkt ‚werltlicher süeze‘. Wer und wie auch immer diesen Gipfel erreicht hat, so die These, die das Zitat aufwirft, dem steht der Fall bevor – eine anthropologische Universalie. Was Hartmann darauf folgen lässt, ist eine Auflistung von Natur- und Dingmetaphern, die so gleichmäßig jeweils für sich das Schema ‚Aufstieg/Fall‘ illustrieren, dass sie diesem – noch über das Anthropologische hinaus – vollends die mechanistischen Züge eines Naturgesetzes verleihen. Nur am Rande sei hier festgestellt, das eine jener Metaphern dem Hiobbuch entlehnt ist: wir sîn von brœden sachen. / nû sehet, wie unser lachen / mit weinen erlischet. / unser süeze ist gemischet / mit bitterer gallen. / unser bluome der muoz vallen, / so er allergrüenest wænet sîn. / An herrn Heinrich wart wol schîn: / der in dem hœhsten werde / lebet ûf dirre erde, / derst der versmâhte vor gote. / er viel von sînem gebote / ab sîner besten werdekeit / in ein versmaehelîchez leit. (Z. 105–118)⁵¹

47 Vgl. Wackernagel (s. Anm. 16), S. 65. 48 Vgl. Wackernagel (s. Anm. 16), S. 65, und Mertens (s. Anm. 1), S. 909. 49 Zit. nach Mone, Franz Joseph: Lateinische Hymnen des Mittelalters, aus Handschriften herausgegeben und erklärt. Erster Band: Lieder an Gott und die Engel. Freiburg/Brsg. 1853 (Nachdruck 1964)., S. 397f. 50 Mertens (s. Anm. 1), S. 909. 51 Vgl. Hiob 14, 1–2. In der Vulgata: „homo natus de muliere brevi vivens tempore repletus multis miseriis quasi flos egreditur et conteritur […] et numquam in eodem statu permanet“; Luther: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht“.

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Ersichtlich wird: Die ‚Erhöhtheit‘ eines Menschen ist eins mit seiner Prädestiniertheit zum Fall. Für diese Prädestination ist nicht entscheidend, auf welche Weise, mit welchem eigenen Zutun (oder in welchem Glauben eigenen Zutuns) der Erhöhte erhöht wurde, sondern schlicht, dass er es wurde. In diesem Sinne und darüber hinaus scheint mir eine figura etymologica Hartmanns klarzumachen: Wenn, wer auf dem Gipfel weltlichen Wohllebens anlangt, hiermit unvermeidlicherweise zum „versmahte[n] vor gote“ (Z.  115) wird und von diesem dann in ein (in den Augen der Weltbewohner!) „versmaehelîchez leit“ (Z. 118) gestoßen wird, dann ist der Zusammenhang beider aufeinanderfolgender Zustände nicht ein kausaler wie bei Sünde und Strafe. Nicht nur das von manchem im Armen Heinrich manifestiert gesehene narrative Schema ‚Fall – Bekehrung‘ ist somit relativiert, sondern auch im umgekehrten Sinne liefert der Text keine erzähltopische Variante irgendeines Tun-Ergehen-Zusammenhangs: Wenn (Heinrichs wie Hiobs) gutes Ergehen hier nur als Vorlauf in einem Automatismus interessiert, der anschließend schlechtes Ergehen folgen lässt, dann ist es auch seinerseits nicht als Folge guten Tuns zu werten. Die Deutungen, die das Schema Fall und Bekehrung verwirklicht sehen, stützen sich zum guten Teil darauf, dass sie Glück und Gnadenstand direkt kausal verknüpft sehen. Hartmann hat aber offensichtlich keine einfache Formel bereit […]. [Es ist] kein sicheres Zeichen der Rechtfertigung vor Gott, im Glück zu leben, sondern oft das Gegenteil. Diese Anfechtung muss der Gerechte tragen, wie auch Job diese Diskrepanz erdulden und seine Freunde zurückweisen mußte.⁵²

Der Text suggeriert vielmehr, dass Gott einen vor- wie nachher unverändert schlechten innerlichen Zustand Heinrichs, den aber zunächst nur er hochselbst als schlecht wahrnimmt (die werlt indes  – weil an ein gutes irdisches Erscheinungsbild geknüpft – gerade nicht), mit einem veränderten – nämlich adäquat schlechten – irdischen Erscheinungsbild zur Deckung bringt: Erst anhand dessen können dann auch der Betroffene und seine Mitmenschen ihre Schlüsse ziehen.⁵³ ‚Weltliche‘ und göttliche Wertung ein und desselben (nämlich: Glücks-)Zustandes sind notwendig diametral verschieden. Nicht, weil der Erwerb weltlicher Güter an sich Unrecht wäre, sondern weil diese an sich – im negativen Sinne Haugs – kontingent sind. Eine Kontingenz, die Heinrich erst bei seiner conversio erkennt: Wie sich nachher zeigt, ist er soweit gelangt, dass ihn nicht einmal mehr eine

52 Cormeau (s. Anm. 21), S. 132 f. 53 Um hier auf Maurer zurückzukommen: Der Begriff ‚smaehelich‘ fungiert eben gerade nicht dazu, anhand in ihm konnotierter vorchristlicher Ehrkodices den Strafcharakter des Leidens zu betonen, sondern im Gegenteil als rhetorisch-suggestives Argument für seinen erzieheriscnen Wert.

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drohende Revision des Urteils der Welt über seine Tugend vor dem Fall schrecken kann. War er vor dem Fall in den Augen der Welt gut und in den Augen Gottes schlecht, war er dann nach der Prüfung in beider Augen schlecht, so ist er nun nur noch in der Welt Augen schlecht, in denen Gottes jedoch gut. Hatte er sich zunächst aus Scham von der Welt isoliert, weil er deren Spott nicht vertrug, so isoliert er sich jetzt freiwillig von der Welt dadurch, dass er die – per definitionem einsame – Sicht Gottes einzunehmen gelernt hat: „swaz dô scheltens ergienc, / der arme Heinrich ez emphienc  / als ein vrumer ritter sol  / tugentlichen unde wol, / dem schoener zühte niht gebrast“ (Z. 1337–1341). Der Text markiert es klar und deutlich – nicht zuletzt dadurch, dass er Heinrich, wiewohl der seine conversio ja schon hinter sich hat, noch ein letztes Mal als ‚arm‘ bezeichnet: Der Held wird hier, durch die Anwürfe der maget, einer letzten Prüfung unterzogen. Geprüft wird seine neu erworbene, wahre (und von seiner vergangenen, eingangs noch so gelobten verschiedene) Form der Tugend als ‚vrumer riter‘. Und diese Tugend bestätigt sich darin, dass er keinen hochmuot, also keinen Einklang zwischen sittlicher Güte und weltlichem Ansehen mehr genießen kann und vor allen Dingen auch nicht mehr mag (und nicht mehr nur, wie noch vor dem Opferangebot der maget, aus schierer Resignation mangels Bewirkbarkeit heraus), sondern dass ihm die erstere ausreicht, um sich vom Bedürfnis nach letzterem abzunabeln. Heinrich ist unabhängig geworden nicht nur von den Gütern der werlt (im Sinne der materiellen Dinge), sondern auch vom Urteil der werlt (im Sinne einer diesen Gütern verfallenen, gottfernen Menschheit). Das kontingente Schicksal selbst hat ihm klargemacht, in welch kontingenten Sphären er sich aufgehalten hatte, und ihm dazu verholfen, aus diesen auszutreten. Was die Welt von ihm denken möge, „daz liez er allez an got“ (Z. 1352) – und siehe da: Nun erst erbarmt sich der cordis speculator, er beendet die Prüfung, der er Heinrich „sâm Jôben“ unterzogen hat, und bereits in Z. 1372 ist das titelgebende Attribut Geschichte. Aus dem armen Heinrich ist wieder der herre Heinrich geworden, mehr noch: „der guote herre Heinrich“. Liest man Hartmanns Erzählung wie wir – also von ihren Hiob-Intertexten her sowie anhand der Leitfrage, in welche ‚Kontingenzfelder‘ sie ihren Protagonisten stellt und welchen Status darin sie ihm zuerkennt –, dann liegt es nahe, eine These Karl Dieter Goebels von 1976 aufzugreifen, die bislang wenig Resonanz erfahren hat: nämlich, dass ein wichtiger Subtext des ,Armen Heinrich‘ die ,Consolatio Philosophiae‘ des Boethius sei. Hierzu sei an dieser Stelle ein kleiner Exkurs gestattet. Die Consolatio bewegt sich zwar teils im Rahmen einer etablierten Gattung christlicher Trostliteratur, die meist beim Leid des einzelnen ansetzte, um es in stoizistischer Manier letztlich auf eine unangemessene Wertschätzung jener irdischer Glücksgüter zurückzuführen, ohne die es kein Leid gebe. Neu bei Boethius

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ist, dass er in den christlichen Kontingenzdiskurs eine heidnische Allegoriefigur einspeist: die Fortuna. Dies tut er übrigens unter weidlichem Rückgriff auf RedeTopoi aus dem Hiobbuch, etwa der Verfluchung der eigenen Geburt, der Schöpfungsrevue, der Klage über die Ungerechtigkeit der Welt und insbesondere des Vergleichs früheren Glücks mit gegenwärtigem Unglück. Die personifizierte Philosophie, die dem so klagenden Boethius im Kerker erscheint, in dem er trotz selbstlosen staatspolitischen Engagements durch gegnerische Intrigen gelandet ist (der Autor hat ihn denn auch nicht mehr lebend verlassen), die Philosophie also verweist ihn auf die Figur der Fortuna mit dem Rad. Zunächst weist der Gefangene noch der Fortuna die Alleinschuld an seinem Zustand zu und klagt Gott an, dieser habe zwar (hier die Schöpfungsrevue) dem Himmel und der Erde eine festgefügte Gesetzesordnung auferlegt, doch ausgerechnet den Menschen einem Geschick ausgeliefert, das hiervon ausgenommen ist und nur Willkür und Regellosigkeit kennt (vgl. Consolatio 1, S. 21–23). Philosophia indes leitet ihren Trostweg damit ein, dass sie das Bild zurechtrückt, das der Gefangene sich von Fortuna macht: „…du meinst, daß das Glück sich dir gegenüber verändert habe. Aber da irrst du! Das war immer seine Art und seine Natur. Es zeigte sich gegen dich so, wie es immer ist, das heißt eben: veränderlich.“ (vgl. Consolatio 2, S. 30.) Die irdischen Glücksgüter, die sie spendet, sind nur leihweise zu haben und nicht ohne den mechanistisch notwendigen Umschwung ins Unglück, der die geliehenen Güter wieder entziehen wird: „Steige in die Höhe, wenn du willst, aber unter der Bedingung, daß du es nicht für eine Ungerechtigkeit hältst, wenn du, sobald es mein Spiel so mit sich bringt, auch wieder herabstürzen mußt!“ (vgl. Consolatio 2, S.33.) In der Erkenntnis über das notwendig willkürliche Wesen der Fortuna liegt nun aber genau die Funktion, in die hineingestellt man die Fortuna als Werkzeug Gottes aufzufassen habe: Ab dem Moment, da sie ihre Glücksgüter wieder entzieht, enthüllt sie dem Menschen, der sich nun der Willkür ausgeliefert sieht, ihr wahres Wesen und veranlasst ihn mithin zur Selbstüberprüfung und zur Hinwendung zu jenen Gütern, die nicht von ihr stammen und die sie demzufolge auch nicht entziehen kann.⁵⁴ „Das Zufällige gibt […] den Anstoß, aus dem Bereich des Kontingenten auszutreten“,⁵⁵ dem der Mensch also eben nicht ausgeliefert sei, wenn er nicht selbst wolle. Indem Boethius die Fortuna, die im antiken Verständnis die unhintergehbare Willkür schlechthin war,⁵⁶ an den Heilsplan des christ-

54 Vgl. Frakes 35. 55 Haug (s. Kap. 1, Anm. 16), S. 154. 56 … und deren Verehrung noch den Spott der Kirchenväter auf sich gezogen hatte. Augustinus sinngemäß: Der personifizierten Willkür Opfer zu bringen, damit sie von willkürlichem Handeln absehe, sei zwecklos. Vgl. Haug (s. Kap. 1, Am. 16), S. 152.

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lichen Gottes knüpft, schafft er eine breite Zone zulässiger objektiver Kontingenz innerhalb der Inkontingenz, anders gesagt: einen Raum innerhalb der Schöpfungsordnung, in dem das durch Notwendigkeit Geregelte suspendiert ist und nur die eine Regel herrscht, dass es keine gibt. Diese objektive Kontingenzzone „nimmt alles Negative in sich auf“;⁵⁷ allerdings kann der Mensch sich ihr entziehen, und Gott selbst ist ihr ohnedies entzogen: „Insofern die Fortuna diese Lizenz zum Negativen besitzt, entlastet sie Gott von der Verantwortung für das Sinnwidrige, das in Welt und Geschichte geschieht.“ Die subjektive Kontingenz indes ist weiterhin auf einzelne Entscheidungspunkte begrenzt und noch kein völlig offener Erfahrungsraum: „Das von Providentia Vorgesehene erlebt der Mensch in seiner Zeit als Fatum, als unabänderliches Schicksal. Für den freien Entschluß des Menschen […] bleibt nur das schmale Feld, das Fortuna schon beherrscht.“⁵⁸ Doch eine Entwicklung in Richtung auf einen solchen offenen Erfahrungsraum ist nun gangbar  – und vor allem: die positive Wertung eines solchen ist nicht mehr undenkbar. „In dem Maße, in dem man wieder mit einem Kontingenzbereich rechnet, in dem das Zufällige positiv oder negativ sein kann, im selben Maße öffnet sich ein Freiraum für eine positive Lebensgestaltung und damit auch für eine Sinnfindung in einem offenen Horizont.“⁵⁹ Die häufige leitmotivische Wiederkehr dreier raumdynamischer Metaphern ist es, die Goebel veranlasst, hinter ihnen ein zentrales Motiv zu sehen, eine integrierende Gesamt-Struktur: zum ersten die gereihten Superlative, die Heinrichs Glanzleben als höchste Stufe einer – implizit hinzuzudenkenden – Aufstiegsbewegung verbildlichen. Zum zweiten das Motiv der ‚Mitte‘, das einen Umschlagspunkt postuliert, der mit mechanistischer Zwangsläufigkeit auf ebenjenem höchsten Punkt erfolgt. Und zum dritten das Motiv der ‚Fall‘-Bewegung als Folge des Umschlags (das in unserem Zusammenhang bereits Prominenz als tertium comparationis zwischen Heinrich, Hiob und Absalom erlangt hat). Dieses Zentralmotiv ist die Radbewegung, die an Boethius‘ Fortuna-Figur gemahnt. Hinzu zieht Goebel noch weitere Attribute, die die von Heinrich genossenen Glücksgüter qualitativ werten: ihre vielmals betonte ‚Weltlichkeit‘ – die Boethius kategorisch als Zustandsbereich der Fortuna ausweist – und, als Eigenschaft wiederum aller weltlichen Güter, die Unbeständigkeit, die u.a. in der oben zitierten Beispielreihung variiert wird.⁶⁰ Des weiteren tritt hinzu, dass Fortuna systema-

57 Haug (s. Kap. 1, Anm. 16), S. 154. 58 Pickering, Frederik P.: Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit. Berlin 1967, S. 35. 59 Haug (s. Kap. 1, Anm. 16), S. 156. 60 Goebel, K. Dieter: Boethii „Philosophiae Consolatio“ und Hartmanns „Armer Heinrich“. ZfDPh 95 (1976), S. 39–60; insb. S. 43–46.

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tisch für die „Verkennung“ ebenjener „wahren Seinsart“⁶¹ ihrer Güter durch jene Menschen sorgt, die sie genießen. Und dass Heinrich ebendiese verkennende Optik überwindet, erst das gibt, wie soeben gezeigt, den letzten Ausschlag für seine Wiedererhöhung. Wiewohl Goebels zahlreiche Stellenbeispiele je für sich und en detail keine zwingenden, palintextuellen Verweise auf die ,Consolatio‘ in deren konkreter Textgestalt beibringen (und es auch nicht versuchen), so scheinen sie mir doch in summa sehr plausibel zu machen, dass Hartmanns Erzählung als Similtext zur ,Consolatio‘ aufgefasst werden kann. Welche beiden gemeinsame Prämisse – gemeinsam in bezug auf das personale Menschenbild wie auf die große Linie der Moral- und Geschichtstheologie  – beide Texte narrativ variieren, das könnte kaum besser abstrahiert werden als mit den Worten Haugs über die ,Consolatio‘: Das Zufällige gibt […] den Anstoß, aus dem Bereich des Kontingenten auszutreten. Das Ziel des damit eröffneten Weges ist die Überwindung der Verfallenheit an das Vergängliche und die Einigung mit dem Göttlichen, die „adeptio divinitatis“.⁶²

Oder, mit Boethius selbst zu sprechen: Ich glaube nämlich, dass den Menschen ein widriges Geschick mehr als ein günstiges nützt. […] [D]ieses täuscht; jenes belehrt. Dieses bindet die Seelen der Genießenden mit dem Scheine lügnerischer Güter; jenes löst sie durch die Einsicht in die Gebrechlichkeit jener Glückseligkeit.⁶³

Um die Frage, ob unter ‚den buochen‘, die der gelehrte Erzähler zum Verfassen des seinigen heranzogen haben will, nun auch die ,Consolatio‘ war oder nicht, kann es natürlich nicht gehen. Als sicher aber darf angesehen werden – und dies könnte gleichwohl sogar noch Stoff für vertiefte Forschungen bereithalten –, dass Boethius‘ Fortuna-Konzeption im zeitgenössischen Diskurs präsent war: In eine (althoch-)deutsche Form, die auch ihre letzten neuplatonischen Elemente vorbehaltlos christianisierte, war die ,Consolatio‘ erst im 9. Jahrhundert gebracht worden – und zwar von ebenjenem Notker von St. Gallen, dem auch die ‚media vita‘-Sentenz zugeschrieben wird. Ein künftiger textkritischer Direktvergleich des ,Armen Heinrich‘ mit Boethius müsste – anders als Goebel es tut – auch Notkers Adaption mit einbeziehen.

61 Goebel (s. Anm. 60), S. 48. 62 Haug (s. Kap. 1, Anm. 16), S. 154. 63 Boethius: Trost der Philosophie. Hrsg. und übersetzt von Ernst Gegenschatz/Olof Gigon. Düsseldorf/Zürich 62002, S. 87.

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Und wenn – wie Hartmanns Text es nahelegt – Hiob mit seiner ‚geduldikeit‘ als ein Muster des rechten Verhaltens im Umgang mit didaktischen (in Boethius‘ Worten: von Fortuna im Sinne Gottes exekutierten) Leiderfahrungen gelten muss, als jenes Muster also, dem Heinrich zunächst nicht gerecht wird, dann ließe sich die anhand einer so verstandenen Hiob-Figur einzuklagende Haltung – „dez lobete er got und freute sich“  – kaum besser motivieren als mit den Worten, die Boethius die Fortuna selbst sprechen lässt: Quid si hec ipsa mea mutabilitas . tibi est iusta causa sperandi meliora? Uuáz úbe dísêr stúrz . tíh tûot mit réhte díngen des pézeren? Álso dîe álle mit réhte díngent tes pézeren . qui persecutionem patiuntur propter iustitiam . uuánda sie dés te sâligeren sínt. (Was, wenn gerade meine Wechselhaftigkeit für dich ein guter Grund ist, auf Besseres zu hoffen? Was, wenn dieser Sturz dich mit Recht besseres erhoffen läßt? Wie alle diejenigen mit Recht auf Besseres hoffen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung erleiden, weil sie umso seliger sind.)⁶⁴

Zusammenfassend betrachtet, liest sich die Erzählung vom ,Armen Heinrich‘ somit als ein ins Zeitkolorit der Hartmannschen Gegenwart versetztes SubExempel zum biblischen Exempel, als eine Paraphrase des Hiobbuchs (immer vorausgesetzt: dessen Lesart als Exempel, das klaglose Dulderschaft im Leid propagiert), die erzählt, wie ein Mensch die von Hiob topisch verkörperte ideale Verhaltensnorm zunächst nicht erfüllt, schließlich aber doch. In unserem Zusammenhang nun ist zweierlei von weiterführendem Belang. Erstens: die Sinngebung des Leidens – denn die Formel „daz er si versuochte“ spricht klar für einen didaktischen, einen Prüfungs-Wert des Heinrich von Gott zugefügten Leidens (im Sinne des Rahmenteils im Hiobbuch). Und zweitens: Der Willensakt, durch den Heinrich unwillentlich seine Erlösung einleitet. Beide Aspekte sind aufschlussreich, wenn man den ,Armen Heinrich‘ als literarisches Dokument eines zeitgenössischen theo-anthropologischen Verständnisses von Kontingenz auffassen will  – der Aspekt höherer Sinngebung für die objektive Weltkontingenz, der Willensakt Heinrichs für die subjektive Sphäre der Handlungskontingenz.

64 Notker (von dem auch die interlinearen Kommentare stammen) hier zit. nach Hehle, Christine: Boethius in St. Gallen. Die Bearbeitung der „Consolatio Philosophiae“ durch Notker Teutonicus zwischen Tradition und Innovation. Tübingen 2002, S. 210.

4 Diskussionen als Geduldsprobe. Johannes Lorichius: ,Iobus patientiae spectaculum‘ (1543) und Hans Sachs: ,Ein Comedi […] der Hiob‘ (1547) Um den Stellenwert des Hiob-Stoffes im deutschen Humanismus und Reformationszeitalter zu illustrieren, bietet sich eine vergleichende Doppel-Lektüre zweier bestimmter Dramen an. Dem Drama kommt eine Schlüsselrolle im literarischen Diskurs sowohl des Humanismus als auch (spätestens seit seiner ausdrücklichen Befürwortung durch Luther)¹ der Reformation zu – seiner entschieden wirkungsästhetischen Qualitäten wegen, die es zu einem didaktischen Leit-Transportmedium für das jeweilige innovative Gedankengut machten: „Die dramatischen Formen wurden neben dem Kirchenlied und der Flugschrift zur wichtigsten Gattung der literarischen Epoche.“² Die beiden Texte, die in Rede stehen, sind ein lateinisches Schuldrama, das bis heute nicht in deutscher Übersetzung vorliegt und in humanistischem Geist für eine Marburger Terenzbühne verfasst wurde, und ein deutschsprachiges Stück, verfasst in protestantischem Geist für die Nürnberger Handwerkerbühne:

1 „Comödien zu spielen soll man umb der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich, dass sie sich uben in der lateinischen Sprache; zum Andern, dass in Comödien fein künstlich erdichtet, abgemalet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet, und ein Jglicher seines Ampts und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, Junggesellen und Alten gebühre, wohl anstehe und was er thun soll […]. Und Christen sollen Comödien nicht ganz und gar fliehen, drumb, dass bisweilen grobe Zoten und Bühlereien darin seien, da man doch umb derselben willen auch die Bibel nicht dürfte lesen.“  – Martin Luther in einer Tischrede auf die Frage, ob sich Komödien des Terenz für den Schulgebrauch eigneten. Zit. nach Dittrich, Paul: Plautus und Terenz in Pädagogik und Schulwesen der deutschen Humanisten. Leipzig 1915, S. 28. 2 Thomke, Hellmut: Kommentar. In: Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Hellmut Thomke. Frankfurt/M. 1996, S. 901.

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Johannes Lorichius’ ,Iobus, Patientiae Spectaculum, in Comoediam redactus‘ (1543)³ und Hans Sachs’ ,Ein Comedi, mit neunzehen personen, der Hiob‘ (1547).⁴ Diese beiden Stücke sind zwei von vier⁵ auf uns gekommenen Theater-Adaptionen des Hiob-Stoffs, die binnen nur zwölf Jahren im deutschsprachigen Raum des mittleren 16. Jahrhunderts im Druck erschienen – eine Häufung, die als Symptom gesteigerter zeitgenössischer Aufmerksamkeit für die im Hiobbuch verhandelten Themen gelten darf. Denn zwar gab es in der (Gegen-)Reformationszeit die Tendenz, generell alle möglichen biblischen, namentlich alttestamentlichen⁶ Themen in populärer Form (und im einen oder anderen konfessionellen Interesse) zu verhandeln, was für die ‚Stoffe‘, also die irgend narrativen oder narrativisierbaren unter den biblischen Büchern, stets auch hieß: sie auf die Schul- und Volksbühnen zu bringen. Und zwar ist speziell bei der Lektüre des Sachsschen Hiob-Stücks mitzubedenken, dass es Teil eines vom Autor auf Vollständigkeit angelegten (und diese auch nahezu erreichenden) Korpus von Bibelbuch-Dramatisierungen ist. Doch darf für das 16. Jahrhundert bereits jede erfolgte Drucklegung per se als Ausweis gesteigerter Popularität gelten.⁷

3 Lorichius, Johannes: Iobus patientiae spectaculum. In: Dramata sacra: comoediae atque tragoediae aliquot e Veteri Testamento desumptae, quibus praecipuae ipsius historiae ita eleganter in scenam producuntur, ut vix quicquam in hoc argumenti genere iuventuti Christianae proponi utilius possit ; magna parte nunc primum in lucem editae. Hrsg. von Johannes Oporinus. Basel 1547; S. 50–107. Im Folgenden bei Textnachweisen mit ‚IPS‘ abgekürzt. Längeren Zitaten sind deutsche Übersetzungen hintangefügt, die ich selbst erstellt habe – mit tatkräftiger Unterstützung durch Hildegard Heydenreich, der ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. 4 Sachs, Hans: Ein Comedi, mit neunzehen personen, der Hiob, und hat 5 actus. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Adelbert v. Keller/Edmund Goetze. Stuttgart 1870–1908. Sechster Band. Stuttgart 1872, S. 29–55. Im Folgenden bei Textnachweisen mit ‚CdH‘ abgekürzt. 5 Die übrigen: Jacob Ruoffs Die ‚beschreybung Jobs‘ deß frommen gottsförchtigen und geduldigten Mannes Gottes (1535) und Johan Narhamers Historia Jobs (1546). Bei Albrecht ist die Rede von sechs Dramen  – vier deutschen und zwei lateinischen  –, ohne dass diese freilich genau benannt würden. Vgl. Albrecht, Gustav: Die alttestamentlichen Stoffe im Schauspiel der Reformationszeit. In: Deutsche Dramaturgie. Zeitschrift für dramatische Kunst und Literatur. 4. Jgg., 1897, S. 8–14 und 33–37; S. 35. 6 Namentlich alttestamentliche Stoffe zum einen deshalb, weil diese erst mit Luthers deutscher Bibelübersetzung allgemein verfügbar geworden waren – im Gegensatz zu den neutestamentlichen Stoffen wie der Weihnachts- und der Passionsgeschichte, die längst bühnengeläufig waren, ja deren liturgische Dramatisierungen im Mittelalter überhaupt das Bühnenspiel im deutschsprachigen Raum begründet hatten. Zum anderen, weil sich wiederum Luther vehement gegen ebendiese Passionsspiele einsetzte: Er hielt sentimentale Ansichten des Leidens Christi für unstatthaft und wollte „das Klagen und Weinen über den Heiland ‚wie über einen unschuldig gerichteten Menschen’ aus den Schauspielen verbannt wissen“. Albrecht (s. Anm. 5), S. 10. 7 Vgl. Albrecht (s. Anm. 5), S. 11.

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Dass das Bibeldrama im 16. Jahrhundert einen allgemeinen Aufschwung erlebt, hängt zusammen mit den sich überlappenden Diskursen der humanistischen Bildungs- und der lutheranischen Glaubensreform einerseits und neuen, aus beider Geiste entstandenen institutionellen Rahmenbedingungen andererseits: Seit Beginn des Jahrhunderts gründeten deutsche Städte öffentliche Lateingymnasien, um die Jugend in bezug auf die bürgerlich geprägten und disziplinarisch straff geführten städtischen Rechts-, Sozial- und Wirtschaftssysteme angemessen zu sozialisieren. Ihre Schulordnungen formulierten als Bildungsziel die Trias „virtus  – pietas  – eloquentia“.⁸ Als ein gleichsam ganzheitliches didaktisches Mittel kam dabei von Anfang an das – zunächst in der Regel lateinische – Schultheater zum Einsatz. Überlieferte Komödien des Plautus oder Terenz einerseits, eigens für die Schulbühne verfasste Geschichts- und Bibeldramen andererseits brachten – einstudiert von Schülern, aufgeführt vor Bürgern verschiedener Stände und Bildungsstufen – allen Beteiligten die literarischen Inhalte der Bibel und der römisch-griechischen Antike nahe – und nicht zum mindesten die Werte der stoischen und christlichen Tugendethik. Speziell den Akteuren (also: künftigen Stadträten und/oder Priestern, Anwälten, Kaufleuten) halfen sie überdies, ihr Gedächtnis zu schulen, probate Redewendungen und rhetorische Basisstrategien einzuüben und sich an den Auftritt vor Publikum zu gewöhnen. Der situationspragmatische Ansatz dieses Bildungskonzepts, ‚Rhetorik‘ gleichsam als ein Set von Fertigkeiten zu verstehen, mit dem gerüstet sich ein Mensch in den denkbar verschiedensten Lebens-, was auch heißt: Argumentationslagen würde bewähren können, ist zutiefst dem neuen humanistischen Geist verpflichtet insofern, als es von der „Relativität und Standortgebundenheit des Wissens“⁹ ausgeht. Indem der Humanismus den einzelnen Menschen als autonom betrachtet, ihn zum Ausgangspunkt seiner Moralphilosophie nimmt und es so zulässt, mit einer Veränderlichkeit seiner Standpunkte in wechselnden Zeit- und Ortskontexten zu rechnen, sowie – damit einhergehend – mit einem gelockerten Begriff von ‚Wahrheit‘, der diese als bestenfalls relational und situativ fixierbar ansah (nämlich: im Dialog der Meinungen), wendet er sich klar gegen die Scholastik, deren festgezurrte Ontologie der Werte und Sachverhalte keinen Raum für menschliche Autonomie zulässt. Da der Mensch [dem Platon-Gegner Isokrates zufolge, dessen Fragment Gegen die Sophisten im 16. Jahrhundert intensiv rezipiert wurde, C.H.] das Sprach-Tier ist, bedeutet das Studium der Beredsamkeit die Verwirklichung der höchsten menschlichen Möglichkeiten und hebt 8 Vgl. Maassen, Johannes: Drama und Theater der Humanistenschulen in Deutschland. Augsburg 1929, S. 31–38. 9 Münkler, Herfried/Münkler, Marina: Humanismus/Humanisten, in: Münkler/Münkler: Lexikon der Renaissance. München 2000; S. 153–171; S. 157.

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den Redner über den Philosophen empor. So jedenfalls hat die Renaissance Isokrates verstanden […]. Wo […] das Mittelalter die Rhetorik mit dem Trivium herabgewürdigt und der Dialektik oder Theologie untergeordnet hatte, kehrt die Renaissance diese Bewegung eigenmächtig um.¹⁰

In den Worten unserer Leitfrage formuliert, weitet der Humanismus also die Zone der menschlichen Handlungsoptionalität kämpferisch aus, und zwar um (und durch) das Medium der Sprache – zumal der literarischen. Und es ist natürlich kein Zufall, sondern gehört zur Kampfsymbolik, wenn er sich – gerade in didaktischen Gattungen wie dem Schuldrama, die das Bewusstsein einer heranwachsenden Generation prägen sollten  – eines Lateins bedient, das wieder an die klassische Antike anknüpft und mithin gerade nicht an das theologisch geprägte Latein des Spätmittelalters, dem die Humanisten ja eben vorwarfen, mit der Terminologie der scholastischen Ontologie überfrachtet zu sein. In diesen Zusammenhängen ist das Hiob-Drama des Johannes Lorichius zu verorten, das aus dem Jahr 1543 stammt. Die Quellenlage über Lorichius ist so schütter wie verworren,¹¹ und sie erlaubt nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, wann der Autor welcher Konfession angehörte. Doch war das Pädagogium in Marburg, für dessen Schulbühne er den Text offenbar konzipierte, eine ebenso protestantische Anstalt wie das Augsburger Gymnasium zu St. Anna, an dem er im Jahr zuvor gelehrt hatte. Und wiewohl er daraufhin, noch im Erscheinungsjahr 1543, vermutlich zum Katholizismus wechselte, so erfuhr sein Drama doch noch einen weiteren Abdruck bei einem protestantischen Verlag: nämlich 1547 (also just im Entstehungsjahr der Sachsschen ‚Comedi‘) in einer von Johann Oporinus im konfessionell toleranten Basel edierten Bibeldramen-Sammlung. Sie prononciert im Untertitel eine pädagogisch-didaktische Wirkabsicht: „…ut vix quicquam

10 Vickers, Brian: Rhetorik und Philosophie in der Renaissance. In: Rhetorik und Philosophie. Hrsg. von Helmut Schanze/Joseph Kopperschmidt. München 1989, S. 121–157, S. 127 resp. S. 135. 11 Johannes Lorichius entstammte einer im hessischen Hadamar alteingesessenen und weitverzweigten Gelehrtenfamilie, die mehrere ihrer Mitglieder auf aktenkundige Karrierewege schickte und ihnen dabei – zum Unmut Archivforschender – nur marginal abweichende Vornamen mitgab. So finden sich noch bei Wiegand (vgl. Wiegand, Hermann, in: Killy Bd. 7, Stuttgart 1990, S. 348 f. s. v. „Lorichius, Johannes“) Einzeldaten über Lorichius, die bereits Schröder 1897 verworfen hatte, weil sie auf einer tradierten Verwechslung zwischen Lorichius und dessen Vetter beruhten: „Quem Ioannem … confuderunt nostri saeculi viri docti (…) errorem quendam priorum secuti cum Ioanne Lorichio (secundo), illius patrueli“. Schröder, Eduard: Prooemium, In: Ioanni Lorichii Iobus comoedia (ed. Marpurgi a. 1543) ab Edvardo Schroeder linguarum theodiscarum P. P. O. denuo edita. Hrsg. von Eduard Schröder. Marburg 1897, S. 3 f.; S. 3.

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in hoc argumenti genere iuventuti Christianae proponi utilius possit“.¹² Mit ihr deckt sich die Wirkabsicht des Hans Sachs. Dessen Dramen indes wurden nicht von höheren Schülern aufgeführt, sondern von bereits im Berufsleben stehenden Handwerkern und vor einem meist illiteraten, oft sogar analphabetischen Publikum aus den mittleren und unteren Schichten¹³  – als „Versuch, literarische Tradition an ein weitgehend literaturunkundiges, aber literaturbedürftiges Publikum weiterzureichen“.¹⁴ Der Bedarf, den zu decken sich Sachs bemüht, ist sehr lebenspraktisch gedacht und im Spannungsfeld zwischen  – einerseits  – Unsicherheiten und Verwerfungen im Zusammenleben der sich formierenden Stadtgesellschaft (hier: Nürnbergs) und  – andererseits  – dem sozialethischen Überbau zu sehen, den der lutherische Protestantismus hierfür bereitstellte. Seit 1529, da Nürnberg sich für protestantisch erklärt hatte, stabilisierten sich dort die politischen Verhältnisse.¹⁵ Bereits zuvor – um 1520 – war Sachs selber mit der Reformation in Berührung gekommen¹⁶ und zu ihrem entschiedenen Verfechter geworden, der sie ab 1523 in Liedern, Dialogen und Flugschriften propagierte. Nachdem ihm anno 1527 eine Reihe antipapistischer Vierzeiler ein bedingtes Veröffentlichungsverbot seitens des Nürnberger Rats eingetragen hatte  – der zwar dem Luthertum bereits zuneigte, jedoch aus handelspragmatischen Gründen keine polemische Zuspitzung konfessioneller Differenzen litt¹⁷ –, verlegte Sachs sich auf weniger kontroverse Publikationsformen: so auch auf Bibeldramen. Sein fünfaktiges Hiob-Theaterstück – vollendet „Anno salutis 1547, am 19 tag Novembris“ (CdH, S. 55) – ist als „ein Comedi“ deklariert. Das könnte auf den ersten, an aristotelischen Klassifikationen geschulten Blick irritieren. Doch betreten wir schon mit dieser eigenwilligen Gattungsbezeichnung das Terrain didaktischer Wirkabsicht: Hans Sachs gründete sein Dramenschaffen nicht auf die (ihm vermutlich unbekannten)¹⁸

12 Dramata sacra: Comoediae atque tragoediae aliquot e Veteri Testamento desumptae, quibus praecipuae ipsius historiae ita eleganter in scenam producuntur, ut vix quicquam in hoc argumenti genere iuventuti Christianae proponi utilius possit; magna parte nunc primum in lucem editae. Hrsg. von Johannes Oporinus. Basel 1547. Lorichius’ Stück trägt hier den Titel: „IOBUS. PATIENTIAE SPECTAculum, in Comoediam redactus, Io. Lorichio Hadamario auctore“. 13 Vgl. Klein, Dorothea: Bildung und Belehrung. Untersuchungen zum Dramenwerk des Hans Sachs. Stuttgart 1988, S. 98 ff. 14 Klein (s. Anm. 13), S. 278. 15 Vgl. Krause, Helmut: Die Dramen des Hans Sachs. Berlin 1979, S. 72. 16 Hahn, Reinhard: Hans Sachs. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Hrsg. von Stefan Füssel. Berlin 1993, S. 406–427; S. 414. 17 Vgl. Hahn (s. Anm. 16), S. 417 f. 18 Vgl. Berger, Wilhelm Richard: Hans Sachs. Schuhmacher und Poet. Frankfurt/M. 1994, S. 122 f.

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griechisch-antiken Schulpoetiken, sondern auf die mittelalterlichen, für die eine ‚Comedi‘ von einer ‚Tragedi‘ im wesentlichen dadurch abwich, dass ihr Held am Ende mit dem Leben davonkam,¹⁹ und unterschied seine Dramen in „bestrafte Schuld (Tragedi) oder belohnte Tugend (Comedi)“,²⁰ also je nach dem verhaltensmoralischen Schwerpunkt ihres erzählten Inhalts. In diesem Kapitel möchte ich den Handlungsverlauf der Stücke Lorichius’ und Sachs’ synoptisch lesen und hierbei sowohl ihre speziellen Akzentuierungen des biblischen Hiob-Stoffs untersuchen als auch, inwieweit diese sich markant decken oder voneinander abweichen. Aus den Übereinstimmungen dürfte ein allgemeiner zeitspezifischer Funktionszusammenhang literarischer HiobbuchAdaptionen  – auch im Gegensatz zu jenem des zuvor behandelten Textes aus dem 12. Jahrhundert – ersichtlich werden, die Verschiebungen hingegen die Unterschiedlichkeit zweier außerliterarischer (nämlich Bühnen- und Zielgruppen-) Kontexte deutlich machen. Auf Lorichius und Sachs fiel meine Wahl deshalb, weil es Barbara Könnekers Diagnose zu revidieren gilt, die hier eingangs genannten vier Hiob-Dramen (von Narhamer, Ruoff, Lorichius, Sachs) seien „offensichtlich unabhängig voneinander“²¹ entstanden. Im Falle von Lorichius und Sachs irrt Könneker: Im Gegenteil ist es unabweisbar, dass die ‚Comedi‘ des Hans Sachs geradezu eine Nachdichtung des Lorichiusschen Dramas ist, die zwar stark kürzt, dies aber unter strikter Wahrung der Proportion auf Ebene der Akte und Szenen – und ihm dabei strukturell aufs engste verpflichtet bleibt, enger noch als dem beiden ge-

19 Dass Sachs dieser Dichotomie keine restfrei zwingende Trennschärfe beimaß, zeigen Paratexte anderer Stücke: Als „ein geistlich Comedi / Doch schier fast gleich einer Tragedie“ bezeichnet er etwa seine Bearbeitung des Judith-Stoffs. Vgl. Berger (s. Anm. 18), S. 125. 20 Krause (s. Anm. 15), S. 170. 21 Johan Narhamer: Historia Jobs. Hrsg. von Barbara Könneker/Wolfgang F. Michael. Bern u.a. 1983, S. 104. Generell scheint die ältere stoffgeschichtliche Forschung zur Hiob-Rezeption den Text Lorichius’ öfter nur aus Gründen der Vollständigkeit miterwähnt denn tatsächlich in Augenschein genommen zu haben. So listet auch Wielandt (s. Kap. 1, Anm. 3, S. 129 f.) beide Titel auf, ohne eine Textabhängigkeit Sachs’ von Lorichius zu nennen. Und gesetzt den Fall, Wolfgang F. Michael, der sie ebenfalls übersieht – wiewohl er vehement die These stärkt, Sachs habe über gute Lateinkenntnisse verfügt; vgl. Michael, Wolfgang F.: Hans Sachs, der Humanist. Daphnis Bd. 20 // Heft 20 (1991), S. 423–431 – habe das 1.600 Verse umfassende Drama des Marburgers zumindest oberflächlich mit dem des Nürnbergers verglichen, das mit knapp 800 Versen nur halb so lang ist, mutet sein Postulat geradezu kryptisch an, es sei zu unterscheiden „zwischen den knappen humanistischen Gestaltungen eines Lorichius [und] den schon etwas anspruchsvolleren Ausführungen eines Sachs oder Ruoff“. Michael, Wolfgang F.: Ein Forschungsbericht. Das deutsche Drama der Reformationszeit. Bern u.a. 1989, S. 40.

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meinsamen Prätext, also dem Hiobbuch selbst.²² Mit Stockers Nomenklatur gesagt: Lorichius’ ,Iobus‘ ist ein Hypertext des Sachsschen ,Hiob‘, also ein EinzelPrätext, den Sachs in augenfälliger Weise imitiert – während er das Hiobbuch, natürlich in der Luther-Übersetzung, ‚nur‘ palintextuell zitiert. (Was im übrigen per se nichts Erstaunliches ist – denn bekannt ist, dass der Nürnberger für jede seiner Adaptionen tradierter Stoffe alle ihm irgend zugänglichen früheren Bearbeitungen heranzog.²³ Ob ihm in diesem Falle Lorichius’ lateinischer Originaltext als Vorlage diente oder ob er eine uns nicht überlieferte – oder bislang nicht entdeckte – deutsche Übersetzung heranziehen konnte, ist nach gegenwärtigem Forschungsstand nicht zu bestimmen.) Ein Vergleich beider Texte verspricht Aufschlüsse nicht nur von (in diesem Falle, anders als im sonstigen Verlauf dieser Arbeit) tatsächlich stoffgenealogischer Art, sondern auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Funktionalität von Literatur, die in den sich formierenden städtischen Gemeinwesen des 16. Jahrhunderts (stärker als zuvor und nachher) Kontingenzbewältigung im Sinne normativer Impulse zur praktischen Alltagsbewältigung leistete. „In einer Zeit, die eine periodische Presse noch nicht kannte und in der nur ein Teil der Bevölkerung Schulbildung besaß, oblag der Literatur in stärkerem Maße als heute die Aufgabe der Vermittlung von Wissen wie von Verhaltensorientierungen.“²⁴ Nicht überraschen wird uns ein Befund, der ja bereits – leisteten das nicht obendrein noch die Paratexte –²⁵ per se hervorginge aus der von beiden Autoren gewählten Textgattung ‚Drama‘ (die, stärker noch als ohnehin im zeitgenössischen Sinne jedwede Literatur, ausgemacht didaktisch ist): dass nämlich Hiob in beiden Fällen als eine Demonstrations- und Exemplifikationsfigur für belohnte Tugend fungiert, speziell: für belohnte patientia. Der Prolog Hans Sachs’ erwähnt nur einen Prätext: das „buch Job“ (CdH, S.  30). Dass indes als weitere Vorlage das Drama Lorichius’ zu gelten hat, legt ein Blick auf die Personenliste im Anhang nahe. Denn sie führt über die Figuren hinaus, die aus dem Bibeltext bekannt sind, noch zwei Brüder und zwei Schwes-

22 Den einzigen mir bekannt gewordenen Hinweis, der bislang auf diese Spur aufmerksam macht, hat bereits 1897 Eduard Schröder gegeben, ihn zugleich aber dem Zugriff einer nur noch neuphilologisch orientierten Forschungsnachwelt gründlich entzogen – nämlich im lateinisch verfassten ‚Prooemium‘ seiner Edition des Lorichius-Textes: „Ceterum ex Iobo ‚comoedia‘ Ioannes Sachsius nonnulla in suum usum desumpsit.“ Schröder (s. Anm. 11), S. 4. 23 Vgl. hierzu etwa Hahn (s. Anm. 16), S. 419. 24 Hahn (s. Anm. 16), S. 411. 25 Nämlich in beiden Fällen die Untergattungs-Bezeichnung ‚Comoedia‘/‚comedi‘ und bei Lorichius zudem noch die zur zweiten Titelheldin erhobene Tugend der patientia; vgl. hierzu den folgenden Absatz.

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tern Hiobs auf – genau wie Lorichius und unter (fast) denselben Namen,²⁶ und hier wie dort werden sie ihren Auftritt an analoger Stelle im Schlussakt haben. Figurieren lässt Sachs auch zwei der Söhne Hiobs sowie jene vier Knechte, die die Botschaften zu überbringen haben, und er gibt ihnen – die im Bibeltext namenlos bleiben – jene Namen, die ihnen auch Lorichius gibt. Sachs’ Hiobssöhne heißen Philias und Thelon, die erwähnten Knechte Distichus, Certanus, Getta und Spudeus. Die Namen bei Lorichius: Philias und Thelon bzw. Distychus, Certomus, Geta und Spudeus. Der von beiden benutzte Name der Ehefrau Hiobs, Dina, schreibt sich (im Gegensatz zu allen bisher genannten) von einer älteren Überlieferung her – freilich nicht aus dem Hiobbuch, sondern aus dem apokryphen ,Testament Hiobs‘. Auch in der (chronologietreuen) Segmentierung des biblischen Handlungsverlaufs in fünf Akte erweist sich Lorichius’ ‚Comoedia‘ als Vorlage für Sachs: In beiden Texten schildert der erste Akt Hiobs Glück in Gottesfurcht sowie den ersten Prüfungsbeschluss zwischen Gott und Satan. Im zweiten Akt empfängt Hiob die Botschaften und erweist sich als Dulder. Der dritte, also zentrale Akt schildert den zweiten Prüfungsbeschluss, den Verfluchungsratschlag der Ehefrau sowie die Ankunft der Freunde. Als einziger Raum für Reminiszenzen an den Redeteil des Hiobbuchs  – also jenen Teil, der in unserer Phasen-Zählung die eskalative Steigerung der Streiter-Phasen 2 bis 3a umfasst – verbleibt der vierte Akt, bevor dann der fünfte bei Hiobs Restitution und seinem belohnten Rückfall in die

26 Bei Sachs heißen die „2 brüder Job“ Ismalus und Hamani, die „2 schwestern Hiob“ Jemina und Regia (CdH, S. 55). Lorichius hatte seine „fratres“ Ismalus und Hanania getauft, die „sorores Iobi“ Iemina und Kezia (IPS, S. 51). Die beiden Frauennamen in Lorichius’ Schreibweise sind zwar dem Hiobbuch entlehnt, doch bezeichnen sie dort keine Schwestern des Protagonisten, sondern zwei der drei Töchter, die Hiob nach seiner Restitution bekommt (42,14). Wenn Sachs’ Schreibung auf der Phonemebene vereinzelt von der Lorichius’ abweicht, so gestattet dies  – zumal sich keine (volks-)etymologischen Motive aufdrängen, deretwegen Sachs die Lorichiusschen Namen hätte verballhornen sollen  – die Vermutung, dass Sachs den Text Lorichius’ in einer handschriftlichen Fassung rezipiert und die Namen von dort übernommen hat, ohne eigenständig nachzuvollziehen, woher Lorichius sie hatte: Denn im Text der Lutherbibel von 1545 wäre er (anders übrigens als in der Vulgata, die Hiobs neuen Töchtern latinisierte Namen gibt) auf just die von Lorichius verwendeten Namen gestoßen.

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Demut (Phase 4) anlangt.²⁷ Auch die Binnenunterteilung seiner Akte in Bühnenauftritte übernimmt Sachs weitgehend und eindeutig von Lorichius.²⁸ Somit ergibt sich im Übrigen, dass Sachs aus dessen Stück gleichsam en passant ein typisches Merkmal humanistischer Terenzbühnen-Dramaturgie mit übernimmt, wiewohl die Konventionen der Handwerkerbühne dies gar nicht erfordert hätten: die Einheit des Ortes. Anders als von den Volksbühnen des Spätmittelalters her tradiert, wo oft synoptisch mehrere Handlungsorte gezeigt und ein entsprechend großer Aufwand an Kulissen und Komparsen betrieben wurde,²⁹ behalten beide Hiob-Stücke über fünf Akte hinweg die selbe Szenerie bei, in welcher sich sogar – das irdische Figurenpersonal räumt sie dazu vorübergehend – die Szenen mit Gott und Satan abspielen. Da Sachs  – bei verschobener Gewichtung der Länge von Einzelpassagen  – die Chronologie der Handlungselemente im Hiobbuch treulich einhält, liegt es bei den Hiob-Neuschreibungen dieses Kapitels besonders nahe, zur Markierung genuin zeitbedingter Aspekte auf eine schrittweise Lektüre zu vertrauen. Die Exposition des biblischen Hiobbuchs stellt dem Leser seinen Protagonisten, bevor es den auf ihn zielenden Dialog zwischen Gott und Satan erzählt, vor, indem es auf den – bislang – stabilen Einklang zwischen dessen materiellem Wohlergehen und frommem Handeln abhebt. Hierzu beginnt es (beschreibend) mit einer Aufzählung der familiären wie materiellen Attribute seines Wohlstands und resümiert dann sein gottgefälliges Handeln – nunmehr in erzählender Form, jedoch nicht am Beispiel einer szenisch dargebrachten Einzelhandlung, sondern iterativ resümierend: „So tat Hiob allezeit“ (1,7). Im ersten Akt der Sachsschen ‚Comedi‘ wird der erste, beschreibende Teil dieser Exposition in jene Vorab-Inhaltsangabe übernommen, die in Sachs’ Stücken stets die Figur des herolt bzw. ehrnholt übernimmt:³⁰ Dieser lässt die Wohlstands27 Dass diese Analogien als Ausweis Sachsscher Lorichius-Rezeption aufzufassen sind und nicht etwa – wie man vielleicht annehmen könnte – Folge invarianter dramaturgischer Zwänge, die der Bibeltext jedweder selbständigen Bearbeitung gleichermaßen nahelegte, illustriert ein Blick etwa auf das Hiob-Drama Johann Narhamers von 1546 – vgl. hierzu Könneker/Michael (s. Anm. 21). 28 Wenngleich die Binnenaufteilung der Akte in numerierte scenae, wie sie Lorichius in seinen Paratexten vorsieht, von Sachs nicht übernommen wird. Eine solche Aufteilung war für Terenzbühnen-Stücke typisch, den Erfordernissen der Handwerkerbühne jedoch fremd. 29 Ein Beispiel aus den Regieanweisungen Johan Narhamers: „Itzt geht jeder Teuffel auff ein ort und reitzen die reuber an / einer blest Fewer aus auff die Schaf / der man den iij oder iiij auffm Palast mus haben / und werffen das Haus ein.“ Könneker/Michael (s. Anm. 21), S. 18. 30 Eine Erzählerfigur, die nicht am dramatischen Geschehen beteiligt ist, sondern mit ihren Auftritten das Stück rahmend ein- und ausklingen lässt, hierbei die darzubringende bzw. dargebrachte Handlung mit einem moralischen Metakommentar versieht und so die Rezeption des Publikums lenkt.

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Auflistung in einer kurzen Inhaltsangabe aufgehen, die bereits vorab das Augenmerk auf die patientia als Hiobs Kernmerkmal lenkt: „… Iedoch wardt Job nit ungedultig, / Lobt Gott und blieb from und unschuldig“.³¹ Den zweiten, erzählenden Teil der Personenvorstellung verlegt das Stück – nach Abtritt des herolt – ins Szenische: Bei Lorichius und Sachs erbringt Hiob den einführenden Ausweis seiner Frömmigkeit in der Interaktion mit anderen Bühnenfiguren. Es sind dies zwei seiner Söhne, und die Auswahl³² ihrer griechischen (!) Rufnamen mag der Humanist Lorichius mit einem höheren Maß an etymologischer Reflexion getroffen haben denn Sachs, als der sie kurzerhand übernahm: Jedenfalls eignen sich ‚Philias‘ (von φιλέω – ‚der Freundliche‘) und ‚Thelon (von εθέλω – ‚der Bereite, Geneigte‘) gut als telling names zweier Söhne, deren Rollentypus wesentlich durch die freudige Beherzigung väterlicher Moralanweisungen geprägt ist. Eine sehr bemerkenswerte Akzentverlagerung gegenüber dem Prätext nämlich ist hier zu verzeichnen: Lorichius wie Sachs präsentieren Hiob als religiös-moralischen Unterweiser seiner Söhne. Und zwar blickt die Szene sogar auf die ganze bisherige Geschichte dieser Unterweisung zurück, indem sie selbst ihren Höhe- und Wendepunkt markiert: Hiob entlässt seine Söhne in die Mündigkeit.

31 CdH, S. 29. 32 Und zwar – wohlgemerkt – ausgewählt, jedoch nicht selbst geprägt: Just ‚Philias‘ und ‚Thelon‘ als Namen zweier Söhne Hiobs nämlich begegnen bereits in einem älteren, (jüdisch-)theologischen Text, und zwar in den Antiquitates Biblicae des sogenannten Pseudo-Philo. Dieser Text war 1527 in Basel gedruckt erschienen  – in einer lateinischen Fassung, in der ihn christliche Theologen bereits seit langem intensiv rezipiert hatten. Sie geht auf griechische und hebräische Vorstufen zurück, die in vielen im Text genannten Eigennamen noch durchschimmern. (Vgl. hierzu: Dietzfelbinger, Christian: Pseudo-Philo: Antiquitates Biblicae. In: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Hrsg. von Hermann Lichtenberger. Bd. 2: Unterweisung in erzählender Form. Gütersloh 1973–1999, S. 91–271): Philias und Thelon begegnen dort (S. 92f.) im Rahmen einer Aufzählung, die die Namen aller – jeweils – sieben Söhne und drei Töchter umfasst, mit denen Hiob vor bzw. (neuerlich) nach seiner Restitution gesegnet worden sei. „Und danach nahm sie [=Dina, die Tochter Jakobs, C.H.] Hiob zur Frau, und er zeugte aus ihr vierzehn Söhne und sechs Töchter, das heißt sieben Söhne und drei Töchter, bevor er mit Leiden geschlagen wurde, und nachher sieben Söhne und drei Töchter, nachdem er gesund geworden war. Und dies sind ihre Namen: Elifac, Ermoe, Diasat, Philias, Diffar, Zellut, Thelon, und seine Töchter Meru, Litaz, Zeli. Und wie die Namen der früheren waren, so auch [die] der letzten.“ Lorichius mag sich aus diesem Pool frei bedient haben. Seine getroffene Wahl mag dadurch begünstigt worden sein – aber mehr als Spekulation kann dies natürlich nicht sein –, dass just die beiden bewussten Namen die einzigen griechischen (oder griechisch etymologisierbaren) in der ganzen Liste sind.

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Vos sedulo primis ab incunabulis / Monui, tenellam sic aetatem dirigens. / Nunc contigit vobis animus maturior, / In omnibus iam consuletis rectius. / Quod vos decet, vitas scrutamini omnium, / Ab omnibus vobis exempla sumite.³³ ir habet wol vernommen, / Das ich von anfang ewer jugent / Hab zogen auf gottsforcht und tugent. / Seidt ihr aber ietzt elter seidt, / In tugent erstarckt mit der zeit, / So erforscht ander leute leben!³⁴

Indem die erste Szene Hiob ganz in gottgefälliger Kindeserziehung aufgehen lässt, präsentiert sie diese gleichsam als sein Lebenswerk und privilegiert sie – noch bevor das aus dem Prätext bekannte Gottesopfer folgt  – als wichtigsten Ausweis seiner tätigen Frömmigkeit. Dieses Lebenswerk ist mit Vollzug der Szene vollendet und gekrönt: Hiob kann die Söhne in die Selbstbestimmtheit entlassen – als Auftrag bleibt ihnen hierbei, ihre tugendethische Bildung selbständig weiterzutreiben, indem sie die erlernten Maßstäbe an das Handeln anderer anlegen. Was Philias im übrigen auch zeitnah tut: Er kontrolliert, während Hiob sich zum Opfer zurückzieht, die Arbeit des Knechtes Spudäus,³⁵ der das Festmahl vorbereiten soll, und mahnt dabei besonders zwei Tugenden an: zum einen (soweit auch bei Lorichius) den Fleiß, zum anderen aber (und dies ist originär Sachs) das rechte Maß.³⁶ Wenn die Schlüsselformel „vos decet“,³⁷ die Lorichius’ Hiob den Söhnen gegenüber zweimal gebraucht, ihn als qualifizierte Instanz zeigt, das decorum einzufordern, dann zeigt es ihn als Sachwalter eines dem Humanismus besonders wichtigen verhaltensethischen Aspekts zwischen Individual- und Sozialverantwortung: des rollengerechten Verhaltens nämlich, das der Selbstkontrolle jedes mündigen Individuums anheim gegeben ist.³⁸ Bereits eingangs also markieren 33 IPS, S. 56f. „Von der allerfrühesten Kindheit an habe ich euch mahnend belehrt und so das zarteste Alter angeleitet. Nun ist euch ein reiferer Geist zuteil geworden, in allen Belangen werdet ihr bereits richtiger entscheiden. Deshalb geziemt es euch, die Leben aller zu erforschen: Nehmt euch Beispiele an allen!“ 34 CdH, S. 30f. 35 von gr. σπουδαιος, ‚fleißig‘. 36 Schon einmal festzuhalten bleibt, dass die Söhne, indem sie sich des väterlichen Vorbilds (und ihrer Eigennamen) so eindeutig als würdig erweisen, bereits im Voraus jede Wertung ihres unglücklichen Todes als Sündenstrafe ausschließen. 37 „Quod vos decet, vitas scrutamini omnium, / Ab omnibus vobis exempla sumite“, „Me ponite exemplum vobis domesticum: / Praeibo, vos recte decebit persequi.“ („Stellt mich für euch als persönliches Beispiel auf: Ich werde vorangehen, eure Pflicht wird es sein, mit aufrechtem Sinn weiter zu streben. IPS, S. 57) 38 Dieses Verhalten hat im Humanismus umso zentralere Relevanz, als dieser postuliert, jene sozialen Rollen, um die es geht, sollten nicht mehr automatisch qua Herkunft vergeben, sondern erwerbbar (und im Anschluss daran aber auch rechtfertigungsbedürftig) sein  – anhand

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(und nobilitieren) beide Stücke gleichsam ihre eigene pädagogische Wirkabsicht, indem sie diese, abweichend vom Bibeltext, auch für die Absicht ihres Protagonisten erklären. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang aber eine Abweichung Sachs’ gegenüber Lorichius. Bei dem nämlich ist die Vater-Söhne-Szene bereits die scena II: In der ihr vorangehenden scena I hat ein Bettler (mendicus)³⁹ seinen Auftritt. Der sorgt für einen gleitenden Übergang vom vorangestellten argumentum in die Handlung, indem er zunächst, allein ans Publikum gewandt, in die Szenerie des Landes Uz einführt, sein eigenes bitteres Los beklagt und vom reichen Hiob erzählt, um dann – in die Bühnenhandlung eintretend mit dessen Auftritt in Szene 2 – von diesem ein Almosen zu empfangen. So wird der Bettler zum Demonstrationsobjekt für jene Mildtätigkeit, die er selbst beschworen hatte und die Hiob gerade predigt – in Gegenwart der Söhne, die hier auch als Stellvertreter des Publikums stehen. Der erste Ausweis für Hiobs tätige Frömmigkeit bei Lorichius ist mithin ein klassisches ‚Gutes Werk‘. Sachs mag das als katholische Altlast empfunden haben, deren er sich zu entledigen hatte: Jedenfalls ist der mendicus die einzige dramatis persona der Lorichiusschen Figurenliste, die er vollständig wegkürzt. Hiermit ist die Lehre zur Rechtgläubigkeit zum zentralen Aspekt der ersten Szene aufgewertet, während ihr bei Lorichius die Praxis der Werkfrömmigkeit noch gleichberechtigt zur Seite steht. Hierzu passt auch eine kleine inhaltliche Abweichung zwischen den Vaterpredigten: „Nihil quod illi displicet, gratum siet“, predigt Lorichius’ Hiob den Söhnen, „Nil quod placet, vestra intermittat dextera“ (IPS, S. 56). Am Bild von der ‚Rechten‘, das denn doch an eine eher tätige Form der Gottgefälligkeit denken lässt, betont Sachs – bei dem es an späterer Stelle immerhin heißen wird: „kein guts werck kömpt Got zu gut, / kein böß im auch schaden tut“ (CdH, S. 48) – geschickt den abstrakten Sinn einer Handgeste: „Von allem ubel thut abwencken“.⁴⁰ Die Teufelsfigur, die nun in beiden Stücken ihren ersten Auftritt hat – und die, bei Lorichius noch ‚Peirastes‘⁴¹ getauft, von Sachs den landläufigeren Namen ‚Satan‘ bekommt – wird im weiteren Verlauf gegenüber dem Bibeltext stark aufgewertet. Dies entspricht der allgemeinen Popularität des Satans im ausgehenden

eben jener geistig-moralischen Qualifikationen, als deren Vermittlungsprogramm er selbst sich versteht. 39 Bei Terenz als Schimpfwort gebraucht. 40 CdH, S. 30. Geradezu kongenial im übrigen, wie parallel Sachs seine semantischen Fast-Entsprechungen wiederum zu Reimwörtern arrangiert: Reimt sich bei Lorichius „dextera“ auf des Sohnes Antwort: „Habemus in recenti adhuc memoria“ (IPS, Z. 150f.), so fügt sich dem „abwencken“ bei Sachs die Antwort: „Vatter, deinr lehr wir stets gedencken.“ 41 ‚Versucher, Verführer‘, von gr. πειράζω.

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Mittelalter und speziell im 16. Jahrhundert.⁴² Wenn der Teufelsglaube dieser Jahrzehnte sich nicht zuletzt dem erkannten Potential des Satans als argumentativer Figur im Konfessionenstreit – zur Brandmarkung und Verleumdung bestimmter Menschengruppen als seiner Gefolgsleute  – verdankt, dann verdient unser gesteigertes Augenmerk die Frage, wen Peirastes/Satan in unseren Bühnenstücken selbst explizit ‚seine Gefolgsleute‘ nennt. Auffällig ist hier im Direktvergleich: Lorichius’ Peirastes stellt bereits beim ersten Auftritt ein zusammenfassendes Bild für seine Wirkweise auf Erden allen detaillierteren Nennungen voran – nämlich das Bild der Maschinerie. „[N]unc machinas struo, nunc illas destruo.  / Necto dolos varios, technasque confero.“⁴³ Später wird er darauf zurückkommen. Der Topos der Maschine als eines Orts teuflischer, weil buchstäblich so seelen- wie gnadenloser Abläufe ist mittelalterlichen Ursprungs. Dass Lorichius anhand dieser Metapher eine Art Gesamtplan des Teufels andeutet, in dessen Rahmen die einzelnen Gefolgsleute gleichsam nur einen Funktionsauftrag als Rädchen abarbeiten, bleibt für uns zu beachten. Sachs’ Satan indes übernimmt das Bild nicht, sondern geht an analoger Stelle bereits – was Peirastes erst später tut – auf die Detail-Ebene des teuflischen Handelns: „Ich wil bestellen mir vil knecht, / die zu der tyranney sind recht“. (CdH, S. 34, 32f.) Im 2. Akt werden dem Mann aus Uz die vier Unheilsbotschaften überbracht, die ihn diese ‚tyranney‘ spüren lassen – durch Knechte, die in beiden Stücken (anders als im Bibeltext) mit Eigennamen personalisiert sind. Dies geschieht in gleicher Reihenfolge und in beiden Stücken teichoskopisch,⁴⁴ jedoch bei Lorichius spannungsverstärkend retardiert durch Kurzdialoge. Die aber bilden nicht den Ausgangspunkt des zweiten Aktes. Voran setzen ihnen Lorichius und Sachs vielmehr eine überleitende Bemerkung Hiobs, die für unseren Zusammenhang höchst bemerkenswert ist. Sie hat nämlich keinerlei Vorlage im biblischen Prä-

42 „Man hat diesen Zeitraum und das Jahrhundert der Reformation als ausgesprochene ‚Satanszeiten’ apostrophiert. Es ist eine Spanne des Umbruchs, in der der Mensch der bisher gültigen Normen verlustig gegangen ist, Prophezeiungen des nahenden Weltuntergangs und der Erscheinung des Antichrist steigerten das Gefühl der Verunsicherung. Freilich löste sich diese […] Spannung zwischen Verdammnis und Erlösung zuweilen in einem befreienden Lachen über den Widersacher […]. Es nimmt nicht wunder, dass der Teufel nun auch seinen Einzug in die Literatur hielt.“ Walz, Herbert: Deutsche Literatur im Reformationszeitalter. Darmstadt 1988, S. 152 f. 43 „Bald baue ich Vorrichtungen auf, bald baue ich sie ab.  / Verknüpfe verschiedene Listen, bündele Streiche zusammen.“ (IPS, Z. 251f.) 44 Dies verdient Erwähnung  – denn zwar legt bereits der Bibeltext eine solche Darbietungsweise nahe, doch sehen sich andere Hiob-Dramatisierungen (etwa die Narhamers), die weder engen Bühnenräumen noch der terenzianischen Dramaturgie verpflichtet sind, hierdurch nicht gebunden.

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text, umso deutlicher aber ist sie Ausdruck eines zeitgenössischen Kontingenzverständnisses: Hiob äußert eine Vorahnung des kommenden Unheils. Praesaga mens quid nescio denunciat. / Forte imminent quaedam mihi discrimina. / Quam fluxa nostra sit, scio, felicitas. / In optimo dum res versantur cardine, / Timenda sunt adversae sortis spicula. […] praesidium unicum est Deus. […] Ex his malis me praesens ipse liberet.⁴⁵ (IPS, S. 64) Mich ant nichts guts; weiß nit, woher; / Wenn ich weiß, das das menschlich glück, / Unpstendig ist, sinbel und fluck. / Doch sthet mein hoffnung nur zu Gott. / Der sey mein schutz in aller noth! (CdH, S. 35)

Lorichius und mit ihm Sachs präsentieren uns einen Hiob, der die bevorstehende Wende seines Schicksals vom Glück ins Unglück nicht nur in prophetischem Fatalismus vorausahnt, sondern sie geradezu erwartet – und zwar in gesichertem Wissen um eine waltende Prädestination, zu deren verlässlichen Konstanten zählt, dass an irdischen Gütern das einzig Beständige ihre Unbeständigkeit ist und dass der Zeitpunkt des bestmöglichen irdischen Ergehens immer den Wendepunkt hin zum schlechteren Ergehen bedeutet. Es ist also keine andere Kontingenzkonzeption als (ebenso wie bei Hartmann von Aue) die mechanistische der boethianischen Fortuna und ihres Rades, die bei Lorichius  – im Adverb ‚forte‘ auch etymologisch angespielt – und auch noch bei Sachs nachwirkt. Das ist bemerkenswert, weil sie sich in beiden Texten neben einer neueren, sehr zeitgenössischen Konzeption zu halten vermag, die Hartmann noch nicht zu Gebote stand und die den als allgütig gedachten Gott auf eigenständige Weise vom Kontingenzverdacht zu entlasten vermag (zumindest insoweit, als dieser Verdacht den Verdacht bedeutet, willkürlich Übel in der Welt zuzulassen): eben den Teufelsglauben. Überhaupt kennzeichnet Lorichius’ Stück ein Synkretismus, der biblische und römisch-griechische Mythologeme bedenkenlos engführt. Etwa spricht der Unglücksbote Geta im Zusammenhang seiner Blendung von den Flammen des Phaeton und erwähnt den Olymp: Nur eine von zahlreichen Textpassagen, in denen Lorichius die Rede seiner alttestamentlichen Figuren mit außerbiblischen Motiven  – in diesem Fall altgriechischen Mythologemen  – anreichert, deren Kenntnis der humanistische Bildungskanon forderte. Auf der Schulbühne als 45 „Eine Ahnung kündigt mir an  – ich weiß nicht, was. Drohend erheben sich über mir von ungefähr gefahrvolle Anfechtungen. Ich weiß, wie flüchtig unsere Glückseligkeit ist. Wenn die Dinge sich am Scheitelpunkt des Besten umkehren, dann sind die Stacheln des entgegen gesetzten Schicksals zu fürchten. Immer wenn wir in seichtem Gewässer sind, werden wir den stürmischen Aufruhr des Meeres fürchten. Das einzige Bollwerk ist Gott. Möge er abwenden, worauf das böse Vorzeichen sich bezieht. Aus seinen Übeln wird er selbst mich hilfreich erretten.“

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Redetopoi eingestreut, mögen sie einerseits der mnemotechnischen Festigung von Lerninhalten gedient und andererseits praktisch vorgeführt haben, welche illustrative und bekräftigende Wirkung sie im rhetorischen Einsatz zeitigten. Dies sei hier stellvertretend für alle übrigen Beispiele erwähnt, um – ebenfalls für alle stellvertretend – festzustellen, dass Hans Sachs keine einzige dieser außerbiblischen Allusionen übernimmt. Eine thematische Verschiebung gegenüber dem Hiobbuch vollzieht Lorichius im 2. Akt überdies, indem er die hier namentlich figurierenden Unglücksboten zu Trägern verhaltensethischer Exemplarizität aufwertet: So lässt er Distychus und Spudaeus an herausgehobener Stelle (nämlich je als Schlußwort der scena II bzw. scena III) ihrerseits auf Hiobs Reaktion reagieren, und zwar mit ganz unknechtischen Widerworten. Distychus ätzt wider Hiobs unverbrüchliches Gottvertrauen: „Vah, numina invocare adhuc placet? / Sapientiorem te putabam redditum. Adhucne desipis? Nam quid iuvat Deus?“⁴⁶ Dieser Einwurf weist nicht nur voraus auf jenen ketzerischen Geist, in dem wenig später Hiobs Frau den Geduldigen verspotten wird. Indem er hier obendrein von einem Knecht kommt, fällt er zudem als Verletzung des ‚rollenethischen‘ aptum, der Angemessenheit, auf diesen selbst zurück: Lorichius baut also die Figur jenes Knechts, den er Distychus nennt, zu einer negativen Exempelfigur für ein Verhalten aus, das einem Menschen in subalterner Funktion nicht zukommt. Als moralisch komplementär dazu erweist sich daraufhin die Kritik des Spudaeus: „Subeo libens“, sagt der, als Hiob körperlich zusammenbricht und ihn um Stütze bittet, „sed hoc here / Te non decet, tuum resume spiritum.“⁴⁷ Die parallelisierende Zusammenschau beider Verhaltensweisen dürfte den Zuschauer haben lehren sollen: So indezent ein Knecht handelt, der den seine Würde (noch) wahrenden Herrn verspottet, so angemessen handelt einer, der den strauchelnden Herrn – unter Betonung der eigenen, dienenden Rolle – an das decorum der seinen gemahnt. Der 3. Akt profiliert Peirastes/Satan als durchgängig aktiven Widersacher Hiobs, lässt ihn nach dem zweiten Prüfungsbeschluss und während Hiobs Dialog mit seiner Frau am Bühnenrand präsent bleiben. Dass Dina zu seinen Marionetten zählt, macht Lorichius in einem Dialog der Eheleute klar, der den kurzen Verfluchungsratschlag aus dem Hiobbuch zu einem veritablen rhetorischen Geschlechterkampf eskalieren lässt und einer eigenen Betrachtung wert wäre, die hier aber nicht zu leisten ist. Festgehalten sei nur, dass nach Dinas Eröffnungssatz, der noch beiseite ins Publikum gesprochen ist: „Iactabat ille, vix agnosco, quem Deum, /

46 „Ach was! Noch immer beliebt es, göttliche Mächte anzurufen? Ich dachte, du würdest verständiger antworten. Bist du irre? Was hilft denn Gott?“ (IPS, S. 67) 47 „Ich gehorche gern, aber das hier, Herr, steht dir nicht wohl an. Gewinne deinen stolzen Sinn zurück!“ (IPS, S. 71)

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Huic fidere uni credidit tutissimum: / Pietatis hoc insigne iam fert praemium“⁴⁸ (IPS, S. 75) bzw.: „Ich hab recht alle zeit veracht / Meins mannes frömbkeit und andacht, / weil er je nichts mit kundt gwinen“ (CdH, S. 41) der Teufel seinerseits einen Kommentar hierüber ans Publikum richtet: „PE. Mulier mulier mala herba, mala verba, / Mala verbera. Puff puff puff sie.“ (IPS, S. 75, Hervorhebung im Original.) In dieser volkssprachlich-lautmalenden Einlage  – das Stilmittel der Sprachenmischung,⁴⁹ das Lorichius hier und nur hier anwendet, schreibt sich von Plautus her – fraternisiert die Teufelsfigur offensichtlich mit dem (männlichen) Publikum und liefert ihm eine Bewertungshilfe für Dinas Verhalten, die seiner eigenen intradiegetischen Intention eigentlich zuwiderläuft. Vielmehr ist es hier an ihm, zu markieren, dass Dina das decorum ihrer Rolle als Ehefrau verletzt hat. Ein Aspekt, den Sachs aufgreift – sicherlich dankbar, denn zu jener Verhaltenslehre für die protestantische Stadtgesellschaft, deren didaktischer Vermittlung seine Stücke dienten, zählte auch das Postulat, die Frau solle auf den Affekthaushalt des Mannes mäßigend und temperierend wirken.⁵⁰ Sachs adaptiert sogar das Verfahren der Sprachenmischung: „O mulier, du mala herba / Dir ghört puff puff, mala ferbera“ (CdH, S. 42).⁵¹ In seinem Aufführungskontext mag das wie eine Beschwörungsformel geklungen haben, die Satans Einfluss auf Dina unterstreicht – diesen lässt Sachs auch Hiob selbst erkennen („O du unrein vergifftes thier!“ CdH, S. 42), nachdem auch Satan selbst noch einmal beiseit expliziert hat: „Ich Sathan steck leibhafftig innen / In den weibern, die auß ungnaden / Verspotn irer männer schaden“ (ebd.). Am Schluss des Aktes rechnet Peirastes/Satan der Schar seiner irdischen Helfer, der bereits die Verursacher der ‚Hiobsbotschaften‘ (und mindestens einer ihrer Überbringer) sowie Hiobs Frau angehören, ausdrücklich auch Elifas, Bildad und Zofar zu. Mithin gewinnt jener Handlungsabschnitt, dem Sachs die im Ver48 „Dina: Immer wieder hat er zur Schau getragen – ich erkenne es nicht an –, wie er glaubte, diesem Gott als dem sichersten Gott trauen zu können. Die Zierde dieser Frömmigkeit trägt er schon als Ehrenpreis. / Peirastes: Weib, Weib – Unkraut, böse Worte, böse Prügel. Puff puff puff sie!“ (IPS, S. 75) 49 Vgl. Ijszewijn, Jozef: Neulateinische Theatertexte. In: Bennewitz, Ingrid/Müller, Ulrich: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 2: Von der Handschrift zum Buchdruck. Reinbek 1991, S. 116–124; S. 121. 50  „Persönliche und gesellschaftliche Konfliktvermeidung ist die eine Funktion der Ehe […]. Neben dieser kirchlichen Lehrmeinung findet sich bei Sachs jedoch auch die […] Auffassung, daß eheliches Glück auf einer seelisch-körperlichen Übereinstimmung beruht, die allerdings wieder dem Zweck der Affektenlehre untergeordnet wird und dazu dient, Emotionen zu mindern. Es wird geradezu als eine Aufgabe der Frau angesehen, besänftigend auf den Mann einzuwirken.“ Krause (s. Anm. 15), S. 65 f. 51  An dieser und nur an dieser Stelle bleibt bei Sachs das Latein der Lorichiusschen Vorlage unübersetzt.

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gleich zum Bibeltext-Äquivalent stärkste Aufwertung widerfahren lässt, indem er ihm das Eigengewicht eines „Actus III“ verleiht, tatsächlich die Qualität eines autarken, in sich geschlossenen Sinnabschnitts: Auf den vierfachen Qualen, die der vorangegangene Akt für Hiob bereitgehalten hatte, setzt er eine neuerliche Trias auf – bestehend aus der Krankheit, der Anfechtung durch die vom Satan beeinflusste Ehefrau sowie der Anfechtung durch die Freunde. Dem mittleren der fünf Akte also  – punktsymmetrisch angesiedelt zwischen ursprünglichem Glück (1. Akt), göttlicher Herbeiführung des Unglücks (2. Akt), göttlicher Aufhebung des Unglücks (4. Akt) und wieder hergestelltem Glück (5. Akt) – kommt es zu, die Summe des Unglücks komplett zu machen. Mehr noch: Er zeigt Hiob in größtmöglicher Ausgeliefertheit an die Einflüsse Satans, der hier als Bühnenfigur entsprechend seine stärkste Präsenz hat und am Akt-Ende resümiert: „Ich hoff, ich hab ein gwunen spil“ (CdH, S. 34). Die stärksten und aufschlussreichsten Abweichungen zwischen beiden Texten weist der 4. Akt auf, der jeweils den relativ größten Einzelteil ausmacht. Entscheidend sind jene Differenzen, die bereits unmittelbar ins Auge springen: Bei Lorichius ist dieser Akt, einzeln verglichen mit den übrigen, annähernd doppelt so umfangreich, bei Sachs hingegen nur geringfügig ausführlicher. Dies liegt zum einen daran, dass Lorichius die Redeabfolge des biblischen Binnenteils penibel einhält  – Eliphas und Bildad werden jeweils drei ‚Redegänge‘ eingeräumt, Zophar hingegen nur zwei  –, während Sachs kurzerhand jeden der drei Freunde nur einmal mit Hiob interagieren lässt. Zum anderen aber lässt Lorichius, abweichend vom Bibeltext, während des Vierergesprächs auch Peirastes auf der Bühne anwesend sein und Zwischenkommentare vornehmen. In beidem nun erweist sich eine sehr aufschlussreiche inhaltliche Akzentuierung bei Lorichius, die sich stimmig in dessen Bühnenkontext fügt – die jedoch Sachs nicht übernimmt, wohl weil sie wiederum für dessen Zusammenhänge nicht von Belang ist. Beide Autoren zwar lassen ihren Teufel  – wie erwähnt  – explizieren, dass dieser die drei Besucher Hiobs zur Schar seiner Helfer zählt. Wovon Sachs jedoch in der Rede seines Satan nur noch einen indirekten Hinweis übrig lässt („Ich hab der helffer mer den viel, / die mir den Job helffen vexirn, / mit worten und gspot tribulirn“; CdH, S. 43f.), das formuliert Lorichius’ Peirastes programmatisch aus: „Tres advenas nunc adduxi fallacia,“ spricht er nach dem ersten Auftritt der drei beiseite, „Ut impiis aegrum Iob verbis irritent, / Et concitent iram supremi numinis.“⁵² (IPS, S. 81). Und noch einmal ausdrücklich zufrieden mit dem Gang der Dinge wird er sich nach dem ersten Redegang äußern, am Ende der scena I: 52 „Drei Ankömmlinge habe ich durch neuerliche Täuschung herangeführt, damit sie den leidenden Hiob mit gottlosen Worten verwirren und in ihm den Zorn auf die höchste Gottheit [oder Zorn der höchsten Gottheit] anstacheln sollen.“ (IPS, S. 81; Hervorhebung C.H.).

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Belli senes loquuntur omnia, ut volo: / Hui, magna inest sapientia his salerciniis. Inspiro multa et insururro clanculum,  / Quae proferunt temere, inconsulti effutiunt,  / Hic effero meam nimis versutiam, / Contra Deum quoniam loquuntur omnia.⁵³

Hiernach zu urteilen, sind es nicht so sehr einzelne Argumente für sich genommen, die Peirastes durch das Medium der Freunde zur Anfechtung Hiobs benutzt, sondern es ist die in summa sich ergebende argumentative Konfusion, die verwirrende und widerspruchsreiche Vielstimmigkeit der ‚inconsulti‘⁵⁴ auf Hiob Einredenden, die er hier für einen Teil seiner Strategie erklärt. Dies fügt sich in sein technizistisches Programmbekenntnis aus dem ersten Akt, demzufolge es gerade die Koordination von Einzelstreichen ist, durch die der Teufel wirkt. Unter rhetorik-didaktischem Aspekt gesehen, präsentiert Lorichius’ Schuldrama hier drei Redner, die, wiewohl sie jeweils für sich genommen zulässige Argumente vorbringen, gemeinsam nicht die intendierte Wirkung erzielen – zwar glaubt gewiss jeder für sich, Herr seiner eigenen Strategie zu sein, konzertiert jedoch dienen die drei einer Strategie, die ihrer intendierten geradewegs zuwiderläuft. Noch etwas fällt hier auf: Lorichius weist die drei Freunde, die im Bibelbuch alters- und eigenschaftslos als reine Meinungsträger fungieren, dem Bühnentypus des senilen, geschwätzigen Greises zu. Auch damit (abgesehen von den expliziten Urteilen Peirastes’ sowie überhaupt von der allem vorgängigen Tatsache, dass dieser die drei instrumentalisiert) wertet er ihre Argumentation ab  – und konstruiert so für den angesichts des biblischen Prätexts verbreiteten Rezeptionseindruck, die Argumentation der Drei sei beliebig und zusammenhanglos, einen bühnenlogischen Zusammenhang, der sich auf eine einzige, klar eingrenzbare Passage des Hiobbuchs berufen kann: die Kritik des vierten, im Bibeltext nach den Redegängen der Drei unvermittelt auftauchenden Freundes Elihu (Hiob 32,4–10) an den Vorrednern. Nicht nur durch diesen Kunstgriff gelingt es Lorichius, seine Figur ‚Heliu‘ so zu konturieren, dass sie sich von ihren Vorrednern als Kontrastfigur scharf absetzt. Differenzierend hat er Heliu überdies bereits in der Personenliste – in der sich Eliphas, Baldad und Sophar per geschweifter Klammer als „amici Iobis“ subsumiert finden – mit dem Namenszusatz ‚rhetor‘ angekündigt. Nicht erst für den

53 „Die drolligen Greise sprechen alles so, wie ich will: Hui, eine große Weisheit steckt in diesen alten Knochen! Ich inspiriere vieles und hauche es ihnen heimlich ein, was sie planlos vorbringen und unberaten ins Blaue hineinreden. Hier bringe ich meine List ganz gehörig zum Ausdruck, wo sie nun sämtlich wider Gott reden.“ (IPS, S. 86) 54 Was hier – zumal, wenn man berücksichtigt, dass eine unterschwellige ‚Beratung‘ der Freunde durch Peirastes ja sehr wohl stattfindet – vielleicht gedeutet werden mag als ‚unabgesprochen, ohne interne Abstimmung auf eine einheitliche Argumentationslinie‘.

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heutigen Leser muss dies im Rahmen eines lateinischen humanistischen Schuldramas, in dem die argumentative Rede und Gegenrede des Prätexts besonders akzentuiert und sogar üppig mit Meta-Kommentaren zur Rhetorizität alles darin Gesagten ausgestattet wird, als klares Bedeutsamkeitssignal wirken: Elihu, jene im Bibeltext zusammenhanglos wirkende und vermutlich in später Redaktionsstufe einmontierte Figur, wird unter Lorichius’ Händen als ‚Heliu‘ – wie wir sehen werden – zur Schlüsselfigur des Stücks. Zunächst jedoch sei der argumentative Verlauf des Dialogs nachvollzogen – wobei vorangeschickt sei, dass Lorichius, soweit hier nicht ausdrücklich auf anderes hingewiesen wird, in komprimierender Form dem Verlauf des biblischen Dialogs folgt. Wie der Redeteil im Hiobbuch, setzt Lorichius’ 4. Akt mit Hiobs unbedingter Selbstverfluchung ein – Lorichius vollzieht also die ‚Phase 2‘ nach, in der Hiob die selbst erfahrene Kontingenz als Ausnahme in einer ansonsten intakten Weltordnung begreift. Eliphas fordert den Leidenden auf, zu seiner zuvor gezeigten patientia zurückzukehren.⁵⁵ Das hierbei postulierte Bild eines gerechten Gottes, aus dessen Hand gleichermaßen Verletzung wie Heilung komme, weshalb patientia die ihm gegenüber angemessene Haltung sei, schließt einen allgemeingültigen Zusammenhang der Bestrafung des Bösen und Belohnung des Guten ein. Wie der biblische Hiob, so negiert auch Lorichius’ Hiob dieses Postulat zwar nicht im Kern, sieht in ihm aber – anders als der biblische – bereits an dieser frühen Stelle auch einen Schuldvorwurf, den er abwehrt: „O Elipha, incusas miserum atque innoxium“ („O Eliphas, du klagst einen Armen und Schuldlosen an!“ IPS, S. 83). Eliphas’ Sentenz, gegenüber Gott könne kein Mensch gerecht sein, bejaht Hiob, um dann aber doch die Unverhältnismäßigkeit seines Leidens im Vergleich mit etwelchen Sünden zu betonen⁵⁶ und Gott um ein Ende des Leidens zu bitten.⁵⁷ Erneut ist es Lorichius hier eine Abweichung vom Bibeltext wert, Hiob einen Metakommentar zur Gesprächssituation anbringen zu lassen. Dieser ist bemerkenswert, weil Hiob darin, vorgreifend sein eigenes Reden zum Thema machend, andeutet, dass dessen Inhaltsebene gesondert von der Formulierungsebene zu bewerten sei: At gaudeo tamen vestra praesentia,  / Vos me piis docete nunc sermonibus,  / Non iurga expeto, cedat procul contentio. / Audite si libet me disserentem paucula, / Tum iudicare de verbiis vos convenit, / Fortasse non inepta, recta certe dixero.⁵⁸

55 „Quo nunc recessit invicta haec patientia?“ (IPS, S. 83) 56 „O si bilance poneretur pendula / Mea crimina et qua nunc premor calamitas”. (IPS, S. 84) 57 „Genitor supreme, servum redde perditum“. (IPS, S. 85) 58 „Und dennoch freue ich mich an eurer Anwesenheit, nun belehrt mich mit frommen Reden; ich will keine Zänkereien, ein Streit sei weit von uns. Hört, wenn es beliebt, ein wenig an, was

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Die erste Rede Baldads kontert die Klage mit dem Axiom, Hiobs Leiden sei so reversibel durch Wohlverhalten, wie es durch (uneingestandenes) Missverhalten verursacht worden sein müsse. Wie sein biblischer Vorgänger beruft sich auch Baldad hierbei auf die tradierte Erfahrung: „Revolue prisca exempla tecum“.⁵⁹ Wenn er aber eingangs dem Klagenden anmaßendes Reden vorwirft, dann steht dies (siehe oben) bei Lorichius in einem doppelten Bezug: zum einen – und soweit bibeltextkonform  – in einem inhaltlichen zu Hiobs Klage gegenüber Gott, doch zum anderen auch  – textimmanent  – auf die soeben erst von Hiob vorweggenommene Selbstkritik. Bereits jetzt, so Baldad, habe Hiobs Wortwahl die Regeln der decentia verletzt: „Non desines loqui te verba non decentia?“⁶⁰ Eine Metakritik, der Hiob konsequenterweise beipflichten kann: „Perspecta sunt mihi, quae dicis, omnia, / Et miror immensam Dei potentiam, / Sed quid dolore suggerente effutio? Miser tremo, pavore summo territus, / Non expedire linguam nunc stupidam queo.“⁶¹ Festzustellen ist also: Unabhängig von der inhaltlichen Diskursebene, die die Parteien im Dissens zeigt, führt Lorichius in seiner Version des Streitgesprächs eine zweite Diskursebene ein, die ich als ‚metarhetorische‘ bezeichnen möchte und auf der grundsätzlich ein Konsens herrscht: Man ist sich einig über die Gültigkeit der Rederegeln des aptum und der decentia, doch reklamiert Hiob für sich, diese Regeln unter dem Druck seines Leidens weniger gut einhalten zu können, als ihm selbst es lieb wäre. Wir werden auch im Folgenden bestätigt finden, was sich bereits hier andeutet: Mindestens als Neben-Thema stets präsent in Lorichius’ Bühnenspiel ist eine menschliche Problemlage, für die sensibilisiert zu sein ein zutiefst humanistisches Zeitphänomen ist. Die Verantwortung des Einzelnen nämlich, jene (durch Bildung vermittelte) Ausstattung mit sowohl allgemein- als auch verhaltensethischen Grundsätzen, die ihn als mündiges Subjekt erst konstituiert, nicht nur in wechselnden Lebenssituationen zur Anwendung bringen, sondern gegebenenfalls auch unter dem Druck sehr widriger Umstände aufrecht erhalten zu müssen. Jene patientia, für die der Hiob des Johannes Lorichius das Exempel abgibt, ist nicht mehr einfach eine christlich-stoische Tugend, die der Mensch sich im Rahmen eines sehr engen Entscheidungsspielraums per punktuellem Bekenntnis erwirbt und die ihn fortan zur rein passiven Kontinich euch auseinandersetze, dann soll es euch gefallen, über diese Worte zu urteilen; ich werde hoffentlich nichts Unangemessenes gesagt haben, gewiss aber Richtiges. “ (IPS, S. 84) 59 „Führe Dir die alten Exempel vor Augen!“ (IPS, S. 85) 60 „Hörst du nicht auf, in unangemessenen Worten zu reden?“ (IPS, S. 85) 61 „Alles, was du sagst, ist mir wohl durchschaubar, und ich  bewundere Gottes grenzenlose Macht. Doch was schwätze ich daher unter dem Einfluss des Schmerzes? Ich Elender zittere, und von höchster Furcht erschreckt, kann ich mir die dumme Zunge jetzt nicht freimachen.“ (IPS, S. 85)

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genzbewältigung befähigt. Vielmehr ist sie ein (ideales) Verhaltensdispositiv, das sich aus aktiv erworbenen, intellektuellen Einsichten summiert und das unter großem situativen Druck gefährdet sein kann. Auf nur unwesentlich breiterem Raum, als die metarhetorische Selbstkritik Hiobs einnimmt, lässt Lorichius ihn dann – wieder der Bibel folgend – gegenüber Gott seinen schuldlosen Lebenswandel beteuern.⁶² Auch Sophar hebt in seiner ersten Rede, hierauf replizierend, zunächst auf Metarhetorisches ab  – auf die Verwirrung, durch die Hiobs ‚ungeordnetes‘ und ‚geschwätziges‘ Reden die Gesprächspartner von der Wahrheitssuche ablenke –,⁶³ bevor er dann – prätextkonform – den bereits bei Bildad erhobenen Schuldvorwurf noch radikalisiert und Hiob auffordert, sich beim Abwägen von Schuld und Strafe keine allein Gott zukommende Weisheit anzumaßen, sondern vielmehr Buße zu tun. Bemerkenswert ist, dass Lorichius die scena I hier enden lässt, ohne Hiobs erste Antwort auf Sophar – die in der Bibel den ersten Redegang abschließt – mit in sie aufzunehmen. Wen er für die dramaturgische Abrundung der Szene sorgen lässt, ist vielmehr Peirastes, der hier den „belli senes“ (IPS, S. 86) für ihre Verhandlungsführung das bereits erwähnte – beiseite ins Publikum gesprochene – ausdrückliche Lob zollt. Was Peirastes damit (auch) meint, wird kontrastiv nahegelegt durch die Worte, mit denen Hiob die scena II eröffnet: Sie beginnen mit einem Appell zur Mäßigung – dem, wie das Publikum im Gegensatz zu Hiob weiß, der satanische Einfuss auf die Freunde entgegensteht – und gelten erneut dem Verhältnis von Formulierungs- und Inhaltsebene: Non sola vos penes latet sapientia,  / Invidia nostris absit sermonibus.  / Nec me patris summi fugiunt mysteria,  / Non cedo ulla in re, aut patientia,  / Quis nescit illius tantam potentiam? / Sed vos magis quam stulta verba dicitis, / Ineptias vestras sermone proditis, / Cur vos precor personam suscipitis Dei? / Non ille vestris indiget mendatiis.⁶⁴

62 „Sum conscius mihi nullius criminis“ – „Ich bin mir keines Verbrechens bewußt“. (IPS, S. 85) 63 „Tandem, loquax, praesta silentium, precor, / Dum verba tu iactas, et multa congeris, / Non possumus iam nos verum discernere.“ „Gib endlich Ruhe, Schwätzer, ich bitte dich, / solange du mit Worten um dich wirfst und verschiedenes zusammenmengst, / können wir die Wahrheit nicht erkennen.“ (IPS, S. 85) 64 „Nicht nur auf eurer Seite verbirgt sich die Weisheit. Gehässigkeit sei unseren Reden fern. Aber die Mysteriosität des höchsten Vaters entzieht sich mir nicht, und ich gebe euch in keiner Sache nach, nur bei der Geduld  – wer kennt nicht deren beträchtliche Macht? Aber ihr redet mehr als dumme Worte, ihr enthüllt eure Torheit in der Rede. Warum, ich bitte euch, übernehmt ihr Gottes Rechtsperson? Er hat eure Lügen nicht nötig.“ (IPS, S. 87)

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Wie der Bibeltext, so schließt auch Lorichius hier die Prozessbitte Hiobs (Phase 3) an Gott an, wobei er die darin liegende argumentationslogische Kontinuität gegenüber der Vorlage noch etwas herausarbeitet: Hiobs Wunsch, unmittelbar von Gott selbst eine Einsicht in die Verhältnismäßigkeit zwischen Sünde und Strafe zu erlangen, lässt sich zwar auch in Hiob 13 bereits an seinen Vorwurf anschließen, die Freunde seien als vermittelnde Instanz zwischen Gott und Hiob untauglich. Doch erhält bei Lorichius diese Passage schon dadurch erhöhte Signifikanz, dass sie durch ihre Eröffnungsfunktion in der scena II und die voraufgegangene Zwischenrede des Peirastes exponiert ist und sich somit – stärker noch als im Bibeltext, wo sie im Rahmen von Hiobs Antwort auf Zofar steht – einerseits als Zwischenbilanz auf den ganzen bisherigen Gesprächsverlauf lesen lässt, andererseits als Eröffnung der scena II einer neuen Sinn- und Themeneinheit. In ihr fasst Lorichius den zweiten und dritten Redegang des Hiobbuchs zusammen. Auch bei Lorichius entspringt Hiobs Prozessbitte nicht allein dem festgestellten Unvermögen seiner menschlichen Dialogpartner, sondern auch einer intensivierten Wahrnehmung der Kontingenz der eigenen leidvollen Situation. Diese Intensivierung erweist sich darin, dass Hiob sein Leid nun in neue Kontexte rückt, in denen es jeweils – nach intelligiblen Maßstäben – unverhältnismäßig erscheint. Hatte er bereits zuvor – die Schuldprämisse der Freunde aufgreifend, nach der das Leid als Strafe interpretiert wird – ein Missverhältnis zwischen individueller Schuld und Strafe festgestellt, so führt er nun die universelle conditio humana ins Feld: Der Mensch als solcher sei im Angesicht der Ewigkeit zu bedeutungslos, um derart gesteigerter göttlicher Aufmerksamkeit gewürdigt zu werden. Das Bild vom Menschen als schwacher Pflanze ruft Lorichius’ Hiob – wie auch in Hiob 14 – hintereinander in zweifacher Funktion auf: Zunächst illustriert es das letztgenannte Verhältnis zwischen dem Stellenwert des Einzelmenschen und der göttlichen Größe, um dann aber, als Metapher destruiert, aufzuweisen, dass der Mensch selbst den eben noch vollzogenen Vergleich mit einer schwachen Pflanze nicht besteht, da Gott ihm nicht einmal deren Aussicht auf neues Leben nach dem Tode (also: neue Triebe nach Beschnitt oder Abholzung) zugestehe. Diese Bilderreihe also stützt Hiobs Prozessbitte, indem sie in mindestens dreifachem Kontext in seinem Leidensschicksal eine Kontingenz betont, die sich dem menschlichen Verstand als göttliche Ungerechtigkeit darstellt. Der nächste, zweite Redegang ist im Hiobbuch derjenige, in dem die Freunde erstmals so konsequent auf den Redegestus Hiobs Bezug nehmen, dass dieser ihnen zur Grundlage eigener, verschärfter Vorwürfe werden kann. Alle drei gehen nun von einem funktionierenden Tun-Ergehen-Zusammenhang aus und rufen Hiob zur Einsicht nicht nur in vergangene Fehlhandlungen, sondern auch in die Vermessenheit seiner Redeweise auf. Lorichius behält dies prinzipiell bei, räumt

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indes der metarhetorischen Ebene, die er ja bereits zuvor eröffnet hat, dabei den weitaus meisten Raum ein: Eliphas („Heus arroganter, ut tuam sapientiam / Iactas amice? et quam superba detonas? / Non primus es tu conditus mortalium, / Secreta nec tu perspexisti numinis, / Pari teneris et quo nos malo. / Nemo Dei in conspectu est integer satis, / nec purus est ut de te tute praedicas“),⁶⁵ Baldad („Interempta quid loquacitate garrule  / Lacessis, et perstringis ore lubrico?  / Non terra te propter vacua esse coeperit“)⁶⁶ und Sophar („non hypocritae vana constat gloria“)⁶⁷ postulieren als Hinderungsgrund für Hiobs Erlösung nun zuvörderst dessen vermessene Prozessbitte, weniger hingegen etwelche früheren Sünden. Hiobs Antworten indes lässt Lorichius von denselbem Grad an Kontingenzbewusstsein ausgehen, der an analoger Stelle auch im Bibeltext erreicht wird: Der Leidende weist den Tun-Ergehen-Zusammenhang als kontrafaktisch ab, indem er im Gegenteil die Kontingenz – konkret: das Wohlergehen gerade der unmoralisch Handelnden („Immo bonis florent mali successibus“⁶⁸)  – als allgemeinen Weltzustand diagnostiziert. Mit dieser Kontingenzdiagnose stützt er seine Prozessbitte, indem er nicht nur die Vorwürfe abweist, sondern darauf beharrt, die herrschenden Zustände von Gott intelligibel – was durchaus auch heißen kann: am Maßstab des von den Freunden vertretenen Axioms – gerechtfertigt zu bekommen. Im letzten Redegang (bei Lorichius leitet ihn Eliphas mit einer klassischen Terenz-Floskel ein: „Laterem lavas, si te pecasse denegas“)⁶⁹ unterstreichen Eliphas und Bildad noch einmal die von ihnen angenommene Straffunktion des Leidens, der Hiob einzig mit Buße zu begegnen habe – prätextgetreu zwar, doch

65 „Eliphas: He, anmaßend wie du deine Weisheit ausbreitest, Freund? Und wie du sie als eine vortreffliche lautstark verkündest? Du bist nicht als der Erste der Sterblichen erschaffen worden, nicht einmal du durchschaust die Geheimnisse des höchsten Wesens. Ich hätte lieber, dass du uns für gleichwertig hieltest. Niemand ist vor dem Angesicht Gottes hinreichend unbescholten, und nicht einer unter den Lebenden so rein, wie du es von dir mit Gewissheit behauptest. So steht der Sinnspruch fest: Der Gottlose wird überheblich sein, und er bläht sich andauernd auf, aber mitsamt seiner Herrschaft geht er in kurzer Zeit unter.“ (IPS, S. 87 f.) 66 „Baldad: Die Redseligkeit einmal beiseitegeräumt: Was forderst du geschwätzig heraus und tadelst du mit schlüpfrigem Mund? Die Erde wird deinetwegen nicht leer stehen, noch werden die Felsen von ihrem Sitz herabsinken. Erschreckt nicht Gott die Bösen durch quälende Furcht? Das Grauen überfällt jene, beklemmende Angst richtet sie zugrunde.“ (IPS, S. 88) 67 „Sophar: Da hier ja nun ausführlich hin und her geredet wird – meine Meinung ist so, und so richte ich meinen Sinn aus: Nicht das Lob des Gottlosen hat Bestand, noch bleibt sein Glanz auf Dauer. Nicht der eitle Ruhm des Heuchlers steht dauerhaft fest. Wenn er sein Haupt bis hinauf zu den Wolken erhebt, vergeht er wie Rauch oder Regenwasser.“ (IPS, S. 89) 68 „Hiob: Vielmehr gedeihen die Bösen durch gute Erfolge.“ (IPS, S. 89) 69 „Du wäschst einen Mohren, wenn Du in Abrede stellst, gesündigt zu haben.“ (IPS, S. 90; Hervorhebung C.H.).

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variiert Lorichius die am Beginn stehende Aussage des Eliphas: In stark verkürzter Ausdehnung listet dieser hier nämlich nicht (wie im Hiobbuch) einen Katalog unterstellter Sünden auf, sondern gleicht seinen Kerngedanken als vorgreifende Paraphrase dem folgenden des Bildad an: Kein Mensch könne sich vor Gott Sündlosigkeit anmaßen – „Sordet coram Deo mortalis quilibet“.⁷⁰ Welch spezifische Sinnverschiebung gegenüber dem Prätext Lorichius vornimmt, indem er Eliphas wie Bildad qua Analogie in dieselbe Kerbe hauen lässt, ist erst ganz zu ermessen im Kontext dessen, was unmittelbar zuvor jene Figur gesagt hat, die erklärtermaßen deren Rede steuert: Peirastes. Mit dessen Beiseit-Kommentar als Rezeptionsanweisung kann der Zuschauer – anders als Baldad und Sophar selbst – aus deren übereinstimmender Rede von der allgemeinen Sündhaftigkeit des Menschen nicht nur einen Appell zur Buße heraushören, sondern unterschwellig auch dessen glattes Gegenteil: die Einflüsterung, wenn selbst das Handeln des Frömmsten niemals völlige Gottgefälligkeit erzielen könne, dann lohne sich nicht einmal der Versuch dazu. Auch Hiobs Antworten passt Lorichius den verknappten Anwürfen seines letzten Redegangs an: Wiederum im Grundsatz zustimmend – „Non haec nego“ (IPS, S. 90) –, weist Hiob den individuell gegen ihn erhobenen Sündenvorwurf zurück, indem er katalogmäßig abarbeitet, welche Vergehen er nicht begangen habe: die bedingte Selbstverfluchung. Indem also Lorichius seine scena II mit Hiobs Prozessbitte beginnen und mit jener Selbstverfluchung enden lässt, fasst er – unter Wahrung der Chronologie des Prätexts – eben jene Passagen des Redeteils zu einem Sinnabschnitt zusammen, die ich als ‚Phase 3‘ des gesteigerten Kontingenzbewusstseins subsumiert habe. Ausgespart jedoch bleibt die ‚Phase 3a‘: Zu jenen Klagen über das Schweigen Gottes gegenüber den zuvor erhobenen Bitten und Vorwürfen, wie sie der biblische Hiob in 23 und 24 erhebt und die der späteren Hiob-Rezeption zu einem zentralen Aufhänger für die Abhandlung von Theodizeefragen geraten werden, gelangt der Hiob des Humanistendramatikers nur in leisen Ansätzen: „Sed cur amicum vertis lumen o Deus? Cur te vocantem corde ex infimo iam negligis?“⁷¹ Nun tritt Heliu auf. Zunächst einmal scheint auch er sich in den Zweckzusammenhang Peirastes’ zu fügen, dem es zufällt, den Neuankömmling beim Publikum ‚beiseit‘ noch einmal als ‚rhetor‘ vorzustellen – nicht ohne dessen Geschäft mit (angedeutet fäkalhumoreskem) Hohn zu überziehen: „Si cui vacat ventosum

70 „Vor Schmutz starrt im Angesicht Gottes ein jeder“ (IPS, S. 90). 71 „Aber warum wendest du, o Gott, das freundliche Licht weg? Warum vernachlässigst du den, der dich aus tiefstem Herzen ruft?“ (IPS, S. 91).

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audire rhetorem, / Nunc praebeat longis aures ambagibus: / Distentus est nam verbis sesquipedalibus. / Moreretur, haec si verba non erumperent.“⁷² Dass es – verkörpert durch Heliu – die Disziplin der Rhetorik selbst ist, der Peirastes offenkundig so wenig zutraut, seine Strategie stören zu können, macht Helius Ankündigung klar, auf die Peirastes reagiert: Pointierter noch als im Bibeltext, hat Lorichius’ Heliu von Anfang an die metarhetorische Ebene betreten und beansprucht, die verfahrene Diskussion der anderen – die er wohlgemerkt als ‚iurgia‘ (‚Gerichtsstreitigkeiten‘) bezeichnet, also als legitimes Aktionsfeld der Rhetorik, und die, wie wir wissen, just deshalb so verfahren ist, weil sie Peirastes’ Strategem gehorcht – einem ordentlichen Abschluss zuführen zu können: „rem perplexam transigam.“⁷³ Und tatsächlich: Zu kaum 30 Zeilen muss Lorichius die vier Elihu-Reden des Hiobbuchs zusammenfassen, da stellt sich unter Helius Hörern bereits ein Effekt ein, von dem der Bibeltext nichts weiß und mit der Peirastes nicht rechnet: Nämlich eine allgemeine und ausdrückliche Zustimmung, mit der die Widersprüche abschließend überbrückt sind. Wie stellt Heliu dies an? Auf eine Weise, die uns nach dem bisherigen Verlauf nicht mehr überraschen kann: Indem er nämlich zum letzten Indiz einer Schuld Hiobs just dessen an den Tag gelegte Redeweise erhebt, und zwar sowohl auf inhaltlicher wie auf rhetorischer Ebene.

72 „Falls hier jemand noch nie einen windigen Rhetor gehört hat, dann gewähre der seine Ohren jetzt dessen langen Umschweifen: Er ist nämlich zum Bersten angefüllt mit ellenlangen Worten. Er würde sterben, wenn diese Worte nicht hervorbrechen könnten“ (IPS, S. 92). 73 „Ich werde der verwickelten Sache ein Ende machen.“ (IPS, S. 92) Aus weiteren Kommentaren Peirastes’ indes geht nicht nur hervor, dass er Hiob seitens dieses vierten Redners sogar für am stärksten geschlagen hält („Hominis vide manian atque amentiam, / Affligit hic gravius miserum, quam ceteri.“ – „Sieh den Wahn und die Kopflosigkeit dieses Menschen! Der schlägt den Armen noch heftiger als die übrigen.“ IPS, S. 93) sondern implizit auch noch etwas Bemerkenswertes: Peirastes scheint (wenn auch angenehm) überrascht – so, als sei nicht er selbst es gewesen, der Heliu aufgefahren habe.

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HE. Vah qui senes deliri tantum blaterant, Nunc haesitant, ac auribus lupum tenent, Dubii, quid aegre affecto Iob respondeant. Non barba, non aetas parit prudentiam. Sed illa contingit, cuicumque dat Deus. Ephebus, aut puer quandoque rectius Quid administrat, ac silicernii senes. Heus quo senes diversum tenditis viri? E. Quis nos vocat?

HE: Weia, was die schwachsinnigen Greise da alles plappern. Nun zögern sie, wissen nicht ein noch aus und sind unschlüssig, was sie dem übel gezeichneten Hiob antworten sollen. Nicht der Bart, nicht das Alter bringt Klugheit hervor. Sondern sie trifft, wem immer Gott sie gibt. Jüngling oder der Knabe, wann immer er etwas sachgemäßer handhabt als die alten Knacker. He, wohin strebt ihr alten Männer in verschiedene Richtungen?

SO. Quid vult non visus antea?

E: Wer ruft uns?

HE. Fere omnia hic quae disputastis invicem, Hinc stans procul percepi, et multa displicent. Adeste paucis, rem perplexam transigam, Nam vestra me sic commovere iurgia.

SO: Was will dieser, der zuvor nicht zu sehen war?

BA. Si plus vides ac nos, mone, tacebimus. PE. Si cui vacat ventosum audire rhetorem, Nunc praebeat longis aures ambagibus: Distentus est nam verbis sesquipedalibus. Moreretur, haec si verba non erumperent. HE. Repetita primum crambe, o Iob, quam pene me Occidit, hoc toties cum prave iactitas, Te criminum cunctis carere sordibus, Hinc cum Deo miris modis expostulas, Ratione ut aequa reddita te iudicet. Sic te tuo mucrone possum vincere, Nam nemo iustus sic almo obstrepit Deo. PE. Hominis vide manian atque amentiam, Affligit hic gravius miserum, quam ceteri. HE. Non verba sic facit Deus, non erudit Hoc crede pacto, dictum sufficit semel. Rationibus deinde miris illorum admonet, Persaepe cum serpit quies gratissima, Subindicat quid per nocturna somnia. Dolore quondam et aerumnis nos increpat, Hinc paenitenti rursus fit placabilis, Per has vices operatur summus arbiter. Est aequitas Dei summa, et clementia: Nil ille causam praeter, unquam iudicat,

HE: Fast alles, was ihr hier abwechselnd erwogen habt, habe ich von dort aus, entfernt stehend, vernommen. Und vieles missfällt mir. Die verzweifelte Angelegenheit möchte ich zu Ende bringen. Denn eure Streitereien haben mich maßlos erschüttert. BA: Wenn du mehr siehst als wir, gib Rat, wir werden schweigen. PE: Falls hier jemand noch nie einen windigen Rhetor gehört hat, dann gewähre der seine Ohren jetzt dessen langen Umschweifen: Er ist nämlich zum Bersten angefüllt mit ellenlangen Worten. Er würde sterben, wenn diese Worte nicht hervorbrechen könnten. HE: Erstlich all der aufgewärmte Kohl, wie er mich fast zu Tode quält, wenn du immer wieder auf schiefe Weise vorbringst, du seist frei von allem Schmutz der Verfehlungen, und davon ausgehend mit wunderlichen Mitteln von Gott forderst, er solle mit wieder gewährter unparteiischer Beweisführung über dich richten! Unter solchen Umständen kann ich dich mit deinen eigenen Waffen schlagen: Keiner nämlich, der gerecht ist, tönt dem gütigen Gott derartig entgegen.

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Nihil hunc valet penes personae auctoritas, Domat potentes, et tyrannos deicit, Sternit minaces hic, ducesque subruit. Nunc si quid est tibi decretum rectius, Loquere, audiam. IO. Dictis tuis consentio. HE. At vos senilem adferte nunc scientiam. ELI. Nos calculum addimus tuis rationibus. SO. Subscribimus tibi nostrum suffragium. HE. Respondeo prioribus sermonibus: Pietas Deo nihil prodest mortalium. Nihil huic scelus nocet vel maximum. Homo piis iuvatur actis proximus, Iniqua vicinos laedunt flagitia. Non officit nostra actio, vel commodat, Patri supremo, sed iuvat nos hic magis. Non tolli a iustis benigna lumina: Quoties sed illos castigare cernitur, Salutis ergo ipsorum hoc, crede, conficit. Quare fer aequo, quod dat ille, pectore, Et mira facta semper cogita Dei. Melior redibit omnino lux, crastina: Sed erigare certa nunc fiducia, Calamitatem finiet brevi tuam. Non est procul salus tibi, quod auguror. Sed ecce, num Deum adventare conspicor, Sic fissa magno nubes turbine Me terruit, fulgor visum eripuit mihi. Ad nos venit summi maiestas numinis, Tibi salutem conferens et gaudium.

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PE: Man sehe sich die Manie und den Wahnsinn dieses Menschen an. Er bedrängt den Armen hier noch schwerer als die anderen. HE: Gott macht nicht derartige Worte, auf diese Weise – das glaube mir – erzieht er nicht, das einmal Gesagte reicht (ihm) aus. Daraufhin belehrt er durch wundersame Mittel. Sehr oft, wenn die gnädigste Ruhe um sich greift, erklärt er etwas durch nächtliche Träume. Ist er uns erst einmal mit Schmerz und Trübsalen hart angegangen, so wird er daraufhin dem Reuigen wieder versöhnlich. Mit solchen Schicksalswenden geht der höchste Richter vor. Die Gerechtigkeit und Milde Gottes ist die höchste. In nichts urteilt er jemals an der Sache vorbei. Nichts wiegt bei ihm das Ansehen einer Person, er zähmt die Mächtigen und stürzt die Tyrannen. Er streckt die Herausragenden hin, und er vernichtet die Fürsten. Wenn du eine richtigere Feststellung kennst, dann sprich, ich höre! IO: Ich stimme deinen Worten zu. HE: Aber tragt nun Ihr euer Greisenwissen vor. ELI: Wir stimmen für dich. SO: Wir unterschreiben dir unseren Stimmzettel. HE: Ich antworte den vorhin gehaltenen Reden: Die Frömmigkeit der Sterblichen ist für Gott kein Nutzen. Genausowenig ist ihm noch das größte Verbrechen ein Schaden. Zuallernächst dem Menschen selbst ist durch frommes Tun geholfen, unbillige Schandtaten beschädigen den Nachbarn. Nicht beeinträchtigt noch begünstigt unser Handeln den höchsten Vater, sondern hilft vielmehr hier und uns selbst. Er zieht seinen mildtätigen Blick nicht ab von den Gerechten. Wann immer man ihn diese aber züchtigen sieht, tut er dies, glaube mir, um ihres Heils willen.

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Deshalb ertrage in deiner Brust in gleicher Weise alles, was er gibt, und bedenke immer, dass Gottes Tun wundersam ist. Ein gänzlich besseres Licht wird morgen zurückkehren. Ermuntere dich aber durch festes Vertrauen. Er wird in Kürze dein Unglück beenden. Nicht fern ist dein Heil, ich ahne es voraus. Aber nehme ich da etwa wahr, dass Gott ankommt? So sehr erschreckt mich eine durch einen großen Wirbel zerteilte Wolke, ein Blitz raubt mir die Sehkraft. Zu uns kommt die Majestät der höchsten Gottheit, dir Heil und Freude bringend. (IPS, S. 92 ff.)

Ausgehend von einer Kritik an Hiobs Rhetorik, streicht Heliu also heraus, dass ein Prozess, wie Hiob ihn sich wünscht, seiner causa sowohl medial als auch inhaltlich unangemessen wäre. Medial, weil ein solcher Prozess kaum anders denn mit verbalen – rhetorischen – Mitteln zu führen wäre. Auf dieser Ebene aber könnte eine Vermittlung schon deshalb nicht stattfinden, weil – einerseits – Hiob sich hier als oberflächlich defizient erwiesen hat und weil sie – andererseits – nicht diejenige ist, auf der Gott sich dem Menschen zu offenbaren pflegt. Und inhaltlich unangemessen wäre ein Prozess deshalb, weil er nicht anders zu denken wäre denn als ein Abgleich divergierender Interessen (und sei es nur als ein Abgleich in jenem Sinne, dass sich zwar die für Hiob nachteiligen Zustände nicht ändern, ihm aber intelligibel und somit ertragbar gemacht würden), Interessen, die sich im aktiven Handeln Hiobs hier, im reaktiven Handeln Gottes dort geäußert hätten. Gottes Handeln an Hiob aber, so Heliu, begreife sich gerade nicht reaktiv und aus intelligiblen Interessen heraus – da ihm aus Hiobs Handeln weder Nutzen noch Schaden erwachse –, sondern aus wundersamem Ratschluss. In dieser Passage, die dezidiert eine Gegenhaltung zu den drei Freunden einnimmt – „respondeo prioribus sermonibus“ (IPS, S. 93) – fordert Heliu, angesichts des Leidens Hiobs jegliche Form von Sinnzuschreibung zu unterlassen. Und in der Tat verzichtet er konsequent darauf, der von ihm verworfenen Interpretation des Leidens als Strafe eine andere, eigene entgegenzusetzen. Nur andeutungsweise – als er nämlich vom „paenitenti“ spricht  – setzt er die Gegenthese vom Leid als Prüfung. Dass ein rechtes Verhalten im Leid die Bedingung für dessen Aufhebung sein könne, postuliert Heliu an keiner Stelle explizit. Umso stimmiger aber fügt sich hierein der praktische Effekt seiner Intervention: Hiob und seine Kontrahenten finden von einem anstößigen Verhalten im Leid zu einem gottgefälligen Verhalten zurück, indem sie den Anspruch aufgeben, das Leid mit rhetorischen Mitteln intelligibel machen zu können.

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Die Schaltfunktion des Rhetors in Lorichius’ Stück also besteht darin, dass er den  – rhetorisch geführten  – Sinnzuschreibungs-Diskurs beendet und die Diskutanten zum ‚rechten Reden von Gott‘ zurückführt. Was hier heißt: zu einer Rhetorik der Demut, die sich gerade nicht anheischig macht, ein Spielfeld der Handlungs- und Bewirkbarkeitsoptionen im Reden über Gott oder gar mit Gott zu sein, sondern sich in die Bescheidung fügt, die ihr gegebenen Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns als ungenügend anzuerkennen, sobald es um das Handeln Gottes geht. Gott selbst nun setzt in seinem Auftritt, den Heliu in dieser Form einleitet, erwartbarerweise die gleichen Akzente. Stärkere Beachtung als die wieder recht prätextkonform gehaltene Gottesrede verdient für uns ein sehr origineller Schlusspunkt, den Lorichius unter seine Peirastes-Handlung setzt: In der 5. Szene seines 4. Aktes lässt er den geknickten Teufel und den triumphierenden Rhetor unter vier Augen zu einem regelrechten Showdown zusammentreffen. Darin wird kontrastiv noch einmal überdeutlich, was zuvor bereits implizit zu vermuten stand: Heliu als Verkörperung der ethisch reinen Beredsamkeit ist – anders als die Mehrheit der übrigen irdischen personae aus der Dialoghandlung – dem Bösen nicht unterworfen und nicht unterwerfbar. „Non sum tui juris“ (IPS, S. 93), stellt Heliu klar, und Peirastes vermag es nicht einmal, den Redner mit sich in die Hölle zu zwingen, um ihn dort (was wohl ebenso gut als Strafe zu denken ist wie als Anerkennung für seine so unangenehmen Fähigkeiten) mit anwaltlichen Tätigkeiten zu betrauen. SCENA V. Heliu. Peirastes. MAnifesta Iobum monstrant integerrimum Exempla, et almo quod satis placeat Deo, Quem maximo posthac honore prosequar. PE. Quid nunc agam? turbae silent, redit quies, Iobus exsultat, triumphat, iubilat, Iam liber ex pedicis, meisque vinculis, Pudore summo discedendum est hinc mihi. Sed garrulum hunc video, atque nugivendulum. Certum est prius nebulonem hunc ipsum ludere. HE. O magna serva me Salus, quis advenit?

Offenkundige Beweise zeigen den Hiob als völlig redlich, und dem gütigen Gott soll das gut gefallen, dem ich künftig in größter Verehrung folgen werde. PE: Was soll ich jetzt tun? Das Getümmel hat sich gelegt, es ist Ruhe eingekehrt, Hiob freut sich, triumphiert, jubiliert, schon befreit aus den Fesseln, meinen Schlingen, da heißt es für mich höchstbeschämt abzugehen. Aber da sehe ich schon wieder den Schwätzer, diesen Schnickschnackkrämer. Klar, dass ich zuerst noch mit diesem Windbeutel ein Spiel treiben muss.

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PE. Quid extimescis? HE. Heu fuge pestis maxima.

HE: O große Salus, rette mich, wer naht sich da?

PE. Te rabula hinc magis rabiose proripe.

PE: Warum bekommst du Angst?

HE. Non sum tui iuris, pete regna Tartari.

HE: Ach, weiche, du größte Pestilenz!

PE. Sed te tamen mecum illuc auferam simul, Videbis aulae sic meae satellites, Acturus Aeaco causas sub iudice. HE. Abi procul, recede quo libet in malum.

PE: Du Phrasendrescher mach dich umso schneller davon!

PE. Non me amovebis hinc tuis sermonibus, Nec pellere hinc curtis potes enthymematis. Sequere huc. HE. Nihil minus.

HE: Ich unterstehe nicht deinem Recht – geh ins Reich des Tartarus! PE: Aber dich werde ich dahin mitnehmen, so wirst du das Gefolge an meinem Hof kennenlernen, du wirst Prozesse unter dem Richter Aeacus führen.

PE. Quin sic tibi impero. HE. Alium rape hinc, ego at me conicio in pedes. PE. Nil tempore hoc praedae possum nanciscier, Doleo mihi hunc bolum ereptum esse faucibus. Acherontium sed nunc subibo gurgitem, Alios novo mox aggrediar tentamine.

HE: Geh weit weg, geh im Unguten wohin auch immer! PE: Du wirst mich mit deinen Reden von hier nicht wegbewegen, noch mich mit deinen kurzen Schlüssen verjagen. Hierher gefolgt! HE: Kein bisschen! PE: Das ist ein Befehl! HE: Raub dir einen anderen, ich mache mich davon. PE: Nichts kann ich zur Zeit an Beute machen, es schmerzt mich, dass mir dieser Fang aus dem Rachen entschlüpft ist. Aber jetzt werde ich in den Strudel des Acheron tauchen, bald werde ich mich anderen mit neuen Anfechtungen nähern.

Zurück nun zu Hans Sachs: Er übernimmt die Selbstverfluchung Hiobs (Phase 2) vergleichsweise ausführlich. Mit 26 Zeilen ist schon sie allein etwa so lang wie anschließend – im Schnitt – jeder einzelne der nur noch drei Einzeldialoge, zu

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denen Sachs  – wie erwähnt  – die drei aus insgesamt acht turnusmäßig durchwechselnden Wortmeldungen bestehenden Redegänge seiner Vorlagen komprimiert. Den Schuld-Aspekt bei Elifas, den Lorichius gegenüber dem Bibeltext bereits im ersten Redegang stark privilegiert hat, gewichtet Sachs nochmals stärker und lässt ihn zur Kernaussage seines Elifas und der Antwort Hiobs werden: „Den unschulding thu Gott nit plagen! Job spricht: Du thust mich unschuldig beklagen“ (CdH, S. 45). In Hiobs folgender Bitte an Gott übernimmt Sachs von Lorichius die Passagen zur Unverhältnismäßigkeit zwischen Leiden und – als möglich eingestandener – Sünde, lässt jedoch die von Lorichius etablierte ‚metarhetorische‘ Ebene außen vor. Wieder rein inhaltsbezogen steht hier insofern der Einspruch Bildads dar, dessen Rede Sachs in die Schranken von vier Zeilen und zwei Aspekten weist: die implizite Erneuerung des Schuldvorwurfs an Hiob und die Berufung auf tradierte Exempla. „Hörst du noch nit mort auff zu schreien? / Gott der strafft ie niemand umb sunst. / Denck der alten exempel kunst! / Diß ist der gerecht Gottes willen.“ (CdH, S. 46) Das letzte, was Sachs aus Lorichius’ Dialogpassage übernimmt, ist Hiobs Beschwörung der Vergänglichkeit des Menschen. Doch ist bemerkenswert, dass er dies mit einer deutlichen Umkontextualisierung verbindet: Bei Lorichius ist sie  – wie gesagt  – kaum wegzudenken aus dem Kontext der Prozessbitte, also einer Phase sich verschärfender Konfrontation zwischen Hiob und Gott. Sachs hingegen, der die Prozessbitte weglässt, verwendet dieses Bild konträr, nämlich harmonisierend – als Schlusswort, mit dem sich Hiob („die weißheit mich erhelt und tröst, / das niemandt wird erfunden rein / vor des Herrn augen gemein“, CdH, S. 47) einerseits den Freunden widerspruchslos anschließt, insoweit sie Gottes Unerforschlichkeit betonen, sich aber andererseits im selben Maße wie über die Schuldanwürfe der Freunde auch unter den Befehl der nicht hinterfragten göttlichen Allgerechtigkeit stellt. Der Hiob des Hans Sachs verharrt in einer passiven Form von ‚gedult‘, die die bei Lorichius mit verarbeitete Phase des Haderns mit der erlebten Kontingenz bzw. des Ringens um deren Intelligibilität gar nicht erst erreicht. Nicht erst Hiobs Prozessbitte (Phase 3) entfällt bei Sachs, sondern bereits die ihr vorangehende Diagnose eines allgemein verkehrten, dem Axiom des TunErgehen-Zusammenhangs zuwiderlaufenden Weltzustandes (Phase 2a), die der Hiob Lorichius’ (und der der Bibel) aus der Unerklärbarkeit seines eigenen Leidens extrapoliert. Nach unserer Phaseneinteilung des Bibelbuchs geht Sachs’ Hiob bis einschließlich zur Phase 2: Das Äußerste an ‚Rebellion‘, zu dem er gelangt, ist sein mehrmaliges Pochen auf eigene Unschuld gegenüber den Freunden. Doch bereits in jenem Schlusswort, mit dem er die Auseinandersetzung mit

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jenen beendet, lässt er ihr Axiom vom Leiden als Strafleiden hinter sich, das ja die genuine Basis jedweden Fragens nach einer Schuld oder Unschuld im individuellen Handeln Hiobs überhaupt ist, das seinem Leid vorausgegangen wäre: Wenn der Leidende resümiert, es sei die (spezifisch christliche) „weißheit“ von der allgemeinen, überindividuellen Sündhaftigkeit jedes Menschen, die „mich erhelt und tröst“, dann passt dies kaum noch zusammen mit seinem zuvor geäußerten Wunsch, sein individuelles Leid in ein Angemessenheitsverhältnis zu individueller Schuld setzen zu wollen („O das dir leg auff einer wag / Meine laster und auch dargegen / mein straff! die würt gar weit fürwegen“, 46, 3–5) – viel näher steht es hingegen bereits jenem Argument, mit dem nun, direkt im Anschluss, Heliu auftreten wird. Wie auch immer Ulf Wielandt bezüglich des Sachsschen Stücks zu dem Eindruck gelangt sein mag, „die Rede Elihus verschwinde[.]“ dort „ganz“:⁷⁴ Richtig ist das Gegenteil. Nicht nur gönnt Sachs Heliu sehr wohl seinen Auftritt, sondern er weist diesem sogar in der Gesamtkomposition eine zentrale Scharnier-Funktion zu. Auch hierin folgt er dramaturgisch gesehen Lorichius, nicht aber inhaltlich: Wie in Lorichius’ Humanistendrama den ethischen Primat der Rhetorik zu verkörpern, ist in Sachs’ Stück Helius Aufgabe nicht.⁷⁵ Hier konzentriert sich seine Funktion ganz darauf, gleichsam als Schiedsmann redend eine argumentative Brücke zu bauen zwischen dem ihm vorangegangenen Dialog-Resümee Hiobs und dem ihm folgenden Monolog des Herrn. (Der ihn denn auch, bibelkonform, von seinem Urteil gegen die Freunde ausklammern wird.) Ihm kommt es zu, das Leid Hiobs gültig (im Sinne Sachs’ und des Herrn) zu interpretieren: Aus Gottes Hand, so sagt er, komme den Menschen Gutes und Schlechtes zu gleichen Teilen zu, beides aber diene gleichermaßen dem Guten. Gutes und schlechtes Ergehen seien also nicht als Lohn oder Strafe im Gegenzug zu gutem oder bösen Verhalten zu werten. Das entzieht Eliphas („Drum leidst nit unverschuldt die plage“, CdH, S. 46) und Bildad („Gott der strafft ie niemand umb sunst“, CdH, S. 46) den Boden – und entzöge den selben Boden auch Hiob, hätte der ihn nicht ohnehin gerade noch rechtzeitig geräumt. Insofern bleibt für Sachs’ Heliu kein Grund, auch Hiob selbst anzugreifen, wie er es bei Lorichius entschieden tut, und tatsächlich ergreift er hier geradezu Partei für den Leidenden („Kan er vor euch kein rhu nit han?“, CdH, S. 47). Zumal dieser schließlich, wie erwähnt, bei Sachs auch keine Prozessbitte geäußert hat.

74 Wielandt (s. Kap. 1, Anm. 3), S. 130. 75 Als letzte, freilich jeder Funktion entkleidete und insofern wohl unbeabsichtigte Reminiszenz an Helius Funktion bei Lorichius beläßt ihm Sachs gleichwohl in der Personenliste das Tätigkeitsattribut: „Elihu, der redner“ (CdH, S. 55).

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Behält man wiederum dies vor Augen, dann wirkt die Rede des Herrn, die nun erfolgt, ein- wie ausgangs etwas irritierend. Wenn Gott sich einführt mit den Worten: „Wer ist, der hie mit mir will rechten, / Mein göttlich urtheil widerfechten?“ (CdH, S. 48), um dann nach einer verknappten Schöpfungsrevue zu enden: „Diß als ist unterworffen mir. / Wie kann ich denn werden von dir / geurtheilt? du bist zu gering“ (CdH, S. 49), dann ließe sich das – wollte man Sachs’ Text maliziöserweise in dem unselbständigen Status des Direktvergleichs mit Lorichius belassen – noch auf jene Prozessbitte des Lorichiusschen Hiob beziehen, die Sachs mit hätte übernehmen müssen, um die Schärfe der göttlichen Worte im neuen Kontext nicht deplaziert wirken zu lassen. Und gewiss wäre von einer deplazierten Schärfe zu sprechen, wollte man Gottes Wort ganz direkt auf die letzten, ja längst wieder von Demut, patientia und harmonisierender Konzilianz zeugenden Äußerungen Hiobs beziehen. Doch scheint mir generell eine Lektüre verfehlt, die die Wechselreden des Sachsschen Textes auf etwelche gesprächsmimetische Wahrscheinlichkeit in der diskursiven Abfolge einzelner Argumente, gar auf eine figuren- oder auch nur typen-‚psychologische‘ Wahrscheinlichkeit in der Abfolge der geäußerten Affekte hin lesen wollte. Sieht man nämlich davon ab, welche Einzelaussagen bei Sachs welchen Sprechern zugeordnet sind, dann zeichnet sich im Grundverlauf dieser Aussagen eine Bewegung ab, die in sich durchaus konsistent ist: Sie führt von der klaglosen Demut Hiobs über deren Anfechtung, die die Freunde mit ihrer Diskussion einer möglichen Straffunktion seines Leidens auslösen, und schließlich zurück zur klaglosen Demut. Diesen Zustand hat Hiob (anders als in der Bibel) bei Sachs bereits wieder erreicht, bevor Heliu und der Herr ins Spiel kommen – was Heliu auch ausdrücklich sanktioniert und bestärkt. Eine indirekte Bestärkung ex negativo würde ich auch in der Rede Gottes sehen wollen – die Hiobs wieder erreichte Demut als angemessen unterstreicht, indem sie noch einmal jenen Zustand vermessener Gerechtigkeitssuche geißelt, den Hiob bereits hinter sich gelassen hat, für den aber die Freunde als Typen selbst stehen. Klar wird: Für den Nachweis seiner bei Lorichius titelgebenden patientia, die ihn auch bei Sachs „nit ungedultig“ werden, sondern „from und unschuldig“ (CdH, S. 29) bleiben lässt, fallen die Grade an Kontingenzkritik und Auflehnung, die ihn die Autoren jeweils in seinen Gottesanreden erreichen lassen, nicht ins Gewicht: Letztlich entscheidend für diesen Nachweis ist vielmehr Hiobs Unbeirrbarkeit gegenüber den diskursiven Anfechtungen, denen ihn jene weiten Teile des übrigen irdischen Personals aussetzen, die gemeinsam als machina des letztlich übertölpelten Teufels fungieren. Auf die Kritik an diesem Personal  – speziell den drei Freunden  – läuft der zweite Teil der Gottesrede hinaus: Hat Hiob seine ‚gedult‘ nun endgültig bewiesen, indem er sich zu seiner von Heliu angemahnten ‚rew‘ bekannt hat, so bleibt

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für die Freunde im den Bibelzusammenhang stark vereindeutigenden Sinne der Tugendlehre nun Gottes Vorwurf der ‚hoffart‘ und ‚begir‘ übrig. Gleichwohl fällt auf, dass die Frage, inwieweit das Leiden Strafleiden sei, bei Sachs zwar aufgeworfen wird, jedoch offenkundig nicht, um klar entschieden zu werden. Wenn Gott Hiobs Frage nach einem angemessenen Größenverhältnis von leidvorgängigem Handeln und dann erfolgtem Leid als in sich unangemessen abweist und den dieser Frage vorgängigen Denkansatz der Freunde als ‚hoffart‘ geißelt, dann ist damit noch nicht jeglicher Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen in Abrede gestellt. Zum entscheidenden Knackpunkt aber ist ein Verhalten im Leid geworden, in dem sich ‚gedult‘ mit einer ‚rew‘ paart, die nicht einzeln identifizierbaren individuellen Sünden gilt, sondern der Sündhaftigkeit des Menschen ganz generell. Nur exemplarisch für diese steht jenes sündhafte Verhalten, das Hiob konkret bereut – eines nämlich, das sich erst als (vorübergehende!) BinnenEntwicklung im Zustand seines Leidens selbst hat erweisen können: der Drang zur Hinterfragung ebendieses Leidens. Was der Protestant Hans Sachs in seinem Hiob-Drama gestaltet, das schließt  – zurückfallend hinter die bei Lorichius erreichte Stufe – wieder an jenes enge Verständnis von Handlungskontingenz an, das wir im ,Armen Heinrich‘ diagnostiziert haben: Im Handlungsspielraum des Menschen liegt die punktuelle, subjektive Willensentscheidung zum richtigen Verhalten im Leid  – und diese ist es, auf die es in so hohem Maße ankommt, dass demgegenüber die Frage nach der individuellen Straffunktion des Leidens gegenstandslos wird, ohne geklärt zu werden. Anders als Hartmanns Text indes legt der des Hans Sachs die Empfehlung an den Leidenden, diese Entscheidung (und zwar im gottgefälligen Sinne) zu treffen, nicht nur dem Rezipienten nahe, sondern auch – falls man bei einem Bühnenstück so sagen darf: intradiegetisch – dem leidenden Protagonisten selbst: Anders als Heinrich muss Sachs’ Hiob sich nicht etwa in einer Situation, in der trügerische Alternativen näher lägen, aus sich selbst heraus per conversio für das Richtige entscheiden, sondern ‚nur‘ einer ihm (von Heliu) als verlässlich präsentierten Gewissensmoral folgen, an die sich unweigerlich eine Heilsaussicht knüpft. Der Protestantismus ist es, der eine solch tröstliche Perspektive bietet.

5 Lizenz zur Ungeduld. Johann Christian Günther: ,Geduld, Gelaßenheyt, treu, fromm und redlich seyn‘ (1720) Der schlesische poeta laureatus Johann Christian Günther (1695–1723) galt bis in die 1980er Jahre hinein vielen Literaturhistorikern als eine Art Antizipator empfindsamer Erlebnisdichtung in den widrigen Zeiten barocker Regelpoetik. Dafür stand Günthers mitunter konventionensprengende Formensprache, und dafür standen die deutlichen autobiographischen und autopoetologischen Referenzen in seinen Texten. Zumal sie sich in summa als Erzählung eines ganz besonders tragischen und abenteuerlichen Lebens lesen lassen, geführt im Zeichen des erklärten Willens zur autonomen Dichterexistenz und somit scheinbar als ein einziger Vorgriff auf die Genieästhetik. Dieses Günther-Bild – tradiert seit Wilhelm Krämers Werkausgabe von 1913 ff.  – ist seit Reiner Bölhoffs Postulat, Günther wieder als einen erklärten poeta rhetor zu betrachten,¹ einem neuen Paradigma gewichen, das seine Werke in die Kontinuität philosophie- und sozialhistorischer Zeitkontexte rückbindet. Doch bleiben sie gleichwohl vor allem deshalb Gegenstand des Interesses, weil sie Raum diskursiver Interferenzen sind. So wenig „[d]as zeit- und geistesgeschichtliche Dazwischen“ heute noch als „Günthers Signatur“² gelten kann, wie es 1979 Urs Herzog autorzentristisch formulierte, so sehr ist die Signatur der Günther-Forschung (und ihr produktivstes Motiv) noch immer der Impuls, sich an der hartnäckig bewährten Zuschreibung abzuarbeiten, das Werk des Striegauers sei ein Zeugis des ‚Dazwischen‘. Der über Jahrzehnte hinweg undurchbrochene „merkwürdige Circulus vitiosus“, in dem biographistische Lesarten der so zeituntypisch individuell wirkenden Güntherschen Texte „zugleich die vermeintliche Genese als Beglaubigung des Gedichts und das Gedicht als Beglaubigung der Genese interpretiert“³ haben, regt dazu an, am Beispiel dieser Texte nach dem Konzept dichterischer ‚Individualität‘ per se zu fragen: „[S]ie sind Zeugnisse der Emanzipation von dichtungstheoretischen Paradigmen des Barock, der Abkehr von Pietismus und Orthodoxie, und sie formulieren die Skepsis gegenüber den Angeboten frühaufklärerischer Philosophie.“⁴

1 Vgl. Bölhoff, Reiner: Zur neueren Günther-Forschung. In: Johann Christian Günther. Mit einem Beitrag zu Lohensteins „Agrippina“. Hrsg. von Hans-Georg Pott. Paderborn u.a. 1988. 2 Herzog, Urs: Deutsche Barocklyrik. Eine Einführung. München 1979, S. 79. 3 Zymner, Rüdiger: Literarische Individualität. Vorstudien am Beispiel Johann Christian Günthers. In: Stüben, Jens: Johann Christian Günther (1695–1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. München 1997, S. 249–288; S. 257. 4 Schrader (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 11.

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Das „gotteslästerlichste aller Klagegedichte Günthers“⁵ (und heute wohl der bekannteste unter seinen wenigen populären Texten) ist das Gedicht ,Geduld, Gelaßenheit, treu, fromm und redlich seyn‘ von 1720. An ihm soll im Folgenden gezeigt werden, wie ein streng rhetorisch konstruierter Text bestimmte Elemente des Prätextes ‚Hiobbuch‘ – Klagegestus, Adressierung, einzelne Textzitate – sowie die der Hiobs-Figur traditionell zuerkannten Eigenschaften als Topoi funktionalisiert und durch die Verfahren der Variation und (Re-)Kombination zum Transportmittel einer Kritik verschiedener theologischer Konzepte seiner Entstehungszeit macht. Da seine zeitgenössische Entstehungsbedingung eine Poetik ist, die „ein Neues im Alten“ verlangt, „eine Erfindung (inventio), in der Konvention und Tradition gewahrt und überraschend zugleich erneuert werden“,⁶ sollen dabei auch die rhetorischen Verfahren aufgezeigt werden, die die Argumentation des Gedichtes konstituieren. Die theologischen Diskurse in den reformierten Regionen Deutschlands und deren Universitäten zu Günthers Zeit sind vielstimmig und unübersichtlich: Eingeführte Glaubensgrundlage ist allenthalben die Luthersche Rechtfertigungslehre, doch haben sich ihre orthodoxen Vertreter einerseits den selbstbewussten Neuerungspostulaten des (insbesondere Hallischen) Pietismus, andererseits den Ansätzen der Physikotheologie zu stellen. Letztere treiben teilweise naturmystische Blüten, speisen sich aber letztlich aus dem frühaufklärerischen Rationalismus Leibniz’ und Wolffs. In Fragen der heilsgeschichtlichen Teleologie, des Stellenwerts des Menschen innerhalb der Schöpfung sowie seiner Erlösungsbedürftigkeit weichen die Gewichtungen erheblich voneinander ab. Wie widersprüchlich die Postulate in Bezug auf das individuelle Verhältnis des Menschen zu Gott und auf eine angemessene Lebensführung sind, in denen sich dies niederschlägt, soll hier kurz aufgezeigt werden,⁷ weil sich darin Johann Christian Günthers Selbstverständnis als Dichter ebenso spiegelt wie im hier behandelten Text. Nach Martin Luther ist der Mensch in der Sicht Gottes zwar sündenbefangen, jedoch, sofern er an den Gottessohn glaubt, nicht strafwürdig. Die Gerechtigkeit Jesu Christi imprägniert gleichsam den einzelnen Gläubigen und ‚rechtfertigt‘ ihn, so dass er keiner weiteren Fürsprache durch Heilige oder Priester mehr bedarf. Mit der Annahme und „Einwohnung“ Christi verfällt der Mensch einer 5 Bölhoff, in: Johann Christian Günther. Werke. (=Bibliothek der frühen Neuzeit, Zweite Abteilung: Literatur im Zeitalter des Barock, Bd. 10.) Hrsg. von Reiner Bölhoff. Frankfurt/Main 1998, S. 1088. 6 Herzog (s. Anm. 2). 7 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Sauter, Gerhard, TRE Bd. 28, S. 315–328 s. v. „Rechtfertigung IV“; Sauter, Gerhard, TRE Bd 28, S. 329–336 S. v. „Rechtfertigung V“; Krolzig, Udo, TRE Bd. 26, S. 590–596 s. v. „Physikotheologie“, Sparn, Walter, Evangelisches Kirchenlexikon Bd. 3, Sp. 1211–1215 S. v. „Physikotheologie“.

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nicht trennbaren Doppelbestimmung, zugleich peccator in re und iustus in spe zu sein⁸ – ein Zustand, der ihn permanent an Gottes Verheißung erinnert, allerdings nur ‚erfahren‘ werden kann und sich rationalen Veranschaulichungen entzieht. Mehrere namentliche Nennungen Gottfried Wilhelm Leibniz’ und Christian Wolffs im Gesamtwerk Günthers⁹ sowie poetisch konzentrierte Verarbeitungen ihrer Thesen¹⁰ bezeugen die Aufmerksamkeit des Autors für die sich formierenden Konzepte des Rationalismus. 1710 war die ,Theodicee‘ erschienen. Leibniz versucht darin  – vor dem Hintergrund skeptischer Verweise auf Unzulänglichkeiten in der Welt, einer Naturwissenschaft, die die Finalität der Heilsgeschichte durch das Kausalitätsprinzip in Frage stellte, und Spinozas, der im unerforschlichen Grund der Welt eine sinnlose, blinde Notwendigkeit vermutet – einen guten Weltgrund jenseits von Notwendigkeit und Zufall zu reetablieren, mithin einen freien und gütigen Gott. Allmächtig, allweise und allgütig, könne Gott unter allen möglichen Welten nur die beste erschaffen haben. Dass eine Welt ohne Übel nicht die beste sein könne, leitet Leibniz daraus ab, dass er die Schöpfung als Emanation Gottes, gleichsam als ‚Gott minus X‘ bezeichnet: Wenn Gott sich zum weltlichen Sein mache, müsse das eine Verminderung bedeuten. Aus dieser Verminderung leitet Leibniz drei Übel ab: das metaphysische (malum metaphysicum), das in der grundsätzlichen Endlichkeit jeder möglichen Welt besteht, und aus diesem wiederum das physische und das moralische (malum physicum, malum morale), die von Gott nicht bewirkt, sondern lediglich – als möglich – zugelassen werden. Das physische geht aus der Unvollkommenheit des Geschöpfs hervor, dessen Empfindungen auch Empfindungen der Unvollkommenheit (etwa Leiden und Schmerz) umfassen müsse; das moralische ebenso: Kein Mensch ist von Fehlern und Sünde frei. Daraus nun folget, daß Gott, nach seinem vorgehenden Willen, das Gute, und nach seinem nachfolgenden Willen, das Beste, wolle. Was das Böse anlanget, so will Gott das moralische Böse durchaus nicht; und das physikalische, oder das Leiden, will er nicht ohne Bedingung.

8 Luther referiert auf den paulinischen ‚Selbstwiderspruch‘, nach dem jeder Einzelmensch zerfallen ist in einen ‚inwendigen Menschen‘, der Gottes Gesetz erkennt, und einen körperlichsündhaften, der es ohne Hilfe nicht befolgen kann (Röm 2,22/23). Vgl. Sauter (s. Anm. 7). 9 „Jch lernte nach und nach den Wert des Maro schätzen / und fraß fast vor Begier, was Wolff und Leibnitz setzen, / Bey welchen ich den Kern der frommen Weißheit fand“: Günther, Werke, S. 319 (Hervorhebungen im Original). 10 Wie ein positives Bekenntnis zu Leibniz’ System der prästabilierten Harmonie liest sich ein Briefgedicht Günthers an Markhard von Riedenhausen: „Gott lege, was er will und was mir zukommt, auf. / Er wird und darf auch nicht den vorbestellten Lauf / Der großen Creatur erst mir zu Liebe stören. / Sein Zweck ist überhaupt des Weltgebäudes Heil; / Wir, ich und auch mein Creuz, sind davon nur ein Theil / Und müßen auch den Schmuck der ganzen Ordnung mehren“. Günther, Werke, S. 615.

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Deswegen ist auch keine unbedingte Prädestination zur Verdammnis; und man kann von dem physikalischen Bösen wohl sagen: Gott wolle es öfters als eine gehörige Strafe für ein Verbrechen, und öfter auch als ein bequemes Mittel zu einem gewissen Endzwecke; das ist, ein größer Übel zu verhindern, oder ein größer Gut zu erlangen. ¹¹

Mit Odo Marquard gesprochen: Aufgrund einer grenznutzenbewußten Optimierungskalkulation (an die zu denken in Zeiten des Merkantilismus nahelag) läßt Gott in der Welt jene Übel zu, die – als conditiones sine quibus non – die Gesamtbonität seiner Schöpfung steigern nicht zwar zur guten, aber immerhin zur „bestmöglichen Welt“.¹²

Von dieser wiederum geht die Naturverherrlichung der Physikotheologie aus, der Günthers Vater anhing. Sie setzt  – komplementär zur Vernunfttheologie Leibniz’ – der „verfallsgeschichtlichen Sicht von Natur und Gesellschaft, wie sie der barocke Absolutismus vertrat“,¹³ einen euphorischen Optimismus entgegen. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unter nachkopernikanischem Paradigma erlauben es, die Natur nicht mehr als verfallend, sondern als einen mittelpunktslosen und dennoch gesetzmäßigen Regenerationskreislauf zu sehen. In der Absicht, sich der so erschlossenen Natur „als göttlicher Schöpfung, d.h. als Welt für den Menschen zu vergewissern“,¹⁴ ziehen einige Physikotheologen sie teils als Basis eines induktiven, schriftunabhängigen Gottesbeweises heran, andere als augenfälliges Korrespondens zur Bibel im augustinischen Sinne der Natur als ‚zweites Buch Gottes‘. Hier nun kommt wiederum das Hiobbuch ins Spiel: Zu den Passagen aus dem ‚ersten Buch Gottes‘, denen Philosophen wie Literaten die Inspiration zur (in den Worten Albrecht von Hallers) „Ehre Gottes aus der Natur“ entnahmen, gehören wesentlich solche aus dem Hiobbuch¹⁵ – neben der letzten Rede Elihus vor allem der Schöpfungskatalog des Herrn aus dem Wettersturm. Von einem ebensolchen Katalog ausgehend, versucht sich etwa Johann Jacob Scheuchzer in seiner ,Jobi Physica Sacra‘ (1721) an der Entwicklung eines

11 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Theodicee das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen. Hrsg. und kommentiert von Hubert Forstmann. Berlin 1996, S. 121. Zu den zusammenfassenden Ausführungen vgl. Liske, Michael-Thomas: Gottfried Wilhelm Leibniz. München 2000, S. 201–215. 12 Marquard, Odo: Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie. In: Leibniz Werk und Wirkung. IV. Internationaler Leibniz-Kongreß. Vorträge. Hannover, 14. bis 19. November 1983. Hrsg. von der G.-W.-Leibniz-Gesellschaft. Hannover 1985, S. 138–151; S. 142. 13 Krolzig (s. Anm. 7), S. 592. 14 Sparn (s. Anm. 7), Sp. 1211. 15 Vgl. hierzu Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991, S. 98–100.

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naturwissenschaftlichen Gottesbeweises. Auch in diesem Punkt also stehen die Physikotheologen komplementär zur Leibniz-Schule, indem sie eine Perspektive aufs Hiobbuch stark machen, die die Theodizeefrage darin nicht nur ex negativo aufgeworfen, sondern auch bereits ex positivo beantwortet sieht. Man könnte auch sagen: Sie verarbeiten den erkannten Bedarf nach einer Rechtfertigung Gottes mit just der Strategie, mit der Gott in seiner eigenen Antwort auf Hiob verfährt: „Gott argumentiert in seiner Antwort physikotheologisch“.¹⁶ In einem als vollkommen, sinnhaft geordnet und schön aufgefassten Universum, dessen Elementen je ein spezifischer Nutzwert für den Menschen eigne, erwiesen bzw. spiegelten sich die drei weltbezogenen Attribute ihres Schöpfers: Allmacht, Allweisheit und Allgüte. Diese (anders, als es die Gottesreden aus dem Wettersturm nahe legen) anthropozentrische Konzeption sieht die Natur qua Vorsehung auf den Menschen ausgerichtet, den Menschen wiederum qua Vorsehung mit der Vernunft begabt, den Heilsplan in der Natur zu erkennen. Der Mensch als Einzelwesen verliert somit – im Vergleich zur lutherischen Auffassung – deutlich an Erlösungsbedarf. Alß er durch innerlichen Trost bey der Ungeduld gestärcket wurde 1

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Geduld, Gelaßenheit, treu, fromm und redlich seyn, Und wie ihr Tugenden euch sonst noch alle nennet, Verzeiht es, doch nicht mir, nein sondern meiner Pein, Die unaufhörlich tobt und bis zum Marcke brennet, Ich geb euch mit Vernunfft und reiffem Wohlbedacht, Merckt dieses Wort nur wohl, von nun an gute Nacht. Und daß ich euch gedient, das nenn ich eine Sünde, Die ich mir selber kaum jemahls vergeben kan, Steckt künfftig, wen ihr wollt, mit euren Strahlen an, Ich schwöre, daß ich mich von eurem Ruhm entbinde. Ihr Lügner, die ihr noch dem Pöbel Nasen dreht, Von vieler Vorsicht schwatzt, des Höchsten Gnad erhebet, Dem Armen Trost versprecht, und wenn ein Sünder fleht, Ihm Rettung, Rath und Krafft, ja, mit dem Maule gebet: Wo steckt denn nun der Gott, der helffen wil und kan? Er nimmt ja, wie ihr sprecht, die gröbsten Sünder an, Ich will der gröbste seyn, ich warte, schrey und leide; Wo bleibt denn auch sein Sohn? wo ist der Geist der Ruh? Langt jenes Unschuldskleid und dieses Krafft nicht zu, Daß beider Liebe mich vor Gottes Zorn bekleide?

16 Braungart (s. Kap. 2, Anm. 16), S. 19.

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Ha, blindes Fabel-Werck! ich seh dein Larven-Spiel, Dies geb ich auch noch zu: Es ist ein ewig Wesen, Das seine gröste Macht an mir nur zeigen wil Und das mich obenhin zur Marter außerlesen; Es führt, es leitet mich, doch stets auf meinen Fall, Es giebt Gelegenheit, damit es überall Mich rühmlich straffen kan und stets entschuldigt scheine, Bißweilen zeigt es mir das Glücke recht zu gehn, Bald läßt es mich in mir dem Guten wiederstehn Damit die frömmste Welt das ärgste von mir meine. Aus dieser Quelle springt mein langes Ungemach, Viel Arbeit und kein Lohn alß Kranckheit, Haß und Schande, Die Spötter pfeiffen mir mit Neid und Lügen nach, Die Armuth jagt den Fuß aus dem und jenem Lande, Die Eltern treiben mich den Feinden vor die Thür Und stoßen mich, o Gott! gieb Acht, sie folgen dir, Ohn Ursach in den Staub und ewig aus dem Hertzen, Mein Wißen wird verlacht, mein ehrlich Hertz erdrückt, Die Fehler, die ich hab, als Laster vorgerückt, Und alles schickt sich recht die Freunde zu verschertzen. Jst einer in der Welt, er sey mir noch so feind, An dem ich in der Noth kein Liebes-Zeichen thäte, Und bin ich jedem nicht ein solcher wahrer Freund, Alß ich mir selbst von Gott, erhört er andre, bete, Hat jemand auf mein Wort sein Unglück mehr gefühlt, Hat Boßheitsvoller Schertz mit frembder Noth gespielt Und hab ich unrecht Gut mit Vorsatz angezogen, So greiffe mich sogleich der bösen Geister Bund Mit allen Martern an, wovon der Christen Mund Schon über tausend Jahr den Leuten vorgelogen. Was wird mir nun davor? Ein Leben voller Noth; O! daß doch nicht mein Zeug aus Raben-Fleisch entsproßen! O! daß doch dort kein Fluch des Vaters Lust verboth! O! wär doch seine Kraft auf kaltes Tuch gefloßen! O! daß doch nicht das Ey, in dem mein Bildniß hieng, Durch Fäulung oder Brand der Mutter Schooß entgieng, Bevor mein armer Geist dies Angst-Hauß eingenommen, Itzt läg ich in der Ruh bey denen, die nicht sind, Ich dürfft ich ärmster Mensch und gröstes Elendskind Nicht stets bey jeder Noth vor grösrer Furcht umkommen. Verflucht sey Stell und Licht! – – ach! ewige Geduld, Was war das vor ein Ruck von deinem Liebes-Schlage! Ach! fahre weiter fort, damit die große Schuld

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Verzweiflungs-voller Angst mich nicht zu Boden schlage; Ach! Jesu sage selbst, weil ich nicht fähig bin, Die Beichte meiner Reu; ich weiß nicht mehr wohin Und sincke dir allein vor Ohnmacht in die Armen, Von außen quälet mich des Unglücks starke Fluth Von innen Schrecken, Furcht und aller Sünden Wuth, Die Rettung ist allein mein Tod und Dein Erbarmen.¹⁷

Dieses Gedicht ist eine Elegie und steht als solche im Zusammenhang eines knappen Dutzends motivverwandter, den Glauben problematisierender Klagegedichte,¹⁸ die der 24jährige Günther zwischen Herbst 1719 und Sommer 1720 schrieb. „In den Elegien“, so Martin Opitz, hatt man erstlich nur trawrige sachen / nachmals auch buhlergeschäffte / klagen der verliebten / wündschung des todes / brieffe / verlangen nach den abwesenden / erzehlung des eigenen lebens vnnd dergleichen geschrieben; wie dann die meister derselben / Ouidius / Propertius […] vnd andere außweisen.¹⁹

Qua Gattung steht es dem elegischen Dichter also zu, sein eigenes Leben zu thematisieren. Dies freilich im Rahmen der Normen: „[R]hetorisch ist barocke Poesie auch in bezug auf ihre Anlage und ihr Selbstverständnis: der Rückgriff auf ‚exempla‘ gehört zu den elementaren Voraussetzungen barocken Dichtens.“²⁰ Als Regel biographischer Selbst- (wie auch Fremd-)stilisierungen gilt die imitatio veterum: Der barocke Autor stellt sich per definitionem als Dichter in eine Reihe literarhistorischer Vorläufer. Was an ‚autobiographischen‘ Elementen ins geschriebene Werk – das immerhin einen Nachruhm sichern soll, der auf Ebenbürtigkeit mit den poetischen Autoritäten beruht – eingeht und was nicht, das regelt der Filtermechanismus der Analogie zu den Vorbildern. Über allen Rollen-Konzeptionen idealen Dichtertums schwebt dabei die allgemeinverbindliche ideale Lebenskonzeption der imitatio Christi. Welche unter den Stereotypen im je einzelnen Text betont werden, das ist der rhetorischen inventio anheimgestellt, die aus topi-

17 Günther, Johann Christian: Werke. (=Bibliothek der frühen Neuzeit, Zweite Abteilung: Literatur im Zeitalter des Barock, Bd. 10) Hrsg. von Reiner Bölhoff. Frankfurt/Main 1998, S. 265–267. 18 Vgl. Bütler-Schön, Helga: Theodizeeproblem und Hiobnachahmung. Ein Beitrag zur Interpretation von Günthers Gedicht „Gedult, Gelaßenheit…“. Text und Kritik 74/75 (1982), S. 13–25; S. 15 f., und Bütler-Schön, Helga: Dichtungsverständnis und Selbstdarstellung bei Johann Christian Günther. Studien zu seinen Auftragsgedichten, Satiren und Klageliedern. (=Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 99.) Bonn 1981, S. 174 ff. 19 Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hrsg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1995, S. 29. 20 Bütler-Schön (vgl. Anm. 18), S. 15.

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schen Formeln, Gesten und Bildern schöpfen kann. In diesem Sinne ist auch die Sprecherrolle im hier behandelten Text Teil einer angewandten Topik, die den Erfordernissen der Gattung folgt. „In der Form der Selbstrepräsentation des Dichters im Gedicht unterscheidet sich […] Günther spürbar von den zeitüblichen Usancen“:²¹ Im Gegensatz zu Zeitgenossen, die dem herrschenden Konzept von der Poesie als Nebenstundengeschäft zuneigten und ihr ‚Dilettantentum‘ unterstrichen, bekannte sich Günther emphatisch zum furor poeticus als Lebensgefühl: „O höchstbeglückter Schluß! der geist und bluth gerührt, / das ich dem Opiz schon in etwas nach gespürt“.²² Dieser Berufung indes stand weiterhin eine öffentliche  – auch von Günthers Vater geteilte – Abschätzigkeit entgegen, wie sie just Opitz bereits beklagt hatte: „Sie […] vermeinen, es sey keiner ein gutter Poete / er musse dann zu gleich ein böser Mensch sein.“²³ Umso stärker betonte Günther in zahlreichen Texten die pietistische Grundtugend der Redlichkeit als Basis seines Dichtertums. Zahlreiche Textbelege dafür, wie Günther in Elegien und Briefgedichten sein eigenes Leben – das eines verschuldeten, vom Vater sowie kirchlichen und weltlichen Honoratioren der Heimatstadt Striegau geächteten und zuletzt todkranken Vaganten, der sich teils widerwillig mit Kasualcarmina durchschlug  – ins Gleichnis des Kreuzes und somit der imitatio Christi stellt, hat Ernst Osterkamp beigebracht. Dabei beobachtet er eine „Säkularisation der Passionsmetaphorik“, die „ihre wichtigste Begründung im Denken der Frühaufklärung“,²⁴ namentlich Leibnizens finde: „Die konstitutive Einbindung des Bösen in den Weltplan […] hat zur Konsequenz die entschiedene Zurückdrängung der Gestalt und des Erlösungswerks Jesu Christi“.²⁵ Mit der Einschränkung der heilsgeschichtlichen Dimension bringe Günther freilich nicht zum Ausdruck, es sei „sinnlos, das Kreuz zu tragen: Nur erwächst nicht mehr Heilsgewißheit aus dem Leid, sondern Poesie, die in sich das Leid bewahrt.“²⁶ Zu den paganen Autoritäten, als deren Nachfolger

21 v. Ungern-Sternberg, Wolfgang: Die Armut des Poeten. Zur Berufsproblematik des Dichters im frühen 18. Jahrhundert am Beispiel von Johann Christian Günther. Text und Kritik 74/75 (1982), S. 85–109; S. 90. 22 Günther, Werke, S. 598. 23 Opitz (s. Anm. 19), S. 14. 24 Osterkamp, Ernst: Das Kreuz des Poeten. Zur Leidensmetaphorik bei Johann Christian Günther. DVjS 55 (1981), S. 278–292, S. 289, FN14. „Ausdrücklich verknüpft sich dabei die Passionsmetaphorik nicht mit der allgemeinen Vorstellung notwendigen Leidens […] aller irdischen Existenz […], sondern die Leidensmetapher wird bei Günther aus dem besonderen Geschick des Poeten, genauer: aus seinem Unglück als Poet gleichsam revitalisiert.“ Ebd., S. 285. 25 Osterkamp (s. Anm. 24), S. 290. Christus bleibt bei Leibniz beschränkt auf die Funktion „des göttlichen Stifters der reinsten und aufgeklärtesten Religion“. Leibniz (s. Anm. 11), S. 38. 26 Osterkamp (s. Anm. 24), S. 288.

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Günther sich im elegischen Fach am häufigsten zu stilisieren pflegte, zählt der bei Opitz erwähnte Ovid: „Ich schäze Wittenberg der Insel Pathmos gleich, / Des Elbstroms Ufer ist mein Pontisches Gestade, / Hier macht mich Leid und Gram wie dort den Naso bleich“,²⁷ heißt es etwa in einem Briefgedicht aus dem Studienort in die Heimat. An den exilierten Ovid der Tristia als Bezugsfigur knüpfen sich unter anderem die Topoi von der paupertas des Dichters, seiner Anerkennung erst nach dem Tode und vom „Trost der Poesie“.²⁸ Zwischen Christus als allgemeinverbindlichem und Ovid als poetischem Rollenvorbild für den leidenden Menschen steht Hiob. Parallelstellen, in denen Günther ihn erwähnt, legen nahe, dass er Hiob noch im überkommenen Sinne als den Autor des biblischen Buches oder zumindest einer Vorlage ansah  – mithin als ‚leidenden Poeten‘ von biblisch nobilitiertem Rang.²⁹ Im hier zu behandelnden Text nimmt das ‚Ich‘ die Rolle Hiobs ein. Das Gedicht besteht aus sieben zehnzeiligen Strophen. Jede Strophe ist durch die Reime untergliedert in einen (kreuzreimenden) Vierzeiler am Anfang, einen (paarreimenden) Zweizeiler im Zentrum – der als ‚Mittelachse‘ das Potential hat, zwei Sinneinheiten zu trennen  – und einen (umarmend reimenden) Vierzeiler am Schluss, das Reimschema lautet also ‚ababccdeed‘. Versfuß ist  – konventionsgerecht – der Jambus. Die Enden der ersten und dritten Zeilen des Kreuzreims sind stumpf, die der zweiten und vierten Zeilen klingend; die Paarreime stumpf, in den umarmenden Reimen die erste und vierte Zeile klingend und die zweite und dritte Zeile stumpf. Der Reinheit der Reime schenkt Günther  – von Opitz, der diese fordert, bereits 100 Jahre entfernt  – oft nicht mehr die strengste Beachtung.³⁰ Versakzent und Wortakzent lässt er häufig kollidieren: Vom natürlichen Satzfluss her betonte Silben fallen in der Mitte der Zeilen 1 („treu“) und 8 („jemals“) und zu Beginn der Zeilen 6 („Merkt“) und 9 („Steckt“) auf unbetonte Stellen. Ein Verstoß gegen die ‚guten Sitten‘ des zeitgenössischen Dichtens auch dies – und ein wirkungsvolles Mittel der Emphase. Inhaltlich sind die Strophen eindeutig als schriftbildliche Ausformungen von Sinneinheiten zu erkennen: Das markieren schon die Anrufungen verschiedener Adressaten in der jeweils ersten Zeile der ersten (Z. 1), zweiten (Z. 11), dritten (Z. 31) und siebten Strophe (Z. 61). 27 Günther, Werke, Bd.3, S. 33. 28 Vgl. Bütler-Schön (s. Anm. 18), S. 176 f. 29 So führt er Hiob als Autoritätsbeispiel für das Postulat eines ‚ungekünstelten‘ Ausdrucks als Gattungsmerkmal der Elegie an: „Geht, fragt bey David nach, die Angst macht kurtze Psalmen, / Und Hiob, der nur kratzt, flucht besser als er reimt“ (IV, 95, V. 37f.). Und in einem poetologischen Briefgedicht, an die Muse Kalliope gerichtet, heißt es 1722: „Ein Winck war schon genug, so sah ich Dich bereit, / Mein staubicht Instrument dem Hiob nachzustimmen“ (Günther, Werke, S. 588; Hervorhebung im Original). 30 Vgl. Z. 7/10; Z. 21/23; Z. 35/36; Z. 41/43; Z. 45/46.

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Mit einem topischen Gestus, nämlich dem rhetorischen Musenappell, beginnt die erste Strophe. In Funktion der Musen wird eine Reihe von Tugenden angerufen, die aus christlichen, stoischen und altdeutschen Kanones stammen.³¹ Noch bis zur captatio benevolentiae am Anfang der Zeile 3 kann der Leser (ungeachtet der etcetera-Formulierung in Zeile 2, die bereits einen pejorativen Ton anschlägt) erwarten, es werde  – in der didaktisch und panegyrisch bewährten Manier barocken Dichtens – ein Lobpreis dieser Tugenden folgen, um dessen Inspiration die Anrufung bitten solle.³² Als trügerisch erweist sich die Neutralität dieser Exordialtopik freilich in der zweiten Strophenhälfte, in der die expositio zu Ende geführt wird: Sie mündet in eine so gründliche wie blasphemische Absage an den Kanon frommen Handelns. Der Sprecher verwirft den Katalog der Tugenden, die sie repräsentieren, und erteilt sich selbst dafür eine Absolution – „verzeiht es, doch nicht mir“ (Z. 3). Schuld sei vielmehr die „Pein“. Dass dieser Affekt ebenso personalisiert³³ wird wie die Tugenden, denen er somit antinomisch entgegensteht, ermöglicht es dem ‚Ich‘, sich anschließend auf die aufgeklärte „Vernunfft“ (Z. 5) zu berufen: Die Absage erscheint als affektfreie und planvolle Konsequenz aus seinem Leid. Auf diese dreifache Provokation lässt der Sprecher noch eine doppelte Blasphemie folgen (durch zwei topische Oxymora: der Tugenddienst wird zur „Sünde“ invertiert und das Subjekt zur Instanz, diese zu definieren und potentiell zu verzeihen), um dann (Z. 9f.) die proklamierte Abkehr im Schwur endgültig festzuschreiben. An dieser Stelle expliziert das Textsubjekt nicht nur klar und deutlich, dass es die eingangs stimulierte Leseerwartung nicht zu erfüllen gedenkt, sondern schreibt sich mithin ebenso klar eine Rolle zu: die des Dichters, der den laufenden Text konstruiert – ein wiederum topischer „Rekurs auf die Schreibsituation“.³⁴ In selbstbewusster Abkehr von der dichterischen Konvention, den „Ruhm“ (Z. 10) der Tugenden zu singen, fordert das Dichter-Ich diese auf, sich „künfftig“ zu inspiratorischen Zwecken an „wen ihr wollt“ (9) zu halten – aber nicht mehr an ihn. Den irdischen Propagandisten der geschmähten Tugendordnung, dem Klerus (Z.  11–14), wendet sich die zweite Strophe zu. Sie „zieht alle Register eines 31 Vgl. Bölhoff (s. Anm. 17), S. 1091. 32 Ein rhetorisches Täuschungsmanöver, freilich mit anderem Akzent, sieht auch Herzog in den ersten Zeilen angelegt: „Der Leser soll meinen, im Namen dieser Tugenden hebe Zuspruch an für die ‚Ungedult‘, die der Titel nennt“; Herzog (s. Anm. 2), S. 79. 33 Hier trifft zu, was Bölhoff jenen Interpreten entgegenhält, die Günthers emotionale Wendungen als Zeichen innovativer Empfindsamkeit werten: „Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß der Sprecher die dargestellten Gefühle meist allegorisiert, isoliert (z.B. ‚Mein Kummer weint allein um dich’); die dritte Person schafft Distanz, Spielfreiheit, Eigenleben.“ Bölhoff (s. Anm. 17), S. 922. 34 Bölhoff (s. Anm. 17), S. 922.

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Stiles, den als niederen zu bezeichnen den Zeitgenossen wohl als Euphemismus gegolten haben dürfte“³⁵ und endet in einem Rundumschlag gegen die Dreifaltigkeit. Auf diese spielt in rhetorischer Variation bereits zuvor eine Dreizahl von Dreierauflistungen an, die zudem die drei Fronten der polemischen Konstellation aufruft: Selbdritt werden Gottes Fürsorge („Vorsicht“), Gnade und Trost verneint, als inhaltsleere Floskeln des Klerus werden „Rettung, Rath und Krafft“ (Z. 14) verworfen³⁶ und schließlich drei Gesten des verzweifelten Ich selbst aufgereiht: „ich warte, schrey und leide“ (Z. 17). Die Vergeblichkeit des Hoffens auf einen „Gott, der helffen will und kan“ (Z.  15), lässt auch auf seine trinitären Komplemente einen Zweifel fallen. „Sohn“ und Heiliger „Geist“ erscheinen defizient, weil sie offenkundig keine Mittlerrolle einzunehmen vermögen. „Ha, blindes Fabel-Werck! ich seh dein Larven-Spiel“ (Z. 21): Mit einem geläufigen barocken Bildmotiv hebt die dritte Strophe an. Vertraut dürfte Günthers Zeitgenossen das Bild von der Theatermaskerade allerdings nur in seiner Anwendung auf die Weltlichkeit gewesen sein, deren eitle Gaukelei den Blick auf transzendente Wahrheiten verstellt. Das fest im vanitas-Topos verankerte Bildmotiv umzumünzen, um damit theologische Konzepte zu geißeln, ist nur die erste Provokation, mit der das Dichter-Ich in Strophe 3 aufwartet. Noch weiter geht es, indem es die Prämisse der heilsgeschichtlich Argumentierenden noch einmal scheinbar aufgreift, dann aber ins Gegenteil verkehrt. Zwar existiere „ein ewig Wesen“ (Z. 22), doch sei es nicht nur (wie in Strophe 2 thematisiert) nicht barmherzig, sondern sogar grausam: Es missbrauche seine Macht zur Willkür und bediene sich dabei hinterlistiger Täuschungen, zu denen die Maske der Gerechtigkeit zähle – somit werden nicht mehr nur Gottes irdische Verfechter des ‚Larvenspiels‘ geziehen, sondern Gott selbst. Auf den Bedarf eines solch ungerechten Gottes an einem mutwillig („obenhin“) erkorenen Objekt der Machtdemonstration führt das Subjekt sein Leiden zurück; die Defizienzen des ‚ewigen Wesens‘ rücken es blasphemisch nahe an das Charakterprofil des Verführers und Gefallenen Satan: „Es führt, es leitet mich, doch stets auf meinen Fall“ (Z. 25), lässt gar „mich in mir dem Guten widerstehen“ (Z. 29) – und zwar, um mit alledem Strafen legitimieren zu können. Worin eine weitere kühne Inversion liegt: Die Beweislast 35 Stenzel, Jürgen: Ein anderer Hiob. Johann Christian Günthers Klagegedicht Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde. In: Gedichte und Interpretationen. Hrsg. von Volker Meid. Bd.1: Renaissance und Barock. Stuttgart 1982, S. 405–414; S. 407. 36 Hier findet sich auch ein erster Verweis auf den Hiobtext. Zu „Rettung, Rath und Krafft, ja, mit dem Maule geben“ vgl. Hiob 16, 2–5: „Jch habe solchs offt gehöret / Jr seid alle zumal leidige Tröster / Wöllen die lose Wort kein ende haben? Oder was macht dich so frech also zu reden? Jch künd auch wol reden wie jr / Wolt Gott / ewr Seele were an meiner seelen stat / Jch wolt auch mit worten an euch setzen / […] Jch wolt euch stercken mit dem munde / vnd mit meinen lippen trösten.“ (Hervorhebung C.H.).

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der Rechtmäßigkeit eigenen Handelns liege nicht beim Menschen, sondern bei Gott, der sie einer frommen Welt schuldig sei und ihr, weil selbst defizient, nur mit List und Tücke nachkommen könne. Erst die 4. Strophe, die im arithmetischen Zentrum des Gedichtes steht und – anders als die vorherigen Abschnitte – unadressiert ist, greift den rhetorischen Anlass des Textes wieder auf: die „Pein“ – hier „mein langes Ungemach“ (Z. 31). Als Realisierungen des Topos ex causa efficiente³⁷ („Aus dieser Quelle“, Z.  31), der den Textgegenstand herleitet, erweisen sich nun im Nachhinein die beiden vorangegangenen Strophen. Den Topos der definitio des Gegenstands führt die folgende Zeile aus: „Viel Arbeit und kein Lohn als Kranckheit, Haß und Schande“ (Z.  32). Auf dem Fuß folgt eine enumeratio partium  – ein Katalog von Erscheinungsformen des ‚Ungemachs‘, das sich im ignoranten und mitleidlosen Handeln irdischer Gegenspieler gestaltet. Ihnen steht eine Dreizahl von Attributen entgegen: „mein Wissen“, „mein ehrlich Herz“, „die Fehler, die ich hab“ (Z. 38f.) – die ersteren beiden sind kanonische Eigenschaften, die zu den Grundlagen des Güntherschen Selbstverständnisses als poeta doctus und wahrhaftiger³⁸ Dichter zählen  –, die, so die Klage, durch Dritte verkannt und verhöhnt würden. Und eine neuerliche Dreizahl vollendend  – hier die verschiedener Aspekte sozialer Ausgegrenztheit –, tritt neben Spott und Armut die Verstoßung durch das Elternhaus. In Strophe 5 beschwört der Sprecher seine Reinheit von strafwürdigen Vergehen, doch diesmal mit einem bedingten Eid ex contrario – nämlich bei Strafe der Höllenqualen für den Fall der Unehrlichkeit. Doch schwört es nur, um dann im letzten Nebensatz auch noch die Instanz der Höllenstrafe als christliches Lügengebilde zu leugnen. Somit unterminiert die bedingte Selbstverfluchung ihre eigene Basis, stellt in Abrede, dass gottgesandtes Leiden als eine Bestrafung etwelchen menschlichen Fehlhandelns zu erklären sei – und somit generell, dass es ‚verdiente‘ göttliche Strafen geben könne (Z. 49f.). Von der bedingten soeben entlastet, geht das lyrische Ich zur unbedingten Selbstverfluchung über: zur Verfluchung der eigenen Zeugung und Geburt (Z. 52– 57). Positiv setzt es ihr ex contrario die Sehnsucht nach der Nichtexistenz gegenüber: Nur in ihr sieht es jene „Ruh“ (Z. 58) gewährleistet, die der zweifelhaft gewordene „Geist der Ruh“ (Z. 18) nicht vermitteln kann. Die Klimax der vierfachen, zunehmend drastischen amplificatio des Geburtsfluches (Z. 52–56) sowie die variierende Wiederaufnahme der Selbstdefinition als ‚gröbster Sünder‘ aus Strophe 2 (Z. 59) und die Zusammenfassung der in Strophe 4 genannten Nöte (Z. 60) wirken

37 Zu den von Cicero formulierten loci der Gerichtsrede vgl. Dyck, Joachim: Die Rolle der Topik in der literarischen Theorie und Praxis des 17. Jahrhunderts in Deutschland. In: Toposforschung. Eine Dokumentation. Hrsg. von Peter Jehn. Frankfurt/M. 1972, S. 121–149. 38 Vgl. Bütler-Schön (s. Anm. 18), S. 181–194.

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zusammen als ein retardierendes Moment, das den Affektumschlag der letzten Strophe wirksam vorbereitet. Gleichsam als dea ex machina ist mit einem „Ruck“ (Z. 62) die „ewige Geduld“ (Z. 61) an das fluchende Dichter-Ich herangetreten – ebenjene Instanz, an die es im exordium dezidiert nicht hatte appellieren wollen. Die Inspiration, anfangs verschmäht, erfolgt nun doch noch: Dem Ich werden die Augen geöffnet  – zu einer abstrahierenden Selbstanalyse, die auf einen zusammenfassenden Appell an Christus hinausläuft. Der Gestus „verzweiflungsvoller Angst“ (Z. 64), der die vorausgegangenen Strophen ausgemacht und motiviert hatte, wird nun selbst zum Thema. Ihn selbst erkennt das Ich, das Fehlhandlungen zuvor noch abgestritten hatte, als Fehlhandlung per se und „große Schuld“ (Z. 63) – womit es sich sein Angewiesensein auf göttliche Gnade von neuem eingesteht. „Des Unglücks starke Flut“ (Z. 68), Gegenstand der Klagen in den ersten sechs Strophen, wird nun nicht mehr hergeleitet, sondern als wertneutrales Faktum hingestellt. Die Wertung geht indes auf den Akt des Klagens selbst über, der als eigenständige „Sünde“ dem äußerlichen Unglück als innerliches zur Seite tritt. Zwischen zwei Fronten zerrieben (Z. 68f.), verliert das Ich die Kraft zur Reflexion (vgl. Z. 5) und jenes Unschuldsbewusstsein, das Grund seiner selbstbewussten Auflehnung gegen Gott gewesen ist – als letzte Aussicht bleibt die neuerliche Erlösungshoffnung. Die auffallendste Parallele³⁹ zum biblischen Hiobbuch ist die dem Beginn der Klage (Hiob 3,1–4 und 11–13) entsprechende Existenzverfluchung in Z. 52–61. Die durch solch augenfällige Bibeltext-Paraphrasen geleistete Identifikation des Sprechers mit Hiob nimmt die 4. bis 6. Strophe ein. Bereits die zu Beginn aufgezählten Tugenden freilich sind diejenigen, für die die biblische Figur in der neutestamentarischen Lesart steht: Hiob, die Geduld in Person, sagt sich hier von der personifizierten Geduld los. In der 2. Strophe zeigen denn auch der Modus des Zweifels und die dialogische Sprechhaltung gegenüber einem Kollektiv von Gegenspielern (den biblischen Freunden analog) eine enge Anlehnung an den rebellischen Hiob des Redeteils: „Die lyrische Gestalt von Günthers Gedichten lässt ein Äquivalent der Hiob-Freunde nicht zu, aber die Struktur der Gegenrede bleibt erhalten“.⁴⁰ Die in den Zeilen 11–14 dominierende Sprache des genus humile legt zugleich nahe, die Aufrufung des Hiob-Subtextes als Vehikel zur satirischen Polemik gegen bestimmte Protagonisten des zeitgenössischen theologischen Diskurses zu verstehen. Gegenstand des Zweifels, den das Ich gegenüber den Interpreten Gottes äußert, ist ein als fürsorglich, barmherzig und auf den Menschen ausge39 Vgl. Bütler-Schön (s. Anm. 18), S. 17. 40 Bütler-Schön (s. Anm. 18), S. 20.

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richtet verstandener „Gott, der helffen will und kan“ (Z. 15) – der trinitäre Gott des neuen Testaments in der lutherischen Lesart unmittelbarer Sündenvergebung sola fide. Der Gestus des anklagenden Hiob, im Prätext abgestellt auf einen alleinherrschenden Gott, der gleichgültig und menschenabgewandt erscheint, ermöglicht in seiner Anwendung auf das protestantische Gottesbild Fragestellungen von blasphemischer Radikalität. Wünscht sich Hiob ohne jede dogmatische Deckung: „Dass es doch einen Schiedsmann gäbe, der seine Hand auf uns beide legte!“ (9,33), so destruiert dieselbe Klage im Glaubenskontext Günthers ein Gottesverständnis, das die Gestalt eines solchen ‚Schiedsmannes‘, nämlich des Gottessohnes, nicht nur mit umfasst, sondern das auf ihr basiert. „Die lutherische Rechtfertigungslehre […] zerbricht an der Folgenlosigkeit eines aus der Tiefe individueller Verzweiflung herausgeschrienen Glaubens“.⁴¹ Die 3. Strophe weitet den Vorwurf der Defizienz auf Gott selbst aus. Seiner Allgüte entkleidet, steht er spätestens gegen Strophenende jenem nahe, der dem Hiob des Redeteils so unbegreiflich wie anfechtbar erscheint: einem Gott des nackten Zornes, defizient, weil anthropomorph. Hier wendet sich die Polemik des Textes gegen die rationalistische Gottes-Rechtfertigung der Frühaufklärung. Zur Disposition steht in Strophe 3 Leibniz’ optimistisches Gottesbild, dessen axiomatische Prämissen Gottes ‚weltzugewandte‘ Eigenschaften sind  – Allwissen, Allgüte und Allmacht. Zentrale Gedanken der Theodicee werden bei Günther konsequent umgekehrt: Lässt Leibniz’ Gott ein punktuelles malum physicum als Strafe für ein geschehenes malum morale gelten und führt diese seine Ordnung letztlich auf ein allgemeines Optimum hin, so unterstellt Günthers Sprecher-Ich, Gott führe es als Einzelnen gezielt aufs malum morale hin, um ihn dann (gewissermaßen nach dem Buchstaben des rationalistischen Gesetzes) mit Fug und Recht durch ein malum physicum strafen zu können. Das vorübergehend erfahrene „Glücke, recht zu gehen“ (28) ist also entheiligt als Mittel zum bösen Zweck. Aus der Perspektive individuellen Leides erscheint die Vernunftreligion mithin als Larvenspiel, das einem völlig ‚unleibnizschen‘ Gott – nicht allgütig, sondern grausam, nicht allweise, sondern willkürlich, und, in seiner Angewiesenheit auf Winkelzüge, letztlich auch nicht allmächtig – die Möglichkeit gibt, seine Launen zu ‚entschuldigen‘, weil kein Rationalist auf die Idee käme, ihm eine Kausalschuld am malum morale anzuhängen. Auch, dass es – wie Leibniz sagt – keine unbedingte Prädestination zur Verdammnis geben könne, widerlegt das Ich in der enumeratio partium seiner Pein (4. Strophe), indem es wiederum Hiob zitiert, den Prätext aber durch Aussparung verschärft: Der Schilderung seines Unglücks (Hiob 30) stellt es keinerlei Erwäh-

41 Stenzel (s. Anm. 35), S. 408.

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nung ‚früheren Glücks‘ gegenüber. Die Pein hat nicht nur kein Ende, sondern auch keinen Anfang. „Unter der Voraussetzung der Erlösungsgeschichte“, so Osterkamp, „ließ sich aus dem Leiden der Trost gewinnen, es diene dem eigenen Seelenheil, unter den Bedingungen der Theodizee aber ist es allenfalls ein hartes Opfer des einzelnen für das Heil des Weltganzen“.⁴² Dem Reinigungseid Hiobs ist die bedingte Selbstverfluchung in Strophe  5 nachgebildet  – wobei die dem Hiobbuch entlehnten Kategorien frommer Lebensführung, die das Ich darin erfüllt zu haben beschwört, nach den strengen Postulaten des Pietismus ausgewählt sind. Selbst aus den höchsten irgend geläufigen Ansprüchen an sittlichen Perfektionismus als Vorbedingung individueller Erlösung also, so die Implikation, lässt sich das Ausmaß seiner Pein nicht rechtfertigen. Günthers Hiob polemisiert also gegen unterschiedlich motivierte theologische Rechtfertigungsansätze, die – in ihrem Dogmatismus den Freunden Hiobs gleich – an seinem existenziellen Problem vorbeizielen. Die lutherischen Seelsorger, auf Trost im Einzelfall bedacht, postulieren unverdrossen Gottes Güte und können dem, der diese – „mit Vernunfft und reiffem Wohlbedacht“ (Z. 5) – empirisch für widerlegt hält, keinen intellektuellen Halt bieten. Das intellektuelle Global-System Leibniz’ wiederum, auf eine Apologie Gottes unter Vernunftbedingungen bedacht, erklärt Einzelfälle des malum physicum mit kausallogischen Wirkungsketten, die auf ein nachfolgendes, summarisches Optimum hinstreben, und bietet somit keinen Trost. Kaum ist nun der Knüppel der dem alttestamentarischen Redegestus abgewonnenen Polemik einmal im Kreis der Zeitgenossen herumgeschwungen, packt Günther ihn wieder ein, indem er seinen Prätext, den Redeteil des Hiobbuches, gleichsam rückwärts erzählt – bis er beim Dulder-Hiob des Prologs angekommen ist, und zwar in christlicher Lesart. Die Argumentation des biblischen Hiob entwickelt sich aus der Klage – dem Wunsch nach Restitution der als inkontingent gedachten Weltordnung durch Annullierung der persönlichen Existenz, die als kontingenter Störfall verstanden wird – hin zur Anklage, dem Vorwurf der universalen Willkür-Kontingenz, verbunden mit dem Wunsch nach einer Selbstrechtfertigung Gottes. Günther invertiert diese Klimax, indem er Hiobs Klage an den Schluss setzt, und steigert so ihre Intensität. Hiobs herausfordernde Frage nach dem willkürlichen (23,13), sich verhüllenden (23,8–9), grausamen (9,4–23,28–31; 30,21) Gott findet in den Strophen 2 und 3 ihren Widerhall, die Schilderung seines Unglücks (30) in Strophe 4 und der daraus resultierende Reinigungseid (31) (also die Anklage) in Strophe 5, die Existenzverfluchung (3) (also die Klage) jedoch erst in Strophe 6. Günthers Klimax beginnt also mit dem Ruf nach Gott, verbunden

42 Osterkamp (s. Anm. 24), S. 291.

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mit der allgemeinen Metapher vom Welttheater, um sich dann ins Individuelle zurückzuziehen und beim – wiederum topischen – Bild vom eigenen Körper als „Angst-Haus“ der Seele zu enden. Die Welt wird von Anfang an als ungerecht gegenüber dem Leidenden registriert, dieser zieht daraus die Konsequenz und wünscht sich den Tod im Sinne des Seelenfriedens – und der Nichtbeteiligung an einer Welt, die auch ohne ihn weiter in Unordnung wäre. Nicht auf einem Höhepunkt der Entindividualisierung des Leides also vollzieht sich hier der Umschwung von der Rebellion in die Demut  – sondern auf einem Höhepunkt der Versenkung in die Innerlichkeit. Auch ist es ein mystisches, in sich unmotiviertes Erlebnis (und keine argumentativ auffassbare Gottesrede), die den Sinneswandel motiviert. Den eben noch klagenden Hiob fällt jene Geduld – die constantia des (Neo-)Stoizismus – an, deren Figuration in der christlichen Konvention just Hiob ist. Insofern fällt das Subjekt, das in der Rolle des ‚alttestamentarischen Hiob‘ christliche Konzepte in Frage gestellt hatte, nun buchstäblich zurück in die Rolle des ‚christlichen‘ Hiob, in der Lage, die Hybris in der Redehaltung seines Alter ego zu reflektieren und als die eigentliche Sünde anzuerkennen, für die nun wiederum Vergebung möglich ist: „WJewol auch Hiob / als der in Todsnöten kompt  / aus menschlicher schwacheit zu viel wider Gott redet / vnd im leiden sündiget“.⁴³ Die Selbstbezichtigung sündhafter „Wut“ entschärft zwar im Nachhinein den groben Tonfall der Strophen 2 bis 6 (als vorübergegangene Anwandlung), nicht jedoch grundsätzlich deren Gegenstand, insbesondere nicht die Polemik der 2. Strophe. Zwar neutralisiert die wiedereinsetzende Hoffnung auf „Erbarmen“ (Z. 70) den Vorwurf der Lüge an die irdischen Gottesexegeten, doch erfolgt diese Erkenntnis als eine unmittelbare Erfahrung im Privaten: „Sie ist ein Geschenk der Gnade, unverdient, aus Gottes freiem Willen gegeben, ganz wie bei Luther“.⁴⁴ Wenn man so will, rechtfertigt Jesus das hadernde Subjekt nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber jenen Apologeten, die ihm Gott nicht nahebringen konnten. Die rückweisende Selbstreferenzialität des Textes in der letzten Strophe knüpft rahmenartig an die vorausweisende aus der ersten Strophe an – so werden die klimaktisch angeordneten Strophen 2 bis 6 zum Binnenteil, eingeleitet durch eine Programmatik blasphemischen Redens und abgebrochen durch deren Revision. Eine Rahmung, die den Aufbau des Buches Hiob nachvollzieht.

43 Luther, Martin: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hrsg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. München 1972, S. 917. 44 Browning, Robert M.: Deutsche Lyrik des Barock 1618–1723. Stuttgart 1980, S. 239.

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Günthers Text rekurriert auf Hiob vor allem aber als ein topisches exemplum, und zwar gleich in zweifacher Weise: Er stellt beide dem Topos inhärenten Widersprüche in je eine rhetorische Funktion. Den thematischen Widerspruch zwischen Leiderfahrung und Dogma reaktualisiert er als Thema – um im polemischen Teil seines Textes eine Theodizee im Gestus alttestamentlicher Radikalität an verschiedene Zeit-Theologien heranzutragen. Indem Günther Hiob als Prä- von der Postfiguration (Christus) abkoppelt, kann er das Thema ‚Leid‘ unter Ausklammerung des lutherischen Erlösungsaspektes verhandeln. Gegen die einzelfallfeindliche Universalität des Leibnizschen Systems bietet sich Hiob als Kronzeuge der Individualität an, und für den Pietismus ist die Hiob-Figur eine Provokation per se. Die Ambivalenz der Figur Hiob ist bei Günther als Exempel zur Motivation des plötzlichen Affektumschwungs nützlich – möglicherweise braucht er es, um den Autor „gegen den Vorwurf der Blasphemie zu schützen, indem er das Rasen der Verzweiflung als vorübergehende Phase innerhalb einer Entwicklung zu Geduld und Selbstbescheidung inszeniert und damit zum Schluß wieder auf[hebt]“.⁴⁵ Zudem rechtfertigt Hiob, als autoritatives Dichtervorbild betrachtet, nicht nur das genus dicendi, sondern dient auch der (den persönlichen Gegnern entgegengehaltenen) Selbststilisierung des Autors zum ‚leidenden Poeten‘, dessen Redlichkeit sich mit der schlussendlich in Aussicht stehenden Annahme durch Christus bestätigt findet. Zwar gehorcht seine Art des Umgangs den rhetorischen Konventionen einer argumentativen Applikation von Topoi. Doch greift Günther dabei (erstens) Facetten des Hiob-Textes auf, die in typologischer und auch noch in lutherischer Tradition bisher keine Fortschreibung gefunden hatten, und wendet sie (zweitens) in zum Teil satirisch-polemischer Funktion als Argumente gegen Tendenzen der Zeit. Diese Diversifizierung der Anwendungsmöglichkeiten sprengt den Rahmen argumentativer Funktionalisierung eines Topos und stellt die Weichen für eine neue Verfügungsfreiheit gegenüber allen Motiven und Themen des Hiobbuches. „Subjektivität und Skepsis des 18. Jahrhunderts bilden erst die Voraussetzungen für die zunehmend freie Verfügung des biblischen Stoffes und lassen […] Ansätze zu divergierenden Interpretationen durch Dichtung zu“.⁴⁶ Unter dem Aspekt der ‚Arbeit am Mythos‘ gesehen, reaktualisiert Günther die Selbstreflexivität des Hiobbuches als ‚Mythos von der Revidierung des Mythos‘, indem er das kritische Potential der ‚Warum‘-Frage einer Realität gegenüberstellt, in der sich die

45 Bölhoff, Reiner: Johann Christian Günther 1695–1975. Kommentierte Bibliographie – Schriftenverzeichnis – Rezeptions- und Forschungsgeschichte. Bd. 2: Schriftenverzeichnis. Köln/Wien 1983, S. 311. 46 Schrader (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 7.

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Sinnstiftungsmodelle vervielfacht haben. Anders gesagt: Günthers Hiob bezieht in die Aufzählung seiner Leiden ganz ausdrücklich auch sein Leiden am zeitgenössischen Pluralismus der intellektuellen Deutungsangebote für menschliches Leiden mit ein. Das Gedicht beginnt mit einem Katalog provokantester Selbstermächtigungen des Sprechers und endet mit deren demütiger Zurücknahme. Oder wiederum anders und im Sinne unserer Grundterminologie gesagt: Günthers ‚Ich‘ beansprucht zu Beginn einen Raum von qua freiem Willen besetzbarer Handlungskontingenz, der größer kaum sein könnte, und reduziert diesen Anspruch – und diesen Raum – zum Ende hin nicht nur auf das Minimum von Entscheidungsfreiheit, nämlich auf die punktuelle Alternative zwischen Ungeduld und Geduld, zwischen Rebellion und Demut, sondern schreibt nicht einmal mehr die auf Basis dieser Alternative getroffene Entscheidung zur Demut sich selbst zu. Sondern einer mystischen Anwandlung, mit der dem ‚Ich‘ zu guter Letzt eine (behauptete) Bekehrung zuteil wird, die aber seine zuvor geäußerten Ansprüche nur rhetorisch entschärft, nicht aber ungeschehen macht. „Hiobs Frömmigkeit hat keine guten Gründe, sie erhält sich über einem Abgrund“⁴⁷ – was Safranski über den Schlussteil des Hiobbuchs feststellt, gilt auch hier. Und mehr noch: Indem Günthers Text den ‚blasphemischen‘ Handlungsanspruch seines Sprechers nur in einer Weise als obsolet verwirft, die neuneinhalb Zeilen lang, vom Ende her und unter Berufung auf eine eingangs verworfene Tugendinstanz erfolgt, setzt er ihm de facto ein Denkmal. Der intratextuell vorgeblich nur vorübergehende Anfall von aufklärerischer Subjektermächtigung bleibt – lizenziert durch Verfahren voraufklärerischer Rhetorik – letztlich als die Botschaft des Textes übrig. Herauf dämmert die Rolle des aufklärerischen Literaturschaffenden, die erst Gottsched ausdrücklich formulieren wird: die des alter Deus, der die mimetische Beschreibung und gottespanegyrische Deutung des Vorfindlichen hinter sich lässt. Zur selben Zeit, da die rationalistische Theodizee ihren Kulminationspunkt erreicht, von dem sie sich nicht mehr erholen wird, entsteht neben der Religion  – als ein Kontingenzbewältigungs-Mittel eigenen Rechts – die autonome Literatur und die moderne literarische Ästhetik. Zunächst gewissermaßen als Nebenprodukt, als literarischer Schauplatz der physikotheologischen, teleologischen Theodizee. Diese Theodizee mit Mitteln der Poetik nun wird für gut hundert Jahre ein Junktim zwischen Kunst und Schönheit festschreiben. Und dieses Junktim wiederum ist der Grund dafür, weshalb Günthers Text selbst keine unmittelbar nachahmende Tradition auslösen konnte, und zugleich der beste Beweis für dessen Skandalisierungswert, mithin den Grad seiner Ab-

47 Safranski (s. Kap. 2, Anm. 11), S. 299.

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weichung sowohl von zeitgenössischen als auch noch von späteren Normen: Günthers Elegie wurde erst 1902, also gut 180 Jahre nach der Niederschrift, ungekürzt publiziert – zunächst aber erst einmal 160 Jahre lang gar nicht. Der Erste, der es abdruckte, war im Jahre 1880 Berthold Litzmann. Die sechste Strophe des Gedichts, „deren crasser Inhalt allen Gesetzen der Aesthetik – von der Moral ganz zu schweigen – ins Gesicht schlägt“,⁴⁸ druckte er nicht.

48 Litzmann, zit. nach Bölhoff (s. Anm. 17), S. 1088. Erstmals vollständig abgedruckt wurde der Text bei Scholz 1902. Erst in Wilhelm Krämers Werkausgabe, Leipzig 1930–37, ist im Titel vom „innerlichen“ Trost die Rede, in den vorherigen Drucken lautet die Überschrift „Als er durch mündlichen Trost bei der Ungeduld gestärket wurde“ (Hervorhebung C.H.). Vgl. auch Bölhoff (s. Anm. 45), S. 125 f.

6 Theatrale Anthropodizeen 6.1 Johann Wolfgang von Goethe: ,Faust. Eine Tragödie‘ (1808/1831) Nicht nur, aber auch, weil Goethe mit seinem ,Faust‘-Projekt einem distinguierten Publikum, das „schrecklich viel gelesen“ hatte, einen entschieden volkstümlichen Bühnenstoff aufzubereiten wagte, von dem erst noch zu erweisen war, wie akzeptabel und tragfähig er abseits der Welt der Jahrmarktsbelustigung sein könnte, schickte er dem ersten Teil seines Dramas eine dreifache para- bzw. metatextuelle Verklammerung voran. Die Zueignung stellt sich selbst und alles Folgende  – noch: in seiner Gestalt als Text-Artefakt  – als Produkt der Auseinandersetzung eines alternden Autors mit Reminiszenzen seiner intellektuellen Jugendzeit vor. Das Vorspiel auf dem Theater kündigt alles wiederum nach ihm selbst Folgende – nun: in seiner Gestalt als aufgeführtes Bühnenspiel – als einen künstlerischen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen von Autor, Regisseur, Darstellern und Publikum an. Der Erstleser von 1808 durfte sich also bereits am Ende des Vorspiels weidlich aufmerksam gemacht fühlen auf den Kunstcharakter des Textes und die Theatralität seiner (gedachten) ¹ Aufführung – und, sinngemäß und avant les mots, auch darauf, dass in ihr „das Unzulängliche Ereignis werden“ und der Rezipient ein ‚Unbeschreibliches‘, das vom Vorgeführten nur angedeutet werden konnte, durch eigene, konstruktive Intuition werde supponieren müssen. Trotzdem sprach nichts dagegen, dass die nun folgende Bühnenhandlung dort einsetzen würde, wo noch jede² Bühnenbearbeitung des frühneuzeitlichen Faustus-Stoffs eingesetzt hatte (und nicht anders auch Goethes seit 1790 gedruckt vorliegende Frühversion ,Faust. Ein Fragment‘): mit der Vorstellung des Protagonisten. Stattdessen aber folgte und folgt dem Vorspiel ein Prolog im Himmel, der mit einem Schöpfungslob der Erzengel einsetzt und dann einen Dialog vorführt, der dem Dialog Gottes und Satans in Hiob 1,1–12 nachgebildet ist. Das nun aber bedeutet für jene Erwartung, mit der das Publikum ausgangs des Prologs der Einführung Fausts als Bühnenperson entgegensehen kann: Von

1 Goethe selbst verstand nicht nur den zweiten, sondern bereits den 1808 publizierten ersten Teil des Faust als reines Lesedrama und als unspielbar. Seine tatsächliche Uraufführung erlebte das Stück denn auch erst 1829 in Braunschweig. Im vorliegenden Kapitel wird der Text des Faust zitiert nach: Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 2005, S. 9–464. 2 Vgl. aber den Hinweis Jakob Minors von 1901, dass bereits Pfitzers Volksbuch von 1674 (im übrigen also: ein Prosatext, kein Theaterstück) der Faust-Erzählung einen „hiobähnlichen himmlischen Prolog vorausschalte[t]“. Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 55.

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einem Faust, bei dem es sich eben nicht mehr nur  – wie im altvertrauten, von Mephistopheles sogar noch anzitierten Horizont des Stoffs – um „den Doktor?“ handelt, sondern zudem oder sogar vielmehr um „meinen Knecht!“ (die Antwort des Herrn kann ebenso gut adversativ wie komplementär gelesen werden), von einem Faust also, dem Rolle und Rang des Dulders Hiob eingeräumt werden, der in der Bibel schlussendlich belohnt wird, ist nicht mehr so sicher anzunehmen, dass er am Ende des Stücks zur Hölle fahren wird, wie es alle zuvor üblichen Varianten des Volksstoffs vom bestraften Teufelsbündner vorsahen. Und so sehr die nun anschließende „Nacht“-Szene derjenigen ähnelt, die in Goethes „Früher Fassung“ von 1790 den unvermittelten Anfang des Textes bildete: Dass Faust sie mit einer Klage beginnt, das steht nach seiner vollzogenen Analogsetzung mit dem klagenden Gerechten schlagartig im Lichte ganz anderer Wertungsoptionen da, als es sie 1790 gegeben hatte. Der Prolog im Himmel ist unter den genannten drei Verklammerungs-, besser: Auftakt-Textelementen des Faust I das einzige, dem (so, wie Goethe es zwischenzeitlich für alle drei vorgesehen hatte)³ am Ende des ,Faust II‘ ein Gegenstück korrespondiert,⁴ das von einer ‚Verklammerung‘ zu sprechen erst rechtfertigt. Dieses Gegenstück im ,Faust II‘ sind die beiden Szenen Grablegung und Bergschluchten. Ihre inhaltliche Korrespondenz zum Prolog ist klar: Sie zeigen Fausts Tod, den Moment also, in dem sich die Frage nach dem Ausgang der im Prolog verhandelten Wette stellt. Auch die Darbietungsweise der Schlussszenen schlägt eine Brücke zurück zum Prolog (dem ja eine Regieanweisung des Theaterdirektors vorangegangen war, die ausdrücklich auch kulissentricktechnisch gemeint war: „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ zu führen  – Z.  242): nämlich in der hyperbolisch ausgestellten Theatralität, mit der sich da etwa der „gräuliche Höllenrachen“ (Z. 11643f.) auftut oder eine Waldung ‚heranschwankt‘ (vgl. Z. 11844). In unserem Zusammenhang besonders relevant aber ist, dass in der Grablegungs-Szene zum einzigen Mal im Text explizit der Name ‚Hiob‘ fällt, und zwar im Rahmen einer Klage, die den Bogen zu Fausts Eröffnungsrede schließt. Der sie führt, ist Mephistopheles, dem soeben durch himmlische Heerscharen Fausts Seele entwunden wurde. Mit der bevorstehenden Erlösung Fausts als mit einer ihm zugemuteten Ungerechtigkeit (vor dem Hintergrund der Wette mit dem Herrn nämlich, die er gewonnen zu haben meint) hadert Mephistopheles im Wortgebrauch Hiobs (vgl. z.B. Hiob 23,3–9): „Bei wem soll ich mich nun beklagen? Wer schafft mir mein erworbenes Recht?“ (Z. 11832f.) Den Prätext dieser Klage lässt Goethe den Geprellten sogar bereits im Vorfeld namhaft machen, als 3 Vgl. Eibl, Karl: Das monumentale Ich. Wege zu Goethes „Faust“. Frankfurt/M. 2000, S. 25 f. 4 Zur „Bergschluchten“-Szene als geplantem Gegenstück zum „Prolog im Himmel“ vgl. Schmidt (Kap. 1, Anm. 15), S. 48.

Johann Wolfgang von Goethe: ,Faust. Eine Tragödie‘ (1808/1831)   

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er erst zu ahnen beginnt, dass er geprellt sei: „Wie wird mir! – hiobsartig, Beul an Beule“ (Z. 11809). Keine geringeren also als die prominentesten denkbaren Zeitpunkte der Bühnenhandlung – Anfang und Schluss – sind es, an denen Goethe seine Adaption des ‚Faustus‘-Stoffes motivisch auf das Hiobbuch verweisen lässt. Die Himmelsszene eingangs des Hiobbuches eröffnet den Vorstellungsbereich von der Weltbühne, der die Erde als Ort dynamischer Handlungen im Kleinen sieht, den Himmel indes als eine im Großen unwandelbare und letztlich geschichtsenthobene Sphäre, in der Gott als Regisseur wie als Zuschauer den Überblick behält. Dieses Denkkonzept kommt in Goethes verschachtelter Paratext-Anordnung bereits in- und somit subvertiert daher, noch bevor die erste Zeile des Prologs gesprochen ist: „So schreitet in dem engen Bretterhaus / den ganzen Kreis der Schöpfung aus“ (Z. 239f.), hat der Theaterdirektor eben erst verordnet – ein Aufruf zur Aus-Schöpfung aller bühnenhandwerklichen Mittel der Kulissenschieberei. Diese technische Anweisung hat dem Zuschauer vorab klargestellt, dass die Himmelsszene als eine ebensolche aufzufassen ist, als Szene nämlich: ein narratives Artefakt, inszeniert nach Maßgabe menschlichen Bedürfnisses (nach Unterhaltung) und Vermögens (im Handwerk) und  – diese implizite Analogie liegt auf der Hand – nach Maßgabe menschlichen Bedürfnisses und Vermögens, Denkkonzepte über Art und Beschaffenheit der agierenden numinosen Mächte zu entwerfen. Gott und Satan, wie sie hier figurieren, sind Gott und Satan so, wie der Mensch sie sich nach seinem Ebenbilde denkt.⁵ Die ganze Szene per se also ist eine Inversion, eine Travestie:⁶ die nämlich des Topos vom ‚Welttheater‘, dessen Regisseur Gott ist. Dieser Topos wird aufgerufen, doch nur, um ihn dann gleichsam eine halbe Schraubendrehung höher in 5 Gleichsam als sehr spät hintangeschickte Leseanweisung zum Prolog lässt es sich auffassen, wenn Faust sich im 5. Akt des 2. Teils zum Handeln in radikaler Diesseitigkeit bekennt: „Der Erdenkreis ist mir genug bekannt. / Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt: / Tor! wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, / Sich über Wolken seinesgleichen dichtet“ (Z. 11441–11444). 6 Auch auf das hier angewandte Verfahren der Travestie übrigens bereitet schon die Rede des Theaterdirektors vor. Denn die Aufführungsumstände, die dieser Kommerzpragmatiker umreißt, sind die einer Wanderbühne aus eben jener Sphäre der Jahrmarktsbelustigung, die jahrhundertelang das Umfeld aller Arten von Aktualisierung des ‚Faustus‘-Stoffes gewesen war und diesem auch 1808 als Hautgout noch anhing. (Vgl. Schöne, Albrecht, in: Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Kommentare. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 2005, S. 156.) Die Bühne des ‚wildwüchsigen‘ Jahrmarktstheaters war es aber auch, auf der die burleske, satirische Travestie ‚erhabener‘ Stoffe aufgekommen war und weiterhin einen Platz hatte, den ihr jene bürgerliche oder gar höfische Theater-Hochkultur noch lange nicht zubilligen wollte, in der Goethes Lesepublikum sozialisiert war. Das Vorspiel dient diesem Publikum also auch gleichsam als diskursive Schleusenkammer: Es etabliert einen Bühnendiskurs, der dem nachfolgenden Text die Blanko-

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die Meta-Ebene zu versetzen: Die nur scheinbare Meta-Szene, die den ‚Herrn‘ als Regisseur zeigt, wird überdeutlich gekennzeichnet als ein Stück ‚Himmelstheater‘, dessen Regisseur der Mensch ist.⁷ Die travestierende Inversion erweist sich auch fernerhin als das durchgängige Prinzip, nach dem der Prolog im Himmel Figuren, Themen und Motive des Hiobbuchs verarbeitet. Mit einer Schöpfungsrevue, wie sie in Hiob 38–41 zum Ende des Binnenteils Gott selbst aus dem Wettersturm liefert, eröffnen im Faust I die drei Erzengel den Prolog. Raphael: Die Sonne tönt, nach alter Weise, In Brudersphären Wettgesang, Und ihre vorgeschriebne Reise Vollendet sie mit Donnergang. Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke, Wenn keiner sie ergründen mag; Die unbegreiflich hohen Werke Sind herrlich wie am ersten Tag. Gabriel: Und schnell und unbegreiflich schnelle Dreht sich umher der Erde Pracht; Es wechselt Paradieseshelle Mit tiefer, schauervoller Nacht. Es schäumt das Meer in breiten Flüssen Am tiefen Grund der Felsen auf, Und Fels und Meer wird fortgerissen Im ewig schnellem Sphärenlauf. Michael: Und Stürme brausen um die Wette Vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer, Und bilden wütend eine Kette Der tiefsten Wirkung rings umher. Da flammt ein blitzendes Verheeren Dem Pfade vor des Donnerschlags. Doch deine Boten, Herr, verehren Das sanfte Wandeln deines Tags.

Lizenz erteilt, nach Bedarf Triviales zu nobilitieren, Bildungskanonisches zu trivialisieren – oder eben, wie der Faust es dann tut, Stoffe aus beiden Sphären zu kontaminieren. 7 Vgl. Binder, Alwin: Es irrt der Mensch so lang er strebt. Der „Prolog im Himmel“ in Goethes „Faust“ als satirische „Homodizee“. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 243–260.

Johann Wolfgang von Goethe: ,Faust. Eine Tragödie‘ (1808/1831)   

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Zu drei: Der Anblick gibt den Engeln Stärke, Da keiner dich ergründen mag, Und alle deine hohen Werke Sind herrlich wie am ersten Tag. (Z. 242–270)

Ihr Gegenstand ist hier wie dort die Unbegreiflichkeit des Kosmos für den Menschen, dem nicht die inneren Gesetze seiner Ordnung ersichtlich seien, sondern nur deren mal schön-harmonisch, mal furchtbar-bedrohlich erscheinende Oberfläche – mit einem Wort: ihre Erhabenheit. Was im biblischen Prätext den Streiter-Hiob in die Schranken seiner Erkenntnisfähigkeit verweist, scheint im Prolog dem Lobpreis Gottes zu dienen. Doch steht das Pathos der Erzengel von Anfang an auf tönernen Füßen: Wenn sie zum Preis der „unermesslich hohen Werke“ Gottes anheben, sind dem Leser noch die Worte des Theaterdirektors vom „Kreis der Schöpfung“ erinnerlich, der mit trivialkünstlerischen Mitteln abzuschreiten, also: durchaus auch abschreitbar sei. Zudem ist dem Imposanz-Effekt der nach Elementen sortierten Liste ‚unbegreiflicher‘ Naturwunder, die die Engel aufzählen, gleich in doppelter Hinsicht ein Verfallsdatum eingeschrieben. Einerseits nämlich sind es sämtlich Phänomene, deren „tiefste[.] Wirkung“ für den Leser von 1808 Teilgründe ihrer Erhabenheit frisch eingebüßt haben – die Drehung der Erde ihre Unbegreiflichkeit durch neue mathematische Analysen, das Gewitter seinen Schrecken durch die Erfindung des Blitzableiters.⁸ Andererseits zeigen sich die Erzengel selber durchaus menschlichen, somit menschheitshistorisch zeitgebundenen und hiermit wiederum sogar einander widersprechenden Erklärungshorizonten verhaftet: Zunächst sieht Raphael den Kosmos „nach alter Weise“ nach dem pythagoreischen, also geozentrischen Konzept der Sphärenharmonie sortiert, woraufhin dann aber Gabriel („dreht sich … der Erde Pracht“) das jüngere heliozentrische Muster aufruft. Und schließlich erreicht die Rede der Engel einen erhöhten Grad an Meta-(Selbst?-)Ironie, wenn sie die (von Menschen? von Engeln? von beiden?) empfundene Größe Gottes ausdrücklich in konditionale Abhängigkeit stellt, mithin für vorläufig und relativ erklärt: „Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke, wenn keiner sie ergründen mag“ (Z. 247f.), später: „da keiner dich ergründen mag“ (Z. 268, Hervorhebungen C.H.). Man kann diese ‚Schöpfungsrevue‘ chronologisch als Auflistung einander ablösender Weltbilder lesen oder simultan als große Aporie  – in beiden Fällen schreibt sie der Schöpfung genau das zu, was in Abrede zu stellen die Funktion 8 Vgl. Binder (s. Anm. 7); S. 255 ff.

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der Gottesrede in Hiob 39–41 ist: Kontingenz, nämlich im Sinne einer Unübersichtlichkeit, die das menschliche ‚Ergründungs‘-Vermögen herausfordert. Eine Welt aber, deren Ordnung nicht nur für Engel und Menschen nicht so ohne weiteres intelligibel ist, sondern bereits in sich selbst ebenso wenig unabänderlich ist wie die wechselnden menschlichen Versuche ihrer Deutung, eine solche Welt ist nicht mehr wie die des Alten Testaments als bereits im Anbeginn vollendete Setzung eines ewigen Schöpfergottes zu denken. Auch mit der gerade zitierten Variation der Engelworte vom Konditionalen hin ins Kausale ist als Vorzeichen für den weiteren Prolog die Prozessualität der Geschichtlichkeit⁹ gesetzt. Auch dies ist ein Effekt der Travestie des WelttheaterTopos: Wenn Goethes Prolog den Himmel des Hiobbuchs nicht mehr als zeitenthobenen Zuschauerrang, sondern als eigene Bühnensphäre anlegt, dann unterwirft er ihn eben auch historischer Dynamik. Und die liegt denn auch jener Schöpfungs-Konzeption zugrunde, die der Prolog mit dem einleitenden Lobpreis nur andeutet, schließlich aber mit den Worten des Herrn selbst eindeutig postuliert: „Das Werdende“ kennzeichnet sie, das, „was in schwankender Erscheinung schwebt“¹⁰ (Z. 346ff.) – ein nie zu beendender Prozess also.¹¹ An dieser Stelle nun kommt das Prinzip travestierender Inversion in einer weiteren Anwendung zum Tragen, nämlich in jener auf das Personal der Himmelsszene. Dass der Leser dort, wo der Herr im allseits bekannten Prätext auf Satan trifft, eine Figur vorfindet, die anders heißt, ist Signal genug. Die Rede beider Figuren aber bestätigt es dann auch: In gleichermaßen metonymischem

9 Zu Goethes Konzeption einer zeithistorischen ‚Bedingtheit‘ des Herrn insbesondere in Abgrenzung zum Gottesbild Miltons in Paradise Lost vgl. Gaier, Ulrich, in: Goethe, Johann Wolfgang: Faust-Dichtungen. Bd. 2: Kommentar I. Stuttgart 1999, S. 46 f. 10 Zwar weist der Herr, wörtlich genommen, seine Heerscharen an, für Stabilität zu sorgen: „Das Werdende, des ewig wirkt und lebt, / Umfass‘ euch mit der Liebe holden Schranken, / Und was in schwankender Erscheinung schwebt, / Befestiget mit dauernden Gedanken.“ (Z. 346ff.) Doch liegt in dieser Formel, als Rückgriff auf den einleitenden Lobpreis gelesen, eine gewisse gönnerhafte Ironie: Wie ‚dauernd‘ die von den Erzengeln vertretenen, letztlich menschengedachten Lesarten der Schöpfung sind, hat man gesehen. 11 Vgl. Goethes Ausführungen zu seiner eklektizistischen Freitheologie und -kosmogonie in Dichtung und Wahrheit, mit deren Systematik Einzeltheologeme des Faust-Textes plausibel zur Deckung zu bringen sind – etwa der evolutive und dialektische Charakter der Schöpfung, der spezielle hierarchische Stellenwert der gefallenen Engel darin und die prinzipielle Erlösbarkeit des ‚strebenden‘ Menschen unabhängig von klassischen katechetischen Bedingungen zur gottgefälligen Lebensführung: „Ich mochte mir wohl eine Gottheit vorstellen, die sich von Ewigkeit her selbst produziert…“. Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 9: Autobiographische Schriften I. Textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal. Kommentiert von Erich Trunz. München 1981, S. 8–598; S. 351 f.

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Verhältnis steht Mephisto, steht aber auch Goethes ‚Herr‘ einerseits als PosttextBühnenfiguren zu jenen zwei Figuren, in deren hinterlassene Bühnenrollen sie eingetreten sind. Andererseits aber stehen sie auch textimmanent metonymisch (nämlich pars pro toto) als Figurationen für jene beiden dualen Schöpfungsprinzipien, die (im Gegensatz zu ihnen selbst) jeglicher (Bühnen-)Zeit enthoben sind: Der Herr für ein ab ovo konstruktives Prinzip, Mephistopheles für eines, das den Umweg über die Destruktion nimmt. Mephistopheles wird sich im späteren Dramentext immer wieder selbst als einen „Teil von jener Kraft“ definieren. Der Herr hingegen schränkt zwar seine eigene Rolle nirgends ausdrücklich auf die einer Figuration ein, dafür aber spielt er sie am Ende des Stücks auch nicht mehr: Bis zur Bergschluchten-Szene hat sich das konstruktive Schöpfungsprinzip still und kommentarlos transfiguriert, so dass Fausts Seele einer liebespendenden ‚Mater Gloriosa‘ entgegenfährt – und so dass für Mephistopheles (der äußeren Erscheinung nach) jenes Gegenüber, mit dem er um sein Wettgut rechten möchte, nicht mehr existiert. Mephisto, der auf dem vermeintlich sicheren Weg zum Gewinn seiner Wette unter anderem für den brutalen Tod zweier Menschen gesorgt hat, die fälschlicherweise glaubten, „dem alten Gott vertraun“ (Z. 11142) zu können, muss nun erkennen, dass er dabei selbst einer Art von Gottvertrauen erlegen war, dem mit dem ‚alten‘ Prolog-Herrn die (ohnedies nur vermeintliche) Grundlage geschwunden ist. Ein Gott, der sich nun gänzlich im allegorischen Gewand mütterlicher Liebe zeigt, ist für den Teufel nicht mehr zugänglich: Auch vor diesem Hintergrund ist es von prägnanter Ironie, dass Mephistopheles nun ausdrücklich „hiobsartig“ (Z.  11809) eben jenen Gestus einnimmt, mit dem Hiob das Fehlen einer Vermittlerinstanz zum deus absconditus beklagt hatte.¹² Einen besonders pikanten motivischen Rückbezug zum Prolog, dessen Figuren- bzw. Rollenkonzeptionen es nun im Kontrast zur Bibelvorlage zu betrachten gilt, vollzieht Mephisto mit seiner Schluss-Klage insofern, als er sich dem Herrn eingangs  – sehr anders als Satan im Hiobbuch  – in der Rolle just jenes Anwalts menschlicher Bedürfnisse genähert hatte, wie der klagende Hiob nach der Schicksalswende sich einen wünscht. Eine Rolle, die Mephisto so offensiv wie zwielichtig spielt: Die Redereihenfolge im Hiobbuch umkehrend, ist er es, der zuerst das Wort ergreift (wobei gleich seine erste gesprochene Zeile eine provokante

12 Auch hierin liegt im übrigen eine genau spiegelsymmetrische Inversion gegenüber dem Prätext, in diesem Falle seiner Figurendramaturgie: Im Hiobbuch ist es Satan, der nach dem Eingangskapitel nicht wieder figuriert (vgl. auch Anderegg, Johannes: Hiob und Goethes Faust. In: Das Buch Hiob und seine Interpretationen. Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.–19. August 2005. Hrsg. von Thomas Krüger u.a. Zürich 2007, S. 395–409, S. 401 f.) und insbesondere dort nicht, wo ein rahmender Rückgriff auf sein Abkommen mit Gott zu erwarten wäre: am Schluss.

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Lüge ist,¹³ was seine Rede von vornherein in den Verdacht der Unzuverlässigkeit setzt). Seine Leibnizsche Formulierung vom Menschen als „kleine[n] Gott der Welt“ (Z. 281) zitiert den (auch am Hiobbuch entwickelten) Theodizee-Diskurs der Aufklärung an: Der Beginn einer radikalen Ironisierung, die der Prolog dessen Argumenten zumutet, indem er sie als spielerische Kontrafaktur in die Rollenund Deutungsmuster des Hiobbuchs implementiert. Nicht etwa wirft hier – wie in der klassischen Theodizee-Konstellation – ein Mensch angesichts des Übels in der Welt die Frage nach der Rechtfertigbarkeit Gottes auf, vielmehr wirft das Übel in der Welt persönlich (figurierend als Mephisto) angesichts der gottgegebenen Ratio des Menschen, die diesen befähigt, auf Fragen wie jene der Theodizee allererst zu stoßen, die These auf, das größte empfundene Übel für den Menschen (und mithin das größte Defizit der Schöpfung) sei eben jene Ratio, ohne die er „ein wenig besser […] leben“ würde (Z. 283). Als letztursächlicher Quälgeist der Menschheit steht in Mephistos Anklage der Herr selbst da. Der nun greift in seiner Replik an jener Stelle, da der biblische Gott die exemplarisch gottgefällige Lebensweise Hiobs lobt, als personifiziertes Gegenargument auf Faust zurück. Dessen Lebenshaltung – seine Ungeduld angesichts empfundener Kontingenz, mangelnder ordnungsstiftender Erkenntnis und mangelnder lebensgestalterischer Eigenkraft also, wie sie den von Haus aus geduldigen Hiob erst nach dessen Schicksalswende als vorübergehender Ausnahmezustand befallen wird – nobilitiert Goethes ‚Herr‘ als Regelzustand der conditio humana und als Idealfall des Einklangs eines Menschen mit seiner göttlichen Bestimmung. Die nämlich – und hier streift der allezeit im prozessualen Schöpfungsgeschäft befangene Herr auch Positionen aufgeklärter Theologie des 18.  Jahrhunderts  – besteht darin, dass der Mensch sich anhand der ihm verliehenen Vernunft in eine Erkenntnis- und Entfaltungsdynamik versetzt sehen soll, mit der er als Monade die Bewegung des großen Ganzen selbstbestimmt mitvollzieht und zugleich als Entelechie seine Weiterentfaltung über den Tod hinaus sicherstellt. (Somit ist der größtmögliche Handlungs- und Wirkungsspielraum erreicht, der dem freien Willen des Menschen im Rahmen der hier betrachteten Hiobbuch-Reminiszenzen bislang eingeräumt worden ist.) Mephisto hingegen beharrt darauf, dass der Mensch diese seine Entwicklungsfähigkeit angesichts der unhintergehbaren

13 Mephistos Feststellung „Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst“ (Z. 271) ist m. E. nicht, wie Gaier es liest, „der zitierten Situation im Buch Hiob (1,6) entgegengesetzt, wo die Kinder Gottes und Satan zu dem immer präsenten Jehova kommen“ (Gaier  – vgl. Anm. 9  –, S. 60), sondern schlicht eine freche Provokation: Entgegen stehen ihr sowohl die eingangs in der Regieanweisung festgesetzte Reihenfolge „Der Herr, Die himmlischen Heerscharen, nachher Mephistopheles“ als auch die Schlussanweisung „Der Himmel schließt“ (Z. 348f.), die ja impliziert, dass er sich zuvor für Besucher geöffnet haben muss.

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Grenzen, an die er dabei stoße, letztlich als Diktat erleide und, von Hause aus der Statik zuneigend („stets von gleichem Schlag“, 281) die stete Dialektik aus Entgrenzung und Beschränkung, die er als „springende Zikade“ (vgl. 288ff.) zu vollziehen hat, am liebsten zugunsten reiner Beschränkung überwinden würde. Die ‚Wette‘, die Mephisto in Vers 331 (einseitig) proklamiert, ist also bei aller direkten inhaltlichen Inversion ganz strukturanalog zur ‚Wette‘ in Hiob 1, 9–12: Hier wie dort bezweifelt der numinose Widersacher, dass das konstitutive Element der Bindung des Menschen an Schöpfer und Kosmos tatsächlich wirksam sei – nämlich: vom Menschen interesselos auf sich genommen. Hier wie dort soll dieses Element einer Probe unterzogen werden. Im Hiobbuch ist es die interesselose Frömmigkeit, die sich in Hiobs unerschütterter Geduld erweisen soll, im ,Faust‘ indessen – umgekehrt – ist es das interesselose Entgrenzungsstreben, das sich in Fausts unerschütterter Ungeduld erweisen soll. Satan wettet, der noch geduldige Hiob werde vom Glauben abfallen, sobald er erst den höchsten Grad an Verzweiflung erreicht habe; Mephisto indes wettet, der noch ungeduldige Faust werde vom Streben abfallen, sobald er (dies das materialistische Interesse, das er unterstellt) den höchsten Grad an saturierter Zufriedenheit erreicht habe. Im Hiobbuch wie im Faust-Prolog indes ist die ‚Wett‘-Situation einseitig. Die prätextuelle Vorgabe, dass Gott auf Satans Wettformel („was gilt’s“, Hiob 1,11 und 2,5) nicht direkt eingeht, greift Goethes Prolog auf und motiviert sie (wenn auch zwischen den Zeilen) klarer als die Vorlage: Eine ‚Wette‘ im Sinne eines tatsächlich ergebnisoffenen und von beiden Partnern vereinbarten Vergleichs kommt recht eigentlich nicht zustande, weil Herr und Mephisto aufgrund ihres hierarchischen Gefälles aneinander vorbei kommunizieren. Gerade Mephistos Eigenschaft als Verkörperung des ‚beschränkenden‘ und selbst beschränkten negativen Schöpfungsprinzips, die ihn den Menschen letztlich auf seiner Seite wähnen lässt, disponiert ihn auch dazu, die Dialog-Aussagen des Herrn im eigenen Sinne als Entgegenkommen zu vereindeutigen, wo sie zweideutig sind,¹⁴ und schlicht nicht ernst zu nehmen, wo sie eindeutig¹⁵ erkennen lassen, dass der Herr nicht etwa die Letztentscheidung über Erlösungsfragen abzugeben gedenkt, sondern seinen Widerredner diametral gegen dessen Absichten instrumentalisieren will. Eine kommunikative Schieflage also, die für den ‚Wett‘-Ausgang bedeutsam ist. Sie rührt auch aus einer Selbstüberschätzung Mephistos in bezug auf seinen eigenen Handlungsfreiraum, die der Text besonders deutlich am Schluss markiert, wo ihm (wiederum ungekehrt zum Hiobbuch) auch das letzte Wort eingeräumt wird: „Es ist gar hübsch von einem großen Herrn, so menschlich mit dem 14 „Du darfst auch da nur frei erscheinen“ (Z. 336, Hervorhebung C.H.). 15 „So werd’ ich ihn bald in die Klarheit führen“ (Z. 309); „So lang’ er auf der Erde lebt, / so lange sei dir’s nicht verboten. / Es irrt der Mensch so lang’ er strebt“ (Z. 315–317).

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Teufel selbst zu sprechen.“ (Z. 352f.) Der unbestimmte wie der bestimmte Artikel machen überdeutlich, wen Mephisto letztlich als absolute und wen als nur relative Autorität ansieht  – was bereits sein beliebiges Spiel mit der Anredeform („Du“ in Z. 271–286, „Ihr“ in Z. 287–335) offen gezeigt hat.¹⁶ Auch den weiteren Text des Dramas durchziehen vereinzelte Reminiszenzen an das Hiobbuch – teils solche von prägnant zitativer, teils eher von motivisch-allusiver Art. Wenn auch sie hier aufzulisten und kurz in ihrer jeweiligen Funktion zu erläutern sind, dann aber natürlich keineswegs im Dienste der Behauptung, unter all den zahllosen Prä- und sonstigen Intertexten des Monumentaldramas sei ausgerechnet das Hiobbuch zum Schlüsselinterpretament zu erheben. Gerechtfertigt erscheint es aber dadurch, dass sie die unabweisbare Verklammerung des Dramas durch zwei korrespondierende Hiob-Passagen zwischendrin aufgreifen und ihnen teilweise ihr je eigenständiger Reminiszenz-Charakter auch nur unter Berufung auf diese intertextuelle Klammer zuzusprechen ist. Zunächst einmal ist da natürlich die Anfangsklage in der Szene Nacht, in der Faust es bekanntlich als erkenntnismäßig fruchtlos bekennt, „leider auch Theologie […] durchaus studiert“ (Z. 356) zu haben (was im übrigen ja beinhaltet: Alle Fragen, die die frühneuzeitliche Theologie im Hiobbuch aufgeworfen sah). Diese Klage illustriert noch einmal das Skandalon der zuvor vollzogenen FaustHiob-Analogie: Der von Goethes Herrn als ‚Knecht‘ Privilegierte ist von Anfang an glaubensabtrünnig. Denn nur eben jener Zustand blasphemischer Ungeduld, in dem wir ihn noch vor seiner Bearbeitung durch Mephistopheles kennen lernen, kann ja jener Zustand sein, der ihn im Sinne des Herrn zum vorbildlichen Präzedenzfall bestmöglichen Umgangs mit der Vernunft macht. In dieser Klage steht Fausts neuzeitliche Sehnsucht nach Individuation und Entgrenzung noch im Zeichen der intellektuellen curiositas, also im Bezug auf den Wunsch nach mehr Wissenserwerb, als der menschlichen Vernunft zugemessen ist („Ich Ebenbild der Gottheit!“, Z.  526). Auch Fausts zeitweilige Todesbereitschaft, die ihn nah an jene Schwelle führt, die auch der klagende Hiob zu überschreiten nicht bereit ist („Sage Gott ab und stirb!“, Hiob 2,9), lässt sich nur als eine von mehre-

16 Aus der kolloquialen 2. Person Singular in die Respektsform der 2. Person Plural verfällt Mephistopheles erst ab seiner überdeutlich ironischen Adresse „mit Verlaub von Ew. Gnaden“, was ihr auch im Folgeverlauf einen sarkastischen Unterton belässt. Allzu oberflächlich scheint mir insofern Hans-Jürgen Schrader zu beobachten, „[d]er Rangunterschied“ zwischen beiden werde durchgängig „an ihren Anredeformen ersichtlich: der Herr apostrophiert den Bediensteten mit ‚Du’, dieser repliziert mit dem unterwürfigen ‚Ihr’“. Schrader, Hans-Jürgen: Modell des Menschen. Hiob im Goetheschen Faust. Colloquium Helveticum 34. Freiburg (Schweiz) 2004, S. 159–190; S. 162.

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ren Strategien der Grenzüberschreitung hin zum Erkenntnisgewinn lesen,¹⁷ nicht indes verwechseln mit Hiobs (in Phase 2 mit der Selbstverfluchung erhobenem) Wunsch nach Auslöschung aus der Ordnung des Kosmos. Zurückgekehrt ins Leben, wendet sich Faust in der Studierzimmer-Szene in einem mehrstufig reflektierten Bibelübersetzungs-Sprechakt¹⁸ (vom ‚Wort‘ über ‚Sinn‘ und ‚Kraft‘ zur ‚Tat‘) ab von der intellektuellen Strebsamkeit und hin zur handlungsorientierten. Durchaus noch weiterhin in dieser vom ‚Herrn‘ abgesegneten Bahn denk- und handlungsoptionaler Selbstentgrenzung bewegt er sich später (in der Szene Studierzimmer II), wenn er seine Rückwendung ins Leben bereut und seine Disposition zur dann folgenden Wette mit Mephisto auch anhand einer Kette von Flüchen darlegt, dessen letzter klimaktisch die Tugend des Dulder-Hiob trifft: „und Fluch vor allem der Geduld!“ (Z. 1606). Und unter dem Banner der ‚Tat‘ geht denn das weitere Drama seinen Gang: Sooft Mephisto Faust auf verschiedenen Wegen und unter verschiedenen Vorzeichen an einen höchsten Grad von Saturiertheit heranführen möchte (etwa dem Vorzeichen der Liebe in der Gretchen-Handlung, dem der Ästhetik im Helena-Akt oder dem der materiellen Herrschaft im Landgewinnungsprojekt),¹⁹ nimmt Faust den je letzten (mit den materiellen Mitteln des Erdenfürsten) erreichten Grad nur als je neuen Ausgangspunkt einer Entgrenzungssehnsucht, die über die materielle Erscheinung hinaus strebt in den jeweils dahinter stehenden²⁰ absoluten, nicht mehr intelligiblen Bereich der Totalität (in den genannten Aspekten etwa: den Bereich der enthusiastischen Liebe, der reinen Schönheit, der absoluten Herrschaft).²¹ Sein erstes programmiertes Scheitern, das an Gretchen, quittiert Faust – den ersten Teil des Dramas motivisch abrundend – mit jener zuvor nicht nachvollzogenen Klage aus Hiob 3,11: „O wär ich nie geboren!“ (Z. 4596) Anders 17 Vgl. Timm, Hermann: Das „heilige Original“. Eine Interpretation der Bibel-Szene in Faust 1. In: Anton, Herbert: Invaliden des Apoll. Motive und Mythen des Dichterleids. München 1982, S. 35–51. 18 Eine Selbst-Setzung, die zwar aus freiem Willen und mithin autark geschieht, nicht aber autonom im Sinne eines Bruchs mit gottgegebenen Regeln – sondern wiederum durchaus im Einklang mit diesen. Anders als im Gotischen Zimmer, wo er noch auf die Schwarze Magie gesetzt hat, verlegt er sich nun gleichsam auf eine Teildisziplin der Weißen: auf die ‚heilige Philologie‘. Eine vertrackte nachaufklärerische Pointe, wie Hermann Timm spitzfindig zeigt: Nicht nur ist es ausgerechnet die Textarbeit, die hier Fausts Abwendung von der intellektuellen hin zur handlungsorientierten Strebsamkeit motiviert, sondern auch erweist sich hier just die fromme Philologie als ‚Einfallstor des Teufels‘. Vgl. Timm (s. Anm. 17), S. 50. 19 Vgl Eibl (s. Anm. 3), S. 157–306, insb. S. 164 ff. 20 Gemäß Goethes neuplatonischer Vorstellung vom ‚Vergänglichen‘ als ‚Gleichnis‘ und vom ‚farbigen Abglanz‘ als sinnlichen, für den Menschen nicht mehr hintergehbaren Platzhalter des metaphysischen Lebens. 21 Vgl. Eibl (s. Anm. 3).

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als im Prätext ist sie hier ein Eingeständnis empfundener Schuld. Doch ist aus beiden Textstellen womöglich eine analoge Motivation zu lesen: Der Wunsch Hiobs wie Fausts nämlich, das eigene (hier schuldlose, da schuldhafte) Geschick als nicht verallgemeinerbaren Ausnahmefall zurückgenommen und ausgelöscht zu sehen – in der Variante bei Faust der seltene Fall einer Anfechtung des Protagonisten durch eben jene ethische Handlungsmoral, bezüglich derer ihm der „Prolog“-Leser das bittere Wissen voraus hat, dass sie ohnehin nicht erlösungsrelevant ist. Die Kulmination des Faustschen Tatendrangs auf konkret-materiellem Feld,²² das Landgewinnungsprojekt im 5. Akt des zweiten Teils, ist vielfach²³ und mit Recht in jenen prätextuellen Kontrast zum Hiobbuch gesetzt worden, der das Skandalon dieses Unternehmens erst so recht unterstreicht: Der vom Herrn gebilligte Aktionsradius des Ungeduldigen umfasst im Faust sogar eigene Schöpfungsunternehmen. Der Gott Hiobs betont seine Autorität in der ‚Schöpfungsrevue‘ durch die von ihm allein zu erbringen gewesene Ordnungsleistung wider das kontingente Chaos – die er außer in seinem Bild vom gebändigten Leviathan (Hiob 40,25) insbesondere durch das von der Grenzziehung des Meeres illustriert (Hiob 38,10). Faust zieht die von der Schöpfung gesetzte Meeresgrenze im 5. Akt auf eigene Rechnung neu. Betrachtenswert scheint mir überdies aber noch eine voraufgehende Passage eingangs des 4. Akts: Hier nämlich, als Überleitung quasi vom Faustschen Betätigungsfeld der Ästhetik zu dem der Herrschaft und des Eigentums, ist es wiederum eine Hiobbuch-Referenz, die als Anlass dazu dient, noch einmal und abschließend auf jenes Betätigungsfeld zurückzukommen, von dem alles seinen Ausgang genommen hatte  – den Wissensdrang. Als nämlich Faust im Hochgebirg sein Landgewinnungs-, also: Schöpfungsprojekt zum ersten Mal erwähnt (Z. 10198 ff.), da tut er dies unmittelbar nach (und in neptunisch-vulkanischem Kontrast zu) einer ‚Schöpfungsrevue‘ ganz eigener Art, die ihm nun gerade nicht von Gott geliefert worden ist. Mephisto vielmehr hat ihm die vorzeitliche Entstehung der Gebirge aus einem höllenfeuergeschürten Vulgär-Vulkanismus heraus geschildert – mit dem Anspruch eines beteiligten Augenzeugen: „Der Teufel war dabei“ (Z. 10125).

22 In der eigentlichen Domäne Mephistos also, was ein Grund für sich sein dürfte, warum sie klimaktisch das letzte Unternehmen des Dramas bildet, dessen erstes auf dem Feld der Liebe statthatte – also jenem, auf dem sich Mephisto (wie auch die „Bergschluchten“-Szene erweisen wird) am wenigsten heimisch fühlen kann. 23 Vgl. außer den Kommentaren von Gaier bzw. Schöne insbesondere Anderegg (s. Anm. 12), S. 400.

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Das greift die Einleitungsworte auf, mit denen Gott in Hiob 38,4 seinen und Hiobs Grad an Schöpfungswissen und -beteiligung rhetorisch gegeneinanderstellt („Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir’s, wenn du so klug bist!“, Hiob 38,4). Bemerkenswert ist nun aber, dass sich Faust hierdurch nicht nur – anders als Hiob – nicht einschüchtern lässt, sondern dass Mephistos Bericht in ihm, ganz unabhängig von Fragen der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des Referenten, schlicht kein Interesse erweckt. Sein Kommentar könnte schmallippiger kaum ausfallen: „Es ist doch auch bemerkenswert zu achten, / Zu sehn wie Teufel die Natur betrachten“ (Z.  10122f.). Derselbe (oder eben: nicht mehr derselbe) Faust, der zu Beginn des ersten Dramenteils für solcherart Einblicke in die Erdentstehung vermutlich noch Morde begangen hätte, stellt nun unter Beweis, dass ihn Fragen nach der menschlichen Fähigkeit zur intellektuellen Durchdringung des Bestehenden längst nicht mehr beschäftigen. Die Evidenz darüber, wie weit Fausts Entgrenzungsdrang jene curiositas bereits hinter sich gelassen hat, die am Anfang noch das Hauptindiz dieses Dranges gewesen war, lässt seinen nun erreichten Grad an Willen zur ‚Gottähnlichkeit‘ umso krasser hervortreten, wenn man in Rechnung stellt, dass die Erzengel zu Beginn des Prolog im Himmel ja eben die Fähigkeit (oder auch nur Bereitschaft) eines nicht-gottgleichen Wesens zum Erwerb von Welt-Wissen zu jenem Knackpunkt erhoben haben, mit dem die Autorität des tatsächlichen Weltenschöpfers steht und fällt. Zuletzt ist es sogar gerade die ständige Abhängigkeit von Mephistos materiellen Methoden, die Faust frustriert und weitertreibt: „Stünd ich, Natur! vor dir ein Mann allein / da wär’s der Mühe wert ein Mensch zu sein“ (Z. 11406f.). Noch seine letzte Sekunde genießt Faust zwar als „höchsten Augenblick“, doch ist es das Glück einer zukunftsgerichteten Anspannung und eben gerade keines auf dem statischen ‚Faulbett‘, durch das er seine eigene ‚Binnenwette‘ gegen Mephisto verloren hätte. Mephisto indes, vermutlich, weil er als Lügner von Haus aus buchstabengläubig ist und als Materialist jedweder ‚vergänglichen‘ und ‚gleichnishaften‘ Repräsentationsoberfläche – also auch dem sprachlichen Wortlaut – verhaftet bleibt, hält diesen Augenblick fälschlich für gekommen. Odo Marquard vertritt die These, dass die „idealistische Autonomie-Position statt schlimm nur die vielleicht einzig aussichtsreiche Form der Theodizee“²⁴ sei. Diese nur scheinbar paradoxe Ansicht speist sich aus seiner Beobachtung, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das ‚Theodizee‘-Problem schlagartig von der aufklärungsphilosophischen Tagesordnung verschwindet – wiewohl der

24 Dies in Abgrenzung von der Existenzialtheologie der 20er Jahre und ihrer Idealismuskritik, wie sie – an Kierkegaard anknüpfend – etwa Karl Barth oder Friedrich Gogarten äußerten. Marquard, Odo: Idealismus und Theodizee. In: Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt/M. 1982, S. 52–65; S. 65.

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es reflektierende Diskurs (zumindest unter diesem Schlagwort) erst wenige Jahrzehnte jung und ebenso lange von ungebrochenem Beunruhigungswert gewesen war. Dass er diesen ab etwa 1755 einzubüßen scheint und erst rund fünfzig Jahre später zurückgewinnt, das korreliert in Marquards Sicht – der ich mich hier gerne anschließe – mit der ‚Autonomiethese‘ des deutschen Idealismus, die im selben Zeitraum virulent wird. Die bei Schelling formulierte Freiheitsthese, „das Wesen des Ichs“ sei „die Freiheit, d. h. es ist nicht anders denkbar, denn nur insofern es aus absoluter Selbstmacht (…) sich setzt“, womit wiederum „auch alles andere gesetzt“ sei, „was für das Ich überhaupt gesetzet ist“²⁵ – diese These also erklärt den Menschen zum tätigen Subjekt seiner Welterkenntnis und daraus folgend seiner Entwicklungsgeschichte: womit sie zugleich Gott aus ebendieser Funktion entlässt. In blasphemischer Weise, wie die Idealismuskritik einwendet. Marquard indes sieht diese Autonomiethese als „Phase im Theodizeeproblem: nämlich jene Phase, in der das Theodizeeproblem radikal gelöst ist“ – und just deshalb keine Erwähnung mehr findet. Um eine radikal einfache Formulierung ist Marquard nicht verlegen: Ein ‚Freispruch Gottes wegen erwiesener Unschuld‘ – also eine Theodizee – gelingt offenbar genau nur dann, wenn sich nachweisen läßt: nicht Gott ist verantwortlich für diese schlimme Welt, denn nicht er macht und lenkt sie  – sondern ein anderer: nämlich der Mensch oder (wie Kant, Fichte, Schelling statt dessen sagen) das Ich. Dieser Nachweis und genau dieser Nachweis ist der Idealismus: also eine Theodizee durch die Autonomiethese.²⁶

Diese Theodizee ist es, die das prozessuale Gottesbild im Faust – einerseits – aufgreift: Hier ist der sich entwickelnde Mensch zugleich ein intellektueller Motor auch der Selbsterkenntnis Gottes, und deshalb ist seine eigene Arbeit an der Selbstvergottung zugleich stets eine Arbeit am Mythos, auf die auch Gott angewiesen ist. Ironisch aber hält Goethe dabei andererseits stets die von Kant konstatierte Erkenntnisgrenze im Blick: Alle Kosmogonien und Theodizeen sind selbst menschengedacht. Wie eine hintangeschickte Leseanweisung zum Prolog liest es sich, wenn Faust am Ende des 2. Teils sagt: „Der Erdenkreis ist mir genug bekannt. / Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt: / Tor! wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, / Sich über Wolken seinesgleichen dichtet“ (Z. 11441–11444).

25 Zit. nach Marquard (s. Anm. 24), S. 52. 26 Marquard (s. Anm. 24), S. 59. Marquard bewegt sich hiermit natürlich im Fahrwasser der Selbstbehauptungs-Anthropologie Blumenbergs: Vgl. Scholz Williams, Gerhild: Provokation und Antwort. Hans Blumenbergs Frühe Neuzeit. In: „Der Buchstab tödt  – der Geist macht lebendig.“ [=FS. Hans-Gert Roloff]. Hrsg. von James Hardin/Jörg Jungmayr. Bd. 1. Bern u.a. 1992, S. 109–126; S. 114.

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Der ‚streitende Hiob‘, den erst die Theodizee-Debatte des 18. Jahrhunderts wieder entdeckt hatte, wird im Faust zur Personifikation der neuzeitlichen conditio humana. Goethe unterzieht hierzu die Dramaturgie des Hiobbuchs einer Inversion: Die Kennzeichen seiner Hiob-Figur sind von Anfang an just diejenigen, von denen der biblische Hiob am Anfang noch meilenweit entfernt ist: Unzufriedenheit, Ungeduld und Leiden an der Kontingenz der Welt. Hiobs abschließender Trost liegt darin, dass er einerseits von höchster Seite bestätigt wird in seiner Wahrnehmung beklagenswerter Kontingenz der Welt, andererseits aber darauf verwiesen wird, dass in einer ihm selbst nicht zugänglichen Wahrnehmung, in derjenigen Gottes nämlich, keine Kontingenz, sondern Ordnung herrscht. Goethe macht  – die Gottesinstanz herab- und die menschliche Sicht hinaufstufend  – einerseits die Kontingenz zum tatsächlich allwaltenden Prinzip, um das auch der Herr selbst stillvergnügt weiß und dem er schlussendlich sogar selbst weichen muss, andererseits stellt er ihr als ebenso allwaltendes Prinzip die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisraums zur Seite, dessen Grenze die Grenze der Darstellungskraft menschlicher Kultur ist – der begrifflichen wie der bildsymbolischen Darstellungskraft. Es ist ein zutreffender Gemeinplatz, dass Goethe die schlecht beleumdete Gestalt des Doktor Faustus in seinem Drama rehabilitiert und in einen neuen Gottesbezug stellt, in welchem ihre kennzeichnende Eigenschaft, die im 16. Jahrhundert noch als sündhaft und unerhört umstrittene curiositas, nicht mehr Auslöser einer radikalen Entfremdung von Gott in seiner kurrenten Gestalt ist, sondern Indiz einer Geistesverfassung, die ihn im Gegenteil zum privilegierten Gottesknecht macht. Zum Knecht eines selbst neuzeitlich, ja aufgeklärt gedachten Gottes nämlich, dem die curiositas nicht als hybride Überschreitung gesteckter Handlungsund Bewirkbarkeitsgrenzen, also als Blasphemie gilt, sondern geradezu als Zustand seines Einklangs mit seiner Bestimmung. Es verdient stärker betont zu werden als bislang, dass der entscheidende literarische Kunstgriff, auf dessen Basis das Faust-Drama diese Neuformulierung des Stoffs erst aufbaut, dessen Kontamination mit dem Hiob-Stoff ist. Wir haben gesehen, dass im Zuge dieser Kontamination nicht nur der Faust-, sondern auch der Hiob-Stoff exakt gegen den Strich seiner traditionellen Haupt-Lesart gebürstet wird. Jede dieser beiden klassischen Lesarten ironisiert und relativiert, implizit präsent im Text, die jeweils andere. Unter neuen Vorzeichen zusammengedacht, ergeben sie einen Text, in dem der neuzeitliche Individuationsdrang als göttlich legitimiert erscheint. Man kann das eine ‚Anthropodizee‘ nennen, wie es Alwin Binder tut, ohne darin aber zwangsläufig eine kritikwürdige Handlungsethik festgeschrieben sehen zu müssen, derzufolge der Zweck menschlicher Weltaneignung jedes Mittel heiligt und der Mensch zwecks Erlösung geradezu verpflichtet sei auf ein ‚strebendes Be-

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mühn‘, bei dem er ‚kleine Übel‘ begehen darf, um größeren vorzubeugen. Perfektibilistische Lesarten, ideologisch radikalisiert etwa in der NS-Zeit und der DDR, neigten zur Vereindeutigung des Dramas in diesem Sinne. Wer aber in jener ‚Anthropodizee‘, die der Prolog im Himmel dem Stück als Leitmotiv voranstellt, eine ernsthafte Lizenz zur Generalamnestie für mörderische Irrtümer lesen möchte, der übersieht das Vorzeichen der Ironie, unter dem wiederum der Prolog steht. Dieser präsentiert – wie eingangs gezeigt – Gott und Satan sehr deutlich als Projektionen menschlicher Weltdeutungsversuche; im übrigen auch (der Theaterdirektor im Vorspiel betont es) als Projektionen, deren Darbietung an ein Publikum denkt, dessen Vorwissen und Geschmack es im Zeichen des delectare et prodesse entgegenzukommen gilt.

6.2 Heinrich Heine: ,Romanzero‘ (1851) und ,Geständnisse‘ (1854) „Warum muß der Gerechte so viel auf Erden leiden? Das ist die Frage, womit ich mich beständig auf meinem Marterbette herumwälze.“²⁷ „Aber warum muß der Gerechte so viel leiden auf Erden? Warum muß Talent und Ehrlichkeit zu Grunde gehen, während der schwadronirende Hanswurst […] sich räkelt auf den Pfühlen des Glücks und fast stinkt vor Wohlbehagen? Das Buch Hiob löst nicht diese böse Frage. Im Gegentheil, dieses Buch ist das Hohelied der Skepsis, und es zischen und pfeifen darin die entsetzlichen Schlangen ihr ewiges: Warum?“²⁸ Heine fühlte das Bedürfnis, ein neues Genre des Sterbens zu schaffen. Warum sollten bisher allein die Toten und nicht auch die Kranken auf dem Paradebette liegen können? […] Und Heine, der immer Geniale, schuf das poetische Sterbebette, das feuilletonistische Siechtum.²⁹

So polemisch diese anonyme Einlassung intendiert ist, so wertneutral sei sie hier herangezogen, um zweierlei zu verdeutlichen. Erstens, dass bereits Zeitgenossen Heinrich Heines jenen Teil seiner Produktion, der zwischen 1848 und 1856 entstand und den die Nachwelt ‚Spätwerk‘ oder ‚Matratzengruft-Literatur‘ nennt, als einen zusammenhängenden, abgrenzbaren Werkkomplex auffassten: als ein 27 Heinrich Heine an den Redakteur Kolb am 19. Oktober 1848. 28 Heine, Heinrich: Spätere Note. In: Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster. Bd. 6. Leipzig/Wien o.J., S. 124–126; S. 126. 29 Zit. nach Preisendanz, Wolfgang: Die Gedichte aus der Matratzenguft. In: Preisendanz: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München ²1983, S. 99–130; S. 102.

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Korpus aus Texten diverser Gattungen (nämlich teils ‚poetischer‘, teils ‚feuilletonistischer‘ Art – also Lyrik und Essay), deren Gemeinsamkeit in der Themensetzung und im biographischen Schreibanlass liegt. Und zweitens, dass bereits Zeitgenossen in der Gesamtheit all jener Texte, in denen Heine seine Leidenssituation als exilierter, unheilbar kranker und finanziell notleidender³⁰ Schriftsteller reflektiert, Theatralität wahrnahmen: Der Ausdruck „Paradebett“ bezeichnet (ob als Sargsänfte verstanden oder als Empfangsmöbel absolutistischer Fürsten) einen Ort inszenierter Begegnung zwischen prominentem Einzelnen und Öffentlichkeit. Und noch ein zweites Thema ist für Heines späte Texte konstitutiv. Mit Wilhelm Gössmann sei es als des Autors „theologische Revision“ bezeichnet:³¹ Der Wandel, den der späte Heine in seinem Gottesbegriff vollzog. Der frühere Heine hatte sich entschieden gegen den Deismus mit seinem personalen Gottes- und passiven Menschenbild gewandt und ihm eine Art pantheistischer Geschichtstheologie entgegengesetzt, die aber nicht von einem statischen Pantheismus wie dem des Spinoza, sondern von einem hegelianisch dynamisierten ausging: „Gott ist identisch mit der Welt. […] Aber am herrlichsten manifestiert er sich in dem Menschen“.³² Und weiter: Gott ist daher der eigentliche Held der Weltgeschichte, diese ist sein beständiges Denken, sein beständiges Handeln, sein Wort, seine Tat; und von der ganzen Menschheit kann man mit Recht sagen, sie ist eine Inkarnation Gottes! Es ist eine irrige Meinung, daß diese Religion, der Pantheismus, die Menschen zum Indifferentismus führe. Im Gegenteil, das Bewußtsein seiner Göttlichkeit wird den Menschen auch zur Kundgebung derselben begeistern.³³

Eine historisch-finalistische Theologie also, die – radikal weltimmanent, ansonsten aber entfernt analog zu Goethes dynamischem Schöpfungskonzept  – dem aufgeklärten und nach freiem Willen gestalterisch handelnden Menschen eine Hauptrolle als Manifestation des göttlichen Willens zuerkennt. Die – wiederum

30 Zumindest nach eigenem Bekunden: Den Wert seiner vorhandenen Ersparnisse scheint Heine zwar in solchen Selbststilisierungen grob untertrieben zu haben, doch war er zu jener Zeit allemal sowohl mit staatlich französischen als auch mit deutschen familiären Geldgebern in einer Weise uneins, die es ungewiss sein ließ, für wie lange seine eigene Kranken- und die Hinterbliebenenversorgung seiner Ehefrau noch gewährleistet sein würden. 31 Vgl. Gössmann, Wilhelm: Die theologische Revision Heines in der Spätzeit. In: Internationaler Heine-Kongreß Düsseldorf 1972. Referate und Diskussionen. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973 S. 320–335. 32 Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In. Ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 5. S. 505–641; S. 569. 33 Heine (s. Anm. 6), S. 569f.

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mit Walter Haug gesprochen – ‚subjektive Kontingenzzone‘ des Menschen erreicht hier, wo er – dem Materialismus der Junghegelianer gemäß – als potentieller Herr einer Geschichtsentwicklung gedacht wird, seine maximale Ausdehnung auf die komplette immanente Welt, während ein ‚objektiver Kontingenzraum‘ – die Zone des Unverfügbaren also – ebenso in Abrede gestellt wird wie die ‚Vertröstungsreligion‘ allgemein mit ihrem Jenseitskonzept und einem Gott als geschichtsmächtigem Zentrum, die Heine als Ideologem der herrschenden Instanzen bekämpfte. Der Heine der ‚Matratzengruft‘ hingegen wendet sich von dieser Zentralrolle des Menschen ab („Ich bin kein göttlicher Bipede mehr“³⁴) und bekennt sich zum Bild eines personalen, autoritativen Gottes: Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott […]. Auf meinem Wege fand ich den Gott der Pantheisten, aber ich konnte ihn nicht gebrauchen. Dies arme träumerische Wesen ist mit der Welt verwebt und verwachsen, gleichsam in ihr eingekerkert, und gähnt dich an, willenlos und ohnmächtig. Um einen Willen zu haben, muß man eine Person sein […]. Wenn man nun einen Gott begehrt, der zu helfen vermag  – und das ist doch die Hauptsache  – so muß man auch seine Persönlichkeit, seine Außerweltlichkeit und seine heiligen Attribute, die Allgüte, die Allweisheit, die Allgerechtigkeit u. s. w. annehmen.³⁵

Dass Heine in autobiographischen Texten ab 1848 sich selbst als leidenden Autor ins Gleichnis – unter anderem – Hiobs setzt, ist bekannt und unstrittig.³⁶ Gleich34 Heine, Heinrich: Berichtigung. In. Ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 9, S. 108–110; S. 109. 35 Heine, Heinrich: Nachwort zum Romanzero. In. Ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 11, S. 179–186; S. 182 f. 36 Werner Kraft hat es bemerkt, Briegleb und Destro kommentieren es ausgiebig, Schrader vergisst es nicht aufzugreifen, und Istvan Eörsi hat der zeitübergreifenden Wahlverwandtschaft einen umfangreichen literarischen Essay gewidmet. In unserem Zusammenhang ebenso wichtig und nachdrücklich bemerkenswert ist der Befund, dass hiermit in der deutschsprachigen literarischen Rezeptionsgeschichte des Hiobbuchs ein gänzlich neuer Ansatz auftaucht: die konsequente literarische Selbststilisierung eines Autors in der Rolle des biblischen Gerechten. Ansatzweise war diese zwar bereits bei Johann Christian Günther begegnet, dort aber vorerst ‚nur‘ im Rahmen einer rhetorisch funktionellen Sprecherrollenwahl, die letztlich einer ungebrochenen Autorität des Bibeltextes bedurfte – eben um als ein unausgesprochenes argumentum ad auctoritatem Wirkung erzielen zu können. In ihrer bei Heine festzustellenden Form aber geht sie von einer neuen, ästhetisch-philologischen Art der Bibellektüre aus, wie sie erst der bei Herder vollzogene Paradigmenwechsel ermöglicht hat. Vgl. neben Briegleb und Destro: Kraft, Werner: Heine und die Hiobsfrage. In: Kraft: Augenblicke der Dichtung. Kritische Betrachtungen. München 1961, S. 41–45; Eörsi, Istvan: Hiob und Heine. Passagiere im Niemandsland. Klagenfurt 1999, sowie Schrader (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 53–58, die sich jedoch von Langenhorst vorhalten lassen muss, sie postuliere „auf schmalster Textbasis“ eine „völlig überzeichnete[.]“ Relevanz Hiobs für Heine (Langenhorst, s. Kap. 1, Anm. 6, S. 22 FN 41). Dagegen wiederum in jüngerer Zeit vgl. Bodenheimer, Alfred: Heines Hiob. In: Das Buch

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wohl scheint mir auch weiterhin noch Spielraum für eine vertiefende Betrachtung zu bestehen, die aufzeigen sollte, wo und wie die späten Texte Heines Hiob einsetzen, in welcher Weise und weshalb sie diese Figur mit welchen anderen Figuren kontaminieren – und, im Sinne unserer Fragestellung, welche Rolle diese Textstellen im Rahmen eines literarischen Programms zur Kontingenzbewältigung spielen. Auch durch seinen ganz speziellen Gebrauch von Hiob-Referenzen nämlich inszeniert Heine seine ‚theologische Revision‘ als eben das, als was er sie stets auch in ausdrücklichen Formulierungen verstanden wissen wollte:³⁷ als einen radikal freiwilligen, individualistischen und sogar originellen Akt religiöser, aber auch gesellschaftlicher und literarischer Selbst-Neu-Verortung im Zeichen der Leidenssituation. Ich betrachte hierzu zwei Texte, in denen Heine diese seine Neuverortung besonders zentral thematisiert und die zudem exemplarisch für die beiden literarischen Hauptfelder seines ‚Spätwerks‘ stehen, nämlich Lyrik und Erinnerungsprosa: Zum einen den Gedichtzyklus ,Romanzero‘ von 1851 (samt einiger seinem Umkreis zuordenbarer weiterer Gedichte), zum anderen den 1854 entstandenen autobiographischen Essay ,Geständnisse‘. In diesem Kapitel soll zunächst  – genauer, als die Forschung das bislang geleistet hat – untersucht werden, auf welche Weise und mit welchen Effekten Heine im ,Romanzero‘ die Hiobs- mit der Lazarusfigur überblendet. Beides fügt sich plausibel in den Rahmen der Geschichts- und Dichterkonzeption des ,Romanzero‘, die deshalb zuvor kurz umrissen werden soll. Im Anschluss möchte ich zeigen, wie Heine in seinen ,Geständnissen‘ dieselben enggeführten Hiobs- und Lazarus-Reminiszenzen autobiographisch an die eigene Person rückbindet und so dazu nutzt, ebendiese Dichterkonzeption als einen letzten öffentlichen Selbstentwurf zu inszenieren.

6.2.1 Der ,Romanzero‘ Der erste Teilzyklus des ,Romanzero‘ trägt den Titel Historien, und sein erstes Gedicht greift nicht nur eine Erzählung aus dem hiermit anzitierten, von Herodot stammenden ältesten Geschichtswerk des Abendlandes auf, sondern endet auch mit einer Berufung auf historische Quellen: „Wenig, heißt es, ward gestohlen  / unter seinem Regimente.“³⁸ Diese Schlusszeilen pointieren, was Heine in

Hiob und seine Interpretationen. Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.– 19. August 2005. Hrsg. von Thomas Krüger. Zürich 2007, S. 411–419. 37 Wider aufkommende Gerüchte nämlich, er sei einer bestimmten Konfession beigetreten. 38 Heine Heinrich: Romanzero. In: Ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 11: Schriften 1851–1855. München 1976, S. 7–186; S. 13 (Hervorhebung C.H.).

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seinem Gedicht Rhampsenit in Abwandlung Herodots zum Kernthema macht: das Skandalon der Erhebung eines Diebes zum König – die Verkehrung erwartbarer Ordnungszustände also. Damit gibt das Gedicht zugleich programmatisch ein Leitmotiv für den übrigen Historien-Teil des ,Romanzero‘ vor: den Topos von der ‚Verkehrten Welt‘. Nun wäre es natürlich gewagt, dieses auch abseits des Hiobbuchs weit verbreitete Bild als Reminiszenz just dieses einen Prätextes zu identifizieren – stünde es nicht sowohl im ,Romanzero‘ als auch in Heines ,Geständnissen‘ immer wieder in unmittelbarer Konstellation mit anderen, deutlicheren Verweisen auf Hiob. Dass Heine die narrative Vorlage zu seinem Eröffnungsgedicht im Anhang vollständig beifügt, ist bemerkenswert³⁹ und womöglich nicht nur als Leserhilfe zur Kontextualisierung zu verstehen, sondern auch als dem Leser speziell in die Hand gegebenes Mittel, um Heines Neuakzentuierungen des Stoffs zu erkennen. Denn im Direktvergleich zwischen Prä- und Posttext wird deutlich: Während ersterer den Dieb zum Protagonisten hat und dessen (Familien-)Geschichte mit einem tragischen Element versieht, das sein Kräftemessen mit den Häschern des Königs nachvollziehbar macht, reduziert Heine diesen Dieb – zumal er ihn nicht selbst figurieren und nur in Abwesenheit zum Thema werden lässt – gänzlich auf sein kriminelles Talent. Dass just dieses ihn letztlich zum Regenten qualifiziert, ist unerhört  – und zwar durchaus im Wortsinne: Denn anders als die Schlusszeile  – „…  heißt es,  …“  – behauptet, gibt keine überlieferte Quelle (zumindest nicht die einzig bekannte, nämlich der von Heine selbst zitierte Herodot) etwas über die Regentschaft des Diebes bekannt, ja genau genommen nicht einmal, dass er überhaupt Regent geworden wäre. Ebenfalls (wenn man denn will) im Direktvergleich mit Herodot weist Heines Gedicht zahlreiche groteske Kontaminationen des Rhampsinit-Stoffs mit historisch Ungleichzeitigem auf. Zudem lassen seine Binnendatierungen sogar die Assoziation rückwärtslaufender Zeit zu: Durch beides⁴⁰ markiert Heine seine

39 Und zwar auch dann, wenn man in Rechnung stellt, dass weitschweifige Paratexte in den Exilpublikationen Heinrich Heines oft die pragmatische Funktion hatten, die Zahl der Druckbögen über das für die staatliche Vorzensur relevante Maß hinauszutreiben. Wäre es Heine ausschließlich hierum zu tun gewesen, dann hätten so personalintensive historische Balladen wie Spanische Atriden – die er allesamt unkommentiert lässt – ein Vielfaches an Anmerkungsraum gerechtfertigt. 40 Im alten Ägypten dieses Textes ist anhaltendes Lachen das Mittel, mit dem eine übertölpelte Königstochter den Verlust ihrer Tugend quittiert. Mit ihr lacht alle Welt, selbst die Krokodile (statt, wie sie sollten, Tränen zu vergießen). Es herrscht ein Pharao ‚von Gottes Gnaden‘ und in dessen öffentlichen Verlautbarungen ein deutscher Kanzleistil mit lateinischen Floskeln sowie christlicher Zeitrechnung, die aber wiederum ihre Daten nicht (wie sie es ‚vor Christi Geburt‘ ja sollte) rückwärts sortiert, sondern vorwärts.

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Historie als gleichermaßen un- wie überhistorisch – gewiss auch dies programmatisch. Nicht allein die Verkehrtheit der Welt, sondern auch die Statik und diachrone Unwandelbarkeit dieses Zustandes ist Gegenstand der Historien. Somit bildet dieser Binnenzyklus des ,Romanzero‘ eine Absage an jedwede optimistische Geschichtsteleologie: an den Perfektibilitätsglauben der Aufklärung allgemein und speziell an die historisch-dialektischen Konzepte Hegels und der Hegelianer. Heine selbst hatte sie in den 1830er Jahren – überblendet mit gemäßigt sozialrevolutionären Ideen frei nach Claude-Henri de Saint-Simon⁴¹  – in Form seiner recht individuellen Geschichtstheologie noch mitvertreten. Die Diagnose des Hiobbuchs, die der späte Heine hier seinen früheren Ideen entgegensetzt, ist eine von dessen blasphemischsten Passagen: die Feststellung ethisch-moralischer ‚Verkehrtheit‘ (in unserem Begriff: Kontingenz) der allgemeinen Weltordnung, die Hiob in jener Bewusstseinslage, die wir als seine ‚Phase 3‘ bezeichnet haben, aus seinem individuellen Erleben als leidender Gerechter ableitet. Mit Verzweiflung konstatiert er, dass „der Böse erhalten wird am Tage des Verbrechens und am Tage des Grimms bleibt“ (Hiob 21,30), und wünscht erklärt zu bekommen: „Warum bleiben die Gottlosen am Leben, werden alt und nehmen zu an Kraft?“ (Hiob 21,7). Von Hiobs Klagehaltung indes grenzt der RhampsenitText deutlich ab, was er zugleich als ein Indiz für die genannte Weltverfassung und als ein probates Mittel erscheinen lässt, sie zu bewältigen: das Gelächter. Ganz so „versöhnlich“⁴² geht es im Folgeverlauf nicht weiter, doch das einmal gesetzte Leitmotiv zieht sich durch die weiteren Historien und mithin als Proklamation allfälliger Statik  – oder bestenfalls zyklischer Dynamik  – durch jenen Geschichts-‚Verlauf‘, für den sie pars pro toto stehen: Sie arbeiten, ihrem doppeldeutigen Namen gemäß, sowohl historische als auch tradierte fiktionale Erzählstoffe auf und bringen sie – kreuz und quer durch alle Geschichtsepochen und vier Kontinente  – auf immer wiederkehrende motivische Nenner. Die ‚verkehrte Welt‘ bleibt dabei einer der wichtigsten: Ein Scharfrichter wird zum Ritter geschlagen (Schelm von Bergen), in Schlachten gewinnt stets „der schlechtre Mann“ (Valkyren, Schlachtfeld bei Hastings), ein Priester lässt sich zum Götzendienst hinreißen (Das goldene Kalb). Variiert werden zudem der Sieg des Bösen oder Mittelmäßigen über das Gute, die Vertreibung des Göttlichen ins Exil, die Unerfülltheit sehnsüchtiger Liebe, die Unerlösbarkeit der Seelen, die Unausrottbarkeit der Tyrannei. Wie die allfällige Karriere der Niederen und Gottlosen zur unabwendbaren Gesetzmäßigkeit geworden ist, zeigt das Gedicht vom traurigen

41 Vgl. dazu Ferner, Jürgen: Versöhnung und Progression. Zum geschichtsphilosophischen Denken Heinrich Heines. Bielefeld 1994, S. 262 ff. 42 Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit – Person – Werk. Stuttgart ³2004, s. v. „Romanzero. Analyse und Deutung“, S. 140.

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König Karl, der das Köhlerkind, das ihn einst hinrichten wird, resigniert in den Schlaf singt, statt es etwa prophylaktisch zu töten. Gleichwohl: Wenn sich aus alledem summarisch ein ‚Welt-Bild‘ ergibt, dann eines, das anstatt der verkehrten Welt tatsächlich eher von einer kontingenten zu sprechen erlaubt. Denn eine im strengen Wortsinne ‚verkehrte‘ Ordnung wäre ja – wenn auch ex negativo – ebenso berechenbar wie jene ‚richtige‘, an deren Stelle sie steht und auf die sie in Abwesenheit notwendig referiert. In den Historien aber bleibt keine schlimme Regel ohne Ausnahme: Erlösung in Christo finden zwar nicht die gottlos gewordenen Nonnen (Himmelsbräute), aber immerhin die grausame Tänzerin Pomare. Besiegt wird zwar der edle Harold bei Hastings und vertrieben werden Der Apollogott und Vitzliputzli, aber auch die Heimkehr eines Edlen aus der Gefangenschaft im Exil kann gefeiert werden (Richard Löwenherz). Ihre Liebessehnsucht mit dem Tod bezahlen müssen zwar Der Asra, die Verehrer der Pfalzgräfin Jutta und der Troubadour Geoffroy Rudél, doch dem letzteren immerhin bleibt der Trost in der Verewigung durch die Kunst: Für immer vereint bleiben er und Melisande in einem Bildteppich, der beide darstellt. Und die Kunst ist es auch, die dem ins Exil getriebenen Mohrenkönig Unsterblichkeit verheißt: „Nimmer wird sein Ruhm verhallen“ (S. 46), den die Kunst  – anders als die Geschichtsschreibung der Mächtigen – eben auch dem Unterlegenen verschaffen kann. In einer kontingenten Welt, wie die Historien sie malen, sind Trost und Hoffnung also nie ganz ausgeschlossen, aber eben auch nie sicher gewährleistet, und die Zufälligkeit, mit der sie dem Einen zuteil werden und dem Anderen nicht, würde alles nur noch trostloser machen – wenn es nicht in der Kunst ein Mittel gäbe, die Dinge zumindest symbolisch und zu seelentherapeutischen Zwecken – siehe das Motto-Gedicht⁴³ – zurechtzurücken und/oder zu beschreiben, wie sie sind. Noch bevor im zweiten Drittel des Romanzero ein Dichter-Rollen-Ich selber das Wort erhebt und explizit auf (auto-)poetologische Zusammenhänge verweist, weisen die Historien in der von ihnen panoramatisch geschilderten Welt-Unordnung eine gewichtige Sonderrolle der Instanz des Künstlers bzw. des Dichters zu. Es ist die Rolle des ins Abseits Gedrängten, des Zwielichtigen, des Ausgestoßenen, des Geringgeschätzten (oder zumindest -entlohnten). Eine zwar undankbare, immerhin aber vergleichsweise stabile Verortung: Wer zuverlässig stets außerhalb der Unordnung steht, steht sicher. Die konkrete Rolle des Dichters wiederum gewinnt aus dieser Außer(un)ordentlichkeit das Privileg des immerhin nachträglichen Triumphs: Jede ‚Historie‘ braucht einen, der sie schreibt. Es ist der Dichter als Außenseiter, dem nicht nur die Distanz der Skepsis und Kritik ge-

43 „Und ist deine Seele zu Tode betrübt, / So greife zur Leier.“ Heine (s. Anm. 12), S. [10].

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geben ist, sondern auch die retrospektive Deutungsmacht – und der das Geschehene nach Maßgaben eigener Wertung dem Gedächtnis der Nachwelt einspeist. In dieses herausgehobene Rollenbild fügt sich stimmig, dass die Historien unter der Gemeinsamkeit des Ausgestoßenwerdens dem Dichter (Firdusi) einen Gott (Vitzliputzli) an die Seite stellen – und, beide verschmelzend, einen Dichtergott (Apollo). Das Konzept vom gottähnlichen Dichter wird – mit so deutlichem wie originellem Reflex auf das Hiobbuch – in den ,Geständnissen‘ wieder begegnen. Der Aufbau des ,Romanzero‘-Zyklus ist von Koopmann als ‚Triptychon‘ beschrieben worden.⁴⁴ Für meine Zwecke scheint es mir passender, der älteren und von Bark wieder aufgegriffenen Auffassung Prawers zu folgen, der ihn als syllogistische Struktur beschreibt: In ihr stünden die Historien als „Moment der größten Allgemeinheit in Raum und Zeit […], die Lamentationen stellen demgegenüber das Moment des Besonderen dar“, woraufhin „[i]n den Hebräischen Melodien schließlich […] die syllogistische Struktur in der Figur des historischen einzelnen Dichters, der beides, das Allgemeine wie das Besondere, als geschichtliche Person in sich vermittelt, zum Ende“⁴⁵ komme. Was die Figur des Dichters im Weltgetriebe betrifft, scheint mir diese Einteilung plausibel aufzugehen: Waren im Historien-Teil Figuren, die die Dichtung speziell – oder die Kunst allgemein – repräsentierten, mehrfach aus der Außensicht der Dritten Person als missachtete, ins Exil gedrängte Außenseiter beschrieben worden, so verfällt der Lamentationen-Teil bereits in seinem ersten Text in die ‚Ich‘-Figurenrede⁴⁶ eines Dichters, der eine vergleichbare Situation aus der Innensicht schildert. Wie er dies nun aber tut, das ist klar an Motive des Hiobbuchs angelehnt: O schöne Zeit! Wo sich zu grünen / Triumphespforten zu wölben schienen / Die Bäume des Waldes – ich ging einher, / Bekränzt, als ob ich ein Sieger wär! // Die schöne Zeit, sie ist verschlendert, / und alles hat sich seitdem verändert, / und ach! Mir ist der Kranz geraubt, / Den ich getragen auf meinem Haupt. // Der Kranz ist mir vom Haupt genommen, / Ich weiß es nicht, wie es gekommen.⁴⁷

44 Vgl. Koopmann, Helmut: Heines „Romanzero“. Thematik und Struktur. In. ZfdPh 97 (1978), S. 51–70. 45 Bark, Joachim: „Versifizirtes Herzblut“. Zu Entstehung und Gehalt von Heines „Romanzero“. Wirkendes Wort 36 (1986), S. 86–103; S. 90. Vgl. auch Höhn (s. Anm. 16), s. v. „Romanzero. Komposition, Gattung, Romanze“, S. 139. 46 Vgl. auch Destro, Alberto: Romanzero. Zweites Buch: Lamentazionen. Entstehung. In: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 3/2. Bearbeitet von Frauke Bartelt und Alberto Destro. S. 721–730; S. 721: „Das einheitsstiftende Moment in den Lamentazionen ist der Ich-Bezug.“ 47 Z. 121–130, in: Sämtliche Werke Bd. 11, S. 82 f.

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Der geraubte Poetenkranz ist das zentrale Motiv des Gedichts Waldeinsamkeit. Die oben zitierte Klage des Sprecher-Ichs über dessen Verlust greift eine Klage des Mannes aus Uz in Hiob 19,9 auf („Er hat mir mein Ehrenkleid ausgezogen und die Krone von meinem Haupt genommen“) und variiert sie ins Autopoetologische. Gleiches gestaltet das Gedicht in toto mit einem an anderer Stelle im Hiobbuch (nämlich in 29/30) vorgeprägten Topos: mit dem des klagenden Vergleichs früheren Glücks und gegenwärtigen Unglücks. Wie Hiob fasst auch das Sprecher-Ich in Waldeinsamkeit das einstige Glück als eine Zeit hohen persönlichen Ansehens in einer sozialen Gemeinschaft, das Unglück aber als vollzogenen Ausschluss aus ebendieser Gemeinschaft. Doch tritt bei Heine an die Stelle des gefallenen Stadtfürsten⁴⁸ der gefallene Fürst romantischer Dichtung: An Stelle der menschlichurbanen Gemeinschaft, in deren Verhaltenswandel sich Hiobs Rangverlust spiegelt, steht eine Gesellschaft aus romantischen Naturwesen, die den von ihnen einst Umschmeichelten nicht wieder erkennen.⁴⁹ Interessant ist nun aber, dass Heine die in Hiob 30 geschilderte Glückssituation in zweierlei Hinsicht konträr zur Bibelvorlage travestiert. Zum einen, indem er nicht erst die beklagte Gegenwart als eine unfreiwillige, sondern bereits die gelobte Vergangenheit als eine freiwillige Exilsituation darstellt: Aus Hiobs einstiger Bewegung hinaus „zum Tor der Stadt“ (29,7) gen Marktplatz ist eine einstige Fluchtbewegung aus der Menschengemeinschaft geworden, durch die „Triumphespforten“ des Waldes hinein in eine heidnisch-pantheistische Parallelwelt, in der just jene Elementargeister und exilierten Götter hausten, die Heine in seinen gleichnamigen religionshistorischen Essays so benennt  – und die sich um das Dichter-Ich als einen Schöpfer, einen Wahlverwandten und primus inter pares traulich versammelten. (Das gegenwärtige Unglück der Waldeinsamkeit ist insofern das einer gleich doppelten Unbehaustheit: Das der Vertreibung aus dem selbstgewählten Exil.) Und zum anderen travestiert und subvertiert Heine den Rückschau-Topos aus Hiob 30 in einer Weise, die sich in mehreren folgenden Lamentationen-Texten analog wieder finden wird:

48 „Wenn ich ausging zum Tor der Stadt und meinen Platz auf dem Markt einnahm,  / dann sahen mich die Jungen und verbargen sich scheu, / und die Alten standen vor mir auf, / die Oberen hörten auf zu reden […], / die Fürsten hielten ihre Stimme zurück“ (Hiob 29,7–10). – „Jetzt aber verlachen [sie] mich […]. Sie verabscheuen mich und halten sich ferne von mir“ (Hiob 30,1;10). 49 „[W]ie die übrigen Honoratioren / Des Waldes mir huldreich gewesen, fürwahr, / Ich darf es bekennen offenbar.“ – „Der Bach rauscht trostlos gleich dem Styxe; / Am einsamen Ufer sitzt eine Nixe, / Todblaß und stumm, wie ’n Bild von Stein, / Scheint tief in Kummer versunken zu sein. // Mitleidig tret ich zu ihr heran – / Da fährt sie auf und schaut mich an, / Und sie entflieht mit entsetzten Mienen, / Als sei ihr ein Gespenst erschienen.“ Heine (s. Anm. 12), S. 79 bzw. 83.

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Hiob führt  – unter der Prämisse des Tun-Ergehen-Zusammenhangs  – sein vergangenes Glück auch als Index gottesfürchtigen Handelns ins Feld, mithin als Beweis für die Unverdientheit des gegenwärtigen Leidens. Im Verbund mit der klagenden Frage nach dem Warum der offenbar von Gott verhängten Schicksalswende ergibt sich aus diesem Kontrast also eine Selbstrechtfertigung des Klagenden gegenüber Gott. Diametral umgekehrt in der Waldeinsamkeit: Sie setzt als Übergangsmoment zwischen den kontrastierenden Zeitstufen eben keine Schicksalswende, deren Gründe klagend zu hinterfragen wären, sondern eine Perspektivveränderung des Ich, nach deren Gründen zu fragen obsolet ist („ich weiß es nicht, wie es gekommen“) angesichts der – bei aller Wehmut – wünschenswert realitätsnäheren Wahrnehmung, zu der sie geführt hat. Der Kontrast zwischen vergangenem Glück und aktuellem Unglück ist hier der zwischen vergangener Einbildung und aktueller Klarsicht. Nicht mehr erweist das vergangene Handeln die gegenwärtige Situation als unangemessen, sondern  – umgekehrt  – die gegenwärtige Situation das vergangene Handeln. Konsequenz einer solchen Desillusionierung aber kann kein Vorwurf des Ich an Gott sein, sondern allenfalls einer an sich selbst: In Hiobs Klagegestus mischt sich bereits hier – und schärfer dann in späteren Lamentationen – der Gestus selbstgeißlerischen Spottes. Gleichwohl transportiert Heines Text überdies, auch ohne sie direkt verbal anzuzitieren, auch die Aussage der abschließenden Zeilen aus Hiob 30 – dem Absatz über Hiobs gegenwärtiges Unglück also. Und diese Aussage ist just  – was der Eröffnung eines mit Lamentationen betitelten Binnenzyklus’ wohl ansteht – eine der sehr wenigen, in denen der Protagonist des Hiobbuchs sich selbst in ein autopoetologisches Gleichnis rückt: „Mein Harfenspiel ist zur Klage geworden und mein Flötenspiel zum Trauerlied“ (Hiob 30,31). Die Variation, die Heine hier mit Hiobs Rückschau vollzieht, hat aber auch einen geschichtskonzeptionellen Aspekt: Indem der Zeitenvergleich von der Schicksals- zur Perspektivwende umgedeutet wird, ist ihm auch die teleologische Komponente der historischen Veränderung (hier: der Deszendenz im Dichterschicksal) genommen. Nicht die Welt hat sich gewandelt, sondern des Dichters Blick auf sie. Und dieser gewandelte Blick bestimmt auch die Mehrzahl der folgenden Texte des zweiten Abschnitts. Älteren, biographistischen Lesarten hält Koopmann mit Recht entgegen, „Thema […] der ‚Lamentationen’“ sei „weniger Heines eigenes Leiden als vielmehr Heines neues dichterisches Selbstverständnis […], das schmerzliche Programm einer neuen, desillusionistischen Lyrik“.⁵⁰ Doch zeigt gleich das Folgegedicht Spanische Atriden (das den Historien-Teil, in den es auf den ersten Blick eher zu passen scheint, thematisch mit dem zweiten

50 Koopmann (s. Anm. 18), S. 65.

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Teil verzahnt): Hier dringt die subjektive Sicht eines in ‚Ich‘-Form als Augenzeuge sprechenden Dichters nicht nur in ein historisches Geschehen ein, sondern auch in dessen bereits in willfähriger Hofdichtung historisierte und im Interesse der Mächtigen interpretierte Vorgeschichte. Der Ich-Erzähler etabliert mit seinem Augenzeugenbericht einen Gegendiskurs gegen die herrschende Geschichtsschreibung, indem er just das erhellt, was diese – in Verbindung mit einem betont kultivierten Festzeremoniell – zu verschleiern sucht: nämlich eine Kontinuität der Grausamkeit, die sich von der vormaligen Herrscherfamilie (die nur noch Gegenstand der Hofgeschichtsschreibung ist) bis zur gegenwärtigen erstreckt (die ebendiese Geschichtsschreibung in Auftrag gibt). So zeigt sich ein durchaus aufklärerisches Potential selbst noch in ‚desillusionistischer‘ Lyrik – man könnte präziser sagen: in einer aufgrund desillusionierender Erfahrungen des Dichters dekonstruktiv gewordenen Lyrik, einer Lyrik, die sowohl den Verklärungsmustern des romantischen Eskapismus abschwört als auch jenen, mit denen die vermeintlichen Akteure des Weltgeschehens ihre Taten ‚historisieren‘. Die drei folgenden Texte – Der Ex-Lebendige, Der Ex-Nachtwächter und Plateniden – liegen als Adressen an drei zeitgenössische Dichter, die hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückgeblieben sind, durchaus auf gleicher thematischer Linie. Um aber nun direkt zum Lazarus zu kommen (die elf ‚Füllgedichte‘ Mythologie bis Autodafé überspringend, von denen sich freilich immerhin zwei als Hiobbuch-Reminiszenzen lesen lassen):⁵¹ Der ‚arme Lazarus‘, also eine biblische Leidensfiguration aus ganz anderem Kontext als dem Hiobs (nämlich aus neutestamentlichem), ist im nach ihm benannten Binnenzyklus so überdeutlich präsent – in allfälligen motivischen Anlehnungen an die Lazarus-Geschichte in Lukas 16,19–31  –, dass man sich fragen könnte, was eine Interpretation dieses Zyklus vom Hiobbuch her denn einer Lesart noch hinzuzufügen hätte, die allein vom Namensgeber ausginge. Die Antwort hierauf kann simpel ausfallen: Der ‚arme Lazarus‘ bei Lukas erhebt seine Stimme nicht nur zu keinerlei Lamentation, sondern überhaupt nicht – er bleibt stumm. Als eine Gleichnisfigur, über die nur in dritter Person verhandelt wird, stellt der Bibeltext Lazarus zwar zur identifikatorischen Verfügung, doch liefert er kein Modell einer ‚lazarischen‘ Rollenrede mit. Und gäbe es eine solche Rollenrede, dann müsste sich in ihr eine Leidenskonzeption ausdrücken, die der Hiobs in drei Hinsichten diametral entgegensteht: Zum ersten steht Lazarus  – als exemplarischer Situations-Typus ohne Biographie – mit seinem Leiden zwar in synchronem Kontrast zum Glück des Reichen, an dessen Schwelle er sitzt, nicht aber in diachronem zu einer eigenen glück51 Und zwar variiert K.-Jammer den Glück-Unglück-Vergleich und Jetzt wohin?, frei nach Hiob 23,8–9, die Klage über die irdische wie himmlische Unbehaustheit des Gottverlassenen.

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lichen Vergangenheit. Sein Leiden ist ein kontinuierlicher Grundzustand. Zum zweiten ist es nicht Gegenstand versuchter Sinngebungen im Zeichen einer numinos angeordneten Strafe oder Prüfung (die ja auf einen Vergangenheitszustand referieren müssten), sondern rein weltimmanent bedingt, nämlich sozial: als das Leiden eines Repräsentanten der Unterschicht, das vielleicht nicht aufzuheben, aber doch zu lindern wäre, wenn der Repräsentant der Oberschicht (gemäß jüdischer Verhaltensethik) nach dem Prinzip der Werkgerechtigkeit⁵² handeln würde. Und zum dritten steht Lazarus, während Hiob eine Restitution bereits im Erdenleben erfährt, für die Aussicht auf eine kompensatorische Gerechtigkeit im Jenseits, die die überwundenen Verhältnisse auf Erden umdreht. Der oxymorontische Zug einer Engführung divergenter Leidenskonzepte in Heines Lazarus-Binnenzyklus ist von der bisherigen Forschung nicht gewürdigt worden, die vielmehr bei Destros eher vager Setzung verbleibt, die „Kontaminierung“ von Hiob und Lazarus sei „für Heines Spätzeit charakteristisch“.⁵³ Im Folgenden soll nun nach den Implikationen und Effekten dieser Engführung gefragt werden. I. Weltlauf beschreibt die ungerechte Koexistenz von Glück und Unglück (hier materiell gesehen: Reich und Arm) als zeitüberdauernd zementierte Gesetzmäßigkeit – frei nach Mt. 25,29.⁵⁴ Die direkte Konstellation beider Extreme ist an die Figurenkonstellation des Lazarus-Gleichnisses angelehnt, die verallgemeinernde Weltzustands-Diagnose indes schließt an diejenige an, zu der sich die Texte des Historien-Teils gefügt haben – im Sinne der Kontingenz-Diagnose Hiobs, wie wir postuliert haben. Bleibt der Bezug zum Hiobbuch hier insofern noch im Allgemeinen, so stiftet diesen umso unzweideutiger II. Rückschau, das in Ich-Form einen deutlich hiobesken Vergleich zwischen einstigem Glück und jetzigem Unglück vollzieht. Somit schreibt es der stimmlosen Figur Lazarus, indem es ihr die Stimme Hiobs in den Mund legt, auch dessen biographisch-lineare Tiefendimension ein. Diese aber verliert hier andererseits, wie bereits in der Waldeinsamkeit, vieles von der Linearität ihres Prätextes. Der Zeitenvergleich bleibt reduziert auf äußerliche Attribute, die hyperbolisch übertrieben zunächst nur wirken, wenn man sie auf die Lebensumstände ihres Autors bezieht („Ich hatte ein Haus, ich hatte ein Schloß“, S. 105), die später aber endgültig ins topisch Groteske gesteigert werden („Mir flogen gebratene Tauben ins Maul“, ebd.). Wie in der Wald-

52 Einer, wie Destro ausführt, in der jüdischen Ethik gleichsam ‚objektiv‘ postulierten Gerechtigkeit wohlgemerkt, die nicht gleichzusetzen ist mit dem christlichen Konzept freiwilliger Barmherzigkeit: Vgl. hierzu Destro (s. Anm. 20), S. 725. 53 Destro, Kommentar, S. 911. Vgl. auch Destro (s. Anm. 20), S. 723 ff. 54 „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“

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einsamkeit – und anders als in Hiob 29/30 – drückt der diachrone Kontrast der Zustände nicht etwa Verstörung, gar Empörung über einen gebrochenen TunErgehen-Zusammenhang aus. Stellt Hiob mit seinem Vergleich die Unangemessenheit seines aktuellen Leidens angesichts einstigen guten Handelns heraus, so pointiert Heine das Gegenteil: nämlich die Unangemessenheit des einst gehabten Hochgefühls. Einerseits hat es sich angesichts einer aktuell erfahrenen Leidenssituation rückblickend als falsch und illusionär erwiesen („Das waren Visionen, Seifenblasen“, S. 106), andererseits wird es sogar als eingestandene Schuld und Kausalbedingung des gegenwärtigen Leidens erfahren („Ach, alle Lust, ach jeden Genuß / Hab ich erkauft mit herbem Verdruß“, ebd.). Die Situation des leidenden Hiob also wird hier übernommen, aber neu kontextualisiert und mithin diametral anders hergeleitet: Sie ist nicht mehr – wie beim Hiob der ‚Phase 3‘ – Ausgangssituation des Wunsches an Gott, einst gehabte Gewissheiten mit einer nun der Kontingenz verdächtigten Welt in Einklang zu bringen, sondern Ausgangspunkt der festen Erkenntnis, dass die Welt (aus Menschensicht) irreparabel kontingent ist und daher auch jedwede einst vermeintlich gehabte Gewissheit de facto niemals begründet gewesen sein konnte. Eine Einsicht also, die erst der Hiob der abschließenden ‚Phase 4‘ erworben hat. Die Rückschau synchronisiert also zwei im Bibelbuch aufeinanderfolgende, relativ späte Hiobsche Erkenntnisphasen – die extreme Steigerung der Rebellen- und die daraufhin erneuerte Dulder-Phase – zu einer einzigen von höchster Illusionslosigkeit. Wo dem neuerlich demütigen Hiob eine Restitution bereits im Erdenleben zuteil wird, da bleibt dem Ich der Rückschau nur die Hoffnung auf Auferstehung – anknüpfend an die christliche Lesart von Hiob 19,25f., aber auch an die Lazarusgeschichte. Die aber wird bereits in der Schlusszeile („Ja, das versteht sich“, ebd.) mit ironischem Zweifel unterlegt und im Folgetext III. Auferstehung gründlich relativiert: Auch beim Jüngsten Gericht, so dessen Tenor, ist auf individualisierte Gerechtigkeit nicht zu hoffen. Auf wiederum je eigene Weise kompiliert Heine Hiobs- mit Lazarus-Motiven auch in den Gedichten IV bis VI: IV. Sterbende desillusioniert Hiobs zeitweiligen Wunsch nach Frieden im Grab mit einer dem Lazarus-Gleichnis entsprechenden Weltdiagnose: Selbst was die Aussicht auf eine warme, nämlich heimatlich gelegene letzte Ruhestätte betrifft, ist die Welt zweigeteilt in Glückliche (die es dorthin schaffen) und Unglückliche (denen das verwehrt bleibt). V. Lumpentum unterlegt die Lazarussche Welt der Unglücklichen, die von den Glücklichen brotabhängig bleiben, mit einem pervertierten, hiobesken Tun-Ergehen-Zusammenhang: Unter den Glücklosen kann auf eine auskömmliche Existenz hoffen, wer dem Glücklichen als Panegyriker seine Würde verkauft. VI. Erinnerung variiert anhand eines „seit langen Jahren […] mit Neid und Wehmut“ (S. 109) erinnerten Einzelschicksals den Wunsch Hiobs, den dieser in seiner ‚unbedingten Selbstverfluchung‘ äußert (von uns als ‚Phase 2‘ bezeichnet, vgl. Hiob 3,11–13), den Wunsch nämlich,

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sich unter die Frühverstorbenen einzureihen, die jedwedem Leiden bereits vorab entronnen seien. „Dem einen die Perle, dem andern die Truhe“ (S. 109): Auch hier also eine perpetuierte Kluft zwischen Glücks- und Unglückssphäre, nur dass als Vertreter der glücklicheren Seite in diesem Fall ein Toter fungiert. Die Idee des invertierten Kostbarkeitsgefälles zwischen Truhe und Perle, die später in Jehuda Ben Halevy variiert wieder begegnen wird, lässt sich hier auch als Allusion an den Bibeltext lesen: „Warum gibt Gott […] das Leben den betrübten Herzen, / die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen mehr als nach Schätzen?“ (Hiob 3,20/21). Rekurrieren VIII. Fromme Warnung und IX. Der Abgekühlte in einander widersprechender Weise auf die Jenseitsaussichten Lazarus’ (VIII in eher hoffnungsfrohem, IX in zweifelndem Gestus), so kehren XI. Verlorene Wünsche, XIV. Frau Sorge und XVII. Böses Geträume zurück zum Modell des invertierten hiobschen Zeitenvergleichs: Nun sind es soziale Konzepte, nämlich Liebe (XI, XVII) und Freundschaft (XIV), die im Rückblick als Illusionen erscheinen. Bereits zuvor hat XVI. Im Oktober 1849 die Kontingenzdiagnose des Historien-Teils wieder aufgenommen und das zeitaktuelle Scheitern der sozialrevolutionären Bewegungen in Ostmitteleuropa der dort postulierten zyklischen Wiederholung („Es sind dieselben alten Mären“, S. 117) des Scheiterns der Guten eingeordnet: „Es muss der Held nach altem Brauch / den tierisch rohen Mächten unterliegen“ (ebd.). Das Dichter-Ich, das sich bereits hier (anders als im ersten Teil) am Rande zu den Weltereignissen in Bezug setzt („Doch still, Poet, das greift dich an / Du bist so krank und Schweigen wäre klüger“, S. 118), stellt dann im Abschlussgedicht XX. Enfant perdu seine eigene Situation vollends in Analogie zur politischen Lage. Mit dieser Analogie zwischen poetologischem Mikro- und historischem Makrokosmos schreibt der späte Heine sein werkdurchgängiges Denkkonzept vom „Herz[en] des Dichters [als] Mittelpunkt der Welt“⁵⁵ fort (oder, mit Koopmann gesprochen, das der „Koinzidenz von persönlichem Schicksal und einer dem analog interpretierten Weltgeschichte“⁵⁶), und von ihr aus gesehen wird, wie ich meine, auch der Synkretismus aus dem statischen Leidensmodell Lazarus’ und dem dynamischen Hiobs plausibel. Denn sucht man nach einer Synthese aus Linearität und Statik, so ergibt sich wiederum die zyklische Wiederkehr  – und diese wiederum schließt einerseits thematisch an die Geschichtsauffassung des Historien-Teils an und kongruiert andererseits formal mit der variierenden Wiederholung des Dichterleid-Themas im Lamentationen-Teil. 55 Heine, Heinrich: Reisebilder. In: Ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 3, S. 97–605; S. 405. 56 Koopmann (s. Anm. 18), S. 67.

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Im statischen Leiden des Lazarus als Figuration des Dichters spiegelt sich personalisiert jene Diagnose wieder, die der Historien-Teil der allgemeinen Weltgeschichte ausgestellt hatte: die überzeitliche Beharrungskraft eines Zustands, der dem menschlichen Gestaltungswillen Fesseln anlegt  – zumindest immer dann (oder – siehe das Beispiel Richard Löwenherz’ – fast immer dann), wenn diesen Willen nicht kurzfristiges Eigeninteresse leitet, sondern eine ethisch-moralisch grundierte Geschichtsteleologie. Die Gestaltungsmacht des Dichters in einer insofern (moralisch gesehen) kontingenten Welt erschöpft sich vorderhand in der Diagnose solchen Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit, womit er freilich, die Erinnerung an jene ethischen Ansprüche konservierend, ihre Einlösung durch künftige Generationen möglich erhält: „Der eine fällt, die andern rücken nach“ (S. 121). Die Hiobsche Stimme verleiht dem Ich der Lazarus-Gedichte biographische Tiefenschärfe, stattet es mit einem ‚dynamischen‘ eigenen Schicksal aus und ermöglicht ihm die Reflexion darüber. Somit ist sie von zentraler Funktion für das Thema des zweiten ,Romanzero‘-Abschnitts, nämlich die Selbsteinführung eines Dichter-Subjekts, das herzuleiten vermag, wie es seine ‚desillusionistische‘ Weltsicht gewonnen hat. Doch fällt auf, dass Heine das Potential, das die Hiob-Figur darüber hinaus etwa zur affektiven Klage oder zur theodizee-philosophischen Sinngebung der erkannten Kontingenz mitbrächte, völlig unausgeschöpft lässt. Sein mit Hiobs Stimme lamentierendes Lazarus-Ich geht, indem es die Frage nach Sinn oder Rechtfertigung des erfahrenen Leides nicht stellt, nicht nur nicht hinaus über die fatalistische Lakonie der Historien-Diagnose, sondern unterstreicht diese noch: indem es nämlich phasensynkretistisch zwei Etappen der Hiobschen Erkenntnis engführt – die ätzende Klarsicht des Rebellierenden mit der Schicksalsergebenheit des schlussendlich wieder duldenden, nicht mehr nach Intelligibilität Strebenden. Alle rationalen Sinngebungsoptionen von der Theo- bis zur Anthropodizee, die vorangegangene neuzeitliche Autoren von Günther bis Goethe an ‚ihre‘ Hiob-Reminiszenzen geknüpft haben, schlagen Heines Gedichte ostentativ aus, indem sie sie dem lazarischen Leidenskonzept ein- und nachordnen. In welchem größeren Zusammenhang Heine die Hiob-Figur aufgehen lässt, wird vollends in den Hebräischen Melodien deutlich, dem ‚Synthese‘-Kapitel des Romanzero, wo erst- und letztmals ihr Name fällt – nämlich im Abschnitt II von Jehuda Ben Halevy: „und die Zeit leckt meine Wunde / wie der Hund die Schwären Hiobs. // Dank dir, Hund, für deinen Speichel – Doch das kann nur kühlend lindern – / heilen kann mich nur der Tod, / Aber, ach, ich bin unsterblich!“ (S. 136.) An dieser Stelle markiert Heine seinen Synkretismus aus Hiobs- und Lazarusfigur gleichsam explizit: Im Hiobbuch nämlich ist von schwärenleckenden Hunden nicht die Rede – wohl aber in der Lazarusgeschichte bei Lukas. Just dieselbe Passage zu Beginn des Abschnitts II aber ist es, in der Heine überdies die Brücke

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zwischen dem jüdischen ‚Nationaldichter‘ Jehuda, von dem im I. Abschnitt bis zuletzt in dritter Person die Rede gegangen ist, und dem Dichter-Ich schlägt  – vermittelt durch das ‚Wir‘ des ‚Bei den Wassern Babels‘-Zitates aus Psalm 137, das eine überzeitliche conditio Judaica aufruft. Und wenn sich dann mit der Unsterblichkeitsklage auch noch das Motiv vom ‚Ewigen Juden‘ anschließt, dann ergibt sich auf dem engen Raum von nur fünf Vierzeilern (Z. I/177–II/16) eine Engführung von Dichter-Ich, Lazarus, Hiob, Ahasver und Jehuda, zu denen sich wiederum später – als Schlusspointe des Abschnitts – noch der aus den Historien bekannte Minnesänger Gueffroy Rudél gesellt. So überlagern sich Figurationen des Dichterleides, des universalen Menschen- und des spezifisch jüdischen Leides, die jeweils für sich die Einheit oder Analogie von Individuum und Weltlauf zeigen, deren jeweilige Aussichten oder Nicht-Ausichten auf Erlösung einander aber so neutralisieren, dass letztlich nur eine Aussicht einigermaßen gewiss bleibt – nämlich die auf Sublimation und Verewigung im Kunstwerk. Das Satyrspiel des Zyklus, Disputation, lässt den ,Romanzero‘, den eine zeitübergreifende Kontingenzdiagnose eröffnet hatte, in einer theologischen Aporie enden. Mit welchen religiösen Denkkonzepten der  – nach dem Idealismus  – neuerlich gemachten Erfahrung einer der menschlichen Gestaltungs-Ratio eben doch nur begrenzt verfügbaren Welt zu begegnen sei, bleibt unentschieden. Aber dass es künftig ganz ohne theologische Konzepte nicht abgehen könne, soviel ist spätestens ab der teils emphatischen Identifikation des Dichter-Ichs mit dem frommen Jehuda als eine Art phylogenetische Zwischenbilanz festzuhalten, die der ,Romanzero‘ der Nachwelt überantwortet – gleichrangig neben der ontogenetischen Endbilanz des Dichter-Ich aus Enfant perdu, der die Stafette respektive seine „nicht gebrochene[n]“ Waffen weiterreicht (S. 121). Resümierend lässt sich zur Funktion der Hiob-Reminiszenzen im ,Romanzero‘ sagen: In ihrer Überblendung mit Lazarus als einer zweiten Schmerzensmann-Präfiguration beglaubigen sie gleich doppelt den Standort  – genauer: das Gewicht – des Dichters in einer kontingenten Menschheitsgeschichte. Sein Gewicht als eine Instanz nämlich, die von der allgemeinen Kontingenz der Welt existenziell mitbetroffen ist und just daraus das Privileg gewinnt, dem Leiden an ihr eine Stimme zu verleihen – und dabei freilich unentschieden zu lassen, welche Sinngebung (und ob überhaupt eine) diesem Leiden einzuschreiben ist. Woher auch immer Jeffrey L. Sammons (wohlgemerkt: korpusimmanent) die Beobachtung herleiten mag, über der verkehrten Welt des ,Romanzero‘ wache eine „unergründliche, menschenfeindliche Transzendenz“:⁵⁷ Es lässt sich nicht behaupten, das Dichter-Ich erhöbe gegen sie eine direkte Anklage. „Gedichte, die

57 Sammons, Jeffrey L.: Heinrich Heine. Stuttgart 1991, S. 127.

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nur halbwegs Anzüglichkeiten gegen den lieben Gott selbst enthielten“, so erläutert Heine denn ja auch im Nachwort, „habe ich mit ängstlichstem Eifer den Flammen überliefert.“⁵⁸

6.2.2 Die ,Geständnisse‘ Das bereits zitierte Nachwort zum ,Romanzero‘ ist die erste Prosaschrift, in der Heine seine ‚theologische Revision‘ öffentlich verhandelt. Noch weit ausführlicher tut er dies in einem 1854 veröffentlichten Text unter dem Titel ,Geständnisse‘ (der in seinem Rekurs auf Augustinus und Rousseau impliziert, dass als Adressaten sowohl Gott selbst als auch ein erweitertes öffentliches Publikum zu denken sind): Als autobiographischen Nachtrag zu seinem ,Buch de l’Allemagne‘ beschreibt Heine darin „die religiösen und philosophischen Variationen, die seit seiner Abfassung im Geiste des Autors vorgefallen“.⁵⁹ Die zentrale Passage, in der Heine den ‚Vorfall‘ dieser Variationen zeitlich eingrenzt und seine historischen Umstände kritisch wertet, ist für eine Lesart vom Hiobbuch her von speziellem Interesse. Denn nicht nur, dass hier der Topos von der ‚verkehrten Welt‘ explizit genannt und funktionalisiert wird. Sondern auch, dass der Effekt dieser Funktionalisierung kein geringerer ist als der, Heines Konversion als Folge einer Schicksalswende zu inszenieren, die wiederum in enger (aber travestierender) Anlehnung an Hiob 29/30 gestaltet wird – als Ablösung einer glücklichen Vergangenheit durch eine unglückliche Gegenwart. Ich werde zu zeigen versuchen, dass dieser implizite, aber deutliche Hiob-Bezug eine gewichtige Pointe innerhalb der Selbstinszenierungsstrategie ausmacht, mit der Heine – konfrontiert mit Gerüchten, er habe sich einer kirchlichen Ideologie unterworfen – die Unabhängigkeit seines geistigen und schriftstellerischen Standortes herausstreicht. Die genannte Passage steht im Kontrast zur vorausgegangenen, satirischen Schilderung seines Gottes- und Menschenbildes zur Zeit der Abfassung des ,Buches d’Allemagne‘ und leitet über zu drei kritischen Würdigungen der kurrenten Konfessionen Judentum, Protestantismus und Katholizismus, die in ihrer Reihung geeignet sind, den Autor auf Äquidistanz zu allen dreien erscheinen zu lassen und die ihrerseits den Abschluss vorbereiten, der Heines individuelles – also durch keine der drei religiösen Denkschulen vermitteltes – Verhältnis als leidender Dichter gegenüber dem Leid spendenden Gott schildert.

58 Heine, Heinrich: Nachwort zum Romanzero. In: Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd 11: Schriften 1851–1855. S. 179–186; S. 182. 59 Heine, Heinrich: Geständnisse. In: Ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 11: Schriften 1851–1855. München 1976, S. 443–512; S. 445.

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Dass – und ansatzweise auch schon, wie – Heine seine religiöse Neuverortung in diesem Textabschnitt narrativ stilisiert, erhellt bereits, wenn man ihn mit dem ,Romanzero‘-Nachwort vergleicht, in dem es heißt: „Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott […]. War es die misère, die mich zurücktrieb? Vielleicht ein minder miserabler Grund. Das himmlische Heimweh überfiel mich […].“⁶⁰ Im Textzusammenhang von 1854 hingegen wertet Heine die ‚misère‘ zum erklärten Movens seiner Neubesinnung auf, und nicht nur das: Er erzählt ihren Eintritt zudem als eine Schicksalswende, die er überdies in einen autobiographischen Früher-JetztVergleich einbettet  – gleichsam als Angelpunkt zwischen einstigem Glück und jetzigem Unglück. Ich war jung und stolz, und es tat meinem Hochmut wohl, als ich von Hegel erfuhr, daß nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei. Dieser törichte Stolz übte keineswegs einen verderblichen Einfluß auf meine Gefühle, die er vielmehr bis zum Heroismus steigerte; und ich machte damals einen solchen Aufwand von Großmut und Selbstaufopferung, daß ich dadurch die brillantesten Hochtaten jener guten Spießbürger der Tugend, die nur aus Pflichtgefühl handelten und nur den Gesetzen der Moral gehorchten, gewiß außerordentlich verdunkelte. War ich doch selber jetzt das lebende Gesetz der Moral und der Quell alles Rechtes und aller Befugnis. Ich war die Ursittlichkeit, ich war unsündbar, ich war die inkarnierte Reinheit; die anrüchigsten Magdalenen wurden purifiziert durch die läuternde und sühnende Macht meiner Liebesflammen, und fleckenlos wie Lilien […] gingen sie hervor aus den Umarmungen des Gottes. Diese Restaurationen beschädigter Magdtümer, ich gestehe es, erschöpften zuweilen meine Kräfte. Aber ich gab, ohne zu feilschen, und unerschöpflich war der Born meiner Barmherzigkeit. Ich war ganz Liebe und war ganz frei von Haß. Ich rächte mich auch nicht mehr an meinen Feinden, da ich im Grunde keinen Feind mehr hatte oder vielmehr niemand als solchen anerkannte: für mich gab es jetzt nur noch Ungläubige, die an meiner Göttlichkeit zweifelten – Jede Unbill, die sie mir antaten, war ein Sakrilegium, und ihre Schmähungen waren Blasphemien. Solche Gottlosigkeiten konnte ich freilich nicht immer ungeahndet lassen, aber alsdann war es nicht eine menschliche Rache, sondern die Strafe Gottes, die den Sünder traf. Bei dieser höhern Gerechtigkeitspflege unterdrückte ich zuweilen mit mehr oder weniger Mühe alles gemeine Mitleid. Wie ich keine Feinde besaß, so gab es für mich auch keine Freunde, sondern nur Gläubige, die an meine Herrlichkeit glaubten […]. Aber die Repräsentationskosten eines Gottes, der sich nicht lumpen lassen will und weder Leib noch Börse schont, sind ungeheuer; um eine solche Rolle mit Anstand zu spielen, sind besonders zwei Dinge unentbehrlich: viel Geld und viel Gesundheit. Leider geschah es, daß eines Tages – im Februar 1848 – diese beiden Requisiten mir abhanden kamen, und meine Göttlichkeit geriet dadurch sehr in Stocken. Zum Glück war das verehrungswürdige Publikum in jener Zeit mit so großen, unerhörten, fabelhaften Schauspielen beschäftigt, daß das selbe die Veränderung, die damals mit meiner kleinen Person vorging, nicht besonders bemerken mochte. Ja, sie waren unerhört und fabelhaft, die Ereignisse in jenen tollen 60 Heine (s. Anm. 32), S. 182.

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Februartagen, wo die Weisheit der Klügsten zuschanden gemacht und die Auserwählten des Blödsinns aufs Schild gehoben wurden. Die Letzten wurden die Ersten, das Unterste kam zu oberst, sowohl die Dinge wie die Gedanken waren umgestürzt, es war wirklich die verkehrte Welt. Wäre ich in dieser unsinnigen, auf den Kopf gestellten Zeit ein vernünftiger Mensch gewesen, so hätte ich gewiß durch jene Ereignisse meinen Verstand verloren, aber verrückt wie ich damals war, musste das Gegenteil geschehen, und sonderbar! just in den Tagen des allgemeinen Wahnsinns kam ich selber wieder zur Vernunft! Gleich vielen anderen heruntergekommenen Göttern jener Umsturzperiode, musste auch ich kümmerlich abdanken […]. Ich kehrte zurück in die niedrige Hürde der Gottesgeschöpfe, und ich huldigte wieder der Allmacht eines höchsten Wesens, das den Geschicken dieser Welt vorsteht […].⁶¹

Hatten wir zu Beginn der Lamentationen eine Travestie des Hiobschen FrüherJetzt-Vergleichs festgestellt, so findet sich ebendiese Travestie hier nicht nur analog wieder, sondern sogar noch um eine ironische Ebene gesteigert. Erneut ist hier – wie schon etwa in der Waldeinsamkeit – der Kontrast zwischen vergangenem Glück und aktuellem Unglück der zwischen alter, vergangener Verblendung und neuer, ernüchterter Klarsicht. Überdies aber findet sich die vergangene Verblendung hier – die das Gedicht‚Ich‘ im ,Romanzero‘ stets als gegeben hingestellt und nie ursächlich hergeleitet hatte  – als Produkt jener ‚anthropozentrischen‘ Theologie frei nach Hegel erklärt, die dem Menschen allgemein (und, hier karikaturistisch überspitzt: dem Menschen Heine im speziellen) mehr historische Handlungskompetenzen und eine größere Verfügbarkeitszone subjektiver Kontingenz zugeschrieben hatte, als der späte Heine sie noch gelten lassen mag. Aus dem vergangenen Glück in Gottesfurcht, das der den Rechtsstreit fordernde Hiob der ‚Phase 3‘ zur eigenen Rechtfertigung heranzieht, wird bei Heine  – aufs äußerste übersteigert  – ein vergangenes Glück im Glanze einer höchstselbst eingenommenen Gottesrolle. Der Zeitenvergleich als Vergleich einstiger Göttlichkeit mit gegenwärtiger Kreatürlichkeit: Mindestens ebenso hyperbolisch übertrieben⁶² wie im ,Romanzero‘ die poetische Erfolgsgeschichte des Dichter-Ich wird in den ,Geständnissen‘ die religiös-ideologische Vergangenheit des autobiographischen Ich. Auch die

61 Heine (s. Anm. 33), S. 475 (Hervorhebung C.H.) Man beachte den Kontrast zwischen ‚Ereignissen‘ im Präteritum und ‚Zustand‘ im Präsens. – Die überzeitliche Valenz just dieses Themas hatte bereits Heines Vorwort in die Gegenwart der Erstveröffentlichung verlängert: „Wir leben wirklich in einer verkehrten Welt, und es ist jetzt der Dieb, welcher den Steckbrief des ehrlichen Mannes, den er bestohlen hat zur öffentlichen Kunde bringt“ (ebd., S. 446). 62 Nicht zu Unrecht weisen Sternberger und Briegleb darauf hin, dass Heine in keinem seiner religionsphilosophischen Texte aus den später vom ihm selbst inkriminierten Zeiträumen jemals ähnlich dezidiert für Konzepte Hegels Partei ergreift, wie er sich in den Spätschriften von ihnen lossagt. Vgl. Sternberger, Dolf: Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde. Mit einem Nachtrag 1975. Frankfurt/M. 1996, S. 260 ff., und Briegleb, Kommentar Bd. 12, S. 224.

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selbstironische Stoßrichtung dieser Hiob-Travestie findet sich hier noch gesteigert, nämlich dadurch, dass Heine die Schilderung einstigen Glücks aus Hiob 29 überblendet mit der Schilderung eigenen vorbildlichen Handelns in Hiob 31, die im Prätext der Selbstrechtfertigung des Klagenden dient und nun das Hochgefühl einst empfundener Göttlichkeit karikiert. Dieser schwört Heine nun im Unterwerfungsgestus der Hiob-‚Phase 4‘ ab: „[N]ur ein armseliges Menschengeschöpf, eine seufzende Kreatur“ nennt er sich, und: „[K]ein Philosoph wird mir jemals wieder einreden, dass ich ein Gott sei!“ ⁶³ Auch in den ,Geständnissen‘ synchronisiert die Hiob-Sprecherrolle also phasensynkretistisch diachrone Etappen in der Bewusstseinsentwicklung des biblischen Hiob zu einem entsprechend oszillierenden Standort: Der kritische Befund allgemeiner Kontingenz fällt zusammen mit der affirmativen Einsicht des schlussendlich von Gott Zurechtgewiesenen  – was alle dazwischenliegenden blasphemischen Ausbrüche überspringt. Von schlagender Wichtigkeit für die spezifische Pointe, die Heine der Geschichte literarischer Kontingenzbewältigung anhand des Hiob-Stoffs hinzufügt, scheint mir nun zu sein, in welchem Kontext er diese Sprecherrolle einführt: Seine Schicksalswende situiert er ausdrücklich in einer ‚unsinnigen, auf den Kopf gestellten Zeit‘. Erneut also und diesmal ganz explizit bedient sich Heine des Topos der ‚Verkehrten Welt‘. Bemerkenswert – und m. W. bislang noch nicht gewürdigt – ist die Tatsache, dass er die mit diesem Topos belegte Pariser Februarrevolution von 1848 speziell ins Kolorit des Karnevals setzt: eines Ausnahmezustandes also, in dem die ansonsten geläufige Weltordnung auf befristete Zeit diametral verkehrt wird, dessen Auswirkungen auf die anschließend stets wieder zu restituierende Normalordnung aber so konsolidierend sind, wie denn auch seine berechenbare Wiederholung rituell geregelt ist. Knapper und lakonischer als durch die Gleichsetzung jener ‚„Ereignisse“ mit einer Karnevalssaison könnte Heine kaum zum Ausdruck bringen, wie ernst er den teleologischen Wirkanspruch ihrer Verfechter nimmt – der Revolutionäre also, die sich selbst naturgemäß nachhaltige Änderungsmacht versprochen hatten. Eine von ihren Akteuren als linearhistorisch unhintergehbar verstandene Tat ordnet Heine der zyklischen Wiederkehr des Immergleichen ein. Der chronologische Zusammenfall von allgemeinen Unruhen der Politik und individueller Schicksalswende des Autors wird in dieser Passage  – noch über Heines werkdurchgängiges Konzept der „Koinzidenz von persönlichem Schicksal und einer dem analog interpretierten Weltgeschichte“⁶⁴ hinaus – als Koinzidenz im Kontrast inszeniert, und zwar ‚inszeniert‘ im Wortsinne: Weltpolitik und Auto63 Heine (s. Anm. 33), S. 476. 64 Koopmann (s. Anm. 18), S. 67.

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renschicksal setzt Heine ins Bild zweier Bühnenhandlungen, die chronologisch parallel ablaufen, sich zueinander aber antizyklisch verhalten. Die individuelle Pointe, die ich hierin sehe, ist die, dass der Text mit der privaten Schicksalswende zum Leid und der ‚verkehrten Welt‘ politischer Absurditäten gleich zwei Topoi aus dem Klage-Kontext des Hiobbuchs abruft – diese Topoi jedoch just als Anlässe der Hinwendung zum personalen Gott schildert. Ausgehend von ‚Phase 3‘, in der Hiob sowohl im Einzelschicksal als auch im Weltzustand reine Willkür herrschen sieht, in den deus-absconditus-Vorwurf hineingerät und aus lauter Trostlosigkeit mit Gott zu streiten begehrt, um sich Trost zu erkämpfen, beschreibt Heine sein eigenes Verhalten umgekehrt: Der vormals Gott Ignorierende habe sich diesem nun zugewandt, um jemanden zu haben, mit dem er hadern kann. „In diesem Zustand ist es eine wahre Wohltat für mich, dass es jemand im Himmel gibt, dem ich beständig die Litanei meiner Leiden vorwimmern kann“:⁶⁵ Für den Ex-Atheisten sind der Akt des Haderns und – als Voraussetzung hierfür – die Gewissheit, dass hierfür ein personales Gegenüber bereit steht, bereits Trost genug (und lassen jedwede Hoffnung auf Intelligibilität, die dem Hadern Hiobs als Zielrichtung innewohnt, nachrangig erscheinen). Besonders provokant scheint dies vor dem erwähnten Hintergrund des stark theodizeelastigen Hiobdiskurses der Frühaufklärung bis zu seiner Unterbrechung um 1750. Im Rahmen seiner autobiographischen Rechtfertigungsschrift dient Heine die Wahl der genannten Hiob-Topoi dazu, die Unterstellung einer ‚Rückkehr in den Aberglauben‘ klassischer Konfessionen abzuwehren und seine vollzogene Wahl eines neuen Gottesbildes als Ausdruck individuellster Entscheidungsfreiheit zu inszenieren: Eine Zuwendung zu Gott unter Umständen, die Hiob (oder, präziser pointiert: selbst ein Hiob) als Zeichen der Abwendung Gottes auslegt, eine Zuwendung ‚trotz alledem‘ also, kann nur eine frei und mündig gewählte sein. Und sie ist die Entscheidung zu einer Privat-Religiosität, die mit der ‚Glaubenspisse‘ entmündigender Massen-Ideologeme gerade eben nichts gemein haben will – und vice versa auch für niemand anderen normativ ist als für Heine selbst. Denn was ja mit postuliert ist in jener Art und Weise, wie Heine anhand variierter Hiob-Reminiszenzen sein individuelles Leiden weniger als Gegenstand der Kommunikation mit Gott zelebriert denn eher als Grundlage dieser Kommunikation versteht, ist ein esoterischer Privatbezug zwischen dem Leidenden, der sein Leiden als Indiz der Erwähltheit, also der Zu- statt Abwendung Gottes versteht, und dem solcherart Erwählenden.

65 Heine (s. Anm. 35), S. 476. Vgl. auch Heines Brief an Heinrich Laube vom 2. Februar 1850: „Gottlob, daß ich jetzt wieder einen Gott habe, da kann ich mir doch im Uebermaaße des Schmerzes einige fluchende Gotteslästerungen erlauben; dem Atheisten ist eine solche Labung nicht vergönnt“ (Heine-Säkularausgabe, Bd. 23, S. 26 f.).

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Die Metapher, die Heine gebraucht, um diesen Privatbezug zu illustrieren, bestimmt die Schlussabsätze der ,Geständnisse‘, deutet sich aber bereits in der zitierten Passage an, nämlich im Bild der Schicksalswende als einer Bühnenhandlung. In diesem Bild ist nicht nur der öffentliche Resonanzraum dieser Wende ebenso wie die Erfahrungskluft zwischen ‚verehrungswürdigem Publikum‘ und herausgehobenem Akteur angelegt, sondern auch die Frage nach der Autorschaft des Bühnenstücks aufgeworfen. Und eben die Metapher von Gott als Welt-Autor, als literarischer Überinstanz, wird im Folgenden leitend für Heines Inszenierung seiner neuen Religiosität als einer immediaten Zweierbeziehung: Ach; der Spott Gottes lastet schwer auf mir. Der große Autor des Weltalls, der Aristophanes des Himmels, wollte dem kleinen irdischen, sogenannten deutschen Aristophanes recht grell dartun, wie die witzigsten Sarkasmen desselben nur armselige Spöttereien gewesen im Vergleich mit den seinigen […].⁶⁶

Bereits Schrader hat zutreffend konstatiert, dass das Bild von Gott als Großliteraten es Heine gegen Ende des Textes ermöglicht, sein Wirken mit literaturrezensorischen Maßstäben zu kritisieren. Auch die interessegeleitete Stilisierungsleistung, mit der „Heine sich seinen Gott geschaffen hat, um mit ihm zu rechten“,⁶⁷ ist verschiedentlich bemerkt worden. Zweierlei scheint mir aber noch nicht genug betont worden zu sein: Erstens, dass es eben nicht generell das Bildfeld der Literatur, sondern speziell das der Bühnenliteratur ist, auf dem Heine Gottes Weltwirken und poetisches Menschenschaffen kommensurabel macht: Hierin fasst er einen Gottesbezug, der eben nicht nur (einerseits) ein esoterisches Meister-Schüler-Verhältnis unter vier Augen ist, sondern sich (andererseits) bei aller ‚Bühnendistanz‘ zur Öffentlichkeit doch auch vor deren Augen abspielt. Und zweitens, dass Heine in seinen personalen Gott, indem er diesen anthropomorphisiert zu einem literarischen ‚Spaßmacher‘, der ein nicht satisfaktionsfähiges Opfer in aller Öffentlichkeit mit ‚Spott‘ und ‚Verhöhnung‘ übergieße, natürlich auch Züge seiner selbst projiziert. Wenn aber der personale Gott plötzlich als eine Art projizierter Über-Heine daherkommt, dann relativiert das auf nicht unpikante Weise jene hyperbolische Antithetik zwischen alter Hybris und neuer Demut, mit der der Text jenem Gottesbild gerade erst Platz eingeräumt hatte – an Stelle nämlich eines abgelegten Bildes von der autonomen Geschichtsmacht des Menschen, karikiert als Selbstprojektion göttlicher Züge auf die Person Heines.

66 Heine (s. Anm. 33), S. 499. 67 Sammons (s. Anm. 31), S. 132.

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In diesem Sinne gilt es eine These Odo Marquards zu ergänzen. Zuzustimmen ist ihm, wenn er bündig reformuliert, was bereits Hermann Lübbe⁶⁸ als eine auch in Heines ‚theologischer Revision‘ noch fortwirkende Kontinuität aufgeklärten Denkanspruchs postuliert hatte: [J]e mehr Wirklichkeit die Menschen durch Aufklärung rationell beherrschen, desto mehr erfahren sie zugleich, was sie nicht rationell beherrschen können, sondern was – z.B. als Kontingenzlage der „Matratzengruft“  – kontingent bleibt und unverfügbar. Darum brauchen sie – zusätzlich zur rationellen Verfügung – die Kontingenzbewältigung durch Religion.⁶⁹

Unter dem Titel „Lob der Inkonsequenz“ aber, wo Marquard diesen Aspekt in eine Liste mehrerer die „Modernität“ Heines ausmachender „Abweichungen von sich selber“ einreiht, sollte er nicht ohne den Zusatz stehen bleiben, dass Heine zumindest in den ,Geständnissen‘ (also in der prominentesten an die Öffentlichkeit gerichteten Erzählung seines scheinbar inkonsequenten Bruchs mit dem Autonomiedenken) durchaus darum ringt, diesen unterschwellig als Kontinuität darzustellen  – nämlich als Reservat individuellster Denk- und Entscheidungsfreiheit. Die Gestaltung seines neuen Gottes-, Menschen- und Weltbildes, die explizit macht, dass sie aus dem Bedürfnis der Kontingenzbewältigung heraus vorgenommen wurde, leitet Heine ein durch einen karikierend-projizierenden Rückblick auf sein früheres Weltbild, dem er damit zugleich ebenfalls die Kontingenzbewältigung als Motiv unterlegt. Indem Heine seine Schicksalswenden-Passage in die genannten, travestierten Hiob-Topoi kleidet, lässt er seine Entscheidung als Akt ungebrochener Eigensinnigkeit erscheinen. Und indem er die erkannte Zone der Unverfügbarkeit zwar an Gott abtritt, sie damit aber zur Verfügungszone eines launischen, inkonsequenten und sich selbst plagiierenden Großschriftstellers erklärt, macht er ihre Kontingenz zwar nicht direkt rational erfassbar, aber zumindest sprachbildlich handhabbar: Die Schicksalswende wird interpretiert als der (für den „kleinen Aristophanes“ nachteilige) Ausgang eines Wettstreits zwischen machtmäßig ungleichen, aber ansonsten Geistesverwandten mit den gleichen Mitteln. Der Dich68 Lübbe hält „diese Wende für erfahrungskonsequent“; in ihr blieben „Positionen aufgeklärter Religionskritik […] auch beim späten Heine unverändert in Geltung“. Lübbe, Hermann: Heinrich Heine und die Religion nach der Aufklärung. In: Gössmann, Wilhelm / Kruse, Joseph A. (Hrsg.): Der späte Heine 1848–1856. Literatur – Politik – Religion. Hamburg 1982, S. 205–218; S. 213 bzw. 218. 69 Marquard, Odo: Skepsis in der Moderne. Überlegungen im Blick auf Heinrich Heine. In: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Hrsg. von Joseph A. Kruse/Bernd Witte/Karin Füllner. Stuttgart/Weimar 1999, S. 909–918; S. 915.

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ter beugt sich im Hiobsgestus, behält aber das letzte Wort – und betont hierin erneut den esoterischen Privatbezug zu Gott vor und gegenüber dem Rest der Welt: Das „Plagiat an hoch sich selber“,⁷⁰ das er Gott gleichsam unter Kollegen ankreidet, ist die an Heine vollzogene Stigmatisierung eines Ausnahmekünstlers durch Krankheit. Ihre Präfiguration ist der misselsüchtige Klerikus aus der ,Limburger Chronik‘, mit dessen ‚Lazarusklapper‘ der Text schließt: Ein Bild der publiken, zugleich soziale Exterritorialisierung und göttliche Erwähltheit signalisierenden Dichterrede, das nicht nur den öffentlichen Bekenntnis-Gestus jenes Textes auf den Punkt bringt, den es abschließt, sondern auch eine Brücke zu den synkretistischen Leidensfigurationen des ,Romanzero‘ schlägt. Die Analogsetzung des Autors Heine und des mittelalterlichen Klerikus in der Figur des Lazarus stellt vollends unter das Vorzeichen des Autobiographischen, was sich im ,Romanzero‘ noch generalisierend als dem Dichtertum allgemein zugeschrieben lesen ließ: das Konzept vom Dichter als einer Exempelfigur für die allgemeine Zyklizität des Weltenlaufs. Die Lazarus-Figur mit Hiob-Stimme wird so vom metaphorischen Zentrum einer Standort-Neubestimmung Heines auf poetologischem Terrain zum Angelpunkt seiner Neuverortung auf religiös-philosophischem Feld. Heines ,Geständnisse‘ verhandeln die Frage nach den Grenzen menschlicher Handlungs- und Bewirkbarkeitsspielräume nicht mehr ‚nur‘ auf der textimmanenten Ebene ihrer Themen (so wie noch Goethe anhand seiner Kontamination von Faust- und Hiobs-Stoff) – ja, streng genommen sogar eigentlich kaum noch. Vielmehr verlagern sie diese Frage – gleichsam darauf vertrauend, dass sie stets mitschwingt, wann immer Topoi aus dem Hiobbuch aufgerufen werden – in den demonstrativen, öffentlichkeitswirksamen Akt der freien Instrumentalisierung des Hiob-Stoffs selbst. Und just denjenigen biblischen Stoff, in dem ein Mensch nach maximaler Ausnutzung seiner geistigen Mündigkeit bis hin zur Anfechtung des personalen Gottes in die Erkenntnis seiner Grenzen zurückfindet, macht Heine zum Kronzeugen eines maximalen Gestaltungsanspruchs des literarisch tätigen Individuums innerhalb der Grenzen des ihm Verfügbaren: nämlich des Autors, der sich selbst und seine Grenzen zum Thema erhebt. Dazu, dass er die Neujustierung seines Gottesbildes erklärtermaßen auf individuelles Schicksal reagiert, fügt sich, dass er auch für das nun angepasste Gottesbild selbst radikale Individualität beansprucht. Sein Verhältnis zu Gott – verteidigt gegenüber den ihn umgebenden Fronten verfestigter Meinungsunmündigkeit, nämlich der ideologischen Kirche einerseits, dem materialistischen Atheismus andererseits  – ist radikal privat und immediat (und insofern dem

70 Heine (s. Anm. 33), S. 500.

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protestantischen Religiositätskonzept verpflichtet). Dass die Aussagen der ,Geständnisse‘ gleichwohl ästhetisch überformte, publizierte und an ein Publikum gerichtete Aussagen sind, steht hierzu kaum im Widerspruch. Zum einen erklären sie sich offensichtlich aus den Zeitdiskursen des publizistisch-literarischen Feldes, wenn sie Dementi-Charakter haben und dem kursierenden Gerücht entgegenarbeiten, Heine sei kirchenfromm oder gar katholisch geworden. Der offenbar – mit gerüchtetypischer Lust an der größtmöglichen Verwerfung – verbreiteten Annahme, Heine sei ein Totalrenegat und habe mit all seinen früheren Denkweisen gebrochen, hält Heine Texte entgegen, die stets die Kontinuität seines Denkens betonen.⁷¹ Zum anderen stehen sie, soweit sie im letztgenannten Sinne auch Diskontinuierliches aufzeigen, stimmig im Rahmen von Heines Denkweise, die das Einzelschicksal als pars-pro-toto-Analogie des allgemeinen Weltgeschehens auffasst, so dass die öffentliche Dokumentation individuell ausgetragener Denkaporien stets zugleich auch Dokumentation gesellschaftlicher Aporien ist. Bezeichnend scheint mir übrigens, dass Heine zwar als Grund seiner Hinwendung zum personalen Gott ausdrücklich die Möglichkeit nennt, wider einen solchen – in die Rolle Hiobs schlüpfend – Klage führen zu können. Doch weder im ,Romanzero‘ noch in den ,Geständnissen‘ reizt er diese Option aus – ja genau genommen in gar keinem Text, den er bis zu seinem Tode tatsächlich veröffentlichen ließ oder zumindest nachweislich für die Öffentlichkeit bestimmt hätte. Die explizite Klage gegenüber Gott behält Heine, wie es scheint, tatsächlich einer dem öffentlichen Diskurs entzogenen, privaten Zwiesprache vor. Dem widerspricht nur scheinbar die Abteilung Zum Lazarus der Gedichte 1853 und 1854, in der ein insgesamt schärferer Ton angeschlagen wird als im zweiten ,Romanzero‘Teil: Denn selbst „[Laß die heil’gen Parabolen]“, jenes Gedicht also, das darin den hiobesken Gestus der Lamentationen auf seine äußerste Spitze treibt (nämlich bis hin zur Theodizeefrage) und das deshalb in der Literatur⁷² besonders gerne als archetypisches Exempel des Lazarus-Lyrikkomplexes angeführt wird, spricht weder Gott direkt an, noch haftet in ihm ein lyrisches Ich für die erhobene Klage über die allgemeine Ungerechtigkeit der Welt – sei es mit seiner grammatikalischen Person oder mit etwelchem konkret genannten Leidensanlass. Das einzige späte Gedicht Heines, in dem beides der Fall ist, blieb bis 1857 unveröffentlicht:

71 Freilich immer unter auch ironischem Verweis darauf, dass diese Kontinuität wohl kaum in die aktuelle Richtung geführt hätte, wenn der medizinische Leidensdruck dazu ausgeblieben wäre. 72 Vgl. u.a. Preisendanz, Wolfgang: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München ³1983, S. 115 ff.

Heinrich Heine: ,Romanzero‘ (1851) und ,Geständnisse‘ (1854)   

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Ob deiner Inkonsequenz, o Herr, / Erlaube, dass ich staune: / Du schufest den fröhlichsten Dichter, und raubst  / Ihm jetzt seine gute Laune.  // Der Schmerz verdumpft den heitern Sinn / Und macht mich melancholisch; / Nimmt nicht der traurige Spaß ein End, / So werd ich am Ende katholisch. // Ich heule dir dann die Ohren voll / wie andere gute Christen – / O Miserere! Verloren geht / Der beste der Humoristen!⁷³

73 Heine: Werke Bd. 11, S. 332 f.

7 „Herankommen lassen“. Alfred Döblin: ,Berlin Alexanderplatz‘ Das erste Haus, das er verließ, war die Strafanstalt in Tegel. Verängstigt stand er da an der roten Mauer, und als er sich losmachte […], da standen die Häuser nicht still, die Dächer wollten über Franz fallen, er musste lange gehen und sitzen, bis alles um ihn ruhig war und er stark genug war, um […] wieder anzufangen. Jetzt ist er kraftlos. […] Aber siehe[:] Die Häuser halten still, die Dächer liegen fest, er kann sich ruhig unter ihnen bewegen. […] Biberkopf war lange weg. Jetzt ist Biberkopf wieder da. Euer Biberkopf ist wieder da. Herankommen lassen, herankommen lassen die weiten Ebenen, die roten Ziegelhäuser, in denen Licht brennt. Herankommen lassen […].¹

An diesem Punkt gegen Ende des Romans Berlin Alexanderplatz hat Alfred Döblins Held soeben eine Katharsis durchgemacht, in deren Folge er die Welt um sich herum anders wahrnimmt als zuvor. Seine neu errungene Haltung konturiert der Text im Rekurs auf die Eingangsszene des Romans, in der Franz Biberkopf angsterfüllt vor der Un-Ordnung einer Welt stand, die ihm – entlassen aus dem geordneten System des Strafvollzugs in eine ihm fremd gewordene Unordnung – fremd geworden war. Da hatte ihn die Angst vor dem drohenden ‚Herankommenden‘ – symbolisiert etwa im berühmten expressionistischen Bild von den abrutschenden Dächern  – in eine Abwehrhaltung gezwungen, aus der er wiederum Konsequenzen zog, die ihn notorisch scheitern ließen. Fälschlich hatte er geglaubt, sich seinen Standort in einer unübersichtlichen Lebenswelt, der Großstadt – die wiederum exemplarisch für die Lebenswelt der westlichen Moderne schlechthin steht  –, anhand trivialer moralischer Faustregeln erobern zu können. Warum er ihr auf diese Weise nicht gewachsen war, enthüllt sich ihm erst zum guten Schluss. Der Romanbeginn also zeigt den Helden in einer prä-mythologischen Verfassung, wie sie Blumenberg beschreibt: „Die Angst ist auf den unbesetzten Horizont der Möglichkeiten dessen, was herankommen mag, bezogen“.² Der Schluss indes zeigt ihn in einer Verfassung, in der er die Souveränität gewonnen hat, diese Möglichkeiten angstfrei „herankommen [zu] lassen“. Den Leser überrascht Biberkopfs Schlusseinsicht nicht. Denn ihm hatte sich, anders als dem Helden selbst, dessen wahrer Antagonist neun Romankapitel lang offen gezeigt: Und als diesen Antagonisten verstehe ich nicht mehr und nicht weniger als ‚die Weltkontingenz‘ schlechthin, und zwar verstanden im mo1 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München 1961 u.ö., S. 403 f. 2 Blumenberg (s. Kap. 1, Anm. 17), S. 12.

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dernen Sinne: nicht mehr als ein Raum, den eine starke, personalisierbare Transzendentmacht mit ihrem Entscheidungsmonopol vollständig ausfüllt, sondern vielmehr als ein von dieser Macht geräumter Raum, den die Menschheit mit einer unüberschaubaren Diversität von Sinnkonstrukten angefüllt hat. Als eine Sphäre der grenzenlos ausgedehnten, da von transzendenten Mächten nicht mehr überwachten Handlungspotenzialität jedes einzelnen Menschen, aus der sich in toto aber wiederum eine unberechenbare Zufälligkeit ergibt – wer wem wann begegnet, mit welchen Absichten und Folgen, ist nicht vorhersehbar und aktualisiert sich aus einer Fülle gleichwertiger Möglichkeiten stets erst im Moment. Dass sich dieser Weltzustand dem Leser – anders als dem Helden – von Anbeginn an relativ offen darbietet, liegt an einer Reihe narrativer Verfahren Döblins, die ich hier  – bewusst simplifizierend  – in zwei Komplexe sortieren will, die sich dem Ober- und dem Untertitel des Romans zuordnen lassen. Zum ersteren: Berlin Alexanderplatz, das ist nun einmal, schlicht gesagt, mehr als „Die Geschichte vom Franz Biberkopf“,³ mehr also als die einsträngig-finalistische Diegese einer Persönlichkeitsentwicklung. Dem Titel entsprechend, der eine Raumkoordinate ohne Festlegung auf privilegierte Zeit- und Handlungsstränge ankündigt, herrscht über weite Strecken des Textes eine verwirrende Polyphonie aus montierten Intertexten teils markierter, teils unmarkierter Art und von verschiedenster Provenienz  – darunter auch motivisch durchaus dysfunktionalen. Und nicht minder als diese Intertexte selbst sind es die oftmals unvermittelt  – nämlich ohne eine moderierende Erzählerstimme – und krass ins Auge springenden stilistischen Bruchstellen zwischen ihnen, die dem (von Natur aus linearen, chronologischen, konstruktivistischen und kohärenzstiftenden) Lesefluss etwas simulieren, was die linear-sequenzielle Zeichenfolge eines Textes von Natur aus nicht mimetisch repräsentieren kann: die Synopsis des Gleichzeitigen oder sich Überschneidenden, dabei unüberschaubar Vielfältigen. Auch ihre Fokalisierung ist uneinheitlich und nicht berechenbar: So bleibt es häufig offen, ob z.B. eine Schlagerzeile, die unvermittelt in einer szenisch-handlungsbetonten Textpassage auftaucht und durch keinerlei inquit-Formel perspektiviert wird, nun dem Denkhorizont der Hauptfigur, dem einer weiteren Figur oder dem des Erzählers zuzuschlagen ist – und ob sie dort nur eine assoziative Wertung des unmittelbaren Kontextes wiedergibt oder überdies pro- oder analeptisch auf andere Zeitabschnitte verweist. Ein synoptischer Multi- und somit Aperspektivismus, der weite Teile des Textes durchzieht und in dem Stauffacher (insofern, als Rationalität

3 „Es wurde ‚Berlin Alexanderplatz‘ [ein Titel, den mein Verleger absolut nicht akzeptieren wollte, es sei doch einfach eine Bahnstation, und ich mußte als Untertitel dazusetzen ‚Die Geschichte vom Franz Biberkopf‘.“ Döblin, Alfred: [Epilog], in: Materialien zu Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Hrsg. von Matthias Prangel. Frankfurt/M. ³1981, S. 45 f.

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und Zentralperspektive seit dem 16. Jahrhundert Hand in Hand gehen) ein erzählerisches Verfahren moderner Rationalitätskritik sieht,⁴ den man aber noch darüber hinaus gehend als poetologisches Bekenntnis wider den noch aus dem 19. Jahrhundert tradierten Finalismus des klassischen Romanerzählens werten kann. Modernität  – das ist spätestens seit Nietzsches Genealogie das metaphysikkritische Bewusstsein ontologischer und semiologischer Kontingenz, im Zuge dessen sich der einstmals harmonische Kosmos in ein Chaos ohne Zentrum verwandelt und sowohl arché als auch telos als diskursive Effekte entlarvt werden.⁵

Mit einem Wort gesagt: Solche Passagen simulieren die Omnipräsenz des Kontingenten, sie formen einen Text-Raum, der organisations- und ordnungslos wirkt, und bilden mithin jene Sphäre ab, in der sich der Held zu bewähren sucht. Zum anderen aber durchzieht (wie schon Jähner und Scherpe⁶ unterschieden haben) jenen ‚montierten Text‘, der die Stimmlagen, Blickwinkel und Partikularinteressen der Stadt-Welt abbildet, ein ‚narrativer Text‘, der Die Geschichte vom Franz Biberkopf erzählt. Hier findet sich eben doch ein linear-finalistisches Prinzip, und dessen prominenteste Verkörperung ist die Stimme einer Erzählinstanz, die in Kapitelüberschriften und direkten Leseransprachen (sogar in der Rolle des Autors auftretend) auf ihre Kompetenz zur sinnhaften Deutung der erzählten Geschichte pocht und die den Helden als exemplarisches Individuum auf der Suche nach einem sicheren Ort in einer unübersichtlichen Welt vorführt. Diese Erzählinstanz, heterodiegetisch und nach Gusto fokalisierend, nimmt bisweilen im Sprechgestus („Ich habe ihn herberufen zu keinem Spiel“, S. 37) jene Rolle ein, die innerhalb der Diegese vakant bleibt: die Rolle (eines) Gottes.⁷ Bemerkenswert ist freilich, dass dieser, man könnte sagen: transzendente Signifikator des Textes, seine eigene Rolle als ‚allwissend‘, aber ausdrücklich nicht ‚allmächtig‘ inszeniert: Er tritt gegenüber dem Rezipienten insofern ‚ordnungsstiftend‘ auf, als er beansprucht, den narrativen Diskurs zu organisieren. (Wobei es wiederum

4 Nämlich insofern, als ‚Rationalität‘ und Zentralperspektive seit dem 16. Jahrhundert Hand in Hand gehen. Vgl. Stauffacher, Werner: Die Ärzte und der Tod. Rationalitätskritische Reflexe in Berlin Alexanderplatz. In: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Bergamo 1999. Hrsg. von Torsten Hahn. Bern u.a. 2002, S. 157–167; S. 164 ff. 5 Michel, Sascha: Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano). Tübingen 2006; S. 36. 6 Scherpe, Klaus R.: Von der erzählten Stadt zur Stadterzählung. Der Großstadtdiskurs in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann/Harro Müller. Frankfurt/M. 1999, S. 418–437; S. 431. 7 Vgl. Borck/Paefgen (s. Kap. 2, Anm. 1), S. 263.

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einzuschränken gilt: Wann immer er diesen Anspruch expliziert, geht es um die Passagen ‚narrativen Textes‘, also um die finalistische Biberkopf-Handlung – als Herr auch des chaotischen, ‚montierten Textes‘ bezeichnet der Erzähler sich recht eigentlich nie.) Was aber die im narrativen Diskurs – bzw. in dessen linearisierbarem Strang – erzählte Geschichte betrifft, inszeniert der Erzähler sich zwar als all- und mithin auch zukunftswissend, nicht aber als eingriffsmächtig: „Ein anderer Erzähler hätte dem Reinhold wahrscheinlich jetzt eine Strafe zugedacht, aber ich kann nichts dafür, die erfolgte nicht.“ (S. 192). Er verbleibt vielmehr ausdrücklich in der Rolle eines nicht-teilnehmenden Beobachters und Chronisten, dem es daran gelegen sei, „ruhig den Spuren meines kleinen Menschen in Berlin, Zentrum und Osten, zu folgen“ (S. 170), und der dabei offen die Kontingenz selbst seines eigenen Chronisten-Handelns zur Schau trägt: „es tut eben jeder, was er für nötig hält“ (ebd.). Zieht man dann noch seine gelegentlichen Zurufe an Franz in Betracht, die in eckigen Klammern stehen und dem Leser im Sinne von Prolepsen zur Orientierung dienen mögen, zu ihrem rhetorischen Adressaten aber nicht durchdringen, dann kommt noch das Merkmal gütiger Zuwendung hinzu. In einem Satz: Dem Erzähler als extradiegetischem Platzhalter einer Transzendenz, die intradiegetisch nicht stattfindet, sind von den klassischen Merkmalen des biblischen Gottes das Allwissen und die Allgüte geblieben, die Allmacht indes fehlt ihm. Doch zurück zur Ausgangsthese, Franz Biberkopfs Antagonist sei ‚die Weltkontingenz‘. Diese Lesart scheint mir gut anschließbar an die Thesen Matthias Prangels, der (ohne selbst dabei von ‚Kontingenz‘ zu sprechen, aber unter Anwendung jenes systemtheoretischen ‚Beobachtungs‘-Begriffsbestecks, das Niklas Luhmann aus einer Diagnose von „Kontingenz als Eigenwert in der modernen Gesellschaft“ ableitet)⁸ 1995 einen heilsamen Schlussstrich setzte unter Jahrzehnte der – nicht selten recht verkrampften – Versuche, Döblins Roman von seiner eschatologischen (und in des Autors eigener Sicht misslungenen) Schlusspartie her mit stark schematisierenden Dualismen zu deuten, die meist auf ein Verhältnis zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ bzw. ‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘ hinausliefen. Prangel kommt zu der einleuchtenden Ansicht: Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘ beschreibt den im Mehrwissen und Vorauswissen des Erzählers immer schon vorgegebenen Übergang […] des Romanhelden […] von einer zweiwertigen zu einer dreiwertigen Logik, von einer Beobachtung erster zu einer Beobachtung zweiter Ordnung als avancierte Erkenntnissituation des modernen Menschen.⁹

8 Vgl. Luhmann, Niklas: Kontingenz als Eigenwert in der modernen Gesellschaft. In: Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, S. 93–128. 9 Prangel (vgl. Anm. 3), S. 173.

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Der scheinbar tautologische, aus Sicht Biberkopfs fokalisierte Schlusssatz „Wir wissen, was wir wissen, wir habens teuer bezahlen müssen“ (S. 410) drückt, so gelesen, die „Kürzestfassung des Bekenntnisses zum dreiwertigen Denken“ aus, „zu einem Wissen nämlich, das über sich selbst und sein Zustandekommen bescheid weiß“.¹⁰ Weniger methodenspezifisch ausgedrückt: Er steht für eine erworbene Außensicht des Helden darauf, dass sein eigenes Wissen (und demzufolge: Denken und Handeln) eben keine unbedingte Setzung ist (die es so starr durchzuhalten gälte wie zuvor gehabt), sondern eine bedingungsabhängige Konstruktion, die flexibel bleiben muss – was es erforderlich macht, ihre sich potenziell jederzeit ändernden Bedingungen im Blick zu behalten. Noch anders gesagt: Biberkopf erwirbt Kontingenzbewusstsein, und noch einmal präziser (mit Haug) ausgedrückt: Das Wissen des ‚neugeborenen‘ Franz Karl Biberkopf weiß, dass seine subjektive Kontingenzzone (der eigene Handlungsspielraum also) immer nur so groß ist, wie es die objektive Kontingenzzone zulässt. Der alte, noch ‚zweiwertig‘ denkende Franz Biberkopf indes hatte seine subjektive Kontingenzzone für unbegrenzt gehalten und mit den daher programmierten Rückschlägen nicht umzugehen gewusst. Hier nun gilt es, die zahlreichen Hiobbuch-Referenzen ins Spiel zu bringen, mit denen Berlin Alexanderplatz operiert. Einige davon sind von so deutlich markierter Intertextualität und zugleich – ablesbar an ihrer Platzierung – von so offenkundiger Funktionalität, dass es seit eh und je immer wieder zu Deutungen von Döblins Roman als Hiobbuch-Posttext gekommen ist. Mir scheint das bisher Gesehene  – etwa von Lipinsky-Gottersdorff, Schrader, Borck/Paefgen, Langenhorst –¹¹ zum Teil plausibel, in toto jedoch noch unzulänglich, weil es in der Regel auf eine Analogsetzung der Figuren ‚Hiob‘ und ‚Biberkopf‘ unter dem motivischen Tertium der Gottes- resp. ‚Leiderfahrung des Gerechten‘ hinausläuft anstatt auf eine unter dem – m. E. fruchtbareren – thematischen, für das sich der Blick zwangsläufig erst dann eröffnet, wenn man als Thema bereits des Prätexts das Ringen eines Menschen um seine Verortung in einer zunehmend als kontingent empfundenen Welt annimmt. Anders als zahlreiche Referenzen auf andere Quellen, die jeweils nur in ihrem unmittelbaren Romankontext Funktion tragen (oder auch gar keine), nehmen die verschiedentlichen Bibelzitate, –allusionen , –paraphrasen und –kontrafakturen in Berlin Alexanderplatz zentrale motivische und strukturierende Funktionen für die linearen Sequenzen des Romans ein: Sie „weisen […] auf den Gesamtablauf

10 Prangel (vgl. Anm. 3), S. 178. 11 Vgl. Lipinsky-Gottersdorf, Hans: Ein Hiob namens Biberkopf. Überlesenes in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. In: Etappe 6 (1990), S. 58–65; Schrader, U. (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 112–124; Borck/Paefgen (s. Kap. 2, Anm. 1), Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 97–104.

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und das Gesamtthema“,¹² sie „führen oder rahmen […] die Schlüsselszenen ein“, sind „Orientierungshilfe für den Leser“.¹³ Besonders ausführliche Bibelreferenzen platziert Döblin an zentralen Schaltstellen der Handlung, die sie einrahmen, mit Bedeutung aufladen und kommentieren. Ihre Anordnung lässt sich als zweites ‚finalitätsstiftendes‘ Element neben den Wertungen und Prolepsen des Erzählers lesen: Sie entspricht in etwa derjenigen ihrer Prätexte innerhalb der Bibel. So unterlegen sie die Geschichte Biberkopfs mit Bedeutsamkeitsmarkierungen, die es nahe legen, sie als individuelle Heilsteleologie zu lesen. Als Leitmotive etwa wirken biblische Bildsymbole, ganz besonders zwei: die Schlange und die Hure Babylon, die zugleich durch ihre Provenienz aus dem allerersten bzw. allerletzten Buch der Bibel – Genesis und Apokalypse – im Chaos der textuellen Vielstimmigkeit eine Reminiszenz an alte, textgestützte Ordnungsgaranten bilden: die Kosmogonien der jüdischen bzw. der christlichen Religion. Darüber hinaus begegnen als kurze, teils wörtlich zitierte Palintexte Lebensregeln, Klagen und Prophetien aus Kohelet, Jeremia und wiederum der Apokalypse, jedoch niemals direkt in der Rede einzelner handelnder Figuren, sondern – mehr oder weniger deutlich – im Diskurs des Erzählers, als dessen in ‚autoritativem‘ Bibeljargon codierte Kommentare und Deutungen sie mithin gelten können. Und schließlich gibt es metatextuelle Paraphrasen oder Kontrafakturen biblischer Erzählungen, die als komprimierte Analogien zu Teilhandlungen des Romans wirken. Solcherart paraphrasiert werden einerseits wiederum die Paradiesgeschichte und die Apokalypse, aus der Genesis aber überdies auch die Szene der Opferung Isaaks durch Abraham – und das Hiobbuch. Besonders augenfällig sind zwei metatextuelle Referenzen, in denen ein Leidender unter dem Namen ‚Hiob‘ figuriert und deren Plazierung im Handlungsverlauf signifikant erscheint. Berlin Alexanderplatz ist in neun ‚Bücher‘ aufgeteilt, in deren drittem, fünften und siebentem „das Leben“ (S. 91) dem Helden jeweils einen „Schlag“ zufügt: Als erstes wird Biberkopf, als Hausierer tätig, von einem Kollegen betrogen. Als zweites wird er, ins kriminelle Umfeld seines vermeintlichen Freundes Reinhold abgeglitten, von diesem so schwer verletzt, dass er den rechten Arm verliert, und als drittes ermordet derselbe Reinhold Biberkopfs Freundin. Der Leser ist dem Helden aus den Kapitelüberschriften her um die Information voraus, dass die Biberkopf-Handlung als eine lineare Abfolge von

12 Stauffacher, Werner: Die Bibel als poetisches Bezugssystem. Zu Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. In: Sprachkunst 8 (1977), S. 35–40; S. 36. 13 Boussart, Monique: Die Aktualisierung des Bibeltextes in Alfred Döblins Montageroman „Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf“. In: Le travail de réécriture dans la littérature de langue allemande au XXe siècle. (=Germanica 2/2002.) Hrsg. von Bernard Bach. Villeneuve d’Ascq 2002, S. 99–111.

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‚Schlägen‘ sich steigernder Drastik strukturiert sein wird und dass diese dem Getroffenen eine Lehre sein sollen, die er erst am Ende verstehen wird. Just im vierten und im achten Buch nun, also im Anschluss an den ‚ersten‘ und den ‚dritten Schlag‘, finden sich Einschübe, die gerne als ‚erste und zweite Hiob-Paraphrase‘ bezeichnet werden.¹⁴ Dieser Terminus scheint mir mehr als unglücklich gewählt. Betrachtet man nämlich den Dialog zwischen „Hiob“ und der anonymen „Stimme“ mit Blick auf Setting, Kommunikationssituation und Verhalten Hiobs, dann erweist er sich m. E. als so durchgängig konträr zum Prätext, dass statt von einer ‚Paraphrase‘ von einer Kontrafaktur zu sprechen ist. Das Setting der Szene – „Hiob, du liegst im Kohlgarten, an der Hundehütte, grade so weit weg, dass der Wachhund dich nicht beißen kann“ (S. 124)  – reichert die altorientalische Bildebene der Vorlage anachronistisch mit modernen Elementen an. Die Kommunikationssituation und das Verhalten Hiobs bei Döblin haben im biblischen Prätext an keiner Stelle und in keiner Phase ihresgleichen: Leidet der biblische Hiob zunächst stumm und bereitwillig, um dann wortreich Klage zunächst über die Unverstehbarkeit seines Leidens und dann über die Abwesenheit eines transzendenten Ansprechpartners zu führen, so leidet Döblins Hiob zwar zunächst ebenfalls stumm, aber – wie sich dann herausstellt – nicht bereitwillig. Und die Klage, die er erst erhebt, als ein sehr wohl präsenter – von ihm aber („Geh weg.“, S. 125) abgewehrter  – transzendenter Ansprechpartner ihn provozierend aus der Reserve lockt, geht eben nicht auf die Frage nach den Gründen des Leids hinaus, sondern auf den Wunsch nach seinem Ende („Heile mich!“), und zwar unter ausdrücklichem Verzicht selbst noch auf Einsicht darin, wer denn nun sein numinoser Gesprächspartner genau sei („Wenn ich aber Satan oder der Böse bin?“ „Heile mich“, S. 127). In der Tat legen Thema, Platzierung und offensichtliche überzeitliche Exemplarizität dieser Szene es nahe, Hiob als Verweisfigur für die Situation Franz Biberkopfs zu lesen. Doch scheint mir die Technik der Inversion, die in der hierfür zentralen leserlenkenden Passage zur Geltung kommt, eine Lektüre der Biberkopf-Handlung eben nicht analog zum Prätext, sondern konträr zu ihm nahezulegen – anders also, als etwa Lipinsky-Gottersdorf oder Langenhorst postulieren. Gleichwohl scheint mir hierzu ein Gedanke richtungweisend, den Langenhorst formuliert (aber m. E. nicht zu Ende denkt): „Wie Hiob, so glaubt auch Franz an

14 So von Ulrike Schrader (s. Kap. 1, Anm. 5) und Fromm, Georg: Hiobs Wachhund. Die erste Hiob-Paraphrase in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. In: Grunewald, Michel: (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Paris 1993. Bern u.a. 1995, S. 213–226.

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einen Tun-Ergehen-Zusammenhang: wer ‚sauber bleibt’ im Leben, dem werde es auch gut ergehen.“¹⁵ Nun ist es ja erstens gerade nicht so, dass Hiob die genannte weisheitliche Lebensregel verföchte (jedenfalls schon sehr bald nicht mehr, nämlich ab der ‚Phase 2‘ seines Kontingenzbewusstseins) – dies tun vielmehr seine drei Freunde, während der Protagonist darauf besteht, dass sie suspendiert sein müsse. Und zweitens erfährt jener Tun-Ergehen-Zusammenhang, an den Biberkopf in der Tat zunächst glaubt, im Laufe des Romans eine Umkehrung, die Langenhorst übersieht. Bekanntlich betritt Biberkopf die Handlung als Haftentlassener, der ein beängstigendes Ordnungsdefizit in der Welt wahrnimmt und es mit sehnsüchtigen Retrospektiven auf die strukturierte Welt des Gefängnisalltags kompensiert. Bezeichnenderweise ist jene erste Schlüsselpassage des Romans, ab der Biberkopf die altweisheitliche Handlungsethik als Folie heranziehen wird, um seine lähmende Angst vor dem Chaos des ‚Herankommenden‘ abzubauen, zugleich eine von poetologischer und textstruktureller Schlüsselfunktion: Es ist die Passage mit den Binnenerzählungen der beiden Juden. Aus der exemplarischen Lebensgeschichte des Hochstaplers Zannowich wird Biberkopf als lebensordnende Moral eine Handlungsethik ziehen, die dem Tun-Ergehen-Zusammenhang folgt: „anständig bleiben und for sich bleiben. Das ist mein Wort“ (S. 53.) Doch kommt es hier zu einem doppelten Missverständnis: In der Tat scheint zwar jene Version der Zannowich-Geschichte, die ‚der Braune‘ erzählt und die den schmählichen Tod des Fehlhandelnden im Gefängnis betont, eine klare Handlungsanleitung zur Vermeidung eines solchen Ergehens zu liefern – zumal für jemanden, der sein neues Leben zwar als tabula rasa beginnen kann, jedoch eingedenk eines alten Lebens, in dem sein Fehlhandeln bestraft worden war. Doch was Biberkopf in seinem Handlungsvorsatz nicht verarbeitet, ist der unaufgelöste Perspektivenkonflikt zwischen den beiden Erzählern: Die Version ‚des Roten‘ betont – früher abbrechend als die des ‚Braunen‘ – an Zannowichs Geschichte eben nicht das böse Ende, sondern den erstaunlichen Erfolg des Betrügers auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. In toto betrachtet, liefert jene verdoppelte Intradiegese also weniger eine inhaltliche Lehre, sondern eine – wenn man so will – kontingenzpoetologische: Dass nämlich die Sinnhaftigkeit einer Geschichte – in diesem Falle sogar: ihre Moral – arbiträr ist und je nachdem anders ausfällt, wer sie erzählt, wo er Anfang und Ende seiner Teleologie wählt und was er in ihrem Verlauf als blinde Flecken ausspart. (Dass es im übrigen just zwei Juden sind – man könnte sagen: zwei Sachwalter der autoritativen Schrift und ihrer Deutung –, die hier auf die

15 Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 103.

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Unzuverlässigkeit tradierter Erzählmuster und ihre möglichen Lesarten ‚gegen den Strich‘ verweisen, scheint mir auch als Vorverweis auf die im weiteren Romanverlauf – u.a. in der Isaak-Paraphrase, aber eben auch in der Hiob-Kontrafaktur – angewandte Technik der variierenden, Informationslücken mal aufreißenden und mal füllenden Neuschreibung alttestamentlicher Prätexte bedeutsam.)¹⁶ Inhaltlich wiederum nimmt der Roman an dieser Stelle eine Haltung ein, auf die das Hiobbuch schlussendlich hinausläuft: Die Gleich-Wertigkeit zweier konträrer Varianten über das Ergehen des böse Handelnden – einer, in der er belohnt, und einer, in der er bestraft wird – bedeutet die Aufkündigung des altweisheitlichen Konzepts. Biberkopf indes hält es just ab diesem Moment für gültig. Und dies, obwohl ihm  – das zweite Missverständnis  – im Folgenden die zweite Erzählung der Juden, das Gleichnis vom fliegenden Ball, explizit die Lehre von der Nicht-Beeinflussbarkeit des Ergehens durch eigenes Tun liefert: „Der Ball, seht, der fliegt nicht, wie Ihr ihn werft und wie man will, er fliegt ungefähr so, aber er fliegt noch ein Stückchen weiter und vielleicht ein großes Stück, weiß man, und ein bisschen beiseite“ (S. 36). Diese Didaxe betont, wenn man so will, einen zweiten Aspekt von Kontingenz: Warnt die dualistische Präsentationsweise der Zannowich-Geschichte vor allzu simplen Zugängen bei der Deutung der gegenwärtig vorfindlichen – also immer auch: der erzählten vergangenen – Weltsphäre, so betont die Ball-Geschichte die Unkalkulierbarkeit der individuellen Handlungssphäre, bezogen auf die Zukunft. Doch Biberkopf ignoriert auch dies: „Mein Ball fliegt gut.“ (ebd.)

16 Schrader vergleicht die Änderungsverfahren, die Döblin der Hiobs- und der Isaak-Geschichte angedeihen lässt, und liest beide Passagen im kontrastierenden Verbund als poetologisches Bekenntnis: „Der göttlichen Autorität, unter der sich das verschweigende Erzählen der alttestamentlichen Geschichte vollzog, stellt sich der autonome schriftsteller kritisch entgegen. […] Die Hiob-Dichtung tritt aus biblisch- traditioneller Epik, wie sie besonders die Genesis vorbildet, heraus. Der argumentative Charakter, die poetisierende Erhöhung und Differenzierung der Sprache unterscheiden sie vom autoritären Gestus mosaischer Faktensammlungen […]. Erst Hiob und Kohelet opponieren gegen das verbergende Erzählen unter dem Bilderverbot eines tyrannischen Gottes. Die Hiob-Geschichte dient der (erzählenden) Erprobung des Erzählens selbst in der Krisensituation. Im selben Maß, in dem Biberkopfs Leid unter den sich häufenden Ankündigungen der drohenden Vernichtung zunimmt, schreitet Hiob in seinem ausgesprochenen Zweifel fort zu einer theologischen Katastrophe, die in Kohelet zu denken ist […]. Wie Hiob innerhalb seines religionsgeschichtlichen Kontexts eine theologische Krise repräsentiert, bezeichnet er in Döblins Montage die ‚Krise des Romans‘.“ Schrader, (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 120 f. In völliger Anerkennung dieser These bleibt gleichwohl zu fragen, warum Schrader die Döblinschen Änderungsverfahren nur im Falle der Isaak-Geschichte fokussiert, im Falle der Hiob-Passage indes, die ihr Kernthema ist, stärker das widerständige Potential des Prätextes betont denn das, was Döblin aus ihm macht.

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Die Problematisierung des erzählerischen Zufalls ist gleichzeitig die Problematisierung der Darstellbarkeit einer alle Partikularität aufhebenden Sinnerfülltheit des Ganzen. […] die Säkularisierung des Zufalls als historischer Prozeß ist zu verstehen als der allmählich sich durchsetzende Verzicht auf Darstellung dieser Sinnerfülltheit, als allmähliches Zurücknehmen der erzählerischen Objektivation von Totalität.¹⁷

Auf der Ebene der Biberkopf-Handlung nun kommt zur Geltung, was Nef (an anderer Stelle) erzählpoetologisch meint: „Die Anwendung eines Ordnungsprinzips erst ruft Zufälle ins Leben.“¹⁸ Mit seiner irrigerweise beanspruchten Selbstbestimmtheit ruft Biberkopf die übermächtige Kontingenz erst auf den Plan. In drei Anläufen wirft er seinen Ball, der dann dreimal anders fliegt als gedacht. Seinen Eintritt in ein neues Leben als organisierter Handelsvertreter („Ordnung […] sonst kann man eben nicht arbeiten.“, S. 80) vollzieht er unter Berufung auf die Juden: „Mir haben da kluge Leute geholfen, … Leute mitm Kopp …. Die Hauptsache ist, Kopf haben, und dass man ihn gebraucht, und dass man weiß, was um eenen los ist, dass man nicht gleich umgeschmissen wird.“ Radikale Autarkie und Moral, vereint im „Kopp“ als Zentrum dessen, was wir mit Haug die ‚subjektive Kontingenzzone‘ nannten, also eines (in diesem Fall minimalen, nämlich nur zwischen Gut und Böse unterscheidenden) Freiheitsspielraums: Das sind die Leitlinien, die Biberkopf unter irriger Berufung auf das ihm Erzählte für ausreichend hält, um sich in der Kontingenz der Welt zurechtzufinden. Mit Blumenbergs defensivem Mythenbildungskonzept gesprochen: Franz flüchtet sich in den Glauben an den Tun-Ergehen-Zusammenhang als ein – wenngleich säkularisiertes – mythologisches Narrativ, das ihm eine Abwehrstrategie gegenüber der als bedrohlich wahrgenommenen Überkomplexität seiner Lebenswelt bietet und ihm – zwecks ‚Entlastung vom Absoluten‘  – „Vertrautheitsbedingungen“¹⁹ gewährt. „[L]ieber nischt mit die andern haben. […] anständig bleiben und for sich bleiben. Das ist mein Wort.“ (53) „Nee, was du denkst, unterm Tisch, von hinten rum, is nich. Ehrlich, Otto, anständig, auf reelle Art“ (92) – so proklamiert er jenem Kollegen gegenüber, der ihn bald darauf hintergehen wird. Biberkopfs Entwicklung flankiert der Text mit gelegentlichen palintextuellen Bibel- und speziell Hiobreferenzen auf der Mikroebene, die bislang teilweise noch unidentifiziert geblieben sind: So leitet bereits der erste Jude – der ‚Braune‘ – die Moral seiner Erzählung mit den Worten „ … ich will Euch fragen … “ (S. 18) ein: Ein fernes Echo auf die Rede, mit der Jahwe aus dem Wettersturm heraus („Ich will

17 Nef, Ernst: Ernst: Der Zufall in der Erzählkunst. Bern 1970, S. 115. 18 Nef, Ernst: Die Zufälle in der „Geschichte vom Franz Biberkopf“. In: Wirkendes Wort 18 (1968), S. 249–258; S. 249. 19 Blumenberg (vgl. Kap. 1, Anm. 17), S. 137.

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dich fragen, lehre mich!“ Hiob 38,3) Hiob einer irrigen Selbstüberhöhung zeiht, wie sie sich Biberkopf (eine Inversion auch dies) erst ab diesem Moment zuschulden kommen lässt. Die Phase seiner guten Vorsätze ironisiert der Erzähldiskurs nicht nur durch – etwa – eine Paradiesszene von ausgestellter Naivität,²⁰ sondern auch mit einer  – extern fokalisierten, aber unzweideutig Biberkopfs Selbsteinschätzung paraphrasierenden – Allusion auf Hiob als Gerechten: „Da brachte es Franz Biberkopf, der edle Dulder, über sich, im Hintergrund zu bleiben“ (S. 64), wird Franzens Passivität beschrieben, während seine Freundin handgreiflich sein Geschäftsverhältnis mit einem Distributor pornographischer Schriften beendet. Und wenn der Held gleich im Anschluss als „der freudig behinderte Dulder Franz“ apostrophiert wird, so ist dies gewiss auch als Wertung seiner selbstgewählten Unmündigkeit zu lesen. Mit dem ‚ersten Schlag‘ nun, dem Betrug durch Lüders, bekommt Franzens Vorsatz zwar Risse. („Er merkt, sein Vorsatz, so einfach er ist, muß irgendwo fehlerhaft sein.“, S. 105). Die aber bewegen ihn nicht zu einer Revision der Prämisse, sondern zu einer der Konklusion: „Es wird nicht mehr gearbeitet“ (S. 115). Biberkopf verlässt den Bereich der ‚Anständigkeit‘ im Sinne des Gesetzes („Er wollte anständig sein, aber da sind Schufte und Strolche und Lumpen“, S. 129 [Hervorhebung C.H.]), bewahrt ihn sich jedoch im charakterlichen Sinne („Wenn du was weißt, da sind Kriminals, geh doch hin, kannst was verdienen.“ „Laß mir mit die zufrieden. Ich hab noch keenen verpfiffen. Können alleene arbeiten, kriegen ja Geld dafür“, S. 130); noch sein Versuch, Reinhold von seiner Sucht nach Frauen zu heilen, geschieht unter dem Motto: „Wir schaffen Ordnung in der Welt“ (173). Dem Leser hat indessen bereits eine weitere Genesis-Reminiszenz, die genannte, dicht und ironisch an Biberkopfs Selbsteinschätzung vorbei-fokalisierte Paradiesszene aufgreifend, verbildlicht, dass und wie die geordnete Sphäre der guten Vorsätze stets anfällig ist für den Einbruch der Kontingenz: „Und so hat Eva dem Adam den Apfel gegeben, und wäre der Apfel nicht vom Baum gefallen, hätte Eva nicht rangelangt, und der Apfel wäre nicht an Adams Adresse gekommen.“ (S. 131.) So heißt es zur Episode vom Hausmeister Gerner, der durch einen Gelegenheitsdiebstahl in kriminelle Kreise abgleitet: Und was hier auf poetologischer Ebene erneut das Verfahren der Um- und Neuschreibung alttestamentlicher Narreme vorführt – denn in der Genesis ist das Motiv für den Sünden- bekanntlich alles andere als ein schwerkraftbedingter Zufall –, das führt zugleich, weil es im unmittelbaren Kontext die exkulpatorische Sicht Gerners auf sein eigenes

20 „Und das Paradies war der herrliche Garten Eden. Blumen und Bäume wuchsen hier, Tiere spielten rum, keiner quälte den anderen. Die Sonne ging auf und unter, der Mond tat dasselbe, das war eine einzige Freude den ganzen Tag im Paradies. So wollen wir fröhlich beginnen […]. S. 37.

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Tun spiegelt, zugleich jenen moralisch flexiblen Dezisionismus vor, der das allgemeine Handeln der Menschen in Biberkopfs Umfeld kennzeichnet und dem jeder Glaube an (und erst recht jeder Anspruch auf) einen kalkulierbaren Zusammenhang von Schuld und Sühne bzw. Tugend und Verdienst durchaus abgeht. Biberkopf indes schließt – dieweil im Erzählerdiskurs die Dichte direkter Bibelzitate zunimmt, die eine differenziertere Weltsicht nahe legen: so die Klage Jeremias „Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt“ (S. 175 und 189) und die weisheitskritischen (!) Kontingenzdiagnosen aus dem Buch Kohelet, vgl. S. 127 und 316 – selbst nach dem ‚zweiten Schlag‘ nicht auf die Ungültigkeit seiner Prämisse. Was er stattdessen implizit vollzieht, ist der Schluss auf die Gültigkeit einer abweichenden Art von Tun-Ergehen-Zusammenhang, einer gleichsam inoder auch pervertierten: Der ‚Verkehrte-Welt‘-Diagnose Hiobs in seiner ‚Phase 3‘ vergleichbar, lautet die Erkenntnis nun: „Unrecht Gut gedeihet gut“ (S. 191). Signifikant eine Bemerkung Franzens, als er sich mit einem Bekenntnis zur kriminellen Energie erneut jenen Kreisen um Reinhold andient, von denen er wissen könnte, dass sie ihm nicht zuträglich sein werden, und in der er den Verlust seines Arms selbst als Umschlagspunkt wertet: „Ich dachte, ich will anständig sein. […] Meinen Denkzettel, den siehste. Wenn du den weg hast, dann hörste auf mit Zeitungshandeln und mit noch mehr“ (S. 281). Und er verweist auf sein Vor-Vorleben als bestrafter Totschläger: „Das war noch mein guter Arm, der das gemacht hat“ (ebd.). Von Franzens ersten Vorsätzen bis hin zum Verfall in eine pathologische Passivität, die von den Ärzten als ‚Stupor‘ gedeutet wird, lässt sich das Reiz-Reaktions-Schema, das den Verlauf der Biberkopf-Handlung ausmacht, als eine in groben Zügen ‚zwingende‘ finalistische Kausalkette werten. Die erkenntnisfördernde Katharsis durch den Dialog mit dem Tod indes, die dem Helden am Ende zuteil wird, steht in keinem erwartbaren Zusammenhang mehr zum Voraufgegangenen. Der Schlusspunkt der Biberkopf-Teleologie, gleichsam der unvorhersehbare letzte Hüpfer, den der fliegende Ball macht, geht nur qua eines Gnadenakts des Erzählers zu Gunsten des Helden aus: Kontingent auch dies. Wie das Hiobbuch, so endet Berlin Alexanderplatz mit einer epiphanischen Wettersturm-Situation, in der dem Helden qua Autorität ‚von oben‘ eine Revision seines Weltbildes aufgenötigt wird: Und strukturanalog zum Hiobbuch, führt auch sie ihn schlussendlich zu einer Verortung außerhalb des Koordinatensystems, innerhalb dessen er sich zuvor zu orientieren versucht hatte. Doch ist es hier – ganz konträr zum Hiobbuch – die Revision nicht eines überreflektierten Selbstverortungsversuchs unter dem Vorwurf der kämpferischen Hybris, sondern die eines unterreflektierten unter dem Vorwurf ‚viehischer‘ Passivität. Wohl kann man mit Langenhorst eine Analogie formulieren: In beiden Erzählungen erwächst „[d]ie Möglichkeit zur Lebensbejahung […] allein aus dem Verzicht auf

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einsehbare Grundstrukturen.“²¹ Doch ist jener Verzicht, den Jahwe Hiob aus dem Wettersturm aufnötigt, die Rückstufung eines Anspruchs differenzierter Intelligibilität auf den Zustand der Demut. Worauf hingegen Biberkopf verzichtet, indem er lernt: „Man fängt nicht sein Leben mit Worten und guten Vorsätzen an, mit Erkennen und Verstehen fängt man es an und mit dem richtigen Nebenmann“, das ist ein mechanistisch simplifizierender Weltzugang, wie ihm im Hiobbuch eben nicht der Protagonist, sondern seine Dialoggegner anhängen. Hiob bleibt im Rahmen eines als unverbrüchlich erscheinenden Ordnungsverhältnisses anfangs passiv und gibt seine Duldungsbereitschaft erst mählich auf, je mehr das fortdauernde Beharren seiner Dialogpartner auf der alten Ordnung ihm deren Kontrafaktizität vor Augen führt. Biberkopf indes hat sich im Rahmen einer von vornherein als ungeordnet und daher bedrohlich erscheinenden Weltzone aktiv und per Vorsatz für eine Lebenspraxis entschieden, angesichts deren Kontrafaktizität er mählich in die Passivität verfällt. Das Weltbild, dem er bis zu seinem ‚Purgatorium‘ verhaftet bleibt, ist sehr wohl ein Konstrukt zur Kontingenzbewältigung und Komplexitätsreduktion – jedoch kein bestimmbares mythisches oder religiöses. Bekenntnisse des Glaubens an ein bestimmtes Gottes- oder Götterbild äußert Döblins Held nicht. Täte er es, wäre aber auch das Thema des Romans verfehlt: Es würde bedeuten, dass sich sein Held seines Verhaftetseins an ein bestimmtes Weltbild bewusst wäre, an einen theoretischen Überbau, aus dem sich bestimmte (potenziell: untaugliche) Regeln der Lebenspraxis ableiteten. Tatsächlich aber besteht sein Weltbild ausschließlich aus Regeln der Lebenspraxis, aus jenen „Worten und guten Vorsätzen“, die ihm als primäre (und selbstvollzogene) Setzungen solange nicht zu überprüfen und zu ändern in den Sinn kommt, wie er sie nicht von der Meta-Ebene aus betrachten kann. Korrekt ausgehend vom Befund einer Welt maximaler Kontingenz im Sinne von Unübersichtlichkeit, hatte er den Fehlschluss gezogen, der Mensch könne sich anhand eines minimalen Entscheidungsspektrums subjektiver Kontingenz (Gut/Böse) darin zurechtfinden. Tatsächlich muss er erkennen: Die subjektive Kontingenzzone, die Handlungs- und Bewirkbarkeitszone, die dem Menschen des frühen 20. Jahrhunderts zu Gebote steht, ist so riesig, dass sie anhand einfacher Moral oder Antimoral nicht beherrschbar ist. Was vielmehr nötig ist in einer Welt, in der die Zone des Unverfügbaren nicht mehr durch eine ‚vertragsfähige‘ transzendente Instanz geregelt wird, sondern in der die Menschheit als dicht interagierendes Zivilisationskollektiv dieses Vakuum sowohl mit einer – Zufälle generierenden – Überfülle parallel ablaufender und sich überkreuzender Narrative ausgefüllt als auch mit einem Überangebot konkurrierender Sinnoptionen – was

21 Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 103.

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in ihr also nötig ist, ist die Bereitschaft des Einzelnen, auf seine eigene Stellung in diesem Gefüge eine intersubjektive Sicht einzunehmen. Nur so kann ihm jene ausdifferenzierte – und eben nicht mehr nur binäre – Entscheidungsfindung gelingen, die sein Überleben sichert.

8 Hiob-Lyrik im 20. Jahrhundert: Drei kontrastive Lektüren 8.1 Entäußerung und Selbstfindung: Karl May und Yvan Goll 8.1.1 Karl May: Hiob (um 1905) Dass an die Texte Karl Mays (1842–1942), zumal die seines Spätwerks, bis in die jüngste Zeit gerne rein psychologische und positivistische Deutungen herangetragen werden, liegt nicht nur daran, dass ein Gutteil der Forschung aus Liebhaberei betrieben wird, sondern hat seine Rechtfertigung im Gegenstand: Die wechselseitige Spiegelung von Biographie und Textproduktion ist für den späten Karl May eine Prämisse des poetologischen Selbstverständnisses – aus denselben biographischen Gründen, die, wie (unter Aufgriff der Prämisse) gezeigt werden soll, hinter der Wahl der Hiob-Rolle für das Subjekt des zu behandelnden Gedichts stehen. Hiob Schlage mich! Peinige mich! Aber ich komme! Ich komme hinauf zu dir langsam, stetig. Jede Stunde der Qual sende ich dir empor, Jede Stunde der Verzweiflung. So komm ich: Stück für Stück, nach und nach. Aber wenn mein letzter Schrei zu dir gestiegen ist, dann bin ich ganz bei dir, ganz, ganz! Dann werde ich ganz versammelt sein, ganz, ganz. Und dann trete ich vor dich hin und fordere mich von dir, mich, mein Leben, meinen Glauben, mein Glück, alles, alles, was du mir gibst, um es mir wieder zu nehmen. Dein Geben war Schein, nur Trug und List, Dein Nehmen aber war Wirklichkeit. Dann ringe ich mit dir, ich, ich! Mit dir!¹

1 Zit. nach Stolte, Heinz: Hiob May. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1985. Husum 1985, S. 63–84.

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Das Nachlass-Gedicht Hiob wurde erstmals 1923 veröffentlicht. Von der zu Lebzeiten in der religös erbaulichen Sammlung Himmelsgedanken (1900) gedruckten, formstrengen Lyrik Mays unterscheidet es sich durch Reimlosigkeit und freien Rhythmus. Diese Merkmale sowie die direkte Anrede des Transzendenten und die vertikale Rederichtung sind eng an den Gestus der goetheschen Hymnendichtung angelehnt. Während im Vokabular und den im Ton beschwörend-sehnsüchtiger Emphase duplizierten Ausrufen („ich komme! / Ich komme“, Z. 2f.; „ich, ich!“, Z. 19) das Vokabular aus Goethes Ganymed anklingt, evoziert die Redehaltung die kampflustige, oppositionelle Attitüde des Prometheus. Die topischen Gesten der Demut (Hiobs ‚Phase 1‘) und der Anklage (‚Phase 3a‘) – deren Polarität im biblischen Prätext zwar nicht logisch oder psychologisch vermittelt, aber doch dadurch gemildert wird, dass sie einander abwechseln und in einem temporal durchlaufenen Reflexionsprozess nur die gestischen Extreme auf der Ausdruckskala sind – werden in Mays Gedicht auf neuartige Weise zusammengedacht. Mays Hiob hat seinen festen selbstreflexiven Standpunkt von Anfang an inne; der Text expliziert seine Prämisse, die ein Hadern im Sinne der ‚Warum‘-Frage obsolet macht: Gott ist ambivalent. Peiniger und Erlöser sind zwei Emanationen des selben Gottes; dies begründet Heilsgewissheit und lässt als einzig mögliche Fluchtbewegung zu, auf diesen Gott zuzustreben. Bruchlos fallen in dieser Haltung die demütige Hinnahme des Leidens, die aus christlicher Heilsgewissheit entspringt, und die gleichzeitige Entschlossenheit zum Ringen mit Gott in eins. Hiob nimmt irdische Qualen bewusst auf sich  – und tut insoweit dem Motiv des frommen Dulders Genüge. Die christliche Verheißung des jenseitigen Lebens an der Seite Gottes freilich, das die irdischen Qualen belohnen wird, ist bei May die Verheißung einer künftigen Gleichrangigkeit mit dem transzendenten Gegenüber, das den Sprecher des Gedichtes in der Gegenwart peinigt. Die direkte Anrede des Gegenübers sanktioniert dieses zwar als ein präsentes und wirkendes Wesen, setzt sich aber bereits ab dem ersten Wort hinweg über den stillen Gleichmut des christologisch gedeuteten Dulder-Hiob, der von Gott ehrfürchtig in der dritten Person spricht. Vielmehr sieht sich Hiob im irdischen Leben einem langwierigen, von Gott gelenkten Transsubstantiationsprozess unterworfen, der in Schlägen und Peinigungen besteht, ihn im Ergebnis aber gottähnlich machen wird. Die Restitution („dann werde ich ganz versammelt sein“) wird angestrebt, fällt aber nicht in die Immanenz, sondern mit dem Tode zusammen. Nicht in der Immanenz und zur Klärung der Ursachen, sondern im Jenseits und als Folge seines Leides in einer jenseitigen Zukunft wird der dann fällige Prozess mit Gott auf gleicher Augenhöhe stattfinden können.

Entäußerung und Selbstfindung: Karl May und Yvan Goll   

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„Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle“:² Diese nachmals geflügelten Worte findet Karl May in einem Brief, der vom 15. April 1897 datiert. Diese Sorglosigkeit, mit der der Abenteuerschriftsteller  – aus ärmlichen Verhältnissen zu großer Popularität gelangt  – seine in ‚Ich‘-Form geschriebenen Reiseromane gegenüber der Leserschaft als authentische Erlebnisberichte ausgibt, muss er vom Jahre 1899 an bereuen. Eine bis zu seinem Tode 1912 nicht abreißende Serie von Gerichtsverfahren, ausgelöst durch Fragen des Urheberrechts und publizistische Angriffe, macht den Autor und eine Fülle von Details aus seinem tatsächlichen  – teilweise kriminellen  – Vorleben zum Thema der Sensationspresse. Spott und den Vorwurf der Jugendgefährdung ziehen ‚obszöne‘ Szenen seiner frühen Kolportageromane auf sich. Unter diesen Bedingungen³ ergibt sich für die Produktion Mays ein Dilemma: Die Identifikation seines Roman-‚Ich‘ mit der eigenen Person kann und will er in bisheriger Form nicht aufrechterhalten; sie vollends abzustreifen, hindert ihn andererseits der Erwartungsdruck eines Publikums, das von nun an jede seiner (fiktionalen wie nichtfiktionalen) Äußerungen am Maßstab moralischer Integrität des Autors misst. Die angestrebte gesellschaftliche Rehabilitierung kann May von der seiner Produktion nicht mehr trennen. Die Texte seines letzten Lebensabschnitts setzen die literarische Selbststilisierung fort, freilich nun mit apologetischer Stoßrichtung: May definiert sein bisheriges Werk als Zeugnis eines moralischen Läuterungs- und handwerklichen Vervollkommnungsprozesses, final orientiert auf ein in beiden Aspekten überzeugendes Alterswerk  – eine Konstruktion von Linearität, mit der sich ex post gleichermaßen die literarischen Makel im Werk wie die ‚moralischen‘ im Leben erklären lassen. Konsequent im Sinne der Prämisse einer Einheit von Leben und Werk ist, dass May den Prozess der ‚Emporläuterung‘ sowohl zum autobiographischen Sinnstiftungsmuster als auch zum Thema seiner weiteren Produktion macht  – und durch Rückprojektion auch zum Thema der bisherigen. Seine erfolgreichsten Reiseromane will er nun als topographisch ausgeführte Allegorien seelischer Läuterung gelesen wissen: Sie nennen mich einen Aufschneider und wohl gar noch anderes und Schlimmeres. Du lieber Gott! Kein Mensch hat so wenig Grund und Lust aufzuschneiden wie gerade ich! Das

2 Zit. nach Wollschläger, Hans: Karl May in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1965, S. 91. Zur Datierung vgl. S. 196, Anm. 152, im selben Band. 3 Hinzu treten die Eindrücke einer Orientreise, die den Autor mit vorgeblich längst erkundeten Romanschauplätzen erstmals realiter konfrontiert hat.

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‚Ich‘, in dem ich schreibe, das bin doch nicht ich selbst, sondern das ist die Menschheitsfrage, die ich personifiziere, um sie beantworten zu können.⁴

Vollends zur weltumspannenden, didaktischen Mythologie, die die im Reisen vollzogene ‚Emporläuterung‘ der individuellen Menschenseele hin zur Gottähnlichkeit mit einer kosmopolitischen Versöhnungsutopie unterlegt, baut May dieses Thema fortan in offen allegorischen Reiseromanen aus. Der Mir von Dschinnistan (1907) kündigt sich im Waschzettel als „glückverheißende Beantwortung aller gegenwärtig aufgeworfenen Menschheitsfragen“⁵ an. Schauplatz ist eine psychomythologische Seelenlandschaft, deren Semantik sowohl seelische Innenräume spiegelt als auch soziale und ethische Hierarchien: Der einzige Kontinent des Sterns Sitara gliedert sich in das Tiefland Ardistan, ‚Land der Gewalt- und Egoismusmenschen‘, und das Hochland Dschinnistan, ‚Land der Edelmenschen‘.⁶ Der aufsteigende Weg ist gefahrvoll und führt durch ein Purgatorium namens ‚Geisterschmiede‘ im Zwischenreich Märdistan, die erklärtermaßen „die Tiefen des Herzens“⁷ symbolisiert und in der die ‚Geister‘ der Reisenden einer qualvollen Reinigungstortur unterzogen werden. In Mays 1910 erschienener Autobiographie Mein Leben und Streben⁸  – zugleich ‚Prozessschrift‘ und Programm der Selbstmythifizierung  – trägt die „Lebensmythologie, in der May seine Welterfahrung allegorisierte[,] […] ihre Ordnung in das Leben zurück, aus dem sie gewonnen war“.⁹ May setzt seine Lebensbeschreibung unter das Vorzeichen des allegorischen Märchens von Sitara, das dem ersten Abschnitt vorangestellt ist, die Raumkulisse des Mir von Dschinnistan zusammenfasst und so den Lebensweg des Autors mit einer missionarischen Reise gleichsetzt. Zu gehen haben den Weg von Ardistan nach Dschinnistan nur Prädestinierte: Eine transzendente Instanz erteilt Missionen an die „Seelen aller bedeutenden Menschen, die geboren werden sollen“.¹⁰ Davon, ob sie anschließend einem Engel oder Teufel begegnen, hängt ab, in welchem der beiden Länder sie geboren werden:

4 May, Karl: Meine Beichte. In: May: „Ich“. Karl Mays Leben und Werk. Bamberg 371985. S. 15–20; S. 18. 5 Vgl. Stolte, Heinz, in: Ueding, Gert (Hrsg.): Karl-May-Handbuch. In Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 308–320 s. v. „Ardistan und Dschinnistan I–II“, S. 315. 6 May, Karl: Mein Leben und Streben. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim/New York 1975, S. 2. 7 May (vgl. Anm. 6), S. 4. 8 Ursprünglich vorgesehen war erst der Titel „Am Marterpfahl und Pranger“, später „Das Problem Karl May“. Vgl. Wollschläger, Hans, in: Ueding (s. Anm. 5), S. 565–570 s. v. „Mein Leben und Streben“, S. 566. 9 Wollschläger (s. Anm. 8), S. 566. 10 May (vgl. Anm. 6), S. 6.

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Die Seele, welche das Glück hat, auf einen Engel zu treffen, wird in Dschinnistan geboren, und alle Wege sind ihr geebnet. Die arme Seele aber, welche einem Teufel in die Hände fällt, wird von ihm nach Ardistan geschleppt und in ein umso tieferes Elend geschleudert, je höher die Aufgabe ist, die ihr von oben mitgegeben wurde.¹¹

Das Kapitel „Meine Jugend“ knüpft an mit der Einleitung: „Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren“.¹² Man kann sagen: Die Konstellation war unglücklich. Und auch im Folgenden, noch hinaus über die astrale Eröffnungsmetaphorik – und einen Buchtitel, der Empirisches und intellektuelle Errungenschaften zusammenspannt – folgen Mays Auswahl und Betonung prägender Bildungserlebnisse einer Topik, die auf Goethes Dichtung und Wahrheit zurückgeht,¹³ was die Jugendschilderungen des Weimarer Dichterfürsten als Folie, diejenigen Mays als Kontrafaktur erscheinen lässt. Stilisiert Goethes Exordium die Prädestination eines Kindes zu Ruhm und Einfluss, so stilisiert May ein „Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers“.¹⁴ Die implizite Polarisierung gegenüber einem literarischen Modellfall der Koinzidenz von Glück und Talent macht den Protagonisten Karl May zum Gegen-Modell eines Talentierten im Unglück. Gegen Ende des Textes,¹⁵ als May aus seinen Leiden und der zuvor daraus extrapolierten Prädestination eine Lebensaufgabe folgert, überführt er diese Polarität in ein Modell allegorischer Spiegelung der conditio humana im exemplarisch Auserwählten: Das Karl-May-Problem ist, wie das Problem jedes anderen Sterblichen, ein Menschheitsproblem im Einzelnen. Aber während die meisten Menschen nur dazu berufen sind, in ihrem kleinen, engen Kreise gewisse Phasen des Problems darzustellen, gibt es noch Andere, denen die schwere Aufgabe wird, ein Abbild desselben […] im Ganzen zu bilden. Die Vielen stellen Menschheitsteile, die Wenigen aber stellen Menschheitsbilder dar. […] Den Wenigen […] ist die Tugend und die Sünde, die Reinheit und der Schmutz der ganzen Menschheit in gleichem Verhältnisse wie dieser zugeteilt […] [i]hnen ist nicht das wohltuende Glück der unbewussten Mittelmäßigkeit beschieden. […] Sind sie stärker als das Leben und sind sie im Glücke geboren, so werden sie in stolzer Ruhe ihre leuchtenden Bahnen

11 May (s. Anm. 6), S. 6. 12 May (s. Anm. 6), S. 8. 13 Etwa umfangreiche Leseerlebnisse in der Kindheit, die Initiation in die Kunst durch ein Puppentheater, das eingestrichene Lob für erste Dichtungsversuche, den Vater als Förderer und die Großmutter als Anlaufstelle bei Überforderung. Vgl. Schmied, Helmut: Karl Mays „Mein Leben und Streben“ als poetisches Werk. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1985, Husum 1985, S. 85– 101; S. 85 ff. 14 May (s. Anm. 6), S. 8. 15 Die narrativ-chronologische Lebensschilderung bricht nach episodischen Kindheits- und Jugendschilderungen zugunsten immer breiterer Exkurse ab, die den Vorwürfen der ‚Schundschriftstellerei‘, des Plagiats und des Katholizismus begegnen; zuletzt werden die Qualen der Prozesse ausgemalt.

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ziehen; kamen sie aber unter den Augen der Niedrigkeit […] zur Welt, so werden sie zwar ihr Ziel erreichen, weil sie es erreichen müssen, aber der Widerstand, den sie zu überwinden haben, wird ein […] unerbittlicher sein.¹⁶

Die Kumulation zahlreicher Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Einsamkeit und körperlicher Zerrüttung¹⁷ deutet Karl May als zwangsläufig – „Das war die Geisterschmiede meines Märchens“¹⁸ – und als schicksalhaften Auftrag, das exemplarische Leiden in schriftstellerische Produktivität mit didaktischem Impetus umzusetzen: „Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu tragen und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen und durchzukosten gibt; ich habe das nun in meiner Arbeit zu verwenden.“¹⁹ Das darin anklingende, bis zur eigenen Übernahme messianischer Aufgaben reichende Verständnis von imitatio Christi ist vereinbar mit einem überkonfessionellen „Glaubensbekenntnis“, das der Protestant May wenig zuvor in einer katholischen Zeitung hatte drucken lassen und das an die Grenze zum Pantheismus rührte.²⁰ Impulse zu einem (von christlichen Prämissen unabhängigen) „transcendenten Fatalismus“  – einem Prädestinationsmodell, das den subjektiven Eindruck ernst nimmt, dass „der Lebenslauf des Einzelnen, so verworren er auch scheinen mag, ein in sich übereinstimmendes, bestimmte Tendenz und belehrenden Inhalt habendes Ganzes sei, so gut wie das durchdachteste Epos“²¹  – hat May von Arthur Schopenhauer erhalten. Dessen Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen fand sich in Mays Bibliothek; die Schlusspassage ist eigenhändig angestrichen.²² „So geleitet dann“, heißt es darin,

16 May (s. Anm. 6), S. 300 f. 17 „Zehn Jahre lang täglich viermal ganze Stöße von Briefen und Zeitungen erhalten, die von Gift und Hohn und Schadenfreude überfließen, das hält kein Simson und kein Herkules aus. Geist und Seele sind stark geblieben. Mein Gottvertrauen und meine Menschenliebe sind nicht ins Wanken gekommen. Aber meinen Körper […] hat es endlich doch gepackt.“ May (s. Anm. 4), S. 19. 18 May (s. Anm. 6), S. 309. 19 May (s. Anm. 6), S. 319. 20 Darin heißt es: „Ich glaube an die göttliche Gnade, die diesen Heiland nun auch in unserem Inneren geboren werden läßt, um uns wie ihn durch Leid und Tod zur Auferstehung und Himmelfahrt zu führen.“ Zit. nach Stolte (s. Anm. 1), S. 79. 21 Schopenhauer, Arthur: Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen. In: Schopenhauer: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Ludger Lütkehaus. Bd. 4: Parerga und Paralipomena. Erster Band. Zürich 1988, S. 201–224; S. 206. 22 Vgl. Arend, Helga: „Das Karl-May-Problem ist … ein Menschheitsproblem“. Spuren der Schopenhauer-Lektüre in Karl Mays „Weihnacht!“ Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1999. Husum 1999, S. 129–147; S. 136.

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jene unsichtbare und nur in zweifelhaftem Scheine sich kund gebende Lenkung uns bis zum Tode […]. In der Stunde desselben drängen alle die geheimnißvollen […] Mächte, die das ewige Schicksal des Menschen bestimmen, sich zusammen und treten in Aktion. Aus ihrem Konflikt ergibt sich der Weg, den er jetzt zu wandern hat, bereitet nämlich seine Palingenesie sich vor […]. – Hierauf beruht der hochernste, wichtige, feierliche und furchtbare Charakter der Todesstunde. Sie ist eine Krisis, im stärksten Sinne des Wortes, – ein Weltgericht.²³

Ähnlich Goethes Ganymed, schildert Mays Hiob den Vorgang der eigenen Apotheose aus der Innensicht. In ihrer Bewegung spiegelt sich Ambivalenz in der gestischen von liebender Sehnsucht und polemischer Energie (Hiobs ‚Prozessbitte‘, Phase 3a). Insofern wird ein sofortiger Tod zur Beendung des Leidens (‚Klage‘, Phase 2) nicht angestrebt, weil auch die künftigen Leiden als Wegmarken der Restitution unabdingbar sein werden.

8.1.2 Yvan Goll: Hiob (1948) So gewagt die Gegenüberstellung erscheinen mag: Biographisch gesehen teilt Yvan Goll (1891–1950) mit Karl May immerhin eins, nämlich einen lebenslangen Hang zur Selbststilisierung vermittels mythischer Rollenmuster. Zweisprachigkeit und das herumgestoßene Exil-Leben zwischen vielen Ländern und Religionen führten bei Goll – „durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet“ – zu einer „tiefen Lebensunsicherheit“ und der „stets neu gestellten Frage nach der eigenen Identität“,²⁴ das ihn – anders als May – zur Zurücknahme des eigenen Namens und ins Versteckspiel mit einem halben Dutzend Pseudonymen trieb.²⁵ Den folgenden Text schrieb Yvan Goll (1891–1950), an Leukämie erkrankt, 1948 im Straßburger ‚Hôpital Civil‘ – im Zusammenhang einer Reihe von etwa 30 motivverwandten Gedichten, darunter einigen Vorstufen, die 1960 in der von Claire Goll redigierten, einbändigen Werkausgabe erschienen.

23 Schopenhauer (s. Anm. 21), S. 224. 24 Schwandt, Erhard: Mythische Selbstdarstellung in der Lyrik Yvan Golls. In: Colloquia Germanica 2/3 (1970), S. 232–247; S. 233. Die Selbstcharakterisierung Golls, verfaßt für Kurt Pinthus’ Anthologie Menschheitsdämmerung, ist ebenfalls zitiert nach Schwandt, S. 232. 25 Vgl. Schwandt (vgl. Anm. 24), S. 233.

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Hiob Das ist mein Schmerzenskreis Mein Sein wird wieder Element Verwandelt sich zum Märchen der Muschel Ich bin geadelt zu Nessel Bin verzaubert zu Stein Sieh! Aus meinem braunen Aug rieselt der Honig Durch meine Hände blitzt der grüne Eidechs Tastet der zarte Fühler der Schnecke So kehr ich zurück zu den Statuen Die nur von innen vernehmbar sind Das Echo von Seherstimmen tönt Aus der Höhle meiner Brust Meine Lust ist verteilt an blaue Falter Meine Trauer an dunkles Nachtgetier Verfallen ist die Kuppel Sodoms Doch ihre verlorenen Vögel Beginnen auf mir zu schlafen O einen Schlaf so dünn wie ein Halm Aus dem am Morgen der Geist erblüht Oder ein klagendes Lied.²⁶

Die erste Strophe beginnt mit einer nüchternen, deiktischen Formel, die einen „Schmerzenskreis“ präsentiert. Es ist anzunehmen, diese Metapher fasse einen im weiteren Text beschriebenen Prozess zusammen. Dass der Kreisprozess eine stete Metamorphose und sein aktuelles Stadium eines der Regression ist, führt Z. 2 aus: „Mein Sein“ endet und „wird wieder Element“. Illustriert wird dies mit einem klimaktischen Dreifach-Parallelismus von Umschreibungen, die den Vorgang der Metamorphose in zunehmend positiv besetzte Verben²⁷ fassen (Z. 3–5): Das „Sein“ geht auf in einem „Märchen der Muschel“, wird also als orale Erzählung einem Naturding beigeordnet, das es tradieren und reaktivierbar machen wird; die Muschel gilt im Ergebnis einer vielsträngigen Symboltradition²⁸ als Ort des Gebärens. Indem die Metamorphosen-Aufzählung mit ihrem zweiten Teil das Satzsubjekt „Mein Sein“ ablöst und in die erste Person wechselt, evoziert sie ein Auseinandertreten von ‚Ich‘ und ‚Sein‘ in separaten Transformationen. Diejenige des ‚Ich‘ führt über die Formel „geadelt zu Nessel“ (Z. 4); damit wird dem Schmerz

26 Goll, Yvan: Dichtungen. Lyrik – Prosa – Drama. Hrsg. von Claire Goll. Darmstadt 1960, S. 588. 27 Vgl. Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 173. 28 Vgl. Biedermann, Hans: Knaurs Lexikon der Symbole. München 1998, S. 296–297 s. v. „Muschel“.

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(ähnlich wie bei der Dornenkrone Christi) eine nobilitierende Kraft zugeschrieben, vermöge derer sich das schmerzempfindende Ich in ein Bild des Schmerzes verwandelt. Die botanische Metonymie der schmerzerzeugenden Pflanze und die poetologische²⁹ Metapher des Blattes, das den Schmerz reaktualisiert, fallen zusammen. Abgeschlossen ist die Transformation dann im Bild der Versteinerung (Z. 5). Unterstrichen durch die zweite deiktische Formel „Sieh!“, betont nun ein weiterer Dreifach-Parallelismus (Z. 6–8) die vollzogene Versteinerung des Ich; er belässt diesem Ich körperliche Attribute und ordnet diesen weitere Naturdinge zu. Die Metapher vom ‚Honig‘, der dem versteinerten ‚Aug‘ entspringt, ist vielschichtig: Die Assoziation von ‚Träne‘ und ‚Honig‘ variiert die Schmerzensthematik und ordnet dem Leid eine verheißungsvolle Wirkung zu: Der Schmerz des Vergehens wird in neuer Materialität zur Quelle süßer Nahrung. Die bildhafte Zuordnung von ‚Honig‘ und ‚Felsen‘ entstammt dem Alten Testament, wo sie zweimal, jeweils im Kontrast zur Undankbarkeit Israels, die väterliche Fürsorge Jahwes für sein Volk illustriert.³⁰ Die Verbindung von ‚Felsen‘ und ‚Träne‘ schließlich lässt an die rührende Wirkung auf Naturdinge denken, die dem Lied des Orpheus zugeschrieben werden  – als Matrix verschiedener Zuordnungsmöglichkeiten changiert dieses Bild. Allemal aber hebt es hiermit die verschiedenen Zeitperspektiven, die die jeweiligen Deutungen mit ihren jeweiligen Ursache-Folge-Relationen an es herantragen, wechselseitig auf ins Präsens der Synchronizität, womit der Vorgang der Versteinerung ein Äquivalent auf der Textebene erhält: die Komplexität der Bildlichkeit wird ihrerseits zum Bild dauerhafter und fruchtbarer Erstarrung. Hierzu passt einleuchtend Langenhorsts Lesart von ‚Eidechs‘ und ‚Schnecke‘ als eines Gegensatzpaars, das seinerseits den Faktor der Zeit aus dem Text neutralisiert, diesmal im Bilde der unterschiedlich schnellen Bewegungsabläufe: Die „in Gegensatzbildern angesprochene Naturdimension der Zeit“ werde „in die Dimension des Raumes“³¹ überführt. Beide Tiere zählen überdies (wie die Muschel) zum Motivbereich der Rekreation – aufgrund analoger Verhaltensweisen, die sie in der Tradition christlicher Naturallegorese zu Verweisfiguren für die Auferstehung haben werden lassen.³² Mit den weiter unten im Text genannten ‚Faltern‘ 29 Ob es angebracht ist, hier mit der Spitzfindigkeit der Celan-Exegese vorzugehen und im Wort ‚Nessel‘ ein Anagramm zu ‚lesen‘ zu sehen, sei als Option dahingestellt. 30 „Er ließ ihn einherfahren über die Höhen der Erde und nährte ihn mit den Früchten des Feldes und ließ ihn Honig saugen aus dem Felsen“ (5 Mos 32,13); „und ich würde es mit dem besten Weizen speisen / und mit Honig aus dem Felsen sättigen“ (Ps. 81,17). 31 Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 173. 32 Die Eidechse vermittels ihrer Häutung, ihres Winterschlafs und ihres nachwachsenden Schwanzes, die Schnecke, indem sie ihr Haus während Kälteperioden mit einem Kalkdeckel versiegelt. Vgl. Biedermann (s. Anm. 28), S. 112 s. v. „Eidechse“ und S. 390 s. v. „Schnecke“.

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und ‚Vögeln‘ und der im Honig metonymisch präsenten Biene hat der ‚Eidechs‘ die Zuschreibung gemeinsam, Inkorporation der Seele zu sein.³³ Spiegelsymmetrisch zur zweiten Zeile, die die Regression des ‚Sein‘ ins ‚Element‘ zum Thema hatte, beschreibt die vorletzte Zeile der ersten Strophe die Regression des ‚Ich‘ – als Heimkehr „zu mir zurück“, verglichen mit „Statuen / Die nur von innen vernehmbar sind“. Ein komplexes Bild: Unter den Natursymbolen stechen die „Statuen“ als Artefakte heraus, und die Form von Rezipierbarkeit als ebensolcher, die ihnen zugesprochen wird, ist zweifach kontraempirisch: „von innen“ (statt von außen) und akustisch (statt optisch oder haptisch). In den Konnotationen der Innerlichkeit, Hermetik, Synästhesie und des Kunstcharakters steht dieses Bild vom Rückzugsziel des ‚Ich‘ parallel zum „Märchen der Muschel“, dem Rückzugsziel des ‚Sein‘ in Z. 3: Beide überdauern als der Natur hinzu- und eingefügte Kunstdinge. Zeitübergreifende Gültigkeit für dieses Artefakt beanspruchen die ersten Zeilen der zweiten Strophe: Als Resonanzraum widerhallender „Seherstimmen“ (Z. 11) dient die „Höhle meiner Brust“ (Z. 12) und aktualisiert mithin (im Sinne ihrer Einlösung?) Prophetien aus der Vergangenheit. Die zuvor in ihr ansässigen Affekte ‚Lust‘ und ‚Trauer‘– gleichwertig gesetzt durch eine parallele Anordnung (Z. 13/14) – haben sich in der Außenwelt auf komplementäre Naturdinge verteilt, sind gewissermaßen verflogen. In den Zeilen 15–20 wird das zuvor dominierende Verfahren der parallelisierenden Aufzählung zugunsten einer zeilenübergreifenden Assoziationskette von Metaphern aufgegeben, deren jede an die vorangegangene anknüpft, womit sich eine stufenweise Steigerung des Abstraktionsgrades ergibt. Das Bild der „Kuppel Sodoms“ ist der erste und letzte Verweis auf (zumal die ‚Kuppelei‘ anklingt) moralische Wertungskategorien der Schuld und Sühne – deren Verbindlichkeit freilich im ‚Verfall‘ suspendiert ist. Einen möglichen Bildzusammenhang zwischen ‚Kuppel‘ und ‚Vögeln‘ zeigen Parallelstellen in anderen Goll-Texten an, in denen die „Kuppel Sodoms“ als Chiffre einem Schädel gleichgesetzt wird,³⁴ und wieder andere, die den Schädel des Dichters als Ei und die Gedichte als ihm entschlüpfende Vögel metaphorisieren.³⁵ Der Hervorbringungszusammenhang zwischen Kuppel und Vogel setzt sich nun fort: die Vögel „schlafen  / […] einen Schlaf“, der wiederum, einem ‚Halm‘ gleich, ‚Geist‘ oder ‚Lied‘ erblühen lässt. Nun ist das Endprodukt des ‚Schmerzenskreises‘ genannt: das Gedicht selbst, in dessen reaktualisierender Lektüre der Kreis sich weiterdreht. Artefakt und Naturraum ruhen als zeitenthobene Gedächtnisträger in sich.

33 Biedermann (s. Anm. 28), S. 112 s. v. „Eidechse“. 34 Vgl. Langenhorst (s. Kap. 1, Anm. 6), S. 172. 35 Vgl. Schwandt, Erhard: Das poetische Verfahren in der späten Lyrik Yvan Golls. Untersuchungen zur Genesis und Poetik. (Diss. masch.) Berlin 1968, S. 165.

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Yvan Goll schrieb diesen Text  – wie die anderen Versionen, die in polemischem Gebetston an einen ‚unsicheren Gott‘ gerichtet sind und bilderreich sowohl die Intensität körperlichen Leidens als auch Todessehnsucht artikulieren, sich also vergleichsweise stärker an Bildlichkeit und Klageton des Hiobbuchs orientieren – in seinen letzten Lebensjahren. In der hier besprochenen Fassung, die als die chronologisch letzte gilt und in der sich – mit Langenhorst zu sprechen – eine „Existenz [äußert], die die Protestphase bereits überwunden und sich mit ihrem Sterben ausgesöhnt hat“,³⁶ beschränkt sich der zitathafte Bezug zum Hiobbuch auf das Bild des Steins; dieses ist freilich entscheidend: Programm ist hier die Selbstreferenzialität des von Hiob geäußerten Wunsches nach Textualisierung und Verewigung der Klage im Stein – doch geht es bei Goll nicht mehr um die Dokumentation eines bestimmten Falls von ungerechtfertigtem Leiden zum Zwecke späterer Neuverhandlung und Rehabilitation, sondern um die Instanz des Dichters als solchem. „Trost ist dem Dichter, dass Hiob zum Dichter geworden ist.“³⁷ Die Metamorphose des stückweisen Eingehens in die Natur entstammt dem Orpheus-Mythos. Bereits in seiner expressionistischen Zeit hatte Goll sein poetologisches Selbstverständnis an die Rolle eines ‚Neuen Orpheus‘ geknüpft: In modifizierender Fortsetzung der Orpheus-Konzepte Novalis’, Hölderlins und Rilkes³⁸ trug dieser Orpheus Züge eines Dichter-Messias, der in wechselnder Gestalt die wartende Menschheit (im Bild Eurydikes) aus der Unterwelt erlöst; nach 1920 freilich hatte Goll, enttäuscht von der politischen Folgenlosigkeit der Bewegung, diese Utopie und die damit verbundene Attitüde ironisiert und die Metamorphosen der Mythengestalt als Selbstzweck eines Zirkuskünstlers lächerlich gemacht.³⁹ Die „Tendenzen einer mythischen Stilisierung der eigenen Existenz“,⁴⁰ die in der Unbehaustseinserfahrung des deutsch-französischen Juden gründen, kondensierten sich in der Zeit seines Exils im Gedichtzyklus Jean sans Terre: Johann Ohneland als Protagonist eines nihilistischen „Mythos vom unbehausten und gescheiterten Menschen jenseits von Hoffnung und Erlösung“.⁴¹ Unter dem Eindruck der Todesnähe schließlich entstehen die Hiob-Gedichte; im vorliegenden bündeln sich unter dem Namen Hiobs die verschiedenen mythischen Selbststilisierungen Golls zu einer Synthese. 36 Hiobs Schrei in die Gegenwart. Ein literarisches Lesebuch zur Frage nach Gott im Leid. Hrsg. von Georg Langenhorst. Mainz 1995, S. 66. 37 Oberhänsli-Widmer, Gabrielle: Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Neukirchen-Vluyn 2003, S. 268. 38 Vgl. Schwandt (s. Anm. 24), S. 234. 39 Vgl. Schwandt (s. Anm. 24), S. 235 ff. 40 Schwandt (s. Anm. 24), S. 233. 41 Schwandt (s. Anm. 24), S. 247.

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Dominierender Gegenstand des Gedichts ist der Prozess der orpheischen Metamorphose, die zugleich die Heimkehr eines Unbehausten in die Elementarwelt ist. Aus dem Text selbst ergibt sich kein zwingender Verweis auf die biblische Hiob-Figur. Nur der Paratext, indem er ihren Namen dem Gedicht vorausstellt, zwingt zur erhöhten Aufmerksamkeit für Verweise auf die Implikationen dieses Namens. So erhalten die Motive des Schmerzes, des Steins und der Klage eine erhöhte Prominenz, weil in ihnen gemeinsam Hiobs Wunsch nach Sinnstiftung nachklingt, und so wiederum erhält der Metaphernkreis ‚Orpheus‘ – gewissermaßen als Gegenpol zur Überschrift – die Qualität einer Antwort auf diesen Wunsch. Orpheus und Hiob ergänzen einander: Das Kunstprodukt ist Legitimation des Leids und das Leid Legitimation des Kunstprodukts.

8.1.3 Hiob bei May und Goll Der direkte Vergleich zwischen dem Hiob-Gedicht Karl Mays und dem Yvan Golls profiliert die Funktionen, in die die Hiob-Figur darin jeweils gestellt wird, als durchaus unterschiedlich. Gemeinsam ist, dass beide den bei Günther angedeuteten und von Heine erstmals konsequent beschrittenen Weg einer privatisierenden autobiographischen Aneignung des Hiob-Mythos gehen und einzelne Aspekte der (infolge der Aufklärung dogmatisch unverbindlich gewordenen) Figur mit Versatzstücken nichtbiblischer Mythenfiguren zu einer Sprecherrolle amalgamieren. Jeweils wird aus Hiob eine Identifikationsfigur, die das Paradox der „Selbstfindung in der Selbstentäußerung“⁴² zusammenzudenken und der individuellen Erfahrung von Leid und Todesnähe einen Sinn einzuschreiben gestattet. Jeweils wird der qualvolle Auflösungsprozess des ‚Ich‘ durch Sinnstiftung zum Exempel überhöht. Doch sind die Stoßrichtungen dabei verschieden. In Karl Mays Text äußert ein kämpferisch duldender Hiob den dezidierten Willen, Leid zu ertragen. Das Gedicht lässt sich als Teil einer Sinnstiftungs-Strategie auffassen, mit der Karl May die kränkende öffentliche Demontage seiner autofiktionalen Verortung im (trivial-)literarischen Feld seiner Zeit durch neuerliche autofiktionale Stilisierungen zu absorbieren versuchte. Wohl kaum veranlasst, aber doch bestätigt durch Schopenhauers Thesen zur nachträglichen Erkenntnis einer Linearität im Lebenslauf, stilisierte May aus einer Abfolge zurückliegender und aktueller Leiderfahrungen eine Dichter-Identität, die Leben und Werk integrierte und sowohl selbsttherapeutischen als auch apologetischen Zwecken gerecht wurde: einen transzendenten Lebensauftrag zur Leidsublimierung in Form

42 Schwandt (s. Anm. 24), S. 244.

Entäußerung und Selbstfindung: Karl May und Yvan Goll   

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didaktisch-erbaulicher Literatur. Seine autobiographische Selbststilisierung zum leidenden Dichter arbeitet auch mit der Biographie Goethes als Kontrastfolie. Die Rolle eines Übersetzers von Biographie in Literatur ist eine mediale Rolle zwischen passiver Duldung und aktiver Kreativität. In Mays Hiob-Gedicht spiegelt sich diese Medialität in einer Hiob-Interpretation, die zwei bei Goethe komplementäre Figuren zusammenführt – den passiv in den Himmel gehobenen, gottesliebenden Ganymed und den aktiven, zum Kräftemessen mit Gott bereiten Menschenschöpfer Prometheus. In diesem impliziten Verweis auf kreative Ansprüche des ‚Ich‘ freilich erschöpft sich die poetologische Dimension des Gedichts auch schon; vordringlich beschreibt es die Selbstentäußerung des ‚Ich‘ als Apotheose, als lineare Aufwärtsbewegung mit dem Fluchtpunkt eines personal gedachten Gottes. Zu Konstituenden seines ‚Ich‘ erklärt Hiob die Attribute eines frommen und glücklichen Erdenlebens, deren stückweise Entziehung den bevorstehenden Tod bedeutet; dieser indes wird nur als Umschlagspunkt gedacht, von dem aus eine symmetrische Rekonstitution des ‚Ich‘, eine neue Selbstfindung im Ringen mit Gott erfolgen wird. Der Aufspaltung der Hiob-Figur in Ganymed und Prometheus liegt ihre topische Ambivalenz zugrunde: Auf originelle Weise ist Mays Hiob Dulder und Rebell zugleich. Einerseits hat er unter dem Druck des Leidens seine Glaubensprämissen zurückgestellt, andererseits erhofft er sich durch die Ableistung des Leidens ihre Rückerstattung. Ohne personales Gegenüber  – vom Leser abgesehen  –, mithin auch ohne einen Fluchtpunkt außerhalb des Gedichts und ohne den Anspruch einer Selbstrechtfertigung beschreibt Yvan Goll die Transsubstanziation eines ‚Ich‘ in den Organismus der Natur hinein, der zugleich der Text des Gedichts ist. Der Name Hiobs fungiert hier als Inbegriff des existenziellen Schmerzes, des Wunsches nach dessen Verewigung im Gedächtnis der Schrift und nur noch als Nachklang einer bereits überwundenen Sinnfrage; überwunden ist sie durch den produktiven Aspekt der Selbstauflösung nach dem poetologischen Muster des Orpheus. Am Ende des Gedichtes wird eine ‚Restitution‘ nicht in Aussicht gestellt, sondern sie ist bereits vollzogen: „Hiobs Ich“ ist „als Geschehensträger neutralisiert und der Vorgang selbst zum Inhalt der Aussage“⁴³ geworden. Treibt May den Individualismus der Hiob-Rolle im Angesicht des Todes kämpferisch auf die Spitze, so ist für Golls Hiob das Leiden ein Prozess des Rückzugs aus der Individualität in die Verteilung. Doch unabhängig vom jeweiligen Gestus erweist sich bei May wie bei Goll letztlich die Bindung an ein gemeinsames Epistem: An die Autonomie des genialischen, schöpferischen Subjekts, das sich selbstbewusst in die Sphäre des Transzendenten einzuschreiben vermag. Indiziert ist diese Gemeinsamkeit

43 Schwandt (s. Anm. 24), S. 244.

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durch die Verquickung des Hiob-Topos mit Prometheus bzw. Orpheus im Medium der Rollenlyrik: Analogisierte Günther die Topoi des ‚Leidenden Gerechten‘ (Hiob) und des ‚Leidenden Dichters‘ (Ovid) noch als eher defensives Mittel zur Selbstrechtfertigung in einem anrüchigen Berufsstand, so sind Dichtertum und ‚Gerechtigkeit‘ bei May und Goll äquivalent geworden. Es ist nicht mehr der Dichter, der sich für seine Tätigkeit rechtfertigen muss – vielmehr ist sie es, die ihn rechtfertigt.

8.2 Dialoge nach Auschwitz: Nelly Sachs und Paul Celan Hatte der Barockdichter Günther noch relativ freie Hand, anhand einer individuell leidenden Figur alte und neue Gottesvorstellungen und -zweifel experimentell zu kombinieren, so scheint die Situation gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kaum noch eine andere Möglichkeit zu lassen, als sämtliche religiösen und säkularen Paradigmen miteinander auf den Prüfstand zu setzen. Humanistische, geschichtsoptimistische und aufklärerische Prämissen sind relativiert durch Auschwitz, das für die Negierung von Leben und Individualität ebenso steht wie für eine Potenzierung individueller Leidenserfahrungen hin ins Unaussprechliche; auch scheint diese Katastrophe gleichermaßen jeder christlichen Vorstellung eines gütigen Gottes wie dem jüdischen Glauben an einen geschichtsimmanenten, mit Israel im Bunde stehenden Gott Hohn zu sprechen: Was für ein Gott konnte es geschehen lassen? Hier ist nun einzuschalten, daß bei dieser Frage der Jude theologisch in einer schwierigeren Lage ist als der Christ. Denn für den Christen, der das wahre Heil vom Jenseits erwartet, ist diese Welt ohnehin […] immer Gegenstand des Mißtrauens […]. Aber für den Juden, der im Diesseits den Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung sieht, ist Gott eminent der Herr der Geschichte, und da stellt ‚Auschwitz‘ selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage.⁴⁴

Auch das Sinnerfassungspotential der Sprache, spätestens seit Hofmannsthal und Wittgenstein auf dem Prüfstand, gerät mit dem Holocaust endgültig in die Krise: Dem industriellen Massenmord Sinnhaftigkeit einschreiben zu wollen, hieße dessen Zynismus zu affirmieren. „Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes Wort ein Zuwenig und ein Zuviel“,⁴⁵ schreibt 1946 Margarete Susman. Für das Schreiben jüdischstämmiger Autoren, die den Holocaust überlebten, gewinnt

44 Jonas, Hans: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt/M. 1987, S. 13 f. 45 Susman, Margarete: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Zürich ²1948, S. 11.

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das Hiobbuch – zumal als Bestandteil der hebräischen Bibel, in der mancher der zwangsweise auf ihr Judentum Zurückgeworfenen nun Selbstvergewisserung sucht – umso stärker an Relevanz. Zum einen legt sein Thema, das Leid des Unschuldigen, die Figur Hiobs als Identifikationsfigur nicht mehr nur des Einzelnen, sondern des ganzen jüdischen Volkes nahe: Jüdische Geschichte wird, vom Ende her gesehen, zu einer Geschichte der Katastrophen, deren Schläge so unerbittlich und so unergründlich scheinen, daß sich als Analogie und hoffnungsvolle Erinnerung das Schicksal Hiobs anbietet.⁴⁶

Margarete Susman ist es, die erstmals – und heftig umstritten – eine biblisch bezogene Sinndeutung des Holocaust unternimmt und dabei – wie noch näher erläutert werden soll – die Exemplarizität der Hiob-Geschichte als Analogie zu der des jüdischen Schicksals herausstellt. Zum anderen bietet gerade das Buch Hiob ein Modell für die literarische Artikulation des eigentlich Unartikulierbaren. Die zuvor nur punktuell (etwa in Melvilles Moby Dick) aufgegriffene Erzählsituation des Überlebenden – in der nicht Hiob selbst, aber die Boten seines Unglücks reden: „Und ich allein bin entronnen, daß ich dir’s ansagte“ (1,15–19) – wird nun gleichermaßen zum Movens und Modus des Redens. Der Holocaust aktiviert ein Moment des Schreibens als Verpflichtung aus dem Entronnensein: Der Zeuge, der als Entronnener redet, ist […] niemals nur Subjekt und niemals nur Objekt; der Erzähler, der als Entronnener spricht und schreibt, wird niemals ‚seinen Stoff beherrschen‘. Das Zeugnis des Entronnenen kann in keiner Sinnkonstruktion aufgehen; er redet  […] von dem, wovon man nicht reden kann und doch reden muß. […] Eine solche Konstruktion ist das Hiobbuch als ganzes. Jenseits der Konstruktion von Sinn und Zweck wird vom Ende des Leidens, eines Leidens, erzählt.⁴⁷

In je eigener Weise fühlten sich Nelly Sachs (1891–1970) und Paul Celan (1920– 1970) durch ihr Überleben zur Literatur verpflichtet.

8.2.1 Nelly Sachs: Hiob (1949) Das Gedicht Hiob stammt aus Sternverdunkelung, dem 1949 erschienenen, zweiten Gedichtband Nelly Sachs nach In den Wohnungen des Todes (1947). In den Gedichten beider Bände, in denen Sachs „auch versucht hat, als gläubige Jüdin dem

46 Schrader, U. (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 199. 47 Ebach (s. Kap. 2, Anm. 5), S. 23.

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Leiden einen Sinn zu stiften“,⁴⁸ richtet sich ein wechselndes (mitunter chorisches Kollektiv-)Ich dialogisch an Ermordete, Täter und Überlebende des Holocaust und an Instanzen der hebräischen Bibel und Mythologie. Kennzeichen der speziellen Religiosität Nelly Sachs’ ist ein  – über Gershom Scholems und Martin Bubers Popularisierung der Kabbala und des Chassidismus bezogenes – Vertrauen auf Gottes ‚funkenhafte‘ Präsenz in der unerlösten Welt⁴⁹ und auf die Schöpfungsmacht der göttlich inspirierten Sprache: Gemäß dem Buch Sohar bilden zehn Urzahlen (‚Sefirot‘) die Keimzelle der Schöpfung, deren weitere Entwicklung mit der Ausdifferenzierung der Worte untrennbar verbunden ist. „Der Kreislauf der Zerstörung und Wiedererschaffung der Welt vollzieht sich in Martyrium und Wiederbelebung des Menschen und der Sprache.“⁵⁰ Durch ihre verknüpfende Arbeit am Wort gewinnt literarische Produktion so den Charakter eines priesterlichen Amtes und – nach der ‚Sintflut‘ des Holocaust – eine besondere Verantwortung für die Bergung, Wiederbelebung und Vermittlung des im ‚Wort‘ artikulierten Aufrufs an das Volk Israel. Das Alphabet ist das Land, wo der Geist siedelt und der heilige Name blüht. Es ist die verlorene Welt nach jeder Sintflut. Sie muß von den Schlafwandelnden mit Zeichen und Gebärden hereingeholt werden, bis […] das ertrunkene Wort gerettet [ist],⁵¹

sagt Nelly Sachs, und: „Was sollten wir anderes noch auf der Welt, wozu noch aufgespart, wenn nicht diesem Ruf folgen…“⁵²

48 Schrader, U. (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 177. 49 Der Chassidismus sieht Gott als „Ort der Welt […] Da Gott in der Welt wohnt, muß die Berührung mit der Welt sakralen Charakter haben. […] Die Frage nach der Wirklichkeit des Bösen wird abgewiesen oder umgedreht in die Frage nach Unvollkommenheit und Makel in der Welt. […] Das erschaffende göttliche Feuer strömt in aller Fülle über die ersten ‚Urgeschöpfe‘, die als Gefäße bezeichnet werden. Diese Gefäße […] zerbrechen, und der Feuerstrom zersprüht in eine Unendlichkeit von Funken, die sogleich von ‚Schalen‘ eingeschlossen werden. So wurde die Welt mit Makel behaftet: nicht nur ist die Ganzheit zersplittert, die zersplitterten Teile befinden sich auch in Gefangenschaft. Die unvollkommene Schöpfung […] bedarf der Erlösung. Gott läßt jedoch seine leidende Schöpfung nicht allein; seine ‚Herrlichkeit‘ steigt herab zu den gefangenen Funken und […] wohnt in den Teilen der Welt, inmitten ihrer Unvollkommenheit und ihres Leidens.“ Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1992, S. 141 f. 50 Bahr, Ehrhard: Nelly Sachs. München 1980, S. 94 ff. 51 Zit. nach Wertheimer, Jürgen: „Ich und Du.“ Zum dialogischen Prinzip bei Nelly Sachs. In: Kessler, Michael und Jürgen Wertheimer: Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Tübingen 1994, S. 77–89; S. 79. 52 Nelly Sachs am 21.11.1947 an Richard Beer-Hofmann, zit. nach Pazi, Margarita: Jüdische Aspekte und Elemente im Werk von Nelly Sachs und ihre Wirkungen. In: Kessler, Michael und Jürgen Wertheimer: Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Tübingen 1994, S. 153–168; S. 161.

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Hiob ist Teil des Binnenzyklus Die Muschel saust, in dem (unter dem Bild der Muschel als „Erinnerungsort, wo das Verborgene gesammelt und zugleich erlauschbar ist“)⁵³ Protagonisten der hebräischen Bibel angesprochen sind, die die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes repräsentieren. Hiob O DU WINDROSE der Qualen! Von Urzeitstürmen in immer andere Richtungen der Unwetter gerissen; noch dein Süden heißt Einsamkeit. Wo du stehst, ist der Nabel der Schmerzen Deine Augen sind tief in deinen Schädel gesunken wie Höhlentauben in der Nacht die der Jäger blind herausholt. Deine Stimme ist stumm geworden, denn sie hat zuviel Warum gefragt. Zu den Würmern und Fischen ist deine Stimme eingegangen. Hiob, du hast alle Nachtwachen durchweint aber einmal wird das Sternbild deines Blutes alle aufgehenden Sonnen erbleichen lassen.⁵⁴

Der Ausruf in der ersten Zeile in Verbindung mit dem Titel macht es bereits deutlich: Der Text beklagt Hiobs Situation. Indes ist Hiob nicht selbst Klagender (und der Text insofern kein Rollengedicht), sondern Adressat; mit der Invokation der biblischen Figur in der Zweiten Person schlägt der Text einen hymnischen Gestus an. Auch die dreiteilige Bauform des Gedichts entspricht dem Grundaufbau des klassischen Hymnus.⁵⁵ Die erste Strophe widmet sich der Ausführung der Metapher „Windrose der Qualen“: Das Leid Hiobs, namentlich seine „Einsamkeit“, wird in die zeitliche und räumliche Unendlichkeit potenziert. Adressat ist also nicht der biblische Hiob, dem noch im Unglück eine Erinnerung an vorgängiges Glück zum Bezugspunkt des Duldens oder auch Rebellierens diente, sondern ‚Hiob‘ als zeitloses Prinzip dessen, der Leid auf sich zieht. Eine christologische Deutung des Leidenden als Erlöser ist insofern nicht in Sicht, als Hiobs Name zwar für den Mittelpunkt des

53 Gisela Bezzel-Dischner, zit. nach Schrader, U. (s. Kap. 1, Anm. 5), S. 184, Anm. 74. 54 Sachs, Nelly: Fahrt ins Staublose. Frankfurt/M. 1961, S. 95. 55 In Killys Literaturlexikon heißt es dazu: „auf die Anrufung der Gottheit usw. folgt ein epischer Teil, der von den Taten des/der Gepriesenen berichtet; den Abschluß bildet eine Bitte oder ein Gebet.“ Kühnel, Jürgen: Killys Literatur Lexikon Bd. 13, S. 197–200, s. v. „Elegie“; S. 197.

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Leides, nicht aber für sein freiwilliges oder stellvertretendes Aufsichnehmen steht. Unter zahlreichen möglichen symbolischen Konnotaten der „Rose“ finden sich mindestens drei, deren Kombination – wie sich zeigen wird – in Verbindung mit dem „Wind“ den Gegenstand des Gedichts bereits präzise eingrenzen: Das Schweigen (‚sub rosa‘), das Leiden und das Volk Israel.⁵⁶ In seinen raum-zeitlichen Formulierungen referiert der Text direkt auf das Hiobbuch: Das Bild der Windrose im Sinne einer alle Himmelrichtungen umfassenden Skala greift Hiobs Feststellung in 23,8–9 auf: „Aber gehe ich nun vorwärts, so ist er nicht da; gehe ich zurück, so spüre ich ihn nicht. / Ist er zur Linken, so schaue ich ihn nicht, verbirgt er sich zur Rechten, so sehe ich ihn nicht.“⁵⁷ Auch die „Urzeitstürme“ und „Unwetter“ stehen in prätextuellem Zusammenhang: „Wenn ich ihn auch anrufe, daß er mir antwortet, so glaube ich nicht, daß er meine Stimme hört,  / vielmehr greift er nach mir im Wettersturm und schlägt mir viele Wunden ohne Grund“ (9,16/17). Die Wahl der hier aufgerufenen Textstellen unterstreicht den Aspekt, auf den der Hiob dieses Textes reduziert wird: den der Gottverlassenheit. Die letztere Stelle evoziert zugleich die Theophanie im ‚Wettersturm‘, die dem biblischen Hiob letzten Endes die Zuwendung Gottes beweist. Dem Hiob des Gedichts indes hat sich der Sturm eben nicht als Medium der Antwort Gottes erwiesen, sondern nur als Grund und Perpetuierung seiner Einsamkeit. In noch deutlicheren Feststellungen – und weiterhin mit Primärtextbezug – kreist auch die zweite Strophe um das Ausbleiben (besser: das Ausgebliebensein) einer erlösenden Theophanie: Die körperlichen Spuren seines Leides verleihen Hiob das Aussehen eines lebenden Toten. Seine Augen sind „tief in deinen Schädel gesunken“ (6), infolge des Weinens, wie es der biblische Hiob von sich selbst sagt.⁵⁸ In der Analogisierung mit „Höhlentauben in der Nacht / die der Jäger blind herausholt“ (7/8) akzentuiert das iterative Präsens ein stetes, schutzloses Ausgeliefertsein. Zugleich ist hier eine kreisförmige Relation von Ursache und Wirkung des Leidens angezeigt: Das Leiden hat Hiob schutzlos gemacht, und seine Schutzlosigkeit fordert weiteres Leid heraus. Das Bild der Taube könnte auf die Funktion von Tauben als Opfertieren⁵⁹ rekurrieren, vor allem aber scheint mir die Konstellation von Jäger und Höhle, die Sachs hier vornimmt, im Werkkontext gesehen 56 Vgl. Biedermann (s. Anm. 28), S. 365–368 s. v. „Rose“ sowie: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“. Hrsg. von Jürgen Lehmann. Heidelberg 1997, S. 39 ff. 57 Vgl. Langenhorst (s. Kap. 8, Anm. 36), S. 218. 58 Vgl. das Hiobbuch: „mein Antlitz ist gerötet vom Weinen, und auf meinen Wimpern liegt Dunkelheit“ (16,16); „Unter Tränen blickt mein Auge zu Gott auf“ (16,20); „Mein Auge ist dunkel geworden vor Trauern“ (17,7). 59 „Bei den Juden war die Taube das bevorzugte Opfertier in der ärmeren Bevölkerung“. Biedermann (s. Anm. 28), S. 436–437 s. v. „Taube“, S. 436.

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einen sehr konkreten Verweis auf den Nationalsozialismus zu eröffnen: Während der Entstehungszeit des Gedichts arbeitete Nelly Sachs an einem Drama, in dem Nimrod, der „gewaltige Jäger“ (1 Mos 10, 8–12) und Tyrann mit unschwer zu entschlüsselndem zeitgeschichtlichen Signifikat, den jungen Gottsucher Abraham in eine Höhle verbannt.⁶⁰ Neben Hiobs Augenlicht ist auch seine Stimme gewichen – beides nicht nur körperliche Symptome der Vergeblichkeit des Wartens in der Vergangenheit, sondern auch Ausdruck von Erwartungslosigkeit gegenüber der Zukunft. Bekennt der biblische Hiob nach der zweiten Gottesrede: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen, aber nun hat mein Auge dich gesehen“ (42,5), so benötigt Sachs’ Hiob keine Augen mehr. Bleibt der biblische Hiob sieben Tage lang stumm, bevor die Klage aus ihm herausbricht, und gesteht er nach der ersten Gottesrede zu: „Siehe, ich bin zu gering, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen“ (40,4), so ist Sachs’ Hiob weder in Vorbereitung einer Klage verstummt noch infolge einer Gottesrede, sondern infolge seiner Klage und des Ausbleibens jeder Antwort. Seine Stummheit lässt diesem Hiob nicht nur keine Möglichkeit zu weiterer Artikulation, sondern wirft auch ein neues Licht auf die Kommunikationssituation des Gedichts selbst: Es eröffnet den Dialog mit einem, der nicht antworten kann. Dem Sprecher des Gedichts wächst also für die Artikulation des Leidens eine Stellvertreterfunktion zu: „Der Sprachgestus der Nelly Sachs ist […] eine Weise advokatorischen Sprechens, die eine Aneignung der Geschichte der Zur-Sprache-Wollenden durch den Sprechenden im Sinne hat.“⁶¹ Die dritte Strophe fasst zunächst Hiobs körperliche Versehrtheit noch einmal zusammen: „Zu den Würmern“ ist seine Stimme entwichen, also nicht nur in die Sphäre der Verwesung und der Wunde – sondern, wenn man die Implikationen einschlägiger Stellen des Bibeltextes dagegenhält, auch in eine Sphäre der Zeitlosigkeit diesseits der Geburt und jenseits des Todes.⁶² Die ‚Fische‘-Wendung hat – hierauf weist Birgit Lermen hin  – ein Äquivalent in einer autobiographischen

60 Das Drama sollte Der Mann aus Ur heißen und die Abraham-Legende in der Lesart Herders mit den Bedingungen der Nazi-Diktatur korrelieren. Sachs schreibt über ihre Pläne an Walter A. Berendsohn: „Ich sah den jungen Abraham, wie es die Sage erzählt, von Nimrod in eine Steinhöhle verbannt und zugleich stieg mir aus Steinen und Sternen gewoben, Abrahams […] Sehnsucht nach der einzigen Gottheit auf, […] während Nimrod auch der Gegen- und Todspieler wäre, der zur Gestalt des Unholdes unserer Zeit führen könnte.“ Vgl. Dinesen (s. Anm. 6), S. 165 ff. (Hervorhebung C.H.). 61 Krämer, Michael: „Wir wissen ja nicht, was gilt.“ Zum poetologischen Verfahren bei Nelly Sachs und Paul Celan – Versuch einer Annäherung. In: Kessler, Michael und Jürgen Wertheimer: Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Tübingen 1994, S. 35–67; S. 43. 62 „Das Grab nenne ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und meine Schwester“ (17,14); „Der Mutterschoß vergißt ihn; die Würmer laben sich an ihm“ (24,20).

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Briefpassage Sachs’,⁶³ sie ist darüber hinaus aber auch anschließbar an ihre Metapher vom ‚ertrunkenen Wort‘: Auch hierin klingt die Verpflichtung des Dichters an, verloren gegangene Artikulationsmöglichkeiten zu ‚retten‘. Dem Bibeltext wiederum entstammen die „Nachtwachen“,⁶⁴ die Transitivierung der Verbform „durchweint“ betont die raumgreifende Totalität des Leides. Mit der adversativen Wendung in der Mitte der letzten Strophe scheint der Text – an Hiobs statt – eine Prophezeiung artikulieren zu wollen, die dem Adressierten eine Hoffnung auf Trost oder Satisfaktion eröffnet. Gegenstand der Prophezeiung ist jedoch keine Restitution Hiobs durch Gott, sondern ein komplexes astralmetaphorisches Bild, das eher Verstörung auslöst denn Trost: Nicht etwa wird  – wie es die Konvention für eine sich eröffnende Hoffnung vorsieht  – die Sonne aufgehen, vielmehr werden „Sonnen erbleichen“⁶⁵ vor dem „Sternbild deines Blutes“ (14). Es ist die sprachmagische Evokation eines in mehrfacher Hinsicht kontraempirischen Vorgangs (ein Plural von Sonnen, die Tilgung ihrer Leuchtkraft durch Sterne), der die Hierarchie der Himmelskörper, die Trennung von Hell und Dunkel, mithin auch die Zeitordnung aufhebt. Ich sehe darin eine Kontrafaktur auf den Wunsch des biblischen Hiob (in seiner ‚Phase 2‘) nach einer Löschung seines Geburtsdatums aus der (kosmologisch definierten) Weltordnung: „Ihre Sterne sollen finster sein in der Dämmerung. Die Nacht hoffe aufs Licht, doch es komme nicht, und sie sehe nicht die Wimpern der Morgenröte“ (3,9).⁶⁶ Wünscht Hiob (an dieser Stelle) die Reharmonisierung des Kosmos durch Tilgung eines Datums der Vergangenheit und (an anderer Stelle) seine eigene Rechtfertigung in der Zukunft, so führt das Gedicht beide Zeit- und Trostdimensionen zusammen, indem es ein von Hiobs Schicksal ausgehendes, unübersehbares Zeichen prophezeit, in dem Anfang und Ende seines Leidens zusammen63 „Fünf Tage lebte ich ohne Sprache unter einem Hexenprozeß. Meine Stimme war zu den Fischen geflogen“, notierte Sachs über eine Stimmbandlähmung, die sie infolge eines Verhörs bei der Gestapo erlitt. Hierzu sowie zu Sachs’ sehr individueller, ebenfalls biografisch geprägter Fisch-Metaphorik, auf die Olof Lagercrantz hinweist, vgl. Lermen, Birgit/Braun, Michael: Nelly Sachs – „an letzter Atemspitze des Lebens“. (=Lebensspuren, Bd. 2.) Bonn 1998, S. 188 f. 64 „[…] und viele elende Nächte sind mir geworden“ (7,3). „Wenn ich dachte, mein Bett soll mich trösten, mein Lager soll mir meinen Jammer erleichtern, / so erschrecktest du mich mit Träumen und machtest mir Grauen durch Gesichte“, (7,13) „Des Nachts bohrt es in meinem Gebein, und die Schmerzen, die an mir nagen, schlafen nicht“ (30,17). 65 Dass hier als Anagramm, Assonanz und Wortfeld-Analogie das Wort ‚leichenblass‘ mitzulesen ist, kann m. E. gefahrlos postuliert werden – zumal sich Sachs zu einer assoziativ-automatischen Praxis beim Schreiben der Erstversionen ihrer Texte bekannte. Vgl. Bahr (s. Anm. 7), S. 118 f. 66 Modus dieses Wunsches ist der Optativ, seine Zeitrichtung die Vergangenheit, er formuliert die Verdunkelung der Sterne (hier klingt der Titel des Gedichtbands an!) durch das Ausbleiben der Sonne, deren Licht die Sterne reflektieren.

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fallen. „Konstellation“, so Walter Benjamin, „meint das diskontinuierliche und dialektische Zusammentreffen zweier ungleichzeitiger Momente, welches den Fluß der Zeit zum Stillstand bringt.“⁶⁷ Das Wort „Blut“ konnotiert (bzw. ‚konstelliert‘) überdies die Aspekte ‚Volksstamm‘ und ‚Martyrium‘, womit der Text auf die Repräsentanz dieses Zeichens für das ganze Volk Israel hinweist. In diesem Sinne wird man in Betrachtung der letzten beiden Gedichtzeilen über die Lesart Oberhänsli-Widmers hinaus, die „Hiobs Hoffnung […] auf eine apokalyptische Vision“⁶⁸ zulaufen sieht, auch eine eher plane politische Symbolik mit bedenken dürfen, der zufolge der Stern Davids, unter der Herrschaft des nazistischen Sonnenrades noch todbringendes Stigma, nach dessen Untergang zum Hoffnungszeichen der Überlebenden aufstieg. Gleichwohl behält das astralmetaphorische Paradoxon des Schlussbildes die Qualität einer Chiffre, in der sich Hiobs Leid neutralisiert findet. Der sprachlose Hiob dieses Textes, gestutzt sowohl um das Kontrastbild vergangenen Glücks als auch die Hoffnung auf künftige Restitution, kann weder Dulder noch Rebell sein. Sachs verortet ihn in einem Extremzustand, den der Prätext nicht kennt: Bereits jenseits der eskalatorischen ‚Phase 3a‘, in der Hiob die gottbestimmte Weltsphäre von schierer Willkür durchwaltet sah und seine eigene Handlungssphäre qua Sprachmacht so weit auszudehnen beanspruchte, um darin im Ringen mit Gott seine Rechte geltend zu machen – jedoch noch vor jener Restitution in ‚Phase 4‘, die im Hiobbuch schlagartig einsetzt und bei Sachs auf ewig suspendiert bleibt. Gottverlassen, wird Sachs’ Hiob zum zeitenthobenen, universalen Bild des Leidens und der Einsamkeit, in dem die Frage nach dem Grund keine Rolle spielt und Verwundung, Gefährdetheit, Schutz-, Stimm- und Hoffnungslosigkeit einander unaufhebbar bedingen. Als solches repräsentiert er das jüdische Volk. Prätext für diesen Repräsentationsgedanken  – und auch für die Metaphorik, in die Sachs ihn fasst⁶⁹ – ist so offenkundig Margarete Susmans Essay Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, dessen Thesen Sachs’ Gedicht teilweise aufgreift und die auch im Widmungsgedicht Paul Celans eine Rolle spielen, dass sie hier kurz referiert werden sollen.

67 Zit. nach Kilcher, Andreas: Der Sprachmythos der Kabbala und die ästhetische Moderne. In: Poetica 25 (1993), S. 237–261; S. 245. 68 Oberhänsli-Widmer (s. Anm. 37), S. 263. 69 Oberhänsli-Widmer übersieht diesen Bildbezug, obgleich sie zuvor die diskursbegründende Rolle Susmans für den Aspekt ‚Hiob als Deutefigur der Schoa‘ gründlich würdigt. Vgl. Oberhänsli-Widmer (s. Anm. 37), 229–248 sowie 262 ff.

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8.2.1.1 Exkurs: Margarete Susman Hiobs Leid, so Margarete Susman in ihrem 1946 erstveröffentlichten Text, bestehe in der Unverhältnismäßigkeit, mit der der ewige Gott sein endliches Leben bestrafe: Durch Gottes Abwendung – gemessen am Grad seiner vorherigen Präsenz in Hiobs Gegenwart, als noch „die Ewigkeit seine Zeit [füllte]“ – zeigten sich ihm nun „Gotteszeit und Menschenzeit radikal auseinandergerissen“,⁷⁰ andererseits knüpfe Gottes vernichtende Bedrohung weiterhin eine Beziehung zum Einzelschicksal Hiobs. Auf der erfolglosen Suche nach der Gerechtigkeit Gottes treffe Hiob zwar wirklich „auf eine verborgene Schuld seines Daseins“  – doch sei es nur die „menschliche Schuld schlechthin, an der auch er teilhat“.⁷¹ Da er sein Leben aber bewußt als ‚Gerechter‘ geführt habe, könne er nun  – im Gegensatz zu einem Sünder, der sich die Proportionen seiner Strafwürdigkeit ausrechnen könne  – keinen spezifischen Anteil an dieser Allgemein-Schuld erkennen, der eine solch unverhältnismäßige Bestrafung rechtfertige. Daher stelle sich die „hinterhältige Frage“: Ist am Ende gerade die Schuldlosigkeit Hiobs jenes allerdunkelste Geheimnis […], weil der, der die Schuld begangen und damit das menschliche Teil auf sich genommen hat, errettbarer ist als der, der sie um der Reinheit willen abgewiesen und sich so um des Göttlichen willen außerhalb des Menschlichen gestellt hat? Zieht so am Ende gerade der, der seine Schuld nicht eingegrenzt, seinen Anteil an ihr nicht eingelöst hat, das grenzenlose Ganze der Menschheitsschuld auf sich herab?⁷²

Im Zerreißen der Gemeinsamkeit mit den Freunden, die „den, den er verloren hat, […] als festen Besitz“⁷³ zu haben glauben, stehe Hiob radikal allein mit seinem Gott da. Und in dieser „letzten Einsamkeit“ beschleiche Hiob die Ahnung, daß Gott zwischen sich und ihm eine „fremde, unheimliche Macht zugelassen“⁷⁴ habe. Indem Susman nun Hiob in Relation zum jüdischen Volk setzt, setzt sie zugleich letzteres in Relation zur Menschheit. Gerade an dieser Stelle des Essays finden sich Bilder, die bei Sachs aufgegriffen, und Thesen, die bei Sachs verbildlicht werden: Moderne Skepsis gegenüber der mächtigen Präsenz Gottes werde „hinweggefegt von dem Sturm eines über die Jahrhunderte hinwegbrausenden Schicksals, das […] das Volk an seine Urzeit wieder anschließt“.⁷⁵ Aus katastrophalem

70 Susman (s. Anm. 2), S. 34. 71 Susman (s. Anm. 2), S. 39. 72 Susman (s. Anm. 2), S. 41 f. 73 Susman (s. Anm. 2), S. 43. 74 Susman (s. Anm. 2), S. 45. 75 Susman (s. Anm. 2), S. 80.

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Anlass neu betrachtet, würden die Analogien jüdischer Historie zum Hiobbuch sichtbar: Auch das Judentum, „Zentrum und Zeiger des Menschenschicksals“,⁷⁶ das in seiner Geschundenheit „weder wahrhaft dem Leben noch wahrhaft dem Tod“⁷⁷ angehöre, habe einst als „Segen der Völker“ (als auserwähltes Volk und Stifter ethisch-moralischer Paradigmen des Monotheismus) im Glanz Gottes gelebt, sei dann verstoßen worden und leide nun, gipfelnd im Holocaust, wie Hiob „für die Urschuld des Menschengeschlechts“.⁷⁸ Wie Hiob aber finde es  – eine Nicht-Nation, die ihre Sühne durch Exil und Zerstreuung längst abgeleistet habe – nun keinen Schuldanteil mehr an sich selbst und stehe in Einsamkeit vor einem grausamen Gott. Der Grund: Als sichtlich vom „Jahrtausende alten Ausnahmsschicksal geformter und entformter Menschentypus“ freilich ziehe es unter den ‚richtigen‘ Völkern, in denen es eigentlich längst aufgegangen sei, Hass auf sich – eine zirkuläre „Verflechtung von Schuld, Schuldlosigkeit und Schicksal“,⁷⁹ die sich als ungreifbare Macht, Satan gleich, zwischen Volk und Gott schiebe. Dieser Macht gegenüber lebe es „ohne Mauern in seiner offenen Höhle, deren Finsternis sein Antlitz verdunkelt“.⁸⁰ Zukunftsperspektive im Angesicht von Auschwitz und Hiroshima,⁸¹ des „Chaos der satanischen Weltzerstörung“, sei eine Rückbesinnung Israels auf seine Wurzeln: Die „letzte allein aus ihrem Sinn lebende Volksform“⁸² müsse den Auftrag wahrnehmen, auf die anderen Völker zuzugehen und seine Erfahrungen zu vermitteln. Es bleibe „gerade der heutigen an ihrem eigenen Wissen gescheiterten Menschheit allein die Demut des Fragers aus Abgrund und Chaos, der sein ganzes eigenes“ – nämlich selbstzerstörerisches und auf den Horizont der Lebenszeit begrenztes – „Wissen vor dem Abgrund des nicht mehr Wißbaren zerbricht“.⁸³ Im Bereich des Nicht-Wissbaren nämlich liege auch die paradoxe Hoffnung, dass – wie ex negativo aus dem Buch Hiob hervorgehe –

76 Susman (s. Anm. 2), S. 50. 77 Susman (s. Anm. 2), S. 51. 78 Susman (s. Anm. 2), S. 57. 79 Susman (s. Anm. 2), S. 60. 80 Susman (s. Anm. 2), S. 72. 81 Interessant ist mit Blick auf diesen Bezugspunkt Susmans Analogiebildung: „Das kleine […], für die Völkerwelt gänzlich belanglose jüdische Volk […] ist genau der Punkt, auf den die dunkle Macht den Finger gelegt hat, um von der Auflösung dieses winzigen Kernes aus die Auflösung der Völkerwelt und alles Menschlichen überhaupt zu betreiben“ – gemäß den „furchtbar erweiterten heutigen Methoden […], einen winzigen Kern zu beschießen, um eine Welt in die Luft zu sprengen“. Susman (s. Anm. 2), S. 48. 82 Susman (s. Anm. 2), S. 216. 83 Susman (s. Anm. 2), S. 216 f.

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„diese unsere dunkle, ganz von der Erlösung abgetriebene Welt der Erlösung am nächsten ist“.⁸⁴ „Zentrum und Zeiger des Menschenschicksals“ – in dieser Metapher könnte auch ein tertium liegen zwischen der „Windrose der Qualen“ und dem „Sternbild deines Blutes“ bei Sachs: Das Bild der Qual wird zum Bild der Erlösung. Nelly Sachs’ Gedicht artikuliert den bei Susman erhofften Umschlag von Gottferne in Gottnähe mit den Möglichkeiten der Astralmetaphorik, ohne Gott zu nennen. Von Martin Bubers ‚Dialogischem Prinzip‘ inspiriert, spricht es mit Hiob einen Repräsentanten des jüdischen Schicksals direkt an – in einem invertierten Hymnus, der statt der Taten des Angerufenen sein Leiden darstellt und statt einer Schlussbitte eine Prophezeiung unternimmt. Im Raum des Gedichts ist eine autonome Sinnstiftung auch jenseits des Plausiblen möglich – im paradoxen Himmelszeichen, das als Projektionsfläche einer (noch) ungewissen Hoffnung frei bleibt.

8.2.2 Paul Celan: Zürich, Zum Storchen (1960) Das Gedicht Zürich, Zum Storchen hat Paul Celan Nelly Sachs gewidmet. Es rekurriert auf ein Gespräch, dass die in Paris bzw. Stockholm lebenden Autoren – durch Briefkontakt einander bereits fünf Jahre lang verbunden – bei ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen am 25. Mai 1960 in Zürich geführt hatten.⁸⁵ Nelly Sachs schenkte Celan an diesem Tag drei Gedichtbände, darunter auch Sternverdunkelung, der ihren Hiob-Text enthält. Zürich, Zum Storchen Für Nelly Sachs Vom Zuviel war die Rede, vom Zuwenig. Von Du Und Aber-Du, von der Trübung durch Helles, von Jüdischem, von deinem Gott.

84 Susman (s. Anm. 2), S. 218. 85 Die Verleihung des Droste-Preises der Stadt Meersburg an Nelly Sachs stand bevor; Sachs, die in Deutschland nicht übernachten wollte, reiste von Stockholm aus nach Zürich, wo sie im Hotel ‚Zum Storchen‘, an der Limmat gelegen, gegenüber dem Münster logierte, und setzte per Schiff über den Bodensee nach Meersburg. Zu den biographischen Daten vgl. Dinesen (s. Anm. 6), S. 283–316, und Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie. München 1997, S. 206–211.

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Davon. Am Tag einer Himmelfahrt, das Münster stand drüben, es kam mit einigem Gold übers Wasser. Von deinem Gott war die Rede, ich sprach gegen ihn, ich ließ das Herz, das ich hatte, hoffen: auf sein höchstes, umröcheltes, sein haderndes Wort – Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, dein Mund sprach sich dem Aug zu, ich hörte: Wir wissen ja nicht, weißt du, wir wissen ja nicht, was gilt.⁸⁶

Der erste von fünf Abschnitten ruft eine vergangene Situation der „Rede“ auf. Mit „Zuviel“ und „Zuwenig“, „Du“ und „Aber-Du“ werden zwei Gegensatzpaare, sodann mit „der Trübung durch Helles“ eine oxymorontische Wendung als ihre Gegenstände genannt. In sich wirken sie ebenso elliptisch wie ihre konjunktionenlose Aufzählung, was zunächst verwirrt, dann aber (nachdem von Konkreterem, nämlich von „Jüdischem“ die Rede ist und mit „deinem Gott“ erstmals eine indirekte Ansprache erfolgt) den Eindruck weckt, hier werde ein Gespräch erinnert – aber nicht für Außenstehende in seinem Verlauf rekonstruiert, sondern für seine Teilnehmer anhand polarer Eckpunkte summiert. Diesen Eindruck bestärkt, dass das Gedicht eine Widmung trägt und eine Ortsangabe zum Titel hat. So indirekt freilich, wie der Adressat im ersten Abschnitt anhand seiner Gottgläubigkeit profiliert wird, so indirekt bringt sich eine Gegenposition ins Spiel, die den Glauben an „deinen“ Gott offenbar nicht teilt und von dem noch nicht sicher ist, wem sie zugehört: Ein ‚Ich‘ taucht nicht auf, und auch dort, wo ein ‚Du‘ als Redethema genannt wird, ist ihm als Gegenüber nicht die landläufige Erste Person zugeordnet,

86 Celan, Paul: Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull. Tübinger Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Wertheimer. Frankfurt/M. 1996.

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sondern ein „Aber-Du“ – das sich (nach dem Muster ‚abermals‘) als ein wiederholtes, vervielfältigtes Du auffassen lässt, zugleich aber auch (nach dem Muster ‚Aberglaube‘) als ein ‚falsches‘ Du. Der zweite Abschnitt nimmt zunächst mit einem resümierenden „Da-/von“ die erwähnten Redegegenstände wieder auf. Die künstliche Streckung der ersten Silbe des Wortes durch den (auch retardierend, gleichsam atemholend wirkenden) Zeilenumbruch unterstreicht einerseits den deiktischen Charakter des ‚da‘, andererseits könnte das Wort, in nur einer Zeile geschrieben, dem Leser eine Betonung der zweiten Silbe aufdrängen – was eine Lesart im Sinne von ‚vorbei, dahin‘ ergäbe. Die ungewöhnliche Worttrennung verhindert diese Implikation, hält sie aber – auf die gespannte Anstrengung verweisend, die zu ihrer Verhinderung nötig ist – zugleich präsent. Eine Zeit- und eine Ortskoordinate, die das Redegeschehen anschließend genauer datieren, evozieren den christlichen Diskurs, womit dem ‚Jüdischen‘ aus Abschnitt 1 ein Kontrast entgegentritt. Überdies eröffnen sie gemeinsam ein räumliches Feld aus Bewegungslinien und zugleich ein semantisches Feld der Begegnung und des Zueinanderkommen: Der Vertikalen „einer Himmelfahrt“ (durch den unbestimmten Artikel rückt sie aus dem kalendarischen Zusammenhang ins konkrete Erleben der Redenden, zudem wird eine Pluralität verschiedener Formen von ‚Himmelfahrt‘ als möglich angedeutet) tritt die Horizontale des Münsters entgegen, das von „drüben“ „mit einigem Gold übers Wasser“ kommt. Im ‚Kommen‘ klingt der jüdische Messias an, im Weg übers Wasser der christliche Erlöser. Dass das Gedicht mit „einigem Gold“, wie Thomas Sparr anmerkt, dem Lichtreflex auf dem Wasser eine „Konnotation des Erlesenen“⁸⁷ verleihe, scheint mir einer Ergänzung bedürftig: Wenn man ‚einig‘ als Adjektiv im Sinne von ‚einhellig‘ oder ‚gleichgesinnt‘ liest, kann das ‚Einige‘ jene Atmosphäre der Entrückung, die von der „Himmelfahrt“ evoziert wird, und der Epiphanie, in der das ‚kommende‘ Münster erscheint, um die Konnotation der unio mystica oder auch des Pfingstwunders bereichern.⁸⁸ Als reine Mengenangabe im Sinne von ‚allerhand Gold‘ gelesen, nimmt sich Celans Formel hingegen eher ironisch und relativierend aus. Alles in allem bündelt der zweite Abschnitt in positiver Atmosphäre ein gemeinschaftlich-verbindendes, zugleich fest mit Ort

87 Sparr, Thomas, in: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“. Hrsg. von Jürgen Lehmann. Heidelberg 1997, S. 65–69 s. v. „Zürich, Zum Storchen“, S. 67. 88 Womöglich klingt hier – kraft des Zürcher genius loci – auch Schillers Rütlischwur an: „Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören. / Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr. / […] / Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, / Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben. […] / Wir wollen trauen auf den höchsten Gott / Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.“

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und Zeit verbundenes Erlebnis – mit Karl-Josef Kuschel gesagt: „den Kairos der Begegnung“.⁸⁹ Der dritte Abschnitt führt nun, indem er zunächst die Schlussworte des ersten repetiert, zurück in die Redesituation. Erstmals tritt ein lyrisches Ich auf und argumentiert. Von Einhelligkeit ist allerdings keine Rede mehr. „Von deinem Gott war die Rede, ich sprach / gegen ihn“. Hier prononciert erneut allein der Versumbruch eine mögliche Lesart: die, das Ich ‚spreche‘ nicht nur als ein argumentierendes Subjekt, sondern gewissermaßen als widerlegender Sachverhalt, als personifiziertes Argument wider den Gottesbegriff des ‚Du‘ – eine Personifikation von Umständen, die Rückschlüsse auf einen Gott, wie das ‚Du‘ ihn glaubt, nicht zulassen. Vielmehr wäre das Ich auf Hoffnung angewiesen. Von einer Grundwendung wie ‚Ich hoffte‘ freilich ist die gewählte Formulierung um mehrere Brüche entfernt: Das ‚Ich‘ hofft nicht selbst, sondern „ließ“ hoffen (was für sich genommen schon eine Distanz impliziert), und zwar nicht etwa ‚mein‘ Herz, sondern „das Herz, das ich hatte“: Die Sperrigkeit dieser hypotaktischen Konstruktion (der einzigen übrigens im ansonsten parataktisch gehaltenen Text), zu deren Gunsten auf ein so knappes wie (seiner Konventionalität, aber auch der elliptischen Knappheit des Gesamttextes wegen) erwartbares Possessivpronomen verzichtet wird, betont die einzelnen Satzglieder. So würde eine Betonung auf „hatte“ eine zeitlich bedingte Distanzierung im Nachhinein, etwa nach einem Verlust des Herzen, signalisieren.⁹⁰ Betont man das ‚ich‘, dann ergibt sich eine implizite Abgrenzung gegenüber anderen Herzen, etwa dem des ‚Du‘. Eine Betonung des ersten ‚das‘ schließlich liest sich, verglichen mit der Formel „mein Herz“, wie eine quanti- oder qualitative Relativierung – etwa in dem Sinne: Das, was mir an Herz zu Gebote stand, ließ ich hoffen. Die Hoffnung nun richtet sich auf „sein höchstes, umröcheltes, sein  / haderndes Wort“.⁹¹ Ein solches Wort, aus dem Munde Gottes erhofft, ist kaum als normatives und letztinstanzliches Wort zu denken, das dem Zweifler über seine Zweifel an Gott hinweghelfen könnte – eher im Gegenteil als eines, mit dem Gott die eigene Autorität untergräbt und letztlich just die Funktion einer hoffnungs-

89 Kuschel, Karl-Josef: „Wir wissen ja nicht, was gilt.“ Möglichkeiten der Rede von Gott anhand von Paul Celans Zürich, Zum Storchen. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 32 (1991), S. 275–293, S. 284. 90 Vgl. Langenhorst (s. Kap. 8, Anm. 36), S. 143. 91 Grammatisch unentschieden bleibt, ob das Possessivpronomen sich reflexiv auf das Herz selbst bezieht oder auf den soeben in Abrede gestellten Gott. Vgl. Sparr (s. Anm. 44), S. 67 f. Hofft das Herz von sich selbst, das ‚Wort‘ äußern zu können, dann kommt dies der Hoffnung auf eine Steigerung seines Zweifels bis zur unabweisbaren Endgültigkeit gleich.

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spendenden Instanz ablegt. Ein physisch hinfälliger⁹² Gott, der selbst in der Lage eines Hadernden ist – womit aber hadert? Mit der eigenen Hinfälligkeit, oder mit dem Geschöpf, an das er das Wort richtet und das sich seinem Einfluss oder gar verstandesmäßigen Zugang entzieht? In landläufiger Konnotation verlangt das Verb ‚hadern‘ nach dem Objekt ‚Schicksal‘. Hadert ein Gott in diesem Sinne, dann zeigt er sich einer für ihn nicht steuerbaren Prädestination unterworfen  – womöglich ein solcher, jedenfalls aber ein entgöttlichter Gott wäre es augenscheinlich, der dem Subjekt des Textes einzig einleuchten könnte. Der Gedankenstrich am Ende des Satzes kennzeichnet den Prozess des Zweifelns und Hoffens als unabgeschlossen. „Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, / dein Mund / sprach sich dem Aug zu, ich hörte“: Im vorletzten Abschnitt wird die inhaltliche Reflexion des Gesprächs durch die Beobachtung seiner nonverbalen Ebene unterbrochen. Die Wendung „sah mir zu“ schildert offenbar die Aufnahme, die das Ich während seines zweifelnd-hoffenden Sprechens bei seinem Gegenüber findet – freilich nicht, wie zu erwarten wäre, die empathisch-akustische Aufnahme eines zuhörenden Ohres. Vielmehr erscheint das ‚Du‘ unbeteiligt und distanziert: Erstens ist es gar nicht mehr als geschlossene Person und ansprechbares ‚Du‘ präsent, sondern segmentiert in „Aug“ und „Mund“, zweitens kann sein „Aug“ strenggenommen ja gar nicht den Gegenstand, sondern nur den Akt des Sprechens wahrnehmen, und drittens sieht es (anschließend oder gleichzeitig?) „hinweg“. Im Hinwegsehen über etwas Geäußertes liegt keine Akzeptanz, sondern entweder der Unwille, es zu registrieren, oder Unbeirrbarkeit in der sachlichen Ablehnung  – oder auch verzeihende Milde. Wenn nun der „Mund“ das Wort ergreift und „sich dem Aug zu“-spricht, scheint er sein Sprechen dessen nonverbal ausgedrücktem Befund anzunähern oder zumindest auf ihn zu reagieren. Allerdings scheint er umso weniger mit demjenigen zu kommunizieren, dessen Rede der Blick des Auges gegolten hatte – und wenn es bezüglich dessen, was im letzten Abschnitt folgt, heißt: „ich hörte“, dann klingt dies wiederum so unaffiziert und unkonzentriert, als sei das Gehörte so wenig an das ‚Ich‘ gerichtet wie ein Straßengeräusch. Das zweifache „Wir wissen ja nicht“ im letzten Abschnitt wirkt beschwörend. Unterbrochen durch ein vergewisserndes „weißt du“ und dann neu ansetzend, betont es nicht nur den sprechsprachlichen Gestus der Aussage, sondern kann dann auch als Appell an die Aufmerksamkeit des Hörers gelesen werden, ver-

92 Bei aller gebotenen Vorsicht mit der Anwendung von Vorstufen eines Textes auf die Analyse seiner Endversion: Dass im frühesten Textzeugen an dieser Stelle „sein letztes, sein aller / letztes haderndes Wort“ erhofft wird, spricht dafür, das „Wort“ in der Druckfassung durch Gott selbst „umröchelt“ zu verstehen – und nicht etwa, wie es grammatisch ja auch denkbar wäre, durch eine ungenannt bleibende Hörerschaft. Zur Textgenese vgl. Celan (s. Anm. 43), S. 14 f.

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bunden mit dem Werben um Zustimmung. Ob das durch doppelte Alleinstellung akzentuierte „wir“ sich nun an das „Aug“ richtet und damit eine Disparatheit zwischen Auge und Mund – eine Kluft zwischen Wahrnehmung und Hoffnung? – des Sprechenden äußert, oder ob es die Positionen von ‚Ich‘ und ‚Du‘ im Angesicht der Ungewissheit überbrücken und gleichsetzen will, bleibt dahingestellt. Ein Appell zum Konsens jedenfalls wird im Text nicht mehr erwidert. Anhand der Abfolge der Personalpronomina betrachtet, beginnt der Gesprächsgang im Gedicht bei einer Rede, diktiert von Themen des ‚Du‘ (in Abschnitt 1), führt dann über die Beschreibung des von beiden Gesprächspartnern empfundenen ‚Kairos‘ (Abschnitt 2) zur Gegenrede des ‚Ich‘ und schwenkt dann (Abschnitt 4) wieder zum ‚Du‘, dem es vorbehalten scheint, in der Synthese des ‚Wir‘ (Abschnitt 5) eine gemeinsame Position des Nicht-Wissens festzuhalten. Der Punkt im Textverlauf, an dem ein Auseinanderklaffen der Positionen explizit wird, steht zentral in der 13. von 27 Zeilen: „Der Dissens des Gesprächs, die Mitte des Gedichts“.⁹³ Erst eine Zeile zuvor ist das lyrische Ich in Erscheinung getreten; sogleich nimmt es eine Haltung ein, die an die opponierende Haltung Hiobs gegenüber den Freunden erinnert: „ich sprach / gegen ihn“. Dieses Widersprechen richtet sich nicht gegen jede Form von ‚Gott‘, sondern gegen ein bestimmtes Gottesbild. Um das Verhältnis von Kon- und Dissens, auf das die Anspielung an eine Hiobsche Redehaltung aufmerksam macht, näher zu bestimmen, sei – nun unter Berücksichtigung außertextueller Referenzpunkte  – noch einmal zum Anfang des Gedichtes zurückgekehrt. „Zuviel“ und „Zuwenig“, die beiden erstgenannten Gesprächsgegenstände, referieren einerseits auf den Hiob-Essay Margarete Susmans, der als Bezugsgröße schon im Titel angespielt wird – die Autorin wohnte in Zürich.⁹⁴ Thematisiert ist hiermit die Sprachkrise im Umgang mit dem Holocaust, dem gegenüber „jedes Wort ein Zuwenig und ein Zuviel“ ist  – was Einigkeit unter den Sprechenden (Sachs und Celan) vermuten lässt, deren beider Schreiben von besagtem „Geschehen“ ausging. Im Keim derselben Wort-Opposition ist aber, wenn man sie auf die Zeittendenz eines bequemen, exkulpatorisch-symbolischen Philosemitismus bezieht, auch schon ein Dissens angesprochen: Im Zusammenhang mit dem Droste-Preis, der Nelly Sachs, und dem Büchner-Preis, der ihm selbst ins Haus stand, äußerte Celan „Mißtrauen gegenüber einem demonstrativen Philosemitismus, den er hinter der Auswahl von jüdischen Preisträgern durch das literarische westdeutsche Establishment vermutete“  – während Sachs in ihrer Preisrede das deutsche Publikum ermunterte, den „Schritt über das vergangene

93 Sparr (s. Anm. 44), S. 67. 94 Vgl. Sparr (s. Anm. 44), S. 65.

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Leid hinauszutun“.⁹⁵ Der hiermit im Gedicht eingeleitete Dissens ist daher meines Erachtens vor der gemeinsamen Folie der Susmanschen Hiob-Interpretation und der unterschiedlichen theologischen und poetologischen Ableitungen daraus zu suchen. In diesem Sinne wären auch ‚Du und Aber-Du‘ bereits zwiespältig zu lesen: konsensuell als Erinnerung an die familiäre Vertrautheit, die Sachs und Celan in der Zürcher Begegnung suchten, sowie an die gemeinsame poetologische Grundüberzeugung, Gedichte müssten dialogisch ausgerichtet sein; dissensuell aber in der Frage, auf welches Gegenüber. In diesem Sinne stünde das „Aber-Du“ für einen zweifelhaften Adressaten,⁹⁶ den Sachs’ Lyrik versöhnungsbereit mit einbezieht, Celans Lyrik aber nicht. Mit ihrer von Buber inspirierten Gottes- und mithin Kunstauffassung (gemäß derer sich Gott dem Menschen in der Sprache offenbart hat und mithin „[d]ie Aufgabe des Dichters […] eine priesterliche Arbeit mit der Sprache“⁹⁷ ist), von der in Abschnitt 1 „die Rede“ ging, ist Celan nicht einverstanden. Und wo in potentiell unmenschlichem (weil mit dem Unmenschen als Rezipienten rechnenden) Sinne von Kunst „gut reden“ ist – so wird er es in seiner Büchnerpreisrede mit Verweis auf Lucile in Dantons Tod ausdrücken –, da kann eine menschliche ‚Gegenwart‘ durch ein wohlplaziertes, anarchisches ‚Gegenwort‘ konstituiert werden.⁹⁸ Dazu bedarf es, wenn von der Kunst die Rede ist“, jemandes, der „zugegen ist und… nicht richtig hinhört. Genauer: jemand, der hört und lauscht und schaut … und dann nicht weiß, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört, der ihn ‚sprechen sieht’, der Sprache wahrgenommen hat […] und zugleich auch Atem, das heißt Richtung und Schicksal.“ Und später: „Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.⁹⁹

Mit dem „Da-/Von“, das zugleich ein zerstreut verallgemeinerndes Resümee des zuvor Geredeten und ein Hinweis auf seine Abgetanheit ist und obendrein eine Atempause beinhaltet, scheint ein solch widerständiger Zuhörer sein ‚Gegenwort‘ einzuleiten.

95 Dinesen (s. Anm. 6), S. 299 f. 96 „Celan selbst billigte die Übersetzung Pseudo-Thou für ‚Aber-Du‘.“ Felstiner (s. Anm. 42), S. 209. 97 Dinesen, Ruth: Paul Celan und Nelly Sachs. In: Shoham, Chaim und Bernd Witte: Datum und Zitat bei Paul Celan. Akten des Internationalen Paul-Celan-Colloquiums Haifa 1986. Bern 1987, S. 185–211, S. 198. 98 „Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden.“ Celan, Paul: Der Meridian. In: Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Beda Allemann/Stefan Reichert. Bd.3. Frankfurt/M. 1983, S. 187–202; S. 190. 99 Celan (s. Anm. 55), S. 188 und S. 195.

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Es kommt, „mit einigem Gold“, etwas dazwischen: Ein lichterfüllter DialogMoment, der, wenn es nach Sachs oder Buber ginge, epiphanisch die Gegenwart des Göttlichen anzeigte:¹⁰⁰ „Gegenwart, die wirkliche und erfüllte, gibt es nur insofern, als es Gegenwärtigkeit, Begegnung, Beziehung gibt. Nur dadurch, dass das Du gegenwärtig wird, entsteht Gegenwart.“¹⁰¹ Einen solchen Moment dialogischen Miteinanders spüren denn auch beide Gesprächspartner; Celan wird Sachs in einem späteren Brief auf Lichterscheinungen in Zürich und Paris ansprechen, die er konkret auf ihre Präsenz und beider Reden über Gott bezieht.¹⁰² Gemäß Buber sind es auch solche Momente, aus denen Kunst entsteht: Das ist der ewige Ursprung der Kunst, daß einem Menschen Gestalt gegenübertritt […]. Keine Ausgeburt der Seele, sondern Erscheinung, die an sie tritt und von ihr die wirkende Kraft erheischt. Es kommt auf die Wesenstat des Menschen an: […] spricht er mit seinem Wesen das Grundwort [=das Wortpaar „Ich“-„Du“] zu der erscheinenden Gestalt, dann strömt die wirkende Kraft, das Werk entsteht. […] Die Gestalt, die mir entgegentritt, kann ich nicht erfahren und nicht beschreiben; nur verwirklichen kann ich sie. Und doch schaue ich sie, im Glanz des Gegenüber strahlend, klarer als alle Klarheit der erfahrenen Welt.¹⁰³

Das ‚Ich‘ aber spricht mit der „erscheinenden Gestalt“ nicht etwa das ‚Grundwort‘; vielmehr kommt es unbeirrt aufs Thema zurück – und spricht das ‚Gegenwort‘. Gegen „deinen Gott“, von dem „gut reden“ ist, setzt das Ich eine eigene Hoffnung: die auf einen Gott, der ein „haderndes“ Wort spräche. Zum Gottesbild Celans ist hier einzufügen, dass der streng komponierte Niemandsrose-Zyklus, in dessen Kontext Zürich, Zum Storchen steht, insgesamt als „Daseinsentwurf […] in Gestalt einer Kosmogonie“¹⁰⁴ nach Auschwitz, ja als „Anti-Bibel“ und „Revision der Heilsgeschichte“¹⁰⁵ gelesen wird. Der Feuerbachsche, projektive Gottes-Entwurf, den Marlies Janz darin vertreten sieht, ist mit

100 „Wer mit dem ganzen Wesen zu seinem Du ausgeht und alles Weltwesen ihm zuträgt, findet ihn, den man nicht suchen kann. Gewiß ist Gott ‚das ganz Andere‘; aber er ist auch das ganz Selbe: das ganz Gegenwärtige.“ Buber, Martin: Ich und Du. In: Buber: Das dialogische Prinzip. Heidelberg 51984; S. 7–136; S. 80. 101 Buber (s. Anm. 57), S. 80. 102 „Weißt Du noch, wie, als wir ein zweites mal über Gott sprachen, in unserm Haus, […] der goldene Schimmer auf der Wand stand? Von Dir, von Deiner Nähe her wird solches sichtbar, es bedarf Deiner […] noch lange, es sucht Deinen Blick“, so Celan am 19. August 1960. Paul Celan – Nelly Sachs. Briefwechsel. Hrsg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt/M. ³1994; S. 58. 103 Buber (s. Anm. 57), S. 14. 104 Lehmann (s. Anm. 44), S. 23. 105 Janz, Marlies: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt/M. 1976, S. 129.

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dem Bubers und Sachs’ schwerlich vereinbar: Von Anbeginn an, so Janz,¹⁰⁶ zeigt Celan den Menschen als unbeseelten Golem, der der Sprache Gottes nie teilhaftig gewesen und nun, durch Auschwitz, endgültig von Gott verworfen worden sei: Die Selbsterfahrung der Subjekte als „Nichts“ nötigt sie, keinen anderen Gott anzuerkennen als Niemand, als den Gott, der entschwunden ist und seine Geschöpfe sich selbst überlassen hat. […] sich auf einen nicht seienden Gott zu beziehen, der erst dann wieder wäre, wenn die Menschen sich nicht mehr als Nichts erführen. Nur durch innerweltliche Besserung vermag Niemand wieder Gott zu werden.¹⁰⁷

In diesem Sinne ist auch die Koppelung des Hiobschen ‚Haderns‘ mit einem erhofften Gotteswort zu verstehen: Erst durch ein Wort der Verwerfung, artikuliert durch einen hadernden Gott, würde dem Menschen klar, dass er auf sich gestellt und mit seiner Selbstrestitution betraut ist: [E]s wäre ein Wort, mit dem der Odem Gottes sich gleichsam in sich selbst zurücknimmt und erlischt. Mit diesem Wort wäre Gott tot. Auf es zu hoffen aber heißt, darauf zu hoffen, daß eine Menschheit, die ihrer Gottferne […] bewußt wäre, anfangen würde, ihre „Himmelfahrt“, die Aufhebung ihrer Leidensgeschichte und die Apotheose ihrer selbst zu betreiben.¹⁰⁸

Die Susmansche Denkfigur von der Hoffnung, die gerade aus äußerster Gottferne entspringt, nimmt Celans ‚Ich‘ also im gottverneinenden Sinne einer Chance zur menschlichen Selbsterkenntnis auf. Hierfür wiederum findet es beim Gegenüber kein Ohr, keine Empathie: „Dein Aug sah mir zu, sah hinweg“, heißt es, und die Worte des letzten Abschnitts, die scheinbar ein synthetisierendes „Wir“ konstituieren, spricht „dein Mund“ in ungerichtete Ferne. In ihrer Meersburger Dankesrede formulierte Nelly Sachs: Wir alle sind Betroffene, […] auf Erden zu leben […] bis er [dieser Stern = die Erde, Anm. C.H.] durchsichtig wird, von unserem gesagten und ungesagten Wort durchzogen – dieser Geheimschrift, mit der wir ein unsichtbares Universum durchsichtig machen für ein göttliches Auge. Alles gilt. Alles ist Ferment das wirkt.¹⁰⁹

Die Zeilen „Wir / […] wissen ja nicht, / was / gilt“ greifen ebenso diese Formulierung auf wie die von Susman artikulierte Hoffnung auf einen vom Menschen 106 Janz bezieht sich – außer auf Zürich, Zum Storchen – insbesondere auf die Gedichte Es war Erde in ihnen, Psalm, Tübingen, Jänner, Á la pointe acérée und Benedicta. Vgl. Janz (s. Anm. 62), S. 129–141. 107 Janz (s. Anm. 62), S. 130. 108 Janz (s. Anm. 62), S. 138. 109 Zit. nach Dinesen (s. Anm. 54), S. 198.

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nicht gewussten göttlichen Plan, der womöglich baldige Erlösung vorsehe – zeigen also transzendentere Züge als die Hoffnung des ‚Ich‘. Dieses fühlt sich denn auch nicht angesprochen, fällt vielleicht – „ich hörte“ – zurück in die Zerstreutheit des Nicht-Nachvollziehens. Grundsätzlich aber wird die Rederichtung – und folglich auch, wen das ‚Wir‘ wem gegenüber repräsentiert – offen gehalten. Wenn das „Aug“, dem der Mund sich zuspricht, im Sinne der Meersburger Rede das Auge (des Sachsschen) Gottes ist und/oder wenn Mund und Auge sich untereinander vergewissern, dann deutet das „wir wissen ja nicht“ auf eine Verunsicherung der Gesprächspartnerin. Gilt er dem ‚Ich‘, dann kann er als um Einfühlung werbender Minimalkonsens gelesen werden. „Offen, elliptisch, geltungs- und bedeutungslos endet dieses Gespräch miteinander und doch nicht gänzlich aneinander vorbei.“¹¹⁰

8.2.3 Hiob bei Sachs und Celan Schreiben wird […] auch zur Darstellung der […] Unmöglichkeit des Schreibens. Die mit Auschwitz verschränkte Dichtungs- und Sprachkrise begründet, daß Ambivalenz, das Schwanken zwischen dem Scheitern und Gelingen von Bedeutungskonfigurationen zum strukturbildenden Modus der Texte selbst wird.¹¹¹

Vor dem gemeinsamen historischen Hintergrund des Holocaust und des „Entronnenseins“ reflektieren sowohl Nelly Sachs als auch Paul Celan anhand der HiobFigur die verbliebenen Möglichkeiten der Sprache bzw. die ihrer Rückgewinnung. In Sachs’ Gedicht wird die von Margarete Susman geprägte Analogie zwischen Hiob und dem jüdischen Volk aufgegriffen und Hiob als dessen Repräsentant angesprochen. Angesichts der undarstellbaren Vielgestaltigkeit jüdischen Leides, also eines ‚Ansturms von Wirklichkeit‘, dem schlechthin keine rationale Sinnkonstruktion mehr gewachsen ist, wird Hiob zum mythischen Kollektivsymbol für die Situation des Volkes Israel. Sachs stellt Hiob in eine Aporie, die alle im biblischen Prätext geschilderten Leiden übertrifft: Hiob ist allein. Sein Leiden ist ohne Anfang und Ende. Die Permanenz und Universalität des Leidens und das Ausbleiben einer Antwort auf die ‚Warum‘-Frage haben Hiob seiner Stimme beraubt. Hiobs Frage nach der Vermittlung von Leid und Gerechtigkeit wird hier transponiert auf die Frage der sprachlichen Vermittlung von Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. Bevor – wenn überhaupt – daran gedacht werden kann, zwischen Leid

110 Wertheimer (s. Anm. 43), S. 78. 111 Lehmann (s. Anm. 44), S. 49.

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und Unschuld eine Kohärenz zu vermitteln, muss dem Leidenden das abhanden gekommene Medium der Selbstvergewisserung – also die Sprache – neu vermittelt werden. Hier setzt der in zweifachem Sinne ‚advokatorische‘ Akt des Dichtens ein: Die Anrufung des Einsamen als Adressaten und das stellvertretende Sprechen für den Stummen fallen in eins. Auch das Gedicht kann die ‚Warum‘-Frage nicht mit einer expliziten Sinnstiftung beantworten, es holt jedoch den Einsamen in die Beachtung und das durch den Verstummten nicht mehr Ausdrückbare in den Raum der Sprache zurück. Damit ist ihm einerseits ein Denkmal gesetzt. Andererseits eröffnet der Text anhand einer paradoxen Chiffre, die er dem traditionell universalsten, sinn- und ordnungsträchtigsten Bildbereich überhaupt – der Astralmetaphorik – entnimmt, eine frei bleibende Projektionsfläche für künftige Sinnstiftungen durch eine dann wieder gewonnene oder erweiterte Sprache  – und steckt somit zugleich den Ausgangspunkt und das Ziel für deren Entwicklungsrichtung ab. Eine gerichtete Sprechhaltung mit der Hiob-Figur verknüpft auch Paul Celans Gedicht. Darin wird der bereits bei Sachs auf eine höhere Ebene gerückte Hiob-Widerspruch um weitere reflexive Ebenen abstrahiert: Das Gedicht ist ein Text, der an ein Gespräch erinnert, das sich um Möglichkeiten des Schreibens und Glaubens angesichts des Widerspruchs von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit drehte. Das Verhältnis des ‚Ich‘ bzw. ‚Du‘ zu Gott ist in letzter Instanz ein poetologisches Glaubensbekenntnis. Hiob ist bei Celan nicht namentlich oder figurativ präsent, sondern implizit, im Gegenstand des Gedichts und im Redegestus seines zentralen Abschnitts. Gegenstand des Textes ist das ‚Rechte Reden von Gott‘: Der biblische Hiob, mit den Freunden im Streit, hadert mit dem strafenden Gott um eine Antwort, die ihm die Angemessenheit seines Leidens vor Augen führen möge; schließlich erhält er sie. Nelly Sachs als Dialogpartnerin von Celans ‚Ich‘ glaubt an einen immanenten, erfahrbaren Gott, dessen Schöpfung und Sprache identisch seien und der in beiden Sphären mit dem sprachbegabten Menschen im Dialog stehe; auch in der geglückten dialogischen Begegnung zweier Menschen kann Gott sich zeigen und Antwort geben. Tatsächlich scheint sich auch, durch das Reden von Gott bedingt, eine Theophanie zu ereignen. Das ‚Ich‘ hingegen erkennt sie nicht an, geht darüber hinweg und spricht im Gestus Hiobs – womit zugleich der Subtext des Susman-Essays aufgerufen ist – das ‚Gegenwort‘: Es erhofft keine Gegenwart des Göttlichen um den Preis der Affirmation des Bösen, sondern die reine ‚Gegenwart des Menschlichen‘. So postuliert es einen anderen Gott  – einen, der nicht antwortet, sondern dem Menschen absagt und stirbt. Nur ein entgotteter Gott – eine transzendente Leerstelle, ein Nichts  – stünde zum entmenschten Menschen in einem Verhältnis der Angemessenheit. Der Wunsch des ‚Ich‘, Hiob und Gott äquivalent gesetzt zu sehen, zerstört den Dialog, mithin auch die Emanationsform des

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Sachsschen Gottes. Und doch sind sich am Ende beide Gesprächspartner in der Unsicherheit einig: Mit der Verarbeitung der Lichterscheinung hat Celan einen Hinweis auf die Präsenz des Sachsschen Gottes ins Gedicht hineingenommen. Zudem sind, so Buber, seine Epiphanien auch Geburtsmomente der Kunst.

8.3 Vom säkularen Heilsweg ins heillose Säkulum: Johannes R. Becher und Günter Kunert 8.3.1 Johannes R. Becher: Hiob (1949) „[D]ieser Blick in die menschliche Abgründigkeit [hat] uns erst die Augen geöffnet und uns sehend gemacht – im Sehen tausendfältigen Todes sehen wir ein neues Leben“.¹¹² Der der nationalsozialistischen Katastrophe diese Lehre abringt, ist ein der affirmativen Religiosität Unverdächtiger: Johannes R. Becher. Als Mitglied des ‚Nationalkomitees Freies Deutschland‘ im Mai 1945 mit der Organisation eines ‚Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‘ betraut und später zu dessen Gründungsvorsitzenden gewählt, wurde Becher (1891–1958), Kommunist seit 1919, zur maßgeblichen Autorität in der Kulturpolitik der SBZ und der frühen DDR. Das Gedicht Hiob entstand mutmaßlich im Jahre 1949.¹¹³ Hiob Er bittet nicht, daß Gott sein Leiden wende, Mitleiden ist es und ist Vorerleiden, Und aller Leiden leidet er zu Ende. In seiner Brust und in den Eingeweiden Liegt bloß die Welt in ihrem Leidensgrund. O Leidensabgrund, der wird offenbaren Dem Menschen sich nach aber tausend Jahren, Vorhergesagt aus seinem, Hiobs, Mund. Und dennoch hat er mit dem Leid gestritten, Als wäre in dem Leid ein Widersinn, Den er hat seiner Zeit vorausgelitten… Als er sich leidend fragte einst: „Worin

112 Becher, Johannes R.: Literatur und Geschichte. In: Becher: Verteidigung der Poesie. Vom Neuen in der Literatur. Berlin (DDR) 1952, S. 58–62; S. 61. 113 Vgl. Langenhorst (s. Kap. 8, Anm. 36), S. 153.

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Besteht das Leid, womit uns Gott geschlagen?“, Erkannte er – o unsagbare Pein –: Das Unerträgliche, das wir ertragen, Ist Menschenwerk und müßte nicht so sein. ¹¹⁴

Die Funktion Hiobs in diesem Text steht von Anfang an fest. Nicht als Adressaten oder in der Sprecherrolle, nicht mit individualisiertem Klageanlass oder speziellem Kolorit präsentiert ihn die erste Zeile, sondern in der dritten Person eines zeitenthobenen Verlaufs-Präsens und in die Grundausstattung seiner topischen Attribute gekleidet: das Duldertum im Leiden. Hiob steht hier als Emblem. Bereits Zeile 2 und 3 bestätigen die Erwartung, seine conditio sei exemplarisch aufzufassen: Auch die Leiden der Zeitgenossen und der Nachgeborenen nimmt dieser Hiob stellvertretend auf sich und bringt sie ‚zu Ende‘. Damit gewinnt er messianische, christologische Züge, die auch seine Klaglosigkeit zu erklären scheinen: Als duldender Hiob neutestamentarischer Lesart muss er die Kommunikation mit Gott nicht suchen, weil das Leiden Bestandteil seiner Heilserwartung ist. Die Zeilen 4 und 5, die den Leser durch ein Enjambement in die zweite Strophe hineinziehen, bestärken die christologischen Züge, indem sie die „Welt in ihrem Leidensgrund“ als fleischlich inkorporierte Wunde zeigen. Die zweite Strophe indes revidiert diese Perspektive. Lässt sich das Kompositum „Leidensgrund“ im Zusammenhang der Heilserwartung noch im Sinne von ‚Fundament‘ lesen – also wie ein notwendiger Bestandteil der unerlösten conditio humana –, so bewirkt die Variation zu „Leidensabgrund“ in Zeile 6, verbunden mit der Interjektion „o“, ein Umschlagen des Redegestus in den alttestamentarischen Psalmenton einer de-profundis-Klage. Im weiteren Verlauf der Strophe wird die christologische Konnotation weiter zurückgenommen – Hiob rückt als Prophet in eine ferne Vergangenheit. Erst die dritte Strophe stattet den emblematisch duldenden Hiob – nun im Perfekt – mit der narrativen Tiefendimension einer Vorgeschichte aus: Sein Duldertum, heißt es da, beruhe nicht auf einem Mangel an Reflexion, sondern sei im Gegenteil ein Ergebnis des Streitens ‚mit dem Leid‘ (nicht mit Gott), in dem Hiob einen ‚Widersinn‘ vermutet habe. An diesem Punkt des Textverlaufs ergeben auch die bislang evozierten Konnotationen der Hiob-Figur einen Widersinn: Christus, der um den Sinn seines Leidens weiß und es erträgt, und der rebellierende Hiob, der einen „Widersinn“ in seinem Leiden vermutet, aber dennoch – wie der christologische Hiob, der die Sinnfrage ignoriert  – keine Kommunikation mit Gott sucht, fallen in eins.

114 Becher, Johannes R.: Gesammelte Werke. Bd. 6: Gedichte 1949–1958. Berlin (DDR)/Weimar 1973, S. 43.

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Erst die Pointe in der vierten Strophe klärt den Widerspruch: Hiob hat die Erkenntnis durchlaufen, dass die Letztursache der conditio humana nicht in Gott liegt, sondern im Menschen selbst. Die Gestaltbarkeit der Wirklichkeit durch den Menschen gibt ihm auch die Chance, sein eigenes Leid abzuschaffen. Von dieser Wendung her gelesen, schlagen die messianischen Implikationen der ersten beiden Strophen kippfigurenartig um: Das Leid, dem der Dulder der ersten Zeile sich zu beugen hat, ist das Leiden an der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Menschheit. Der „Leidensgrund“ ist ein kausaler und daher erkennbarer, denn er „liegt bloß“, also offen zutage. Und zum Exempel wird Hiob nicht dadurch, dass er im christlichen Sinne stellvertretend leidet, sondern dadurch, dass er stellvertretend für die Menschheit den richtigen Adressaten für die ‚Warum‘-Frage findet: sich selbst. Das heißt auch: In dem Moment, in dem er die Frage stellt, ist sie beantwortet – der Heilsweg zur Erlösung ist ein säkularer. Mit dem Nachvollzug dieses Zirkels ist ein Bann gebrochen, den der Mensch durch sein Nicht-Fragen um sich selbst gelegt hat. Aufklärung, so die einleuchtende Moral, ist ein schmerzlicher Emanzipationsprozess, den der Mensch sich selbst abringen muss – und der in der entscheidenden Erkenntnis gipfelt, dass er es muss. Denn die Erkenntnis, dass er es muss, folgt auf die, die ‚Gott‘ als Projektion durchschaut. Die dialektische figura etymologica „Das Unerträgliche […] ertragen“ verliert in dieser Perspektive an Tragik und Existenzialität und formuliert einen überwindbaren Widerspruch so, dass der Aufruf, ihn in praxi zu überwinden, unüberhörbar ist. Die Gesamtheit des Leides, des ‚Unerträglichen‘  – und hierfür lässt sich wohl gefahrlos substituieren: des ‚Schlechten Bestehenden‘ – wird als ‚Faktum‘ im durchaus Leibnizschen Wortsinne einer Tat-Sache, also eines kausal herleitbaren, gewollt bewirkten Zustandes interpretiert, und zwar – es „müsste nicht so sein“ – als ein kontingentes Faktum im Sinne eines als geradezu universell verstandenen menschlichen Handlungsraumes, innerhalb dessen freilich ein kontingenter Pluralismus der Optionen Leid generiert. Aus dieser Aussage ergeben sich zwingend die Frage, wer es gewollt bewirkt hat, und die Aufforderung, es durch entgegengesetztes, neuerliches gewolltes Wirken zu ändern. In eindeutig wirkungsästhetischer, nämlich didaktischer Funktion eingesetzt, gerinnt die Hiob-Figur wieder zum Topos. Johannes R. Becher ist als Kommunist mit Feuerbach-Kenntnis an der Bewusstseinsbildung seiner Leserschaft interessiert, als Kulturpolitiker ein Verfechter der Erbe-Aneignung und als vormaliger Expressionist wohlvertraut mit dem rhetorischen Inventar sowohl des messianischen wie des de-profundis-Pathos. Dass die jugendliche, ‚skeptische Generation‘ Misstrauen gegen politische Vereinnahmungsversuche zeigte und als Konsequenz ihrer Leiderfahrungen aus dem Krieg eher zum Existenzialismus

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neigte,¹¹⁵ gehörte zu den Prämissen seiner Kulturpolitik; die Wahl gerade Hiobs zur Exemplifikationsfigur für gesellschaftlichen Veränderungsbedarf dürfte damit in Zusammenhang stehen. An der topisch im Leser-Bewusstsein präsenten Hiob-Figur exerziert Becher nach und nach die religiös gebundenen Konnotationen der Christologie, der Prophetie und der Theodizee durch, um sie am Schluss zu revidieren und den Topos mit einer neuen, säkularen Sinnstiftung zu besetzen: „Bei Becher verschiebt sich […] die Theodizee als Anklage Gottes zur Anthropodizee als Anklage des Menschen.“¹¹⁶ Becher selbst formulierte 1948 als Aufgabe des politisch bewussten Literaten: Unbeschreibliches Leid zu beschreiben, das ist der gesetzte Widerspruch, den der Dichter wohl noch in keiner Zeit so tragisch erlebt hat wie heute und worin der tragische Charakter jeder Literatur […] zum Ausdruck kommt. Denn die Millionensumme des Leides ist unfaßbar […]. So können wir diesen tragischen Widerspruch nur lösen, indem wir nicht innehalten in der Beschreibung des Leides, im Wissen um seine Unbeschreibbarkeit und im Bewußtsein vor allem, daß es Menschenleid ist, Menschen von Menschen angetan, aber zugleich ruft uns dieses unbeschreibbare Leid auch auf, […] außerhalb unseres eigentlichen Werkes mitzuwirken, die Leidensgrundlage der Welt selbst zu verändern.¹¹⁷

8.3.2 Günter Kunert: Biblische Geschichte II (1977) Jedoch scheint mir seine größte Lehre zu kommen aus dem Verhalten des Dichters zu seinen Lesern, des Einzelnen zur proletarischen Klasse […]: Ohne sie wäre er nicht und wäre er nicht er. […] Unter allen Formen seiner Werke liegt diese Erkenntnis wie der Muskel unter der Haut […]. So und auf diese Art geht sein Schaffen ein auch in Werke, die äußerlich dem seinen fremd sein mögen. Wer aber Augen hat zu sehen und Ohren hat zu hören, weiß Bechers Werk aufgenommen, wie die Erde den Regen aufnimmt.¹¹⁸

115 „Im Zentrum seiner Polemik“ in den kulturpolitischen Reden der Aufbaujahre stand, so weiß eine 1981 in der DDR erschienene Biographie Bechers, „der Existenzialismus“, der „in den Nachkriegsjahren besonders unter der intellektuellen Jugend erheblichen Einfluß gewann. […] Der Existenzialismus geht davon aus, daß der Mensch in das Nichts ‚geworfen‘ ist. Das Nichts wird zum Mythos für die anhaltende und sich vertiefende Krisensituation des spätbürgerlichen Intellektuellen. Der Existanzialismus ist demzufolge extrem individualistisch, was sich angesichts der im Nachkriegs-Deutschland auf der Tagesordnung stehenden historischen Aufgaben als außerordentlich schädlich erwies.“ Haase, Horst: Becher. Sein Leben und Werk. Berlin 1981, S. 222. 116 Langenhorst (S. Kap. 1, Anm. 6), S. 134. 117 Becher (s. Anm. 1), S. 60 f. (Hervorhebung C.H.) 118 Kunert, Günter, zit. nach: Johannes R. Becher. Lyrik, Prosa, Dokumente. Hrsg. von Max Niedermayer. Wiesbaden 1965, S. XXXV f.

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Günter Kunert (geb.1929), der 1958 in einem Nachruf auf Becher diese Worte fand, erhielt noch 1973 den Johannes-R.-Becher-Preis, wurde dann aber aus der SED ausgeschlossen und verließ 1979 die DDR. Spätestens Mitte der sechziger Jahre hatte sich Kunert vom parteikonformen Geschichtsoptimismus ebenso verabschiedet wie vom didaktischen Sinngedicht  – zugunsten globaler apokalyptischer Visionen: Sein Blick auf die technischen Möglichkeiten des zeitgenössischen Menschen war nicht mehr der Blick auf eine materialistische Teleologie, sondern der auf Auschwitz und Hiroshima.¹¹⁹ „Der oberflächliche Lebensoptimismus der DDR war für ihn […] zuletzt kein Existenzmodell mehr, sondern eher das Gegenteil einer verantworteten Existenz.“¹²⁰ Freilich ging es Kunert in seinem literarischen Schaffen – insofern ist der hier zu besprechende Text nicht repräsentativ – nicht primär um systemorientierte Kritik, sondern um den Widerstand gegen die instrumentelle ‚Zurichtung‘ der Menschen allgemein. Ihm entspricht in seiner Poetologie das Gedicht als solches: „weitaus weniger eng und instrumental zugerichtet“ als sonstige Kommunikationsmedien, „besitzt [es] für unsere Gegenwart zuviel überschüssige und überflüssige Erkenntnis. Das Bewusstsein des Gedichts widerspricht dem gängigen zweckgebundenen, das von sich glaubt, es befleißige sich allergrößter Objektivität.“¹²¹ 1977 erschien in Westdeutschland seine Gedichtsammlung ,Unterwegs nach Utopia‘, aus der der folgende Text stammt. Biblische Geschichte II Die Welt so ungetrübt von Wirklichkeit wie hierzulande wie es heißt und klingt und singt: Kein Jammertal vielmehr ein Paradies geartet leidlos und gelitten inmitten anderer Infernen: Nackt steh ich da und du nackt alle wenngleich nicht allen sichtbar: Das ist Gesetz: Die Hände ziemlich leer im Schweiße unsres Angesichts höchste Moral durch Handbetrieb und Naturalwirtschaft Mundwerker überschäumend meist und kein Gedanke

119 Vgl. Bekes, Peter, KLG, 42. Nlg. (01.08.1992) s.v. „Günter Kunert“. 120 Schlosser, Horst Dieter: „Wenigstens vorübergehend unsterblich sein“. In: Günter Kunert. Begleitheft zur Ausstellung 28.04.–30.05.1981. Hrsg von der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Frankfurt 1981, S. 21–28; S. 23. 121 Kunert, Günter: Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. München/Wien 1985, S. 10.

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bleibt geheim es sei denn der unerforschlich ist für jeden weil betrifft Vergangenheit wie Gegenwart so Zukunft nach sich zöge was schon an Hiob statuiert: So also desto lieber man unter irdischen Gefährten im prophezeiten Garten dem einstmals ernst gemeinten aus dem bizarrsten Buch der Bücher schweigt.¹²²

Kunerts Text ist nicht in Strophen gegliedert. Die Interpunktion ist spärlich – fünf Doppelpunkte sind die einzigen Zeichen, die die 26 Gedichtzeilen in Aussagen, besser: in Aussagekomplexe strukturieren. In mehreren Fällen werden Satzprädikate, vor allem Hilfsverben, elliptisch weggelassen, ebenso mehrere bestimmte Artikel im Singular. Einzige Konjunktionen sind, vom „weil“ (Z.  17) abgesehen, solche, die eine para- oder hypotaktische Hierarchie der verknüpften Sätze nicht näher festlegen: „wie“ (Z. 3), „wenngleich“ und das vieldeutige¹²³ „so“ (19, 20). Inversionen, Ellipsen, Anakoluthe und das Wegfallen von Satzzeichen führen dazu, dass die einzelnen Aussagen an ihren grammatischen Rändern verschwimmen oder puzzle-artig ineinandergreifen. Auch die ersten beiden Doppelpunkte (Z.  3, Z.  7) legen zwischen den drei durch sie abgeteilten Komplexen keine logisch-hierarchischen Beziehungen fest, etwa ein Verhältnis von Prämisse und Schluss, These und Beispiel oder Ursache und Folge; vielmehr wirken sie wie Spiegelachsen  – der jeweils vorangegangene Komplex präsentiert und exemplifiziert den nachfolgenden ebenso wie umgekehrt. Eine narrative, kausale oder argumentative Linearität der Aussagen kann sich auf diese Weise ebensowenig ergeben wie ihre summarische bzw. einzelne Zuordnung zu einem bzw. mehreren Sprechern. Insgesamt hat der Textverlauf mit seinen häufigen Verschränkungen von Vor- und Rückverweisen (nicht alle können hier analysiert werden) eine zyklische Struktur – die die unwandelbare Permanenz des darin beschriebenen Zustandes abbildet. Den im Text getroffenen Aussagen ist mehreres gemeinsam: der Gestus mal erstaunten („Die Welt so ungetrübt“, Z. 1), mal apodiktischen („Das ist Gesetz“, 122 Kunert, Günter: Biblische Geschichte II. In: Kunert: Unterwegs nach Utopia. München/Wien 1977, S. 58. 123 Das „so“ in Z. 19 etwa lässt sich im Sinne der Konjunktion ‚sofern‘ auf die Zukunft beziehen, aber auch als Relativpronomen auf die Gegenwart. Das „So“ in Z. 20 kann als ‚insofern‘, als ‚daher‘ und als ‚wenn‘ gelesen werden.

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Z. 10), mal lakonischen („Die Hände / ziemlich leer“, Z. 10/11) Konstatierens und die Bindung ans Präsens – beides impliziert einen Anspruch auf Gültigkeit und Allgemeinheit. Im Leseverlauf sorgen die ständigen wechselseitigen Einflussnahmen der Aussagen aufeinander – besonders auffällig über die Zeilenumbrüche hinweg in rückwirkenden inhaltlichen Modifikationen gelesener Zeilen durch den Inhalt der neu anbrechenden  – für changierende Unklarheiten. Etwa liest sich die erste Zeile, isoliert genommen, wie die Zurkenntnisnahme eines positiven, ‚ungetrübten‘ Weltzustandes – oder auch wie dessen panegyrische Feier; der Wegfall des Prädikats lässt den Aussagemodus unentschieden. Der Zusammenhang der zweiten Zeile ironisiert die erste. Beide zusammen konstruieren eine Antithetik zwischen „Welt“ und „Wirklichkeit“, lassen sie aber offen: Bleibt der Gang der ganzen Welt „ungetrübt“ durch eine Wirklichkeit, wie sie in einem ihrer Teile (nämlich „hierzulande“) herrscht? Oder ist „hierzulande“ eine Teil-Welt, die von einer über sie hinaus herrschenden Wirklichkeit „ungetrübt“ bleibt? Auch Zeile 3 löst, obwohl sie zunächst parenthetisch einen Meta-Kommentar über die ersten beiden einzuschieben scheint, deren Mehrdeutigkeit nicht auf, sondern bündelt das zuvor Gesagte zur Spiegelung dessen, was nach dem Doppelpunkt folgt. Die Anonymität, Affirmativität und Allgegenwart (im Polysyndeton „es heißt und klingt und singt“) machen klar, dass „es“ eine „hierzulande“ normative Instanz bezeichnet: den herrschenden Diskurs. Er verordnet eine Wahrnehmung von „Welt“, die der „Wirklichkeit“ widerspricht: „Kein Jammertal / vielmehr ein Paradies“ (Z. 4f.). Dieser totalitären Wahrnehmung wird im weiteren Text widersprochen  – nicht explizit durch ein lyrisches Ich, das gegen sie Partei ergriffe, sondern durch den subversiven, ‚nichttotalitären‘ Sprachgebrauch des Textes selbst. Dieser erweist sich in den oben erwähnten Mitteln steter Sinnverschiebung und -brechung, aber auch dadurch, dass er die verordneten Wahrnehmungen mit empirischen kontrastiert – wozu er das vorgegebene Paradiesmotiv aufgreift und ironisch gebrochen fortführt. Neben das „Paradies“ treten die „anderen Infernen“ (Z. 7), gegen die es sich relativ als kleineres Übel ausnimmt – gleichsam als die ‚beste aller Welten‘; das Attribut „leidlos“ wird korrigiert in „gelitten“ (Z. 6). Die Nacktheit seiner Bewohner, im biblischen Kontext ein Signum ihrer Gut-BöseIndifferenz vor dem Schritt zur Erkenntnis, lässt sich mit dem Ausgeliefertsein im Überwachungsstaat konnotieren und ist „nicht allen sichtbar“ – nur den Erkennenden, zu denen eben auch die Überwachenden zählen. „Das ist Gesetz“ in dieser Art von Paradies, in dem ansonsten gilt, was der biblische Gott erst nach die Vertreibung gesetzt hatte: Arbeit „im Schweiße unseres Angesichts“ (Z. 11), doch mit wenig Ertrag. Eine irritierende Mesalliance gehen Euphemismus und trübe Realität ein, wenn „höchste“ (man denkt an Arbeits-)„Moral“ (Z. 12) an „Handbetrieb und /

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Naturalwirtschaft“ (Z.  12f.) gekoppelt werden, also an präindustrielle Formen der Eigenversorgung, die eine Planindustrie unterlaufen (zugleich sind damit Formen sexueller Ersatzbefriedigung umschrieben): Der status quo, ersichtlich hinter alle offiziellen Postulate zurückgefallen, wird ironisch als deren Erfüllung schöngeredet. Die hierauf Spezialisierten – „Mundwerker“ – sind es denn auch, denen in Zeile 14 „kein Gedanke“ zugebilligt wird, ehe Zeile 15 komplettiert: „kein Gedanke / bleibt geheim“. Einzig – und im „es sei denn“ öffnet sich der Text, der bisher durch strikten Indikativ und Perfekt-Passiv-Konstruktionen („ungetrübt“, „geartet“, „gelitten“) die Starre und Unwandelbarkeit der geschilderten Verhältnisse illustriert hatte, dem Potentialis – einzig geheim bliebe ein Gedanke, der gar nicht erst gedacht würde, weil er „unerforschlich […] für jeden“ (Z. 16) wäre. Ein solcher utopischer Gedanke würde die Vergangenheit ebenso mitdenken wie eine Gegenwart, die (im Gegensatz zur tatsächlichen) eine veränderte Zukunft nach sich zöge. Mit dem (zögerlichen) „zöge“ und dem Zeilenumbruch indes bricht diese Möglichkeit wieder in sich zusammen. Der relativ angeschlossene Satz „was schon an Hiob statuiert“ (Z. 20) ist in zwei grammatischen Konstruktionen lesbar, und keine der beiden Sinn-Varianten lässt der Utopie einen Raum. Bezieht sich das Relativpronomen „was“ auf alles seit Zeile 16 („es sei denn“) Erwogene, dann heißt das, dass der „Gedanke“ bereits seit Hiobs Tagen dazu verdammt ist, geheim zu bleiben. Bezieht es sich auf die „Zukunft“, dann fädelt es die grammatische Konstruktion neu auf, das „so“ (Z. 19) bleibt nicht länger ein Relativpronomen, mithin hat die „Gegenwart“ keinen Bezug mehr zu einer „Zukunft“, und die wiederum brächte nichts Neues, sondern nur etwas in der Vergangenheit, an Hiob, längst ‚Statuiertes‘. „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeigen [bei Kunert] immer das gleiche Antlitz: Die Katastrophe in Permanenz oder das graue Einerlei des Scheiterns“.¹²⁴ Angesichts dieses Zirkelschlusses ergibt „man“ sich „desto lieber“ in die Verhältnisse und deren absurde Prämisse, die – wie die Zeilen 23–25 noch einmal zusammenfassen – die behauptete Identität von Ideal und Wirklichkeit ist: das Paradies auf Erden. Paradies und Leidlosigkeit existieren in der autoritären Behauptung (im zweifachen Wortsinne) der öffentlichen Sprache, nicht aber in der vom Subjekt erfahrenen Wirklichkeit. In der Opposition zwischen Öffentlichkeit und Privatheit stehen sich auch „Paradies“ und Jammertal bzw. Inferno gegenüber, ‚Leidlosigkeit‘ und Leid, Aufdringlichkeit und unerforschliches Geheimnis, Sprache und Verstummen.

124 Bekes (s. Anm. 8), S. 8.

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In dieser – wie der Titel ironisch kommentiert – Zweitauflage der ‚Biblischen Geschichte‘ ist Hiob der einzige namentlich genannte Protagonist. Hiob, die Figur, die für die Frage nach einer Kohärenz zwischen erlebtem Leid und postulierter Gerechtigkeit steht, ist in einem Diskurs, der einen allgemeinen Zustand verwirklichter Leidlosigkeit behauptet, nur noch als Tabu tauglich – als diskursiver Eckpfeiler, der die Grenzen des zugelassenen Fragens markiert. Oder, um im Bildbereich des Paradieses zu bleiben: Hiob als Warnschild am Baum der Erkenntnis. Wer daran rührt, an dem wird „statuiert“. Der Rest ist Schweigen.

8.3.3 Hiob bei Becher und Kunert Johannes R. Bechers Hiob-Text ist ein politisches Lehrgedicht, das mithin wirkungsästhetisch arbeitet; die Verwendung der Hiob-Figur hat argumentative Funktion. Nachvollziehbar gemacht wird die Erkenntnis, für das menschliche Leiden sei der Mensch selbst verantwortlich. Plausibel wird diese Didaxe am Exempel Hiobs meines Erachtens nur deswegen, weil die mit dieser Figur verbundenen Konnotationen sich auf das topische Grundgerüst vom ‚Leidenden Gerechten‘ eingrenzen lassen. Die vorgängige Konnotation Hiobs mit der abstrakten Eigenschaft der Gerechtigkeit lässt Erkenntnisse über das Abstraktum des Leidens, zu denen in seinem Namen gelangt wird, als zwangsläufig, nachvollziehbar – eben: beispielhaft erscheinen. Wäre mit der Hiobs-Figur eine thematisch konkretere Form des Leidens verknüpft – etwa schwere Krankheit oder der Verlust von Angehörigen durch Unfälle –, dann ließe sich die Didaxe von der Abschaffbarkeit des Leides nicht an ihn knüpfen. So aber liegt in der Abstraktheit des die Hiob-Figur tradierenden Topos eine Möglichkeit, sie der Deutungsmacht der religiösen und existenzialistischen Diskurse der Zeit zu entwinden. Auch die mit der Figur konnotierte Verhaltens-Ambivalenz spielt bei dieser Funktionalisierung eine Rolle: Becher zeigt Hiob zwar als Dulder, doch zugleich als Grund seines Leidens einen Widerspruch auf, der dem Rezipienten nahelegt, den Bann zu brechen und den komplementären Part des Rebellen selbst zu übernehmen. In ganz anderen diskursiven Bedingungen steht die Hiobs-Figur bei Günter Kunert. Er arbeitet sie in einen satirischen Text ein, dessen Thema nicht die Gestaltbarkeit der Lebensverhältnisse durch den Menschen ist, sondern ihre bereits abgeschlossene Gestaltetheit. Der einst subversiv gemeinte Diskurs der politischen Säkularisierung des Mythos, zu dessen Stiftern Becher gezählt hatte, hat längst sowohl Deutungsmacht über die Realität gewonnen als auch diese Realität aus den Augen verloren. Mit derselben Rigorosität, mit der er einst die Abschaffbarkeit des Leidens postuliert hatte, beansprucht er nun, es sei abgeschafft. Aus der kollektiven, säkularen Selbstrechtfertigung des Menschen ist die Selbstrecht-

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fertigung eines säkularen Staates gegenüber dem Individuum erwachsen, und diese kennzeichnet Kunert als lähmendes Konstrukt, indem er sie in das Vokabular jenes Diskurses kleidet, den sie selbst als lähmendes Konstrukt betrachtet und zu überwinden beansprucht hatte  – des mythisch-religiösen. Mythologisches Konzept der totalen Übereinstimmung zwischen Ideal und Wirklichkeit ist das Paradies – ein Utopia. Die Schere des Widerspruchs klafft zwischen einer sprachkonstruierten Pseudo-Realität, die das verwirklichte Paradies behauptet, und dem individuellen Empfinden, das sich im Text durch antiideologische, weil sinnverwischende Sprachmittel und durch die ironische Handhabung der Paradiesmetapher artikuliert. Hiob, die topische Figuration der Frage nach dem Widerspruch zwischen Leid und Gerechtigkeit, ist auch im Umfeld dieses Textes ein Topos, und zwar ein U-Topos: der Ort, an dem ein Widersprechen gegen die angeblich verwirklichte Utopie möglich wäre. Sein Name  – der einzige, der im Text fällt – steht für das Recht auf die Artikulation nicht nur des Leidens, sondern generell des Widerspruchs zwischen behaupteter Prämisse und erfahrener Realität ein. Mit der Nennung dieses Namens erfolgt im Text auch der Rückzug vom Herantasten an die Möglichkeit, die er birgt: Die Erinnerung daran, dass an Hiob etwas ‚statuiert‘ worden sei, lässt den Gedanken an eine Zukunft jenseits starrer Geschichtszyklizität nicht mehr zu.

9 Resümee Hartmann von Aue ruft im Armen Heinrich die Hiobsfigur – im topischen Sinne des stoizistischen Dulders im Leid – an zwei zentralen Stellen metatextuell auf. Im ersten Falle dient dies im Sinne Stockers als Signal für eine digressive Änderung der Leserichtung: Im Verbund mit der kontrastierenden Gegenfigur des Absalom eröffnet sich dem Leser die spannungserzeugende Frage nach dem Grund für die negative Schicksalswende des Helden. Vom Ende her gesehen, erweist sich dann der gesamte Text in der Grobstruktur seines Handlungsverlaufs als hypertextuelle Nachmodellierung des Hiobbuchs – ‚bereinigt‘ freilich um seine Streiter-Passagen. Die schrittweise Kontingenzerfahrung Hiobs führt bei Heinrich nicht weiter als bis zur (palintextuell als Motiv aufgegriffenen) Selbstverfluchung – was nicht wunder nimmt, sieht man als sein (und Hartmanns) Modell für die Organisation des ‚Weltkontingenzraums‘, also die Zone des Unverfügbaren, die boethianische Fortuna an, deren Wirkungsmacht a.) mechanistisch geregelt und vom Menschen nicht beeinflussbar ist und b.) Gott selbst, dessen Prädestination sie nachgeordnet handelt, von etwelchen Fragen nach der Intelligibilität seiner Gründe entlastet, Leiden zu verursachen. Thema des Textes ist Heinrichs Verhalten innerhalb seines eigenen Raums der ‚Handlungskontingenz‘, der schmal auf binäre Entscheidungen begrenzt ist. Es erweist sich, dass sein Leid nicht nur Folge der superbia ist, die in der Überschätzung des eigenen Handlungsspielraums durch den Menschen besteht, sondern auch Probe auf ebendiese superbia (denn ohne ihr noch im Leid verfallen geblieben zu sein, würde Heinrich sich nicht anmaßen, es herleiten zu wollen, ja es womöglich nicht einmal als Leid empfinden). Seine Erlösung kann nur unintendiert stattfinden, nämlich durch den Verzicht auf innerweltliche (Heinrich) oder transzendente (Mädchen) Handlungs- und Bewirkbarkeitsabsichten – durch Einsicht in die Machtlosigkeit. Insofern schreibt Hartmann seinem Text eine Analogstruktur zum Hiobbuch ein, die über das Handlungsschema ‚Glück – Schicksalswende – Leid – conversio – erneute Schicksalswende – Restitution‘ noch hinausgeht, wenn auch vermutlich vom Autor nicht intendiert: Den thematischen Aspekt ‚Erlösung des Helden erst nach seinem Fehlgehen durch einen Bewirkbarkeitsglauben, von dem er wieder abrücken muss‘ haben zeitgenössische Leser dem Prätext – dessen Helden verstanden als anfechtungsresistentes und ambivalenzfreies Exempel der humilitas – wohl eher variierend hinzugefügt als entnommen gesehen. Das lateinische Hiob-Drama des Johannes Lorichius von 1543 war – wohl auch, weil es noch in keiner deutschen Übersetzung vorliegt – bislang für die Rezeptionsgeschichte des Hiobbuchs im deutschsprachigen Raum unerschlossen geblieben. Unser ihm gewidmetes Kapitel sollte gezeigt haben, dass dies einer Re-

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vision bedarf: Nicht nur, weil unabstreitbar ist, dass Lorichius’ Schuldrama der zentrale Prätext für die deutschsprachige Hiob-‚Comedi‘ des Hans Sachs von 1547 ist, die ihm gegenüber als Nachdichtung gelten muss. Sondern auch, weil Lorichius seinen Hiob – was sehr ungewöhnlich ist gegenüber der zuvor üblichen, topischen Rezeption der Figur als eines erlösungsgewissen Dulders – durch alle im Prätext angelegten Phasen des Kontingenzbewusstseins gehen lässt. Bereits im mittleren 16. Jahrhundert begegnen wir mithin einem literarischen Hiob, der seine Geburt verflucht, den Grund seines Leidens erfahren will, Gott zum Prozess herausfordert und dessen Welt- und Menschenabgewandtheit als deus absconditus beklagt. Zwar geschieht dies sehr pragmatisch im Rahmen einer didaktischen Wirkungsästhetik: Lorichius’ Grund, den blasphemischen Redeteil des Hiobbuchs in zuvor ungekannter Weise stark zu machen, ist offenkundig dessen argumentative Polyphonie, an der sich im humanistischen Geiste die ethische Dimension der Rhetorik exemplifizieren lässt. Und zwar implementiert Lorichius ausdrücklicher noch als Hartmann von Aue in seine (generell mythensynkretistische, mit altphilologischem Bildungsgut angereicherte) Fassung des Hiob-Stoffs das boethianische Konzept der Fortuna als kontingenzgenerierende Pufferinstanz zwischen Mensch und monotheistischem Schöpfergott, welchletzterer somit, von unmittelbarer Verantwortung für Übel und Leid entlastet, weiterhin als allgütig zu denken ist. Und zwar stellt er überdies der Fortuna in selber Funktion – wiederum mythensynkretistisch und gemäß dem Zeitgeist der Reformationsära – auch noch den konkret figurierenden Teufel zur Seite, der als Einflüsterer hinter Hiobs Dialogpartnern fungiert und dem gegenüber sich die Figur des ‚Heliu‘ (Elihu) als strahlende Inkorporation einer unbestechlichen Rhetorik abhebt. Allemal aber stärkt Lorichius mit eben dieser Rhetorifizierung des Stoffs dessen – in Hiobs ‚Phase 3a‘ formulierten – Meta-Anspruch auf die Sprache als einen Verfügungsraum, der dem Menschen – notfalls auch als Prozessmedium gegenüber Gott  – zu Gebote steht, er reflektiert verhaltensethische Normen (aptum/ decorum), die innerhalb dieses Raums zu gelten haben, und weitet ihn in seiner Schlusspointe mit dem vom Rhetor düpierten Teufel bis in die Begegnungssphäre zwischen Mensch und Numinosem aus. Gleichwohl ist es an Hiob – ausweislich des Titels – auch bei Lorichius noch, die Probe aufs Exempel der stoizistischen patientia zu bestehen. Doch gilt nun als Kulminationspunkt dieser Probe die Auseinandersetzung mit jenen weltimmanenten, menschlichen Dialogpartnern, die eine abweichende Theologie postulieren und im Prätext noch als ‚Freunde‘ firmieren, im Zeitalter beginnender theologiekonzeptioneller Unübersichtlichkeit jedoch zu Handlangern Satans avanciert sind. Auf ebendiesen Aspekt der innerweltlichen Anfechtung stutzt Hans Sachs den Text Lorichius’ zurück, indem er Hiob zur  – im frühurbanen, ordnungsrechtlich ungefestigten Milieu des zeitgenössischen Nürnberg durchaus gesell-

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schaftsrelevanten  – Vorbildfigur der Affektkontrolle macht. Sein Hiob verharrt dementsprechend in einer passiven Form von ‚gedult‘, die die bei Lorichius mit verarbeitete Phase des Haderns mit der erlebten Kontingenz bzw. des Ringens um deren Intelligibilität gar nicht erst erreicht. Was der Protestant Sachs gestaltet, das schließt – zurückfallend hinter die bei Lorichius erreichte Stufe – wieder an jenes enge Verständnis von Handlungskontingenz an, das wir im ,Armen Heinrich‘ diagnostiziert haben: Im Handlungsspielraum des Menschen liegt die punktuelle, subjektive Willensentscheidung zum richtigen Verhalten im Leid  – und diese ist es, auf die es in so hohem Maße ankommt, dass demgegenüber die Frage nach der individuellen Straffunktion des Leidens gegenstandslos wird, ohne geklärt zu werden. Letztlich freilich dokumentiert Sachs’ Lehrstück ebenso wie sein lateinischer Prätext eine sozialhistorisch gebundene Funktion von Literatur, die im Rahmen eines sich an der Epochenschwelle zur Neuzeit weit öffnenden Feldes menschlicher Handlungskontingenz steht: Der Formierung städtischer Gemeinwesen, in denen ein weltimmanentes Miteinander auf engem Raum zu gestalten war – eine didaktische Volksliteratur leistet hierzu ihren Beitrag, indem sie dem Publikum Diskussionskultur (Lorichius) und Affektkontrolle (Sachs) als Medien sozialer Harmonie anempfiehlt. Die stoischen Tugenden, für die Hiob klassischerweise steht, dienen noch bei Johann Christian Günther als einleitende, leserlenkende Intertextualitätssignale. Doch artikuliert sich hier, in der palintextuell überdeutlich anzitierten Sprecherrolle des erst neuerlich wieder aufgewerteten klagenden, kontingenzbewussten Streiter-Hiob, ein autobiographisch grundiertes ‚Ich‘. Zitativ bedient es sich im Rahmen einer (noch) rhetorisch gebundenen Poetik aus verschiedenen Phasen des Hiobschen Kontingenzbewusstseins: Das Vorbild Hiobs als argumentum ad auctoritatem sowie Günthers Verfahren, Selbstverfluchung (Phase  2), deus-absconditus-Klage und Reinigungseid (Phase 3a) in eine Rahmenkomposition einzuarbeiten, die auf einen entschärfenden, versöhnlichen Schluss hinausläuft, sichern dem Text die rhetorische Lizenz zur blasphemischen Rede in Ich-Form. Dieses ‚Ich‘ nun bezieht in die Aufzählung seiner Leiden wesentlich auch das Leiden am zeitgenössischen Pluralismus intellektueller Deutungsangebote für menschliches Leiden mit ein: Im Zeichen der protestantischen Verantwortungsethik einerseits, der rationalistischen Theodizee andererseits ist eine Kopräsenz konfligierender Sinnzuschreibungen entstanden. Hiob wird so zur Identifikationsfigur und der selbstreflexive ‚Mythos von der Neuformulierung des Mythos‘ applizierbar auf eine neue Pluralität der Sinnkonstrukte, die einander widersprechen und so einen ‚Ansturm der Wirklichkeit‘ auf das verunsicherte Individuum nicht verhindern können. Und so ist jene Absenz eines transzendenten diskursiven Gegenübers, die der biblische Hiob in seiner ‚Phase 3a‘ beklagt, bei Günther nicht mehr nur die Abwesenheit einer Instanz, die einzig für die Intelligi-

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bilität von Leidensgründen sorgen könnte, sondern vielmehr die einer letzten Instanz, die der Vielstimmigkeit philosophischer und theologischer Begründungsversuche Herr werden könnte. Und mehr noch: Die Schilderung einer gleichsam horizontal – statt, wie etwa noch bei Hartmann, rein vertikal an ein transzendentes Gegenüber – gebundenen Leidenssituation kann sich zwar auf Topoi aus dem Hiobbuch stützen, beschreibt jedoch ein auch literaturhistorisch neues Phänomen: Das Leiden des Ich rührt auch aus der sozialen Randständigkeit dessen, der die noch unetablierte Rolle eines Berufsdichters für sich reklamiert. Die Hölle, das sind die Anderen: Indem Günther in die enumeratio seiner Hiobsleiden auch gesellschaftliche Diskurse einbezieht, greift er zwar etwas auf, was bereits in den beiden Dramen des 16. Jahrhunderts zum Tragen kam. Doch hatten diese der Integration und Stabilisierung eines gesellschaftlichen Feldes gedient, auf dem wiederum im frühen 18. Jahrhundert eine Literatur im neu heraufdämmernden Selbstverständnis ästhetischer Autonomie noch desintegriert wirkt. Günthers Gedicht-Ich zementiert letztlich diese seine Abseitsstellung, indem der Gnadenakt, mit dem es in die zuvor verfluchte Tugend der ‚Gedult‘ zurückfällt, sich jenseits des defizienten Diskursiven als einsamer Akt einer immediaten, individuellen Glaubensbeziehung sola fide abspielt. Aber mehr noch: Als mindestens gleichberechtigte Botschaft des Textes bleibt neben jener am Schluss postulierten Direktbeziehung des Subjekts zu Gott eben jener intratextuell vorgeblich nur vorübergehende Anfall von aufklärerischer Subjektermächtigung übrig. Günthers ‚Ich‘ beansprucht zu Beginn einen Raum von qua freiem Willen poetisch besetzbarer Handlungskontingenz, der größer kaum sein könnte, und reduziert diesen Anspruch  – und diesen Raum  – zum Ende hin nicht nur auf das Minimum von Entscheidungsfreiheit, nämlich auf die punktuelle Alternative zwischen Ungeduld und Geduld, sondern schreibt nicht einmal mehr die auf Basis dieser Alternative getroffene Entscheidung zur Demut sich selbst zu, sondern einer mystischen Anwandlung, die seine zuvor geäußerten Ansprüche nur rhetorisch entschärft, nicht aber ungeschehen macht. Indem der Text den blasphemischen Handlungsanspruch seines Sprechers nur in einer Weise als obsolet verwirft, die neuneinhalb Zeilen lang, vom Ende her und unter Berufung auf eine eingangs verworfene Tugendinstanz erfolgt, setzt er ihm de facto ein Denkmal. Johann Wolfgang Goethe greift im Faust durch den Hiobbuch-analogen Prolog im Himmel die Beobachterposition auf. Indem er Faust- und Hiobsstoff kontaminiert, gibt er dem ersteren, frühneuzeitlichen Stoff einen ungekannten Dreh: Der Streiter-Hiob wird im Faust zur Personifikation der neuzeitlichen conditio humana. Goethe unterzieht hierzu die Dramaturgie des Hiobbuchs einer Inversion: Die Kennzeichen seiner Hiob-Figur sind von Anfang an just diejenigen, von denen der biblische Hiob am Anfang noch meilenweit entfernt ist: Unzufriedenheit, Ungeduld und Leiden an der Kontingenz der Welt. Fausts Erkenntnis-

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drang ist just nicht mehr ein Grund zur Verdammnis, sondern Bedingung seiner Erlösungsfähigkeit. An die Stelle der Demut und Geduld, also des Verzichts auf Handlungsspielräume, die Jahwe an Hiob exemplarisch belobigt, belobigt Goethes ‚Herr‘ an Faust die gegenteilige Eigenschaft, die Ungeduld und sein Streben nach maximalem Spielraum, nach Gottähnlichkeit. Damit wird der Erkenntnisdrang der Neuzeit nobilitiert und gerechtfertigt – aus dem Stoff, der für Günther noch der Stoff der Theodizee war, macht Goethe einen Stoff der Anthropodizee. Freilich steht dieser Inversion eine weitere Inversion gegenüber, die sie aufhebt und ironisch in der Schwebe hält: Schaltet Goethes Faust doch dem Prolog im Himmel eine weitere Meta-Ebene voran, das Vorspiel auf dem Theater nämlich, in dem alles Folgende – und eben auch der Prolog im Himmel – als menschengemachtes Konzept angekündigt wird. Und tatsächlich gibt sich auch die Lobeshymne der Erzengel, die motivisch an die Schöpfungsrevue im Hiobbuch angelehnt ist, als Konglomerat menschengemachter Weltbilder zu erkennen: Sieht Raphael den Kosmos „nach alter Weise“ nach dem pythagoreischen (und geozentrischen) Konzept der Sphärenharmonie sortiert, so ruft Gabriel anschließend das neuere heliozentrische Muster auf. In einer Zeit, in der „eine prinzipiell andere Dimensionierung des Kontingenten“ eingetreten ist, die mit der radikalen Öffnung des transzendenten und empirischen Raumes in der europäischen Neuzeit korrespondiert, und die sich seit dem 18. Jahrhundert auf mindestens drei Feldern irreversibel etabliert: technisch als Naturbeherrschung, sozial als Gestaltbarkeit von Gesellschaft, ästhetisch als Autonomisierung der Kunst,¹

lässt Goethe die angeschwollene Polyphonie der (post-)mythologischen Deutungsmuster, Horizontbesetzungen, Entlastungsstrategien die Sphäre der Weltkontingenz erreichen und ausfüllen – die Sphäre Gottes. Faust- und Hiobs-Stoff ergeben in Goethes Kontamination einen Text, in dem einerseits die schrankenlose Ausweitung des menschlichen Verfügungsbereiches qua naturwissenschaftlicher curiositas und philosophischem Individuationsdrang als göttlich legitimiert erscheint, andererseits jene Zone, in der der sie legitimierende Gott waltet, ihrerseits überdeutlich als Projektion menschlicher  – und naturgemäß: interessierter – Weltdeutungsversuche gezeigt wird. Faust verhandelt die Frage nach den Grenzen menschlicher Handlungs- und Bewirkbarkeitsspielräume, ironisiert freilich mit der damit formulierten Anthropodizee letztlich auch seine eigene Grundlage, die ‚Entlastungsfunktion‘ der Literatur. Auch Heinrich Heines Geständnisse verhandeln die besagte Frage nicht mehr ‚nur‘ auf der textimmanenten Ebene ihrer Themen, sondern verlagern sie – gleich-

1 Makropoulos (s. Kap. 1, Anm. 16), S. 25.

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sam darauf vertrauend, dass sie stets mitschwingt, wann immer Topoi aus dem Hiobbuch aufgerufen werden – in den demonstrativen, öffentlichkeitswirksamen Akt der freien Instrumentalisierung des Hiob-Stoffs selbst. Und just denjenigen biblischen Stoff, in dem ein Mensch nach maximaler Ausnutzung seiner geistigen Mündigkeit bis hin zur Anfechtung des personalen Gottes in die Erkenntnis seiner Grenzen zurückfindet, macht Heine zum Kronzeugen eines maximalen Gestaltungsanspruchs des literarisch tätigen Individuums innerhalb der Grenzen des ihm Verfügbaren: nämlich des Autors, der sich selbst und seine physischen wie intellektuellen Grenzen zum Thema erhebt. Ein autobiographischer, autopoetologischer Essay mit Hiob-Referenz  – bereits dies ein Novum in der Literaturgeschichte. Überdies aber konturiert Heine darin – in apologetischer Absicht seinen Kritikern gegenüber – den neu gewonnenen Glauben als ein radikal persönliches, immediates, an keinerlei konfessionelle Ideologeme gebundenes Zweierverhältnis. Ein starker Originalitätsanspruch, der sich – in der Forschung bislang nicht gewürdigt – in einer originellen Funktionalisierung des biblischen Prätexts äußert: Heine spannt die Diagnose einer Übereinstimmung zwischen Willkür in der Welt und Willkür im eigenen Schicksal (Hiobs ‚Phase 3‘) zusammen mit der Demut des sich wieder Unterwerfenden (‚Phase 4‘), macht sie also zum Anlass gläubiger Hinwendung zu Gott statt – wie Hiob – zum Anlass einer Klage über dessen Abwendung als deus absconditus. So aber kann sich andererseits jener ‚Prozess‘ abspielen, der von Hiob vergeblich gewünscht wird: Im Akt der ironischen Bewältigung des Leidens in Sprache – und insbesondere in der Metapher vom Kräftemessen zwischen Heine und Gott als dem theatral vor literarischem Publikum ausgefochtenen Wettstreit zweier Bühnenautoren um die Krone der größeren Originalität. Auch bereits im Romanzero, der mit einer überhistorischen WeltkontingenzDiagnose einsetzt, stellt die abschließende Analogsetzung des Autors Heine mit der changierenden Doppel-Figur des Hiob-Lazarus vollends unter das Vorzeichen des Autobiographischen, was sich zuvor noch generalisierend als dem Dichtertum allgemein zugeschrieben lesen ließ: das Konzept vom Dichter als einer Exempelfigur für die allgemeine Zyklizität des Weltenlaufs. Die beiden disparaten Schmerzensmann-Präfigurationen beglaubigen in ihrer lyrischen Überblendung das Gewicht des Dichters in einer kontingenten Menschheitsgeschichte. Sein Gewicht als eine Instanz nämlich, die von der allgemeinen Kontingenz der Welt existenziell mitbetroffen ist und just daraus das Privileg gewinnt, dem Leiden an ihr eine Stimme zu verleihen – und dabei freilich unentschieden zu lassen, welche Sinngebung (und ob überhaupt eine) diesem Leiden einzuschreiben ist. Die Lazarus-Figur mit Hiob-Stimme wird so vom metaphorischen Zentrum einer poetologischen Standortbestimmung Heines zum Angelpunkt seiner religiösen Neuverortung.

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Die verwirrende Kopräsenz menschengemachter Sinnangebote, die bereits bei Günther in lyrischer Rollenrede mitreflektiert wird, und die schwierige Pflicht des Einzelnen zur Verortung im sozialen Miteinander, die bereits Lorichius und Sachs im Drama reflektierten, sind Themen, die Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz zu einer epischen Versuchsanordnung über den Handlungsspielraum des Einzelnen in der enttranszendentisierten Moderne konstelliert. Konträr zum biblischen Hiob, stellt sein exemplarischer Protagonist gleich eingangs die Diagnose allgemeiner Kontingenz, flüchtet sich dann aber just zur Abwehr dieser als Bedrohung empfundenen Komplexität in ein denkbar unkomplexes, nämlich rein binäres Handlungsschema – den altweisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang, den Hiob bereits bald nach seiner Schicksalswende als suspendiert erkennt. Erst infolge dessen wendet sich jene Übermacht, die bei Döblin profan „das Leben“ heißt, gegen ihn. Der Roman zeichnet die urbane Moderne als einen Raum der Weltkontingenz, den gerade nicht mehr ein Gott, eine starke Transzendentmacht, mit ihrem Entscheidungsmonopol vollständig ausfüllt. Vielmehr ist diese Macht gewichen und hat ein Vakuum hinterlassen, das der Mensch  – genauer: die Menschheit als Kollektiv – mit einer unüberschaubaren Diversität von Sinnkonstrukten angefüllt hat. Ebendiese hypertrophierte Weltsphäre, übersättigt mit menschlichen Sinnkonstrukten, ist es, in der sich Biberkopf seine eigene Handlungssphäre – ausgehend vom Nullpunkt der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, nämlich dem Gefängnisleben – erst wieder neu zu erschließen sucht. Sein wiederholter Fehler besteht – das haben selbst hiobbuch-orientierte Forschungslektüren bislang übersehen  – darin, dass er das auf ebenjener unzeitgemäßen, weil allzu schlichten Prämisse aufbaut. Zunächst sucht er Wohlergehen in moralisch gutem Verhalten, was scheitert und ihn zum gegenteiligen Versuch bewegt, nämlich – sozusagen Hiobs Kontingenzdiagnose vom Wohlergehen der Schlechten fruchtbar machend – in moralisch schlechtem Verhalten. Seine Erlösung besteht darin, dass er eine – mit Luhmann gesagt – Beobachterrolle zweiter Ordnung einzunehmen lernt, in der er sich nicht mehr als starrer Antagonist des Weltganzen, sondern als Teil seiner Kontingenz sieht und flexibel zu interagieren lernt. In der Lyrik des 20. Jahrhunderts kommen die (vor der Kontrastfolie der mittelalterlichen Rezeption) innovativen Funktionen und Sinnzuschreibungen, die Günther und Heine dem Hiobbuch abgewinnen, unter neuen Vorzeichen zum Tragen. Die rollenhafte Identifikation eines Ich mit Hiob, die Überblendung seiner Figur mit anderen Rollenmustern aus nichtbiblischem Kontext, die Identifikation des Hiob- mit einem Dichterschicksal: Das sind Aspekte, die auch Karl May und Yvan Goll – mit differierender Betonung des poetologischen Aspekts – dem Topos des ‚Leidenden Gerechten‘ abgewinnen. Die Revitalisierung der rebellischen Seite der Figur lässt, wie sich an Karl May und Johannes R. Becher zeigt, produktive Verschmelzungen mit der Dulder-Seite zu – und (anlass- und

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interessegebunden) auch verschiedene Neuformulierungen und Kontrafakturen der Theodizee (May, Celan, Becher). Auch die kritische Überblendung verschiedener Diskurse und Argumentationsmuster, wie Günther sie praktiziert, lebt fort (Celan, Kunert), im Falle Kunerts auch ihr satirisches Potential. Unter dem Epistem der Autonomie des künstlerischen Subjekts fallen der Gerechtigkeits-Aspekt des Hiob-Topos und die Nobilität des durch seine Tätigkeit gerechtfertigten Poeten in eins; so können Karl May und Yvan Goll den Prozess der Apotheose des Leidenden (May) oder den Eingang des sterbenden Dichters in die Dingwelt der Natur und des Gedichts (Goll) im Medium der Rollenlyrik nutzen, um biographischer Leiderfahrung und Todesnähe einen mythologischen Sinn einzuschreiben. Im Kontext des Holocaust und der Aufgipfelung von Leid ins unzählbare Kollektiv freilich verbietet es sich, von der deutschen Frühaufklärung geprägte Sinnstiftungsmuster auf die Lyrik überlebender Opfer zu übertragen; sie steht im Modus der Stellvertreterschaft für die Toten, weshalb die Hiob-Figur hier kein Rahmen subjektiv-identifikatorischer Sinnsuche mehr sein kann. Der Ansatz Margarete Susmans, der Hiob mit dem ganzen Volk Israel analogisiert und die Erträglichmachung des Leidens in Form der Hoffnung auf einen göttlichen Plan in die Zukunft projiziert, wird bei Nelly Sachs und Paul Celan lyrisch reflektiert; hierbei rückt der Aspekt des Potentials von Sprache überhaupt in den Vordergrund. Sachs zeichnet das Volk Israel als verstummten Dulder-Hiob, dem durch Ansprache die Artikulationsfähigkeit erst zurückerstattet werden muß – Vorbedingung für die Möglichkeit, aus dem Leiden einen Sinn in Form eines göttlichen Auftrags für die Zukunft zu gewinnen. Celan indes negiert im Gestus des Rebellen-Hiob jede sprachliche Verbindung zwischen Mensch und Gott. Die gesellschaftskritische Lyrik Bechers und Kunerts schließlich macht die Hiob-Figur erneut zum Modellfall der Anthropodizee: Bei Becher fungiert Hiob als didaktisches Exempel eines Propheten des historischen Materialismus, als Kronzeuge also einer schrankenlosen Ausweitung der menschlichen Handlungszone. Bei Kunert hingegen, der 30 Jahre später das Ergebnis dieses Anspruchs als eine von uneingelösten sprachlichen Postulaten dogmatisierte Lebenswelt vorfindet, die den Handlungsraum des Einzelnen minimiert, wird Hiob zur Chiffre der Dekonstruktion dieses Dogmas  – und so zur Chiffre der Utopie von Widerständigkeit und Zukunftshoffnung in einer Welt, in der das Ringen des einzelnen Menschen um seinen eigenen Handlungsraum nicht mehr das Ringen gegen eine transzendente Zone des Unverfügbaren ist, sondern das Ringen gegen menschliche Machtkollektive um die Verfügungshoheit über jenes menschliche Medium, das bereits im Hiobbuch als Leitmedium aller Fortschritte und Rückschläge menschlicher Weltdeutung thematisiert wird: die Sprache.

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Index Adorno, Theodor W. 30 Auerbach, Erich 34–35 Augustinus 43, 66–67, 72, 114, 162 Baeck, Leo 32 Becher, Johannes R. 221, 223–225, 227, 229, 237–238 Benjamin, Walter 207 Blumenberg, Hans 5–8, 11, 31, 36–38, 144, 173, 182 Boethius, Anicius Manlius Severinus 51, 71–75 Buber, Martin 202, 210, 216–218, 221 Celan, Paul 195, 200–201, 204–205, 207, 210–221, 238 Curtius, Ernst Robert 34 Döblin, Alfred 1, 3, 173–179, 181, 185, 237 Feuerbach, Ludwig 217, 223 Fichte, Johann Gottlieb 144 Goethe, Johann Wolfgang 1, 3, 131–134, 136–141, 144–145, 147, 160, 169, 188, 191, 193, 199, 234–235 Goll, Yvan 187, 193–194, 196–200, 237–238, 242 Gregor der Große 43 Günther, Johann Christian 43, 51, 111–114, 117–121, 123–125, 127–129, 148, 160, 198, 200, 233–235, 237–238 Haller, Albrecht von 114 Hartmann von Aue 1, 3, 45–51, 53–54, 56–59, 64, 67–71, 73–75, 90, 110, 231–232, 234 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 163–164 Heine, Heinrich 1, 146–155, 157–171, 198, 235–237 Hieronymus 42 Hofmannsthal, Hugo v. 200 Hölderlin, Friedrich 197 Horkheimer, Max 30

Isokrates 79 Kant, Immanuel 144 Kunert, Günter 221, 223–227, 229, 238–239 Leibniz, Gottfried Wilhelm 113–115, 118, 124–125, 138 Litzmann, Berthold 129 Lorichius, Johannes 1, 78, 80, 82–101, 105, 107–110, 231–233, 237 Luhmann, Niklas 3–4, 176, 237, 245 Lukas (Evangelist) 156 Luther, Martin V, 42, 69, 77–79, 81, 83, 112–113, 124–126 Marquard, Odo 114, 143–144, 168 May, Karl 187–193, 198–200, 237–239 Melville, Herman 201 Nietzsche, Friedrich 175 Notker von St. Gallen 69, 74 Novalis 197 Opitz, Martin 117–119 Oporinus, Johann 80, 244 Paulus (Apostel) 67 Platon 79 Publius Ovidius Naso 119, 200 Pythagoras 135 Rilke, Rainer Maria 197 Rousseau, Jean-Jacques 162 Sachs, Hans 77–78, 81–93, 106–110, 232–233 Sachs, Nelly 200–202, 205–206, 208, 210, 215–219, 221, 238 Saint-Simon, Claude-Henri de 151 Schelling, Friedrich Wilhelm 144 Scheuchzer, Johann Jacob 114 Scholem, Gershom 202

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   Index

Schopenhauer, Arthur 192–193, 198, 239 Spinoza, Baruch 113, 147 Susman, Margarete 200–201, 207–210, 215–216, 218–220, 238

Wittgenstein, Ludwig 200 Wolff, Christian 112–113