Prophet des Unmodernen: Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende 9783110934953, 9783484350380


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German Pages 281 [284] Year 1993

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EINLEITUNG
ERSTERTEIL: Von Jasnaja Poljana in die deutschen Schlagzeilen - Zur deutschsprachigen Tolstoi-Rezeption zwischen 1884 und 1920
I. Der Prophet von Jasnaja Poljana - Biographisches zu Leo Nikolajewitsch Tolstoi
II. »Ispoved’« wird zu »Meine Beichte« - Das Werk Tolstois in Deutschland
III. Das »Warenhaus für Weltanschauungen« - Tolstoi im Eugen-Diederichs-Verlag
IV. »Tolstoi und kein Ende« - Tolstoi in den Kulturzeitschriften und größeren Zeitungen
V. Tolstoi-Rezipienten - Sozial- und literaturgeschichtliche Betrachtungen
VI. Zusammenfassung: Die Modernität des Unmodernen
ZWEITER TEIL: Das Argument Tolstoi - Zur kulturkritischen und weltanschaulichen Diskussion der Jahrhundertwende
I. Literarisches Dessert oder Kulturgewissen ? - Zur Tolstoi-Diskussion im protestantischen Bürgertum
1. Kulturapologeten
2. Kulturprotestantismus
a) Der liberale und moderne Protestantismus
b) Reaktionen des konservativen Protestantismus
c) Exkurs: Das katholische Tolstoi-Bild
3. »Ethische Kultur« und Kulturwissenschaften
a) »Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur«
b) Kulturwissenschaften
4. Kulturkritik und Lebensreform
a) Tolstoi und Avenarius - Kulturkritik und Auf bruch in der »Kunstbewegung«
b) Tolstoi und Rousseau - Reformpädagogik und Volkskunst
c) Tolstoi und Nietzsche - Kulturkritische Kursbestimmung
d) Exkurs : Tolstoi und Bertha von Suttner - Anarchistischer Pazifismus contra bürgerliche Friedensbewegung
5. Zusammenfassung : Tolstoi und die Reflexion der modernen Kultur
II. Reaktionär oder Revolutionär? - Zur Tolstoi-Diskussion im Sozialismus-Anarchismus
1. Die orthodoxen Sozialisten
a) Konturen des Tolstoi-Bildes
b) Kampf der Weltanschauungen
Exkurs: Lenin gegen Tolstoi
2. Der sozialistische Neukantianismus und der Revisionismus
a) Der sozialistische Neukantianismus
b) Der Revisionismus
3. Der ethisch-ästhetische Sozialismus und Anarchismus
a) Kurt Eisner-Ein »outsider« der sozialdemokratischen Partei
b) Gustav Landauer - Ein »grüner« Anarcho-Sozialist
Exkurs : Die Tolstoi-Kolonien - Anarcho-pazifistische und anarcho-religiöse Siedlungen
c) Erich Mühsam-Ein anarchistischer Bohemien
Exkurs: Tolstoi in den anarchistisch-expressionistischen Zeitschriften
d) Ernst Toller - Ein literarischer Pazifist
e) Die Münchener Republik und Räterepublik
4. Zusammenfassung : Tolstoi und das Scheitern des pazifistischen Anarchismus
III. »Die Konsequenz Tolstois« - Zum Tolstoi-Bild Max Webers und seiner Stellung in der Tolstoi-Diskussion
1. »ÉtikaTolstogo«-Tolstoi im Denken und Werk Max Webers
2. Der Ethik-Diskurs -Tolstoi im »Heidelberger Milieu« und im Weber- Kreis
a) Tolstoi-Vermittler
b) Facetten des Ethik-Diskurses
c) Das spezifisch Webersche Tolstoi-Bild
3. Das »Gebot der Konsequenz« -Tolstoi als konsequenter Gesinnungsethiker und Kulturverneiner im Werk Max Webers
a) Der idealtypische Gesinnungsethiker
b) Das Gegenmodell: Der idealtypische Verantwortungsethiker
c) Tolstoi oder die Kultur der Moderne
4. Zusammenfassung: Das Webersche »Entweder-Oder«
SCHLUSSBETRACHTUNG : Tolstoi ohne Folgen
ANHANG UND BIBLIOGRAPHIE
Anhang
I. Die Tolstoi-Rezeption 1884–1920
II. Tolstoi in den Kulturzeitschriften und Zeitungen
Bibliographie
I. Leo N. Tolstoi
II. Die Tolstoi-Rezeption 1884–1920
1. Monographien über Leo Tolstoi
2. Aufsätze über Leo Tolstoi
III. Zur Tolstoi-Diskussion in der wilhelminischen Gesellschaft
1. Zeitgenössische Quellen und Autoren
2. Forschungsliteratur
REGISTER
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Prophet des Unmodernen: Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende
 9783110934953, 9783484350380

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STUDIEN UND TEXTE ZUR S OZI ALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 38

Edith Hanke

Prophet des Unmodernen Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Redaktion des Bandes: Dieter

Langewiesche

Meinen Eltern, Lieselotte und Robert Hanke

D 25 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hanke, Edith: Prophet des Unmodernen : Leo N. Tolstoj als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende / Edith Hanke. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 38) NE: GT ISBN 3-484-35038-5

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

EINLEITUNG

1

ERSTERTEIL:

Von Jasnaja Poljana in die deutschen Schlagzeilen - Zur deutschsprachigen Tolstoi-Rezeption zwischen 1884 und 1920 I.

9

Der Prophet von Jasnaja Poljana - Biographisches zu Leo Nikolajewitsch Tolstoi

11

II. »Ispoved'« wird zu »Meine Beichte« - Das Werk Tolstois in Deutschland

34

III. Diederichs-Verlag Das »Warenhaus für Weltanschauungen« -Tolstoi im Eugen-

40

IV. »Tolstoi und kein Ende« -Tolstoi in den Kulturzeitschriften und größeren Zeitungen

47

V. Tolstoi-Rezipienten - Sozial- und literaturgeschichtliche Betrachtungen

51

VI. Zusammenfassung: Die Modernität des Unmodernen

57

ZWEITERTEIL:

Das Argument Tolstoi - Zur kulturkritischen und weltanschaulichen Diskussion der Jahrhundertwende I.

Literarisches Dessert oder Kulturgewissen ? - Zur Tolstoi-Diskussion im protestantischen Bürgertum 1. Kulturapologeten 2. Kulturprotestantismus a) Der liberale und moderne Protestantismus b) Reaktionen des konservativen Protestantismus c) Exkurs: Das katholische Tolstoi-Bild

59

61 62 65 65 82 85 V

3. »Ethische Kultur« und Kulturwissenschaften a) »Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur« b ) Kulturwissenschaften 4. Kulturkritik und Lebensreform

89 89 93 101

a) Tolstoi und Avenarius - Kulturkritik und Aufbruch in der »Kunstbewegung«

102

b ) Tolstoi und Rousseau-Reformpädagogik und Volkskunst

105

c) Tolstoi und Nietzsche - Kulturkritische Kursbestimmung

107

d ) Exkurs : Tolstoi und Bertha von Suttner - Anarchistischer Pazifismus contra bürgerliche Friedensbewegung 5. Zusammenfassung : Tolstoi und die Reflexion der modernen Kultur . . II.

111 114

Reaktionär oder Revolutionär? - Zur Tolstoi-Diskussion im Sozialismus-Anarchismus

117

1. Die orthodoxen Sozialisten

117

a) Konturen des Tolstoi-Bildes

117

b ) Kampf der Weltanschauungen

120

Exkurs: Lenin gegen Tolstoi 2. Der sozialistische Neukantianismus und der Revisionismus

124 125

a) Der sozialistische Neukantianismus

126

b ) Der Revisionismus

128

3. Der ethisch-ästhetische Sozialismus und Anarchismus

130

a) Kurt Eisner- Ein »outsider« der sozialdemokratischen Partei . . . .

131

b ) Gustav Landauer - Ein »grüner« Anarcho-Sozialist

136

Exkurs : Die Tolstoi-Kolonien - Anarcho-pazifistische und anarcho-religiöse Siedlungen c) Erich Mühsam-Ein anarchistischer Bohemien

142 149

Exkurs : Tolstoi in den anarchistisch-expressionistischen Zeitschriften

153

d) Ernst Toller - E i n literarischer Pazifist

156

e ) Die Münchener Republik und Räterepublik

159

4. Zusammenfassung : Tolstoi und das Scheitern des pazifistischen Anarchismus

165

I I I . » D i e Konsequenz Tolstois« - Zum Tolstoi-Bild Max Webers und seiner Stellung in der Tolstoi-Diskussion

168

1. »EtikaTolstogo«-Tolstoi im Denken und Werk Max Webers

168

2. Der Ethik-Diskurs -Tolstoi im »Heidelberger Milieu« und im WeberKreis

174

a) Tolstoi-Vermittler

174

b ) Facetten des Ethik-Diskurses

181

c) Das spezifisch WeberscheTolstoi-Bild

188

3. Das » G e b o t der Konsequenz« -Tolstoi als konsequenter Gesinnungsethiker und Kulturverneiner im Werk Max Webers VI

189

a) Der idealtypische Gesinnungsethiker b) Das Gegenmodell: Der idealtypische Verantwortungsethiker . . . . c) Tolstoi oder die Kultur der Moderne 4. Zusammenfassung: Das Webersche »Entweder-Oder«

189 196 200 208

SCHLUSSBETRACHTUNG : Tolstoi ohne Folgen

209

ANHANG UND BIBLIOGRAPHIE

213

Anhang

215

I. Die Tolstoi-Rezeption 1884-1920 II. Tolstoi in den Kulturzeitschriften und Zeitungen

215 216

Bibliographie

219

I. Leo N.Tolstoi II. Die Tolstoi-Rezeption 1884-1920 1. Monographien über Leo Tolstoi 2. Aufsätze über Leo Tolstoi

219 223 223 226

III. Zur Tolstoi-Diskussion in der wilhelminischen Gesellschaft 1. Zeitgenössische Quellen und Autoren 2. Forschungsliteratur

256 256 262

REGISTER

269

VII

Einleitung

Bekannt ist Leo Nikolajewitsch Tolstoi (1828—1910) als der große Dichter von »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina«; unbekannt ist er dagegen heute als der große Kritiker der modernen Kultur. Mit fünfzig Jahren wandte sich Leo Tolstoi von der Dichtkunst ab und widmete sich ganz der Neuauslegung der christlichen Lehre. Der Dichter wurde zum Propheten. Das Bergpredigt-Gebot »Du sollst dem Übel nicht widerstreben mit Gewalt« machte er zum Angelpunkt seiner pazifistischanarchistischen Ethik. Wie ein alttestamentarischer Prophet schleuderte Tolstoi dieses Gebot gegen die Soldaten und die Regierenden, schließlich gegen die Institution des Staates, den er als ein »organisiertes Vergewaltigungssystem« brandmarkte. 1 Gewalt und Egoismus waren in seinen Augen aber ebenso charakteristisch für das kapitalistische Wirtschaftssystem, für die wissenschaftliche und künstlerische Arbeit, wie auch für die intimsten Beziehungen zwischen den Menschen. Keine Kultureinrichtung - auch nicht die Kirchen - hielten seiner kritischen Überprüfung stand. Ausgehend von seiner radikalisierten christlichen Ethik forderte er jeden Einzelnen zu der rigorosen Entscheidung auf: »entweder das Christentum mit der Liebe zu Gott und den Nächsten« anzuerkennen, »oder den Staat mit Armeen und Krieg«. 2 D a s tolstoianische Christentum entwickelte sich zu einem bewußt antimodernistischen Programm: zurück zu einer einfachen, agrarkommunistischen Lebensweise, zu einem vorstaatlichen Zustand des friedlichen Zusammenlebens, zu einem mystisch verklärten Reich der Gemeinschaft und Brüderlichkeit. Blickt man zurück in die Geschichte der europäischen Kulturkritik, so steht Tolstoi in direkter Nachfolge von Jean-Jacques Rousseau. Er verehrte ihn als sein Vorbild, so daß die Zeitgenossen Tolstoi auch den »Rousseau des neunzehnten Jahrhunderts« nannten. 3 Blickt man in unsere Gegenwart, so zeigen Parallelen zur Politik der »Grü-

1

Leo N. Tolstoj: »Moderne Sklaven«. In: Ders.: Religiös-ethische Flugschriften, Bd. I ( = Sämtliche Werke 1/11). Jena: Diederichs 1911, Zitat: S. 81. Die vollständigen bibliographischen Angaben zu den erwähnten Titeln finden sich in der Bibliographie. 2 L e o N.Tolstoj: Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften. Frankfurt a.M.: Insel 1983, S. 166 (Hervorhebung der Verfasserin, E. H.). 3 Curt Grottewitz: »LeoTolstoj und die moderne Kultur«. In: Das Magazin für Litteratur 60 (1891), S . 3 7 8 - 3 8 1 , Zitat: S. 380.

1

nen«, 4 wie aktuell die Vision Leo Tolstois heutzutage wieder ist. Pazifismus, ethischer Fundamentalismus, Vegetarismus und Fortschrittskritik haben also durchaus im Tolstoianismus einen historischen Vorläufer. Das Wissen um den »Aussteiger« Tolstoi ging allerdings in der Mitte der dreißiger Jahre, spätestens aber nach dem Zweiten Weltkrieg verloren. 5 Dagegen war Leo Tolstoi um die Jahrhundertwende - in den Jahren 1884 bis 1920 - einer der populärsten Kulturkritiker in der deutschen Öffentlichkeit. Mehr als 600 deutschsprachige Artikel und Monographien beschäftigten sich in den genannten dreieinhalb Jahrzehnten mit dem russischen Einsiedler von Jasnaja Poljana. Die »Umkehr« des berühmten Dichters, seine Lebensweise und seine radikalen ethischpolitischen Traktate kamen in die deutschen Schlagzeilen, illustriert durch Bilder vom »Graf[en] im Bauernkittel«. 6 Tolstoi wurde zum Propheten stilisiert; er wurde zum Modepropheten. 7 Das Interesse an ihm und seiner Lehre war erstaunlich breit gestreut. Stellvertretend für die Vielfalt der deutschsprachigen Tolstoi-Rezeption seien hier nur einige Namen genannt: Maximilian Harden, Gustav Landauer und Erich Mühsam, Rosa Luxemburg und Karl Kautsky, Max Maurenbrecher, Friedrich Naumann und Gertrud Bäumer, Adolf Harnack und Wilhelm Herrmann, Ernst Troeltsch und Max Weber, Ferdinand Avenarius und Arthur Moeller van den Bruck. 8 Wie kam es, daß sich so viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen mit ihm auseinandersetzten? Zunächst: die Jahrhundertwende war eine Phase des Umbruchs, besonders des geistigen Umbruchs. 9 Es war eine Zeit, die Propheten

4

Auf diese Zusammenhänge verweist Ulrich Linse: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland. München: dtv 1986, S. 7-13. Interessanterweise nannten sich die russischen, von Tolstoi beeinflußten Antimilitaristen nach der russischen Oktoberrevolution die »Grünen«. Es waren Bauernsöhne, die sich in die Wälder zurückzogen, um im Bürgerkrieg weder auf Seiten der Roten noch der Weißen Truppen mitkämpfen zu müssen. Valentin Bulgakoff: »Leo Tolstoj und die Schicksale des russischen Antimilitarismus«. In: Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus. Zürich/Leipzig: Rotapfel 1928, S. 233-244, hier: S. 239.

5

Uli Klemm: »Leo Tolstoi - Prophet des Friedens«. In: Die Freie Gesellschaft (1983), S. 4 3 - 5 3 , hier: S.43, verweist auf die Unkenntnis des Tolstoianismus in den letzten 40 Jahren trotz des ungebrochenen literarischen Ruhms. 6 Eugen Zabel: L . N . Tolstoi. Leipzig u.a.: Seemann 1901, Zitat: S. 101. 7 Hermann Gottschalk: »Tolstojs Schatten«. In: Die Tat 10 (1918/19), S. 5 0 - 5 2 , spricht von »früher, als auch der Prophet Tolstoj bei uns Mode war« (S. 50). 8 Einen Sonderfall stellt die Tolstoi-Auseinandersetzung von Ludwig Wittgenstein dar, die durch die kürzlich erschienenen Geheimen Tagebücher 1914-1916. Wien: Turia & Kant 1991, eindrucksvoll belegt wird. Dazu auch der ältere Aufsatz des Herausgebers Wilhelm Baum: »Wittgensteins tolstojanisches Christentum«. In: Österreichische Philosophen und ihr Einfluß auf die analytische Philosophie der Gegenwart. Bd. I. Innsbruck u. a. : Conceptus 1977, S. 339-349. Die Bewertung der Rolle Tolstois für Wittgensteins Biographie und Werk ist unter den Wittgenstein-Forschern sehr umstritten, so daß hier auf eine eingehendere Darstellung verzichtet wird. 9

2

Fritz K.Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933. München: dtv 1987, S.229, datiert den »Ursprung der Kulturkrise« auf die Jahre 1890—1920, so daß dieser mit der Tolstoi-Rezeption zeitlich nahezu identisch war.

kreierte, und daher wohl auch der Propheten bedurfte. 1 0 Das Spektrum von Kritik und Sinnangeboten war denkbar groß: Es reichte von lebensphilosophischer Kritik (Friedrich Nietzsche, Henri Bergson und Georg Simmel) über ästhetizistische Totalvisionen (Richard Wagner) bis hin zu sozialistischen und nationalistischen Gegenentwürfen. Was aber bot Leo Tolstoi? Seine Prophetie verhieß ein sinnvolles Leben auf der Basis eines in sich geschlossenen Wertesystems, das - wie bereits erwähnt - auf einer Neuformulierung und Radikalisierung der urchristlichen Lehre beruhte. Hinzu kam, daß Tolstoi die praktischen Konsequenzen aus dieser Lehre für seine eigene Lebensführung zog. Seine Kulturkritik war zugleich sein alternatives Lebensprogramm. Dadurch gewann er eine größere Glaubwürdigkeit als andere Kulturkritiker der Jahrhundertwende. Vielen erschien er wie ein letzter christlicher Prophet in einer sich endgültig säkularisierenden Gesellschaft. Aber der Preis seiner Lehre war hoch, denn sie führte zu einer völligen Entwertung der modernen Kultur. E r war ein »Prophet des Unmodernen«. 1 1 Die Tolstoi-Auseinandersetzung in der Wilhelminischen Gesellschaft hatte zwei Dimensionen: eine mehr praktisch-kritische und eine mehr theoretisch-weltanschauliche. Zur ersten Dimension gehörte die Beschäftigung mit den Schäden der gegenwärtigen Kultur. Daran knüpften sich Überlegungen, ob die Kultur in dieser Form bewahrenswert und reformierbar sei oder ob sie sogar durch eine völlig neue Kultur ersetzt werden könne. Davon setzte sich die zweite Dimension ab, die um die Verhältnisbestimmung von Ethik und Kultur kreiste. Speziell ging es dabei einmal um das Verhältnis von Religion und Kultur, das andere Mal um die Beziehung von Ethik und Politik. Wenn über Tolstoi gesprochen und gestritten wurde, ging es folglich um letzte Wertstandpunkte. Es bot sich deshalb an, die Tolstoi-Diskussion nach den vier - eigentlich f ü n f großen weltanschaulichen Richtungen der Wilhelminischen Gesellschaft zu struktuieren. Diese waren der Katholizismus, der Protestantismus - unterteilt in den konservativen und liberalen - , das Judentum und der Sozialismus. Die Quellenlage führte jedoch zu einer Konzentration auf die beiden Richtungen, die sich am meisten mit Tolstoi beschäftigten: auf den liberalen Protestantismus und den Sozialismus, einschließlich des Anarchismus. Ein kurzer Blick auf das katholische und das konservativ-protestantische Tolstoi-Bild wird die liberal-protestantische Posi-

10

Darauf verweist bereits Gertrud Bäumer: Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts. Die Grundzüge der modernen Sozialphilosophie. Heilbronn: Salzer 1910, S.7. Als Beispiel für die geistige Unruhe und Orientierungslosigkeit zieht sie den ständigen Wechsel der Prophetien heran: »heute Nietzsches Herrenmoral, morgen Tolstois Liebesanarchie, übermorgen Häckels Deszendenztheorie und den Tag darauf F . W . Förster oder Maeterlinck« (S. 8).

11

Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866—1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist. München: Beck 1990, S. 225, faßt unter den Begriff des »Unmoderne[n]« das Traditionale, vor allem Mentalität und Verhaltensmuster auf dem Land und im Dorf. Hier wird der Begriff verstanden als Gegenbegriff zur Moderne, d.h. zur (groß-)städtisch-bürgerlichen, individualistischen Lebensweise, zu industrieller, spezialisierter Produktion und zum wissenschaftlichen Rationalismus.

3

tion noch deutlicher erscheinen lassen. Dort werden auch viele Juden zu Wort kommen; ein jüdisch-orthodoxes Tolstoi-Bild war im übrigen nur in Ansätzen vorhanden. 12 Der weitaus größere Teil der an der Tolstoi-Diskussion teilnehmenden Juden fühlte sich der liberal-protestantischen Weltanschauung verbunden, wie zum Beispiel der Tolstoi-Übersetzer und -Herausgeber Raphael Löwenfeld. 13 Ein kleinerer Teil der Juden gehörte zu den sozialistisch-anarchistischen Intellektuellen, wie Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller. Sie werden deshalb an dieser Stelle einen wichtigen Plat/ einnehmen. Weitere Differenzierungen innerhalb der beiden großen weltanschaulichen Richtungen werden es möglich machen, anhand der Tolstoi-Auseinandersetzung ein sehr präzises Bild von kulturkritischem Bewußtsein und Verhänderungshoffnungen der Wilhelminischen Gesellschaft bis in die Weimarer Zeit hinein zu zeichnen. Als analytischer »Ratgeber« fungierte dabei Max Weber, der vor allem aus zwei Gründen eine exponierte Stellung einnimmt: Zum einen stand Weber im Schnittpunkt der deutschsprachigen Tolstoi-Diskussion, deren Kreise sich in Heidelberg berührten, denn er hatte sowohl Kontakte zu herausragenden Vertretern des liberalen Protestantismus als auch zu sozialistischen und pazifistischen Anarchisten. Zum anderen reflektierte Max Weber bereits als Zeitgenosse die Bedeutung der Tolstoi-Rezeption. Bewußt trieb er den Gegensatz zwischen dem religiösen Ethiker Tolstoi und der Kultur der Moderne auf die Spitze, was sich besonders in seiner Rede »Wissenschaft als Beruf« zeigt. 14 Dahinter steckt die von Wilhelm Hennis herauskristallisierte zentrale Fragestellung Max Webers: Welche Möglichkeiten und Chancen hat der Mensch unter den Bedingungen der Moderne, »sein Leben >ethisch< ausdeutend leben zu können«? 15 12

Hier die mir bekannten Quellen: Simon Stern: Tolstoi, Zola und das Judentum. Frankfurt a.M.: Kauffmann 1906; Max Beermann: »Tolstoi ein Essäer«. In: Israelitische Wochenschrift (1904), S. 188-190; Adolph Kohut: »Graf Leo Tolstoi und das Judentum«. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 75 (1911), S. 150-152; Samuel: »Leo N. Tolstoi und der Talmud. Ein Gedenkwort zu Ehren des grossen Toten«. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 11 (1911), Sp. 227—232; Edmund Weiss: »Tolstoi und der Talmud«. In: Ost und West 5 (1905), Sp. 209-212. 13 Vgl. dazu T. Nipperdey: Deutsche Geschichte (1990), S.405. Explizit vertrat Fabius Schach: »Graf Tolstoi und das Judentum«. In: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 14 (1908), S. 611-615, die Position des modernen, bildungsbürgerlichen, kulturbejahenden Judentums. Löwenfeld, selbst einer jüdisch-orthodoxen Familie entstammend, gab 1893 den Anstoß zur Gründung des »Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Nach den Angaben seiner Nichte Rahel Straus: Wir lebten in Deutschland. Erinnerungen einer deutschen Jüdin 1880—1933. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1961, S. 61, war er »für möglichst völliges Aufgehen in die deutsch-christliche Umwelt«. (Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Peter Burger, München.) Mehr zur Biographie Löwenfelds im Kapitel »Das >Warenhaus für Weltanschauungen* -Tolstoi im Eugen-Diederichs-Verlag« dieser Arbeit. 14 Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr/Siebeck 7 1988, S. 582-613. Dort läßt Weber Tolstoi immer wieder als religiösen Infragesteller auftreten (S. 594-595,598, 609). 15 Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks. Tübin-

4

N o c h einige Worte z u m A n s a t z dieser A r b e i t und z u m Forschungsstand. D a sie ein ideengeschichtliches Bild der Wilhelminischen Gesellschaft anhand der TolstoiR e z e p t i o n e n t w e r f e n will, ist ein fachübergreifender Blick n o t w e n d i g . A u f g r u n d dieses vorrangigen Interesses an der Wirkung L e o Tolstois auf die deutsche Gesellschaft und Kultur u m 1900 beschränkt sich auch die Darstellung v o n Tolstois B i o g r a p h i e und Werk auf deutschsprachige Q u e l l e n . 1 6 A l s Arbeitsgrundlage für Tolstois Schriften diente insbesondere die im Jahre 1901 b e g o n n e n e Gesamtausgab e d e s Eugen-Diederichs-Verlags. Sie präsentierte das h e u t e w e i t g e h e n d vergessen e sozial-ethische Spätwerk in zwölf B ä n d e n . 1 7 D i e vorliegende Untersuchung beruht auf e i n e m umfangreichen und in großen Teilen bisher u n b e k a n n t e n Q u e l l e n b e s t a n d . M e h r als 600 Q u e l l e n über Tolstoi w u r d e n g e s a m m e l t und systematisch ausgewertet. D i e s e »handwerkliche« Arbeit ist in d i e abschließende Bibliographie e i n g e f l o s s e n . Zur Orientierung k o n n t e dabei nur auf eine Studie der Slawistin Christiane Stulz aus d e m Jahre 1958 zurückgegriff e n w e r d e n . 1 8 B e i Stulz hält sich die Betrachtung der literarischen und sozialkritischen R e z e p t i o n Tolstois ungefähr die Waage. D a g e g e n steht bei anderen Philologen d e r literarische und biographische A s p e k t i m Vordergrund. 1 9 S o erklärt es sich, gen : Mohr/Siebeck 1987, S. 112. - Herrn Professor Hennis verdanke ich die Anregung zum Thema dieser Arbeit. Sie geht auf ein von ihm und Herrn Professor Lawrence A. Scaff geleitetes Hauptseminar über »Max Weber und seine Zeit« an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. im Winter 1984/85 zurück. 16 Die russischen Namen werden in dieser Arbeit nach der um die Jahrhundertwende in Deutschland meist gebrauchten Schreibweise zitiert. Sie weicht damit von der wissenschaftlichen Transkription ab. Beispielsweise wurde Tolstois Name üblicherweise als »Leo Nikolajewitsch Tolstoi« statt »Lev Nikolaeviö Tolstoj« übertragen. Russische bzw. slawistische Rezipienten verwandten dagegen die letztgenannte Schreibweise, insgesamt setzte sie sich aber in der öffentlich geführten Diskussion nicht durch, so daß hier aus Gründen der Einfachheit die »eingedeutsche« Version übernommen wird. Das gilt ebenso für andere Eigennamen, wie zum Beispiel für »Wladimir Tschertkow« statt »Vladimir Certkov« oder für »Swobodnoje Slowo« statt »Svobodnoe Slovo«. Die Arbeit folgt hierin weitgehend der Zitierweise der Diederichs-Gesamtausgabe. - Ich danke Herrn Dr. Jürgen Dittmar, D V A Freiburg, für diese philologischen Hinweise. 17

Genaue Angaben zur Diederichs-Gesamtausgabe finden sich in der Bibliographie. Von Tolstois sozial-ethischen Schriften wurden in jüngster Zeit wieder aufgelegt: Rede gegen den Krieg (1983), die Schrift Ueber das Leben (als Nachdruck). 1990 hat der DiederichsVerlag mit einer Neuausgabe der sozial-ethischen Schriften auf der Grundlage der ersten Ausgabe von 1901 ff. begonnen. Bisher sind die ersten beiden Bände Meine Beichte und Mein Glaube erschienen. 18 Christiane Stulz: Lev Nikolaevié Tolstoj in der zeitgenössischen deutschen Literaturkritik. Berlin: Diss, der Humboldt-Univ. 1958. Im Anhang gibt sie eine Bibliographie der deutschsprachigen - selbständig und unselbständig - erschienenen Literatur über Tolstoi sowie eine Zusammenstellung von selbständig erschienenen Mehrfach-Übersetzungen. Leider konzentrieren sich die bibliographischen Angaben auf das literarische Werk. Bis heute fehlt daher eine systematische Zusammenstellung der kulturkritischen TolstoiRezeption, außerdem eine erschöpfende Bibliographie der verschiedenen Übersetzungen des Tolstoischen Spätwerks, vor allem der unselbständig erschienenen Übersetzungen in den Zeitungen und Zeitschriften. 19

Literaturhinweise dazu im Kapitel »Tolstoi-Rezipienten - Sozial- und literaturgeschichtliche Betrachtungen« dieser Arbeit.

5

daß es bis heute keine umfassende Studie über die Rezeption des Kulturkritikers Leo Tolstoi im deutschen Sprachraum gibt. 2 0 Neben personengebundenen Rezeptionsbeispielen 21 gibt es Ansätze zu systematischer Untersuchung vor allem für die Tolstoi-Aufnahme im Sozialismus-Anarchismus, so für die expressionistisch-anarchistische Zeitschrift Die Aktion und für die deutsche Reformpädagogik. 22 Auch in den Gesamtdarstellungen zum Anarchismus finden sich Hinweise auf die Tolstoi-Auseinandersetzung, insbesondere bei Max Nettlau und Ulrich Linse. 23 Der von Linse erhobene Anspruch, eine »Rezeptionsgeschichte« von Gandhi und Tolstoi in der »deutschen Subkultur« geschrieben zu haben, ist aber mit seinem Buch »Ökopax und Anarchie« noch nicht eingelöst worden. 2 4 Die Rezeption Tolstois im orthodoxen Sozialismus wird in den beiden Arbeiten von Horst Schmidt und Kurt Sollmann als ein Aspekt im Verhältnis von Literatur und Sozialismus thematisiert. 25 Vergleichbare Ansätze gibt es - soweit ich sehe - für die Rezeption des Kulturkritikers Tolstoi im Bürgertum überhaupt nicht. Auch für die jüngste historische

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Konturen der internationalen Rezeption des späten Tolstoi geben die beiden Aufsätze von William B. Edgerton: »The Artist Turned Prophet: Leo Tolstoj After 1880«. In: American Contributions to the Sixth International Congress of Slavists. Bd. II: Literary Contributions. Den Haag/Paris 1968, S. 61—85 und »Tolstoy, Immortality, and Twentieth-Century Physics«. In: Canadian Slavonic Papers. Revue Canadienne des Slavistes 21 (1979), S. 289- 300. 21 Zum Beispiel für die Pazifistin Bertha von Suttner und den Publizisten Maximilian Harden. Walentin Beljèntschikov: »Bertha von Suttner in Rußland«. In: Literatur und Kritik 103 (1976), S. 140-152; Hans W.Panthel: »Maximilian Harden über Lev N.Tolstoj: Ein Beispiel publizistischer Literaturkritik«. In: Die Welt der Slaven 31 (1986), S. 147-159. 22 V.Belentschikow: »Lev Tolstoj in der Zeitschrift >Die Aktion< 1911-1918«. In: Zeitschrift für Slawistik 30 (1985), S. 670-687; Uli Klemm: Die libertäre Reformpädagogik Tolstois und ihre Rezeption in der deutschen Pädagogik. Reutlingen: Trotzdem-Verlag 1984. 23 Max Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten. Teil I.Vaduz: Topos 1984; U.Linse: Ökopax und Anarchie (1986). Mit dem Schwerpunkt Österreich: Gerhard Botz, Gerfried Brandstetter, Michael Pollak: Im Schatten der Arbeiterbewegung. Zur Geschichte des Anarchismus in Österreich und Deutschland. Wien: Europa-Verlag 1977; darin ein eigenes Unterkapitel über den »Tolstoianismus«, S. 55-57. Für die Tolstoi-Rezeption bei den niederländischen Christen-Anarchisten: Gernot Jochheim: Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und Soziale Verteidigung. Zur Entwicklung der Gewaltfreiheitstheorie in der europäischen antimilitaristischen und sozialistischen Bewegung 1890—1940, unter besonderer Berücksichtigung der Niederlande. Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 1977, S. 97-109. 24 U. Linse: Ökopax und Anarchie (1986), S. 11. 25 Horst Schmidt: Deutsche Arbeiterbewegung und russische Klassik 1917—1933. Funktion und Wirkung der sozialistischen Rezeption der russischen Literatur im gesellschaftlichen und literarischen Prozeß der Weimarer Republik. Berlin: Akademie-Verlag 1973. Darin ein Kapitel über »Die Entwicklung der Tolstoj-Rezeption der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung«; sein Untersuchungszeitraum fällt leider kaum noch mit dem dieser Arbeit zusammen. Kurt Sollmann: Literarische Intelligenz vor 1900. Studien zu ihrer Ideologie und Geschichte. Köln: Pahl-Rugenstein 1982. Darin eine Untersuchung des Dreiecksverhältnisses von Naturalismus, Sozialismus undTolstoi (S. 196-219). 6

Forschung bleibt Leo Tolstoi ein Stiefkind. Die Arbeit von Thomas Nipperdey, die das von bürgerlichen Wertvorstellungen dominierte Kaiserreich sehr ausführlich in seinen verschiedenen Deutungssystemen beschreibt, stellt die großen deutschen Kulturkritiker Friedrich Nietzsche, Julius Langbehn und Paul de Lagarde vor. 2 6 Die Wirkung Leo Tolstois auf die deutsche kulturkritische Diskussion wird jedoch mit keiner Silbe erwähnt. Es besteht gerade darin eine lohnende Aufgabe, Tolstoi vor dem Hintergrund des sich wandelnden Wertgefüges im wilhelminischen Bürgertum zu untersuchen. 27

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T. Nipperdey: Deutsche Geschichte (1990), S. 686-690,825 -828. Dazu vor allem die Arbeiten von Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft. Stuttgart: Steiner 1989 und Gangolf Hübinger: »Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen Liberalismus«. In: Dieter Langewiesche (Hrsg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 193 -208. - Herrn Dr. Hübinger danke ich besonders für seine konzeptionelle und die wilhelminische Sozial- und Ideengeschichte betreffende Unterstützung. 7

Erster Teil: Von Jasnaja Poljana in die deutschen Schlagzeilen Zur deutschsprachigen Tolstoi-Rezeption zwischen 1884 und 1920

I. Der Prophet von Jasnaja Poljana - Biographisches zu Leo Nikolajewitsch Tolstoi

Petersburg, 20. November. Die Nachricht vom Tode Tolstois verbreitete sich mit Windeseile in der ganzen Stadt. [...] Als die ersten schwarzberänderten, noch feuchten Extrablätter ausgetragen wurden, blieb das Volk auf den Straßen stehen und bekreuzigte sich barhäuptig. Die Leute flüsterten: >Ewiges Gedenken dem großen Greise!< [...]. Aus Odessa, Kiew und anderen Städten wird von polizeilichen Meßverboten gemeldet. Man erwartet bei Aufrechterhaltung dieser Verbote und bei Untersagung einer kirchlichen Bestattung Tolstois den Ausbruch von Studentenunruhen. Die Familie hat zur Vermeidung aller Konflikte mit den Behörden beschlossen, Tolstois Leiche über Moskau nach Jasnaja Poljana zu bringen, wo Tolstoi wahrscheinlich im Garten seines Hauses die von der Kirche verweigerte letzte Ruhestätte finden wird.1 Der Tod des 82-jährigen Tolstoi in der kleinen Bahnstation Astapowo war nicht nur in Rußland ein bewegendes Ereignis, wie diese Meldung des Berliner Tageblatts vom 21. November 1910 beweist. Was machte Tolstois Popularität aus? War er der »Prophet«, 2 das »Gewissen« seiner Zeit? 3 Ein »Narr in Christo«? 4 Oder der berühmte russische Dichter von »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina«? Ein eindeutiges Urteil über diese facettenreiche Persönlichkeit haben die Biographen selbst mit zeitlicher Distanz - nicht fällen können. 5 Im Vordergrund der nachfolgenden biographischen Skizze steht weder die psychologische noch die ausschließlich literarische Betrachtung Tolstois. Vielmehr

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Anonym: »Der Eindruck in Rußland. - Tolstoi und die Kirche. (Telegramm unseres Korrespondenten)«. In: Berliner Tageblatt 39. Jg., Nr. 590 (21.11. 1910), S. 2. 2 Heinrich Meyer-Benfey: »Tolstois Weltanschauung«. In: Der Türmer 10 (1907/08), Bd. 2, S. 753-768, hier: S. 753. 3 Romain Rolland: Das Leben Tolstois. Hrsg. v. Wilhelm Herzog. Frankfurt a.M.: Rütten & Loening 1922, S. 183. 4 W.I. Lenin: Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution. Sieben Aufsätze über den russischen Schriftstellerund seine Zeit. Berlin: Dietz 1985, hier: S. 13. 5 Der Zeitgenosse Romain Rolland betont das Widersprüchliche in Tolstois Leben. R. Rolland: Das Leben Tolstois (1922), insbes. die Zusammenfassung von Wilhelm Herzog im Vorwort (S. VII-VIII). Die literarische Biographie von Maximilian Braun: Tolstoj. Eine literarische Biographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978, S.351, bringt es auf die Formel vom Kampf zwischen Tolstois ethisch-rationalem und künstlerisch-naturhaftem Bestreben. Pietro Citati: Leo Tolstoi. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt 1988, S. 8, glaubt, den Schlüssel gefunden zu haben: Tolstoi sei durch und durch Narziß.

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geht es um die bisher oft unbeachtete zweite Hälfte seines Lebens, 6 die vorrangig anhand seiner Schriften vorgestellt werden soll. Für die Zweiteilung seines Lebens in einen mondän-literarischen und einen ethisch-religiösen Teil ist Tolstoi selbst verantwortlich zu machen. In seiner 1879 abgelegten »Beichte« erklärt er die ersten fünfzig Jahre seines Lebens für moralisch verwerflich, oberflächlich und sinnlos. 7 Es scheint, daß der »Bekehrte« Tolstoi bewußt seinen neuen Lebensabschnitt von dem alten abtrennen wollte. Entgegen dieser überzogenen Zweiteilungsthese verweist die nachfolgende Skizze auch auf Erfahrungen und thematische Ansätze der ersten Lebenshälfte, die in das Spätwerk eingeflossen sind. 8 Erste »Lebensstufen« Am 28. August 1828 a.St. 9 wurde Leo Nikolajewitsch Tolstoi als Sproß einer berühmten russischen Adelsfamilie in Jasnaja Poljana, einem Familiengut im Gouvernement Tula, geboren. Sehr bald verloren die sechs Tolstoi-Kinder Vater und Mutter und kamen schließlich in die Obhut einer Tante, die in Kasan lebte. Hier begann Leo Tolstoi 1844 das Studium an der Universität, zuerst in orientalischen Sprachen, dann in Rechtswissenschaft. Beide Studiengänge brach er ohne Examen ab und blieb zeit seines Lebens Autodidakt und Wissenschaftsgegner. In dieser Phase stand Tolstoi ganz unter dem Einfluß von Jean-Jacques Rousseau, trug ein Medaillon mit dessen Bildnis und las das 20-bändige Gesamtwerk. 10 Auf die enge Verbundenheit mit Rousseau spielte Hermann von Samson-Himmelstjerna an, indem er die erste deutsche Übersetzung der »Beichte« mit »Bekenntnisse«, also »confessions«, überschrieb. 11 Bereits der junge Tolstoi bemühte sich mit großem Ernst um eine ethische Lebensführung. Orientiert an den Regeln des Quäkers Benjamin Franklin, führte

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D i e Biographie von Raphael Löwenfeld: Leo N.Tolstoj, sein Leben, seine Werke, seine Weltanschauung. Leipzig: Strauch [1892], bricht mit dem Jahr 1863 ab; der zweite Teil wurde nicht mehr geschrieben. Löwenfeld kommt allerdings das große Verdienst zu, die erste Tolstoi-Biographie mit vielen Detailinformationen begonnen zu haben. 7 L e o N.Tolstoj: Meine Beichte. ( = Sämtliche Werke 1/1). Leipzig: Diederichs 1901. Die Beichte wurde 1879 geschrieben und erschien zuerst 1882 in der Russkaja Myslj (Der russische Gedanke), ebd. »Einleitung«, S. 5. 8 D i e biographische Skizze stützt sich vor allem auf die Arbeiten von M.Braun: Tolstoj (1978), Viktor Schklowski: Leo Tolstoi. Eine Biographie. Wien u.a.: Europaverlag 1981, Leo N.Tolstoi: Tagebücher 1847-1910. Auswahl, Vorwort und Zeittafel von Ulrike Hirschberg und Eberhard Dieckmann. München: Winkler 1979. Darin die sehr detaillierte »Chronologische Übersicht zu Tolstois Leben und Werk« (S. 939-973). 9 = 9. September 1828 n.St. 10 »In einem Brief an die Genfer Rousseau-Gesellschaft schrieb er (7. März 1905): >Rousseau war mein Lehrer von meinem 15. Lebensjahre an. In meinem Leben waren zwei große und wohltätige Einflüsse - der Einfluß Rousseaus und das Evangeliums« Leo N.Tolstoj: Tagebuch. Ausgabe von Ludwig Berndl. 2Bde. Jena: Diederichs 1923, Zitat: Bd. II, S. 200, Anm. 64. 11 Graf Leo N. Tolstoi: Bekenntnisse. Was sollen wir denn thun? Übers, v. H. v. SamsonHimmelstjerna. Leipzig: Duncker & Humblot 1886.

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er Tagebuch in Form einer moralischen Bilanzierung. 12 In dem autobiographischen Roman »Jünglingsjahre« nimmt der junge Held Nikolaj Irteniew ein Blatt Papier, liniert es und trägt die Pflichten und Arbeiten für das darauffolgende Jahr ein. Mehrfach legt der Junge die Beichte ab. 13 Das Bedürfnis zu beichten, öffentlich sein Versagen und das Übertreten der moralischen Norm zu bekennen, prägt das spätere Werk Leo Tolstois in entscheidender Weise. Es liest sich daher wie ein großes autobiographisch-ethisches Bekenntnis. Den Kopf voller Reformideen kehrte Tolstoi nach dem abgebrochenen Studium auf das Familiengut Jasnaja Poljana zurück, das er als jüngster Sohn geerbt hatte. Seine Erfahrungen als Gutsbesitzer versuchte er, in dem Fragment gebliebenen Roman »Der Morgen des Gutsherrn« zu verarbeiten. 14 Nechljudow, die literarische Verkörperung des Grafen Tolstoi, bemüht sich, die Lage seiner abhängigen Bauern zu verbessern, stößt aber auf Mißtrauen und Starrheit. Bedrückt und angeekelt von dem bäuerlichen Elend wendet er sich schließlich wieder der schönen und leichten Seite des Lebens zu. Ebenso entfloh der junge Tolstoi dem Landleben, indem er die Wintermonate abwechselnd in Moskau und Petersburg verbrachte. Dort führte er das ausschweifende Leben eines »jeune homme comme il faut«, das er in der »Beichte« in aller Schärfe verdammt: Er trinkt, spielt, hat Affären, verpraßt hohe Geldsummen. 15

Dichtung und Leben 1851 verließ Tolstoi Moskau und begleitete seinen Bruder Nikolai, der als Offizier in den Kaukasus ging. Mit den Augen Rousseaus beschrieb er in der Erzählung »Die Kosaken« das befreiende und erlösende Erlebnis der Natur im Kontrast zu den Verstrickungen der städtischen Zivilisation. 16 Die Natur, die Einfachheit, die ungekünstelte Schönheit wurden hier zur Wahrheit an sich erhoben. Wie wenig Tolstoi in dieser Lebensphase die Kulturkritik verinnerlicht hat, zeigt sich an seinem noch ungebrochenen Verhältnis zu Literatur und Krieg. Er trat in die Armee ein und feierte seine ersten Erfolge als Schriftsteller. Sein Erstling »Kindheit« - zugleich der erste Teil der »Lebensstufen« - wurde sofort von 12

V. Schklowski: Leo Tolstoi (1981), S. 93. An dieser Stelle sei nur kurz darauf verwiesen, daß Max Weber in seiner »Protestantischen Ethik« Franklin als Inbegriff der puritanischen Ethik darstellt. Dazu unten mehr. 13 Leo N. Tolstoj: Lebensstufen II. Jünglingsjahre. ( = Sämtliche Werke III/2). Jena: Diederichs 1903, hier: S. 2 6 - 2 9 . 14 Leo N.Tolstoj: »Der Morgen des Gutsherrn«. In: Ders.: Novellen Bd.I ( = Sämtliche Werke III/3). Leipzig: Diederichs 1901, S. 1-102. 15 »Ich habe im Krieg Menschen getötet, ich habe zum Zweikampf gefordert, um zu töten; ich habe Geld im Kartenspiel vergeudet, habe die Arbeit der Bauern verschlemmt, ich habe sie gezüchtigt, habe ein ausschweifendes Leben geführt, habe betrogen. Lüge, Diebstahl, Wollust jeder Art, Völlerei, Vergewaltigung, Totschlag . . . kein Verbrechen, das ich nicht begangen hätte.«Tolstoj: Meine Beichte (1901), S. 16. 16 Leo N.Tolstoj: »Die Kosaken«. In: Ders.: Novellen Bd. II ( = Sämtliche Werke III/4). Leipzig: Diederichs 1901, S. 1-299. 13

dem Dichter Nikolaj A. Nekrassow angenommen und erschien im September 1852 in der Zeitschrift Sovremennik (Zeitgenosse). Damit gelang dem jungen Tolstoi der Einstieg in die russische Literaturszene. Weitere Arbeiten folgten. Tolstois Versetzung in die Donauarmee brachte neuen literarischen Stoff. Als Zeuge des Krimkrieges machte er sogar den Zaren auf sich aufmerksam, der daraufhin befahl, den begabten Schriftsteller von der Front abzuziehen. 17 Im Herbst 1855 verließ Tolstoi den Kriegsschauplatz und kam als gefeierter Dichter nach Petersburg. In dem Kreis um den Sovremennik traf er u.a. auf Turgenjew, Drushinin und Grigorowitsch. Man buhlte um die Gunst des Neulings, was auch mit einer literaturtheoretischen und politischen Kontroverse zusammenhing. 18 Sollte die Literatur einen aktiven Part beim Sturz des reaktionären Zarenregimes übernehmen oder primär ihren eigenen Gesetzen folgen? Tolstoi wandte sich in dieser Auseinandersetzung sowohl gegen die radikale als auch gegen die liberale Richtung. Mit Turgenjew fühlte er sich in der liberalen Haltung und aristokratischen Herkunft verbunden, lehnte aber dessen moralisch unparteiische Literatur ab. In diesem Punkt berührte er sich mit den Radikalen, die er aber wegen ihres dialektisch-materialistischen Standpunktes und ihrer Parvenü-Mentalität nicht unterstützen konnte. Diese Skepsis gegenüber dem Liberalismus einerseits, dem Sozialismus andererseits mündete beim späten Tolstoi in offene Feindschaft und gab den Anstoß zu seinem politischen Gegenprogramm. 1857 reiste Tolstoi zum ersten Mal nach Westeuropa. 19 Hoch sensibel schaute er hinter die Fassaden des vermeintlich leichten Lebens. Kulturpessimistische Züge tragen seine beiden Erzählungen, »Luzern« und »Albert«, die Reiseerlebnisse aufnahmen - die Beschreibung zweier Musiker und »outcasts« der zivilisierten Welt. 20 Eine Hinrichtung in Paris führte Tolstoi zur intensiven Beschäftigung mit dem Todesthema, 21 das häufig der zweiten Lebenshälfte zugeschrieben wird. Die Erzählung »Drei Tode« kontrastiert sehr plastisch das Sterben eines Baumes und eines einfachen Knechtes mit dem einer adeligen Dame. 22 Tolstois Aussage: Je weiter ein Lebewesen sich aus dem Naturzusammenhang gelöst hat, desto schmerzhafter erlebt es seinen Tod. Die zweite Europareise von 1860/61 war vor allem als Bildungsreise konzipiert. Sie führte Tolstoi u.a. zu Pierre-Joseph Proudhon, 23 mit dessen Buch »Qu'est-ce 17

Leo N.Tolstoj: »Sewastopol im Dezember 1854, im Mai und August 1855«. In: Ders.: Novellen Bd. III ( = Sämtliche Werke III/5). Leipzig: Diederichs 1901, S. 1-213. Raphael Löwenfeld: »Leo Tolstoj«. In: Nord und Süd 32 (1908), Bd. 126, S. 490-506, hier: S. 492. 18 Über diese Kontroverse berichtet M. Braun: Tolstoj (1978), S. 7 8 - 8 1 . 19 E. Pechstedt: »Die erste Deutschland-Reise L.N. Tolstojs (1857)«. In: Zeitschrift für Slawistik 24 (1979), S. 471-487. 20 Leo. N.Tolstoj: »Luzern« und »Albert«. In: Ders.: Novellen Bd.I ( = Sämtliche Werke II 1/3). Leipzig: Diederichs 1901, S. 137-186 und S. 187-242. 21 R.Romain: Das Leben Tolstois (1922), S.43; ebenso: R.Löwenfeld: Leo N.Tolstoj [1892], S. 111. 22 Leo Ν. Tolstoj : »Drei Tode« [1858], In: Ders. : Novellen Bd. II ( = Sämtliche Werke III/4). Leipzig: Diederichs 1901, S. 301-328. 23 R. Löwenfeld: Leo N. Tolstoj [1892], S. 141. 14

que la propriété« Tolstois wenig später geschriebene Fabel »Leinwandmesser« in Verbindung steht. 24 In ihr liegt bereits Tolstois späterer, radikaler Eigentumsbegriff begründet: Jeder Mensch habe nur Eigentum an seinem eigenen Körper. Das Hauptinteresse Tolstois galt aber pädagogischen Fragen. In Deutschland informierte er sich über die Fröbelschen Kindergärten, Volksschulen und das Bildungsprogramm des Berliner Handwerkervereins; er besuchte den Pädagogen Adolph Wilhelm Diesterweg und den Volksschriftsteller Berthold Auerbach. 25 Nach seiner Rückkehr errichtete er in Jasnaja Poljana eine Schule für die Bauernkinder der Umgebung und erprobte eine alternative Pädagogik, die den Gedanken Rousseaus verpflichtet war. Freiheit, individuelle Förderung und absolute Zwanglosigkeit waren ihre Prinzipien. Die Schule und die dazugehörige Zeitschrift, beides unter dem Namen »Jasnaja Poljana«, bestanden zwei Jahre lang und sorgten für heftige Diskussionen unter den russischen Pädagogen. 26

Zenit und Krise 1862 heiratete Tolstoi die wesentlich jüngere Sophia Andrejewna Behrs (1844— 1919), eine Tochter aus einer befreundeten Arztfamilie. Aus dieser Ehe gingen dreizehn Kinder hervor, von denen neun überlebten. Die ersten Ehejahre waren sehr glücklich und fielen mit der Hauptschaffensphase von Tolstoi zusammen. Er schrieb seinen Roman »Krieg und Frieden« (1863—1869),27 der als russisches Nationalepos gefeiert wurde. In dem unscheinbaren Soldaten Piaton Karatajew hat Tolstoi seine Liebe zum russischen Volk, insbesondere zum russischen Bauern, eindrucksvoll gestaltet. Mit Gleichmut, Gottesfürchtigkeit und Güte erträgt er Gefangenschaft und Tod. 28 Der Himmel wird zum Symbol für den Kosmos. Angesichts seiner Weite wird nicht nur der Unterschied zwischen dem sterbenden Fürsten Andrej Bolkonski und dem einfachen Soldaten Piaton Karatajew bedeutungs24

L e o N.Tolstoj: »Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes«. In: Ders.: Novellen Bd. IV ( = Sämtliche Werke III/6). Leipzig: Diederichs 1901, S. 273 - 348. Über Eigentumsbegriff und -kritik insbes. S. 311 - 3 1 6 . R. Löwenfeld verweist in seiner »Einführung« auf den gesellschaftskritischen Aspekt der Fabel: die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland (1861). Das geschundene Pferd werde zum Symbol des geknechteten Volkes (S. 274-275). Zum Verhältnis von Proudhon und Tolstoi vor allem: Anton Ratuszny: Tolstoj's sociale Anschauungen, insbesondere seine Eigentumslehre und ihr Verhältniss zur Lehre P. J. Proudhons. Diss. Lemberg: Polonia 1905. 25 E.Pechstedt: »Lev Nikolaevií Tolstoj in Berlin. Zum 150. Geburtstag des russischen Schriftstellers«. In: Zeitschrift für Slawistik 24 (1979), S. 163-185. Aus Weimar ist eine nette Anekdote über den Besuch Tolstois in der Volksschule überliefert. Wilhelm Bode: »Tolstoi in Weimar«. In: Der Sämann (1905), S. 292-297. 26 Ein Teil der Aufsätze findet sich in: Leo N.Tolstoj: Pädagogische Schriften. 2Bde. ( = Sämtliche Werke 1/8-9). Jena: Diederichs 1907. Darin die Auseinandersetzung mit Gljebow und Prof. Markow. 27 L e o N.Tolstoj: Krieg und Frieden. 4Bde. ( = Sämtliche Werke III/ll —14). Leipzig: Diederichs 1901. Die Klammern hinter dem Werktitel geben den Bearbeitungszeitraum und nicht das Erscheinungsdatum an ; das gilt nur für das biographische Kapitel. 28 Piaton Karatajew s. ebd., Bd. IV, S. 5 2 - 6 0 , 1 1 2 - 1 1 6 , 1 8 8 - 1 8 9 , 1 9 1 - 1 9 7 .

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los, 29 sondern das menschliche Leben überhaupt. Diese literarisch formulierten Zweifel an der gesellschaftlich bedingten Ungleichheit werden am Ende von »Krieg und Frieden« - in Form einer Kritik an der bisherigen heldenzentrierten Geschichtsschreibung - systematisch aufgearbeitet. 30 Diese etwas spröden geschichtsphilosophischen Betrachtungen, die in den Romanausgaben oft fehlen, lassen bereits den Skeptiker Tolstoi erkennen. Während der Arbeit an dem nächsten großen Roman, »Anna Karenina« (1873—1878), verstärkten sich die pessimistischen Reflexionen. Die Krise des Schriftstellers Tolstoi kündigte sich in der Person Ljewins an. Ljewin, der mit seiner Frau Kitty die glückliche Ehe gegenüber der leidenschaftlichen und verhängnisvollen Beziehung von Wronskij und Anna Karenina verkörpert, beginnt, an seinem Glück zu zweifeln. Ganz unter dem Einfluß des Philosophen Schopenhauer fragt er nach dem Sinn seines nach außen hin so problemlos verlaufenden Lebens. »Was bin ich? wo bin ich? und wozu bin ich da?«. 31 Noch eindringlicher und ohne sich hinter einer Romanfigur zu verstecken, fragt Tolstoi in der »Beichte«: »>Ist in meinem Leben ein Sinn, der nicht zunichte würde durch den unvermeidlichen, meiner harrenden Tod?Zurück zur Natur< und für ein Zurück zu den Ursprüngen des Christentums. Mit unserem heutigen Vokabular würden wir von Tolstoi als einem »Aussteiger« sprechen. Das altbekannte Gebot vom Nichtwiderstreben wurde durch Tolstois Neuakzentuierung zu einer umfassenden Lehre des christlich-ethischen Anarchismus und Pazifismus. Die Verkündigung von Bedürfnislosigkeit, Einfachheit, asketischer und keuscher Lebensweise, Hand- und Feldarbeit, Brüderlichkeit und Gewaltlosigkeit wurde zum bewußten Gegenprogramm zur Kultur der Moderne entwickelt. Das tolstoianische Christentum richtete sich gegen eine materialistische Grundhaltung in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, gegen Gewaltanwendung zwischen Staaten, zwischen Arm und Reich, Regierenden und Beherrschten, zwischen Lehrer und Schüler, Mann und Frau, aber auch zwischen Mensch und Natur. Es entstand die Vision einer friedvollen, staats- und kirchenlosen Lebensgemeinschaft, die die altrussische, agrarkommunistische Dorfgemeinschaft zum Vorbild wählte. Das beinhaltete die Frontstellung gegen überkommene feudal-monarchistische, aber auch gegen moderne, liberale und sozialistische Gesellschaftsentwürfe. Die Popularität Tolstois in Westeuropa beruhte auf dieser antimodernistischen Ethik in Verbindung mit seiner künstlerischen Begabung und persönlichen Lebensführung. In dieser Vielschichtigkeit wurde Tolstoi nach 1884 dem deutschen Publi1

Den Vergleich mit Johannes dem Täufer führt Eugen Heinrich Schmitt: »Die religiöse Bewegung der Gegenwart«. In: Die Religion des Geistes 1 (1894), S. 20—32, 5 8 - 64, hier S. 60—61, aus. Den Vergleich mit Franz von Assisi erwähnen W. V. Oehl: »Tolstoi«. In: Das Zwanzigste Jahrhundert 3 (1903), S. 469 - 4 7 2 , 481-484, 495 - 4 9 8 , hier: S. 472-483, Friedrich Rittelmeyer: Tolstois religiöse Botschaft. Ulm: Kerler 1905, S. 118; Anonym [R.B.]: »Die deutsche Litteraturwetterfahne«. In: Freistatt 4 (1902), S. 383. 2 S o z.B. E.H. Schmitt: Leo Tolstoi und seine Bedeutung für unsere Kultur (1901), S.22 oder C. Grottewitz: »LeoTolstoj und die moderne Kultur«. In: Das Magazin für Litteratur (1891), S. 380.

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kum bekannt. Zwischen dem russischen Autor und den deutschsprachigen Verlegern und Publikationsorganen entstanden vielfältige Kontakte. In den Jahren 1890 bis 1903 kam es zu einem »förmliche[n] Tolstoi-Cultus«3 oder Tolstoi-Boom - der antimodernistische Prophet wurde zur Modeerscheinung. Eigentümlich verbunden war die Tolstoi-Rezeption in Deutschland mit der naturalistischen Literaturbewegung. Die jüngere, sozialkritische Generation fühlte sich mit dem Anliegen der Tolstoischen Literatur solidarisch und provoziert dadurch die ältere bzw. traditionalistisch eingestellte Generation. In der naturalistischen Aufbruchstimmung berührten sich für eine kurze Zeit bürgerlich-kulturkritische und sozialistisch-anarchistische Veränderungshoffnungen. Die Tolstoi-Rezeption in der wilhelminischen Gesellschaft verlief in zwei großen, voneinander zu trennenden Richtungen: in der bürgerlich-protestantischen sie dominierte zahlenmäßig zwischen 1890 und 1914 - und in der sozialistischanarchistischen, die erst nach 1914 bedeutsamer wurde. Dieser Wechsel kündigte sich bereits seit 1904 an, was nicht nur mit einer Radikalisierung der deutschen Gesellschaft zusammenhing, sondern auch mit den politisch schärferen Traktaten Tolstois zu Krieg und Revolution. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle der Sozialrevolutionären Exilrussen, die nach 1905 verstärkt nach Deutschland kamen und als Tolstoi-Vermittler in der sozialistisch-anarchistischen »Subkultur« fungierten. Es spricht für die eigenwillige Stellung des Eugen-Diederichs-Verlages, daß seine Tolstoi-Gesamtausgabe auf Bearbeiter dieser beiden konträren Richtungen zurückgriff. Tolstoi wurde bei Diederichs besonders durch Raphael Löwenfeld und Eugen Heinrich Schmitt für ein kulturkritisches Bürgertum aufgearbeitet.

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J. Norden: »Zum 70. Geburtstage des Grafen Leo Tolstoi«. In: Illustrierte Zeitung. Bd. 111, Nr. 2880 (08.08. 1898), S. 320-321, Zitat: S. 320.

Zweiter Teil: Das Argument Tolstoi - Zur kulturkritischen und weltanschaulichen Diskussion der Jahrhundertwende

I. Literarisches D essert oder Kulturgewissen ? - Zur TolstoiDiskussion im protestantischen Bürgertum

War Tolstoi in den Augen des Bürgertums nur als »literarisches Dessert« 1 genießbar? Oder war er der Ankläger, der berechtigte Kritiker, das »Gewissen der Menschheit«? 2 Die Frage, die sich dahinter verbirgt: War Tolstoi als Person, als Dichter und Sozialphilosoph ernstzunehmen? Einige Zeitgenossen verwehrten ihm die Anerkennung per se, indem sie den späten Tolstoi, den Prediger des Urchristentums, als Psychopathen brandmarkten, der nur unter dem Aspekt der aufkommenden Psychoanalyse als beachtenswert galt. 3 Andere wiederum, und zwar ein Großteil des Bürgertums, lehnten den bekehrten Tolstoi aus vielerlei Gründen ab. Diese »Kulturapologeten« wiesen die Kulturkritik Tolstois als irrelevant für deutsche oder europäische Verhältnisse zurück. Der Dichter Tolstoi wurde von ihnen hingegen anerkannt und gefeiert. Für die vorliegende Untersuchung kommen vor allem diejenigen Teile des protestantischen Bürgertums in Betracht, die sich durch die Kulturkritik des späten Tolstoi angesprochen und herausgefordert fühlten. Zur Überprüfung des eigenen Standortes provozierte Tolstoi jüngere protestantische Theologen - wie ließen sich Kultur der Moderne und Christentum miteinander vereinbaren? - , aber auch sozialreformerische Wissenschaftler in der »Gesellschaft für ethische Kultur«, in der Nationalökonomie und der sich konstituierenden Soziologie. Von Anfang an manifestierte sich anhand der Tolstoi-Auseinandersetzung ein gewisses Unbehagen an der Kultur der Moderne. Nach 1900 erfaßte es größere Teile des protestantischen Bildungsbürgertums, das sich in kritischer Selbstreflexion mehr und mehr die Frage vorlegte : Gehen wir mit Tolstoi oder mit Nietzsche?

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So eine Formulierung Max Webers in einem Brief an den Mitherausgeber der Frankfurter Zeitung, Heinrich Simon, vom Herbst 1911. Abgedruckt in: Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen: Mohr/Siebeck 3 1984, Zitat: S. 417. 2 So Curt Behr [= Eugen Kühnemann]: »Leo Tolstoj«. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte 44 (1899/1900), Bd. 86, S. 2 8 2 - 299,407-426, Zitat: S. 420. 3 Ein nicht ernstzunehmender Psychopath war Tolstoi für die Ärzte Victor Gyurkovechky: Warum Tolstoj Liebe verachtet und Aerzte hasst? Wien/Leipzig: Merlin 1892 und H. Beck: D e s Grafen Leo Tolstoi Kreutzersonate vom Standpunkte des Irrenarztes. Leipzig: Dieter 1898, aber auch für Max Nordau: »Der Tolstoismus«. In: Ders.: Entartung. Berlin: Duncker 2 1893, Bd. 1, S. 2 5 7 - 3 0 3 und Hans von Basedow: »Beiträge zur Kritik der russischen Literatur. Leo Tolstoi, seine Autobiographie und der religiöse Wahnsinn«. In: Moderne Dichtung (1890), S. 781-783.

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1.

Kulturapologeten

Der bereits oben erwähnte Literaturhistoriker Otto Harnack sah schon 1891 in der massenhaften Aufnahme Tolstois eine »bedenkliche Popularität«. 4 Würde Tolstoi nicht früher oder später die eigene Kultur untergraben und zerstören? Die breite und intensive Tolstoi-Lektüre im protestantischen Bürgertum darf also nicht mit einer uneingeschränkten Auf- und Übernahme tolstoianischer Ideen ineinsgesetzt werden. Vielmehr äußerten weite Teile des deutschen Bürgertums massive Bedenken gegenüber dem Kulturkritiker Leo Tolstoi. Um die eigene Position durch ihn erst gar nicht infrage stellen zu lassen, entwickelte die bürgerliche Tolstoi-Rezeption spezifische Zurückweisungsmuster, die hier in systematischer Form kurz vorgestellt werden sollen.

Die Rettung Europas und Deutschlands In dem russischen Dichter und Propheten sahen viele deutsche Leser etwas Fremdes und sogar Bedrohliches für die eigene Identität. Die meisten waren sich der großen Differenz zwischen der russischen und der westeuropäischen bzw. deutschen Kultur bewußt. Oft wurde das agrarische und despotisch regierte Zarenreich als eine Art Entwicklungsland dem verfeinerten und bildungsbeflissenen Europa gegenübergestellt. Tolstoi galt als Urbild und Verkünder dieses zurückgebliebenen Rußlands, der bäurisch-einfältigen und duldenden russischen Seele. 5 Seine Kulturkritik entstamme diesen Verhältnissen und sei nur auf diese bezogen. Im deutschen Bürgertum wurde der Russe Tolstoi aus folgenden Gründen abgelehnt: 1. Die Rationalisten verteidigten das Europa der Aufklärung gegen den Kunst- und Wissenschaftsgegner Tolstoi. Einen Ausgleich der sozialen Differenzen erwartete beispielsweise Hugo Ganz von einer Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus und nicht in dem von Tolstoi vorgeschlagenen Nichtwissen aller. 6 Einen Rückfall in mittelalterlich-mystische Zustände oder gar Rousseausche Naturzustandsvisionen lehnte man strikt ab. 7 2. Auch religiöse Kräfte empfanden den Verkünder des Urchristentums als eine Bedrohung der christlich-abendländischen Tradition. Waren nicht die christlichen Kirchen wichtige Institutionen der europäischen Geistesgeschichte? Die Rechtfertigung konservativer Protestanten und der katholischen Kirche soll im 4

O. Harnack: »Tolstoi in Deutschland«. In: Preußische Jahrbücher (1891), S. 2. In moderater Form bei Karl Strecker: »L.N. Tolstoi«. In: Tägliche Rundschau. Beilage (1908), S. 842, 846-847; in extremer Form bei Alfred Kerr: »Tolstoi«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Reihe 1, Bd. 1. Berlin: Fischer 1917, S. 364—368. Er spricht von »Bauerngrobheiten dieser Skythenphilosophie«, »Barbarismus«. 6 Hugo Ganz: »Leo Tolstoi«. In: Österreichische Rundschau 25 (1910), S. 366-372, insbes. S. 372. 7 F. Servaes: »Tolstoi's Angriff auf die Wissenschaft«. In: Die Gegenwart (1889), S. 21—23; Verner von Heidenstam: »Die Ästhetik Tolstois«. In: Wiener Rundschau 3 (1898/99), S. 497-500. 5

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Zusammenhang mit der Tolstoi-Auseinandersetzung im liberalen Protestantismus vorgestellt werden. 3. Ganz besonders entzündete sich an der Darstellung von Tolstois »Krieg und Frieden« das deutsche Nationalbewußtsein. Warum sollten die Deutschen, die in Tolstois Werk schlecht wegkamen, den russischen Autor verehren? - so die Frage von Karl Bleibtreu und Friedrich Dukmeyer. 8 An die Stelle der »deutschen Fremdtümelei« 9 sollte ein »germanische[r] Realismus« 10 treten. Nach 1900 wurden sogar rassenbiologische Theorien gegen den »Stockrussen« 11 Tolstoi mobil gemacht, nicht nur in der alldeutschen Monatsschrift, sondern auch in der Wiener Zeit.12 Die Krönung der nátionalistischen Bedrohungsvisionen stellt allerdings ein Artikel des Herausgebers der Deutschen Tageszeitung dar. Fritz Bley sah in Tolstoi den Vorkämpfer eines sozialistischen Umsturzes, der von »jüdischen Revolutionäre[n]« getragen würde. 1 3 Die einzelnen Zurückweisungsmuster traten häufig auch in Kombination auf: nationale mit rationalistischen oder nationale in Verbindung mit christlichen. Einige werden in der nachfolgenden Darstellung immer wieder auftreten, auch bei den Teilen des protestantischen Bürgertums, die Tolstoi-freundlicher eingestellt waren. Entscheidend für die bürgerliche Tolstoi-Auseinandersetzung war aber vor allem die literarische Rezeption. Sie stellte für viele ein zusätzliches Argument gegen den Kulturkritiker Tolstoi dar.

Die Mahnung Turgenjews Die literarische Tolstoi-Rezeption des Bürgertums setzte sich gegen zwei zeitgenössische Kunstströmungen ab: gegen die naturalistische Kunstauffassung, die in Tolstoi den Kultur- und Gesellschaftskritiker und modernen Stilisten feierte 1 4 ; aber auch gegen die Auffassung des l'art pour l'art, die von der Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen ausging und daher Tolstois Vermischung von Religion und Kunst 8

K. Bleibtreu: »Krieg und Frieden«. In: Die Gesellschaft (1889), S. 915-917; Friedrich Dukmeyer: Die Deutschen in Tolstois Schilderung. Sonderabdruck aus der Beilage zur »Allgemeinen Zeitung« Nr. 111, 15. Mai 1902. München: Staegmeyr'sche Verlagshandlung 1902. 9 K. Bleibtreu: »Krieg und Frieden«. In: Die Gesellschaft (1889), S. 917. 10 Kaberlin: »Die Freie Bühne V.«. In: Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes 59 (1890), S. 9 2 - 9 4 , Zitat: S. 92. 11 K. Bleibtreu: »Krieg und Frieden«. In: Die Gesellschaft (1889), S. 916. 12 O. von Leixner: »Kann Tolstoi dem deutschen Volke ein Führer sein?«. In: Deutsche Monatsschrift (1904/05), S. 336-343; Karl Jentsch: »Hat Tolstoj recht?«. In: Die Zeit. Wien. Nr. 334 (02.03.1901), S. 139. 13 Fritz Bley: »Tolstoi oder Shakespeare?«. In: Deutsche Tageszeitung. Beilage »Zeitfragen. Wochenschrift für deutsches Leben«, Nr. 36 (06.09. 1908), S. 1-2, Zitat: S. 2. 14 Typisch dafür die bereits erwähnte Monographie von Paul Ernst von 1889; die Artikel der beiden naturalistischen Zeitschriften Die Gesellschaft und Freie Bühne für modernes Leben. Stellvertretend genannt seien hier nur M . G . Conrad: »Tolstoi, die Kunst und Wir«. In: Die Gesellschaft (1898), S. 331-334 und Julius Hart: »Leo Tolstoi«. In: Die Woche 12 (1910), Bd. 4, S. 2023-2025.

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heftig bekämpfte. 15 Als Kronzeugen für die eigene, bürgerliche Auffassung zitierte man Iwan Turgenjews mahnenden Abschiedsbrief an Leo Tolstoi : Lieber und theurer Leo Nikolajewitsch! Ich habe Ihnen lange nicht geschrieben; denn ich lag und liege, kurzweg gesagt, auf dem Sterbebette. Genesen kann ich nicht, und es ist gar nicht daran zu denken. Ich schreibe Ihnen in der Absicht, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich freue, Ihr Zeitgenosse zu sein, und um Ihnen meine letzte und aufrichtige Bitte vorzutragen. Mein Freund, kehren Sie zu der literarischen Thätigkeit zurück! Es stammt ja dieses Ihr Talent dort her, woher alles andere kommt. Ach wie glücklich wäre ich, könnte ich glauben, daß meine Bitte bei Ihnen Erfolg hat! [Herv. d. Verf., E.H.]. 1 6

Damit hatte Turgenjew zugestanden, daß religiöse und ethische Elemente in das literarische Schaffen einfließen dürfen, daß aber trotzdem der Kunst der Vorrang eingeräumt werden muß. Diese Position hatte Turgenjew in dem bereits angesprochenen literaturtheoretischen Konflikt um die Zeitschrift Sovremennik gegen Tolstoi verfochten. Die Kunst habe sich nicht in aktuelle politische Streitfragen einzumischen. Soziale Probleme sollten nicht zum Hauptthema eines Romans oder Dramas gemacht werden. Das deutsche Bürgertum schloß sich - bewußt oder unbewußt - dieser Meinung des liberalen und westeuropäisch gesinnten Turgenjew an. Es mahnte den Sozialkritiker Tolstoi, zum Dichter Tolstoi zurückzukehren. Damit wurde die Zweiteilung von Tolstois Leben, aber auch von Kunst und Kulturkritik erneut unterstrichen. Die bürgerlichen Zeitschriften, besonders die literarisch konservative Deutsche Rundschau und die freikonservativen Grenzboten, verbanden die Kritik an Tolstois »Umkehr« oft mit einem Seitenhieb gegen die naturalistische Kunst im eigenen Land. 17 Die Dichtkunst Tolstois sei sein eigentliches Talent, das von unvergänglicher Bedeutung sei. Als Dichter verdiene Tolstoi daher auch über die Landesgrenzen hinweg Anerkennung. Die Kulturkritik dagegen entspringe russischen Zuständen und sei daher zeitlich und geographisch beschränkt, gehe also den deutschen Bürger nichts an. 18 Auch wenn die tolstoianische Kulturfeindschaft abgelehnt wurde, zollten viele bürgerliche Leser dem Wahrheitssucher und Menschenfreund Tolstoi ihren Respekt. 19

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Am eindringlichsten von dem Kunstkritiker Hermann Bahr vertreten: »Gegen Tolstoi«. In: Die Zeit. Wien. Nr. 203 (03.09. 1898), S. 155-156. 16 Zitiert nach O. Harnack: »Tolstoi in Deutschland«. In: Preußische Jahrbücher (1891), S. 1. Diese Mahnung wurde in 19 weiteren Artikeln von bürgerlichen Autoren erwähnt oder zitiert. 17 So die Artikel von Charlotte Blennerhassett: »Tolstoi's neuer Roman«. In: Deutsche Rundschau 103 (1900), S. 472—474 und E. von der Brüggen: »Kipling und Tolstoi«. In: Die Grenzboten 60 (1901), 2. Quartal, S. 19-28. 18 Eugen Zabel: »Graf L.N. Tolstoi«. In: Deutsche Rundschau 51 (1887), S. 248-275; Hieronymus Lorm: »Tolstoi als Moralist«. In: Die Gegenwart 20 (1891), Bd. 39, S. 3 8 - 4 0 ; Carl Meissner: »Leo Tolstoi, der Dichter, geboren am 9. September 1828«. In: Kulturfragen 4 (1908), S. 355-360; H. Ganz: »Leo Tolstoi«. In: Österreichische Rundschau (1910); Karl Marilaun: »Moderne Geister. VII. Leo Tolstoi«. In: Die Karpathen (1911), S. 206-215. 19 Z . B . Anonym: »Tolstoi«. In: Die Grenzboten 60 (1901), 1. Quartal, S. 98-101.

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Jedoch blieb Tolstoi für diesen Teil des Bürgertums das »literarische Dessert«, das den Genuß des kulturellen Hauptmenüs nicht in Frage stellte. Tolstoi diente der Unterhaltung am Feierabend, störte aber nicht den bürgerlichen Alltag. 2. Kulturprotestantismus Aus dem protestantischen Bürgertum sollen im folgenden diejenigen Persönlichkeiten und Gruppierungen herausgegriffen werden, deren Haltung zu protestantischen Wertvorstellungen nicht nur passiv-unreflektierter Natur war, sondern die sich als gläubige Christen aktiv um eine Verhältnisbestimmung von Protestantismus und Kultur der Moderne bemühten. Das betrifft vor allem die sog. Kulturprotestanten um den liberalen »Protestantenverein« und die Christliche Welt.20 Tolstoi forderte durch seine religiös-ethische Lehre und Kulturablehnung zur Stellungnahme heraus. Die Tolstoi-Diskussion im Protestantismus - ein Blick wird auch auf die konservativen Reaktionen fallen - spiegelt daher die inhaltliche Auseinandersetzung um Glaubens-, Moral- und Kulturfragen der verschiedenen theologischen Richtungen exemplarisch wider. a) Der liberale und moderne Protestantismus Der erste deutschsprachige Tolstoi-Artikel überhaupt erschien 1884 im Deutschen Protestantenblatt,21 das neben den Protestantischen Monatsheften als Organ des liberalen »ProtestantenVereins« fungierte. 1863 war der »Protestantenverein«22 von Theologen gegründet worden, die sich trotz unterschiedlicher Schulrichtungen unter der von Richard Rothe formulierten Devise »Versöhnung von Religion und Kultur« 23 zusammenfanden. Bewußt setzten sie sich für eine Erneuerung der evangelischen Kirche ein, um die Entfremdung von Kirche und Volk, aber auch von Kirche und Gebildeten zu überwinden. Der Graben zwischen Glauben und modernen Wissenschaften sollte durch eine liberalere Personalpolitik und eine methodische Öffnung der Universitätstheologie überwunden werden. Die im Protestantenblatt veröffentlichten Tolstoi-Artikel der achtziger Jahre übernahmen sogar eine Trendsetter-Funktion für die übrige bildungsbürgerlichliterarische Tolstoi-Rezeption. Sie informierten aus erster Hand über den russischen »Religions-Erneuerer«24 und zitierten in diesem Kontext als erste 1886 die 20

Zur Vieldeutigkeit und Problematik des Begriffs »Kulturprotestantismus«: Friedrich Wilhelm Graf: »Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 28 (1984), S. 214-268. 21 Anonym: »Leo Tolstoi, der russische Religions-Erneuerer«. In: Deutsches Protestantenblatt 17 (1884), S. 413-415. 22 Wilhelm Honig: Der deutsche Protestantenverein. Bremen: Schiinemann 1904. 23 Zitiert nach F.W. Graf: »Kulturprotestantismus«. In: Archiv für Begriffsgeschichte (1984), S. 217. 24 Anonym: »Leo Tolstoi, der russische Religions-Erneuerer«. In: Deutsches Protestantenblatt (1884), S. 413.

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Mahnung Iwan Turgenjews. 25 Bis Mitte der neunziger Jahre glichen die Artikel photographischen Bestandsaufnahmen, die sich einer eigenständigen Bewertung der Kulturerscheinung Tolstoi enthielten. Erst ein Aufsatz von 1895 begann mit einer Kritik des tolstoianischen Christentums vom Standpunkt der historisch verfahrenden Theologie. 26 Durch spätere Äußerungen von Dreydorff, Paul Gastrow, Gottfried Traub und Heinrich Holtzmann entstand dann ein eigenständiges und vielschichtiges Tolstoi-Bild.27 Entscheidend geprägt wurde es aber nicht durch diese mehr klassisch-liberale Richtung um den »Protestantenverein«, sondern durch die Auseinandersetzung im Umkreis der Christlichen Welt und des »Evangelisch-sozialen Kongresses«. Im Gegensatz zum »Protestantenverein« war die Christliche Welt aus dem Freundeskreis einer theologischen Richtung, den sog. Neo-Ritschlianern, entstanden. 28 Im Kolleg bei Adolf Harnack hatten sich Martin Rade, Wilhelm Bornemann, Paul Drews und Friedrich Loofs für die Theologie des Göttinger Professors Albrecht Ritsehl begeistern lassen. Seine Theologie berief sich auf Immanuel Kant als den »Philosophen des Protestantismus«. 29 Folglich standen ethische und geschichtsphilosophische Elemente im Vordergrund. Die Freunde gründeten - als Beitrag zur kulturpraktischen Verwirklichung des Christentums - die Christliche Welt. Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Die aktive Beteiligung an der Gründung des »Evangelisch-sozialen Kongresses« 1890 und die Stellungnahme im »Apostolikumstreit« 1892, der sich an dem württembergischen Pfarrer Christoph Schrempf entzündet hatte, führten jedoch zu einem Bruch des Freundeskreises. Die Konservativeren lösten sich von dem Herausgeber Martin Rade, der die Zeitschrift progressiveren Kräften zur Verfügung gestellt hatte.

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Anonym: »Ein Besuch bei Graf Leo Tolstoi«. In: Deutsches Protestantenblatt 19 (1886), S. 138—141. Darin wird im Rahmen der Besuchsbeschreibung von Danilewski die Mahnung Iwan Turgenjews abgedruckt (S. 139). Nochmals und ausführlich zitiert in: Anonym: »Graf Leo Tolstoi als Volkschriftsteller«. In: Deutsches Protestantenblatt 21 (1888), S. 363 - 3 6 5 , 3 7 3 - 3 7 4 , Turgenjew-Zitat: S. 364. Elsenhaus: »Graf Leo Tolstoj's Christenthum. In Briefen eines Theologen an eine Dame«. In: Deutsches Protestantenblatt 28 (1895), S. 170-172. Dreydorff: »Die große Frage. Unter Bezugnahme auf Nietzsche, Strauß und Tolstoi. Ein Vortrag«. In: Deutsches Protestantenblatt 34 (1901), S. 2 4 4 - 245,250-253; Paul Gastrow: »Tolstoi und das Kulturproblem«. In: Protestantenblatt 41 (1908), Sp. 463 - 4 6 6 , 4 8 1 - 4 8 4 ; Gottfried Traub: »Christliche und moderne Ethik«. In: Verhandlungen des XXIV. Deutschen Protestantentages in Bremen vom 2 1 . - 2 4 . September 1909. Berlin: Verlag des Deutschen Protestantenvereins 1909, S. 135-164; Heinrich Holtzmann: »Tolstois Krieg gegen den Krieg«. In: Protestantische Monatshefte 13 (1909), S. 222-226. Informationen bei Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade. Stuttgart: Klotz 1952 und W.R. Ward: »Max Weber und die Schule Albrecht Ritschis«. In: Wolfgang J.Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 296-312. Der Ritschlianer Julius Kaftan publizierte 1904 eine Rede zu Kants 100. Todestag unter dem Titel Kant, der Philosoph des Protestantismus.

Zu ihnen zählte die »Kleine Göttinger Fakultät« oder die sog. religionsgeschichtliche Schule, die sich kritisch von Ritsehl distanzierte. Hermann Gunkel, Wilhelm Bousset, Wilhelm Wrede, Johannes Weiß und Ernst Troeltsch forderten eine noch radikalere Verknüpfung von allgemein historischer und kirchengeschichtlicher Forschung. D a ß damit die Relativierung christlicher Wertvorstellungen drohte, hat niemand so deutlich auf den Punkt gebracht wie Ernst Troeltsch mit seinem berühmt gewordenen Aufschrei »Meine Herren, es wackelt alles«. 3 0 Zu dieser unruhigen jüngeren Theologengeneration gehörten aber auch Friedrich Naumann und Paul Göhre, die über ihr praktisches christlich-soziales Engagement zum Kreis um die Christliche Welt fanden, Friedrich Rittelmeyer, 3 1 der seit 1912 stark durch Rudolf Steiner beeinflußt wurde, außerdem die späteren Freireligiösen Christoph Schrempf, Arthur Bonus und Johannes Müller. 3 2 Auf ihrer Suche nach einem modernen, praktikablen Christentum machten sie irgendwann bei Tolstoi Halt und setzten sich mit ihm auseinander. Wie später noch ausführlich zu zeigen sein wird, wurde der »Evangelisch-soziale Kongreß« eine wichtige Drehscheibe für die Tolstoi-Diskussion, nicht nur unter Theologen verschiedenster Couleur, sondern auch - ganz im Sinne der Ritschlianer - für den Austausch von Theologen und anderen Kulturwissenschaftlern. Einigendes Band über die politischen und fachlichen Differenzen hinweg war das Bemühen um die Lösung der sozialen Frage. 3 3 Insofern kann man hier von einer Parallelerscheinung zu der Aufbruchstimmung im literarischen Naturalismus sprechen. Nach dem redaktionellen »Linksruck« 34 in der Christlichen

Welt erschien eine

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So überliefert von dem Eisenacher Treffen der »Freunde der >Christlichen WeltKritik der Glaubenslehre*«. In: Deutsches Protestantenblatt 34 (1901), S. 309-310. 47 P. Gastrow: Tolstoj und sein Evangelium (1905), S. 52. 48 Zitiert nach J. Rathje: Die Welt des freien Protestantismus (1952), S.66; Schrempfs Kirchenkritik in »Tolstoi als Profet«. In: Die Wahrheit (1895/96), S. 155. 49 Beispielsweise: W. Loewenthal: »Tolstoi«. In: Religion und Geisteskultur (1911); Ferdinand Jakob Schmidt: »LeoTolstoi«. In: Protestantenblatt 43 (1910), Sp. 1270-1272. Über die spezifisch russischen Bedingungen des tolstoianischen Christentums: P. Gastrow: Tolstoj und sein Evangelium (1905), S. 51-59. 50 Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Gütersloh: Mohn 2 1985, S. 130-145. 46

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Bewußt bestimmte hier - wie auch in anderen Darstellungen über Tolstoi - der eigene Standpunkt die Blickrichtung. Das eigene Glaubens- und Ethik-Verständnis diente somit als Folie, um die Andersartigkeit des tolstoianischen Christentums zu beschreiben. Tolstois Christentum Vor dem Hintergrund einer bibelfernen, versteinerten Kirche war es zunächst ein Fortschritt, daß Tolstoi unbefangen auf die Bibel zurückgriff; traf er damit doch das urprotestantische Anliegen, das Wort in den Mittelpunkt des Glaubens zu rücken. In diesem Akt sah man deshalb positive Ansätze zu einer Reformation der russischen Kirche. 51 Trotzdem scheuten sich die Kulturprotestanten, Tolstoi ganz unbefangen - wie der Russe Minski - als den »russischen Luther« zu bezeichnen. 52 Das Ergebnis der Tolstoischen Bibel-Auslegung war für die Kulturprotestanten zutiefst problematisch: Er beherrschte das Instrumentarium einer modernen Exegese nicht und war deshalb dilettantisch vorgegangen, was einerseits mit dem Goetheschen Satz »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« 53 entschuldigt wurde, aber andererseits zur akribischen Widerlegung herausforderte. 54 Konservativere Theologen dagegen sahen in den tolstoianischen Irrungen, wie noch zu zeigen sein wird, die logische Konsequenz von einem zu freien und subjektivistischen Bibel-Studium. 55 Theologisch am meisten umstritten war Tolstois Β ergpredigt-Auslegung. Hatte Tolstoi die Bergpredigt doch so buchstabengetreu ausgelegt und die Gebote als ethische Maximen mit apodiktischem Charakter verstanden, als ob in ihr eine »nova lex« angelegt worden sei! Gegen diese gesetzmäßig-dogmatische Interpretation sträubten sich die Protestanten. 56 Die Bergpredigt sei kein Gesetzeshandbuch »für An diese Darstellung knüpft Rittelmeyer: Tolstois religiöse Botschaft (1905), S. 113—114, eindeutig an. 51 Sehr früh geschah dies durch die Schrift von Gustav Glogau: Graf Leo Tolstoj, ein russischer Reformator. Ein Beitrag zur Religionsphilosophie. Kiel/Leipzig: Lipsius & Tischer 1893. 52 Ν. N. Minski: »Tolstoi - der russische Luther«. In: Der Sturm 1 (1910/11), S. 132-133. 53 So beispielsweise bei Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß: »Graf Leo Tolstoi«. In: Ders. : Probleme und Charakterköpfe. Studien zur Litteratur unserer Zeit. Stuttgart: Greiner & Pfeiffer [1897], S. 333-359, Zitat: S. 359. 54 Elsenhaus: »Graf Leo Tolstoj's Christenthum«. In: Deutsches Protestantenblatt (1895); auch Paul Kleinert: »Zu Leo Tolstois Lehre«. In: Theologische Studien und Kritiken 87 (1914), S. 555-602. 55 Zum Beispiel: F. Hornemann: »Leo Tolstojs Glaube«. In: Kirchliche Gegenwart (1902), Sp. 2 4 7 - 2 5 0 , 2 6 3 - 2 6 6 , 2 7 9 - 2 8 3 , 2 9 5 - 2 9 8 , 3 1 3 - 3 1 5 , hier: Sp. 315. 56 J.Müller: »Mein Erlebnis Tolstois«. In: Die christliche Welt (1911), Sp.220; Dreydorff: »Die große Frage«. In: Deutsches Protestantenblatt (1901), S.252; H.Behm: »Graf Leo Tolstoi«. In: Christentum und Zeitgeist (1909), insbes. S. 136; C. Schrempf: »Tolstois Christentum«. In: Die Wahrheit (1894/95), S. 346-347; H.Holtzmann: »Tolstois Krieg gegen den Krieg«. In: Protestantische Monatshefte (1909), S. 224; Hermann Eiche: »Tolstoi's Ethik und die moderne Cultur«. In: Die Gegenwart 31 (1902), Bd. 61, S. 116-120, hier: S. 117. 71

die heutigen Kulturverhältnisse in rechtlicher, wirtschaftlicher und politischer Beziehung«. 57 Das kulturprotestantische Verständnis von einer sich wandelnden Auslegung des Evangeliums, je nach historischen und kulturellen Bedingungen, widersprach Tolstois These vom ethisch-religiösen Absolutheitsanspruch der Schrift. Daß Tolstoi das Gebot vom Nichtwiderstreben zum Angelpunkt seines Christentums gemacht hatte, galt den Protestanten als symptomatisch für die russische Herkunft seiner Lehre. In ihr spiegelte sich am deutlichsten die »Passivität und ruhige[.] Gottergebenheit des Durchschnittsrussen« wider. S8 Dulden, Erleiden, Abwarten waren Eigenschaften, die dem Westeuropäer fremd und schwächlich erschienen. Überhaupt siedelten die Protestanten Tolstois bäurisch-agrarkommunistisches Ideal auf einer Kulturstufe an, die sie bereits vor Jahrhunderten durchschritten hätten und die zu der eigenen Kulturhöhe in diametralem Gegensatz stünde. Geschichts- und Kulturlosigkeit, Institutionen- und Staatsfeindschaft mochten in Rußland ihre Berechtigung haben, zumindest erklärbar sein, aber nicht in Deutschland. Außerdem roch ein Kulturprotestant bei Tolstois mystischen und asketischen Forderungen mittelalterliche Klosterluft. Keuschheit, Nichtwissen, Einfachheit, Bedürfnislosigkeit, einsilbige Kunst - das waren lebensfeindliche Werte, die Tolstoi hier im Gewand des Christentums präsentierte. 59 Der weit verbreiteten Auffassung, daß das Christentum in letzter Linie kultur-feindlich und nicht-fördernd wirke, kann nicht besser Vorschub geleistet werden, als wenn wir mit Tolstoi das mönchische Ideal unbedingter Askese wieder zu Ehren bringen wollen. 60

Alles in allem hatte Tolstoi ein Bild des Christentums und der christlichen Ethik entworfen, das bis in die letzte Konsequenz hinein lebens-, weit- und kulturfeindlich war. Mit diesem Programm war eine »Versöhnung von Religion und Kultur«, wie sie die Ku/fHrprotestanten angestrebt hatten, undenkbar. War es da nicht naheliegend, Tolstois kulturverneinende Lehre ad acta zu legen, wie das viele bürgerliche Leser getan hatten? Dagegen sprach die Herausforderung, die in Tolstois Christentum und Persönlichkeit lag. Hatten die Kulturprotestanten nicht zugestanden, daß ein Mensch, der so ernsthaft nach Wahrheit suchte, ernstgenommen werden mußl Und dieses Suchen nach einer ethischen Lebensweise war ja kein spezifisch russisches, sondern ein allgemein-menschliches Problem. Tolstoi hatte daher - so Paul Gastrow 57

Kurt Warmuth: »Tolstoi und das Christentum«. In: Leipziger Zeitung. Wissenschaftliche Beilage, Nr. 93 (08.08. 1903), S. 373-376, Zitat: S. 376. 58 F. Hornemann: »LeoTolstojs Glaube«. In: Kirchliche Gegenwart (1902), Sp. 315. 59 Zusammenfassend F. Rittelmeyer: »Es ist in T's Geringschätzung der Persönlichkeit, seinem mystischen Pantheismus, seiner materiefeindlichen Askese, seiner Leidenschaft gegen >die Sinnes seiner geschichtslosen Verehrung des vernünftigen BewußtseinsJüngeren< im Verein für Sozialpolitik«. In: W.J. Mommsen/W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 98-118; zur Altersstruktur des Vereins bes. S. 99. 196 Karl Diehl gehörte 1919 dem Ausschuß des »Vereins für Sozialpolitik« an; Franz Oppenheimer nahm erst 1926 an einer Tagung des »Vereins« teil. Franz Oppenheimer: Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen. Düsseldorf: Melzer 1964, S. 250. 197 Arthur Mitzman: »Persönlichkeitskonflikt und weltanschauliche Alternativen bei Werner Sombart und Max Weber«. In: W. J. Mommsen/W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 137-146, hier: S. 140 und S. 144; Franz Oppenheimer hatte direkte Kontakte zur »Freien Bühne« in Berlin, zu Gerhart Hauptmann und dessen Schwager Moritz Heimann. F. Oppenheimer: Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes (1964), S. 126-135. 198 Gerhart von Schulze-Gävernitz: Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland. Leipzig: Duncker & Humblot 1899, S. 214-215. 199 Tolstoj : Was sollen wir denn thun? (1902), Bd. I, S. 198. 200 S. Feilbogen: »Graf Leo Tolstoi als Socialphilosoph«. In: Monatsblätter des wissenschaftl. Club in Wien (1891), S. 7 1 - 7 4 ; Arnold Roeckner: »Das Geld und Tolstoi«. In: Die Gegenwart 20 (1891), Bd. 39, S. 278-279; Dmitry Wergun: »Ein neuesBuchTolstojs. >Die Knechtschaft unserer ZeitModerne Sklaverei««. In: Die Gesellschaft 17 (1901), 2. Quartal, S. 303-310.

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senschaften in »Moderne Sklaven« mit der Formulierung »fiat cultura - pereat justitia«. 201 Die eigentliche, inhaltliche Provokation lag aber in Tolstois Ethik, die zugunsten der Menschlichkeit einen Ausstieg aus der modernen Kultur forderte. Gerhart von Schulze-Gävernitz, Brentano-Schüler, Professor der Nationalökonomie in Freiburg und ESK-Teilnehmer, 202 hatte sich im Wintersemester 1892/93 in Rußland aufgehalten und 1899 die »Volkswirtschaftlichen Studien aus Rußland« vorgelegt. Darin widmete er der russischen Mentalität, bezogen auf die geistigkulturellen Bedingungen des Wirtschaftens, ein eigenes Kapitel. 203 Er kontrastierte die westeuropäischen, liberalen Wirtschaftsideen mit den slavophilen: Individualprinzip mit russischem Gemeinschaftsprinzip, freie industrielle Arbeit mit gemeinschaftlich gebundener Landarbeit. In romantischer Verklärung sei der Bauer von den Slavophilen zum Inbegriff des russischen Volkes gemacht worden. Als Inkarnation der russischen Mentalität des Nichtstuns galt Schulze-Gävernitz Tolstois Piaton Karatajew. Mit der Bergpredigt habe Tolstoi die Ablehnung des europäischen Arbeits- und Wirtschaftsbegriffs ethisch überhöht und legitimiert. Tolstois bäuerliche Kleidung interpretierte Schulze-Gävernitz als Solidaritätserklärung der Intellektuellen an das russische Volk und zugleich als Protest gegen die Europäisierung Rußlands, wie sie durch Peter den Großen eingeleitet worden war. 204 Die russischen Narodniki sahen in dieser Öffnung der oberen Gesellschaftskreise für die europäische Lebensweise die Ursache für die Entfremdung zwischen Volk und Intellektuellen, die sie wieder überwinden wollten. Bezüglich ihrer Forderungen - Abschaffung des Privateigentums, der staatlichen Steuer- und Militärgewalt - rückten die Narodniki in die Nähe zu sozialistischen Programmen im Westen. In einem Gespräch mit Schulze-Gävernitz habe sich Tolstoi ganz besonders für die Entwicklung des Sozialismus in Deutschland interessiert. 205 SchulzeGävernitz besuchte eine Tolstoi-Kolonie in Südrußland, die kommunistische und genossenschaftliche Elemente miteinander verband. 206 Die luxusfeindliche, einfache Lebensweise beschrieb der deutsche Nationalökonom mit Befremden. Später machte er während einer Tagung des ESK Witze darüber, daß die Tolstoianer weder Gabeln noch Seife benutzten. 207 Schon der Vergleich mit anderen Bauern-

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Tolstoj: »Moderne Sklaven«. In: Ders.: Religiös-ethische Flugschriften (1911), Bd. I, S. 4 6 - 5 1 , Zitat: S. 49, 50. 202 D. Krüger: »Max Weber und die >Jüngeren< im Verein für Sozialpolitik«. In: W.J. MommsenAV. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 100-105. Schulze-Gävernitz war von 1897 bis 1923 o. Professor für Nationalökonomie in Freiburg i.Br. und damit zeitweiliger Kollege von Max Weber. Friedhelm Biesenbach: Die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Freiburg i.Br. 1768—1896. Eine dogmengeschichtliche Analyse. Freiburg: Albert 1969, S. 200-213. Schulze-Gävernitz nahm 1894, 1895,1906,1907,1909,1910 an den ESK-Tagungen teil. 203 G. v. Schulze-Gävernitz: Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland (1899), S. 173-223 = Kapitel »Die Slavophilen und die Panslavisten«. 204 Ebd., S. 181,189. 2 °5 Ebd., S. 213-215. 206 Ebd., S. 218-220. 207 Gerhart von Schulze-Gävernitz: »[Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von Graf von Posa-

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kolonien in Rußland lieferte Schulze-Gävernitz den Beweis, daß die Tolstoi-Kolonien, da sie auf Selbstbehauptung und wirtschaftliche Effektivität verzichteten, zum Untergang verurteilt seien. Der Besuch der Tolstoischen Kolonie hat mir einen neuen Beleg dafür gebracht, daß der Socialismus die Weltanschauung von Klassen ist, welche auf dem Boden der gegenwärtigen Welt nicht imstande sind, ihre Interessen zu wahren; ihr Ideal liegt in dem schützenden Grappendasein der Vorzeit. So war der Socialismus vor fünfzig Jahren das Credo des englischen Fabrikarbeiters; er ist heute die Weltanschauung niedergedrückter Schichten des deutschen Proletariats wie des russischen Adels. 208 Mithin wurde Tolstois Ethik von Schulze-Gävernitz als wenig erfolgversprechendes Gegenprogramm, aber immerhin als Programm, zur westeuropäischen Wirtschaft und Kultur eingestuft. D e n Beweis für die Systematik und Geschlossenheit der sozial- und wirtschaftsethischen Gedanken bei Tolstoi erbrachten zwei staatswissenschaftliche Dissertationen. Die erste Arbeit von Alfons Goldschmidt über »Leo Tolstois soziales Problem« ging vermutlich auf eine Anregung von Schulze-Gävernitz zurück; 209 die zweite Arbeit über Tolstois »sozialökonomische, staatstheoretische und politische Anschauungen« wurde von Michael Walter bei Heinrich Herkner in Zürich geschrieben. 210 Am Ende seiner Arbeit stellte Goldschmidt die tolstoianische Ethik der Kultur der Moderne als wesensfremd gegenüber. Tolstois Altruismus und seine Forderung nach Nächstenliebe reichten seiner Meinung nach nicht aus, um die soziale Frage zu lösen. Er bekannte sich zu einem »sozialen Christentum der kulturellen Tat«211 und damit zum kulturprotestantischen Standpunkt. Dagegen berief sich Michael Walter auf den ethisch-humanistischen Standpunkt seines Lehrers Herkner. 2 1 2 Letztlich blieb Tolstois Rolle auf die des ethi-

dowsky: Luxus und Sparsamkeit]«. In: Verhandlungen des zwanzigsten Evangelischsozialen Kongresses, abgehalten in Heilbronn vom 1. bis 3. Juni 1909. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1909, S. 28-30, hier: S. 28. 208 G. von Schulze-Gävernitz: Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland (1899), S.220. Im Gegensatz dazu trennte Werner Sombart: Der proletarische Sozialismus (»Marxismus«), Zehnte Auflage der Schrift »Sozialismus und soziale Bewegung«. 2Bde. Jena: Fischer 1924, hier: Bd. I, S. 14,19,256,446, Bd. II, S. 136-138, scharf zwischen dem modernitätsfeindlichen und dem proletarischen, modernen Sozialismus. Tolstoi, aber auch Gustav Landauer, wurden dem ersten, die Arbeiterklasse dem zweiten zugeordnet. Neben Proudhon gehöre Tolstoi zur idealistisch-ethischen, die naturalistischen Schriftsteller (R. Rolland, Paul Ernst, Bruno Wille, Arno Holz, Karl Henckel, Ernst Toller) zur idealistischästhetischen Spielart des nicht-proletarischen Sozialismus. 209 Alfons Goldschmidt: Leo Tolstois soziales Problem. (= Diss, der staatswiss. Fak. der Univ. Freiburg i.Br.) Berlin/Leipzig: Seemann 1905. Daß die Arbeit bei Schulze-Gävernitz geschrieben wurde, läßt sich aufgrund des Aufbaus und seiner Erwähnung vermuten. 210 M. Walter: Tolstoi nach seinen sozialökonomischen, staatstheoretischen und politischen Anschauungen. Diss, der Rechts- und Staatswiss. Fak. Zürich 1906, genehmigt auf Antrag von Prof. Dr. H. Herkner. Herkner selbst hatte sich bereits kurz mit Tolstoi beschäftigt; s. das Kapitel »Die russischen Narodniki und Leo Tolstoi« in: Die Arbeiterfrage. Eine Einführung. Berlin: Guttentag 31902, S. 114-115. 211 A. Goldschmidt: Leo Tolstois soziales Problem (1905), S. 93. 212 M. Walter: Tolstoi nach seinen sozialökonomischen . . . Anschauungen (1906), S. 49. 96

sehen Mahners beschränkt. Er war der ethische Katalysator für die eigene kulturpraktische Arbeit. Gegen die »Verethisierung der Sozialpolitik«213 gingen Werner Sombart und Max Weber vor - der Ausgangspunkt der berühmt gewordenen Werturteilsdiskussion. Sombart setzte die christlich-sozialen und ethisch-nationalökonomischen Bestrebungen in eins und kritisierte damit u.a. die Grundauffassung von Herkner und Schulze-Gävernitz. Gleichermaßen warf er ihnen »Zerfahrenheit«, »Planlosigkeit« und »Eklektizismus« vor. Sie würden die Ethik von Gelegenheit zu Gelegenheit benutzen, um die Schäden des kapitalistischen Wirtschaftssystems auszubessern, ohne das System als solches anzutasten. Anstelle dieses »planlos nörgelndejn] Ethizismus«214 setzte sich Sombart für sozialpolitische Ideale ein, die nicht von außen an das Wirtschaftssystem herangetragen würden, sondern ihm selbst entnommen werden sollten. 215 Max Weber kämpfte besonders gegen den ethischen Optimismus Gustav Schmollers, der an einer ethischen Nationalökonomie festhielt. 216 Ihn wollte Weber davon überzeugen, daß Wirtschaft und Ethik heteronome Bereiche sind oder in seinen Worten - , daß »die Ethik nicht das Einzige ist, was auf der Welt >giltWertfreiheit< der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften«. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 489—540, Zitat: S. 504. 218 Zum »Wertfreiheits«-Aufsatz schreibt Marianne Weber: Lebensbild (1984), S. 336: »Hier stehen wir an einem Punkte, der Webers ethische Weltanschauung, wie durch einen schmalen Spalt, erkennen läßt: Er sieht die möglichen Ideale zu zwei Gegenpolen von ungeheurer Spannung auseinandertreten. Einmal können Kulturwerte aufgegeben sein, auch wenn sie mit jeglicher Ethik in unaustragbarem Konflikt treten. Und umgekehrt ist eine Ethik - wie die Tolstois - ohne inneren Widerspruch möglich, die alle Kulturwerte ablehnt. [Herv. d. Verf., E.H.]«. Die Bezugsstelle findet sich in Max Weber: »Der Sinn der >Wertfreiheitspätberufene< Sozialwissenschaftler setzte sich bereits in den neunziger Jahren für die Gründung von Siedlungsgemeinschaften ein. 235 Ihn inter231

232 233 234

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Ludwig Stein: »Tolstoi als Philosoph. Festrede zu Tolstois Todestag (20. November 1911) im Künstlerhaus zu Berlin«. In: Ungarische Rundschau für historische und soziale Wissenschaften 1 (1912), S. 2 1 - 3 5 , hier: S. 32. Stein gab seit 1887 das Archiv für Philosophie und Soziologie heraus; 1912 kaufte er die Zeitschrift Nord und Süd; er war ein enger Vertrauter des Reichskanzlers von Bülow ; im Ersten Weltkrieg beteiligte er sich an der Gründung der Berliner »Mittwochs-Gesellschaft«, s. Funkkolleg Jahrhundertwende 1880-1930. Studienbegleitbrief. Weinheim/B asel: Beltz 1988, S. 78. L. Stein: »Tolstoi als Philosoph«. In: Ungarische Rundschau (1912), S. 24. Ebd., S. 3 3 - 3 4 . Alfred Weber an Eugen Diederichs, Brief vom 24.01.1912. In: E. Diederichs: Selbstzeugnisse (1967), S. 208-210, Zitat: S.210. Die von Alfred Weber angekündigte Arbeit über Tolstoi, die nach seinen Angaben bereits von einem Studenten begonnen worden war, ist mir nicht bekannt. Es ist fraglich, ob sie überhaupt fertiggestellt wurde. Oppenheimer verfaßte die Statuten für die »Obstbausiedlung Eden« bei Oranienburg, bemühte sich über mehrere Jahre um die Gründung der Siedlung »Bärenklau« und interessierte sich bereits früh für das Werk von Henry George, der ja auch für Tolstois Bodenreformpläne eine entscheidende Rolle gespielt hatte. F. Oppenheimer: Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes (1964), S. 153-178.

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essierte »Tolstoi als Bodenreformer«, obwohl er mit dessen asketischen Idealen nichts anfangen konnte. 2 3 6 Auch der französische Nationalökonom Charles Gide 2 3 7 und der deutsche Bodenreformer Adolf Damaschke 238 setzten sich mit Tolstois Lehre und den Erfahrungen der Tolstoi-Kolonien auseinander, um sie für ihre eigenen genossenschaftlichen und reformistischen Ideen auswerten zu können. Wissenschaftliche Fragestellung und gesellschaftspolitisches Engagement gingen bei ihnen wiederum Hand in Hand. Hinter der wissenschaftlichen Untersuchung des Kulturkritikers Tolstoi am Vorabend des Ersten Weltkrieges verbarg sich also verstärkt eine Haltung, die von kulturpessimistischer Stimmung bis hin zu großen kulturreformerischen Plänen reichte.

4. Kulturkritik und L e b e n s r e f o r m Außer der Gewissensangst haben zur Bildung des Tolstoismus noch andere Thatsachen beigetragen, deren allgemeines Vorhandensein ebenso offenkundig ist: das wachsende Übergewicht materieller Interessen, der wunderbare Aufschwung von Handel, Industrie und Volkswohlstand hat in allen Ländern Europas die Ausnutzung der Arbeit durch das Kapital nach sich gezogen, eine zügellose Konkurrenz, wodurch der Kampf ums Dasein überall erbitterter, erbarmungsloser wird, - fortwährend wachsende Bedürfnisse und immer unnatürlichere und verwickeitere Daseinsbedingungen. Daher dies große Unbehagen, sowohl materiell wie moralisch [.. .].239 Kulturelles Unbehagen klang bereits in der Tolstoi-Auseinandersetzung der Kulturprotestanten und der Kulturwissenschaftler an. Trotz einer zunächst kulturbejahenden und optimistischen Grundüberzeugung wurden die Schäden der modernen Kultur, insbesondere die soziale Frage, nicht übersehen. Leise Vorbehalte gegen ein vollständiges Aufgehen in der Kulturarbeit enthielt die christliche, persönlichkeitsorientierte Ethik - »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?«. 2 4 0 Bereits Adolf Harnack

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Franz Oppenheimer: »Tolstoi als Bodenreformer«. In: Der Tag. Berlin (25.06. 1903), Volkswirtschaftliche Rundschau. 237 Charles Gide: »Tolstoi's socialökonomische Gedanken«. In: Allgemeine Zeitung. München. Beilage. Nr. 4 (06.01. 1892), S . l - 4 , Nr. 5 (07.01. 1892), S . 2 - 7 . Gide, Prof. der Nationalökonomie in Montpellier, später in Paris, Sozialreformer und Anhänger des Genossenschaftsgedankens, gehörte zum nicht-sozialistischen Flügel der französischen Nationalökonomie. (Vgl. G. Schmoller: »Volkswirtschaft«. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften (1911), S. 452). 238 Adolf Damaschke, der Vorsitzende des »Bundes Deutscher Bodenreformer«, verfaßte 1906 das Vorwort zu Tolstois: Die große soziale Sünde; s.a. die Selbstanzeige in: Die Zukunft 54 (1906), S. 499. Er stand in engem Kontakt zu Friedrich Naumann, bei dessen Zeitschrift Die Zeit er 1897 Redakteur war. Außerdem nahm er mehrfach an den Tagungen des ESK teil. 239 Félix Schroeder: Der Tolstoismus. Dresden: Beyer [1894], S. 85. 240 P. Gastrow: »Tolstoi und das Kulturproblem«. In: Protestantenblatt (1908), Sp. 483. 101

hatte darauf hingewiesen, daß die menschliche Seele niemals ganz durch den äußeren kulturellen Fortschritt befriedigt werden könne. 2 4 1 Nach 1900 wurden die Auswirkungen der technischen Zivilisation von bildungsbürgerlichen Kreisen zunehmend als Bedrohung von Bildung und innerer Kultur empfunden. Teile des Wilhelminischen Bildungsbürgertums reagierten darauf mit einer ethisch-ästhetischen Lebensreform, die zumeist im vorpolitischen Bereich stecken blieb. 2 4 2 Die bürgerliche »Kunstbewegung« 243 griff die kulturprotestantischen Topoi von dem Wert der menschlichen Seele und der Persönlichkeit auf und deutete sie ästhetisch-kulturkritisch aus. Der Kunst kam damit eine doppelte Rolle zu: zum einen diagnostizierte sie die zunehmende Gefährdung der bürgerlichprotestantischen Werte; zum anderen wurde sie als Heilmittel gegen deren Zersetzung eingesetzt. Eng verbunden mit der »Kunstbewegung«, als deren Hauptexponent Ferdinand Avenarius galt, war die Frage nach der Reform der Erziehung und der allgemeinen Kursbestimmung der kulturellen Weiterentwicklung.

a) Tolstoi und Avenarius - Kulturkritik und Aufbruch in der »Kunstbewegung« Im April 1898 erschien im Kunstwart ein Artikel des Herausgebers Ferdinand Avenarius über »Tolstoj und die Kunst«. 244 Darin grenzte er das Kunstverständnis seiner Zeitschrift gegen die Tolstoische Kunstauffassung ab. Statt der Abhängigkeit der Kunst von Religion und Sittlichkeit kämpfte Avenarius für die Eigenwertigkeit der Kunst als Erzieherin, Veredlerin, Gefühls- und Erlebniserweiterin, - mit anderen Worten: für die Errichtung einer »ästhetischen Kultur«, für die Höherentwicklung der Kultur durch Kunst. 2 4 5 Das Sittliche sollte in das künstlerische Schaffen wie in jede andere »Menschenthätigkeit« einfließen, sich aber besonders den Werten Natur, Vaterland und Volksgut verpflichtet fühlen. 2 4 6 Trotz dieser Differenzen gab es dennoch unübersehbare Gemeinsamkeiten in der Tolstoischen und der Avenarischen Kunstauffassung: das Eintreten für Volkskunst und damit zugleich die Kritik an der modernen, elitären l'art pour l'art-Konzeption; das Eintreten für

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A . von Hamack: Das Wesen des Christentums (1985), S. 77. Zur bürgerlichen Lebensreformbewegung s. Janos Frecot : »Die Lebensreformbewegung«. In: Klaus Vondung (Hrsg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 138—152. 243 Als »Kunstbewegung« bezeichnet E. Herrenbrück: Literaturverständnis im wilhelminischen Bürgertum (1970), S. 6, die »um 1900 einsetzende Tendenz, in der Kunst Hilfe und Maßstab für die neue, zukünftige Gesellschaftsordnung zu sehen«. Bewußt soll durch die Kunst ein Gegengewicht zur »mechanisch-seelenlos empfundene[n] Industriegesellschaft« geschaffen werden. Zugleich grenzt Herrenbrück die »Kunstbewegung« gegenüber der verwandten Heimatkunst ab. 244 Ferdinand Avenarius: »Tolstoj und die Kunst«. In: Der Kunstwart 11 (1897/98), 2. Hälfte,S. 1 - 3 . 245 Ebd, S. 3. 246 Zitat: ebd., S.2. H.Fred Krause: »Der Kunstwart (1887-1937)«. In: H.-D. Fischer (Hrsg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts (1973), S. 215-227, hier: S. 215. 242

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eine aufrichtige, realistische Kunst, die zugleich wertgebunden und idealistisch ist. Avenarius verstand es, seine eigenen Erfahrungen mit der modernen naturalistischen Literatur einfließen zu lassen, diese für den bürgerlichen Geschmack aufzuarbeiten und mit konservativen Elementen zu kombinieren. 2 4 7 Gleichzeitig schlug er eine Brücke zum Kulturprotestantismus, indem er Arthur Bonus, der in Martin Rades Christlicher Welt mitgearbeitet hatte, die Sparte »Kunst und Religion« übertrug. Bonus >konvertierte< allerdings zu einem freien, germanisch-nationalen Christentum. 2 4 8 Wie sehr dieses Kunst- und Kulturprogramm die Bedürfnisse des protestantischen Bürgertums ansprach, beweist das sprunghafte Ansteigen der KunstwartAbonnements nach 1900 auf über 20.000. 249 Die Popularität des Kunstwortes und des dazugehörigen »Dürerbundes« 2 5 0 war allerdings kein singuläres Phänomen. Eine verwandte Position vertraten der bereits vorgestellte Diederichs-Verlag und die protestantisch geprägten, auflagenstarken Zeitschriften Velhagen und Klasings Monatshefte, Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, Der Türmer und Ekkart. Sie nahmen die bereits vorgestellten Topoi der kulturprotestantischen TolstoiRezeption auf und banden sie in ein konservatives Kunst- und Kulturverständnis ein. Sie waren somit die konservativen Umdeuter und Popularisierer des kulturprotestantischen Tolstoi-Bildes. Typisch für das sich wandelnde bürgerlich-protestantische Tolstoi-Bild, wie es anfangs im Kapitel »Kulturapologeten« kurz skizziert worden ist, sind drei Aufsätze: der früheste von Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß in Velhagen und Klasings Monatsheften,251 der zweite von Eugen Kühnemann in Westermanns illustrierten deutschen Monatsheften252 und der letzte von Heinrich Meyer-Benfey in Der Türmer,253 der übrigens seit 1898 von Freiherr von Grotthuß herausgegeben wurde. 2 5 4 Im Gegensatz zur Mahnung Iwan Turgenjews, der ja den Dichter säuberlich vom Propheten Tolstoi getrennt hatte, sahen sie die Einheit von Tolstois Biographie und

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Avenarius war seit 1885 Mitarbeiter von Conrads Gesellschaft, deren Zielvorstellungen in die Kunstwart-Arbeit einflößen. Gerhard Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969, charakterisiert demgegenüber das Verhältnis zwischen »Avenarius und [den] Jüngstdeutschen« als zwiespältig (S. 76-86). 248 Dazu: J.Rathje: Die Welt des freien Protestantismus (1952), S.88, 103; G. Hübinger: »Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags«. In: Troeltsch-Studien (1987), Bd. 4, S. 102-103. Außerdem: A. Bonus: »Tolstoj«. In: Der Kunstwart (1901/02), S. 1 - 1 0 . 249 H. F. Krause: »Der Kunstwart«. In: H.-D. Fischer (Hrsg): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts (1973), S. 219. 250 G. Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund (1969), S. 336-441. 251 J. E. von Grotthuß: »Graf Leo Tolstoi als Dichter und Denker«. In: Velhagen und Klasings Monatshefte (1889/90), S. 341-349. 252 Curt Behr [= Eugen Kühnemann]: »Leo Tolstoj«. In: Westermanns Monatshefte (1899/ 1900), S. 2 8 2 - 2 9 9 , 4 0 7 - 4 2 6 . 253 H. Meyer-Benfey: »Tolstois Weltanschauung«. In: Der Türmer (1907/08), S. 753-768. 254 E. Herrenbrück: Literaturverständnis im wilhelminischen Bürgertum (1970), S. 8.

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Schaffen. Dichtung und Ethik gehörten zusammen; die Kunst sollte sogar Ausdruck von letzten, religiösen Überzeugungen sein. 255 Dahinter stand bei den drei Autoren die Grundauffassung von der »Einheit der Persönlichkeit«, 256 die den unauflöslichen Zusammenhang von Dichtung, Religion, Ethik und Lebensführung verkörperte. Die kulturprotestantische Vorstellung von der sittlich-religiösen Persönlichkeit wurde somit - kulturkritisch gewendet - zum Inbegriff von Einheit und Ganzheit gegenüber der Zerrissenheit des modernen Kulturbetriebs. Tolstois Dichtkunst galt Eugen Kühnemann als meisterhaft, weil sich in ihr die russische Seele durch ihn, den Autor, darstelle. 257 Tolstois empfindende Seele wecke Menschenliebe und Mitleid beim Leser. 258 Durch die Aufrichtigkeit und Tiefe seiner Kunst müsse Tolstoi als »Gewissen der Menschheit« ernstgenommen werden. 259 Wichtiger als die Kultur und der äußere Fortschritt sei die Rettung der Seele. 260 Die Kunst als Medium ganz persönlicher Emotionalität wurde zur Überprüfungsinstanz des eigenen Gewissens und der eigenen Stellung im Kulturgetriebe. »Seelenumkehr« sollte die Kunst Tolstois, aber auch die Kunst im allgemeinen bewirken. 261 Insofern wurde der alte Gedanke der Katharsis der Kunst wieder zugesprochen. Tolstois literarisch vermittelte Kulturkritik wurde in ihren praktischen Konsequenzen abgelehnt, diente aber der kritischen Reflexion bzw. als Ausdruck des eigenen kulturellen Unbehagens. So schrieb Grotthuß 1897: Das eine steht sicher fest: der ungeheure Gegensatz unseres bis an die Zähne bewaffneten Zeitalters mit seinem rücksichtslosen, wahnwitzigen politischen und socialen Konkurrenzkampfe zu den milden und entsagungsvollen Lclircn Christi. 262

Auch Heinrich Meyer-Benfey sah sich durch die »Auferstehung« Tolstois ermutigt, von der »Omnipotenz des modernen Culturstaates« zu sprechen und dessen Machtund Gewaltgrundlage anzuklagen. 263 Die Bedrohung der persönlichen Freiheit durch persönlich nicht mehr kontrollierbare Mechanismen rief bei vielen Liberalen Sympathie für den tolstoianischen Anarchismus hervor. 264 Die Selbstreflexion und 255

J.E. von Grotthuß: »Graf Leo Tolstoi als Dichterund Denker«. In: Velhagen und Klasings Monatshefte (1889/90), S. 341; aber auch Karl Strecker: »Tolstois Nachlaß«. In: Die Hilfe 18 (1912), S. 6 8 4 - 685. 256 H. Meyer-Benfey: »Tolstois Weltanschauung«. In: Der Türmer (1907/08), S. 754. 257 [E. Kühnemann]: »Leo Tolstoj«. In: Westermanns Monatshefte (1899/1900), S. 285 - 2 8 6 , 426. Noch deutlicher: Ders.: Turgenjew und Tolstoj. Berlin: Wilhelmi 1893, S. 19,27,29. 258 H. Meyer-Benfey: »Tolstois Weltanschauung«. In: Der Türmer (1907/08), S. 768. 259 [E. Kühnemann]: »Leo Tolstoj«. In: Westermanns Monatshefte (1899/1900), S. 420. 260 E. Kühnemann : Turgenjew und Tolstoj (1893), S. 31. »Es gilt die Seele zu retten«. 261 [E. Kühnemann]: »LeoTolstoj«. In: Westermanns Monatshefte (1899/1900), S. 423. 262 J.E. von Grotthuß: »Graf Leo Tolstoi«. In: Ders.: Probleme und Charakterköpfe [1897], S. 358-359. 263 Heinrich Meyer-Benfey: »Nachträgliches zu Tolstoi's >AuferstehungAuferstehungMitleiddritten Reiche< wird zur Wirklichkeit«. 300 292

Tolstoj: »Was ist Religion und worin besteht ihr Wesen?«. In: Ders.: Religiös-ethische Flugschriften (1911), Bd. I, S. 5 7 - 6 1 , Zitat: S. 60. 293 Ebd., S. 58. 294 N. Grot: Nietzsche und Tolstoi (1898), S. 6 - 1 1 . 295 E.Seydl: »Leo Nikolajewitsch Tolstois Leben und Lehre«. In: Frankfurter Zeitgemäße Broschüren (1904), S.230, 241—242; Anonym: »Tolstois Weltanschauung und Pädagogik«. In: Historisch-politische Blätter (1911), S. 284. 296 F . Rittelmeyer: Tolstois religiöse Botschaft (1905), S. 109; J. Wendland: »Die Gedankenwelt Leo Tolstois«. In: Deutsche Rundschau (1910), S. 456. 297 F. Jodl: Geschichte der Ethik (1923), Bd. II, S. 492. 298 H . Hart: »Am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts«. In: Ders.: Gesammelte Werke (1907), Bd. III, S. 182. 299 Paul Ernst: »LeoTolstoi«. In: Magazin für Litteratur71 (1902), S. 321-323. 300 H . Hart: »Am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts«. In: Ders.: Gesammelte Werke (1907), Bd. III, S. 198.

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Auch der Tolstoianer Eugen Heinrich Schmitt träumte in seinem Tolstoi-Buch von 1901 von einem »dritten Reich[.]«, 301 in das tolstoianische und nietzscheanische Gedanken einfließen sollten. Entscheidend an Schmitts Tolstoi-Interpretation war, wie bereits oben erwähnt, ihre bewußte Frontstellung gegen Utilitarismus, Liberalismus und Kapitalismus einerseits und marxistischen Sozialismus andererseits. Damit war das »dritte Reich« eindeutig antimodernistisch besetzt und irgendwo »zwischen kapitalistischem und sozialistischem Materialismus« angesiedelt. 302 In die Reihe der Synthese-Anhänger gehört auch der bekannte Ideologe der »konservativen Revolution« Arthur Moeller van den Bruck. In seinem TolstoiArtikel von 1904 besprach er das Tolstoi-Dostojewski-Buch von Dmitri Mereschkowski. 303 Der russische Mystiker und Belletrist protegierte Moeller van den Bruck, der sich damals noch Moeller-Bruck nannte. 304 Während Mereschkowski auf die »große religiöse Synthese« Tolstoi - Dostojewski und auf einen »kommenden Dritten, den großen russischen Allerweltspoeten und Allerweltsmessias der Zukunft« wartete, 305 strebte Moeller van den Bruck selbst eine andere Synthese an: Der betreffende Verfasser würde Tolstoi als den Repräsentanten des russischen Geistes, der Natur und der Religion, natürlich beibehalten haben, aber als Repräsentanten des allgemein europäischen Geistes und der Kultur hätte er unbedingt Nietzsche wählen, Nietzsche und Tolstoi hätte er sodann in eine synthetische Beziehung bringen müssen. Und es ist wohl sicher, daß der allgemein europäische Schwerpunkt dieser Synthese nicht bei Tolstoi und dem russischen Geiste, sondern durchaus bei Nietzsche und dem deutschen Geiste gelegen hätte. 3 0 6

Moeller van den Bruck wandte sich durch den Einfluß Mereschkowskis allerdings verstärkt den Gedanken Dostojewskis zu, dessen Schriften er zusammen mit ihm herausgab. Dadurch drängte Dostojewski Tolstoi in den Schatten. Der Seelenschilderer und größere Nationalist Dostojewski erhielt damit eine zentrale Stellung im Denken der »konservativen Revolutionäre«. 307 Dem entspricht die Feststellung von Raoul Hausmann, der im Ersten Weltkrieg eine Ablösung der Tolstoi- durch die Dostojewski-Rezeption feststellte. 308 Insofern kann Tolstoi eine entscheidende Rolle für den weiteren Weg des deutschen Denkens nicht zugewiesen werden.

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E. H. Schmitt: Leo Tolstoi und seine Bedeutung für unsere Kultur (1901), S. 472. Ulrich Linse: »Die Jugendkulturbewegung«. In: K. Vondung (Hrsg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum (1976), S. 119-137, Zitat: S. 123. 303 Arthur Moeller-Bruck: »Tolstoi, Dostojewski und Mereschkowski«. In: Das Magazin für Litteratur 73 (1904), S. 305—308; zugleich Rezension zu Dmitri Sergewitsch Mereschkowski: Tolstoi und Dostojewski als Menschen und Künstler. Leipzig '1903. 304 Zu der Verbindung: Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. München: dtv 1986, S. 221—317 = Kapitel über »Moeller van den Bruck und das Dritte Reich«, hier: S. 231. 305 A. Moeller-Bruck: »Tolstoi, Dostojewski und Mereschkowski«. In: Das Magazin für Litteratur (1904), S. 308. 306 Ebd., S. 307. 307 F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr (1986), S. 7 - 8 , 2 3 1 , 2 5 4 . 308 Raoul Hausmann: »Tolstoi, Dostojewski«. In: Die Neue Schaubühne 2 (1920), S. 94-101. 302

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Auch das deutsche Bürgertum besann sich durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges verstärkt auf genuin deutsche Dichter und Denker. Die anfangs erwähnten Ängste, durch ausländische - hier insbesondere russische - Literaturein flüße überfremdet zu werden, erhielten nun neuen Aufschwung und eine politische Dimension. Thomas Mann berief sich in einem Goethe-Tolstoi-Vortrag von 1921 auf Goethe als Inbegriff des Deutschtums, das sich gegen Rußland einerseits und den demokratischen Rationalismus Westeuropas andererseits behaupten müsse. 309 Bereits während des Krieges und in wesentlich schärferer Form hatte Th. Mann Tolstoi als spezifisch un- und antideutsch charakterisiert: Tolstoi ist Auflilärung, das heißt: Glückseligkeitsmoralist, Wohlfahrtsphilosoph. Tolstoi ist - man verzeihe das Wort, es gibt heute kein bezeichnenderes - er ist Entente, er ist, ohne eben >Westler< zu sein, der Repräsentant der russischen Demokratie, das west-östliche Bündnis von heute rechtfertigt sich geistig in ihm [.. .]. 310

Diese Sätze belegen in aller Deutlichkeit, daß Tolstoi in bürgerlichen Kreisen seit 1914 vollständig »out« war. d) Exkurs : Tolstoi und Bertha von Suttner - Anarchistischer Pazifismus contra bürgerliche Friedensbewegung Vordergründig kann das Bestreben des russischen Grafen und der österreichischen Baronin unter dem Etikett »Pazifismus« subsumiert werden. Wilhelm Herrmann rückte in seinem ESK-Vortrag 1903 ebenfalls beide Richtungen nahe aneinander. Auch Bertha von Suttner, die seit 1891 mit Leo Tolstoi in Briefkontakt stand, erhoffte von dem russischen Propheten eine weitgehende Unterstützung ihres Lebenswerkes: »Die Waffen nieder!«. 311 Immer wieder bat sie Tolstoi, den sie als ihren »Lehrmeister« anredete, 312 inständig um ein Grußwort für die von ihr organisierten Friedenskongresse. Mit der Popularität Tolstois wollte sie für ihr Friedensengagement werben. Erst allmählich begriff sie - mit dem Erscheinen des Buches »Das Reich Gottes ist inwendig in Euch« (1894), in dem Tolstoi offen gegen die bürgerliche Friedensbewegung polemisierte - , daß Abgründe sie von Tolstoi trennten. 313 Verfolgte sie eine auf Dialog zwischen den Staaten und Parlamenten angelegte Friedensarbeit, die Schiedsgerichte und andere internationale Kontrollen zur Kriegsverhütung

^ T h o m a s Mann: »Goethe und Tolstoi. Vortrag, zum ersten Mal gehalten September 1921 anläßlich der Nordischen Woche zu Lübeck«. In: Deutsche Rundschau 190 (1922), S. 225 - 2 4 6 . 310 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin: S. Fischer 1922, S. 562. 311 W.Beljèntschikov: »Bertha von Suttner in Rußland«. In: Literatur und Kritik (1976), S. 143. Danach hat von Suttner zwischen 1891 und 1909 14 Briefe an Tolstoi geschrieben, aber nur 4 Briefe von Tolstoi erhalten. 312 Ebd., S. 143,146,149. 313 Ebd., S. 150.

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vorsah, so setzte Tolstoi völlig auf die persönliche Gewissensentscheidung des Einzelnen, also Kriegsdienstverweigerung. In ihr sah Bertha von Suttner ein »sinnloses Martyrium«, das nichts an den politischen Rahmenbedingungen ändern würde. 314 Außerdem ging ihr die Gesetzes- und Staatsfeindschaft Tolstois viel zu weit. Trotzdem schätzte sie in »Zeiten der Niedergeschlagenheit«, 315 wie ihre Biographin berichtet, die kompromißlose Haltung Tolstois. An ihren Mitstreiter Alfred Hermann Fried schrieb sie 1909: »Er [Tolstoi] ist eigentlich der Konsequenteste von allen Kriegshassern«. 316 Fried seinerseits benannte in seinem Tolstoi-Nachruf, der in der Friedens-Warte erschien, die Differenzen zwischen der bürgerlichen Friedensbewegung und dem tolstoianischen Pazifismus. Tolstoi sei erstens kein »Pazifist im modernen Sinne«, da ihm der Blick für die Realitäten fehle. 317 Er sei zweitens kein Reformer, der an das Bestehende und die gewordende Kultur anknüpfe, sondern ein »Anhänger der Katastrophentheorie«. 318 Außerdem erwarte er drittens eine Veränderung durch den Einzelnen statt von der Gesellschaft, was völlig aussichtslos sei. Ursache der Tolstoischen Fehleinschätzungen sei die »Weltfremdheit«, 319 mit der er glaube, die christlichen Lehren in das zwischenstaatliche Leben übertragen zu können. Zusammenfassend charakterisierte Fried den tolstoianischen Pazifismus als romantisch und ethisch-idealistisch. Die bürgerliche Friedensbewegung dagegen baue nicht auf die sittliche Entrüstung, sondern rechne mit den materiellen Interessen der Beteiligten, bekenne sich also zu einem realpolitischen Kurs. Sie verfolge einen dritten Weg zwischen Tolstoi und Bismarck oder zwischen Moral- und Macht-Überschätzung. In dem Bestreben, die beiden gegensätzlichen Pole in eine Synthese zu bringen, entsprach die Haltung der bürgerlichen Friedensbewegung der der bürgerlichen Kulturreformer. Im Ausland, besonders in den Niederlanden und der Schweiz, bekannten sich schon während des Ersten Weltkrieges häufiger bürgerliche Intellektuelle und Christen zu einem radikalen Pazifismus und zur Kriegsdienstverweigerung. 320 In

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Brigitte Hamann: Bertha von Suttner. Ein Leben für den Frieden. München/Zürich: Piper 1986, S.428. Ähnlich äußerte sich auch Friedrich Wilhelm Foerster: »Können Attentate den gesellschaftlichen Fortschritt befördern?«. In: Ders.: Christentum und Klassenkampf. Sozialethische und sozialpädagogische Betrachtungen. Zürich: Schultheß 1909, S. 197—224, hier: S. 212 Anm. 1, über Tolstois »individualistische[.] Geistesrichtung«, die er für wenig sozial hielt. Trotz seines pazifistischen Engagements hielt Foerster, was typisch für die bürgerliche Friedensbewegung ist, am Gehorsam gegenüber dem Staat fest. 315 B. Hamann: Bertha von Suttner (1986), S. 430. 316 Ebd., S. 430. 317 A[lfred] H. F[ried]: »LeoTolstoi t«. In: Die Friedens-Warte 12 (1910), S. 221-223, Zitat: S.221. 318 Ebd., S. 221. 319 Ebd., S. 222. 320 Im Sommer 1915 unterzeichneten auch Lehrerinnen das »Dienstverweigerungsmanifest«, das in Utrecht von radikal-pazifistischen Gruppierungen, u.a. den holländischenTolstoianern, verfaßt worden war. Bart de Ligt: »Kriegsbekämpfer in den Niederlanden«. In:

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Deutschland dagegen wurde diese Grundforderung Tolstois erst seit Mitte der zwanziger Jahre von der organisierten bürgerlichen Friedensbewegung toleriert und partiell ins Programm aufgenommen. 3 2 1 Möglicherweise galt es auch, sich von der Tolstoi-Vereinnahmung durch die radikal-pazifistischen Kräfte - Anarchisten, Syndikalisten - nach 1914 abzugrenzen. Im Zwischenbereich von Bürgertum und anarchistischer Subkultur, von Literatur und Politik, gab es eine Teilrezeption des Pazifisten Tolstoi, besonders in den Zeitschriften Das Forum3'1·2 und Der Friede.323 Der gemeinsame Friedenswunsch konnte jedoch dauerhaft nicht die politischen Gräben überbrücken. Die Angriffe des Forum-Herausgebers Wilhelm Herzog auf die Liberalen waren ein Indiz für die Problematik dieses Zusammengehens. 3 2 4 Die verschiedenen Positionen spiegelten sich auch im Tolstoi-Bild wider: die linksliberalen Intellektuellen solidarisierten sich vorwiegend mit dem ethischen Pazifisten Tolstoi und nicht mit dem anarchistischen Pazifisten. 325 Tolstoi hatte durch seine Schriften deutlich gemacht, daß das Gewissen des Einzelnen über dem Staat und über der Massenhysterie des Krieges stehen müsse und insofern ein Bollwerk der Humanität dargestellt hätte, wenn seine Lehre in Westeuropa auf fruchtbareren Boden gefallen wäre. In diesem Sinne

Gewalt und Gewaltlosigkeit (1928), S. 198-214. In der Schweiz bekannten sich christliche Sozialisten um Leonhard Ragaz zu einer ähnlich radikal-pazifistischen Position wie Tolstoi. Leonhard Ragaz: »Jesus Christus und die Gewaltlosigkeit«. In: Gewalt und Gewaltlosigkeit (1928), S. 63-75, stellt Tolstois »Reich Gottes« der »Kriegstheologie« des Protestantismus gegenüber. Besonders scharf ist seine Kritik an der liberalen Theologie, namentlich an Naumann. Ebenso die Ragaz-Nahestehenden Jean Matthieu: »Ein Selbstverständlicher. Leo Tolstoj«. In: Neue Wege 9 (1915), S. 564-572 und L. Stückelberger: »Bismarck oder Tolstoi?«. In: Neue Wege 10 (1916), S. 109—121. Weitere Informationen bei Wolf-Eckart Failing: »Religiöser Sozialismus und Anarchismus. Historische Nachzeichnung eines unterbrochenen Gesprächs«. In: J. Harms (Hrsg.): Christentum und Anarchismus (1988), S. 149-192. 321 Martha Steinitz: »Kriegsdienstverweigerung und organisierter Pazifismus«. In: Gewalt und Gewaltlosigkeit (1928), S. 290-298. 322 Das Forum. Hrsg. v. Wilhelm Herzog. München 1. Jg. (1914/15). Mitarbeiter des 1. Jahrgangs waren u. a. die Schriftsteller Franz Werfel, Frank Wedekind, die Brüder Mann, Kurt Hiller, Annette Kolb, René Schickele, die Gelehrten Karl Vorländer, Leopold von Wiese. Das Forum war das Organ des pazifistischen Vereins »Bund Neues Vaterland«, an dem neben Eisner und Landauer auch liberale Gelehrte, wie Ludwig Quidde,F. W. Foerster und Lujo Brentano mitarbeiteten. 323 Der Friede. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur. Hrsg. v. Benno Kappeies. Wien 1. Jg. (1918). Mitarbeiter dieses ersten Bandes waren u. a. Erich Mühsam, Theodor Heuss, Alfred H. Fried, die Schriftsteller Franz Werfel, Robert Musil, Max Brod, Romain Rolland. Die politische Ausrichtung war antibolschewistisch, demokratisch-reformistisch. 324 Wilhelm Herzog: »Überraschungen«. In: Das Forum 1 (1914/15), Bd. 2, S. 611-613, zugleich Einführung zum Abdruck von Tolstois »Christentum und Vaterlandsliebe«. In: Das Forum 1 (1914/15), Bd. 2, S. 615-631. 325 Betonung des religiösen, pazifistischen und anarchistischen Aspekts bei P.J. Jouve: »Tolstoi«. In: Der Friede 1 (1918), S. 211—212, dessen Artikel von der Zensur stark gekürzt wurde. 113

äußerten sich Romain Rolland in der Zeitschrift Friede326 und Stefan Zweig in einer erst 1928 erschienenen Textsammlung der Internationale der Kriegsdienstgegner. 327 Die Broschüre macht gleichzeitig deutlich, daßTolstoi auch hier durch einen neuen Propheten abgelöst worden war. Vorbild für das Nichtwiderstreben auf religiös-ethischer Grundlage war in den zwanziger und dreißiger Jahren Mahatma Gandhi.

5. Zusammenfassung : Tolstoi und die Reflexion der modernen Kultur Überblickt man nochmals kurz die Tolstoi-Rezeption im protestantischen Bürgertum, so fällt der primär literarische Zugang zu Tolstois Werk und Lehre auf. Prägend für die Wahrnehmung des russischen Schriftstellers war das kulturprotestantische Tolstoi-Bild. Die Topoi von der Persönlichkeit, vom Ernstnehmen seiner Dichtung und Kulturkritik und schließlich vom »Gewissen der Menschheit« fanden sich in der kulturwissenschaftlichen und dann auch in der kulturkritisch-ästhetischen Rezeption wieder. Die eigentliche inhaltliche Auseinandersetzung überschritt den rein literarischen Rahmen, stand aber stets in Verbindung zu ihm. Tolstois Ideen waren immer dann ein Stein des Anstoßes, wenn es um ethische Fragen ging: religiös-ethische und sozial-ethische. Sie alle gehören in den Kontext der generellen Verhältnisbestimmung von Kultur und Ethik. Für die Kulturprotestanten, die eine »Versöhnung von Religion und Kultur« angestrebt hatten, stellte Tolstois kulturverneinendes Christentum eine Herausforderung dar. Trotz der theologisch dilettantischen und spezifisch russischen Bibelauslegung Tolstois, war die Legitimationsinstanz seiner Lehren die Bergpredigt. Das mußte ernstgenommen werden. Wie aber konnte sich demgegenüber der ^«//wrprotestantismus legitimieren? Das sozial-ethische Interesse führte die »Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur« und die jüngeren Mitglieder des »Vereins für Sozialpolitik« zur TolstoiLektüre. Der Dialog mit Tolstoi kam allerdings an seine Grenzen, als es um die Letztbegründung des ethischen Handelns ging: Unversöhnlich standen sich religiöse und wissenschaftlich-rationale Weltsicht gegenüber. Einzelne wirtschafts-, rechts- und sozialwissenschaftliche Studien vervollständigten das Bild von dem radikalen und konsequenten Kulturkritiker Tolstoi. Dabei wurde der Gegensatz

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Romain Rolland: »Tolstoi und der freie Geist«. In: Der Friede 1 (1918), S. 106; so auch Leopold Liegler: »Tolstoi: Der Fremde und der Bauer - Tagebuch«. In: Der Friede 1 (1918), S. 212-213. 327 Romain Rolland: »Tolstoi und der freie Geist«. In: Der Friede 1 (1918), S. 106. Stefan Zweig: »Tolstojs Lehre«. In: Gewalt und Gewaltlosigkeit (1928), S. 2 2 7 - 2 3 2 . Zu den Berührungspunkten zwischen literarisch-radikal-demokratischen und anarchistischen Pazifisten s. den Exkurs »Tolstoi in den anarchistisch-expressionistischen Zeitschriften« dieser Arbeit.

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von Tolstois kulturverneinender Ethik und dem eigenen kulturwertebejahenden Standpunkt systematisch erfaßt. Durfte letzterer tatsächlich allgemeine und objektive Gültigkeit beanspruchen? Charakteristisch für die Kulturprotestanten, Kulturwissenschaftler und -Ethiker war ihre eigene Verflochtenheit in die Kultur der Moderne. Auf einer abstrakten Reflexionsebene ließen sie sich und ihren Kulturstandpunkt durch Tolstoi in Frage stellen. Dabei diente Tolstoi als das kritische Kulturgewissen und als Gegenfolie zur Formulierung des eigenen ethischen Standpunktes. Ungefähr bis zur Jahrhundertwende überwogen rationalistisch-optimistische Konzepte, die das Verhältnis von Kultur und Ethik harmonisierten: das individual- und gesinnungsethische Christentum von Wilhelm Herrmann und Adolf Harnack, das ethisch-evolutionistische der »Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur« und das ethisch-nationalökonomische von Gustav Schmoller. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung von einem ethischen »in-den-Griff-Bekommen« der Kulturprobleme, speziell der sozialen Frage. Nicht wahrgenommen wurde allerdings, daß sich hinter dem grundsätzlich kulturbejahenden Standpunkt eine Vielfalt von ethischen Konzepten verbarg. Nach der Jahrhundertwende gewannen traditionalistische und neue vitalistischskeptizistische Konzepte an Bedeutung. Einerseits reaktivierten die konservativen Protestanten und Katholiken - mit zunehmendem Selbstbewußtsein - ihre alten Glaubenstraditionen: Luthers Zwei-Reiche-Lehre und das aristotelisch-thomistische Naturrecht. Insgesamt >modernitätsresistenter< ließen sie sich durch Tolstois Christentum nicht in Frage stellen, teilten aber teilweise seine materiale Kulturkritik. Andererseits hinterfragte die jüngere Theologen- und Wissenschaftlergeneration das harmonistische Modell von Kultur und Ethik. Der Graben zwischen christlichen und kulturellen Werten brach wieder auf. Ernst Troeltsch versuchte, ihn durch die sittliche Persönlichkeit zu überbrücken, während Friedrich Naumann und andere Zeitgenossen in einer nationalistischen oder ästhetizistischen Ersatzreligiosität Halt suchten. Auch hinter der wissenschaftlichen Untersuchung des Kulturkritikers Tolstoi verbarg sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges zunehmend eine Haltung, die von kulturpessimistischer Stimmung und großen kulturreformerischen Plänen getragen wurde. Der reflexive Grundzug der Tolstoi-Auseinandersetzung erhielt nun eine doppelte Dimension: die kritische Außenwahrnehmung und Benennung von Kulturschäden, zugleich aber die kritische Selbstwahrnehmung des Bürgertums, das sich durch religions- und bildungsfeindliche Mächte zunehmend in Frage gestellt sah. Ein relativ unbestimmtes Gefühl des kulturellen Unbehagens machte sich breit. Die bürgerliche Kunst- und Lebensreformbewegung strebte eine ästhetizistisch-idealistisch geprägte Kulturreform an. Kurzfristig feierte man Tolstoi als ganzheitlichkünstlerische und sich frei entwickelnde Persönlichkeit, unterstützte in reformpädagogischen Kreisen einige seiner Forderungen, erwärmte sich in der bürgerlichen Friedensbewegung teilweise an dem großen Gewissensmahner und seiner ethischen Konsequenz. Langfristig konnte Tolstoi aber, der ja zu allen bürgerlichen Kulturwerten in diametralem Gegensatz stand, kein Vorbild für ein kulturpraktisches Erneuerungsprogramm sein. Andere Propheten und Denker boten sich für eine 115

Neubesinnung an: Karl Barth in der Theologie, Nietzsche in der Ethik, Dostojewski und Goethe in der Literatur, Gandhi in der Friedensbewegung. Insgesamt verstärkte sich im Bürgertum die Tendenz zu synthetischen Konzepten: Christus, Lutherund Kant, Nietzsche und Tolstoi, Dostojewski und Nietzsche, Kant und Marx usw. Gegensätze sollten in einem »Dritten Reich« aufgehoben werden. Radikal-einseitige Ideen und Systeme wurden somit abgelehnt, was der tiefere Grund dafür sein kann, daß Tolstoi im protestantischen Bürgertum nur ein »Modeprophet« blieb. Daß das Bürgertum aber überhaupt Bedarf an Propheten hatte, ist ein Indiz für die innere Verunsicherung des protestantisch-bürgerlichen Wertgefüges. Die Tolstoi-Diskussion zeigte, daß die positive Haltung zur Kultur die dünne Klammer war, die den ethischen Pluralismus im Bürgertum zusammenhielt. Die Klammer wurde durch die kulturkritische Haltung gelöst und zerbrach spätestens mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg.

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II. Reaktionär oder Revolutionär? - Zur Tolstoi-Diskussion im Sozialismus-Anarchismus

Was konnte der christliche Anarchist Tolstoi den deutschen Sozialisten sein? War der literarische Anwalt der »Mühseligen und Beladenen« auch ein Vorkämpfer für sozialistische Ideale? Oder war Tolstoi nicht vielmehr ein großer Verhinderer des Klassenkampfes? Ein Reaktionär? Die Schwierigkeiten der orthodoxen Sozialisten mit dem russischen Propheten des Nichtwiderstrebens betrafen dessen religiösethische Lehre, aber auch die Frage, welche Rolle die Kunst im politischen Kampf einzunehmen habe. Damit war die Tolstoi-Rezeption ein Beispiel für das ungeklärte Verhältnis von naturalistischer Literatur und Sozialdemokratie, aber auch für das Verhältnis von Ethik und Klassenkampf. Ethik und Ästhetik waren an den Rändern der Sozialdemokratie beheimatet : bei den sozialistischen Neukantianern um Hermann Cohen und bei den sog. Gefühlssozialisten. Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller können als deren bekannteste Exponenten angesehen werden. Ihre Lebensläufe veranschaulichen die eigenwillige Mischung von Politik, Ethik und Ästhetik, aber auch von Sozialismus, Anarchismus und Pazifismus. Die Vermutung liegt nahe, daß sie die eigentlichen Tolstoi-Rezipienten im sozialistischen Umfeld gewesen sind. Was konnten sie von Tolstoi für ihre eigene Revolution, die Münchener Republik und Räterepublik, übernehmen und umsetzen?

1. Die orthodoxen Sozialisten a) Konturen des Tolstoi-Bildes Seine früheste Erwähnung bei den Sozialisten fand Tolstoi 1886 in der Neuen Zeit,1 dem ersten »marxistisch-wissenschaftlichen Organ auf deutschem Boden«. 2 Die Neue Zeit wurde 1883 von Karl Kautsky zusammen mit dem Verleger Johann Heinrich Wilhelm Dietz gegründet. 3 An den vorbereitenden Gesprächen, aber auch an der Herausgabe war die Leitung der »Sozialdemokratischen Partei« durch 1

Robert Schweichel: »Der naturalistische Roman bei den Russen und Franzosen.«. In: Die Neue Zeit 5 (1886/87), S. 1 - 1 4 , 6 2 - 7 0 , 1 0 5 - 1 1 4 , 5 4 5 - 5 5 4 , Tolstoi: S. 105-114. 2 Gerhard Schimeyer: »Die neue Zeit (1883—1923)«. In: H.-D. Fischer (Hrsg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts (1973), S. 201-213, hier: S. 201. 3 Ingrid Gilcher-Holtey: Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie. Berlin: Siedler 1986, S. 3 0 - 3 8 .

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August Bebel und Wilhelm Liebknecht aktiv beteiligt. Aus diesem Doppelcharakter als wissenschaftliche Revue und als Parteiorgan resultierte die unangefochtene Stellung der Neuen Zeit: Sie war die einzige legale und anerkannte Zeitschrift während der Zeit des Sozialistengesetzes. Bis zum Oktober 1917 waren Erscheinungsbild und Inhalt der Zeitschrift eng mit der Person des Herausgebers verknüpft: mit dem Parteitheoretiker Karl Kautsky. Bis zu diesem Zeitpunkt vertrat die Neue Zeit den radikalen, aber offiziellen Flügel der deutschen Sozialdemokratie. Aufgrund ihres intellektuellen Zuschnitts wurde sie zum wichtigsten Forum der Tolstoi-Auseinandersetzung bei den orthodoxen Sozialisten. Zwischen 1886 und 1913 erschienen hier zwölf Tolstoi-Artikel, u.a. von Franz Mehring und Rosa Luxemburg. Aber zurück zur ersten Tolstoi-Erwähnung in der Neuen Zeit. Sie stammte von Robert Schweichel, Mitarbeiter im Feuilleton und selbst sozialistischer Schriftsteller. 4 Der Artikel befaßte sich mit dem literarischen Werk Tolstois, das dem russischen Naturalismus zugeordnet und wegen dessen pessimistischer und mystischreligiöser Tendenz als »pathologisch« abqualifiziert wurde. 5 Damit war die zentrale Frage angesprochen, die sich durch die sozialistische Tolstoi-Rezeption zog: Ist Tolstoi ein reaktionärer oder ein revolutionärer Schriftsteller? Kann Tolstoi als sozialistischer Schriftsteller gewertet und kann damit sein Werk als Waffe im Kampf gegen den Kapitalismus eingesetzt werden oder dient seine Kunst der Befestigung des status quo? Auf theoretischer Ebene ist dies die Frage nach der Funktion der Kunst innerhalb der proletarischen Bewegung, die 1896 beim SPD-Parteitag in Gotha ausführlich und abschließend diskutiert wurde. 6 Das Interesse der Partei an Tolstois künstlerischem Schaffen konzentrierte sich vor allem auf die beiden gesellschaftskritischen Werke, »Die Macht der Finsternis«7 und die »Auferstehung«. Letztere wurde nicht nur in der Leipziger Volkszeitung,8

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Ursula Miinchow: »Naturalismus und Proletariat. Betrachtungen zur ersten großen Literaturdiskussion der deutschen Arbeiterklasse vor der Jahrhundertwende«. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft 10 (1964), S. 599-614, S. 610, verweist auf Schweicheis Erzählung Der Weber von Obergeiersdorf (1873) als frühes Beispiel der Arbeiterliteratur. 5 R. Schweichel: »Der naturalistische Roman«. In: Die Neue Zeit (1886/87), S.2, 113-114, Zitat: S. 114. 6 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Gotha vom 11. bis 16. Oktober 1896. Berlin: Buchhandlung Vorwärts 1896 (Reprint 1970), S. 78-85; darin: Zurückweisen von naturalistischer Literatur in Parteizeitungen. Zur Darstellung der Naturalismus-Debatte vom marxistischen Standpunkt: U. Münchow: »Naturalismus und Proletariat«. In: Weimarer Beiträge (1964), S. 599-614. 7 Rezensionen: Anonym: »Berliner Theaterbrief«. In: Leipziger Volkszeitung, Nr. 256 (05.11.1900), Beilage; Erich Schlaikjer: »Die Macht der Finsternis. (Deutsches Theater)«. In: Vorwärts 17 (1900), Unterhaltungsblatt Nr. 215 (06.11.), S. 858; Franz Mehring: »Berliner Theater«. In: Die Neue Zeit 19 (1900/01), Bd. 1, S. 186-188. 8 Anläßlich des Abdrucks in der Romanbeilage erschien eine anonyme Besprechung: »Auferstehung«. In: Leipziger Volkszeitung, Nr. 91 (21.04.1900), 1. Beilage.

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sondern auch im Vorwärts,9 dem offiziellen Parteiorgan, abgedruckt. In den Rezensionen und Artikeln erfolgte dann die kritische Auseinandersetzung mit dem Tolstoischen Werk und seinem Wert oder Unwert für die Arbeiterbewegung. Während Esther Luba Axelrod, die über die Weltanschauung Tolstois promoviert worden war, 1 0 den quietistischen, lebensnegierenden, unkämpferischen Aspekt in Tolstois »Auferstehung« hervorhob, betonte der Parteihistoriker und -journalist Franz Mehring die »kühne[.] revolutionäre^] Sprache« Tolstois, in der er die Gesellschaft anklage. 11 Die schonungslose Darstellung der sozialen Zustände, die damit verbundene Institutionen- und Gesellschaftskritik Tolstois fand bei den Sozialisten durchgängig begeisterten Zuspruch: Als Todfeind der bestehenden Gesellschaft, als unerschrockener Kämpfer für Gleichheit, Solidarität unter den Menschen und für Rechte der Besitzlosen, als unbestechlicher Entlarver aller Heuchelei und Verlogenheit der heutigen Zustände in Staat, Kirche, Ehe, ist Tolstoi [...] in seinem Wesen durch und durch geistesverwandt mit dem revolutionären Proletariat. 12 Einerseits resultierte aus Tolstois gesellschaftskritischer Haltung die praktischpolitische Rolle seiner Literatur für den Kampf gegen das zaristische Rußland, worauf der gebürtige Russe und in Frankreich lebende Sozialist Charles Rappoport hinwies. 13 Andererseits konnte Tolstois Anklage allgemeiner gedeutet werden als Protest gegen die bestehende bürgerliche Gesellschaft, wodurch seine Kunst auch für das deutsche Proletariat praktische Bedeutung gewann. Zu diesem Schluß gelangte Rosa Luxemburg 1913 in einem Aufsatz, in dem sie die Lektüre Tolstois sogar für die Arbeiterjugend empfahl. 1 4 Dennoch blieb bei allen orthodoxen Sozialisten das Verhältnis zu Tolstoi zwiespältig, was Karl Kautsky besonders deutlich zum Ausdruck brachte :

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Auf den Abdruck der Auferstehung im Vorwärts (1900) verweist der Tolstoi-Nachruf, Anonym: »Tolstois Leben und Schriften«. In: Vorwärts 27 (1910), Unterhaltungsblatt Nr. 227 (22.11.), S. 906-907, hier: S. 907. 10 E.L. Axelrod: Tolstois Weltanschauung und ihre Entwicklung. Diss, der Univ. Bern (1902). Rezension dieser Arbeit von Salomea Perlmutter: »Tolstois Weltanschauung und ihre Entwicklung«. In: Die Neue Zeit 21 (1902/03), Bd. 1, S. 404-407. "Franz Mehring: »Leo Tolstoi«. In: Der wahre Jakob (1900), Beilage Nr.361, S. 3250-3252, hier: S. 3252. 12 Rosa Luxemburg: »Tolstois Nachlaß«. In: Die Neue Zeit 31 (1912/13), Bd. 2, S. 97-100, hier: S. 100; ebenso der Tolstoischen Gesellschaftskritik zustimmend: Edgar Steiger: »Auferstehung«. In: Das litterarische Echo 2 (1899/1900), Sp. 673-679, insbes. Sp.673 und 677; Anonym: »Auferstehung«. In: Leipziger Volkszeitung, Nr. 91 (21.04. 1900), 1. Beilage. 13 »Die russische Literatur ist, wie sie es ihren Ursprungs- und Lebensbedingungen nach nicht anders sein kann, eine Anklage-, eine Kampf-, eine Trotzliteratur, erfüllt von den Tendenzen der ökonomischen und politischen Emanzipation, die sich nur in ihr ausleben können.« Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi als Philosoph und Moralist des Jenseits«. In: Die Neue Zeit 29 (1910/11), Bd. 1, S. 388-395, 429-434, 476-482, hier: S. 289-390; in gleichem Sinn auch F. Mehring: »LeoTolstoi«. In: Der wahre Jakob (1900), S. 3250. 14 R. Luxemburg: »Tolstois Nachlaß«. In: Die Neue Zeit (1912/13), S. 100. 119

Ueber die dichterischen Qualitäten des großen Russen brauchen wir kein Wort zu verlieren. Sie werden von Niemand mehr bezweifelt. Daß die Schilderungen russischer Arbeiterverhältnisse, [ . . . ] meisterhaft und in einer Weise gegeben sind, die den tiefsten Eindruck macht, ist bei Tolstoi selbstverständlich. Aber das Buch [»Moderne Sklaven«] ist auch in jenen Partien fesselnd, wo nicht der Dichter, sondern der Sozialphilosoph zum Wort kommt. Wohl ist seine soziale Philosophie von einer bizarren und reaktionären Naivetät [ . . . ] [Herv. d. Verf., E . H . ] . 1 5

Kautsky unterschied damit zwei Wahrnehmungsebenen: 1. Tolstoi als Künstler und Gesellschaftskritiker: Die photographische Abbildung gesellschaftlicher Zustände und Mißstände machte Tolstoi zu einem revolutionären Autor; 2. Tolstoi als Prophet und Sozialphilosoph: Er ging bewußt über die kritische Bestandsaufnahme hinaus und bot einen ethisch-religiösen Ausweg zur Lösung der sozialen Frage an. Hier lag - wie jetzt zu zeigen ist - der eigentliche Unterschied zwischen Tolstoi und den orthodoxen Sozialisten, denn in diesem Punkt trafen zwei entgegengesetzte Weltanschauungen aufeinander. b) Kampf der Weltanschauungen Das gespannte Verhältnis zwischen den Sozialisten und Tolstoi ging auf den russischen Grafen selbst zurück: Tolstoi hatte die Fehde durch die kritische und heftige Zurückweisung des sozialistischen Auswegs in seinen späten Schriften eröffnet, in denen er die »Unzulänglichkeit des sozialistischen Ideals« nachzuweisen suchte. 16 Zur kurzen Erinnerung: Tolstoi hatte die Bodenfrage in den Mittelpunkt der sozialen Frage gerückt und damit den technisch-industriellen Fortschritt als Ganzes abgelehnt. Die materialistische Lebens- und Produktionsweise - Verstädterung, Fabrikarbeit und Arbeitsteilung - hatte er als menschenfremd und -unwürdig verurteilt. Den Sozialisten warf er vor, die kapitalistische Wirtschaftsweise unter veränderten Vorzeichen und außerdem die Institution des Staates beibehalten zu wollen: Wenn sogar einträte, was Marx prophezeit hat, so würde es doch nur dazu kommen, daß der Despotismus aus den Händen der einen in die der andern Ubergeht. Aus den Händen der Kapitalisten in die Hände der Arbeiterführer. [ . . . ] Das Unfertige und der Irrtum der Marxistischen Theorie besteht in der Annahme, daß das Kapital aus den Händen der privaten Personen in die Hände der Regierung übergehen wird und aus den Händen der Regierung, die mit dem Volk identisch ist, in die Hände der Arbeiter. Die Regierung ist aber nicht das Volk, sondern setzt sich wieder aus privaten Personen zusammen, die die Macht in Händen haben [ . . . ] . "

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Karl Kautsky: »Tolstoi und Brentano«. In: Die Neue Zeit 19 (1900/01), Bd. 2, S. 2 0 - 2 8 , Zitat: S. 2 0 - 2 1 . 16 Tolstoj: »Moderne Sklaven«. In: Ders.: Religiös-ethische Flugschriften (1911), Bd.I, Zitat: S. 38; die folgenden Ausführungen beruhen aus Tolstois Schriften An die Arbeiter, Das einzige Mittel, Wo ist der Ausweg?·, ansonsten wird auf das Unterkapitel der biographischen Skizze »Alternative Politik« verwiesen. " Tolstoj : Tagebuch (1923), Bd. I, S. 143.

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Den Ausweg zur wahren Befreiung der Arbeiterschaft hatte Tolstoi in der invidividuellen, religiösen Umkehr gesehen und nicht im gewaltsamen Umsturz. In der Auseinandersetzung mit Tolstois späten Schriften behaupteten die orthodoxen Sozialisten ihren eigenen Standpunkt.

Historisch-materieller Fortschritt statt »Zurück zur Natur« Durchgehend wurde Tolstoi sein ahistorischer Ansatz vorgeworfen. 18 Wie sollte sich das Rad der Geschichte zu bäuerlichen Zuständen zurückdrehen lassen? Und außerdem - so der kritische Einwand von Karl Kautsky - 1 9 seien agrarische Phasen in der Geschichte immer nur Durchgangsstadien zu einer höheren Kulturstufe gewesen, d. h. die Tolstoische Rückkehr zur Natur verheiße keinen stabilen historischen Endzustand. Zum einen ging es den wissenschaftlich geschulten Sozialisten und das ist naheliegend - um die Ehrenrettung der dialektischen Methode; zum anderen, was vielleicht verblüffen kann, erwiesen sie sich als Verfechter der technischen und kulturellen Errungenschaften. In dieser Hinsicht wollten sie das Erbe der kapitalistischen Epoche antreten. Die materiellen und ideellen Güter sollten allerdings nicht den besitzenden Klassen, sondern allen zugute kommen. Bloß die absolute Verständnislosigkeit der geschichtlichen Dialektik, die uns lehrt, streng zu unterscheiden zwischen der kapitalistischen Ausbeutung der Kultur, bei der Wohltat zur Plage wird, und der wohltätigen Kultur als solcher, die einen Befreiungsprozeß, und zwar die Befreiung des Menschen von der sklavischen Naturabhängigkeit darstellt, konnte Tolstoi zu diesem reaktionären, fast kindischen Feldzug gegen die Kultur veranlassen. 20

Die Polemik richtete sich vor allem gegen das agrarische Ideal, das Tolstoi anpries. Mit diesem »Dorfkommunismus«, 21 »Bauernkommunismus« 22 und »konfusen Agrarkommunismus« 23 wollte man nichts gemein haben. Hierher rührte das Kautsky'sche Schimpfwort vom reaktionären Sozialphilosophen. Besonders stellte sich die Frage nach der Rolle Tolstois für die russische revolutionäre Bewegung. Innerhalb des russischen Narodnitschestwo sei Tolstoi aufgrund dieses »agrar-konservative[n] Prinzip[s]« dem »aristokratisch-konservativen Flügel« zuzuordnen. 24 Da

18

Robert Schweichel: »LeoTolstoi: Auferstehung«. In: Die Neue Zeit 18 (1899/1900), Bd. 2, S. 13—20, 4 7 - 5 4 , hier: S.50; Anonym: »Auferstehung«. In: Leipziger Volkszeitung (21.04. 1900); N.Trotzky: »Leo Tolstoi«. In: Die Neue Zeit 26 (1907/08), Bd. 2, S. 900-909, hier: S. 908. 19 K. Kautsky: »Tolstoi und Brentano«. In: Die Neue Zeit (1900/01), S. 27. 20 Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S.478; s.a. K. Kautsky: »Tolstoi und Brentano«. In: Die Neue Zeit (1900/01), S.27 und Robert Schweichel: »Tolstoi's Kreutzersonate«. In: Die Neue Zeit 9 (1890/91), Bd. 1, S. 305 - 3 1 3 , hier: S. 305,313. 21 Franz Mehring: »Leo Tolstoi«. In: Die Neue Zeit 29 (1910/11), Bd. 1, S. 337 - 3 4 1 , hier: S. 340. 22 Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S. 480. 23 R. Luxemburg: »Tolstois Nachlaß«. In: Die Neue Zeit (1912/13), S. 98. 24 N. Trotzky: »LeoTolstoi«. In: Die Neue Zeit (1907/08), Zitate: S. 902 und 907.

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seine Denkweise dem vorkapitalistischen Rußland angehöre, sei er für die russische Arbeiterbewegung nur bedingt hilfreich gewesen. Herrschaft des Proletariats statt Anarchismus Verständnislos begegneten die Sozialisten dem gewaltlosen und religiös geprägten Anarchismus Tolstois. Warum erkannte er nicht, daß man die bestehende Form des Staates umgestalten und den Zwecken des Proletariats anpassen konnte? 25 Durch seinen Verzicht auf kämpferische Gewalt wurde Tolstoi sogar zum »Feind der Politik und der Revolution«. 26 Diese passive und unpolitische Haltung Tolstois entlarvte man als idealistischen Utopismus, 27 der zwar der amerikanischen und westeuropäischen Bourgeoisie als Ausdruck ihres »gegenstandslosen Humanismus« und als Beruhigungsmittel vor revolutionären Umsturztheorien dienen konnte, 2 8 der aber vor den eigentlichen Erfordernissen der proletarischen Bewegung die Augen verschloß. Der russische Sozialist Rappoport verwies auf die quietistische Haltung Tolstois während der bürgerlichen Revolution von 1905. Wer aus moralischen Gründen auf die politische Aktion verzichte, betreibe Sektenbildung, aber keine soziale Veränderung. 29 Materialismus und Ethik statt Religion und Ethik Wenn wir aber die religiös-sittliche These ausschalten, so beseitigen wir damit eigentlich den einzigen Nerv, der dieses ganze rationalistische Gebäude mit seinem Schöpfer - der Seele Tolstois - verbindet. 30

In dem Wissen, daß die religiös-ethische Weltanschauung der eigentliche Kernpunkt der Tolstoischen Sozialphilosophie war, wurde diese auch am schärfsten von den orthodoxen Sozialisten bekämpft. Dieser »Sittenabsolutismus«31 war nicht nur für Tolstois mangelndes historisches Verständnis und sein agrarisches Ideal, sondern auch für seine politik- und kulturverneinende Haltung verantwortlich zu machen. Den größten Widerspruch rief allerdings die religiöse Begründung der Ethik hervor. Sie wurde als ein Atavismus zurückgewiesen und trug maßgeblich zu dem Bild vom Reaktionär Tolstoi bei. 32 25

Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S. 478. N. Trotzky: »LeoTolstoi«. In: Die Neue Zeit (1907/08), S. 909. 27 Vgl. R.Luxemburg: »Tolstois Nachlaß«. In: Die Neue Zeit (1912/13), S.98; Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S. 480. 28 N. Trotzky: »Leo Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1907/08), S. 909. 29 Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S.395 und 479. 30 N. Trotzky: »LeoTolstoi«. In: Die Neue Zeit (1907/08), S. 907. 31 Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S. 434. 32 R. Schweichel: »Der naturalistische Roman«. In: Die Neue Zeit (1886/87), S. 113, führte die religiösen Traktate Tolstois auf geistige Verwirrung zurück. F. Mehring : »Leo Tolstoi«. In: Der wahre Jakob (1900), S. 3252, distanzierte sich von dem »religiöse[n] Sektenstifter«. 26

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Gegen diese entsagende, demütige Moral, in der Salomea Perlmutter ein Indiz für den Niedergang der herrschenden Klassen in Europa sah, 33 setzte man eine lebensbejahende, kämpferische, ja eudämonistische Moral. 34 Innerhalb der orthodox-sozialistischen Tolstoi-Rezeption gab nur Charles Rappoport eine umfassende Begründung der sozialistischen Ethik. Mittlerweile zwar zum radikalen Flügel der französischen Sozialisten übergewechselt, war Rappoport in seiner ethischen Auffassung jedoch stark durch Kant geprägt, 35 so daß er in diesem Punkt nicht als Orthodoxer angeführt werden kann. Er wird erst wieder bei den sozialistischen Neukantianern zu Wort kommen. Zur Darstellung der ethischen Auffassung innerhalb der orthodoxen Sozialdemokratie muß daher auf die Schrift »Ethik und materialistische Geschichtsauffassung« von Karl Kautsky zurückgegriffen werden. 36 Sie bezieht sich zwar nicht auf Tolstoi, ist aber zum Verständnis der weltanschaulichen Differenz von Bedeutung. Kautsky verfaßte diese Broschüre 1906 wohl mit der Absicht, ein verbindliches Ethik-Lehrbuch für die Partei zu schreiben, das den Richtungskämpfen innerhalb der SPD ein Ende bereiten sollte. Die Schrift richtete sich 1. gegen den Revisionisten Eduard Bernstein, der seit 1898/99 ein ethisches Defizit in der sozialistischen Lehre beklagt hatte, 37 2. gegen das Vordringen der neukantianischen Philosophie oder des »ethischen Sozialismus«38 - wie Kautsky diese Richtung nannte - und 3. gegen den Redakteur des Vorwärts, Kurt Eisner, mit dem Kautsky 1905 eine hitzige Pressefehde wegen des Massenstreiks führte. Während dieser Polemik kam in einem Artikel Kautskys von 1905 bereits das zwiespältige und etwas stiefväterliche Verhältnis der orthodoxen Sozialisten zur Ethik zum Ausdruck: Natürlich will ich nicht behaupten, daß Ethik und Ästhetik dem Kampfe der Sozialdemokratie fern zu bleiben hätten. In der politischen Ökonomie hat die Ethik freilich nichts zu suchen, auch nicht in dem auf sie begründeten wissenschaftlichen Sozialismus.39

Die Broschüre »Ethik und materialistische Geschichtsauffassung« gibt einen eigentlich traditionellen - Abriß über die Geschichte der Ethik von der Antike bis zur Gegenwart. Sie gipfelt in der »Ethik des Marxismus«, die eine eigenwillige

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S. Perlmutter: »Tolstois Weltanschauung«. In: Die Neue Zeit (1902/03), S.407; ebenso Ch. Rappoport: »Lew NikolajewitschTolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S. 433. 34 Anonym: »Leo Tolstoi«. In: Vorwärts 27 (1910), Unterhaltungsblatt Nr. 227 (22.11.), S. 906; Ch. Rappoport: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Die Neue Zeit (1910/11), S. 477; L. Axelrod: »Die Grundidee von Tolstois >Auferstehung*«. In: Die Neue Zeit 18 (1899/ 1900), Bd. 2, S. 7 0 0 - 7 0 4 , 7 3 2 - 7 3 6 , 7 6 5 - 7 6 8 , hier: S. 736,765, 767. 35 Karl Vorländer: Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus. Tübingen: Mohr/Siebeck 2 1926, S. 186-190. 36 Karl Kautsky: Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. Ein Versuch. Stuttgart/ Berlin: DietzNachfolger 1922 (Reprint 1973). 37 Hans Jörg Sandkühler: »Moral, sozialistische«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1984, Bd. VI, Sp. 174-175, hier: Sp. 174. 38 K. Kautsky: Ethik und materialistische Geschichtsauffassung (1973), S. 43. 39 Karl Kautsky: »Die Fortsetzung einer unmöglichen Diskussion«. In: Die Neue Zeit 23 (1904/05), Bd. 2, S. 717-727, Zitat: S. 718.

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Mischung aus marxistischen und darwinistischen Elementen darstellt. Ihre Hauptaussagen sind: 1. Die Ethik ist abhängig von der sozio-ökonomischen Entwicklung. Die »sittlichen Satzungen [...] entspringen den sittlichen Bedürfnissen«, d.h. die sittlichen Normen sind relativ und veränderlich. 40 2. Daraus folgt auch, daß die Ethik keine gesellschaftsverändernde Kraft ist. Das sittliche Ideal ist daher »nicht ein Ziel, sondern eine Kraft oder eine Waffe im gesellschaftlichen Kampfe ums Dasein«. 41 3. Den Inhalt der sozialistischen Moral kann Kautsky nicht bestimmen. Sie definiert sich rein aus dem Gegensatz zur bestehenden (bürgerlichen) Moral. 42 4. Die sozialistische Ethik ist Klassenmoral, sie gilt nur für das klassenbewußte Proletariat, d.h. sie ist nicht universal humanistisch. Allgemein verbindlich wird diese Moral erst mit der Erfüllung der sozialistischen Gesellschaft. 43 5. Wissenschaftliche Erkenntnis und ethisches Sollen sind strikt voneinander zu trennen. Nur die Wissenschaft kann Aussagen über das Notwendige machen und steht daher über der Ethik. 44 In allen fünf Punkten bilden die Kautsky-Aussagen das genaue Gegenbild zur tolstoianischen Ethik-Konzeption, die sich als gesellschaftsverändernd, idealistisch, normativ-absolut und universalistisch charakterisieren läßt und der Ethik den absoluten Vorrang vor der Wissenschaft einräumt. Die weltanschauliche Kluft zwischen Tolstoi und den orthodoxen Sozialisten wurde durch das Tolstoi-Bild Lenins festgeschrieben und war maßgeblich für die weitere Stellungnahme des Weltkommunismus zu Tolstoi. Exkurs: Lenin gegen Tolstoi W. I. Lenin hat in den Jahren 1908 und 1910/11 sieben Tolstoi-Aufsätze in russischer Sprache abgefaßt, die bis vor kurzem in der DDR-Forschung als Musterbeispiel der »marxistisch-leninistische[n] Ästhetik und Literaturwissenschaft« galten. 45 In systematischer Weise faßte Lenin alle hier bereits aufgeführten Aspekte zusammen. 1. Uneingeschränkte Zustimmung und Achtung zollte Lenin der Tolstoischen Gesellschafts- und Institutionenkritik, 46 wie sie auch bei Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Charles Rappoport zu finden war. Diese Kritik wurde von ihm aber selektiv ausgewertet: Das Proletariat müsse lernen, an »die technischen und sozialen Errungenschaften des Kapitalismus«47 anzuknüpfen und auf dieser

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K. Kautsky: Ethik und materialistische Geschichtsauffassung (1973), S. 123. Ebd., S. 141. 42 Ebd., S. 136. 43 Ebd., S. 106-110,117. '"Ebd., S. 141. 45 W. I. Lenin: Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution (1985), Zitat: S. 5. 46 E b d . , S. 30, 32. 47 Ebd., S. 27. 41

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Grundlage eine neue Gesellschaft aufzubauen. Hierin spiegelt sich der historisch-materialistische Ansatz wider. 2. »Tolstois Lehre ist unbedingt utopisch und, ihrem Inhalt nach, reaktionär in der wahrsten und tiefsten Bedeutung dieses Wortes«.48 Lächerlich sei der Prophet Tolstoi, der die Menschheit retten wolle; patriarchalisch und naiv sei sein agrarischer Standpunkt 49 - eine Argumentation, die Kautsky bereits 1901, also sieben Jahre vor Lenin, entwickelte. 3. Zusammenfassend sprach Lenin vom Tolstoianismus oder der »tolstoianische[n] Ideologie«, 50 womit er den christlichen Anarchismus und Apolitismus Tolstois umschrieb. Diese völlige Fremdheit gegenüber dem Politischen, das quietistische »Widerstrebe nicht dem Bösen«, das Vertrauen auf den »Geist« habe zum Scheitern der Russischen Revolution von 1905 geführt. 51 Damit machte Lenin Tolstoi zum großen Verhinderer der proletarisch-revolutionären Bewegung, obwohl er ihm eine Vorkämpfer-Rolle für die Russische Revolution von 1905 durchaus zugestand. Lenin löste diesen Widerspruch in seiner Tolstoi-Deutung ganz historisch-dialektisch : Tolstoi verkörpere durch seine Person und Biographie das vorrevolutionäre Rußland, das patriarchalisch-agrarisch geprägt, in eine Epoche des Umbruchs geraten sei, diese zwar mitzugestalten versucht habe, aber letztlich in traditionellen Denkmustern stecken geblieben sei. 52 Kehren wir zurück zu der deutschen Tolstoi-Rezeption. Die Vorgeschichte von Kautskys »Ethik und materialistische Geschichtsauffassung« hatte gezeigt, daß innerhalb der deutschen Sozialdemokratie ein Klärungsbedarf an ethischen Fragen bestand. Das heißt, es gab auch hier - wie im protestantischen Bürgertum - eine Vielfalt ethischer Konzepte. In den nachfolgenden Kapiteln soll überprüft werden, ob die idealistisch-ethisch gesinnten Sozialisten eine größere Übereinstimmung mit Tolstois Lehren fanden.

2. D e r sozialistische Neukantianismus und der Revisionismus Auf dem Gebiet der Philosophie segelt der Revisionismus im Kielwasser der bürgerlichen professoralen >Wissenschaft^ Die Professoren gingen >zurück auf Kant< - und der Revisionismus trottete hinter den Neukantianern her. 53

•»8 Ebd., S. 52. Ebd., S. 16,30. 50 Ebd., S. 19. 51 Ebd., S. 1 9 - 2 0 , 2 4 , 5 1 . 52 E b d . , S. 17,26,51. 53 So Lenin 1908; zitiert nach Hans Jörg Sandkühler: »Kant, neukantianischer Sozialismus, Revisionismus. Zur Entstehung der Ideologie des demokratischen Sozialismus«. In : Ders., Rafael de la Vega (Hrsg.): Marxismus und Ethik. Texte zum neukantianischen Sozialismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2 1974, S. 7 - 4 4 , hier: S. 27.

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In diesem polemischen Lenin-Zitat von 1908 ist die pejorativ-kämpferische Haltung der orthodoxen Sozialisten gegenüber kritischen Stimmen am offiziellen Parteikurs enthalten. Ausgehend von unterschiedlichen Ansätzen betrieben Neukantianismus und Revisionismus seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Erneuerung des Sozialismus - der eine stärker ethisch-philosophisch, der andere vorwiegend praktisch-politisch orientiert. Die Orthodoxen, vor allem Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Franz Mehring, reagierten sehr bald auf diese Herausforderung, zumal sich eine Symbiose zwischen den beiden oppositionellen Richtungen abzeichnete. 54 Welche Rolle spielte Tolstoi für die ethische und politische Revision des Sozialismus? a) Der sozialistische Neukantianismus 55 Hermann Cohen, Philosophie-Professor in Marburg, kam 1896 in seiner Einleitung zur fünften Auflage von Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus« zu einer Neuinterpretation des Sozialismus auf der Grundlage der Kantischen Philosophie, insbesondere seiner Erkenntnistheorie und Ethik, in dem er beide aufeinander bezog: Der Socialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus der Ethik gegründet ist. Und der Idealismus der Ethik hat ihn gegründet. 56

Der soziale, menschheitliche Aspekt in Kants Ethik finde sich - so Cohen - in der Formulierung des kategorischen Imperativs, der besagt, den Menschen immer als Selbstzweck, niemals aber als bloßes Mittel zu betrachten. 57 Diesen ethischen Sozialismus setzte Cohen gegen den politischen Sozialismus, der sich - seiner Meinung nach - fälschlicherweise zum Materialismus und Atheismus bekannte. 58 Als praktische Folgerungen dieser Kant-Deutung forderte Cohen die Bewahrung von Staat und Recht als ethische Ideen und befürwortete damit eine Umgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung auf evolutionärem Weg, was ihn dann zum Verbündeten der Revisionisten machte. Anarchistischen Gedanken

54

Zu den Hintergründen: Ebd., S. 7 - 4 4 und I. Gilcher-Holtey: Das Mandat des Intellektuellen (1986), S. 101-250. 55 Literatur zum sozialistischen Neukantianismus: H.Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland (1963), S. 85-125 = Kapitel über den »Neukantianischen Sozialismus«; Hans-Ludwig Ollig: Der Neukantianismus. Stuttgart: Metzler 1979; Pierre Chojnacki: Die Ethik Kants und die Ethik des Sozialismus. Ein Vermittlungsversuch der Marburger Schule. Darstellung und Kritik. Diss, der Univ. Freiburg i.d. Schweiz 1924; auch die Selbstdarstellung von K. Vorländer: Kant und Marx (1926). 56 Hermann Cohen: »Einleitung mit kritischem Nachtrag zur siebten Auflage von Fr. Alb. Lange's Geschichte des Materialismus in zweiter, erweiterter Auflage«. In: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Bd.I: Geschichte des Materialismus bis auf Kant. Leipzig: Baedeker 8 1908, S. 435-535, Zitat: S. 524. 57 Ebd., S. 525. 58 Ebd., S. 527.

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stand er folglich ablehnend gegenüber. 59 Tolstoi fand in Cohens »Einleitung« zwar eine Erwähnung - diese betraf aber die Ästhetik, die als Sphäre des reinen Gefühls gewahrt werden sollte - 6 0 und war damit für die politische Ethik Cohens ohne Relevanz. Die Frage ist, ob Tolstoi bei den Schülern Hermann Cohens, den Marburger oder sozialistischen Neukantianern, mehr Beachtung fand. Auch Paul Natorp, ebenfalls Philosophie-Professor in Marburg, ging in seinem Hauptwerk »Sozialpädagogik« nur beiläufig auf Tolstoi - den Keuschheitsbegriff betreffend - ein. 61 In einem 1923 publizierten Vortrag zur europäischen Kulturkrise der Gegenwart war der Bezugspunkt der sinnen- und lebensbejahende Fjedor Dostojewski und nicht der lebensverneinende Leo Tolstoi. 62 Franz Staudinger und Karl Vorländer, beide Gymnasialprofessoren und die »Marxisten« innerhalb der Marburger Schule, suchten eine Synthese bestehend aus Kant und Marx bzgl. Erkenntnistheorie und Geschichtsauffassung. In den Reihen der orthodoxen Sozialisten, namentlich bei Franz Mehring, fanden beide noch den meisten Zuspruch, obwohl sie der »bürgerlichen Ideologie« des Neukantianismus anhingen. 63 Zur Begründung ihrer politischen Philosophie - dargelegt in den Monographien »Ethik und Politik« von Staudinger und »Kant und Marx« von Vorländer - 6 4 war von Tolstoi keine Rede. Somit ist der Befund, was die politisch-ethische Rezeption Tolstois im engeren Kreis der Marburger Schule angeht, negativ. Den Marburgern galt Kant als die Berufungsinstanz zur wissenschaftlichen Begründung der Ethik; möglicherweise war ihnen der Autodidakt und Literat Tolstoi für ihre wissenschaftlichen Belange zu sehr Dilettant. Daher entwickelte der oben bereits erwähnte, neukantianische Sozialist Charles Rappoport seine Vorstellungen einer sozialistischen Moral nicht mit, sondern gegen Tolstoi: -

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Sie [die sozialistische Moral] ist nicht aszetisch. Sie ist die Verherrlichung der Lebensfülle, des diesseitigen Glückes, der intensivsten allseitigen Entwicklung von Körper und Geist. [ . . . ] In der sozialistischen Moral ist der Mensch kein Mittel, weder für Gott noch Teufel, genauer weder für Gott noch Junker, sondern Selbstzweck. [ . . . ] Die sozialistische Moral ist kollektivistisch, nicht individualistisch. Das individuelle Glück kann nur in und durch die Gesellschaft verwirklicht werden. [ . . . ]

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Ebd., S. 528—530; »Dem Anarchismus gegenüber übernimmt der Socialismus unwillkürlich die Rolle des Vertheidigers von Recht und Staat.« (S. 530). 60 Ebd., S. 466; die Erwähnung deutet auf Tolstois »Was ist Kunst?«. 61 Paul Natorp: Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft. Stuttgart: Frommanns 3 1909, Tolstoi-Stelle: S. 129. 62 Paul Natorp: Fjedor Dostojewskis Bedeutung für die gegenwärtige Kulturkrisis. Mit einem Anhang zur geistigen Krisis der Gegenwart. Jena: Diederichs 1923, Tolstoi: S. 37. 63 Franz Mehring: »Kant und der Sozialismus«. In: Die Neue Zeit 18 (1899/1900), S. 1 - 4 und Franz Mehring: »Die Neukantianer«. In: Die Neue Zeit 18 (1899/1900), S. 3 3 - 3 7 , hier nach H J . Sandkühler, R. de la Vega (Hrsg.): Marxismus und Ethik (1974), S. 358 und 367. 64 Franz Staudinger: Ethik und Politik. Berlin: Dümmler 1899; K. Vorländer: Kant und Marx '1911, 2 1926.

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Und auch unsere Kampfmittel werden nicht durch unseren moralischen oder unmoralischen Willen bestimmt, sondern durch den Zwang der bestehenden Verhältnisse. [ . . . ] Die sozialistische Moral ist rationalistisch und unabhängig, entspricht also der menschlichen Würde. [ . . . ] Die sozialistische Moral ist von jeder Utopie himmelweit entfernt. 65

Ähnlich wie Cohen lehnte Rappoport den Anarchismus, auch den tolstoianischen, ab. 66 b) Der Revisionismus Als Hauptvertreter des Revisionismus galt Eduard Bernstein, der bis in die 1890er Jahre hinein zu den führenden Köpfen der deutschen Sozialisten gehörte, ausgezeichnet durch seine Freundschaft zu Friedrich Engels und die Mitautorschaft des Erfurter Programms von 1891. Den Auftakt der Revisionismus-Debatte bildete eine Artikelserie vom Oktober 1896, in der Bernstein eine Änderung der marxistischen Theorie und Taktik proklamierte. 67 Zwischen den SPD-Parteitagen von 1898 und 1899, die ganz im Zeichen dieser Auseinandersetzung standen, erschien Bernsteins Broschüre »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«, 58 in der er seine Thesen zusammengefaßt vorlegte. Darin kritisierte er 1. den historischen Materialismus, indem er eine Aufwertung der nicht-ökonomischen (rechtlichen, ideologischen, philosophischen) Faktoren forderte; 2. die hegelianische Dialektik; 3. die Marasche Mehrwertlehre und Katastrophentheorie, d. h. die These, daß die zunehmende Verelendung des Proletariats zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führen werde. Dagegen stellte Bernstein einen demokratischen Sozialismus, der nicht über Klassenherrschaft und >terreurLiteratenrepublik< in die kommunistischen Geschichtsbücher eingehen. Wer waren die »Gefühlssozialisten« und »Kaffeehausdichter«? Zu nennen sind vor allem vier Persönlichkeiten, Publizisten und Literaten, undogmatische Köpfe, keine Parteigänger und keine Politiker im engeren Sinne des Wortes: Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller. Im Winter 1918/19 traten sie gemeinsam auf die politische Bühne - als Hauptakteure der Münchener Republik und Räterepublik. Bis zu diesem Zeitpunkt wiesen ihre Biographien rein äußerlich nur geringe Überschneidungen auf. Dennoch teilten sie das gemeinsame Bestre79

H. J. Sandkühler: »Marxismus und Ethik. Einige notwendige Korrekturen und Ergänzungen zur Einleitung zur 1. Auflage«. In: Ders., R. de la Vega (Hrsg.): Marxismus und Ethik (1974), S. I - X L X , hier: S. III-XXIII. 80 Sandkühler spricht in seinem Vorwort (in: Ders., R. de la Vega: Marxismus und Ethik (1974), S. XLV) zwar vom ethischen Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus der Gegenwart, bringt diesen aber nicht mit dem sozialistischen Neukantianismus der Jahrhundertwende in Verbindung. H.Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland (1963) und H.-L. Ollig: Der Neukantianismus (1979), gehen überhaupt nicht auf die anarchistischen Marburger Schüler ein. Ingrid Gilcher-Holtey: Das Mandat des Intellektuellen (1986), S. 204-208, verweist auf die Verbindungen Kurt Eisners zu den Marburgern und zu Robert Michels. 81 K . Kautsky: »Die Fortsetzung einer unmöglichen Diskussion«. In: Die Neue Zeit (1904/ 05), hier: S. 717. Zu den Hintergründen der Auseinandersetzung I. Gilcher-Holtey: Das Mandat des Intellektuellen (1986), insbes. Kap. V; Hans-Jürgen Mende: Karl Kautsky vom Marxisten zum Opportunisten. Studie zur Geschichte des historischen Materialismus. Berlin: Dietz 1985, S. 59 - 6 5 und 105-111. 82 P. Werner: Die bayerische Räterepublik. Tatsachen und Kritik. Leipzig: Franke [1919]; zitiert nach Erich Mühsam: Von Eisner bis Leviné. Die Entstehung und Niederlage der bayerischen Räterepublik. Ein Bericht. Berlin: Edition Nautilus 1976, S. 12.

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ben, das Ethisch-Ästhetische mit dem Politischen zu verbinden. Ihre Lebensläufe beinhalten daher ein Stück Literaturgeschichte in Wechselwirkung mit der politischen Geschichte, konkreter: die Weiterentwicklung des Naturalismus zum Frühexpressionismus in Kombination mit dem sozialistischen Anarchismus. Diese vier Lebensläufe sollen nun - mit besonderem Blick auf die Tolstoi-Anlehnungen zunächst getrennt skizziert werden, um sie dann verbindend in die Chronologie der Münchener Ereignisse nach dem 7. November 1918 münden zu lassen. a) Kurt Eisner - Ein »outsider« der sozialdemokratischen Partei Der Syndikalist Robert Michels hat Kurt Eisner, den er seit 1904 persönlich kannte, in einer Hommage von 1929 als einen »outsiderf.]« der sozialdemokratischen Partei charakterisiert. 83 Das Stichwort »outsider« läßt sich nicht nur auf Eisners Stellung innerhalb der SPD, sondern auf seine ganze Biographie übertragen. 84 Am 14. Mai 1867 wurde Kurt Eisner als Sohn einer aus Mähren stammenden jüdischen Familie in Berlin geboren. Bald verarmt, war Kurt Eisner während seines Studiums in Berlin - seit dem Sommersemester 1886 war er für Philosophie und Germanistik immatrikuliert - auf fremde Unterstützung angewiesen bzw. auf seine eigene Arbeit, so daß er noch vor Abschluß seines Studiums 1890 eine Stelle als Journalist annahm. Er war für verschiedene Zeitungen in verschiedenen Städten tätig und blieb dem Journalismus bis 1917 verbunden. Aber nicht nur äußerlich, sondern auch intellektuell war Eisner zeit seines Lebens auf Wanderschaft: Kaum eine geistige Strömung der Zeit ist an Eisner spurlos vorübergegangen. Vieles hat er bewußt und tief in sich aufgenommen : Aufklärung und Idealismus, Romantik und Naturalismus, Liberalismus und Sozialreform, Lebensphilosophie und Psychoanalyse - oder um Namen zu nennen : Kant und Fichte, Herder und Goethe, Tolstoi und Naumann, Nietzsche und Ibsen, Zola und Strindberg, Karl Kraus und Sigmund Freud - und Beethoven. 85

1893 besuchte Eisner den internationalen Gründungskongreß der »Gesellschaften für ethische Kultur«, den er - wie oben bemerkt - kritisch kommentierte. 86 Wohlwollender stand er zunächst dem »Evangelisch-sozialen Kongreß«, insbesondere Friedrich Naumann gegenüber, 87 von dem er sich aber bald abwandte. Hinter dem Naumannschen »National-sozialen Verein« sah er nichts anderes als einen macht83

Robert Michels: »Kurt Eisner. (Unter Benützung von persönlichen Erinnerungen)«. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung ( = GrünbergArchiv) 14 (1929), S. 364-391, Zitat: S. 366. 84 Zur Biographie: Renate und Gerhard Schmölze: »Einleitung«. In: Kurt Eisner: Die halbe Macht den Räten. Ausgewählte Aufsätze und Reden. Köln: Hegner 1969, S. 7 - 5 2 ; Freya Eisner: »Nachbemerkung der Herausgeberin« und »Lebensdaten« [= tabellarischer Lebenslauf]. In: Kurt Eisner: Sozialismus als Aktion. Ausgewählte Aufsätze und Reden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 150-153; F. Eisner: Kurt Eisner (1979). 85 R. und G. Schmölze: »Einleitung«. In: K. Eisner: Die halbe Macht den Räten (1969), hier: S.7. 86 K. Eisner: »Eine Reise um die Welt (1893)«. In: Ders.: Taggeist (1901), hier: S. 5 8 - 6 3 . 87 Kurt Eisner: »Talarsocialismus. (1893)«. [ = Bericht vom 4. ESK in Berlin, Juni 1893]. In: Ders: Taggeist (1901), S. 171-177. 131

staatlichen Egoismus, der sich im Bereich der Innenpolitik sozial gebärde te. Zuerst (1896) traf seine Kritik Max Weber, der unter dem Deckmantel des Sozialismus »das Evangelium eines radicalen Individualismus gepredigt« habe, 88 und ein Jahr später (1897) dann auch Friedrich Naumann: Herr Naumann gleicht mit diesem - von Prof. Förster treffend so genannten - Kanonensocialismus jenem >frommen< Mann in Tolstoys >Macht der FinsternisWeltkenner< in den Abgrund führt. Alles politische Geschehen an den Grundsätzen sittlicher Weltanschauung messen heißt nicht spielen und träumen, sondern die Zukunft schaffen, die werden muß, wenn anders die Menschheit nicht in krystallinischer Erstarrung an ihrem Wahn zersplittern soll. 1 1 0 A u s Frontstellung gegen den K r i e g beteiligte er sich im F r ü h j a h r 1917 aktiv an der G r ü n d u n g der U n a b h ä n g i g e n S o z i a l d e m o k r a t i e , den s o g e n a n n t e n »Sozialpazifis t e n « , 1 1 1 und engagierte sich - z u s a m m e n mit d e m Schriftsteller Wilhelm H e r z o g und d e m d e m o k r a t i s c h e n G e l e h r t e n Ludwig Quidde - im pazifistischen » B u n d N e u e s V a t e r l a n d « . 1 1 2 I m J a n u a r 1918 organisierte E i s n e r den Munitionsarbeiterstreik, der zu einem E n d e des K r i e g e s beitragen sollte. ( H i e r a n beteiligten sich übrigens auch E r n s t Toller und die beiden Schwestern L a n d a u e r ) . 1 1 3 D a s G e b o t der Gewaltlosigkeit galt E i s n e r als d e r verbindliche M a ß s t a b für die D u r c h s e t z u n g der eigenen Z i e l e , d a h e r stand e r d e r T h e o r i e eines g e w a l t s a m e n

Klassenkampfes

ablehnend gegenüber. D i e s e biographische Skizze zeigt, d a ß E i s n e r sich k e i n e m L a g e r innerhalb der S P D vollständig zuordnen ließ: w e d e r den O r t h o d o x e n n o c h den Revisionisten, auch in der U S P D , in der sich seine alten G e g n e r einfanden - R o s a L u x e m b u r g und K a r l K a u t s k y , aber auch E d u a r d B e r n s t e i n - , k o n n t e er sich nicht ganz zu H a u s e fühlen. S o läßt sich seine Politik zwischen d e n B l ö c k e n a m besten als die des »libertären Sozialismus« 1 1 4 charakterisieren. D u r c h die persönlichen E r i n n e r u n g e n von R o b e r t Michels soll das Bild v o n d e m undogmatischen, unstaatsmännischen und unkonventionellen »outsider« abgerundet w e r d e n : Bei aller Häuslichkeit und bürgerlichen Biederkeit der Lebensführung im Äußern und in der Art, sich zu geben, war er [Eisner] doch in allzu beträchtlichem Grade Bohémien. Ohne jegliche Vorbereitung vom Gefängnis zur obersten Regierung eines Reiches von der Größe Bayerns gelangt, fehlte ihm zum Staatsmann nicht nur der äußere Apparat, sondern auch, im Guten wie im Bösen, die ganze innere Struktur. Seiner Offenherzigkeit, seiner zügellosen Spottsucht, seiner Vorliebe für den Schwung des Ethisch-Ästhetischen waren keine Grenzen gezogen. 1 1 5 S . 4 2 - 4 3 ; s.a. Eisners Artikel »Tolstoi. Prophetenkraft (1904)« (ebd., S. 1 4 3 - 1 4 9 ) , in dem er Tolstois pazifistisches Manifest gegen den russisch-japanischen Krieg bewunderte. 1 1 0 Kurt Eisner: »Der goldene Magnetberg (August 1900)«. In : Ders. : Gesammelte Schriften (1919), Bd. I, S. 2 6 4 - 2 8 4 , Zitat: S. 2 6 7 - 2 6 8 . 111 F . Eisner: Kurt Eisner (1979), S. 69 - 7 2 , Zitat: S. 71. 1 1 2 E b d . , S . 6 4 ; Eisners Rede, die er im Februar 1919 beim Internationalen Arbeiter- und Sozialistenkongreß in Bern hielt, wurde als Flugschrift Nr. 12 des »Bundes Neues Vaterland« publiziert. (Kurt Eisner: Schuld und Sühne. Berlin: Verlag Neues Vaterland Berger 1919). 1 1 3 R . und G . Schmölze: »Einleitung«. In: K. Eisner: Die halbe Macht den Räten (1969), hier: S. 11; F . Eisner: Kurt Eisner (1979), S. 7 2 - 7 6 . 1 1 4 F . Eisner: »Nachbemerkung«. In: K . Eisner: Sozialismus als Aktion (1975), hier: S. 151; s . a . der Titel von Freya Eisners Monographie: Kurt Eisner: Die Politik des libertären Sozialismus (1979). 1 1 5 R . Michels: »Kurt Eisner«. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus (1929), S. 3 8 1 - 3 8 2 . 135

b) Gustav Landauer - Ein »grüner« Anarcho-Sozialist Beginnt man mit Etikettierungen, so ist auch Gustav Landauer dem »freien, herrschaftslosen Sozialismus«,116 besser noch: dem Anarchismus, zuzurechnen. Der Germanist Rolf Kauffeldt sieht in Kurt Eisner und Gustav Landauer die wichtigsten Vertreter des »ethischen Sozialismus«117 in Deutschland, womit zugleich die politisch-theoretischen Brücken von Eisner zu Landauer geschlagen wären. Gemeinsam ist beiden auch das Unorthodoxe und Kûnstlerisch-Bohèmehafte ihrer Lebensführung. Am 7. April 1870 als Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Karlsruhe geboren, wuchs Gustav Landauer in bürgerlichen Verhältnissen auf, von denen er sich radikal distanzierte. 118 Als »stud. phil.« in Berlin muß er 1889 sehr bald in Kontakt zu sozialistisch-künstlerischen Kreisen gekommen sein. Die Einzelheiten liegen im Dunkeln. Max Nettlau verweist in seiner Darstellung des »Anarchismus« auf einen Aufsatz Landauers, der bereits im Januar 1890 in Fritz Mauthners Wochenschrift Deutschland erschien. 119 Dadurch läßt sich vermuten, daß Mauthner den jungen Landauer auch in die naturalistisch inspirierte Volksbühnen-Bewegung eingeführt hatte. 120 Wie oben bereits ausführlich dargestellt, vollzog sich in den Jahren 1890 bis 1892 - parallel zu Abspaltungen in der sozialdemokratischen Partei - die Differenzierung der Berliner naturalistischen Bühnen nach politischweltanschaulichen Überzeugungen. Landauer kam mitten in diese Umbruchphase, und wir finden ihn im Herbst 1892 am äußersten, radikalen Rand wieder: Er nahm an der Gründungsveranstaltung der »Neuen Freien Volksbühne« teil, die von den aus der SPD ausgeschiedenen »Unabhängigen«, Wilhelm Werner und Karl Wildberger, initiiert wurde. Hier vertrat Landauer - zusammen mit Bruno Wille und Henry Mackay - die ursprünglich vom Naturalismus vertretenen »Sozialrevolutionären Vorstellungen«. 121 Leo Tolstoi als Fürsprecher der sozial Benachteiligten bekam deshalb für Landauer eine Vorbildfunktion. In dem Aufsatz »Die Zukunft und die Kunst« (1891/92) - mit der wohl ersten Tolstoi-Nennung - steht Tolstoi neben Ibsen und Hauptmann für einen neuen prophetischen Künstlertypus. 122

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Ruth Link-Salinger (Hyman): »Einleitung«. In: Signatur g.l. - Gustav Landauer im >SozialistNeuen Bundes< (Gustav Landauer)«. In: Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. II. Teil. Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1988, S. 131-179, hier: S. 135, spricht von Tolstois »romantisch-anarchistische[m] Antikapitalismus«. 138 G. Landauer: Aufruf zum Sozialismus (1919), S. 18-19. 139 G. Landauer: Revolution (1923), S.91. Bei dieser Aussage berief sich Landauer auf Godwin, Stirner, Proudhon, Bakunin und Tolstoi; s.a. Gustav Landauer: »Anarchische Gedanken über Anarchismus«. In: Die Zukunft 37 (1901), S. 134-140, hier: S. 137: »[Daß das, was ich] Anarchie nenne, eine Grundstimmung ist, die in jedem über Welt und Seele nachdenkenden Menschen zu finden ist. Ich meine den Drang, sich selbst noch einmal zur Welt zu bringen, sein eigenes Wesen neu zu formen und danach die Umgebung, seine Welt, zu gestalten, so weit man ihrer mächtig ist. [...] Der ist mir ein Herrenloser, ein Freier, ein Eigener, ein Anarchist, wer seiner Herr ist, wer den Trieb festgestellt hat, der er sein will und der sein Leben ist.«; deutlich hieran: die Berufung auf Nietzsche.

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Anarchismus war für Landauer die »Lehre von einer zu erstrebenden Gesellschaft ohne Staat und ohne autoritären Zwang«. 140 Aus Feindschaft gegen alles Autoritäre erwartete Landauer, daß auch die Umwandlung der Gesellschaft ohne Zwang und - das hieß vor allem - ohne Gewalt vor sich gehen sollte. Wer die Gewaltlosigkeit anstrebe, der müsse sie auch gewaltlos verwirklichen. In dieser Absage an den terroristischen Anarchismus berief sich Landauer ganz auf den ethisch-pazifistischen Anarchismus Tolstois. 141 Die ethische Forderung Tolstois liege in der MittelZiel-Kongruenz: [ . . . ] viel zu viel ist euch Mittel und Ziel getrennt, als ob es ein Ende dieses Wegs gäbe. Viel zu sehr denkt ihr, zum herrlichen Ziel seien auch die bedenklichen Mittel recht. Aber es gibt ja für uns nur den Augenblick; opfert doch nicht die Wirklichkeit der Chimäre! Wollt ihr das rechte Leben, so lebt eben jetzt; schwer wird's immer sein. Ihr sucht es draußen, in der Zukunft; und um der herrlichen Zukunft willen erfüllt ihr die Gegenwart mit Scheußlichkeiten. 142

Der Anarchismus wurde dadurch zu einem Prinzip der Lebensführung, das unabhängig von den äußeren Bedingungen und somit in jeder Epoche der Geschichte realisiert werden konnte. »Verwirklichungssozialismus« In seiner Schrift »Aufruf zum Sozialismus« von 1908, die zugleich das Gründungsmanifest des »Sozialistischen Bundes« war, grenzte Landauer seine eigene Sozialismus-Vorstellung ganz klar von bestehenden anarchistischen und sozialistischen Richtungen ab. Vom organisierten Anarchismus einerseits, besonders von der »Anarchistischen Föderation Deutschlands«, als deren Gegen»organisation« er den »Sozialistischen Bund« verstand, 143 und vom wissenschaftlichen und parteipolitischen Sozialismus andererseits. Landauer verstieg sich in eine seitenlange Polemik gegen den »Philister« Marxismus,144 übrigens auch gegen den »Professor« und »Drahtzieher« Karl Kautsky. 145 In der Hauptsache verwarf er den sozialistischen Plan, den Kapitalismus mit seinem ganzen bürokratischen, technischen und zentralistischen Apparat fortführen zu wollen, was nichts anderes als »Kapitalsozialismus« oder »Staatskapitalismus« sei. 146 Diese Kritik implizierte - wie schon bei Tolstoi die Verwerfung der materialistischen Geschichtstheorie. 147 Was also war Sozialismus für Landauer?

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Ebd., S. 134; s.a. Landauers Brief an Julius Bab vom 15.09. 1904, G.Landauer: Briefe (1929), Bd. I, S. 125-127, hier: S. 127. 141 G. Landauer: »Anarchische Gedanken«. In: Die Zukunft (1901), S. 136. 142 Gustav Landauer: »Peter Kropotkin« (1912/13); hier nach: G. Landauer: Der werdende Mensch (1921), S. 212-230, Zitat: S. 228. 143 G. Landauer: Aufruf zum Sozialismus (1919), S. 23; zur A.F.D. und dem »Sozialistischen Bund«: U. Linse: Organisierter Anarchismus (1969), S. 217,275. 144 G. Landauer: Aufruf zum Sozialismus (1919), S. 2 1 - 6 3 , Zitat: S. 46. 145 Ebd., S. 25. 146 Ebd., S. 42 und 56. 147 Ebd., S. VIII, 41; den Gegenentwurf, seine organische Geschichtsauffassung, legte Landauer in seiner Schrift Revolution ( 1923), S. 7 - 1 1 , 2 0 - 2 4 , dar.

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Sozialismus ist eine Kulturbewegung, ist ein Kampf um Schönheit, Größe, Fülle der Völker. 148 Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen. 149

Diese (Lehr-)Sätze fassen in Kürze den idealistischen oder voluntaristischen Ansatz Landauers. Sozialismus ist eine geistige und kulturelle Bewegung oder - wie Landauer es formulierte - eine Bewegung, die »den Geist sinnlich und leibhaft« mache und dadurch zu einer Vergeistigung der Wirklichkeit beitrage. Diese Mitarbeit am »Bau der Wirklichkeit«, 150 zu jeder Zeit und auf jeder Kulturstufe möglich, nannte Landauer »Verwirklichungssozialismus«.151 Er ermöglichte eine alternative Lebensweise am Rande der bestehenden Gesellschaft: die Gründung von Kommunen, Gemeinden und Bünden. 152 Dabei spielten die Bodenfrage und die einfache Lebensweise eine ebenso wichtige Rolle wie bei Tolstoi.1S3 Zusammengefaßt bot dieses sehr tolstoianische Sozialismus-Konzept Landauers eine Alternative zur bisherigen Politik und zum modernen Menschentum an: einen Ausweg aus den rationalen, kapitalistischen, materialistischen und menschenfeindlichen Bedingungen der Moderne. Insofern läßt sich diese Gesamtvision, die durchaus religiöse und heilsgeschichtliche Aspekte enthielt, mit den heutigen Schlagworten »Ökopax« und »Ökotopia« umschreiben. Dadurch wird zugleich ihre Nähe zu den ökologisch-fundamentalistischen Vorstellungen der »Grünen« deutlich. 154 Was ließ sich aber tatsächlich von dieser Gesamtvision unter den bestehenden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Jahrhundertwende verwirklichen? Zunächst - in einem Exkurs - einige Beispiele für Verwirklichungsversuche am Rande der modernen Kultur. Die Rede ist von den durch Tolstoi und zum Teil auch durch Landauer inspirierten Kolonien.

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G. Landauer: Aufruf zum Sozialismus (1919), S. 22 oder an anderer Stelle: » [ . . . ] so ist der echte Sozialismus ein Voranschreiten in ein Reich hinein, das uns abhanden gekommene Schönheit, Freiheit, Mannigfaltigkeit und Innung, das uns Kultur und Tradition wiederbringen wird.« Gustav Landauer: »Brot«(1911), hier nach: R. Kauffeldt: »Die Idee eines >Neuen BundesNeuen BundesGroßstadtmüde< eine Kommune in Ascona. Beraten wurden sie von dem Tolstoia-

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Ein großes Desiderat in der Tolstoi-Forschung sind die Kolonien, die ein nahezu internationales Phänomen waren. Ein erster Überblick findet sich bei: W . B . Edgerton: »The Artist Turned Prophet«. In: American Contributions to the Sixth International Congress of Slavists (1968), S. 7 4 - 8 1 . U . Linse: Ökopax und Anarchie (1986), S. 76. Wilhelm Bode: »Der Erzbischof gegen die Tolstojaner«. In: Das freie Wort (1901), S. 119—121; Bode berichtet von dem spektakulären Fall des Fürsten Chilkow, der 400 Dessjatinen seines Landes an Bauern verschenkte, 40 Häuser baute und dort TolstoiAnhänger ansiedelte (S. 120); R.Lowenfeld: Gespräche über und mit Tolstoj (1901), S. 3 0 - 3 1 , nennt weitere Kolonien der Tolstoi-Anhänger in Rußland. Über die englische Kolonie: Konrad Bell: »Die Lektüre des Zaren. Nikolaus II. und Graf Leo Tolstoi«. In: Der Morgen 2 (1908), 2. Halbjahr, S. 1212-1214; Anonym: »EinTolstojJünger«. In: Weltrundschau zu Reclams Universum 19 (1903), S. 229—232; über Birjukow und Tschertkow: E . H . Schmitt: Leo Tolstoi und seine Bedeutung für unsere Kultur (1901), S. 104; über die Zeitschrift: R . Löwenfeld: Gespräche über und mit Tolstoi (1901), S. 31. Ausführlich Dennis Hardy: Alternative Communities in Nineteenth Century England. London/New York: Longman 1979, inbes. S. 1 8 7 - 1 9 2 .

Carl Morburger: »Tolstoianer«. In: Blätter des Deutschen Theaters 2 (1912/13), S. 4 5 2 - 4 5 4 ; Morburger verwendet nur die Abkürzung » B . « , was sich m . E . aufgrund anderer Hinweise nur auf Birjukow beziehen kann. 1 6 0 D i e wichtigsten Informationen über den Monte Verità bei: H. Szeemann (Hrsg.): Monte Verità [1980]; Martin Green: Mountain of Truth. The Counterculture Begins. Ascona 1 9 0 0 - 1 9 2 0 . Hanover/London: University Press of New England 1986. 159

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ner Albert Skarvan. 1 6 1 Mit primitiven Mitteln errichteten sie Lufthütten, frönten dem einfachen, vegetarischen Leben. Sehr schnell gingen jedoch die Vorstellungen auseinander, wie einfach ein einfaches Leben zu sein hat. 1 6 2 Während H o f m a n n und Oedenkoven ein alternatives, aber an wirtschaftlichem Erfolg ausgerichtetes Sanatorium aufbauten, zog sich Karl Gräser in ein bescheideneres und weniger arbeitsreiches Leben zurück. Er vertrat den radikal gelebten Tolstoianismus unter den Monte-Veritanern. Das bedeutete konkret den Verzicht auf technische und zivilisatorische Errungenschaften: auf Heizung, elektrisches Licht, fließendes Wasser, fertige Möbel und ein Stein- oder Holzhaus. Tolstoi wurde von ihm ganz naturnah interpretiert: Ziel des Menschen sei es, im Einklang zu der ihm gegebenen Natur zu leben. Dieser »grüne« Anarchismus wurde auch von dem ungarischen Tolstoi-Anhänger Wladimir Straskraba-Czaja verwirklicht. 1 6 3 Er gründetete 1908 auf dem Monte Verità eine vegetarische Volksküche und Herberge, »Die Heidelbeere«, und gab den Locamo-Ascona-Boten. Zeitschrift für Freunde von Locamo-Ascona und Anhänger naturgemäßer, vegetarischer Lebensweise heraus. Darin erschien 1910 ein Tolstoi-Nachruf. A b e r auch andere Tolstoianer fanden sich zu - längeren oder kürzeren - Besuchen auf dem Monte Verità ein: Ernst Frick, 1 6 4 Erich Mühsam, Frederik van E e d e n , Otto Buek, 1 6 5 Gustav Arthur Gräser. 1 6 6 Während die Erstgenannten politische und erotische Befreiung suchten, verbanden die anderen drei Anarchismus und Pazifismus.

Blaricum - Christlicher Anarchismus 1 6 7 Aus der Militärdienstverweigerung und Inhaftierung des bereits genannten, holländischen Anarchisten J. K. van der Veer entstand seit 1897 eine christlich-anarchisti161

Ebd., S. 121. Dazu: H. Szeemann (Hrsg.): Monte Verità [1980], S. 89-91. Ebd., S. 62. 164 Zu Emst Frick und seiner Biographie s. unten im Weber-Teil der Abschnitt »>Die erotische Rebellionc Else Jaffé-Richthofen und Frieda Gross-Schloffer«. 165 H. Szeemann (Hrsg.): Monte Verità [1980], S. 90: Besuch Frederik van Eedens in Ascona 1904; van Eeden war holländischer Anarchist und Pazifist, der im Dez. 1910 einen Aufsatz zur Tolstoi-Ausgabe im Sozialist von Gustav Landauer verfaßte; S. 110: polizeiliche Namensliste über ein anarchistisches Treffen auf dem Monte Verità 1906, darin u. a. Otto »Büek«. 166 M. Green: Mountain ofTruth (1986), S. 51—82. »Gusto« Gräser war vor allem Vagabund, der den Frieden predigte. Er selbst hatte 1901 den Kriegsdienst verweigert, ebenso 1915; 1918/19 hielt er sich in München auf, um die Revolutionäre zur Gewaltlosigkeit zu mahnen (S. 68-69). 167 Felix Ortt: »per Einfluß Tolstois auf das geistige und gesellschaftliche Leben in den Niederlanden«. In: Der Sozialist 3 (1911), Nr. 1 (01.01.), S. 5—8; wahrscheinlich zu der gleichen Kolonie: Gerhard Berendt: »Eine Tolstoikolonie in Holland«. In: Die Reformation (1902) und ders.: »Was ist aus der Tolstoikolonie in Holland geworden?«. In: Die Reformation (1907). 162 163

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sehe Erneuerungsbewegung in den Niederlanden. 168 Diese »Seitenströmung« 169 innerhalb des niederländischen Anarchismus organisierte sich zunächst als Gemeinschaft der »Tolstoianer«, dann als »Christen-Anarchisten« bzw. »Mitglieder der internationalen Brüderschaft«, weil sie die tolstoianische Position eigenständig weiterentwickelten. 1900 gründeten sie in Blaricum eine Siedlung mit der Absicht, in Gemeinschaft mit Mensch und Natur zu leben, dem Staat, Kapitalismus und Militarismus eine Absage zu erteilen. Kernstücke der Produktions- und Konsumgenossenschaft waren der Garten- und Landbau, aber auch die Druckerei »Vrede« (Frieden) mit der gleichnamigen Zeitschrift, die sich um die Verbreitung der tolstoianischen Ideen bemühte. Schon drei Jahre später ging die Kolonie zugrunde, wofür der Berichterstatter, der Tolstoianer Felix Ortt, drei Gründe nannte: die schlechten Ausgangsbedingungen (unfruchtbares Land); die mangelnde Erfahrung der Siedler, aber auch die Zunahme von Nutznießern; schließlich das handgreifliche Vorgehen benachbarter Bauern zu Ostern 1903, die Teile der Siedlung niederbrannten. Wegen dieses Vorfalls gab es unter den Siedlern einen nicht lösbaren Streit, der dann das Ende von Blaricum bedeutete. Es konnte nicht entschieden werden, ob sich die Siedler zum Schutz gegen weitere Angriffe von außen bewaffnen oder strikt am tolstoianischen Gebot des Nichtwiderstrebens festhalten sollten. Sannerz und Sonnefeld - Religiöser Anarchismus und Pazifismus170 Nach dem Ersten Weltkrieg gründete der evangelische Theologe Eberhard Arnold eine anarcho-religiöse Siedlung im hessischen Sannerz. Zur geistigen Grundlage seiner Arbeit machte er einerseits Tolstoi, der für die Radikalität der Bergpredigt und den anarchistischen Pazifismus stand, und andererseits Gustav Landauer, den Vater des »Verwirklichungssozialismus«.171 Arnold stand seinerseits in enger Verbindung zu den religiösen Sozialisten in der Schweiz um Leonhard Ragaz und zu den pazifistischen Quäkern in Holland um Cornelius Boeke. Im Sinne des Urchristentums sollte in Sannerz ein einfaches, kommunistisches, friedfertiges Zusammenleben erprobt werden, das Kirche und Staat als Institutionen verneinte. Über den letztgenannten Punkt kam es 1922 zum Bruch mit einer gemäßigteren, kirchlich-theologischen Richtung, die sich im benachbarten Habertshof ansiedelte. Die Differenz zwischen den beiden Siedlungen läßt sich exemplarisch an zwei Tolstoi-Publikationen ablesen. Während im Sannerzer Verlag Tolstois »Religiöse 168

Über den niederländischen Anarcho-Pazifismus und die Bedeutung Tolstois: G. Jochheim: Antimilitaristische Aktionstheorie (1977). 169 M. Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten (1984); über den Anarchismus in Holland: S. 341-378, wobei Nettlau dem tolstoianisch geprägten Anarchismus eine bedeutende Stellung als eigenständige Strömung zuerkennt (S. 363). 170 Zu den beiden Siedlungen: U.Linse (Hrsg.): Zurück, o Mensch (1983), S . 2 2 1 - 2 4 0 , 2 6 8 - 276. U. Linse: Ökopax und Anarchie (1986), S. 76, spricht von der Sannerzer Siedlung als »der einzigen tolstoianischen Kommune Deutschlands«. 171 U . Linse (Hrsg.): Zurück, o Mensch (1983), S. 221.

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Briefe« erschienen, in denen der Anarchist und religiöse Ethiker Tolstoi zur Sprache kommt, 172 konzentrierte sich das Buch des Habertshofer Pfarrers Emil Blum allein auf das innere Ringen Tolstois um sittlich-religiöse Selbstvervollkommnung. Die Staats- und Kulturkritik Tolstois wurde hingegen übergangen. 173 Die Habertshofer hatten keine Schwierigkeiten, sich zum ökonomischen Erfolgs- und Leistungsprinzip zu bekennen, während die Sannerzer 1926 aufgrund fehlender finanzieller Mittel die Pacht nicht weiter zahlen konnten. Sie waren zur Anlehnung an die Mennoniten gezwungen, wodurch der anarcho-religiöse Charakter verloren ging. Fortgesetzt wurde die Arnoldsche Arbeit in Sonnefeld bei Coburg. Diese Quäker-Siedlung wurde 1923 von Wally Klassen, die vorher in Sannerz gelebt hatte, und Hans Klassen, einem russischen Mennoniten und Tolstoi-Anhänger, gegründet. Hier herrschte völlige Gütergemeinschaft und strikter Vegetarismus. Die große Nähe zu Tolstoi war durch Hans Klassen gewährleistet, der den aufgenommenen Waisenkindern täglich aus Tolstois Schriften vorlas. Im eigenen Sonnefelder-Verlag wurden nicht nur die Schriften Tolstois veröffentlicht, sondern auch publizistisch für die von Tolstoi protegierte Sekte der Duchoborzen gekämpft. 174 Einen besonderen Akzent setzten die Sonnefelder durch die Verbreitung der Vorträge von Tolstois letztem Sekretär, Valentin Bulgakov. Dem gewaltlosen Geist Tolstois verpflichtet, aber unzufrieden mit dessen apolitischer Tendenz, sah Bulgakov eine sinnvolle Fortführung in dem Auftreten Gandhis, der den passiven Widerstand zur politischen Waffe gemacht hatte und damit - im Gegensatz zu Lenin und dessen Terrorismus - auf friedlichem Wege zu Veränderungen gekommen war. 175 Diese wichtige Idee stieß im Deutschland der 1930er Jahre auf taube Ohren. Hans Klassen hatte den Neu-Sonnefelder Hof schon 1928 wegen des Abrückens vom Ideal der Gütergemeinschaft verlassen. Mit ihm war auch der tolstoianische Geist entschwunden. Alle diese genannten Tolstoi-Kolonien traten mit dem hohen Anspruch an, ein Stück der pazifistischen Vision des Urchristentums, angereichert durch den kulturkritischen Ruf »Zurück zur Natur«, zu verwirklichen. Sie sind alle früher oder 172

Tolstoi: Religiöse Briefe. Übersetzt u. hrsg. von Karl Nötzel. Sannerz/Leipzig: Gemeinschaftsverlag Eberhard Arnold [1923]. 173 Emil Blum: Leo Tolstoi. Sein Ringen um den Sinn des Lebens. Schliichtern/Habertshof: Neuwerkverlag 1924. Der Schweizer Pfarrer Emil Blum war von Sannerz zum Habertshof übergesiedelt. Er selbst stand der körperlichen Arbeit mit Befremden gegenüber und ließ diese durch seine Frau ableisten. Sein ganzes Engagement konzentrierte sich auf den Aufbau einer Arbeiter-Heimvolkshochschule; dazu: U. Linse (Hrsg.): Zurück, o Mensch (1983), S. 241-267. 174 Im Eigendruck: Leo Tolstoi: Die Lehre Christi, dargestellt für Kinder; Märtyrer der neuen Ordnung. Die Leidensgeschichte der Duchoborzen im Kaukasus; Am Neubruch. Ein Bekenntnis zur Neueinstellung auf das Kommende ( = Zitate von Quäkern, Duchoborzen, Gandhi und Tolstoi). Der Verlag bot in seinem Versandprogramm viele Schriften Tolstois an. 175 Valentin Bulgakov: Tolstoi - Lenin - Gandhi. Übers, v. Hans Klassen. Heppenheim/ Bergstrasse: Verlagsbuchhandlung Neu-Sonnefelder Jugend [1932]. Weniger aussagestark die Kritik am Bolschewismus und Materialismus in: Ders.: Leo Tolstoj und die Gegenwart. Öffentliche Reden. Sonnefeld (bei Coburg): Verlag Neu-Sonnefelder Jugend 1927.

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später gescheitert: an den Gesetzmäßigkeiten des Egoismus und der Gewalt, die die Gemeinschaften nicht nur von außen, sondern von innen heraus in Frage stellten. Anarcho-sozialistische Wirklichkeit? Doch zurück zu Gustav Landauer: Was konnte er persönlich von seiner anarchistisch-sozialistischen Gesamtvision verwirklichen? Wo machte er Konzessionen? Der »Sozialistische Bund« stellte einen losen Zusammenschluß von einzelnen Personen und Gruppierungen dar, die vor allem durch die dominante Persönlichkeit Gustav Landauers verbunden waren. 176 Die Attraktivität des »Bundes« war gering - ein Siedlungsprojekt scheiterte 1910 - und wegen versiegenden Interesses fanden seit 1913 keine öffentlichen Versammlungen mehr statt. 177 Größere Breitenwirkung erreichte das Organ des Bundes, der Sozialist, der von 1909 bis 1915 in Bern und Berlin herausgegeben wurde. Er gehörte neben der Zeitschrift Die Aktion »zur wichtigsten literarisch-politischen Plattform des aktivistischen Expressionismus und dessen Revolte gegen die wilhelminische Gesellschaft«. 178 Dennoch bezeichnete Landauer den Sozialist nicht als »politisches Blatt« im engeren Sinn des Wortes, da er sich nicht mit Regierungsgeschäften und Staatseinrichtungen befasse. Vielmehr sei er »ein philosophisches Organ, da ja auch die Ethik ohne jede Frage zur Philosophie« 179 gehöre. Hier soll nur ein Blick auf die Darstellung Tolstois im Sozialist geworfen werden. Im ersten Jahrgang veröffentlichte Landauer Tolstois »Rede gegen den Krieg«, die damit zum ersten Mal in deutscher Sprache erschien. 180 Die Weihnachtsnummer 1910 war Tolstoi gewidmet und bildete einen umfassenden Nachruf auf den russischen Dichter und Sozialphilosophen. 181 Eröffnet wurde die Ausgabe mit einem Gedicht von Hedwig Lachmann, 182 der Frau Landauers. Erich Miihsams Gedicht über die Tolstoische Flucht sorgte im Vorfeld für einige Kontroversen zwischen dem Autor Mühsam und dem Herausgeber Landauer. Es wurde nur in stark gekürzter Fassung gedruckt. 183 Neben Auszügen aus Tolstois Schriften, wurden 176

Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus (1969), S.293, entwirft ein ziemlich negatives Bild von der »>charismatische[n]< Führerstellung« Landauers: »Ins Auge springend ist der geistige und organisatorische Führungsanspruch Landauers, sein prophetengleiches Auftreten, das sich freilich seinen Anhängern gegenüber oft weniger angenehm als autoritäre Artwie ein Halbgott* äußerte.« (Ebd., S. 275). 177 Ebd., S. 295 - 3 0 1 . 178 R. Kauffeldt: »Die Idee eines »Neuen Bundes«*. In: M. Frank: Gott im Exil (1988), S. 150. Eine ausführliche Darstellung der Aktion findet sich im Exkurs über die anarchistischexpressionistischen Zeitschriften. 179 Brief an Max Müller vom 24.12. 1914; G.Landauer: Briefe (1929), Bd.II, S.22 - 2 3 , Zitate: S. 23. 180 Abgedruckt in: Der Sozialist vom 01.12. 1909; U.Linse: Ökopax und Anarchie (1986), S. 175. 181 Der Sozialist 2 (1910), Nr. 23/24 (15.12.), S. 177-192. 182 Hedwig Lachmann: »Tolstoi«. In: Der Sozialist 2 (1910), S. 177; zu weiteren Abdrucken s. die Bibliographie. 183

Erich Mühsam: »Die Flucht«. In: Der Sozialist 2 (1910), S. 179; Abdruck der vollständigen

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verschiedene Aspekte der verstorbenen Persönlichkeit beleuchtet: »Tolstoi der Künstler« (Hermann Bahr); 1 8 4 Tolstoi als Inbegriff des Aufrichtigen, als »Gewissen der Menschheit« (Frederik van Eeden): 1 8 5 Tolstoi als Repräsentant des niedergehenden Christentums (E. Goldman) 1 8 6 und von Johannes Nohl, dem Freund Miihsams - in Form eines fiktiven Gesprächs - die Bedeutung des Christen Tolstoi für den Anarchismus, wobei sein Christentum als Solidarität mit den Menschen und der Natur verstanden wurde. 1 8 7 Und selbstverständlich Landauers eigener Beitrag, 1 8 8 der bei Tolstoi die »Einheit von Rationalismus und inbrünstiger Mystik« hervorhob. Tolstois Drang nach Aufrichtigkeit und Selbstvervollkommnung habe ihn immer bis zur »äußersten Konsequenz« getrieben, ohne jedoch die Mittel vom Ziel - seinem Streben nach Gewaltlosigkeit und Ganzheit - zu trennen. Hier blieb für Landauer die Frage ungelöst, wie das Prophetische an Tolstoi in Worte zu kleiden sei. Eine Formulierung fand er erst zwei Jahre später: [...] wir haben die Sehnsucht, die vielleicht unerfüllbar bleibt, Lew Nikolajewitsch Tolstoi in der Form zu erleben, die dem Buddha, dem Christus, dem Franziskus zuteil geworden ist, in der Form der Legende. 189 In Vorträgen und weiteren Aufsätzen Landauers der Jahre 1911—1914 war Tolstoi immer wieder ein zentraler Bezugspunkt. 1 9 0 Während des Krieges verhinderte die Zensur eine intensivere Tolstoi-Beschäftigung; resigniert stellte Landauer das Erscheinen des Sozialist ein. Mir hat man mein Geschäft gehörig unterbunden: weder meinen >Aufruf< noch Fichtes Reden a[n] d[ie] d[eutsche] N[ation] noch das Befreiungswerk der Philosophie und derglei-

Fassung unter dem Titel »Tolstojs Tod am 20. November 1910«. In: Ders.: Gedichte. (= Gesamtausgabe. Hrsg. v. Günther Emig. Bd. I). Berlin: Verlag europäischer Ideen 1983, S. 264—266. Zur Auseinandersetzung mit Landauer: Brief an Mühsam vom 08.12. 1910; G. Landauer: Briefe (1929), Bd. I, S. 332-333. 184 In: Der Sozialist 2 (1910), S. 183-184; zum Wiederabdruck s. die Bibliographie. 185 Frederik van Eeden: »Einer der Wenigen«. In: Der Sozialist 2 (1910), S. 186-187. 186 E. G[oldman]: »Ewiges Gedenken«. In: Der Sozialist 2 (1910), S. 189-190. 187 J[ohannes] N[ohl]: »Ein Gespräch nach Tolstois Tod«. In: Der Sozialist 2 (1910), S. 188-189. Die Auflösung der Kürzel stammt von M. Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten (1984), S. 254. 188 Gustav Landauer: »Lew Nikolajewitsch Tolstoi«. In: Der Sozialist 2 (1910), S. 179—181; zu weiteren Ausgaben s. die Bibliographie. 189 Gustav Landauer: »Tolstoi«. In: Blätter des Deutschen Theaters 2 (1912/13), S. 443 -447, Zitat: S. 446. 190 Landauer hielt den Eröffnungsvortrag zu einer Tolstoi-Gedächtnisfeier, die am 22.01. 1911 von der »Neuen Freien Volksbühne« veranstaltet wurde (M. Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten (1984), S. 193). Im Herbst 1913 hielt er einen weiteren Tolstoi-Vortrag in Brüssel (Brief an Mauthner vom 20.11. 1913; G. Landauer: Briefe (1929), Bd. I, S. 449 -451, hier: S. 450). Über den Inhalt der beiden Vorträge und mögliche Manuskripte ist mir nichts bekannt. Die folgenden Aufsätze über Rousseau, Kropotkin und Strindberg enthalten jeweils aufschlußreiche Vergleiche mit Tolstoi : Gustav Landauer : »Dem größten Schweizer (1912)«. In: Ders.: Der werdende Mensch (1921), S. 135-137, Tolstoi, S. 137; »Peter Kropotkin (1912/13)«, ebd. S. 212-230, Tolstoi: S.219, 227-229; »Strindbergs Gespenstersonate«, ebd. S. 311 -341,Tolstoi: S. 317-318.

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chen darf ich mehr verbreiten ; von Tolstoj gar nicht zu reden. Das befreiende Denken ist in der Tat dem Feldkrieg und Burgfrieden sehr schädlich. 191

Landauer Schloß sich 1914 einem internationalen pazifistischen Kreis an, dem »Forte-Bund«, 192 in dem u.a. auch der Holländer Frederik van Eeden und der französische Tolstoianer und Schriftsteller Romain Rolland mitwirkten. Bereits ein Jahr später war der »Bund« für Landauer gescheitert - an zuviel Mystik und zu wenig Tolstoi. 193 Landauer engagierte sich dann im »Bund Neues Vaterland«, wo er mit Kurt Eisner zusammenarbeitete. 194 Bevor Landauer im November 1918 von Eisner zur Mitarbeit an der Revolutionsregierung aufgefordert wurde, 195 veröffentlichte er im Mai 1918 seinen letzten Tolstoi-Aufsatz, 196 den er auch wegen der Zensurmaßnahmen sorgfältig überarbeitete. 197 Hierin steckt Landauers Lebensbekenntnis: die Mahnung Tolstois, den Menschen wichtiger zu nehmen als »all diese heiligen Geschichtsprodukte«, aber auch ein Bekenntnis zur geistigen >Mobilmachung< und Revolution. Landauer sprach von der Reinigung, die von nun an unsre Aufgabe ist, fordere ich, soll mans fanatisch oder terroristisch nennen, ohne Schonung, die ich fürder nicht mehr kennen will, Einen Glauben [ . . . ] . 1 9 8

Gustav Landauers Biographie soll an diesem Punkt abgebrochen werden, die Darstellung seiner antimaterialistischen, agrarisch-genossenschaftlichen, ethischanarchistischen und rückwärtsgewandten mystischen Weltanschauung, einschließlich der vielen Tolstoi-Bezüge, machte deutlich, daß Landauer derjenige ist, der in Deutschland den tolstoianischen Gedanken am konsequentesten in ideologischer und politischer Hinsicht gefolgt ist. Sein politisches Engagement beschränkte sich bis zur Revolutionszeit - ganz ähnlich wie bei Tolstoi - auf die Sammlung Gleichgesinnter und die Vorbereitung einer geistigen Umkehr der Menschen. Ernst Toller, voller Ungeduld, wunderte sich im Frühjahr 1918 über den optimistischen Quietis-

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Brief an Hugo Warnstedt vom 01.07.1916; G.Landauer: Briefe (1929), Bd.II, S. 152-153, Zitat: S. 152. 192 U . Linse: Organisierter Anarchismus (1969), S. 327; M. Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten (1984), S. 265. 193 G.Landauer: Briefe (1929), Bd. II, S . 7 1 - 8 2 , hier: S. 8 1 - 8 2 . 194 U. Linse: Organisierter Anarchismus (1969), S. 328. 195 Brief Eisners an Landauer vom 14.11. 1918, abgedruckt in: G. Landauer: Briefe (1929), Bd. II, S.296 Anm.. 196 Gustav Landauer: »Zu Tolstois Tagebuch«. In: Die Weltbühne 14 (1918), Bd. 1, S. 433—437. Zum Wiederabdruck s. die Bibliographie. 197 Zu den Zensurmaßnahmen: Brief an Mauthner vom 10.05. 1918. Landauer empfiehlt diesen Aufsatz Hugo Warnstedt (Brief vom 11.05. 1918) und Max Nettlau (Brief vom 10.06.1918); G. Landauer: Briefe (1929), Bd. II, S. 233,234,246. 198 G. Landauer: »Zu Tolstois Tagebuch«. In: Die Weltbühne (1918), S.437; in einem Brief an Mauthner vom 16.05. 1918 erklärt er diese Stelle als Bekenntnis zum »Terrorismus des Geistes«; G. Landauer: Briefe (1929), Bd. II, S. 235 - 2 3 9 , hier: S. 238-239.

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mus Landauers; 199 der Forscher Ulrich Linse bewertete diese Haltung Landauers als »Escapismus« und »apolitischf.]«.200 c) Erich Mühsam - Ein anarchistischer Bohemien Der junge Erich Mühsam war uns bereits in den Räumen der »Neuen Gemeinschaft« als begeisterter Landauer-Anhänger begegnet. Mühsam, am 6. April 1878 geboren, wuchs in Lübeck auf und ging dort zusammen mit Gustav Radbruch zur Schule. Schon früh rebellierte er gegen die Autorität in Schule und Elternhaus. Der Vater, ein Nationalliberaler und erfolgreicher Apotheker, wollte den Sohn trotz dessen schriftstellerischen Ambitionen in einen bürgerlichen Beruf hineinzwängen. Obwohl Erich Mühsam dem Judentum seiner Eltern und Geschwister fremd gegenüberstand, wuchs er in dem Bewußtsein auf, ein »outsider« 201 in der deutschen Gesellschaft zu sein. Seine häßliche Erscheinung - so der Mühsam-Forscher Lawrence Baron - mag dieses »outsider«-Gefühl bestärkt haben. Am 1. Januar 1901 löste sich Mühsam von allen bürgerlichen Lebensentwürfen und begann ein unbeständiges Leben als Literat und Bohemien. Entscheidend wurde nun der Einfluß Gustav Landauers, der ihn mit der Gedankenwelt Tolstois und dem sozialistischen, gewaltlosen Anarchismus vertraut machte. Bis in den Ersten Weltkrieg hinein wies das Mühsamsche Tolstoi-Bild die durch Landauer vorgezeichneten Konturen auf, was sich an drei Texten zeigen läßt. In einer biographischen Skizze aus dem Jahr 1904 hob Mühsam die Verdienste des Künstlers Tolstoi hervor: Er schreibe allgemeinverständlich und dennoch »gegenwartüberragend«; 202 seine Werke, die ganz durch sein Urchristentum bestimmt seien, wirkten revolutionierend und hätten den Anarchisten die Taktik des passiven Widerstands gelehrt. In Tolstoi verbinde sich somit konsequentes Künstlertum mit dem Anarchismus. Mühsam sah im Anarchisten den Urtypus des Künstlers schlechthin. Große Verehrung für die Persönlichkeit Tolstois sprach aus dem - in seinem pathetischen Stil allerdings kaum genießbaren - Gedicht Mühsams zu Tolstois Tod, das bereits im Zusammenhang mit Landauers Sozialist erwähnt

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»Heimlich fahre ich eines Sonntags [von Neu-Ulm] zu Gustav Landauer nach Krumbach. Ich frage mich, warum in dieser Zeit, in der die Menschen auf die Stimme der Wahrheit warten, dieser glühende Revolutionär schweigt. >Ich habemein Leben lang gearbeitet, daß diese Gesellschaft, die auf Lug und Trug, auf der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen ruht, zusammenbreche, jetzt weiß ich, der Zusammenbruch wird kommen, morgen oder in einem Jahr, ich habe das Recht und den Atem, mich für diese Zeit zu bewahren, wenn die Stunde es fordert, werde ich dasein und arbeitenEnergetische< Kulturtheorien«. In: Ders. : Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 400-426, hier: S. 417. 13 Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«. In: Ders.: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 609. 14 Max Weber : Jugendbriefe [ 1876 -1893]. Tübingen : Mohr/Siebeck [ 1936]. 15 Max Weber: »Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von F.Naumann«. In: Die christliche Welt 8 (1894), Sp. 472-477. Friedrich Naumann: »Christlich Sozial«. In: Ders.: Werke (1964), Bd. I, S. 341-370,Tolstoi: S. 348. 16 Emst Troeltsch: »Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht«. In: Verhandlungen des Soziologentages (1911), S. 166-192.

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geniiber dem Untergrund«. 1 7 Die formlose und amorphe Art der russischen Nächstenliebe bezeichnete Weber mit Baudelaire als »heilige Prostitution der Seele«. 18 Gleichzeitig führte er hier den Begriff der akosmistischen Religiosität ein. In einem zweiten Diskussionsbeitrag ordnete Weber den »Liebes-Akosmismus« dem Tönnies'schen Begriff der Gemeinschaft zu und stellte ihn der calvinistischen Religiosität gegenüber, die auf innerweltliche Bewährung abziele und eher dem Begriff der Gesellschaft zugeordnet werden könne. 1 9 Tolstoi erschien 1910 also im Kontext von ethischen und religionssoziologischen Überlegungen Max Webers, die ihn zu diesem Zeitpunkt stark beschäftigten. Es verwundert daher nicht, daß Tolstoi in den nachfolgenden größeren Arbeiten zu diesen Themenkreisen Erwähnung fand: zunächst in »Wirtschaft und Gesellschaft« in dem Kapitel »Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung)«. Hier wurde Tolstoi vor dem Hintergrund des russischen Narodnitschestwo und der ihm folgenden naturrechtlichen, agrarkommunistischen Bewegung gesehen. Zusammen mit Dostojewski habe er in der russischen Intelligenz »eine asketische oder akosmistische persönliche Lebensführung« bewirkt. 2 0 Der zweite Anknüpfungspunkt an den Diskussionsbeitrag von 1910 findet sich in der 1915—19 publizierten Aufsatzserie »Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen«, dort in der berühmten »Zwischenbetrachtung«. Hier wurde Tolstoi - am Rande - mit Nietzsches Analysen im »Willen zur Macht« verglichen. 21 Wichtiger in diesem Kontext war allerdings die Rolle Tolstois bei der idealtypischen Bestimmung des konsequenten Typus religiös begründeter Weltabwendung. Inhaltlich soll dies erst später im interpretatorischen Teil belegt werden; hier zunächst die biographischen Zusammenhänge. Max Weber hatte in den Jahren 1910 bis 1912 die Absicht, selbst etwas über Tolstoi zu veröffentlichen. Schon Ende 1910 bat er seinen Kollegen Heinrich Rickert um dessen »Tolstoi-Korrekturen«, weil er »ohne einen Anlaß nicht den Entschluß fasse, selbst etwas zu sagen«. 22 Der entscheidende Anlaß fand sich 17

Max Weber: »[Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von E. Troeltsch]«. In: Verhandlungen des Soziologentages (1911), S. 200. 18 Ebd., S. 200. 19 Ebd., S. 210-211, Zitat: S. 210. 20 Max Weber: »Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung)«. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr/ Siebeck 5 1985, S. 245 - 3 8 1 , hier: S. 314. 21 Max Weber: »Zwischenbetrachtung«. In: Ders.: Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1989), S.509 Anm.4. »Im übrigen stehen Nietzsches bekannte Analysen im >Willen zur Macht< der Sache nach damit [mit Tolstois >Krieg und FriedenWer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: was sollen wir denn tun? [.. .].Tolstoisociety< andererseits« zu behaupten. 30 Der Schweizer Pfarrersfrau warf er nicht nur mangelndes Verständnis für dieses »Schicksal« der Deutschen, sondern auch einen inkonsequenten christlichen Pazifismus vor. Das Evangelium aber möge man aus diesen Erörterungen draußen lassen - oder: Ernst machen. Und da gibt es nur die Konsequenz Tolstois, sonst nichts. Wer auch nur einen Pfennig Renten bezieht [...], der speist seine Existenz aus dem Getriebe jenes liebeleeren und erbarmungsfremden ökonomischen Kampfs ums Dasein, den die bürgerliche Phraseologie als friedliche Kulturarbeit bezeichnet [...]. [Herv. d. Verf., E.H.]. 3 1

Ein letzter Nachklang dieser Verurteilung des inkonsequenten Pazifismus ging in die Rede »Politik als Beruf« vom Januar 1919 ein. Dort knüpfte Weber an die - in der »Zwischenbetrachtung« ausgearbeitete - Dichotomie von radikaler religiöser Brüderlichkeitsethik und Politik an. Die »großen Virtuosen der akosmistischen Menschenliebe und Güte« - Jesus von Nazareth, Franz von Assisi, Buddha und ihre literarischen Nachkonstruktionen: Piaton Karatajew und Dostoje.wskis Heilige würden dieser Welt nicht angehören. 32

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Marianne Weber: Lebensbild (1984), S. 417. Gertrud Bäumer: »Zwischen zwei Gesetzen«. In: Die Frau 23 (1915/16), H e f t l (Okt. 1915), S. 3 7 - 4 2 ; Gesine Nordbeck: »Zwischen zwei Gesetzen?«. In: Die Frau 23 (1915/ 16), Heft4 (Jan. 1916), S. 216-221; Max Weber: »Zwischen zwei Gesetzen« [Mit einem Nachwort von Helene Lange], In: Die Frau 23 (1915/16), Heft5 (Feb. 1916), S. 277-279. 30 Max Weber: »Zwischen zwei Gesetzen«. In: Ders.: Zur Politik im Weltkrieg (1984), S. 96. 31 Ebd., S. 97. 32 Max Weber: »Politik als Beruf«. In: Ders.: Ges. Polit. Schriften (1988), S. 505 - 560, hier: S. 557; vgl. auch die Parallelstelle in der »Zwischenbetrachtung«. In: Ders.: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1989), S. 520.

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2. Der Ethik-Diskurs -Tolstoi im »Heidelberger Milieu« und im Weber-Kreis 33 a) Tolstoi-Vermittler Durch die Arbeiten für den ersten Rußland-Aufsatz kam Max Weber in engeren Kontakt zu dem russischen Staatsrechtler Theodor Kistiakowski, der in Heidelberg bei Georg Jellinek arbeitete. Als Mitglied des liberalen »Befreiungsbundes« (Ssojus Osswoboshdjenija), dessen Verfassungsentwurf Weber besprach, wurde Kistiakowski - wie Weber selbst bemerkte -»unter Beiseitesetzung aller Rücksichten« in seiner »Sach-und Personenkenntnis« in Anspruch genommen. 34 Über ihn sind mit größter Wahrscheinlichkeit auch die Verbindungen zur »russischen Lesehalle« in Heidelberg hergestellt worden. 35 Die Gründung der »Russischen Akademischen Pirogov-Lesehalle« ging bereits auf das Jahr 1862 zurück. 36 Aufgrund von Studentenunruhen und einer vorübergehenden Schließung der Petersburger Universität waren viele russische Studenten nach Heidelberg gekommen, um ihr Studium fortzusetzen. Durch Spenden wurden russische Periodika und Bücher angeschafft, so daß beim 50-jährigen Bestehen ein umfangreicher Bibliotheksbestand vorhanden war. Zu diesem Jubiläum im Dezember 1912 war auch Max Weber als Festredner eingeladen. Gegen Mitternacht hielt er seine Rede, übrigens die erste verbindlich zugesagte nach seiner Krankheit, was als Zeichen seiner engen Verbundenheit zur »russischen Lesehalle« gewertet werden kann. 37 Nach der Revolution von 1905 war die Zahl der russischen Studenten in Heidelberg sprunghaft angestiegen. Sie gehörten vor allem der jüdischen, Sozialrevolutionären - oder wie Max Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft« schrieb - der »proletaroide[n] Intelligenz« an, die stark unter dem Einfluß Dostojewskis und 33

Das >Heidelberger Gelehrtenmilieu< beschreibt Helene Tompert: Lebensformen und Denkweisen der akademischen Welt Heidelbergs im Wilhelminischen Zeitalter. Vornehmlich im Spiegel zeitgenössischer Selbstzeugnisse. Lübeck/Hamburg: Matthiesen 1969. 34 Max Weber: »Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland«. In: Ders.: Zur Russischen Revolution (1989), S. 86 Anm. 1. 35 Das »russische Heidelberg« und die Verbindungslinien zu Max Weber beschreibt Hubert Treiber - mit vielen lokalen Details - in seinem jüngst erschienenen Aufsatz: »Die Geburt der Weberschen Rationalismus-These: Webers Bekanntschaften mit der russischen Geschichtsphilosophie in Heidelberg«. In: Leviathan 19 (1991), S. 435-451. 36 Hans-Jürgen zum Winkel: »Das Slavische Institut der Universität Heidelberg. Zur Geschichte seiner Gründung«. In: Heidelberger Jahrbücher 25 (1981), S. 165-178, insbes. S. 169-172. "Marianne Weber: Lebensbild (1984), S . 4 7 4 - 4 7 5 ; dazu auch Paul Honigsheim: »Max Weber in Heidelberg«. In: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Beurteilung von Werk und Persönlichkeit. Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1963, S. 161—271, hier: S. 169. Dazu auch: Max Weber: »[Zum 50 jährigen Jubiläum der Heidelberger Russischen Lesehalle]« und »[Rede am 20. Dezember 1912 in Heidelberg]«. In: Ders.: Zur Russischen Revolution (1989), S. 701-705.

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Tolstois stand. 38 Eugen Leviné, der in Heidelberg zwischen 1910 und 1913 öffentliche Vorträge über Tolstoi, Dostojewski und Gorki hielt, 39 Mathias Kohan-Bernstein, Boris Katz, Isaak Steinberg und Minna Ostrowsky waren Mitglieder der »russischen Lesehalle«. 4 0 Ein eindrucksvolles Bild von der dortigen Atmosphäre und Klientel entwarf Fedor Stepun in seiner Autobiographie : Als ihren Mittelpunkt hatte die russische Studentenschaft die berühmte Heidelberger >LesehalleKulturherdes< machte auf mich einen recht ungünstigen Eindruck. Schon der erste Blick in den Raum zerstreute meine freudige Erwartung mit einem Schlage. In einem mäßig großen Zimmer, an dessen Wänden die Bildnisse russischer Freiheitskämpfer unordentlich aufgehängt waren, saß, die dünnen knisternden Papierseiten illegaler Schriften vorsichtig umwendend, ein ganz fremdartiges Publikum. In den beiden hinteren Zimmern, die mit Büchern in zerfetzten billigen Einbänden, hauptsächlich aber mit Zeitschriften vollgepropft waren, standen und rauchten einige junge Leute, die mir in ihrem Wesen und ihrer Art völlig unrussisch vorkamen. Ich blätterte den Katalog durch, ließ mich als Mitglied eintragen und verließ die Lesehalle Die gleiche Reserve gegenüber dem »halbrevolutionären Verein« hatte auch Nikolai von Bubnoff. 4 2 Bubnoff und Stepun - liberal gesinnt und spätere Gelehrte verkehrten im engeren Max-Weber-Kreis und gehörten übrigens auch, zusammen mit Sergius Hessen, zu den russischen Mitbegründern des Logos,43 Sie können neben Georg Lukács als die eigentlichen Tolstoi-Vermittler im Weber-Kreis angesehen werden. 4 4 Ihre Teilnahme an den sonntäglichen Gesprächen im Weber-Haus fiel in die letzten Vorkriegsjahre. Auf die Jahre 1912 bis 1914 beziehen sich mit einiger Sicherheit auch die - teilweise übertriebenen - »Erinnerungen« von Paul Honigsheim : Ich erinnere mich denn auch keines Gesprächs an den Sonntagnachmittagen, an dem nicht nach einiger Zeit der Name Dostojewskij gefallen wäre. Vielleicht noch dringender, ja geradezu auf den Fingern brennend, war ihm [Weber] die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Tolstoi. 38

Max Weber: »Religionssoziologie«. In: Wirtschaft und Gesellschaft (1985), S. 314. H. Schmidt: Deutsche Arbeiterbewegung und russische Klassik (1973), S.260 Anm. 188. Die Vortragstexte sind mir nicht bekannt. 40 G. Radbruch: Der innere Weg (1961), S. 69. 41 Fedor Stepun: Das Antlitz Rußlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben 1884-1922. München: Kösel 1961, S. 87. 42 H . zum Winkel: »Das Slavische Institut der Universität Heidelberg«. In: Heidelberger Jahrbücher(1981), S. 172. 43 Zur Teilnahme am Weber-Kreis: P. Honigsheim: »Max Weber in Heidelberg«. In: Max Weber zum Gedächtnis (1963), S.240. Zum Logos: F. Stepun: Das Antlitz Rußlands (1961), S.97. Sergius Hessen publizierte dort auch einen Tolstoi-Artikel: »Tolstoj als Denker«. In: Logos 19 (1929/30), S. 145-172. 44 »Seine [Lukács] Bedeutung als Repräsentant Dostojewskij'schen und Tolstoi'schen Gedankengutes im sog. >Weber-Kreis< ist hinlänglich bekannt.« Kurt Beiersdörfer: Max Weber und Georg Lukács. Über die Beziehung von Verstehender Soziologie und Westlichem Marxismus. Frankfurt a.M./New York: Campus 1986, S.2. Speziell: Éva Karádi: »Ernst Bloch und Georg Lukács im Max Weber-Kreis«. In: W.J. Mommsen, W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 682-702. 39

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Die schwerstwiegenden Fragen warf aber die Tatsache auf, daß Tolstoi und Dostojewskij bei den Gesprächen im Weèerhaus, man möchte fast sagen, leibhaftig präsent waren. 45

Wegen des privaten Charakters der Zusammenkünfte im Weber-Haus liegen keine Gesprächsprotokolle oder Ähnliches vor, so daß man heute nicht mit Bestimmtheit sagen kann, worin die Dostojewski-Tolstoi-Diskussion im einzelnen bestanden hat. Die Veröffentlichungen der Tolstoi-Vermittler lassen aber, da sie größtenteils aus der Zeit nach 1914 stammen, Rückschlüsse auf die Sonntagnachmittagsgespräche und damit auch eine Rekonstruktion der Tolstoi-Diskussion zu. Der gebürtige Moskauer Fedor Stepun (1884—1965) entschloß sich zum Philosophie-Studium, um die durch seine Tolstoi-Lektüre aufgeworfenen Lebensprobleme lösen zu können. 1902 ging er nach Heidelberg und stieß bei Professor Windelband auf kühle wissenschaftliche Distanz, bei seinen Kommilitonen fiel er jedoch durch die Leidenschaftlichkeit und Intensität seiner Fragen auf. Philosophieren bedeute eben für einen Russen - so Stepun - ein »Sich-Sorgen um die Verwirklichung der Wahrheit sowohl im persönlichen als auch im sozialen Leben«. 46 Mit Dostojewski verknüpfte er in einem später abgefaßten Essay die russisch-christliche Idee der Verbrüderung aller Menschen im Geiste des Evangeliums. 47 An Tolstoi interessierten ihn nicht so sehr dessen Ideen, sondern die dargestellten Menschen. 48 Vor allem aber beschäftigte ihn das persönliche Schicksal Tolstois, das er als »religiöse Tragödie« und als Scheitern an der eigenen Lehre beschrieb. 49 Nikolai von Bubnoff (1880—1962), russisch-deutscher Abstammung, studierte zwischen 1904 und 1908 in Heidelberg, wo er seit 1911 als Privatdozent tätig war. Im Weber-Kreis galt er als Fachmann auf dem Gebiet der Mystik und der russischen Religionsphilosophie, besonders aber Dostojewskis. 50 Über Tolstoi hat er nach 1919 Vorlesungen und Seminare gehalten. 51 Tolstoi sah er vor dem großen Gegen-

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P. Honigsheim: »Erinnerungen an Max Weber«. In: Max Weber zum Gedächtnis (1963), S. 240,241. 46 F.Stepun: Das Antlitz Rußlands (1961), S. 188; die vorhergehenden Angaben: ebd., S. 7 6 - 7 7 , 8 2 - 8 4 . 47 Fedor Stepun: Dostojewskij und Tolstoj. Christentum und soziale Revolution. Drei Essays. München: Hanser 1961, S. 4 4 - 4 5 , 48. Die Essays wurden wahrscheinlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg abgefaßt. 48 »Die Menschen Dostojewskijs sind keine typischen Verallgemeinerungen wie die Menschen Tolstojs, sondern einmalige Inkarnationen von philosophischen Ideen. [ . . . ] Ich habe oft beobachtet, daß Ausländer, denen es keine Schwierigkeit macht, die verschlungenen atheistischen Ideen des christusgläubigen Kirillow zu begreifen, das stille Sterben Piaton Karatajews oder den hinreißenden russischen Tanz Nataschas Rostowas [ . . . ] nicht nachzuempfinden vermögen.« (Ebd., S. 25) 49 Ebd., S. 80-156. 50 P. Honigsheim: »Erinnerungen an Max Weber«. In: Max Weber zum Gedächtnis (1963), S. 183, 240, 268. Als Ausländer wurde v. Bubnoff die Lehrgenehmigung während des Krieges entzogen, so daß er zum SS 1919 erst wieder Seminare ankündigen konnte. (H. zum Winkel: »Das Slavische Institut der Universität Heidelberg«. In: Heidelberger Jahrbücher (1981), S. 167, 172). 51 Übersicht über die Seminare Bubnoffs: »Tolstoj und Dostojewskij« (SS 1921), »Tolstojs

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satz des westeuropäischen und russischen Denkens. Letzteres sei intuitivistisch, anti-rationalistisch, metaphysisch-religiös und universalistisch, d.h. es gebe keine Herauslösung einzelner Kultursphären, sondern nur eine alles umfassende Perspektive. Daraus ergebe sich das Problem der zeitgenössischen russischen Denker: der Gegensatz von Religion und Kultur, von religiösem Absolutheitsanspruch und kulturellem Relativismus oder: von weitabgewandtem Christentum und säkularisierter Kultur. In den Lebensschicksalen von Gogol, Tolstoi und Leontjew spiegele sich diese Antinomie von Kultur und Religion wider. 52 In einem Aufsatz über »Tolstoj als religiöse[n] Denker und Sozialethiker«53 ging Bubnoff zuerst der Frage nach, welche Bedeutung Tolstoi in der Gegenwart haben könne. Tolstois radikale Kulturkritik und Kulturverneinung sei zwar »maßlos und ungerecht«, 54 rege aber zum Hinterfragen des wirklich Wertvollen innerhalb der bestehenden Kultur an. Insgesamt entwickele sich Tolstois religiöse Lehre von einer Sozialethik - die Gebote der Bergpredigt würden als »praktische, für alle verbindliche Lebensregeln«55 angesehen - zu einer Individualethik, die keine Energie mehr auf die äußere Lebensgestaltung verwende, sondern alle Kraft auf die innere Vervollkommnung der Seele richte. Dadurch trete das soziale Element völlig in den Hintergrund. Zum wichtigsten Tolstoi-Diskussionspartner für Max Weber wurde jedoch Georg Lukács (1885—1971). Der junge Ungar kam im Sommer 1912 - auf Anraten seines Freundes Ernst Bloch - nach Heidelberg, da er dort ein geistig-anregendes Klima für seine Habilitation über Kunstphilosophie und Ästhetik vorfinden werde. Der Kontakt zu Max Weber und seinem Kreis war schnell hergestellt. 56 Die Diskussionen der beiden Gelehrten - zwischen 1912 und 191757 - drehten sich um kunsttheoretische, marxistische, erkenntnistheoretische, vor allem aber ethische Fragen. 58 Weltanschauung und soziale Lehre« (WS 1928/29) und »Tolstoj als Denker und Erzieher« (WS 1931/32). (Ebd., S. 168). 52 Nicolai von Bubnoff: Kultur und Geschichte im russischen Denken der Gegenwart. Berlin: Sack 1927, S. 1 - 5 7 , insbes. S. 56-57. 53 N . von Bubnoff: »Tolstoj als religiöser Denker und Sozialethiker.« In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung (1930), S. 1 7 0 - 1 7 8 , 2 8 6 - 2 9 9 . 54 Ebd., S. 171. 55 Ebd.. S.298. 56 Lukács kam im Sommer 1912 nach Heidelberg (unter dem Datum vom 22. Juli 1912 ist bereits ein Brief Webers an die Heidelberger Anschrift von Lukács adressiert) und dann über eine Empfehlung von Emil Lederer oder Georg Simmel, bei dem er in Berlin studiert hatte, in den Weber-Kreis; K. Beiersdörfer: Max Weber und Georg Lukács (1986), S. 20, 213 Anm. 7. 57 Die Heidelberger Zeit von Lukács, sie wurde unterbrochen 1915/16 durch den Militärdienst, den Lukács in Ungarn ableisten mußte; Éva Karádi und Erzsébet Vezér (Hrsg.): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis. Frankfurt a.M.: Sendler 1985, S. 8. 58 Weber über Lukács: »Wenn ich mit Lukács gesprochen habe, dann habe ich noch tagelang darüber nachzudenken.« P. Honigsheim: »Erinnerungen an Max Weber«. In: Max Weber zum Gedächtnis (1963), S. 187. É. Karádi: »Ernst Bloch und Georg Lukács«. In: W.J. Mommsen, W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 691.

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Lukács veröffenlichte 1912 den »ethischen Dialog« - »Von der Armut am Geiste«. 59 Darin verarbeitete er den Selbstmord seiner Freundin Irma Seidler: Aus ethischen Gründen hatte er eine Heirat mit ihr abgelehnt und fühlte sich nun für ihren Freitod verantwortlich. Er hatte praktisch erfahren, was Max Weber theoretisch beschrieb: »[d]aß der Erfolg guten Handelns so oft gänzlich irrational ist und üble Folgen einträgt, wo man >gut< handelte [.. ,]«.60 In einem unvollendeten Dostojewski-Buch, 61 zu dem aber Aufzeichnungen aus den Jahren 1914/15 vorliegen, bemühte sich Lukács selbst um eine theoretische Bewältigung dieses ethischen Konflikts. Darin erklärte er die ethische Irrationalität aus der Kantischen Pflichtethik des »isolierten europäischen Individuums«, 62 die überwunden werden müsse durch die Dostojewskische Ethik der Güte. Diese solle an die Stelle der Vereinzelung der Menschen die Solidarität und Liebe setzen. Tolstoi kommt in diesen Aufzeichnungen immer wieder als eine Form der Ethik der Güte vor, die aber im Gegensatz zu Dostojewskis Ethik keinen realitätsbezogenen Neuanfang ermögliche. Tolstois Lehre sei ein »Kampf gegen [das] Christentum: gegen [die] Transcendenz. [Der] Tod soll immanent werden, wie in der Natur«. 63 Daher sei die tolstoianische Ethik als Naturphilosophie zu bezeichnen. Das Hindernis der menschlichen Erlösung werde somit in den Bereich der Kultur verlegt, die dadurch in beständigem Gegensatz zur Natur stehe. 64 Daraus erkläre sich Tolstois Feindschaft gegen den objektiven Geist, in konkreter Ausgestaltung: gegen Wissenschaft und Staat. In der »Theorie des Romans« - geschrieben als Einleitungskapitel zum unvollendeten Dostojewski-Buch - 6 5 formulierte Lukács diese Gedanken aus: 59

Georg Lukács: »Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief«. In: Neue Blätter 2 (1912), S.67—92. Der Ausdruck »ethischer Dialog« stammt von Eva Karádi: »Ernst Bloch und Georg Lukács«. In: W. J. Mommsen, W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 697. 60 Der Brief Webers vom Frühjahr 1914 fährt an dieser Stelle fort: » . . . hat ihn [Ernst Frick] daran irre gemacht, daß man überhaupt gut handeln solle·. Bewertung des sittlichen Handelns vom Erfolg aus, statt vom eigenen Wert. Vorerst sieht er nicht, daß da ein Fehler steckt, und ich werde sehen, ihm >die Brüder Karamasow< zu verschaffen und später einmal Lukács Dialog von den Armen am Geist, wo das Problem ja behandelt ist«. Marianne Weber: Lebensbild (1984), S. 498. 61 Weber hat dieses Vorhaben übrigens heftig bekämpft, weil Lukács dadurch seine ÄsthetikArbeiten aufgab. É. Karádi: »Ernst Bloch und Georg Lukács«. In: W. J. Mommsen, W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S.696. Zu dem Dostojewski-Buch: ebd., S. 697 - 699. Georg Lukács: »Notizen zum geplanten Dostojewski-Buch«. In: É. Karádi, E. Vezér (Hrsg.): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis (1985), S.193—205; umfassender Abdruck: Georg Lukács: Dostojewski. Notizen und Entwürfe. Hrsg. v. J. C. Nyiri. Budapest: Akadémiai Kiado 1985; zitiert wird im folgenden nach der letzt genannten Ausgabe. 62 É. Karádi: »Emst Bloch und Georg Lukács«. In: W.J. Mommsen, W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 697. 63 G. Lukács: Dostojewski (1985), S. 51. M E b d . , S. 5 3 - 5 4 . 65 Dazu: N.C. Nyiri: »Einleitung«. In: G. Lukács: Dostojewski (1985), S . 7 - 3 4 , hier: S. 12-13.

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Tolstois Gesinnung »strebt einem Leben zu, das auf die Gemeinschaft gleichempfindender, einfacher, der Natur innig verbundener Menschen gegründet ist, das sich dem großen Rhythmus der Natur anschmiegt, sich in ihrem Takt von Geburt und Vergehen bewegt und alles Kleinliche und Trennende, Zersetzende und Erstarrende der nicht naturhaften Formen aus sich schließt«. 66

Ein solches Leben gelinge aber nur vereinzelten Gestalten, wie zum Beispiel Piaton Karatajew. Ansonsten werde der Rückgang zur Natur nur in wenigen Augenblikken erlebt: Augenblicke der Liebe und des Sterbens - literarisch gestaltet in Fürst Bolkonski und Anna Karenina. 6 7 Die Kultur werde also von den durchschnittlichen Menschen nicht aktiv und dauerhaft überwunden; und selbst die Gestalt des Piaton Karatajew entbehre einer realisierbaren Lebensform. Diese Gestalten seien eben so Lukács - »ästhetische Grenzbegriffe und keine Realitäten«. 6 8 Während Tolstoi noch gegen das Bestehende - die Kultur und die traditionelle Romanform - kämpfe, habe Dostojewski bereits mit der überkommenen Form gebrochen. Die Aufzeichnungen zum Dostojewski-Buch berühren bereits Fragen einer revolutionären Ethik und verweisen damit schon auf den weiteren Lebensweg von Lukács: 1918 trat er in die Kommunistische Partei Ungarns ein und verschrieb sich von da an dem Sozialismus. Lukács nahm hier Überlegungen vorweg, die andere Revolutionäre - Erich Mühsam, Franz Pfemfert und Ernst Toller - erst nach 1919 anstellten. Er reflektierte vor seinem Eintritt in die Politik die zentrale ethische Frage nach der Schuldbeladenheit des politischen Handelns : Es kann ohne Sünde nicht gehandelt werden (aber auch Nichthandeln ist Handeln = Sünde). [ . . . ] Behauptung des Jehovaischen (gegenTolstoj). Die >eigene< Sünde (Opfer der Reinheit). 69

Im Gegensatz zu Tolstoi sprach sich Lukács bereits 1914/15 für die revolutionäre Tat aus, die das »Opfer der Seele« fordere. 7 0 Zugleich verwahrten sich diese revolutionären Überlegungen gegen eine realpolitische Sicht der Folgen-Beurteilung von Revolution und Terrorismus. Es scheint, daß Lukács hier bereits gegen Max Webers Beurteilungskategorien argumentierte. Die Fortsetzung dieses geistigen >Abnabelungsprozesses< von Max Weber und Heidelberg findet sich - in Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungs66

Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der Epik. Neuwied/Berlin: Luchterhand 3 1965, S. 150. - Hier die Fortsetzung des Zitats: >»Der Muschik stirbt ruhigDie drei Tode< an die Gräfin A. A. Tolstoi. >Seine Religion ist die Natur, mit der er gelebt hat. [ . . . ] Kinder kamen zur Welt, Greise starben und er kennt dieses Gesetz, von dem er sich nie abgewendet hat [...]okzidentalen RationalismusMax Weber und Ernst TroeltschEthik< des Streikes« habe - so Weber an Michels - als einzigen Bewertungsmaßstab die »Gesinnung« und nicht den Erfolg. 1 0 1 Ein verlorener Streik werfe - Weber wählte das Beispiel des Hamburger Hafenarbeiterstreiks - die revolutionäre Bewegung um Jahrzehnte zurück. Der realpolitische Maßstab entfalle hierbei. Es gebe daher nur die Wahl zwischen einem konsequent-ethischen und einem fortschrittsbezogenen Standpunkt: Entweder: 1) >mein Reich ist nicht von dieser Welt< (Tolstoj, oder der zu Ende gedachte Syndikalismus, der gar nichts als der Satz >das Endziel ist mir nichts, die Bewegung Alles< ins Revolutionär-Ethische, [Persönliche] übersetzt ist, aber freilich auch von Ihnen nicht zu Ende gedacht wird!) - oder: 2) Cultur- (d.h. objektive, in technischen u.s.w. Errungenschaften sich äußernde Cultur-) Bejahung unter Anpassung an die soziologischen Bedingungen aller >Technik< [.. .]. 102 Hier also die Ineinssetzung von Tolstoianismus und Syndikalismus als ethisch verwandtem Typus, der jenseits dieser »Welt« stehe, was für Webers Begriff der Gesinnungsethik entscheidend wurde. Dabei borgte sich Weber den strengen Maßstab bei den Marburger Neukantianern. 103

D e r ethische Pazifismus: Ernst Toller Zum Verhältnis Max Weber - Ernst Toller ist vieles bereits oben erwähnt worden. 1 0 4 Marianne Weber beschreibt den Eindruck, den Toller bei den Sonntagnachmittagen im Winter 1917/18 hinterließ: Er wird zutraulich und bringt eigne Gedichte, die er vorliest. Die Zuhörer werden bewegt von dem Hauch einer reinen Seele, die an die ursprüngliche Güte und Solidarität der

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K. Kautsky: »Die Fortsetzung einer unmöglichen Diskussion«. In: Die Neue Zeit (1904/ 05), S. 720. Es ist übrigens wahrscheinlich, daß Max Weber diese Diskussion direkt verfolgt hat, weil er - wie der Herausgeber des Rußland-Bandes nachweist - die Artikel der Neuen Zeit für seine eigenen Studien ausgewertet hat. Max Weber: Zur Russischen Revolution (1989), S. 37-38. 101 Die Datierung des Briefes ist problematisch, wahrscheinlich aber wurde er am 19. Februar 1909 geschrieben und nicht im August 1908; im bisher erschienen MWG-Briefband 1906—1908 ist dieser Brief noch nicht abgedruckt. Das erste Zitat stammt aus einer Abschrift von Herrn Professor Lawrence A. Scaff, die er mir freundlicherweise zur Verfügung stellte. Das zweite Zitat findet sich bei W. J. Mommsen: »Robert Michels und Max Weber«. In: Ders., W. Schwentker (Hrsg.): Max Weber und seine Zeitgenossen (1988), S. 204. Beide Zitate stammen aus dem o.g. Brief. 102 Brief Max Webers an Robert Michels vom 4. August 1908. In: Max Weber: Briefe 1906-1908 (1990), S. 615 -620, Zitat: S. 615-616. 103 »Und überhaupt: diese Messung der >Ethik< am >ErfolgeErfolgsethik«< ablehnte. 1 1 8 Absolute Pflicht stand gegen politisch-erzieherische Weitsicht und Einsicht. Mit diesen Überlegungen war zum ersten Mal im Werk Max Webers der Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik vorgezeichnet, der sich in »Politik als Beruf«, also erst im Januar 1919, vollständig ausformuliert findet. 1 1 9 Im folgenden soll der Entwicklung dieses Gegensatzpaares mit Blick auf Tolstoi nachgegangen und das Verhältnis der Gesinnungsethik zur Kultur der Moderne bestimmt werden.

a) Der idealtypische Gesinnungsethiker Der Begriff »gesinnungsethisch« bzw. »Gesinnungsethik« findet sich parallel zueinander an drei verschiedenen Stellen: im Kapitel »Religionssoziologie« in »Wirtschaft und Gesellschaft«, 120 in der »Zwischenbetrachtung« 121 und im »Gutachten tungsmöglichkeit der Welt, in die wir aufgrund ihres >So-und-nicht-anders-Gewordenseins< >hineingestellt< sind«. 117 Marianne Weber: Lebensbild (1984), S. 391. 118 Max Weber: »Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland«. In: Ders.: Zur Russischen Revolution (1989), S. 124. 119 Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung. Bd. I: Studien zu Max Webers Kulturund Werttheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 173 - 2 0 0 = Kapitel »Die Karriere eines Begriffspaares«. 120 Max Weber: »Religionssoziologie«. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (1985), S. 245 - 3 8 1 , »Gesinnungsethik«/»gesinnungsethisch«: S.284, 285, 324, 328, 340, 342, 348, 349. 121 Max Weber: »Zwischenbetrachtung«. In: Ders.: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1989), S. 4 7 9 - 522, »gesinnungsethisch«: S. 487,498.

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zur Werturteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik«. 122 Alle drei Texte stehen in einem engen Bearbeitungszusammenhang: Das religionssoziologische Kapitel dürfte bereits zwischen 1911 und 1913 niedergeschrieben worden sein und als direkte Vorlage für die Arbeiten an der »Wirtschaftsethik« gedient haben, die wohlmöglich 1913 begonnen wurden. 1 2 3 Das »Gutachten« schrieb Weber wahrscheinlich in den ersten Monaten des Jahres 1913. Alle drei Texte fallen damit auch in die Phase, in der der Tolstoi-Ethik-Diskurs im Weber-Kreis am intensivsten geführt worden ist. Zunächst zum Kapitel »Religionssoziologie« in »Wirtschaft und Gesellschaft«, das m.E. in direkter Verbindung zu dem Diskussionsbeitrag von 1910 steht, in dem Weber einen universalgeschichtlichen Blick auf das Dreiecksverhältnis KulturEthik-Religion am Beispiel Rußlands eröffnet hatte. 1 2 4 Das tolstoianische, formfeindliche Christentum wurde dabei mit dem antiken Christentum verglichen und als agrarkommunistisch, akosmistisch und sektenhaft bezeichnet. In dem Kapitel »Religionssoziologie« belegte Weber diese Spielart des Christentums noch nicht ausschließlich mit dem Begriff »gesinnungsethisch«. Vielmehr führte er eine ganze Palette möglicher Ausdeutungen und verschiedener Bedeutungsschichten des Begriffs vor. Diese sollen zunächst aufgefächert werden. Zum ersten Mal tauchte der Begriff »gesinnungsethisch« im Kontext der Frage auf, wer überhaupt »Heiliges Wissen« besitze. 1 2 5 Weber sah in dem Bemühen um eine »gesinnungsethische Systematisierung« ein Spezifikum der »Prophetenethik«, die zumeist von einem charismatischen »Laiendemagogefn]« gegen die überkommene Ritualisierung der Priesterschaft gerichtet sei. 126 Während der Prophet aus seinem direkten Verhältnis zu Gott die ethischen Normen ableite und an seine Jünger weitergebe, bediene sich der Priester bestimmter Vorschriften und der »Laienkasuistik«. 127

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Max Weber: »Gutachten zur Werurteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik [1913]«. In: Eduard Baumgarten: Max Weber. Werk und Person. Dokumente ausgewählt und kommentiert von E. Baumgarten. Tübingen: Mohr/Siebeck 1964, S. 102—139, »Gesinnungsethik«: S. 124. Die überarbeitete Fassung für den Logos 1917 findet sich unter dem Titel »Der Sinn der >Wertfreiheit< der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften« in: Max Weber: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 488 - 5 4 0 , dort »Gesinnungsethik«: S. 514. 123 Wolfgang Schluchter: »Max Webers Religionssoziologie. Eine werkgeschichtliche Rekonstruktion [+ Anhang]«. In: Ders. (Hrsg.): Max Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik. Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1985, S. 525-560, hier: S. 535, 540. 124

Man achte z.B. nur auf die dreifache Verwendung des Baudelaire-Zitates. Zuerst in Webers »[Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von E.Troeltsch]«. In: Verhandlungen des Soziologentages (1911), S.200; in der »Religionssoziologie«. In: Wirtschaft und Gesellschaft (1985), S. 355; in der »Zwischenbetrachtung«. In: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1989), S. 490. 125 Max Weber: »Religionssoziologie«. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (1985), S. 279 - 2 8 5 . 126 Ebd., S. 2 8 4 - 285. 127 Ebd., S. 284.

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In dieser kurzen Beschreibung sind bereits mehrere Bedeutungsebenen angesprochen, die sich anhand folgender Gegensatzpaare benennen lassen - zugleich werden dadurch die Konturen des Begriffs der religiösen Gesinnungsethik deutlicher: 1. der herrschaftssoziologische Gegensatz von außeralltäglichem Charisma und Veralltäglichung des Charismas im Übergang zum Traditionalismus; 2. der religionssoziologische Gegensatz von Sekte und Kirche, der in den Diskussionen mit Ernst Troeltsch von entscheidender Bedeutung war; 128 3. der theologische Gegensatz von Gesinnungs- und Gesetzesreligiosität, wie ihn Wilhelm Herrmann als Unterscheidungskriterium von christlicher und jüdischer Religion verwandt hatte; 129 4. der religiös-ethische Gegensatz von Virtuosen- und Massenethik, der auf die Verbindungslinien zwischen Heilsmethodik und Lebensführung, also zwischen Religion und »Welt«, hinwies. 130 Dazu schrieb Weber: In ihrer gesinnungsethischen Interpretation bedeutet die Heilsmethodik praktisch stets: Ueberwindung bestimmter Begehrungen oder Affekte der religiös nicht bearbeiteten rohen Menschennatur. [...] Stets aber ist eine in diesem Sinn methodische religiöse Heilslehre eine Virtuosenethik. Stets verlangt sie, wie das magische Charisma, die Bewährung des Virtuosentums. 131

Im Anschluß daran führte Weber eine Vielzahl von religiösen Virtuosen vor und kam dadurch von einer systematisch-abstrakten Ebene zu den (universal-)historischen Ausgestaltungen der religiösen Gesinnungsethik. Religiöse Virtuosen sind: der welterobernde Ordensbruder (ein Moslem in der Zeit Omars), der Virtuose der weltablehnenden Askese (ein christlicher oder - weniger konsequent - ein jainistischer Mönch) oder einer der weltablehnenden Kontemplation (ein buddhistischer Mönch), der Virtuose des passiven Märtyrertums (ein antiker Christ) oder ein Virtuose der innerweltlichen Berufstugend (ein asketischer Protestant), einer der formalen Gesetzlichkeit (ein pharisäischer Jude) oder ein Virtuose der akosmistischen Güte (der heilige Franz, man könnte auch Tolstois Piaton Karatajew nennen). 132 Am Beispiel des Christentums erläuterte Weber den Übergang von der Virtuosenreligiosität der Urgemeinde zur »Massenkirche der Alltagschristen«. 133 Während die Kirche den Gläubigen ein festes System von Dogmen und Ritualen anbiete

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Die ganzen Soziallehren von Ernst Troeltsch beruhen auf den drei Typen: Kirche, Sekte, Mystik, s. insbes. das Schlußkapitel »Die drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee« oder auch den Vortrag »Das stoisch-christliche Naturrecht ...«. In: Verhandlungen des Soziologentages (1911), S. 170-174. 129 Siehe den ESK-Vortrag von Wilhelm Herrmann: »Die sittlichen Gedanken Jesu in ihrem Verhältnis zu der sittlich-sozialen Lebensbewegung der Gegenwart« (1903), S. 26. 130 Max Weber: »Religionssoziologie«. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (1985), S. 326-348. 131 Ebd., S. 328. 132 Ebd., S. 328; vgl. Anm. 32 dieses Kapitels. 133 Ebd., S. 328.

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und damit Heilsgewißheit bei Unterwerfung unter die kirchliche Autorität in Aussicht stelle, müsse der Gesinnungsethiker von innen heraus zu einer »Systematisierung des religiös Gesollten«, zu einer »>sinnhaften< Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilsziel« hin gelangen. 134 Dabei habe er, der ja nicht »außen gesteuert« ist, als einzigen Maßstab das - völlig irrationale - Vertrauen auf die Vorsehung Gottes. Er stelle die »Folgen des eigenen, als gottgewollt empfundenen Tuns grundsätzlich [Gott] allein anheim«. 135 Weber selbst charakterisierte die Virtuosenreligiosität als »>heroistische< Religiosität«; 136 daher stufte er auch die strenge Virtuosenethik des alten, ungebrochenen Christentums als Heldenethik ein. 137 Entsprechend wäre die kirchliche Religiosität als Durchschnitts- und Alltagsethik zu bezeichnen. In der »Religionssoziologie« ergaben sich also folgende Konturen der religiösen Gesinnungsethik: Weber hatte sie mit den Kategorien Außeralltäglichkeit, Virtuosität, Kirchen- und Dogmenfeindlichkeit belegt, die auf verschiedene, praktisch bzw. historisch vorhandene Spielarten gleichermaßen zutrafen. Dahinter stand die Bestimmung der Gesinnungs- gegenüber der Gesetzesreligiosität, wie sie in der kulturprotestantischen Diskussion vorgenommen worden war: Sie [die religiöse Gesinnungsethik] kennt kein >heiliges Rechtheilige Gesinnungs welche je nach der Situation verschiedene Maximen des Verhaltens sanktionieren kann, also elastisch und anpassungsfähig ist. [Herv. d. Verf., E.H.]. 1 3 8

Gegen den kulturprotestantischen Optimismus wandte Max Weber bereits in Paragraph 11 »Religiöse Ethik und >Welt«< des religionssoziologischen Kapitels ein, daß dieser Ansatz in Wahrheit die Spannung zur »Welt« nicht abschwäche, sondern den Konflikt verstärke und ganz in das Innere des Einzelnen verlagere. 139 Trotz der auffälligen Parallelität zwischen dem genannten Paragraph 11 in »Wirtschaft und Gesellschaft« und der »Zwischenbetrachtung« kommt es m.E. in der nach 1913 abgefaßten - »Zwischenbetrachtung« 140 zu einer wichtigen Zuspitzung und Umbesetzung der »religiösen Gesinnungsethik«. Daher zunächst einige Sätze zum Aufbau der »Zwischenbetrachtung«. In der Studie »Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen« hat die »Zwischenbetrachtung« eine Scharnierfunktion zwischen weltbejahenden und weltablehnenden religiösen Ethiken. Max Weber entwirft an dieser Stelle eine Typologie der weltab134

Ebd., S. 349. Ebd., S. 343. 136 Max Weber: »Einleitung«. In: Ders.: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1989), S. 83-127, hier: S. 110 Anm. 137 »Mir scheint: nur die erstere Kategorie, [die >Helden-EthikIdealismus< nennen, und unter diese Kategorie gehören sowohl die Ethik des alten, ungebrochenen, Christentums, wie die Kantische [...].« Max Weber: »[Brief vom 13. September 1907]«. In: Ders.: Briefe 1906-1908 (1990), S. 399. 138 Max Weber: »Religionssoziologie«. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (1985), S. 349. 139 Ebd., S. 349. 140 Zur Entstehung und Überlieferung s. »Editorischer Bericht«. In: Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1989), S. 3 1 - 7 3 , insbes. S. 5 3 - 6 0 . 135

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lehnenden Ethiken. Ihr Spannungsverhältnis zu den verschiedenen Kultursphären (politische, ökonomische, ästhetische, erotische und intellektuelle Sphäre) wird im einzelnen durchdekliniert, wobei Weber eine Kurzcharakteristik jeder Sphäre voranstellt und dann mögliche Strategien anführt, wie die weltablehnenden Religionen die Spannung tatsächlich oder theoretisch bewältigt haben. Dabei beginnt er zumeist mit den konsequentesten Lösungsansätzen und läßt dann die Kompromißformeln nachfolgen. Zusätzlich unterteilt er die Lösungsansätze nach systematischen Aspekten: nach dem Handlungsansatz (asketisch oder kontemplativ) und nach der Richtung der Weltablehnung (Weltbeherrschung oder Weltflucht). Die konsequentesten Antworten auf das Spannungsverhältnis »[r]eligiöse Ethik und >WeltWelt< bei Max Weber«. In: Ders.: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 9-40. 142

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Auf der anderen Seite dokumentierte das ursprüngliche Christentum in seiner gesinnungsethischen Steigerung eine absolut indifferente Haltung gegenüber der »Welt« nach dem bekannten Bibelwort: »>Gebt dem Kaiser, was des Kaisers istder Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheimreine Wille< oder die >Gesinnungder Christ handelt recht und stellt den Erfolg Gott anheimformalem< Charakter, darin ähnlich den bekannten Axiomen der >Kritik der praktischen VernunftWertfreiheitdem Übel nicht widerstehen mit GewaltSacheSache Auferstehung< so unheimlich empfinden zu lassen verstand«. Ihm fehlten »die bescheidensten, >sittlichen< oder >KulturwerteMoral der Vornehmh e i t « . 1 6 7 Das neunte Hauptstück in Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« benennt einige Kriterien des Vornehmen bzw. der Herrenmoral: 1 6 8 das »Pathos der Distanz«, der »Wille zur Macht«, der aber - was häufig bei Nietzsche überlesen wird - voraussetzt, daß der Vornehme vor allem und zuallererst »Macht über sich selbst hat«, außerdem »die eigne Verantwortlichkeit«, als ganz persönliche, individuelle Pflicht verstanden. 1 6 9 Wie eng sich Webers Formulierungen - nicht nur in »Politik als Beruf« - an Nietzsche anlehnten, zeigt dieser Vergleich. Schon früher war Webers Stil von den Zeitgenossen als nietzscheanisch empfunden worden, was Äußerungen von Kurt Eisner, Hellmuth von Gerlach und Gustav Schmoller belegen. 1 7 0 Weber entschied sich mit Nietzsche für die aristokratische »Moral der Vornehmheit«, die eine innerweltliche Ethik der Würde war und sich bei Weber - ganz im 163

Ebd., S. 547. Max Weber: »Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus«. In: Ders.: Zur Russischen Revolution (1989), beide Zitate: S. 677. 165 Max Weber: »Die deutschen Landarbeiter [Korreferat]«. In: Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. Berlin: Rehtwisch & Langewort 1894, S. 6 1 - 8 2 , hier: S. 72. 166 F. Naumann: Werke (1964), Bd. II, S. 72. 167 E. Baumgarten: Max Weber (1964), S. 648. 168 F. Nietzsche: »Jenseits von Gut und Böse«. In: Ders.: Sämtliche Werke (1988), Bd. V, S. 205 - 2 4 0 = »Neuntes Hauptstück: was ist vornehm?«. 169 Ebd., Zitate: S. 205,208,210,227. 170 Kurt Eisners Bemerkung über Webers Rede bei der Gründungstagung des Nationalsozialen Vereins 1896 ist bereits oben zitiert worden. Über dieselbe Tagung schrieb Hellmuth von Gerlach in der Hilfe, daß er eine »Nietzsche-Herrenmoral« in der Politik nicht mitmache; W. Spael: Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber (1985), S. 57. Gustav Schmoller entgegnete auf Weber in dem HdStW-Artikel »Volkswirtschaft« (1911): »ich wollte nur nicht zugeben, daß wirtschaftliches Handeln jenseits von Gut und Böse stehe« (S. 497). Eingehend untersucht hat die »Spuren Nietzsches im Werk Max Webers« Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung (1987), S. 167-191. 164

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Gegensatz zu Nietzsche - durch »Sachlichkeit«, 171 also einen rationalen Zugriff auf die Welt, auszeichnete. Webers Verantwortungsethik ist daher ein ganz spannungsgeladenes Konzept, daß Leidenschaft und persönliche Werte voraussetzte, zugleich aber eine sachliche Selbstdisziplinierung verlangte. Es entspricht somit völlig dem Weberschen Wissenschaftsideal, so daß »intellektuelle Rechtschaffenheit« als begriffliches Pendant zur »Verantwortungsethik« anzusehen ist. 1 7 2 In diesem Punkt grenzte sich Weber auch von der religiösen Gesinnungsethik ab, die er zwar schätzte, wenn sie konsequent befolgt wurde, die aber eine außerweltliche Ethik der Würde war und damit die Realitäten der Welt außer acht ließ. 1 7 3 Damit ist zugleich das Gebiet der letzten Wertstandpunkte und Glaubensfragen berührt. In »Politik als Beruf« nennt Weber einander widersprechende Zielvorstellungen bzw. Werte, die das Handeln eines Politikers bestimmen können: »[die] nationalen oder menschheitlichen, sozialen und ethischen oder kulturlichen, innerweltlichen oder religiösen«. 1 7 4 Ordnet man die Reihen, so stehen auf der eine Seite die Werte, die Weber den gesinnungsethischen Syndikalisten und Tolstoianern zuschrieb - die Syndikalisten wurden von ihm ja durchaus als religiöse Gruppierung eingestuft - , 1 7 5 und auf der anderen Seite, die von ihm selbst vertretenen Werte: nationale, kulturliche und innerweltliche. Ganz eindeutig bekannte sich Weber zu 171

Max Weber: »Politik als Beruf«. In: Ders. : Ges. Polit. Schriften (1988), S. 549. Weber bezeichnet die Aufgabe der Wissenschaft, »unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren«, als intellektuelle, sogar als »>sittliche Leistungintellektuelle Redlichkeit^ Zur Tragödie der Religion bei Max Weber und Friedrich Nietzsche«. In: Sociologia Internationalis 29 (1991), S. 159-177, auf die Parallelität zwischen Nietzsches »intellektueller Redlichkeit« und Webers »intellektueller Rechtschaffenheit« und führt das Konzept auf eine säkularisierte protestantische Werthaltung zurück. 173 Max Weber: »Politik als Beruf«. In: Ders.: Ges. Polit. Schriften (1988), S. 550. In »Wissenschaft als Beruf«, in: Ders.: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), sagt Weber, daß sich die Ethik der Bergpredigt wissenschaftlich nicht widerlegen lasse. »Und doch ist klar: es ist, innerweltlich angesehen, eine Ethik der Würdelosigkeit, die hier gepredigt wird: man hat zu wählen zwischen der religiösen Würde, die diese Ethik bringt, und der Manneswürde, die etwas ganz anderes predigt [...].« (S.604). Dazu auch Marianne Weber: Lebensbild (1984), S. 96: »Die tiefe Verehrung für das Evangelium der Brüderlichkeit hat ihn niemals verlassen, und er bejaht seine Forderungen für das persönliche Leben. Aber er bejaht auch die innerweltlichen Werte ; das gegen jeden Angriff wehrende Würdegefühl, die aktive Heldenethik, den Dienst an überpersönlichen Kulturgütern, die das Diesseitsleben erhöhen.« 174 Max Weber: »Politik als Beruf«. In: Ders.: Ges. Polit. Schriften (1988), S. 548. 175 Ebd., S. 552; »Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland«. In: Ders.: Zur Politik im Weltkrieg (1984), S. 421-596, dort insbes. S.504: »Der Syndikalismus, die unpolitische und antipolitische heroische Brüderlichkeitsethik«; »Der Sinn der >WertfreiheitKulturKreaturStil< in das politische Alltagsgeschäft eingeführt haben. Verständlich ist dieser Webersche Vorwurf, so wie sein ganzes Konzept der Verantwortungsethik, nur aufgrund seines Axioms, daß die Politik - als ein Kulturbereich - anethisch ist. 185 In ihr regieren andere Gesetze als die der Ethik oder gar die der christlichen Nächstenliebe. 186 Die Verantwortungsethik ist eine Weberspezifische Antwort auf die Bedingungen der Moderne, so wie er sie gesehen und analysiert hat. Durch Webers Diagnose der Kultur der Moderne kann daher erst vollständig deutlich werden, weshalb ein »nur«-Gesinnungsethiker, wie Tolstoi es für Weber war, nicht in die moderne Zeit hineinpaßte. c) Tolstoi oder die Kultur der Moderne Die detaillierteste Auseinandersetzung Webers mit der Kultur der Moderne findet sich in der »Zwischenbetrachtung«. Im folgenden soll - in Anlehnung an den Aufbau der »Zwischenbetrachtung« - die antinomische Struktur von kulturellen Eigengesetzlichkeiten und weltflüchtiger Brüderlichkeitsethik als ein Gegensatz zwischen Max Webers Kulturverständnis und Leo Tolstois Christentum herausgearbeitet werden. Besonders stark geprägt ist die Kultur der Moderne in den Augen des Nationalökonomen Max Weber durch die »schicksalsvollste[.] Macht«: den Kapitalismus. 187

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Die systematische Untersuchung findet sich in: Max Weber: »Soziologische Grundbegriffe. §2. Bestimmungsgründe sozialen Handelns«. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft (1985), S. 12—13; entsprechende Stelle in: Ders.: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 565 - 567. 184 Max Weber: »Politik als Beruf«. In: Ders.: Ges. Polit. Schriften (1988), S. 559. 185 »Gewiß ist die Politik kein ethisches Geschäft.«; Max Weber: »Wahlrecht und Demokratie in Deutschland«. In: Ders. : Zur Politik im Weltkrieg (1984), S. 344-396, hier: S. 350. 186 Max Weber: »Politik als Beruf«. In: Ders.: Ges. Polit. Schriften (1988), S. 550-559. 187 Max Weber: »Vorbemerkung«. In: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie (1988), Bd. I, S. 1 — 16, Zitat: S.4; dort auch die Charakterisierung des Kapitalismus. Hier vor allem

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Rationale Organisation, Betriebsführung und Kalkulation seien ihm ebenso eigen wie die damit verbundene rationale Lebensführung und der vom asketischen Protestantismus geprägte Berufsbegriff. Undenkbar sei der moderne Kapitalismus ohne die Geldwirtschaft: »Geld ist das Abstrakteste und >UnpersönlichsteAnarchismusWertfreiheitWertfreiheitEinen, das not tut< [ . . . ] . « E b d . , S . 6 0 4 - 6 0 5 .

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zurückgetreten sind aus der Oeffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander. 2 0 5

Wissenschaft könne daher nicht mehr, weil es nichts mehr gibt, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, die Welt verbindlich erklären oder sogar zu allgemeingültigen Sollensvorschriften gelangen. Hierin liegt der Grund für Webers unerbittlichen Kampf gegen die Vermischung von persönlich begründeten Werturteilen und Tatsachenfeststellung. 206 Unter den Bedingungen der Moderne kann - so Weber eine empirische Wissenschaft, wie die Nationalökonomie oder die Soziologie, zwar Wertpositionen untersuchen und Wertdiskussionen führen, sie kann aber keine normative Wissenschaft des Ethischen sein. Dennoch hatte Weber großes Verständnis für die Sinnfrage. Sie stellte für ihn sogar den wichigsten Berührungspunkt zwischen wissenschaftlichem und außerweltlich-religiösem Rationalismus dar. Die Welt als sinnhaft zu begreifen, sei ein zutiefst intellektualistisches Bedürfnis, das immer wieder Intellektuelle zur Religion getrieben habe. Hierin liegt zugleich der Hauptkritikpunkt Webers an Nietzsches Ressentimenttheorie: Entscheidender als die soziale Stellung sei dieses »spezifisch intellektualistische Erlösungsbedürfnis«. 207 Dem innerweltlichen Rationalisten sei die Erlösung aber - unter den Bedingungen der Moderne - radikal versagt. Wissenschaft ist daher zutiefst tragisch und sinnlos, wie Weber in »Wissenschaft als Beruf« schonungslos formuliert: Jeder von uns dagegen in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. D a s ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft

Jedem, der diese Wirklichkeit nicht aushalten könne, stehe ja - so Webers spöttische Bemerkung - der Weg in die »weit und erbarmend geöffneten Arme« der Kirchen offen. 209 Hinter dieser Polemik verbirgt sich jedoch Webers Erkenntnis von der Besonderheit bzw. Dialektik des religiös-außerweltlichen Rationalismus. 205

Ebd., S.612. Insbes. Webers Aufsatz »Der Sinn der >Wertfreiheitinnerer Not< und daher einerseits lebensfremderen, andererseits prinzipielleren und systematischer erfaßten Charakters, als die Erlösung von äußerer Not, welche den nicht privilegierten Schichten eignet. - D e r Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden >Sinn< zu verleihen, also >Einheit< mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos. [Anschließender Verweis auf Entzauberung der >Welt< und Sinnproblem].« (ebd., S. 3 0 7 - 3 0 8 ) . 206

208

209

M a x Weber: »Wissenschaft als Beruf«. In: Ders.: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 592. E b d . , S. 612.

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Ausgehend von dem Bedürfnis, die Welt rational zu erklären, also das Problem der Theodizee zu lösen, gelange die religiöse Ethik bei zunehmender Sublimierung und Rationalisierung dahin, den Sinn des Lebens ganz ins Außerweltliche zu verlegen, weil es eine innerweltliche Lösung des Problems nicht gebe. Die ethische »Unvollkommenheit dieser Welt« führe den konsequenten religiösen Rationalisten daher zu einer völligen Entwertung der innerweltlichen Güter. 210 Damit ist bereits das vorletzte Kapitel der »Zwischenbetrachtung« über die »Stufen der Weltablehnung« umrissen. 211 Es verdeutlicht die Spannungen der weltablehnenden religiösen Ethik zur Kultur der Moderne als Ganzes und dreht sich um die prinzipielle Frage nach dem Sinn der Kulturentwicklung. In der Geschichte des okzidentalen Rationalismus sind kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt untrennbar miteinander verbunden, so daß sich Weber in weiten Teilen von »Wissenschaft als Beruf« 212 auf diese letzten Passagen der »Zwischenbetrachtung« stützt. Anhand der Zusammenschau beider Textpassagen läßt sich zeigen, wie sehr Weber Leo Tolstoi als den religiösen Kritiker und Entwerter der modernen Kultur gesehen hat. An Tolstois Biographie der zweiten Lebenshälfte, die ja um die Jahrhundertwende bis ins Detail bekannt war, ließen sich exemplarisch die Stufen der Weltablehnung nachweisen: der Umschlag von einer innerweltlich begründeten Sinnsuche in eine weltferne und kulturfeindliche Prophetie. Hat denn aber nun dieser in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozeß und überhaupt: dieser >Fortschrittalt und lebensgesättigtWas sollen wir tun? Wie sollen wir leben?Beruf< ist im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarung spendende Gnadengabe von Sehern [und] Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt, - das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation, aus der wir, wenn wir uns selbst treu bleiben, nicht herauskommen können. 221 terweise stellte Maximilian Harden die Verbindung zwischen dem Tod Abrahams und dem Tod Tolstois her. Sein Vortrag zum Tod Tolstois, den er am 1. Dezember 1910 in den Sophiensälen in Wien vor mehr als 2000 Personen hielt, begann mit den Worten: »Und er starb alt und lebenssatt«. H.W. Panthel: »Maximilian Harden über Lev Ν.Tolstoj«. In: Die Welt der Slaven (1986), S. 152. Bisher konnte ich nicht ermitteln, ob Lukács oder Weber in irgendeiner Form Kenntnis von diesem Vortrag hatten, da die Parallelität in der Motiv-Verwendung doch sehr auffällig ist. Laut Panthel ist der Harden-Vortrag nicht veröffentlicht worden, so daß die Informationen nur über persönliche Kontakte in den Weber-Kreis gelangt sein können. 217 »>Kultur< ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.« Max Weber: »Die >Objektivität< sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«. In: Ders.: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 146-214, hier: S. 180. 218 Max Weber: »Zwischenbetrachtung«. In: Ders.: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (1989), S. 517. 219 Gegen Schmoller wies Weber - wie bereits oben dargestellt - darauf hin, daß Kulturwerte und Ethik in einem inneren, unauflösbaren Widerspruch stehen können. Max Weber: »Der Sinn der >WertfreiheitWer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: was sollen wir denn tun? und: wie sollen wir unser Leben einrichten?·««.222 Und Max Weber gibt darauf seine Antwort: Wer die Lösung der Lebens- und Sinnfrage sucht, der gehe nach Jasnaja Poljana oder zu einem anderen Propheten; wer aber Wissenschaft betreiben möchte, der bleibe im Hörsaal und ertrage das »Schicksal der Zeit«. Gegen das »Verflachende des >Alltagsmein Reich ist nicht von dieser Welt< (Tolstoj [...]) oder: 2) Cultur- (d.h. objektive, in technischen u.s.w. >Errungenschaften< sich äußernde Cultur-) Bejahung unter Anpassung an die soziologischen Bedingungen aller >TechnikWertfreiheitFachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu habenbis zum Pianissimo des höchsten AltersKultur< wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmmsc/ien sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.« Max Weber: »Die >Objektivität< sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«. In: Ders.: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1988), S. 180. 235 F.W.Graf: »Rettung der Persönlichkeit«. In: R. vom Bruch,F.W. Graf,G.Hübinger (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaften (1989), S. 131, verweist auf den Einfluß des »spezifisch protestantischen Persönlichkeitspathos« auf Max Webers Denken. Hier aber die säkulare Ausprägung des von Graf als spezifisch protestantisch gedeuteten Bestrebens der »Rettung der Persönlichkeit«. 207

4. Zusammenfassung : D a s Webersche »Entweder - O d e r « Das Tolstoi-Bild Max Webers setzte sich - wie ausführlich nachgewiesen - aus zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen zusammen: der direkten Tolstoi-Kenntnis im Kontext der Rußland-Studien und dem zwischen 1912 und 1914 im WeberKreis intensiv geführten Tolstoi-Ethik-Diskurs. Vertreten waren dabei - und das macht die Besonderheit der Weberschen Tolstoi-Rezeption aus - die kulturprotestantische, bürgerliche und die radikalere, anarchistisch-pazifistische Sicht Tolstois. Wie sehr es Weber drängte, etwas über Tolstoi zu sagen, beweisen seine leider nicht realisierten - Publikationspläne. Die religionssoziologischen Arbeiten nahmen jedoch grundlegende Ideen der Tolstoi-Auseinandersetzung auf und verwiesen zugleich auf eine Veränderung in der Weberschen Sicht des Christentums. Stand 1904/05 das okzidentale, weltbeherrschende Christentum des asketischen Protestantismus im Vordergrund seines Forschungsinteresses, so verlagerte sich dieses nach 1910 zunehmend auf das orientalische, weltflüchtige Christentum russisch-tolstoianischer Provenienz. Mit diesem Perspektivenwechsel wurde zugleich der aus der kulturprotestantischen Diskussion stammende Begriff der Gesinnungsethik radikalisiert und seit der »Zwischenbetrachtung« nur noch für das erfolgsverneinende Christentum verwandt. In der »Zwischenbetrachtung« arbeitete Weber die inhaltlichen Spannungen zwischen dem weltflüchtigen Christentum und der Kultur der Moderne heraus. Hinter der Chiffre von der akosmistischen Brüderlichkeitsethik verbargen sich zentrale Aussagen des tolstoianischen Christentums. Die Topoi der Tolstoi-EthikDiskussion im Weber-Kreis kamen hier vollständig zum Tragen: die Ethik Leo Tolstois wurde als Infragestellerin und Gegnerin der abendländischen Kultur - oder in Webers Worten: des okzidentalen Rationalismus - logisch durchdacht. Dem Kapitalismus und dem empirischen Rationalismus setzte sie eine spezifisch russische Brüderlichkeits- und Naturethik entgegen. Auf diese Weise wurde Tolstois Ethik als radikal weltverneinende religiöse Gesinnungsethik zu Ende gedacht. Diese idealtypische Steigerung und Überhöhung Tolstois ging in die Formulierung »die Konsequenz Tolstois« ein. Sie wurde von Weber in zweierlei Hinsicht verwandt: einmal als Kampfmittel in der tagespolitischen Auseinandersetzung. Hier machte Weber »die Konsequenz Tolstois« zum Maßstab sowohl für die Christen, die sich in ihrem politischen Handeln auf die Bergpredigt beriefen, als auch für die Anarchisten und Pazifisten, denen Tolstoi als moralische Instanz ihres Protestes galt. Der Ton wurde während des Krieges zunehmend abwehrender und polemischer. Zum anderen benutzte Weber »die Konsequenz Tolstois« als Gegenfolie zur Formulierung seines Konzepts der Verantwortungsethik. Ausgehend vom Standpunkt des Kulturmenschen nahm sie - als innerweltliche Ethik der Würde - die tragische Spannung von realistischer Weltsicht und persönlichen Werten auf. Hinter ihr stand Webers skeptische Einschätzung der Moderne als »stahlhartes Gehäuse«. In diesem ernüchternden Blick auf die Kultur der Moderne, aber auch in der Forderung nach einer rigorosen Entweder-Oder-Entscheidung zwischen Kultur und christlicher Ethik berührten sich Max Weber und Leo Tolstoi. 208

Schlußbetrachtung: Tolstoi ohne Folgen

Die Bedeutung Leo Tolstois als Kulturkritiker und Prophet für die deutsche Gesellschaft war zeitlich begrenzt auf die Jahre 1884 bis 1920 und blieb letztlich folgenlos ganz im Gegensatz zu seiner literarischen Bedeutsamkeit. Die Gründe hierfür waren ganz unterschiedlich. Mit Tolstoi konnten die Schäden der zeitgenössischen Kultur benannt werden. Das war zuallererst die soziale Frage, die in den 1880er und 1890er Jahren als das zentrale gesellschaftliche Problem empfunden wurde. Genau zu diesem Zeitpunkt wurde Tolstoi der Wilhelminischen Gesellschaft bekannt als der literarische Anwalt der »Mühseligen und Beladenen«. Das verschaffte ihm große Sympathien bei Lesern ganz unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Provenienz. Danach zergliederte sich der Zugriff auf Tolstois Lehre ganz nach dem jeweiligen Interesse und Standort. Besonders von konservativen und progressiven Kreisen wurde die Kritik Tolstois an der Kultur der Moderne in wichtigen Punkten geteilt. Konservative Protestanten und Katholiken klagten mit Tolstoi den zunehmenden Materialismus und Egoismus an, die moderne industrielle Wirtschaftsweise, den Verlust religiöser Bindung - von ihnen als kirchlicher Autoritätsverlust aufgefaßt und die chauvinistisch-imperialistischen Tendenzen in der Politik. Auf der anderen Seite stimmten die Sozialisten mit Tolstois Gesellschafts- und Kapitalismuskritik überein. Ansonsten standen die kirchlich-traditionalistischen und die orthodoxsozialistischen Kreise der tolstoianischen Ethik sehr fremd gegenüber. Beide hatten festumrissene Gesellschaftsentwürfe, so daß es zu einer vertieften und prinzipiellen Auseinandersetzung mit Tolstoi erst gar nicht kam. Das eigentliche Gewicht der inhaltlichen Auseinandersetzung lag dort, wo diese rein praktische, materiale Ebene der Kulturkritik verlassen bzw. überhöht wurde durch die Reflexion des Verhältnisses Religion und Kultur, Ethik und Kultur oder Ethik und Politik. Immer wieder stand Tolstoi bei den Ethik-Diskussionen im Mittelpunkt: Er wurde zum Topos für eine radikale ethische Haltung, die bis zum Äußersten geht; er verkörperte einen sonst nicht mehr greifbaren ethischen Rigorismus. Dieser Topos erhielt in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende eine unterschiedliche Akzentuierung: eine religiös-sozial-ethische beim protestantischen Bürgertum - hier in den Jahren 1884 bis 1914 - und eine ethisch-pazifistischsozialrevolutionäre bei den Sozialisten-Anarchisten - hier in den Jahren 1914 bis 1920. Zunächst das protestantische Bürgertum. Die Überlegungen zu möglichen religiös-ethischen oder sozial-ethischen Lösungsstrategien der sozialen Frage weiteten 209

sich hier schnell zu einer prinzipiellen Reflexion über das Verhältnis von Ethik und Kultur der Moderne aus. Die soziale Frage entwickelte sich zur Kulturfrage, das Nachdenken über die Kultur zu einem Gefühl des kulturellen Unbehagens und schließlich zur Kulturkrise. Else Jaffé-Richthofen beschrieb in einem Vortrag von 1910 den Paradigmenwechsel von der sozialen Frage zur Kulturfrage im Diskurs des Wilhelminischen Bildungsbürgertums und deutete bereits die ästhetizistische Fluchtbewegung an: Sie räumte ein, daß sich der Geist der Zeit gewandelt habe; vor zehn oder fünfzehn Jahren [1895 bis 1900] noch hätte sich jeder, vor allem aber die jungen Leute, ganz besonders für >die soziale Frage< interessiert. Doch sei diese soziale Frage heute >nicht mehr die Frage, sie ist eine unter vielen geworden; . . . breitere kulturelle Ideen nehmen unseren Geist gefangen, und vor allem, wenn wir den höchsten Wert ästhetischer Dinge erfahren, erliegen wir der Versuchung, Abstand zu wahren zu dem, was unschön und voller quälender Probleme istSoldatenpflichtKritik der Glaubenslehre«^ [Rez. zu Tolstoi: Vernunft und Dogma. Eine Kritik der Glaubenslehre.] In: Deutsches Protestantenblatt. Bremen. 34 (1901), S. 309 - 310. Anonym: »Tolstoi«. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Litteratur und Kunst. Leipzig. 60 (1901), 1. Vierteljahr, S. 98-101. Anonym: »Ein Gespräch mit Tolstoi« [Ubersetzung eines Gesprächs von Jules Huret aus dem »Figaro«] In: [Rosegger's] Heimgarten. Graz. 26 (1901), S. 146-148. Anonym [J. N(orden)]: »Zum Falle Tolstoi«, [betr. Exkommunikation Tolstois] In: Illustrierte Zeitung. Leipzig. Bd. 116 (1901), Nr. 3014 (04.04.), S. 518. Anonym: »Leo Tolstoi vom Hl. Synod aus der orthodoxen Kirche ausgestoßen!« [Texte zur Exkommunikation Tolstois] In : Der Volksanwalt. Unabhängiges Organ für den Kampf um volkstümliches Recht und zur Abwehr der Juristenherrschaft. Kiel. 4 (1901), S. 62—64. Anonym: »Pobjedonostzew, Tolstoi und Stundismus«, [betr. Exkommunikation Tolstois] In: Deutsche evangelische Kirchenzeitung. Berlin. (1901), Nr. 32, S. 274-275; Nr. 33, S. 278-280; Nr. 34, S. 286-287. Anonym [W.]: »Lew Tolstoj und seine Richter. Aus der >Rossija< vom 22. Februar 1901«. [Abdruck einer Anklage des Prokurators Mereschkowsky gegen Tolstoi wegen Gotteslästerung] In: Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. 1 (1900/01), Bd. 2 (Apr.-Sept. 1901), S. 26-28. Anonym: »Der mystische Sozialismus«. In: Neue Bahnen. Monatsschrift für Haus-, Schulund Gesellschaftserziehung. Leipzig. 13 (1902), S. 175-183,228-237. Anonym [Dr. G.]: »Zur Litteratur über Tolstoi«. In: Protestantenblatt. Wochenschrift für den deutschen Protestantismus. Bremen/Berlin. 35. Jg. des Deutschen Protestantenblattes u. 6. Jg. des Protestant (1902), Nr. 8 (22.02.), S. 61-62. Anonym [R.B.]: »Die deutsche Litteraturwetterfahne«. In: Freistatt. Kritische Wochenschrift für Politik, Litteratur und Kunst. München. 4 (1902), Heft 30, S. 338. Anonym: »Tolstoj in der Ehe«, [indirekte Wiedergabe eines Artikels vonTh. Bentzon aus der Revue des Deux Mondes] In: Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist. Hrsg. v. J.E. Frhr. v. Grotthuß. Stuttgart. 5 (1902/03), Bd. 1, Heft 1 (Okt. 1902), S. 98-99. Anonym [Fr. Mk.]: »Ein Tolstoj-Jünger« [Wladimir Tschertkow] In: Weltrundschau zu Reclams Universum. Leipzig. 19 (1903), S. 229-232. Anonym: »Tolstoi«, [insbes. Besprechung der Gesamtausgabe von Diederichs] In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Litteratur und Kunst. Leipzig. 62 (1903), 3. Vierteljahr, S. 24-34. Anonym: »Tolstoj über den Krieg«. In: [Rosegger's] Heimgarten. Graz. 28 (1904), S. 624 -626.

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Anonym [W.L.]: »Tolstois pädagogische Bestrebungen«. In: Badische Schulzeitung. Vereinsblatt des Badischen Lehrervereins, des Witwen- und Waisen-Stifts und des PestalozziVereins. Heidelberg. (1905), Nr.45 (11.11.), S. 673 -676. Anonym [inf.]: »Die erste [russische] Gesamtauflage Tolstois«. In: Allgemeine Zeitung. München. Beilage. Nr. 43 (18.03.1908), S. 342. Anonym: »Graf Leo Tolstoi«, [zum 80. Geburtstag + 1 Foto von E. Seebald] In: Die Woche. Moderne Illustrierte Zeitschrift. Berlin. 10 (1908), Bd. 3, Nr. 36 (05.09.), S. 1548,1553. Anonym: »Tolstoi zum 80. Geburtstag. Eine Rundfrage«, [u.a. beantwortet von: Wilh. Ostwald, Β. v. Suttner, O. J. Bierbaum, H. u. Th. Mann, F. Naumann] In: Die Zeit. Wien. Nr. 2138 (06.09.1908), S. 1 - 2 ; Nr.2140 (08.09. 1908), S. 1 - 2 . Anonym: »Zu Tolstois achtzigstem Geburtsfeste. Stimmen aus Oesterreich.« [u.a. Hugo v. Hofmannsthal] In: Die Neue Freie Presse. Wien. Nr. 15822 (08.09.1908), S. 3 - 4 . Anonym: »Tolstois Jubelfeier. Hierzu 8 Spezialaufnahmen für die >Woche< von C. O. Bulla«, [zum 80. Geburtstag Tolstois] In: Die Woche. Moderne Illustrierte Zeitschrift. Berlin. 10 (1908), Bd. 3, Nr. 38 (19.09.), S. 1652-1658. Anonym: »Tolstois Ehrung«. [Pressespiegel zu Tolstois 80. Geburtstag] In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. Berlin. 11 (1908/09), Sp. 39-41. Anonym: »Tolstoi und Tschaikowsky«. [Vorabdruck aus Birukows Tolstoi-Biographie, Bd. II. Wien: Moritz Perles] In: Allgemeine Musik-Zeitung. 35 (1908), Nr. 39 (25.09.), S. 667-668. Anonym [Th.E.]: »Tolstoi«. In: Das zwanzigste Jahrhundert. Organ für fortschrittlichen Katholizismus. München. 8 (1908), Nr. 39 (27.09.), S. 460-461. Anonym: »Tolstoi und Shaw«. [Bespr. von Tolstois »Macht der Finsternis«] In: Die Schaubühne. Wocehnschrift für die gesamten Interessen des Theaters. Hrsg. v. Siegfried Jacobsohn. Berlin. 4 (1908), Nr. 37, S. 213—216. [wahrscheinlich von demselben Verfasser, s.u.: »Die Macht der Finsternis«. In: Die Weltbühne 14 (1918), Bd. 1, S. 159-162], Anonym : »Leo Tolstoi über die Notwendigkeit einer seelischen Beeinflussung der Menschheit«. [Abdruck aus: Dokumente des Fortschritts. Internationale Revue. Berlin. 1 (1908) »Leo Tolstoi, Brief über den Generalstreik«] In: Volkswohl. Organ des Zentralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen. Dresden. 32 (1908), Nr. 44 (29.10.). Anonym: »Tolstoj und die Kunst«. In: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus. Lahr/Baden. (1909), S. 123-128,157-159. Anonym: »Graf Leo Tolstoi«. [Foto von C.O. Bulla] In: Die Woche. Moderne Illustrierte Zeitschrift. Berlin. 12 (1910), Bd. 4, Nr. 47 (19.11.), S. 1982-1983. Anonym: »Der Eindruck in Rußland. - Tolstoi und die Kirche. (Telegramm unseres Korrespondenten)«. In: Berliner Tageblatt. 39 (1910), Nr. 590 (21.11.), S. 2. Anonym: »Leo N.Tolstoi t«· In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt. 55 (1910), Nr. 322 (21.11.), Morgenblatt, S . l . Anonym: »Tolstoi t«. In: Berliner Börsen-Courier. Nr. 544 (21.11.1910), Abend-Ausgabe, 1. Beilage. Anonym: »Leo Tolstoi« und »Tolstois Leben und Schriften«. In: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 27 (1910), Unterhaltungsblatt Nr. 227 (22.11.), S. 906-907. Anonym: »Zum Tode Tolstois«. [Bilder] In: Die Woche. Moderne Illustrierte Zeitschrift. Berlin. 12 (1910), Bd. 4, Nr. 48 (26.11.), S. 2030. Anonym: »Leo Tolstoi t«· In: Allgemeine Zeitung. München. 113 (1910), 4. Quartal, Nr. 48 (26.11.), S. 885 -887. Anonym: »Raabe und Tolstoi«. [Pressespiegel der Nachrufe auf beide Dichter] In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. Berlin. 13 (1910/11), Heft6 (15.12.1910), Sp. 423 -430. Anonym: »Tolstojs Leben, Werke und Persönlichkeit«. In: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung. 62 (1910), Nr. 51 (16.12.), S. 605 -608. Anonym [K.]: »Tolstoi und der Buddhismus«. In: Die Buddhistische Welt. Breslau. 4 (1910/ 11), Nr.7/8, S. 163-164.

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Anonym [F.D.]: »Früchtekranz aus Dichtung und Literatur. Leo Tolstoj«. In: Westermanns Monatshefte. Illustrierte deutsche Zeitschrift für das gesamte geistige Leben der Gegenwart. Braunschweig. 55 (1910/11), Bd. 109,2. Teil, (Jan. 1911), S. 769-770. Anonym: »Tolstois Weltanschauung und Pädagogik«. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. Bd. 147 (1911), S. 280-287. Anonym: »Zu Tolstois Gedenken«. In: Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes. Hrsg. v. Gustav Landauer. Berlin/Bern. 3 (1911), Nr. 22 (15.11.), S. 169. Anonym: »Eine Vision Leo Tolstois. Aus seinem Todesjahre 1910«. [nach Lehmann-Russbüldt, Berlin, wiedergegeben] In: Internationale Rundschau. Zürich. 1 (1915), S. 270-272. [Wiederabdruck der »Vision« von Alois Kaindl, in: Psychische Studien 40 (1913), S. 517-521 u. Anonym ebd., 45 (1918), S. 511-513], Anonym: »LeoTolstoi und die Polizei«, [aus den Petersburger Polizeiakten über die Bespitzelung Tolstois] In: Die Glocke. Sozialistische Wochenschrift. München/Berlin. 3 (1917), Bd. II, S. 307-310. Anonym: »Tolstois Prophezeiung auf den Weltkrieg«. In: Psychische Studien. Monatliche Zeitschrift. Leipzig. 45 (1918), Heft 11 (Nov.), S. 511-513. Anonym: »Die Macht der Finsternis«. [Bespr. der Inszenierung von Max Reinhardt] In: Die Weltbühne. Hrsg. v. Siegfried Jacobsohn. Berlin. 14 (1918), Bd. 1, S. 159-162. Aram, Kurt: »Tolstoi als Aesthetiker«. [Rez. zu Tolstois »Was ist Kunst?«] In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. Berlin. 4 (1901/02), Heft23 (Sept. 1902), Sp. 1607-1608. Arent, Wilhelm: »Eine Wiener Stimme über Hauptmann. Tolstois Todesurteil über die >ModerneAuferstehungUnd das Licht scheinet«. [Rez.] In: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst. Hrsg. v. Friedrich Naumann. Berlin. 19 (1913), Nr. 52 (25.12.), S. 824-825. Bahr, Hermann: »Gegen Tolstoi«. [Rez. zu Tolstoi: Qu'est-ce que l'Art? Übers, ν. E. Halpérine-Kaminsky. Paris 1898] In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Nr.205 (03.09.1898), S. 155-156.

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»Tolstoi der Künstler«. In: Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes. Hrsg. v. Gustav Landauer. Berlin/Bern. 2 (1910), Nr. 23/24 (15.12.), S. 183-184. - »Tolstoi«. [Wiederabdruck von »Tolstoi der Künstler«] In: Ders.: Essays. Leipzig: Insel 1912, S. 37-39. Bartels, Adolf: »Tolstojs >AuferstehungLebensstufenchristliche< Anarchist«. [Rez. zu Κ. I. Staub: Graf L . N . Tolstois Leben und Werke. Seine Weltanschauung und ihre Entwicklung. Kempten/München: Kösel 1907] In: Zeitschrift für katholische Theologie. Innsbruck. Bd. 32 (1908), S. 613-617. Dreydorff: »Die große Frage. Unter Bezugnahme auf Nietzsche, Strauß und Tolstoi. Ein Vortrag«. In: Deutsches Protestantenblatt. Bremen. 34 (1901), Nr. 31, S. 244-245; Nr. 32, S. 250-253. Dreyfus, Albert: »Tolstoi der Künstler«. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt. 45 (1900), Nr. 134. Droop, Fritz: »Tolstoi als Pädagoge«. In: Masken. Wochenschrift des Düsseldorfer Schauspielhauses. 6 (1910/11), Heft 14 (05.12.1910), S. 221-224. 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Bespr. der Aufführung von Tolstois »Früchte der Bildung« im »Neuen Theater«] In : Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart. Berlin. 3 (1903/04), Bd. 5, Heft 4 (Jan. 1904), S. 633-636; Tolstoi: S. 634 - 635. Marilaun, Karl: »Moderne Geister. VII. Leo Tolstoi«, [zu seinem Tod] In: Die Karpathen. Kronstadt. (1911), S. 206-215. Markow, Alexis: »Zwei russische Schriftsteller«. [Tolstoi und Grigorij Petrowitsch Danilewskij] In: Illustrierte Zeitung. Leipzig. Bd. 90 (1888), Nr. 2326 (28.01.), S. 85 - 88. Masaryk.Th. G. [Prof. Dr.]: »In Memoriam. Erinnerungen an L.N. Tolstoi«, [über Besuche 1887,1888,1910] In: Die Zeit. Wien. Nr. 2934 (24.11.1910), S. 1 - 2 . Matthieu, J[ean]: »Ein Selbstverständlicher. Leo Tolstoj«. In: Neue Wege. Zeitkritisches Monatsblatt der Vereinigung der Freunde der Neuen Wege. Zürich. 9 (1915), S. 564- 572. Maurenbrecher, [Max] [Dr.]: »Das Problem des Sozialismus in Rußland«. [Rez. zu Tolstoi: Aufruf an die Menschheit. 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Register

In das Register wurden nur diejenigen P< Rezeption in Deutschland relevant waren.

tfnamen aufgenommen, die für die Tolstoi-

Achelis, Thomas 106,223,226 Acher, Mathias 226 Adelung, Sophie von 226 Aeschlimann, A. 226 Altenberg, Peter 226 Andreas-Salomé, Lou 30,52,226 Aram, Kurt 230 Arent, Wilhelm 230 Arnold, Eberhard 144 f. Avenarius, Ferdinand 2,54 f., 102 f., 105, 107,230 Axelrod, Esther Luba 51,119,123,223, 230

Berg, Leo 54,231 Bergson, Henri 3,42,100 Berndl, Dora 43,45 f. Berndl,Ludwig 43,45f.,232 Berneker, Erich 223 Bernstein, Eduard 98,128f., 135,256,259 Besser,Leopold 93,232 Bettelheim, Anton 232 Biedenkapp, Georg 232 Biijukow, Pawel Iwanowitsch 31,142 Blau, Paul 232 Bleibtreu, Karl 53 f., 63,153,232 Blennerhassett, Charlotte 64,232 Bley, Fritz 63,232 Blum, Emil 145,223 Blumenthal, Oskar 232 Bode, Wilhelm 15,36,42,68,70,73,81, 104,142,223,232 f. Boeke, Cornelius 144 Bölsche,Wilhelm 53,55,233 Boerschel, Ernst 233 Bogeng, Gustav Adolph Erich 233 Bonus, Arthur 67,103,233 Brahm, Otto 53,55,233,256 Brandes, Georg 234 Brausewetter, Artur 234 Brentano, Lujo 93-95,113,160 Brüggen, Ernst von der 64,234 Bubnoff, Nikolai von 107,175-177,234, 256

Bab, Julius 55,140,230 Bäumer, Gertrud 2f., 69,173,230,256 Bahr, Hermann 64,147,230 Bakunin, Michail Aleksandrowitsch 98, 139,151 Bartels, Adolf 107,231 Barth, Karl 82,116 Barth, Theodor 52 BartuSkieviC, Vinzenz 51,223 Basedow, Hans von 61,231 Baudelaire, Charles 171,190,201 Bauer, Erwin 231 Baumgarten, Otto 81 f., 181,256,267 Baumgartner, Alexander 87,231 Becher, Johannes R. 231 Beck, H. 61,223 Beck, P. 231 Beermann, Max 4,231 Behm, Heinrich 69,71,231 Behr, Curts. Kühnemann, Eugen Behr, Sophie 35 Behrs, Sophia Andrejewna s. Tolstoja, Sophia Andrejewna Beljajew, Jurij 231 Bell, Konrad 142,231 Benrubi, Isaak 231 Berdrow, Wilhelm 231 Berendt, Gerhard 82,143,231

Buek, Otto 43,45,130,143,154,185 Bülow, Frieda von 234 Bulgakov, Valentin Fjodor 2,145,167, 223,234 Carlyle,Thomas 100,151 Chesterton, Gilbert Keith 234 Chojnacki, Pierre 126,256 Christaller, G. 234 Cohen, Hermann 45,117,126-128,132, 134,185 f., 256 Conrad, Michael Georg 53f.,63,103,234

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Coralnik, Α. 234 Crome, Η. 83-85,234 Crümwell, G. Α. 234 Czumikow, Wladimir 26,38f., 234 Daab, Friedrich 107,234 Damaschke, Adolf 101,234 Danilewskij, Grigorij Petroviö 66,235 Daskaljuk, Orestes 82,235 David, Jakob Julius 235 Davidson, E. 235 Delbrück, Hans 52,76 Diederichs, Eugen 39 -46,55,58,100,103, 219-221,256,264 Diehl, Karl 94,98,256,259 Donat, Josef 88,235 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 24 f., 35,87,110,116,127,139,157,171, 173-176,178-181,211 Dreydorff, Johannes Georg 66,71,74,235 Dreyfus, Albert 235 Droop, Fritz 235 Dukmey er, Friedrich 63,223,235 Eberlein, Hellmuth 82,235 Eeden, Frederik van 143,147f.,235 Ehrenfels, Christian von 235 Eiche, Hermann 71,73 f., 235 Eisner, Kurt 4,90,113,117,123,130-136, 148,152,158-161,166,185,197,211,235, 256,263 Elsenhaus 66,71,235 Eitzbacher, Paul 98,141,235 Ephron, Heinrich 235 Erdberg, Robert von 257 Eremita 235 Ernst, Paul 47,54,63,96,109,223,235 f. Ettlinger, Anne 223 Eulenberg, Herbert 31,236 Ewald, Oscar 236 Faas-Hardegger, Margarete 184 Feilbogen, Sigmund 93 f., 236 Finger, Bruno 223 Fischer, Hans 236 Flachs, Adolf 236 Flourens, Pierre 236 Foerster, Erich 77,257 Foerster, Friedrich Wilhelm 3,89,112f., 134,158,160,257 Foerster, Wilhelm Julius 89,93,132 Fraenkel, Hans Albrecht 223 Frank, H. 236

270

Frank,Sofie 236 Freimark, Hans 223 Frenzel, Karl 236 Frick, Ernst 143,178,183 f. Fried, Alfred Hermann 112f.,236 Friedeil, Egon 153,236 Friedlaender, Albert 236 Gadebusch, Arthur 236 Galetzki, Th. von 236 Gandhi, Mahatma 6,31,114,116,145, 167,212 Ganz, Hugo 62,64,236 Garborg, Arne 53,237 Gastrow, Paul 66,68-70,72-74,101,223, 237 George, Henry 27,100,169 Gerold, Sabine 237 Geyer, Christian 237 Gide, Charles 101,237 Giessler, Willy 223 Gierke, Otto (seit 1911) von 98,257 Gizycki, Georg von 89 -92,237 Glasenapp, Gregor von 108,237 Gleichen-Rußwurm, Alexander von 237 Glogau, Gustav 71,223 Godwin, William 98,139 Goldberg, Richard 237 Goldman, Emma 147,237 Goldschmidt, Alfons 96,223 Goldschmidt, Arthur 94,237 Gorki, Maxim 32,175,237 Gottschalk, Hermann 2,49,237 Gräser, Gustav Arthur 142 f. Gräser, Karl 142f. Graff, Paul Wilhelm 36 Gross, Otto 45,150,182-184 Gross-Schloffer, Frieda 182-184 Groß, W. 237 Grot .Nikolai Jakowle witsch 108 f., 224 Grottewitz, Curt 2,48,57,106,237 Grotthuß, Jeannot EmilFreiherrvon 71, 73,103 f., 237 Günzburg, J. 237 Gussew, Nikolai Nikolajewitsch 27,98,238 Gyurkovechky, Victor 61,224 Haas, Karl 238 Hacks, Franz 238 Halberthal, Awrum 224 Halm, Hans 36,40,238 Halpérine-Kaminsky, E. 238 Hammer, Fritz 47f.,53,238

Hansson, Ola 53,238 Harden, Maximilian 2,6,52,55,155,162, 205,238,266 Harnack, Adolf (seit 1914) von 2,66,70, 72,75 f., 87,98,102,115,181,257 Harnack, Otto 25,48,62,64,238 Hart, Heinrich 42,54 f., 109,137,238,257 Hart, Julius 42,54f., 63,107,137,224,238, 257 Hartmann, Alma von 239 Hassell, Ulrich von 82f.,239 Hauptmann, Gerhart 52,94,136,151,155, 239,264 Hausmann, Raoul 110,239 Heidenstam,Vernervon 62,239 Heilborn, Ernst 239 Heim, Karl 239 Heimann, Moritz 94,239 Heibig, Nadine 239 Henckel, Wilhelm 224,239 Herbert, M. (= Therese Keiter) 239 Herkner, Heinrich 94,96,98,257 Herrmann, Wilhelm 2,74-77,79,111, 115,182,191,257 Herzfeld, Marie 53f.,239 Herzog, Wilhelm 11,113,135,153,156, 159,239 f. Heß, Adolf 240 Hessen, Robert 240 Hessen, Sergius 175,240 Hey, Siegfried 30,240 Hirsch, Emanuel 108,257 Höber, Eduard 240 Hönig, Wilhelm 65,258 Hofmann, Ida 142f. Hofmannsthal, Hugo von 240 Holl, Josef 88,240 Holl, Karl 108,224 Hollaender, Felix 55,137,240,257 Holthof, Ludwig 240 Holtzmann, Heinrich 66,71,77,240 Holz, Arno 53 f., 96 Holzmann, Johannes 45,154 Honigsheim, Paul 174-177,258 Hopfen, Otto Helmut 240 Hornemann, Ferdinand 71 f., 240 Hürner, Albert 240 Ibsen, Henrik 53,109,131,136 Ignotus 240 Illgenstein, Heinrich 154 Ischak-Rubiner, Frida 154,156 Iwanow, Wjatscheslaw 171 f., 241

Jacobsohn, Siegfried 153 Jaffé-Richthofen, Else 182,185,210,264 Jegorow, Wassilij 241 Jentsch, Karl 63,241 Jodl, Friedrich 89,91,109,241,258 Jouve, Pierre Jean 113,241 Kaberlin 63,241 Kämmel, Otto 241 Kahl, Gerhard Karl 105,241 Kahle, Adolf W.J. 241 Kaindl, Alois 241 Kalkschmidt, Eugen 241 Kana, Heinrich 241 Kant, Immanuel 66,75,79,116,125-127, 129,131,134,166,178,192,195 f., 211 Katscher, Berta 241 Kautsky, Karl 2,52,90,98,117-121, 123-126,130,132,134f„ 140,186,241, 258f.,263,265 Kent, M. 241 Kern, J. 242 Kerr, Alfred 62,242 Klassen, Hans 145 Kleinen, Paul 71,242 Kniepf, Albert 53,242 Koeber, Raphael von 224 Kohut, Adolph 4,242 Koni, A. Th. 242 Kotljarewski, AlexandroviC 242 Kraus, Karl 131,150,153 Krebs, Robert 224 Kretschman, Lily von 91,242 Kropotkin, Peter 98,138,147,184 Kühne, Walter 224 Kühnemann, Eugen 61,103 f., 224,231,242 Külpe, Ernst 83,242 Kulke, Eduard 242 Lachmann, Hedwig 138,146,242 Lagarde, Paul de 7 Land, Hans 242f. Landauer, Gustav 2,4,38,45 f., 55,96, 113,117,130,134,136-141,143f., 146-150,158-164,166f., 184,211 f., 243, 257 f., 264f. Langbehn, Julius 7,42 Laurila, Kaarle Sanfrid 243 Lehmann-Rußbüldt, Otto 243 Leixner, Otto von 49,63,243 Lemke, Hermann 105,107,243 Lemmermayer, Fritz 243 Lempp, Otto 224 271

Lenin, Wladimir Iljitsch 11,124f., 145, 151,166,224 Leviné, Eugen 164,175 Lewinsky, Joseph 243 Lezius, Friedrich 82,243 Liebster, Georg 40,243 Liegler, Leopold 114,243 Lienhard, Fritz 243 Löwenfeld, Raphael 4,12,14f., 17,19,31, 34 f., 37,39-43,48,58,142,224,244 Loewenthal, Wilhelm 69f.,244 Lombroso, Cesare 25,244 Lorenz, Felix 106,224 Lorenz, Max 244 Lorm, Hieronymus 64,244 Liibben, Ernst 224 Liihr, Karl 244 Lukács, Georg 175,177-180,204f., 211, 258,262,264 Luther, Arthur 244 Luxemburg, Rosa 2,118f., 121f., 124,126, 135,155,244f. Malaschitz, Matthias 184 Mann, Heinrich 55,113,160,245 Mann, Klaus 159 Mann,Thomas 111,113,245,259 Manz, Gustav 245 Marilaun, Karl 64,245 Markow, Alexis 245 Marx, Karl 116,120,127 f. Masary k, Tomáá Garrigue 245 Matthieu, Jean 113,245 Maurenbrecher, Max 2,80,245 Mausbach, Joseph 87,259 Mauthner, Fritz 55,136 f., 147 f., 245 Meerheimb, Henriette von 245 Megrian, Arsak 106,224 Mehring,Franz 55,90,118f., 121f., 124, 126 f., 152,245,259 Meincke, Rudolph 224 Meinert, Heinrich 50,245 Meissner, Carl 64,245 Mereschkowski, Dmitri 110,224,245 Meschtscherski, Wladimir 245 Meß, Friedrich 245 Meyer, Richard M. 245 Meyer-Benfey, Heinrich 11,69,103f., 245 f. Michels, Robert 45,130f., 135,185f., 195 f., 206,259 Minski, Nikolai Michailowitsch 71,153, 246

272

Mitrofanoff, Paul von 246 Moeller van den Bruck, Arthur 2,110,246 Montanus 246 Morburger, Carl 142,246 Morosow, Wassilij 224 Mühsam, Erich 2,4,45,113,117,130,138, 143,146f., 149-152,154,156,159-167, 179,184,211 f., 246,259,262,264 Müller, Johannes 67,71,77,80f., 246 Münchhausen, Max von 246 Münster, Karl 224 Muth, Carl 87 Muthesius, Karl 105 f., 246 Natorp, Paul 127,259 Naumann, Friedrich 2,52,67,75,79-81, 90,101,115,131 f., 170,181,197,246,257, 259,267 Necker, Moritz 246 Netter, Oscar 93,246 Nettlau,Max 6,44f., 55,136-138,144, 147f., 167,184,259 Neumann 246 Newmarch, Rosa 247 Nicolaides, Cleanthes 247 Nietzsche, Friedrich 3,7,42,44,55,61,66, 68,77,81,100,107-110,116,131,138f., 157,171,197f., 203,259,267 Nikolajew, I. 53,247 Nissen, Momme 53,247 Nötzel, Karl 28,145,224,247 Nohl, Johannes 45,147,150,247 Nordau, Max 54,61,247 Nordbeck, Gesine 173,259 Norden, J. 58,247 Nowak, Karl Friedrich 247 Oedenkoven, Henri 142 f. Oehl, Wilhelm V. 57,87,247 01den,Hans 53,247 Oppenheimer, Franz 94,100f.,247,259f. Ortt, Felix 143f.,247 Pantenius, Theodor Hermann 49,247 Pastor, Willy 247 Penzig, Rudolph 89f.,92,247f. Perlmutter, Salomea 119,123,248 Petsch, Robert 77,257 Pewsner, Golda 51,106,225 Pfeiffer, Franz 82f.,248 Pfemfert, Franz 38,45,153-156,166,179, 248,260 Pfleiderer, Otto 248

Philippi, Fritz 107,248 Piloty, Robert 248 Polensky, Karl 105,248 Polonsky, Georg 129,225,248 Poppenberg, Felix 248 Poritzky, J. Elias 248 Prévôt, René 248 Proudhon, Pierre-Joseph 14 f., 96,98,139 Radbruch, Gustav 98f., 149,152,175,260 Rade, Martin 40,66,103,248,257,266 Ragaz, Leonhard 113,144 Raich, Maria 248 Ramm, Alexandra 154 Rappoport, Charles 119,121-124,127f., 248 Ratuszny, Anton 15,225 Rauber, August 225 Regener, Edgar Alfred 248 Reichel, Hans 40,249 Repke, Johannes 84,225 Reventlow, Franziska zu 150,183 f., 263 Richthofen, Else von s. Jaffé-Richthofen, Else Rittelmeyer, Friedrich 57,67,69,71-73, 109,225,249 Ritter, Carl 40 f., 249 Rjepin, Ilja 249 Rockel, Max 249 Roeckner, Arnold 94,249 Rösener, Karl 73 f., 249 Rolland, Romain 11,14,96,113 f., 148, 151,225,249 Roskoschny, Hermann 43 Rousseau, Jean-Jacques 1,12f., 15,57,62, 105 f., 147,151 Rubiner, Ludwig 154 f., 249 Ruskin, John 42,133 Saitschick, Robert 87 f., 225,249 Salomon, Ludwig 249 Saiten, Felix 249f. Saltikoff, Andrei 250 Samson-Himmelstjerna, Hermann von 34,49,225 Samtleben, Gustav 250 Samuel, Salomon 4,250 Schach, Fabius 4,250 Schapire-Neurath, Anna 225 Schaukai, Richard 250 Schering, Emil 250 Schestow, Leo 225 Schlaikjer, Erich 118,250

12,

Schienther, Paul 53,250 Schloffer, Frieda s. Gross-Schloffer, Frieda Schmidt, Ferdinand Jakob 70,73,250 Schmidt, Julian 250 Schmidt, Wilhelm 83 f., 250 Schmitt, Eugen Heinrich 33,42-44,57f., 92,106-108,110,142,153,184,225, 250f., 260 Schmoller, Gustav 93 f., 97,101,115,197, 205,260 Scholz, August 39,251 Schrempf, Christoph 66f.,70f.,251 Schroeder, Félix 101,225 Schroeder, Leopold 251 Schulz, Friedrich Wilhelm 251 Schulze-Gävernitz, Gerhart von 94-97, 257,260 Schumann, Wolfgang 251 Schur, Ernst 225 Schwann, Mathieu 251 Schweichel, Robert 117f., 121f.,251 Seibt, Georg 82,251 Selbst, Wolfgang 251 Seligmann, Rafael 251 Sellière, Ernest 251 Seinah 251 Sergejenko, Alexej Petrowitsch 25,225 Servaes, Franz 51,62,252 Seuron, Anna 225 Seydl, Ernst 48,85,88,109,252 Siemsen, Anna 252 Simmel, Georg 3,99,138,169,177,266 Sinceras, Α. 252 Skarvan, Albert 28,44,143 Snegirew, Wassilij Feodorow 252 Sohm, Rudolph 99,264 Sombart,Werner 90,94,96f.,260 Sorge, Christiane 225 Spiro, L. 27,98,238 Ssologub, Fjodor 252 Stampfer, Friedrich 129,252 Stange, Carl 83 f., 252 Staub, Konstantin Iwanowitsch 49,51,87, 225,252 Staudinger, Franz 90,127,260 Steeger, Anton 88,252 Steiger, Edgar 119,252 Stein, Ludwig 100,252 Steiner, Rudolf 67,252 Stellmacher, Käte 252 Stepun, Fedor 175 f., 260 Stern, H. 105,107,253 Stern, Simon 4,225 273

Sternheim,Thea 155,253 Stieler, Hilde 155,253 Stöcker, Adolf 40,82,84,253 Stranz, Moritz 99,253 Straskraba-Czaja, Wladimir 143 Strecker, Karl 62,104,253 Streltzow, Roman 129,132,253 Strenge, Ernst 36 Stübe, Rudolf 69,253 Stückelberger, L. 113,253 Suttner, Bertha von 6, U l f . , 151,262,264 Teichert, Adolph 253 Teneromo, J. 225,243 Tews, Johannes 93,253 Thieß, Frank 253 Titius,Artur 78f.,253,257 Tönnies, Ferdinand 89f.,93f.,99, 169-171,195,260f. Toller,Ernst 4,96,117,130,135,148f., 156-167,179,186-188,211,261,263 Tolstoi, Ilja 253 Tolstoja, Alexandra Andrejewna 179,253 Tolstoja, Sophia Andrejewna 15,19, 30-34,225,253 Tolstoi-Teneromo 253 Traub, Gottfried 66,73,75,261 Trepplin, Georg 254 Troeltsch, Ernst 2,67,77 f., 115,169 f., 181 f., 191,210,261,263 Trotzky, Leo 121 f., 254 Tschertkow, Wladimir Grigorjewitsch 31f.,34f.,39,45f., 142 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 14,25,35, 63f.,66,69,103 Veer, Jan K. van der 28,143 Vorländer, Karl 113,123,126f., 134,261

274

Wadkowsky, Michael 51,225 Wäldin-Kobe, L. 106,254 Waiden, Herwarth 153 Waldersee, Elisabeth 254 Walter, Michael 51,96,225 Warmuth, Kurt 72,74f„ 108,254 Weber, Alfred 94,100 Weber, Marianne 61,97,157f., 168, 172-174,178,181-189,196,198,207,261 Weber,Max 2,4f., 13,42,61,80,90,94f., 97f., 132,156-158,162,165,167-208, 210,212,261-267 Weber-Lutkow, Hans 254 Websky, Julius 254 Weinel, Heinrich 76f.,80,257 Weiss, Edmund 4,254 Weißenfels, Marie 53f.,254 Weis-Ulmenried, Anton 254 Wenck, Martin 254 Wenckstern, Adolph von 254 Wendland, Hans 50,254 Wendland, Johannes 73,109,255 Wergun, Dmitry 94,255 Widmann, Joseph Viktor 255 Wiercinsky, Felix 255 Wille, Bruno 53 -55,96,136,255 Wittgenstein, Ludwig 2,262 Wohlbrück, Olga 255 Wohlfarth, Paul 255 Wolff, Theodor 55,255 Wolff, Walther 255 Wolynoff, Wladimir Michailowitsch Wolynski, Akim L'voviö 255 Zabel, Eugen 2,64,225,255 Zacharias, Fina 255 Zagoskin, Nikolaus 255 Zschorlich, Paul 107,255

255