Sinnenwelt und Weltseele: Der psychologische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende 9783110923803, 9783484181250


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German Pages 399 [400] Year 1993

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Table of contents :
Einleitung: Seelischer Sensualismus im Fin de Siècle
1. Ricarda Huchs Romantik
2. Sinnenwelt und Weltseele. Zu den Voraussetzungen von Psychophysik und Panpsychismus um 1900
2.1. Sinnesphysiologische Erkenntnistheorie
2.2. Gustav Theodor Fechner
3. Psychophysik: Physik der Seele – Beseelung des Physischen
4. Induktive Metaphysik
4.1. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren in der Natur: Eduard von Hartmann
4.2. »Am Leitfaden des Leibes«: Aspekte von Friedrich Nietzsches Naturphilosophie
4.3. Gebärden der Seele: Maurice Maeterlincks ›Philosophie des Unbewußten‹
5. Immaterielle Agenden. Der Spiritismus als eine ›Biologie des Jenseits‹
5.1. ›Seele‹ und ›Lebenskraft‹. Stichpunkte zur Tradition des biologischen Denkens
5.2. Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften
6. Der literarische Monismus
7. Kontemplation der Idee – Einfühlung des Lebens. Stationen der Umdeutung von Schopenhauers Ästhetik
8. Organologisches Sehen oder die Verdichtung der Welt zur ›Umwelt‹: Rainer Maria Rilke
9. Naturalismus, Sensualismus und Mystik: Gerhart Hauptmann
10. Monismus jenseits des ›Wohnlands der Seelen‹: Robert Musil
11. Die Angst der Kreatur: Obstfelders Tagebuch eines Priesters und Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
12. Der ›Geist‹ als Träger des ›Lebens‹: Ricarda Huchs Roman Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri
13. Das ›Leben‹ als Träger des Geistes: Die Wiener Moderne (Hugo von Hofmannsthal)
14. Zusammenfassung und Ausblick: Die Moderne als monistische Bewegung
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Sinnenwelt und Weltseele: Der psychologische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende
 9783110923803, 9783484181250

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Monika Fick

Sinnenwelt und Weltseele Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Germanistischen Fakultät der Universität Heidelberg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele : der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende / Monika Fick. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 125) NE: GT I S B N 3-484-18125-7

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. K G , Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Seelischer Sensualismus im Fin de Siècle

ι

ι. Ricarda Huchs Romantik

21

2. Sinnenwelt und Weltseele. Zu den Voraussetzungen von Psychophysik und Panpsychismus um 1900 2.1. Sinnesphysiologische Erkenntnistheorie 2.2. Gustav Theodor Fechner Mundus symbolicus Fechner-Rezeption um 1900 3. Psychophysik: Physik der Seele - Beseelung des Physischen.

33 33 37 37 44 . . .

49

4. Induktive Metaphysik 4.1. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren in der Natur: Eduard von Hartmann Rückblick: Das Unbewußte im psychophysischen Parallelismus. 4.2. »Am Leitfaden des Leibes«: Aspekte von Friedrich Nietzsches Naturphilosophie 4.3. Gebärden der Seele: Maurice Maeterlincks >Philosophie des Unbewußten
Biologie des Jenseits< 5.1. >Seele< und >LebenskraftUmweltWohnlands der Seelenc Robert Musil . .

.

262 V

11. Die Angst der Kreatur: Obstfelders Tagebuch eines Priesters und Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

300

12. Der >Geist< als Träger des >LebensLeben< als Träger des Geistes: Die Wiener Moderne (Hugo von Hofmannsthal)

335

14. Zusammenfassung und Ausblick: Die Moderne als monistische Bewegung

354

Literaturverzeichnis

367

Namenregister

389

VI

Einleitung: Seelischer Sensualismus im Fin de Siècle

Der Aufbruch in die >Moderne< stellt sich von heute aus gesehen dar als ein Aufbruch in offene Horizonte. Als eine Zeit des >Untergangs und Ubergangs< (Erich von Kahler1) ist die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert charakterisiert; alte Sicherheiten und Bindungen zerfallen, neue Entwürfe werden erprobt. Nietzsche verkündete den Tod Gottes; in der Reflexion über das unvertilgbare religiöse Bedürfnis des Menschen, die daraufhin anhebt, rücken die verschiedenen historischen Religionen als gleichberechtigte, aber auch gleich willkürliche und zufällige, Ausprägungen dieses Grundbedürfnisses ins Blickfeld. Das Ende der Metaphysik verkündet Dilthey; 2 er skizziert zugleich eine Typologie der möglichen Weltanschauungen,3 dadurch dem Pluralismus ein gedankliches Fundament gebend: Wiederum öffnet sich mit der Erkenntnis vom Scheitern der umfassenden Systeme der Blick in das Unbegrenzte der Vielfalt. Als das hervorragende Beispiel für die Auflösung des als >sicher< Angenommenen werden immer wieder die Entdeckungen der modernen Naturwissenschaften, namentlich der Physik, genannt: Mit der Bestimmung der Materie als Erscheinungsform der Energie sei der Mensch buchstäblich aller festen Anhaltspunkte, der sinnlichen Basis zur geistigen Orientierung, beraubt worden.4 Schopenhauer hatte als das Wesen der Welt nicht den >GeistModerneModerneDing an sichGeist< und >Trieb< vgl. Thomas Manns Schopenhauer-Essay (1938) in: Leiden und Größe der Meister. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. u. mit Nachbemerkungen versehen von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1982. S. 664ÍÍ. Bes. S. 709, 713. 6 Hinweise Freuds auf Schopenhauer finden sich in der Traumdeutung und im Gesamtwerk; vgl. bes. Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917). Zum Thema siehe auch Thomas Manns Essay Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929). 7 Umfangreiches Material bei: Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Ins Deutsche übertragen von Gudrun Theusner-Stampa. 2 Bde. Bern/Stuttgart/Wien 8

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2

1973Hermann Bahr: Das unrettbare Ich. In: H.B.: Dialog vom Tragischen. Berlin 1904. S. 79-101. Etwa: Frank Trommler (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 8: Vom Naturalismus zum Expressionismus. 1880-1918. Reinbek b. Hamburg 1982. (Umfangreiche Bibliographie). In der Sehnsucht nach »Entgrenzung« sieht Helmut Koopmann ein hervorstechendes Merkmal der Literatur der Jahrhundertwende: Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900. In: Roger Bauer u.a. (Hrsgg.): Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 35). Frankfurt/M. 1977. S. 73-92.

so viele Bereiche des Lebens und des Wissens prägte. Kennzeichnet doch gerade die repräsentativen Werke der Epoche das Experiment mit der Form. Durch den Gegensatz zur herrschenden Formtradition definieren sich die einander ablösenden Strömungen der >ModerneModerneTotalität< gekennzeichnet sei (G.L.: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. [Sammlung Luchterhand 36]. 9. Aufl. Darmstadt 1984.). Lukács wiederum knüpft an Georg Simmeis Sicht der »Moderne« an, wenn dieser die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches als Antworten auf den »Verlust des absoluten Lebenszweckes« begreift (G.S. : Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus. Leipzig 1907. S. iff.). - Ferner vertreten (u.a.) die dargestellte Argumentationslinie: Albert Soergel/Curt Hohoff: Dichtung und Dichter der Zeit. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Neuausgabe Düsseldorf 1963. 2. Bd. S. 23ff. (bezogen auf den Expressionismus); Erich von Kahler: Untergang und Übergang in der epischen Kunstform. Auf das Nebeneinander von >Pessimismus< und >Destruktion< einerseits, einen Optimismus andererseits, durch den die Verdunkelung der Existenz aufgefangen werden soll, verweist Gerhard Masur: Prophets of Yesterday: Studies in European Culture 1890-1914. New York 1961 (deutsch: Alfred Dunkel [Übers.] 1965).

3

sieht hineinkomponiert ist in eine Moskauer Straßenszene. Den Hintergrund bilden Farbkreise, die unmittelbar an Kandinskys späte Improvisationen und >Klänge< gemahnen: Ein großer schwarzer Fleck schwebt rechts über der Dame; sein oberer Rand bricht sich in einer vielfarbigen Aura. Die Frau selbst ist von einer grünfarbigen Mandorla umgeben; zu ihrer Seite lösen sich die gegenständlichen Konturen in einen Wirbel rosaroter Farbtupfer auf. Ringbohm und, in Anschluß an ihn, Friedhelm Wilhelm Fischer'3 haben aufgezeigt, daß es sich bei diesen scheinbar >nur< dekorativen Kompositionselementen um eine Versichtbarung okkulter Phänomene handelt. Kandinsky, so wies es Ringbohm 14 nach, schöpft geistige und visuelle Anregungen aus den Veröffentlichungen Rudolf Steiners, der Mme Blavatsky und Annie Beasents. Außerordentlich bewandert in der okkulten und theosophischen Literatur, hat der Maler nachgerade eine spiritistische Ikonographie< geschaffen; die farbigen Auren und Mandorlen >veranschaulichen< die Vorstellungen vom >Astralleib< und von den >GedankenformenFinsternis< der materialistischen Weltanschauung die Rede. Der Text ist durchsetzt von Anspielungen, die auf eine esoterische Auffassung Kandinskys vom >Erwachen der Seele< schließen lassen; in dem Bild Dame in Moskau wäre dann die malerische Verdichtung dieser Gedankengänge zu sehen. Friedhelm Wilhelm Fischer versteht den Zusammenhang zwischen dem Spiritismus und der abstrakten Kunst als eine Bestätigung seiner These: »[...] die gegenstandslose Kunst ist der gefundene Stein der Weisen, der Stoff in Geist verwandelt. Und etwas strenger gefaßt kann die Sache auch bedeuten: Reduktion der Schöpfung aufs Absolute.« 1 ' Er folgt darin der Selbstauslegung des Malers. Doch ist zu fragen, ob solche Visualisierung des Unsichtbaren nicht auch den materialisierenden* Zugriff auf es impliziert? Nicht im Symbol, nicht als Allegorie: nicht in einem irdischen >Zeichen< wird das >Geistige< und >Jenseitige< sichtbar gemacht. Vielmehr soll es in den ungegenständlichen Figurationen unverstellt aufleuchten. Dem entspricht die Uberzeugung Kandinskys als Künstlers, daß die abstrakten Formen nicht beliebig gewählt werden, sondern notwendig entstehen, daß ein inneres Gedankenbild in den abstrakten Kompositionen seinen eigentlichen und einmaligen Ausdruck findet. Unsere Optik wird gestützt durch die Herleitung der Idee dieser Kunst aus dem Spiritismus, dessen zentrale Denkform diejenige der >Materialisation< des Immateriellen ist. Kandinsky zeiht die positivistische Wissenschaft der Unfähigkeit, die übersinnlichen Phänomene anzuerkennen; die »Nichtmaterie« definiert er als »Materie«, »die unseren Sinnen nicht zugänglich« IJ

Ich referiere im folgenden Friedhelm Wilhelm Fischers Thesen: Geheimlehren und moderne Kunst. Z u r hermetischen Kunstauffassung von Baudelaire bis Malewitsch. In: Roger Bauer u.a. (Hrsgg.): Fin de siècle, S. 3 4 4 - 3 7 7 . Z u Kandinsky S. }64ÍÍ.

14

N a c h Fischer, der sich auf Ringbohm beruft: Geheimlehren und moderne Kunst, S.jij. Fischer: Geheimlehren und moderne Kunst, S. 362.

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ist.16 Das heißt aber auch: Was außerhalb der Sinne liegt, wird von ihm immer noch als >Materie< gefaßt, wobei allerdings ein gewandelter Begriff der Materie zuzugeben bzw. vorauszusetzen ist.17 Einen Schritt näher an das Thema unserer Untersuchungen heran führt ein Beispiel aus dem französischen Symbolismus: Odilon Redons phantastische Imaginationen der Mikroorganismen. Friedhelm Wilhelm Fischer zeigt, wie diese Bilder gesehen werden können als Verbildlichungen einer spiritistischen Evolutionstheorie: einer Theorie vom allmählichen Aufstieg der Seelenmonade zum vergeistigten Leben, nachdem sie in der >Involution< gesunken sei in die >Niederungen< des stofflichen Daseins,18 Die darwinistische Naturlehre, so kann Fischer plausibel machen, werde einem okkulten Modell ein- und untergeordnet; damit aber wird, da keine kritische Abgrenzung gegenüber dem Darwinismus erfolgt, zugleich das biologische Muster hineingetragen in den Bereich des Übersinnlichen. Wiederum enthüllt sich eine hintergründige Identität des >Abstrakten< mit dem Sinnlich-Konkreten: Die Chiffre des >Geistes< (>SeelenmonadeEwige< bannender Form und Lebensverneinung. Um so erhellender ist es, daß er dennoch die Abstraktion, das gegen die Natur Gerichtete, aus dem organischen Lebensvollzug herleitet. Jedes geistige Verhältnis habe seine physische Bedeutung. Die Gesetzmäßigkeit, die er in der abstrahierenden Gestaltungsweise erkennt, identifiziert Worringer mit dem Bildungsgesetz der anorganischen Natur. Dieses Bildungsgesetz jedoch, das in seiner Einfachheit die >Erlösung< verheiße, klinge noch »in unserem menschlichen Organismus« »wie eine leise Erinnerung« 1 ' nach. Das »eine wird man zugeben müssen, daß das Kennzeichnende und Auszeichnende der geometrischen Abstraktion die Notwendigkeit ist, die wir aus den Voraussetzungen unseres Organismus heraus in ihr fühlen.« 20 Wiederum begegnet die Scheu,

' e Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst. Mit einer Einführung von M a x Bill. 10. Aufl. Bern 1952. S. 41. 17

Z u m Verhältnis von Abstraktion und Mimesis siehe: Christa Saas: Kandinsky und Trakl. Z u m Vergleich der Abstraktion in der Modernen Kunst und Lyrik. In: Gerald Chappie and Hans H . Schulte (Ed.): The Turn of the Century. German Literature and Art. 1 8 9 0 - 1 9 1 5 . (Modern German Studies 5). Bonn 1981. S. 3 4 7 - 3 7 6 .

18

Friedhelm Wilhelm Fischer: Geheimlehren und moderne Kunst, S. 347ÍÍ.

' ' Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. (Serie Piper 122) 2. Aufl. München 1981. S. 72. 2

° Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 72.

5

die transzendierende Energie von ihrer sinnlichen Basis zu trennen. Daß es schließlich das Stilwollen der Jugendstil-Künstler ausmacht, in der Abstraktion das Dynamische der Natur, ihre bildenden Kräfte, mit sinnlicher Intensität zur Anschauung zu bringen, bedarf keiner besonderen Begründung. 21 Ein eigentümlicher >Wirklichkeitswert< kommt auch hier Abstraktion und Stilisierung zu. Nina Parris etwa konnte nachweisen, daß Häckels Buch über die Welt der Mikroorganismen, die Kunstformen der Natur (1900; Vorwort 1899), maßgeblichen Einfluß ausübte auf Hermann Obrists Theorie der dekorativen abstrakten Kunst." Wie solchermaßen in der Tendenz zur Abstraktion um 1900 (auch) das Bestreben erkannt werden kann, einen sinnlichen Bezug zu der >neuen< Wirklichkeit herzustellen sowie das Sinnliche und das Schöpferische zu einer Einheit zu binden, so läßt sich umgekehrt in der Richtung, deren erklärtes Ziel die voraussetzungslose Vergegenwärtigung der Wirklichkeit zu sein scheint, eine Tendenz zum Ubersinnlichen entdecken: in der impressionistischen Malerei. Deutlich wird dies an Bahrs Interpretation des Phänomens. In dem in der Essaysammlung Dialog vom Tragischen (1904) enthaltenen Impressionismus-Aufsatz, der als Zeitdokument und -analyse klassischen Rang besitzt, legt er den impressionistischen Stil aus als die >Versichtbarung< der Philosophie Machs, die wiederum er als die »Philosophie des Impressionismus«*5 begreift. Die >Entgrenzungenüberwirklichen< >Ganzen< zu; und wiederum scheint die unmittelbare Versinnlichung dieses Unfaßlichen gewährleistet. Denn gerade dadurch, daß die Flüchtigkeit der Erscheinungen im Impressionismus buchstäblich augenfällig werde, gelange das Leben, das ewige Verwandlung sei, zur Anschauung. Bahrs Auslegung der Bilder Segantinis macht vollends offenkundig, wie er den >Erscheinungscharakter< der Welt der Impressionisten auf die >Idee< des Lebens bezieht. Er stellt zunächst das Fließende und Verfließende der Konturen heraus; auch Segantini habe >nur< die Welt gemalt, wie sie im A k t des Sehens »einen Moment lang«24 erschaffen werde. In der entgrenzenden Malweise aber werde das Einssein des Menschen mit der 21

Zur Illustration nur ein Zitat: Naturgebilde sind »organisierte Gebilde voller Gesetzmäßigkeiten, voller Strukturen, voller Kräfteäußerungen [...], voller linearer, plastischer, konstruktiver Bewegungen«; dies müsse der Künstler in einem >denkenden Beobachten« anschauen lernen: So Hermann Obrist: Die Lehr- und Versuch-Ateliers für angewandte und freie Kunst. In: Die Kunst 10. (= Dekorative Kunst 7). 1904. S. 228232. Hier S. 229.

22

Nina G . Parris: Van de Velde, Obrist, Hoelzel. The Development of the Basic Course. In: Chapple/Schulte (Ed.): The Turn of the Century, S. 327-346. Hier S. 329Íf. So der Titel des Aufsatzes: Dialog vom Tragischen, S. 102-114. Hermann Bahr: Erste Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs. In: H.B.: Secession. Wien 1900. S. 15-37. Hier S. 20.

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Natur sichtbar: Segantini »hebt die Trennung des Menschen von der Natur auf. Der Stein, der Baum, das Thier, der Mensch und der Engel - alle sind dasselbe Wesen, alle sind das heilige Leben!«25 Die vier Beispiele können die Annäherung von >Spiritualität< und Sinnlichkeit um die Jahrhundertwende beleuchten, die den Gegenstand unserer Untersuchungen bildet. Eine Annäherung, durch die in dem Maße, in dem das >Geistige< sensualistisch gefaßt wird, auch das Körperhafte bzw. >Materielle< eine neue Deutung erfährt. Ein Analogon zu den doppeldeutigen Visualisierungsstrategien in der bildenden Kunst stellt der Psychologismus der zeitgenössischen Philosophie dar, in dem die Orientierung an der Wirklichkeit und deren Verinnerlichung einen Denkschritt ausmachen. Dilthey versteht die metaphysischen Systeme nurmehr als Möglichkeiten der Welterfassung; in dem Gedankengebäude des Metaphysikers drücke sich die zugrundeliegende Einwirkung des psychischen Lebens auf die Gegenstände der Erfahrung aus. Die »Eine Welt« scheine auf, wie sie in einer Seele Gestalt annimmt.26 Doch indem solchermaßen als fester Punkt einzig das Verhältnis des Subjekts zur Welt bleibt, indem das »Erleben« und die unmittelbaren Tatsachen des Bewußtseins als die alleinige uns gegebene Realität anerkannt werden, erhält dieses >Erleben< im Gegenzug eine ungemeine Aufwertung. Es wird zu der Instanz, der nicht lediglich realitätsbildende Kraft, sondern eine quasi metaphysische Funktion zukommt. Auf diese im psychischen Leben verankerte Funktion und Aufgabe, mit der Weltanschauung auch das >Sein< zu schaffen, hebt Nietzsche ab, wenn er die Innensicht als die via regia neuer metaphysischer Entwürfe bezeichnet.27 Georg Simmel, der das »Wesen der Moderne« in der Deutung der Welt »gemäß den Reaktionen unsres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt«28 sieht, bringt die dem >Psychologismus< eigene Erhöhung des Subjekts auf den Begriff. >PhilosophieEmpfindungskomplexe< zur (postulierten) Erfahrung der All-Einheit macht Jacques L e Rider zum Angelpunkt seiner Analyse der Moderne: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. A u s dem Franz. übers, v. Robert Fleck. Wien 1990. L e Rider sieht in dem >impressionistischen< Weltverhalten das Symptom der Identitätskrise, aus der heraus die Konstitution eines neuen Ich erfolge; wie dabei das Moment des sinnlichen Erlebens selbst den Umschlag lenkt, gerät in den - übrigens brillanten - Untersuchungen nicht ins Blickfeld.

16 17

Dilthey: Das Wesen der Philosophie, S. 80. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (1886). Erstes Hauptstück: Von den Vorurteilen der Philosophen. Bes. N r . 2 3 .

28

Georg Simmel: Über künstlerische Persönlichkeiten. Michelangelo. Rodin (1909). In.: G.S. : Philosophische Kultur [1923]. Uber das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. (Wagenbachs Taschenbücherei 133). Berlin 1983. S. 1 3 1 - 1 6 5 . Hier S. 164 (Rodin).

29

Georg Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910]. (Sammlung Göschen 500). 2. Aufl. Leipzig 1911. S. 24.

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Das >Erleben< wird zum Metaphysik-Ersatz. Die Reduktion dessen, was als Realität bestimmt wird, ausschließlich auf das Erlebte birgt zugleich die subjektive Emphase: Kraft des Erlebnisses können metaphysische Gehalte sich erneut als >wahrAugenblickEkstaseneue< Art der Wahrnehmung: » [ . . . ] die Natur wird nicht abstrahierend gedacht, sondern als Gegenstand intensivster Sinnlichkeit erlebt, allerdings einer Sinnlichkeit, die darauf verzichtet, die Natur zum Objektbereich des Besitzes und der Ausbeutung durch den Menschen zu erklären. Statt sich die Natur anzueignen, soll der Mensch ihr gegenüber eine Haltung einnehmen, die man erotische Mystik nennen könnte.« 31 Wiederum begegnet die Verschmelzung des Sinnlich-Nahen mit einem Außersinnlichen. Symptomatisch zeigt dies Hermann Bahrs Auffassung der Ekstase.32 Er betont, daß sie herausführe aus dem Bereich dessen, was den Sinnen zugänglich sei. Doch gerade die Vereinigung mit der Sinnenwelt, der Welt des >Lebensinnere Sinnzweite IchUnbewußten< der französischen Psychologen; in der Ekstase erkennt er eine Parallele zu der Persönlichkeitsspaltung, wie sie Hysteriker erleiden. 33 Das Körperliche und ein Transzendentes werden schließlich in unmittelbaren Zusammenhang miteinander gebracht in der zeitgenössischen Auffassung der physischen Liebe und des Gegensatzes der Geschlechter. Denn man wollte nicht lediglich Geschlechterpsychologie oder sexuelle Aufklärung treiben: Zu den Ur30

Zu dieser solchermaßen >impressionistischen< Erzähl-und Gestaltungsweise vgl. vor allem die Analysen von Wolfgang Nehring: Hofmannsthal und der Wiener Impressionismus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 94. 1975. S. 481-498; Möglichkeiten impressionistischen Erzählens um 1900. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 100. 1981. S. 161-176; Der Beginn der Moderne. In: Konrad Polheim (Hrsg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981. S. 382-408; 600-602. 31 Viktor Zmegac: Zum literaturhistorischen Begriff der Jahrhundertwende (um 1900). Vorwort zu: V.Z. (Hrsg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. (Neue wissenschaftliche Bibliothek 113: Literaturwissenschaft). Königstein/Ts. 1981. S . I X - L X I . Hier S. X X X I I . 12 Hermann Bahr: Ekstase. In: Dialog vom Tragischen, S. 131—139. " Bahr: Ekstase, S. 13 8f.

8

Sprüngen des Seins wollte man vordringen.34 Im Gegensatz des Männlichen und Weiblichen sah man die Essenz des >Lebensjenseitigen< Urgrund der Welt erkannt: »Rops schreibt als erster riesengroß über sein Werk und über die Welt: >Gott, das Geschlechts«35 »Und plötzlich reißt er mit einer Riesengebärde das Geschlecht von den schwächlichen Leibern los und hält es groß über sie, so daß alle ihre Tage und Taten davon beschattet sind.«36 Am anderen Pol der Skala steht Ricarda Huch, die in dem Gegensatz des männlichen und weiblichen Geistes das bewegende Prinzip nicht nur der menschlichen Geschichte, sondern auch der Naturgeschichte erblickt.37 Nicht ganz zu Unrecht wirft Samuel Lublinski in der Besprechung von Ödipus und die Sphinx (1905) Hofmannsthal vor, er fröne einer >sensualistischen Mystik< da, wo in der klassischen Tragödie der >Mythos< ethisch interpretiert worden sei.38 In der Tat könnte man es als das Motiv oder die Grundfigur des dramatischen Geschehens begreifen, daß in ihm, d. h. in einer szenischen Präsentation, die darauf berechnet erscheint, Sinnliches zur Evidenz zu bringen und geradezu durch wissenschaftliche Dechiffrierbarkeit sich auszeichnet, ein Meta-Physisches vergegenwärtigt wird. Es handelt sich um ein Paradox: Das Thema des Dramas, die Welt jenseits des Bewußtseins, wird in Bilder gefaßt, die Hofmannsthal aus der zeitgenössischen Psychologie und Naturlehre bezieht. Odipus träumt einen >Freudianischen< Traum; den Zusammenhang mit dem Leben versinnlicht die Generationenkette, durch die, nach zeitgenössischem

34

Auf das »metaphysische« Konzept der Geschlechterliebe um 1900 wird man wieder aufmerksam: Vgl. Franz Norbert Mennemeier: Literatur der Jahrhunderwende. Bd. 2: Europäisch-deutsche Literatur. Tendenzen 1870-1910. (Germanistische Lehrbuchsammlung 39/2). Bern/Frankfurt/New York 1988. S. I37ff. (Kapitel: »Hermeneutik des Erotischen im >großen Stil««).

"

Rainer Maria Rilke: Der Salon der Drei (1898). In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. RilkeArchiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, (insel taschenbuch 1101-1106). Frankfurt/M. 1987. (1. Aufl. 1961-1965). Bd. V. S. 454. - Im folgenden wird diese Ausgabe zitiert als: Werke.

36

Rilke: Werke V, S. 455. Die Grundthese in Ricarda Huchs philosophischen Schriften. Zuerst ausformuliert in: Vom Wesen des Menschen. Natur und Geist (1914 unter dem Titel: Natur und Geist als Wurzel des Lebens und der Kunst). Samuel Lublinski: Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition [1909]. Mit einer Bibliographie von Johannes J. Braakenburg neu hrsg. v. Gotthart Wunberg. (Deutsche Texte 41). Tübingen 1976. S. 84ff.

37

38

9

Verständnis, der All-Einheitsgedanke eine natürliche Bestätigung bzw. Absicherung findet. 3 ' Die Beispiele ließen sich vermehren: Immer wieder stoßen wir auf die gleiche Spannung und Ambivalenz. Das Streben nach dem >Wesen< der Dinge vereinigt sich mit dem Ringen um die sinnliche Erfahrung, das Sinnenerlebnis und dessen konkretesten Ausdruck. Nicht in Gegensatz zueinander werden die beiden Blickrichtungen gebracht, sondern - das ist entscheidend - sie werden verstanden als zwei einander bedingende und hervorrufende Bewegungen. Die meisten der Widersprüche der Epoche, die Schmoll gen. Eisenwerth herausstellt, finden in dieser Spannung einen gemeinsamen Nenner. Schmoll kontrastiert (u.a.) Morbidität und Vitalismus, Kontemplation und Aktionismus, Positivismus und Mystizismus, naturwissenschaftlich-mechanistische Weltanschauung und Transzendentismus, Naturalismus und Symbolismus, Realismus und Neuromantik, Rationalismus und Antirationalismus, Materialismus und Antimaterialismus. 40 2megac betont den >Pluralismus< als einen wesentlichen Zug der Zeit, 41 Kaempfer spricht von der »Interferenz« der Konzepte, die das Gesicht der Jahrhundertwende präge. 42 Kaum ein Autor, der nicht Zeugnis ablegt von dieser >InterferenzUnbewußteMonismusSeele< berechnen, so erscheint zuletzt das Physische als Verkörperung der unerforschlichen >Innenseitephysiognomische< Weltsicht zu begründen; die Metapher vom mundus symbolicus verwandelt sich für die Vertreter monistischen Denkens, die die körperliche Welt als Veräußerung einer seelischen Welt auffassen, in unmittelbare Wirklichkeit. Von Anfang an drängte die monistische Bewegung nach einer spezifisch literarischen Form ihrer Darbietung und Propagierung. Es entsteht ein umfangreiches Schrifttum, das man als Weltanschauungsliteratur auf monistischer Grundlage bezeichnen könnte. Die Tendenz, Sinnliches und Seelisches ineinander zu sehen, ruft ein Pathos des Extremen hervor. Die Autoren - meist sind es die ehemaligen Vorkämpfer des Naturalismus - wollen die äußersten Pole umspannen, das Jenseitige im Diesseitigen erblicken; eine Religion mit naturwissenschaftlichem Fundament soll errichtet werden. Kurt Bayertz hat das Integrationsbestreben der >Monisten< - als Beispiele dienen ihm Häckel, Bölsche und Wille - zutreffend charakterisiert;54 als den Hauptgedanken stellt er die Aufhebung der si 53

54

Das »Fragwürdigstes« überschriebene Kapitel aus dem Zauberberg. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg [1927-1931]. Ungekürzte Ausgabe in 1 Bd. München i960. Hier S. ijióff. Kurt Bayertz: Die Deszendenz des Schönen. Darwinisierende Ästhetik im Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Klaus Bohnen, Uffe Hansen und Friedrich Schmöe (Hrsgg.): Fin de Siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-

13

Trennung zwischen Materie und Geist, als den leitenden Impuls die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung heraus; er spricht von der ersehnten Wiederverzauberung der WeltLeben< als den Schlüsselbegriff der Epoche und als den Bezugspunkt sowohl der verneinenddekadenten als auch der bejahenden Haltung erkannt. ,6 Dabei lehnt er nachdrücklich eine biologistische und vitalistische Interpretation des Lebensbegriffes für das Fin de siècle ab mit der Begründung, daß im Kult des Lebens die Faszination durch das Kranke eine wichtige Rolle spiele.57 Die Forschung hat dieses Urteil übernommen; wo der geistesgeschichtliche Kontext der Jahrhundertwende diskutiert wird, steht meist die von Schopenhauer und Nietzsche geprägte >Lebensphilosophie< im Mittelpunkt des Interesses.'8 Indem wir den Lebensbegriff von der Frage nach dem leib-seelischen Zusammenhang her erschließen, skandinavischen Kontext. (Kopenhagener Kolloquien zur deutschen Literatur 11. = Text und Kontext. Sonderreihe 20). Kopenhagen/München 1984. S. 8 8 - 1 1 0 . 55

Bayertz: Die Deszendenz des Schönen, S. 97ff. - Z u den geistesgeschichtlichen G r u n d lagen vgl. auch Wilhelm Kühlmann: Das Ende der >VerklärungLeben< vorgestellt. In seinen Studien Über Jugendstil, die vorzügliche Bemerkungen zur Sinnlichkeit der Epoche enthalten, nennt Dolf Sternberger die »Besessenheit von der Idee des Organischen« den »Kern und Sammelpunkt [...], die Formel mindestens, worin all diese vielfältigen Bestrebungen übereinkommen.« w Selbst Rasch revidiert die Ausgrenzung des Biologischen aus dem Begriff des >Lebensmodernen< vitalistischen Theorien, indem sie auf die Vorstellung einer mechanistisch nicht zu erklärenden >Lebenskraft< (»Seele«) zurückgreifen, führen den Wirklichkeitsgehalt der hermetischen Auslegung der Körperwelt als einer Geisterwelt vor Augen. Der >beseelte Leib< als die konkrete Bestimmungsform des Lebens: von dieser Definition her lassen sich Analogien zwischen der biologischen Deutung und der literarischen Gestaltung des Lebens erkennen. Zudem enthält die in solchem Sinn gefaßte Anlehnung an einen biologischen Lebensbegriff keinen Widerspruch zu der Hinwendung zum Kranken - im Gegenteil. Das Leitbild des Organischen ermöglicht den Einbezug des Kranken in die Idee des Lebens; bereits Carl Gustav Carus, der Spätromantiker, hatte vom »Organismus der Krankheit< gesprochen.6' Der »Organismus der Krankheit< ist denn auch ein Hauptmotiv des Malte-Romans. Und wiederum verweist die quasi sachliche Orientierung und Fundierung auf das zugrundeliegende Bestreben: das Abstrakte, hier die Totalität des >Lebensdraußen< bringe. Von diesem Standpunkt aus korrigiert sie Fichtes Ich-Philosophie: »Daß nichts außer dem Ich sei, war das Packende und Unantastbare in Fichtes Lehre; wäre er nur noch darauf gekommen, daß jene Grenze des Ich-Bewußtseins im Ich selber liegt, daß also das Nicht-Ich ist, aber allerdings nicht außer dem Ich, sondern in ihm, seine dunkle Hälfte, so hätte er in Wirklichkeit die Welt mit eingeschlossen, von der er jetzt abstrahierte und der Natur, die ihm jetzt nichts als vergängliche Materie war, den Geist gegeben. Denn das Ich und die Welt sind, nach einem Worte von Novalis, integrante Hälften.«" Novalis habe den Schritt vom Bewußten zum Unbewußten und damit zur Realität der Natur vollzogen, er habe den Solipsismus der reinen Bewußtseinsphilosophie durchbrochen. Mit Hilfe der Sinne, d.h. der körperlichen Natur, so erklärt Ricarda Huch dessen magisches Weltverständnis, schaffe die Seele die Außenwelt; aus dem Unbewußten geboren und es verkörpernd, besitze diese Welt eigenständige Wirklichkeit. Würde sich der Mensch dieses in ihm verborgenen Wirkens bewußt, so hätte er die Herrschaft nicht nur über den eigenen Körper, sondern über die ganze Natur erlangt.13 Sie zitiert Novalis: »Der Körper ist das Werkzeug zur Bildung und Modifikation der Welt; wir müssen also unsern Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres Werkzeugs ist Modifikation der Welt.« 14 Novalis' transcendentales Ich< ist für Ricarda Huch das menschliche Unbewußte, das sie mit dem unbewußten Leben schlechthin gleichsetzt."' Bezeichnet Ricarda Huch mit dem Zielentwurf des Novalis die gelungene Bewußtwerdung, so bezieht sie den künstlerischen Schaffensprozeß auf die gegenläufige Bewegung. Zwar warnt sie eindringlich gerade den Künstler vor mangelnder Besonnenheit und dem Verzicht auf Erkenntnis; doch in der Formgebung sei er schlechthin angewiesen auf unbewußte Kraft. »Die Form ist das Organische und wird aus dem Unbewußten heraus geschaffen, die feinste Bildung und Fülle des Geistes kann sie nicht geben; der Körper muß aus dem Körper geboren werden.« l é Während beim unbewußten Menschen, dem »Tag-Menschen«, die Gefühle in ungestörter Stille heranreiften und ohne Vermittlung des Bewußtseins sich im Werk, in der Tat, äußerten, 17 müsse der bewußt gewordene Künstler durch "

Die Romantik, S. 164.

IJ

Die Romantik, S. 149Í.

13

Die Romantik, S. I53ff.

14

Die Romantik, S. 154^

's

Die Romantik, S. 92Í. Bezug auf Novalis S. 93.

,s

Die Romantik, S. 115.

17

Die Romantik, S. 104.

ständige Übung das Erlernte zur zweiten Natur machen, damit sich »aus seinem Bewußtsein« ein »Niederschlag« bilde, »eine neue Masse, Erkenntnis in Instinkt verwandelt«.18 Indem Ricarda Huch das Unbewußte mit der Natur, der Körperwelt also, identifiziert,19 fällt mit der Öffnung der Grenzen zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein zugleich die Scheidewand zwischen dem Physischen und dem Psychischen. Historisch betrachtet ist es die Spätromantik, in der die Frage nach dem leib-seelischen Zusammenhang in den Vordergrund rückt; im zweiten Teil ihres Buches überblendet deshalb Ricarda Huch die Pole des Unbewußten und des Bewußtseins mit denjenigen von Physis und Psyche; die Stelle der >Bewußtwerdung< nimmt nun die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele< ein. Ricarda Huch orientiert sich in ihrer Darstellung an den Lehren von Carl Gustav Carus. Der Leitsatz aus dessen psychologischem Hauptwerk, der Psyche (1846), lautet: »Der Schlüssel zur Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins«.20 Das Unbewußte bestimme als Basis das Bewußtsein. Im wesentlichen beschreibt Carus psycho-somatische Zusammenhänge; unter dem >Unbewußten< versteht er die Physis. Dabei entwickelt er eine monistische Sicht. Nicht sei die Seele gefangen im Körper, sondern einund dasselbe Prinzip manifestiere sich in den verschiedenen »Regionen« des Menschen. Als - unbewußte - Idee forme es den Leib und »lebe sich dar« in den physischen Abläufen; als »Seele« spiegele es sich im Denken, Fühlen und Wollen; als »Geist« wirke es, wenn der Mensch zur Erkenntnis der göttlichen Ideen gelangt. Die »Seele« das bewußt gewordene Leibliche, der Leib die unbewußt bildende Seele - >beseeltbelebtorganisch< werden zu synonymen Begriffen, >Leben< ist >leib-seelische Einheit^ Nachdrücklich arbeitet Ricarda Huch die in der Tat >weittragenden< »Folgen«21 der (spät-)romantischen Weltanschauung heraus. Das gesamte All werde als >beseelt< gedacht, weil überall sich organisches Leben erzeugt.22 Und dieses beseelte Weltall betrachteten die Spätromantiker als einen einzigen Organismus, in dem alle Glieder miteinander verbunden seien »wie der Finger des Menschen mit seinem Leibe und wiederum wie der Mensch selbst mit der Erde.« 2 ' Es ergibt sich die Vision des »kosmoorganische[n]«24 Zusammenhangs - Ricarda Huch greift Gustav Theodor Fechners Formel auf - ; 18 19

20

21

Die Romantik, S. 131. Die Romantik, S. 162 (»ein Lieblingsschriftsteller der Gebrüder Schlegel, Hemsterhuis, hatte gesagt, der Körper sei geronnener Geist und das körperliche Universum ein geronnener Gott«); S. 164. Im Sperrdruck eröffnet dieser Satz das Werk: Carl Gustav Carus: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. 2. verb. u. verm. Aufl. Stuttgart 1851. S. 1. - Zu Carus s. auch Kap. j.i und 5.2.

Die Romantik, S. 390. Vgl. Die Romantik, S. 394. 2 ' Die Romantik, S. 390. 24 Die Romantik, S. 395. 22

24

eines Wirkungszusammenhanges, in dem die Schranken aufgehoben sind sowohl zwischen den einzelnen Körpern als auch zwischen der Körper- und Geisterwelt. Ricarda Huch resümiert: »Wenn die Welt ein zusammenhängender Organismus ist, so sind die wunderbarsten Wirkungen eines lebendigen Ganzen auf ein anderes oder auf ein Teilwesen oder umgekehrt eines Teilwesens auf ein Ganzes - denn alles ist ja das eine wie das andere - nicht nur dadurch zu erklären, sondern müssen infolgedessen vorausgesetzt werden. Die Frage, ob ein Geistiges auf ein Natürliches wirken könne oder umgekehrt, ob die Seele auf den Körper, das Lebendige auf das Tote, das Organische auf das Unorganische, fällt dahin, indem diese Unterscheidungen als wesentliche, absolut trennende wegfallen.«2' Zwei Wissenschaftszweige seien es vor allem gewesen, mit deren Hilfe die Romantiker die Einheit des Universums begründeten: die Entwicklungslehre und der animalische Magnetismus.26 Zu der entwicklungsgeschichtlichen Anschauung gelangt man, wenn man den >Weltorganismus< dynamisch-genetisch betrachtet und in den Teilorganismen die fortwährende Differenzierung des ursprünglich Einen erkennt.27 Größeres Gewicht legt Ricarda Huch auf den animalischen Magnetismus,28 indem sie durch diesen den Kontakt des Menschen mit dem Universum, das Zusammenwirken alles Lebendigen, sozusagen auf experimentellem Wege konkret dargestellt und sichtbar gemacht sieht: Die >Magie< des Novalis sei die denkerische Antizipation dessen gewesen, was nun die Wissenschaften bestätigten. 2 ' Wieder spielt der Begriff des Unbewußten die entscheidende Rolle, und wieder zeigt sich die Umbiegung der Konzeption ins >LeibhaftigeAllsinnEinheit< beschreibt, immer wieder zum Ausdruck, wie das >Hereinragenneuen Wissenschaften··,38 die sich aus der Einheits-Sicht notwendig ergäben. Von den organischen Formen schließe die Physiognomik auf das Innere, während die Physio-Psychologie die psychologischen Entsprechungen zu den physischen Funktionen suche,39 die statische also in eine >dynamische Symb o l i k verwandle. Ricarda Huch erläutert und definiert die Bestrebungen: »[...] die physiologischen Vorgänge haben eine psychologische Seite und umgekehrt, sie können nicht voneinander getrennt werden, und es müßte demnach aus den beiden Wissenschaften Physiologie und Psychologie eine einzige, die Physio-Psychologie werden. [...] Die Forderung einer Psycho-Physiologie lag zu sehr in der Naturphilosophie Inbegriffen, deren Aufgabe es ja war, >die Gleichheit der Naturerscheinungen mit den Geisteserscheinungen aufzudecken^ als daß sie nicht von allen ihren Anhängern erfaßt und ausgesprochen hätte werden müssen.«40 Es gehe um die Formulierung einer »Psychologie«, »die nur im Zusammenhange mit der Physiologie gedacht werden kann.« 4 ' Mit der Begriffsprägung »Physio-Psychologie« bezieht sich Ricarda Huch explizit auch auf die zeitgenössische Wissenschaft: U m 1900 erlebte die sogenannte Psychophysik - die moderne experimentelle Methode, den Zusammenhang von Leib und Seele zu erforschen - einen (letzten) ungemeinen Aufschwung. Zwei Interpretationen des Leib-Seele-Verhältnisses ständen grundsätzlich dem romantischen Physiognomiker zu Gebote: die Annahme, »daß der Geist sich den Körper baue«, und der Glaube »an einen Parallelismus von Geist und Körper«. 42 Die gleichen konkurrierenden Erklärungsmodelle kehren wieder in der zeitgenössischen Auseinandersetzung um den psychophysischen Parallelismus. Obgleich Ricarda Huch nicht ausdrücklich Stellung bezieht, lassen die Termini und Denkmuster, die sie benutzt, auf die Adaption einer parallelistischen Auffassung schließen. Wendungen wie »psychologische Seite« physiologischer Vorgänge43 oder »geistige Seite des Geruchssinnes«, 44 die Formulierung, daß den Organen »ein gewisses geistiges Leben entspricht«4S und psychische Vorgänge »gebunden« sind an leibliche,46 weiterhin das Wort vom Die Die 58 Die 59 Die 4° Die 41 Die 4J Die 36 57

43 44 45 46

Die Die Die Ein

Romantik, Romantik, Romantik, Romantik, Romantik, Romantik, Romantik,

S. 446. S. 409. S. 40jff. S. 408. S. 4o8f. S. 410. S. 40$.

Romantik, S. 408. Romantik, S. 449. Romantik, S. 449. - Meine Hervorhebungen. ständig wiederkehrender Ausdruck.

27

körperlichen »Substrat«,47 der körperlichen »Grundlage«48 oder der körperlichen »Erscheinung«4' des (unbewußt) Psychischen, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der »Außenseite« und »Innenseite« der Dinge sowie der Rekurs auf eine »doppelte Anschauung der Welt, eine äußere durch die Sinne und eine innere, durch den inneren Sinn«;50 die Seh-und Ausdrucksweise, daß Idee, Geist und Seele sich »nach außen als Leib darstellen«'1 - dieses sind Gleichungsformeln der Parallelismustheorie, die die Koordination von Leib und Seele definieren sollen. In Parallele zueinander erscheinen Natur und Geist gesetzt, wenn Ricarda Huch die romantische Philosophie wie folgt erläutert: Schelling »wußte genau, zu was für verhängnisvollen Irrtümern es führen kann, wenn man koexistierende Erscheinungen nur als Ursache und Wirkung voneinander fassen kann [...]. Als koexistierende Erscheinungen, die sich gegenseitig erklären, betrachtet er Natur und Geist, Inneres und Außeres.«'2 Auch Carl Gustav Carus' Lehre, daß die Seele es ist, die sich den Leib bildet, und daß die unbewußten organischen Gefühle das Bewußtsein ständig beeinflussen, wird einer parallelistischen Zusammenschau eingefügt. Denn im Empirischen leite Carus' Auffassung dazu an, psychische und physische Prozesse nicht als kausal sich bedingende, sondern als parallel verlaufende Vorgänge zu sehen. In Ricarda Huchs Wiedergabe: »Eigentlich dürfe man beispielsweise nicht sagen: gewisse Vorgänge in der Galle machen zornig, sondern: die Gallenabsonderung ist, was im bewußten Leben der Zorn ist. Oder es sei nicht richtig zu sagen, Ärger und Aufregung der stillenden Mutter verderbe ihre Milch, da es vielmehr so sei, daß, was sich im bewußten Leben als Arger, im unbewußten als Verderbnis der Milch äußere.«53 Folgerecht begreift Ricarda Huch Carus als einen unmittelbaren Vorläufer Fechners, des Begründers der Psychophysik und ersten Vertreters der parallelistischen Theorie. Die beobachteten psychosomatischen Verhältnisse deuteten direkt auf das Gesetz der Schwelle, welches das Hauptgesetz von Fechners Lehre bildet: »Es scheint, als wäre es von solchen Einsichten aus nur noch ein Schritt gewesen zu dem Gesetz der Schwelle, das Fechner aufstellte, daß die unbewußten Prozesse eine gewisse Stärke erreicht haben müßten, um bewußt zu werden; allein Carus [...] hat [...] nicht mehr getan, als das allgemeine Bild einer Psycho-Physiologie entworfen.«54 Der Impetus, aus dem heraus Ricarda Huch die »romantische« Wissenschaft darstellt, ist - wir deuteten es bereits an - das Ringen um eine (neue) symbolische Weltanschauung. Den konkreten Bezugspunkt bildet für sie dabei die moderne 47 48 49

51 5i 53 54

28

Die Die Die Die Die Die Die Die

Romantik, Romantik, Romantik, Romantik, Romantik, Romantik, Romantik, Romantik,

S. S. S. S. S. S. S. S.

429. 429. 162. 434. 424. 162. Vgl. S. 391. 409. 410. Vgl. S. 440.

>symbolistische< Dichtung - Ricarda Huch würde sagen, die Dichtung der modernen Romantik - , als deren typischen Vertreter sie wiederholt Maeterlinck zitiert. In einer umfangreichen Rezension von dessen Essaysammlung Der Schatz der Armen (1896; deutsch 1898) trägt sie ihre Bedenken im Zusammenhang vor." Zunächst akzeptiert sie Maeterlincks Seelenbegriff, in dem romantische Ideen wiederbelebt würden: die >Seele< als das Unbewußte in uns, das uns mit dem Weltall, dem »Unendlichen«,'6 verbindet. Aber sie warnt davor, das bewußte Leben so, wie Maeterlinck es tut, zu trennen von dem verborgenen Wirken der Seele. Dem radikalen Dualismus, der die meisten Stücke aus dem Schatz der Armen bestimmt, hält sie die - durchaus doppelpolige - Einheit von Natur und Geist entgegen. Zweierlei sind die Implikationen. Zum einen die Gewißheit, daß alles Unsichtbare sich verkörpert und die sinnlichen Erscheinungen die Seele adäquat ausdrücken: »Es gibt nun einmal keine Seele ohne Körper [...]. Innerliches ohne Äußerliches ist ein Unding.«57 Zum anderen das - korrelierende - Vertrauen in die Sinne und das Bewußtsein des Menschen. Denn sehr wohl könne der Mensch mit seiner von den körperlichen Sinnen bedingten Empfindungsweise im Äußeren das Innere wahrnehmen; und das Bewußtsein sei insoweit bezogen auf die Abgründe des Seins, als es gebildet wurde, die aus dem Unbewußten hervortretenden Gestalten unverfälscht widerzuspiegeln. »Die Aufgabe des Dichters ist es aber gerade, das Dunkle aufzuhellen [...]. Dichten ist [...] verdichten, das Bewußtmachen des Unbewußten, das Gestalten des Ungreifbaren [...], das Aussprechen des Unsäglichen.«'8 Oder, noch deutlicher, in den Worten, mit denen Ricarda Huch an anderer Stelle die dichterische Kraft Gottfried Kellers charakterisiert: »[...] und die bacchantischen Gebilde, die aus den Schluchten des Unbewußten auftauchen, nimmt ein feingeschliffenes Spiegelglas mit reinem Umriß auf.«'9 Die moderne Dichtung müsse noch für die statthabende Verinnerlichung und Beseelung die neue körperliche Form finden - das »Verwischen oder gar Auslöschen des Körperlichen«,61 wie Maeterlinck es in seiner Poetik fordere, sei ein Irrweg. Würde doch auch bei Shakespeare gerade deshalb das Seelische sich so überwältigend offenbaren, weil es »an einem lebendigen Organismus erscheint und uns dadurch sein wirkliches Dasein verbürgt«/ 2 Die romantische Naturforschung und -philosophie ist es aber, die für Ricarda Huch die Annäherung des Äußeren an das Innere gewährleistet und auf sie hinarbeitet.6'

"

Über Maeterlincks »Schatz der Armen«. Gesammelte Werke V I , S. 647Îη

' 6 Über Maeterlincks »Schatz der A r m e n « , S. 650. ,7

Über Maeterlincks »Schatz der Armen«, S. 657.

® ! Über Maeterlincks »Schatz der Armen«, S. 658. 5

» Gottfried Keller [1904], Gesammelte Werke V I , S. 689.

60

Ü b e r Maeterlincks »Schatz der Armen«, S. 656ff.

61

Über Maeterlincks »Schatz der Armen«, S. 658.

61

Über Maeterlincks »Schatz der Armen«, S. 657.

6j

Die Romantik, S. 391, 403, 405 u.ö.

29

Was nun versteht Ricarda Huch unter dem >Modernen< und wieso ist ihr die romantische Epoche die entscheidende Phase der zeitgenössischen Moderne? Ihre Antwort läßt sich so zusammenfassen: >Modern< ist für sie die Maßlosigkeit des Begehrens, die - und dies ist das konstitutive Merkmal - aus der Vereinigung des Geistigen und des Sinnlichen erwächst. Nicht, wie man vermuten könnte, von einer bereits erreichten Harmonie zeugen die Zusammenschau der Gegensätze und der Versuch, in dem einen Pol den anderen zu fassen; Ricarda Huchs Analyse zielt darauf, in dem Glauben, daß Leib und Seele >im Grunde< identisch seien, die eigentliche Triebkraft für das Ausgreifen ins Unendliche aufzudecken. Ihre Bestimmung der »romantischen Liebe« kann dies besonders gut zeigen.64 Erst als man das Sinnliche, das Sexuelle selbst geistig durchdringen wollte, erst als man das >Leibliche< >aufheben< (in des Wortes doppelter Bedeutung) wollte im Seelischen, erst dann hätte die Liebe den Charakter des Grenzensprengenden angenommen, der sie als die >moderne< Idee schlechthin ausweise. Vornehmlich die Romantiker aber hätten dieses Liebesideal sich zu eigen gemacht und an seiner Ausgestaltung gearbeitet. Mit dem Bestreben, des Unendlichen im ganzheitlichen, geistigen wie sinnlichen, Erlebnis habhaft zu werden, sieht Ricarda Huch eine unendliche Aufgabe gestellt. Die Spannung ist in dem Anspruch enthalten, die >ewige< Liebe im Irdischen zu verwirklichen. So ist jedoch auch hier zu bemerken, daß die Bewegung zum >Geistigen< hin zugleich definiert ist als >VersinnlichungInnern< den Schlüssel gefunden zu haben zum Wesen der Welt. Die Theorien zum Magnetismus versteht Ricarda Huch als eine Konsequenz und Ausprägung dieser Uberzeugung. Die Möglichkeit, die Grenzen der körperlichen Sinne zu überwinden, erscheint experimentell bestätigt; der Weg zur >anschauenden Erkenntnis< scheint gefunden. Und wie der >Weg nach innen< zur Entdeckung des >Unbewußten< führt, so wird in den Deutungen des magnetischen Schlafs, in dem die bewußte Wahrnehmung (d. i. die Sinneswahrnehmung) ausgeschaltet ist, der Körper selbst, das lebendige Physische, zu dem >Allsinn< erhoben, der die Geheimnisse des Kosmos erschließt. Auf der gleichen Linie der Grenzüberschreitung liegt es, wenn Ricarda Huch die Symbolik der Romantik (das Schließen vom Äußeren auf das Innere) auf naturwissenschaftlichem Boden erwachsen sieht. Darin, daß die Romantiker die Analogien zwischen Körper und Geist nur dann gelten lassen wollten, wenn sie sie physiologisch begründen konnten, erblickt sie das unterscheidende Kriterium etwa zu Lavaters spekulativer Physiognomik.67 Von dieser Interpretation der >Moderne< vom Leib-Seele-Problem her gehen wir aus. Dabei sind zwei Blickrichtungen zu unterscheiden: die Analyse der vorherrschenden, für die Zeit charakteristischen, Ideen und Strömungen auf der einen Seite (Verankerung im zeitgenössischen Kontext), die Abgrenzung des Innovativen, Herausfordernden in der Verarbeitung dieser Ideen auf der anderen (das spezifisch >ModerneUnbewußten< beruht. Sie warnt mit solcher Diagnose zugleich vor zeitgenössischen Tendenzen. Doppeldeutig ist denn auch der Bezug zur Gegenwart, wenn sie vom romantischen MonismusMonismus< an die >Physio-PsychologieSeeleSeelischemBeseelung< des Universums - >VerseelungangeboreneA priori« verengt, reduziert auf den subjektiven Pol. So fehlt ihm der Sinn für die Unterscheidung zwischen >a priori< in der Objektwelt geltenden Urteilen und Erfahrungsur' Ueber das Sehen des Menschen. Vorträge und Reden i, S. Iijf. Vgl. auch Riehl: Hermann von Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant.

4

34

teilen. Man kann dies ablesen an seiner Herleitung der menschlichen Raumauffassung. In Abwehr nativistischer, d. h. >angeborene Ideen< postulierender, Theorien erklärt er, wie das Kind das Verständnis räumlicher Gegenstände sich erwerbe durch ständig kontrollierendes Experimentieren mit seinen Körperbewegungen: »[...] und wir brauchen uns auf die Discussion der Frage, wieviel a priori, wieviel a posteriori von der allgemeinen Anschauung des Raumes gegeben sei, hier nicht weiter einzulassen.«5 Und auch das Kausalitätsprinzip wandelt sich ihm, da er es physiologisch begründet, unter der Hand von der Bedingung zu einem - allgemeinen - Inhalt der Erfahrung. Damit aber beraubt sich Helmholtz der letzten Anhaltspunkte, die auf die Ubereinstimmung zwischen Subjekt und Objekt unverbrüchlich hinwiesen. Zwar behauptet er apodiktisch, daß »die Beziehungen der Zeit, des Raumes, der Gleichheit, [...] der äusseren und inneren Welt gemeinsam«6 seien. Doch untergräbt er selbst solche Gewißheit, indem er an den entscheidenden Sätzen demonstriert, wie »alle unsere Kenntniss der wirklichen Welt [...] auf der Erfahrung und der fortdauernden Prüfung ihrer Richtigkeit mittelst des Experiments« »beruht«. 7 Nun erst scheint die Kluft zwischen >Innen< und >Außen< unüberbrückbar und endgültig. Endgültig, da sie zugleich zu einer >leibhaftigen< Erfahrung wird. Denn die abstrakte Lehre, daß keine uns erkennbare Verbindung sei zwischen der >Erscheinung< und dem >Ding an sichGesichtsfeldin Wahrheit< ausgesetzt sind, der auf uns einwirkenden Welt physikalischer Ursachen und Gesetze.8 Helmholtz spricht seine Erkenntnis in aller Schärfe aus. Nicht Bilder, inkongruente Zeichen nur gäben uns unsere Sinne, namentlich das Auge mit seinen optischen Fehlleistungen, von der Außenwelt; lediglich eine »Zeichenschrift« hätten wir in unseren Wahrnehmungen.' An der Wurzel von Helmholtz' >falscherDenken< und >ErfahrenErscheinung< und dem >Ding an sich< gar nicht recht ins Auge. Denn im Kant'schen Sinne verbleibt ja die ganze von uns erforschte physikalische Wirklichkeit im Bereich der >ErscheinungenDing an sich< letztlich die Materie vor so, wie sie erforscht, erkannt wird ein >DingleibhaftigAn sich< der Welt mit ihrem materiellen Substrat identifiziert wird! Wie Helmholtz durchweg die Erfahrung dem Denken gleichordnet, so bringt er auch den >Geist< in unmittelbare Nähe zum Körper. Er verfolgt den Aufbau unseres Gesichtsfeldes: Aus den mangel- und lückenhaften, auf den Kopf stehenden, inkongruenten Netzhautbildern errichteten wir unseren homogenen Sehraum. Unbewußte Denkvorgänge seien da am Werk; Denkvorgänge, die sich an die frühesten und einfachsten Elemente der Empfindungen hefteten. Und dieses >unbewußteGeist< zeigt sich wirksam in scheinbar nur körperlichen Abläufen. Und Helmholtz sieht in dieser >Geistigkeit< der sinnlichen Wahrnehmung, in diesem Denken in Bildern, die Grundlage und Veranlassung »zur Entfaltung jeder eingeborenen Fähigkeit des menschlichen Geistes.«11 So offenbart Helmholtz' Weltanschauung einen eigentümlichen Doppelcharakter. Die radikalisierte Erkenntniskritik hat doch die alleinige Anerkennung der uns zugänglichen >Wirklichkeit< - der Wirklichkeit des Naturforschers - zum Fundament. Deshalb aber läßt sich aus dieser Theorie des Sehens eine paradoxe Konsequenz ableiten; die vollständige Abtrennung des Menschen von seinem >wahren< Umfeld birgt die Möglichkeit des Umschlags: der Erhebung unserer Sinnenwelt zur einzigen Realität. Denn obgleich dem >Denken< das Vermögen, zu objektiv gültigen Urteilen zu gelangen, nicht mehr zugestanden wird, so gewinnt es ja dafür eine andere, gleichsam eine >physische Sicherheit^ Wenn wir mit Ein10

"

36

Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens, S. 358. Vgl. S. 360, 36if. Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens, S. 258.

satz unseres Leibes und aller seiner Sinnesorgane den Raum um uns schaffen, wenn unser gesamtes Denken physiologisch vorprogrammiert ist, dann hat dieser Raum >leibhaftig< die Qualitäten, mit denen wir ihn ausstatten, dann sind die Gegenstände in ihm mit der gleichen körperlichen Evidenz begabt, mit der wir in ihm existieren. Helmholtz hat einen solchen Perspektivenwechsel natürlich nicht selbst vollzogen; er liegt, als Ausweg aus dem drohenden Wirklichkeitsverlust, zwar in der von ihm eingeschlagenen Richtung, geschieht jedoch auf einer anderen gedanklichen Ebene; die neuen (affektiven) Argumentationsstrategien werden wir kennenlernen. Doch handelt es sich um den entscheidenden Schritt, den viele Autoren tun, um ihre monistischen Entwürfe zu stützen. Es ist dieser Umschlag, der insbesondere der Beschwörung der >Seele< die bezeichnende Emphase verleiht. Die in ihm, in dem zugrundeliegenden Denkmuster, verborgene Spannung müssen wir im Auge behalten, wenn wir nun die Neubestimmungen des Seelenbegriffs um 1900 erörtern.

2.2. Gustav Theodor Fechner Mundus symbolicus Wir wollen unsere Darstellung bei Gustav Theodor Fechner beginnen. Seine Philosophie ist parallel zu Helmholtz' Erkenntnistheorie entstanden; er hat sie als einen Gegenentwurf entwickelt. Zugleich bildet seine Seelenlehre den Bezugspunkt für die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Richtungen der Psychologie um 1900. Fechner gilt mit seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, den Elementen der Psychophysik (i860), als Begründer der Psychophysik und der Lehre vom psychophysischen Parallelismus, dem Parallelismus zwischen körperlichen und geistigen Abläufen. 12 Er gibt sich im Ansatz betont erfahrungswissenschafdich. Er wehrt jegliche Spekulation über das >Wesen< der Seele, insbesondere jegliche vorgefaßte Annahme einer Seelensubstanz, ab. >Seele< meint für ihn den Zusammenhang und die Einheit der Bewußtseinserscheinungen und drückt sich restlos im Denken, Fühlen und Wollen aus. Über die Manifestationen des psychischen Lebens, des unmittelbaren Erlebens, hinaus dürfe man nach der >Seele< nicht suchen; lange vor Nietzsche warnt Fechner davor, »in der Orientirung über die Wirklichkeit zu einer unfasslichen Hinterwirklichkeit zurückzugehen«:'3 » - ich selbst habe nie Frucht in den Erklärungen des Wirklichen durch das Hinterwirkliche finden

12

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Zum Begriff siehe: Eislers Handwörterbuch der Philosophie. 2. Aufl. neu hrsg. v. Richard Müller-Freienfels. Berlin 1922. S. 464-467. Elemente der Psychophysik. 2. Theil. Leipzig i860. S. 417.

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können - «.' 4 Entsprechend grenzt er das Gebiet der Psychophysik ein auf »die Erscheinungsseite der körperlichen und geistigen Welt«:15 »Demgemäss wird auch hier wie bisher von der Seele ohne Rücksicht auf besondere metaphysische Voraussetzungen über ihre Grundnatur gesprochen, ihr Dasein einfach durch ihr einheitliches Bewusstsein, und was sich als Empfinden, Fühlen, Denken, Wollen darin zusammenfasst, gegeben gehalten, gleich viel, womit man alles das begründet halten will«. 1 ' Ähnliches gilt für den Bereich des Physischen: er ist bestimmt durch das, »was durch äussere Wahrnehmung erfasslich oder daraus abstrahirbar ist.«17 Fassen wir die Verschiebung der Problemstellung ins Auge. Statt sich bei den metaphysischen Hypothesen über die Natur von Seele und Körper aufzuhalten, interessiert Fechner sich ausschließlich für den empirisch gegebenen Zusammenhang zwischen dem Psychischen und dem Physischen. So definiert er die Psychophysik: unter ihr soll »eine exacte Lehre von den functionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele, allgemeiner zwischen körperlicher und geistiger, physischer und psychischer, Welt verstanden werden.«18 »Ohne Rücksicht auf die metaphysischen Gesichtspuncte [...], welche sich vielmehr auf das sogenannte Wesen als die Erscheinung beziehen, versucht die Psychophysik, die thatsächlichen functionellen Beziehungen zwischen den Erscheinungsgebieten von Körper und Seele möglichst genau festzustellen.«1' Dreifach sind die Konsequenzen. Unmittelbar ergibt sich aus der Ablehnung der Seelensubstanz die Negation eines festen (punktuellen) Sitzes der Seele. Fechner verficht die These vom ausgedehnten Sitz der Seelec Der ganze menschliche Körper ist ihm Träger der seelischen Prozesse; nichts könne im Leib vorgehen, was nicht begleitet wäre von psychischen Vorgängen; die geringste körperliche Veränderung führe eine seelische Erregung mit sich. Die Umkehrung lautet: Alles Seelische ist »gebunden« - Fechners Terminus - an physiologische Prozesse. Damit aber spricht Fechner das Prinzip der Beseelung des ganzen Leibes aus. Nicht von einem abgesonderten >Seelenpunkt< käme der Anstoß zu den Veränderungen im Körper, keine »Folgeabhängigkeit« herrsche zwischen »körperlichen und geistigen Bewegungen«, sondern eine »simultane oder Wechselabhängigkeit«.20 Körpervorgänge »sind [...] Aenderungen in einem variablen Systeme von Bewegungen, welche mit den Aenderungen der Seele als wesentlich gleichzeitige functionsweise verknüpft sind.«21 14

Elemente Elemente 16 Elemente 17 Elemente 18 Elemente ' ' Elemente Elemente 11 Elemente I!

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der der der der der der der der

Psychophysik 2, S. 416. Psychophysik. 1. Theil. Leipzig i860. S. 8. Psychophysik 2, S. 382. Psychophysik 1, S. 8. Psychophysik 1, S. 8. Psychophysik 1, S. 8f. Psychophysik 2, S. 393. Psychophysik 2, S. 393.

So sehr also die Psychophysik ihren ursprünglichen Impuls von der Eingrenzung auf das Erfahrbare zu empfangen scheint: Für Fechner bleibt das leitende und alle >Erfahrung< von vornherein sprengende! - Motiv seiner Forschungen, die leib-seelische Einheit gerade da, wo wir nur einseitig Körper oder Seele wahrnehmen, zu >beweisen< und sinnfällig zu machen.22 Indem solchermaßen der psychophysische Parallelismus zu einer Lehre von der durchgängigen Unabtrennbarkeit des Seelischen vom Körperlichen und des Körperlichen vom Seelischen wird, schließt er jedoch - und dies ist die zweite Konsequenz - eine direkte beiderseitige Beeinflussung aus. Parallel gehen Körper und Seele; nichts kann das eine im anderen unmittelbar auslösen. Es scheint, als führe, mit eigentümlicher Paradoxie, gerade die strengste Verknüpfung von Leib und Seele zum Dualismus. Doch Fechner weiß ihn einzuordnen in eine monistische Grundauffassung. Zwar könne niemals der Geist aus der Materie (Materialismus) oder die Materie aus dem Geist, dem Bewußtsein (subjektiver Idealismus) kausal hergeleitet werden. Doch weil in Fechners Augen kein Gedanke ohne ein »unterliegendes Spiel« materieller Kräfte 2 ' und keine Gehirnbewegung ohne einen Gedanken zustande kommt, weil also die »solidarische Wechselbedingtheit«24 an jedem Punkt der geistigen und körperlichen Kette notwendig existiert, so dürfe und müsse man sagen: Es sei nur ein Wesen, welches sich auf zweierlei Weise offenbare; 1 ' und es sei zugleich vollständig definiert durch die Gebundenheit der beiden Erscheinungsseiten aneinander:26 »Eins läßt sich ohne das andre nicht haben, etwas dahinter nicht zeigen, nicht finden.«27 Anders ausgedrückt: Von zwei verschiedenen Standpunkten aus könne das eine Wesen betrachtet werden. Zum Beispiel der Mensch: Was wir an uns selbst von außen als >Leib< wahrnehmen, erführen wir von innen als Bewußtsein; durch diese Doppelung seien wir als einheitliche Organismen bestimmt. In ihrer Parallelität also sieht Fechner Leib und Seele als identisch - nichts könnte das Motiv, beide zusammenzubringen, klarer verdeutlichen. Um den Bezug der Innenwelt zur Außenwelt erklären und >wissenschaftlich< festhalten zu können - eine direkte Beeinflussung ist ja ausgeschlossen - , konstruiert Fechner das Anschauungsmodell der inneren Psychophysikinnere Psychophysik< die Gesetzmäßigkeiten der Verbindung, stellt die Formeln auf für die Verhältnisse zwischen dem Reiz, den psychophysischen Prozessen in den Nerven bzw. dem Gehirn und der bewußten Empfindung. Umgekehrt: Nach dem Modell der >inneren Psychophysik< nehmen die Handlungen als physische Eingriffe in die Außenwelt nicht von dem bewußten Willen ihren Ausgang, sondern haben dessen körperliche Grundlagen zur Voraussetzung.19 Das herausragende Prinzip der inneren Psychophysik, das den Ubergang vom Äußeren zum Inneren reguliert bzw. exakt nachweisbar werden läßt, ist das Gesetz der Empfindungs- oder Bewußtseinsschwelle. Es besagt, daß Reize eine gewisse Stärke erreichen müssen, um die >Schwelle< des Bewußtseins zu überschreiten; der Reizstärke ist dann die Empfindungsstärke proportional. Es besagt aber zugleich, daß auch nicht bewußtwerdende Reize für uns vorhanden sind: auch sie lösen psychophysische Tätigkeiten in uns aus, die, obgleich nicht zum Bewußtsein gelangend, dennoch allen folgenden körperlich-geistigen Bewegungen zur modifizierenden Basis dienen. Damit rückt an die Stelle der qualitativen Trennung des bewußten seelischen und des unbewußten körperlichen Lebens eine rein quantitative Differenzierung. Nur dem Intensitätsgrad der psychophysischen Tätigkeit nach sind beide verschieden, und die Empfindungsschwelle ist eine variable Größe. Wir nähern uns der dritten Konsequenz aus der Parallelismus-Hypothese: der Bildung des Begriffs und der Theorie vom Unbewußt-Psychischen. Es wäre dies der letzte Schritt, zu dem Fechners Weg der Grenzüberwindung führt. Er selbst tut ihn nur halb. Zwar spricht er vom >Unbewußten< als einem latenten Zustand des Bewußtseins.30 Doch er kennt nicht das >Unbewußte< als den Gegenpol zum Bewußten innerhalb des Psychischen; letzteres setzt er mit >Bewußtsein< gleich. Die unbewußten Empfindungen, da sie prinzipiell über die Schwelle treten könnten, versieht er mit >negativen BewußtseinswertenunbewußtErdeErde< mit und in jeder seiner physischen Erscheinungen die korrespondierende Seele - so gehört schließlich zum Weltall die >Weltseelehinter unserem Augean sich« aber nur das sein, wozu die wissenschaftliche Anschauung sie macht, »ein finstrer, im Finstern seinen Weg suchender, Ball«? 39 Jegliche sinnliche Erscheinung ist bezogen auf ein wahrnehmendes Bewußtsein - um den qualitativen Reichtum unserer Welt zu retten, postuliert Fechner den Weltgeist, in dem sich die Natur sinnenhaft wie in unserer Seele spiegelt. Es gibt keine unerkennbaren >Dinge an sich< - was wir mit unseren Sinnesorganen erkennen, ist >wahr< im umgreifenden Bewußtsein; auch außerhalb unseres Gesichtskreises >existiert< der Sinnenschein. Zwar >sieht< der göttliche Geist vollständiger als wir: 35

Vgl. Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, S. 3ff., bes. S. 8. - Z u Fechners Biographie siehe: Kurd Laßwitz: Gustav Theodor Fechner. 2. verm. Aufl. Stuttgart 1902. Bes. S. 39ff.; Gert Mattenklott: Nachwort zu: Gustav Theodor Fechner: Das unendliche Leben, S. i 7 i f f .

3
Dinge an sichMonismus< und >ParallelismusGeist und Körper, Seele und Leib< [...] die verschiedenen Richtungen [...] auf Grund einer außerordentlichen Fülle der Literatur dargestellt und kritisch erörtert, f...] Es war nun dem Verfasser darum zu tun, diesem standard work der dualistischen Wechselwirkungstheorie eine Darstellung und Kritik des Materials vom Standpunkte des parallelistischen Monismus gegenüberzustellen.«67 Die »Vorstellung des Parallellaufens physischer und psychischer Vorgänge [...] hat ohne Frage große Vorzüge, und man versteht durchaus, daß sie viele und geistvolle Vertreter gefunden hat. Eine Zeitlang durfte man sie die herrschende Leib-Seele-Hypothese nennen.« Ricarda Huch findet für die neuartige Beseelung des Körperhaften die Bezeichnung Physio-Psychologie. »Psychophysisch« sagen Ellen Key und Lou AndreasSalomé, wenn sie die ersehnte >Lebenseinheit< charakterisieren wollen/' Ähnlich wird der Begriff der Empfindungsschwelle zum Schlagwort für die Vorkämpfer der >Nervenkunst< (Hermann Bahr 70 ). Versichern wir uns nochmals unserer Fragestellung: Worin beruhte Fechners Attraktionskraft? Welche Bestrebungen ermöglichten und bestimmten seine Rezeption? Welches geistige Spektrum, welches Psychogramm wird durch unsere Blickrichtung erschlossen, von dem wir dann die Werke der Moderne definitorisch abheben können? Im Hinblick auf unser literarisches Thema ergeben sich die Fragen: Wirkt sich die strenge Zusammenschau von Leib und Seele, die die Psychophysik lehrt, aus auf die gleichzeitige poetische Symboltheorie? Auf die dichterische Symbolik? Wie stellen sich Unbewußtes, Physisches und Psychisches zueinander? Welche Bedeutung hat die Entdeckung des Unbewußten für die Interpretation der körperhaften Formen? Zweigleisig haben wir bei der Beantwortung zu verfahren: Dem Leib-Seele-Problem gesellt sich der erkenntnistheoretische Gesichtspunkt, die Suche nach den >WirklichkeitenPsychophysik< vgl. die Beiträge im Ausstellungskatalog der Wiener Festwochen: Clair u.a. (Hrsgg.): Wunderblock. Kap. X I I : »Psychophysik«; bes.: Ursula Baatz: Licht - Seele - Augen. Z u r Wahrnehmungspsychologie im 19. Jahrhundert, S. 3 5 7 - 3 7 8 .

2

Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, S. 124.

3

Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, S. 127.

49

Solche Doppelung ist es, die die antinaturalistische Wende so mancher naturalistischer Autoren buchstäblich dirigiert.4 Ganz offenkundig wird dies am Beispiel Carl Hauptmanns. In den Beiträgen zu einer dynamischen Theorie der Lebewesen (1892) - der fertiggestellte erste Teil trägt den bezeichnenden Titel: Die Metaphysik in der modernen Physiologie'' - stellt er eine Entwicklungslehre vor, die streng dem parallelistischen Postulat folgt. Die Evolution soll erklärt werden in ihrer kausalen Notwendigkeit, als ein linear verlaufender Prozess, den an jedem Punkt seiner tausendfältigen Verschlingungen restlos die chemisch-physikalischen Bedingungen und Elemente bestimmten. Wenige Jahre später feiert Carl Hauptmann in seinem Tagebuch (1900) die entgrenzende Intuition in die >Seelen< aller Geschöpfe. Von ihrem Ansatz her ermöglicht also die Parallelismus-Hypothese einen Kompromiß zwischen der >materialistischen< Naturwissenschaft und den Forderungen des Geistes - darin begegnet sie einem zentralen Bedürfnis der Zeit. Das Bestreben, beides miteinander zu versöhnen, erzeugte den Monismus - und dieser nimmt an entscheidenden Punkten parallelistische Anschauungs- und Ausdrucksweisen in sich auf. Wir verstehen unter >Monismus< zunächst die historisch auf das späte 19. Jahrhundert beschränkte philosophische Strömung. Ausgehend von der Identität des Seelischen mit dem Körperlichen auf metaphysischer Ebene, wollten seine Vertreter auch im Empirischen, nunmehr mittels des Entwicklungsgedankens, die Einheit von Materie und Geist erkennen und nachweisen. Charakteristisch ist der synomyme Gebrauch der Begriffe Psyche, Seele, Bewußtsein, Geist. Denn es kommt nicht auf die inhaltlichen Resultate, die >VernunftideenÜberwindung< des Naturalismus von dessen eigenen Prämissen her; die Rolle, die hierbei die naturwissenschaftlichen Theoreme selbst, letztlich die Naturauffassung, spielen, wurde dabei jedoch keiner näheren Untersuchung unterworfen. Vgl. Martin Machatzke: Vom naturalistischen zum symbolistischen Drama. Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Literatur um 1900. In: Grillparzer-Forum. Forchtenstein 1976. S. 69-89 (Adaption von H. Bahrs Perspektive: in der »Überreiztheit der Nerven« [S. 83] wird der gemeinsame Nenner gesehen); Mary E. Stewart: Naturalism and the Supernatural: a Fresh Look at Religious Issues in Two German Novels of the 1890s. In: Journal of European Studies 12. 1982. S. 249-259 (Max Kretzers Die Bergpredigt und Bölsches Die Mittagsgöttin). Gebhard (Der Zusammenhang der Dinge) arbeitet heraus, daß aufgrund der Behauptung der >Lebenstotalität< >Naturalismus< und >Symbolismus< (die >ModerneTotalität< auf Kosten der Widersprüche der Wirklichkeit zu vergewissern, gelingt es ihm nicht, die inhaltlichen Komponenten dieses Weltbilds zu verdeutlichen.

5

Carl Hauptmann: Beiträge zu einer dynamischen Theorie der Lebewesen. Teil I: Die Metaphysik in der modernen Physiologie. Neue, durch ein Autorenverzeichnis verm. Aufl. Jena 1894.

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Materie erklärt w u r d e . In dem >physiognomischen< Element, das dem >Monismus< durch die A u f n a h m e Fechnerscher Ideen (Parallelisierung des Ä u ß e r e n mit dem Inneren) eignet und das w i r herausarbeiten wollen, 6 sehen w i r des weiteren die Brücke z u dem metaphysischen M o n i s m u s Hartmannscher Prägung. A l s >monistisch< in einem solchermaßen erweiterten Sinn wären alsdann die Bestrebungen z u charakterisieren, aufbauend auf der These v o n der - w i e auch immer z u begründenden - Identität des Leiblichen und Seelischen allein und ausschließlich an den sichtbaren F o r m e n des Lebens (und nicht an abstrakten Gedankengebilden) dessen »übersinnlichem, über das Individuum hinausweisenden, Gehalt festzumachen. -

U m den universellen geistigen Zusammenhang plausibel zu machen, Schloß Fechner vom Äußeren auf ein Inneres nach Analogie der menschlichen Selbsterfahrung. Seine Nachfolger bedienen sich durchweg des gleichen >physiognomischen< Verfahrens. Die geistige Parallele zur physischen Welt einmal zugegeben, soll die Zuordnung auch erkennbar werden und greifbar hervortreten; die geistige Parallele wird zur >Innenseite< der Dinge. Der psychophysische Parallelismus konsolidiert sich als die Theorie, die die Geist-Körper-Relation als eine Koordination von >Innen< und >Außen< faßt. >InnenweltInneresInnenseiteInnensein< und >Für-Sich-Sein< der Dinge kehren, zusammen mit ihren Gegenbegriffen, als Termini immer wieder. Physisches und Psychisches seien, als Erscheinungsweisen des gleichen Wesens, aufeinander bezogen wie die zwei Seiten eines Kreises, dessen Linie je nach dem eingenommenen Standpunkt konvex oder konkav sich krümme. Um die Implikationen, die Tendenz einer solchen Interpretation der Außenwelt - als Veräußerung eines Inneren - recht zu verstehen, lenken wir nochmals den Blick auf die Präsentation der physischen Seite. Wir wollen nunmehr die Entwicklung vom Materialismus zum Monismus begreifen als direkte Konsequenz aus der Psychophysik. Man weiß: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist geprägt vom Aufstieg der Naturwissenschaften; es ist das Zeitalter des Positivismus, des Materialismus, der bedenkenlosen Wissenschaftsgläubigkeit. Die Psychologie gewinnt materialistischen Charakter - und ausgerechnet Fechner stellte die Weichen für diese Entwicklung. Fanden seine naturphilosophischen Schriften auch zunächst keine Beachtung - mit den Elementen der Psychophysik hatte er sofortigen und nachhaltigen Erfolg. Seine experimentellen Forschungen verschafften ihm die Anerkennung der Kollegen; in der Fachliteratur ist sein Name präsent; hier liegt der

6

D e n A u s g a n g s p u n k t für uns bildet hierbei Ricarda H u c h s A n a l y s e . D i e P h y s i o g n o m i k der R o m a n t i k - u n d das heißt: der M o d e r n e - ist für sie unlöslich verquickt mit der >Physio-Psychologie< bzw. ist >Physio-PsychologieSeele< greifbar sei sozusagen an der Oberfläche der Körperwelt, daß man ihr und ihrer Tätigkeit auf die Spur kommen könne durch Messung der körperlichen Vorgänge. »Die moderne Psychologie will physiologisch werden«:7 Sicherlich hat Fritz Mauthner recht, wenn er die solchermaßen charakterisierte Psychophysik - er nennt sie einen »verzweifelten Ausweg« - als die letzte Konsequenz aus der »hundertjährigen Herrschaft des tapferen materialistischen Irrtums« auffaßt;8 sicherlich stellt sie einen Gipfel in der materialistischen Reduktion des Seelenbegriffs dar. Und doch macht sich auch hier die der Psychophysik eigentümliche Ambivalenz bemerkbar; ihre Ergebnisse lassen eine doppelte Auslegung zu. Denn indem die experimentelle Psychologie buchstäblich die Tastbarkeit, die Regsamkeit der Seele in der Physis, nachweist - provoziert, ja impliziert solche Versinnlichung nicht zugleich die Umkehrung: die Beseelung des Physischen?9 Genau diesen Sprung vollzieht Mauthner in der - eben zitierten -Kritik der Sprache (1901), wenn er den Bereich, für den die Worte gelten, verlassen will. Er lehnt die parallelistischen Theorien ab, weil nach ihnen immer noch unterschieden werde zwischen Seele und Körper, während die Sprache, als Werkzeug der Sinne zum Begreifen der Außenwelt, das >Innere< gar nicht darstellen könne, es in der >Sprachwelt< also keine Seele gäbe.10 Deshalb begrüßt er auch die physiologische als immerhin ehrlichste Form der Psychologie. Jenseits der Sprache dagegen, in der sprachlosen Natur, seien Leib und Seele eines, bildeten, in ihrer Identität sprachlich unfaßbar, die eine >wirkliche Wirklichkeitswelt·«.11 Mit dieser Begründung aber bleibt Mauthner innerhalb des Paradigmas: denn er formuliert ja nur die Parallelismushypothese aus bis zu ihren metaphysischen Prämissen. Wir haben mit dem Hinweis auf Mauthner unserem Gedankengang vorgegriffen und eine Grenze im Geltungssbereich des >Monismus< berührt, an der Autoren wie Musil sich ansiedeln lassen. Doch spiegelt Mauthners sprachkritische Wendung die allgemeine Tendenz, die zu Ende des 19. Jahrhunderts den Materialismus ablöst bzw. diesen umwandelt: die (monistische) Integration von Leib und Seele bei gleichzeitigem intensiven Anklammern an die >wirkliche Wirklichkeit^ Eine neue Auffassung der physischen Welt bahnt sich an. Man erforscht den Bau 7

Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1: Sprache und Psychologie. Stuttgart 1901. S. 2 2 1 .

8

'

Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache 1, S. 2 2 1 . Wenn Ricarda H u c h Fechner aus dem Kontext der physiologischen Psychologie herausnimmt und wenn sie die >Psychophysik< als eine Wissenschaft weniger der >Seele< als vielmehr der >Beseelung< versteht, so wird hier der von der Ambivalenz ausgelöste Wandel im Weltbild offenkundig.

10

Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache 1, S. izytt.; 254H.

11

Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache 1, S. 2 3 1 : »In der Sprache nur gibt es diese zwei Worte, Geist und Körper, in der wirklichen Wirklichkeitswelt ist das eine vom anderen nicht zu trennen.«

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der einzelligen Lebewesen - der kaum differenzierten Organismen, die doch die Fähigkeit haben, sensibel auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Hier, in diesen primitiven Formen, die gleichsam >Ur-Formen< sind, scheint der Gegensatz von >Leib< und >Seele< endgültig aufgehoben, das >Seelische< unmittelbar plastisch geworden - es liegt, als Empfindungsvermögen, offen zutage in den bewußtlosen Reflexen; hier gibt es kein von dem Äußeren geschiedenes Innere - die Reize passieren den Zellkörper, ohne eine Bewußtseinsspur zu hinterlassen; hier ist das Anschauungsbeispiel für den Begriff der >beseelten Materie« gefunden. Allgemein spricht man von »Zellseelen«. Und man spricht von »Atomseelen«:12 Durch die Entdeckung der atomaren Struktur der Materie wurde in ein >belebtes< Kräftespiel aufgelöst, was bisher als starre, unbewegliche Masse geschienen hatte. So aber berührt sich der Monismus mit dem Parallelismus. Für beide gibt es kein Äußeres ohne ein Inneres; jeder Punkt, jedes Atom der Materie wird auf ein Psychisches bezogen. Ernst Häckel etwa, der Hauptwortführer des Monismus und eifriger Verfechter der Zellseelentheorie, dessen Weltanschauung sich im übrigen denkbar weit von derjenigen Fechners entfernt, benutzt dessen Formeln, um das Verhältnis zwischen Physischem und Psychischem zu erläutern.'3 In welchem Maße und mit welchen Folgen dabei Fechners Ansatz, die These der generellen Koordination von Leib und Seele, diese Vereinheitlichung auf naturwissenschaftlicher Basis bedingte und bestimmte, sollen drei repräsentative Beispiele dartun. Wir entnehmen sie jenen beiden Gebieten, die wir zuletzt angesprochen haben und die damals wohl am intensivsten diskutiert wurden: den Gebieten der p h y siologischen Psychologie« und der Biologie. Es handelt sich um - zum Teil sehr prominente - Autoren, die alle in Berührung standen mit den uns interessierenden Künstlerkreisen: den Psychiater August Forel, den Mediziner Carl Ludwig Schleich und den Zoologen August Pauly. Forel war ein Lehrer Carl Hauptmanns; Gerhart Hauptmann besuchte 1888 die von ihm geleitete Irrenanstalt Burghölzli (Zürich). Die erschütternden Eindrücke beschreibt er in den Lebenserinnerungen Abenteuer meiner Jugend.14 Rilke erwägt Forel als Ratgeber für die geplanten naturwissenschaftlichen Studien, die ihm die notwendige >sachliche< Orientierung über das >Leben< vermitteln sollen. 1 ' - Carl Ludwig Schleich gehörte zum engsten Freundeskreis Richard Dehmels; von daher sind frühe Beziehun" 13

14

15

Vgl. Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, S. 271 (in bezug auf Häckel). In dem Vortrag Zellseelen und Seelenzellen (gehalten in Wien 1878; veröff. Leipzig 1909) beispielsweise spricht Häckel von dem Protoplasma als dem »materiellen Träger des Seelenlebens« (S. 47); zur Begründung seiner >Allbeseelungstheorie< beruft er sich auf Fechner (S. 49). Vgl. Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Hans-Egon Hass. (CentenarAusgabe zum 100. Geburtstag des Dichters. 15. Nov. 1962). Zürich iwissenschaftliches< Vokabular. Materie, Energie, Bewußtsein heißt es nun statt Erdleib, Pflanzenseele und Weltgeist.19 Geradezu frappierend ist die Ubereinstimmung: »Der Monismus kann daher nicht einer materialistischen Metaphysik das Wort reden, so wenig wie einer spiritualistischen, weil er sich sonst verleugnen würde. Für ihn sind die Begriffe >Materie< und >Seele< wertlose, mißverstandene Worte, sobald sie als gegensätzliche Dinge aufgefaßt werden. Es sind abstrakte Scheinbegriffe, die der Mensch willkürlich aus der Einheit der Weltdinge herausgekünstelt hat, die aber für sich genommen jede tatsächliche Grundlage entbehren. Ganz gleichgültig ob >physiologisch< oder >psychologisch< enthält für uns jede Erscheinung tint psychologische und eine physiologische Seite. [...] Das >Psychologische< ist aber in beiden Fällen unmittelbare Erscheinung, das >Physiologische< oder >Objektive< dagegen nur mittelbare, durch andere Sinne und Ueberlegungen kontrollierte und daher erschlossene Anschauungskette. Nachdem jedoch das Gehirnstudium und die Psychophysiologic uns den Nachweis geliefert haben, daß es keine unmittelbare Bewußtseinserscheinung ohne Gehirntätigkeit gibt und wir eigentlich selbst beim Fühlen, Denken und Wollen die Anstrengung und Tätigkeit unseres Gehirnes ganz gut merken, ist es ebenso klar, daß jede rein innerliche psychologische Erscheinung ihre physiologische Seite, die Bewegung einer materiellen Grundlage im Gehirn hat. Mit einem Wort, es gibt nichts >Psychisches< ohne >Physisches< und wenn wir das >Nicht ich< introspizieren könnten, fänden wir höchst wahrscheinlich, daß es ebensowenig ein >Physisches< ohne >Psychisches< 16

17

18

Siehe Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Bd. 1/2. Frankfurt/M. 1975. S. 51. Welche Beunruhigung von dem Phänomen der Hypnose ausging, davon legt Karl Emil Franzos' auf eine Rundfrage hin zusammengestellte Band: Die Suggestion und die Dichtung. Gutachten Uber Hypnose und Suggestion (Berlin 1892) Zeugnis ab. Der Band enthält Stellungnahmen namhafter Fachleute (z. B. Foreis) zur Frage nach der Bedeutung der Hypnose; den Anaß gab, wie Franzos im Vorwort berichtet, die zunehmende literarische Behandlung des Themas.

August Forel: Der Hypnotismus. Seine psychologische, psychophysiologische und therapeutische Bedeutung oder Die Suggestion und Psychotherapie. 5. umgearb. Aufl. Stuttgart 1907. S. 9. *' Forel: Der Hypnotismus, S. 23. 54

gibt.«20 Die - für ihn - >metaphysische< Konsequenz der Allbeseelung lehnt Forel als eine legitime Denkmöglichkeit durchaus nicht ab; der Gefahr des >Anthropomorphismus< begegnet er durch die Überlegung, »daß das Element des introspektiven (psychischen) Reflexes im Verhältnis zu einer Menschenseele ebenso einfach sein muß wie ein Atom im Verhältnis zum lebenden Menschenhirn.«21 Diese Zusammenschau von >Physiologischem< und >Psychologischem< dient Forel dazu, seine Theorie der Hypnose zu exponieren. Für uns ist es wichtig zu beobachten, wie sich, aufgrund der monistischen Sehweise, beide >Seiten< verbinden, ineinander verschränken, wie das Psychische quasi eindringt in das Materielle. Nach Forel >besitzt< alles Physische »Introspektionen«; nichts »verhindert« also, »daß im gleichen Gehirn andere Tätigkeitsketten koexistieren, die ebenfalls ihre Verkettung von Introspektionen besitzen, aber durch Hemmungsvorrichtungen an einer Verkettung mit der ersten« - d. i. mit dem Oberbewußtsein - »verhindert sind«.22 In der Hypnose >enthemme< der Arzt dieses subcerebrale System und übertrage auf es seine Vorstellungen. Schlaglichtartig erhellt in Foreis Augen die Identität von Organischem und Psychischem aus der Tatsache, daß hypnotische Befehle physische Reaktionen auslösen. Jeder Bewußtseinsinhalt sei auch somatisch:23 deshalb setzten sich die suggerierten Bilder, aufgenommen und verarbeitet mittels der unterbewußten Funktionen des Gehirns, mit zwanghafter Notwendigkeit in die entsprechenden körperlichen Erscheinungen um.24 Forel macht von unserer Suggestibilität - der >unterbewußten< Nerventätigkeit - den intuitiven Glauben an die Realität unserer Sinnesempfindungen abhängig,25 ohne den wir uns gar nicht orientieren könnten, und von der Annahme des >Unterbewußten< die Begründung für die Existenz der Außenwelt; das >UnterbewußteDas Unbewußte in uns ist das Unbewußte außer uns«: offensichtlich folgt auch er diesem - uns bekannten - Denkmuster. Verstehen wir Foreis knappe Andeutungen recht, so gibt er ihm nunmehr eine - charakteristische - Wendung ins Körperhaft-Konkrete. Wie das Psychische hineinprojiziert wird in die Materie, so wird es zugleich veräußert, materialisiert. Das Unbewußte - das sind bei Forel die reizbaren Nerven, die auf die von draußen kommenden Einflüsse reagieren, die >unterhalb< der Bewußtseinsreflexe schon immer 20 21 22 23

14 25 16

Forel: Der Hypnotismus, S. izi. Forel: Der Hypnotismus, S. 13 (Anmerkung). Forel: Der Hypnotismus, S. 19. Forel bezeichnet es als den entscheidenden Fehler der Schule Charcots, daß sie »die Ausdrücke somatisch und psychisch als Gegensätze hinstellte«. Der Hypnotismus, S. 48. Forel: Der Hypnotismus, S. 36 (Beispiele). Forel: Der Hypnotismus, S. 52. Forel: Der Hypnotismus, S. 6f.

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den Kontakt zur Umgebung hergestellt, die den Menschen vor aller bewußten Tätigkeit mit seiner Umwelt genauestens verflochten haben. >Psychophysisch< ist diese Realität - und sie ist mehr als >VorstellungSeelische< an den Körpern abgetastet wird bis zur Wurzel, den kleinsten und ursprünglichsten Einheiten des Lebens.33 Der psychophysische Monismus - so wollen wir nunmehr, in Anlehnung an Forel, die philosophische Theorie und Geistesrichtung nennen, um den aufgezeigten Zusammenhang festzuhalten - liefert deshalb, wegen der Orientierung an den Anfängen, insbesondere das Erklärungsmodell für die Evolution; Biologen machten sich gerne psychophysische Denkmuster zunutze. Ein extremes und doch symptomatisches Beispiel sind August Paulys Vorlesungen über Darwinismus und Lamarckismus (1905); sie tragen den Untertitel: Entwurf einer psychophysischen Teleologie. Pauly möchte eine »Psychologie des Körpers« 34 begründen. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das Rätsel der funktionellen Anpassung der Organe. Für ihn liegt das Lebensprinzip in den zweckmäßigen Bezügen, nach denen der Bau, die Lage, die Funktion bzw. der Gebrauch eines Körperorgans sich gegenseitig bedingten. Er vermag die Abhängigkeitsverhältnisse in ihrer Stimmigkeit nur unter dem Begriff des >Geistigen< zu fassen; und doch erweist sich ihm dieses >Geistige< als identisch mit dem »physischen Wesen des Lebens«.35 Die Lösung findet er in dem Wechselspiel von Bedürfnis und Abhilfe, nach dem die Organe sich formten und betätigten; hier sieht er psychische Kräfte unmittelbar den Körper bilden, sich körperlich niederschlagen. So kann er als ein wissenschaftliches Postulat die Identität der psychischen und phy31

Schleich: Von der Seele, S. 141.

32

Schleich: Von der Seele, S. 140.

33

Symptomatisch und den Sachverhalt überaus erhellend ist die folgende Formulierung Wundts: »Denn es sind gerade jene Inhalte des organischen Lebens, die der unmittelbaren Wahrnehmung keine psychische Seite darbieten, in denen die letzten Fragen des Zusammenhangs von Natur und Geist und damit zugleich die wichtigsten Probleme der zweckmäßigen physischen Organisation selbst eingeschlossen sind.« Wilhelm Wundt: System der Philosophie. 2. umgearb. A u f l . Leipzig 1897. S. 604.

34

August Pauly: Darwinismus und Lamarckismus. Entwurf einer psychophysischen Teleologie. München 1905. S. 204.

"

Pauly: Darwinismus und Lamarckismus, S. 334.

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sischen Wirkung formulieren. 36 Die verborgene Werkstatt unseres Leibes, in dem ständig Botschaften von Zelle zu Zelle übertragen würden, mit dem Ergebnis einer organischen Umgestaltung, zeige, daß das Psychische Ausdehnung und das Physische Subjektivität besitze. Pauly skizziert ein phantastisches Bild von der psychischen Leistung der Zellen, wie sie ihr Wissen vom Gesamtorganismus empfingen und wie ihr Gefühl auf diesen >zurückstrahleBeseelung des Physischenc das erste Motiv für die weite Verbreitung parallelistischer bzw. psychophysisch-monistischer Ideen hat sich in seiner Doppelstruktur herauskristallisiert. Das Bestreben, die Welt >von innen< zu fassen, ist unlöslich gekoppelt mit dem anderen Bestreben, das >Innere< zuäußerst darzustellen, in sichtbaren Zusammenhängen zu sehen. Uberaus erhellend tut sich solches zwiefache Bestreben kund in der eigenartigen, wir möchten wiederum sagen: physiognomischen Umdeutung, die Schopenhauer durch den psychophysischen Monismus erfährt. Generell erblickt man in Schopenhauer einen Vorläufer der parallelistischen Theorie, wie auch umgekehrt deren Vertreter Gedanken Schopenhauers verarbeiten. 38 Die psychische Innenseite wird dem >WillenObjektivationen< gleichgesetzt: dem Leib, der (nach Schopenhauer) die äußere Erscheinung des Willens ist. 3 ' Doch gleichgültig, ob man Schopenhauer Widersprüche vorwirft, 4 0 ihn sinngemäß auszulegen glaubt oder sich 36 37 38

Pauly: Darwinismus und Lamarckismus, S. 109Í. Pauly: Darwinismus und Lamarckismus, S. 229. Vgl. auch S. 238, 239 u.ö. Offenkundig Wundt in seiner Naturphilosphie (s.u.); vgl. auch Eisler, der Schopenhauers Willensbegriff - mit der charakteristischen und folgenreichen Einschränkung, daß es einen inhaltlich leeren, unbestimmten Willen allerdings nicht gebe - übernimmt: Leib und Seele, S. 1 0 7 !

39

Schopenhauer selbst leistet dieser Auslegung Vorschub in seinem Essay Zur Physiognomik (aus dem 2. Band der Parerga und Paralipomena). Man kann in Schopenhauers Berufung auf die Physiognomik einen Selbstwiderspruch sehen: denn von ihrem Ursprung her ist diese individualistisch, geht sie aus von der Einzigartigkeit des Individuums (Lavater). Vgl. hierzu auch das unten über die Lebenskraft-Theorien Gesagte (Kapitel 5.1).

40

So Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, S. 2/of.

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auf ihn zur Bestätigung der eigenen Ansicht beruft - man versteht den >Willen< kaum noch als metaphysisches Prinzip jenseits der Erscheinungen, sondern als das Organisationsgesetz individueller Lebensformen. Paulsen: »Die Urform des Willens ist der Trieb, dessen körperliche Darstellung ein Organsystem mit seiner Bethätigungstendenz ist.«4' Und: »Der Trieb zur Bethätigung der Anlage wirkt ja überall zugleich als Trieb zur Gestaltbildung, das Individuum erhält seine ausgeprägte, fertige Gestalt durch die Bethätigung.«42 »[...] ein in Triebempfindungen sich äußernder [...] Wille wäre dann in letzter Absicht der Bildner der Form.«43 Der >WilleWille< wird sichtbar im Zweckorganismus, in dessen genau auf die Umgebung abgestimmten Einrichtung, und es ist ein bestimmter >Willeexakte< Deutung des physischen Äußeren als Ausdruck eines seelischen Inneren gefunden: »Also [...] das leibliche Organsystem ist die äußerlich wahrnehmbare Darstellung des Willens und seines Triebsystems, der Leib ist die Sichtbarkeit oder die Erscheinung der Seele.«46 Wir meinen, daß solche >Versinnlichung< allgemein Weltblick und Geisteshaltung um 1900 charakterisiert - charakterisiert wohl als Parallele zu der Entdekkung der Mikrostruktur des Kosmos, in der man die Triebfedern des Lebens nunmehr vor Augen gebracht glauben konnte. Eine Spannung zwischen >Geist< und >Natur< wird nicht zugelassen, nicht ausgehalten. Daß wir bei unserer Umschau in der Fachliteratur keine esoterischen, sondern populäre, den Zeitgeist prägende Ideen kennengelernt haben, bestätigt uns auf einprägsame Weise Bölsches Liebesleben in der Natur (i898ff.) - jenes Kompendium des damals gängigen biologischen Wissens, das zugleich, als ein popularphilosophisches und literarisches Werk, selbst wiederum weite Verbreitung gefunden hat. 41

Friedrich Paulsen: Einleitung in die Philosophie. Berlin 1892. S. i i } { .

43

Paulsen: Einleitung in die Philosophie, S. 194.

43

Paulsen: Einleitung in die Philosophie, S. 195.

44

Wundt: System der Philosophie, S. 322ÍÍ.; 5 o/ff.

45

Paulsen: Einleitung in die Philosophie, S. 195.

46

Paulsen: Einleitung in die Philosophie, S. 382.

59

Alle behandelten Teilaspekte fügen sich in Bölsches Entwicklungsgeschichte der Liebe, wie der Untertitel lautet, zusammen. Zunächst: Die geistige Statur des Werks ist charakterisiert, wenn man es, unter Bezug auf Schopenhauers berühmten Essay,47 als den Versuch einer >empirischen Metaphysik der Geschlechtsliebe< bezeichnet. Wie Schopenhauer rückt Bölsche die Zeugung in den Mittelpunkt des »ewigen LebensWille< sagt Bölsche >Natur< - wiederum gilt also: Er trifft keine Unterscheidung zwischen der metaphysischen und der empirischen Ebene, dem Bereich des >Willens an sich< und der Erscheinungswelt, in der das >principium individuationis< und der >Satz vom Grunde< herrschen. Diese sind ihm nicht Täuschung, und jener entfaltet sich als das Prinzip der Entwicklung. Die metaphysische Erkenntnis des >Tat twam asi< - bei Bölsche verwandelt sie sich zur Vision der Realitäten der Evolution. In ununterbrochener Folge hätten sich, durch die Macht der Vereinigung und Zeugung, die »Urwesen« hinaufentwickelt zu den komplizierten Tierorganismen bis hin zum Menschen deshalb, auf empirisch-kausaler Basis also, verkörpere der Mensch alle Lebensformen: »Aus Tieren, niedriger als dieser schwebende Schmetterling, bis du, Mensch, geworden, du als Mensch der modernen Erkenntnis. Von Urwesen ging dein Stamm aus [...]. Groteske Geschöpfe ohne eine Spur deiner Gestalt waren >duZeugung< und >Höherentwicklung< werden zu identischen Begriffen; die Geschlechtlichkeit (das »Weib«) im »Herzen der Welt«4* wird in eins gedacht mit der Entwicklung der Formen auseinander und auf den Menschen hin. Ebenso konkret wie die zeitlichen Dimensionen des menschlichen Leibes - Bölsche spricht vom »Zeitleib«50 - imaginiert er dessen räumliche Ausdehnung. Die Einsicht in die sozusagen physiologische Subjektivität der Sinneswahrnehmung kehrt er um zu einem Argument für die vom menschlichen Leib nun auch räumlich verkörperte, sinnlich realisierte, Einheit mit dem Universum. Nicht metaphorisch ist die phantastische Vorstellung gemeint, »daß dein Leib räumlich nicht hier endet, wo dein Auge lacht, sondern in Wahrheit bis zur Sonne und bis zum Sirius reicht«, da er diese ja »trotz ihrer räumlichen Entfernung von Millionen und Billionen Meilen mit den kleinen Hautstückchen seiner Netzhaut im Auge noch leibhaftig tastet«.'' Den >Allzusammenhang< in seiner konkreten Wirklichkeit sieht Bölsche - das ist das Aperçu, der eigentliche Kernpunkt seiner »Philosophie der Zeugung«' 2 47 48

49

51 52

60

Metaphysik der Geschlechtsliebe aus dem i. Band der Welt als Wille und Vorstellung. Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe. ι. Folge. 9.-10. Ts. Leipzig 1902. S. 6. Ähnlich S. 94ff.: I 0 3 Bölsche: Das Liebesleben in der Natur i, S. 36. Bölsche: Das Liebesleben in der Natur. 1. Folge. 7. u. 8. Ts. Leipzig 1902. S. 113. Bölsche: Das Liebesleben in der Natur 2, S. 113. Bölsche: Das Liebesleben in der Natur i, S. 64 u.ö.

insbesondere gewährleistet durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzellen. Denn hier wiederholt sich für ihn im differenzierten vielzelligen Organismus der Urakt, den die ersten einzelligen Lebewesen bereits vollzogen hätten. Das biogenetische Grundgesetz - es besagt, daß der Embryo im Mutterleib die verschiedenen Stadien der Evolution noch einmal durchläuft - bringt die letzte, wiederum im Anschaulichen verankerte, Bestätigung: dem Leib des Menschen seien, vom Moment der Zeugung an, die organischen Entwicklungsstufen - Bölsche verwendet das Wort - »eingeschrieben^53 Schopenhauer interpretierte die Liebesvereinigung als den Akt, in dem, >an sich< betrachtet und der Erlebnisweise der Individuen verborgen, der >Wille< sich über sich selbst hinaus bejaht. Für Bölsche kondensiert sich dieses »An sich< in den biologischen Abläufen: »Mit der Eizelle aber hängst du im Innenleben des Kosmos. In der Folge des Lebendigen. Nicht bloß mit dem empfangenden Auge, sondern mit der eigenen That. Du wirst selber Kosmos in ihr.«54 Zugleich - dies ist immer die notwendige Ergänzung, ja Konsequenz der >Versinnlichung< - erhalten die biologischen Vorgänge eine (pseudo-) metaphysische Auslegung. Wird doch nach Bölsche in der Zellvermischung die »Urnatur« lebendig; der Leib aktualisiere durch die Betätigung seiner ältesten Schichten jenes »größte Mysterium des dunkeln Natur-Urgrundes«, aus dem »ewig« das Leben emporsteigt.55 Niemals aber, auch in solchen dunklen Andeutungen nicht, verläßt Bölsche den Bereich dessen, was sich sinnlich bekundet und erfahrbar ist. Der Leib und die Befruchtung stellen ihm als Produkte der Evolution selbst das Geheimnis dar, füllen es gleichsam restlos aus: »In diesem Moment aber siegt das Prinzip des Aneinanderwachsens noch einmal wie in einer äußersten posthumen Vision, einem Aufleben eines Stückes Urnatur, Urwelt, Kinderzeit vor einer Sekunde tiefsten Sichversenkens in das größte Mysterium des dunkeln Natur-Urgrundes, der keine Zeit, kein Alt und Neu kennt, sondern ewig wieder in uns mit seiner Dämonenkraft aufersteht: der Zeugung. [...] da muß der Zell-Leib zum Zell-Leibe«.56 Der Zusammenfall der Ebenen - jene vollständige Verquickung der empirischen Tatsachen mit deren über die einzelne Erscheinung hinausweisendem (»metaphysischem^ Sinn - deckt sich mit der »Beseelung des PhysischenAtomseelenSehen< kommt es an, daß die vollkommene Äquivalenz zwischen Physischem und Psychischem sichtbar werde. Busse spricht von der spezifischen Energie der sinnlichen Auffassungsweise«, von der, nach der parallelistischen Theorie, die Erkenntis der ganzheitlichen Realität abhänge; dem Parallelismus mit seiner These 67

Paulsen: Einleitung in die Philosophie, S. I33ff., bes. S. 144. - Z w a r spricht Paulsen an anderer Stelle, der idealistischen Prämisse seines Denkens gemäß, von der Unadäquatheit, mit der die sinnliche Wirklichkeit das seelische Sein repräsentiere (S. 115). Doch macht es für ihn den Vorzug des psychophysischen Parallelismus Fechnerscher Prägung gegenüber Kant aus, daß nicht in der schroffen Gegenüberstellung von »Erscheinung« und >Ding an sich« verharrt wird, sondern daß die Verbindung hergestellt wird vom Äußeren zum Inneren (S. 114).

68

Paulsen: Einleitung in die Philosophie: »alle körperliche Wirklichkeit ist durchaus und überall Hinweisung auf eine Innenwelt, die der verwandt ist, die wir in uns selber erleben.« (S. 115) »[...] so wird das Nebeneinander der Innen- und Außenseite der W i r k lichkeit im Einzelleben zum Schlüssel für die Deutung der Außenseite überhaupt; wir lernen die körperlichen Formen und Vorgänge als Symbole innerer Vorgänge auffassen« (S. 382). Vgl. auch Busse: Geist und Körper, Seele und Leib: » [ . . . ] daß die geistige und die körperliche Welt sich in allen Einzelheiten decken« (S. 130).

69

Vgl. Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, S. 165 (»der Parallelismus steht und fällt eben mit der Annahme, daß jedem physischen Vorgang ein psychischer [ . . . ] entspricht«).

63

der Allverkörperung zufolge könne die »sinnliche(n) Auffassungsweise« potentiell das gesamte (psychophysische) Spektrum des Seins zugänglich machen/ 0 Becher lenkt sogar das parallelistische Axiom - alle Vorgänge in der Körperwelt sind begleitet von seelischen Korrelaten - um in ein Gesetz der Wahrnehmung: Alle »seelischen Vorgänge« seien »im Prinzip imstande, Sinneswahrnehmungen hervorzurufen«/ 1 Doch eignet dieser - vom Subjekt getragenen - sinnlichen Anschauung eine der Ambivalenz der - objektiven - >Beseelung< analoge Zwiespältigkeit. Denn - darin kommen die Vertreter des monistischen Parallelismus überein - unsere Sinnesorgane reichen nicht hin, um den >Niederschlag< des Seelischen generell zu registrieren; ständig müßten wir die Lücken, sei es innerhalb der physischen, sei es innerhalb der psychischen Reihe, abstrakt ergänzen, müßten wir zum rein Körperlichen das >Innere< und zu rein psychischen Phänomenen deren sinnliche Verdichtung hinzudenken. So führt eine empirische Hypothese zur Zielvorstellung einer >metaphysischen< Sehweise. Nur einem »durchdringenden«, d. i. göttlichen, »Verstände«, schreibt Paulsen, »dem in gleicher Weise der gesamte leibliche Verlauf und der gesamte innere Verlauf offen läge, wäre es möglich, zu jedem Vorgang im leiblichen Leben einen korrespondierenden Vorgang im seelischen Leben nachzuweisen«/ 2 Ähnlich bemerkt Wundt, daß die empirische Erfahrung zwar zu der Annahme einer vollständigen Analogie zwischen der geistigen und der leiblichen Organisation zwinge, uns aber die tiefere Einsicht in das Korrespondenzverhältnis versperrt bleibe; diese setze die - uns nicht verliehene unmittelbare Anschauung der metaphysischen Identität von Leib und Seele voraus/ 3 Und trotzdem fordert es die Logik eines Denkens in den Kategorien des psychophysischen Monismus, solche Sehschärfe innerhalb des empirischen Bereichs für möglich zu halten. Denn wenn unsere Sinnesorgane auch nur einem kleinen Wirklichkeits-Ausschnitt angepaßt sind - was verwehrt die Behauptung, daß es Rezeptoren für die uns verborgenen physischen Reize gebe, daß wir im Laufe der Evolution noch zu einer Totalerfassung der Realität physiologisch befähigt und eingerichtet würden? Es ist dies die Frage, an die der (pseudowissenschaftliche) Spiritismus anknüpfen wird. Die Frage, wie das Individuum, das Subjekt, die ganzheitliche Wirklichkeit in sich aufnehmen könne, welche Organe es in sich ausbilden müsse, wie die Schranken zu überwinden seien, führt uns unmittelbar in das Gebiet der Dichtung hinüber (Rilke). Denn vor allem in den literarischen weltanschaulichen Entwürfen wird um die >Entgrenzung< gerungen - gerungen unter Zuziehung des von den Naturwissenschaften bereitgestellten Materials. Um das Instrumentarium unse-

7° 71 72

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64

Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, S. 169 u.ö. Becher: Gehirn und Seele, S. 368. Paulsen: Einleitung in die Philosophie, S. 144. Vgl. Busse: Geist und Körper, Seele und Leib, S. 164. Wundt: System der Philosophie, S. 598ff., bes. S. 6o}f.

res Verständnisses zu vervollständigen, wollen wir uns nunmehr - in gebotener Kürze - auf die erkenntniskritischen Antworten des Monismus besinnen. Zwei Stränge sind zu unterscheiden - zwei weitere Motive für dessen weite Verbreitung werden sich herauskristallisieren. Die >symbolische< oder, wie wir treffender sagen wollen, die >physiognomische Weltanschauung* - der Versuch, die physische Oberfläche als Inkarnation der Seele zu lesen - hat, wie wir angedeutet haben, die >physiologische< Erkenntniskritik zur Voraussetzung. Es zeichnet sich ab, welche Kluft zu überbrücken der psychophysische Monismus bestimmt ist. Denn dem ganzen durch das Mikroskop erschlossenen Kosmos der beseelten >Urformen< des Lebens, jener organischen Welt einer >empfindenden< Materie, steht ja das >leere< physikalische Universum gegenüber, eine Welt, die auf keine Sinnesorgane bezogen ist; und eben durch die Sinnesphysiologie wurde der Abgrund zwischen beiden Welten aufgerissen. Doch haben wir bereits bei der Besprechung von Helmholtz' Thesen darauf hingewiesen, wie die drohende Verunsicherung geradezu die Umkehrung der ursprünglichen, kritischen Intention provozieren kann: die Verabsolutierung der Wirklichkeit unserer Sinnenwelt gerade aufgrund ihres subjektiven Charakters. Wir haben gesehen, wie Fechner genau diesen Schritt tut, wenn er die sinnliche Erscheinungswelt >rettet< durch die Annahme des alles wahrnehmenden Weltbewußtseins. Dieser Schritt, so meinen wir, bildet den Dreh- und Angelpunkt von Machs Analyse der Empfindungen (1886). Was man die >impressionistische< Auflösung der Realität genannt hat,74 die Zergliederung der festen Körper in >EmpfindungskomplexeEmpfindungen< zu letzter und unbestreitbarer Wirklichkeit, zur Wirklichkeit >an sichmachten< der »Plasticität« des Lesers »sehr starke Zumuthungen«77 - auch sie sollen also als Beschreibung der sinnenhaften Realität »sympathisch«/8 mit Zustimmung der Sinne, nachvollzogen wer74

Vgl. Manfred Diersch: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 36). 2. Aufl. Berlin 1977. Z u Ernst Mach bes. S. i } f f .

75

E . Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886. S. 145.

76

Mach: Analyse der Empfindungen, S. i44f.

77

Mach: Analyse der Empfindungen und das Verhältniss des Physischen zum Psy-

78

Mach: Analyse der Empfindungen. 4. Aufl., S. 278.

chischen. 4. verm. Aufl. Jena 1903. S. 278.

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den. Was für Helmholtz keine Objektivität besitzt - Farben, Töne, der Raum - , das erklärt Mach, gerade weil es sich um Empfindungen handele, zur >wirklichen< Wirklichkeit: »Die Farben, Töne, Räume, Zeiten [...] sind für uns die letzten Elemente, deren gegebenen Zusammenhang wir zu erforschen haben.«7' Im übrigen stellt Mach, indem er den naturphilosophischen Überbau verwirft, Fechners Ansatz und Bestrebungen schlichtweg auf den Kopf, gibt deren umgewendetes Spiegelbild. Im Vorwort zur i. Auflage bekennt er, von Fechners Elementen der Psychophysik die stärkste Anregung für die eigenen sinnesphysiologischen Studien empfangen zu haben.80 Und in der Tat: Bereits Fechner hatte den Menschen eingeordnet in ein die ganze Welt umspannendes Empfindungskontinuum, wobei lediglich die variable Größe der Bewußtseinsschwelle den Organismus zum vereinzelten Individuum abschließt (Wellenschema). Sinneseindrücke, physiologisch bedingte Empfindungen als letzte Wahrheit auch Mach vertritt einen psychophysischen Monismus. Leib und Seele sind ihm eines-, das >Princip des vollständigen Parallelismus des Psychischen und Physischem stellt er als »leitenden Grundsatz für die Untersuchung« auf.81 Das psychische Element ist ihm durch den >Willen< repräsentiert, den er mit den ausgelösten Innervationen (Muskelbewegungen) gleichsetzt.82 Der eigentliche >Kunstgriff< seiner Analyse aber liegt in der erkenntniskritischen Wendung, die er dem psychophysischen Gedanken gibt. Zunächst benutzt er das Argument von dem subjektiven Charakter alles Wahrgenommenen, um die Identität von Leib und Seele augenscheinlich zu machen. Als Vorstellungsinhalt gehöre jeder Gegenstand sowohl der physischen als auch der psychischen Seite an - folglich sei die »sinnliche Welt« physisch und psychisch zugleich.8' Diese beiden Schritte - die Parallelismus-These und das Argument von der vereinheitlichenden Funktion des Sinnlichem - dienen ihm dazu, um die Subjekt-Objekt-Spaltung aufzuheben. Er verfolgt den Anteil, die Mitwirkung unseres Leibes beim Aufbau der uns umgebenden Welt - alle Gegenstände seien >EmpfindungenBewußtseinswelt< definiert, ordnet Mach umgekehrt die subjektiven Empfindungen den Körperelementen gleich und löst das Subjekt mit dessen >wahrnehmendem< Leibe auf in die »eine zusammenhängende Masse«84 aller Empfindungskomplexe, d.i. der Körperwelt, die nur eben, wie das erste Argument bestimmt, nicht materiell, sondern >psychophysisch< gedacht werden muß.8' 79 80 81 8! 83 84 85

66

Mach: Analyse der Empfindungen, x. Aufl., S. 21. Mach: Analyse der Empfindungen. 1. Aufl., S. VI. Mach: Analyse der Empfindungen. 1. Aufl., S. 28. Siehe bes. das Kapitel »Der Wille« (4. Aufl., S. τ^ήΐ.). Mach: Analyse der Empfindungen. 1. Aufl., S. 142. Mach: Analyse der Empfindungen. 1. Aufl., S. 12. Mach: Analyse der Empfindungen. 1. Aufl., S. 10. - Wie von hierher, von der Auffassung der psychophysischen Einheit her, der Zusammenhang zwischen Mach und der

Sicherlich: Mach steht am materialistischen Pol des psychophysischen Monismus. Doch als ein extrem formuliertes Beispiel können seine »Beiträge« zeigen, welch dominierende Rolle das Moment des Sinnlich-Physiologischen spielt. Vom Sinnlichen her wird die Subjekt-Objekt-Trennung überwunden; denn in den Sinneswahrnehmungen - so die Überlegung - wird Wirklichkeit >an sich< - subjektiv - erlebt. Die besondere, spezifische Intensität erhält dieses Moment, da der durch die Kräfte des Organismus geschaffene, qualitative Kosmos behauptet werden muß gegen den physikalischen Weltentwurf. Mach läßt der Analyse der Empfindungen eine Analyse der physikalischen Abstraktionen parallellaufen, um schließlich das auf Recheneinheiten reduzierte >objektive< Weltbild den sinnlichen Vorstellungen, was den Realitätsgehalt angeht, unterzuordnen. Ein neuer Gegenstandsbereich - eben der Bereich der sinnlichen Wirklichkeit - wird errichtet neben (und über) den >exakten< Wirklichkeiten der mathematischen Naturwissenschaften. Das gleiche Argument kehrt wieder bei den Vertretern der idealistischem Variante des psychophysischen Monismus. So unterscheidet Eisler zwischen >sinnlich< und >physischDinges an sichwirkliche< Welt, nicht Erscheinung, sondern unmittelbares Sein. Denn sie sei ganz durchdrungen vom Erleben - dem geistig-bewußten wie dem leiblich-unbewußten - des Subjekts. Im Psychischen sieht Eisler das letzte unableitbare Prinzip aller Realität.88 In ihm existiert keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt: »Was dem Bewußtsein als solchem angehört, ist von unmittelbarer und voller Wirklichkeit.«8' »Für das Bewußtsein als solches ist Bewußtsein und Sein identisch.«90 Durch das Bewußtsein aber sind zunächst die Sinnesempfindungen und -Wahrnehmungen. So wird das Psychische im sinnlichen Erleben verankert, wie umgekehrt der durch die Sinnesorgane repräsentierten Welt die Unmittelbarkeit und dadurch der Realitätsgehalt des Bewußtseins (d. i. der unmittelbaren Empfindung) zugesprochen wird. Es ist diese Ineinssetzung des Physiologischen mit dem Psychischen, des Subjekts mit dem Objekt, die Mach, lediglich mit materialistischer Betonung, vollzieht. Wiederum ähnlich heißt es bei Benno Erdmann: Der Naturforscher »untersucht nicht den Ursprung und die Beziehung der sinnlichen Wahrnehmungsinhalte zu unserem wahrnehmenden Subjekt, sondern ihren objektiven Bestand als Glieder der Außenwelt. Indem er diesen Bestand mechanisch zu erklären sucht, schreitet er durch seine objektive Analyse von den sinnlich wahrnehmbaren Körpern und

8lS 87 88 89 90

zeitgenössischen Literatur der >Moderne< gesehen werden kann, wollen wir am Beispiel Musils verdeutlichen. Eisler: Leib und Seele, S. ioif. Eisler: Leib und Seele, S. S^fí. Eisler: Leib und Seele, S. u. passim. Eisler: Leib und Seele, S. 27. Eisler: Leib und Seele, S. 57.

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Bewegungen zu unsichtbaren und ungreifbaren Körperteilchen, ζ. B. den Molekeln, Atomen und Elektronen, sowie zu unwahrnehmbar schnellen Bewegungen dieser Teilchen in unwahrnehmbar kleinen Räumen fort.«' 1 Deshalb jedoch, weil er von der Sinnlichkeit absehe, vermöge er auf seinem Wege niemals die Empfindungen zu erklären; hier beginne eben die >anderewirkliche< Wirklichkeit. Auch der Naturforscher komme nicht heraus aus der Bewußtseinswelt; in dem qualitativen Reichtum der Sinneswahrnehmungen aber manifestiere sich das seelische Geschehen als unabhängige, mechanistisch nicht ableitbare Variable.' 2 Im erlebenden Subjekt realisierten sich die Eigenschaften und Qualitäten der Körper' 3 - so teilt sich ihnen, wie wir ergänzen, etwas von dem psychischen >Innensein< mit, das nach Erdmann die Welt >an sich< ausmacht. - Wenn Becher die Sinneswahrnehmungen, die das Seelische hervorzurufen immer imstande sei, streng unterscheidet von den chemisch-physikalischen Gehirnbewegungen und sie den »vitalistischen Realitäten«' 4 des organischen Geschehens zuordnet," so liegt dies auf gleicher Ebene. Der psychophysiologische Monismus gibt das Vertrauen in die Sinnenwelt zurück. Dabei gewinnt, ganz analog zu der von uns beobachteten >Beseelung des Physischen« auf der Objektseite, das Moment der sinnlichen Wahrnehmung einen eminent seelischen Gehalt - das sinnliche Erleben wird, als ein >ErlebenInnen< und >Außen< eine zusätzliche Emphase und Verankerung. Das >Leben< schafft sich seine Anpassungsorgane, und diese ordnen sich die ihnen jeweils zuträgliche Welt; im umfassenden Lebensvollzug von Anpassung und Entwicklung also haben die jeweiligen organischen Weiten« ihren unumstößlichen, unbedingt notwendigen Platz. Wir wählen zur Illustration die theoretischen Aussagen eines Biologen, mit dem Rilke im Gedankenaustausch war, dem der Dichter, wie er schreibt, mit dem >meinigen< entgegenkam:' 6 die Aufsätze Jakob von Uexkülls zu einer >bio''

Erdmann: Wissenschaftliche Hypothesen über Leib und Seele, S. 167.

91

Erdmann: Wissenschaftliche Hypothesen über Leib und Seele, S. i68f.

9i

Erdmann: Wissenschaftliche Hypothesen über Leib und Seele, S. 55.

94

Becher: Gehirn und Seele, S. 370.

"

Becher: Gehirn und Seele, S. 3 6 8 f f .

96

Siehe dazu das Rilke-Kapitel.

68

logischen WeltanschauungSeele< als anthropomorph aus dem wissenschaftlichen Vokabular gestrichen wissen möchte." - Wir geben Uexkülls Grundgedanken in grober Vereinfachung wieder, wie sie in dem für uns entscheidenden Zeitraum (1900-1913) entstanden sind, ohne spätere Differenzierungen zu berücksichtigen; einiges werden wir bei der Rilke-Besprechung ergänzen. Uexkülls Aperçu, der Angelpunkt seiner biologischen Theorie, ist es, die >Umwelt< bzw. >Merkwelt< eines Tieres - d.i. den Weltausschnitt, auf den es reagiert, für den seine >Rezeptoren< eingerichtet sind - als Teil des tierischen Organismus selbst, als integralen Bestandteil von dessen Lebensvollzug, zu definieren. Die Welt, die ein Tier wahrnimmt, sei »ganz« das Werk seiner Organisation.100 Die Reizbarkeit eines Tieres erst mache aus den chemisch-physikalischen Einflüssen eine >WirklichkeitGesichtsfeld< eines Lebewesens noch seinen Leib bilde (Bölsche). Wie für Mach sind auch für Uexküll >Gegenstände< >Empfindungskomplexe< - und ihr subjektiver, deshalb immaterieller Charakter allein verleihe der >Mate97

Jakob von Uexküll: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. u. eingel. v. Felix Groß. München 1913. - Z u Uexkülls Weltbild, dessen Voraussetzungen und Entwicklung, s. auch die Biographie von Gudrun von Uexküll: Jakob von Uexküll. Seine Welt und seine Umwelt. Hamburg 1964.

' 8 Jakob von Uexküll: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, S. 59, 190 u.ö. "

Siehe hierzu bes. J. v. Uexküll: Im Kampf um die Tierseele. Separatabdruck aus: Ergebnisse der Physiologie. II. Abt. Wiesbaden 1902; Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin 1909.

100

Uexküll: Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, S. 7 1 .

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rie< >Wirklichkeit< - die Wirklichkeit der Qualitäten und Eigenschaften, ohne die sie nur eine Fiktion unseres Denkens sei. 101 Wieder erhält die Erklärung bzw. Beschreibung des >Lebens< die charakteristische Emphase durch den Blick auf die vom Physiker und Chemiker erschlossene Welt: die Reizbarkeit der organischen Geschöpfe konstituiert die Gegenwelt. Wohl sei jene >objektiv< und diese »subjektivSelbsterleben< und Wirklichwerden des empfindenden Individuums bedeutet. »Der Mensch ist, was er sieht«, - diese Formulierung Julius Harts 1 0 7 hat wörtlichen Sinn. Doch bleibt die Frage: wieviel kann der Mensch sehen? Wenn man Machs Reduzierung des Subjekts auf seine Empfindungen nicht akzeptiert, bleibt dies die Frage: wie gelange ich zur >SeeleSelbsterleben< fremder Geschöpfe, wie spüre ich dem >Bauplan< nach, nachdem alle Wirklichkeit >wirklich< ist nur in mir? Gibt es eine objektive Welt, die, anders als die physikalische, der sinnlichen Wahrnehmung und deren Wirklichkeit entspricht? Diese Fragerichtung weist uns an das Thema der >physiognomischen Weltanschauung< zurück und zugleich an die zweite Möglichkeit, sich die Begegnung von Subjekt und Objekt zu denken, die der psychophysische Monismus ausgebildet hat. Wenn die Verfechter der Allbeseelungs-Theorie dem Menschen die Fähigkeit, das >An sich< der Außenwelt unmittelbar zu erkennen, absprechen, überschreiten sie doch die selbst errichtete Grenze, indem sie das >Für-Sich-Sein< der Dinge als ein >Innensein< nach Analogie der menschlichen Psyche erschließen. Die zeitgenössischen Literaten verfolgen in ihren weltanschaulichen Versuchen diesen Weg weiter. Im rationalen >Erkennen< gelangt der Mensch nicht aus der Bewußtseinswelt heraus - wie aber steht es mit dem >ErlebenErlebnis< der >Sinn< gegeben, das Physische als Äquivalent des Seelischen zu sehen? Weiter spitzt sich die Frage zu: Gegenstand des >Erlebens< müssen die einfachsten Organisationsformen sein, die >Quellschichten< sozusagen des Lebens. Denn, in Wundts Worten, »es sind gerade jene Inhalte des organischen Lebens, die der unmittelbaren Wahrnehmung keine psychische Seite darbieten, in denen die letzten Fragen des Zusammenhangs von Natur und Geist und damit zugleich die wichigsten Probleme der zweckmäßigen physischen Organisation selbst eingeschlossen sind.« 108 Das Sinnenerlebnis - die Erfahrung der Außenwelt als einer Realität meines >Leibes< - erhält eine Ergänzung in umgekehrter Richtung: die Wahrnehmung der Innenwelt als einer Realität des allgemeinen >Lebens< wird gefordert. Doch wieder spielt das Moment des Sinnlichen die ausschlaggebende Rolle. Es ist wissenschaftlicher Konsens: Aus den Einzellern, jenen >Ur-OrganismenPhilosophie des Körpersmonistische< Lebensbegriff - Leben gedeutet als psychophysische Einheit, als individualisierend-formatives und zugleich, in der Evolution, alle Geschöpfe verbindendes Prinzip. So werden begreifliche Zusammenhänge gerade da errichtet, wo die naturwissenschaftlichen Entdeckungen mit >Entfremdung< drohen. Der fundamentalen Relativierung der >Erkenntnis< durch die Sinnesphysiologie steht das Axiom von den zwei gleichwertigen Erscheinungsweisen des einen Wesens entgegen, wobei die unbedingte Wirklichkeit des >InnerenZellen< als kleinster lebendiger Bausteine des Organismus, 110 schien die einheitliche Form zerschlagen, der gegliederte Leib sich aufzulösen in eine Vielzahl von Mikroindividuen; 111 solch beunruhigender Betrachtungsmöglichkeit begegnet der Gedanke von der Beseelung des ganzen Körpers, dem zufolge jede einzelne Zelle nach einem übergeordneten Plan zur Gesamtbildung des Leibes als der Verwirklichung der Seele beiträgt. Die Verwandlung des Sichtbaren in die Welt der mikroskopischen Formen ist auch Offenbarung des Unsichtbaren; 112 der Realitätsschwund schlägt um in eine Neubestimmung des Organischen, die als Neuschöpfung (Julius Hart" 5 ) erlebt wurde. Hier nun nimmt die Entdeckung des >Unbewußten< ihren Platz ein. Einerseits sammeln sich atmosphärisch in diesem Begriff alle Hindeutungen auf das Unbekannte schlechthin, das Rätselvolle, das Zur Entwicklung der Zellentheorie vgl. Em. Ràdi: Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit. Teil 2 : Geschichte der Entwicklungstheorien in der Biologie des X I X . Jahrhunderts. Leipzig 1909. S. 6yíí. und S. 378ff. - Die Zelle wurde vor Virchow von Leeuwenhoek (1673), Schleiden und Schwann (1839) entdeckt; Virchow erkannte deren Bedeutung und Rolle im Organismus. Vgl. Ràdi: Geschichte der biologischen Theorien 2, S. 379!.: »Bereits Schleiden und Schwann bekämpften durch ihre Entdeckung, daß sich der Körper aus Zellen bildet, die Ansicht von der ideellen Einheit des Organismus, und zersetzten das Totalleben in das Leben einzelner Zellen; Virchow verfolgte jene Methode weiter in seiner Lehre von der Zellenrepublik und in seiner Behauptung, die Krankheit beherrsche nicht wie eine einheitliche Macht den Organismus, sondern sei in einzelnen Zellengruppen lokalisiert. [...] alle allgemeinen Begriffe wurden beseitigt und durch die Zelle angeblich e r klärt« [...].« Ràdi verweist auf das »Phantastische jener Theorien, welche der Überzeugung entsprangen, daß man dem Wesen der Dinge desto näher steht, mit je stärkerer Vergrößerung man sie betrachtet«: Geschichte der biologischen Theorien 2, S. 389. 113

Vgl. Julius Hart: Die neue Welterkenntnis, S. itftt· (Beginn des Essays: Die Welt als Künstlerin: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«).

73

sich hinter dem Lebensprozeß verbirgt und dessen Dynamik hervorruft. Andererseits wird, mit Hilfe einer »induktiven Metaphysik« (Eduard von Hartmann), gerade das >Jenseitige< vertraut gemacht und, als organisierende Basis aller Naturformen, engstens dem sichtbaren >Leben< verbunden. Wir stoßen hier auf die Überlagerung des Leib-Seele-Problems mit der anderen, ebenso wichtigen Frage: der Frage nach dem Verhältnis des Bewußtseins zum Unbewußten. Schlagworte und Kurzformeln der Problemlösung kennen wir bereits aus Ricarda Huchs Romantik - jenem Buch, das so überraschend, weil so beiläufig formuliert, wesentliche und typische zeitgenössische Denkweisen umreißt. Das Unbewußte manifestiere sich in der körperlichen Organisation, hieß .es da; und deshalb seien mit der Entdeckung des Unbewußten in uns, mit dem Bewußtwerdungsprozeß, eo ipso die Grenzen zwischen der Außenwelt und der Innenwelt aufgehoben; der Leib sei seelisch begriffen worden. Nicht nur Gleichnis des Psychischen sei das Körperliche, sondern wirkliche Verdichtung desselben; die >Beseelung< des Leibes sei nicht Projektion des Bewußtseins in >an sich< Fremdes, sondern gehe vom Unbewußten aus und habe deshalb objektive Realität. Unsere Analyse legte offen, durch welche >wissenschaftlichen< Operationen und Argumentationsstrategien der Zusammenordnung von Leib und Seele Plausibilität und, vorrangig, Anschaulichkeit verliehen wurde. Wenn wir nunmehr ein Ähnliches zum Thema des Unbewußten in Natur und Geist versuchen, so fügen wir unserem Epochenbild einen neuen, vielleicht den entscheidenden, Aspekt hinzu. Wir erkennen, ganz analog zu der Zusammenschau von Körper und Seele durch die Psychophysik, die Verschmelzung von Metaphysik und Sinnlichkeit (Empirie) in der Theorie des >Unbewußten< - jener wohl folgenschwersten philosophischen Konzeption der Zeit. Um Geschlossenheit der Darstellung zu erreichen, sind Überschneidungen mit dem vorangegangenen Kapitel nicht immer zu vermeiden. In manchem gleichen sich die Begriffe >Seele< und >UnbewußtesUnbewußtenabgelesenUnbewußte< in wichtigen Punkten vorantrieben. Zwar wird für die philosophische Deutung der Einfluß Eduard von Hartmanns bestimmend. Doch um den Zusammenhang mit dem psychophysiologischen Monismus aufzuzeigen, werden wir in einem Rückblick die Stellungnahmen einzelner >Monisten< und >Parallelisten< zum >Unbewußten< beleuchten.

74



Induktive Metaphysik Denn jene Forscher erkennen jetzt, daß sie den [ . . . ] Berührungspunkt zwischen Physik und Metaphysik [ . . . ] erreicht haben, die Versöhnung beider Wissenschaften eingeleitet und ihr Verknüpfungspunkt gefunden ist.

(Schopenhauer: Ueber den Willen in der

Natur)

4.1. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren in der Natur: Eduard von Hartmann Wie in der Einleitung erläutert, verfolgen wir eine Anti-Freudianische Tradition: die Fassung des >Unbewußten< als des metaphysischen >Urgrunds< des Lebens. Die hiermit verbundene These ist, daß die Idee des Unbewußten, wie sie für die Jahrhundertwende prägend wurde, zunächst von dieser Tradition her zu erschließen ist. Vor allem Eduard von Hartmann übte mit der Philosophie des Unbewußten (1868) eine ungemeine Wirkung aus; 1 seine Definition des >Unbewußten< dürfte auch, nachdem das Interesse der Zeit sich ganz auf Schopenhauer verlagert hatte, bestimmend gewesen sein für die Deutung des Willensprinzips und für das Verständnis der metaphysischen Dimension des Lebens. Hartmann selbst begreift sein Werk als einen der Wegweiser für die Entwicklung im 20. Jahrhundert. 1901 erscheint Die moderne Psychologie, in der er das Ende der Bewußtseinspsychologie von den Prämissen seiner Philosophie her kommentiert. Wir versuchen, das für den Zeitgeist Repräsentative von E. v. Hartmanns metaphysischem Entwurf herauszuarbeiten, vor allem Inhalt und Funktion des Begriffs des Unbewußten zu veranschaulichen. Sodann wenden wir uns einem Autor der Jahrhundertwende von ebenfalls maßgeblichem Einfluß zu: Maurice Maeterlinck. Wenig bekannt ist, daß er in seinen Büchern eine Philosophie des Unbewußten vertritt und als Denker in der Nachfolge Hartmanns verstanden wurde. Maeterlincks Werk bedeutet 1

Bis 1878 erschien fast jedes Jahr eine neue Auflage; in den 80er Jahren ging das Interesse des Publikums zurück; mit dem Aufkommen neuer Strömungen in Psychologie und Naturwissenschaften (Hypnotismus; Neovitalismus) in den 90er Jahren gewinnt E . v. Hartmann mehr und mehr das Ansehen der Fachgelehrten, die zunächst die Konzeption des >Unbewußten< bekämpften: nach Arthur Drews: Eduard von Hartmanns philosophisches System im Grundriss. 2. durch einen Nachtrag verm. Ausg. Heidelberg 1906. (1. Aufl. 1901). S. i 4 f f . - Strindberg bewunderte E . v. Hartmann (nach: Anhang zu: August Strindberg: Werke in zeitlicher Folge. 5. Bd.: 1 8 8 7 - 1 8 8 8 . Hrsg. v. Wolfgang Butt. Frankfurt/Main 1984. [Frankfurter Ausgabe]. S. 847); Lou Andreas-Salomé ist von ihm beeinflußt (vgl. Ursula Welsch und Michaela Wiesner: L o u Andreas-Salomé. Vom »Lebensurgrund« zur Psychoanalyse. München/Wien 1988. S. 279); Musil zeigt sich beeindruckt von E . v. Hartmanns Systembildung (Tagebücher 1, S. 36; 75).

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einen Markstein in der Entfaltung der Idee des Unbewußten um 1900. Ein Blick auf Nietzsches Fassung des >Leiblichen< soll die Darstellung ergänzen. >Induktive Metaphysikc Prägnant charakterisiert die von Eduard von Hartmann geprägte2 paradoxe Formel den geistigen Habitus seines Philosophierens. Aus dem naturwissenschaftlich festgestellten Material wird das >Metaphysische< herauskonstruiert; empirische Denkschritte sollen bruchlos hinüberführen zum >AbsolutenRealität< zu überwinden. Dezidiert knüpft er, in seiner Erkenntnislehre,4 an die Ergebnisse der Sinnesphysiologie an; Helmholtz' Theorien etwa sind ihm genau bekannt.5 Er nun ordnet die qualitativen Empfindungen ausschließlich der »subjektiv idealen Sphäre« zu; nichts entspräche ihnen auf objektiver Seite. Die Hypostasierung der sinnlichen Wahrnehmungen zu einem in der Außenwelt wirklichen Empfindungskontinuum macht er nicht mit. Gemessen am qualitätslosen >Ding an sich< seien unsere bewußten Empfindungen Schein und Illusion. Ebensowenig wie die »naiv-realistische« akzeptiert er jedoch die idealistische Fassung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Völlig weist er Schopenhauers Deutung der >Welt als Vorstellung< von sich. Durch die Identifikation der Erscheinungen mit Gehirnphänomenen werde die doch so spürbar, so unabweislich sich aufdrängende Wirklichkeit herabgedrückt zu einer gespenstigen Phantasmagorie. Der konsequente Idealismus sei eine geistige Bankrotterklärung angesichts der Realität; er besiegele den Wirklichkeitsverlust und führe zu einer zerrüttend solipsistischen und agnostischen Weltbetrachtung. Hartmann dagegen will die konkrete Dingwelt in ihrer bewußtseinsJ

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Der Untertitel zur Philosophie des Unbewußten lautet: »Speculative Resultate nach inductiv naturwissenschaftlicher Methode«. In der frühen Schrift über Schelling formuliert er das Programm seiner Philosophie: »So wird diese Philosophie sich mit den unsere Zeit beherrschenden Naturwissenschaften und Geschichte auf gleichen Boden stellen, wird real gleich den ersteren und historisch gleich den letzteren sein, statt wie bisher bloss logisch zu sein.« Eduard von Hartmann: Schelling's positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer. Berlin 1869. S. 61. Gebhard interpretiert dies als Ausdruck eines totalitären und zugleich anti-aufklärerischen Geistes: Der Zusammenhang der Dinge, S. 262ft. - Aus der Perspektive der Jahrhundertwende entwickelte Einführungen sind: Arthur Drews: Eduard von Hartmanns philosophisches System im Grundriß; Otto Braun: Eduard von Hartmann. (Frommans Klassiker der Philosophie 20). Stuttgart 1909; Leopold Ziegler: Das Weltbild Hartmanns. Eine Beurteilung. Leipzig 1910. Bes. die Kapitel: »Monistische Philosophie« (S. i2iff.) und »Induktive und genetische Metaphysik« (S. i42ff.). Dem folgenden liegt die Kategorienlehre zugrunde: Eduard von Hartmann's ausgewählte Werke. Bd. X. Leipzig 1896. Hartmann selbst schätzte die Werke, die der Philosophie des Unbewußten folgten, weit höher als seinen Erstling ein (vgl. Kategorienlehre, S. X V ) ; sie lassen die Motive seines Denkens deutlicher hervortreten. Kategorienlehre, S. iff., bes. S. 3.

unabhängigen Mächtigkeit und Vielfalt zeigen; zugleich möchte er zeigen, welche Bezüge zwischen unserem Erkennen und diesem >Sein< bestehen. Die Eigenart bzw. den Anspruch von Hartmanns philosophischem Denken charakterisieren am besten die antinomischen Wendungen, mit denen er selbst es zu bestimmen sucht.6 Er erst habe den »Realidealismus«, der das Ziel der philosophischen Entwicklung sei, ausformuliert - »kritischer Realismus« lautet der entsprechende erkenntnistheoretische Terminus er erst habe den >Monismus< zu seiner Vollendung geführt, ohne die Vielfalt der Erscheinungen in ihrem Realitätsgehalt anzutasten. Philosophiegeschichtlich versteht er sein System als Versöhnung bzw. höheren Ausgleich zwischen Schopenhauers Willensmetaphysik und Hegels Panlogismus oder auch als Weiterbildung von Schellings sporadischen Ansätzen in einem geschlossenen Weltentwurf.7 »Real-Idealismus«: Hartmanns >Kunstgriff< beruht in der Koordination von >Vorstellung< (>IdeeWilleIdee< bestimme den Inhalt der Erscheinung, der >Wille< realisiere ihn. Die >Idee< beantworte die Frage nach dem >WasWille< diejenige nach dem >Daß< der Existenz. Die >Idee< lege die konkrete Bestimmtheit, der >Wille< die Tatsache des Daseins fest. Beide, >Wille< und >Ideeabsolut unbewußtobjektiven Erscheinung^ Im Zusammenwirken von >Wille< und >Idee< entstehe die Dingwelt; sie sei, in all ihrem Formenreichtum, außerhalb des Bewußtseins manifeste, objektiv individualisierte und realisierte Erscheinung des Absoluten. Als >objektive Erscheinung< definiert Hartmann das >Ding an sichAbsolute< umfassend. Wir bemerken eine eigentümliche Bewegung, die dem Impuls, den Wirklichkeitscharakter der Außenwelt argumentativ sicherzustellen, zuwiderzulaufen scheint: die Zurücknahme der >Realität< aus der sinnlichen Nähe. Die qualitativen Empfindungen stuft Hartmann als >imaginär< ein, ohne objektives Korrelat. Dem >Ding an sich< entzieht er den metaphysischen Gehalt. Die >objektiv reale Sphäre< erscheint völlig entstofflicht; den Weltraum, sofern er jenseits der Anschauung des Subjekts liegt, stellt er als Produkt und Bild »vollkommener, synthetischer Geometrie« vor.8 Solche Abstraktion aber ist einem anderen Motiv untergeordnet: Sie ermöglicht es Eduard von Hartmann, das Wesen der vielteiligen Welt in der >Bewegung
DynamisierungWirkliche< auch nicht das >Wahrgenommene< ist, so ist es ihm doch das überwältigend auf den Menschen Einwirkende - woher es schließlich seinen Namen habe.' Dem >Stoffobjektive Erscheinung< desselben, die qualitätslose >Materie< gegenüber, den Gegenstand des Naturwissenschaftlers - trotz der Entsinnlichung also bricht von vornherein keine Spannung auf zwischen dem >Ding an sich< und dem Intellekt, wie er zur Organisation des Menschen gehört, d. i. dem Erkenntnisvermögen.10 Hartmann verwertet die Ergebnisse der Physik (Atomistik). Die >Materie< stellt ihm nichts Starres und Festes dar wie der Stoff, sondern er definiert sie als lebendiges Kräftespiel der Atome und diese wiederum als Strahlungszentren von Kraft: Die »Materie ist schlechthin stofflos, aber durch und durch Kraft, sie ist nichts als eine Konstellation von Kräften oder ein Dynamidensystem.«" Und noch weiter geht die Auflösung in reine Dynamik. Denn das Zusammenwirken der atomaren Kraftpunkte führt Hartmann zurück auf die Tätigkeit >thelistischer< - >thelistisch< (zielbezogen) könnte man mit >realitätshungrig< umschreiben; die Willensseite ist damit ausgedrückt - und zugleich ideeller Funktionen; 12 in der >Funktion< aber kondensiert sich die Regsamkeit des >Geistes< (als des Unstofflichen) schlechthin: »Die Materie als objektiv reale Erscheinung, die unserer Wahrnehmung als transcendentes Ding an sich gegenübersteht, ist erst ein aus bestimmter Gruppierung dynamischer Funktionen hervorgehendes Resultat«.13 Die dynamische Funktion, die die Materie >darstelltReale< das schöpferisch (>unbewußtVorstellungen< geht es in der Verbindung von >Wille< und >Vorstellung< im Unbewußten (es gibt für Hartmann kein >leeres< Wollen: Philosophie des Unbewussten. 7. erw. Aufl. 1. Bd.: Phänomenologie des Unbewussten. Berlin 1876. S. looff.).

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Den Intellekt, d. i. das Bewußtsein, sieht Hartmann wie Schopenhauer als Produkt der physischen Organisation (des Willens). Wenn er das >Ding an sich< als die >Materie< der Naturwissenschaften definiert, so ist damit impliziert, daß der menschliche Intellekt das >Ding an sich« erkennen kann. Siehe hierzu das oben zu Helmholtz Gesagte (Kapitel 2.r).

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Kategorienlehre, S. 510. - Die Auflösung der Materie in Energie durch die moderne Physik scheint in solchen Sätzen geistig vorweggenommen. Kategorienlehre, S. 153. Kategorienlehre, S. 152. Kategorienlehre, S. 153.

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Realität, als das Wirkende, ist in Hartmanns System Kristallisation dynamischer Funktionen. Wie kommt es nun, daß der Mensch dieses Kräftespiel, das ja seinen Sinnen verborgen ist, dennoch sich vorstellen, daß er das >Ding an sich« fassen kann? Zur Beantwortung dieser Frage entwickelt Hartmann seine Kategorienlehre. >Kategorien< sind bei ihm Ordnungsbegriffe für die dynamischen Funktionen, logische Determinationen, nach denen der Mensch unbewußt die Empfindungen bestimme;15 die Kategorien des Denkens und diejenigen des Seins deckten sich. Den Beweis trägt - oder ersetzt - wiederum die Deutung, Abbildung der Gegenstandswelt auf die ihr zugrundeliegende Dynamik hin. »Erkennen« sei identisch mit >Beziehenfür sich« seienden, festen (»substantiellen«) Kern der Erscheinungen heran, sie stehe vielmehr im Zentrum der Dinge selbst. Alles Dasein, soweit es mehr sei als ideelles Wesen, alles realisierte Dasein sei Bezogensein;16 »Existenz« sei, als Wirkung einer Kraft, Bezogensein. Wir sehen, wie die dynamische Auffassung des Universums den Gedankengang bestimmt: »Sobald dagegen der objektiv reale Raum samt der Materie als Setzung und objektiv reale Erscheinung der Kräfte aufgefasst wird, hört jedes isolierte, beziehungslose Sein auf.« 17 »Alles äusserliche oder materielle Sein, alles Dasein ist durchaus nur Beziehung der Kräfte aufeinander oder dynamische Beziehung, genauer ein System solcher Beziehungen, in dem sie stufenweise in immer umfassendere Beziehungen gesetzt, zu immer komplizierteren Synthesen vereinigt werden. Dasein ist Spiel der Kräfte, labiles Gleichgewicht, das beständig gestört und beständig wiederhergestellt wird, nicht Caput mortuum einer vergangenen Produktion, sondern beständiges Produziertwerden aus der Wechselbeziehung der Kräfte, ein stetiges Entstehen und Vergehen der momentanen Aktion, bei der nichts beständig ist als die Gesetzmässigkeit der Beziehungen und die Fortdauer der dynamischen Intensität.«18 Von der »Urkategorie der Relation« 1 ' leitet Hartmann die Kategorien des reflektierenden und diejenigen des spekulativen Denkens ab, durch die die »expliziten« Strukturen des Seins und die »impliziten« Gesetze des Werdens ins Bewußtsein gehoben würden; auf seine terminologisch überfrachteten, schwer zugänglichen Erörterungen brauchen wir uns nicht weiter einzulassen. Auch die imaginäre Welt der Empfindungen verankert Hartmann in der Dynamik des Realen. »Empfindung« und »Bewußtsein« - ihm sind alle Empfindungen »bewußt« - entstünden, wo mehrere Willensrichtungen miteinander kollidierten. Der »Wille« werde gehemmt; die Kraft, die sich nicht mehr nach außen hin verwirklichen könne, setze sich um in Unlust, die »Urempfindung« gleichsam;

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Kategorienlehre, S. V I I .

' 6 Kategorienlehre, S. 178. 17

Kategorienlehre, S. 176.

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Kategorienlehre, S. 176.

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Kategorienlehre, S. I 7 i f f .

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die Realisierungstendenz verwandle sich in reine >IntensitätInnenwelt< in ihrer qualitati-

ven Bestimmtheit hervor. Wenn deshalb f ü r H a r t m a n n der Bewußtseinsspiegel nur ein peripheres Gebilde im Weltprozeß ist und >Realität< nur mittelbar überliefert, so versteht er doch, in letzter K o n s e q u e n z , >EmpfindungSubjektivitätEmpfindungshorizonteobjektiv realen Sphäre< ist somit diejenige der >subjektiv idealen SphäreSinnfälligen< und unmittelbar Erlebten wir nachgewiesen haben. D e r G e g e n s a t z ist nur ein scheinbarer - H a r t m a n n selbst streicht immer wieder die eigene Orientierung am Empirischen heraus. D e r abstrakte D u k t u s seiner Argumentation erklärt sich gerade aus der U b e r s p a n n u n g des Bedürfnisses nach >RealemRealität< aus auf das >Ideale< u n d >Transzendente< (es ist ihm die Materie); das >wirkliche SeinRealitätsanspruch< heraus: » D a m i t ist der Panlogismus, ebenso wie der Panthelismus, überwunden und die bestimmte, konkrete Realität, u m deren Gewinnung sich beide vorher vergeblich bemüht haben, und die Hegel vermittelst seiner dialektischen Methode erreichen z u können glaubte, durch Vermitte20 21 22 23

Vgl. Kategorienlehre, S. 4of., 171 u.ö. Kategorienlehre, S. 64. Z.B. Kategorienlehre, S. 177. Zu Recht ordnet ihn deshalb Gebhard in den Kontext des >Panpsychismus< ein: Der Zusammenhang der Dinge, S. i6z{{.

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lung des Begriffs des Unbewussten errungen.«*4 »Die Idee, als konkrete, ist aber in keiner Weise mehr begrifflich, sondern anschaulich, oder mit anderen Worten: die unbewusste, konkrete Idee ist eine intellektuelle Anschauung, die in ihrer idealen Wesenheit den ganzen Reichtum der realen Bestimmungen und ihrer logischen Verknüpfungsweisen in sich schliesst. Als solche aber ist sie nicht f...] unsere Anschauung, nicht Inhalt eines diskursiven Bewusstseins, sondern eine solche, auf welche wir aus der Beschaffenheit der Erfahrungsgegenstände f...] bloss schliessen können.«25 Dem Hang nach >Sicherheit< dient schließlich die ganze Restitution der Metaphysik: soll doch das >Absolute« die Übereinstimmung zwischen dem >Denken< und den realen Dingen gewährleisten. Den hypothetischen Charakter seiner Überlegungen konzedierend, spricht Hartmann denn auch oftmals von den Plänen und Absichten des >UnbewußtenUnbewußtenHerrschaft der Bestem zu gelangen, die wiederum die generelle Erlösung im Nicht-Sein vorbereite.26 Der Orientierung am Empirischen gemäß sieht Hartmann die Krönung seiner >naturwissenschaftlichen Metaphysik< in der Naturphilosophie. Und entsprechend der dynamischen Auffassung der Dinge beschäftigt ihn vor allem das »Problem des Lebens« - so der Titel eines seiner Bücher27 - , des organischen Lebens im Gegensatz zur Mechanik des Stoffes. Hier nun liegen der eigentliche Ansatzpunkt und der Kern seiner >Philosophie des UnbewußtenUnbewußte< ist für Hartmann das >AbsoluteWillens< und der >Idee< und über den dynamischen Funktionen, den unbewußten Wirkungsmächten des Seins. Was impliziert dieser letzte Schritt und Gipfel der Abstraktion? Was ist der Sinn der befremdlichen Hypostasierung einer Eigenschaft zur metaphysischen Substanz? 2 ' Man bedenke: Die 14 25 16 27

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Drews: Eduard von Hartmanns philosophisches System, S. 130. Drews: Eduard von Hartmanns philosophisches System, S. I3jf. Philosophie des Unbewußten. 1. Bd., S. }3iff. Eduard von Hartmann: Das Problem des Lebens. Biologische Studien. Bad Sachsa im Harz 1906. Bereits Hans Driesch verwies darauf, »daß Hartmanns ganze Philosophie eigentlich eine biologische, d.h. auf Biologie gegründete Philosophie ist«. Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. (Natur- und kulturphilosophische Bibliothek 3). Leipzig 190$. S. 145. Es handelt sich hierbei um einen zeitgenössischen Vorwurf gegen Hartmanns System. Vgl. die Diskussion bei Oflga] Plümacher: Der Kampf um's Unbewusste. Nebst einem 81

Unvorstellbarkeit als solche, der Zustand, außerhalb der Bewußtseinsformen zu sein, wird hier als der >Weltgrund< gedacht. In erster Linie geht es Hartmann um die Entthronung des Bewußtseins - er bringt die Umwertung >auf den Begriff«. 30 In der Konzeption des Unbewußten, auch wenn er diese Abhängigkeit nicht wahrhaben will, berührt Hartmann sich auf das engste mit Schopenhauers Willensmetaphysik. Wesentliche Züge des Unbewußten sind charakterisiert, wenn man es analog zum >blinden Willen< begreift. Das Verhältnis des Unbewußten zum Bewußtsein beschreibt Hartmann ganz ähnlich wie Schopenhauer dasjenige des Willens zum Intellekt. Allerdings spielt bei Hartmann das Bewußtsein eine noch weit eingeschränktere Rolle. Dies ist das Neue seiner Philosophie, durch das er sich auch von Schopenhauer abgrenzt: Indem Hartmann dem Unbewußten nicht allein das (blinde) >Wollenhellsehend< und >allwissend< faßt und die >Idee< aus ihm hervorgehen läßt, entreißt er dem >Bewußtsein< den bislang gültigen Bestimmungsgrund. Geist, Denken, Vorstellung, Psyche erscheinen nun gleichsam doppelt, innerhalb und außerhalb des Bewußtseins; >unbewußt< aber übertreffen sie nach Hartmann an Kraft und Tiefe alles, dessen wir uns >bewußt< werden könnten. Denn das Bewußtsein sei ein passiver Spiegel, dem starren Stoff zugeordnet. Unbewußte >Intellektualfunktionen< ermöglichten es dem Menschen, aus den empirischen Daten die Realität adäquat zu (re-)konstruieren. 31 Für die Dynamik des Seins jedoch ist das >Unbewußte< der Sammel-und Oberbegriff. Es ist in Hartmanns System nicht allein die Quelle, sondern auch die Quintessenz des Schöpferischen sowie des Realen; und es bildet, als ein Psychisches, den Untergrund der Bewußtseinsinhalte, das wahrhaft >Geistige< gegenüber der bloßen Gehirnfunktion. Weit abgerückt erscheint nochmals das wahre Sein vom menschlichen Bewußtsein. Das, was für das Bewußtsein definiert ist durch sein Nicht-Sein, sein immer Anders-Sein, dies wird zu dessen Bestimmungsgrund. Doch wiederum macht sich Hartmanns grundsätzliches Bestreben, die Sphären einander anzunähern, bemerkbar. Allein die Namengebung enthüllt die versteckte anthropomorphe Tendenz seines Philosophierens. Anthropomorph ist bereits der Willensbegriff; nach der Selbsterfahrung legt Schopenhauer die Natur aus. 32 Von solchem Hinabtauchen in das eigene Innere sieht Hartmann zwar ausdrücklich ab - die Eigenschaft >unbewußt< soll ja den Ausschluß der Subjektivität bezeichnen, den

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chronologischen Verzeichniss der Hartmann-Literatur von 1868-1890. 2. Aufl. Leipzig 1890. S. 1; S. 107. Daß nicht der bewußte Geist, sondern das Außervernünftige als das >Wesen< der Welt definiert wird, sieht Thomas Mann als den Neuansatz von Schopenhauers Philosophie an (Schopenhauer in: Leiden und Größe der Meister). Das Axiom der Kategorienlehre. Vgl. den Analogieschluß vom >Inneren< auf das >ÄußereUnbewußt< meint bei ihm aber immer auch immateriell·, >geistigpsychisch< - insofern bleibt selbst die Negationsform noch auf das Bewußtsein bezogen. Das Objektive per se - und nicht etwa nur dessen Innenseite - wird hiermit psychisch gedeutet. Und das >Unbewußte< ist nicht das allein Reale gegenüber dem Trugbild der >Erscheinunghomologen< Realität. So eignet dem Begriff des Unbewußten eine nur scheinbar paradoxe, in Wahrheit notwendig aus ihm resultierende, Umschlagstruktur: gerade das Ausgegrenzte wird durch ihn >verinnerlichtVersuch über die Lebenskraft*.35 Hartmann versteht und verteidigt seine Philosophie immer wieder als die Alternative zum Darwinismus. 3 ' Umfänglich funktionalisiert er physiologische und biologische Forschungsergebnisse; er erweist sich als Kenner auf dem Gebiet. In dem - bereits erwähnten - Werk Das Problem des Lebens (1906) etwa gibt er einen äußerst materialreichen und detaillierten Bericht über die Entwicklung der Biologie seit Darwin und Haeckel. Er wird zu einem der ersten Fürsprecher des Neo-Vitalismus, welche Richtung er als nachträgliche Bestätigung der >Philosophie des Unbewußten< begreift.37 Nachdem in den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts das Interesse an Hartmann merklich zurückgegangen war, lebte es denn auch um 1900, als die neue Strömung in der Biologie sich durchzusetzen begann, noch einmal auf.38 In der Lebendigkeit des tierischen Organismus erkennt Hartmann die »Erscheinung des Unbewußten«; 3 ' überall, wo selbständige Bewegung sich kundtut, sieht er es, als >Wille< oder >VorstellungAllgeistWollen3ff.

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und Reflexen; schließlich in der »Naturheilkraft« (Selbstheilungsfähigkeit des Organismus) und im organischen Bilden. Entscheidend ist für uns das letzte, das Hervortreten des >Unbewußten< in der leiblichen Organisation. Hartmann versteht das >Unbewußte< als antimaterialistischen und -mechanistischen Begriff. Psychische Funktionen bauten den Körper; die Priorität des Ganzen vor den Teilen (beim Wachstum) und die organische Zweckmäßigkeit seien nur durch ihr Wirken zu verstehen. Organische Zweckmäßigkeit: Nach Schopenhauer ist der Zweckbegriff ein Verstandesbegriff, der das Wesen des Organismus nicht erklärt. 40 Ganz anders bei Hartmann. >ZweckmäßigkeitUnbewußtezu Gesicht kommtNatur< der Seele ausmacht und die Seele als Glied in die Natur hineinstellt.«42 Umgekehrt enthüllt sich das psychische Wesen dieses Physischen in dem, was dem materiellen Stoff übergeordnet ist, was ihn beherrscht und zugleich ganz durchdringt, dessen Starre auflösend: in der funktionalen Harmonie, dem Zusammenwirken aller Glieder im Lebensvollzug; im Leben, soweit es ausdehnungslose Bewegung ist: »Eine Individualseele aber ist das Summationsphänomen aus allen zur Materie hinzukommenden unbewusst psychischen Funktionen oder aus allen ihren Organismus konstituierenden organischen Individuen niederer Ordnung einerseits und der zu diesen hinzukommenden unbewusst psychischen Individualfunktion höchster Ordnung. [...] Die atomistischen Thätigkeiten konstituieren die Materie als objektiv reale Erscheinung und liefern den ganzen Kraftvorrat, über den die Materie [...] verfügt; die hinzukommenden unbewusst psychischen Funktionen regulieren nur die Konstellation der Atomkräfte und dadurch die Art und Weise ihrer Kollektivwirk 40

Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Bd. Zürcher Ausgabe. Werke in 10 Bden. N a c h der hist.-krit. Ausg. v. Arthur Hübscher bes. v. Angelika Hübscher. Bd. I, S. 204ff. (§ 28), bes. S. 210 (im folgenden wird diese Ausgabe abgekürzt zitiert als: Z A ) .

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Vgl. die Abhandlung Hans Drieschs: Die »Seele« als elementarer Naturfaktor. Studien über die Bewegungen der Organismen. Leipzig 1903.

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Die moderne Psychologie, S. 4 1 2 .

samkeit, ohne die objektiv reale Erscheinung der Materie als solche zu vermehren oder zu verbreitern. Die ersteren sind materiierend oder ihrer objektiv realen Erscheinung nach materiell, die letzteren sind nicht materiierend und in diesem Sinne nicht bloss dem Wesen nach sondern auch der Wirkung nach immateriell.«43 Das »organische Bilden« und die »Thätigkeit der Seele« (als des Unbewußten) sind für Eduard von Hartmann identische Vorgänge; und weil die Seele nichts anderes als Kraft ist (>unbewußt psychischUnbewußte< ablesbar von der Oberfläche der sinnlichen Erscheinung - der sinnlichen Erscheinung, insofern diese sich zweckmäßig organisiert, sich in Bewegung befindet; in den >reinen< Bewegungsmomenten ist es inkarniert. Wo Schopenhauer den Willenstrieb von der Erscheinung des Organischen unterscheidet,44 rückt Eduard von Hartmann Physis und metaphysisches Weltprinzip nahe aneinander. Unmittelbar erscheint das >Unbewußte< am Aufbau der Körperwelt beteiligt; es wird definiert durch das organische Leben; in dessen Hervorbringung beruht das Wesen des >UnbewußtenUbersinnlicheUnbewußteLeib< zeigt, dieser Philosophie zufolge, unsere >SeeleMehr< unserer Existenz, das der bewußten Introspektion nicht zugänglich ist; er stellt die Tiefen-Schicht dar, aus der die Dynamik unseres Seins entspringt. Rückblick: Das Unbewußte im psychophysischen Parallelismus Wir erkennen einen fünften und letzten Grund für die bereitwillige Adaption des Fechnerschen Denkmodells: Die konsequente Parallelisierung von >Leib< und >Seele< erlaubt die nahtlose Integration der Idee des Unbewußten4® - die nahtlose Integration einer epochemachenden Idee in eine Anschauungsweise, die Hart-

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Kategorienlehre, S. ^ιγί.

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Z u Schopenhauers >Naturphilosophie< s. Kapitel j.i.

4!

So betont etwa aus dem historischen Rückblick Windelband die wichtige Rolle, die dem psychophysischen Parallelismus in der Verbreitung der Idee des >Unbewußten< zukam: »Dazu ist dann endlich noch gekommen, daß diese Hypothese [des Unbewußten] in der neueren Zeit Hand in Hand geht mit einer anderen Hypothese [...]; ich meine die dem Spinozismus nachgebildete Annahme des psychophysischen Parallelismus. Scheint doch diese mit jener zu stehen oder zu fallen. Denn wenn jedem Bewegungszustand des Leibes oder auch nur des Nervensystems ein Erlebiiis der Seele entsprechen soll, so versteht es sich von selbst, daß der weitaus größte Teil dieser Erlebnisse unbewußten Charakters sein muß [...]. Der psychophysische Parallelismus ist mit einer Lehre von der Seele, die nur bewußte und keine unbewußten Zustände hätte, niemals vereinbar.« Wilhelm Windelband: Die Hypothese des Unbewußten. (Sitzungsberichte d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften. Philos.-hist. Kl. 4. Abh.). Heidelberg 1914. S. 6.

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manns schwierige >Induktionen< durch denkbar einfache Argumentationsschritte ersetzt. Umgekehrt gewendet: Der psychophysische Parallelismus ist die Theorie, die zur weiten Verbreitung der Idee des >Unbewußten< entscheidend beitrug. Die These der vollkommenen wechselseitigen Repräsentanz des Körperlichen und Seelischen, so lautet die Argumentation, fordere die Annahme eines unbewußt Psychischen; es wird mit Hilfe des Analogieverfahrens erschlossen. Es wird überall da postuliert, wo das Physische ohne seelische Begleiterscheinung zu sein scheint;46 so bezeichnet das Prädikat >unbewußt< die Empfindungen der niedrigen Organismen bzw. der Körperorgane, die nicht an ein Gehirn gebunden seien, demnach außerhalb des (Zentral-)Bewußtseins lägen. 47 Hierdurch erfährt Fechners Ansatz eine Neuorientierung. Wo Fechner die Atomisierung der Seele ablehnt, postulieren seine >Nachfolger< >Atomseelen< und >Zellseelen< als Konsequenz des parallelistischen Schemas; die seelische Innenseite des Leibes ist für Fechner das Gesamtbewußtsein; ein unbewußt Psychisches vermag er nicht zu denken; das göttliche Bewußtsein knüpfe sich an das physische Universum. Daß die Seele unbewußt sei, begründet innerhalb der monistischen Philosophie das Dogma der >AllbeseelungSystem ErdeUnbewußte< des Weltalls tritt; die >Beseelung< des Physischen geschieht nunmehr gleichsam in einen offenen Sinn-Horizont hinein. Dies bleibt mitzudenken, wenn wir die >Versinnlichung< des >Unbewußten< im psychophysischen Monismus betonen: In der Integration des >Unbewußten< in das Parallelismus-Schema ist eine Zuspitzung der Tendenz zu sehen, die wir bei Eduard von Hartmann angedeutet fanden; der Tendenz, das Rätsel des >Weltgrunds< mit dem Rätsel des physisch-organischen Lebens zu identifizieren und das >anschauende Weltverhalten< an die Stelle des begrifflich-logischen zu setzen. Hartmanns Abstraktum wird der Sinnenwelt ein- und angepaßt - eine Entwicklung, die um so mehr ins Auge sticht, als einzelne Vorstellungsweisen aus der >Philosophie des Unbewußten< durchaus übernommen werden. So definiert Eisler etwa den Leib als eine »Organisation von Funktionen«, 48 oder er begreift den psychophysischen Parallelismus als das Resultat eines unbewußten Geschehens 4 ' - auch dies einer der Grundpfeiler von Hartmanns philosophischer Psychologie. Zugleich definiert Eisler das >Unbewußte< als das unmittelbar >SinnlicheUnbewußtenAn sich< der Außenwelt: »Wir kommen über die Welt des Bewußtseins in unserem Erkennen nicht hinaus, in dessen unbewußten Untergrund nur mit Postulaten unseres Denkens, nicht mit dem zuletzt sinnlichen Material unseres Erkennens hinein. Denn [...] die Vermutung, daß das Unbewußte nur ein uns Unbewußtes, in sich selbst aber Bewußtes sei, scheint mir undurchführbar. Aber das, was jenseits der Grenzen unseres Erkennens in der Innenwelt liegt, hat doch sein Gegenstück in der Außenwelt. Denn auch diese ist uns nur in der Weise des Bewußtseins gegeben. Auch für sie hatten wir ein Transzendentes in der kausativen Grundlage der in ihren Wirkungen erkennbaren mechanischen Energien vorauszusetzen. Dieses Transzendente, das für uns Unfaßbare, das der erkennbaren Wirklichkeit zu Grunde liegt, ist hier wie dort dasselbe; das eine schlechthin anzuerkennende, aber unerkennbare, als wirksam und

Eisler: Leib und Seele, S. 13γί. Eisler spricht vom >sinnlichen< und >unterbewußten Innensein< des Organismus. SI

Eisler: Leib und Seele, S. 177.

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Eisler: Leib und Seele, S. 189.

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Eisler: Leib und Seele, S. 177.

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damit als gesetzmäßig zu postulierende Seiende, das unserem phänomenalen Dualismus zur Basis dient, für das alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist.«54 Und doch bescheidet Erdmann, der gegenteiligen Versicherung zum Trotz, sich nicht mit dem »phänomenalen Dualismus«. Der überpersönliche >Sinn< des Kosmos ist ihm dann gewährleistet, wenn die ganze Natur, die Pflanzenwelt und jegliche organische und anorganische Materie, als >empfindend< gedacht und erfahren werden können." Mit Hilfe des - der Abstraktion wesentlich fremden - Analogieverfahrens gelangt Erdmann zur Gleichsetzung der Begriffe >organischseelisch< (= unbewußt psychisch), >lebendiglebensabhängigen GeistigkeitStaatsgebilde< - »Zellenstaat« war eine beliebte Metapher - greift er auf, um die Vorstellung der >Seeleneinheit< zu widerlegen;6' vorausgesetzt ist die >Beseelung< der einzelnen Organe: »unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen«.66 »Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche, theils miteinander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen.« 67 »Der Begriff >Individuum< ist falsch. Diese Wesen sind isolirt gar nicht 58

Ludwig Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches. Leipzig 1926. S. 80.

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Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, S. 75.

60

Z u unserer Darstellung vgl. A l w i n Mittasch: Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph.

61

Werke X V , S. 7 7 (Ecce homo. Abschnitt: Menschliches, Allzumenschliches).

Stuttgart 1952. Lehre< ist die Deutung des Leibes als unverfälschter, sozusagen nackter, Verkörperung des >Willens zur MachtLebens< gegenüber allen Idealen des Bewußtseins bemüht, >Leben< aber primär organisches Leben< ist, muß der >Leib< notwendig eine zentrale Rolle in der Entwicklung bzw. Begründung der neuen Werteskala spielen. Der >Leib< wird zu einem Zauberwort, das Geheimnis des wachsenden und sich erneuernden >Lebens< konkret auszudrücken; uns begegnen Formulierungen, die den Kern von Bölsches >Philosophie der Zeugung< umreißen: »Der menschliche Leih, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fliessen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte >SeeleLeib< mit immateriellen Qualitäten aus - ganz analog zu dem (übergeordneten) moralischen Impuls, die bislang an das Jenseits verschwendete menschliche Kraft zurückzuleiten in die diesseitigen Zusammenhänge. So entwickelt er, indem er den außerweltlichen >Willen zum Leben< durch den nur für

68 69 70 71 72

90

Werke Werke Werke Werke Werke

XIII, S. 16 9 . X I , S. 280. X I , S. 184. X I , S. 185. X V I , S. 115.

das Diesseits denkbaren >Willen zur Macht< ersetzt, Schopenhauers Naturanschauung folgerecht weiter. Wo dieser >Wille< und >Vorstellung< auseinanderriß, da sieht Nietzsche, der >AntimetaphysikerErscheinungTiefe< des >Wesens< verleiht. In dem Aufbau des Leibes verschafft sich für Nietzsche der >Wille zur Macht< unmittelbar Geltung. Er ist inkarniert in den einfachsten Organismen. Ernährung und Wachstum der Zelle interpretiert Nietzsche als einen Prozeß totaler Überwältigung, >Einverleibung< des Äußeren: Das »Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach Etwas zu suchen, das ihm widersteht, - nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben«.73 Die Zellteilung trete ein, wenn die anverwandelnden Kräfte erschöpft seien; statt das Eroberte fahren zu lassen, organisiere sich der >Wille zur Macht< neu in zwei Expansionszentren: »Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweibeit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander«.74 Unzählige solcher >Machtzentren< kreuzten sich im menschlichen Körper. Die Harmonie und >Zweckmäßigkeit< seien Folge des vom stärksten Trieb erzwungenen Gleichgewichts zwischen >Befehlen< und >GehorchenBewusstseineinen Willen< nennt«. 77

73

Werke Werke 7 ' Werke 76 Werke 77 Werke 74

XVI, XVI, XVI, XIII, XIII,

S. S. S. S. S.

162. 123. 126. i66f. 249.

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Ebenfalls >physiologisch< interpretiert Nietzsche den Herrschaftsanspruch des >Geistesder Geist< genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein [...]: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden f...] und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. [...] Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer >ErfahrungenVersinnlichung< in seiner Doppelpoligkeit wieder. Als durch und durch leiblich bedingt erfährt Nietzsche das >DenkenSeele< entgegengesetzter materieller Leib, sondern als Ort des unbewußten Seelenlebens, das die Basis bildet für das Bewußtsein. Nietzsche konzentriert sich auf das Geschehen im Körper; hier, im aktiven Funktionszusammenhang der Zellen und Organe, sieht er den >Willen zur Macht< wirken; der Leib erscheint als Resultat von Triebhandlungen - >Physiologie< wandelt sich zur Trieblehre. So wird Nietzsche zu einem Wegbereiter Freudscher Ideen - darüber ist viel geschrieben worden. In welchem Sinne er es nicht ist, wird deutlich, wenn man seinen Individualismus bedenkt. Die Sonderstellung des >großen Menschen< soll der >Wille zur Macht< begründen, und zwar begründen von den unbewußten Antrieben her, wie sich sich >im Leibe< ausdrücken. An dieser Stelle gilt es zu betonen, daß bei Nietzsche das >Unbewußte< nicht wegzudenken ist von seiner leiblichen Repräsentanz; es sind die am Leib und durch ihn sich offenbarenden Affekte, Triebe und Instinkte, die er unter dem Begriff des >Unbewußten< zusammenfaßt. Was bei Hartmann abstrakte Spekulation war, wird von Nietzsche auf psychologisierende Weise entwickelt: Im >Leib< konzentriere sich unser Leben, wie es sich im Bewußtsein noch nicht entfalten konnte; im leiblichen Triebwerk herrsche das >UnbewußteLeib< ist [...] unserem Bewusstsein [...] so überlegen, wie Algebra dem Einmaleins.«80 So wird der >LeibUber78 75 80

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Werke VII, S. i8/f. Werke X I , S. 2 7 9 f . Werke XIII, S. 248.

menschenPhilosophie des Unbewußten< Maurice Maeterlincks weltanschauliche Essays wurden von den Zeitgenossen vielfach interpretiert als poetische Version und Variante zu Eduard von Hartmanns >Philosophie des UnbewußtenUnbewußten< gingen von seinen Schriften aus - Hermann Bahr, Hofmannsthal, Heinrich Mann, Rilke und Musil sind nur die Bekanntesten unter denen, die sich intensiv mit dem Belgier beschäftigten.84 Der Schatz der Armen (1896; deutsch 1898) ist lesbar als der Versuch, das absolut Unerkennbare des >UnbewußtenMysteriumkollektives Unbewußtes< zu meinen. Dessen »Schätze« überträfen alles, was je geredet und gedacht wurde - das schweigende Kind sei weiser als Marc Aurel88 - ; zugleich erhöhe sich der Wert des den Menschen unbewußten Innenseins durch das bewußt Geleistete bzw. durch das, was auch diesem erst zugrundeliegt. Nichts könne in der Menschheit vorgehen, ohne eine Spur in ihrer Seele zu hinterlassen, und gerade die Seele der unbewußt Lebenden - des Kindes, des Bauern - werde bereichert durch die großen Gedanken, von denen sie nie etwas hörten, ja durch das in diesen Gedanken noch Unausgesprochene: »Möglich, dass man eines Tages noch die Gründe entdeckt, kraft deren - wenn Piaton, Swedenborg oder Plotin nicht gelebt hätten - die Seele des Bauern, der sie nicht gelesen hat, noch je von ihnen sprechen hörte, nicht das wäre, was sie heute untrüglich ist. Aber wie es darum auch bestellt sei, kein Gedanke verliert sich je für irgend eine Seele; und wer wollte uns die Teile von uns nennen, die nur kraft der Gedanken leben, die nie gedacht worden sind?« 8 ' Maeterlincks erstes philosophisches Buch ist gedanklich oft vage und widersprüchlich, wenn nicht gar ungereimt - das Faszinierende, das die Zeitgenossen empfanden, mag in der Intensität gelegen haben, mit der er dem Unbekannten in uns nachspürt, und in der Radikalität, mit der er es hinstellt als das uns Leitende, unser Wesen Bestimmende. Ein kompromißloser Dualismus prägt die Essays aus dem Schatz der Armen; die vorherrschende Stimmung ist die einer geheimnisvollen und phantastischen Ausweglosigkeit. Denn die >Seele< übersteigt oder transzendiert bei Maeterlinck nicht so sehr das Bewußtsein - dann hätten wir (wenn auch unvollkommen) noch Teil an ihr mit unserem Erkenntnisvermögen; viel85

Vgl. Maurice Maeterlinck: Der Schatz der Armen. In die deutsche Sprache übertragen durch Friedrich v. Oppeln-Bronikowski. Florenz/Leipzig 1898. S. 28. 86 Der Schatz der Armen, S. 24 87 Der Schatz der Armen, S. 83. 88 Der Schatz der Armen, S. 50, 56. 8 ' Der Schatz der Armen, S. 56.

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mehr steht sie von vornherein in einem quasi existentiellen Gegensatz zu dem, was immer wir als >unser Leben< begreifen und erfahren können. U m NegativFormen zu dem leiblich bedingten Dasein und Bewußtsein handelt es sich: Die Seele erscheine im Unsichtbaren; sie offenbare sich in der intellektuellen A n schauungsindTod< ist das Wort f ü r die >andere SeiteMetaphysik des Lebens< knüpfen werden, taucht hier bereits bei Maeterlinck auf; 95 erst in der letzten, der absoluten Negation unseres Daseins behaupte sich das, was in uns Wirklichkeit und Gültigkeit besitzt: »Sie [die Todgeweihten] sind da fast auf der andern Seite des Lebens, und man empfindet, dass nun endlich die Stunde naht, etwas zu erkennen, das gewichtiger, menschlicher, wirklicher und tiefer ist als Freundschaft, Mitleid oder Liebe, etwas, das tief unten in der Brust auf Tod und Leben mit den Flügeln schlägt, etwas, das man nicht kennt und das man noch nie genannt hat, und das zu nennen nicht mehr möglich ist, denn so manches Leben geht stumm vorüber!« 9 4 Ähnlich ist es f ü r Maeterlinck das Schweigen, in dem unsere >Wahrheit< sich kundtut. In paradoxen Formulierungen sucht er die Unvergleichbarkeit dieses Schweigens mit dem, was Worte - auch die Worte f ü r das >Schweigen< - ausdrücken können, zu verdeutlichen. E r unterscheidet ein passives und ein aktives Schweigen. Das »passive Schweigen« umfaßt die üblichen, vorstellbaren Formen der Stille; es sei »Reflex des Schlafes, des Todes oder des Nichtseins«. 95 Es könne aus seiner Passivität erweckt werden und dem »aktiven Schweigen« Platz machen, in dem nun das Leben in entfremdeten Formen sich spiegelt: »[...] und dann besteigt seine Schwester, das grosse aktive Schweigen, den Thron. Seid auf der Hut! [...] und das gewöhnliche Leben [wird] einem Leben Platz machen, w o [ . . . ] nichts mehr vergessen wird [.. . ] . « * Als das dem Bewußtsein Fremde umfaßt die >Seele< das eigentlich Unbedingte der E x i stenz; sie ist jener >Grundwahres< Leben auch dem moralischen Gehalt nach kennten wir nicht. Und schließlich sei unsere Seele oft die Verbündete der Mächte, die unseren Untergang herbeiführten: »Was ist es, das alle Mitschuldigen des Weltalls in Bewegung setzt, die sich von unserm Blute nähren?«100 Das Unbekannte in uns korrespondiere dem Unbekannten außer uns; wo die >Natur< uns scheinbar gleichgültig vernichte, wo wir uns in eine Kette unglücklicher Zufälle verstrickten, da seien wir oftmals nur die Erfüllungsgehilfen unseres eigenen verborgenen Wollens und Wesens.101 Wiederum bemüht sich Maeterlinck, das, was dem >tiefen Leben< angehört, abzugrenzen, zu unterscheiden von dem, was durch neue Erklärungen sagbar gemacht worden sei. Insbesondere die pessimistische Metaphysik habe Namen gefunden für jene >unheimliche< Verwandtschaft zwischen unserem Unbewußten und dem äußeren Geschehen. Maeterlinck streift die quasi metaphysische Deutung der Geschlechtsliebe, wie sie, eine trivialisierte Form der Auffassung Schopenhauers, besonders unter den Verfechtern der Evolutions- und Vererbungslehre weit verbreitet war: Die individuelle Liebe diene der Gattung; in der >Wahl< der Liebenden verdichte sich das >Leben< der Generationen.101 Gerade da, wo wir am persönlichsten für uns zu entscheiden vermeinen, regiere uns, dieser Deutung zufolge, das >UnbewußteSchicksal< und >Charakter< erinnert (vgl. die Abhandlung aus dem ersten Band der Parerga und Paralipomena : Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelneri). Der Schatz der Armen, S. 78Í.

enthalten; und die Worte sagen vielleicht nichts von alledem, was zu sagen wäre. [...] Und alles hätte wohl das Recht, noch geheimnisvoller zu sein.«IO} An der Wurzel von Maeterlincks Nachdenken über die >Seele< steht die Angst: Angst vor der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins und vor der Fremdheit, mit der die Natur uns gegenübertritt. Die Vorstellung, daß es ein unbewußtes Leben gebe, in dem das Gültige geschieht, das zugleich uns von innen heraus zu zerstören vermag, kann diese Angst nur noch steigern zu einem grauenvollen Fatalismus - Maeterlincks frühe >mystische Spiele« legen Zeugnis davon ab. Er urteilt später selbst über sie: »Die Triebfeder dieser kleinen Dramen war die Angst vor dem Unbekannten, das uns umgiebt. Der Dichter glaubte [...] darin an ungeheuere, unsichtbare Schicksalsmächte, deren Absichten völlig unbekannt sind, die aber im Sinne des Dramas mit bösem Willen über unser Thun und Lassen wachten und dem Leben [...] feind waren. [...] Mit einem Wort, es war so etwas wie die christliche Gottesidee in Verbindung mit dem antiken Schicksalsgedanken, und in die undurchdringliche Nacht der Natur Verstössen [.. .].«104 In den philosophischen Büchern, die Maeterlinck dem Schatz der Armen folgen ließ, bleibt dies das Grundthema, das immer wieder die Lösungen in Frage stellt: Nichts antworte von außen unserem Bewußtsein; mit unserem spezifisch menschlichen Empfinden, unserem Glücksstreben und unseren Idealen seien wir isoliert in der Natur; der Zugang zu unserer >SeeleLeben< draußen, dem >wahren< Leben, sei uns versperrt; die >Idee< des Weltalls falls wir von einer solchen überhaupt reden dürften - falle in den Bereich des >AnderenUnbewußtenunbewußten< Mächten kommt er in Weisheit und Schicksal (1898; deutsch 1899), dem Werk, das er unmittelbar nach dem Schatz der Armen veröffentlichte. Hier erkennt er, durchaus im Widerspruch zu dem vorher eingenommenen Standpunkt, dem Bewußtsein eine aktive Rolle zu in der Evolution des im Universum verkörperten >MysteriumsTiefste< in der menschlichen Seele - er würde es vielleicht als >Liebe zum Leben< bezeichnen - auf eine Stufe mit dem Leben in der außermenschlichen Natur. Seine Untersuchungen leite der Gedanke, »daß das geringste Geheimnis eines Dinges, das wir in der außermenschlichen Natur erblikken, an dem tiefen Rätsel unseres Ursprunges und Zweckes vielleicht einen unmittelbareren Anteil hat, als das Geheimnis unserer glühendsten und mit beson105

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Weisheit und Schicksal. Autoris. Ausg. i. d. Deutsche iibertr. v. Friedrich v. OppelnBronikowski. Leipzig 1899. S. 61. Weisheit und Schicksal, S. i8ff. Weisheit und Schicksal, S. 15. Weisheit und Schicksal, S. 15. Das Leben der Bienen. Deutsch v. Friedrich v. Oppeln-Bronikowski. Jena 1925. S. 83.

derer Vorliebe erforschten Leidenschaften.«110 In der natürlichen Organisation des Bienenstaates sieht er den »Geist des Bienenstockes« verkörpert - die Verschmelzung des Unbewußten mit dem Bewußtsein bzw. die Projektion des Psychischen in die >Materie< steht im Zentrum der Vision vom großen Zusammenhang des Lebens: »Es ist nicht augenscheinlich, aber wer sich ernstlich damit beschäftigt, für den ist es nicht mehr zweifelhaft, daß in der Natur ein Wille herrscht, der danach trachtet, einen Teil der Materie auf eine höhere, vielleicht auch bessere Stufe zu erheben und ihre Oberfläche allmählich mit jenem geheimnisvollen Fluidum zu überziehen, das wir zuerst das Leben, dann den Instinkt und kurz danach den Verstand nennen, ein Wille, der die Existenz alles dessen, was einem unbekannten Ziele zustrebt, zu sichern, zu organisieren und zu erleichtern trachtet.«111 So wird, wiederum in einem mehr als nur metaphorischanalogischem Sinne, das >Leben der Bienen< zum Gleichnis für das Leben der Menschen. Dem >Geist der Erde< - Rilke gebraucht das Wort in seinem Maeterlinck-Vortrag1" - würden die Einrichtungen, die Kommunikation der Menschen so erscheinen wie uns das Treiben der Bienen. Wenn Maeterlinck in dem - für das Individuum sinnlosen - Selbstopfer der Bienen zugunsten der folgenden Generation Hindeutungen auf den Ort und Zweck des Menschen im unbekannten Gesamtplan der Natur erblickt,"3 zeigt sich allerdings, auf welches Maß die Rolle des persönlichen Geistes herabgedrückt ist. In dem Maße, in dem Maeterlinck das Universum >vergeistigtversinnlicht< er das geistige Leben. Die Inflation des Bewußtseinsbegriffs erreicht einen Höhepunkt in dem Essay Die Intelligenz der Blumen (1907; deutsch 1907). Allen Ernstes schließt Maeterlinck von der Zweckmäßigkeit der pflanzlichen Organisation auf ein waches Vorstellungsvermögen der Pflanze - die Naivität der Behauptung wird nur wenig korrigiert, wenn er dann wieder diese Vernunft einem allgemeinen Natur-Bewußtsein zuschreibt."4 So strebt Maeterlinck, das Grauen vor dem Unbekannten zu überwinden, indem er im Unbewußten außer uns Regungen des Bewußtseins erkennt; auch für ihn wird das Unvertraute vertraut durch den Gedanken der >beseelten Materie*. Zugleich wird der innere Dualismus zwischen der >Seele< als dem Unfaßlichen und dem bewußten Geist aufgehoben. Oder besser: Es wird das Ziel angedeutet, das >Unbewußte< als die dominierende Kraft unserer Seele so auszuleben, auszu110 111 111 113 114

Das Leben der Bienen, S. 96. Das Leben der Bienen, S. 179. »Esprit de la terre« in Analogie zu »Esprit de la ruche«: Rilke: Werke V, S. 545. Ein leitmotivisch das Werk durchziehender Gedanke. Wiederum ist zu beachten, daß Maeterlinck auch mit diesem Werk vollkommen Ernst genommen wurde. So schickt v. Oppeln-Bronikowski seine Übersetzung an Rilke nach Capri, die Gelegenheit zur Wiederaufnahme des Kontakts ergreifend: Vgl. Klaus W. Jonas: Ein früher Kritiker Rilkes: Der Schriftsteller Friedrich von Oppeln-Bronikowski. In: Modern Austrian Literature 15/3-4. 1982. S. 183-219. Hier S. 207f.

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agieren, daß das Bewußtsein nicht mehr gegensteuern kann, daß schließlich überall in der Körperwelt der Ausdruck der Seele begriffen bzw. gefühlt wird. Damit löst sich ebenfalls die starre Konfrontation des >Irdischen< mit dem Außer- bzw. Unterirdischen. Bereits die Gedankenführung im Schatz der Armen ist von dem Zwiespalt geprägt, der in der Enthüllung des >Unbewußten< liegt: solche Entdeckung ist >Bewußtwerdung< - im Sinne Ricarda Huchs: Erfüllung des Bewußtseins mit den Gehalten des Unbewußten - ; und sie ist >Versichtbarung< des Unsichtbaren - d. i. Anschauung der außerbewußten >Seele< in der physischen Gestalt. Ricarda Huch empfand den Zwiespalt als Widersprüchlichkeit; sie konzediert in ihrer Rezension, daß sich zu ihren Kritikpunkten auch die gegenteiligen Äußerungen bei Maeterlinck finden ließen.11® Maeterlinck beobachtet das »Erwachen der Seele«;IIÄ an der »Oberfläche der Menschheit«"7 tauche sie auf. Wiederholt spricht er davon, daß wir lernen müßten, das Unsichtbare zu sehen. »Man muss sehen lernen, um lieben zu lernen.«" 8 Nichts >GeistigesGebärdetiefen Lebens< an: Die Seele würde dem Engel »die gefalteten Hände des Menschen zeigen, seine Augen voller Träume, die nicht einmal einen Namen haben, und seine Lippen, die nichts sagen können; und vielleicht wagte dann der andre, wenn er würdig ist, zu verstehen, nicht mehr zu fragen«." 9 Gewiß meint Maeterlinck eine >übersinnliche< Wahrnehmung und eine Begegnung der Seelen, in der die körperlichen Grenzen überwunden sind: »Zwei Seelen werden sich erreichen, die Mauern weichen, die Dämme einstürzen«.120 Dennoch ist keineswegs die Unterdrückung oder gar Auslöschung des >Leiblichen< beabsichtigt. Im Gegenteil: Da solche Befreiung und Verwirklichung der Seele immer die Befreiung von dem unser >Ich< einschließenden Bewußtsein bedeuten, Maeterlinck aber ein höheres geistiges Prinzip nicht formuliert, läuft die Feier des >Unbewußten< und Außersinnlichen letztlich auf eine geradezu extreme Verfeinerung des leiblich-sinnlichen Lebens hinaus. Mit untrüglicher Sicherheit erkannte Ricarda Huch hinter dem Dualismus diese Tendenz. Die >unsichtbare GüteGeist< bedürfe. 121 Die Schicksalsatmosphäre der frühen Dramen entzaubert sie mit der treffenden Charakteristik: »Muß der Seelendunst durchaus wirken wie ein Dunst von Katzen, in deren R. Huch: Über Maeterlincks »Schatz der Armen«. Gesammelte Werke VI, S. 655. " 6 Der Schatz der Armen, S. i4ff. 117 Der Schatz der Armen, S. 14. Der Schatz der Armen, S. 95. Der Schatz der Armen, S. 61. 110 Der Schatz der Armen, S. 8. 111 R. Huch: Über Maeterlincks »Schatz der Armen«. Gesammelte Werke VI, S. 654.

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Nähe bekanntlich manche Menschen ein unerträgliches Angstgefühl befällt? Muß die Ahnung von etwas Ungeheurem, das unsichtbar in und um uns wirkt, der geahnten Nähe eines versteckten Gespenstes so ähnlich sein?«" 2 Maeterlinck verwechselt in ihren Augen die >Seele< mit »Sinnlichkeit oder Nervosität«. 123 Ein Widerspruch tut sich auf zwischen der Bestimmung des >Seelischen< als des Immateriellen und absolut Jenseitigen« einerseits, der Identifikation der >Seele< ausschließlich mit dem >Unbewußten< andererseits, dessen Äußerung in dem Unartikulierbaren des psychischen Lebens und dessen Inkarnation bzw. Offenbarung vor allem im Physischen erblickt wird. Der Widerspruch kann sich lösen, wenn wir die Quelle und das Modell für Maeterlincks Konzeption der >Seele< ins Auge fassen: er orientiert sich an spiritistischen Vorstellungen. Ein intensives Studium okkulter Literatur begleitete die Abfassung des Schatzes der Armen;114 im Begrabenen Tempel berichtet er von der Teilnahme an spiritistischen Sitzungen. 12 ' Mehrfach spielt er auf Parapsychologisches an; 126 die »transzendentale Psychologie«,127 die er fordert, 128 ist weniger als Gegenform denn vielmehr als Steigerungsform des wissenschaftlichen Spiritismus« gedacht; nicht die spektakulären Kundgebungen der Seele, sondern ihre außerordentliche Gegenwart« im Alltäglichen solle erforscht werden. 12 ' Auf das spiritistische Muster verweist es, wenn er die Seelenmystik als »Magie« versteht.'30 In der Tat ähnelt die beschworene Erkenntnis und Begegnung der Seelen, in willenloser Passivität geschehend, dabei die Gesetze von Raum und Zeit aufhebend, 13 ' dem >Hellsehen< und >zweiten Gesicht« eines Mediums, wie es von Zeitgenossen verstanden und beschrieben wurde. Das >transcendentale Bewußtsein« bzw. das >transcendentale Ich«, wie Maeterlinck, im Anschluß an Novalis, die >Seele< auch nennt,' 32 gleicht sehr genau dem DoppelIch Carl du Preis, eines der bekanntesten Spiritisten.'33 Beide statten es mit s o m nambulen« Fähigkeiten aus. Es kennt die Zukunft; es hat das Gedächtnis unserer vergangenen Inkarnationen - in durchaus zeittypischer Weise vermischen sich Seelenwanderungslehre und Vererbungstheorie'34 - ; es verbindet uns mit den

R. Huch: Über Maeterlincks »Schatz der Armen«, R. Huch: Uber Maeterlincks »Schatz der Armen«, 114 Uber Maeterlincks Interesse am Okkultismus und berichtet: Gorçeix: Les affinités allemandes dans S. 50, 135 u.ö. 125 Der begrabene Tempel, S. 2oéff. I 2 Í Der Schatz der Armen, S. 16; 17. 127 Der Schatz der Armen, S. 17. 128 Vgl. auch Der Schatz der Armen, S. }$ff. 129 Der Schatz der Armen, S. 17. ,J ° Der Schatz der Armen, S. 70. 131 Vgl. Der Schatz der Armen, S. 31. 132 Der Schatz der Armen, S. 56 bzw. S. $2. 133 Vgl. das folgende Kapitel. 122 123

134

S. 658. S. 655. diesbezügliche ausgiebige Studien l'œuvre de Maurice Maeterlinck,

Vgl. Der Schatz der Armen, S. 79; Der begrabene Tempel, S. 190.

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>Seelen< der anderen Menschen. Die gedankliche Prämisse solchen >Transzendentalismus< ist die Vorstellung, daß eine seelische Substanz, aus der unser >Unbewußtes< schöpft, überall gleichmäßig in der materiellen Welt verteilt sei. >SeelenmeerOcean der Seelen«'36 heißt es im Schatz der Armen; im Leben der Bienen und im Begrabenen Tempel greift Maeterlinck den Terminus aus der spiritistischen Tradition auf: >Fluidum< des Lebens; mit >Fluidum< will er die spezifische Qualität der >Beseeltheit< bezeichnen, die dem >Leben< zukomme.137 Nachgerade an Reichenbachs >Od< erinnert es, wenn er von der »Ausscheidung unseres geistigen Organismus«'38 spricht, deren Wahrnehmung die Grundlage sei für eine Vorhersage der Zukunft. Im Begrabenen Tempel macht Maeterlinck sich die modernen Interpretationen der spiritistischen Phänomene zu eigen: Das Medium oder die Somnambule >vertausche< »ihr Bewusstsein mit dem Bewusstsein und selbst einem Teile der Unbewusstheit der sie Befragenden«;'39 sie wecke das schlafende Unbewußte der fragenden Person und führe die »fast animalische Erinnerung« »ans Licht des Menschlichen [...], nach dem dieselbe vergebens getrachtet hatte, emporzudringen.«I4° Es liegt also Maeterlincks Theorie des Unbewußten die - ihres grob abergläubischen Gewandes entkleidete - Lehre von der Materialisation der Seele< zugrunde.14' Als Konsequenz aus dieser Lehre kann man den Glauben an die >Geistigkeit< der Materie betrachten (Das Leben der Bienen; Die Intelligenz der Blumen). Jedenfalls entspricht auch bei Maeterlinck der >Versinnlichung< des geistigen Lebens eine enge Zusammenschau des >Seelischen< mit den organischen Bildnerkräften. Wohl aus der spiritistischen Literatur übernimmt er den Gedanken, daß die >Seele< ihren Körper baue. Er verschmilzt ihn mit der modernen Auffassung, daß das (hellsehende) Unbewußte es sei, welches die Funktionen des Organismus reguliere: »Es weiss alles und vermag alles. [...] Man schreibt ihm namentlich jene noch nicht näher bestimmte, oft wunderbare Kraft derjenigen Nerven zu, die nicht unmittelbar zur Hervorbringung unseres Verstandes und Willens dienen, und die anscheinend das Lebensfluidum selbst ist. Es ist wahrscheinlich bei allen Menschen von fast derselben Natur. Aber es steht mit dem Verstände auf sehr verschiedene Arten in Verbindung. Bei den einen bleibt dieses unbekannte Prinzip so tief begraben, dass es sich nur um die körperlichen Funktionen und die Fortdauer der Gattung küm1,5 156 137 138 139 140 141

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Der Schatz der Armen, S. 25; 26; 33 u.ö. Der Schatz der Armen, S. 18. Das Leben der Bienen, S. 179. Der begrabene Tempel, S. 215. Der begrabene Tempel, S. 207. Der begrabene Tempel, S. 214. Zeitgenössische Kritiker haben die Verwandtschaft zwischen Maeterlincks Konzeption der >Seele< mit dem spiritistischen Modell erkannt. Vgl. Drews: Rezension: Der begrabene Tempel, S. 167 (Vergleich mit du Prel und Hellenbach).

mert.«'42 Es kehrt die Parallelisierung, ja Identifikation der leiblichen mit den geistigen Prozessen wieder. Ein »hypertrophisches Nervensystem« sei die Ursache, wenn, bei weissagenden Personen, das Unbewußte ins Bewußtsein dringe; Gegenwart und Zukunft »kreisten« »in den Nervenbahnen« dieser großen »Deuter« und »geheimnisvollen Hysterischen«.143 Mit dem Spiritismus haben wir uns auf das weite Gebiet okkulter Wissenschaften begeben, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert einer uns heute unverständlichen Beliebtheit erfreuten. Es gipfelt hierin, in solchem Experimentieren mit >magischen< Kräften, das Bestreben, im Physischen der >Seele< habhaft zu werden - das gleiche Bedürfnis, das auch den breiten Strom der monistischen Philosophie hervorrief. Die Tragweite des Themas, zugleich die immerhin noch mögliche geistige Statur seiner Auffassung, offenbart Schopenhauers berühmter Beitrag Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt (1850).144 Schopenhauer bezeichnet den Magnetismus, Somnambulismus und Spiritismus als praktische Metaphysik