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German Pages 434 Year 2023
Feder und Recht
bibliothek altes Reich
Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal
Band 39
Feder und Recht
Schriftlichkeit und Gerichtswesen in der Vormoderne Herausgegeben von Josef Bongartz, Alexander Denzler, Carolin Katzer, Stefan Andreas Stodolkowitz
ISBN 978-3-11-107730-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-107740-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-107751-2 ISSN 2190-2038 Library of Congress Control Number: 2023932683 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Aus dem Werk von Ulrich Tengler, Der neu Layenspiegel. Augsburg 1511, fol. 22v; Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Signatur 2 Rw 628 (urn:nbn:de:bvb:12-bsb11201521-0). Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen dem Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit und dem Stadtarchiv Mühlhausen. Die fruchtbare Kooperation mündete im September 2019 in einer Tagung, die dem gleichnamigen Sammelband zugrunde liegt. Seit nunmehr 26 Jahren arbeitet das Netzwerk an einer Vernetzung von Forschern und Nachwuchswissenschaftlern und einer inhaltlichen sowie methodischen Fortentwicklung des weiten Forschungsfeldes „Gerichtsbarkeit der Vormoderne“. Im Fokus steht dabei die Interdisziplinarität des Netzwerks, um den fächerübergreifenden Austausch zwischen Historikern und Rechtshistorikern nutzbar zu machen. Enge Kooperationen mit Archiven, historischen wie rechtshistorischen Lehrstühlen und Professuren und insbesondere die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V. machen es möglich, diesen Austausch weiter zu fördern. Unser vorliegender Sammelband geht auf die genannte Tagung zurück. Der Konferenzort Mühlhausen war dabei bewusst gewählt, denn die ehemalige Reichsstadt mit ihrer reichen archivalischen Quellenüberlieferung war und ist von großer Bedeutung und eröffnet mannigfaltige Möglichkeiten, die vormoderne Gerichtsbarkeit zu erforschen. Nach einer eher offen gehaltenen Tagung im Jahr 2017 war es 2019 ein zentrales Anliegen, ein konkreteres Themenfeld zu behandeln und mit Blick auf die Schriftlichkeit im Gerichtswesen der Vormoderne interdisziplinäre Vergleichsperspektiven zu eröffnen. Denn frühneuzeitliche Verfahren waren wesentlich durch die Schriftlichkeit geprägt. Dennoch fehlt bislang eine Analyse, die diesen Gegenstand in den Mittelpunkt einer gerichts- und jahrhunderteübergreifenden Untersuchung stellt. Der vorliegende Band macht diese Lücke offenkundig und dient als Anregung und Annäherung, um den Zusammenhang von Schriftlichkeit und Mündlichkeit vor Gericht näher zu beleuchten. Nachwuchsforscher und Experten der vormodernen Gerichtsbarkeit bilden gemeinsam mit Archivaren einen dynamischen Kreis, um die Fragen der Schriftlichkeit in der Höchst- und Reichsgerichtsbarkeit zu diskutieren. Danken möchten wir daher allen Referenten und Autoren, die durch ihre Forschungen die Tagung ermöglicht und bereichert haben und die sich mit ihren Beiträgen am Band beteiligt haben. Darüber hinaus und im Besonderen danken die Herausgeber dem Stadtarchiv Mühlhausen, insbesondere Frau Dr. Antje Schloms, für die stets angenehme, produktive Kooperation und die Übernahme der Tagungsorganisation vor Ort. Unterstützt wurden wir darüber hinaus dankenswerterweise durch Rhonda-Marie Lechner. Herzlicher Dank gebührt außerdem Frau Andrea Müller von der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V., die uns erneut in vielerlei Hinsicht https://doi.org/10.1515/9783111077406-001
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Vorwort
organisatorisch unterstützte. Finanziell wurde die Tagung im Jahr 2019 von der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung gefördert, der wir unseren herzlichen Dank aussprechen möchten. Danken möchten wir außerdem den Reihenherausgebern für die Aufnahme des Tagungsbandes in die Schriftenreihe „bibliothek altes Reich“ und der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V., welche die Kosten der Drucklegung übernommen hat. Wir freuen uns über die vielen aktiven Netzwerker, die sich referierend und diskutierend bei den Veranstaltungen einbringen und schreibend an den Tagungsbänden mitwirken. All dies trägt zum konstruktiven Austausch bei, der auch und gerade nach über zwei Dekaden der Netzwerktätigkeit und nicht zuletzt in Zeiten des Krieges auf europäischem Boden keinesfalls selbstverständlich ist. Würzburg/Eichstätt/Mainz/Celle (März 2023)
Josef Bongartz Alexander Denzler Carolin Katzer Stefan A. Stodolkowitz
Inhalt Josef Bongartz/Alexander Denzler/Carolin Katzer/Stefan A. Stodolkowitz Feder und Recht. Zum Verhältnis von Schrift, Recht und Gericht – eine Annäherung 1 Eberhard Isenmann ‚Ich ziehe in Betracht, stimme aber nicht zu‘. Aufgaben und Arbeitsweise 33 spätmittelalterlicher Juristen Ulrich Falk Entscheidungsfindung durch Aktenversendung – ein besonders objektives 87 Gerichtsverfahren? Maria Weber Vom Schrift-Zeichen zur Praxis, von der Protokollsemantik zur außersprachlichen Wirklichkeit: verschriftete Mündlichkeit vor dem Stadtgericht Augsburg um 1500 135 Heike Hawicks Woe salmen nv dit halden…? Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im städtischen Recht der Vormoderne: Die Xantener Rechtskonsultationen an den Oberhof Neuss und die Entwicklung des 155 Duisburger Stadtrechts Daniel Kaune der besten urteil in der sach… Die Basler Gerichtsbarkeit in der Auseinandersetzung mit überregionalen Appellationsinstanzen im 15. Jahrhundert 177 Antje Schloms Collectanea iurisprudentium. Frühneuzeitliche Quellen der Rechtsprechung im Stadtarchiv Mühlhausen 201 Claudia Curcuruto … altrimente non si vedranno. Das Schriftlichkeitsprinzip der Sacra Congregatio Concilii in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts 221
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Inhalt
Carolin Katzer Die Bedeutung und Nutzung der Schriftlichkeit in Wormser 243 Konfessionskonflikten vor den höchsten Reichsgerichten Stefan Andreas Stodolkowitz Auswirkungen der Aktenführung auf das gerichtliche Verfahren. Reichskammergericht und Oberappellationsgericht Celle im Vergleich
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Dorothea Hutterer Schreibfeder und Zeichenfeder. Überlegungen zur Rolle der Kartographie im Gerichtswesen am Beispiel der reichsunmittelbaren Herrschaft 289 Fraunhofen Tobias Schenk Unbeobachtet vorübergegangen? Gerichtliches Entscheiden im Spiegel der genetischen Aktenkunde 313 Eva Ortlieb Schriftlichkeit im Entscheidungsprozess. Die Relationen des Reichshofrats 345 Thomas Schreiber Hab ich ein schreiben an kayserliche Maystadt selbst übergeben lassen. Anmerkungen zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Supplikationsverfahren 365 des Reichshofrats um 1600 Manfred Hörner Erfahrungen aus zweieinhalb Jahrzehnten Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten 383 Bernd Schildt Die Nutzung von digitalisiertem Archivgut zur Höchstgerichtsbarkeit Verzeichnis der Autorinnen und Autoren bibliothek altes Reich – baR
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Feder und Recht. Zum Verhältnis von Schrift, Recht und Gericht – eine Annäherung „Des Kaisers Wort ist groß und sichert jede Gift, Doch zur Bekräftigung bedarf ’s der edlen Schrift, Bedarf ’s der Signatur.“ Goethe, Faust II, Vers 10927–10929.
Mit diesen Worten hebt im vierten Akt von Goethes Faust II der Kaiser das Erfordernis hervor, die Verleihung der Erzämter und die Vergabe der Privilegien an die Kurfürsten – genannt werden vor allem die rechtshistorisch so wichtigen Appellationsprivilegien¹ – durch eine schriftliche Urkunde festzuhalten; der (Reichs‐)Erzkanzler wird daraufhin damit betraut, das Schriftstück aufzusetzen, und er gibt seinem Vertrauen in die Schrift mit den Worten Ausdruck: „Dem Pergament alsbald vertrau ich wohlgemut, Zum Glück dem Reich und uns, das wichtigste Statut; Reinschrift und Sieglung soll die Kanzelei beschäftigen, Mit heiliger Signatur wirst du’s, der Herr, bekräftigen.“² Darin kommt nicht nur die Rechtssicherheit stiftende Bedeutung der Schrift zum Ausdruck, sondern auch ihre ganz konkrete Herstellung durch die Kanzlei mit der nachfolgenden legitimierenden Unterschrift des Kaisers. Die Schrift erfüllt zum einen – wie Goethe in dieser Szene hervorhebt – eine bekräftigende und Nachdruck verleihende Funktion, zum anderen dient sie auch konkret der Visualisierung und der Nachvollziehbarkeit von gesprochenen Wörtern, Geschehnissen und Handlungen. Die Schrift kann ebenso ein Zeugnis ver-
Johann Wolfgang von Goethe, Faust II, Vers 10945 f.: „Als Richter werdet ihr die Endurteile fällen, Berufung gelte nicht von euern höchsten Stellen.“ Ebd., Vers 10971–10974. Zur rechtshistorischen Bedeutung der Appellationsprivilegien Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando. Köln/Wien 1980 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 7); Gernot Sydow, Das Verhältnis von Landes- und Reichsgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich. Eine Neubewertung der privilegia de non appellando, in: Der Staat 41 (2002), S. 263–284; Jürgen Weitzel, Minderungen der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts. Exemtionen, Apellationsprivilegien und vergleichbare Erscheinungen, in: Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2010 (QFHG, Bd. 57), S. 317–330; vgl. grundlegend ders., Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. Köln/Wien 1976 (QFHG, Bd. 4). https://doi.org/10.1515/9783111077406-002
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gangener Ereignisse sein wie ein in die Zukunft gerichtetes Versprechen, weil das Geschehene für künftige Leser festgehalten wird; oft, wie bei der Verbriefung gewährter Privilegien und Rechte, sind mehrere dieser Funktionen der Schrift berührt. Für die Durchdringung historischer Sinnzusammenhänge und komplexer Sachverhalte ist die Schrift ein wesentliches Merkmal, bieten schriftlich überlieferte Quellen doch zumeist die Basis historischen Arbeitens. Besondere Bedeutung hat die Schrift in gerichtlichen Verfahren. Sie dient hier nicht nur der Dokumentation und Nachrichtenübermittlung, sondern ist Gegenstand des Handelns zahlreicher Akteure. Denn in Gerichtsverfahren sind neben den unmittelbar beteiligten Parteien und den Gerichtspersonen regelmäßig weitere Personen eingebunden wie Anwälte, Notare, Zeugen und Gutachter, Angehörige von Beweiskommissionen, Herrschaftsträger und durch die in der Frühen Neuzeit weit verbreitete Aktenversendung die Mitglieder von Juristenfakultäten. Das Handeln der Gerichte und der weiteren am Verfahren beteiligten Akteure ist durch eine Vielzahl an verschiedenen schriftlichen Überlieferungsträgern dokumentiert: durch gerichtliche Akten, Protokoll- und Urteilsbücher sowie außerhalb der unmittelbar gerichtlichen Sphäre liegende Überlieferungen der weiteren Akteure wie Druckschriften oder Korrespondenzen zwischen Rechtsberatern und den Parteien.³ Ausgangspunkte dieser Schriftlichkeit sind vielfach aber nicht erst Tinte, Feder und Papier. Zentrales Anliegen der mit diesem Sammelband dokumentierten Tagung war es, Schriftlichkeit und Mündlichkeit „als zwei in- und miteinanderlaufende Kommunikationsformen“⁴ des vormodernen Rechtshandelns in den Blick zu nehmen und damit allgemein- und rechtshistorische Vergleichsperspektiven auf die Schriftlichkeit im Gerichtswesen der Vormoderne zu eröffnen.⁵ Ein solches
Andreas Würgler etwa hebt hervor, dass bei Konflikten, die vor den Reichsgerichten ausgetragen wurden, „die Konfliktparteien ihre Sicht der Dinge immer öfter in Form gedruckter, von Juristen verfassten (sic!) Deduktionen dar[stellten], die einerseits beim Gericht als Entscheidungshilfe eingereicht, andererseits aber auch gezielt an einflussreiche Stellen oder einschlägige Medien verteilt wurden“, wie auch Beiträge in diesem Band zeigen. Vgl. Andreas Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit. 2. Aufl. München 2013 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 85), S. 130. Bob Scribner, Mündliche Kommunikation und Strategien der Macht in Deutschland im 16. Jahrhundert, in: Helmut Hundsbichler (Hrsg.), Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Wien 1992 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd. 15, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 596), S. 183–197 (hier S. 186). Das Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Vormoderne als eine Form der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ ist auch Gegenstand der aktuellen Kommunikationsforschung. Vgl. Silvia Serena Tschopp, Medien und Kommunikation als Gegenstand der historischen Forschung zur Frühen Neuzeit, in: discussion 12 (2015), Abs. 1–20 (hier Abs. 16); Maria Heidegger, Soziale Kommunikationsräume im Spiegel dörflicher Gerichtsquellen Tirols, in: Johannes Burk-
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Untersuchungsvorhaben berührt zwangsläufig das Innerste historischen Arbeitens und Analysierens, ist es doch gerade erst die zeitgenössische Verwendung von Schreibfedern, Tinte und Papier⁶ und in der Frühen Neuzeit zunehmend auch der Druckerpresse, die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erlaubt.⁷ Die bedruckten und beschriebenen Schriftstücke sind „Medien der Macht und des Entscheidens“⁸, war es doch oft erst die Schrift, die einem Urteil vollkommene rechtliche Verbindlichkeit verlieh, aber auch – etwa im Falle von tatsächlich oder
hardt/Christine Werkstetter (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005 (Historische Zeitschrift, Beiheft 41), S. 175–200 (hier S. 198); vgl. ferner Alfred Messerli/Roger Chartier (Hrsg.), Scripta volant, verba manent. Schriftkulturen in Europa zwischen 1500 und 1900. Basel 2007. Die Verschränkung von mündlicher Interaktion und unterschiedlichen Texttypen wie briefs (schriftliche Überblicke der Anwälte über die zu präsentierenden Beweismittel) oder gedruckte Präzedenzfallsammlungen (law reports) behandeln für englische Gerichtsprozesse um 1800 Matthias Friedmann/Alexander Durben/Laura-Marie Krampe/Benedikt Nientied/André Stappert, Interaktion und Schriftlichkeit als Ressourcen des Entscheidens (ca. 1500–1850), in: Ulrich Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2019 (Kulturen des Entscheidens, Bd. 1), S. 168–208 (hier S. 198–205). Daniel Bellingradt, Vernetzte Papiermärkte. Einblicke in den Amsterdamer Handel mit Papier im 18. Jahrhundert. Köln 2020. Den epochenmachenden Charakter von Aktengebrauch einerseits und Druckerzeugnissen andererseits hat die Forschung wiederkehrend hervorgehoben. Die Akte als Signum für ein ‚alteuropäisches‘ Zeitalter von etwa 1200 bis 1800 in Abgrenzung zu einem ‚Urkundenzeitalter‘ betont Gerd Schwerhoff, Alteuropa – ein unverzichtbarer Anachronismus, in: Christian Jaser/Ute Lotz-Heumann/Matthias Pohlig (Hrsg.), Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200–1800). Berlin 2012 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 46), S. 27–45 (hier S. 40–43). Zur„Durchsetzung der Druckmedien“ als „stärkste[s] Zäsurargument“ für die Zeit nach 1450 etwa Johannes Burkhardt, Frühe Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), FischerLexikon Geschichte. Frankfurt a. M. 1990, S. 438–465 (hier S. 439), und insgesamt zu Druckmedien auch Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 3). Eine gewisse Synthese hinsichtlich der Frage nach der Relevanz von Hand- und Druckschriftlichkeit für die Frühneuzeitepoche hat Alexander Denzler, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Köln/Weimar/Wien 2016 (Norm und Struktur, Bd. 45), vorgelegt. Zur expandierenden Schriftlichkeit generell auch Arndt Brendecke, Papierfluten. Anwachsende Schriftlichkeit als Pluralisierungsfaktor in der Frühen Neuzeit, in: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573, Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit, 15.–17. Jahrhundert, Nr. 1 (2006), S. 21–30; online unter: http://www.sfb-frueheneuzeit.uni-muenchen.de/mitteilungen/M1-2006/papierfluten.pdf (abgerufen am 18. Januar 2023). Jan Marco Sawilla/Rudolf Schlögl (Hrsg.), Medien der Macht und des Entscheidens. Schrift und Druck im politischen Raum der europäischen Vormoderne (14.–17. Jahrhundert). Hannover 2014 (The Formation of Europe – Historische Formationen Europas, Bd. 5). Siehe in diesem Sammelband für die vorliegenden Zusammenhänge besonders Gabriela Signori, Schrift und Recht. Das Westfälische Femegericht im Spannungsfeld von Kommunikation und Interaktion, S. 103–122.
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angeblich nicht bearbeiteten Gerichtsakten – Medien des Nichtentscheidens.⁹ Zugleich sind sie Zeugnis mannigfaltiger Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Parteien unterschiedlichster sozialer Schichten und damit nicht nur eine Quelle der Gerichte, sondern auch eine solche der Personen, die, ob als Kläger, Beklagte, Anwälte, Zeugen oder auf andere Weise, von gerichtlichen Verfahren berührt waren, sowie ihrer vor Gericht beleuchteten Lebensverhältnisse.
Letzteres hat gleichfalls Goethe eindringlich für das Reichskammergericht zum Ausdruck gebracht: An diesem Höchstgericht habe man den Wust von Akten nicht bearbeiten können; Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Weltbild Klassiker der Deutschen Literatur). Augsburg 2003 (Original 1808–1831), S. 527 (12. Buch). Siehe zu dieser und anderen solchen Negativeinschätzungen bezüglich der Arbeitsleistung und -weise von Gerichten näher Denzler, Über den Schriftalltag (wie Anm. 7), S. 411 f. Abgesehen davon, dass die Wirkmächtigkeit von Gerichten nicht nur an dessen Entscheidungsoutput gemessen werden kann – siehe etwa Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576). Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Bd. 214) –, berührt die Anfertigung, Aufbewahrung und Verwendung von Schriftstücken auch und gerade des Pudels Kern von Gerichten. Die Schriftlichkeit als Bestandteil entscheidungsförmigen Handelns im Rahmen von Gerichtsprozessen behandelt André Krischer, Die Co-Produzenten der Entscheidungen. Materielle Ressourcen in englischen Gerichtsprozessen des 18. Jahrhunderts, in: Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens (wie Anm. 5), S. 142–167 (hier S. 153–166 bezogen auf Akten- und Notizbuchmaterial englischer Anwälte und Richter). Generell zum Urteilen und Entscheiden als zentralen Akten des Rechts Cornelia Vismann/Thomas Weitin (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden. München 2006; Anja AmendTraut/Ignacio Czeguhn/Peter Oestmann (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur. Wien/Köln/Weimar 2021 (QFHG, Bd. 75); zur breiten rechtstheoretischen Auseinandersetzung mit dem Judicial-DecisionMaking Krischer, Die Co-Produzenten der Entscheidungen, S. 142 f. Siehe insgesamt zum Entscheiden in historischer Perspektive Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 44); Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, in: German Historical Institute London. Annual Lectures 36 (2016), S. 1–51; Philip Hoffmann-Rehnitz/André Krischer/Matthias Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217– 281; Ulrich Pfister, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens (wie Anm. 5), S. 11–34; Wolfgang Eric Wagner (Hrsg.), Entscheidungsfindung in spätmittelalterlichen Gemeinschaften. Göttingen 2022 (Kulturen des Entscheidens, Bd. 8). Dezidiert zum Nichtentscheiden bei der römischen Kurie Christian Windler, Praktiken des Nichtentscheids. Wahrheitsanspruch und Grenzen der Normdurchsetzung, in: Wolfram Drews/Ulrich Pfister/Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Baden-Baden 2018 (Religion und Politik, Bd. 17), S. 271–290. Im letztgenannten Sammelband wird zudem das Entscheidungshandeln bei der spanischen Inquisition erörtert: Wolfram Drews, Die Gerichtsbarkeit der spanischen Inquisition in der Krise. Kardinal Cisneros und die Kongregation von Burgos 1508, in: ebd., S. 251–270.
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Das eben keineswegs selbstverständliche Vorhandensein von Schriftstücken im Zusammenhang mit dem Gerichtswesen der Vormoderne in dessen spezifischer Vielfalt bezogen auf das römisch-deutsche Reich zu perspektivieren,¹⁰ eröffnet einen wie folgt systematisierbaren und der diesem Band vorausgehenden Tagung zugrunde gelegten Themen- und Fragehorizont: Themenschwerpunkt 1 – Formen der Schriftlichkeit Ein weitgehend schriftliches Gerichtsverfahren ist Charakteristikum der frühneuzeitlichen Rechtspraxis, wie sie im Folgenden für das römisch-deutsche Reich im Vordergrund steht.¹¹ Daraus ergeben sich folgende Fragen: Welcher Kriterien und Voraussetzungen bedurfte die formelle und informelle Verschriftlichung an den Gerichten? Inwieweit beeinflusste die gegenüber früheren Jahrhunderten erhöhte Schriftlichkeit die Effizienz der gelehrten und ungelehrten Rechtsprechung? Welche Transformationsprozesse in Bezug auf Verschriftlichung durch Hand- und Druckschriften lassen sich ausmachen? In welchem Verhältnis stehen Akten, Protokollund Urteilsbücher zueinander und zu anderen Quellen der Überlieferung, etwa Schriftgut von Verfahrensbeteiligten? Themenschwerpunkt 2 – Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Daneben ergibt sich mit dem komplexen Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei verschiedenen Gerichtstypen, Verfahrensarten und Verfahrensschritten ein eigenes Themenfeld, das der Tagung mit folgenden Leitfragen zugrunde lag: Wann und warum wurden Mündlichkeit und Schriftlichkeit vor oder bei Gericht ausgeschlossen? Inwieweit limitierten oder erweiterten Schriftlichkeit und Mündlichkeit den Zugang zu einem Gericht? Das Spannungsverhältnis von schriftlichen und mündlichen Elementen im Gerichtswesen epochenübergreifend zu diskutie-
Anja Amend-Traut/Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Stefan A. Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich. Wien/Köln/Weimar 2020 (QFHG, Bd. 73). Der räumliche Untersuchungsschwerpunkt des Sammelbandes wird mit der von Claudia Curcuruto behandelten Sacra Congregatio Concilii geweitet. Und auch die etwa von Eberhard Isenmann und Ulrich Falk dargelegten Befunde spielen insgesamt für das vom römisch-kanonischen Recht geprägte Kontinentaleuropa eine Rolle. Wie sich demgegenüber das Verhältnis von Schriftlichkeit und Gerichtswesen besonders in der vom Common Law geprägten Rechtspraxis gestaltet hat, bedürfte einer gesonderten Erörterung und ist nicht Untersuchungsgegenstand des Sammelbandes. Siehe allgemein zur historischen Bedeutung der Schriftlichkeit im „römisch-deutschen Rechtsraum“ auch und gerade in Abgrenzung zum „anglo-amerikanischen Raum“ Andreas Deutsch, Schriftlichkeit im Recht: Kommunikationsformen/Textsorten, in: Ekkehard Felder/Friedemann Vogel (Hrsg.), Handbuch Sprache im Recht. Berlin/Boston 2017 (Handbücher Sprachwissen, Bd. 12), S. 91– 116 (hier S. 97–100; Zitate S. 97 und 100).
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ren, war ein Anliegen der Tagung und steht nun auch bei dem vorliegenden Tagungsband im Vordergrund. Dabei wird auch danach gefragt, welche Folgen der Wandel zu einem überwiegend schriftlichen Verfahren für die Verfahrensbeteiligten hatte und wie er sich auf gerichtliche Entscheidungen und auf die Verfahrensabläufe auswirkte. Themenschwerpunkt 3 – Nutzung der Schriftlichkeit Ferner war anlässlich der Tagung zu hinterfragen, inwieweit sich die Parteien Schriftlichkeit – besonders auch durch Druckschriften – für eine (print‐)mediale Inszenierung bei Gerichten, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit zu Nutze machten. Inwiefern hatten Druckschriften Einfluss auf die Gerichte und auf ihr Verfahren? Wie gingen Parteien und das Gericht im Allgemeinen mit Schriftstücken um? Auch Rechtsbücher, wie etwa das Mühlhäuser Rechtsbuch,¹² sollen in die Analyse einbezogen werden. Folgende Fragestellungen können zu einer Untersuchung des Einflusses der Schriftlichkeit auf die Gerichtsnutzung hilfreich sein: Welche Ordnungen reglementierten den Umgang mit Schriftlichkeit formell? Welchen konkreten Nutzen hatte die Schriftlichkeit für die beteiligten Akteure, insbesondere für das Gerichtspersonal und die Parteien, und inwieweit konnte es gelingen, Schriftlichkeit für die Durchsetzung eigener Interessen zu instrumentalisieren? Themenschwerpunkt 4 – Die Überlieferung Vor der Anlage von unter Umständen systematisch geführten Akten wurden gerichtliche Entscheidungen und wesentliche Verfahrenshandlungen in Protokollund Urteilsbüchern festgehalten. Diesbezüglich bestand das Ziel der Tagung auch darin, einen vergleichenden Blick auf die verschiedenen Formen zu richten. Welches Schriftgut von, für oder über Gerichte wurde archiviert und wie wurde die Archivierung vorgenommen? Welche Möglichkeiten und Grenzen der Auswertung gibt es für das selektiv oder in Massen erhaltene Schriftgut? Anliegen der Tagung war es ebenso, die Digital Humanities¹³ einzubeziehen und Perspektiven zu diskutieren, welche die Digitalisierung für die Nutzung von Archivgut eröffnen. Zur Bewältigung des Themas und zum Zwecke einer Annäherung an die genannten Schwerpunkte haben die Herausgeber zwölf Thesen erarbeitet, die als Impulse zur Be- und Verhandlung des Themas dienen, einen bewusst offenen Vgl. den Beitrag von Antje Schloms in diesem Band sowie die dort in Anm. 6 nachgewiesene Literatur. Silke Schwandt (Hrsg.), Digital Methods in the Humanities. Challenges, Ideas, Perspectives. Bielefeld 2021 (Digital Humanities Research, Bd. 1); Susan Schreibman, Digital Humanities. Centres and Peripheries, in: Historical Social Research 37.3 (2012), S. 46–58.
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Charakter besitzen und nicht als Forschungsergebnisse, sondern eher als Denkanstöße zu verstehen sind. Sie wurden den Autorinnen und Autoren als mögliche Gelegenheiten für Bezugnahmen im Rahmen der Ausarbeitung der Schriftfassungen der Beiträge zur Verfügung gestellt und sollen daher im Folgenden in unveränderter Form wiedergegeben werden; etliche Beiträge nehmen auf sie explizit Bezug. Zwangsläufig ist die Auseinandersetzung mit diesen Thesen ebenso wie die Befassung mit dem gestellten Thema unter Bezugnahme und Vorstellung der im Sammelband vereinten Beiträge einem grundlegenden Problem ausgesetzt: Der als „Schriftlichkeit“ bezeichnete Untersuchungsgegenstand deckt sich mit den für seine Untersuchung zur Verfügung stehenden Quellen, denn diese sind ihrerseits fast ausnahmslos schriftliche Quellen, seien es gerichtliche Akten, Protokolle, Urteilsbücher, Relationen, Ordnungen oder etwa Rechnungen.¹⁴ Durch die Überschneidung von Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsmaterial oder Erkenntnisinteresse und Erkenntnismittel ist die Distanz zwischen den Quellen und dem Untersuchungsgegenstand reduziert. Erschwerend kommt hinzu, dass auch mündliche Elemente des Gerichtsverfahrens nur durch schriftliche Quellen überliefert sind. Maria Weber formuliert das in diesem Zusammenhang bestehende methodische Problem dahingehend, dass „Vorgänge vor Gericht nur durch die Schrift zugänglich sind und die Transformation vom Mündlichen ins Schriftliche bestimmte dokumentationspraktische Konventionen produziert hat, sodass wir den Vollzug des eigentlichen Geschehens nur aus einer zweiten Beobachterposition, durch die Feder des Gerichtsschreibers und das Trübglas der sprachlichen Abstraktion, greifen können.“¹⁵ Sie versteht die von ihr untersuchten Protokollbücher des Stadtgerichts Augsburg als komplexe Medienkonstellationen und verortet die Überlieferung als Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In der vormodernen Gesellschaft konnte die Schrift somit durchaus trennend wirken, nämlich hinsichtlich der „Sach-, Zeit- und Sozialdimension der Sinnbildung“,¹⁶ so dass Vorgänge (vor Gericht) im Nachhinein nur durch eine genaue historische Kontextualisierung dekodiert werden können. Protokoll-, Urteils- und Gerichtsbücher als Quellen stammen vom Gericht selbst, das diese schriftlichen Aufzeichnungen durch einen Gerichtsschreiber anlegen und fortführen ließ. Akten wurden
Zu Letzterem jüngst Hendrik Baumbach, Die Rechnung des Landschreibers Georg Spengler aus der Tätigkeit des kaiserlichen Landgerichts der Burggrafen von Nürnberg (1458–1460). Beschreibung, Auswertung und Edition, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 82.2 (2019), S. 317–380. Maria Weber, in diesem Band S. 137. Rudolf Schlögl, Medien der Macht und des Entscheidens. Schrift und Druck im politischen Raum der europäischen Vormoderne (14.–17. Jahrhundert). Eine Einleitung, in: Sawilla/Schlögl (Hrsg.), Medien der Macht und des Entscheidens (wie Anm. 8), S. 7–32 (hier S. 13).
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hingegen zwar durch das Gericht geführt, enthalten aber überwiegend Schriftsätze der Parteien sowie ihrer Advokaten und damit ein Überlieferungsmaterial, dessen Urheber nicht das Gericht ist.¹⁷ Nicht alle Verfahrensarten und Verfahrensstadien sind gleichermaßen durch Aktenüberlieferung dokumentiert. So weist etwa Tobias Schenk in seinem Beitrag zutreffend darauf hin, dass auch in der Frühen Neuzeit der quantitative Großteil der Verfahren nicht vor den höheren Instanzen, sondern an den Untergerichten verhandelt wurde, die vielfach nicht umfassend erforscht sind und deren Entscheidungsfindung – sofern überhaupt eine schriftliche Überlieferung besteht – in der Regel nicht dokumentiert wurde.¹⁸ Hinzu kommen die zahllosen Untergerichte, die zumindest in Bagatellsachen, die eine Appellation nicht erwarten ließen, nur mündlich verhandelten.¹⁹ Und auch am Reichskammergericht ist die Entscheidungspraxis nicht lückenlos durch schriftliche Quellen dokumentiert. Denn dort legte man Akten regelmäßig erst beim Übergang einer Sache ins sogenannte Judizialverfahren an; der Gang des ebenfalls schriftlichen Extrajudizialverfahrens ist hingegen nicht durch gerichtliche Akten überliefert.²⁰ Dort, wo mündliche Verfahrenshandlungen nicht mit schriftlichen Aufzeichnungen korrelierten, bleiben sie häufig für den Historiker im Dunkeln. Ein Beispiel hierfür lie-
Vgl. Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/ Wien 2015, S. 144 f. Vgl. auch Peter Oestmann, Zur Typologie frühneuzeitlicher Gerichte – einige norddeutsche Schlaglichter, in: Amend-Traut/Bongartz/Denzler/Franke/Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde (wie Anm. 10), S. 57–76 (hier S. 76), sowie Amend-Traut/Bongartz/Denzler/Franke/Stodolkowitz, Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften. Annäherungen und Perspektiven, in: ebd., S. 9–37 (hier S. 12). Ein Beispiel aus dem Hochstift Würzburg findet sich etwa bei Josef Bongartz, Gericht und Verfahren in der Stadt und im Hochstift Würzburg. Die fürstliche Kanzlei als Zentrum der (Appellations‐)Gerichtsbarkeit bis 1618. Wien/Köln/Weimar 2020 (QFHG, Bd. 74), S. 206, 209, 343, 390. Ein weiteres Beispiel bietet die Calenbergische Hofgerichtsordnung von 1639, die für die hergebrachten Land- und Gogerichte ein schriftliches Verfahren nur für diejenigen Fälle vorschrieb, in denen die Appellationssumme von 20 Gulden erreicht und damit ein Rechtsmittel statthaft war; Stefan Andreas Stodolkowitz, Herrschaftsverdichtung und Institutionalisierung der Justiz. Frühneuzeitliche Gerichtsvielfalt in Braunschweig-Lüneburg, in: Amend-Traut/Bongartz/Denzler/Franke/Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde (wie Anm. 10), S. 163–181 (hier S. 171). Peter Oestmann, Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: ders., Aus den Akten des Reichskammergerichts. Prozeßrechtliche Probleme im Alten Reich. Hamburg 2004 (Rechtsgeschichtliche Studien, Bd. 6), S. 345–385 (hier S. 368 f.); Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, Teilbd. I. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 17/1), S. 77; vgl. Anette Baumann, Die quantifizierende Methode und die Reichskammergerichtsakten, in: dies./Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 37), S. 55–67 (hier S. 58 f.).
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fern die von Eva Ortlieb untersuchten und auch von Tobias Schenk thematisierten mündlichen Entscheidungsfindungsprozesse am Reichshofrat. Am Anfang der Analyse steht das bereits angesprochene Quellenproblem, da die mündlichen Verfahrenselemente ihrer Natur nach weniger fassbar sind als die schriftlichen. Dies gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei den Sitzungsprotokollen in aller Regel lediglich um Beschluss- und nicht um Verlaufsprotokolle handelt. Aufzeichnungen der Reichshofräte können diesen Missstand mangels einer zentralen Überlieferung kaum kompensieren. Eva Ortlieb greift daher auf die vor allem aus dem 18. Jahrhundert überlieferten Relationen der zu Referenten oder Korreferenten ernannten Reichshofräte, also wiederum auf schriftliche Quellen zurück, die zwar nicht im Entscheidungsprozess selbst, aber immerhin in dessen Kontext entstanden. Doch selbst dort, wo Schriftstücke einst existierten, sind sie, wie Tobias Schenk überzeugend darstellt, nur Bestandteil einer Gerichtsakte geworden, wenn sie vom Gericht angenommen und somit überhaupt erst Gegenstand der Aktenführung wurden. Schriftstücke, die von vornherein ausgesondert wurden, bleiben den gegenwärtigen Forschungen mangels einer systematischen oder zumindest systematisierten Überlieferung solcher Dokumente weitgehend verborgen, vor allem, wenn sie gar bewusst vernichtet wurden.²¹ Und auch normative Quellen können diesen Missstand nicht ausgleichen, indem sie etwa darauf verweisen, welche Kriterien ein Schriftstück zu erfüllen hatte, um angenommen zu werden. Denn in aller Regel wurden Verfahrenshandlungen nicht umfassend normativ gefasst, und selbst wenn dies der Fall war, bedeutete das nicht, dass die Rechtspraxis diesen Normen auch folgte.²² Diesen epistemologischen Problemen zum Trotz unternehmen die folgenden Thesen und die in diesem Band versammelten Beiträge den Versuch, dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Umfeld der Gerichtsbarkeit der Vormoderne bezogen auf den bereits angesprochenen Untersuchungsraum²³ nachzuspüren.
Darauf, dass insbesondere das Schriftgut der Strafgerichtsbarkeit durch bewusste Vernichtungen besonders gefährdet war, weist Klaus Graf in einem seiner Beiträge zur Schriftlichkeit in Strafgerichtsprozessen hin: Klaus Graf, Das leckt die Kuh nicht ab. „Zufällige Gedanken“ zu Schriftlichkeit und Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 1), S. 245–288 (hier S. 247). Vgl. Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider/Stefan Andreas Stodolkowitz, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt. Deutungsansätze und integrative Elemente. Köln/Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 71), S. 9–20 (hier S. 17). Siehe hierzu auch nochmals Anm. 11.
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These I: Ein weitgehend schriftliches Gerichtsverfahren ist Charakteristikum der Frühen Neuzeit. Die Schriftlichkeit nahm am Ende des Mittelalters kontinuierlich zu. Das Verfahren des königlichen Kammergerichts im 15. Jahrhundert war noch überwiegend mündlich. ²⁴ Das Verfahren der frühneuzeitlichen Gerichte und insbesondere dasjenige der beiden Höchstgerichte im römisch-deutschen Reich war demgegenüber weitgehend schriftlich. ²⁵ Am Ende der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert fanden hingegen, vermittelt durch das moderne französische Gerichtsverfahren, das im Rahmen der„Franzosenzeit“ (nach 1800) nach Deutschland kam, vermehrt mündliche Elemente Eingang in das gerichtliche Verfahren: Das geheime schriftliche Verfahren des gemeinen Zivilprozesses wurde durch ein öffentliches mündliches Verfahren abgelöst, das gleichwohl auf erhebliche schriftliche Elemente wie Aktenführung und Anwaltsschriftsätze nicht verzichten konnte. ²⁶ An der im Laufe des Spätmittelalters und vor allem der Frühen Neuzeit – bis hin zum sprichwörtlich gewordenen „tintenklecksenden Säkulum“ an deren Ende²⁷ – geradezu explosionsartig ansteigenden Schriftlichkeit besonders im Rahmen der Herrschaftsausübung besteht kein Zweifel. Mit vergleichsweise frühen schriftlichen Zeugnissen der Gerichtstätigkeit beschäftigt sich Daniel Kaune in seinem Beitrag über die Urteilsbücher des Großbasler Schultheißengerichts, dessen Urteilsbücher seit 1394 lückenlos überliefert sind. Seine Untersuchung fördert nicht nur einen regen Gebrauch der Gerichtsbücher durch die Zeitgenossen zutage, sondern auch die rasche Etablierung bestimmter Formen der Aufzeichnungen in den 1420er Jahren. Die Ergebnisse der sich ausweitenden gerichtlichen Schriftlichkeit im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit sind in den Archiven greifbar. Sie bilden ein unverzichtbares Element der (rechts‐)historischen Forschungen, legt doch gerade die Schrift als Speichermedium vormoderner (gerichtlicher) Kommunikationen eine Untersuchung der Techniken des Aufbewahrens nahe. Einen Einblick in die entsprechende Überlieferung der Reichsstadt Mühlhausen und eine Andeutung der unzähligen Forschungsdesiderate gibt Antje Schloms in ihrem
Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 17), S. 144 f. Siehe zu den Unterschieden freilich hier mitunter die weiteren Ausführungen zum Beitrag von Eva Ortlieb sowie insgesamt auch die These XII. Die wachsende Bedeutung der Schriftlichkeit in Prozessen der Frühen Neuzeit hebt auch Philip Anjouri, Policey und Literatur in der Frühen Neuzeit. Studien zu utopischen und satirischen Schriften im Kontext Guter Policey. Berlin/Boston 2020 (Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, Bd. 218), S. 328, hervor. Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 17), S. 219–227. Denzler, Über den Schriftalltag (wie Anm. 7), S. 17, unter Hinweis auf die Quelle dieser Wendung in Friedrich Schillers Drama „Die Räuber“.
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Beitrag. Das Mühlhäuser Archiv ist ein Beispiel für die zahllosen Überlieferungen von Schriftgut im Zusammenhang mit der Gerichtsbarkeit weltlicher Obrigkeiten im römisch-deutschen Reich. Das Prinzip der Schriftlichkeit war freilich nicht nur der weltlichen Gerichtsherrschaft immanent, sondern hatte auch im Rahmen der geistlichen Gerichtsgewalt eine hervorgehobene Bedeutung, wie Claudia Curcuruto mit Blick auf das Dikasterium der Konzilskongregation hervorhebt. Die erhebliche Zunahme der Schriftlichkeit in der Frühen Neuzeit zeigt sich außerhalb der kontradiktorischen Gerichtsbarkeit auch anhand der von Thomas Schreiber untersuchten Suppliken reichsmittelbarer Untertanen, die einen erheblichen Teil des reichshofrätlichen Herrschafts- und Verwaltungshandelns auslösten und somit ihrerseits die Schriftproduktion in Verfügungen, Patenten, Privilegien, Schutzbriefen, Mandaten, Ermahnungen oder Fürbittschreiben anregten. Über die Schriftlichkeit im engeren Sinne hinaus geht Dorothea Hutterer in ihrem Beitrag zur Kartographie im Gerichtswesen. Sie belegt, dass parallel zu der sich ausbreitenden Schriftlichkeit in gerichtlichen Verfahren am Beginn der Frühen Neuzeit auch der Bedarf nach visuellen Darstellungen im Rahmen einer aus Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Anschauung erfolgenden Erschließung der gerichtlichen Streitgegenstände zunahm. Dabei weist sie darauf hin, dass – ähnlich wie bei Zeugenvernehmungen – Elemente der Mündlichkeit zur Erstellung von Karten als Beweismittel in ein anderes Medium überführt wurden, um der schriftlichen, aktenbasierten Rechtspraxis zu entsprechen. Allerdings sind hinsichtlich der Ausbreitung der Schriftlichkeit die bereits angedeuteten Einschränkungen zu beachten. Denn zum einen setzte sich die Schriftlichkeit im Verfahren längst nicht in allen Teilen des Reiches mit gleicher Geschwindigkeit und Strenge durch. So weiß etwa Manfred Hörner aus der Befassung mit den Münchener Beständen der Akten des Reichskammergerichts zu berichten, dass sich dieses sogar bis in das 18. Jahrhundert hinein mit Verfahren zu befassen hatte, die in der Ausgangsinstanz nicht schriftlich geführt worden waren. Zum anderen galt der prozessrechtliche Grundsatz der strengen Schriftlichkeit zwar für das Verfahren vor Gericht, nicht aber für die Entscheidungsfindung innerhalb der Kollegialgerichte. Tobias Schenk weist in diesem Zusammenhang auf die horizontalen, keineswegs aber hierarchiefreien multilateralen Kommunikationsbeziehungen hin, die von dem Prinzip der Schriftlichkeit bestenfalls im Ansatz erfasst werden. These II: Schriftlichkeit ist Mittel und Kennzeichen der Institutionalisierung. Schriftlichkeit im Rechts- und Gerichtswesen muss im Zusammenhang gesehen werden mit dem Entstehen rationaler Verwaltung und dem Wandel von einem personalistischen zu einem institutionellen Herrschaftsverständnis. Sie ist zugleich ein Kennzeichen der Entste-
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hung eines in ein reichsweites Institutionengefüge eingebundenen und institutionalisierten Justizwesens. ²⁸ Ein Beispiel der Institutionalisierung der Gerichtsbarkeit zeigt Daniel Kaune mit Blick auf die Baseler Stadtgerichtsbarkeit, wo sich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nicht nur festere Aufzeichnungsformen in den Urteilsbüchern etablierten und früh schriftliche Gerichtsordnungen erlassen wurden, sondern in der Behauptung der eigenen Autonomie gegen die Konkurrenz auswärtiger Gerichte auch eine Verfestigung der eigenen Gerichtsherrschaft erfolgte. Darüber hinaus institutionalisierten sich auch die gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren, wie Thomas Schreiber am Beispiel des stark formalisierten und auf Wiederholbarkeit und Regelmäßigkeit basierenden Supplikenwesens nachweist, das er „als integrale[n] Bestandteil kaiserlicher Herrschaftspraxis“²⁹ begreift. Deutliche Elemente der Institutionalisierung von gerichtlichen Verfahren treten auch in der durch Claudia Curcuruto dargestellten Geschäftsordnung des Dikasteriums der Konzilskongregation hervor, dessen Verfahrensweise zuvor lediglich von Kardinalpräfekten und Sekretären bestimmt und entwickelt worden war, um den jeweiligen Erfordernissen des Verfahrens besser gerecht zu werden, bevor 1695 eine verbindliche Normierung des Geschäftsgangs erfolgte. These III: Ein zentrales Element der Schriftlichkeit im Gerichtswesen ist die Existenz schriftlicher Akten. Diese begrenzen den Gegenstand des Verfahrens und stellen ihn zugleich für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar dar. Von einem streng schriftlichen Verfahren kann erst gesprochen werden, wenn Prozesshandlungen nur noch schriftlich vorgenommen werden können. ³⁰ Schriftlichkeit in gerichtlichen Verfahren darf aber nicht auf Gerichtsakten und die schriftliche Vornahme von Prozesshandlungen beschränkt werden; es gibt Elemente von Schriftlichkeit auch ohne Akten: Bevor sich schriftliche und systematisch geführte Akten durchsetzten, wurden gerichtliche Entscheidungen und wesentliche Verfahrenshandlungen in Protokoll- und Urteilsbüchern festgehalten. ³¹ Insofern kann von einem gemischt mündlich-schrift-
Vgl. Bongartz/Denzler/Franke/Schneider/Stodolkowitz, Einleitung (wie Anm. 22), S. 11. Thomas Schreiber, in diesem Band S. 373. Knut Wolfgang Nörr, Reihenfolgeprinzip, Terminsequenz und „Schriftlichkeit“. Bemerkungen zum römisch-kanonischen Zivilprozeß, in: Zeitschrift für Zivilprozeß 85 (1972), S. 160–170 (hier S. 168). Oestmann,Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 17), S. 144 f.; vgl. die einschlägigen Editionen von Friedrich Battenberg/Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480. Mit Vaganten und Ergänzungen, 3 Bde. Köln/ Weimar/Wien 2004 (QFHG, Bd. 44), und Steffen Wunderlich, Das Protokollbuch von Mathias Alber.
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lichen Verfahren gesprochen werden. ³² Beim Reichskammergericht war das Verfahren auch da schriftlich, wo, wie im Extrajudizialverfahren, keine Akten geführt wurden, ³³ Parteien mit dem Gericht aber gleichwohl ausschließlich schriftlich kommunizierten. Eine derart enge Fokussierung auf schriftliche Kommunikationswege sieht sich freilich dem bereits angesprochenen methodischen Einwand ausgesetzt, dass sie – tautologisch – genau auf jenes Quellenmaterial schriftlicher Kommunikation rekurriert, mit dem sie die strenge Schriftlichkeit des Verfahrens und der Kommunikationswege beweisen möchte. Die gut belegten³⁴ Bereiche informeller Kommunikation etwa zwischen Parteien und Gericht, den Schöffen oder Assessoren untereinander und vor allem auch zwischen ihnen und dem jeweiligen Gerichtsherrn, die als schriftliche Aufzeichnung eventuell sogar bewusst verweigert wurden, um nicht als Gegenstand für weitere Verhandlungen und Kommunikation verwendet zu werden,³⁵ bleiben so unterbelichtet. Auf die Bedeutung solcher Kommunikationswege weist zutreffend der Beitrag von Tobias Schenk hin.³⁶ Gleichwohl bleibt die insbesondere in der Aktenführung zum Ausdruck kommende Schriftlichkeit ein wesentliches Element der frühneuzeitlichen (und auch der modernen) Rechtspraxis, das bestimmte Kommunikationspraktiken zutage Zur Praxis des Reichskammergerichts im frühen 16. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 58), sowie Daniel Luger, Eine bislang unbeachtete Quelle zur Reichsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert. Prolegomena zur Edition des königlichen Gerichtsbuchs (1442–1451), in: Alexander Denzler/ Ellen Franke/Britta Schneider (Hrsg.), Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2015 (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 17), S. 31–39. Nörr, Reihenfolgeprinzip, Terminsequenz und „Schriftlichkeit“ (wie Anm. 30), S. 168. Siehe oben Anm. 20. Die Sollicitatur am Reichskammergericht etwa, also die Möglichkeit der Parteien, außerhalb des förmlichen Verfahrens den Kammerrichter oder andere Gerichtspersonen um Beschleunigung und Erledigung eines Prozesses zu bitten, eröffnete einen solchen ursprünglich inoffiziellen, dann nur rudimentär reglementierten und für korruptes Handeln anfälligen Bereich des Austausches zwischen Prozessparteien und Gericht; Bengt Christian Fuchs, Die Sollicitatur am Reichskammergericht. Köln/Weimar/Wien 2002 (QFHG, Bd. 40); Denzler, Über den Schriftalltag (wie Anm. 7), S. 446– 451. Das Verhältnis von formalem Verfahren und informellem Handeln am Reichshofrat behandelt mit den Reichshofratsagenten Thomas Dorfner, Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Rolle im Verfahren (1658–1740). Münster 2015 (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven, Bd. 2). Siehe zum Reichshofrat in diesem Band auch den Beitrag von Eva Ortlieb sowie die folgenden Ausführungen zu These XII. Vgl. Schlögl, Medien der Macht (wie Anm. 16), S. 11. Siehe auch mit Blick auf die Sollicitatur am Reichshofrat Tobias Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y: Epochenübergreifende Überlegungen zu gerichtlichen Urteils- und Vergleichsquoten aus institutionengeschichtlicher Perspektive, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 137 (2020), S. 91–233 (hier S. 170 f.).
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fördert und determiniert. Eingehend mit der genetischen Aktenkunde befasst sich Tobias Schenk in seinem Beitrag und richtet damit den Fokus auf die Organisation des behördlichen Geschäftsgangs. Er zeigt dabei, dass in einem politischen System ohne Gewaltenteilung in der scheinbar rein formalen Aktenbehandlung, wie sie etwa durch den Vermerk des Eingangsdatums, das sogenannte Präsentatum, vollzogen wurde, ebenso grundlegende Richtungsentscheidungen für das Verfahren getroffen wurden wie durch den Ort der Bearbeitung in der (dem kollegialen und gerichtsherrlichen Zugriff entzogenen) Privatwohnung des jeweiligen Referenten. Mit dem damit verbundenen, schon den Zeitgenossen ersichtlichen, erhöhten Risiko eines Aktenverlusts und dessen Folgen setzt sich Stefan Andreas Stodolkowitz auseinander. Mit der Expertise des modernen Rechtsanwenders untersucht er die Auswirkungen der frühneuzeitlichen Aktenführung auf das gerichtliche Verfahren anhand eines Vergleichs der Aktenführung am Reichskammergericht und am Oberappellationsgericht Celle. Dabei belegt er, dass die Gerichte zwar auf den Inhalt der Akten nur beschränkten Einfluss hatten, „die Aktenführung, also die Frage, wann und wie Akten angelegt, welche Schriftsätze zu den Akten genommen wurden, welche Ordnung der Aktenführung zugrunde lag, schließlich wie und wie lange die Akten aufbewahrt wurden“³⁷, jedoch das Verfahren erheblich beeinflussen konnte. Er erhellt dabei zugleich das reichskammergerichtliche Extrajudizialverfahren und die mit dem Umstand zusammenhängenden Probleme, dass in diesem Verfahrensstadium noch keine schriftlichen Akten geführt wurden. Wie Eberhard Isenmann verdeutlicht, waren und sind Gerichtsakten jedoch nicht nur Orte formaljuristischer Sacherörterungen. Vielmehr ließen und lassen sie die Konflikte, Rechtsstreitigkeiten und Lebenssachverhalte im Kontext ihrer umgebenden sozialen und politischen Lebenswelt erscheinen. Es überrascht daher kaum, dass die außerordentliche Vielzahl der gerichtlichen und außergerichtlichen Schriftstücke und ihr Umfang die Akten einer Auseinandersetzung auf mehrere hundert oder gar tausend Seiten anwachsen lassen konnten. Die zunehmende Schriftlichkeit wirkte sich nicht nur auf die Aktenführung aus, sondern auch auf die Registraturen und Archive, die die zunehmende Anzahl an Schriftstücken zu verzeichnen und aufzunehmen hatten. Der Beitrag von Antje Schloms bietet insofern Einblicke in die Überlieferung frühneuzeitlicher Quellen der Rechtsprechung in der Reichsstadt Mühlhausen. Mit den Worten Claudia Curcurutos sind es die Registraturen und Archive, die auch „die schriftgesteuerte Administration sowie die konstante Funktions- und Arbeitsweise der Konzilskongregation widerspiegel[n]“³⁸.
Stefan A. Stodolkowitz, in diesem Band S. 267. Claudia Curcuruto, in diesem Band S. 227.
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Diese Masse an frühneuzeitlicher Schriftlichkeit zweckmäßig zu verwalten und nutzbar zu machen, ist nicht nur das Anliegen zeitgenössischer Archivare und Registratoren gewesen. Einen Einblick in die Tätigkeit gegenwärtiger Archivare und Techniken der Aufbewahrung in diesem Zusammenhang gewährt Manfred Hörner aus seinen Erfahrungen aus zweieinhalb Jahrzehnten Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten im Rahmen des Inventarisierungsprojekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dabei geht er auch auf die im 19. Jahrhundert vorgenommene Aufteilung der Prozessakten des zuletzt in Wetzlar gehaltenen Gerichts und die damit verbundenen Probleme für die Nutzung der überlieferten Bestände ein. Darüber hinaus weist er auf mögliche Überlieferungslücken hin und deutet Desiderate zur Untersuchung von Strafverfahren aus den Beständen an. Mit der Erfahrung des langjährigen Bearbeiters führt er zudem die Zusammenhänge zwischen Prozessordnung und Aktenführung an, wie sie sich gerade durch die Änderungen des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 ergaben. Mit der gegenwärtigen und künftigen Bewältigung des frühneuzeitlichen Schriftguts befasst sich Bernd Schildt als ausgewiesener Kenner und früher Förderer der Digitalisierung von Hilfsmitteln in seinem Beitrag. Er versteht es, die Möglichkeiten und Fallstricke im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Archivgut näher auszuloten, worunter er die Online-Verfügbarkeit von Findmitteln für bereits erschlossene oder in der Erschließung befindliche Bestände einerseits und die Bereitstellung von Digitalisaten von Archivalien andererseits versteht. Im Rahmen seiner Untersuchung fördert er bestehende Schwierigkeiten bei der Nutzung von digitalisiertem Archivgut zutage und gelangt zu dem Befund, dass ein Großteil der Findmittel auf absehbare Zeit auch digital zur Verfügung stehen wird, während die Digitalisierung von Archivgut erst vergleichsweise wenig vorangeschritten ist. Ferner stellt er eine Datenbank „Bibliographie-Höchstgerichtsbarkeit“ vor, die Quellen, Monographien und sonstige Druckwerke und Handschriften zur Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich enthält. These IV: Schriftlichkeit ermöglicht eine neue Form der Öffentlichkeit, weil das schriftlich niedergelegte Gedankengut in Schriftsätzen, Akten, Urteilen und anderem Schriftgut einem breiten Adressatenkreis, der nicht räumlich an den Gerichtsort gebunden ist, zugänglich gemacht werden kann. ³⁹ Doch beschränkt Schriftlichkeit die Öffentlich-
Johann Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts. Erkenntnisverfahren. Tübingen 2014, S. 123, weist zutreffend darauf hin, dass eine räumliche Entfernungen übergreifende Öffentlichkeit bis zur Erschließung des Raumes durch ein ausgebautes Straßennetz und insbesondere durch die Eisenbahn im 19. Jahrhundert nur im Wege der Schriftlichkeit erreicht werden konnte, und sieht daher
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keit auch: Ein mündliches Verfahren fand zumeist öffentlich statt; ein schriftliches ist den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, es kann geheim gehalten werden. Diese Geheimhaltung war der Frühen Neuzeit und der Zeit der Herrschaftsverdichtung angemessen; am Übergang zum 19. Jahrhundert wirkte sie zunehmend anachronistisch und musste einem moderneren Verfahren mit Elementen verstärkter Mündlichkeit und Öffentlichkeit weichen. Die große Bedeutung einer gerichtlichen Öffentlichkeit ist indes keineswegs ein Phänomen der Moderne. Vielmehr weisen gerichtliche Verfahren in der deutschen Rechtsgeschichte fast immer zumindest auch öffentliche Elemente auf wie etwa die öffentliche Verkündung von Urteilen seitens des Gerichts oder die Einbeziehung der Öffentlichkeit durch Druckschriften seitens der Parteien. Und selbst dort, wo wie im frühneuzeitlichen Inquisitionsprozess maßgeblich schriftlich geführte Geheimverfahren den Prozessausgang bestimmten, bedurfte es zwingender Publizitätsakte, um die Legitimität der gefundenen Urteile zu begründen.⁴⁰ Die Öffentlichkeit des Verfahrens oder seiner Bestandteile diente jedoch nicht nur der Legitimation, sondern schuf ebenso Transparenz. Mit der in diesem Zusammenhang erkennbaren Dichotomie von Öffentlichkeit und Heimlichkeit beschäftigt sich auch Heike Hawicks mit Blick auf die Verlesung des geltenden Duisburger Statutarrechts im 16. Jahrhundert. Das hieraus hervortretende Bedürfnis nach Mündlichkeit im Recht sieht sie als ein öffentliches Moment gegenüber einer undurchsichtigen, vom Rat kontrollierten Schriftlichkeit, das allerdings im 17. Jahrhundert verschwand. Besonderes Augenmerk auf die Entstehung von Öffentlichkeit durch Schriftlichkeit legt Carolin Katzer, die die Schriftlichkeit als wesentliches Medium der konfessionellen Konfliktaustragung und als ein probates Mittel im gerichtlichen Verfahren im Zusammenhang mit Wormser Konfessionskonflikten im Laufe des 18. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Neben den Schriftsätzen der Parteien geht sie maßgeblich auch auf die juristischen Druckschriften ein, die einerseits in besonderer Weise für die Herstellung einer breiteren Öffentlichkeit geeignet waren, andererseits aber auch auf die Argumentationsmuster in kontradiktorischen Gerichtsverfahren einwirkten, ohne dass sich die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort geändert haben mussten. Druckschriften erweiterten überdies die Öffentlichkeit, die das schriftliche Verfahren als solches nicht vorsah, und stellten stärker als bei handschriftlichen Dokumenten ins Ungewisse, wer die Rezipienten der Informationen waren. Damit fand eine Dekontextualisierung der Ereignisse und Informa-
die „Vermündlichung“ des Zivilprozesses im 19. Jahrhundert als Spiegel der allmählichen Technisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Bongartz, Gericht und Verfahren (wie Anm. 19), S. 193 f., 299; Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 17), S. 214–216.
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tionen statt,⁴¹ denn mit ihnen konnten weitere Akteure jenseits des eigentlichen gerichtlichen Verfahrens auch in größerer räumlicher Entfernung erreicht und in die Auseinandersetzung einbezogen werden. These V: Schriftlichkeit ermöglicht Kommunikation über räumliche Distanzen hinweg und ist damit eine Möglichkeit, Entfernungen zwischen verschiedenen Akteuren der Gerichtsbarkeit zu überwinden: Parteien, Zeugen, Advokaten, Prokuratoren und Gerichtspersonen brauchten nicht mehr am selben Ort anwesend zu sein. Nur ein schriftliches Gerichtswesen konnte eine starke zentrale Höchstgerichtsbarkeit hervorbringen, die auch für vom Gerichtsort weit entfernt ansässige Personen erreichbar war. ⁴² Zugleich eröffnet Schriftlichkeit in Recht und Gerichtswesen die Möglichkeit, dass sich Rechtsunterworfene, Anwälte und Gerichte an Verfahren und Entscheidungen anderer, auch räumlich entfernt gelegener Gerichte orientieren. Sie ermöglicht damit überregionale Rechtsvereinheitlichung. In diesem Sinne legt Eberhard Isenmann dar, wie nach Auffassung der Nürnberger Ratsjuristen die kaiserliche Herrschaft per Reskript den Willen des weit entfernten Kaisers fingierte, solange dieser einen abweichenden Willen nicht kundgab. Eine besondere Form der Distanzüberwindung konnte durch die Erstellung von Augenscheinkarten⁴³ erfolgen, die, wie Dorothea Hutterer zeigt, nicht zur Schriftlichkeit im engeren Sinne zu zählen sind, sondern eine einzigartige Verbindung der Medien Text und Bild darstellen, dabei aber auch Elemente der Mündlichkeit vor Ort konservieren konnten. Beispielhaft zeigen auch die von Thomas Schreiber untersuchten Suppliken, wie die Schriftlichkeit dazu beitragen konnte, Bitten der zumeist weit entfernten reichsmittelbaren Untertanen auch mit Erfolg vor dem Kaiser vorzubringen. Nicht weniger wichtig war die Überwindung von Distanzen mittels Schriftlichkeit bei der von Claudia Curcuruto untersuchten Konzilskongregation, der die Anwendung und Auslegung der Reformdekrete des Konzils von Trient für das Leben der weit von Rom entfernten Ortskirchen oblag. Abgesehen von einer überörtlichen Dimension der Rechtsvereinheitlichung konnte die zunehmende Verschriftlichung aber auch der Nachvollziehbarkeit, Ver-
Siehe hierzu auch Schlögl, Medien der Macht (wie Anm. 16), S. 15. Vgl. Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts (wie Anm. 39), S. 123. Begriffsprägend insofern Anette Baumann, Beweiskommissionen und Augenscheinkarten. Strategien der Visualisierung von Inaugenscheinnahmen am Reichskammergericht (1495–1806), in: dies./Sabine Schmolinsky/Evelien Timpener (Hrsg.), Raum und Recht. Visualisierung von Rechtsansprüchen in der Vormoderne. Berlin/Boston 2020 (baR, Bd. 29), S. 83–108; dies., Augenscheinkarten am Reichskammergericht 1495–1806. Wetzlar 2019 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 47).
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einheitlichung oder Konsistenz der Rechtsprechung innerhalb eines Forums dienen und „einen Beitrag zur Versachlichung der Argumentation und der Transparenz des Entscheidungsprozesses leisten“⁴⁴, worauf Eva Ortlieb mit Blick auf die nur zögerlich umgesetzten Anordnungen zur Aufbewahrung der Re- und Korrelationen der Reichshofräte bei den Fallakten hinweist. These VI: Ein schriftliches Gerichtsverfahren ist Voraussetzung eines Instanzenzuges und damit insbesondere der Appellation und anderer Rechtsmittel. Denn ohne schriftliche Akten kann ein höheres Gericht Verfahren und Entscheidungen eines nachgeordneten Gerichts nicht überprüfen. Deshalb mussten nach der Entstehung der Appellation auch niedere Gerichte, die bislang mündlich verfahren waren, ein schriftliches Verfahren einführen. ⁴⁵ Vermutlich gab es mehr Mündlichkeit auf der (lokalen und regionalen) Ebene der Untergerichte, doch konnten sich auch diese der Entwicklung zum schriftlichen Verfahren nicht gänzlich entziehen. Ein derartiger Instanzenzug setzte freilich eine gemeinsame materiell-rechtliche Grundlage voraus, die durch die Rezeption des Römischen Rechts gebildet war. Diese kontinuierliche Übernahme des Rechts in die Rechtspraxis vollzog sich maßgeblich auf Grundlage der gutachterlichen Tätigkeit insbesondere auch von städtischen Juristen, wie Eberhard Isenmann in seinem Beitrag herausstellt. Dabei formten sie die verstreut in den Digesten enthaltenen Rechtsregeln zu in der Rechtspraxis verwertbaren Konzepten aus, darunter etwa die kaiserliche potestas absoluta sowie ein autonomes Gesetzgebungs- und Selbstverwaltungsrecht der Kommunen, oder verdichteten und verteidigten prozessuale Grundfragen und -sätze. These VII: Schriftlichkeit ist ein Erfordernis gelehrter Rechtsprechung auf der Grundlage eines geschriebenen Rechts. Eine systematische juristische Argumentation und eine wissenschaftliche Rechtsanwendung (Relationstechnik) konnten nur im Rahmen eines schriftlichen Verfahrens entstehen. Der schriftliche Prozess hat seine Wurzeln daher im gelehrten kanonischen Prozessrecht. ⁴⁶ Diese gelehrte schriftliche Technik der
Eva Ortlieb, in diesem Band S. 363. Peter Oestmann, Ludolf Hugo und die gemeinrechtliche Appellation, in: Ludolf Hugo, Vom Missbrauch der Appellation, hrsg. v. Peter Oestmann. Wien/Köln/Weimar 2012 (QFHG, Bd. 62), S. 1–43 (hier S. 9 f.); vgl. auch hierzu die oben Anm. 19 erwähnten Beispiele. Vgl. Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 17), S. 118 f.; differenzierend Nörr, Reihenfolgeprinzip, Terminsequenz und „Schriftlichkeit“ (wie Anm. 30), S. 169.
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Rechtsanwendung stand im Gegensatz zur weitgehend mündlichen Rechtsfindung hergebrachter ungelehrter Gerichte. ⁴⁷ Auf die Bedeutung der Schriftlichkeit für die gedankliche Ordnung und begründete Bewertung in komplexen Verfahren als Grundlage der gelehrten Rechtsanwendung weist Eva Ortlieb mit Blick auf die Relationen der Reichshofräte hin. Die ordnende Durchdringung des Prozessstoffes war demnach eine wesentliche, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Argumenten. Die größere Präzision des geschriebenen Arguments brachte überdies auch die juristische Methodik weit im Vorfeld der gerichtlichen Entscheidungsfindung voran. In diesem Zusammenhang belegt etwa Eberhard Isenmann das Interesse städtischer Ratsherren an schriftlichen Konsilien, die nicht nur das Ergebnis einer Begutachtung, sondern auch die wesentlichen Gründe enthalten sollten. Die städtischen Juristen bereicherten die Rechtspraxis durch unterschiedliche methodische Zugänge und juristische Positionen und erweiterten so das Spektrum juristischer Argumentationsmöglichkeiten. Wurden diese Gutachten nachträglich aus der lateinischen in die deutsche Sprache übersetzt, so bildete sich hierdurch auch eine Sammlung deutscher Rechtsbegriffe, die noch im Bürgerlichen Gesetzbuch fortwirken. Zugleich demonstrieren die Rechtsgutachten „die intellektuelle und diskursive, logisch-methodische Gedankenarbeit und Arbeitsweise der spätmittelalterlichen Juristen“⁴⁸ in einer Zeit, in der Entscheidungsbegründungen den Beteiligten und dem außergerichtlichen Betrachter verborgen blieben. Dass die Methodik spätmittelalterlicher Juristen jener der heutigen Rechtsanwender nicht nur in nichts nachsteht, sondern ihr im Wesentlichen vorausgeht, belegt Isenmann aufschlussreich an den von ihm untersuchten Gutachten. Darüber hinaus verfestigte sich neben Auslegungsregeln und Interpretationsmethoden auch der durch den italienischen Brauch vorgegebene Aufbau der Gutachten. These VIII: Komplexe Sachverhalte sind nur im Rahmen eines überwiegend schriftlichen Verfahrens sachgerecht zu durchdringen. ⁴⁹ Gesellschaften, in denen Rechts- und Wirtschaftsbeziehungen und damit die Gegenstände von Rechtsstreitigkeiten zunehmend komplexer wurden, waren deshalb auf die Verschriftlichung gerichtlicher Verfahren angewiesen.
Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 17), S. 71. Eberhard Isenmann, in diesem Band S. 57. Vgl. Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts (wie Anm. 39), S. 121.
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Es verwundert daher nicht, dass vor allem bedeutende Handelsstädte, wie Eberhard Isenmann am Beispiel Nürnbergs darlegt, über eigene Juristen verfügten, die nicht nur den Rat der Stadt und das dortige Appellationsgericht berieten, sondern auch Gutachten für zahlreiche andere Städte anfertigten. Umgekehrt konnte die Komplexität der tatsächlichen Gegebenheiten durch die ordnende und somit interpretierende Schrift genutzt werden, um die dargestellten Sachverhalte zu nuancieren und so mögliche Entscheidungen Dritter zu beeinflussen. Dies zeigt etwa der Beitrag von Carolin Katzer zu den Wormser Konfessionsstreitigkeiten. In ihnen unterschied sich die fein abgewogene Argumentation der reformierten Gemeinde in den an den Magistrat einerseits und das Reichskammergericht andererseits gerichteten Schreiben erheblich. Während vor Ort innergemeindliche Auseinandersetzungen im Fokus standen, wurden über die Schriftlichkeit vor dem kaiserlichen Gericht die konfessionelle Spaltung und das Recht der öffentlichen Religionsausübung besonders betont. These IX: Im Gerichtsverfahren der Frühen Neuzeit wurden mündliche und schriftliche Elemente vielfach getrennt: Soweit bestimmte Verfahrensschritte mündlich durchgeführt werden mussten, wie Zeugenvernehmungen, Eidesleistungen und Vergleichsverhandlungen, wurden diese auf Kommissionen übertragen; die Ergebnisse dieser Verfahrensabschnitte wurden sodann durch Protokolle in das schriftliche Verfahren integriert. Das mag praktischen Erfordernissen wie insbesondere der Überbrückung räumlicher Entfernungen geschuldet gewesen sein, hatte aber noch einen anderen Hintergrund: [vgl. These X]. Auf diese Schnittstelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit geht Heike Hawicks ein. Anhand spätmittelalterlicher Xantener Rechtskonsultationen an den Oberhof Neuss prüft sie die Verwendung von Schriftsprache gegenüber Elementen gesprochener Sprache und zeigt auf, dass in (vermeintlich) wörtlicher Rede wiedergegebene Zeugenvernehmungen den Schluss auf ihre mündlichen Wurzeln nahelegen. Ferner weist sie nach, dass es sich auch bei der Verwendung regelmäßiger Textmuster in den Schriftstücken um Textbausteine handelt, die einer ursprünglich oralen Kultur entstammen. Mit dem Beginn der Frühen Neuzeit gingen diese Elemente in der Überlieferung jedoch stetig zurück, bis sie im 17. Jahrhundert gänzlich verschwanden, was die Autorin maßgeblich auf die stärkere Formalisierung des Prozesses durch Gerichts- und Prozessordnungen des 16. Jahrhunderts zurückführt. Als Gegenbewegung führt sie im Bereich des städtischen Statutarrechts die zunehmende Verlesung geltender Normen an, die ein Bedürfnis nach Mündlichkeit im Recht zum Ausdruck brachte. Die häufige Verlesung von Normen etwa auf öffentlichen Gerichtstagen oder durch den Geistlichen von der Kanzel herab war zudem erforderlich, um sie der
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nicht schriftkundigen breiten Masse der Bevölkerung bekannt zu machen;⁵⁰ denn die Geltung von Recht setzte nach frühneuzeitlichem Verständnis voraus, dass es den Rechtsunterworfenen tatsächlich zur Kenntnis gebracht worden war.⁵¹ Zur Verbreitung von Schriftinhalten war angesichts großer nicht schriftkundiger Bevölkerungsteile ihre Transformation in die Mündlichkeit oftmals unentbehrlich. Auf die in den Gerichtsprotokollen manifest gewordene Schnittstelle zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit und die in diesem Zusammenhang vermittelnde Rolle des Gerichtsschreibers geht Maria Weber ein. Durch seine Hand wurden die oft vom Zufall der Chronologie gekennzeichneten tatsächlichen Vorgänge anhand eines erkennbaren Protokollformulars „verzeichnet, […] verknappt und funktionalisierbar“ gemacht⁵² und „ein Verweissystem geschaffen, das in einem bestimmten Rahmen Übersicht und Kontrolle über die stetig weiterwachsende Masse an Verwaltungsschriftlichkeit über das Jahr hin ermöglichte und die in den Büchern verankerten Informationen verfüg-, verwend-, aktualisier‐ und nutzbar hielt.“⁵³ Die Schreiber selektierten daher im Rahmen des institutionellen Kontexts die relevanten Lautfolgen, Erzählschilderungen und Handlungen der Akteure, generierten so deren gerichtspragmatischen Sinn und verliehen ihm Dauerhaftigkeit. Demgegenüber geht Manfred Hörner auf die mündlichen Elemente innerhalb und im Umfeld des Kameralprozesses ein, die – jedenfalls soweit es sich um die mündlichen Ausführungen der Prokuratoren handelte, die häufig Frist-, Kautions-, Rekognitions- und Kommissionsangelegenheiten betrafen – im Wesentlichen Niederschlag in dem jeweiligen Spezialprotokoll fanden. Das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit am Reichshofrat untersucht Eva Ortlieb. Zwar verortet sie das Höchstgericht am kaiserlichen Hof als „Musterbeispiel“⁵⁴ für die in der Frühen Neuzeit typische Schriftlichkeit. Allerdings kam es auch dort „zu informellen, durch Mündlichkeit geprägten Kontakten zwischen Parteien oder ihren Vertretern auf der einen und Mitgliedern des Reichshofrats auf der anderen Seite“⁵⁵. Darüber hinaus verbanden sich Elemente der Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der „verschriftlichten Mündlichkeit“⁵⁶ der Relationen der Reichshofräte, die diesen als schriftliche Sachverhaltsschilderungen
Zur Wiederholung von Policeyordnungen etwa Achim Landwehr, Die Rhetorik der „guten Policey“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 251–287 (hier S. 263). Thomas Simon, Geltung. Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts, in: Rechtsgeschichte 7 (2005), S. 100–137 (hier S. 124). Maria Weber, in diesem Band S. 143. Maria Weber, in diesem Band S. 144. Eva Ortlieb, in diesem Band S. 345. Eva Ortlieb, in diesem Band S. 345. Eva Ortlieb, in diesem Band S. 363.
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und Entscheidungsvorschläge und damit als Grundlage für das Referat im Rahmen der Entscheidungsfindung dienten, wobei es nicht selten auch zur Verlesung von Akten oder Aktenextrakten kam. Die Autorin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Akt des Verlesens geeignet war, das durch die Übertragung auf den jeweiligen Referenten und die fehlende Aktenkenntnis der übrigen Beisitzer begründete subjektive Element der Entscheidungsfindung immerhin zum Teil auszugleichen. Die im Verlesen begründete Mündlichkeit kann insofern also auch als Korrektiv zur schriftlichen Verfahrensführung verstanden werden. These X: Ein schriftliches Verfahren galt als besonders objektiv. Die Richter sollten ihre Entscheidungen unbeeinflusst von sachfremden Erwägungen, von persönlichen Beziehungen, vom persönlichen Eindruck der Parteien und von der Rhetorik der Anwälte treffen. Sie sollten deshalb Parteien und Anwälte nicht persönlich erleben, um im ganz wörtlichen Sinne „ohne Ansehen der Person“ entscheiden zu können. Schriftlichkeit war ein Filter, durch den persönliche Faktoren aus dem Verfahren herausgehalten werden konnten, und damit ein Garant der Unparteilichkeit. ⁵⁷ Durch ein schriftliches Verfahren konnte zudem erreicht werden, dass die Parteien die eine Entscheidung treffenden Personen – Richter und Urteiler, aber auch etwa die Angehörigen einer Juristenfakultät bei Aktenversendung – nicht kannten; dadurch konnte und sollte Bestechungsversuchen entgegengewirkt werden. Im Zusammenhang mit dieser (vielleicht auch nur vermeintlichen) Objektivität ist auch die gesteigerte Autorität zu sehen, die Rechtsgutachten durch zusätzliche Stellungnahmen oder Mitunterzeichnung durch andere Rechtsgelehrte erhielten, wie Eberhard Isenmann verdeutlicht. Umso mehr galt dies, wenn sich eine Partei im Vorfeld eines Verfahrens eine Vielzahl von Gutachten durch renommierte Juristen und Juristenfakultäten erstatten ließ. Auch die von Kritikern und Beobachtern des von Eva Ortlieb dargestellten Entscheidungsfindungsprozesses am Reichshofrat geforderte Verwahrung schriftlicher Relationen bei den Fallakten deutet auf die wichtige „Funktion von Schriftlichkeit bei der Herstellung von Transparenz, vielleicht sogar im Sinne von Rationalisierung und Unparteilichkeit“⁵⁸ hin. Gleichwohl verweist Eberhard Isenmann auch auf die nicht nur bei zeitgenössischen Juristen anzutreffenden Grenzen einer allein an der Sache orientier Vgl. Wolfgang Sellert, Mündlichkeitsprinzip und Beredsamkeit vor Gericht, in: Carl Joachim Classen/Heinz-Joachim Müllenbrock (Hrsg.), Die Macht des Wortes. Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung. Marburg 1992 (Ars Rhetorica, Bd. 4), S. 181–203 (hier S. 184), mit Bezug zur Kritik an der erstarkenden Mündlichkeit im gerichtlichen Verfahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Eva Ortlieb, in diesem Band S. 364.
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ten Begutachtung. Denn die finanziellen Interessen oder „wissenschaftliches Imponiergehabe“⁵⁹ der Gutachter sowie prozesstaktische Überlegungen und bloße Rhetorik zur Überzeugung der Richter konnten die objektivitätsstiftenden Faktoren wie „Sinnfälligkeit, Glaubwürdigkeit, berufliche Reputation und obrigkeitliche Kontrolle“⁶⁰ überwiegen. Ebenso weist Carolin Katzer darauf hin, dass die der Mündlichkeit entstammenden Mittel der Rhetorik zweifelsohne auch in die Schriftsätze der Parteien Eingang fanden, um das Gewicht einer behaupteten Rechtsverletzung durch Zuspitzung und Emotionalisierung zu verstärken und so den begehrten Ausgang des Verfahrens zu begünstigen. Doch auch jenseits des geschriebenen Wortes wussten die Zeitgenossen um die Bedeutung der Objektivität für jedes gerichtliche Verfahren und versuchten, dieser Bedeutung durch die Ausgestaltung des Verfahrens gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang ist etwa der von Dorothea Hutterer erwähnte und wenig beachtete Malereid aus dem Konzept einer neuen Reichskammergerichtsordnung von 1613⁶¹ zu sehen, der den Maler bei der Erstellung von Karten als Beweismitteln auf Unparteilichkeit und Objektivität verpflichtete, wobei die Objektivität der Darstellung freilich durch Stil und Fähigkeiten des Malers begrenzt wurde. Systematisch und ausführlich setzt sich Ulrich Falk mit der von ihm als Objektivitätsthese bezeichneten These X auseinander und kommt auf Basis seiner einschlägigen und wegweisenden Studien⁶² über die Aktenversendung zu einem abweichenden Ergebnis. Nachdem er auf die Beharrungskraft des der These zugrundeliegenden Deutungsmusters eingeht, dessen Wurzeln er im rechtshistorischen Schrifttum des 19. und 20. Jahrhunderts verortet, formuliert er deutliche und wohlbegründete Zweifel an der oft behaupteten Objektivität des schriftlichen Verfahrens insbesondere mit Blick auf die Aktenversendung. Allzu oft standen hierbei die Interessen der Juristenfakultäten vor jenen der objektiven Rechtsanwendung, wobei häufig Bequemlichkeit oder Zweckrationalität entscheidend waren. Dies konnte schon die Auswahl der herangezogenen Rechtsquellen betreffen, bei der das römisch-kanonische Recht oftmals bereits deshalb bevorzugt wurde, weil es den Professoren aus der Lehre bekannt war. Wurden gleichwohl die Partikularrechte herangezogen, „wurden sie in der rechtspolitischen Tendenz und in ihrem Norm-
Eberhard Isenmann, in diesem Band S. 81. Eberhard Isenmann, in diesem Band S. 81. T. I § 97, Georg Melchior von Ludolf, Corpus Juris Cameralis. Frankfurt a. M. 1724, S. 665. Wegweisend insoweit Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 22), und zusammenfassend ders., Die Gutachtenpraxis deutscher Juristenfakultäten in der frühen Neuzeit. Zur Deutung eines Phänomens, in: Heiner Lück/Rolf Lieberwirth (Hrsg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertags 2006. Baden-Baden 2008, S. 657–673.
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inhalt im Zweifel dem römisch-kanonischen Recht angenähert, sei es bewusst oder – was häufig der Fall gewesen sein wird – unbewusst.“⁶³ Vor allem aber drängte die auch im finanziellen Interesse der Professoren liegende starke Nachfrage zu einer – zurückhaltend ausgedrückt – stark beschleunigten und daher nicht immer gründlichen Bearbeitung der Akten, die schon zeitgenössisch als fabrikmäßig bezeichnet wurde. Dadurch bedingt wurden die Akten häufig nur von dem jeweiligen Referenten gelesen, der diese Aufgabe zuweilen auch seinen Mitarbeitern aufgetragen haben dürfte. Das in der Theorie die größere Objektivität verbürgende Kollegialgremium war daher bei seiner Entscheidung maßgeblich vom Bericht des Referenten und dessen Aufarbeitung des Streitstoffes abhängig. Überfordernd wirkten zudem nicht nur die erheblichen Fallzahlen, sondern auch der Umfang der eingereichten Schriftsätze, der dadurch entstand, dass Anwälte häufig nach der Zahl der beschriebenen Bögen vergütet wurden. Der Objektivität kaum verpflichtet waren die nicht von Gerichten, sondern von streitenden Parteien in Auftrag gegebenen Gutachten, die nicht nur dazu dienten, den Prozess in eine für die Partei günstige Richtung zu lenken, sondern auch im Fall des Unterliegens zumindest eine günstige Kostenentscheidung herbeizuführen. Ebenso wie juristische Parteigutachten in der Gegenwart dienten auch jene der frühneuzeitlichen Juristen nicht maßgeblich dem Ziel, die objektive Rechtslage darzustellen, sondern vor allem dem Zweck, das Interesse der Partei mit juristisch stichhaltigen Argumenten zu untermauern. Besonders entschieden widerspricht Ulrich Falk der Objektivitätsthese mit Blick auf die Aktenversendung in Strafverfahren. Hier konnte schon der Hinweis des Versenders, im Falle eines ungewünschten Ergebnisses der Fakultät künftig keine Aufträge mehr zu erteilen, die begehrte Entscheidung wahrscheinlicher werden lassen, was in die inoffiziellen Methodenregeln in dubio pro quaerente und in dubio pro amico mündete. Das schriftliche Verfahren war also in der Praxis nicht selten alles andere als objektiv. Dies schließt aber nicht aus, dass es für die Zeitgenossen jedenfalls als objektiver gegolten haben mag als ein mündliches Verfahren. Wie wichtig es war, eine außerhalb des geregelten Verfahrens liegende Einflussnahme der Parteien auf die für die Entscheidungsfindung verantwortlichen Personen zu verhindern, war den Zeitgenossen bewusst. Das folgt aus den Regelungen zum Referenten- und Beratungsgeheimnis sowie zur Geheimhaltung im Rahmen der Aktenversendung. So ordneten die Gerichtsordnungen der Frühen Neuzeit regelmäßig an, dass die Parteien und ihre Anwälte nicht erfahren durften, welcher Beisitzer ihren Rechtsstreit
Ulrich Falk, in diesem Band S. 101.
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als Referent bearbeitete.⁶⁴ Über den Gegenstand der Beratung erlegte die Reichskammergerichtsordnung dem Kammerrichter und den Beisitzern ausdrücklich Stillschweigen auf.⁶⁵ Im Rahmen der Aktenversendung durften die Parteien und ihre Anwälte nicht erfahren, an welche Universität ihre Akten verschickt worden waren.⁶⁶ Dass diese Geheimhaltungsgebote tatsächlich streng befolgt worden wären, war in der gerichtlichen Praxis sicher eher die Ausnahme als die Regel.⁶⁷ Auch wenn somit die Praxis dem normativen Anspruch nicht gerecht wurde – angestrebt war Objektivität im Sinne des Ausschlusses verfahrensfremder Einflussnahme nicht nur in Ausnahmefällen, sondern als allgemeingültige Regel. These XI: Der Gegensatz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit im gerichtlichen Verfahren ist im Zusammenhang zu sehen mit der Dauer von Verfahren: Ein schriftliches Ver-
Zum Reichskammergericht T. I Tit. 10 § 9 der Reichskammergerichtsordnung von 1555 = Adolf Laufs (Hrsg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Köln/Wien 1976 (QFHG, Bd. 3), S. 85; Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555. Köln/ Wien 1981 (QFHG, Bd. 10), S. 183; Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil I: Darstellung. Köln/Weimar/ Wien 2011 (QFHG, Bd. 26/I), S. 153; zum Reichshofrat Tit. IV § 13 der Reichshofratsordnung von 1654 = Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766, Bd. 2. Köln/Wien 1990 (QFHG, Bd. 8/II), S. 170 f.; Peter Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide, Teil 2: Reichshofrat 1613–1798. Köln/ Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 63,2), S. 35, sowie die dort in Bezug genommenen Gemeinen Bescheide; Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 36), S. 177 f.; siehe auch die Beiträge von Eva Ortlieb und Tobias Schenk in diesem Band. T. I Tit. 13 § 16 der Reichskammergerichtsordnung von 1555 = Laufs (Hrsg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 64), S. 97; Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter, Teil I (wie Anm. 64), S. 153; ebenso zum Oberappellationsgericht Celle der Eid der Oberappellationsräte in T. I Tit. 9 der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 = Chur-BraunschweigLüneburgische Landes-Ordnungen und Gesetze. Zum Gebrauch der Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Bd. 2. Göttingen 1740, S. 51 f. Zur Praxis der Aktenversendung an den lauenburgischen Gerichten Stefan Andreas Stodolkowitz, Rechtsverweigerung und Territorialjustiz. Verfahren wegen iustitia denegata vel protracta am Oberappellationsgericht Celle, in: ZRG GA 131 (2014), S. 128–181 (hier S. 168). Zum Reichskammergericht Fuchs, Die Sollicitatur am Reichskammergericht (wie Anm. 34), S. 145–152; zum Reichshofrat Dorfner, Mittler zwischen Haupt und Gliedern (wie Anm. 34), S. 174– 176; ders., Empfehlungen, die man nicht ablehnen kann? Empfehlungsschreiben und Patronage am Reichshofrat (1653–1740), in: Denzler/Franke/Schneider (Hrsg.), Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen (wie Anm. 31), S. 137–153 (hier S. 138 f.); Eva Ortlieb, Gerichtsakten und Parteiakten. Zur Überlieferung der kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats, in: Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle (wie Anm. 20), S. 101–118 (hier S. 117); Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 36), S. 177 f.; siehe auch die Beiträge von Eva Ortlieb und Tobias Schenk in diesem Band.
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fahren benötigt in der Regel mehr Zeit als ein mündliches, ⁶⁸ ermöglicht aber eine vom Gerichtsort räumlich unabhängige Kommunikation und eine vertiefte Durchdringung des Streitstoffs. ⁶⁹ Ein schriftliches Verfahren ist damit langwieriger, aber auch gründlicher als ein mündliches. Der überwiegend schriftliche Kameralprozess war für eine übermäßig lange Verfahrensdauer anfällig. Dies war Gegenstand mannigfaltiger Reformdiskussionen ⁷⁰ und machte im 19. Jahrhundert ein grundlegend neu konzipiertes Prozessrecht erforderlich. ⁷¹ Dieser Zusammenhang von Verfahrensdauer und erforderlicher Förmlichkeit eines schriftlichen Verfahrens war den Zeitgenossen sehr bewusst, wie Stefan Andreas Stodolkowitz belegt. In einfach gelagerten Fällen versuchte man daher etwa am Reichskammergericht im 18. Jahrhundert nach Möglichkeit, förmliche Appellationsprozesse zu vermeiden und im Wege von Ordinationen zu entscheiden. Ausnahmen konnten sich ergeben, wie Eberhard Isenmann für die Stadt Nürnberg darstellt, die schon früh und gegen stattliche Besoldung gelehrte Juristen in ihren Dienst stellte, wenn besonders wichtige Fragen zu klären und die notwendigen Ressourcen vorhanden waren. Rechtsgutachten konnten dann auch zügig über Nacht erstellt werden. Andererseits führten die zahlreichen Begutachtungen und die ausufernden Ausführungen der häufig nach Seitenzahlen vergüteten Gutachter und Advokaten in aller Regel dazu, dass sich die Dauer eines Verfahrens erheblich verlängerte. Zweifel daran, dass die lange Verfahrensdauer üblicherweise mit einer besonders sorgfältigen Durchdringung des Streitstoffs einherging, bringt abermals Ulrich Falk an. Schon um die bloße Verfahrensmasse zu behandeln, bedienten sich die frühneuzeitlichen Juristen an den Rechtsfakultäten oft der in den Parteigutachten vorgebrachten Argumente, um ihren Entscheidungen trotz aller Zeitnot ein
Siehe im Hinblick auf summarische Prozesse protestantischer Konsistorien in Ehesachen Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge. Köln/Weimar/Wien 2012 (QFHG, Bd. 61), S. 410 f. Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts (wie Anm. 39), S. 119, formuliert diesbezüglich als Gegensatz zwischen mündlichem und schriftlichem Verfahren: „Schnelligkeit und Verständlichkeit gegen Präzision und Rationalität“. Zur Diskussion um die Beschränkung neuen Sachvortrags in der Appellationsinstanz siehe Hugo, Vom Missbrauch der Appellation (wie Anm. 45); vgl. auch Stefan Andreas Stodolkowitz, De novo iudicandi genere. Dissertationen über gerichtliche Ordinationen und Reskripte als Quellen zu neuen Wegen des Zivilprozesses im 18. Jahrhundert, in: Bongartz/Denzler/Franke/Schneider/Stodolkowitz (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt (wie Anm. 22), S. 165–182. Zu Wandel und Umgestaltung des Zivilprozesses im 19. Jahrhundert grundlegend Martin Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess. Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozessordnung. Tübingen 2003 (Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 102).
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Fundament zu geben. Problematisch war dies vor allem dann, wenn nur eine Partei über die nötigen finanziellen Mittel verfügte, um eigene Parteigutachten vorzulegen, die maßgeblich dazu dienten, den eigenen Interessen Rechnung zu tragen. These XII: Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind Gegensätze, schließen sich aber nicht aus. ⁷² Ein mündliches Verfahren kann schriftliche Elemente aufweisen, wenn etwa Urkunden berücksichtigt und Gerichtsbücher geführt werden, und ein schriftliches Verfahren ist zumindest zur Vernehmung von Zeugen, bei Eidesleistungen und bei Vergleichsbemühungen auf mündliche Elemente angewiesen. Dass deren Gewicht unterschiedlich sein konnte, zeigt schon der Vergleich zwischen dem Reichskammergericht mit seinen Audienzen ⁷³ und dem Reichshofrat. Als am Ende des Alten Reichs und im 19. Jahrhundert mit dem französischen Prozess die Mündlichkeit „neu entdeckt“ wurde, blieben wesentliche Elemente der Schriftlichkeit wie Schriftsätze von Anwälten und Aktenführung gleichwohl erhalten. Die Gewichtung mündlicher und schriftlicher Elemente ist eine Gratwanderung und wirft Fragen auf, die sich zu jeder Zeit stellen, aber in verschiedenen Epochen unterschiedlich beantwortet werden. Umfangreich weist Tobias Schenk vor allem hinsichtlich der Kollegialgerichtsbarkeit auf das „volatil[e] Wechselspiel von Formalität und Informalität“⁷⁴ und die „Medienkonstellation“ hin, „in der sich gesprochene und geschriebene Sprache wechselseitig beeinflussen“⁷⁵, und betont diese nicht nur im Verhältnis der Angehörigen des jeweiligen Spruchkörpers untereinander, sondern auch hinsichtlich der höfischen Kommunikation mit dem jeweiligen Gerichtsherrn. Die Schriftlichkeit des Verfahrens setzte sich in den Beratungen der Kollegialgerichte nicht fort. Abgesehen von allen durch Stand, Stellung oder Bildung bestehenden Hierarchien war (und ist) die Auswahl des Referenten im Rahmen der Geschäftsverteilung von erheblicher Bedeutung für die Entscheidung der Sache, über die in aller Regel nur mündlich informiert und referiert wurde. Umgekehrt fand häufig wiederum durch Ergebnis- oder Verlaufsprotokolle eine Transformation dieses mündlichen Vorgangs in die Schriftlichkeit statt, wobei zumeist die ministerielle oder gerichtsherrliche Kontrolle des Kollegiums das Ziel war. Eingehend befasst sich auch Eva Ortlieb mit den mündlichen Elementen im Rahmen der Entscheidungsfindung am
Vgl. Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts (wie Anm. 39), S. 122. Siehe Bernhard Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 56), S. 105–115; Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 17), S. 171–175. Tobias Schenk, in diesem Band S. 323. Tobias Schenk, in diesem Band S. 322.
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Reichshofrat. Gerade ein so zentraler Aspekt des Verfahrens unterfiel nicht dem Grundsatz der strengen Schriftlichkeit, sondern war von Beginn der richterlichen Tätigkeit am Reichshofrat an ganz maßgeblich von – wenngleich reglementierten – mündlichen Elementen geprägt, welche „die in der Forschung betonte überragende Bedeutung der Schriftlichkeit im Verfahren des Reichshofrats“⁷⁶ zu relativieren vermögen. In diesem Sinne warnt auch Ulrich Falk davor, den prozessrechtlichen Grundsatz quod non est in actis, non est in mundo auf die Verfahrenswirklichkeit der Vormoderne anzuwenden. Er belegt somit ein weiteres Mal das Auseinanderfallen von Norm und Rechtspraxis und weist über die Schriftlichkeit hinaus, die eben nur den heute greifbaren Teil vergangener Praktiken verkörpert. Oder mit seinen Worten: „Was nicht in den Archivalien geschrieben steht, kann trotzdem existiert und starke Wirkungen entfaltet haben. Was in Normtexten geschrieben steht, kann trotzdem wirkungslos geblieben sein.“⁷⁷ Das gilt selbstverständlich nicht nur für die Gerichtsbarkeit der weltlichen Obrigkeiten. Dementsprechend würdigt auch Claudia Curcuruto mit Blick auf das Dikasterium der Konzilskongregation die Wechselbeziehung von Elementen der Schriftlichkeit und der Mündlichkeit innerhalb des grundsätzlich schriftlichen Verfahrens. Auch hier wurden die Entscheidungen der Kardinäle in der Plenarsitzung mündlich beraten und beschlossen und „[d]ie dem schriftlichen Prozess anhaftende Schwerfälligkeit […] durch die […] mündlichen Elemente, die eine gewisse Beweglichkeit innerhalb des Systems gewährleisteten“⁷⁸, ergänzt. Den Übergang von einem mündlich geführten Gerichtsverfahren zu dessen Verschriftlichung in Urteilsbüchern untersucht anhand des Baseler Stadtgerichts Daniel Kaune. Er diskutiert dabei, in welcher Form und in welchem Umfang eine Verschriftlichung überhaupt stattfand, und kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass Elemente der Mündlichkeit nur in stark verkürzter und veränderter Form Eingang in die Urteilsbücher des Gerichts fanden. Eine weitere Schnittstelle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit stellen die von Thomas Schreiber untersuchten Suppliken dar, die eher über eine spezifische Kommunikationssituation als einen besonderen Kommunikationsinhalt definiert werden können. In diesem Zusammenhang stellt der Autor auch den bisher in der Forschung diskutierten Definitionen der Gnaden-, Rechts- und/oder Justizsuppliken zwei den Suppliken maßgeblich vorausliegende Grundsituationen gegenüber, nämlich einerseits die Bitte um kaiserliche Hilfe aufgrund einer Konflikt- oder Bedrohungssituation und andererseits die Bitte um eine kaiserliche Gunst aufgrund
Eva Ortlieb, in diesem Band S. 362 f. Ulrich Falk, in diesem Band S. 133. Claudia Curcuruto, in diesem Band S. 241.
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geleisteter Dienste. Beide Formen bilden stark formalisierte Akte der Kommunikation von Untergeordneten an Höherrangige ab und mussten diese ungleichen Machtverhältnisse in der Kommunikationsweise explizit hervorheben, um erfolgreich zu sein. In ihrem standardisierten und formularmäßigen Aufbau weisen sie in der performativ ausgestalteten Bitte mit der Dedition als einem Fußfall vor dem Kaiser auf eine Präsenzkultur hin, die im Rahmen der Schriftlichkeit zunächst atypisch anmutet, dem Medium aber durchaus inhärent sein konnte. Eine andersartige Verbindung von mündlichen und schriftlichen Bestandteilen stellen die von Dorothea Hutterer untersuchten Augenscheinkarten dar, die nicht nur Elemente der Mündlichkeit bei der Augenscheinnahme konservieren, sondern auch Messergebnisse vor Ort dokumentieren konnten. Häufig mussten sie vor ihrer Verwendung als Beweismittel von den Parteien schriftlich oder mündlich anerkannt werden und hatten ihrerseits als Bestandteil der gerichtlichen Akten Anteil an deren Schriftlichkeit. In den Karten selbst zeigt sich eine ausgeprägte und häufig standardisiert wiederkehrende Symbolik als Besonderheit der Schriftlichkeit, die wesentliche Merkmale der Gerichtsbarkeit, etwa die Reichsunmittelbarkeit oder das Vorhandensein von Richtstätten, sichtbar hervorhebt. Auf eine besondere Form der Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren weist Carolin Katzer hin, indem sie das Wechselspiel zwischen den schriftlich geführten Verfahren an den beiden Reichsgerichten und den zumeist mündlich ausgetragenen konfessionellen Konflikten vor Ort sowie dem sozialen Handeln der Akteure in den Fokus nimmt. So wurden nicht nur lokale Konflikte durch ihre rechtsförmige Behandlung auf die Reichsebene „gezogen“; es konnten auch umgekehrt etwa die Schriftsätze und die Argumentation in einem später nicht mehr betriebenen reichskammergerichtlichen Verfahren die Positionen der Kontrahenten weiter verhärten und dadurch die Spannungen vor Ort zusätzlich verschärfen. Es zeigt sich also, dass in aller Regel schriftliche und mündliche Aspekte der Gerichtsbarkeit in einer Wechselbeziehung zueinander standen. Allerdings konnte sich insbesondere die Schriftlichkeit als spezifische Kulturtechnik auch als Element der Ausschließung erweisen.Wie etwa Thomas Schreiber anhand der von ihm untersuchten Suppliken zeigt, verlangen Schriftstücke in bestimmten Verfahren auch einen hohen Grad an Formalisierung, um in diesem Verfahren angenommen zu werden und die gewünschten Wirkungen entfalten zu können. Zur Einhaltung dieser Vorgaben mussten unerfahrene Bittsteller auf professionelle Schreiber zurückgreifen, wenn sie mit ihrer Bitte Aussicht auf Erfolg haben wollten. Wie Stefan Andreas Stodolkowitz darlegt, nutzten auch die gerichtlichen Kontrahenten die Möglichkeiten, die ihnen zur Ausschließung des Verfahrensgegners gegeben waren. Als das Reichskammergericht im 18. Jahrhundert zunehmend dazu überging, anstelle eines förmlichen Judizialverfahrens Anordnungen durch sogenannte Ordi-
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nationen zu treffen, versuchten findige Antragsteller und insbesondere ihre Anwälte, die gegnerische Partei an der Erhebung von Einwendungen zu hindern, indem sie ihnen die Schriftsätze mit dem entscheidenden Sachvortrag nicht zustellten. Damit nutzten sie die Schwächen eines zwar auch in diesem Stadium schriftlichen, aber infolge mangelnder Aktenführung wenig formalisierten Verfahrens. Erhob die gegnerische Partei gleichwohl Einwendungen, erschwerte das Fehlen von Akten die weitere Prüfung durch das Gericht erheblich. Die Führung schriftlicher Akten diente somit nicht nur der Dokumentation des Verfahrens durch das Gericht, sondern war auch erforderlich, um den Parteien in einem formalisierten Verfahren Gehör zu verschaffen. Mit diesen zwölf Thesen und den eingangs vorgestellten Themenschwerpunkten ist das Untersuchungsanliegen des Sammelbands umrissen, über die dezidierte Betrachtung der verschiedenen Erscheinungs- und Nutzungsformen von Schriftlichkeit, ihres Verhältnisses zur Mündlichkeit und ihrer Auswirkungen auf gerichtliche Verfahren sowie die in ihnen erörterten Auseinandersetzungen, sowohl bei den Gerichten selbst als auch in der Sphäre der Prozessparteien, Anwälte und Gutachter, eine wichtige Grundlage der Tätigkeit von Gerichten in der Vormoderne erkennbar und für weitere Forschungen nutzbar zu machen. Denn die zeitgenössische Nutzung der Schriftlichkeit und die damit entstandenen schriftlichen Dokumente im Zuge gerichtlicher Verfahren bedürfen einer besonderen Betrachtung: Einerseits ist ein vollständiger Ausschluss von Mündlichkeit durch die angewandte Schriftlichkeit nicht vorauszusetzen, andererseits bedarf die Verwendung der durchaus interaktionsgeprägten Schriftlichkeit der konkreten historischen Kontextualisierung. Die in den Archiven bis heute sichtbare Masse schriftlicher Überlieferung vormoderner Gerichte darf, so wertvoll sie auch als Quellengrundlage für die Forschung ist, nicht dazu verleiten, im vormodernen Gerichtsverfahren und insbesondere im Gemeinen Zivilprozess nur eine auf das sprichwörtliche quod non est in actis, non est in mundo reduzierte Schriftlichkeit zu erkennen. Das gesprochene Wort ist flüchtig und deshalb in der Überlieferung, wenn überhaupt, nur transformiert in verschrifteter Form greifbar. Gleichwohl waren mündliche Elemente für die gerichtliche Praxis nicht minder prägend, sei es in gerichtlichen Audienzen, informellen Beziehungen zwischen den am Verfahren beteiligten Akteuren oder in der Entscheidungsfindung von Kollegialgerichten. Feder und Druckerpresse nutzten die Zeitgenossen im Zusammenhang gerichtlicher Verfahren eben nur teilweise, ohne zugleich auf mündliche Kommunikation als Grundlage ihres rechtspraktischen Handelns zu verzichten. Das komplexe Wechselspiel von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, das sich hier andeutet, berührt des Pudels Kern im Gerichtswesen der Vormoderne – und wenn Faust, als er des in Gestalt eines „Skolastikus“ erscheinenden Mephistopheles ansichtig wird, ausruft: „Das also war
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des Pudels Kern! Ein fahrender Skolast? Der Casus macht mich lachen“,⁷⁹ so liegt die Assoziation nicht fern, im teuflischen Skolasten eine Personifikation der Verwissenschaftlichung zu sehen, mit der die zunehmende Verwendung der Schriftlichkeit vor Gericht einherging.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Vers 1323 f.
Eberhard Isenmann
‚Ich ziehe in Betracht, stimme aber nicht zu‘. Aufgaben und Arbeitsweise spätmittelalterlicher Juristen Das Zitat im Titel ist eine sinngemäße Übersetzung der lateinischen Fassung pono, [sed] non concedo und stammt aus der gutachtlichen Erörterung von Rechtsfragen durch spätmittelalterliche Juristen.¹ Angekündigt wird damit eine Widerlegung von meist hypothetischen Argumenten, die ansonsten mit weniger Aplomb mit den Anfangsworten eingeleitet wird: videtur ut […] – es scheint, dass […]. Zugrunde liegt dem die Argumentation mit Positionen und Gegenpositionen, um schließlich zu einer gesicherten Lösung zu gelangen, die dialektisch-wissenschaftliche Denkform der Scholastik, das sic et non – ‚So und nicht so‘.
1 Grundlagen Wenn Historiker darauf bestehen, dass das Mittelalter nicht oder nicht nur dunkel gewesen sei, kommen sie in der Regel in allgemeineren Darstellungen des Mittelalters merkwürdigerweise kaum oder zumindest nicht eingehender auf eine der bedeutendsten kulturellen Leistungen des Mittelalters für Europa mit Folgewirkung in Deutschland bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 zu sprechen. Dazu nur einige wenige Bemerkungen zur Einführung: Gemeint ist die wissenschaftliche Aneignung und Transformation, die sogenannte Rezeption des römischen Rechts in Gestalt der vom oströmischen Kaiser Justinian (527–565) veranlassten und von 528 bis 534 von Juristen – unter der Maßgabe der Beseitigung von Widersprüchen – bearbeiteten und zusammengestellten Rechtssammlung, die im Mittelalter corpus iuris genannt wurde und 1583 den künftigen Namen Corpus iuris civilis erhielt. Seine Teile sind bekanntlich das Lehrbuch, die Institutiones Iustiniani, als wichtigster Teil die Digesta oder Pandekten mit Fragmenten (leges) vornehmlich aus Schriften von Rechtsgelehrten der spätklassischen Zeit, der Codex Iustinianus mit kaiserlichen Konstitutionen und Reskripten bis 534 und die seit 535 angehängten Novellae mit neuen Kaisererlassen Erheblich erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung des öffentlichen Abendvortrags in Mühlhausen vom 19. September 2019. Quellenbegriffe und Quellenzitate sind kursiv gesetzt, Begriffe und Zitate aus den Quellen, die übersetzt wurden, sind durch einfache An- und Ausführungszeichen gekennzeichnet, Zitate aus der Forschungsliteratur durch doppelte. https://doi.org/10.1515/9783111077406-003
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Justinians und einiger seiner Nachfolger. Im Mittelalter traten zu diesem Corpus noch die langobardischen Lehnrechte, die Libri Feudorum, insgesamt drei Gesetze Friedrichs I. und Friedrichs II. sowie später noch ein Gesetz Heinrichs VII. hinzu. Nach der stimulierenden Wiederentdeckung der Digesten im ausgehenden 11. Jahrhundert wurden seit dem 12. Jahrhundert die römischen Rechtstexte verstärkt an der Universität Bologna bearbeitet und gelehrt. Als Recht der Kirche entstand um 1140 das bald autoritative „Decretum Gratiani“ (Concordantia Discordantium Canonum), und im 13. und 14. Jahrhundert folgten mit dem 1234 promulgierten „Liber Extra“ Gregors IX. die Sammlungen päpstlicher Rechtsetzungen, die Dekretalen. Wie das römische Recht wurde auch das spätere, vom römischen Recht in Teilen beeinflusste und schrittweise durch Gesetzgebung weiter über den „Liber Sextus“ (1298) Bonifaz VIII. bis zu den „Clementinae“ (1317) Johannes XXII. wachsende und durch Änderungen im Fluss befindliche kanonische Recht an Universitäten gelehrt; es besaß aber gegenüber dem statischen, erst allmählich in der Rechtspraxis unter Umformungen rezipierten römischen Recht einen Geltungs- und Anwendungsvorsprung durch den päpstlichen Gesetzesbefehl und die unmittelbare konziliare Rechtsvorschrift. Diese beiden grundsätzlich unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Rechtsgebiete und Rechtsmassen, die hinsichtlich einiger Materien jedoch wechselseitig mit teilweise verschiedenen Wertsetzungen ineinandergriffen und miteinander konkurrierten,² bildeten die ‚gemeinen (geschriebenen) Rechte‘, die als zwei Komplexe eines einheitlichen ius commune betrachtet wurden. Weitgehend gleich waren die wissenschaftlichen Methoden der Stoffbeherrschung, die Technik der Glossierung und Kommentierung, die scholastischanalytische Interpretationsmethode und die wissenschaftlichen Literaturformen. Die Erschließung und Aneignung des römischen Rechts war zunächst durch die sogenannten „Glossatoren“ erfolgt,³ die im 12. Jahrhundert und bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts auf wissenschaftlicher Ebene Glossen erstellten, das heißt kurze, aber grundlegende Erklärungen mit logischen Harmonisierungen von Worten, Begriffen und kleineren Texteinheiten des römischen Rechts. Nach der um 1230 im Wesentlichen vollendeten, nunmehr zusammenfassenden monumentalen „Glossa ordinaria“ des Florentiners Accursius († 1263), die zusammen mit älteren Glossenapparaten und vor allem der Summe zu Codex und Institutionen des Azo Portius († 1220/1230) zur Grundlage und zum Ausgangspunkt von Exegese und Interpretation wurde und höchste, nahezu gesetzesgleiche Autorität erlangte, folgten im Udo Wolter, Ius canonicum in iure civili. Studien zur Rechtsquellenlehre in der neueren Privatrechtsgeschichte. Köln/Wien 1975. Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede (differentiae) beider Rechte, ihre Geltungsbereiche und den Vorrang eines der Rechte siehe Hermann Lange/Maximiliane Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 2: Die Kommentatoren. München 2007, S. 208–224. Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 1: Die Glossatoren. München 1997.
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ausgehenden 13. und vor allem im 14. Jahrhundert umfangreichere Kommentarwerke mit einer freieren Auslegung der Texte, einer Systematisierung und Herausstellung rechtlicher Prinzipien im Hinblick auf die „Bedürfnisse des praktischen Rechtslebens“,⁴ auf die Lösung typischer Rechtsprobleme. Die Verfasser, mit Cinus de Pistoia (1270–1336/37), Bartolus de Saxoferrato (1313–1357) und Baldus de Ubaldis (1327–1400) an der Spitze, werden „Postglossatoren“, besser „Kommentatoren“ oder wegen ihrer gleichzeitigen umfangreichen Gutachtertätigkeit auch „Konsiliatoren“ genannt.⁵ Das kanonische Recht wurde wissenschaftlich durch die um 1215 vollendete „Glossa ordinaria“ des Johannes Teutonicus († 1245) zum „Decretum Gratiani“, ferner durch die Dekretistik und Dekretalistik bearbeitet. Die Kommentatoren „entwickelten aus den antiken Quellen in Verbindung mit anderen, dem Recht der Kirche, dem Recht der oberitalienischen Städte, erhalten gebliebenen langobardischem Recht und historisch gewachsenen Gewohnheiten das ius commune. Dieses und weniger das Recht des Corpus iuris wurde zur Grundlage der zeitlich folgenden Rezeptionsvorgänge in den angrenzenden Staaten.“⁶ Doch erfolgte jederzeit – geschult am ius commune – der unmittelbare Zugriff auf die einzelnen Stellen des Corpus iuris. Gute drei Jahrhunderte liegen zwischen den Exzerpten und Fragmenten der spätklassischen Juristenschriften aus dem 2./3. Jahrhundert n. Chr. in den Digesten, die von Justinian mit Gesetzeskraft ausgestattet wurden, sowie über weitere fünf Jahrhunderte zwischen der justinianischen Kompilation vor der Mitte des 6. Jahrhunderts und den ersten Anfängen der mittelalterlichen universitären Rechtswissenschaft in Bologna im ausgehenden 11. Jahrhundert. In diesen Zeiträumen vollzogen sich jeweils soziale, wirtschaftliche und rechtliche Veränderungen der Lebensverhältnisse von erheblichen Ausmaßen, sodass Missverständnisse und Umdeutungen bei den Späteren nicht ausbleiben konnten.⁷ Das Problem wurde mit historischem und philologisch-begrifflichem Quellenbewusstsein erst von der humanistischen Jurisprudenz insbesondere eines Andreas Alciatus (1492–1550) ange-
Paul Koschaker, Europa und das römische Recht. 4. Aufl. München/Berlin 1966, S. 91. Lange/Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter II (wie Anm. 2). Hermann Lange, Die Consilien des Baldus de Ubaldis († 1400). Wiesbaden 1974, S. 6. Koschaker charakterisiert die grundlegende Arbeit der Kommentatoren am Corpus iuris, die keineswegs eine schlichte Übernahme der Regeln gewesen sei, durch die Stichworte Auswahl, Umdeutung und Anpassung an das bisher geltende Recht mit den Denkmitteln der Scholastik. Ihre epochale Leistung für Europa erwuchs Koschaker zufolge paradoxerweise aus etwas, das wir heute als defizitär erachten würden: „Die erforderliche Umdeutung ermöglichte ihr autoritätsgebundenes Denken wie der Mangel geschichtlichen Sinns, der sie die ursprüngliche Bedeutung ihrer Quellen vielfach nicht erkennen ließ. So war die Tätigkeit der Kommentatoren in Ansehung des römischen Rechts keineswegs bloß rezeptiv, sondern in hohem Grade rechtsschöpferisch.“ Koschaker, Europa und das römische Recht (wie Anm. 4), S. 93 f.
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gangen, die im 16. Jahrhundert die herkömmliche italienische Arbeitsmethode, den mos italicus, infragestellte. Im praktischen juristischen Betrieb war allerdings die ahistorische italienische Methode noch weitgehend vorherrschend, wurde aber gelegentlich durch Elemente humanistischer Jurisprudenz aufgelockert. Seit dem Hochmittelalter entstand eine Rechtskultur und Rechtstechnik auf der Grundlage des römischen und kanonischen Rechts, der geschriebenen Rechte, die von universitär ausgebildeten, gelehrten Juristen als veritablen Fachleuten mit den Vorteilen und gewissen Nachteilen des Expertentums⁸ gehandhabt wurden. Damit kehrte unter anderen Umständen und Bedingungen der Typus des respondierenden juristischen Experten wieder, den es hinsichtlich der Anwendung und Fortbildung des Rechts bereits in der spätklassischen römischen Zeit mit ihrer hochentwickelten Fachwissenschaft und in der Spätantike mit den Rechtsschulen von Beryt (Beirut) und Konstantinopel gegeben hatte. Das römische Recht galt als ratio scripta, als geschriebene Vernunft und daher als ein der menschlichen Vernunft gemäßes Recht und erhielt von daher ein zentrales Geltungsmotiv. Es bildete für die Juristen – ähnlich wie die Hl. Schrift für die Theologen – einen universellen Kosmos, der grundsätzlich Antworten für alle Rechtsfragen bereitstelle – omnia in corpore iuris inveniuntur. ⁹ Von dem universellen römischen Recht, das für alle Menschen und Bürger galt, gesondert waren als ius proprium partikulares eigenes Recht die regionalen und lokalen Rechtsgewohnheiten, das Statutarrecht der Städte, territoriale und herrschaftliche Rechte, der Gerichtsgebrauch oder auch Privilegien. Gemäß der zunächst in der urbanen Welt Oberitaliens formulierten Rechtsanwendungslehre, der sogenannten Statutentheorie, die in einfacher Form in der Reform des ‚königlichen und kaiserlichen Kammergerichts‘ [Reichskammergericht] von 1495 im Eid des Richters und der Beisitzer erscheint,¹⁰ kam dem speziellen
Zum Expertentum siehe, ohne allerdings hinsichtlich der spätmittelalterlichen Juristen zentrale Arbeiten zu deren Aufgaben, spezifischen Methoden und Resultaten heranzuziehen oder zu nennen: Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hrsg.), Wissen maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012 (Historische Zeitschrift, Beiheft 157), S. 12–44. Glosse notitia ad Dig. 1.1.10.2. Siehe jedoch Lange/Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter II (wie Anm. 2), §§ 86, 87, S. 897–940 (über Antikes Recht, Ius commune und eigenständige Rechtsfortbildung hinsichtlich einer Reihe von Rechtsinstituten). […] nach des Reichs gemainem rechten, auch nach redlichen, erbern und leydenlichen ordnungen, statuten und gewonhaiten der Ftt., Hftt. [Fürstentümer, Herrschaften] und gericht, die für sy bracht werden, dem hohen und dem nydern nach seinem besten verstentnus gleich zu richten und kein sach sich dagegen bewegen lassen […]. Deutsche Reichstagsakten. Mittlere Reihe: Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 5: Reichstag von Worms 1495, bearb. von Heinz Angermeier, Bd. I/1. Göttingen 1981,
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partikularen Recht grundsätzlich der Vorrang vor dem allgemeinen, dem römischgemeinen Recht zu, das nur eine subsidiäre Anwendbarkeit beanspruchen konnte. Das gelehrte ‚gemeine Recht‘ erschien andererseits angesichts einer noch relativ geringen Normendichte, von Lücken im heimischen Recht und komplizierterer Lebensverhältnisse geeignet, auf schwierige Rechtsfragen eine autoritative Antwort zu finden. Das Partikularrecht war jedoch von den Parteien dem Richter vorzubringen und, sofern es nicht notorisch und landkundig war, in seiner tatsächlichen Geltung (als factum) zu beweisen. Es durfte nicht vernunftwidrig sein oder gegen die guten Sitten verstoßen und war eng auszulegen, insbesondere wenn es vom ius commune abwich.¹¹ Durch Rechtsreformationen wurden im ausgehenden 15. Jahrhundert beginnend mit der Nürnberger Reformation von 1479 Elemente des römischen Zivilrechts und des römisch-kanonischen Prozessrechts gewissermaßen in einem Gestaltwandel mit Folgen für die Auslegung als nunmehr kodifiziertes förmliches Gesetzesrecht in städtische Ortsrechte eingeführt, die im Auftrag des Rats mehr oder weniger dem gemeinen Recht äquipariert werden sollten.¹² Für die Anwendbarkeit des römisch-gemeinen Rechts bestand eine weitgehende Vermutung; es bot mit einem später im 17. Jahrhundert geprägten beweisrechtlichen Ausdruck eine fundata intentio, einen fest begründeten Klageanspruch.¹³ Die begrifflichen Instrumente und gedanklichen Kategorien des Rechts und die Grammatik methodischen Denkens, wie sie die Wissenschaft vom gemeinen Recht lieferte, wurden durch die gelehrten Juristen jedoch auch bei der Erörterung und Anwendung partikularen Rechts in Anspruch genommen, sodass das partikulare Recht tendenziell in die Nähe des gemeinen Rechts geriet und ihm auch angenähert werden sollte. Das gemeine Recht war das Recht, das die Juristen studiert Nr. 342 (IV.3), S. 383–420 (hier S. 388). Der Artikel taucht schon zehn Jahre früher weitgehend gleich in den beiden kurfürstlichen Entwürfen für eine Ordnung des kaiserlichen Kammergerichts auf dem Frankfurter Reichstag von 1486 auf, doch steht dort nach des Reichs recht und loblicher ubung des hofs statt der späteren Fassung nach des Reichs gemainem rechten. Ebd., Bd. 1: Reichstag zu Frankfurt 1486, Teil 1, bearb. von Heinz Angermeier/Reinhard Seyboth. Göttingen 1989, Nr. 329 (I, II), S. 350. Wolfgang Wiegand, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit. Ebelsbach 1977 (Münchener Universitätsschriften. Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 27), S. 162–180; Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich. Frankfurt a. M. 2002 (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Bd. 18). Zur Bezugnahme auf die Rechtsanwendungslehre in Konsilien des Bonifacius Amerbach siehe Hans-Rudolf Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach. Basler Rechtskultur zur Zeit des Humanismus. Basel/Frankfurt a. M. 1997, S. 56–60. Eberhard Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht spätmittelalterlicher deutscher Städte, in: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), S. 1–94, 161–261 (hier S. 90–94, 252–257). Wolfgang Wiegand, Zur Herkunft und Ausbreitung der Formel „habere fundatam intentionem“, in: Sten Gagnèr (Hrsg.), Festschrift für Hermann Krause. Köln/Wien 1975, S. 126–170.
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hatten, und galt seit der Kammergerichtsreform von 1495 reichsgesetzlich als gerichtsbekannt, was durch die vorgeschriebene hälftige Besetzung des Gerichts mit rechtsgelehrten Beisitzern gewährleistet werden sollte, wobei allerdings zuvor schon seit längerem gelehrte Juristen in das kaiserliche Kammergericht berufen worden waren. Die Juristen verwiesen zwar in Gutachten auch generell auf das Bestehen und die Anwendung partikularer Rechte, kannten solche aber nicht sonderlich gut. So besaß etwa der Basler Stadtadvokat Bonifacius Amerbach (1495–1562), ein Schüler des Ulrich Zasius (1461–1535), nur teilweise Kenntnisse hinsichtlich des Rechts seiner Vaterstadt.¹⁴ In Nürnberg sollte nach Anweisung des Rats keiner seiner Juristen ohne eine Ausgabe der gedruckten Rechtsreformation von 1479/1484 sein, die bei maßvoller Romanisierung noch relativ viel Ortsrecht beinhaltete.¹⁵ Allerdings wünschten in der Regel Auftraggeber von Rechtsgutachten, so etwa auch der Nürnberger Rat von seinen Juristen, gerade und vor allem Auskunft über die Rechtslage nach dem gemeinen Recht.
2 Das dienstliche Aufgabenspektrum gelehrter Juristen Auch wenn Legisten (doctores legum) als Gelehrte des römischen Rechts und Kanonisten (doctores decretorum) ihren Studienabschlüssen entsprechend unterschieden wurden, so argumentierten beide doch – nicht anders als die Doktoren beider Rechte –, wenn man die gelehrten Apparate der Konsilien untersucht, in vielen Fällen jeweils sowohl mit dem römischen als auch dem kanonischen Recht. Gutachten zu weltlichen Rechtsfragen erstatteten grundsätzlich und häufig auch Kanonisten; auf den formellen Studienabschluss kam es nicht an. Schließlich besaßen die Juristen kein absolutes Monopol auf rechtliche Beurteilung und Rechtserteilung. Auch Theologen beschäftigten sich mit juristischen Themen, Fragen und Positionen. Insbesondere die scholastischen Moraltheologen besaßen Kenntnisse in beiden Rechten und nahmen vor allem im Rahmen einer Vertragsrechtslehre zu wirtschaftsrechtlichen und wirtschaftsethischen Fragen wie gerechter Preis und Wucher in Konsilien und monografischen Werken Stellung.¹⁶
Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 58 f. Wolfgang Leiser, „Kein doctor soll ohn ein solch libell sein“. 500 Jahre Nürnberger Rechtsreformation, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 66 (1979), S. 1–11. Eberhard Isenmann, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik um 1500. Theologische und juristische Konsilien zum Barchenthandel in der Reichsstadt Ulm, in: Rolf Lieberwirth/Heiner Lück
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Der Ulmer Münsterpfarrer Dr. utr. iur. Konrad Krafft wies in einem Konsilium darauf hin, dass die Frage der Zulässigkeit eines wirtschaftlichen Austauschkontrakts in die Zuständigkeit verschiedener Disziplinen falle und im Zusammenwirken von Philosophen, Theologen und Juristen zu beurteilen sei.¹⁷ Zu den Aufgabenbereichen gelehrter Juristen im Rahmen ihres Dienstverhältnisses in einer großen Stadt lassen wir uns am besten durch die Angaben des Nürnberger Ratsjuristen Dr. Christoph Scheurl (1481–1542) aus dem Jahr 1516 unterrichten:¹⁸ Der Nürnberger Rat beschäftigte damals für gewöhnlich fünf oder sechs besoldete Doktoren der Rechte ‚im Amt der gelehrten Räte‘.¹⁹ Sie standen ausschließlich dem Rat für mündliche Rechtsberatung und die Erstattung schriftlicher Gutachten zur Verfügung. Weitere vier Rechtsgelehrte, die gleichfalls eine angemessene jährliche Besoldung aus der Stadtkasse erhielten, durften als zweite Kategorie von Ratsjuristen mit Erlaubnis des Rates den Bürgern gegen eine ‚angemessene Belohnung‘ als ‚vereidigte und allgemeine Advokaten‘ Rechtsbeistand leisten. Im äußeren Dienst hatten die Juristen ‚den gemeinen Nutzen der Stadt zu verteidigen‘, in Gesandtschaften mit Aufträgen für Belange der ‚ganzen Stadt‘ als Redner aufzutreten (orare) sowie vor Fürsten und Herren ‚allerlei Beschwerden‘
(Hrsg.), Akten des 36. deutschen Rechtshistorikertages zu Halle 2006. Baden-Baden 2008, S. 195–259 (mit weiterer Literatur); ders., Legal, Moral-Theological and Genuinely Economic Opinions on Questions of Trade and Economy in Fifteenth- and Early Sixteenth-century Germany, in: Heikki Pihlajamäki/Albrecht Cordes/Serge Dauchy/Dave De ruysscher (eds.), Understanding the Sources of Early Modern and Modern Commercial Law. Courts, Statutes, Contracts, and Legal Scholarship. Leiden 2018 (Studies in the History of Private Law, vol. 14), S. 221–265. Isenmann, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik (wie Anm. 16), S. 205 f. Dr. Scheurls Abriss der Nürnberger Stadtverfassung, die sogenannte ‚Epistel‘, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis in’s 16. Jahrhundert, Bd. 11 (Nürnberg, Bd. 5). Leipzig 1874, ND Göttingen 1961, XVI. Anhang, A: Christoph Scheurl’s Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg, hrsg. von Karl Hegel, S. 781–804 (hier S. 800–803). Es ist dies eine zeitgenössische Übersetzung des lateinischen Originals. Zu Dr. Scheurls Darstellung siehe Eberhard Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen in Deutschland im 15. Jahrhundert, in: Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, hrsg. von Franz-Josef Arlinghaus/Ingrid Baumgärtner/ Vincenzo Colli/Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein, Frankfurt a. M. 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Bd. 23), S. 305–417 (hier S. 305–324); ders., Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen für deutsche Städte im Spätmittelalter, in: Pratiques sociales et politiques judiciaires dans les villes de l’Occident à la fin du Moyen Âge. Études réunies par Claude Gauvard, Jacques Chiffoleau et Andrea Zorzi. Roma 2007 (Collection de l’École française de Rome, Bd. 385), S. 243–322 (hier S. 273–303). Die Nürnberger Ratsjuristen sind zusammengestellt von Friedrich Wolfgang Ellinger, Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg vom 15. bis 17. Jahrhundert, in: Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken 6 (1954), S. 130–223.
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vorzutragen.²⁰ Über diesen Kreis von Ratsjuristen hinaus unterhielt der Rat mit Doktoren in Augsburg und Professoren an der Universität Ingolstadt ein besoldetes Konsulentenverhältnis. Wie wir weiter wissen, holte der Rat in wichtigen und schweren Fällen Konsilien auch von Rechtsgelehrten am bayerischen Hof und an geistlichen Hochstiften sowie in einzelnen Fällen von Rechtsprofessoren deutscher und italienischer Universitäten ein. Andererseits ließ er seine Juristen für eine Reihe von Städten wie Regensburg, Augsburg, Ulm, Esslingen, Heilbronn, Reutlingen, Rothenburg, Windsheim, Weißenburg, Schweinfurt, Nördlingen, Schwäbisch Hall, Bopfingen, Donauwörth, Dinkelsbühl oder für den Deutschordenskomtur in Mergentheim Gutachten und Urteilsvorschläge verfassen.²¹ Schließlich wurden Juristen für bestimmte Aufgaben an andere Obrigkeiten ausgeliehen. Wer selbst keine eigenen Juristen im Dienst hatte, musste sich natürlich an auswärtige Rechtsgelehrte wenden.²² Der Nürnberger Rat nahm die Rechtsberatung durch seine Juristen, wie Dr. Scheurl darlegt, dann in Anspruch, wenn die Meinungen zu einer Sache innerhalb des Gremiums divergent ausfielen oder der Fall kompliziert und wichtig war. Dann wurden zwei Ratsherren abgeordnet, die morgens nach dem Frühstück mit den Juristen konferierten, ihre Ratschläge hörten und am nächsten Tag darüber im Rat berichteten. Derartige routinemäßige Konsultationen fanden je nach Anfall gewichtiger Sachen häufig drei bis fünf Mal in der Woche statt. In den Nürnberger Ratschlagbüchern des frühen 16. Jahrhunderts sind einige Voten, die Ratsjuristen in Sitzungen mit den Ratsdeputierten vorgetragen haben, summarisch protokolliert. In schwierigen Fällen hatten die Juristen schriftliche Rechtsgutachten zu erstatten, und zwar nicht selten mehrere Juristen gleichzeitig und dies kurzfristig von einem Tag auf den anderen.²³ Am Stadtgericht mit seinen zwei ‚Tischen‘ war es ‚Amt‘ der dazu als Beisitzer verordneten drei oder vier Doktoren ‚beider Rechte‘, die einzelnen zivilrechtlichen Streitsachen zu beraten und den Gerichtsschöffen die Rechtslage gemäß den ‚geschriebenen Rechten‘ aufzuweisen, worauf die Gerichtsschöffen ihre Stimme ab-
In der lateinischen Fassung heißt es nur: in causis reipublicae patrocinari, orare. Die Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 18), S. 803, Anm. 1. Isenmann, Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen (wie Anm. 18), S. 277 f. Vgl. etwa Johannes Mötsch, „Item Doctor Henning hat seinen Rathslag noch nit geferttiget …“. Auswärtige Juristen als Gutachter für die Grafen von Henneberg-Schleusingen, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 64 (2010), S. 53–100. Bisweilen sollte ein Bote, der den Wunsch nach einem Konsilium einem auswärtigen Juristen überbrachte, auf das Gutachten warten. Auch die Basler Obrigkeit erwartete vom Stadtadvokaten Bonifacius Amerbach Gutachten gelegentlich schon für den nächsten Tag. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 7.
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gaben und die Sache entschieden. Ein weiterer Ratsjurist war als Beisitzer beratend am städtischen Bauerngericht tätig, das für Streitsachen der Hintersassen der bürgerlichen, überwiegend patrizischen Grundbesitzer und Grundherren auf dem Lande zuständig war. Die Tätigkeit am Bauerngericht unter Mitwirkung eines Juristen wurde auch als Schulung der Söhne der Ratsherren in den gerichtlichen gepreuch und Begriffen (wörter) betrachtet, und zwar im Hinblick auf eine spätere höhere Verwendung im Stadtgericht oder im Rat. Die gleiche Aufgabe wie im Stadtgericht hatten die Juristen bei der Behandlung der Appellationssachen am Ratsgericht, das sich als Instanz über dem Stadtgericht bis zu einem Streitwert von 600 Gulden etabliert hatte; über diese Summe hinaus musste an das ‚kaiserliche Kammergericht‘ appelliert werden. Es war Aufgabe der Juristen, zu den vorgelesenen Sachen ‚Ratschläge zu machen‘ und schließlich ‚rechte Urteile‘ als Vorschläge zu verfassen, denn der Rat pflege in keiner Appellationssache zu urteilen, bevor nicht die ‚Gerichtshändel‘ verlesen und nicht die ‚Meinungen und Gutbedünken‘ von zwei oder drei Juristen, im Falle von Divergenzen noch weiterer Juristen gehört worden waren. Für den Rat und seine Juristen ergab sich ein enormes Arbeitspensum, da Scheurl zufolge Appellationen von zwölf Gerichten zukamen. Das Grundgehalt eines jeden ausschließlich für den Rat tätigen Juristen lag bei jährlich 200 Gulden, weshalb es sich gebühre, wie Scheurl hinzufügt, dass er Tag und Nacht arbeite. Hinzu kamen spezielle Honorierungen (‚Liebungen‘). Der Ulmer Gerichtsschreiber Wick, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts bei den Älteren Herren des Nürnberger Rats Erkundigungen über das Stadtregiment eingezogen hatte, berichtete über das dortige Verfahren bei Appellationen und stellte dabei das Kontrollbedürfnis des Rats heraus: Wenn sich die Ratsherren in einer Sache nicht zu einem Urteil in der Lage sehen, geben sie die Akten an drei oder vier Juristen, doch einem jeden in Sonderheit, so dass – angeblich – keiner von der Beauftragung der anderen Kenntnis hat. Jeder der Juristen erstattet seinen Ratschlag insgeheim und in der Meinung, er allein habe die Akten gehabt.²⁴ Dass städtischen Ratsherren an argumentativ nachvollziehbaren gutachtlichen Äußerungen gelegen war, belegt eine Augsburger Ratsordnung aus dem Jahre 1543, die Mängel der Rechtsberatung durch die Stadtjuristen aufgreift und endlich abzustellen versucht.²⁵ Beanstandet wird die wenig ersprießlich erscheinende Praxis
Eberhard Naujoks (Hrsg.), Kaiser Karl V. und die Zunftverfassung. Ausgewählte Aktenstücke zu den Verfassungsänderungen in den oberdeutschen Reichsstädten (1547–1556). Stuttgart 1985 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde, Reihe A, Quellen, Bd. 36), Nr. 8, S. 77. Stadtarchiv Augsburg, Ratsbuch 1543, fol. 57v–58v; siehe Eberhard Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen (15.–17. Jahrhundert), in: Roman Schnur
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der Doctoren, überwiegend mündlich zu votieren und kaum schriftliche Gutachten zu verfassen. Und selbst wenn sie schriftliche Konsilien erstatteten, so geschehe dies nicht in der richtigen, wie bei Rechtsgelehrten üblichen Weise, sondern die Gutachten enthielten nur eine argumentativ nicht weiter begründete Empfehlung. Sie lauteten lediglich auf ein ‚Tun oder Lassen‘, ohne Nennung der Gründe und des Wie und Warum. Abhilfe wird nun in einem geregelten zweistufigen Verfahren der Rechtsberatung – ähnlich dem in Nürnberg – gesucht. Der Konsultation von zwei bis vier Ratsdeputierten mit dem Juristenkollegium mit mündlichen Voten soll in wichtigen Fällen die Erstattung schriftlicher Konsilien folgen. Was der Nürnberger Dr. Scheurl hinsichtlich der Aufgaben der Ratsjuristen nicht eigens erwähnt, ist ihre Tätigkeit als Beisitzer in Schiedsgerichten und ihre Mitwirkung an der Rechtsetzung, so etwa an der Stadtrechtsreformation von 1479. Ratsjuristen machten Vorschläge für eine Prozessbeschleunigung und Verfahrensökonomie und regten ferner ein ihnen zur Klärung einer strittigen Rechtslage notwendig erscheinendes Gesetz an.²⁶ Sie erstatteten 1464 ein Gutachten und entwarfen zugleich ein Musterprivileg für ein bei Kaiser Friedrich III. auszubringendes Privileg zur pollicei und regirung des Rats mit der Dispositionsmacht in allen (und jeglichen) sachen sowie speziell zur Gerichtsverfassung Nürnbergs.²⁷ Ferner waren sie an der Formulierung eines wichtigen Privilegienbündels beteiligt, das 1464 am Kaiserhof erwirkt wurde. Es betraf das Haftungsrecht der Handelsgesellschaften, die Befugnis des Rats, mündliche und schriftliche Parteieinlassungen und die Protokollierung im Gerichtsverfahren zu regeln und die Zulässigkeit einer Appellation vom Stadtgericht an den Kaiser von einem Kalumnieneid (Gefährdeeid) abhängig zu machen, sowie die Befugnis, elternlosen Verschwendern einen Vormund oder Vermögensverwalter zu geben. Vermögensverfügungen von Kindern ohne Wissen und Willen der Eltern oder Vormünder sollten nichtig sein.²⁸ Die Ratsjuristen erläuterten die Rechtswirkung eingegangener kaiserlicher Mandate und Reskripte anhand der enthaltenen Klauseln ‚aus Machtvollkommen-
(Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986, S. 545–628, 836– 840 (hier S. 562 f., Anm. 82). Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (wie Anm. 18), S. 324 f., 408. Eberhard Isenmann, Recht, Verfassung und Politik in Rechtsgutachten spätmittelalterlicher deutscher und italienischer Juristen, vornehmlich des 15. Jahrhunderts, in: Hartmut Boockmann/ Ludger Grenzmann/Bernd Moeller/Martin Staehelin (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil 2. Göttingen 2001 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, dritte Folge, Nr. 239), S. 47–245 (hier S. 156–162). Zur Urkunde und zwei Entwürfen siehe Mechthild Isenmann/Eberhard Isenmann, Das Innenverhältnis einer spätmittelalterlichen Handelsgesellschaft und die Ausweitung interner Konflikte – Hans Arzt und Gesellschaft, Anton Paumgartner und die Reichsstadt Nürnberg (1447–1471), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014), S. 432–487 (hier S. 443).
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heit‘ (ex plenitudine potestatis), ‚aus rechtem Wissen‘ (ex certa scientia), ‚aus eigenem Bewegen‘ (motu proprio) und ‚ungeachtet entgegenstehender Rechte‘ (non obstante). Auf der anderen Seite sorgten sie für die rechtstechnisch zureichende Verklausulierung städtischer Privilegienwünsche und rechtlicher Eingaben, die am Kaiserhof vorgebracht werden sollten, damit diese dann gegen mögliche Anfechtungen von dritter Seite rechtsbeständig blieben.²⁹ Rechtsprofessoren der Universität, die der Kölner Rat für seine Angelegenheiten verpflichtete, wurden in zahlreiche der speziellen Ratskommissionen beordert.³⁰ Ein anschauliches Beispiel für eine Gesandtschaftsreise eines Juristen und ihr Ergebnis bildet jene, die der Rechtsprofessor Dr. decret. Walter (Woulter) von Bilsen 1469 im Auftrag der Kommission mit dem Namen ‚wegen der kaiserlichen Prozesse‘ an den Kaiserhof unternahm und die nicht weniger als elf Monate dauerte.³¹ Er hatte dort, gestützt auf die Appellation einer betroffenen Partei, überregionale Zuständigkeitsansprüche des in Händen des Markgrafen von BrandenburgAnsbach befindlichen Kaiserlichen Landgerichts des Burggrafentums Nürnberg abzuwehren (‚brandenburgische Sache‘) und bei dieser Gelegenheit auch kaiserliche Privilegien für die Stadt Köln zu erwerben. Der Doktor berichtete nach seiner Rückkunft zweieinhalb Stunden lang dem Rat über die Gefahren der Gesandtschaft zu Lande und zu Wasser, sodann über die am Kaiserhof Friedrichs III. unternommenen Maßnahmen und wahrgenommenen Gerichtstermine. Nach einigen Zwischenurteilen sei die von der Gegenpartei bestrittene Gültigkeit der Kölner Appellation bestätigt und die Nichtigkeit des Prozesses vor dem Landgericht festgestellt worden. Wenn der kaiserliche Fiskal nicht öffentlich vor Gericht die von beiden Parteien bestochenen Beisitzer erwähnt hätte, wäre wohl ein endgültiges Urteil erreicht worden. So aber hätten der Kaiser und der Bischof von Passau als Kanzler³² das Gericht suspendiert. Dr. Walter durfte nur den
Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 587–594; ders., Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 156–171. Siehe dazu Isenmann, Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen (wie Anm. 18), S. 263–268. Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550, Bd. 1: Die Ratsmemoriale und ergänzende Überlieferung 1320–1543, bearb. von Manfred Huiskes. Düsseldorf 1990 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 65), Nr. 107, S. 398 f. (1470 März 15). Eine Kostenabrechnung der Gesandtschaftsreise ist leider nicht überliefert. Zu den Umständen von Gesandtschaftsreisen und deren Kosten siehe jedoch die umfangreiche Quellenedition von Klaus Militzer (Bearb.), Stadtkölnische Reiserechnungen des Mittelalters. Düsseldorf 2007 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 75). Bischof Ulrich von Passau hatte die römische Kanzlei vom Kaiser gepachtet. Er war von 1464 bis 1470 römischer Kanzler und leitete zugleich als Kammerrichter das kaiserliche Kammergericht. Der Bischof stellte einen unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen Kanzlei und Gericht her und strebte wegen unzureichender Einkünfte 1469 eine schuldrechtliche Novation des Pacht-
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Entwurf des kaiserlichen Stillstands- und Evokationsmandats einsehen, das Magister Arnoldus dann bringen werde. Er hatte jedoch erreicht, dass der Kaiser an den Papst, das Kardinalskollegium und den kaiserlichen Prokurator in Rom, den Kardinal von Nizza, wegen der Kölner Gerichtsprivilegien³³ schrieb, und davon einen gesiegelten Auszug erhalten. Ferner hatte er ein kaiserliches Indult, einen Gnadenerweis, erwirkt, der dem Rat die Neuordnung der Appellation am Kölner Hochgericht und an zwei weiteren Gerichten hinsichtlich der vom Appellanten zu stellenden Kaution erlaubte, außerdem ein Privileg, das die Ergreifung von Feinden der Stadt zuließ, die insbesondere im Gebiet Gelderns Güterarreste vorgenommen hatten, und innerhalb der städtischen Bannmeile die Ergreifung von Bürgern, die gegen Recht verstoßen hatten, und dies ohne Einredemöglichkeit des Erzbischofs und Kurfürsten, des früheren Stadtherrn. Am folgenden Tag verlas Dr. Walter im Wortlaut die Privilegien und Indulte, die von der schon vor der Gesandtschaft eingerichteten Kommission zu prüfen waren.³⁴ Außerdem sollte er die Vorgänge des brandenburgischen Prozesses vom Gerichtsschreiber niederschreiben lassen, damit darüber ein öffentliches Dokument vorhanden war. Etwas später begab sich Dr. Walter zusammen mit einem der Bürgermeister, dem Ratsmeister und den beiden Schöffenmeistern zum Kölner Hochgericht, um diesem das kaiserliche Mandat über die Appellation zu überreichen.³⁵ Eine komplexere Figur als der Rats- und Stadtjurist oder der gelehrte Rat im Dienst eines Fürsten oder des Königs war Dr. utr. iur. Dietrich von Bocksdorf († 1466), der in einem vielgestaltigen und umfassenden Tätigkeitsspektrum als Advokat, Gutachter, Urteiler, Ordinarius der Leipziger Universität und gelehrter Rat Kurfürst Friedrichs II. von Sachsen agierte, juristische Werke verfasste, eine Reihe kirchli-
vertrages an, schied aber aus dem Vertragsverhältnis aus, worauf der Kaiser am 31. Mai 1470 einen Pachtvertrag mit einer jährlichen Pachtsumme von 10.000 fl. mit Erzbischof Adolf von Mainz abschloss. Eberhard Isenmann, Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 7 (1980), S. 1–76, 129–218 (hier S. 56–59). Der Kölner Rat hatte sich 1341 ein Konsilium zu dem der Stadt von Papst Innocenz IV. am 9. Dezember 1252 gewährten Nonevokationsprivileg von Rechtsgelehrten des Studiums zu Montpellier erstatten lassen. Historisches Archiv der Stadt Köln, Urkunden (Pergament mit sechs Siegeln). Den Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Dr. Klaus Militzer vom Stadtarchiv. Das Konsilium ist von sechs doctores decretorum actu legentes in studio Montis pessulani – Iacobus Umberti, Dominicus Sauni, Guilhelmus de Columbario, Amalricus Augerii, Hugo Garrelli und Alexander de Treforno – unterschrieben und jeweils mit ihren Hängesiegeln versehen. Beschlüsse des Rates (wie Anm. 31), Nr. 114, S. 400 (1470 März 16). Ebd., Nr. 183, S. 414 (1470 März 25).
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cher Pfründen innehatte und schließlich gegen Ende seines Lebens für kurze Zeit das Amt des Bischofs von Naumburg ausübte.³⁶
3 Die juristische Konsiliartätigkeit 3.1 Die Bedeutung der Konsilien für die Rezeption der gelehrten Rechte in Deutschland Durch die gerichtlichen Gutachten oberitalienischer Gelehrter³⁷ wurden die Ergebnisse der neuen, universitären Wissenschaft vom römischen Recht, die Glossen und die großen Schulwerke, kontinuierlich in die Praxis eingeführt, sodass das ius commune des römischen Rechts durch die Auseinandersetzung mit der damaligen Rechtswelt angepasst und nutzbar gemacht wurde, wodurch es überhaupt erst zu einer nachhaltigen Rezeption in Europa kommen konnte.³⁸ „Erst durch die Consilien der angesehensten Juristen sind die Ergebnisse der neu entstandenen Wissenschaft lebendiges Recht geworden.“³⁹ Eine mindestens gleiche Bedeutung hatten die Konsilien für die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland.⁴⁰ Sie leisteten einen „erstrangigen Beitrag zur Evolution des Rechts.“⁴¹
Marek Wejwoda, Spätmittelalterliche Jurisprudenz zwischen Rechtspraxis, Universität und kirchlicher Karriere. Der Leipziger Jurist und Naumburger Bischof Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410– 1466). Leiden/Boston 2012; ders., Sächsische Rechtspraxis und gelehrte Jurisprudenz. Studien zu den rechtspraktischen Texten und zum Werk des Leipziger Juristen Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410– 1466). Hannover 2012 (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte, Bd. 54). Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre. Eine Darlegung der Entfaltung des gemeinen italienischen Rechts und seiner Justizkultur im Mittelalter unter dem Einfluß der herrschenden Lehre der Gutachterpraxis der Rechtsgelehrten und der Verantwortung der Richter im Sindicatsprozeß. Leipzig 1938. Drittes Kapitel: „Die Gutachtenpraxis der Rechtsgelehrten und ihre Bedeutung für die Rechtspflege und Rechtsentwicklung“, S. 243–328. Hermann Lange, Das Rechtsgutachten in der Geschichte, in: Juristenzeitung 1969, S. 157–163 (hier S. 161). Lange, Die Consilien des Baldus (wie Anm. 6), S. 11. Eberhard Isenmann, Zur Rezeption des römisch-kanonischen Rechts im spätmittelalterlichen Deutschland im Spiegel von Rechtsgutachten, in: Jan A. Aertsen/Martin Pickavé (Hrsg.), „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts. Berlin/New York 2004 (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 31), S. 206–228 (mit weiterer Literatur). Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachen in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Bd. 22), S. 418.
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Der etablierte diskussionswürdige, aber derzeit kaum ersetzbare Ausdruck „Rezeption“ stellt einen Arbeitsbegriff dar für die Formen des Eindringens und der Übernahme fremden, wissenschaftlich aufbereiteten und methodisch angewandten Rechts, dessen Rechtsidee, Rechtsprinzipien und Normenvorrat. Dabei sind entwicklungsgeschichtlich auch Konvergenzen und wechselseitige Modifikationen zwischen herkömmlichem und gelehrtem Recht in Betracht zu ziehen. Erfasst wurden von der Rezeption Rechtspflege und Verfahrensrecht, die interpretatorische Rechtsanwendung und die Rechtsetzung. Resultat war ferner eine rechtlich-konstruktive Fundierung von verfassungsrechtlichen Tatbeständen und Institutionen. Wo die Rezeption eindrang, kam es zu einer Konkurrenz ihrer Träger mit den Rechtshonoratioren als Empirikern bis hin zu einer beherrschenden Expertenstellung der gelehrten Juristen. Von der Rechtsgeschichte sind die Konsilien deutscher Juristen des Spätmittelalters schon im 19. Jahrhundert in ihrer herausragenden Bedeutung und „als schöpferische Leistung“ gewürdigt worden,⁴² doch ist in der Folgezeit nicht zuletzt wegen einer nur zögerlichen und unzureichenden Erschließung ungedruckter Quellen ihre eingehendere Erforschung zunächst zurückgeblieben, während prosopografische und biografische Arbeiten zu Juristen und insbesondere zu gelehrten Räten⁴³ und zu deren Tätigkeitsfeldern in den beiden letzten Jahrzehnten zu be-
Helmut Coing, Römisches Recht in Deutschland. Mailand 1964 (Ius Romanum Medii Aevi, Pars V, 6), § 79 „Consilien-Literatur“, S. 208–212 (hier und im Folgenden S. 209). Coing schloss sich grundsätzlich dem Urteil Theodor Muthers von 1864 an, wonach die Consilien neben den Rechtssprüchen den „wertvollsten Teil der uns gebliebenen juristischen Literatur“ des 15. Jahrhunderts bildeten. Theodor Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft und der Universitäten in Deutschland. Gesammelte Aufsätze. Jena 1879, ND Amsterdam 1961, S. 120 (Zitat in einem Aufsatz von 1864). Empirisch sowie im Hinblick auf die Universalität des römischen Rechts und den internationalen Zuschnitt der wissenschaftlichen Apparate von Konsilien nicht mehr gedeckt ist die Feststellung Coings, die Konsilien „zeigen uns die deutschen Juristen vor Problemen, für die sie in der italienischen und französischen Literatur unmittelbar keine Lösungen finden konnten, zeigen uns mithin die eigentlich schöpferische Leistung dieser Juristen“. Zudem gab es, wie sogleich noch zu zeigen sein wird, früh schon französische und italienische Konsilien, die von deutscher Seite zu konkreten deutschen Fällen und Rechtsproblemen eingeholt wurden; außerdem war der Rekurs auf die italienische Kommentatorenliteratur des 14. Jahrhunderts fundamental für die Fortentwicklung deutscher Rechtsverhältnisse, so etwa zur Begründung von Satzungsautonomie und Selbstverwaltungsrecht größerer Städte in deutschen Konsilien. Siehe unten Abschnitt 5.6. Zur älteren Literatur zu Konsilien siehe Wolfgang Zeller, Der Jurist und Humanist Martin Prenninger gen. Uranius (1450– 1501). Tübingen 1973 (Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Bd. 5), S. 97–101. Für das 15. Jahrhundert in Auswahl: Paul Joachimsohn, Gregor Heimburg. Bamberg 1891 (Historische Abhandlungen aus dem Münchener Seminar, Bd. 1), ND Aalen 1983; Christine Reinle, Ulrich Riederer (ca. 1406–1462). Gelehrter Rat im Dienste Kaiser Friedrichs III. Mannheim 1993; Tobias
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merkenswerten Ergebnissen geführt haben.⁴⁴ Programmatische Postulate, über die prosopografischen Untersuchungen hinaus zu erforschen, was die Juristen gedacht, getan und geschrieben hätten, wovon man zu wenig wisse, waren zweifellos in der Sache sinnvoll, berücksichtigten und würdigten jedoch nicht zugleich die damals bereits vorhandenen einschlägigen Forschungen.⁴⁵ Eindringliche und vielgestaltige Erkenntnisse über die praktische juristische Tätigkeit lassen sich aufgrund archivalischer Quellen für das spätmittelalterliche Deutschland vor allem aus Konsilien von Stadtjuristen für den städtischen Rat und einen Kreis weiterer Auftraggeber gewinnen.⁴⁶ Es handelt sich verschiedentlich um
Daniels, Diplomatie, politische Rede und juristische Praxis. Der gelehrte Rat Johannes Hofmann von Lieser. Göttingen 2013 (Schriften zur politischen Kommunikation, Bd. 11); Suse Andresen, In fürstlichem Auftrag. Die gelehrten Räte des Kurfürsten von Brandenburg aus dem Hause Hohenzollern im 15. Jahrhundert. Göttingen 2017 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 97). Robert Gramsch-Stehfest, Erfurter Juristen im Spätmittelalter: die Karrieremuster und Tätigkeitsfelder einer gelehrten Elite des 14. und 15. Jahrhunderts. Leiden/Boston 2003 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, Bd. 17). Die Erstattung von Gutachten und die Produktion juristischer Literatur werden behandelt in den Untersuchungen von Marek Wejwoda (wie Anm. 36). Zu spätmittelalterlichen Rechtsgutachten sowie zur Arbeitsweise und Rechtsquellenlehre Bocksdorfs siehe Wejwoda, Spätmittelalterliche Jurisprudenz (wie Anm. 36), S. 291–327. So etwa Peter Moraw, Über gelehrte Juristen im deutschen Spätmittelalter, in: Jürgen Petersohn (Hrsg.), Mediaevalia Auguensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters. Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen, Bd. 54), S. 125–149 (hier insbes. S. 128 f.); vgl. auch Jürg Schmutz, Juristen in der Praxis. Ein Plädoyer für interdisziplinäre Grundlagenarbeit, in: Christian Hesse (Hrsg.), Personen der Geschichte. Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte. Festschrift für Rainer Christoph Schwinges. Basel 2003, S. 303–315. Es ist natürlich eine Ermessensfrage, wieviele einschlägige Untersuchungen vorliegen müssen, damit von einem Forschungsstand gesprochen werden kann. Eine fruchtbare Zusammenarbeit hatte früher schon zwischen dem Juristen und Rechtshistoriker Kohler und dem Landeshistoriker Liesegang stattgefunden: Josef Kohler/Erich Liesegang, Das Römische Recht am Niederrhein. Gutachten Kölner Rechtsgelehrter aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Territorialstaatsrechts, 2 Bde. Stuttgart 1896/1898, ND Amsterdam 1962. Ein kürzlich erschienener Tagungsband zum Augsburger Stadtschreiber und Syndicus Dr. Konrad Peutinger, der eine Bestandsaufnahme der Forschung sein und Perspektiven aufzeigen will, kommt hingegen ohne Beitrag zur Gutachtertätigkeit Peutingers aus und nennt auch keine der vorhanden Arbeiten zu Konsilien und zur juristischen Arbeitsweise zur Zeit Peutingers. Rolf Kießling/Gernot Michael Müller (Hrsg.), Konrad Peutinger: ein Universalgelehrter zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Eine Bestandsaufnahme und Perspektiven. Berlin 2018 (Colloquia Augustana, Bd. 35), S. 5 (Begründung der Herausgeber). Eberhard Isenmann, Aufgaben und Leistungen gelehrter Juristen im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Orbis Iuris Romani. Journal of Ancient Law Studies 10 (2005), S. 41–65; ders., Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen (wie Anm. 18), S. 243–322.
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mehrere und zudem umfangreiche Gutachten zu derselben Sache, die Vergleiche ermöglichen, dadurch unterschiedliche methodische Zugänge, Positionen und Allegationen vorführen und das Spektrum juristischer Argumentationsmöglichkeiten erweitern, bei Übereinstimmungen bewährte loci classici und eine communis opinio in der Rechtsanwendung hervortreten lassen. Im Unterschied zu Gutachten, die anonymisiert sind und nur knappe Sachverhaltsdarstellungen aufweisen, sind einige der Konsilien für Städte in aktenmäßig außerordentlich gut dokumentierte Konflikte, langwierige Rechtsstreitigkeiten und Gerichtsverfahren mit ihren Lebenssachverhalten, Lebensvorgängen, Parteiinteressen und Klagegründen, aber auch über Fälle des Zivil- und Strafrechts hinaus in politische Umstände und verfassungsrechtliche Gegebenheiten eingebettet. Sie lassen den Zeitpunkt erkennen, zu dem es in Konfliktlagen erforderlich erschien, stärker auf eine konsiliengestützte rechtliche Argumentation zu setzen und im gerichtlichen Streitaustrag nunmehr Juristen mit Gutachten einzuschalten. Mit der aktenmäßigen Einbettung der Konsilien erhalten diese und die Arbeitsweise der Juristen eine größere Tiefenschärfe; zugleich zeigt sich ihre Situierung in der umgebenden sozialen und politischen Lebenswelt. An Gutachten kommen in Deutschland im Spätmittelalter zunächst Einzelgutachten und Fakultätsgutachten sowie seit dem 16. Jahrhundert vor allem gerichtliche Fakultätsgutachen im Wege der Aktenversendung vor. Juristen verfassten Gerichtsgutachten, Parteigutachten, ferner Gutachten für die Obrigkeit in Rechtsfragen, die aber auch einen erheblichen politischen Charakter haben konnten, sowie Rechtsauskünfte (informationes) insbesondere zu bestimmten prozessrechtlichen und gerichtlichen Sachverhalten. Gutachten sollten und konnten in ihrer Autorität und Wirksamkeit durch den Beitritt weiterer Rechtsgelehrter mit kurzen
Wenn im Folgenden häufig Arbeiten des Verfassers zitiert werden, so hat dies seinen sachlichen Grund darin, dass in erster Linie Erkenntnisse aus ungedruckten Konsilien präsentiert werden. Deshalb sind dort auch die für die Gedankenführung zentralen Allegationen wiedergegeben, sodass sich eine Art von Teiledition der Gutachten ergibt. Es wurden Konsilienüberlieferungen aus Archiven und Bibliotheken in Nürnberg, Augsburg, Ulm, Basel, Schwäbisch Hall, Eichstätt, Tübingen und Köln durchmustert, aus denen die frühe, um die Mitte des 15. Jahrhunderts einsetzende Sammlung der ‚Ratschlagbücher‘ im Staatsarchiv Nürnberg herausragt. Zu den Konsilien und anderen rechtlichen Materialien in den Nürnberger Ratschlagbüchern des 15. Jahrhunderts siehe Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 555–560, 562. An gedruckten Konsiliensammlungen wurden die Sammlung des Henning Goden († 1521) sowie die Sammlungen von Gutachten des Martin Prenninger und des Ulrich Zasius benutzt. Die in Arbeiten des Verfassers bereits herangezogenen Gutachten sowie weitere Konsilien und Fragestellungen werden eingehender besprochen in einer in Arbeit befindlichen Monografie des Verfassers mit dem Titel „Die gelehrten Juristen und das Recht. Zur rationalen und konstruktiven Durchdringung der Rechtsverhältnisse im spätmittelalterlichen Deutschland mithilfe des römisch-kanonischen Rechts“.
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Stellungnahmen (additiones) oder nur durch konfirmierende und approbierende Mitunterzeichnung (subscriptio) und eventuell Mitsiegelung gesteigert werden. Die Konsilien wurden überwiegend in lateinischer, aber auch in deutscher Sprache erstattet, wobei die Allegationen lateinisch oder deutsch sein konnten. Einige lateinische Konsilien wurden nachträglich übersetzt, sodass die Eindeutschung lateinischer Rechtsbegriffe, die im BGB ihren Schlusspunkt gefunden hat, noch genauer beobachtet werden kann. Das Verständnis des römisch-kanonischen Rechts war für den Juristen jedoch naturgemäß in der lateinischen Sprache am vollkomenlichsten vnd verstendigsten. ⁴⁷
3.2 Mehrfachgutachten und größere Gutachtenaktionen und ihre Anlässe Bereits im Jahre 1300 holte die Stadt Elbing zwei Rechtsgutachten zu ihrer von den Brüdern des Deutschen Ordens als den domini terrae 1246 gewährten Handveste ein. Ein Konsilium erhielt die Stadt aus Paris von zwei kanonistischen Professoren, dem bedeutenden Petrus de Bellapertica († 1308) mit einem Kollegen, und ein weiteres aus Lübeck von drei rechtsgelehrten Kanonikern.⁴⁸ Die Pariser Rechtsgelehrten äußerten sich zur Auslegung von Privilegien, zur Bemessung des Stadtgebiets, zu Fragen der gewährten Fischereirechte, der in perpetuum gewährten, aber in aktuellen Notlagen des Gemeinwesens eingeschränkten Freiheit von Steuer (petitio, bede) und Zoll, zur Verteidigungsbereitschaft der Bürger für Stadt und Vaterland (patria) sowie zur Frage der Appellation. Wie die Pariser Kanonisten erörterten auch die Lübecker Kanoniker die Methodik der flächenmäßigen Bestimmung des Stadtgebiets anhand topografischer, rechtstopografischer (patibulum) und naturräumlicher Merkpunkte sowie einer mathematisch-geometrischen Flächenberechnung. Ein gesondertes zweites Gutachten der drei Kanoniker⁴⁹ und ein weiteres
Eberhard Isenmann, „Liberale“ Juristen? Zur Konsiliartätigkeit Nürnberger Ratsjuristen im ausgehenden Mittelalter, in: Franz Fuchs (Hrsg.), Medizin, Jurisprudenz und Humanismus in Nürnberg um 1500. Wiesbaden 2010 (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, Bd. 24), S. 241–314 (hier S. 257, Anm. 43). Codex diplomaticus oder Regesten und Urkunden zur Geschichte Ermlands (Monumenta historiae Warmiensis I,1), hrsg. von Carl Peter Woelky und Johann Martin Saage, Bd. 1: Urkunden der Jahre 1231–1340. Mainz 1860, Nr. 108, S. 184–190 (1300 August 16). Gutachter waren die „Magistri Petrus de Bellapertica Altisiodorensis [aus Auxerre] et Hugo de Bisuncio Laudunen[sium] Ecclesiarum [aus Laon], Canonici legum professores“. Von dem Lübecker Gutachten wissen wir, dass es von einem Gesandten des Rats von Seiten der Gemeinde und der Stadt angefordert worden war. Ebd., Nr. 116, S. 199–202 (um 1300). Ebd., Nr. 117, S. 203–208.
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des Lübecker Stadtjuristen Heinrich von Wittenborn befassten sich mit der Frage der Appellation.⁵⁰ Der Nürnberger Rat ließ sich im 15. Jahrhundert von eigenen und auswärtigen Juristen Konsilien zu Angelegenheiten erstatten, die von außen kommend die Interessensphäre der Stadt berührten, so etwa zum Bündnisrecht der Städte, zur Freiheit der Reichsstraßen gegen eine bayerische Handelssperre⁵¹ oder 1452/53 von Paduaner und Bologneser Juristen sowie dem Ratsjuristen Lic. und späteren Dr. decret. Martin Mair zum Fehde- und Kriegsrecht während des Kriegs mit dem Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach, der ein Verbot der Fehde durch ein Inhibitionsmandat König Friedrichs III. missachtete. Dabei machten die italienischen Juristen eine Kriegführung von der Erlaubnis des Kaisers (princeps), dem ein Gewaltmonopol zukomme, abhängig; Dr. Mair stützte sich auf das Verbot der Fehde. Fast eine Generation später benutzte der Nürnberger Ratsjurist Dr. Peter Stahel eines der italienischen Konsilien, das in die Nürnberger Ratschlagbücher aufgenommen worden war, in einem Gutachten für die Stadt Schwäbisch Hall zu einem fehdeartigen Überfall.⁵² Mair erstattete auch ein Gutachten zur Verpflichtung der bürgerlichen Lehnsträger in und um Nürnberg zur Reichshilfe im Krieg gegen den Herzog von Burgund im Jahre 1475.⁵³ Im April 1480 erbat der Rat politischverfassungsrechtliche Gutachten von Dr. Mair und Lic. Johannes Löffelholz, beide Räte Herzog Georgs von Bayern, ferner von Dr. Johann Pirckheimer, Rat Herzog Albrechts von Bayern, sowie von dem Rat des Bischofs von Würzburg, dem früher schon in Anspruch genommenen Dompropst Dr. Kilian von Bibra. Es ging um die Frage, ob der Krieg des Königs von Ungarn gegen Kaiser Friedrich III., wie es die ungarische Seite in einer reichsweiten propagandistischen Auseinandersetzung mit der reichsrechtlichen Argumentation des Kaiserhofs darstellte, nicht das Reich, sondern nur den Kaiser in seiner Eigenschaft als österreichischen Landesfürsten betraf, sodass Reichsstände und Reichsstädte dem kaiserlichen Hilfsmandat nicht Folge leisten müssten. Die angeforderten Gutachten konnten nicht aufgefunden werden, doch bedankte sich der Rat später bei Löffelholz und Kilian von Bibra. Ebd., Nr. 118, S. 208–210. Eberhard Isenmann, Reichsstadt und Reich an der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit, in: Josef Engel (Hrsg.), Mittel und Wege früher Verfassungspolitik. Stuttgart 1979 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, Bd. 9), S. 9–223 (hier Anhang Nr. 3, S. 206 f., Nr. 4, S. 207–212). Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 200–208; ders., Weshalb wurde die Fehde im römisch-deutschen Reich seit 1467 reichsgesetzlich verboten? Der Diskurs über Fehde, Friede und Gewaltmonopol im 15. Jahrhundert, in: Julia Eulenstein/Christine Reinle/Michael Rothmann (Hrsg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich. Zwischen adeliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung. Affalterbach 2013 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, Bd. 7), S. 335–474 (hier S. 339–343, 431–446). Isenmann, Reichsstadt und Reich (wie Anm. 51), Anhang Nr. 7, S. 219–221.
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Überliefert ist jedoch ein ausführliches Gutachten Dr. Mairs für den Regensburger Rat in derselben Sache. Mair empfahl zunächst Temporisieren und, um den Tatbestand des Ungehorsams zu vermeiden, ostentative Verhandlungen mit dem Kaiserhof.⁵⁴ Ein Rechtsgutachten in dieser den Gehorsam gegenüber dem Kaiser betreffenden Sache, bei der im Falle von Ungehorsam massive Strafen drohten, war heikel. Als Mair Ende 1480 starb, kondolierte der Nürnberger Rat der Witwe und würdigte die Tätigkeit des Juristen mit warmen Worten, bat sie aber zugleich, dem Boten die Nürnberg betreffenden Unterlagen und Schriftstücke des Verstorbenen wie Urkunden, Vidimi, Rechtsgutachten und anderes auszuhändigen.⁵⁵ Auch ein früheres Gutachten Mairs von 1478 für den Nürnberger Rat zum städtischen Gesetzgebungsrecht, das sich deutlich gegen die Annullierung eines prozessualen, die Juden betreffenden Statuts der Stadt durch den Kaiser richtete, konnte für den Rat als Auftraggeber eventuell kompromittierend sein und eine Sicherung der Unterlagen nahelegen. Immerhin hatte Mair selbst in seinem Gutachten empfohlen, der Rat solle in der Sache beim Kaiser vorstellig werden, doch nicht mit den scharfen Worten und so unverhüllt, wie dies in seinem Gutachten geschehe, damit der Kaiser nicht den Eindruck gewinne, man wolle seine ‚Obrigkeit vernichten‘.⁵⁶ Gehörte für die Regierungs- und Herrschaftspraxis des Nürnberger Rats die juristische Beratung durch Anforderung mehrerer Konsilien zur selben Sache fast zur Routine, so kamen im 15. Jahrhundert und bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts von seiner und anderer Seite verschiedene größere Gutachtenaktionen nationalen und internationalen Zuschnitts zustande, deren Anlässe teilweise außerordentlich gut dokumentiert sind. Als König Friedrich III. das Privileg König Sigmunds von 1424, das Nürnberg zum Ort der Verwahrung der – im Hussitenkrieg in die Stadt in Sicherheit gebrachten – Reichskleinodien mit ihren Reliquien bestimmte, nicht konfirmieren und die Reichskleinodien über Regensburg nach Österreich verbringen wollte, suchte der Rat juristische Hilfe bei der Paduaner Rechtsfakultät und erhielt Konsilien von vier Professoren und drei Mitunterzeichnern, darunter von den prominenten Doktoren beider Rechte Antonius de Rosellis und Angelus de Castro.⁵⁷ Nachdem Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach seine Nürnberger Lehns-
Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 79–90. Dr. Mair war vor nahezu 30 Jahren für eine kurze Zeit Nürnberger Ratsjurist gewesen und wurde auch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis immer wieder zu Rate gezogen. Pirckheimer und Löffelholz stammten aus dem Nürnberger Patriziat. Ebd., S. 80, Anm. 97. Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht (wie Anm. 12), S. 212–228 (das Zitat auf S. 228). Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 597–603.
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leute 1475 wegen der Entrichtung des Handlohns vor Gericht geladen hatte, ließ sich der Rat neben einem Gutachten eines Ratsjuristen weitere sieben auswärtige Gutachten zu prozessualen und materiellen Fragen des Lehnrechts erstatten, in denen etwa auch die rechtstheoretische Frage des Rechtserwerbs durch körperliche Inbesitznahme und fortgesetzten Besitzwillen erörtert wurde.⁵⁸ Außergewöhnlich umfangreich war indessen die Gutachtenaktion des Nürnberger Rats, nachdem der Kaufmann und frühere Ratsherr Anton Paumgartner 1466 Konkurs gemacht und vor dem kaiserlichen Kammergericht gegen den Nürnberger Rat auf Erstattung von 18.350 Gulden geklagt hatte.⁵⁹ Er war vom Rat mehr oder weniger genötigt worden, diese Summe aufgrund eines oktroyierten Schiedsspruchs von 1454 im Hinblick auf die nach internen Streitigkeiten erfolgte Liquidation einer Handelsgesellschaft zu zahlen, an der nicht er selbst, sondern seine Ehefrau Klara beteiligt war. Seinen Konkurs führte Paumgartner nunmehr auf die damalige abgenötigte Zahlung zurück. Der Kaiser bestellte den Deutschordenskomtur in Ellingen Melchior von Neueneck zum Kommissar für die Untersuchung und Zeugenbefragung, doch kam im Rechtsstreit ein Schiedsgerichtsverfahren mit mehreren Terminen zustande, das 1469 mit einem Erfolg Nürnbergs in der Hauptsache endete. Um sich für den Prozess zu wappnen, holte der Rat, der selbst innerstädtische und auswärtige Juristen in seinem Dienst hatte, 31 Gutachten von den Rechtsfakultäten der Universitäten Erfurt, Heidelberg, Köln, Padua und Bologna ein sowie von einigen prominenten Juristen im Reich, und zwar zur Streitsache im Hinblick auf die Klagepunkte des Klägers sowie zur Frage, ob Ratsherren in eigener Sache Zeugen sein konnten und zur Zeugenschaft im Allgemeinen.⁶⁰ Hinzu kommt eine summarische Übersicht über die Konsilien, die ein führender Nürnberger Ratsjurist erstellte. Zusammen mit approbierenden Mitunterzeichnern waren 53 Rechtsge-
Eberhard Isenmann, „Pares curiae“ und „väterliche, alte und freie Lehen“. Lehnrechtliche Konsilien deutscher Juristen des 15. Jahrhunderts, in: Franz Fuchs/Paul-Joachim Heinig/Jörg Schwarz (Hrsg.), König, Fürsten und Reich im 15. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2009 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, Bd. 29), S. 231– 286. Siehe zu dem ganzen Fall M. Isenmann/E. Isenmann, Das Innenverhältnis einer spätmittelalterlichen Handelsgesellschaft (wie Anm. 28). Die juristische Seite mit den im Folgenden genannten umfangreichen Beständen an Konsilien und Prozessakten wird vom Verfasser seit einiger Zeit fortlaufend aufgearbeitet. Zu den rechtlichen dubia und dem Hauptvorwurf der Nötigung (notzwang) und des iustus metus, der ‚erschrecklichen Furcht, die einen beständigen [standhaften] Mann überkommen kann‘ (Dig. 4.2.5 f.), siehe ebd., S. 481.
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lehrte in irgendeiner Weise mit der Sache befasst.⁶¹ Daraus ergab sich ein Konvolut von Konsilien mit etwa 600 Seiten. Für die Rechtsvertretung in dem Schiedsverfahren, in das der Kammergerichtsprozess übergegangen war, lieh sich der Nürnberger Rat vom Bischof von Würzburg den Domherrn und Kanonisten Dr. Kilian von Bibra als Fürsprecher aus, der bereits Beisitzer im Kammergerichtsverfahren gewesen war. Für ihn wurde als Grundlage seiner advokatorischen und prokuratorischen Tätigkeit eine umfangreiche Handakte von 390 Seiten zusammengestellt, die Dr. Kilian teilweise mit Marginalnotizen bearbeitete. Die Handakte enthält relevante Urkunden und Akten zum Fall, Protokolle von Interrogatorien und Zeugenaussagen, frühere Überlegungen für eine Prozessstrategie hinsichtlich des Kammergerichtsprozesses, Protestationen, Einreden, einzelne Punkte für den Vortrag im Schiedsverfahren, ein Memoriale mit juristischen Allegationen für eine Replik und eine kleine Auswahl von Gutachten. Ferner bietet ein gebundener Kodex mit 870 Seiten ein umfangreiches Protokoll der entscheidenden Verhandlungen im Schiedsprozess vor dem Deutschordenskomtur als Obmann mit den Einlassungen Dr. Bibras und des gegnerischen Prokurators, Interrogatorien und Zeugenaussagen, zurückliegende Zwischenurteile sowie weitere bis gut zehn Jahre zurückreichende Urkunden und Akten. Die quantitative Dimension der Überlieferung zu den rechtlichen Auseinandersetzungen kann somit überschlägig mit mindestens 1.860 Seiten angegeben werden. Eine andere große Gutachtenaktion veranlasste der Ulmer Bürgermeister Dr. Mattheus Neithart um 1500, nachdem der Münsterpfarrer Dr. utr. iur. Konrad Krafft einen Geschäftstypus in der Stadt im Zusammenhang mit dem Barchenthandel für wucherisch erklärt hatte und verboten wissen wollte.⁶² Da die Barchentproduktion,
Zu mehreren Konsilien in einer Sache siehe etwa auch Winfried Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz und Wirtschaftsethik. Dargestellt an Wiener Gutachten des 14. Jahrhunderts. Wiesbaden 1961 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 43); Adalbert Erler, Mittelalterliche Rechtsgutachten zur Mainzer Stiftsfehde 1459–1463. Wiesbaden 1964. Der Landgraf Philipp von Hessen zog im Prozess um die Grafschaft Katzenellenbogen elf in- und ausländische Fakultäten und weitere 16 einzelne Rechtsgelehrte bei. Zeller, Der Jurist und Humanist Martin Prenninger (wie Anm. 42), S. 136 (nach Adolf Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richterthums in deutschen Territorien. Stuttgart 1872, S. 198); vgl. weitere Beispiele bei Clausdieter Schott, Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg i. Br., Freiburg i. Br. 1965 (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 30. Heft), S. 26, 30. Isenmann, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsethik (wie Anm. 16). Im sogenannten Monopolstreit auf den Reichstagen von 1520, 1522/23 und 1530 erstatteten Dr. Konrad Peutinger und der Nürnberger Jurist Anton Kress Gutachten zur Monopolfrage und zur wirtschaftspolitischen Frage einer Begrenzung der Marktmacht der großen Augsburger Firmen. Clemens Bauer, Conrad Peutingers Gutachten zur Monopolfrage: Eine Untersuchung zur Wandlung der Wirtschaftsanschauungen im
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wie der Bürgermeister ausführte, für die Stadt wirtschaftlich, sozial, finanziell und insoweit auch politisch von überragender Bedeutung sei, holte er von einem Theologen und vier Juristen der Universität Freiburg Konsilien ein sowie von weiteren Theologen und Juristen zwischen Oberrhein und Bodensee kurze Stellungnahmen oder Zustimmungserklärungen, die alle den Geschäftstypus für unbedenklich und nicht wucherisch erachteten. Insgesamt äußerten sich 25 Gelehrte. Die reformatorische Bewegung und kaiserliche Repressionsdrohungen führten nach dem Speyrer Reichstag von 1529 zu einer Reihe theologisch-juristischer und juristischer Gutachten verschiedener Provenienz zur Frage, ob man einem in Angelegenheiten des Glaubens mit Gewalt agierenden Kaiser, der in Glaubensfragen aus der Sicht der Protestanten nicht mehr wie im Mittelalter als advocatus ecclesiae fungierte, sondern nur als amtslose Privatperson anzusehen sei, mit Gewalt widerstehen dürfe.⁶³ Schließlich sei noch erwähnt, dass die reichsstädtische Kurie, die seit 1522 auf verschiedenen Reichstagen um ein volles Stimmrecht, ein votum decisivum, kämpfte, schließlich 1542 vier Stadtjuristen aus Nürnberg, Frankfurt am Main, Ulm und Augsburg beauftragte, auf der Grundlage von einschlägigen Akten, die aus städtischen Kanzleien zur Verfügung gestellt wurden, Rechtsgutachten zu erstellen, die dann der Frankfurter Jurist Dr. Hieronimus zum Lamb und der Straßburger Stadtadvokat Dr. Ludwig Gremp zu einem Schlussgutachten verarbeiten sollten. Dr. Gremp war es hauptsächlich, der 1543 das große Gutachten verfasste, das sogleich auch gedruckt wurde.⁶⁴
Zeitalter der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 45 (1954), 1. Teil, S. 1–43, 2. Teil, S. 145–196; Isenmann, Legal, Moral-Theological and Genuinely Economic Opinions (wie Anm. 16), S. 258, 261–265 (mit weiterer Literatur). Zu den spezifisch wirtschaftsanalytischen Argumenten des Juristen Peutinger über dessen Erörterung des Monopolbegriffs im römischen Recht hinaus siehe ders., Stadt und Handel im Spätmittelalter und zu Beginn der frühen Neuzeit. Aspekte und Perspektiven, in: Annales mercaturae. Jahrbuch für internationale Handelsgeschichte 5 (2019), S. 7–89 (hier S. 79, 84–88). Heinz Scheible (Hrsg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546. Gütersloh 1969 (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte, Bd. 10). Mit weiteren Konsilien und der älteren Literatur siehe Eberhard Isenmann, Widerstandsrecht und Verfassung in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch. Berlin 2002 (Historische Forschungen, Bd. 73), S. 37–69 (hier S. 52–69). Dr. Ludwig Gremp/Dr. Hieronimus zum Lamb, Svmma vnnd inhalt aller vndergebner Acten/ vnd darauff gestellter Ratschlaeg der Erbaren Frey vnd Reichstett Session/ Stand vnd Stimm belangende. o.O. (Straßburg) o. J. (1543). Stadtarchiv Ulm. A 21 (Druck). Besprochen bei Isenmann, Reichsstadt und Reich (wie Anm. 51), S. 141–189; siehe auch ders., Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 618–628.
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3.3 Die Juristen und ihr Recht in Konsilien Als noch wenige deutsche Konsilien als Erkenntnisquelle für die Rezeption und Anwendung des römischen Rechts bekannt und inhaltlich erforscht waren, hat Franz Wieacker der materiellrechtlichen Rezeption gemeinen Rechts gegenüber der „Verwissenschaftlichung des Rechtslebens“, der „formalen Technik: nämlich der logischen Analyse der Sachverhalte und dem davon nicht zu trennenden Argumentations- und Diskussionsstil“ der Juristen eine untergeordnete Bedeutung zuerkannt.⁶⁵ Weil unter anderem „die Übernahme des fremden Rechtsstoffs offenbar eine regelmäßige, aber keine notwendige Folge des neuen gelehrten Rechtsstandes“ war […], „orientiert sich“, wie Wieacker schreibt, „eine Darstellung, die den historischen Gesamtsinn der Rezeption beschreiben will, zweckmäßigerweise nicht so sehr an der Aufnahme der Lehrsätze des ius commune als am Ablauf des zentralen Entwicklungsprozesses: nämlich der Verwissenschaftlichung des deutschen Rechtswesens und seiner fachlichen Träger.“⁶⁶ Diese etwas undeutliche Formulierung leuchtet vielleicht als Abwägung einer pragmatischen Vorgehensweise ein, zumal damals die Lehrsätze in der Anwendung noch kaum hinreichend untersucht waren, hieße aber, immer noch die wissenschaftlichen Schulwerke und die universitären Lehrprogramme für das Studium in den Vordergrund zu rücken und gewissermaßen methodische Lösungen ohne konkrete Probleme der Rechtswirklichkeit darzustellen. Allerdings kann sich das abstrakte allgemeine Prinzip der Verwissenschaftlichung nur in Bezug auf konkrete Normen, wie auch immer diese beschaffen sind, verwirklichen.⁶⁷ Wieackers Beurteilung gewinnt an Gewicht, wenn
Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 93 f. Wieackers bedeutendes Werk ist dementsprechend keine materiellrechtliche Geschichte privatrechtlicher Institutionen. Ebd., S. 131. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in England Henry de Bracton († 1268), der römisches und kanonisches Recht studiert hatte, vor allem gestützt auf die Kodexsumme des Azo und den „Liber pauperum“ des Roger Vacarius „Begriffe und Denkformen des römischen Rechts“ als „Mittel übernahm, um das englische Recht zu erklären und eine Systematik desselben aufzubauen“, nicht aber „Sätze und Regeln des materiellen römischen Rechts“. Das Bracton zugeschriebene Werk („De legibus et consuetudinibus Angliae“) konnte daher als „romanesque in form, english in substance“ (Frederick Pollock/Frederic William Maitland, The history of English law, before the time of Edward I., vol. I, second ed. Cambridge 1899, S. 207) charakterisiert werden. Koschaker, Europa und das römische Recht (wie Anm. 4), S. 213 f. Koschaker nimmt die Frage auf, ob nicht nach dem Vorbild Bractons „eine Entwicklung möglich gewesen wäre, daß man zwar dem nationalen Recht treu blieb, seine Dogmatik aber am römischen Recht schliff“ (S. 215 f.). Ansätze hierzu seien vorhanden gewesen, doch habe dies die spezifische Organisation des englischen Juristenstandes und dessen Standesinteresse verhindert (S. 214 f.). Immerhin wurde an englischen Universitäten über Bracton
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wir etwa die Behandlung von ius proprium durch die gelehrten Juristen in Betracht ziehen. Es handelt sich bei Wieackers Darstellung der Rezeption genau besehen um eine durch Steigerung einer beschränkten Anzahl empirischer Elemente⁶⁸ ins Idealtypische getriebene, gedanklich ausgereizte und deshalb naturgemäß kaum zu überbietende Charakterisierung juristischer Rationalität und der Juridifizierung des öffentlichen Lebens in Europa,⁶⁹ der „‚Machtergreifung‘ des gelehrten Juristen und seiner rational-logischen Methoden der Rechtsanwendung im gesamten öffentlichen Leben“.⁷⁰ Doch sollte man nunmehr, da bei der Rezeption in Deutschland Formal-Methodisches, Verfahrensrechtliches und Materiellrechtliches zusammenfließen und die Kammergerichtsreform von 1495 die Anwendung materieller Sätze
hinaus römisches und kanonisches Recht gelehrt, sodass eine methodische Schulung durch das Studium dieser Rechte stattfinden konnte. Wieacker selbst macht geltend, eine „so umfassende und umwälzende Erscheinung wie ‚die‘ Rezeption sei in Wirklichkeit die Summe unzählbarer Handlungen, Ereignisse und innerer Vorgänge: der Rechtsetzungen, Urteilsakte, der Rechtsausbildung, ja der Rechtsüberzeugung von vielen Millionen“. Der Rechtshistoriker müsse „die ihm oft gar nicht mögliche genaue Beschreibung dieser Vorgänge notwendig durch sehr vereinfachende Darstellungsmodelle ersetzen.“ Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 65), S. 127. Allerdings muss nicht die Summe genau beschrieben und ersetzt werden. In seinem kenntnisreichen Forschungsüberblick über Fragen der Rezeption spricht Wolfgang Sellert von der „genialen Gesamtanalyse“ Wieackers und vertritt die Auffassung, es sei kaum zu erwarten, daß durch weitere thematische, sachliche und regionale Detailforschungen sich „das Gesamtbild, das wir heute von der Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland haben, im Kern noch wesentlich ändern wird“. Wolfgang Sellert, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand und Ergebnisse, in: Hartmut Boockmann/ Ludger Grenzmann/Bernd Moeller/Martin Staehelin (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil 1. Göttingen 1998 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, dritte Folge, Nr. 228), S. 115–166 (hier S. 166, siehe auch S. 115 f.). Je höher allerdings der Abstraktionsgrad und die maximale Steigerung von Erkenntnissen – Verwissenschaftlichung, Rationalität, Juridifizierung – angesiedelt wird, umso mehr sind weitere Fragen in der Tat erledigt. Dagegen ist allerdings das historische, auf die Lebenssachverhalte und die konkreten Problemlösungen abzielende Erkenntnisinteresse einzuwenden. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 65), S. 69. Die Glossatoren hätten „zuerst in Europa den großen römischen Juristen die Kunst abgelernt, die vitalen Konflikte des zwischenmenschlichen Lebens nicht mehr im Bann irrationaler Lebensgewohnheiten oder durch Gewalt zu entscheiden, sondern durch intellektuelle Diskussion des autonomen juristischen Sachproblems und nach einer aus dieser Sachproblematik begründeten allgemeinen Regel.“ Ebd., S. 132. Hermann Lange referiert im Hinblick auf Zusammenhänge der Rechtswissenschaft „mit der gesamten wissenschaftlichen Renaissance des 12. Jahrhunderts“ zustimmend die Ansicht, „daß jedes Kulturvolk im Rechtsleben einen Wandel durchläuft, den Wandel von einem konkretanschaulichen, im Volksbewußtsein lebenden Recht zu einem abstrakt-gelehrten, das der rationalen Nachprüfung zugänglich ist.“ Lange, Die Consilien des Baldus (wie Anm. 6), S. 5.
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des gemeinen Rechts reichsgesetzlich verlangt, stärker fragen, was etwa in Konsilien an Rechtsinhaltlichem zum Vorschein kommt, worauf sich die rationale analytische Gedankenführung stützte, wie sich eine derartige juristische Gedankenarbeit empirisch anhand von fallbezogenen Rechtsproblemen in der Praxis bewährte und was ihre Resultate in der Anschaulichkeit konkreter Lebenswirklichkeit waren. Es schadet nicht, die durch die Rezeption bewirkte Rationalisierung unter rechtssoziologischen Erwägungen zu betrachten und zu prüfen, wofür es der Anhaltspunkte über die Konsilien hinaus bedarf. Wieweit Rechtspositionen, die in Konsilien formuliert wurden, die Rechtswirklichkeit tatsächlich gestaltet haben, indem Richter, mit Rechtshonoratioren besetzte Schöffengerichte oder Obrigkeiten ihnen folgten, ist eine zentrale Frage, die aber nach wie vor für das Spätmittelalter nur schwer zu beantworten ist. Das von den gelehrten Juristen angewandte römisch-kanonische Recht war ein geschriebenes und ein rationales, um begriffliche Durchformung, Präzision und Abstraktion bemühtes Recht, das logisch und methodisch mit bestimmten Rechtsprinzipien, Argumentationsformen und Auslegungsregeln interpretiert wurde. Die fallbezogenen Rechtsgutachten (consilia, responsa – Ratschläge, Bedenken, Gutbedünken) und generelle Rechtsauskünfte (informationes) demonstrieren die intellektuelle und diskursive, logisch-methodische Gedankenarbeit und Arbeitsweise der spätmittelalterlichen Juristen nun unmittelbar für die Rechtspraxis.⁷¹ Sie liefern immerhin mögliche Entscheidungsgründe in einer Sache, während die gerichtlichen beim üblichen Fehlen einer Urteilsbegründung so gut wie unbekannt bleiben. Unsere spätmittelalterlichen Juristen,⁷² vorzugsweise hier nun deutsche Juristen, fußten in ihren Konsilien auf dem breiten Fundament der römischen und ka In Auswahl: Ingrid Baumgärtner, Stadtgeschichte und Consilia im italienischen Spätmittelalter. Eine Quellengattung und ihre Möglichkeiten, in: Zeitschrift für Historische Forschung 17 (1990), S. 129–154; dies. (Hrsg.), Consilia im späten Mittelalter. Zum historischen Aussagewert einer Quellengattung. Sigmaringen 1995; Mario Ascheri/Ingrid Baumgärtner/Julius Kirshner (Hrsg.), Legal consulting in the civil law tradition. Berkeley 1999; Mario Ascheri, I „Consilia“ dei giuristi: una fonte per il tardo Medioevo, in: Bulletino dell’Istituto storico italiano per il medio evo 105 (2003), S. 305– 334; knapp trotz der herausgestellten großen Bedeutung der Konsilien Lange/Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter II (wie Anm. 2), S. 396–402; für die frühe Neuzeit grundlegend mit Urteilen über die Gutachtenpraxis bei Juristen selbst ist Falk, Consilia (wie Anm. 41). Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena. Köln/Wien 1974 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 21); Norbert Horn, Soziale Stellung und Funktion der Berufsjuristen in der Frühzeit der Europäischen Rechtswissenschaft, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 4: Rechtsgeschichte, hrsg. von Gerhard Dilcher und Norbert Horn. München 1978, S. 125–144; Thomas Wetzstein, Der Jurist. Bemerkungen zu den distinktiven Merkmalen eines mittelalterlichen Gelehrtenstandes, in: Frank Rexroth (Hrsg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Ostfildern 2010, S. 243–296.
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nonischen Rechtstexte, vor allem der Glosse, den mit Kontroversen behafteten Kommentaren und monografischen Traktaten auch jüngerer Rechtsgelehrter des 15. Jahrhunderts, die wegen der zeitlichen Nähe als Moderni galten, ferner auf Gutachten bekannter Rechtslehrer und speziell der communis opinio doctorum, auf die man sich natürlich berief, die in den Konsilien wie in den erörternden Kommentaren und monografischen Schriften jedoch keine absolute Autorität beanspruchen konnte.⁷³ Auch Entscheidungen der Rota Romana wurden herangezogen. Ferner war der gewohnheitsrechtlich anerkannte stilus curiae (stilus curiae et observantia), das Verfahren an der römischen Kurie und am kaiserlichen Hof pro universali lege oder pro iure zu erachten.⁷⁴ Man sollte sich hinsichlich der von den Juristen benutzten Rechtsquellen und der europäischen rechtswissenschaftlichen Literatur vergegenwärtigen, dass erst allmählich seit dem späteren 15. Jahrhundert gedruckte Werke zur Verfügung standen. Die Gutachter hatten aus alledem Recht und Rechtspositionen zu formen. Die Legalordnung der zentralen Digesten besaß zwar Gesetzeskraft, war aber nicht einfach wie technisch eindeutige und vollständig formulierte Gesetze handhabbar und bestand neben den Juristenschriften aus weiteren heterogenen Rechtsquellen. Sie war nicht zur Gänze zweifelsfrei autoritativ, enthielt Vieldeutigkeiten, Widersprüche und Kontroversen der Juristen. Ähnlich verhielt es sich mit der gesamten Rechtsmasse der mehrschichtigen und qualitativ verschiedenen, in sich zuweilen widersprüchlichen und gegensätzlichen Kompilation des Corpus iuris. Aus den Digestentexten mussten die Juristen wie aus den päpstlichen Reskripten im Dekretalenrecht die rechtlichen Dispositionen herauspräparieren, was allerdings vielfach nicht sehr schwer war. Rechtsprinzipien wurden auch aus Rechtsgebieten entnommen, die materiellrechtlich nicht für den zu erörternden Fall einschlägig waren, wie etwa aus dem römischen Vormundschaftsrecht (Cod. 5.59.5.2) die berühmte aus dem ursprünglichen Kontext gelöste, schließlich verfassungspolitische Maxime quod omnes tangit, die auch in das kanonische Recht des Liber sextus (VI 5.13.29) einging, wonach sie meistens allegiert wurde.
Koschaker, Europa und das römische Recht (wie Anm. 4), S. 91 f.; Falk, Consilia (wie Anm. 41), S. 243, 250, passim; Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 14, 47, 55 f., 97, passim; Susanne Lepsius, Art. ‚Communis opinio doctorum‘, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 875–877. Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (wie Anm. 18), S. 360; ders., Der römischdeutsche König und „imperator modernus“ als „monarcha“ und „princeps“ in Traktaten und in deutschen Konsilien des 15./16. Jahrhunderts, in: „Panta rei“. Studi dedicati a Manlio Bellomo, a cura di Orazio Condorelli, Tomo III. Roma 2004, S. 15–79 (hier S. 43 f.).
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4 Formen der Konsilien und Methodenfragen 4.1 Formen der Konsilien Die Konsilien der gelehrten Juristen, erstattet mit einem ‚Lob Gottes‘ oder einer Anrufung Gottes, Jesu oder Mariens und vorbehaltlich eines ‚besseren Konsiliums‘ oder einer ‚besseren Meinung‘, sind in einem leicht variierten Schema auf der Grundlage des auch in Deutschland herrschenden italienischen Brauchs (mos italicus) scholastisch nach These und Gegenthese aufgebaut. Sie präsentieren entsprechend den Mitteilungen des Auftraggebers den Sachverhalt oder Tathergang, die species facti. Die sich daraus ergebenden Rechtsfragen, die einzelnen Fragstücke (quaestiones oder dubia), werden entweder vom Auftraggeber nach seinem Interesse vorgelegt (‚es wird gefragt, ob‘) oder vom Gutachter anhand der Fallbeschreibung selbständig entwickelt. Der Gutachter führt sodann in der einfachen Form die Zweifelsgründe (rationes dubitandi) an, das sind die Gründe, die gegen die von ihm dann eingenommenen Positionen sprechen, also Rechtssätze, auf die sich die Gegenpartei berief oder sich berufen könnte,⁷⁵ um daraufhin (in contrarium) seine für die anstehende Rechtssache maßgebenden Entscheidungsgründe, die rationes decidendi, gegen die Zweifelsgründe Punkt für Punkt geltend zu machen. Wurden die rationes decidendi den rationes dubitandi nur gegenübergestellt, so erfolgte in einem dritten Schritt eine spezielle confutatio [refutatio] rationum dubitandi, die Widerlegung der scheinbar entgegenstehenden Erwägungen (ad objectiones), um dann erst zu der solutio quaestionis oder dem conclusum (‚Schlussmeinung‘) zu gelangen.⁷⁶ Gegenüber der Obrigkeit unterließen es die Stadtjuristen häufig, dezidierte Schlussfolgerungen aus ihrer Rechtsbelehrung zu ziehen.
Auch die rationes dubitandi, denen sich der Gutachter nicht anschließen wollte, waren in der Regel anerkannte Rechtssätze, die ihm aber im gegenwärtigen Fall nicht einschlägig erschienen. In einem anderen Fall konnten sie durchaus zum Zuge kommen. Durch diese rationes dubitandi entstand deshalb gewissermaßen ein Überschuss an juristischer Information. Kürzere Konsilien beginnen bei bekannter Aktenlage ohne Fallerzählung mit einem vorangestellten Ergebnis und Praemissionen (praemitto primo, secundo …), mehr allgemein gehaltenen Erörterungen zu den Rechtsfragen eines Prozesses, sodann folgen die Anwendung der Praemissionen auf den in Frage stehenden Fall unter gleichzeitiger Beweiswürdigung und das bereits eingangs festgestellte Ergebnis. Zeller, Der Jurist und Humanist Martin Prenninger (wie Anm. 42), S. 136 f.
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4.2 Methoden, Regeln und argumenta der Interpretation Die Konsilien enthalten und demonstrieren die juristischen Interpretationsmethoden und Auslegungsregeln,⁷⁷ indem sie Ausführungen zur aktiven, passiven, restriktiven und extensiven Interpretation von Statuten machen,⁷⁸ die eigentliche oder erweiterte Bedeutung (significatio) der Wörter und Begriffe erörtern, nach Meinung (mens), Sinn (sensus), Absicht (intentio), Grund und Zweck (ratio) oder mit der aristotelischen Ontologie nach der causa impulsiva [compulsiva, efficiens] et finalis, der bewirkenden und zweckbestimmten Ursache hinsichtlich einer rechtlichen Anordnung (dispositio iuris) fragen.⁷⁹ Die Wörter müssen in ihrer eigentlichen Bedeutung (propria significatio) ohne Erweiterung aufgefaßt werden,⁸⁰ die Tragweite von Worten ist auf ihre Ratio (id quod rationis) einzuschränken (Dig. 27.5.6)⁸¹. Gesetzesworte sind so auszulegen, dass Grausames (inhumanum) und Widersinniges (absurdum) vermieden wird (Cod. 6.30.22.9).⁸² Bei einer missverständlichen Rede ist primär auf die Absicht dessen zu achten, der sie geäußert hat; im Allgemeinen ist mehr auf den Willen als auf die Worte abzustellen (Dig. 50.16.6.1).⁸³ Der klare Sinn der Worte kann aus dem vorausgehenden und dem nachfolgenden Text ermittelt werden (Dig. 2.14.39, Glosse).⁸⁴ Die Bedeutung eines Wortes wird durch den Zeitpunkt, auf den es bezogen ist, mitbestimmt (Dig. 9.4.4.1).⁸⁵ Eine allgemeine Wendung ist durch eine im selben Zu-
Die folgenden Methoden und Regeln sind den benutzten Konsilien entnommen. Allgemein: Manlio Bellomo (Hrsg.), Die Kunst der Disputation. Probleme der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung im 13. und 14. Jahrhundert. München 1997 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 38); Lange/Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter II (wie Anm. 2), S. 6–8 („Methodisches“); Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933). 2. Aufl. München 2012. Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 124 f. In beispielhafter Weise werden diese Begriffe und Elemente in Abfolge in einem Gutachten des Mainzer Kanzlers Dr. legum Georg Pfeffer von 1467/68 für den Nürnberger Rat in der Causa Anton Paumgartner in einer Interpretation der Frankfurter Reichsfriedensordnung von 1442 (Reformatio Friderici) und von cap. XVII der Goldenen Bulle Karls IV. von 1365 im Hinblick auf den Gewaltbegriff aufgeführt. Germanisches Nationalmuseum, Archiv. Reichsstadt Nürnberg XVIII, Pirckheimer Nr. 2, fol. 2r–5v (hier fol. 4rv). Als Beispiel wird angeführt: Persona intelligitur de persona vera et non ficta siue representata, vt in c. graue de prebendis [X 3.5.29]; ebd., fol. 3r. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 35. Ebd., S. 35. Ebd., S. 90. Ebd., S. 90. Ebd., S. 203.
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sammenhang gebrauchte speziellere zu interpretieren.⁸⁶ Bei der Interpretation der Willenserklärung einer Partei geht es um die Bedeutung von Wörtern, Begriffen und der syntaktischen Logik der gebrauchten Formulierung sowie um die Ermittlung der einschlägigen Rechtsnorm.⁸⁷ Die rechtliche Disposition gilt nur, wie der Mainzer Kanzler Dr. Pfeffer in einem Gutachten ausführt, für die bestimmten per modum demonstrationis als causa dispositionis fundierten und ausgedrückten Fälle und kann nicht auf andere ähnliche Fälle ausgedehnt werden, wie dies per similitudinem rationis ⁸⁸ bei einer materia favorabilis möglich ist, oder gar contra verba, mentem et intencionem disponentis aliter quam verba sonent, cum verba in proprio eorum significatu sint recipienda ⁸⁹. Mehr als die Worte sind der Wille, die Intention und Ratio hinsichtlich der Anordnung des Gesetzes zu beachten;⁹⁰ sie gehen bereits aus dem Anfang des Gesetzes, urkundentechnisch gesprochen der Arenga, hervor.⁹¹ Die Disposition in strafrechtlichen Materien ist gemäß dem beabsichtigten Sinn und der willensmäßigen Intention auszuweiten oder einzuschränken. Zu den Auslegungsprinzipien gehören die Billigkeit, da jedes Gesetz allgemein gefasst ist und nicht die besonderen
Ebd., S. 212. Ein instruktives Beispiel ist die analytische Erörterung eines angeblichen Eheversprechens in einem Gutachten des Martin Prenninger. Consiliorum sive responsorum D. Martini Uranii cog. Prenninger […] ed. Friedrich Prenninger. Tomus III, Frankfurt (Main), Consilium I: De Matrimoniis, S. 83 f. Besprochen bei Zeller, Der Jurist und Humanist Martin Prenninger (wie Anm. 42), S. 140–144, vgl. S. 190 f. (Text des Konsiliums). Zu Prenningers Kreis kirchlicher, adliger und städtischer Auftraggeber siehe S. 121–123. Prenninger war mit schätzungsweise hochgerechnet etwa 500 Gutachten (etwa über 300 bereits Ende 1492) in einem Zeitraum von spätestens 1487 bis 1501 äußerst produktiv. Ebd., S. 112. Baldus blieb mit seinen über 2.500 Konsilien unerreicht. Germanisches Nationalmuseum, Archiv. Reichsstadt Nürnberg XVIII, Pirckheimer Nr. 2, fol. 3v; Dig. 24.3.64.9, fol. 3r. Ebd., fol. 3v. […] dicunt nam iura mentem et sensum plus quam verba spectanda vnde verba constitucionis siue legis generalia si ex generalitate verborum resultorem prauus intellectus uel iurium correctio possunt verba legis uel statuti offendi sententia et mente legis retenda. Est n. attendenda mens et ratio constitucionis, qua mouit uel mouere potuit disponentem uel statuentem, vt et ibi sit locus legis uel disposicionis, quae ratione et mente deficiente et ipsa disposicio uel lex cessat, vt l. credendum 2o §o ff. qui peta[nt tutores et curatores] [Dig. 26.6.4], debet n. in dispositionibus magis attendi uoluntas, mens, intencio et ratio constitucionis quam verba vt in § disponat in Authentico de nup[tiis] [Nov. 22.2 (i. p.)], quia verba ad mentem et rationem legis siue disposicionis trahi debet, non e contra […]. Ebd., fol. 4r. Vgl. C.1 q.1 c.64; Dig. 31.1.77.20; ebd., fol. 3v. – C.1 q.1 c.64: Nec putemus in uerbis scripturarum esse euangelium, sed in sensu; […] non in sermonum foliis, sed in radice rationis. […] preterea quale principium legis est uel constitucionis, talis est tota lex uel constitucio […]. Germanisches Nationalmuseum, Archiv. Reichsstadt Nürnberg XVIII, Pirckheimer Nr. 2, fol. 4r.
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Umstände des Einzelfalls enthält, die feste Ortsgewohnheit als optima legum interpres (Dig. 1.3.37) und die communis opinio der Rechtsgelehrten.⁹² Die Konsilien enthalten für die Argumentation (modus arguendi) schlussfolgernde topische Argumente (argumenta oder loci) wie etwa das ‚argumentum a fortiori‘ (Erst-recht-Schluss), das ‚argumentum a simili‘ (Analogieschluss), als Gegenstück zur Analogie das ‚argumentum e contrario [sensu]‘ (Umkehr-/Ungleichheitsschluss) oder das ‚argumentum ab absurdo‘, das von dem unsinnigen Ergebnis auf die falsche Auslegung schließt. Unterschieden wird zwischen einer extensiven Interpretation bei Günstigem (materia favorabilis) und einer restriktiven bei Belastendem oder Nachteiligem (materia odiosa)⁹³ oder bei einer Strafsache (materia poenalis). In Strafsachen waren die Strafen der Satzungen in der Auslegung zu mildern und nicht zu verschärfen: In poenalibus causis benignius interpretandum est (Dig. 50.17.155.2).⁹⁴ Handlungen, über die Zweifel bestehen, sind nach der guten Seite hin zu interpretieren.⁹⁵ Die Gutachter arbeiten mit Legaldefinitionen, Rechtsprinzipien, mit Rechtskraft ausgestatteten Rechtsregeln (regulae iuris), Maximen und in großem Umfang mit Rechtsvermutungen (praesumptiones), die widerlegbar sind, aber die Beweislast verschieben. Brocarda, Sammlungen von Paaren kurzgefasster, einander widersprechender Argumente mit Belegstellen, mochten einen Fundus für die Formulierung von Standpunkten bieten. Die Juristen ordnen in ihren Konsilien die Rechtswelt gemäß der Hierarchie von nicht veränderbarem ‚göttlichem und natürlichem Recht‘, wenig veränderbarem ius gentium als Völkergemeinrecht und dem vom Menschen gesetzten ius positivum, das nach dem Wandel der Zeitläufte und nach Zweckmäßigkeitserwägungen mehr oder weniger leicht verändert oder ersetzt werden kann. Sie erörtern die Bestandskraft des Gewohnheitsrechts gegenüber dem ius commune.⁹⁶ Sie unterscheiden das öffentliche Recht vom Privatrecht im Sinne der römischrechtlichen Unterscheidung im Hinblick auf die Ordnung des Staatswesens (status rei Roma-
Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 90, 114, 203. Vgl. VI 5.13.15; Glosse adiuvandae zu Dig. 28.2.19; Glosse adfici zu Dig. 18.7.7. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 42. Zu den erhöhten Anforderungen im Beweisrecht in Strafsachen und zu dem Satz des römischen Rechts in dubio debemus interpretari in meliorem partem siehe Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 267 f., 265 mit Anmerkungen. […] nequaquam in malam partem interpretandi ymo si essent actus qui in dubio possent interpretari in bonam et in malam partem nichilominus essent interpretandi in meliorem partem, vt est tex[tus] notatus in [X 5.41.2], et proteruus esset qui interpretaretur in malam partem presertim in penis imponendis quia odia restringi et fauores conuenit ampliari, vt notatur in [X 5.41.2 et in VI 5.reg.], cum si facit optime [C.11 q.3 c.14]. Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nünberg. Ratschlagbücher, Nr. 3*, fol. 308v. Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 125.
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nae) – oder auf die utilitas publica – und die privatrechtliche utilitas singulorum (Inst. 1.1.4). Sie betonen die Notwendigkeit eines sicheren Rechts (ius certum), setzen aber gelegentlich dem strengen, an den Buchstaben des Gesetzes gebundenen Recht (ius strictum), der Härte oder Strenge des Rechts (rigor iuris), dem Formalismus des römischen Rechts oder personalisiert der ‚Schärfe und Subtilität der Rechtsgelehrten‘ die besonders im Kirchenrecht, aber etwa auch von Baldus und dann der humanistischen Jurisprudenz hervorgehobene Billigkeit (aequitas) als innere Gerechtigkeit in Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls im Rahmen des allgemeinen Gesetzes entgegen. Vor allem in Kaufmannssachen soll bei Streitigkeiten ein kurzes außergerichtliches Verfahren (summarie et de plano), ein Verfahren nach Billigkeit (ex aequo et bono), ohne das Getöse und die Förmlichkeiten des gerichtlichen Verfahrens (sine strepitu et figura iudicii) und ohne juristische Spitzfindigkeiten (sine apicibus iuris) statthaben. Der Rekurs auf die Billigkeit (aequitas, epieikeia) mit den Merkmalen der misericordia und clementia zeichnete das kanonische Recht aus,⁹⁷ war aber auch ein durch christliche Tugenden, römisches Recht und die Philosophie des Aristoteles basierter „Grundton“ und ein Anliegen vor allem, aber nicht nur, der humanistischen Jurisprudenz.⁹⁸ Juristen, zumal humanistischer Provenienz, machten auch das ‚Vernünftige‘, ‚Angemessene‘ und ‚Menschliche‘,⁹⁹ im Strafrecht Nachsicht, Milde und Barmherzigkeit geltend.¹⁰⁰
5 Gegenstände und Rechtsfragen von Konsilien Konsilien betrafen vorherrschend Familien- und Erbrecht und, da es sich vielfach um prozessual ausgetragene Streitigkeiten handelte, fast durchgehend Aspekte des Verfahrensrechts, ferner ziemlich alle weiteren Rechtsgebiete wie Schuld- und Sachenrecht, Verfassungsrecht und Kirchenrecht, aber weniger Strafrecht und noch weniger Kauf- und Handelsrecht. Da es hier nicht möglich ist, auch nur annähernd einen sinnvollen Überblick über die Ergebnisse der Konsiliartätigkeit zu bieten, soll anhand weniger prägnanter Beispiele gezeigt werden, was in Archiven und Bibliotheken an Unbekanntem verborgen lag, darunter einiges, was noch keinen
Eugen Wohlhaupter, Aequitas canonica. Paderborn 1931. Falk, Consilia (wie Anm. 41), S. 415; vgl. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 38–44; Norbert Horn, Aequitas in den Lehren des Baldus. Köln 1968 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 11). Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 39. Siehe unten, S. 77 f.
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Eingang in übergreifende rechtshistorische und historische Darstellungen gefunden hat und nach Lage der Dinge so leicht kaum finden wird. Zur Demonstration einiger weniger aus Konsilien gewonnener Erkenntnisse sollen Stichworte dienen wie Rechtsform, Prozessrecht, richterliches Wissen, Zeugen und Beweis, kaiserliche potestas absoluta, kommunales Selbstverwaltungsrecht, Folter, Gewaltverbot sowie Freiheit und Würde des Menschen als Rechtsprinzipien.
5.1 Juristische Metamorphosen einer zentralen Rechtsform: Das Privileg Verschiedene Aspekte einer einfallsreichen juristischen Gedankenarbeit können am Beispiel von Konsilien zu Privilegien demonstriert werden, die vom übergeordneten Herrscher einzelnen Personen, Herren, Fürsten oder Korporationen bis hin zu Städten gewährt wurden. Es stellten sich Fragen nach der Entziehbarkeit von Privilegien, deren Erlöschen beim Tod des Privilegiengebers, einer möglichen Dauerwirkung über dessen Tod hinaus, ferner ihrer Auslegung und ihrer Rechtswirkung gegenüber Dritten. Die Konsilien zeigen insbesondere auch das Transitorische im Recht, die Veränderung der Rechtsnatur und den Übergang von einer Rechtsfigur in eine andere.¹⁰¹ Als reiner voraussetzungsloser Gnadenerweis (indultum) ist das Privileg entziehbar und endet an sich mit dem Tod des Privilegiengebers. Speziellen Umständen entsprechend kann es eine nicht widerrufbare Schenkung (donatio) darstellen. Wenn es auf vorgängigen Leistungen des Empfängers beruht, kann es sich als nicht einseitig kündbarer Vertrag (pactum) erweisen. Im Falle besonderer Leistungen, die über jedes geschuldete Maß hinausgehen, kann das Privileg als ein nur aus besonderen schwerwiegenden Gründen wie etwa des ‚gemeinen Nutzens‘ (utilitas publica) entziehbares wohlerworbenes Recht (ius quaesitum) interpretiert werden. Zum Folgenden siehe, gestützt auf Nürnberger und Kölner Konsilien, Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 109–121 (Köln), 134–171 (Nürnberg). Benutzt wurden die Kölner Konsilien in der Edition von Kohler/Liesegang, Das Römische Recht (wie Anm. 45), Nr. I–IV, VII–XI, für die Nürnberger Konsilien die Nürnberger ‚Ratschlagbücher‘. Zum Begriff des Privilegs als einer „Tarnform“, die den Schein eines Gnadenerweises erweckt, etwa für Reichsgesetze des Mittelalters, siehe Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland. 2. Aufl. Göttingen 1958 (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 24), S. 41. Vgl. auch Heinz Mohnhaupt, Die Unendlichkeit des Privilegienbegriffs. Zur Einführung in das Tagungsthema, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1997 (Ius commune. Sonderhefte, Bd. 93), S. 1–11; ders., Erteilung und Widerruf von Privilegien nach der gemeinrechtlichen Lehre vom 16. bis 19. Jahrhundert, ebd., S. 93–121.
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Was die fragliche Dauergeltung eines Privilegs anlangt, so unterschied man von dem persönlichen Privileg dasjenige, das einer unsterblichen Korporation wie der Stadt verliehen wurde und ein dauerhaftes privilegium reale darstellt. Gegen das Erlöschen des Privilegs beim Tode des Herrschers machten Kölner Juristen zugunsten landesherrlicher Städte das erbrechtliche Argument geltend, dass der neue Herrscher durch Universalsukzession bei gleichzeitiger fiktiver Personenidentität vollständig in die Rechte und Pflichten des verstorbenen Vorgängers eintrete. Das konnte allerdings nicht für den König gelten, der gewählt wurde, sodass sich Privilegieninhaber, insbesondere die Reichsstädte, ihre Privilegien (gegen Geld) vom neuen Herrscher bestätigen ließen. Einer Fortdauer der Geltung über den Tod des Privilegiengebers hinaus stand ferner der Satz par in parem non habet imperium ¹⁰² entgegen, doch banden Könige seit etwa Karl IV. in den Urkunden häufig dennoch zugleich ihre Nachfolger. Könige konnten aber aufgrund ihrer Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis), ausgedrückt durch eine derogatorische Klausel, gewährte Privilegien wieder zurücknehmen. Die bereits angeführten Konsilien aus Paris und Lübeck für die Stadt Elbing von 1300 nannten für die Interpretation von Privilegien folgende Regeln: Die Wohltat (beneficium i. e. privilegium) eines Fürsten sei zum Nutzen des Empfängers und zum Nachteil des Gewährenden weitestgehend (latissime) auszulegen,¹⁰³ und die gebrauchten Worte müssten bei der Bestimmung des Umfangs der Privilegien, die von Fürsten und Herrschenden gewährt werden, etwas im höchsten Maße bewirken.¹⁰⁴ Auch andere Juristen brachten als rechtsspezifische Auslegungsregel vor, dass auf Privilegien zugunsten des Empfängers eine weitgehende oder weitestgehende Auslegung anzuwenden sei, eine interpretatio larga oder gar largissima, sogar zum Nachteil des Privilegiengebers.¹⁰⁵ Doch schloss später etwa Bonifacius Amerbach aus der Rechtsnatur des Privilegs als eines dem gemeinen Recht vorgehenden Sonderrechts, dass im Zweifel Privilegien ‚strikt und einschränkend‘ und nicht late oder ‚weitschweifig‘ auszulegen seien (Cod. 3.28.35.pr), doch nicht so einengend, dass sie keine Wirkung mehr zu entfalten vermöchten (Dig. 30.109; Dig. 50.1.1). Er konzedierte eine grundsätzliche Geltungsdauer, solange etwa eine Stadt wie Basel Bestand hatte.¹⁰⁶
Dig. 36.1.13.4; Dig. 4.8.3.4; Dig. 4.8.4. Codex diplomaticus (wie Anm. 48), Nr. 108, S. 18, Nr. 116, S. 199. Ebd., Nr. 108, S. 185. Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 118; ders., Der römisch-deutsche König (wie Anm. 74), S. 42, Anm. 99. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 50.
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5.2 Verfahrenselemente Informationes und Konsilien Nürnberger Juristen hatten vielfach Elemente des Prozessrechts zum Gegenstand. Sie betrafen den ‚Rechtssatz‘ (petitio sententiae) und die conclusio, die Einrede (exceptio) und den Einredeverzicht (renuntiatio), die Litiskontestation, hinsichtlich der Appellation den Kalumnieneid, Apostelbriefe (Abschiedsbriefe), Notfristen (fatales), den lapsus primi anni, das Attentations- und Innovationsverbot, das Supplikationsverbot bei Rechtshängigkeit und Inhibitorien, die den Suspensiveffekt der Appellation sicherten, ferner die Rekusation des Richters, den richterlichen Klagezwang, die Zeugen und das Beweisrecht. Eine erhebliche Rolle spielten Fragen zum verwillkürten Schiedsgericht und Schiedsvertrag (compromissum). So war es angesichts des vereinbarten Appellationsverbots die Frage, ob es dennoch die vorhandene Möglichkeit eines Rekurses im Wege einer reductio ad arbitrium boni viri gab oder den Rechtsbehelf gegen schiedsgerichtliche Urteile durch Supplikation an den Kaiser bei ‚Beschwer‘ (gravamen), einer enorma et gravissima laesio und großer Härte (iniquitas).¹⁰⁷
5.3 Philosophisch-juristische Erkenntnistheorie: Zweifel, Überzeugung und Wissen Die Rationalität juristisch-methodischen Denkens kommt in eindringlicher Weise zum Ausdruck, wenn fundamentale erkenntnistheoretische und methodische Fragen diskursiv in ihrem inneren Zusammenhang erörtert wurden. So äußerte sich der Nürnberger Ratsjurist Dr. Seyfrid Plaghal in einem informativen Gutachten mit dem marginalen Rubrum De scire et scientia unter Bezugnahme auf die „Metaphysik“, die „Analytica Posteriora“ und die „Physik“ des Aristoteles zu drei verschiedenen Formen des Wissens: Erstens zu der höchsten Form des Wissens, dem kausalen scire propter quid, der Darlegung, warum etwas so ist, dem Schluss von der Ursache auf die Wirkung; zweitens, und nunmehr auch gestützt auf das römischkanonische Recht und die rechtswissenschaftliche Literatur, zu dem juristischprozessualen scire quia, der Darlegung, dass etwas so ist, zu dem auf unmittelbarer menschlicher Sinneswahrnehmung beruhenden Tatsachenwissen, das vor Gericht von den Zeugen erwartet wird. Eine dritte Art von Wissen, das kein unmittelbares eigenes oder offenkundiges Wissen darstelle, entstehe stufenweise mit gestufter Beweiskraft und Sicherheit im Prozessgeschehen durch Argwöhnen oder Ahnen (suspicari), durch Zweifel (dubia) und von den durch Zweifel angeregten Erfor-
Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (wie Anm. 18), S. 355–371.
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schungen (investigationes). Durch die von den Parteien vorgebrachten Argumente und durch schlussfolgernde logische Operationen (silogisare) des Richters werde die Vermutung und Meinung (opinio) schrittweise zur festen Überzeugung (firma credulitas), zum vollen Glauben (plena fides) und schließlich zum unzweifelhaften Wissen (indubitata scientia) gesteigert.¹⁰⁸
5.4 Zeugen und Beweis Derartige erkenntnistheoretische Elemente tauchen in fallbezogenen Konsilien auf, die sich insgesamt umfassend und ausführlich zu den Aufgaben des Richters im Prozess, zu Beweislast und Beweisverfahren sowie zum Zeugnis, zur Zeugenschaft und zum Zeugenverhör im Prozess äußern.¹⁰⁹ Dabei geht es insbesondere darum, durch Fragenkataloge der Parteien, Fragstücke oder Interrogatorien, die Glaubwürdigkeit der vom Streitgegner nominierten Zeugen zu prüfen und zu erschüttern. Die ‚allgemeinen Fragstücke‘ (interrogatoria generalia) sind routinemäßige Fragen zur Person, zu Ehre, Leumund, gesellschaftlicher Reputation, zu den Lebensverhältnissen und der Lebensführung der Zeugen hinsichtlich Subsistenz (‚Nahrung‘), Einkünften, Amts- und Berufstätigkeit. Armut macht verdächtig; gemäß dem römischen Recht ist die Glaubwürdigkeit von Personen geringen sozialen Standes und von Handarbeitern (etwa Zimmerleuten) sehr gering (fides artificum et humilium personarum est parva). Die Zeugen sollen dem Richter oder anderen bekannt sein. Personen, deren Glaubwürdigkeit, Lebensführung und personenrechtlicher Status (‚Freiheit‘) unbekannt sind (ignoti), ist, zumal wenn sie sich ohne Zwang als Zeugen aufdrängen, ohne ‚Marter‘ nicht zu glauben. Hinzu kommen Test- oder auch Fangfragen zur Aufdeckung einer vorhandenen Parteilichkeit und zum Rechtsbewusstsein des Zeugen sowie zur Herkunft seines Tatsachenwissens. Der Richter oder derjenige, der das Zeugenverhör vornimmt, muss, selbst wenn dies in Interrogatorien der Parteien nicht enthalten ist, die Umstände und Ursachen
Isenmann, Zur Rezeption des römisch-kanonischen Rechts (wie Anm. 40), S. 219; ders., Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (wie Anm. 18), S. 372. Das ganze Gutachten wird demnächst mit allen Allegationen veröffentlicht. Zu Ausführungen des Bartolus siehe Susanne Lepsius, Der Richter und die Zeugen. Eine Untersuchung anhand des „Tractatus testimoniorum“ des Bartolus von Sassoferrato. Mit Edition. Frankfurt a. M. 2003 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 158); dies., Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato. Frankfurt a. M. 2003 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 160). Zum Folgenden siehe auf der Grundlage Nürnberger und Kölner Konsilien mit den zentralen Allegationen Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (wie Anm. 18), S. 372–404.
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der Aussagen hinsichtlich der Personen, des Ortes, der Zeit, des Hörens,Wissens, der Glaubwürdigkeit, des Leumunds der Zeugen und der Gewissheit der Aussage erfragen. Ganz allgemein soll der Zeuge nach dem gefragt werden, was geeignet ist, ihn zu verwerfen, und nach den Dingen, welche die Willensrichtung im Denken (animus) des Richters bei der Urteilsfindung bewegen. Zu den Ursachen, welche die Glaubwürdigkeit des Zeugen im Herzen des Richters mindern, zählen auch physiognomische Eigenheiten und psychomotorische Störungen des Zeugen beim Vorgang der Aussage. Unter Berufung auf Cicero, Ovid und das römische Recht wird ausgeführt, der Richter solle darauf achten, ob der Zeuge bei seiner Aussage sich stimmlich gehemmt artikuliere, zittere, schwitze oder unter den Augen erbleiche, im Vortrag heftig tremoliere oder stammle. Der Zeuge soll sich nicht weitergehend äußern, als er gefragt wird, und nicht viele Worte machen, sonst wird er für suspekt und parteiisch gehalten. Zeugen müssen in ihren Aussagen fest und standhaft sein. Wer unstet ist, hat keinen Glauben, während Zeugen nicht ‚vollständig‘ sind, wenn sie in ihrer Aussage schwanken. Testimonia sind in ihren kategorialen Ausprägungen entweder apertissima, confusissima oder in ihrer Beweiskraft nulla. Das Zeugnis muß ‚klar‘, ‚rein‘ und ‚einträchtig‘ sein. Eine Beweisart ist auch eine ‚vollständige und kräftige Vermutung‘, die nur durch ein völlig offenkundiges Zeugnis (apertissimum testimonium), das in keinem seiner Teile zweifelhaft ist, überwunden werden kann. Durch Zeugen kann man nicht beweisen, etwas nicht getan zu haben, sondern nur – im Sinne eines Alibis –, dass man etwas zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort nicht getan habe. Der Richter muss daher ein Erbieten, eine einfache Unschuldsbehauptung ohne Angabe derartiger Umstände zu beweisen, als unbeweisbar ablehnen. Zur Zuverlässigkeit von Zeitangaben wird ausgeführt, dass vor allem die Glocken auf dem Lande von Dorf zu Dorf ungenau und oft zeitlich versetzt läuteten, eine Zeitbestimmung nach dem Sonnenstand auch bei sehr guter Beobachtung leicht um zwei oder drei Stunden fehlgehen könne, bei mangelnder Sorgfalt um noch mehr. Die Bestimmung der Zeitdauer nach dem ‚menschlichen Sinn‘, das heißt dem subjektiven Zeitempfinden, sei völlig unsicher und untauglich, denn zwei oder drei Stunden erscheinen beim Spiel, beim Wein oder beim Scherzen und im Gespräch nicht so lang wie in der Kirche, während der Priester die Messe liest. Die Angabe ‚um die Mittagszeit‘ etwa im Falle eines Totschlags darf der Richter wegen der Ungenauigkeit und Dehnbarkeit nicht für die Beweisführung gelten lassen, da man sich in diesem vagen Zeitraum an unterschiedlichen nahen Orten zum Tatort aufhalten kann; es muss sich daher für den Unschuldsbeweis um einen weit entfernten Ort handeln. Zur Beweisqualität wird die Metaphorik des römischen und des kanonischen Rechts angeführt, wonach der Beweis in schweren Sachen heller sein müsse als die Sonne zur Mittagszeit (Cod. 4.19.25; C.2 q.8 c.2); deshalb reiche
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es, wo es eines klaren Beweises bedürfe, nicht aus, Indizien vorzubringen. Eine Tatsachenerklärung mit dem Wörtlein um beinhaltet nichts Gewisses, sodass die Zeugenaussage unklar ist. Ein ‚lauterer‘ Beweis ist ein ‚unbezweifelbarer‘ Beweis, weil nichts erscheint, was Zweifel hervorrufen könnte. Von den Beweisarten überwindet der Beweis durch Augenschein alle anderen. Es muss sich bei den Zeugenaussagen um eigene körperliche Sinneswahrnehmungen handeln, deshalb muss auch der Grund für ein Wissen angegeben werden; das bloße Hörensagen genügt nicht. Es darf sich auch nicht um testes singulares ohne Mitzeugen handeln. Zu den Beweisregeln gehört, dass dasjenige, das nicht wahrscheinlich ist, nicht vermutet werden kann. Handlungen, über die Zweifel bestehen, sind nach der besseren Seite hin zu interpretieren, doch gilt auch die Regel semel malus semper presumitur malus. Lügen in einem Punkt und ein wenig ‚Falschheit‘ machen das ganze Zeugnis wertlos. Wer der anderen Partei ihre Zeugen arglistig abspenstig macht und sie zu einer Falschaussage veranlaßt, soll die Sache verlieren. Die Beweisführung darf keinen defectus conclusionis enthalten und muss mit ‚notwendigerweise wahr‘ oder mit ‚vermutlich‘ schließen.
5.5 Der spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Absolutismus im römisch-deutschen Reich und seine juristische Einhegung Der Ausdruck ‚kaiserliches Recht‘ stellt einen Geltungs- und Herrschaftsbezug zwischen dem römischen Recht und dem römisch-deutschen Kaiser her. In Konsilien tauchen verfassungsrechtliche Diskurse auf, die dem Kaiser die Rechts- und Willensmacht des spätantiken Princeps und Imperators zuerkennen, zugleich aber die Ausübung an Regeln und Recht binden, sodass die Frage entsteht, ob es insoweit vielleicht Elemente einer spezifisch mittelalterlich-frühneuzeitlichen Rechtsstaatlichkeit gegeben hat.¹¹⁰ Deutsche Juristen legten im 15. Jahrhundert in Konsilien immer wieder dar, dass der römisch-deutsche König und Kaiser neben seiner an das Zum Folgenden siehe eingehend Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 563–603; ders., Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 210–216; ders., Der römisch-deutsche König (wie Anm. 74), S. 36–76; ders., König oder Monarch? Aspekte der Regierung und Verfassung des römisch-deutschen Reichs um die Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Rainer C. Schwinges/ Christian Hesse/Peter Moraw (Hrsg.), Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur. München 2006 (Historische Zeitschrift, Beiheft 40), S. 71–98 (hier S. 83–89); ders., „Plenitudo potestatis“ und Delegation. Die höhere und die höchste Gewalt in Rechtsgutachten vornehmlich für deutsche Städte in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni (Hrsg.), Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Bd. 3: Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne. Bologna/Berlin 2009 (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge, Bd. 25), S. 197–241 (hier S. 199–238).
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Recht gebundenen ordinaria potestas, seiner ordentlichen Amtsgewalt, gemäß der römischrechtlichen Formel Ulpians als Princeps legibus solutus (Dig. 1.3.31) wie der Papst über eine absoluta potestas verfüge und menschliche Gesetze in Teilen oder ganz abschaffen, von ihnen dispensieren und neue Gesetze erlassen könne.¹¹¹ Nicht jedoch gelte freilich diese Rechtsmacht hinsichtlich des göttlichen und natürlichen Rechts sowie des Völkergemeinrechts (ius gentium). Andererseits hatte der antike römische Kaiser in der Konstitution Digna vox (Cod. 1.14.4) betont, dass er sich an Gesetze halten wolle, allerdings nicht rechtsnotwendig, sondern aus ‚Menschlichkeit‘ oder ‚Ehrbarkeit‘, ex humanitate oder ex honestate. Es war aber nicht zu bestreiten, dass der Kaiser eine absoluta potestas besaß, deren Inanspruchnahme mit den Klauseln ‚aus Machtvollkommenheit‘ (ex plenitudine potestatis), ‚aus sicherem Wissen‘ (ex certa scientia), ‚aus eigenem Bewegen‘ (motu proprio) oder ‚ungeachtet entgegenstehender Rechte‘ (non obstante) ausgedrückt wurde. Dies geschah in Mandaten und in Reskripten, das heißt Einzelverfügungen des Kaisers zu Eingaben einzelner Personen und von Korporationen, die ihn als den ‚Oberen‘ (superior) mehr oder weniger korrekt von ihrem Begehren, der vorgelegten Sache und deren rechtlich relevanten Umständen unterrichteten. Die Rechtsbeständigkeit der kaiserlichen Verfügung war von dem Wahrheitsgehalt des Parteivorbringens abhängig, sodass der Kaiser bei falscher oder unzureichender Unterrichtung ohne Autoritätsverlust seine Entscheidung revidieren konnte. Diese Herrschaft auf Distanz per Reskript war eine römisch-kanonische Regierungslehre im Hinblick auf den Kaiser und den Papst, die auf den drei konstitutiven Elementen von vorgetragener Sache (causa) sowie der Amtsgewalt (potestas) und dem Willen (voluntas) des die vorgebrachte Sache – tatsächlich oder fiktiv – persönlich erwägenden und entscheidenden Oberen beruhte. Anhand der Urkundenklauseln konnte juristisch ein fiktiver Wille des räumlich entfernten Kaisers konstruiert werden, der solange galt, bis der real existierende Kaiser in einem erneuten Reskript oder Mandat seinen realen Willen kundtat. In der juristischen Erörterung der potestas absoluta des Papstes und des Kaisers im Spätmittelalter liegt der Rechts- und Verfassungsbegriff des ‚Absolutismus‘ begründet. Im römisch-deutschen Reich erfolgte die Auseinandersetzung mit dem Begriff der ‚potestas absoluta‘ und seiner Einschränkungen hinsichtlich des Kaisers als der höchsten Gewalt im 15. Jahrhundert in mehreren Konsilien und in ausgesprochen diskursiver Weise. Insbesondere geschieht dies in einem Konsilium des Dr. legum Georg Pfeffer, Kanzler des Mainzer Erzbischofs, für den Nürnberger Rat von Der Rat weitgehend autonomer Städte nahm freilich für seine friedens- und ordnungspolitische Gesetzgebung, wie Kaiser und Papst, aufgrund seiner plena potestas‚ seiner vollen gewalt, ein Recht der De- und Abrogation seiner Satzungen und das Recht, neue zu erlassen, in Anspruch. Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht (wie Anm. 12), S. 57–76.
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1468/69 zur Konfirmation eines etwas dubiosen Vertrags des Rats mit den Paumgartnern durch Kaiser Friedrich III. im Jahre 1456. In juristisch-fiktiver Anschaulichkeit stellt der Jurist – gestützt auf den Wortlaut der Konfirmationsurkunde und konform zu der Reskript- und Regierungslehre des römisch-kanonischen Rechts – vor Augen, wie dem Kaiser die Vertragsurkunde übergeben wird, worauf dieser die von beiden Parteien gesiegelte Urkunde in Augenschein nimmt, den Inhalt reiflich erwägt und – idealiter – nicht auf die Anregung oder das Drängen einer Partei hin, sondern aus rechtem Wissen und aus seiner Machtvollkommenheit die Urkunde bestätigt, wodurch eventuelle Rechts- und Formmängel geheilt werden.¹¹² Der kaiserliche Fiskal wiederum rechtfertigte 1474 einen massiven Eingriff des Kaisers in ein Kammergerichtsverfahren gegen den Pfalzgrafen mit der kaiserlichen absoluta potestas. ¹¹³ Der verfassungsgeschichtlich fundamentale Sachverhalt der bis etwa 1530 erfolgten Ausformulierung des Absolutismusbegriffs im römisch-deutschen Reich mit den Merkmalen der summa potestas, plenitudo potestatis, potestas legibus (ab)soluta und dem Prinzip der widerrufbaren Delegation von Befugnissen an untergeordnete Gewalten, alles unter der Voraussetzung der Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit der höchsten Gewalt,¹¹⁴ ist trotz der Erschließung einschlägiger archivalischer Konsilien seit mehreren Jahrzehnten und der bestehenden parallelen Forschungen zum Papstreskript nicht auf die Ebene der Verfassungsgeschichtsschreibung und des rechtsgeschichtlichen Sachwörterbuchs gelangt.¹¹⁵ Juristen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stellten im Reich die kaiserliche potestas absoluta als Bestandteil der Reichsverfassung heraus, klärten jedoch zugleich darüber auf, dass, selbst wenn der Kaiser in einer Verfügung seine potestas absoluta in Anspruch nahm und damit bekundete, dass er gegebenenfalls Recht
Isenmann, „Plenitudo potestatis“ und Delegation (wie Anm. 110), S. 225–227. Isenmann, König oder Monarch (wie Anm. 110), S. 86. Zu den bereits in deutschen Konsilien des 15. und frühen 16. Jahrhunderts vorhandenen Elementen des späteren Souveränitätsbegriffs Jean Bodins siehe Isenmann, „Plenitudo potestatis“ und Delegation (wie Anm. 110), S. 236–238. Der französische Rechtshistoriker Jacques Krynen ist der Auffassung, dass Bodin den Begriff der Souveränität systematisiert, ihn dabei aber nur wiederbelebt habe, ohne ihn durch neue Bedeutungen zu erweitern. Es gebe keinen Grund, hinsichtlich der Geschichte der politischen Ideen die alte Trennung zwischen Mittelalter und der Neuzeit fortbestehen zu lassen. Jacques Krynen, Notes sur Bodin, la souveraineté, les juristes médiévaux, in: Pouvoir et liberté. Études offertes à Jacques Mourgeon. Bruxelles 1998, S. 53–66 (hier S. 65 f.). Die Fundierung der Souveränitätsdoktrin Bodins durch die mittelalterliche Jurisprudenz ist dargelegt in Diego Quaglioni, I limiti della sovranità. Il pensiero di Jean Bodin nella cultura politica e giuridica dell’età moderna. Padova 1992, S. 27–80. So fehlt der Sachverhalt etwa gänzlich in den vier Artikeln ‚Absolutismus‘, ‚Kaisertum‘, ‚Königtum‘ und ‚Monarchie‘ in der Neuauflage des repräsentativen „Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte“.
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ändern wolle, dennoch der in seinem Recht Betroffene den in einem Mandat oder Reskript enthaltenen Befehl oder die gesetzesgleiche Resolution keineswegs prompt und automatisch befolgen müsse, sondern durchaus begründete Einwendungen dagegen vorbringen dürfe und wegen der temporären Suspension der Gehorsamsleistung nicht den Tatbestand des Ungehorsams erfülle. Damit formulierten die Juristen ein grundlegendes systemimmanentes Widerspruchsrecht der Untertanen weit unterhalb der Schwelle zum Widerstand: Wer einen Befehl des Oberen, der gegen Recht verstößt, nicht vollziehe, so lehrten sie, tue dem Recht und dem gebietenden Herrscher sogar einen ‚guten Gefallen‘.¹¹⁶ Alle Rechte stellten fest, dass derjenige, der das Gebot seines Oberen durch eine begründete Einrede ‚zum Besseren‘ wendet, nicht für ungehorsam erachtet werde, sondern deswegen Lob und Dank erfahren solle.¹¹⁷ Unter Würdigung der in Einreden vorgebrachten Informationen entscheide dann der Kaiser durch eine ‚zweite Anordnung‘ (secunda iussio) erneut. Ein unbekannter hansischer Jurist stellte im frühen 15. Jahrhundert zur Verdeutlichung der herrscherlichen Revisionsbereitschaft sogar die didaktisch-paradoxale Frage, ob der König zu tadeln sei, der ein rechtswidriges Gebot erlasse, oder nicht vielmehr derjenige, der einen rechtswidrigen Befehl des Königs erfülle, da der König die Gehorsamsleistung in einem solchen Falle doch ausdrücklich untersage.¹¹⁸ Er allegiert wie auch andere Juristen eine Glosse, welche diejenigen geradezu ‚kleinmütig‘ nennt, die es nicht wagten, den Geboten ihrer Oberen zu widersprechen, wenn ihnen etwas Rechtswidriges geboten werde.¹¹⁹ Die absolute Rechtsmacht des Kaisers wurde von Juristen in Konsilien eindeutig herausgestellt, jedoch durch die Vermutung, dass der Kaiser nur seine potestas ordinaria gebrauche, weitere Präsumtionen und die Einbettung in zentrale Rechtsprinzipien eingehegt. Wohl am weitesten ging im frühen 16. Jahrhundert – nach der die Befugnisse des Kaisers einschränkenden Reform des kaiserlichen Kammergerichts von 1495 und vor und nach der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 –
Nürnberger Gutachten für den Rat Nördlingens; Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 566–570, hier S. 569. Entwurf einer Supplikation und Appellation der Stadt Basel an Papst Pius II. und Kaiser Friedrich III. (1462); Isenmann, Reichsstadt und Reich (wie Anm. 51), Anhang Nr. 2, S. 195–201, hier S. 200, vgl. S. 198. Otto Stobbe, Geschichte des deutschen Rechts. Braunschweig 1865, Nr. IX, S. 182 f. (Gutachten in einem Zusammenhang mit einem Hanserezess von 1419); besprochen bei Isenmann, Der römischdeutsche König (wie Anm. 74), S. 48 f. Glosse zu Nov. 17 (De mandatis principum) § sit tibi. Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 569.
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Ulrich Zasius in einigen seiner Konsilien,¹²⁰ gefolgt von Bonifacius Amerbach,¹²¹ bevor von protestantischer Seite Juristen das Reich nicht als Monarchie, sondern als Aristokratie oder gemischte Verfassung klassifizierten.¹²² Mit anderen Rechtsgelehrten stimmt Zasius überein, dass nicht vermutet werde, dass der Papst oder Kaiser etwa durch die Gewährung eines Privilegs das Recht eines davon betroffenen Dritten aufheben wolle. Sei dies aber seine Absicht, so sei das Privileg dennoch nicht rechtsgültig, wenn im Verfahren der Impetration des Privilegs durch eine Partei und der kaiserlichen Entscheidung der Betroffene nicht geladen wurde, denn das Erfordernis der Ladung und die dadurch ermöglichte rechtliche Verteidigung gehörten dem nicht aufhebbaren ius naturale an.¹²³ Der Princeps könne gegen einen nicht geladenen Untertanen zu dessen Schaden nichts entscheiden und die dem Mandat – ohnehin meist im Kanzleistil routinemäßig – eingefügten Klauseln der plenitudo potestatis und der certa scientia bewirkten nichts, wenn durch sie das aufgrund von Natur- oder Völkerrecht erworbene Recht eines Dritten verletzt würde, denn das göttliche Recht und das Naturrecht entwaffneten, wie Baldus sage, machtvoll diese Klauseln.¹²⁴ Ein wohlerworbenes Recht (ius quaesitum) dürfe nicht aufgehoben oder beeinträchtigt werden, wenn dies nicht ein dringlicher Grund des Gemeinwohls (utilitas publica) erforderte und dieser Sachverhalt im Mandat durch geeignete Klauseln ausdrücklich genannt werde. Vor allem rückte Zasius die Gewalt des Princeps oder Kaisers in den Zusammenhang des Rechtsgedankens sowie von Vernunft und Billigkeit. Hinsichtlich der absoluta potestas des Kaisers sei er im Unterschied zu einigen Gelehrten der Auffassung, dass sie sich nicht auf die Rechtsmacht erstrecke, iura privatorum zu
Isenmann, Der römisch-deutsche König (wie Anm. 74), S. 62–73; ders., „Plenitudo potestatis“ und Delegation (wie Anm. 110), S. 232–236. Isenmann, Der römisch-deutsche König (wie Anm. 74), S. 73–76. Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 614–617; ders., Widerstandsrecht und Verfassung (wie Anm. 63), S. 60–62. Udalricus Zasius (Zäsy), Responsorum iuris, siue Consiliorum duos complectens libros. Lugduni 1550, ND Aalen 1966, II. Teil (Opera omnia, ed. Johann Ulrich Zasius und Joachim Münsinger von Frundeck, Bd. 6), consilium X, n. 22–23, Sp. 414. Bonifacius Amerbach führte mit Bezug auf Zasius in einem späteren Gutachten zu der vergleichbaren Klausel caeteris contrariis quibuscunque, hier in päpstlichen Reskripten, die entgegenstehendes Recht außer Kraft setze, aus, sie „halte gegenüber göttlichem oder natürlichem Recht nicht stand; sie könne daher etwa ein Reskript, bei dem die Ladung der Gegenpartei und richterliche Kognition erforderlich gewesen wären, nicht bestätigen oder stützen. Endlich sei sie durch den Kanzleistil so abgegriffen, dass ihre regelmäßige Beifügung in Reskripten, wie Zasius in ähnlichem Zusammenhang bemerke, sich oft als unpassend herausstelle.“ So die Wiedergabe bei Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 186–191 (hier S. 189).
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verletzen. Die Amtsgewalt (potestas) des guten Princeps reiche vielmehr am weitesten, wenn er die Untertanen schütze und die Gerechtigkeit sichere. Die Absicht des Princeps müsse immer auf die Lauterkeit der Gesetze und die Unversehrtheit der natürlichen Vernunft gerichtet sein. Von einer potestas des Princeps will Zasius im Anschluss an Baldus gewissermaßen definitorisch nur dann sprechen, wenn sie gesetzlich, vernünftig und gerecht sei; eine Machtfülle (potentia), die ungerecht ist, erscheine eher als ohnmächtig oder kraftlos. Auch wenn der Princeps die höchste Gewalt (suprema potestas) innehabe, sei diese Gewalt doch von Natur aus vernünftig; und deswegen müsse der Vernunft gehorcht werden. Wie der Princeps die höchste Gewalt besitze, so müsse er als Regel die höchste Ehrbarkeit (summa honestas) und die höchste Billigkeit (summa aequitas) beachten, da vom Haupt die Vernunft (ratio) ausgehe. Der Kaiser habe die Gerechtigkeit zu schützen und müsse daher notwendigerweise gerecht sein. Aus dieser Definition und Wesensbestimmung sowie aus verschiedenen weiteren Gerechtigkeitspostulaten zieht Zasius die gegen einen herrscherlichen Voluntarismus gerichtete Schlussfolgerung, dass niemandem das Seine ohne Vernunftgründe oder sogar gegen die Vernunft, nur nach dem Gutdünken des Willens und der Macht genommen werden könne.
5.6 Kommunales Gesetzgebungs- und Selbstverwaltungsrecht Der bayerische Rat und frühere Nürnberger Ratsjurist Dr. Martin Mair sowie Juristen der Universitäten Köln, Mainz, Wittenberg, Leipzig, Frankfurt an der Oder, Ingolstadt und Basel festigten im 15. und 16. Jahrhundert in Konsilien das Satzungsund Gesetzgebungsrecht von Reichsstädten und Territorialstädten – Duisburg, Nürnberg, Ulm, Breslau, Wesel und (vermutlich) Naumburg – und stärkten damit zentrale korporative Rechte untergeordneter Gewalten.¹²⁵ Gestützt vor allem auf Bartolus und Baldus begründeten sie ein von Wissen, Willen und Konfirmation des Oberen unabhängiges kommunales Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht. Die Gemeinden seien befugt, auf dem Wege von Satzungen das zu regeln, was ihre höchst eigenen Angelegenheiten und Belange sowie die Verwaltung des kommunalen Vermögens zugunsten des Wohls und des Nutzens der Gemeinschaft und der Bürger betraf. Die Rechtsgelehrten hoben das Prinzip der „Betroffenheit“¹²⁶, wie es heute heißt, noch weitergehend hervor, indem sie darlegten, dass auch ein Teil der Isenmann, Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht (wie Anm. 12), S. 162–257. Reinhard Hendler, Das Prinzip Selbstverwaltung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4. Heidelberg 1990, III. Selbstverwaltung, § 106, S. 1139–1143, 1146 f. („Betroffenenverwaltung“, „Betroffenenpartizipation“).
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Bürger Statuten machen könne, die eben jenen Teil beträfen, oder Kaufmannsgilden in Handelsangelegenheiten und ähnliche Vereinigungen entsprechend ihren Belangen. Mainzer und am eindringlichsten Kölner Juristen vollzogen auch den ergänzenden Schritt, indem sie wenig später um 1470 in Konsilien anonymisiert für eine Bischofsstadt des sächsisch-magdeburgischen Rechtskreises (vermutlich Naumburg) das kommunale Selbstverwaltungsrecht gegen Einmischungen des Stadtherrn begründeten.¹²⁷ Der Bischof hatte als Stadtherr das Recht beansprucht, bei der jährlichen Rechnungslegung der Stadt anwesend zu sein.¹²⁸ Die Stadt, die nach Auffassung der Kölner Juristen wie jede erlaubte Körperschaft (licita universitas) gewisser gemeinsamer Güter, Rechte, Renten, Zinse und sonstiger Einkünfte oder eines Geldfonds bedürfe, könne auch von Rechts wegen Defensoren und Administratoren haben und wählen, die im Namen der Stadt diese Vermögen verwalteten, pro necessitate communi eine Beisteuer (collecta) erhoben und daraus einen Fonds (bursa) bildeten sowie im Interesse der Stadt Klagen zur Schuldeneintreibung und in anderen auftretenden Angelegenheiten betrieben. Ohne Bezüge überzustrapazieren, kann gesagt werden, dass es in der mittelalterlichen juristischen Begründung kommunaler Gesetzgebung und Selbstverwaltung deutliche Affinitäten zum heutigen Grundsatz der „Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises“¹²⁹ gibt. Dieser erkennt den Gemeinden das Recht zu, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft wahrzunehmen, worunter nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1988 „diejenigen Bedürfnisse und Interessen“ zu verstehen sind, „die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindebürgern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der Gemeinde betreffen“.¹³⁰ Man kann durchaus sagen, dass zwischen 1460 und 1480 Juristen im Auftrag von Städten in Deutschland zum ersten Mal die Satzungsautonomie und das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden mithilfe des römischen Rechts in fundamentaler Henning Goden, Consilia. Budissinae 1563, Nr. XXX, S. CLXXII–CLXXXI (ohne Datum); Nr. XXXI, S. CLXXXI–CLXXXVI (ohne Datum). Eberhard Isenmann, Zur Modernität der kommunalen Welt des Mittelalters, in: Geschichte in Köln 52 (2005), S. 89–128 (hier S. 93–105); ders., Kann das Mittelalter modern sein? Vormoderne und Moderne – Alterität und Modernität, in: Jan Broch/Markus Rassiller (Hrsg.), Protomoderne. Schwellen früherer Modernität. Würzburg 2008, S. 27–82 (hier S. 48 f.). Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2. 3. Aufl. Tübingen 2015, Art. 28 Rn. 101; Kyrill-Alexander Schwarz, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz. Kommentar, hrsg. von Peter M. Huber/Andreas Voßkuhle, Bd. 2. 7. Aufl. München 2018, Art. 28 Rn. 168. Sog. Rastede-Beschluss. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Bd. 79, S. 127, Leitsatz 4.
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Weise rechtsgedanklich und universal begründeten, eben nicht nur nationalpädagogisch und nationalpolitisch, wie es sehr viel später der Freiherr vom Stein mit der preußischen Städteordnung von 1808 tat, die in Grundgesetzkommentaren üblicherweise als frühestes Beispiel genannt wird. Insoweit sind die spätmittelalterlichen Juristen in langer historischer Perspektive, wenn auch nicht entwicklungsgeschichtlich, gewissermaßen die eigentlichen Ahnherren des kommunalen Selbstverwaltungsrechts und des Artikels 28 Absatz 2 des Grundgesetzes.
5.7 Aspekte einer Rechtskultur: Zweifel an der Folter, Strafverzicht, Menschenwürde und der favor libertatis In den Konsilien scheinen wichtige Grundsätze der Rechtskultur auf wie der allenfalls durch Notorietät, die Offenkundigkeit der Tat, eingeschränkte Anspruch auf rechtliches Gehör und rechtliche Verteidigung gemäß dem göttlichen und natürlichen Recht, die Unschuldsvermutung, erwachsen aus der Bonitätsvermutung bei gutem Ruf,¹³¹ und das Erfordernis des Tatnachweises im Strafrecht,¹³² der Zweifel an der Wahrheitsfindung durch die Folter, das Plädoyer für einen Strafverzicht im Zweifelsfall (insbesondere bei einem jungen Menschen), der personenrechtliche favor libertatis oder der Persönlichkeitsschutz nach dem Tode.¹³³ Nürnberger Ratsjuristen zogen in Konsilien auch dem Regierungshandeln fremder städtischer Ratsobrigkeiten zum Rechtsschutz von Bürgern Grenzen, indem sie im Falle einer angeblichen Steuerhinterziehung ein außergerichtliches Vorgehen des Rats auch bei Vorliegen eines Rechtsanspruchs der Stadt als eigenmächtige willkürliche Handlung (muetwillige tat) unter den Gewaltbegriff des römischen Rechts subsumierten¹³⁴ und vor einer Tyrannei warnten¹³⁵ oder sich gegen eine nötigende Zwangsbesteuerung eines Bewohners durch den Nördlinger Rat richteten.¹³⁶ Der Nürnberger Ratsjurist Dr. Peter Stahel hält in einem Gutachten für den Deutschordenskomtur in Mergentheim im Fall eines angeblichen leichten Raubes eines jungen Menschen an einem Kleriker unter Berufung auf das römische Recht,
Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 304–306. Ebd., S. 263 f. Ebd., S. 256–271, 271–276, 307. Dig. 4.2.13, Cod. 8.4.7. Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 300–312 (hier S. 311 f.). Ebd., S. 294–300. Ein juristisch interessantes Beispiel dafür, dass es nicht im Belieben der Obrigkeit des Rates stand, auf Steuerleistungen einer Bevölkerungsgruppe zu verzichten, bietet andererseits ein Paduaner Konsilium für die Stadt Lüneburg. Isenmann, Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen (wie Anm. 18), S. 308 f.
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das er in wörtlicher Übersetzung allegiert, das unter Folter (marter) oder aus Furcht vor der Folter (forcht der marter) erzwungene Geständnis im Hinblick auf die Wahrheitsfindung für schwach und gefährlich, spricht sich allerdings nicht in weiterer Konsequenz grundsätzlich gegen die Folter aus. Das kaiserliche Recht sage folgendes: ‚Die peinliche Befragung ist eine gebrechliche und gefährliche Sache und betrügt die Wahrheit, denn die meisten achten durch Erdulden und Abhärtung die Folter so gering, sodass man aus ihnen auf keine Weise die Wahrheit herauspressen kann. Andere sind wiederum so wenig leidensfähig, dass sie lieber die Unwahrheit sagen, als dass sie die Folter ertragen wollen; sie gestehen dann nicht nur eigene Verbrechen, sondern beschuldigen auch andere der Verbrechen.‘¹³⁷ Den angeratenen Strafverzicht im Zweifelsfall¹³⁸ begründet Dr. Stahel ferner mit der durch die Jahrhunderte hindurch bis zur Gegenwart von Juristen und Laien in Varianten propagierten Maxime: Es ist vil heiliger vngestrofft zulassen die vbeltat des schuldigen dann zuuerdammen den vnschuldigen. Er zitiert damit ein kaiserliches Gesetz, ein Reskript Kaiser Trajans, das eine Verurteilung aufgrund eines bloßen Verdachts untersagt (Dig. 48.19.5.pr.), und verweist sodann wiederum mit römischem Recht auf die besondere Würde des Menschen (Dig. 21.1.44). In einem weiteren Schritt löst sich der Jurist von seinen Rechtsquellen im engeren Sinne und nimmt humanistisches Bildungsgut, römische Dichtung mit Ovid und Vergil, zu Hilfe, um den Hinweis auf die dignitas hominum ins Erhabene der menschlichen Existenz zu steigern: Der mensch ist das edelst dingk aller creatur. ¹³⁹ Der Strafver-
Ebd., S. 261 (Dig. 48.18.1.23). Bonifacius Amerbach allegiert gleichfalls diese Stelle paraphrasierend und verkürzt und verbindet damit die Maßgabe des römischen Rechts, dass niemand ohne Vorliegen hinreichender ‚redlicher‘ Indizien gefoltert werden dürfe (Dig. 48.18.18.2; Dig. 48.18.1; Cod. 9.41.3) und einem Geständnis nur zu glauben sei, wenn es vom Gefolterten nachher ungezwungen bestätigt werde (Dig. 48.18.1.17; Dig. 48.18.7). Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 138; vgl. S. 140–142. In einem anderen Kriminalfall, einem Lederdiebstahl, führte Amerbach das römische Recht an, wonach man im Zweifel geneigter sein solle, freizusprechen als zu verurteilen (Dig. 44.7.47; Dig. 50.17.125). Ebd., S. 147–149 (hier S. 148). Im selben Fall gab er schließlich, nachdem zwei Angeschuldigte trotz Folter ihre Unschuld beteuert hatten, den ermittlungstechnischen Rat, diese in einem Gefängnis in zwei gesonderte Zellen zu sperren, jedoch so, dass sie miteinander sprechen konnten und allein zu sein glaubten. Insgeheim solle man zwei Lauscher postieren, welche die Gespräche abhören und den Inhalt unter Eid dem Rat mitteilen sollten. Dieses Mittel, zu einem Zeugenbeweis zu gelangen, sei nach einem Bericht des Tacitus (Annales, lib. 4, cap. 68 f.) zur Zeit des Kaisers Tiberius angewandt worden. Ebd., S. 148. Siehe auch die Prinzipien, die Beweistheorie und die Kautelen der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532. Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 264–267. In deutscher Übersetzung lauten die lateinischen Zitate des Juristen: Ovid, Metamorphosen, Vers 84–86: Während die Erde gebückt ansehen die anderen Geschöpfe/ Gab er erhabnes Gesicht dem Menschen und ließ ihn den Himmel/ Schauen und richten empor zu den Sternen gewendet das Antlitz;
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zicht bei unklarer Beweislage ist also nicht nur eine juristische Vorsichtsmaßnahme und Kautele, sondern für den Juristen jenseits der Legalordnung, die jedoch bereits einen Hinweis darauf enthält, auch ethisch in der Würde des Menschen begründet, die durch das Hinüberwechseln in die emphatische Tiefenwirkung der Dichtung einen verstärkten Zug ins Subjektive und Universale erhält. Unter der hypothetischen Annahme, dass die Straftat tatsächlich verübt wurde, plädiert der Jurist gleichwohl für Wohlwollen gegenüber einem Beschuldigten und möglichen Straftäter und führt dazu unmittelbar die Evangelien – göttliches Recht also – und das Decretum Gratiani mit den darin enthaltenen Herrenworten an,¹⁴⁰ entnimmt aber auch Petrarcas humanistischem Trost-Traktat „De remediis utriusque fortunae“ (1366) die Notwendigkeit, dass Nachsicht (venia), Milde (clementia) und Barmherzigkeit (misericordia) unter den Menschen anstelle von Rache und Zorn herrschten; außerdem kommt er mit der Ethik des Kirchenvaters Lactanz († 320) auf die christlich-biblische, auch auf die Würde der Person abzielende Gottes- und Menschenliebe, die religio und die humanitas zu sprechen.¹⁴¹ Der Grundsatz, dass die Schwere einer Sache eine entsprechende Sorgfaltspflicht bei ihrer beweisrechtlichen Behandlung erfordere – darumb ye edler oder schwerer ein sach ist, ye sicherlicher damit vmb zugeen ist –, wird als Allegation dem kanonischen Recht entnommen.¹⁴² Es scheint aber ein persönliches und menschliches, die Schwere der Entscheidung und die entsprechende besondere Verantwortung reflektierendes Motiv für eine Zurückhaltung und besondere Vorsicht in peinlich zu bestrafenden Kriminalsachen auf, wenn der Jurist schreibt, er habe in guter vnd nutzbarlicher meynung in derartigen Fällen sich enthalten etwas zu raten, was schedlich were dem leben oder den glidern der menschen, das dann das schwerest vnd besorgklichst gericht alhie uff erden vnd doch den menschen auß notturfft mit fleissiger bedrachtung der recht zu geben ist. ¹⁴³ Die Verteilung der Beweislast, die Korrelation von Schwere der Sache und Beweisqualität, die beweisrechtlichen Folgen des favor libertatis und der Grundsatz in dubio pro libertate est iudicandum sind Gegenstände eines Parteigutachtens, das der Vergil, Aeneis, VI, Vers 730 f.: Feuriger Art ist die Kraft der Bewegung und himmlisch des Samens/ Ursprung […]. Dr. Christoph Scheurl wandte gegen die Strafe der Brandmarkung ein, dass deß menschen angesicht, wölichs nach gottlicher pildnuß erschaffen were, nit belaidigt werden solle. Hermann Knapp, Das Alte Nürnberger Kriminalrecht. Nach Rats-Urkunden erläutert. Berlin 1896, S. 62. Johannes 8,10–11; C.32 q.1 c.7; C.26 q.7 c.12; Lukas 6,36; C.23 q.4 c.15 II; D.45. c.4. Institutiones divinae, lib. v (De iustitia), cap. 1. Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 268. VI 1.6.3: Ubi periculum maius intenditur, ibi procul dubio est plenius consulendum. Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 257 (Zitat). Zur Abneigung von Juristen, in Strafsachen Konsilien zu erstatten, S. 256 f.
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Nürnberger Ratsjurist Dr. Stahel, damals noch Licentiat, zu einer – vermutlich von kirchlicher Seite angestrengten – Klage gegen eine Frau mit dem Anspruch auf Leibeigenschaft zugunsten der Beklagten erstattete:¹⁴⁴ Eine allgemeine Regel im Recht lautet, wenn der Kläger nichts beweist und keine Rechtsvermutung für den Kläger und gegen den Beklagten spricht, soll der Beklagte ohne weiteres, das heißt ohne Eidesleistung, von der Klage freigesprochen werden.¹⁴⁵ Da alle Menschen von Natur aus frei sind,¹⁴⁶ ist der Kläger, der die Leibeigenschaft beansprucht, aber nicht in ihrem Besitz (beseß, possessio) ist, beweispflichtig;¹⁴⁷ und es besteht eine Rechtsvermutung zugunsten der Beklagten und gegen den Kläger. Da ferner Leibeigenschaft – wie die Sklaverei eine gewaltsame Einrichtung des ius gentium gegen die Natur und das Naturrecht – eine große und schwere Sache ist, denn der aygen mensch wirdt vnderworffen wider die natur der herschung vnd regirung eines annderen ¹⁴⁸ vnd wird gegleicht dem tode ¹⁴⁹, ist es notwendig, dass sie mit solchen Beweisen bewiesen wird, die heller als die Sonne sind.¹⁵⁰ Wo der Schaden größer ist, soll man entsprechend sorgfältiger verfahren.¹⁵¹ Schließlich verweist Dr. Stahel auf die von ihm als lobenswert und gut erachtete Freiheit etlicher Städte, wonach weiterhin frei bleibt, wer als Bürger oder Bürgerin Jahr und Tag in der Stadt – unangefochten und gerichtlich unangesprochen – gerulich in der freyheit sitzt. Wann die freyheit des menschen vil gunst hat im rechten, die mag man gebrauchen. ¹⁵² Abschließend wendet sich der Jurist über den bloßen Rechtsstreit und seine verfahrensrechtliche Seite hinaus in zeitkritischer Anklage vehement gegen Versuche weltlicher und insbesondere geistlicher Herren, die sich als ‚reißende Wölfe‘ erwiesen, Hintersassen, deren Kinder und sogar Bürger gewaltsam leibeigen zu machen, andererseits sie für frei auszugeben, wenn es ihnen opportun erscheine: Es ist ein gewaltsam, die der herr übt mit seinen vnttersessen, die ime nicht widersteen mugen, die er – eigentlich – schuldig ist, woe annder lewtte sie bescheedigen wolten, sie dauor zu verhüten; vnd ist vil vnrecht einen freyen menschen mit gewalt ein zu ziehen für aygen, dann ime alles sein gut zu stelen oder mit gewalt zu nehmen, wann
Ebd., S. 279–287, vgl. auch S. 287–292. Cod. 4.19.23, X 3.12.1. Inst. 1.2.2 i. m., C.12 q.2 c.68. Inst. 1.3.1 (Et libertas quidem est, ex qua etiam liberi vocantur, naturalis facultas eius quod cuique facere libet, nisi si quid aut vi aut iure prohibetur). Inst. 1.3.2. Dig. 50.17.209 (Servitutem mortalitati fere comparamus). Cod. 4.19.25. VI 1.6.3. Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 284 f.
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ein aygen man wirt vergleicht dem tode. ¹⁵³ Der Leibeigene kann deshalb kein Testament machen und nicht Richter oder Zeuge, auch nicht Büttel oder Gerichtsbote eines Richters sein.
6 Vielerlei Kritik In die Kritik gelehrter Juristen geriet die Laiengerichtsbarkeit.¹⁵⁴ Die Rechtshonoratioren der Schöffengerichte stützten sich auf empirisches Rechtswissen und auf Rechtsüberzeugungen, auf Kenntnisse von geltendem Gewohnheitsrecht und des Gerichtsgebrauchs, nicht überall auch auf das Satzungsrecht. Genaueres können wir selten ermitteln, da sie in ihren Urteilen wie generell üblich die Entscheidungsgründe nicht darlegten. Peter von Andlau, Kanonist der Universität Basel, warf um 1460 der Gerichtsbarkeit der Laien vor, sie beachte nicht die gerechtesten Gesetze und das geschriebene Recht, so dass man nach einem ius incertum lebe; bei einer Vielzahl von Ungelehrten zeige es sich, daß jeder seinem Gutdünken Gesetzeskraft beimessen wolle. Daraus ergebe sich eine gefährliche und unbeständige Urteilsprechung. Der gute Richter urteile hingegen nicht nach seinem persönlichen Gutdünken oder nach zu Hause vorgefassten Meinungen, sondern nach dem Sachverhalt und nach Recht und Gesetzen.¹⁵⁵ Generell gegen ein Urteilen nach eigenem Gutdünken ohne Bindung an Recht und Gesetze wendet sich 1483 der Nürnberger Ratskonsulent Dr. Stahel in einem Konsilium: Spricht […] aber ymandt on das gesecz oder recht, der sol sich des schemen; also spricht der text in [Cod. 6.20.19]. Es soll auch nyemant seiner aigen weishait nachvolgen, vnd der volgt seiner aigen weishait nach, der sein syn seczt für das gesecz [X 1.2.5].¹⁵⁶
Ebd., S. 286. Hans-Rudolf Hagemann, Zur Krise spätmittelalterlicher Schöffengerichtsbarkeit, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte. Festschrift Karl Kroeschell. Frankfurt a. M. 1987, S. 89–99. Peter von Andlau, Libellus de Cesarea monarchia, tit. XVI, in: Joseph Hürbin (Hrsg.), ‚Der „Libellus de Cesarea monarchia“ von Hermann Peter von Andlau‘, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 12 (1891), S. 34–103; 13 (1892), S. 163–219 (hier 13, S. 209); Peter von Andlau, Kaiser und Reich. Libellus de Cesarea Monarchia. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Rainer A. Müller. Frankfurt a. M./Leipzig 1998 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, Bd. 8), S. 286. Peter von Andlau allegiert C.3 q.7 c.4: „Bonus judex nichil ex arbitrio suo facit, et domestice proprie voluntatis, sed juxta jura et leges pronunciat, nichil paratum et meditatum de domo defert, sed sicut audit et judicat, et sicut se habet natura decenter, obsequitur legibus, non adversatur, examinat cause merita, non mutat. Et post pauca: Qui judicat, non voluntati sue obtemperare debet, sed tenere quod legum est.“ Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 273.
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Juristen galten allerdings sprichwörtlich als „böse Christen“.¹⁵⁷ Sie verdrehten, wie man Nikolaus von Kues und Johannes von Lysura, dem Rat des Trierer Erzbischofs, in einem gereimten Spruch nachsagte, angeblich jedes Recht – Cusa et Lysura pervertunt omnia iura. ¹⁵⁸ Es soll hier die Frage offenbleiben, ob man daraus bereits eine Rechtsvermutung, die an sich ein sprichwörtlicher Gebrauch damals beweisrechtlich nahelegte, ableiten kann. Natürlich können Konsilien auf den finanziellen Gewinn des Gutachters insbesondere bei Vereinbarung von Seitenhonoraren durch Zeilenschinderei und massenhafte Produktion abzielen.¹⁵⁹ Juristen demonstrierten ihre Gelehrsamkeit und fachliche Autorität durch umfangreiche wissenschaftliche Apparate, die einen beträchtlichen oder sogar den überwiegenden Umfang des Gutachtens ausmachen konnten.¹⁶⁰ Man findet wissenschaftliches Imponiergehabe mit Anhäufung auch von ungeeigneten, unverständlichen, fehlerhaften, unvollständigen und im Grunde überflüssigen Allegationen von Rechtsquellen und Zitaten juristischer Autoritäten. Gutachten dienen dem Nutzen der auftraggebenden Partei, die den Prozess gewinnen will. Sie können auf die Überredung des Richters sowie auf prozesstaktische Finessen ausgerichtet und weniger vom Ethos von Wahrheit und Recht getragen sein. Andererseits gibt es Grenzen der reinen Parteilichkeit, die durch Sinnfälligkeit, Glaubwürdigkeit, berufliche Reputation und obrigkeitliche Kontrolle wie im Falle der in Dienst genommenen Ratsjuristen gesetzt sind.¹⁶¹ Von dem Paduaner Professor für kanonisches Recht Dr. utr. iur. Angelus de Castro wurde der Nürnberger Rat 1443 unter Beigabe von Allegationen römischen und kanonischen Rechts darüber belehrt, daß ein Rechtsgutachten durchaus kurz ausfallen könne und sich nicht in Überflüssigem ergehen müsse, denn das Ver-
Michael Stolleis, Juristenbeschimpfung, oder „Juristen – böse Christen“, in: Theo Stammen/ Heinrich Oberreuter/Paul Mikat (Hrsg.), Politik – Bildung – Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag. Paderborn 1996, S. 163–170. Zu dieser personenbezogenen Kritik und ihren Varianten von Gelehrten an bestimmten Gelehrten siehe Daniels, Diplomatie, politische Rede und juristische Praxis (wie Anm. 43), S. 101–107. Zu den nicht häufigen Angaben zu Honoraren siehe Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 21–23; Falk, Consilia (wie Anm. 41), S. 35–51; Wejwoda, Spätmittelalterliche Jurisprudenz (wie Anm. 36), S. 149–155. Der sicherlich bedeutende Martin Prenninger zitiert in seinen Gutachten insgesamt etwa 140 Kanonisten und Legisten; in Einzelfällen werden bis zu 40 Rechtsgelehrte genannt. Zeller, Der Jurist und Humanist Martin Prenninger (wie Anm. 42), S. 138. Ein Beispiel für massenhafte Allegationen und Literaturzitate: Max Herrmann, Albrecht von Eyb und die Frühzeit des deutschen Humanismus. Berlin 1883, S. 262. Dietrich von Bocksdorf etwa war erheblich zurückhaltender in der Präsentation von Allegationen und Literaturzitaten als Prenninger. Wejwoda, Spätmittelalterliche Jurisprudenz (wie Anm. 36), S. 311–319 (mit statistischen Aufschlüsselungen). Vgl. Falk, Consilia (wie Anm. 41), S. 56–63; zur Kritik an der Gutachtenpraxis, S. 241–277.
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trauen in die Wahrheit bedürfe nicht der Stütze vieler Worte (Cod. 2.38.1), und die Länge der Ausführungen bringe keinen Vorteil (X 2.24.14).¹⁶² Ein Nürnberger Ratskonsulent steuerte in einem Gutachten die Maxime bei, im Recht solle nichts ‚Leeres oder Unnützes‘ angetroffen werden.¹⁶³ Der Prokurator der Stadt Ulm warf indessen 1474 dem gegnerischen Kläger vor dem kaiserlichen Kammergericht in einer geballten Einlassung zu einem Klageartikel polemisch vor, dieser sei dunkel geschrieben und in der ‚Meinung‘ unverständlich; der Kläger wiederhole sich ständig wie einer, der sich gerne reden hört; er gebrauche viele unnütze Worte; seine Schriften seien erdichtet und unnütz, enthielten keine Wahrheit, hätten im Recht keine Grundlage, zielten auf eine Verschleppung der Sache, obwohl er als Kläger billigerweise zur Beendigung der Sache eilen sollte – ferner unmittelbar an den Richter gewandt: Viel sagen ohne zu beweisen sei fruchtlos, wie wenn einer leeres Stroh dresche oder Wasser zum Rhein hinabtrage, um dort das Wasser zu mehren.¹⁶⁴ Es gab aber auch subtile fachliche Kritik. Der Nürnberger Ratsjurist Dr. Stahel attestierte in einem Gutachten rechtsgelehrten Kollegen unzureichende prozessrechtliche Kenntnisse, da ihnen die Möglichkeit eines vom Richter mit Fristsetzung angeordneten Klagezwangs gegenwärtig nicht geläufig sei und sie ihn daher auch nicht beantragten; insbesondere die Prokuratoren, das heißt die forensischen Praktiker, kennten sich üblicherweise in dieser Frage nicht aus. Trotz der Regel, daß niemand zu einer Klage gezwungen werden dürfe, könne jemand etwa im Falle einer falschen Behauptung oder einer Verleumdung beim Richter einen befristeten Klagezwang für den Gegner erwirken, so yemand mich verlewmat oder außgibt, das[s] ich ime schuldig oder ichts zuthun sey oder das sein vorhalte oder vnrecht thue vnd desgleichen. Falls die Klage ausbleibe, könne der Richter dem Gegner ‚ewiges Schweigen‘ auferlegen.¹⁶⁵ Der Jurist übte zu einigen Punkten des Verfahrensund Beweisrechts Kritik an gängigen Praktiken an Gerichten¹⁶⁶ und bestand unter
Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung (wie Anm. 25), S. 602, Anm. 212. Bonifacius Amerbach äußerte sich stets bemüht, seine Gutachten uff das kurtzest on all umschweyff zu erstatten und schrieb auf die Figur des Gutachters gemünzt: Quia brevitas consultorem commendat et decet, mit Verweis auf Cod. 7.62.39.1a. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 14. ut in prohemio Gregorii decretalium. Isenmann, Recht, Verfassung und Politik (wie Anm. 27), S. 61. Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (wie Anm. 18), S. 324, Anm. 46. Ebd., S. 368 f. Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 259, 260 f., 273. Bonifacius Amerbach beanstandete ‚schlechte Zeugen‘ und übte gelegentlich Kritik am Gericht aus der Sicht des römischen Rechts. Hagemann, Die Rechtsgutachten des Bonifacius Amerbach (wie Anm. 11), S. 138.
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wörtlicher Allegation kanonischen Rechts gegen die Faktizität von Mängeln kategorisch auf der Geltung der Sollensordnung: ‚Es verunsichert mich nicht, dass es zuweilen oder auch oft nicht oder anders gehalten wird, denn wir sollen nicht beachten, was da geschieht, sondern was geschehen soll‘.¹⁶⁷ Er deutete vorsichtig an, dass er möglicherweise mit seiner ehrlichen, aber den sicheren Weg weisenden Auskunft die Erwartungen des Auftraggebers enttäusche.¹⁶⁸ In einem anderen Gutachten mahnte der Jurist, ein Advokat solle gegenüber seinem Klienten zum Prozessausgang keine Prognose abgeben. Er solle sich wie vor dem Feuer hüten, einen Sieg zu versprechen, denn der Ausgang eines Rechtsstreits sei zweifelhaft (Dig. 15.1.51), liege nicht in seiner Hand, sondern in der des Richters (C.2 q.3 c.7 IV. pars § 2). Keineswegs sicher seien die Anzeichen, aus denen man Hoffnung schöpfen könne; häufig erfülle sich, wie Ovid mit Beispielen zeige, die gute Hoffnung nicht. Ungewiss sei auch, wie diejenigen geartet sind, welche die Sache schließlich durch ein Urteil beilegen; häufig urteile ein Richter schlecht aus Unerfahrenheit oder weil er getäuscht wurde.¹⁶⁹ Den Vorbehalt sekretierten Expertenwissens gegenüber Rechtslaien markiert indessen eine Randnotiz in den Sitzungsprotokollen der Frankfurter Ratskommission, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts für die Abfassung der Rechtsreformation gebildet worden war. Zu den Worten trebellianica und falcidia heißt es dort: sollen die leyen nit alle ding wissen, sondern der gelerten rat pflegen darumb sie in eren gehalten werden als billich und erlich [angemessen] ist. ¹⁷⁰ Es wäre daher gegen das überzeitliche Lebensinteresse des Juristenstandes, wenn man erläuterte, dass es sich bei der lex Falcidia de legatis um den Schutz der Erben vor übermäßigen Legaten des Erblassers durch die Regelung des Mindesterbteils in Höhe eines Viertels handelte.
7 Zusammenfassung Gelehrte Juristen waren die maßgeblichen Träger und Protagonisten der sogenannten Rezeption des römischen Rechts und der Einbeziehung von kanonischem Recht zu einem umfassenden gelehrten gemeinen Recht (ius commune). Das Spek-
Isenmann, „Liberale“ Juristen (wie Anm. 47), S. 261, Anm. 49. X 1.6.27: non debemus attendere solummodo, quid factum sit, sed potius, quid sit faciendum. Ebd., S. 257, Anm. 43. Isenmann, Gelehrte Juristen und das Prozeßgeschehen (wie Anm. 18), S. 339, Anm. 122. Helmut Coing, Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. 1939 (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Reihe, Bd. 1), S. 164.
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trum der Aufgabenbereiche der Juristen reichte von der Rechtsberatung durch mündliche Konsultationen und Gutachten, der Mitwirkung in der Rechtspflege und der Beteiligung an der Gesetzgebung bis hin zu prokuratorischen und diplomatischen Diensten. Die Arbeitsweise sowie die intellektuelle und rechtspraktische Leistung der Juristen spiegeln sich vor allem in ihren Konsilien, deren besonderer Wert grundsätzlich spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von deutschen Rechtshistorikern konstatiert wurde. Die Bearbeitung dieser juristischen Literaturgattung ging jedoch zögerlich vonstatten, da zwar Konsilien einiger weniger deutscher Juristen aus der frühen Phase der rechtspraktischen Rezeption im Druck vorlagen, aber erst Erhebungen in Bibliotheken und Archiven eine eingehendere Analyse und Darstellungen ermöglichten. Die Ausarbeitung von Konsilien war insofern ein schöpferischer Vorgang, als aus den gelehrten Rechten, vor allem aus dem Fundus des römischen Rechts aufgrund seiner Struktur, anwendungsfähige Normen und Rechtspositionen erst herauspräpariert und geformt werden mussten. Eine Hilfe boten die Glosse und Kommentare sowie andere wissenschaftliche Literaturgattungen bedeutender internationaler Juristen der Vergangenheit und solcher der jüngeren Gegenwart, der Moderni. Die in der scholastischen Dialektik des sic et non aufgebauten Konsilien zeigen die Verwissenschaftlichung des Rechts und seiner Anwendung, indem sie die formale Rechtstechnik, die semantischen und juristischen Interpretationsregeln, die logisch-topischen argumenta und insgesamt die Methodik der rationalen Analyse vorführen. Sie enthalten insbesondere in der Gestalt von Informationes, von Auskünften über spezielle rechtliche Sachverhalte und Institute, Elemente einer Wissens- und Erkenntnistheorie, die in Ausführungen über Zeugen und Beweis ihre konkreten prozessualen Anhaltspunkte haben. Konsilien wurden für Parteien und Gerichte, Privatpersonen und Obrigkeiten in Rechtsfragen sowie zur rechtlichen Absicherung politischer Optionen erstattet. Sie sind im Spätmittelalter teilweise recht umfangreich und beruhen auf Sachverhaltsdarstellungen und meist auch Fragen der Auftraggeber, die gelegentlich Urkunden- und Aktenmaterial aus langwierigen Rechtsstreitigkeiten bereitstellten. Nicht selten wurden mehrere Gutachten zugleich in einer Sache eingeholt, in einigen Fällen von Juristen deutscher Städte, Territorialherren und Hochstifte sowie von Rechtsgelehrten und Fakultäten deutscher, italienischer und französischer Universitäten. Dabei kam es in verschiedenen Fällen zu umfangreichen Gutachtenaktionen, an denen eine enorme Anzahl von Juristen beteiligt war. Die Reichsstadt Nürnberg erweist sich als Drehscheibe der Rezeption, da der Rat der Stadt fast routinemäßig von seinen Juristen Konsilien erstatten ließ und zusätzlich weitere
‚Ich ziehe in Betracht, stimme aber nicht zu‘
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von außen importierte, seinen Juristen aber wiederum erlaubte, Gutachten für verschienene auswärtige Auftraggeber zu erstellen. Vor allem aus ungedruckten Konsilien erfahren wir, was in der Forschung bislang wenig bekannt oder weitgehend unbekannt war. Juristen stellten mehrfach im Rahmen einer Regierungslehre die kaiserliche potestas absoluta heraus, hegten sie aber zugleich durch unveränderliches göttliches Recht und Naturrecht sowie allgemein durch die Idee des Rechts ein. Sie begründeten ein autonomes Gesetzgebungs- und Selbstverwaltungsrecht von Städten gegenüber der höheren Gewalt sowie ein Bündnisrecht der Städte zur Erhaltung des Landfriedens und wandten sich gegen eigenmächtige Fehden der dem Kaiser als der höchsten rechtlichen und richterlichen Instanz subordinierten Herrschaftsgewalten. Ferner verteidigten sie den freien Verkehr auf den Reichsstraßen gegen Handelssperren. Sie bestanden in einzelnen Fällen im Sinne einer Rechtskultur auf dem rechtlichen Gehör und auf der Einhaltung der rechtlichen Verfahrensregeln bei Gericht, propagierten den nicht auf physische Gewalt beschränkten Gewaltbegriff des römischen Rechts, verneinten den Wert und Nutzen der Folter für die Wahrheitsfindung, formulierten strenge Beweisregeln und übten wegen der schweren Folgen für den Menschen Zurückhaltung in Strafsachen. Sie traten für Bürger gegen sich rechtswidrig verhaltende Stadtobrigkeiten ein, plädierten für Strafverzicht und beriefen sich dabei auf die besondere Würde des Menschen, stellten die beweisrechtliche Begünstigung der Freiheit (favor libertatis) heraus und machten diese prozessual gegen die von ihnen kritisierte Leibeigenschaft geltend. Das Spätmittelalter erscheint hier durch das Wirken von Juristen in einem recht hellen Licht.
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Entscheidungsfindung durch Aktenversendung – ein besonders objektives Gerichtsverfahren? 1 Ausgangspunkte 1.1 Zwölf Thesen der Herausgeber Dieser Aufsatz erscheint als Beitrag zu einem Sammelband. Den Ausgangspunkt bildet insoweit die Tagung „Feder und Recht. Schriftlichkeit und Gerichtswesen in der Vormoderne“. Die Herausgeber gehören zum Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit. Hier arbeiten Wissenschaftler aus mehreren Disziplinen, insbesondere aus Geschichts- und Rechtswissenschaft, schon seit vielen Jahren sehr produktiv zusammen.¹ Die Herausgeber haben zwölf Thesen zur Diskussion gestellt, die als Arbeitsgrundlage und „work in progress“ zu verstehen sind, nicht als festes Programm, das Punkt für Punkt abzuarbeiten wäre.²
1.2 Gegenstand des Beitrags: Objektivitätsthese zur Aktenversendung Dieser Beitrag wird eine jener Thesen diskutieren. Sie umfasst mehrere Unterthesen, die in vieler Hinsicht durchdacht werden könnten. Der Beitrag konzentriert sich auf die Aktenversendung.³ Dieser Begriff mutet heute fremdartig an. Der
Vgl. auch Peter Oestmann, Zur Gerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert. Ein Schmuggeleiprozess am Oberappellationsgericht Lübeck, Teil 1: Einführung und Edition. Wien/Köln/Weimar 2019, S. 4. Josef Bongartz, E-Mail vom 29. September 2019 an die Verfasser der Beiträge. Der Band bildet in gewisser Weise ein Gegenstück zum Sammelband von Tonio Walter (Hrsg.), Die Mündlichkeit im Rechtsleben. Tübingen 2016. Dazu zuletzt Ulrich Falk, Höchstrichterliche Rechtsprechung vor 200 Jahren. Zum OAG Lübeck, seinem ersten Präsidenten, Arnold Heise, und dem Problem der Verfahrensdauer, in: Festschrift für Markus Gehrlein. Hürth 2022, S. 121–141 (hier S. 126 ff.); rechtsvergleichend Ulrich Kühne, Amicus Curiae. Richterliche Informationsbeschaffung durch Beteiligung Dritter. Tübingen 2015 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht, Bd. 110), zur Aktenversendung S. 198–205; Björn Centner, Iura novit curia in internationalen Schiedsverfahren. Tübingen 2019 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht, Bd. 416), zur Aktenversendung S. 57–60. https://doi.org/10.1515/9783111077406-004
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Rechtshistoriker Peter Oestmann gibt in seinem Lehrbuch zur Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts (2015) diese Worterklärung: „Einbindung von Juristenfakultäten oder Behörden in ein Gerichtsverfahren auf Antrag eines Gerichts“. Seine kritische Rezension einer einschlägigen Doktorarbeit hat Oestmann zwei Jahre später mit sehr grundsätzlichen Feststellungen eingeleitet: „Die Aktenversendung an Universitäten gehört zu den großen und klassischen Themen der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte.“ Sie bildete „einen wesentlichen Baustein der Gerichtsverfassung.“ Die gesamte Epoche des Usus modernus pandectarum, „diese spezifische Mischung aus Rechtsgelehrsamkeit und Rechtspraxis, fand in der Aktenversendung einen wesentlichen Eckpfeiler.“ Der Rechtsprofessor, „der eine Gerichtsakte wälzt, ist geradezu das Sinnbild des frühneuzeitlichen Rechtswissenschaftlers schlechthin.“⁴ Die Befassung mit diesem zentralen Gegenstand beinhaltet also immer eine Herausforderung. Das erklärt auch den erheblichen Umfang dieses Beitrags zum Sammelband. Die Aktenversendung (transmissio actorum) war eine Besonderheit der frühneuzeitlichen Gerichtsverfassung im Alten Reich. Dieses Heilige Römische Reich Deutscher Nation ging im Jahr 1806 unter. Mit ihm brachen auch die Säulen seiner Justizverfassung weg: das Reichskammergericht zu Wetzlar und der Reichshofrat zu Wien.⁵ Die Aktenversendung fand ihr Ende erst mit Inkrafttreten des Gerichtsverfassungsgesetzes im Deutschen Kaiserreich am 1. Oktober 1879.⁶ In normativer Hinsicht war sie unabhängig von der Existenz des Alten Reichs. Auf der Ebene der ehemaligen Territorien kam sie auch nach 1806 zur Anwendung, soweit sie der jeweilige Herrschaftsträger nicht untersagte oder einschränkte. Solche Verbote waren in einzelnen Regionen schon in früheren Jahrhunderten ergangen, insbesondere schrittweise in Brandenburg-Preußen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bis hin zum vollständigen Verbot durch „Allerhöchste Cabinets-Ordre“
Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 349; ders., Besprechung zu Thomas Kischkel, Die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät. Grundlagen – Verlauf – Inhalt. Hildesheim/Zürich/New York 2016 (Studia Giessensia, Neue Folge, Bd. 3), in: ZHF 44 (2017), Bd. 1, S. 136. Dieses Aktenwälzen gehörte an manchen Fakultäten wie Heidelberg und Göttingen auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Berufsbild auch herausragender Professoren, zum Beispiel von Georg Arnold Heise; dazu Falk, Höchstrichterliche Rechtsprechung (wie Anm. 3), S. 126 ff. Zur „Geltungskrise des Jahres 1806“ Hans-Peter Haferkamp, Die Historische Rechtsschule. Frankfurt a. M. 2018 (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 310), S. 62–74 (hier insbes. S. 62). Den juristischen Schlusspunkt setzte Oskar von Bülow, Das Ende des Aktenversendungsrechts. Freiburg i. Br. 1881.
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vom 20. Juni 1746. Ein weitgehendes Verbot erfolgte wenige Jahre später (1753) auch in Bayern.⁷ Die Aktenversendung ist einer der beiden historischen Prototypen eines streng schriftlichen Prozessverfahrens.⁸ Der andere ist der Inquisitionsprozess des kanonischen Rechts, des Rechts der katholischen Kirche.⁹ Den Herausgebern des Sammelbands stand bei ihrer Thesenbildung gerade auch die Aktenversendung vor Augen. Wegen der Schlüsselbedeutung für den Beitrag ist die These im Ganzen – hier als Objektivitätsthese bezeichnet – im vollen Wortlaut voranzustellen: X. Ein schriftliches Verfahren galt als besonders objektiv. Die Richter sollten ihre Entscheidungen unbeeinflußt von sachfremden Erwägungen, von persönlichen Beziehungen, vom persönlichen Eindruck der Parteien und von der Rhetorik der Anwälte treffen. Sie sollten deshalb Parteien und Anwälte nicht persönlich erleben, um im ganz wörtlichen Sinne „ohne Ansehen der Person“ entscheiden zu können. Schriftlichkeit war ein Filter, durch den persönliche Faktoren aus dem Verfahren herausgehalten werden konnten, und damit ein Garant der Unparteilichkeit. Durch ein schriftliches Verfahren konnte zudem erreicht werden, daß die Parteien die eine Entscheidung treffenden Personen – Richter und Urteiler, aber auch die Angehörigen einer Juristenfakultät bei Aktenversendung – nicht kannten; dadurch konnte und sollte Bestechungsversuchen entgegengewirkt werden. ¹⁰
1.3 Beharrungskraft überkommener Deutungsmuster Diese Objektivitätsthese ist im rechtshistorischen Schrifttum des 19. und 20. Jahrhunderts zur Aktenversendung verankert. Die Herausgeber haben den rechtshistorischen Mainstream zum Ausdruck gebracht, in dem sich die meisten rechtsgeschichtlichen Arbeiten bewegten, vor allem Doktorarbeiten. Auch heute, im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts, findet sie in dieser Literaturgattung stillschweigende oder offene Zustimmung.
Überblick bei Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 193 f., 219; Daniel Laagland, Lehren, Forschen, Recht sprechen. Die Spruchpraxis als Teil des Berufsalltags an der juristischen Fakultät zu Bonn im 19. Jahrhundert. Baden-Baden 2016 (Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 24), S. 38, 40; Tobias Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y: Epochenübergreifende Überlegungen zu gerichtlichen Urteils- und Vergleichsquoten aus institutionengeschichtlicher Perspektive, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 118 (2020), S. 91–233 (hier S. 167, 199, 211). Peter Oestmann, Art. Aktenversendung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1. Stuttgart u. a. 2005, Sp. 166–168 (hier Sp. 167). Darauf bezieht sich These VII. im Thesenpapier der Herausgeber, in diesem Band S. 18 f. In diesem Band S. 22.
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Im Anhang seines Lehrbuchs gibt Oestmann einen Überblick über die Sekundärliteratur. Seine allgemeine Feststellung lautet: „Die Aktenversendung an Universitäten wird in der Forschung zumeist anhand der Urteils- und Gutachtertätigkeit einzelner Fakultäten untersucht“.¹¹ In die gerichtliche Entscheidungsfindung eingebunden waren die frühneuzeitlichen Universitäten zu Altdorf, Basel, Bonn, Duisburg, Erfurt, Erlangen, Frankfurt an der Oder, Freiburg, Halle, Heidelberg, Gießen, Göttingen, Helmstedt, Ingolstadt, Jena, Kiel, Köln, Leipzig, Mainz, Marburg, Rinteln, Rostock, Straßburg, Tübingen, Wittenberg und Würzburg. Wegen der Vielzahl dieser Universitäten und des enormen Umfangs ihrer Entscheidungsarbeit, die ein Gebirge gedruckter und ungedruckter Primärquellen emporwachsen ließ, sind übergreifende Analysen selten geblieben. Natürlich enthält jede Einzeluntersuchung auch Abschnitte allgemeiner Art. Im ungünstigen Fall sind das vorangestellte Einführungskapitel, die aus Sekundärliteratur geschöpft und mit dekorativen Zitaten aus Primärquellen aufgehübscht sind. In etwas besseren Arbeiten – in jüngerer Zeit etwa von Thomas Kischkel zur Gießener Universität (2016) –¹² sind die allgemeinen Ausführungen in die Analyse des besonderen Untersuchungsgegenstands eingebettet und werden mit eigener intensiver Quellenarbeit untermauert und hinterfragt. Ein Lehrbuch zur Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts gab es vor 2015 nicht, „geschweige denn eine umfassende Gesamtdarstellung“. Die einschlägigen Kapitel in älteren Werken zur Deutschen Rechtsgeschichte bezeichnet Oestmann als seit Jahrzehnten überholt. Sogar Lehrbücher jüngeren Datums halten nach seiner Beobachtung unbeirrt an überkommenen Sichtweisen der germanistischen Rechtsgeschichte fest.¹³ Eine der älteren Arbeiten, die nach Oestmanns Urteil weiterhin „besondere Beachtung verdienen“, ist die Dissertationsschrift des Züricher Rechtshistorikers Clausdieter Schott über „Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg im Breisgau“
Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 328. Kischkel, Die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät (wie Anm. 4) – zu den erheblichen Schwächen auch dieser Arbeit siehe die treffende Besprechung von Oestmann (wie Anm. 4), S. 136 f.; viel schwächer noch z. B. Angela Kriebisch, Die Spruchkörper Juristenfakultät und Schöppenstuhl zu Jena. Strukturen, Bedeutung und eine Analyse ausgewählter Spruchakten. Frankfurt a. M. 2008 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 381). Die solide Studie von Laagland, Lehren, Forschen, Recht sprechen (wie Anm. 7) zur Bonner Juristenfakultät krankt – wie leider viele Arbeiten dieses Typs – vor allem daran, dass sie ausschließlich auf althergebrachter Sekundärliteratur aufbaut; so auch Julia Pätzold, Leipziger gelehrte Schöffenspruchsammlung. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte in Kursachsen im 16. Jh. Berlin 2009 (Schriften zur Rechtsgeschichte, H. 143). Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 19.
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(1965).¹⁴ Diese vorzügliche Studie gibt reichlich Grund zum Zweifel an der Objektivitätsthese, auch wenn diese Zweifel nur zwischen den Zeilen schweben.¹⁵
1.4 Aktenversendung in Hexenprozessen Eine weitere Dissertationsschrift, die Oestmann heraushebt, verdankt sich dem Historiker Sönke Lorenz (1982): „Aktenversendung und Hexenprozeß. Dargestellt am Beispiel der Juristenfakultäten Rostock und Greifswald (1570/82–1630)“.¹⁶ Durch viele weitere Untersuchungen ähnlicher Art ist der Inhalt der Spruchtätigkeit deutscher Juristenfakultäten für die Hexenprozesse inzwischen „am besten erforscht“.¹⁷ Die historische Gesamtbilanz der frühneuzeitlichen Hexenprozesse gereicht den Fakultäten des Alten Reichs nicht zur Schande. Ihnen ist immerhin zu danken, dass die „Entscheidungsfindung zu einer Professionalisierung und Rationalisierung des Verfahrens“ gelangte. Durchbrechungen des regulären Prozessrechts, die an hexenverfolgenden Untergerichten an der Tagesordnung waren, haben die meisten Fakultäten in der Regel verworfen.¹⁸ Die stärksten positiven Impulse gingen vom Reichskammergericht aus, dessen mäßigende Rechtsprechung vielen Fakultäten bekannt war und dadurch auch mittelbaren Einfluss entfaltete.¹⁹ Zum Ruhmesblatt der universitären Rechtspflege taugen die Prozessverläufe in Hexensachen aber noch weniger. In den Spruchkollegien mancher Universitäten und an manchen Schöffenstühlen war es um die Objektivität und Unparteilichkeit überhaupt nicht gut bestellt, wenn sie über die Folterung und Verurteilung angeblicher Hexen und Zauberer urteilten. Die meisten Fakultäten haben die belastenden Indizien, auf denen die Anklagen aufbauten, „wesentlich großzügiger“ gewichtet als
Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 328; Clausdieter Schott, Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg i. Br. Freiburg i. Br. 1965. Zu Schotts Arbeit s. Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 22), S. 61, 80, 98, 139, 150, 152, 154 f., 157, 167, 183, 210–213, 219, 399, 404. Zusammenfassung einiger Thesen: ders., Die Gutachtenpraxis deutscher Juristenfakultäten in der frühen Neuzeit. Zur Deutung eines Phänomens, in: Heiner Lück/Rolf Lieberwirth (Hrsg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertags 2006. BadenBaden 2008, S. 657–673. Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 328. Peter Oestmann, Art. Aktenversendung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 128–132 (hier Sp. 131). Oestmann, Aktenversendung (wie Anm. 8), Sp. 131. Peter Oestmann, Hexenprozesse am Reichskammergericht. Köln/Weimar/Wien 1997 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 31), S. 360 f.
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das Reichskammergericht.²⁰ Dadurch haben ihre Spruchkollegien in sehr vielen Prozessen die Folterung der Angeschuldigten im Ergebnis für zulässig erklärt, ihrem prinzipiellen Festhalten an den Vorgaben des Strafprozessrechts auf der Ebene des Reichsrechts, kodifiziert in der Constitutio Criminalis Carolina (1532), zum Trotz. Abgefolterte Geständnisse waren die nachtschwarze Seele der Hexenprozesse. Der Weg auf die Hinrichtungsplätze, auf denen die Scheiterhaufen loderten, führte fast immer durch die Folterkammer. Das wusste man schon in der Frühen Neuzeit sehr genau, und zwar nicht erst seit den berühmten Schriften, die Christian Thomasius (1655–1728), Rechtsprofessor zu Halle, an der Schwelle zum 18. Jahrhundert gegen die Fortführung der Hexenprozesse veröffentlichte.²¹ Ein Einwand im Sinne der Objektivitätsthese liegt auf der Hand: In der Zeit des grassierenden Hexenwahns mag es auch in Rechtsfakultäten zu schlimmen Fehlurteilen gekommen sein. Das besagt aber wenig über die normale Praxis der Aktenversendung im Strafrecht und gar nichts im Zivilrecht. In der bequemen Verfügbarkeit dieses Einwands²² liegt einer der wissenschaftsgeschichtlichen Gründe dafür, warum die Hexenprozesse so lange am äußersten Rand der rechtshistorischen Fachdiskussion standen. Die meisten der wegweisenden Untersuchungen, die seit Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts entstanden, stammen nicht von Rechtshistorikern, sondern von Geschichtswissenschaftlern, insbesondere Frühneuzeithistorikern. Zwei der rühmlichen Ausnahmen sind Günter Jerouschek mit
Oestmann, Hexenprozesse (wie Anm. 19), S. 360; ferner Gesine Hauer, Hexenprozesse an der Ludoviciana. Die Spruchpraxis der juristischen Fakultät Gießen in Hexensachen (1612–1723). Hildesheim/Zürich/New York 2016 (Studia Giessensia, Neue Folge, Bd. 4), zusammenfassend S. 172 f.; Marianne Sauter, Hexenprozess und Folter. Die strafrechtliche Spruchpraxis der Juristenfakultät Tübingen im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. Bielefeld 2010 (Hexenforschung, Bd. 13), zusammenfassend S. 278 f.; Robert Zagolla, Folter und Hexenprozess. Die strafrechtliche Spruchpraxis der Juristenfakultät Rostock im 17. Jahrhundert. Bielefeld 2007 (Hexenforschung, Bd. 11), zusammenfassend S. 489–493. Eine wirkliche rühmenswerte Ausnahme bildet die Strafrechtspflege in der Kurpfalz; dazu Jürgen Michael Schmidt, Glaube und Skepsis. Die Kurpfalz und die abendländische Hexenverfolgung. Bielefeld 2000; rezensiert von Ulrich Falk, in: ZRG GA 118 (2001), S. 665– 669. Dazu Ulrich Falk, De la torture en Saxe, en particulier chez Carpzov (1595–1666), in: Bernard Durand (Hrsg.), La Torture Judiciaire: Approches historiques et juridiques, Bd. 2. Lille 2002, S. 709– 742; inhaltsgleich: Zur Folter im deutschen Strafprozeß. Das Regelungsmodell von Benedict Carpzov, in: forum historiae iuris (20. Januar 2001), https://forhistiur.de/2001-06-falk (zuletzt abgerufen am 18. Januar 2023); ders., Ein Hexenprozess im späten 16. Jahrhundert, in: Ulrich Falk/Michele Luminati/Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Fälle aus der Rechtsgeschichte. München 2008, S. 221 f.; zur aktuellen Dimension s. ders., Rechtsstaatliche Folter? Rechtshistorische Anmerkungen zu einer tickenden Bombe, in: Freia Anders/Ingrid Gilcher-Holthey (Hrsg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Frankfurt a. M. 2006 (Historische Politikforschung, Bd. 3), S. 90–111. Dazu am Beispiel des Rechtshistorikers Adolf Stölzel Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 276 f.
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seiner Habilitationsschrift über die Hexenprozesse in der Reichsstadt Esslingen (1992) und Peter Oestmann mit seiner Doktorarbeit zu den Hexenprozessen am Reichskammergericht (1997).²³
1.5 Gegenstand und Thesen des Beitrags (Überblick) Der Beitrag fokussiert strukturelle Schwachpunkte der Aktenversendung, nicht etwa individuelle Fehlleistungen einzelner Kollegien oder gar einzelner ihrer Mitglieder in einzelnen Bereichen frühneuzeitlicher Gerichtsbarkeit. Diese Schwachpunkte wiegen in der Summe schwerer, als es das Schrifttum im Mainstream der Objektivitätsthese wahrhaben will. Auf die Geschichte der Hexenprozesse und die Deutung der allgemein- und rechtshistorischen Forschungsergebnisse kommt es dabei nicht an. Darum kann hier offenbleiben, wie es um die Berechtigung des Einwands bestellt ist. Die Ursachen der Schwachpunkte liegen in den institutionellen Rahmenbedingungen, in welche die Aktenversendung in der Verfahrens- und Rechtswirklichkeit der Vormoderne eingebettet war. In ihrer Anfangs- und Blütezeit war die Aktenversendung ein verfahrensrechtliches Instrument von hohem Wert. In der territorial tief zerklüfteten Gerichtslandschaft des Alten Reichs im Zeitalter der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts war sie lange Zeit fast unverzichtbar. Ihre positive Funktion beinhaltete ein durchaus nicht geringes Maß an Objektivierung, besonders im direkten Vergleich mit mündlichen Verfahrenstypen mittelalterlicher Herkunft. Diese Wirkung brachte die Professionalisierung und Rationalisierung rechtlicher Verfahren voran. Die Aktenversendung war aber kein Garant für besonders objektives Entscheidungsverhalten. Sie war auch kein Schutzschild, der sachfremde Einflüsse und daraus erwachsende Parteilichkeit zuverlässig abgewehrt hätte. Die Darstellung der Aktenversendung im Lehrbuch von Oestmann verwendet bezeichnenderweise kein Wort auf die Objektivitätsthese. In dieser modernen Darstellung, die sich von traditionellen Deutungsmustern freizumachen bemüht, ist sie kommentarlos verabschiedet.²⁴ Außerdem war die Aktenversendung kein Instrument, das Richter und professorale Urteilsverfasser von anwaltlicher Rhetorik hätte abschirmen können. Anwaltliche Rhetorik steckte unweigerlich in jedem einzelnen Schriftsatz, der jemals in einer versendeten Gerichtsakte enthalten war. Dabei kam es nicht ein Oestmann, Hexenprozesse (wie Anm. 19), S. 360 f.; Günter Jerouschek, Die Hexen und ihr Prozeß. Die Hexenverfolgungen in der Reichsstadt Esslingen. Esslingen am Neckar 1992 (Esslinger Studien, Bd. 11); dazu Ulrich Falk, Dem Leser zur Tortur, in: Rechtshistorisches Journal 12 (1993), S. 119–130. Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 189–194; vgl. dort auch S. 134, 328.
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mal darauf an, inwieweit es dem jeweiligen Anwalt selbst bewusst war, dass er sich in seinem tatsächlichen und rechtlichen Vortrag immer auch rhetorischer Mittel bediente. Die Unterthese der Herausgeber zur Anwaltsrhetorik geht schon im Ausgangspunkt fehl. Ihr liegt ein Rhetorikbegriff zugrunde, der Funktion und Wirkungsweisen der Rhetorik für die verschriftlichte Kommunikation in rechtlichen Zusammenhängen²⁵ verkennt.
2 Gegenstand und Funktion der Aktenversendung 2.1 Aktenversendung an Rechtsfakultäten Das rechtshistorische Schrifttum des 19. und 20. Jahrhunderts folgte im Mainstream den Grundlinien, die Johann Baptist Sartorius in einem vielbenutzten Aufsatz vorgezeichnet hat. Sartorius war Professor an der Universität Zürich. Erschienen ist sein Text im Jahr 1840 in der Zeitschrift für Civilrecht und Proceß. ²⁶ Die Kritischen Jahrbücher für die deutsche Rechtswissenschaft gaben dazu in ihrem Zeitschriftenüberblick im selben Jahr diese Inhaltsangabe: „Eine ausführliche Betrachtung der Actenversendung nach ihrer Entstehung und practischen Anwendung.“²⁷ Am Anfang stand diese Definition: Die Aktenversendung (transmissio actorum) besteht, nach dem gemeinen teutschen Civilprocesse, und nach der dermaligen [jetzigen] ²⁸ Praxis, daß die Gerichte die Akten bei ihren anhängigen Streitsachen an Rechts-Collegien (Juristen-Fakultäten) und Schöffenstühle mittheilen,
Ulrich Falk/Matthias Alles, Verhaltensökonomik und Anwaltsrhetorik. Ein interdisziplinärer Forschungsbericht zu Wahrnehmungsverzerrungen bei Risikoabwägungen, Prognosen und Richtigkeitswertungen, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (2014), S. 1209–1218 (hier S. 1210 f.). Zu den rhetorischen Anteilen, die in den klassischen Methoden der Gesetzesauslegung und den Standardinstrumenten der juristischen Argumentation stecken, Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik. 5. Aufl. Heidelberg 2015, S. 257–337, 339–435; Katharina Gräfin von Schlieffen, Der Einfluss der Rhetorik auf die gerichtliche Entscheidungsfindung, in: Walter (Hrsg.), Die Mündlichkeit im Rechtsleben (wie Anm. 2), S. 213–228. Vielsagend ist aus dieser Perspektive die Schlussfolgerung von Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 218, zur praktischen Umsetzung der Auslegungslehre Savignys: „Die Auslegung war richtig, die im Ergebnis und in ihrer Argumentation überzeugte“. Johann Baptist Sartorius, Revision der Lehre von der Aktenversendung, in: Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß 14 (1840), S. 219–256. Kritische Jahrbücher für die deutsche Rechtswissenschaft 8 (1840), S. 1046 (ohne Angabe eines Autors). Die Zeitangabe „dermalig“ ist eine veraltete Bezeichnung, für die heute „jetzig“ oder „derzeitig“ benutzt werden, https://www.duden.de/rechtschreibung/dermalig (abgerufen am 18. Januar 2023).
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entweder um von denselben berathen und belehrt zu werden, oder um statt ihrer von diesen Urteile abfassen zu lassen, welche alsdann die Gerichte mit den Akten zurückempfangen, und unverändert den Partheyen zu eröffnen haben. ²⁹
Die erste Fußnote teilte ergänzend mit: „An einzelne Rechtsgelehrte pflegt man heutigen Tages die Akten nicht mehr zu verschicken“. Auch die Schöffenstühle seien „immer mehr verdrängt worden“; in neuerer Zeit seien „vorzugsweise und beinahe ausschließlich die Juristen-Fakultäten der Universitäten mit Aktenversendungen in Anspruch genommen“ worden. Die beauftragten Kollegien hätten „immer mehr aufgehört, bloß den Beruf belehrender, begutachtender und rathgebender Juristen auszuüben“. Sie seien „in die Stellvertretung wirklicher Richter“ eingetreten, von denen man „statt der früheren einfachen Belehrungen umständliche, mit Zweifelsund Entscheidungsgründen versehene Ausführungen verlangt“ habe.³⁰ Im Zentrum des Verfahrensablaufs stand die Ausarbeitung rechtsgutachterlicher Entscheidungsentwürfe durch juristische Experten, die dem zuständigen Gericht selbst nicht angehörten. Diese externen Experten wurden als Konsulenten oder Spruchjuristen bezeichnet. Vom Gericht erbeten wurde ihr rechtlicher Rat – ihr Konsilium (consilium) – zum Ausspruch dessen, was die objektive Rechtslage gebot, im zeitgenössischen Sprachgebrauch: zum Spruche Rechtens. Dazu brachten die zuständigen Richter die vollständige, gebündelte und versiegelte Gerichtsakte zur Versendung. Die Bereitschaft der professoralen Experten zur Urteils(vor)arbeit auf Anforderung von Gerichten aus allen Gebieten des Alten Reichs hatte mancherlei Gründe. An erster Stelle stand das finanzielle Interesse an den dafür gezahlten Honoraren. Die Ausarbeitung von Rechtsgutachten im Auftrag von Gerichten – und ebenso von Prozessparteien – war ein wichtiger Teil ihrer Berufsarbeit. Diese Einnahmen trugen viel zur Steigerung ihres Lebenseinkommens bei. Bei vielen jener aktenwälzenden Professoren, die zum Sinnbild des Usus Modernus geworden sind, werden zweifellos auch Faktoren der intrinsischen Motivation hinzugekommen sein, vom generellen Interesse an der Rechtspraxis in interessanten Fallgestaltungen bis hin zum Antrieb, in brisanten Einzelfällen der Gerechtigkeit dienen zu können. Dieses Berufsethos muss gerade auch dann in Rechnung gestellt werden, wenn man aus einer institutionellen Perspektive die vielfältigen Schwachpunkte dieses Verfahrensmodells in den Mittelpunkt der strukturellen Analyse stellt. Eine der Hauptpointen der frühneuzeitlichen Aktenversendung lag darin, dass diese Experten von den Gerichten sehr oft nicht als Einzelpersonen, sondern als Kollegialorgane konsultiert wurden. Die meisten Gerichte im Alten Reich versen Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 219. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 219, Fn. 1, S. 224 f.
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deten seit dem 16. Jahrhundert vor allem an die juristischen Fakultäten der Universitäten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die noch heute gebräuchliche Bezeichnung Spruchfakultät. Zur Entwicklungsgeschichte merkte Sartorius unter Berufung auf Savignys Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter in seinem Überblick an: „Schon bei den ältesten Universitäten in Ober-Italien, zu Bologna, Padua und Pisa, gab es daher Spruch-Collegien, bei welchen besonders die hohen Preise merkwürdig sind.“³¹
2.2 Aktenversendung und Rezeption des römisch-kanonischen Rechts Das Verfahren der Aktenversendung prägte weite Teile der vormodernen Gerichtspraxis im Alten Reich. Seine Anfänge reichen in die spätmittelalterliche Praxis zurück. Zwei Traditionsstränge sind zu unterscheiden.³² Zum einen lebte hier in funktionaler Hinsicht – modifiziert, professionalisiert und rationalisiert – der spätmittelalterliche Rechtszug an die Oberhöfe fort, die im sächsischen Raum als Schöffenstühle bezeichnet wurden. Zum anderen wurden Vorbilder aus der oberitalienischen Praxis des gemeinen römischen und kanonischen Rechts in angepasster Form übernommen. In dieser Hinsicht ist die Aktenversendung eine fast zwingend anmutende Folgewirkung der Rezeption des antiken römischen Rechts in Gestalt des Corpus Iuris Civilis. Die Aufnahme erfolgt in jener Ausformung, die das Ius Commune durch die Wiedergeburt der Rechtswissenschaft in Norditalien unter Federführung der Glossatoren und Konsiliatoren seit dem hohen Mittelalter erhalten hatte.³³ Wichtig war auch die Vorbildfunktion, die von der Podestà-Verfassung oberitalienischer Stadtrepubliken ausging.³⁴
Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 224; vgl. Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Bd. 3. 2. Ausgabe. Heidelberg 1834, § 86, S. 306, zur Universität Bologna: „Die juristischen Collegien gaben auch Gutachten an Partheyen über Rechtsfragen […] Das Gutachten selbst durfte nicht unter 100 Ducaten kosten“. Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 191. Dazu in diesem Sammelband einführend Eberhard Isenmann, ‚Ich ziehe in Betracht, stimme aber nicht zu‘. Aufgaben und Arbeitsweisen spätmittelalterlicher Juristen, S. 33 ff. Treffend Heinrich Gehrke, Art. Konsilien, Konsiliensammlungen, in: HRG, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 117–121 (hier Sp. 118); grundlegend Woldemar Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre. Eine Darlegung der Entfaltung des gemeinen italienischen Rechts und seiner Justizkultur im Mittelalter unter dem Einfluß der herrschenden Lehre der Gutachtenpraxis der Rechtsgelehrten und der Verantwortung im Sindikatsprozeß. Leipzig 1938.
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Die Aktenversendung – in lateinischer Fachsprache als transmissio actorum bezeichnet – bot der damaligen Rechtspflege ein probates, im Zeitalter der Rezeption praktisch unverzichtbares Instrument. Für deutschsprachige Richter, die der lateinischen Fachsprache des Ius Commune nicht mächtig waren, aber unter Erwartungsdruck gerieten, römisches ius civile als ius commune anzuwenden, war die transmissio das bevorzugte Mittel der Wahl. Ausgegangen war diese Herausforderung an erster Stelle von juristischen Interessenvertretern, die das Potential des Corpus Iuris Civilis – eines gewaltigen Schatzhauses des Rechts – zum Vorteil ihrer jeweiligen Mandanten systematisch zu nutzen begannen. Oestmann beschreibt diesen Funktionszusammenhang so: Es waren die gelehrten Anwälte, die zuerst damit begannen, in ihre mündlichen Anträge oder ausformulierten Schriftsätze gelehrtrechtliche Hinweise (Allegationen) aufzunehmen. Das Gericht musste sich dann dazu verhalten, also in irgendeiner Weise den Verweis auf das römischkanonische Recht berücksichtigen. ³⁵
2.3 Beispiel: Ratsjuristen der Reichsstadt Nürnberg Die spätmittelalterlichen Anwälte dieses Typs handelten meist im Auftrag und Interesse weltlicher oder kirchlicher Herrschaftsträger. Sehr gut dokumentiert ist ihr Wirken in der Forschung des Historikers Eberhard Isenmann. In seinem Beitrag zu diesem Sammelband studiert er Aufgaben und Arbeitsweise spätmittelalterlicher Juristen am Beispiel der Reichsstadt Nürnberg.³⁶ Um 1500 hatte der Nürnberger Rat „für gewöhnlich fünf oder sechs besoldete Doktoren der Rechte im ‚Amt der gelehrten Räte‘.“ Sie standen „ausschließlich dem Rat für mündliche Rechtsberatung und die Erstattung schriftlicher Gutachten zur Verfügung“. Vier weitere Rechtsgelehrte, die ebenfalls „eine angemessene jährliche Besoldung aus der Stadtkasse erhielten“, durften „mit Erlaubnis des Rats den Bürgern der Stadt gegen eine ‚angemessene Belohnung‘ als ‚vereidigte Advokaten‘ Rechtsbeistand leisten. Die generelle Leitlinie ihrer Arbeit bestand darin, ‚den gemeinen Nutzen der Stadt zu verteidigen‘“.³⁷ Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 133 f.; im damaligen Anwaltsberuf war im Prinzip zwischen Advokaten und Prokuratoren zu unterscheiden, ebd., S. 121 f.; auf diese Unterscheidung, die durch Mischformen kompliziert wird, kommt es (auch) im vorliegenden Beitrag nicht an. Isenmann, Aufgaben und Arbeitsweisen (wie Anm. 33), S. 33–85 (39 f.). Zuvor u. a. Eberhard Isenmann, Funktionen und Leistungen gelehrter Juristen für deutsche Städte im späten Mittelalter, in: Jacques Chiffoleau/Claude Gauvard/Andrea Zorzi (Hrsg.), Pratiques sociales et politiques judicaires dans les villes de l’Occident à la fin du Moyen Âge. Rom 2007, S. 243–
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Der Bedarf für professionelle juristische Dienstleistungen in der reichen Handelsstadt war groß. Der Rat unterhielt auch „mit Doktoren in Augsburg und Professoren an der Universität Ingolstadt ein besoldetes Konsulentenverhältnis“. In wichtigen und schwierigen Fällen holte er „Konsilien auch von Rechtsgelehrten am bayerischen Hof und geistlichen Hochstiften sowie in einzelnen Fällen von Rechtsprofessoren deutscher und italienischer Universitäten ein“. Umgekehrt ließ der Rat – so weiter wörtlich Isenmann – „seine Juristen“ für viele andere Städte „Gutachten und Urteilsvorschläge verfassen“, darunter Regensburg, Augsburg, Ulm, Esslingen, Heilbronn, Schweinfurt, Rothenburg und Donauwörth. Der Aufgabenanfall, den diese Dienstleister zu bewältigen hatten, war drückend groß. Der Rat erwartete mit Blick auf die nach damaligen Maßstäben hohe Besoldung ständige Einsatzbereitschaft, nötigenfalls auch bis Mitternacht. Gemessen wurde die Qualität ihrer Dienstleistungen an dem interessenvertretenden Nutzen, den sie für die Reichsstadt Nürnberg stifteten, und ebenso für Personen, die jene Stadt aus unterschiedlichen Gründen zu unterstützen bereit war.³⁸
2.4 Syndikusanwälte im Usus Modernus Pandectarum Auf die gleichen Strukturen trifft man in vielen anderen Städten jener Epoche, die es sich leisten konnten, Syndikusanwälte – damals als Stadtadvokaten oder Stadtschreiber bezeichnet – fest unter Vertrag zu nehmen. Oft handelte es sich um ausgezeichnete Juristen, die dem juristischen Humanismus nahestanden und mit grundlegenden Schriften antiker Autoren zur anwaltlichen Rhetorik vertraut waren,³⁹ insbesondere mit Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) und Marcus Fabius Quintilianus (ca. 35–96 n. Chr.).⁴⁰ Nicht zufällig findet sich seit dem Jahr 1470 im Dom der freien Reichsstadt Ulm eine vergoldete Büste von Quintilian,⁴¹ dem größten aller Rhetoriklehrer.⁴²
322; ders., „Pares curiae“ und „väterliche, alte und freie Lehen“. Lehnrechtliche Konsilien deutscher Juristen des 15. Jahrhunderts, in: Franz Fuchs/Paul-Joachim Heinig/Jörg Schwarz (Hrsg.), König, Fürsten und Reich im 15. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2009 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte, Bd. 29), S. 231–286. Isenmann, Aufgaben und Arbeitsweisen (wie Anm. 33), S. 40. Zu den Stadtadvokaten im Umfeld des juristischen Humanismus Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 125, 154, 156, 160–165, 227, 321 f., 396, 408, 410, 413–417. Zu ihm Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 65, 75, 289, 357, 366, 415. Vgl. den Wikipedia-Artikel „Quintilian“, https://de.wikipedia.org/wiki/Quintilian (abgerufen am 18. Januar 2023). Zu Person und Werk Wilfried Stroh, Die Macht der Rede. Eine kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom. Berlin 2011, S. 427–451, 560 f.; Kostproben rhetorischer Anwaltskunst in
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Isenmann merkt trocken an: „Wer selbst keine eigenen Juristen im Dienst hatte, musste sich natürlich an auswärtige Rechtsgelehrte wenden“.⁴³ Zu den Städten, die über fest angestellte Interessenvertreter von hoher Qualität verfügten, zählte Freiburg im Breisgau. Der berühmteste ihrer Stadtschreiber war Ulrich Zasius (1461–1535), der in Personalunion auch Professor an der dortigen Rechtsfakultät war. Schott widmete ihm in seiner Doktorarbeit besondere Aufmerksamkeit. Auch Zasius stand dem juristischen Humanismus zumindest sehr nahe. Wissenschaftliche Gelehrsamkeit im Geiste des Humanismus und zupackende Berufstätigkeit im Dienst fremder Interessen waren durchaus keine Gegensätze, auch nicht in der Rechtspraxis.⁴⁴ Eine der vielen Eigenschaften, die Zasius auszeichneten, war seine nimmermüde Einsatzbereitschaft zum Wohle der von ihm vertretenen Stadt. Dabei war ihm sein berufliches Netzwerk, das er im Norden bis zur Universität Rostock und im Süden bis zu großen italienischen Universitäten gespannt hatte, sehr dienlich. Viel Aufwand verwendete er auf die gehäufte Einholung von Parteigutachten.⁴⁵ Sie dienten der autoritativen Untermauerung⁴⁶ der juristischen Standpunkte, die er im Interesse seiner Arbeitgeberin vertrat. Bei einem selbstbewussten Juristen von so hoher Qualität darf man getrost ausschließen, dass er sich von so vielen seiner Kollegen über eine „objektive Rechtslage“ hätte belehren lassen wollen.⁴⁷ Ein spätmittelalterlicher Erfolgsjurist, der sich keiner einzelnen Stadt dienstvertraglich verpflichtet hatte, war Dietrich von Bocksdorf († 1466). Er agierte – so Isenmann – „in einem vielgestaltigen und umfassenden Tätigkeitsspektrum als Advokat, Gutachter, Urteiler, Ordinarius der Leipziger Universität und gelehrter Rat Kurfürst Friedrichs II. von Sachsen“, Inhaber kirchlicher Pfründe und schlussendlich, für kurze Zeit, als Bischof von Naumburg.⁴⁸ In seiner Funktion als Mitglied der Leipziger Juristenfakultät war er auch zur richterlichen Entscheidungsfindung berufen, wenn dort Gerichtsakten zum Spruche Rechtens eintrafen. Bei der Fülle unterschiedlicher Funktionen, die von Bocksdorf in sich vereinigte, konnten Rol-
der frühneuzeitlichen Praxis bei Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendungslehre und Partikularrecht im Alten Reich. Frankfurt a. M. 2002 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 18), z. B. S. 134, 592–603 (insbes. S. 599), 683–685. Isenmann, Aufgaben und Arbeitsweisen (wie Anm. 33), S. 40. Dazu Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 125, 154, 156, 160–165, 227, 321 f., 396, 408, 410, 413–417. Zur gehäuften Einholung von Parteigutachten Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 15, 87, 98, 152, 157, 160, 180 f., 196 f., 232 f., 399 f.; Isenmann, Aufgaben und Arbeitsweisen (wie Anm. 33), S. 49–54. Zur Autoritätsfunktion von Parteigutachten Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 87 f., 98, 147–170, 185 f., 194, 202, 357. Dazu näher 6.4.; zur Informationsfunktion von Parteigutachten Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 93–100, 179, 193 f. Isenmann, Aufgaben und Arbeitsweisen (wie Anm. 33), S. 44 f.
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lenkonflikte nicht ausbleiben. Sein Arbeitstag kann nur wenig kürzer gewesen sein als der von hochbezahlten Anwälten in heutigen Anwaltsfirmen. Das hatte er mit vielen seiner erfolgreichen Kollegen in allen Regionen des Alten Reichs gemeinsam.
3 Schwachpunkte des Verfahrensmodells der Aktenversendung 3.1 Überblick Die transmissio actorum erlebte ihre Blütezeit in der langen Epoche des „modernen“ Gebrauchs des Corpus Iuris Civilis, dessen Kernstück die Pandekten (Digesten) waren. Durch den flächendeckenden Ausbau der territorialen Gerichtsbarkeit und das immer stärkere Hinzukommen von Berufsrichtern nahm das Bedürfnis für diese Sonderform von Justiz allmählich immer mehr ab. Dieser Entwicklungsprozess war gegen Ende des 18. Jahrhunderts halbwegs abgeschlossen. Umso stärker wurden dann die Schwachpunkte des Verfahrensmodells empfunden. Geradezu traditionell waren Beschwerden über die Schwerfälligkeit des Verfahrensablaufs, die Anfälligkeit für Prozessverschleppungen, den Verlust von Akten beim Transport auf den damaligen Verkehrswegen, die hohen Zusatzkosten und die Vernachlässigung von Forschung und Lehre durch Professoren, die mit Gerichtsakten überhäuft waren. Hinzu kam der Vorwurf, dass bequeme und verantwortungsscheue Richter überflüssige Versendungen verfügten. Obendrein kollidierte die strenge Schriftlichkeit der Aktenversendung mit den legitimen Forderungen des Frühliberalismus und der bürgerlichen Verfassungsbewegung des politischen Vormärz nach Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Prozesse.
3.2 Gemeines und partikulares Recht Ebenso verbreitet war ein Kritikpunkt, den Oestmann als „Probleme bei der Anwendung von Partikularrecht“ betitelt.⁴⁹ Zeitgenössische Beobachter beklagten die Neigung von Spruchkollegien, auch dann nach gemeinem römischem Recht zu urteilen, wenn nach Lage des jeweiligen Falles einem Stadt- oder Landrecht der
Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 193 (Zwischenüberschrift); näher ders., Rechtsvielfalt (wie Anm. 42), S. 590–601 (Unterabschnitt „4. Probleme bei Aktenversendungen“, S. 590).
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normative Vorrang gebühren konnte. Solche Normenkonflikte waren wegen der Überfülle partikularrechtlicher Rechtsquellen in der buntscheckigen Rechtslandschaft des Alten Reichs sehr häufig. Die Lösung der Konkurrenzprobleme war im Einzelfall meistens kompliziert und fast immer streitträchtig. In seiner Habilitationsschrift „Rechtsvielfalt vor Gericht“ (2002) hat Oestmann die „Grundlagen der frühneuzeitlichen Rechtsanwendungspraxis“ so zusammengefasst: Erstens stand die Gerichtspraxis einer Vielzahl von Rechtsquellen gegenüber und mußte diesen Quellenpluralismus praktisch bewältigen. Zweitens führten die Anwälte ihre Prozesse unter strukturellen Unsicherheitsbedingungen, da sie die richterliche Rechtsanwendung kaum voraussehen konnten. Drittens besaßen die Gerichte ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Freiheit in der Rechtsanwendung. ⁵⁰
Die vielbeschäftigten Rechtsprofessoren folgten bei der Entscheidung von Rechtsfällen, die aus fast allen Teilen des Alten Reichs auf sie einströmten, einer einfachen Regel, die man in der psychologischen Forschung als Urteilsheuristik⁵¹ bezeichnen würde. Im Zweifel gaben sie denjenigen Rechtsquellen den Vorzug, die sie im eigenen Studium verinnerlicht hatten und jetzt im Hörsaal ihrerseits lehrten. Die Bevorzugung des römisch-kanonischen Rechts ersparte die anstrengende und zeitraubende Notwendigkeit, sich immer wieder in andere, vom gemeinen Recht auf vielfältige Weise abweichende Normenordnungen einarbeiten zu müssen. Obendrein waren diese Normen meistens von geringerer rechtstechnischer Qualität als das schon in der Antike hochprofessionell ausdifferenzierte und von den Glossatoren und Kommentatoren seit dem hohen Mittelalter akribisch durchgearbeitete römische Recht. Im Einzelfall konnte sich die Anwendung partikularrechtlicher Normen trotzdem als mehr oder weniger unvermeidbar erweisen, insbesondere natürlich dann, wenn sich eine anwaltlich vertretene Partei auf eine klar einschlägige Partikularnorm berief. Dann wurden sie in der rechtspolitischen Tendenz und in ihrem Norminhalt im Zweifel dem römisch-kanonischen Recht angenähert, sei es bewusst oder – was häufig der Fall gewesen sein wird – unbewusst. Diese Anpassung war auch in methodischer Hinsicht durchaus legitim. Nach einer damals herrschenden Lehre der Rechtsanwendung, der sogenannten Statutentheorie, gebührte partikularem Recht als der spezielleren Rechtsquelle im Grundsatz der Vorrang. Dieses Recht war aber von den Parteien vorzutragen. Es war nicht von Amts wegen zu beachten; seine Geltung musste nötigenfalls bewiesen werden. Vor allem aber war Oestmann, Rechtsvielfalt (wie Anm. 42), S. 681. Zu Begriff, Funktion und Problematik von Urteilsheuristiken einführend Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken. München 2011, S. 127 f.; Falk/Alles, Verhaltensökonomik und Anwaltsrhetorik (wie Anm. 25), S. 1209 f.
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es grundsätzlich – so die Worte von Isenmann im Anschluss an Oestmann – „eng auszulegen, insbesondere wenn es vom ius commune abwich“.⁵² Im Ergebnis führte „die weit verbreitete Aktenversendung zu einer erheblichen Rechtsvereinheitlichung“. In der Epoche des Usus modernus wurden auf diese Weise – so Oestmann – „ganz verschiedene Rechtsquellen miteinander verschmolzen“.⁵³ Nicht minder begreiflich ist es, dass unterlegene Parteien und Anwälte, die partikulares Recht auf ihrer Seite glaubten, es ganz anders bewerteten, wenn dieses Recht zu ihrem Nachteil unangewendet blieb, eng ausgelegt wurde oder inhaltliche Änderungen erfuhr. Die langfristigen Effekte der Rechtsvereinheitlichung und Stärkung von Gemeinsamkeiten, „vor allem in methodischer Hinsicht“,⁵⁴ entzogen sich ihrer Wahrnehmung. Aber auch das Wissen darum hätte ihren Zorn nur wenig gedämpft. Niederlagen, die mit Nichtanwendungen und Inhaltsänderungen einhergingen, konnten allzu leicht als empörend empfunden werden. Die „Angriffe auf die Rechtsanwendung der Spruchfakultäten waren teilweise von äußerster Schärfe gekennzeichnet“.⁵⁵ So erging es einem Interessenvertreter, der im Jahr 1804 eine Entscheidungssammlung mit dem Titel „Merkwürdige Unrechtssprüche deutscher Juristenfacultäten“ veröffentlichte. Solches Unrecht legte er in den von ihm vorgestellten Fällen den Juristenfakultäten zu Tübingen, Leipzig und Rinteln zur Last: Ihre Urteile seien nur dadurch erklärbar, dass die Referenten entweder den Inhalt der Akten zum großen Teil überhaupt nicht gelesen⁵⁶ oder maßgebliche Grundsätze des älteren deutschen Rechts desinteressiert beiseitegeschoben hätten. Für den Beitrag ist es unerheblich, ob die zornbebenden Angriffe dieses Interessenvertreters einen wahren Kern hatten oder ihn nur als schlechten Verlierer entlarvten,⁵⁷ was sein Rezensent in der Zeitschrift „Neue Allgemeine Deutsche Bi-
Isenmann, Aufgaben und Arbeitsweisen (wie Anm. 33), S. 37, zu Oestmann, Rechtsvielfalt (wie Anm. 42). Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 193. Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 193. Oestmann, Rechtsvielfalt (wie Anm. 42), S. 594, mit einem Beispiel zur Juristenfakultät Tübingen. Merkwürdige Unrechtssprüche deutscher Juristenfacultäten, Erster Bd. Osnabrück 1804; der Herausgeber blieb anonym. Seine Vorrede endet mit dem Ausruf: „Wahrlich! Es kann noch weniger schaden, wenn ein Referent die Acten gelesen hat, aus denen er ein Erkenntniß abfassen will“, ebd., S. 6. Anonym bleibende Kritik war in jener Zeit weniger anrüchig, als man in der Rückschau vermuten könnte; s. Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 60. Zur Schwierigkeit der „Gesamtwürdigung“ der Rechtsanwendung der Juristenfakultäten aus der Perspektive der Kritik unterlegener und obsiegender Parteivertreter Oestmann, Rechtsvielfalt (wie Anm. 42), S. 599–601 (insbes. S. 600).
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bliothek“ mit spitzer Feder unterstellte.⁵⁸ Festzuhalten ist: Die Aktenversendung hatte auf lange Sicht eine rechtsvereinheitlichende Wirkung, die positiv zu bilanzieren ist. Ein Entscheidungsverhalten, das vorrangiges Stadt- oder Landrecht in Zweifelsfällen aus (guten) pragmatischen Gründen beiseiteschob oder verschmelzend umdeutete, ist aber nicht als „objektiv“ zu bezeichnen. Mit den Leitbegriffen „professionell“ und „zweckrational“ wird es viel treffender erfasst. So verhält es sich auch mit der Aktenversendung im Ganzen. Sie ist im gesamten Zeitraum ihrer Anwendungsgeschichte als professionell zu beschreiben, obwohl viele einzelne Versendungen von vielen Gerichten der ersten Instanz nur dilettantisch durchgeführt wurden.⁵⁹ Lange Zeit, bis ins 18. Jahrhundert hinein, war sie auch zweckrational, unabhängig von der unbekannten Zahl überflüssiger, den Fortgang des Prozesses nur verzögernder Versendungen. Im Fortgang des 18. Jahrhunderts war es um ihre Zweckrationalität allmählich immer schlechter bestellt, obwohl die „Justizkritik um 1800“ immer noch gute bis sehr gute Gründe zu „Klagen über die Qualität des Justizpersonals“ hatte.⁶⁰
3.3 Umfang der Urteilsarbeit Die fertiggestellten Entscheidungsentwürfe konnten vom Gericht nach der Rücksendung der begutachteten Akte durch Verlesung der Urteilsformel (Tenor) als eigenes Urteil offiziell verkündet werden. Die Professorien wurden keineswegs nur in Einzelfällen von außergewöhnlicher wirtschaftlicher und/oder rechtlicher Bedeutung bemüht, sondern auch in Routine- und Standardfällen, sowohl in Strafsachen wie in Zivilsachen. Zum Beispiel verzeichnete die Spruchfakultät der Universität Gießen noch im 18. Jahrhundert den Eingang von durchschnittlich 200 Gerichtsakten pro Jahr aus allen Teilen des Alten Reichs. Diese Quote ist umso bemerkenswerter, als Gießen
Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek, 98. Bd., Zweites Stück, Fünftes Heft. Berlin/Stettin 1805, S. 251: Die Götter mögen verhüten, dass „alle besiegten Partheyen oder deren Rechtskünstler auf den Gedanken gerathen, die Welt mit sogenannten merkwürdigen Unrechtssprüchen, auf alleinige Kosten des juristischen Publikums, zu beschenken!“ Die Allgemeine Literatur-Zeitung, Dritter Bd., Nr. 184. Halle/Leipzig 1805, S. 49–52 (hier S. 51), lobte „die Belesenheit und den Scharfsinn des Vfs. [sic]“ und kritisierte die Einseitigkeit seiner Argumentation. Beispiele bei Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 172–177. Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 269–312 (hier S. 270); zu den preußischen Justizreformen und vielfältigen Missständen pointiert Schenk,Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 7), S. 183–220; ders., Das Ravensbergische Appellationsgericht zu Cölln an der Spree (16351750), in: Ulrich Andermann/Michael Zozmann (Hrsg.), Die Grafschaft Ravensberg im 17. Jahrhundert – Verfassung – Recht- Wirtschaft – Kultur. Bielefeld 2023 (im Druck).
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keineswegs zu den überdurchschnittlich bedeutenden, besonders personalstarken und bevorzugt nachgefragten Versendungsorten zählte. Zu einem signifikanten Rückgang kam es in Gießen erst gegen 1780 durch gesetzliche Restriktionen.⁶¹ Besonders starker Nachfrage erfreuten sich die Spruchkollegien im Sächsischen Raum, dem damaligen Zentrum der deutschen Rechtspraxis und -lehre. Zum Beispiel werden für die Juristenfakultät und den Schöffenstuhl zu Wittenberg zusammen rund 100.000 Entscheidungen veranschlagt. Für den Anfang des 17. Jahrhunderts – bis zur Katastrophe des 30‐jährigen Kriegs – lag das Jahresmittel bei 1.150. Damals verzeichnete der Schöffenstuhl noch deutlich höhere Eingänge als die mit ihm konkurrierende Juristenfakultät. In der Zeit nach 1648 kehrte sich diese Relation um. Bei 363 Akteneingängen pro Jahr im langfristigen Durchschnitt lautete die Quote 3:1 zugunsten der Fakultät. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts stieg der Eingang auf zusammen durchschnittlich 490 Akten. Die meisten Quellen aus dem 18. Jahrhundert sind verlorengegangen. Heiner Lück, der beste Kenner der dortigen Quellen,⁶² vermutet, dass in jener Zeit bis zu 2.000 Entscheidungen pro Jahr ergingen. Im Kontrast dazu mutet der Geschäftsanfall der außersächsischen Spruchkollegien bescheiden an, war aber trotzdem gewaltig. Die Juristenfakultät Halle, die ihre Gutachtenpraxis erst 1693/94 aufnahm, hat es auf schätzungsweise 36.000 Entscheidungen gebracht. Für Rostock, Kiel und Marburg werden ähnliche Zahlen vermutet, die allerdings in deutlich längeren Zeiträumen zusammenkamen. Für Tübingen liegen die Schätzungen zwischen 20.000 und 25.000, für Göttingen ebenfalls bei 25.000, wobei wiederum die späte Gründung zu bedenken ist, hier sogar erst im vierten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts.⁶³ Die Arbeitskraft und -bereitschaft der aktenbearbeitenden Professorenschaft muss ebenfalls gewaltig gewesen sein. Wie anders hätte sie eine Daueraufgabe solchen Umfangs bewältigen können? Und wie war die inhaltliche Qualität ihrer Arbeitsergebnisse beschaffen? Anders als bei den Richtern an heutigen Gerichten, die ebenfalls über hohe Geschäftszahlen seufzen, handelte es sich für die Professoren nur um eine Aufgabe unter vielen, und nicht einmal um jene Aufgabe, die im Mittelpunkt ihres offiziellen Berufsbilds stand. Die Beurteilung der fachlichen Qualität von gedruckten oder ungedruckten Urteilen aus der Epoche des Usus Modernus ist eine fordernde Aufgabe. Analysen, die nicht an der Oberfläche haften wollen, führen auch erfahrene Rechtshistori Kischkel, Die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät (wie Anm. 12), S. 44. Vgl. insbes. Heiner Lück, Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät. Organisation – Verfahren – Ausstrahlung. Köln/Weimar/Wien 1998. Nachweise bei Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 21–24, auch zu den Vorbehalten gegen diese Schätzungen, die Sekundärliteratur entnommen sind.
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ker an die Grenzen ihrer fachlichen Fähigkeiten. Die souveräne Handhabung gemein- und partikularrechtlicher Rechtsquellen und Argumentationsformen war hohe juristische Kunst. Über Plausibilitätserwägungen ist für heutige Betrachter nur schwer hinauszukommen. Die Fähigkeit, einer Entscheidung auch dann einen ordentlichen Grad an Plausibilität zu verleihen, wenn in der Sache massive Zweifel bestanden, gehörte zum Kernprofil der praxisgestählten Professoren des Usus Modernus. Vor diesem Hintergrund gewinnen die zeitgenössischen Klagen über „pflichtwidrige Bequemlichkeit“ und „Ungründlichkeit“ bei der Entscheidung der Prozesse im Rahmen der Aktenversendung besonderes Interesse. Der Heidelberger Professor Gensler sah die Hauptursache in seiner Anleitung zur gerichtlichen Praxis in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (1821) darin, dass „das Urtheilmachen als Nahrungsarbeit fabrikmässig betrieben wird.“⁶⁴ Für kleine Fakultäten mit schwachem Geschäftsanfall, etwa Rinteln oder Duisburg, war diese Behauptung gewiss übertrieben. Bei großen Spruchkollegien während der Blütezeit der Aktenversendung traf sie wahrscheinlich ins Schwarze. So konstatierte der Doktorand Engelbert Klugkist zur Göttinger Juristenfakultät als Spruchkollegium (1952), die Arbeitsbelastung der universitären Richter sei „manchmal ungeheuer“ groß gewesen.⁶⁵ Karl Friedrich Elsäßer, ein Vorsitzender der Juristenfakultät Erlangen, vermerkte aus intensiver eigener Erfahrung, dass „die Aktenarbeit bei Spruchcollegien eine der mühsamsten und gedankenlosesten Beschäftigungen“ sei. Der „Fakultist“ sei ein ordentlicher Rechtslehrer, der zugleich vollständig im Universitätsbetrieb stehe. „Bei einer unbedeutenden Universität und einer geringen Facultätskundschaft“ (!) sei der doppelte Arbeitsanfall zu bewältigen. Bei einer „blühenden Universität“ werde „aber diese Pflichterfüllung zur Unmöglichkeit“.⁶⁶ Friedrich Carl von Savigny hat seine Einschätzung in seiner Programmschrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814) niedergelegt: Im Laufe der Rechtsentwicklung seien in Deutschland die „Juristenfakultäten als Spruchcollegien zu allgemeinen Urtheilsfabriken geworden“. Durch den übermäßigen Geschäftsanfall sei „ihre Arbeit meist handwerksmäßiger ausgefallen, als die der besseren Gerichte“. Durch „die nothwendige Uebung dieses unersprieslichen Handwerks“ seien der gelehrten Jurisprudenz die besten Kräfte entzogen worden und würden ihr zum Teil immer noch entzogen. Die universitätsinternen
Johann Kaspar Gensler, Anleitung zur gerichtlichen Praxis in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, verbunden mit theoretischen Darstellungen und Bemerkungen. Heidelberg 1821. Engelbert Klugkist, Die Göttinger Juristenfakultät als Spruchkollegium. Göttingen 1952, S. 49. Karl Friedrich Elsässer, Ueber den Geschäftsgang von der Versendung der Akten an Rechtskollegien an bis zur Eröfnung des eingehohlten Urthels. Stuttgart 1791, in: Wilhelm August Friedrich Danz, Grundsätze des ordentlichen Prozesses. Stuttgart 1806, S. 1–79 (hier S. 28).
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Sachzwänge seien so stark gewesen, dass es „bey alten Fakultäten nicht mehr in der Macht einsichtsvoller Mitglieder“ gestanden habe, diese schädlichen Verhältnisse „zu reinigen“.⁶⁷ Savignys Programmschrift erschien 26 Jahre vor dem Aufsatz von Sartorius. Sie gehört zu den bekanntesten Texten der deutschen Rechtswissenschaft überhaupt. Sartorius hat sie nicht zitiert. Stattdessen hat er in seinem Aufsatz stillschweigend unterstellt, dass die Ergebnisse der fabrikartigen Urteilsarbeit deutscher Rechtsprofessoren für ihre Kundschaft von tadelloser Qualität gewesen seien. Elsäßers Arbeit, die speziell der Aktenversendung gewidmet war, fertigte er in Fußnoten ab. Die Qualitäts-Unterstellung war eine der Prämissen seiner Argumentation im Ganzen; zivilrechtlich könnte man sie als ihre Geschäftsgrundlage bezeichnen. Mit dieser Nichtzitierung hängt es zusammen, dass Savignys Kritik auch in späteren Arbeiten zur Aktenversendung selten Erwähnung fand, seiner überragenden fachlichen Autorität zum Trotz. Auf einen weiteren Kritiker – Gustav Hugo, Rechtsprofessor zu Göttingen – ist aus anderer Perspektive zurückzukommen. Die rechtshistorische Erwartung, dass sich die „zeitgenössische Diskussion um die Aktenversendung“ über den Aufsatz von Sartorius erschließe,⁶⁸ bedarf einer Einschränkung. Ausgerechnet die wichtigsten der kritischen Stimmen sind nicht nachgewiesen.
3.4 Aktenversendung in Zivilsachen, insbesondere zum Familiengüter- und Erbrecht Die Aktenversendung kam in Zivilprozessen sehr häufig zur Anwendung, wenn die Parteien in Erbschafts- und Eheprozessen oder in lehensrechtlichen Konflikten um die Zuordnung ganzer Vermögensmassen stritten. Zur Fülle der Erbstreitigkeiten trugen die geringere Lebenserwartung und die hohe Kinderzahl ebenso bei wie die komplizierten rechtlichen Strukturen. Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen bildeten streitanfällige Parteivereinbarungen und Verfügungen von Todes wegen, insbesondere Eheverträge, Erbverträge, Teilungs- und Auseinandersetzungsverträge und Ehegattentestamente. Parteien, die um ein Vermögen als Ganzes
Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg 1814, Ziffer 8), S. 128 f. Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 282, Anm. 95; zu Hugo unter 3.6; z. B. werden weder Hugo noch Savigny bei Laagland, Lehren, Forschen, Recht sprechen (wie Anm. 7), als Kritiker der Aktenversendung in Rechnung gestellt (vgl. S. 249), obwohl diese Schrift sogar ihren Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat.
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oder um ihren Anteil daran stritten, neigten zur Ausschöpfung aller rechtlichen Ressourcen. Aus demselben Grund lag hier schon der Schwerpunkt der spätmittelalterlichen Parteigutachten. Isenmann trifft dazu die Feststellung: „Konsilien betrafen vorherrschend Familien- und Erbrecht“.⁶⁹ Bezeichnenderweise empfahl Andreas Alciatus, einer der großen humanistischen Rechtsgelehrten des 16. Jahrhunderts, seinen Studenten im Hörsaal, sich in ihrer künftigen Berufspraxis auf das Erbrecht zu konzentrieren. Hier könnten sie als Advokaten den größten Gewinn und ehrenhafte Reichtümer erwerben. Auch der größte Teil der Rechtsgutachten, die von Professoren erstattet würden, bezöge sich auf diese Materie. Die sonstigen Klagen seien für die Juristen weniger vorteilhaft, weil es oft um vergleichsweise geringfügige Summen gehe.⁷⁰ In aller Selbstverständlichkeit rechnete Alciatus die Professoren zur Berufsgruppe der Anwälte, soweit es um ihre Konsilien ging, die sie im Auftrag und Interesse dafür zahlender Parteien verfassten. Als Beispiel nannte er Baldus de Ubaldis, von dem mindestens 2.850 Konsilien überliefert sind, sehr viele zu erbrechtlichen Problemen. Dieser große professorale Konsiliator war übrigens auch Syndicusanwalt der Kaufmannschaft der Handelsstadt Perugia.⁷¹ Tendenziell trifft man aber in allen zivilrechtlichen Regelungsbereichen auf Aktenversendungen und ebenso auf professorale Parteigutachten, zum Beispiel im Vertragsrecht, Deliktsrecht, Grundstücks- und Nachbarrecht wie auch im Konkursrecht, in dem sich die höchsten Aktenstapel türmten.⁷² Eine zeitgenössische
Isenmann, Aufgaben und Arbeitsweisen (wie Anm. 33), S. 63; vgl. Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 32. Fallstudien zur Gutachtenpraxis z. B. bei Susanne Lepsius, Die Ehe, die Mitgift und der Tod, in: Falk/Luminati/Schmoeckel (Hrsg.), Fälle aus der Rechtsgeschichte (wie Anm. 21), S. 129–146. In jenem Fall erstatteten zehn Experten des gelehrten Rechts, darunter Baldus de Ubaldis, „in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts einzeln oder zu zweit insgesamt sieben Gutachten“, ebd., S. 128. Ulrich Falk, „Uhralte Gewohnheiten“. Beobachtungen zu einem erbrechtlichen Gutachten von Christian Thomasius, in: Andreas Thier/Guido Pfeifer/Philipp Grzimek (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren in der Europäischen Rechtsgeschichte. Frankfurt a. M. 1999, S. 127–148; ders., Das Testament des Kaufmanns. Betrachtungen zu einem berühmten Rechtsfall, in: Rainer Maria Kiesow/Regina Ogorek/Spiros Simitis (Hrsg.), Summa. Dieter Simon zum 70. Geburtstag. Frankfurt a. M. 2005, S. 141–177. Ernst von Moeller, Andreas Alciat (1492–1550). Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der modernen Jurisprudenz. Breslau 1907, S. 84 f. Dazu Ulrich Falk, „Une reproche que tous font à Balde“. Zur gemeinrechtlichen Diskussion um die Selbstwidersprüche der Konsiliatoren, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Juristische Argumentation – Argumente der Juristen. Köln/Weimar/Wien 2006 (QFHG, Bd. 49), S. 29–54. Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 20, 47, 137, 196, 199 f.; zu den Ursachen ders., Die Konkursübel. Forschungsfragen zur Geschichte des Konkursverfahrens in Deutschland, in: ZRG GA 131 (2014), S. 266–324 (insbes. S. 284–304).
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Standardformel zur gerichtlichen Verkündung eines von externen Experten erstellten Urteilsentwurfs lautete in Zivilsachen: wird auf erhobene Klage, dagegen vorgeschützte Einreden und weitere Verhandlungen, nach geschehener Submission zum rechtlichen Erkenntniß, auf eingeholten Rath auswärtiger Rechtsgelehrten, hiermit durch Urthel zu Recht erkannt: … ⁷³
In jenem Fall ging es um eine Versendung an die Juristenfakultät Tübingen, die das Gericht am 12. Januar 1799 in einem ehegüterrechtlichen Streit vorgenommen hatte. Die Schlussformel des Entwurfs, der nach 19 Monaten erging, lautet so: Daß wir diese Urthel den Acten und Rechten gemäß erachten, bezeugen wir unter Vordrückung unseres Fakultäts-Insiegels. Actum in Collegio nostro, Tübingen den 27. August 1800. (L.S.): Decanus und andere Doctores und Professores der Juristen Facultät auf der Herzoglich Württembergischen Universität allhier. ⁷⁴
3.5 Verfahrensrechtliche Multiplikatoren der Aktenversendung In fast jedem Prozess konnte es zu mehreren Versendungen kommen. Im Beispiel, das Oestmann in seinem Lehrbuch vorstellt, kamen in einem Zivilprozess aus der Reichsstadt Lübeck im Laufe von vier Jahren (1745–1748) die Fakultäten zu Halle, Leipzig und Frankfurt/Oder zum Zuge.⁷⁵ Auf diesem Verfahrensweg wurden keineswegs nur Endurteile, sondern auch Zwischenentscheidungen getroffen, im Strafprozess unter anderem über die Zulässigkeit einer Folter, den anzuwendenden Foltergrad oder die Zulässigkeit einer Wiederholung bei neuen Verdachtsgründen.⁷⁶ In einer Zivilsache konnte zuerst ein Grundurteil ergehen, dem sich nach erneuter Aktenversendung ein Schlussurteil über die Höhe einer Klageforderung anschließen konnte. Widerklagen und zur Aufrechnung gestellte Gegenforderungen konnten die Versendungszahl ebenfalls steigern. Von der normativen Ausgestaltung des Prozessrechts im jeweiligen Gerichtsgebiet hing es ab, in welchem Umfang die einzelne Partei zwingenden An-
Merkwürdige Unrechtssprüche (wie Anm. 56), S. 160. Merkwürdige Unrechtssprüche (wie Anm. 56), S. 162 (vom Herausgeber in Anlage B im Wortlaut wiedergegeben). Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 193. Oestmann, Zur Gerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 43.
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spruch auf Aktenversendung hatte.⁷⁷ In jedem Fall gehörte die Stellung solcher einseitigen Anträge zum Standard anwaltlicher Interessenvertretung. Auch Rechtsmittel gegen Zwischen-, Grund- und Endurteile wurden auf diesem Wege erledigt. Im dreistufigen Instanzenzug waren Appellationen gegen Zwischenurteile weit verbreitet. Aufgehoben wurde zum Beispiel ein Urteil, das ein Spruchkollegium an der Schwelle zum 19. Jahrhundert gefällt hatte. Betroffen war die „Juristen Fakultät zu Rinteln, wohin die Acten zum Spruche Rechtens verschickt worden waren“. Sie hatte „nach fleißiger collegialischer Erwägung“ – das war eine der Standardformeln – einer Klage in einem Erbstreit stattgegeben. Dieses Urteil war nach Einschätzung der Fakultät, die über das Rechtsmittel zu befinden hatte, im Ergebnis wie auch in der Begründung grundfalsch. Darum verurteilte die andere Fakultät – deren Ort bleibt in der Quelle ungenannt – den schlussendlich unterlegenen Kläger zu vollem Ersatz aller Kosten. Eine solche Kostenentscheidung war seinerzeit eine seltene Ausnahme und beinhaltete eine symbolische Ohrfeige für die Rintelner Spruchjuristen.⁷⁸ Die verfahrensrechtlichen Multiplikatoren durch Rechtsmittel wie Appellation, Oberappellation, Nichtigkeitsbeschwerde und Revision waren zahlreich. Über der Abarbeitung jeder einzelnen Versendung gingen fast immer Monate ins Land. Oft war das ein ganzes Jahr oder mehr. Sartorius kommentierte das so: „Nach dem gemeinen Rechte können ohne Unterschied bei niederen und höheren Gerichten und bei allen Instanzen die Akten versendet werden.“ Darum habe die Aktenversendung „nichts mit einem Rechtsmittel, namentlich mit der Appellation, gemein“. Bezeichnenderweise würden „die Spruch-Kollegien auch Urtheile erster Instanz abfassen“. Sartorius war sich der rechtspraktischen Brisanz genau bewusst, denn er schickte diese rechtspolitische Empfehlung nach: In legislativer Beziehung ist zu wünschen, daß wenigstens bei den Untergerichten die Aktenversendung untersagt sei; denn dadurch wird verhütet, daß die Spruch-Collegien unmäßig mit
Vgl. etwa Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 250; in dem von Oestmann, Zur Gerichtsbarkeit (wie Anm. 1), edierten Schmuggeleiprozess stritt man um die Zulässigkeit eines einseitigen Versendungsantrags des Beklagten wegen einer Fristversäumung. Zur Kostenproblematik Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 101–132. Im Fallbeispiel von Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 190 f., stand am Ende eine Kostenaufhebung. Traditionell umstritten war in der römischrechtlichen Tradition, in welchem Umfang auch Zwischenurteile angefochten werden konnten. Hier hat das kanonische Recht die Palette der Rechtsmittel „viel großzügiger“ gehandhabt; dazu Oestmann, Zur Gerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 14; die rechtspraktische Brisanz tritt in einem Mammutverfahren am OAG Lübeck im 1. Drittel des 19. Jhs. drastisch vor Augen; dazu Falk, Höchstrichterliche Rechtsprechung (wie Anm. 3), S. 137–141.
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Geschäften überladen werden, und dass das Institut durch einen gar zu gemeinen und häufigen Gebrauch seine Würde einbüße. ⁷⁹
Keine Aussagen traf er zur Frage, ob denn nicht genau das in der Aktenversendung im 16. bis 18. Jahrhundert der problematische Normalfall war: unmäßige Überladung der Professoren durch gar zu allgemeinen und häufigen Gebrauch. Der Gesetzgebung seines eigenen Zeitalters gab er zu bedenken, dass die erstinstanzliche Aktenversendung „beinahe noch voreilig und überflüssig“ sei, „solange die Parteien durch Angehung zwei höherer Instanzen“ stufenweise Verbesserung der ergehenden Urteile erlangen könnten. Die Beschränkung würde außerdem den Vorteil haben, dass „die akademischen Lehrer für Vorlesungen und Studien noch die gehörige Zeit behielten.“⁸⁰ Indirekt bestätigte Sartorius einen der geläufigsten Schwachpunkte des Verfahrensmodells: die Vernachlässigung des universitären Unterrichts und der rechtswissenschaftlichen Arbeit durch professorale Urteilsverfasser. Seine Erwiderung hatte er dem letzten Absatz seines Plädoyers vorbehalten: Die Gefahren „für die akademische Berufsthätigkeit an den Universitäten“ seien „nur auf den möglichen Mißbrauch zu beziehen“. Außerdem würden „große Vortheile auch den Mitgliedern von Juristen-Fakultäten dadurch zuwachsen“, dass ihre wissenschaftliche Arbeit und Lehre an Lebensnähe gewinne.⁸¹
3.6 Beispiel: Spruchkollegium der Universität Göttingen Gustav Hugo (1764–1844) wurde 1788 in Halle promoviert und sogleich in Göttingen zum Professor ernannt. Dort „wirkte er mit großem Erfolg als Lehrer und Wissenschaftler, mit zahlreichen Auszeichnungen und Titeln geehrt, bis zu seinem Tode.“⁸² Gemeinsam mit Savigny war er einer der „beiden Gründungsväter“ der Historischen Rechtsschule, die Hans-Peter Haferkamp als „arbeitsteilig organisiertes Netzwerk“ zur Erforschung des vorjustinianischen Rechts charakterisiert.⁸³
Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 252. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 252, im Anschluss an Elsässer, Ueber den Geschäftsgang (wie Anm. 66), S. 27–31. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 256. Klaus Luig, Art. Hugo, Gustav, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München 2001, S. 313 f. Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 18, 139, 326.
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Zu Hugos reichhaltigem Werk⁸⁴ gehört das „Civilistische Magazin“, eine Zeitschrift, die er anfangs fast alleine mit Beiträgen versorgte.⁸⁵ Im dritten Band (1798) veröffentlichte er einen Text „Ueber Facultätsarbeiten“. Er wollte sich „eine kleine HerzensErleichterung [sic] über einen Gegenstand“ verschaffen, der nicht oft genug zur Sprache kommen könne, solange nicht „die Vorsteher von Universitäten“ und „die Vorsteher der Justiz (die preußischen Staaten ausgenommen)“ einem Übel abhelfen würden: Der unbeschränkten Zulässigkeit gerichtlicher Aktenversendungen „ohne alle besondere Veranlassung“.⁸⁶ Sie mache die Verfahren viel weitläufiger und kostspieliger. Sie sei eine Hauptursache dafür, dass das gelehrte Studium des Zivilrechts in Deutschland „weit weniger“ betrieben werde als in anderen europäischen Ländern, die keine Aktenversendungen zuließen, namentlich in Frankreich und Holland, wo „die berühmtesten Civilisten“ angesiedelt seien. Er „verkenne den Nutzen gewiß nicht, den die Praxis für die Theorie“ haben könne. Die Sachzwänge, die aus dem System der Aktenversendung erwüchsen, seien aber zu stark. Zwinge man die Rechtsprofessoren, beides zugleich zu treiben, so ist der natürliche Erfolg der: das Gelehrte wird vernachlässigt, denn das Practische pressiert mehr, man wird gemahnt, man hat keine Einnahme, man kommt in Rückstand, wenn man es nicht abthut; die Gelehrsamkeit hingegen kann warten. ⁸⁷
Sobald ein junger Rechtsprofessor in ein angesehenes Spruchkollegium einrücke, werde er mit Aktenarbeit überhäuft. Die meisten Akten würden aus leicht begreiflichen Gründen an jene Universitäten eingehen, „wo die meisten Juristen studieren“. Das habe er in Göttingen seit seinem Eintritt in das Spruchkollegium am eigenen Leibe erfahren. Solange er sich, „wahrlich nicht aus Gewinnsucht, um die Bauern auf dem Eichsfelde, im Schwarzenburgischen, im Hildesheimischen u.s.w. als Richter verdient“ gemacht habe, sei er „für die Gelehrsamkeit überhaupt so gut wie todt“ gewesen. Von diesem Bekenntnis ausnehmen könne er nur seine Vorlesungen, „die freylich in Göttingen nie stocken dürfen“. Nach gewöhnlicher Lage der Dinge sei „mancher juristische Professor“ noch mehr mit Urteilsarbeit belastet als die meisten Mitglieder von Obergerichten. Obendrein habe man im Hörsaal „auf Übersicht bei Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 353–357. Zu diesem Magazin „als erster Sammlungsort“ s. Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 60 f. Gustav Ritter Hugo, Ueber Facultätsarbeiten, in: Civilistisches Magazin, 3. Bd., hier zit. nach der 2. Ausg. Berlin 1829, S. 102–110; vgl. Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 35; zum Göttinger Spruchkollegium im 19. Jahrhundert am Beispiel von Georg Arnold Heise s. auch Falk, Höchstrichterliche Rechtsprechung (wie Anm. 3), S. 126 ff. Hugo, Ueber Facultätsarbeiten (wie Anm. 86), S. 105, 110.
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fleißigen und besuchten Universitäten noch alle Tage zwey, drey oder mehr Stunden zu lesen“.⁸⁸ Darum sei es auch nicht verwunderlich, wenn z. B. in Göttingen, der herrlichen Bibliothek ungeachtet, seit Stiftung der Universität so gar unverhältnismäßig weniger civilistische größere Werke oder auch nur Compendien geschrieben worden sind, als etwa theologische oder medicinische. ⁸⁹
Deshalb war Hugo im Jahr 1797 – so die Worte von Haferkamp – „als einer der ganz wenigen der dazu berechtigten Fakultätsmitglieder seiner Zeit, aus dem Spruchkollegium seiner Fakultät ausgeschieden“.⁹⁰
3.7 Übertragung von Entscheidungsarbeit auf Dritte Weitere Nachteile als die Vernachlässigung der Lehre und der wissenschaftlichen Studien zog Sartorius nicht in Betracht. Das ersparte ihm die heikle Frage, inwieweit die Professoren die Last der Durcharbeitung dicker Gerichtsakten auf andere Personen abgewälzt hatten, insbesondere auf ihre Schüler und bezahlte externe Mitarbeiter aus der Anwaltschaft. Solche Formen der Bewältigung drückender Arbeitslasten auf Honorarbasis und/oder Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen muss die Rechtsgeschichte auch dann in Betracht ziehen, wenn sich dazu im gedruckten und handschriftlichen Archivgut der Universitäten keine Unterlagen finden. Einer der wichtigsten normativen Grundsätze streng schriftlicher Gerichtsverfahren war bekanntlich dieser: quod non est in actis, non est in mundo. Rechtshistoriker müssen sich aber vor dem Irrtum hüten, dass alles, was es zur Aktenversendung zu bedenken gibt, im Archivgut der ehemaligen Spruchkollegien niedergeschrieben wäre. Der letzte Abschnitt des weltberühmten Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein (1889–1951) besteht bekanntlich aus einem einzigen Satz: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Die Professoren, die Aktenarbeit auf dritte Personen abwälzten, haben darüber zu schweigen gewusst. Wenn eine solche Verlagerung im Einzelfall zu fakultätsinterner Verärgerung im Kollegenkreis führte, hat man sich im wohlverstandenen Interesse der Fakultät davor gehütet, ein solches Fehlverhalten aktenkundig zu machen oder gar in der Fachöffentlichkeit anzuprangern.
Hugo, Ueber Facultätsarbeiten (wie Anm. 86), S. 106–108. Hugo, Ueber Facultätsarbeiten (wie Anm. 86), S. 107. Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (wie Anm. 5), S. 36 f.; „mehrfach um Befreiung von der Tätigkeit im Spruchkollegium“ bat auch Savigny; dazu ebd., S. 281.
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Die Gerichtsakten, die man mittels reitender Boten, Eselskarren und Postkutschen transportierte, wurden mit jeder hinzukommenden Versendung umfangreicher, insbesondere durch neu hinzukommende Anwaltsschriftsätze. In den Quellen trifft man auf anschauliche, in der Sache durchaus beklemmende Beschreibungen von Kisten mit Aktenstapeln, die ganze Postwagen füllten. Diese Aktenberge waren von den Kollegien der Experten in jeder Instanz sorgfältig zu lesen und fleißig zu erwägen – zumindest dem offiziellen Anspruch nach. In Standardfällen war es an allen Spruchkollegien selbstverständlich, dass sich nur der jeweils bestellte Referent in die Sache einarbeitete, überwacht durch den Vorsitzenden des Kollegiums. Ein höherer Verfahrens- und damit gleichzeitig Objektivitätsstandard war erreicht, wenn ein Koreferent bestellt wurde, der sich nicht auf Abnicken und Durchwinken beschränkte. Wie oft das zur tagtäglichen Verfahrenswirklichkeit wurde, hing von der Arbeitsbelastung und dem Arbeitsethos der Betroffenen ab. In den internen Statuten der Universitäten wurde die reifliche kollegiale Prüfung ebenso vorgeschrieben wie in den gerichtlichen Versendungsschreiben. Aber auch Rechtshistoriker dürfen nie vergessen, dass Papier sehr geduldig sein kann. Wiederholende Einschärfungen durch neue Statuten deuten im Zweifel darauf hin, dass es um die bisherige Befolgung der normativen Gebote nach Beobachtung des Normgebers gerade nicht zum Besten stand. Zu den „Beyspielen und Geständnissen“, die Hugo „Ueber Facultätsarbeiten“ zum Druck brachte, gehört auch diese Aussage zur Verfahrenswirklichkeit an der Universität Göttingen: Man hat ja nicht einmahl einen CorReferenten [sic], der die Acten gelesen hat, also hängt alles oft von einem einzigen Mitgliede ab; je einseitiger dieser das Faktum vorträgt, desto weniger kann er abvotirt werden [also von den anderen Mitgliedern des Kollegiums überstimmt werden].⁹¹
3.8 Nötigungspotential von Prozessverschleppung und Kostendruck Die Rechtsmittel, die zur Multiplikation von Versendungen führten, taugten vorzüglich zur Verlangsamung und Verteuerung von Verfahrensabläufen, sobald eine der beiden Parteien daran ein Interesse hatte. Eine verschleppungswillige Partei
Hugo, Ueber Facultätsarbeiten (wie Anm. 86), S. 106 Fn.*. Zu Anspruch und Wirklichkeit kollegialer Entscheidungen s. Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 189–193; zur faktischen Abschaffung des Ideals gleichmäßiger Aktenkenntnis aller Mitglieder von Kollegialgerichten seit dem 16. Jh. „einzig und allein unter dem Diktat des Geschäftsanfalls“ Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 7), S. 224; ders., Unbeobachtet vorübergegangen? Gerichtliches Entscheiden im Spiegel der genetischen Aktenkunde, Beitrag im vorliegenden Sammelband, S. 313–343, 317 ff.
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musste es sich allerdings leisten können, für die von ihr beantragte Versendung allein in Vorschuss zu treten. Den praktischen Hauptfall bildete die Verschleppung gegnerischer Klageforderungen. In der Regel hatte der Beklagte auch im Falle seiner schlussendlichen Verurteilung nur die eigenen Anwaltskosten in voller Höhe zu tragen, dazu die Hälfte der Gerichts- und Versendungskosten, keineswegs aber die gegnerischen Kosten. Was die in voller Höhe vorgeschossenen Versendungskosten anging, standen die Chancen nicht schlecht, dass vom Kollegium im Ergebnis ein hälftiger Erstattungsanspruch zuerkannt wurde. Die Aussichten auf eine solche Kostenteilung stiegen erheblich, wenn die Partei, die den Versendungsantrag gestellt hatte, Parteigutachten anderer Spruchkollegien vorweisen konnte, die ihr im Vorfeld hinreichende Erfolgsaussichten (iusta causa litigandi) bescheinigt hatten. Auch solche Gutachten musste man sich freilich leisten können. Auf den Funktionszusammenhang zwischen Parteigutachten und Aktenversendung ist zurückzukommen. Auf diese Weise konnte obendrein ein massiver Kostendruck auf Gegner entfaltet werden, die ihre eigenen Anwaltskosten und die hälftigen Gerichtskosten nicht verkraften konnten. Die Inhaber durchaus berechtigter Forderungen liefen Gefahr, im schlimmsten Fall finanziell auszubluten oder den Prozess durch einen nachteiligen Vergleich oder Klagerücknahme wider Willen beenden zu müssen. Bei ungünstigem Verlauf konnten sie im Kampf mit einem wirtschaftlich überlegenen Gegner, der seine prozessualen Waffen konsequent einsetzte, gleichsam am ausgestreckten Arm verhungern.⁹² In der sozialen Realität der frühen Neuzeit konnte ein solches Aushungern über ein bloßes Sprachbild hinausgehen. Für zahlungsunfähig werdende Parteien, die über keinen sozialen Rückhalt verfügten, waren der Schuldturm und die Obdachlosigkeit realistische Szenarien. Gestärkt wurde der Durchhaltewillen der Kläger durch die Aussicht auf gerichtlich zugesprochene Prozesszinsen. Ein solcher Zinsanspruch hatte ebenfalls zweischneidige Anreizwirkungen. Man denke an Beklagte, die mit Forderungen eines vermögenden Klägers konfrontiert wurden, der Parteigutachten namhafter Fakultäten vorlegte und die feste Absicht bekundete, seine Klage nötigenfalls durch alle Instanzen zu treiben. In dieser Lage mussten die Beklagten nicht nur fürchten, schlussendlich zur Zahlung der Hauptforderung und der hälftigen Kosten verurteilt zu werden (letzteres sogar bei Abweisung der Klage), sondern auch zur Zahlung der über Jahre hin aufgesummten Prozesszinsen.
Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 101–132, 133–141; zum Nötigungspotential, das zahlungsschwache Parteien zum Aufgeben zwingen konnte, weil ihnen das Geld zur Fortführung ihrer Prozesse ausging, jetzt auch eindringlich Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 7), S. 226–231; ders., Appellationsgericht (wie Anm. 60) bei Fn. 234.
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Peter Oestmann hat in seiner zweibändigen Edition eines Schmuggeleiprozesses (2019) auch die praktische Dimension der Prozesszinsen beleuchtet. Am Ende jenes Prozesses, der bis zum Oberappellationsgericht Lübeck führte, war in den abschließenden Vergleichsverhandlungen der Anwälte „herausgekommen, dass allein die Prozesszinsen ohne die sonstigen Gerichtskosten genauso hoch waren wie die Hauptforderung“. Der Prozess war – so Oestmanns Diagnose – im Laufe von 16 Jahren wegen der Ausschöpfung der Rechtsmittel „völlig aus dem Ruder gelaufen“. Im Laufe der „fünfmaligen Appellation“ kam es auch zu zwei Aktenversendungen an Juristenfakultäten (Jena, Kiel). In dem „Mammutverfahren“ wurden schon „allein vor dem Oberappellationsgericht über 1.500 Seiten Papier produziert“. Der prozessuale Wahnsinn fand sein Ende in einer zweiten anwaltlichen Verhandlungsrunde vor dem hochangesehenen Präsidenten des Gerichts, Arnold Heise (1778–1851). Man einigte sich auf eine Vergleichssumme von 6.500 Mark; die Hauptforderung hatte umgerechnet 11.065 Mark betragen, die Prozesszinsen 10.623 Mark.⁹³ Diese Rückkehr zur Vernunft war im Wesentlichen das Ergebnis mündlicher Kommunikation. In der Verfahrenslogik der Aktenversendung und ebenso in einem rein schriftlich geführten Gerichtsverfahren, das vom Gericht selbst durch Endurteil abgeschlossen wurde, war ein Vergleich, der in einer Gerichtsverhandlung auf Anraten des Gerichts ausverhandelt werden konnte, ein Fremdkörper. Die Auswirkungen auf die Verfahrensdauer waren beträchtlich. In einem Absatz seines rechtspolitischen Plädoyers kam auch Sartorius auf die „Vertheuerung des Prozesses“ zu sprechen. Dabei ging er von dem unproblematischen Fall aus, dass beide Parteien einen Antrag auf Versendung stellten. Dann geschehe, getreu dem Rechtsgrundsatz „volenti non fit iniuria“, niemandem Unrecht. Die wirtschaftlichen Konsequenzen, die von einseitigen Anträgen ausgehen konnten, überging Sartorius wortlos. Grund zu rechtspolitischer Besorgnis sah er nur, wenn die Versendung „von Amtswegen vorgenommen“ werde. Wegen etwaiger „Beschwerden“ sei hier „ein gewisser praktischer Takt der Gerichte“ anzuraten. Die Richter sollten nur dann zur Versendung schreiten, „wenn es Noth thut“, und wenn die Parteien „mutmaßlich Sinn und Bereitwilligkeit für eine klassische Versendung haben“.⁹⁴ Die eigentliche Brisanz der Verfahrenskosten konnte oder wollte Sartorius nicht in seine Überlegungen einstellen.
Oestmann, Zur Gerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 31 f.; Entscheidungsgründe der Urteilsvorschläge der Juristenfakultät Jena im Volltext ebd., S. 137–149, 175–185, der Juristenfakultät Kiel ebd., S. 821–850. Zu Oestmanns Edition und jenem Prozess s. Falk, Vorläufige Beobachtungen zu einem Mammutverfahren am Oberappellationsgericht Lübeck (1819–1835), in: ZRG GA 139 (2022), S. 284–294; ders., Höchstrichterliche Rechtsprechung (wie Anm. 3), S. 131 ff. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 248.
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4 Ausmaß der Verschriftlichung 4.1 Vorausgehende Verfahrenshandlungen Die Aktenversendung war eine prototypische Ausprägung eines rein schriftlichen Verfahrensmodells. Diese Aussage bedarf aber einer Einschränkung von großer praktischer Bedeutung: Diese strenge, kompromisslos durchgeführte Schriftlichkeit setzte erst zu einem bestimmten, keineswegs frühen Zeitpunkt des Prozessverlaufs ein. Jede andere Form der Kommunikation, insbesondere mündlicher Vortrag durch Parteien und Anwälte vor dem zuständigen Gericht, war erst dann zwingend ausgeschlossen, wenn die Gerichtsakte von den Richtern zur Versendung an ein Spruchkollegium verpackt, versiegelt und einem gerichtlichen Boten übergeben worden war. Je nach Art und Besonderheit des jeweiligen Falles gingen einer Aktenversendung sehr wohl mündliche Verfahrenshandlungen voraus. Man denke im Zivilprozess nur an die Vernehmung von Zeugen, im Strafprozess an das Verhör des Angeklagten, schlimmstenfalls unter Einsatz der strafprozessualen Folter. Die Zeugenaussagen und die Einlassungen der Angeklagten waren von den Richtern möglichst genau zu protokollieren, um den Inhalt der Aussagen aktenkundig machen zu können.⁹⁵ Für die protokollführenden Mitglieder des Gerichts oder beauftrage Dritte – zum Beispiel Notare – eröffneten sich schwer kontrollierbare Spielräume bei der Wahl ihrer Formulierungen. Diese Problematik betrifft keineswegs nur Extremfälle bewusster Parteilichkeit. Praktisch viel wichtiger sind all jene Fälle, in denen Vernehmungspersonen und Protokollführer in gutem Glauben an ihre Unparteilichkeit handelten, ihre Wahrnehmungen und ihre Wortwahl bei der Verschriftlichung aber unbewusst von Befangenheiten, Sympathien und Antipathien beeinflusst wurden. In brutaler Deutlichkeit kann man dies in Strafprozessen studieren, an erster Stelle in den Hexenprozessen.⁹⁶ Diese Verzerrungen des menschlichen Denkens sind – bezogen auf die Gegenwart – ein Hauptgegenstand im interdisziplinären Forschungsfeld der Verhal-
Edition des Protokolls einer notariellen Zeugenvernehmung im Volltext ediert bei Oestmann, Zur Gerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 208–222; zum oft unterschätzten „Wechselspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ vorzüglich Schenk, Unbeobachtet (wie Anm. 91), S. 313–343 (Zitat S. 334). Oestmann, Hexenprozesse (wie Anm. 19), S. 527, weist darauf hin, dass „Hexenrichter und Folterer durch Suggestivfragen und vorgesagte Namen die Verfolgungen in jede beliebige Richtung lenken“ konnten. Diese Feststellung ist generell zutreffend, sobald die Folter zum Einsatz kam.
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tensökonomik (Behavioral Economics).⁹⁷ Das Erklärungspotential dieser Forschung, die in Deutschland immer noch hinterherhinkt, ist auch für das Entscheidungsverhalten der richterlichen und professoralen Akteure im Rahmen der Aktenversendung von großem Interesse.⁹⁸ Der vorliegende Beitrag bedarf in dieser Hinsicht vieler Ergänzungen. Um den Umfang des Texts nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, muss dieser allgemeine Hinweis genügen.
4.2 Eventualmaxime Der Versendungsakt wurde seinerzeit als Inrotulation bezeichnet. Ein prozessuales Handbuch aus der Mitte des 18. Jahrhunderts erläuterte das so: Inrotuliren heißt so viel, als zusammen rollen. Denn weilen die acta an vielen Orten in Teutschland nicht geheftet, sondern die Schriften in quarto zusammengeleget und numeriret werden; so ist die collatio und inrotulatio actorum höchst nötig, damit die Partheyen, wenn die acta zum Spruch instruiret sind, nachsehen können, ob die acta complet seyen, oder ob etwas ohne ihr Wissen dazugebracht, oder davon genommen ist. ⁹⁹
Diese Kontrolle der Vollständigkeit der Akte durch Parteivertreter förderte die Legitimität des Verfahrens.¹⁰⁰ Eine wirkliche „Durchsehung“ – so eine andere zeitgenössische Bezeichnung – war aber bei umfangreichen Akten in der Praxis völlig ausgeschlossen.¹⁰¹ Der formelle Akt der Inrotulation enthielt auch mündliche und körpersprachliche, ritualisierte Elemente. In aller Regel gingen ihm viele andere Verfahrensschritte voraus, im Zivilprozess beginnend mit der Einreichung einer Klageschrift, die den Schriftsatzwechsel der Parteien einleitete. In der Logik des Verfahrens lag es, dass diese Schriftsätze großen Umfang annahmen. Dazu trug die verbreitete Bezahlung von Anwälten nach der Zahl der von
Als aktuelles Beispiel seien die Beiträge in der Zeitschrift für Psychologie 3/228 (2020), S. 145–228, genannt: Anna Zagana/Melina Sauerland (Hrsg.), The Psychology of Forensic Evidence. Einiges hat in jüngerer Zeit auch Eingang in deutschsprachige Standardliteratur gefunden: Rolf Bender/Armin Nack/Wolf-Dieter Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht. 4. Aufl. München 2014, S. 4–51. Dazu Falk/Alles, Verhaltensökonomik und Anwaltsrhetorik (wie Anm. 25), S. 1209–1218; Ulrich Falk, Rückschaufehler und Fahrlässigkeit – Zivilrechtliche Perspektive, in: Rechtswissenschaft (2019), S. 204–229. Johann Friedrich Seyfart, Teutscher Reichs Proceß. 2. Aufl. Halle 1756, Cap. XXII, Von dem Beschluß der Sache und von der inrotulatione Actorum, § 7 (S. 455 f.); zur Inrotulation Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 215 f. Rechtssoziologisch grundlegend dazu Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2002. Oestmann, Zur Gerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 36.
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ihnen beschriebenen Bögen einiges bei. Auch pflichtbewusste Anwälte, denen nicht die Höhe ihres Honorars im Hinterkopf steckte, mussten darauf bedacht sein, in ihren Schriftsätzen alles vorzutragen, was für ihre Partei von Vorteil sein konnte. In rechtslogischer Hinsicht schloss das nicht nur einfache Eventualfälle ein, sondern ebenso weitere, nachgeschaltete Eventualfälle. Das einfachste Beispiel bietet die Auswahl zwischen umstrittenen Rechtsauffassungen, wenn der Anwalt nicht absehen konnte, welche Auffassung das jeweilige Spruchkollegium vorziehen würde. Im gemeinen römischen Recht waren heftig umstrittene Rechtsfragen in Hülle und Fülle anzutreffen. Zusätzliche Streitfragen erwuchsen aus der Konkurrenzlage mit Land- und Stadtrechten. Wenn ein Anwalt hilfsweise zur Rechtslage nach Partikularrecht vortrug und sich auch dort Streitfragen in den Weg stellten, war mehrfach gestaffelter Hilfsvortrag unausweichlich. Für Anwälte ist es immer hilfreich, den Tatsachenvortrag und die Stellung von Anträgen und Hilfsanträgen auf die ständige Rechtsprechung des zuständigen Gerichts abstimmen zu können. Wenn aber vor den Anwälten geheim gehalten wurde, welches Spruchkollegium den Rechtsstreit inhaltlich entscheiden würde, so war hilfsweiser Vortrag zu allen potentiell maßgeblichen Tatsachen- und Rechtsfragen angezeigt. In vielen Prozessordnungen wurde solcher Vortrag im Sinne einer weitreichenden Eventualmaxime ausdrücklich gefordert. Bei Verstößen gegen diese prozessuale Obliegenheit liefen Parteien und Anwälte akute Gefahr, mit späterem abweichenden Sachvortrag einer der zahlreichen Präklusionsbestimmungen zum Opfer zu fallen. Unter Präklusion verstand man den Ausschluss weiterer Prozesshandlungen wegen prozessualer Versäumnisse.¹⁰² Anwälten, die auf ihre Honorare schielten, konnte es nur recht sein, wenn sie vom Prozessrecht zu erschöpfendem Vortrag angehalten wurden. Sorgfältige, auf die Sache konzentrierte Anwälte wird es aber ebenfalls gefreut haben, wenn sie für ihre anstrengende Berufsarbeit nach dem seitenmäßigen Umfang entlohnt wurden. Peter Oestmann gibt in seinem Lehrbuch auch hier eine treffende Worterklärung. „Eventualmaxime: Versuch zur Prozessbeschleunigung durch die Obliegenheit, alle Angriffs- und Verteidigungsmittel zu Beginn des Verfahrens einzubringen“.¹⁰³ Aus der Rechtssoziologie weiß man, dass gut gemeinte Normierungen in der Rechtswirklichkeit das genaue Gegenteil dessen bewirken können, was der Normgeber erreichen möchte. Im Fußball nennt man das Eigentor. Die Eventualmaxime „sollte den Prozess beschleunigen, ließ aber schon am Anfang des Rechtsstreits die
Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 240, 278; zur Eventualmaxime aus anwaltlicher Perspektive ders., Rechtsvielfalt (wie Anm. 42), S. 149, 646, 681, 684 und öfter. Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 394.
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Akten stark anschwellen, unabhängig davon, ob es auf sämtliche Punkte später überhaupt ankam.“¹⁰⁴
4.3 Innere Logik des Verfahrensmodells Vor diesem Hintergrund werden Befunde verständlicher, die auf den ersten Blick irritieren können: Gerade die Gerichte der ersten Instanz hatten alle Ursache, alsbald zur Aktenversendung zu greifen. Die Richter auf der untersten Ebene, die im Regelfall über die geringste Fachkunde verfügten, wurden schon bei Prozessbeginn mit Sachvortrag überschüttet, der ihnen rechtliche Rätsel aufgeben konnte. Gestellt wurden diese Rätsel in lateinischer Fachterminologie auf dem Komplexitätsniveau des Corpus Iuris Civilis. Ebenso gerieten auch viele Anwälte sogleich an ihre fachlichen Grenzen. Das Mittel der Wahl, um den Anforderungen und der Verantwortung gerecht zu werden, war auf Klägerseite die Einholung von Parteigutachten schon vor Prozessbeginn, auf Beklagtenseite alsbald nach Zustellung der Klageschrift. Erhältlich waren jene Gutachten an den Spruchkollegien der Universitäten, und ebenso bei ihren einzelnen Mitgliedern. Selbstverständlich hatten sie ihren Preis.
5 Ökonomisches Fundament Die frühneuzeitliche Praxis der Aktenversendung ist als Markt zu deuten, als Markt im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne. Auf diesem Markt haben juristische Experten ihre Dienstleistungen angeboten. Sehr viele Gerichte im Alten Reich haben diese Leistungen über Jahrhunderte hin in großem Umfang nachgefragt. Dadurch haben sich diese Gerichte selbst von der Last der richterlichen Entscheidung und der damit verbundenen Verantwortung entlastet. Die Verfügbarkeit von Aktenversendungen musste sachlich überforderten, schlecht besoldeten Richtern der unteren Instanzen als wahrer Segen erscheinen. In der Regel waren Rechtsprofessoren an den Honoraren, die ihnen aus dem Versendungswesen zuflossen, sehr interessiert.¹⁰⁵ Von einer einigermaßen aus-
Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 240; zum kontraproduktiven Effekt der Maxime im Schmuggeleiprozess am OAG Lübeck s. auch Falk, Höchstrichterliche Rechtsprechung (wie Anm. 3), S. 135. Zum Honorarinteresse Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 4, 23 f., 29 f., 35–63, 96, 117, 182–184, 199 f., 204, 211, 219, 241, 244, 253 f., 260 f., 264, 266–268, 270–273, 353 f., 393–397, 406; zum Konkurrenzdruck ebd., S. 54–59.
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kömmlichen Grundbesoldung konnte oft keine Rede sein.¹⁰⁶ Hauptquellen des Einkommens lagen in den Hörergeldern aus den Vorlesungen, in den Erträgen aus Werken für die Rechtspraxis – so genannten Brotbüchern –¹⁰⁷ und den Honoraren, die unter den Mitgliedern der Spruchkollegien nach Verteilungsschlüsseln ausgegeben wurden, die intern oft hart umkämpft waren.¹⁰⁸ Wenn sich die Zahl der Studenten im Hörsaal in Grenzen hielt und auch der Absatz an Büchern stockte, wurde die kollegiale gutachterliche Arbeit an den Gerichtsakten – und ebenso an Rechtsgutachten im Auftrag von Prozessparteien – umso wichtiger. Oberitalienische Stadtrepubliken des ausgehenden Mittelalters waren sich der Anreizwirkungen, die von solchen Strukturen ausgehen konnten, sehr bewusst. In der grundlegenden Untersuchung von Woldemar Engelmann zur italienischen Justizkultur heißt es zu den Justizbeamten, die man als Podestà bezeichnete: Von großer Bedeutung für die Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der fremden Justizbeamten war die von allen Statuten vorgesehene gesetzliche Beschränkung ihres Diensteinkommens auf ein festbestimmtes Gehalt (Salarium oder Feudum) unter Ausschluß jeglicher Beteiligung an Gebühren oder sonstigen Einnahmen aus der Justiz. ¹⁰⁹
Von einem auskömmlich hohen Festgehalt, das regelmäßig und zuverlässig gezahlt wurde, konnten viele Akteure in der Justizkultur des Alten Reichs nur träumen, vom Dorf- und Bauerngericht bis hinauf zum Reichskammergericht. Die dortigen Richter (Assessoren) mussten mitunter lange Durststrecken überstehen, bis ihnen längst überfällige Gehälter ganz oder auch nur teilweise nachgezahlt wurden. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das grassierende Geschenkewesen weniger anstößig, als es heutigen Betrachtern – und auch damaligen, zornbebenden Justizkritikern – erscheinen muss(te): Die Annahme von Geschenken galt weithin als akzeptabel, soweit sie aus nachvollziehbarem Anlass (Weihnachten, Ostern und ähnliches mehr) erfolgte und gewisse, keineswegs scharf gezogene Grenzen nicht überschritt.¹¹⁰
Dazu Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 35, 51–54, 353 f., 395. Vgl. Oestmann, Gerichtsbarkeit und Verfahren (wie Anm. 4), S. 134: „Verkaufsschlager der frühen Neuzeit“. Dazu Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 39–43, 407. Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur (wie Anm. 34), S. 68. Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 117–124; ders., Das Testament (wie Anm. 69), S. 141–177. Sehr lesenswert auch in diesem Kontext ist die Studie von Schenk, Appellationsgericht (wie Anm. 60).
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6 Funktionszusammenhang von Gerichts- und Parteigutachten 6.1 Multifunktionalität von Parteigutachten Die Parteien und ihre Anwälte haben die Verfügbarkeit von Parteigutachten der Spruchkollegien sowohl im Vorfeld als auch während laufender Prozesse ausgiebig genutzt.¹¹¹ Wenn um bedeutende Vermögenswerte gestritten wurde, gehörte es zum Standard anwaltlicher Interessenvertretung, wenigstens ein Gutachten einzuholen, besser zwei oder sogar drei, falls der Geldbeutel des Klienten das zuließ. Die Konsilien eröffneten eine ganze Reihe von Möglichkeiten und Chancen, die zum Teil erst bei genauer Betrachtung der Rechtspraxis deutlich werden. Die praktisch wichtigsten Rechtsfolgen ergaben sich bei der Kostenentscheidung.¹¹² Von offensichtlichem Interesse für die Auftraggeber war auch die Aussicht, mit der fachlichen Autorität namhafter Spruchkollegien und angesehener einzelner Professoren die Entscheidungsfindung jenes Kollegiums zu beeinflussen, dem die Gerichtsakten zugesendet wurden.¹¹³ Eine der Gemeinsamkeiten liegt in der Schriftlichkeit der Expertise. Nur in dieser Form waren die erwünschten Wirkungen erzielbar. Wie bei den berühmten italienischen Konsiliatoren, so ist auch aus der deutschen Gutachtenpraxis vom frühen 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert ein großer Bestand an Sammlungen mit gedruckten Konsilien erwachsen. Es handelt sich um mehr als 200 meist voluminöse Werke im Folio- oder Quartformat, die meist aus mehreren Bänden bestanden und oft mehrere Auflagen erlebten. In dieser Literaturgattung spiegelt sich der hohe Stellenwert der Konsilienpraxis in der damaligen Rechtsordnung. Darüber hinaus bergen die Archive eine gewaltige, in die hunderttausende gehende Menge ungedruckter Konsilien.¹¹⁴
Dazu Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 93–229. Zur Kostenfunktion Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 101–132. Zur Autoritätsfunktion von Parteigutachten Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 98, 147–170, 185–187. Zu den Entscheidungs- und Konsiliensammlungen s. Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 8–13, 32–34 und öfter; grundlegend Heinrich Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands. Charakteristik und Bibliographie der Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1974; ders., Konsiliensammlungen, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 2. Bd.: Neuere Zeit (1500–1800), 2. Teilbd.: Gesetzgebung und Rechtsprechung. München 1976, S. 1372– 1392.
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Friedrich Carl von Savigny hat dies in seiner Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter mit drei Worten auf den Punkt gebracht. Er bescheinigte der Konsilienpraxis mit kritischem Unterton einen „beinahe fabrikartigen Gang“. Savigny bezog das auf die spätmittelalterliche Praxis in Italien und Frankreich. Aber auch im Deutschland der Frühen Neuzeit liefen die Gutachtenfabriken der Jurafakultäten und Schöffenstühle über Jahrhunderte hin auf vollen Touren.¹¹⁵ Die gedruckten Sammlungen enthalten in bunter Mischung Gerichts- und Parteigutachten. In aller Regel ist der Anteil der consilia pro parte – so der Fachausdruck im gemeinen römischen Recht – hoch. Viele private Auftraggeber zahlten höhere Honorare als die aktenversendenden Gerichte, die auf festen Gebührensätzen bestanden.¹¹⁶
6.2 Objektivitätsthese für Parteigutachten Das rechtshistorische Schrifttum des 19., 20. und in erheblichem Umfang auch des 21. Jahrhunderts neigt zur Ausblendung und Beschönigung dieser Zusammenhänge. Am deutlichsten wird das in professoralen Heldengeschichten, die (auch) in der Rechtsgeschichtsschreibung gerne erzählt werden. Frühneuzeitliche Kritiker hatten dagegen kein Blatt vor den Mund genommen, um die Empfänglichkeit (auch) der professoralen Verfasser von Konsilien für finanzielle Anreize unverblümt aufzuzeigen. Zu nennen sind hier unter anderem Ulrich Zasius, Hartmann Pistoris, Benedict Carpzov, Wolfgang Adam Lauterbach, Augustin Leyser, Friedrich der Große von Brandenburg-Preußen, Johann Schilter, Karl Friedrich Christian Wenck und Rudolph von Jhering.¹¹⁷ Die Liste der Kritisierten reicht bis zu Christian Friedrich Mühlenbruch im Städelschen Beerbungsfall¹¹⁸ und Heinrich Dernburg im Baseler Festungsstreit.¹¹⁹
Von Savigny, Geschichte des Römischen Rechts (wie Anm. 31), Bd. 6. Nachdruck der 2. Ausgabe 1850. Bad Homburg 1961, S. 470; dazu Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 112. Zur Bemessung und Höhe der Honorare Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 39–43, 46–56, 112 f., 199 f., 365. Zur zeitgenössischen Kritik der Gutachtenpraxis Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 241–277. Dazu eingehend Falk, Das Testament (wie Anm. 69); Ryuichi Noda, Zum Städelschen Beerbungsfall, in: ZRG GA 133 (2016), S. 365–403. Dazu Ulrich Falk, Jherings Kampf um die Festungsbollwerke. Eine Rechtsgeschichte zur Praxis der Parteigutachten, in: Neue Juristische Wochenschrift 2008, S. 719–722.
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6.3 Die Stellungnahme von Woldemar Engelmann Wichtig ist in diesem Zusammenhang das grundlegende Werk des Rechtshistorikers Woldemar Engelmann (1865–1942) über „Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre“. Das dritte Kapitel analysiert die „Die Gutachtenpraxis der Rechtsgelehrten und ihre Bedeutung für Rechtspflege und Rechtsentwicklung“. Hier traf Engelmann eine scharf formulierte Unterscheidung: Er konzentriere sich allein auf „die vom Richter eingeholten unparteiischen ‚gerichtlichen‘ Gutachten“ von Rechtsgelehrten im „Gerichtsdienst“. Nicht untersuchen wollte er die Gutachten, die „von einer Partei, ihrem Vertreter oder Sachwalter zur Unterstützung ihrer Sache von einem Rechtsgelehrten eingeholt“ wurden. Sie gehörten „als parteiische Beistandshandlungen nicht zum Gerichtsdienst, sondern zur Advokatentätigkeit“. Sie hätten „weder die Darlegung der wahren Meinung des Gutachters, noch die der rechtmäßigen Entscheidung, sondern nur die der Partei günstigen Rechtsauffassung bezweckt“.¹²⁰ Diese Thesen waren an Deutlichkeit nicht zu überbieten. In Arbeiten, die sich im rechtshistorischen Mainstream der Objektivitätsthese bewegten, wurden sie mit souveränem Schweigen bedacht. Engelmanns Buch wurde als Standardwerk in einleitenden Fußnoten routinemäßig nachgewiesen, seine Unterscheidung zwischen Partei- und Gerichtsgutachten aber übergangen.
6.4 Das Bekenntnis von Ulrich Zasius Engelmanns Unterscheidung hat lange Tradition, in der zum Beispiel Ulrich Zasius steht. In seinem Methodenprogramm des juristischen Humanismus (1526) heißt es, hier wiedergegeben in der bekannten Übersetzung des Rechtshistorikers Roderich Stintzing (1857): Endlich lasse ich den ganzen Wald von Consilien völlig bei Seite, da sie meistens mehr um Gewinns halben und um den Richter zu überreden, als um den wahren Sinn der Quellen zu vertheidigen, verfaßt sind. ¹²¹
Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur (wie Anm. 34), S. 244. Roderich Stintzing, Ulrich Zasius. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Reformation. Basel 1857, S. 144; vgl. Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2: 1250–1650, 4. Aufl. Opladen 1980, S. 237 f.; Hans Joachim Mayer, Die Bedeutung der Rechtsgutachten in der Rezeptionszeit. Basel 1962, S. 165. Zu Zasius hier einleitend schon unter 2.4 (Syndicusanwälte im Usus Modernus Pandectarum).
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Zasius unterschied wie Engelmann zwischen der Nützlichkeit von Konsilien in der Rechtspraxis und ihrem Erkenntniswert für die Rechtswissenschaft. Ihre Eignung im anwaltlichen Kampf für seine Arbeitgeberin, die Stadt Freiburg, hatte er sehr geschätzt. Bezeichnend wirkt eine Episode aus dem Jahr 1495, die Clausdieter Schott berichtet; Zasius hatte sich rastlos bemüht, im Rechtsstreit um die Ablösung der städtischen Schulden bei namhaften Doktoren Rechtsgutachten und Bestätigungen für die Stadt Freiburg zu erwirken und damit dem Prozeß eine günstige Wendung zu geben. ¹²²
Dabei ging es ihm weniger um eigenständige Expertisen als um zusätzliche Unterschriften unter bereits vorliegende Konsilien. So reiste er mit einem Konsilium des Freiburger Kanonisten Knapp nach Tübingen zum dortigen Ordinarius für Kirchenrecht, Martinus Prenninger. Mit dessen Unterstützung hoffte er, die anderen Tübinger Professoren „zur Abgabe eines für die Stadt gleich günstigen Gutachtens zu bewegen“.¹²³ Prenninger war Professor für kanonisches Recht und Kanzler des Bischofs zu Konstanz; gleichzeitig praktizierte er als vielbeschäftigter Anwalt und Gutachtenschreiber. Mehr als 300 seiner Parteigutachten brachte sein Urenkel, ein Advokat zu Rothenburg, in einer Konsiliensammlung zum Druck.¹²⁴ In Tübingen musste Zasius harte Überzeugungsarbeit leisten, um auch jene Professoren zur Unterschrift zu bewegen, die andere Ansichten über die Rechtslage vertraten. Nach einigen Tagen hielt er jedoch „gegen ein angemessenes Honorar“ alle gewünschten Approbationen in Händen. Befriedigt meldete er nach Freiburg, dass er „nit ohne arbeit vil wiederwertiges under den doctores in eins“ gebracht habe. Es bedurfte also – so die Schlussfolgerung von Schott – erheblicher „Verhandlungskunst und Geduld, um die Zustimmung anderer Gelehrter nach Maßgabe des vorgelegten Consiliums zu erlangen“.¹²⁵
6.5 Gründlichkeitsthese Anschlussthese XI der Herausgeber legt den Finger in eine Wunde des Verfahrensmodells (auch) der Aktenversendung: die „übermäßig lange Verfahrensdauer“. Sie sei „Gegenstand mannigfaltiger Reformdiskussionen“ gewesen. Im 19. Jahr-
Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 14), S. 19. Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 14), S. 20. Zu seinen Konsilien strafrechtlichen Inhalts s. Hermann Seeger, Die strafrechtlichen Consilia Tubingensia von der Gründung der Universität bis zum Jahre 1600. Tübingen 1877, S. 7–20. Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 14), S. 116.
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hundert habe sie „ein grundlegend neu konzipiertes Prozeßrecht erforderlich“ gemacht. Eine Einschränkung der Objektivitätsthese geht damit nicht einher. Indirekt wird die These noch gestärkt. Die Verfahrensdauer erscheint als Folgewirkung eines Faktors, der Objektivität förderte: „vertiefte Durchdringung des Streitstoffs“. Ein schriftliches Verfahren sei zwar „langwieriger, aber auch gründlicher als ein mündliches“.¹²⁶ In der Rechtswirklichkeit der Aktenversendung hatten sich aber auch Effekte eingestellt, die das Gegenteil von Gründlichkeit bedeuteten. Die innere Logik dieses Verfahrensmodells führte vielerorts dazu, dass sich in komplexeren Zivilsachen die Gerichtsakten stapel- und kistenweise auftürmten. Dadurch liefen sie akute Gefahr, ganz oder teilweise ungelesen zu bleiben. Wenn nach Monaten und Jahren überfällige Entscheidungen endlich ergingen, konnten sie mehr wie das Durchschlagen gordischer Knoten anmuten denn als gereifte Früchte gründlicher Leseund Prüfungsarbeit. Enorme praktische Bedeutung kam dabei der Verfügbarkeit von Parteigutachten zu. Solche Konsilien reichten chronisch überlasteten Urteilsverfassern juristische Schwerter, die ihnen beim zeitsparenden Durchschlagen von Aktenstapeln dienlich waren. Oft genug waren das scharfe Schwerter von guter Qualität. Geschmiedet wurden sie allerdings im Auftrag und Interesse von Anwälten und Parteien, die dafür gebührend gezahlt hatten. Solange beide Parteien zahlungskräftig und parteigutachterlich gut gerüstet waren, herrschte Waffengleichheit. Dann konnten die miteinander konkurrierenden Parteigutachten in der Zusammenschau der Durchdringung des tatsächlichen Streitstoffs und der darin enthaltenen Rechtsfragen sehr zugute kommen. Das darf man dann durchaus als hohes Maß an Objektivität bezeichnen. Man muss aber hinzufügen, dass es sich um eine spezifische Form von Objektivität handelte. Sie entstand durch das Aufeinandertreffen von Gutachten, die weniger einer ‚objektiven Rechtslage‘ verpflichtet waren als dem wohlverstandenen Interesse des jeweiligen Auftraggebers. Wenn eine der Parteien sich die Investition in qualitativ hochwertige Parteigutachten nicht leisten konnte, war es um ihre Erfolgsaussichten schlecht(er) bestellt – und gleichzeitig auch um die Objektivität der Entscheidungsfindung. Nicht zuletzt bestand dann die Gefahr, dass überlastete Professoren – oder ihre verdeckten Mitarbeiter – kurzerhand Parteigutachten des Klägers oder des Beklagten als Textvorlage verwendeten. Wenn es sich um Gutachten angesehener Verfasser handelte, die plausible Begründungen darboten, konnte das sogar mit einigermaßen gutem Gewissen geschehen.
In diesem Band S. 29.
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Sartorius hatte den Funktionszusammenhang in einer Fußnote erledigt. Mit scheinbarer Selbstverständlichkeit fertigt er die Parteigutachten mit einer Behauptung ab: Der Fall, daß Parteien außergerichtlich und für sich bei Rechts-Collegien eine Belehrung oder auch eine Autorität zu ihren Gunsten suchen, und, soferne sie es für gut finden, sich derselben bei Gericht bedienen, gehört offenbar nicht zu der Aktenversendung. ¹²⁷
Mehr hatte er zu diesem Thema nicht zu sagen, oder er wollte es nicht. Eines der tragenden Argumente, das er für die Vorzugswürdigkeit des Versendungsverfahrens ins Feld führte und durch Wiederholungen einschärfte, lag in der „höchsten Unparteilichkeit“ der Entscheidungsfindung. Das Kollegium solle und könne „gegen alle möglichen Einflüsse der Parteien und gegen jede Befangenheit sicher gestellt werden.“ Durch ihre „Unbekanntschaft mit den Partheyen“ seien die Spruchkollegien „den Gerichten an Unpartheylichkeit nicht selten sehr überlegen“.¹²⁸ Dieses Argument hätte gelitten, wenn Sartorius eingeräumt hätte, dass die Türen der deutschen Spruchkollegien und ihrer einzelnen Mitglieder für die Auftraggeber von Parteigutachten in all den Jahrhunderten der Aktenversendung weit offen standen. In der Regel wurden diese Gutachten durch die Interessenvertreter der jeweiligen Partei eingeholt. Tatkräftige Anwälte konnten auf diesem Weg dauerhafte Kontakte mit den Mitgliedern der Kollegien aufbauen und in vieler Weise pflegen. Hier liegt eine der Ursachen dafür, dass es – so wiederum Oestmann – vielen Anwälten nicht schwergefallen zu sein scheint, den jeweiligen Versendungsort trotz offizieller Geheimhaltung in Erfahrung zu bringen.¹²⁹
6.6 Funktion von Konsiliensammlungen Die Mitglieder der Spruchkollegien erlangten für ihre Dienstleistungen nicht nur Honorare und Gebühren, sondern zogen aus ihrer ständigen Arbeit in der Rechtspraxis auch fachlichen Gewinn. Ein Teil ihrer Publikationen fiel ihnen am Buchmarkt in Gestalt der Konsiliensammlungen geradezu in den Schoß. Positiv zu bilanzieren ist dabei auch ein Gewinn für das Recht selbst. Klaus Luig hat diese Einsicht speziell für die humanistische Jurisprudenz zum Ausdruck gebracht, aber
Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 230. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 249 mit Fn. 1, S. 254. Oestmann, Art. Aktenversendung, in: HRG, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 128–132 (hier Sp. 130); sehr deutlich für die Gerichtspraxis bis hin zum Reichshofrat zu Wien Schenk, Unbeobachtet (wie Anm. 91), S. 328–336.
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sie verdient eine Verallgemeinerung: Die Entwicklung der gemeinrechtlichen Gutachtenpraxis war auch „dadurch charakteristiert“, dass hochmotivierte Experten aus stets denselben Texten des Corpus Iuris Civilis „durch subtile Interpretation und Analogiebildung immer neue Ergebnisse herauslasen, stets in dem Bewußtsein, daß ihre Argumente nie das letzte Wort darstellen würden“.¹³⁰ Aus dieser beständigen Anstrengung erwuchs auch die Literaturgattung der Konsiliensammlungen, denen eine wichtige Informations- und Vorbildfunktion zukam. Die Argumentationsmuster luden zur Nachahmung ein. Gelungene Differenzierungen, alternative Ausdeutungen der Quellen und kreative Neuschöpfungen wurden allgemein zugänglich, konnten in Kommentare und dogmatische Monographien eingehen und in den Thesaurus des vorhandenen Rechtswissens eingegliedert werden.¹³¹
7 Aktenversendung in Strafsachen In seiner Definition überging Sartorius die Aktenversendung in Strafsachen. Sie hatte in vielen Territorien des Alten Reichs über Jahrhunderte hin ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt, reichsgesetzlich verankert in Artikel 219 Constitutio Criminalis Carolina (CCC) von 1532. Im Fortgang merkte Sartorius apodiktisch an, dass „die Aktenversendung im teutschen Criminal-Prozesse, dem Zweck der Zeitschrift gemäß, an diesem Ort nicht untersucht werden“ könne.¹³² Diese Ausblendung ersparte Sartorius jede Auseinandersetzung mit der strafgerichtlichen Versendungspraxis. Anderenfalls hätte er mitbedenken müssen, wie gut oder schlecht es im Alten Reich um die Objektivität und Gründlichkeit von Aktenversendungsurteilen bestellt war, die in Strafverfahren in sehr großer Zahl ergangen waren, zum Beispiel wegen sogenannter Unzucht (stuprum simplex),¹³³ Kindestötung (infanticidium),¹³⁴ Eigentumsdelikten, Holzdiebstahl, Wildfrevel oder – horribile dictu – angeblicher Hexerei.
Klaus Luig, Humanismus und Privatrecht, in: Georg Klingenberg/J. Michael Rainer/Herwig Stiegler (Hrsg.), Vestigia Iuris Romani. Festschrift für Gunter Wesener zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1992. Graz 1992, S. 285–301 (hier S. 290). Dazu Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 417–421. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 220; vgl. auch S. 224, Anm. 2. Dazu Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 66–72, 77 f., 383–387. Dazu Ulrich Falk, „Im Interesse meiner Parthey“. Eine Fallstudie zur Strafverteidigung, Gerichts- und Gutachtenpraxis im Usus modernus pandectarum, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 21 (1999), S. 153–179.
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In solchen Verfahrenstypen hatten Richter der ersten Instanz, die in Dorf- und Stadtgerichten angesiedelt waren, oft ein lebhaftes Interesse an einer Aburteilung. Diesen Wünschen haben versendende Richter oft unmissverständlichen Ausdruck verliehen, ihrerseits häufig angetrieben von Personen, die sozialen Druck ausüben konnten, etwa den Bürgermeistern von Gemeinden, dörflichen Honoratioren oder adligen Inhabern von Jagd- und Forstrechten. Eine Triebfeder lag im Bestreben, sich sozial missliebiger Personen zu entledigen. Verstärkend wirken konnte der Wunsch, die Kosten für die Inhaftierung durch schleunige Aburteilung so gering wie möglich zu halten, wenn Angeklagte ihre Ernährung und Bewachung nicht selbst bezahlen konnten. Das war bei verarmten Handwerkern, Tagelöhnern, Dienstboten und anderen Angehörigen der großen Unterschicht der Vormoderne der Normalfall, von Bettlern und Obdachlosen, damals sogenanntem fahrenden Volk, ganz abgesehen. Den Richtern und den sozialen Gemeinschaften, in denen sie lebten, war die Problematik der Verfahrensdauer genau bekannt. In den sozialen Verhältnissen der frühen Neuzeit war Nahrung für sehr viele Menschen immer ein knappes Gut, zumal in Kriegszeiten, insbesondere während des 30‐jährigen Kriegs (1618–1648) und der zahlreichen Agrarkrisen, die durch Missernten ausgelöst wurden. Die brutale soziale Logik mündete in Fragen wie diese: Warum sollte man solche Angeklagten auch noch monate- oder gar jahrelang durchfüttern? Die Überbringer der Strafakten, seien es Mitglieder des Gerichts oder beauftragte Boten, konnten den Wunsch nach dem gewünschten Ergebnis mündlich zum Ausdruck bringen. Die körpersprachlichen Ausdrucksmittel der Gestik und Mimik konnten die gleiche Wirkung erzielen, ohne dass es dazu nur eines einzigen Wortes bedurft hätte. Die gleiche Möglichkeit boten Nachfragen, etwa bei Erkundigung nach dem Stand der Aktenbearbeitung oder bei Gelegenheit anderer Versendungen. In den Gerichtsakten ist davon keine Spur zu finden. Die psychologische Wirkung war trotzdem in der Welt. Zeitgenössische Justizkritiker vertraten vehement die These, dass sich viele Spruchkollegien gegenüber solchen Wünschen im Zweifel nachgiebig zeigten, um mit weiteren Aufträgen rechnen zu können, von direkten Formen der Vorteilsannahme, insbesondere durch Geschenke, noch abgesehen. Die Drohung, dass dem Kollegium anderenfalls „kunfftig nichts mehr zugesandt werde“, verfehle nicht oft ihre Wirkung. In der Regel würden die Urteile so ausfallen, wie es der Versender („emittens“) haben wolle, wie er „es wünschet und begehret“.¹³⁵ Dazu existierten Theodor Matthias Beckmann, Schädliche Mißbräuche und Unordnungen bey den heutigen fast immerwehrenden ärgerlichen und kostbaren Prozessen. Dortmund 1697, S. 180–183 (insbes. S. 181), zu Beckmanns Schrift s. Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 33, 91, 94, 96, 101, 104, 106, 114 f., 139, 172, 186, 205, 268.
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sogar zwei inoffizielle Methodenregeln: in dubio pro quaerente (im Zweifel zugunsten des Anfragenden, des Auftraggebers)¹³⁶ und in dubio pro amico (im Zweifel zugunsten eines Freundes).¹³⁷ Die „Rechts-Collegia“ würden dem Prinzip folgen, „daß man in dubio pro quaerente sprechen muß“, um den Auftraggeber zufriedenzustellen, „damit er ein andermal wiederkommt“.¹³⁸ Auf der Verlustliste standen dann drei Posten: Objektivität, Unparteilichkeit und Gründlichkeit. Die Mitglieder von Spruchkollegien, die Erwartungen ihrer Auftraggeber befriedigten, konnten leicht(er)en Herzens ihren eigenen Arbeitsaufwand geringer halten. Ein Durchwinken, das sich mit kursorischer Durchsicht der Gerichtsakte und dem Niederschrieben von Standardformeln begnügte, war vor allem unter Zeitdruck und hoher Arbeitsbelastung eine verführerische Handlungsoption. Dass die Professoren im streng schriftlichen Verfahrensgang niemals das Elend der Angeklagten in den Kerkern und Folterkellern selbst zu sehen und ihre Schreie niemals selbst zu hören bekamen, darf nicht als Zugewinn an Objektivität und Unparteilichkeit bilanziert werden. Die Aktenversendung in Strafsachen wird auch in der Objektivitätsthese nicht erkennbar berücksichtigt. These X spricht nur von Parteien und ihren Anwälten. Die Angeklagten im Prototyp des inquisitorisch zu führenden Strafverfahrens waren keine Parteien im Rechtssinne. Sie waren bloße Objekte des Verfahrens. Ihnen stand keine Gegenpartei gegenüber, die sich in einem mehr oder weniger waffengleichen Ankläger verkörpert hätte. Der zentrale, alles beherrschende Akteur in diesem Verfahrenstyp, der zum Standard der Strafrechtspraxis im Alten Reich gehörte, war die berühmt-berüchtigte dreifache Person des Richters. Er sollte drei Funktionen in sich vereinigen, die psychologisch unvereinbar waren: Ankläger, Richter und Verteidiger. Aus gutem Grund hatte die Carolina die Durchführung der Aktenversendung zum Schutz der Angeklagten zum Regelfall gemacht: Vor allem wollte sie die Rollenkonflikte abschwächen, denen die verfahrensbeherrschenden Richter im Inquisitionsprozess ausgesetzt waren.Von einem besonders objektiven Verfahren darf man trotzdem nicht sprechen. Der Inhalt der versendeten Gerichtsakte und in der Regel auch der Ort der Versendung standen weitgehend im Gutdünken des inquisitorischen Richters. Diesem Inquirenten blieb es außerdem unbenommen, zu-
Gehrke, Art. Konsilien (wie Anm. 34), Sp. 120; Ulrich Falk, In dubio pro amico? Lo studio di un caso di prassi consiliaristica e di trasmissione degli atti in Germania, in: Antonio Padoa Schioppa (Hrsg.), Studi di storia del diritto, Bd. 3. Mailand 2001, S. 389–417; in deutscher Sprache: In dubio pro amico? Zur Gutachtenpraxis im gemeinen Recht, in: forum historiae iuris (14. August 2000), https:// forhistiur.de/2000-08-falk (abgerufen am 18. Januar 2023). Falk, Consilia (wie Anm. 15), S. 206–212, 399 f. Seyfart, Teutscher Reichs Prozeß (wie Anm. 99), Cap. XXXIII, § 3 (S. 708).
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mindest versuchsweise auf das Ergebnis der Aktenversendung einzuwirken, ohne dass der Angeklagte diese Versuche auch nur hätte bemerken können. Solche Einwirkungen waren selbst dann inakzeptabel, wenn die Professoren in den Spruchkollegien standhaft blieben. Die Aktenversendung in inquisitorischen Strafverfahren war nicht mehr als ein störungsanfälliger Notanker. Bei Einschaltung eines Fiscals als staatlich bestelltem Ankläger war die Ausgangslage für den Angeklagten etwas günstiger. Es blieb aber eine leidige Tatsache, dass der Ort der Versendung vor ihm geheim gehalten wurde, nicht aber vor dem Amtsträger auf der Gegenseite, der für seine Verurteilung kämpfte. Von Waffengleichheit als Ausprägung des elementaren Gebots der Verfahrensgerechtigkeit und damit auch von Objektivität blieb man weit entfernt. Bezeichnenderweise waren rein schriftliche Verfahrensmodelle in der bürgerlichen Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts in tiefen Misskredit geraten. Die strenge, ausnahmslose Schriftlichkeit wurde von den Reformern im Vorfeld der Paulskirchenverfassung als untrügliches Kennzeichen der Herrschaftsgewalt des Absolutismus im Geiste des Ancien Régime wahrgenommen und leidenschaftlich bekämpft. Wie sollten es der Angeklagte und sein Strafverteidiger – soweit ein Verteidiger überhaupt zugelassen wurde –¹³⁹ bewerten, wenn seine Strafakte zur Urteilsfindung an Experten versendet wurde, deren Identität man vor ihm streng geheim hielt? Konnte es die Vorbeugung gegenüber Bestechungsversuchen rechtfertigen, dem Angeklagten das rechtliche Gehör in freier mündlicher Rede, von Angesicht zu Angesicht mit den (ver)urteilenden Richtern, zu verweigern? Wie hätte die Objektivitätsthese in den Ohren derer geklungen, die in der Kälte und Dunkelheit von Kerkern bei Wasser und Brot gefangen gehalten wurden?
8 „Eine ausführliche Betrachtung der Actenversendung“ (Sartorius 1840) Die bürgerlichen Reformer im verfassungspolitischen Vormärz hatten diese Kritik nicht gegen die Aktenversendung an die Rechtsfakultäten gerichtet. Diese Zurückhaltung hatte rechtspolitische Gründe. Von einem mit Rechtsprofessoren besetzten Kollegium war immer noch Besseres zu erhoffen als von Richtern, die dem
Das war auch im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess und sogar in Hexenprozessen regelmäßiger der Fall, als der Mainstream des rechtshistorischen Schrifttums lange Zeit behauptete; dazu Ulrich Falk, Zur Geschichte der Strafverteidigung. Aktuelle Beobachtungen und rechtshistorische Grundlagen, in: ZRG GA 117 (2000), S. 395–449.
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direkten Zugriff absolutistischer Herrschaftsträger ausgesetzt waren. Deshalb wurde die Aktenversendung an Universitäten im Reformschrifttum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Generalkritik schriftlicher Verfahren wohlweislich ausgenommen. An Rechtsschutz durch die Reichsgerichtsbarkeit konnten die Reformer nur noch wehmütig zurückdenken. Das Reichskammergericht, das in vielen schlimmen Fällen in Eilverfahren als Hüter des Rechts gewirkt hatte, war zusammen mit dem Alten Reich im Jahr 1806 unwiederbringlich verlorengegangen, ebenso wie der Reichshofrat. Sartorius stand für viele Reformer, wenn er die schwärzesten Seiten spätabsolutistischer Richterwillkür und politischer Justiz abhängiger Richter im Vormärz beschwor: „dolose Entziehungen des zuständigen Richters, Spezial-Kommissionen, Interventionen der Administrativ-Gewalt, Machtsprüche und Operationen gegen die kompetenten Gerichte ohne deren Willen, also offenbare Kränkungen, Staatsstreiche und Justizmorde“. Dagegen seien die Spruchkollegien der Universitäten „vermöge ihrer Unabhängigkeit von den Justiz-Ministerien, durch die Sorgfalt für ihren wissenschaftlichen Ruf, durch Unbekanntheit mit den Parteien u.s.w. den Gerichten an Unparteilichkeit nicht selten sehr überlegen“. Die Aktenversendung rühmte er als segensreiche Einrichtung „zum Heile der Justiz und zum Besten der Parteien“. Sie ermögliche in doppelter Hinsicht die „Erzielung des besten möglichen Urtheils“, sowohl in ihrem „wissenschaftlichen Gehalt“ als auch in „der höchsten Unparteilichkeit“ der gerichtlichen Entscheidungsfindung. Dadurch erweise sie sich geradezu als Bollwerk richterlicher Unabhängigkeit und deutscher Freiheit. Das zur Urteilsfindung berufene Kollegium „soll gegen alle möglichen Einflüsse der Parteien und gegen jede Befangenheit sicher gestellt werden“.¹⁴⁰ Sartorius würde der Objektivitätsthese freudig zugestimmt haben. Er ist einer ihrer geistigen Väter. Es ging ihm aber keineswegs um eine genuin historische Untersuchung. Den ersten Teil seines rechtspolitischen Plädoyers bildet zwar eine rechtshistorische Rekonstruktion, die in ihrer Klarheit und der Vielzahl korrekt nachgewiesener Quellen beeindrucken konnte. Für ihren Verfasser war sie aber nur Mittel zum Zweck. Sein Handlungsziel war „die Wiederbelebung“ der Aktenversendung. Dafür macht er in seinem Plädoyer „die erheblichsten Gründe des Rechts und der Nützlichkeit“ geltend.¹⁴¹ Akuter Bedarf zur Wiederbelebung bestehe, weil es seit der Auflösung des Alten Reichs im Jahr 1806 zum „Verfall der Aktentransmissionen“ gekommen sei. Auch um das Schrifttum sei es schlecht bestellt. Die meiste Literatur zur Aktenversendung stamme „aus dem 17. und 18. Jahrhundert, und besteht aus Dissertationen“
Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 246 f., 254. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 221, 256.
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sowie ganz wenigen, „nicht völlig befriedigenden Abhandlungen“. Der Inhalt dieser Schriften beschränke sich zum größten Teil auf „praktische und mechanische Details“ des Verfahrensablaufs.¹⁴² Mit dieser Bewertung fertigte Sartorius unter anderem die Schrift des Erlanger Professors Elsäßer ab, der die gleichzeitige Pflichterfüllung in Aktenversendung und Professorenamt bei einer blühenden Universität als Unmöglichkeit beklagt hatte.¹⁴³ Sartorius suggerierte seinen Lesern, dass sein Aufsatz das Studium des älteren Schrifttums überflüssig mache. Für rechtshistorische Doktoranden späterer Zeiten war das eine erfreuliche Auskunft: Sie konnten mit gutem Gewissen mehr Arbeitszeit auf ihren speziellen Gegenstand verwenden, die Praxis der Aktenversendung an jener Universität, an der sie ihre Doktorarbeit schrieben, auf erfreute Annahme durch die dortige Juristenfakultät hinarbeitend. Die Lobeshymnen, die Sartorius erklingen ließ, passten dazu ganz vorzüglich. Die zeitgenössische Kritik der Aktenversendung war Sartorius wohlbekannt. Für ihn waren das aber nur „Anschuldigungen“, die „entkräftet werden können.“ Die Gegner dieses Rechtsinstituts würden eine „Philippica“ – eine leidenschaftliche Angriffs- und Kampfesrede in der Tradition der griechischen Rhetorik – anstimmen, die im Schlachtruf gipfele: „Hinweg mit der Aktenversendung!!“¹⁴⁴ Keineswegs habe sich das praktische Bedürfnis durch den Ausbau der Gerichtsbarkeit und die gesteigerte Fachkompetenz der Richterschaft erledigt. Die Aktenversendung entspreche auch „den gegenwärtigen Verhältnissen und Zuständen völlig“. In einem nachgestellten Halbsatz fügte Sartorius die Einschränkung hinzu: „(abgesehen von allem Mißbrauch)“. Wie dieser eingeklammerte Missbrauch konkret beschaffen war, ließ er im Dunkeln, ebenso wie die Namen der Missbrauchskritiker. Einer von ihnen war der preußische Jurist Dr. Theodor Matthias Beckmann mit seinem Buch über „Schädliche Mißbräuche und Unordnungen bey den heutigen fast immerwehrenden ärgerlichen und kostbaren Prozessen“ aus dem Jahr 1697. Diese Arbeit führte die Aktenversendung freilich nicht im Titel, sondern widmete ihr nur einen kurzen Abschnitt seiner kleinformatigen, aber fast vierhundert Seiten umfassenden Schrift, die er dem Kurfürsten von Brandenburg-Preußen widmete. Der Kern seiner Kritik zielte darauf, dass es um die Geheimhaltung und Unparteilichkeit in der Praxis übel bestellt sei. Hier sei in der Aktenversendung eine tiefe Kluft zwischen dem wohlklingenden normativen Anspruch und der Wirklichkeit
Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 22. Elsässer, Ueber den Geschäftsgang (wie Anm. 66), S. 28. Sartorius, Aktenversendung (wie Anm. 26), S. 244 f.
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zu beklagen, in der es ganz anders zuging. Das trieb Beckmann zum Ausruf: „Ihr Heuchler! Vor der Welt möget ihr es thun, aber Gott kennet euch.“¹⁴⁵ Sartorius war kein Heuchler. Sein Ziel war ehrenhaft. Aus aktuellen verfassungspolitischen Gründen breitete er den Mantel wohlwollenden Schweigens über die Schwachstellen der Aktenversendung. Die Rechtsgeschichte hat keinen Bedarf mehr für diesen Mantel. Von bleibendem Interesse ist er nur noch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht.
9 Zusammenfassung Die Aktenversendung an die juristischen Fakultäten der frühneuzeitlichen Universitäten war kein Garant für besonders objektives Entscheidungsverhalten. Sie war kein Schutzschild, der sachfremde Einflüsse und daraus erwachsende Parteilichkeit zuverlässig abgewehrt hätte. Dafür waren ihre Schwachstellen, die strukturelle und institutionelle Ursachen hatten, zu ausgeprägt. Deshalb war auch ihre Missbrauchsanfälligkeit in der Verfahrenswirklichkeit viel größer, als es ihr normatives Konzept in der historischen Rückschau vermuten lässt. Die eigentliche Dimension der Schwachstellen und Missbräuche wird erst erkennbar, wenn man in die Tiefen und Untiefen der damaligen Rechtspraxis zurücksteigt. In den überlieferten Akten der Spruchfakultäten und in gedruckten wie ungedruckten Entscheidungssammlungen sind sie nur teilweise erkennbar. Die prozessrechtliche Regel „Quod non est in actis, non est in mundo“ prägte die normative Struktur streng schriftlicher Gerichtsverfahren. Die rechtshistorische Forschung muss sich davor hüten, diese Regel auf die Verfahrenswirklichkeit vormoderner Gerichtsverfahren zu übertragen. Was nicht in den Archivalien geschrieben steht, kann trotzdem existiert und starke Wirkungen entfaltet haben.¹⁴⁶ Was in Normtexten geschrieben steht, kann trotzdem wirkungslos geblieben sein. Die Aktenversendung war aber ein zweckrationales Verfahrensmodell, das unabweisbaren Bedarf nach professioneller Entscheidungsfindung nachhaltig befriedigte. Sie war eine notwendige Konsequenz der Rezeption des gelehrten, römisch-kanonischen Rechts. In der Epoche des Usus Modernus Pandectarum hat sie zur Vereinheitlichung der zerklüfteten, buntscheckigen Rechtslandschaften des Alten Reichs beigetragen. Darin liegen ihre bleibenden Verdienste. Beckmann, Schädliche Mißbräuche (wie Anm. 135), S. 180–184 (184). Diese Schrift antizipiert die Diagnose von Schenk, Appellationsgericht (wie Anm. 60) zum Phänomen „organisierter Heuchelei“ i. S. der heutigen Soziologie (vgl. den Text bei Schenk zu Fn. 111, 189 f., 211). Im gleichen Sinne vgl. auch das eindringliche Plädoyer des Frühneuzeithistorikers Schenk,Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 7), S. 220–233.
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Vom Schrift-Zeichen zur Praxis, von der Protokollsemantik zur außersprachlichen Wirklichkeit: verschriftete Mündlichkeit vor dem Stadtgericht Augsburg um 1500 Der Gerichtsschreiber Thomas wird es geahnt haben, als er das noch unbeschriebene Gerichtsprotokollbuch für das Jahr 1481 zum ersten Mal im neuen Jahr aufschlug: Tausendfach wird er jene Seiten umgeblättert, sie mit zahlreichen Informationen gefüllt, Namen, Berufe, Wohnorte, Geldschulden, Ehrdelikte und angezeigte Tätlichkeiten notiert haben; er wird Parteien streiten gesehen, Stellvertreter und Zeugen gehört, Schlichtungsversuche vermittelt, Verträge schriftlich fixiert, geleistete Eide ins Schriftliche übertragen, gepfändeten und versteigerten Hausrat eingetragen, die Antwort ausgesandter Boten verzeichnet haben; er wird die Richter, den Vogt und den Burggrafen zu Gericht sitzen und stehen gesehen, ihre Entscheidungen und Urteile in das Protokollbuch übertragen haben – kurzum: er verankerte in den Gerichtsprotokollbüchern des Stadtgerichts Augsburg den mündlichen Teil des Gerichtsalltages schriftlich und gerichtspragmatisch. Die Protokollbücher des Stadtgerichts sind, dies soll die Aufzählung deutlich machen, nicht nur eigentliche Alltagsinstrumente des Gerichts, sondern vielmehr als komplexe mediale Arrangements aufzufassen, die nicht nur bloße Aus- und Nachweise einer vergangenen, historischen und aus unserer Sicht zu rekonstruierenden Rechtsprechung sind.¹ Die Protokollbücher stellen sich in der Analyse und durch den beschriebenen Rechtsalltag vielmehr als eine Art vielschichtige Medienkonstellation dar, geprägt und beeinflusst von Handlungen um die Zeichenträger Mündlichkeit und Schriftlichkeit,² von den Sinnen des Sehens und Hörens und den
Vgl. hierzu Peter Oestmann, Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 37), S. 15–54 (hier S. 15); zu der Mehrdimensionalität von Verwaltungsprozessen und ihrer Verschriftlichung siehe auch Peter Becker, Sprachvollzug: Kommunikation und Verwaltung, in: ders. (Hrsg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2011 (Kulturgeschichte der Moderne, Bd. 1), S. 9–42. Julia Genz/Paul Gévaudian, Medialität, Materialität, Kodierung. Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Medien. Bielefeld 2016, insbes. S. 64 f. https://doi.org/10.1515/9783111077406-005
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Akten des Sprechens oder Schweigens im Gerichtsraum. Nicht von ungefähr weist etwa Ulrich Tengler in seinem Leyenspiegel von 1509 die Redner vor Gericht dazu an, stehend und mit züchtigen und ersamen worten […] nit mit henden oder andern ungebärden, sonder mitt dem mund […] mässigklich [zu] reden […] nit mitt der gäch [schnellen, Anm. MW] oder hoher stymm. ³ Die folgenden Ausführungen beleuchten diese Beobachtungen und nehmen die Vielschichtigkeit der Gerichtsprotokollbücher zum Ausgangspunkt, um die Überlieferung nicht nur in ihrer Funktion als Dokumentation von Fallgeschichten zu begreifen,⁴ sondern als sprachlich vermittelte Einheiten, die in ihrer unterschiedlichen Informationsdichte jeweils für die am Verfahren Beteiligten und die Nachwelt Gegenwärtigkeit konstruierten⁵ – eine Gegenwärtigkeit, analysierbar einerseits durch die Aufschreibepraxis, andererseits durch die Protokollsemantik selbst. Diese beiden Bereiche bilden den Referenzrahmen für die folgenden Ausführungen, die das Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im niedergerichtlichen Verfahren um Geldschulden vor dem Stadtgericht in Augsburg im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert thematisieren werden. Die Analyse erfolgt dabei auf zwei Ebenen und mittels praxeologischer Herangehensweise: Um die Protokollbücher in ihrer Funktion für den Gerichtsalltag und das darin verankerte juridische Geschehen zu verstehen, müssen die Protokollbücher zunächst innerhalb ihrer Entstehungskontexte situiert werden. Diese Verortung erfolgt hier, wie bereits angedeutet, anhand der spezifischen Form der Bücher und der dahinterstehenden, institutionell gebundenen Aufschreibepraxis. Mittels der konkreten, verschrifteten Protokolltexte selbst lässt sich jedoch nicht nur die ‚Rechtswirklichkeit‘, also das Verfahren und die spezifischen Handlungs-
Ulrich Tengler, Layen Spiegel. Von rechtmässigen ordnungen in Burgerlichen und peinlichen regimenten. Augspurg 1509, unfol. (VD16 T 337), online unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn: de:bvb:12-bsb10869208-3 (abgerufen am 18. Januar 2023); vgl. auch den Hinweis bei Hans-Jörg Gilomen, „… facto realiter in scriptis“. Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Verfahren vor der Basler Konzilsrota, in: Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein (Hrsg.), Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter. Frankfurt a. M. 2008 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 27), S. 197–251 (hier S. 208), dass Martin V. in seiner Bulle In apostolicae dignitatis specula besonders darauf eingegangen ist, das Schreien, Beleidigen, Lärmen und Tumultmachen durch die Advokaten in der Audientia oder im Konsistorium zu kriminalisieren und mit Strafen zu belegen. Ludger Hoffmann, Mündlichkeit im Recht. Kommunikationsformen/Gesprächsarten, in: Ekkehard Felder/Friedemann Vogel (Hrsg.), Handbuch Sprache im Recht. Berlin/Boston 2017 (Handbücher Sprachwissen, Bd. 12), S. 67–90 (hier S. 68). Vgl. hierzu Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 74), insbes. S. 206.
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sequenzen vor dem Stadtgericht, im Verfahren um Geldschulden rekonstruieren. In einem weiteren Schritt können anhand der semantischen und klassifizierbaren Informationsbestände der Protokolltexte auch sogenannte außersprachliche Wirklichkeiten identifiziert werden, die auf hinter dem Verfahren stehende Praktiken, implizites Wissen und alltägliche Routinen der Justiznutzer verweisen.⁶ Ziel der Ausführungen ist es, darauf zu verweisen, dass uns die eigentlich in actu und diskursiv vollzogenen Vorgänge vor Gericht nur durch die Schrift zugänglich sind und die Transformation der Mündlichkeit ins Schriftliche bestimmte dokumentationspraktische Konventionen produziert hat, sodass wir den Vollzug des eigentlichen Geschehenen nur aus einer zweiten Beobachterposition, durch die Feder des Gerichtsschreibers und das Trübglas der sprachlichen Abstraktion, greifen können. Besonders in Hinblick auf eine praxeologische Auswertung des Gerichtsmaterials erscheint es deshalb sinnvoll, einen methodologischen Zugang dazu zu entwickeln, wie mit der Gerichtsüberlieferung unter historischen Fragestellungen umgegangen werden kann und welche Praktiken – die des Gerichts oder die der Justiznutzer – wann zu greifen sind. Auf Basis der Protokollüberlieferung des Stadtgerichts Augsburg aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert und ihrer Analyse unter Verwendung historischer, (rechts‐)linguistischer, rechtssoziologischer und grundwissenschaftlicher Herangehensweisen möchte der folgende Beitrag insgesamt die Quellengruppe der Protokolle unter eine kritische Reflexion stellen und den Mehrwert dieser kombinierten Analyse hervorheben.
1 Vom Schrift-Zeichen zur Praxis: methodische Voraussetzungen im Umgang mit Gerichtsprotokollbüchern Protokolle und somit auch Protokollbücher zeichnen sich, wie dies Marita Blattmann besonders für hochmittelalterliche oberitalienische Ratsprotokolle und David Warren Sabean für württembergische Gerichtsprotokolle der Frühen Neuzeit herausgestellt haben, durch die Unmittelbarkeit des festgehaltenen Geschehens aus.⁷
Die hier präsentierten Ergebnisse entstammen meiner Dissertationsschrift „Hett viel lieber Gellt gehept – Schuldenpraxis in der Reichsstadt Augsburg (1480–1532)“, die im Oktober 2019 an der Universität Regensburg eingereicht wurde, nunmehr: Maria Weber, Schuldenmachen. Eine soziale Praxis in Augsburg (1480 bis 1532). Münster 2021 (Verfahren, Verhandeln, Entscheiden. Historische Perspektiven, Bd. 7). David Warren Sabean, Peasant Voices and Bureaucratic Texts. Narrative Structure in Early Modern German Protocols, in: Peter Becker/William Clark (Hrsg.), Little Tools of Knowledge. Historical
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Ein ähnliches, aber differenzierteres Bild beschreibt auch Elizabeth Hardman für die Überlieferung von Schuldenverfahren vor Gericht: „The records of debt litigation can be brief at times and surprisingly detailed at others, but they nonetheless allow us to pursue vital questions about social relationships and the role of institutional regulation“.⁸ Unmittelbare Nähe, kurze und lange Erzählungen, die Möglichkeit, entscheidende Fragen zu stellen – Forschungserkenntnisse aus der Analyse des überlieferten Gerichtsmaterials, die hier die Frage evozieren, welche Handlungen und Interaktionen (praxeologisch gesprochen: Sayings and Doings⁹) den Aufzeichnungen vorausgegangen waren und wie sich diese Vorbedingungen ex post aus der schriftlichen Überlieferung analysieren und erforschen lassen. Nicht zuletzt mit den Aufsätzen von Thomas Wetzstein¹⁰ und Francisca Loetz¹¹ zum analytischen Umgang mit Prozessschriftgut im Mittelalter beziehungsweise zu Strafgerichtsakten der Frühen Neuzeit im Allgemeinen sowie Matthias Bähr¹² zu Reichskammergerichts-Zeugenverhören im Besonderen müsste es als common sense gelten,¹³ dass das Prozessschriftgut im Produktionsprozess vielfachen „Überfor-
Essays on Academic and Bureaucratic Practices. Michigan 2001, S. 67–93; Marita Blattmann, Prolegomena zur Untersuchung mittelalterlicher Protokollaufzeichnungen, in: Frühmittelalterliche Studien 36/1 (2002), S. 413–432 (hier S. 414). Elizabeth L. Hardman, Regulating interpersonal debt in the bishop’s court of Carpentras. Litigation, litigators and the court, 1486 and 1487, in: Journal of Medieval History 40/4 (2014), S. 478–498 (hier S. 479). Die von Theodore Schatzki, siehe Theodore Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change. Pennsylvania 2002, entwickelte doppelte Beziehung von Sayings and Doings im Rahmen handlungstheoretischer Herangehensweisen in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung wurde mittlerweile breit rezipiert und findet als neue Perspektive auf Phänomene und Arrangements in der Vergangenheit Anwendung auch in der Geschichtswissenschaft; zu verweisen ist hier etwa auf die Forschungen von Tim Neu, Geld gebrauchen. Frühneuzeitliche Finanz-, Kredit- und Geldgeschichte in praxeologischer Perspektive, in: Historische Anthropologie 27/1 (2019), S. 75–103; Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln/Weimar/Wien 2015 (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 3); Lucas Haasis/Constantin Rieske (Hrsg.), Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns. Paderborn 2015. Thomas Wetzstein, Prozeßschriftgut im Mittelalter – einführende Überlegungen, in: Lepsius/ Wetzstein (Hrsg.), Als die Welt (wie Anm. 3), S. 1–27. Francisca Loetz, Sprache in der Geschichte. Linguistic Turn vs. Pragmatische Wende, in: Rechtsgeschichte 2 (2003), S. 87–103. Matthias Bähr, „Aus dem Munde gefallen“. Reichskammergerichts-Zeugenverhöre – eine Quellenkritik, in: Anja Amend-Traut/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hrsg.), Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis. München 2012 (biblitothek altes Reich, Bd. 11), S. 133–150. Zur Textgattung der Protokolle siehe ferner auch: Michael Jucker, Pragmatische Schriftlichkeit und Macht. Methodische und inhaltliche Annäherungen an Herstellung und Gebrauch von Proto-
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mung[en]“¹⁴ unterlag, die es bei einer Analyse zu beachten gilt. Die hier vorgenommene Charakterisierung der Protokollbücher als komplexe Medienkonstellationen nimmt hierauf direkt Bezug und stellt sie gezielt und in Hinblick auf ihren Entstehungsprozess in das Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vor Gericht. Ausgangspunkt der Protokolltexte nämlich war – so trivial dies auch erscheinen mag – zunächst die persönliche Anwesenheit von KlägerInnen und/oder Beklagten (Prozessbeteiligten) vor den Richtern des Stadtgerichts, wo sie in unterschiedlichen Verfahrenskontexten mündlich ihr Anliegen offenlegten, Fallgeschichten schilderten, Antworten gaben, Beschuldigungen vorbrachten oder zurückwiesen, auf Forderungen der gegnerischen Parteien oder der Richter reagierten – Handlungen und Sprechakte, die ihren schriftlichen Niederschlag in den Protokollaufzeichnungen hinterlassen haben und aus dem 21. Jahrhundert deshalb nur durch eine zweite Beobachterposition zu konsultieren sind. Hiervon ausgehend stellt sich also die Frage, welches methodische Instrumentarium notwendig ist, um sich den Aufzeichnungen der idealtypisch benannten „duos viros idoneos qui fideliter universa iudicii acta conscribant“¹⁵ – wie es in der 38. Konstitution des IV. Laterankonzils bestimmt wurde – zu nähern. Ziel der folgenden Ausführungen ist es also, anhand der Aufzeichnungspraktiken die Protokollsemantik von ihrer kontextgebundenen Überformung zu entkleiden und im Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit außersprachliche Wirklichkeiten zu erfassen.¹⁶
kollen auf politischen Treffen im Spätmittelalter, in: Christoph Dartmann/Thomas Scharff/Christoph Friedrich Weber (Hrsg.), Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Turnhout 2011 (Utrecht Studies in Medieval Literacy, Bd. 18), S. 405–441; ein Forschungsdesiderat für diese Quellengattung betont auch Simon Teuscher, Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. Frankfurt a. M. 2007 (Campus historische Studien, Bd. 44), insbes. S. 152–156. Teuscher, Erzähltes Recht (wie Anm. 13), S. 133. Antonio García y García, Constitutiones Concilii quarti Lateranensis una cum commentariis glossatorum. Città del Vaticano 1981 (Monumenta iuris canonici A. Corpus glossatorum, Bd. 2), S. 40– 118 (hier S. 80 f.). Während Matthias Bähr sich in seinem Aufsatz dem „Wissen“ der Alltagsmenschen vs. der „in Worte geronnene(n) Deutungshoheit des gelehrten Juristen, der die Aussagen in seinem Sinne umdeutet und sie in die juristische Nomenklatur einpasst“, beschäftigt und dies in erster Linie über die Analyse von Wortverwendungen überprüft hat, siehe Bähr, Aus dem Munde gefallen (wie Anm. 12), S. 135, wird sich hier anhand der Protokollsemantik und ihrer Funktionalisierung über die Aufzeichnungspraxis selbst den außersprachlichen Wirklichkeiten genähert werden.
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2 Die Gerichtsprotokollbücher des Stadtgerichts Augsburg Ausgehend von einer sich etablierenden schriftlichen Verwaltungskultur zur Sicherung von Macht und Herrschaft und zur Kontrolle eines anwachsenden Komplexitätsgrades im Alltag dokumentiert unter anderem eben jene Quellengattung der Rats- und Gerichtsprotokolle – im Rahmen vorgegebener institutioneller und kontextgebundener Prozesse – die Anwendung pragmatischer Schriftlichkeit.¹⁷ Auch nördlich der Alpen, besonders in Augsburg, lässt sich im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts anhand einer Reihe stetig wachsenden Geschäftsschriftguts der Gebrauch pragmatischer Schriftlichkeit nachvollziehen.¹⁸ Auch die 64 noch erhaltenen Gerichtsprotokollbücher des Stadtgerichts sind zu dieser Schriftlichkeitsexpansion zu zählen. Als eine „nouvelle série de registres“¹⁹ setzen die Protokollbücher ab 1480 in ihrer dokumentierten Überlieferung ein und sind bis 1567 erhalten.²⁰ Archivalisch lässt sich dieses Schriftgut daher den sogenannten Amtsbüchern zuordnen²¹ – ein buchförmiges, aus einzelnen Lagen zu Codices zusammengefügtes Verwaltungsschriftgut, das „im Zuge verwaltender oder rechtserheblicher Tätigkeiten […] entstanden“²² ist. Auf Grund der hybriden Zuständigkeit des Stadtgerichts als niedergerichtliche Instanz für Injurien und Tätlichkeiten, vor allem aber für Geldschulden als auch in seiner Funktion, notariell beglaubigte Ver-
Als pars pro toto für die Vielzahl an Forschungsliteratur, die vor allem aus dem Münsteraner SFB 231 „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter“ hervorgegangen ist, Dartmann/Scharff/Weber, Zwischen Pragmatik und Performanz (wie Anm. 13). Mathias Kluge, Die Macht des Gedächtnisses. Entstehung und Wandel kommunaler Schriftkultur im spätmittelalterlichen Augsburg. Leiden 2014 (Studies in medieval and reformation traditions, Bd. 181). Dominique Adrian, Augsbourg à la fin du Moyen Âge. La politique et l’espace. Ostfildern 2013 (Beihefte der Francia, Bd. 76), S. 83. Erhalten haben sich in den Jahren von 1480 bis 1523 jeweils für jedes Jahr ein Gerichtsprotokollbuch; ab der Mitte der 1520er Jahre treten dann vermehrt Lücken auf; es fehlen die Bücher von 1524–1526, 1529, 1530, 1534–1538, 1540–1541, 1549, 1551–1554, 1556–1559, 1561–1563, siehe den Bestand und das Repertorium im Stadtarchiv Augsburg (künftig: StAA), Strafamt 1–64; zum Protokoll als Textsorte vgl. Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hrsg.), Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte. Frankfurt a. M. 2005; zur Funktion des Protokolls in der letzten Reichskammergerichtsvisitation siehe Alexander Denzler, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Köln/Weimar/Wien 2016 (Norm und Struktur, Bd. 45), S. 341–350. Stefan Pätzold, Amtsbücher des Mittelalters. Überlegungen zum Stand ihrer Erforschung, in: Archivalische Zeitschrift 81 (1998), S. 87–111. Ebd., S. 98.
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träge auszustellen und Testamente verzeichnen zu lassen, wuchsen die Bücher durchgängig zu „gros volumes de plusieurs centaines de pages“²³ heran, deren Inhalt in erster Linie Aus- und Nachweis der Gerichtspraxis und des niedergerichtlichen Verfahrens vor den Richtern des Stadtgerichts und dem Vogt im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert ist. Als Beobachter und gleichzeitig handelnder Beteiligter war es in Augsburg der Gerichtsschreiber, der für die materielle Produktion und Organisation dieser Schriftlichkeit zuständig war. Er verschriftete²⁴ das im Gerichtsraum Gehörte und übersetzte es in eine für das Gericht brauchbare Form und Sprachlichkeit; seine Aufgabe war es, alle handlung festzuhalten und in den Büchern – wie es auch in einer kürzlich von der Autorin entdeckten Gerichtsordnung aus dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts vorgegeben war²⁵ – zu verzeychnen. ²⁶ Worum geht es? Ein Blick in die Protokollbücher von 1483 und 1510 kann dies verdeutlichen:
Adrian, Augsbourg (wie Anm. 19), S. 83. Peter Koch/Wulf Oesterreicher, Funktionale Aspekte der Schriftkultur. Functional Aspects of Literacy, in: Hartmut Günther/Otto Ludwig (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research. Berlin/New York 1994 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 10/1), S. 587–604, wo sie auf S. 587 erklären: „Die rein mediale Umsetzung vom phonischen ins graphische Medium bezeichnen wir als Verschriftung [Hervorheb. i. Orig.]. Ihr steht die Verschriftlichung [Hervorheb. i. Orig.] gegenüber, die rein konzeptionelle Verschiebungen in Richtung Schriftlichkeit meint.“ In diesem Sinne wird auch hier zwischen verschriften und verschriftlichen differenziert. Die angesprochene Gerichtsordnung befindet sich als Konzept im Bestand StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 115. Eine komplette, zu Beginn des 16. Jahrhunderts angefertigte Abschrift dieser Gerichtsordnung hat sich zudem als Ergänzung in einer Stadtbuchabschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek München erhalten, Universitätsbibliothek München (künftig: UB München), 2 Cod. ms. 486, fol. 176r–184r; siehe die Beschreibung der Handschrift 2°Cod. ms. 486 bei Giesela Kornrumpf/Paul-Gerhard Völker (Hrsg.), Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München. Wiesbaden 1968, S. 26–29. Justinus Göbler, Gerichtlicher Proceß, auß grund der Rechten, und gemeyner übung in drey theil verfasst. Frankfurt 1538, Teil I, S. VII, http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11201351-5 (abgerufen am 18. Januar 2023).
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Abb. 1: Doppelseite aus dem Gerichtsprotokollbuch des Stadtgerichts Augsburg 1483, StAA, Strafamt 4 (1483), S. 30a und b.
Abb. 2: Doppelseite aus dem Gerichtsprotokollbuch von 1510, StAA, Strafamt 31 (1510), S. 258a und b.
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Mit Blick auf die Seiten wird deutlich – eine Ordnung existiert nicht explizit: Die Kenntnis der in den Büchern angewandten Verzeichnungspraxis ist bei der Analyse dieser Überlieferung umso wertvoller, als sich die Ordnung oder Systematik der Gerichtsbücher nicht aus zusammengehörigen Fallnarrationen oder Thematiken ergibt, die topographisch und kohärent zusammengefasst worden wären oder eigene Akten gebildet hätten.²⁷ Sucht man eine Ordnung, so ergibt sich diese zunächst aus der Chronologie der Sitzungstage des Stadtgerichts und der entsprechenden Reihenfolge der an den Gerichtstagen erschienenen Kläger oder Beklagten, Zeugen oder Boten. Vom Standpunkt des Produktionsprozesses gesehen und mit Blick auf das jeweils ganze Buch, sind sie zu jenen Quellentypen der so bezeichneten „disparaten Protokollführung“²⁸ zu zählen, wodurch sich die Frage nach einer erst zu decodierenden, zeitgenössischen Systematisierung umso dringlicher stellt, möchte man mit den Büchern arbeiten. Betrachtet man also die Seiten der Bücher, so erscheinen sie zunächst als eine Art über das Jahr hin kontinuierlich geführte Liste, die in chronologischer Reihung, und dadurch zufällig, einzelne, in sich geschlossene Vorgänge aufführt und verzeichnet, sie verknappt und funktionalisierbar macht.²⁹ Abgesehen von den textinternen Elementen der Protokolltexte selbst, die es noch zu thematisieren gilt, sind es also äußere Strukturierungselemente wie das in die horizontale Mitte der Seite eingefügte jeweilige Datum (siehe Abb. 1, linke Seite in der Mitte, Datumsangabe Uff sambstag p[ost] agathe) oder die an den Ecken der Protokollbücher angebrachten Seitenzahlen und zwei separate Namensregister, die der Orientierung und Kohärenzstiftung im Protokollbuch dienten und dienen. Eva von Contzen belegt diese hier beschriebene Vorgehensweise, die Struktur der Überlieferung zu klären und sie erst dann analytisch zu nutzen, mit der Aussage: „Obviously the second step is crucial: the identification and isolation of formal elements are not ends in themselves but the beginng of a hermeneutics of interpretation.“ Eva von Contzen, The Limits of Narration. Lists and Literary History, in: Style. A Quaterly Journal of Aesthetics, Poetics, Stylistics, and Literary Criticism 50/3 (2016), S. 241–260 (hier S. 243). In diesem Sinne versteht sich auch die vorliegende Darlegung. Marita Blattmann, Protokollführung in römisch-kanonischen und deutsch-rechtlichen Gerichtsverfahren im 13. und 14. Jahrhundert, in: Stefan Esders (Hrsg.), Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 141–164 (hier S. 145). Vgl. hierzu auch Michelle Waldispühl, Die Liste als Ordnungsmedium in mittelalterlichen Libri vitae, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49/2 (2019), S. 197–218 (hier insbes. S. 202 f.); Gaspard Turin, Affordances de la Liste. À quoi la lecture de liste engage-t-elle son lecteur?, in: RELIEF – Revue électronique de littérature fraçaise 13/1 (2019), S. 156–166 (hier insbes. S. 159), wo er explizit darauf verweist, dass dem Leser beim Lesen einer Liste die Verknappung und Sequenzialität der Informationen implizit bewusst ist, da sie durch die Form einer Liste selbst auch suggeriert wird.
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Darüber hinaus wurde durch das Layout, mittels bestimmter graphischer Hervorhebungen und Markierungen (siehe Abb. 1 und 2) ein Verweissystem geschaffen, das in einem bestimmten Rahmen Übersicht und Kontrolle über die stetig weiterwachsende Masse an Verwaltungsschriftlichkeit über das Jahr hin ermöglichte und die in den Büchern verankerten Informationen verfüg-, verwend-, aktualisier- und nutzbar hielt. Graphische Markierungen heben so bestimmte Handlungssequenzen des Verfahrens aus der Masse der Eintragungen hervor oder verweisen – im wahrsten Sinne des Wortes – auf konkrete Zuständigkeiten und Fallhintergründe. Denn der digitus manus wurde jenen Protokolleinträgen beigegeben, die auf Grund von Injurien oder handfesten Tätlichkeiten Eingang in die Bücher gefunden hatten und in den Zuständigkeitsbereich der sogenannten Einunger fielen.³⁰ Jedem KlageEintrag wurde zur visuellen Markierung in einer imaginären linken Spalte der Schuldnername beigefügt, jeder alle-Recht und damit Ungehorsams-Eintrag³¹ ist leicht zu erkennen an dem Viereck mit Punkt in der Mitte. Waren die Schulden beglichen, kanzellierte der Schreiber die entsprechenden Klage-Einträge – deutlich sichtbar – durch mehrfache Durchstreichungen. Neben den graphischen Markierungen und der Seitengestaltung wurden die Protokollbücher darüber hinaus durch ein bestimmtes, stabiles Protokollformular, bestehend aus spezifischen Text- und damit Informationenbausteinen (hier bezeichnet als Protokollsemantik), selbst strukturiert. Denn die Feder des Schreibers hielt das – unter Umständen mögliche und vorgelagerte, mündlich hervorgebrachte – „Ereignis- und Fraktionengewirr“³² in einer angepassten, gerichtsrelevanten und informationskomprimierten schriftlichen Form fest, wodurch letztlich immer wiederkehrende Textmuster mit entsprechenden Informationsbausteinen entstanden sind,³³ die in sehr konkreter Darstellungsform die wichtigsten Konstanten der gegenwärtigen Situation vor Gericht dokumentierten: Kläger, Beklagte, Verfahrensstatus und – je nach Handlungssequenz – die beklagte Schuldsumme, gepfändete materielle Objekte, ausführlichere red-, antwort- und widerred- Kommunikationssituationen, ausgehandelte Vertragsmodalitäten oder die Inhalte der Urteile der Richter.
Zu den Einungern als Gremium in der Straf- wie Niedergerichtsbarkeit siehe Carl A. Hoffman, Strukturen und Quellen des Augsburger reichsstädtischen Strafgerichtswesens in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 88 (1995), S. 57–108 (hier insbes. S. 79 f.). Alle Recht hatte der Gläubiger erlangt, wenn der Schuldner nach der Klage nicht wettete bzw. die Zahlung nach der Wette säumte. Cornel Zwierlein, Gegenwartshorizonte im Mittelalter. Der Nachrichtenbrief vom Pergamentzum Papierzeitalter, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 12/1 (2010), S. 3–60 (hier S. 8). Vgl. hierzu auch Loetz, Sprache in der Geschichte (wie Anm. 11).
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Diese protokollierten Bestandteile und eigentlichen Handlungssequenzen im summarischen Verfahren vor dem Stadtgericht in Augsburg stellen sich in der Protokollsemantik dabei durch vier Verben oder Verbalphrasen dar, wie sie sich auch in den Abbildungen zeigen: 1. 2. 3. 4.
Clagen ³⁴ Wetten ³⁵ Alle Recht erlangt ³⁶ Verganten ³⁷
Hinzu kommen noch die Verben bekennen und einschreiben, welche im Kontext ihrer Fallgeschichten auf vertragliche Abmachungen und/oder außergerichtliche Verhandlungen verweisen, kurze Botenberichte zur Zustellung unterschiedlicher Gerichtsbriefe sowie zudem im ordentlichen Verfahren längere Protokollnarrationen der Rede und Antwortsituationen und letztlich die Protokolle zu den Urteilen (Entscheidungen) der Richter.
Eröffnung des Geldschuldenverfahrens durch den Gläubiger, wodurch bekanntgemacht wurde, dass dem Schuldner eine Ladung vor Gericht zugestellt worden war; dieser Schritt konnte bei einer Klage zwischen zwei in Augsburg wohnenden Parteien eines Schuldverhältnisses bis zu dreimal erfolgen; klagte ein Fremder gegen einen Einwohner, reduzierte sich die Ladung auf eine einzige; wurde an Tagen des Vogtgerichts geklagt, reichte ebenfalls eine einzige Ladung aus, siehe Gerichtsordnung StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 115, unfol. Idealtypisch reagierte der Schuldner mit einer sog. Gerichtswette auf die Klage des Gläubigers, wobei der Schuldner versprach, die ausstehende Summe innerhalb von acht Tagen dem Gläubiger zu überreichen, siehe StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 115, unfol. Ließ der Schuldner die acht Tage nach der Gerichtswette verstreichen oder antwortete er nicht auf eine der bis zu drei Ladungen und meldete dies der Gläubiger wiederum vor Gericht, so hatte der Gläubiger alle Recht am Schuldner erlangt und durfte mit Wissen des Gerichts und im Beisein des Burggrafen Pfänder aus dem Haus des Schuldners entnehmen. Acht Tage lang durfte er diese behalten. Löste der Schuldner sie nicht aus oder einigten und „vertrugen“ sich die Parteien nicht durch die Aufrichtung eines Schuldvertrags (durch Tedingsleute) „anders“ (so der terminus technicus), konnte der Gläubiger die Vergantung der Pfänder durchführen lassen, siehe StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 115, unfol. Wenn der Schuldner seine Schulden nicht begleichen konnte, war es dem Gläubiger möglich, anhand von Geldäquivalenten – meist materiellen Gegenständen aus der fahrenden Habe des Schuldners – befriedigt zu werden. Dazu wurden die aus dem Haus entnommenen Gegenstände nach einem festgelegten Verfahren auf der Gant dem Höchstbietenden versteigert. Löste der Schuldner die so bereits versteigerten und damit in das Eigentum des Höchstbietenden übergegangenen Gegenstände nicht innerhalb von weiteren acht Tagen aus, so durfte sie der Höchstbietende rechtmäßig behalten, worüber ein legitimierender sog. Gantbrief durch den Burggrafen ausgestellt werden musste (bei liegendem Gut musste der Brief durch den Vogt ausgestellt werden), siehe StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 115, unfol.
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Das Protokollformular an sich lässt sich dabei in fünf feste Informationsbestände gliedern: Für die Aufzeichnungspraxis der Protokolle insgesamt gilt 1.), dass jeder Protokolleintrag mit einem einleitenden Item an der linken Position des Eintragspostens beginnt (siehe die Abbildungen). Als konkrete Ressource in der Aufzeichnungspraxis markierte der Gerichtsschreiber mit diesem Item das Protokoll als eigenständigen Text. Hierauf folgt 2.) in den Protokolleinträgen zum summarischen Verfahren die Verzeichnung des Namens des Gläubigers, seines Berufes und weniger oft auch seines Wohnortes. Bei der sogenannten Gerichtswette tritt der aktiv handelnde Schuldner mit Namen, Beruf und Wohnort in die erste Position des Protokollformulars ein. In der Mitte des Protokolltextes und damit auch der mise en page befindet sich 3.) im Anschluss an die Individualisierung des Protokolls durch Namen und Beruf des Klägers dann der entsprechende Verfahrensschritt, der den Status der Fallgeschichte für die Leser des Protokolls kenntlich macht (clagen, wetten, alle Recht erlangt, verganten). Hieran schließen sich dann im Klage- und alleRecht-Eintrag 4.) die Informationen über den Schuldner (Name, Beruf, Wohnort). Beendet wird das Protokoll 5.) mit der Verzeichnung der ausstehenden und in monetären Werten angegebenen Schuldsumme oder des bezeichneten Schuldengegenstandes: It[em] Ulrich Weiß Schmidknecht cl[agt] Hans, Schmid bei St. Ulrich [um, Anm. MW] 42 Kreutzer ³⁸. Ite[m] Ulr[ich] Mayrhaupt d[er] Led[erer] Zunfftmaist[er] hat alle Re[cht] erlangt an Leonh[ard] Visch[er], Schuchster, hatt gewetet x 34 lb dn uß ain Rech[nung], Besch[ehen] uff Ment[ag] p[ost] Martini, […] und br[i]e[f ]³⁹.
Bei Vergantungseinträgen wurde diese Systematik aufgebrochen, denn auf die Nennung des Verfahrensschrittes folgt zunächst die Auflistung der Pfändungsgegenstände, die dem Schuldner zur Begleichung seiner Schulden auf der Gant aus dem Haus entnommen worden waren, wie zum Beispiel bei dem sehr kurzen Vergantungseintrag der Müllerin, Kartenmacherin, die ein bar hosen für einen halben Gulden versteigern ließ, da ihr der Geselle Seitz diese ausstehende Schuld nicht monetär zu überreichen vermocht habe.⁴⁰ Erst im Anschluss an die versteigerten Gegenstände folgen die Erlössumme sowie der Name des Schuldners. Anders als bei dem Vergantungseintrag der Müllerin schließt die überwiegende Mehrzahl dieser Protokolle mit dem zusätzlichen Hinweis darauf, wer die Gegenstände er-
StAA, Strafamt 4 (1483), S. 30a. StAA, Strafamt 2 (1481), S. 2b. StAA, Strafamt 2 (1481), S. 195a: Ite[m] die Müllerin Kartenmacher[in] hat v[er]gantett […] ain bar hosen so aim gesellen g[e]n[ann]t Seitz gewesen, ist v[er]gange[n] umb 0,5 guld[en] […].
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steigert hat.⁴¹ Die „Aneinanderreihung“ dieser „Verfahrensschritte“,⁴² so lässt sich mit Stefan Esders und den Erkenntnissen um Hanna Vollrath sagen, konstituierte sowohl das Verfahren und schuf darüber hinaus auf Basis geteilten Wissens den Entscheidungsrahmen für die Richter. Jeder dieser Verfahrensschritte, der eigentlich in einer definierten Kommunikationssituation vor Gericht, in Anwesenheit der Beteiligten, durch bestimmte Sayings and Doings im tatsächlichen konkreten Vollzug in actu und verbal stattgefunden hatte, wurde so durch Schrift-Zeichen fixiert und sowohl sprachlich als auch formal in das Konstruktionsprinzip der Aufzeichnungs-, genauer gesagt der Dokumentationspraktiken, eingepasst.⁴³ Die Protokollbücher als eine Art Imbreviatur oder Liste stehen also nicht nur im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit – als eine Art komprimiertes Beobachtungsprotokoll des Gerichtsschreibers sind sie darüber hinaus an die konkretisierte Sprachlichkeit des institutionellen Kontextes gebunden. Mit der Dokumentation durch feststehende, formelle Textbausteine und eine immer wiederkehrende Protokollsemantik wurde durch die Schreiber eine Auswahl an Informationen getroffen; sie agierten sozusagen als Selektierende, die aus den gehörten Lautfolgen und Erzählungsschilderungen der beteiligten Akteure in der Kommunikationssituation vor Gericht und den dazugehörigen Handlungen gerichtspragmatischen Sinn generierten.⁴⁴ Erst die SchriftZeichen in Kombination mit dem Wissen um die sie bezeichnenden Vorgänge ermöglichen es, die Bücher zu decodieren und die historische Einordnung in ihren Referenzrahmen vorzunehmen. Hierüber, und letztlich nur mehr schriftlich, sind
Z. B. StAA, Strafamt 2 (1481), S. 196b: Ite[m] Hans Drechsel, Wirt, hat v[er]gantet Nach d[er] Statre[ch] diese pfand mit namen, 1 Swert, 1 Swein Spieß, 1 beichel und 4 buchs salben und 1 badhemett, so zway brud[er] g[e]n[ann]t die Bad[er] geweße[n], sind v[er]g[ang]e[n] u[m]b x gr[oschen] und Im selbs belibe[n], und hat die pfand ain monat Behallte[n] und den Burg[grafen] anbotte[n] und v[er]kundt alls re[cht] ist. Burg[graf ] Riegk. Stefan Esders, Mittelalterliche Konfliktaustragung zwischen rechtlichem Verstehen und zielorientiertem Handeln. Zur Einführung in das Thema, in: Esders (Hrsg.), Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung (wie Anm. 28), S. 1–13 (hier S. 3). Vgl. hierzu auch die bei Emmanuele Cerchiari, Capellani papae et apostolicae sedis auditores causarum sacri palatii apostolici seu Sacra Romana Rota ab origine ad diem usque 20 Septembris 1870. Relatio historica iuridica, Bd. 3: Documenta.Vaticanis 1919, S. 75, zusammengestellten Vorgaben an der römischen Rota, wo letztlich auch alle „sententias diffinitivas sive interlocutorias ac inhibitiones, necnon initimationes et appellationes verbo vel in scriptis emissas, ex integro de verbo ad verbum conscribant (…)“ von den Notaren verzeichnet werden sollten. Stefan Hirschauer, Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung, in: Zeitschrift für Soziologie 30/6 (2001), S. 429–451 (hier insbes. S. 430); siehe aus linguistischer Perspektive Maria Selig, Plädoyer für einen einheitlichen, aber nicht einförmigen Sprachbegriff. Zur aktuellen Rezeption des Nähe-Distanz-Modells, in: Romanistisches Jahrbuch 68 (2017), S. 114–145.
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Auf- und Rückschlüsse über die Verfahrens- und Alltagspraxis vor dem Stadtgericht zu gewinnen.⁴⁵ Die Bindung an den niedergerichtlichen Kontext, die Autorität des geschworen Buoch und die handhabbare Benutzung der Protokollbücher bringen es mit sich, dass sich diese spezifische Aufzeichnungspraxis verstetigte und kontinuierlich über den gesamten Überlieferungszeitraum von 1480 bis 1567 in den Protokollbüchern angewendet wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die oberflächlich betrachtete Informationsknappheit und fehlende Narrativität der Protokolltexte lässt sich mit einer Nanoperspektive auf die Protokollbücher beheben, denn bereits ihre äußere Form macht ein formelles Korsett sichtbar,⁴⁶ das sich mit Erweiterung der Quellengrundlage, wie etwa den normativen Vorgaben aus der Gerichtsordnung, dem Stadtbuch oder den Ratsprotokollen, zu den notwendigen, vorgeschriebenen Handlungssequenzen im Verfahren um Geldschulden vor dem Stadtgericht in Augsburg ausgleichen lässt. Dieses Protokollkorsett besteht, wie oben beschrieben, aus den informativen und sinntragenden Textbausteinen (Name, Beruf, Wohnort, Verfahrensschritt, Schuldsumme), anhand derer sich die Protokolle 1.) individualisieren, 2.) in einem zweiten analytischen Schritt aus der anonymen Verzeichnungspraxis herausheben lassen und wodurch es 3.) ermöglicht wird, die Verfahrenspraxis zu beleuchten, Schuldenparteien eindeutig zu identifizieren und sie ihren Fallgeschichten zuzuordnen. Durch diese Zuschreibungen wird zudem deutlich, dass hinter den gut 30.000 formell gehaltenen Klageeinträgen im Zeitraum von 1480 bis 1532 nämlich insgesamt ca. 80.000 Individuen standen, die als Justiznutzer, Kläger, Beklagte, Zeugen oder Stellvertreter Teil einer spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Schuldenpraxis waren und damit gleichsam zur Bedingung einer Aufzeichnungspraxis wurden. Die Protokollsemantik samt den visuellen und sprachlichen Aufzeichnungspraktiken lässt sich damit – wie die sprachlinguistische Untersuchung von Kathrin Kraller jüngst hervorgehoben
Siehe hierzu auch Klaus Graf, Das leckt die Kuh nicht ab. „Zufällige Gedanken“ zu Schriftlichkeit und Erinnerungskultur der Strafgerichtsbarkeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 1), S. 245–288 (hier insbes. S. 246–249). Thomas Lentes/Thomas Scharff, Schriftlichkeit und Disziplinierung. Die Beispiele Inquisition und Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 233–251 (hier S. 236, Anm. 15). Thomas Lentes und Thomas Scharff zitieren in ihrem Aufsatz zu Schriftlichkeit und Inquisition etwa Bernard Gui, der die Protokollanten anwies, „nur das Wesentliche“, nicht aber die gesamte Fallgeschichte mitzuschreiben, „und [sie, die Protokolle, Anm. MW] in Aufbau und Länge immer ähnlich gestaltet sein [sollten].“ Gui spricht damit direkt eine Aufzeichnungspraktik an, die sich für die Augsburger Protokolle ‚nur‘ beobachten lässt.
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hat – als „Versprachlichungsstrategie“⁴⁷ einer definierten mündlichen Interaktionssituation vor Gericht charakterisieren, als komplexe Medienkonstellation.
3 Außersprachliche Wirklichkeiten – Teil der Gegenwartskonstruktion Die Protokollsemantik besteht also in ihrem Kern aus konkreten, verschrifteten, für die Zwecke der gerichtlichen Umwelt (Richter, Parteien, Verfahren) aufbereiteten Informationsbeständen. Diese Informationsbestände lassen sich, wie sich gezeigt hat, wiederum klassifizieren: Namens- und Berufsnennungen von Klägern und Beklagten ermöglichen ihre eindeutige Identifizierung; das Attribut der Berufsnennung ordnet die Person einer für die Zeitgenossen eindeutig verortbaren – wenn auch faktisch in sich disparaten – sozialen Gruppe zu; die dazu eingetragene und monetär angegebene Schuldsumme ermöglicht Vergleichbarkeiten; Hinzufügungen wie gelihen geltz, uß ain Rechnung oder negat verweisen auf die Hintergründe der Schuldenbeziehung – zusammengenommen Referenzen auf außersprachliche Wirklichkeiten, die sich aus den komprimierten Protolltexten und ihrer Semantik herausgreifen lassen. Besonders die längeren, im Konjunktiv gehaltenen Protokolleinträge zu den Dialogen in Rede- und Antwortsituationen halten dabei zweierlei fest: Erstens das Sprechen über eine Schuldenpraxis und ihre Hintergründe, wie auch zweitens das Sprechen über eine Verfahrenspraxis vor Gericht. Treten die beteiligten Kläger oder Beklagten in das mündliche Positionalverfahren mit Red, Antwort und Widerred ein, so finden sich in den (älteren) Protokollbüchern häufig längere Narrationen über die – aus der Perspektive der jeweiligen Parteien – dargelegten, protokollierten Hintergründe der Schuldenbeziehung, verschiedene Stationen dieser mindestens dyadischen Konstellation, bereits geschehene Vorkommnisse vor Gericht oder bei anderen Umständen. Mit den als außersprachlichen Wirklichkeiten klassifizierten Informationsbeständen lassen sich so verschiedene Praktiken des Schuldenmachens aufzeigen. Neben den zahlenmäßig am meisten vertretenen Praktiken der Geldleihe und dem Borgkauf waren es nämlich vor allem Schulden aus Produktionsverbindungen wie dem Verlagsgewerbe, Verbindlichkeiten aus unbeglichenen Kredit- und Kaufverbindlichkeiten, dokumentiert durch Rechnungen oder Schuldbriefe, ausstehende Zinszahlungen oder unbezahlte Dienstbotenlöhne, die eine vor Gericht gebrachte Schuldenbeziehung konstituieren
Kathrin Kraller, Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte. Volkssprachliche Notarurkunden des Mittelalters in ihren Kontexten mit einer Analyse der okzitanischen Urkundensprache und der Graphie. Regensburg 2019, S. 31.
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konnten. Diese Praktiken werden in den Protokollen derart häufig benannt, dass ihnen ein bestimmter Grad an Musterhaftigkeit zugeschrieben werden kann und sie als Routinen des täglichen Finanzhandelns charakterisiert werden können. Zudem sind es nicht zuletzt auch Verordnungen in den Ratsprotokollen, die diese Feststellung durch normative Bestimmungen unterstützen.⁴⁸ Mit dem Ziel, nicht auf den ausstehenden Schulden von einem Gulden und 13 Kreuzern sitzen zu bleiben, erschien etwa ein Hans Cramer vor den Richtern des Stadtgerichts. Seine Schuldnerin, die Wiggin aber antwortete auf seine Klage: sie sei ihm nichts schuldig und wisse selbst nichts von der ausstehenden Geldsumme, es könnte sich höchstens um Verbindlichkeiten gegenüber ihrem Ehemann handeln, den muge er [der Cramer, Anm. MW] darumb wol furnemben. ⁴⁹ Hans Cramer jedoch ließ diese Rede vor den Richtern nicht stehen und erwiderte auf die Schilderungen der Frau, dass ihm die antwurdt fremdt sey, denn er sei sich sicher, dass der Frau die Schuld wissentlich sei, habe er doch das um die Schuldsumme verkaufte Garn selbs in ir hauß getrag[en] und nachdem sie es zusammen mit ihrem Knecht verwürckt habe und es an Ir nutz komen sei, hätten sie zusammen an der Rechnung gesessen, wobei der Cramer der Wiggerin seine Forderungen bekannt gemacht habe. H[et/ hab/hat] sy gesagt, dz garn sey zu brod und sy wolle Im wid[er] geben. Bei der geschilderten Situation, so erzählte Cramer weiter, sei die Magd dabei gewesen, weshalb er die Magd als Zeugin vor Gericht laden wolle, um seine Aussagen zu unterstützen und das Abstreiten der Wiggerin zu widerlegen.⁵⁰ Diese Narration dient im vorliegenden Fall als Exempel, weil sich an ihr drei Dinge aufzeigen lassen, die im Großteil der Dialogsituationen eine Rolle spielen. Erstens und hierauf verweisen Studien zur Rechtsprechungstheorie, der Rechtslinguistik und der Rechtssoziologie, ist das Sprechen vor Gericht ein „Argumentationsprozess“⁵¹ mit dem Ziel der Sprechenden, klar Position zu beziehen, die Rollen von Kläger oder Beklagtem entweder zu verstärken oder von sich zu weisen. Die Erzählungen und Schilderungen vor den Richtern ermöglichten es, die eigene Sicht auf die Geschehnisse darzulegen, Informationen mitzuteilen und dadurch einen
So wurde in einem Ratsprotokoll aus dem 15. Jahrhundert beispielsweise die häufige Nichtbezahlung von Schulden aufgrund von Borgkäufen thematisiert und kriminalisiert und der Stadtverweis als Strafe ausgesprochen, wenn der Käufer wissentlich Käufe tätigte, die er bar nicht begleichen konnte, vgl. Staatsbibliothek München, Cgm. 556, fol. 138v. StAA, Strafamt 26 (1505), S. 15b. Ebd. Hans Joachim Strauch, Rechtsprechungstheorie. Richterliche Rechtsanwendung und Kohärenz, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts. Berlin/New York 2005 (Die Sprache des Rechts. Studien der interdisziplinären Arbeitsgruppe Sprache des Rechts der BBAW, Bd. 2), S. 479–519 (hier S. 479).
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Bezugsrahmen aufzuziehen, der sowohl das Schuldenmachen als auch die Verfahrensgeschichte in kausale Beziehungen setzte. Das Sprechen schuf also für alle anwesenden Beteiligten zweitens einen Gegenwartshorizont, auf den die Richter, aber ebenso Kläger und Beklagte in der Sprechsituation vor Gericht Zugriff hatten und der entsprechend den Schilderungen „verkleinert oder vergrößert“ werden konnte.⁵² Die klag nem ihn fremd, sy wist wol, bedarf nit weiter zu erzeln, er bekenn – Formulierungen wie diese wurden gesprochen und aufgeschrieben, um diskursiv eine bestimmte Faktizität herzustellen und die Position zu stärken.⁵³ Die so gelieferten Informationen betreffen in erster Linie außersprachliche Wirklichkeiten, die, wie im Fall von Hans Cramer und der Wiggerin, auf Formen des Schuldenmachens (hier durch Borgkauf ) und bestimmte Praktiken im sozialen Feld des Schuldenmachens (hier: gemeinsam abrechnen, Rückzahlungsverzögerungen) verweisen. Die in einer Gesellschaft verankerten impliziten Wissensbestände und expliziten sozialen Routinen des Schuldenmachens wurden so auf Tinte und Papier materialisiert und versprachlicht.⁵⁴ Deutlich ablesbar ist die Konstruktion eines Gegenwartshorizonts und einer Gegenwärtigkeit durch die Protokollsemantik besonders auch in den Protokolleinträgen zur Übergabe von Gerichtsbriefen durch bestellte Gerichtsboten: Ite[m] Wolffgang als ain Bott Jörg Sydellers hat vor ge[richt] geswor[en] aine gelerten aid wie Re[cht] ist, dem Michel Seckler zu Fridberg wonhafft uff gestern vorige[n] ume 4 ur nach mittag Ime Secklers Wirtsch[aft] in sein hand geantw[ort] h[ab/het/hat].⁵⁵ Im zuant[wort] geb[en], Er wolle kommen u[nd] dz Recht nit fliehen. ⁵⁶ Gegenwärtigkeit wird in dem Protokollbuch konstruiert durch die eindeutige Wiedergabe von konkreten Angaben zu Zeit und Ort der Übergabe, Präzisierung der Zustellungskontexte, dem Festhalten von Antworten. Briefe wurden morgens, mittags und nachmittags übergeben, um 8 Uhr morgens oder um 5 Uhr nachmittags, Im feldt im acker ⁵⁷, vor dem Haus, als sy ain holtz ab einem karren geladen. ⁵⁸ Durch die Dokumentation dieser einzelnen Informationen wurde nicht nur die rechtmäßige Übergabe der Briefe durch Dritte sichergestellt und die ei-
Zwierlein, Discorso und Lex Dei (wie Anm. 5), S. 207. Zur Faktizitätsherstellung durch Sprechen siehe Ekkehard Felder, Pragmatik des Rechts. Rechtshandeln mit und in Sprache, in: Felder/Vogel (Hrsg.), Handbuch Sprache im Recht (wie Anm. 4), S. 45–66 (insbes. S. 46). Vgl. auch Ingo H.Warnke, Diskurslinguistik und die ‚wirklich gesagten Dinge‘ – Konzepte, Bezüge und Empirie der transtextuellen Sprachanalyse, in: Ekkehard Felder (Hrsg.), Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin/Boston 2013 (Sprache und Wissen, Bd. 13), S. 75–98. Ob im Protokolltext hier Indikativ oder Konjunktiv verwendet wurde, lässt sich auf Grund der Abkürzung nicht erurieren. StAA, Strafamt 26 (1505), S. 117b. StAA, Strafamt 26 (1505), S. 68a. StAA, Strafamt 36 (1516), S. 25b.
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gentliche Abwesenheit der verantwortlichen Richter überwunden. Die Antworten ließen bei Richtern und Klägern Rückschlüsse auf das mögliche Verhalten der Beklagten zu und generierten Erwartbarkeit; so wurden etwa Geleitbriefe gefordert, um nach Augsburg kommen zu können,⁵⁹ versteigertes Pfand sollte ausgelöst werden,⁶⁰ Antworten sollten mitgegeben werden,⁶¹ es wurde über die geschriebenen Forderungen nachgedacht,⁶² Briefe wurden vor den Augen der Boten gelesen,⁶³ ihre Annahme aber auch verweigert, die Briefe gar zerrissen.⁶⁴ Viele der Antworten aber lassen auch das Wissen um die Verfahrensinhalte erkennen wie etwa eine Übergabe eines Ladungsbriefes belegt. Der Beklagte gab dem Boten zur Antwort: er woll in den drey Rechtagen sein gewalthaber einschicken oder aber sein weib, und woll lugen ob er sich gutlich mit Im vertragen muge wo aber dz selbe nit gesein muge, so mus er geschehen lassen, sovil recht sei umb die hab die im hauß sei. ⁶⁵ Mit verba dicendi wie sprach, erzelt oder antwortet generierte der Gerichtsschreiber in den Protokollen Narrativität, machte Sprecherpositionen eindeutig sichtbar und überwand – zumindest sprachlich – die raumzeitliche Differenz zwischen den vorgelagerten Geschehnissen in der Schuldenbeziehung und den in Abwesenheit der Richter durch eine dritte Person übergebenen, aber für die Fortschreitung des Verfahrens essentiellen Gerichtsbriefen.
4 Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Abstraktion und Konkretisierung, Routine und Kontingenz Zwar erhöht sich die Distanz bei der ex-post-Analyse wiederum, denn wir können nur das Aufgeschriebene lesen, sehen keine Beteiligten und hören sie nicht sprechen; nicht zuletzt beschränken die indirekte Rede sowie die Abbreviaturen bei den möglicherweise im Konjunktiv verwirklichten Hilfsverben ‚habe, sei, wolle, Z. B. StAA, Strafamt 16 (1495), S. 284b: […] zu antw[ort] er sei ain burg[er] hie und well die v[er]kundung anneme[n] doch d[a]z man Im frid und gleit […] gebe. Z. B. StAA, Strafamt 4, S. 155a: […] zu antwort geben […] sy wöll versuchen ob sis lesen muge. Z. B. StAA, Strafamt 26 (1516), S. 55a: […] lieber bote verzerch ein weylin […] ich wollt dir suns ain antwurtt geben […]; der Bote aber verwies darauf, dass er mit der Übergabe bereits seine Pflicht erfüllt habe und keine schriftliche Antwort nach Augsburg mitnehmen werde, die mündliche Auskunft reichte also dem Boten völlig aus! Z. B. StAA, Strafamt 42 (1531), S. 11a: er well Ratt darüber haben. Z. B. StAA, Strafamt 26 (1516), S. 15b. Z. B. StAA, Strafamt 26 (1516), S. 17b: den er von Im nit annemen wollen. StAA, Strafamt 16 (1495), S. 130b.
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könne‘ den direkten Zugang zur Mündlichkeit im Verfahren. Allerdings soll mit den Ausführungen zur Aufzeichnungspraxis im Verfahrensalltag vor dem Stadtgericht deutlich geworden sein, dass die kombinierte Analyse von Aufzeichnungspraktiken und der Protokollsemantik besonders in Protokollbüchern weitläufige Einsichten ermöglicht. Mit den Ausführungen soll explizit darauf hingewiesen worden sein, dass sich die Gerichtsüberlieferung im Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Abstraktion und Konkretisierung, Routine und Kontingenz, Saying and Doing, Vergangenheit und Gegenwart befindet. Diese Gerichtsüberlieferung als komplexe Medienkonstellation zu begreifen, kann einen Beitrag zu einer Methodisierung einer grundwissenschaftlich-historischen-Praxeologie leisten, die mehr sehen lässt als ‚nur‘ aneinandergereihte, für uns chaotisch-anmutende, knappe und narrationslose Spracheinheiten.
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Woe salmen nv dit halden…? Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im städtischen Recht der Vormoderne: Die Xantener Rechtskonsultationen an den Oberhof Neuss und die Entwicklung des Duisburger Stadtrechts Meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. phil. em. Arend Mihm, zu seinem 85. Geburtstag
Gegenstand dieses Beitrags unter dem Leitthema „Schriftlichkeit und Elemente der Mündlichkeit im Gerichtswesen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“ ist ein Beispiel aus dem Nordwesten des Reiches. Als Schwerpunktregion wurden der Niederrhein und die alte Reichsstadt Duisburg ausgewählt, zumal letztere eine besonders reichhaltige Überlieferung zu diesem Themenkomplex aufzubieten hat. Der zeitliche Ausgangspunkt liegt im Spätmittelalter, wobei die Grenze zur Frühen Neuzeit überschritten wird und sich ein Ausblick bis ins 17. Jahrhundert anschließt. Da eines der Themenfelder der mit diesem Sammelband dokumentierten Tagung die formelle und informelle Verschriftlichung des Gerichtsverfahrens betrifft, soll hier zunächst nach dem Beginn der Schriftlichkeit im ursprünglich mündlichen Gerichtsverfahren sowie der Rolle der Mündlichkeit im Verhältnis dazu gefragt werden.
1 Überblick über die Entwicklung der Schriftlichkeit im Gerichtswesen des Mittelalters Insgesamt gesehen hat sich der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im Rechtswesen in einem jahrhundertelangen Prozess vollzogen, in dem die Aufzeichnungen der germanischen Stammesrechte vom 6. bis zum 9. Jahrhundert nur „ein frühes Vorspiel darstellten“.¹ Im 12. Jahrhundert begann sich dann eine
Arend Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll im Spätmittelalter und ihr Zeugniswert für die https://doi.org/10.1515/9783111077406-006
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schriftliche Komponente zu etablieren, die am Ende des 16. Jahrhunderts „zur Dominanz“ gelangt sei.² Im 12. Jahrhundert finden sich beispielsweise Zeugnisse freiwilliger Gerichtsbarkeit in Protokollbüchern privater Rechtsgeschäfte,³ und die Datenfülle des zunehmenden Gerichtswesens jener Zeit scheint eine Herausforderung dargestellt zu haben, welche die Schriftlichkeit durch Überforderung des Gedächtnisses förderte.⁴ Das vierte Laterankonzil 1215 kann als ein weiterer Markstein für Beweisführung und zunehmende Schriftlichkeit angesehen werden, da es sich gegen Zweikämpfe und Gottesurteile wandte, denen der Urkundenbeweis entgegengestellt wurde.⁵ Dies hatte zwar zur Folge, dass bei dem Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens die vorgelegten Urkunden und die verwendeten Gesetzestexte verlesen werden mussten,⁶ doch nahmen im 13. Jahrhundert neben schriftlichen Zeugnissen der freiwilligen Gerichtsbarkeit auch solche der Strafgerichtsbarkeit zu.⁷ Im Jahre 1235 wird etwa im Mainzer Landfrieden eine Pflicht zur Protokollführung bei Verhängung der Acht durch den Hofrichter und bei Anklagen auf Landfriedensbruch erstmals greifbar.⁸
Geschichte der gesprochenen Sprache, in: Gisela Brandt (Hrsg.), Historische Linguistik des Deutschen II: Sprachgebrauch in soziofunktionalen Gruppen und in Textsorten. Stuttgart 1995 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 324), S. 21–57 (hier S. 26), mit Bezug auf Ruth Schmidt-Wiegand, Recht und Gesetz im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 147–166, und Hanna Vollrath, Gesetzgebung und Schriftlichkeit. Das Beispiel der angelsächsischen Gesetze, in: Historisches Jahrbuch 99 (1979), S. 28–54. Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 26. Beispiele ebd., S. 28 f. Ebd., S. 27. Heinrich Mitteis/Heinz Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch. 19. erg. Aufl. München 1992, S. 308. Ebd., S. 309. In der Frühzeit wurden die mündlich wirksamen Rechtssetzungen, wenn überhaupt, nur in Urkundenform aufgezeichnet, wobei der Begriff „urkund“ ursprünglich wörtlich das für Recht „Erkannte“ im Sinne von „testimonium“, also „Zeugnis“ meinte, während die Urkunde selbst zeitgenössisch als „brief“ bezeichnet wurde; Joachim Dahlhaus, „Mit urkund dises briefs“. Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung in der Universitätsbibliothek Heidelberg am 30. September 1996, in: Theke aktuell (1996), S. 58–62 (hier S. 58); Arend Mihm, Funktionen der Schriftlichkeit in der städtischen Gesetzgebung des Spätmittelalters, in: ders., Sprachwandel im Spiegel der Schriftlichkeit. Studien zum Zeugniswert der historischen Schreibsprachen des 11. bis 17. Jahrhunderts, hrsg. von Michael Elmentaler/Jürgen Biehl/Beate Henn-Memmesheimer/Jürgen-Matthias Springer. Frankfurt a. M. 2007, S. 301–319 (hier S. 305) [Erstdruck in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 27 (1999), S. 13–37]; Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor, völlig neu bearb. von Elmar Seebold. 22. Aufl. Berlin/New York 1989 [1. Aufl. 1883], S. 753. Beispiele Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 29–31. Ebd., S. 27.
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Ab dem 14. Jahrhundert nehmen auch Schriftquellen zu, die überwiegend Zivilprozesse dokumentieren, also zur streitigen Gerichtsbarkeit der ersten Instanz.⁹ Der Zivilprozess schied sich im Spätmittelalter zunehmend vom Strafprozess ab, je mehr er dem Zwecke der Sachaufklärung dienstbar gemacht wurde.¹⁰ Schriftquellen zur zweiten Instanz werden ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, aber schwerpunktmäßig im 15. Jahrhundert mit den Oberhofprotokollbüchern greifbar.¹¹ Wichtig ist bei der zunehmend steigenden Schriftlichkeit im Rechtswesen, wie Elemente der Mündlichkeit ihr gegenüberstehen. Dabei ist, das sei hier vorweggenommen, die Rolle der Zeugen bei der einsetzenden Beweisführung ein wesentlicher Faktor. Die Anfänge eines gegenüber Gottesurteil, Kollektiveid und Zweikampf rationaleren Verfahrens- und Beweisrechts liegen nach einer These G. Dilchers in den Interessen der Kaufmannschaft und des bürgerlich-städtischen Milieus begründet.¹² Die Karolina de ecclesiastica libertate Karls IV. vom Jahre 1354 verweist ebenfalls ausdrücklich auf weltliche Zeugen zu ihrer Durchsetzung, wenngleich sie sich gegen städtische Statuten richtete, die der kirchlichen Freiheit zuwiderliefen, beispielsweise wenn diese untersagten, dass weltliches Gut weiter der Kirche übereignet wurde. Da die Karolina insbesondere Auswirkungen auf die Städte, aber auch allgemeine Bedeutung für die prozessuale Praxis hatte,¹³ ist der Befund einer Zunahme des Zivilprozessschriftgutes (mit Beteiligung von Zeugen) im 14. Jahrhundert durchaus in diesen allgemeinen Kontext einzuordnen.
Beleg ebd., S. 32. Vgl. Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte (wie Anm. 5), S. 308. Beispiel bei Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 34 f. Vgl. ebd., S. 27 f.; Gerhard Dilcher, Wandlungen der Normstruktur in den Stadtrechten des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Hagen Keller/Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 65), S. 9–19 (hier S. 18); Wilhelm Ebel, Die rechtsschöpferische Leistung des mittelalterlichen deutschen Bürgertums, in: Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte (Hrsg.), Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa. Reichenau-Vorträge 1963–64. 2. Aufl. Sigmaringen 1974 (Vorträge und Forschungen, Bd. 11), S. 241–258, sowie als Überblick Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. 2. durchgesehene Aufl. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 207–251 (Stadtverfassung) und S. 480–516 (Städtische Gerichtsbarkeit). Vgl. Ernst Schubert, Die Quaternionen. Entstehung, Sinngehalt und Folgen einer spätmittelalterlichen Deutung der Reichsverfassung, in: Zeitschrift für historische Forschung 20 (1993), S. 1–63 (hier S. 47 mit Anm. 249), zu Hamburg und zur allgemeinen Bedeutung für die prozessuale Praxis ebd., S. 48 mit Anm. 251, mit Verweis auf Peter Johanek, Die „Karolina de ecclesiastica libertate“. Zur Wirkungsgeschichte eines Spätmittelalterlichen Gesetzes, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 114 (1978), S. 797–831.
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Das Spätmittelalter vollzieht in strafrechtlichen Belangen zugleich den Übergang vom Anklageverfahren zum Inquisitionsprozess. Die damit verbundene Wahrheitserforschung nahm zu, und die Funktion der Eideshelfer (beispielsweise beim Übersiebnen und beim Reinigungseid) wandelte sich mehr und mehr zu Zeugen im Sinne des römisch-kanonischen Rechts.¹⁴ Damit einhergehend verschob sich die Beweisführung auf den Kläger; die Zeugen entwickelten sich zu einem zentralen Element des Prozesses, da der Formalbeweis durch Übersiebnen der Wahrheitsfindung wich. Die Eideshelfer wurden zu Zeugen, die durch Rede vor Gericht den Sachverhalt aufklären sollten.¹⁵ Arend Mihm beschäftigte sich 1995 in einer Studie mit der Mündlichkeit in Gerichtsprotokollen und stellte fest, dass die wörtliche Wiedergabe von Dialogen durch Zeugen gegen Ende des 14. Jahrhunderts aufkam und erst in der zweiten Hälfte des 16. allmählich zurückging, um im 17. Jahrhundert vollständig zu verschwinden.¹⁶ Auf mögliche Gründe dieses Phänomens wird abschließend zurückzukommen sein. Die direkten Reden der Zeugen sind ebenso wie die Falldarstellungen in den Oberhofprotokollen am ehesten als Niederschlag von Mündlichkeit in den Rechtsquellen zu charakterisieren, wie erwähnte Studie nachgewiesen hat.¹⁷ Dabei ist es selbstverständlich, dass wir nur im Besitz schriftlich überlieferter Aussagen sind, mithin jedes mündliche Zitat oder mündlich scheinender Redebeitrag einer Rechtsquelle durch einen Schreiber überliefert ist, der sie durch seine Feder fließen ließ. Dennoch gibt es Abstufungen, und besagte Studie hat in gründlicher Manier nachgewiesen, dass zwischen den überlieferten Reden der Gerichtspersonen, den Reden der Parteien und den Reden der Zeugen graduelle Unterschiede in Bezug auf die darin widergespiegelte Mündlichkeit festgemacht werden können, dass sie also eindeutig mehr oder weniger sprechsprachliche Züge aufweisen. So war bei den Reden der Gerichtspersonen der Abstand zum Bereich
Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte (wie Anm. 5), S. 307. Ebd. zur offiziellen Abschaffung des Übersiebnens (Überführungseid eines Klägers mit Unterstützung von sechs Eideshelfern) auf dem Freiburger Reichstag 1498. Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 51. Dieser Befund lässt sich auch an den Protokollen des Duisburger Notgerichtes verifizieren; vgl. Andrea Bendlage, Fremde gegen Bürger. Zivilgerichtspraxis am Beispiel des Duisburger Notgerichts im 16. Jahrhundert, in: Das Mittelalter 25, Heft 1 (2020), S. 119–134 (hier S. 126), sowie die Edition des ersten Bandes von Margret Mihm (Hrsg.), Die Protokolle des Duisburger Notgerichts 1537–1545. Duisburg 1994 (Duisburger Geschichtsquellen, Bd. 10). Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 37–54. Vgl. neuerdings dazu auch Alexander Krey, Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichts- und Rechtslandschaften des Rhein-Main-Gebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2015 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 30), S. 553 f. sowie 596 und 601.
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wirklicher Oralität unübersehbar.¹⁸ Die Wechselreden der Parteien sind in der Mehrzahl der überlieferten Quellen in einer nach juristischen Kriterien kondensierten Form überliefert, so dass sie eher abstrakt auf uns gekommen sind. In den Urteilsbüchern, in welchen Fallbeschreibungen vorgenommen werden, kommt es häufig zur Darstellung aus der Sicht des Protokollanten, was daran sichtbar wird, dass sie in der dritten Person geschildert werden. Selbst in den Protokollen des Ingelheimer Oberhofes, welche häufiger wörtliche Zitate überliefern, ist die Formelhaftigkeit der Einlassungen überwiegend, so dass es sich dabei nicht um Überlieferung spontan formulierter freier Rede handelt.¹⁹ Lediglich die zitierten Reden von Zeugen, welche anhand von Quellen aus Straßburg, Duisburg und Neustadt an der Weinstraße untersucht wurden, weisen mit syntaktisch anspruchslosen kurzen Fragen und Antworten sowie einfacher Lexik am ehesten Züge spontan gesprochener Sprache auf und „treffen recht genau den mündlichen Tonfall eines Gelegenheitsgespräches“.²⁰
2 Spätmittelalterliche Rechtsanfragen an einen Oberhof An dieser Stelle soll nun eine Quelle aus der Mitte des 15. Jahrhunderts vorgestellt werden, die dem Quellentypus der Rechtskonsultationen an einen Oberhof zuzuordnen ist.²¹ Es handelt sich dabei konkret um die Rechtskonsultation der niederrheinischen Stadt Xanten an den Oberhof Neuss.²² Das 1228 vom Kölner Erzbischof
Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 40. Ebd., S. 42 und 44. Ebd., S. 47. In den Protokollen des Neustadter Oberhofes finden sich dementsprechend auch Aufzeichnungen, in welchen sogar die Einleitung zum zitierten Dialog in der ersten Person steht: Da han ich zu Crusemanns mutter gesagt: „Liebe Anne. Warumb machestu das huß nit?“ Da sprach sie: […] (ebd., S. 46 mit Auswertung S. 48). Vgl. zuletzt grundsätzlich zu Begriff, Aufgaben und Funktion des Oberhofes im 15. Jahrhundert Krey, Die Praxis (wie Anm. 17), S. 13–19 und 73–88 sowie 90–101. Vgl. zur Datierung in die Mitte des 15. Jahrhunderts Heike Hawicks, Mittelalterliche Rechtsprechung in Xanten. Die Neusser Schöffensprüche im Privilegienbuch der Stadt Xanten. Duisburg 2004 (Xantener Vorträge zur Geschichte des Niederrheins, Bd. 42), S. 2 f. [Wiederabdruck im Jahresband: Xantener Vorträge zur Geschichte des Niederrheins 2004. Duisburg 2004, S. 181–229], und zuletzt übereinstimmend Ralf-Peter Fuchs, Neusser Recht in Xanten. Zum Wandel der Justiz in den niederrheinischen Städten im 16. Jahrhundert, in: Jens Lieven/Uwe Ludwig/Thomas Schilp (Hrsg.), Beiträge zur Erforschung des Kulturraums an Rhein und Maas. Dieter Geuenich zum 75. Geburtstag. Hamburg 2018 (Rhein-Maas. Geschichte, Sprache und Kultur, Bd. 8), S. 113–137 (hier S. 121 f.); Klaus Flink, Rechts- und Verfassungsentwicklung Klevischer Städte vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, in:
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mit den Rechten der Stadt Neuss bewidmete Xanten war nach vielen Fehden endgültig im Jahr 1444 vom Herzogtum Kleve eingenommen worden. In den Zeitraum dieser politischen Veränderung, in dem das Xantener Stadtregiment vom Kölner Erzbischof auf den Klever Herzog überging, fällt der Eintrag der Rechtsanfragen in das städtische Privilegienbuch. Auf insgesamt 24 direkt gestellte Fragen der Xantener, bei denen es um die Abgrenzung zwischen den Rechten des Stadtherrn und der Stadt ging, folgen jeweils die Antworten aus dem kurkölnischen Neuss.²³ Dabei entsteht der Eindruck, dass es sich bei dem Text quasi um die schriftliche Fixierung eines Dialogs handelt, dieses Textbeispiel sich also als Gradmesser für die Verschriftlichung von einst mündlichen Elementen im rechtlichen Bereich durchaus eignet. Einleitende Passagen, wie sie etwa in den Ingelheimer Oberhofprotokollen vorzufinden sind: Die Schöffen von Cruczenach vor gefraget han […] oder Des ist gewiset czu deme rechten […],²⁴ fehlen hier vollständig. Damit folgte man ausdrücklich nicht der in Ingelheim beispielsweise 1398²⁵ vorzufindenden vierteiligen Struktur einer Rechtsanfrage: 1. Titulatur des Oberhofes, 2. Fallwiedergabe der unteren Instanz, 3. Fragestellung der unteren Instanz und 4. Urteil des Oberhofes. Sind die in Xanten und Neuss vorzufindenden dialogisch überlieferten Rechtsweisungen also der Schriftsprache zuzurechnen oder weisen sie eher Elemente gesprochener Sprache auf? Bevor es um deren konkrete sprachliche Ausgestaltung geht, seien zunächst kurz die Inhalte der Rechtsanfragen aufgelistet, bei denen die niedere Gerichtsbarkeit²⁶ im Mittelpunkt stand:
Michael Stolleis (Hrsg.), Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt. Köln/ Wien/Weimar 1991 (Städteforschung, Reihe A, Bd. 31), S. 121–140 (hier S. 123). Privilegienbuch der Stadt Xanten, Stiftsarchiv Xanten, Stadt Xanten 11; Abbildungen, Transkription und Kommentar bei Hawicks, Mittelalterliche Rechtsprechung (wie Anm. 22). Vgl. zu dem historischen Kontext Heike Hawicks, Xanten im späten Mittelalter. Stift und Stadt im Spannungsfeld zwischen Köln und Kleve. Köln/Weimar/Wien 2007 (Rheinisches Archiv, Bd. 150), S. 32–45 und 518– 537; dies., „Wie die drei Jünglinge im Feuerofen“ – Xanten und die kölnisch-klevischen Fehden des 14. und 15. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des großen abendländischen Schismas, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 76 (2012), S. 91–122. Adalbert Erler, Die älteren Urteile des Ingelheimer Oberhofes. Frankfurt a. M. 1952, S. 41 f. Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 34 f. Vgl. zur städtischen Niedergerichtsbarkeit Isenmann, Die deutsche Stadt (wie Anm. 12), S. 495–497 sowie zur Hoch- und Blutgerichtsbarkeit S. 497–499. Zur Begrifflichkeit von Oberhofanfragen, allgemeinen Anfragen an die Mutterstadt sowie Rechtsgewohnheiten vgl. Krey, Die Praxis (wie Anm. 17), S. 26 f. und 83–87.
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I–IV Fragen zur Zuständigkeit beim Gebrauch des Kaaks (Prangers)²⁷ V–XI Konkrete Vergehen (Schwören/Gotteslästerung, betrügerisches Betteln, Zauberei, Beleidigungen und Meineid, Widerstand gegen die Geschworenen) XII–XVII Markt- und Wirtschaftsdelikte XVIII–XX Bauangelegenheiten XXI Städtisches Geleit XXII Verhaftung [XXIII–XXIV] Zwei nicht mit Zählung versehene Zusatzfragen zur Jagd sowie zu Pfändungen und Armenrenten
Schaut man auf die sprachliche Gestaltung der einzelnen Rechtsanfragen, folgt sie bestimmten Mustern: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Off yemantz… …wat broickt die Woe salmen nv dit halden/ Woe ordelt men… Mach die here/die Stat… Toeuener/Grentere… …wes sijn die schuldich Na den male der… wen geboert… Sijnt oick… Wie sijn die ghene…
(x, Frage , , , , , , , , , , , Zusatzfrage ) (x, Frage , , , , Zusatzfrage ) (x, Frage , ) (x, Frage , ) (x, Frage ) (x, Frage ) (x, Frage )
Am häufigsten findet sich der Fragetyp Off yemantz […], dem dann die konjunktivisch formulierte, zum Teil sehr ausführlich gestaltete Schilderung des Sachverhalts folgt. Hier ein Beispiel:²⁸
Abb. 1: Privilegienbuch der Stadt Xanten, Stiftsarchiv Xanten, Stadt Xanten 11, fol. 28r (Die XVII vrage).
Agathe Lasch/Conrad Borchling, Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, fortgeführt von Gerhard Cordes, Bd. 2.1. Neumünster 2004, Sp. 501; vgl. mit weiterführender Literatur Jörg Wettlaufer, Schand- und Ehrenstrafen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit – Erforschung der Strafformen und Strafzwecke anhand von DRW-Belegen, in: Andreas Deutsch (Hrsg.), Das Deutsche Rechtswörterbuch – Perspektiven. Heidelberg 2010 (Akademie-Konferenzen, Bd. 8), S. 265–280. Privilegienbuch der Stadt Xanten, Stiftsarchiv Xanten, Stadt Xanten 11, fol. 28r.
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Die XVII vrage Off ymantz meer waeren haelden dan hie betaelt hedde dat is to verstaen off ymantz botter off anders wat haelden en(de) geue der vrouwen dat gelt van ene(n) ponde, en(de) spreke dan totter maeget die oen die bott(er) wegen soelde, dat sij oen twe ponde wegen soelde, want hij soe vele geld betaelt hedde. Die antw(or)de (fol. v) Den seluen sall men aenden kaeck setten en(de) sal ene(n) stock inden mont doen ambtrynt eenre spa(n)nen lanck, off lenger en(de) aen ygelick oert des stocks sal een snoer wesen, dat men oen den stock acht(er) inden nacken myt ene(n) snoren besligen moige op dat hie den stock nyet vyt en werpe Soe sal men dan twee waskeersen nemen ygelick omtrynt eenre spa(n)nen lanck gedreyt van drie strengen Ind setten der vp yglick eynde vanden stock een en(de) ontfyngen die en(de) laten oen Daer mede staen bys die keertzen verbrant sijn en(de) laten oen dan lopen.
Die siebzehnte Frage Wenn jemand mehr Ware behielte als er bezahlt hätte, das heißt z. B. wenn jemand Butter oder etwas anderes behielte und der Frau das Geld für ein Pfund gäbe, und verlangte dann von der Magd, die ihm die Butter abwiegen sollte, dass sie ihm zwei Pfund abwiegen sollte, weil er eben so viel Geld bezahlt hätte? Die Antwort Denjenigen soll man an den Pranger stellen und ihm einen Stock in den Mund geben, ungefähr eine Spanne lang oder länger, und an jeder Spitze des Stocks soll eine Schnur sein, damit man ihm den Stock hinten im Nacken mit einer Schnur befestigen kann, damit er den Stock nicht ausspucke. Dann soll man zwei Wachskerzen nehmen, jede ungefähr eine Spanne lang gedreht aus drei Strängen, und auf jedes Ende des Stockes eine setzen und entzünden und ihn damit stehen lassen, bis die Kerzen heruntergebrannt sind und ihn dann laufen lassen.
Am zweithäufigsten findet sich das Fragemuster: Woe salmen nv dit halten myt […], worauf die Antwort fällt: Soe mechtich is in desen saiken die Stat […]:²⁹ Die III vrage Die dritte Frage Woe salmen nv dit halden myt vremden luyden Wie soll man es nun halten mit fremden Leuten? Die antw(er)de Die Antwort Soe mechtich is in desen saiken die Stat auer Die Stadt ist in diesen Sachen gleichermaßen ene(n) vremde(n) als auer enen borger als die ‚mächtig‘ über einen Fremden wie über einen geschicht in oerre Stat gheschiet is. Bürger, wenn die Tat in ihrer Stadt geschehen ist.
Seltener ist eine Frage nach dem Muster: Mach die he(re) enen Borger aenden Kaecks slaen: ³⁰
Ebd., fol. 27r. Ebd., fol. 27r.
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Dye yerste vrage Mach die he(re) enen Borger anden kaecks slaen buyten gesynnyngh an der Stat, off mach oick die Stat ene(n) borger aen den kaecks slaen buyten den herr, Off soilen Dat die he(re) en(de) die Stat beide doen || Responsio Die Stat van Nuysse heeft hier om tgegen onsen gnedigen he(re)n van Coilne gededyngt ind behalden dat sich die he(re) oers kaecks noch des gerichtz oers kaecks nyet en kroedt mer allen die Stat.
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Die erste Frage Darf der Stadtherr einen Bürger an den Pranger schlagen ohne Rücksprache mit der Stadt, oder darf auch die Stadt einen Bürger an den Pranger schlagen ohne den Herrn, oder sollen das der Herr und die Stadt beide (gemeinsam) tun? Antwort Die Stadt Neuss hat hierin mit unserem gnädigen Herrn von Köln verhandelt und hat sich vorbehalten, dass weder der Herr noch dessen Gericht sich ihres Prangers bedienen darf, sondern allein die Stadt.
Nur einmal findet sich eine Frage-Konstruktion nach folgendem Muster: Na den male […]:³¹ Die II vrage Na den male der Stat dan geboert, ene(n) borger om sijnre mysdaet wille, to kaecksen, wen geboert dan den seluen daer weder aff te nehmen
Die zweite Frage Da es Aufgabe der Stadt ist, einen Bürger um seiner Missetat willen an den Pranger zu stellen, wem gebührt es dann, denselben wieder abzunehmen? Die antw(er)de Die Antwort Dat affnemen geboirt oick der Stat gelijck als Das Abnehmen gebührt auch der Stadt, genau dat vpsette(n) wie das Daranstellen.
Es folgen noch weitere, ebenfalls nur jeweils einmal verwendete Fragetypen, die am Ende der obigen Auflistung benannt sind. Die hier herausgearbeiteten Fragemuster ähneln jenen, welche aus oralen Kulturen in formaler oder informaler Form tradiert sind. Formale Tradition bedeutet in diesem Zusammenhang die Sicherung durch einen festen mündlichen Text, wie er in Sprüchen, Katalogen oder der Dichtung überkommen ist; informale Tradition oraler Kultur wird demgegenüber in freien, beliebig paraphrasierbaren Formulierungen weitergegeben, die wechselnd und der Situation angepasst sozusagen als kognitive Muster Anwendung finden.³² Ein solches Muster ist beispiels-
Ebd., fol. 27r. Arend Mihm, Vom Dingprotokoll zum Zwölftafelgesetz. Verschriftlichungsstufen städtischer Rechtstraditionen, in: Hagen Keller/Christel Meier/Thomas Scharff (Hrsg.), Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern. Akten des Internationalen Kolloquiums 8.–10. Juni 1995. München 1999, S. 43–67 (hier S. 49 f.).
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weise die in städtischen Kören³³ häufig anzutreffende Formulierung: Were ock ymand, welche stark an das oben öfter anzutreffende Off yemantz erinnert. Ferner findet sich als Muster in den Kören der spätmittelalterlichen Stadt Duisburg die Formulierung Men sal […], die ebenfalls bei den obigen Rechtskonsultationen (Woe salmen…) auftaucht. Diese Textmuster entstammen frühen lateinisch aufgezeichneten Stadtrechten und folgen dem si-aliquis-Muster (falls irgendjemand…) beziehungsweise dem unusquisque-debet-Muster (jeder Einzelne muss…). Nichtsdestotrotz sind diese Textstrukturen nach neueren Untersuchungen durchaus dem Bereich mündlicher Rechtssetzung zuzuweisen, in welchem sie „als Merkformeln der Unterstützung von Rekapitulation und mündlicher Verbreitung“³⁴ dienen konnten. Dabei müssen Inhalt und jeweilige Sprachstruktur nicht zwingend dauerhaft miteinander verbunden bleiben, sondern gleichlautende Inhalte können in verschiedenen Textmustern erscheinen, sozusagen als multifunktionale Textbausteine, welche ursprünglich oraler Kultur entstammten. Entsprechend ist der Fundus an Mustern überschaubar – bei den 1999 untersuchten Körentexten der Stadt Duisburg über einen Zeitraum von 1378 bis 1486 handelte es sich um vier Textmuster: „– die mit so wie und einem verallgemeinernden Relativsatz eingeleitete Struktur, bei der im Hauptsatz das Strafmaß bestimmt wird; sie entspricht dem lateinischen quicumque-Textmuster, – die mit of ieman bzw. were ock ymand und einem indefiniten Bedingungssatz eingeleitete Struktur, bei der ebenfalls der Straftatbestand im Nebensatz, die Sanktion im Hauptsatz erscheint; sie entspricht dem lateinischen si-aliquis-Textmuster (falls irgendjemand…), – der mit nieman sal beginnende negative Aufforderungssatz, in dessen Zentrum der Straftatbestand steht, während das Strafmaß die Form einer Präpositionalphrase hat; er entspricht dem nullus-debeat-Textmuster, – der mit men sal, eyn ytlich sal bzw. elk oder mallik sal eingeleitete positive Aufforderungssatz, der ein Verhaltensgebot formuliert, während die Zuwiderhandlung meist in einer eingefügten Präpositionalphrase, gelegentlich auch in einem anschließenden selbständigen Satz sanktioniert wird; er entspricht dem unusquisque-debet-Muster (jeder Einzelne muss…).“³⁵
Bei den oben vorgestellten Xantener Rechtskonsultationen fanden sich demgegenüber sieben Fragemuster, wobei die Off yemantz-Formel (bei zwölf von 24 Fragen) deutlich überwog und nur die Woe salmen-Formel noch fünfmal vorkam.
Kören sind im Mittelalter durch gemeinsamen Beschluss errichtete städtische Satzungen – man bezeichnet beispielsweise auch die Gesamtheit der Statuten und Bestimmungen als Willküren; Lasch/Borchling, Mittelniederdeutsches Handwörterbuch 2.1 (wie Anm. 27), Sp. 637 f. Mihm, Vom Dingprotokoll (wie Anm. 32), S. 50. Ebd.
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Bedenkt man nun, dass sich derselbe dialogische Frage-Antwort-Text in der Neusser Überlieferung,³⁶ also gleichermaßen beim Ratsuchenden und Ratgebenden findet, und dass sich in Xanten einleitend der Hinweis auf onse vurvadere findet, die um diese Punkte in Neuss nachgesucht hätten, entsteht der Eindruck, dass es sich um ein Relikt aus Zeiten oraler Rechtsweisung handelt, die vor Ort eingeholt worden ist. Einen solchen Eindruck vermittelt auch die Einleitung zu den Rechtsanfragen im Privilegienbuch der Stadt Xanten:³⁷
Abb. 2: Privilegienbuch der Stadt Xanten, Stiftsarchiv Xanten, Stadt Xanten 11, fol. 27r. Dese nagescreuen punten hebn onse vurvadere Burgermeister Schep(e)n en(de) Rait der Stat Xancten doen versueken aen Burg(er)meist(er) Schep(e)n ende Rait der Stat nuysse, wulke punten […] Die selue Burg(er) meist(er) Schep(e)n ende Rait myt oe(re)n gemeynen Rade verkleert hebn dat men dese na[e]gescreue(n) punte in oirre Stat Nuysse also helt.
In diesen unten beschriebenen Punkten haben unsere Vorväter, Bürgermeister, Schöffen und Rat der Stadt Xanten nachsuchen lassen bei Bürgermeister, Schöffen und Rat der Stadt Neuss, welche Punkte dieselben Bürgermeister, Schöffen und Rat mit der Gesamtheit ihrer Ratsmitglieder dahingehend festgelegt haben, dass man diese nachfolgenden Punkte in ihrer Stadt Neuss (al)so hält.
Stadtarchiv Neuss, Kurkölnische Verwaltung A1,V10, 751; vgl. Fuchs, Neusser Recht (wie Anm. 22), S. 121, und mit Hinweisen auf diese Quelle Friedrich Lau (Hrsg.), Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte, Bd. 1. Bonn 1911 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. XXIX: Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte. Kurkölnische Städte I: Neuss), S. 15. Privilegienbuch der Stadt Xanten, Stiftsarchiv Xanten, Stadt Xanten 11, fol. 27r. Es existiert aus dem 15. Jahrhundert noch ein weiterer vergleichbarer, umfangreicherer Text in Neuss; vgl. Lau (Hrsg.), Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 36), S. 11–15.
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Weisen die hinzugezogenen Duisburger Quellen diesen strukturellen formelhaften Reflex alter Oralität auf, ist es in den Xantener Rechtsanfragen zusätzlich das wie ein Gespräch anmutende Dialogmuster von direkter Frage und deren Beantwortung, was an mündliche Rechtssetzung, sozusagen tête-à-tête, anknüpft. Gleichwohl ist dieser Rest traditioneller Mündlichkeit nicht mit den direkten Reden von Zeugen in den eingangs erwähnten Fällen der Studie von 1995 vergleichbar. Sie fanden sich allerdings im selben Zeitraum, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, und waren auch noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts nachweisbar. Es lassen sich also für besagtes Jahrhundert in der Rechtssprache sowohl konkret mündliche Strukturen finden als auch strukturelle Elemente alter Oralität, welche in obigem Beispiel sogar in direkter Dialogform, also frei von einleitenden Formeln eines Protokollführers, aufgezeichnet wurden. Beides weist auf den Erhalt beziehungsweise die Belebung oraler Strukturen im spätmittelalterlichen Recht hin. Die Frage ist nun, wie sich dies in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und darüber hinaus in den Xantener Rechtsquellen entwickelte. Die zitierte Studie, die diesen Quellen vergleichend gegenübergestellt wird, lässt in diesem Zeitabschnitt Veränderungen erwarten, was am niederrheinischen Material überprüft werden soll.
3 Beispiele für Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts Wenn die seit dem 14. Jahrhundert in der Textsorte Gerichtsprotokoll anzutreffenden mündlichen Elemente nach dem Befund von Arend Mihm ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückgehen, verlangt dieses Phänomen nach einer Erklärung. Sie wird darin gesehen, dass sich im 16. Jahrhundert ein neues Verfahren der Zeugenanhörung durchzusetzen begann, bei dem den Zeugen über einen Quästionar gezielte Fragen gestellt wurden. Eine ausführliche Falldarstellung erübrigte sich dadurch, sodass die wörtlichen Zitate mehr und mehr zurückgingen, um im 17. Jahrhundert gänzlich zu verschwinden.³⁸ Impulse hierzu werden bei dem 1495 geschaffenen Reichskammergericht zu suchen sein, von dem eine gewisse „Beaufsichtigung der Territorialgerichtsbarkeit“³⁹ ausging. Diese Entwicklung begünstigte insgesamt Vereinheitlichungs- und
Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 51. Fuchs, Neusser Recht (wie Anm. 22), S. 125; vgl. zu integrativen Faktoren der Reichsgerichtsbarkeit auch Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider/Stefan A. Stodolkowitz, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt. Deutungsansätze und inte-
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Formalisierungsprozesse in der Rechtspraxis, wie sich an einem weiteren Beispiel vom Niederrhein zeigen lässt. Unter dem Landesherrn Wilhelm V. von Jülich-Berg und Kleve-Mark vollzogen sich wesentliche Neuerungen im Rechtswesen. Relativ kurze Zeit nach der Kölnischen Reformation des Landrechts 1538 im benachbarten kurrheinischen Kreis folgte seine 1555 publizierte „Ordnung und Reformation des gerichtlichen Prozeß“⁴⁰ in seinen Landen, die im niederrheinisch-westfälischen Kreis zusammengefasst waren. Diese Ordnung wurde im Rahmen der großen Reformvorhaben Wilhelms des Reichen in den 1550er Jahren geschaffen und zog mehrere Vorlagen heran. Da sie mit kaiserlicher Zustimmung in Kraft trat, sind Bezüge zum Reichskammergericht und dessen Gerichtsordnung von 1555 nicht auszuschließen.⁴¹ In der folgenden zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bemühte sich der Landesherr um Durchsetzung dieser neuen Prozessordnung, was sich wiederum in Konflikten mit denjenigen Städten seines Territoriums manifestierte, die beispielsweise dem alten verbrieften Recht nach dem Vorbild von Neuss und damit des Kölner Erzbischofs folgten, da sowohl Neuss als auch Xanten im 13. Jahrhundert von ihm mit städtischen Rechten privilegiert worden waren.⁴² Sichtbar wird dies an einem Konflikt des Jahres 1573, welcher zwischen dem Klever Hof, der Stadt Xanten und dem als Appellationsinstanz auftretenden Neuss entbrannte, als ein Rechtsfall ohne Beteiligung der raitcamer zu Kleve allet to afbrock unser lantfurstlicher oevericheit, ock to uphaldung und verhinderung der heilsamer iustitien den Weg durch mehrere Instanzen nahm, und zwar mutwillige irstlich up Nuyss, van dan up Cölln an dem hochgericht, widers den churfurstlichen grative Elemente. Köln/Weimar/Wien 2017 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 71), S. 9–20 (hier S. 11–14). Vgl. Fuchs, Neusser Recht (wie Anm. 22), S. 126; Lothar Schilling, Justiz und gute Policey in den jülich-klevischen Ländern, in: Guido von Büren/Ralf-Peter Fuchs/Georg Mölich (Hrsg.), Herrschaft, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg und seine Zeit. Bielefeld 2018 (Schriftenreihe der Niederrhein-Akademie/Academie Nederrijn, Bd. 11), S. 193–210 (hier S. 207); Karl-Heinz Horbach, Das Privatrecht der Reformation von Jülich-Berg aus dem Jahr 1555. Entstehung, Vorlagen und Einwirkung auf das Recht der benachbarten Territorien. Diss. Köln 1981. Vgl. Schilling, Justiz (wie Anm. 40), S. 207; Horbach, Das Privatrecht (wie Anm. 40), S. 28 und 169 f. Vgl. Hawicks, Xanten im späten Mittelalter (wie Anm. 23), S. 32–45; Klaus Flink, Die rheinischen Städte des Erzstiftes Köln und ihre Privilegien, in: NRW-Hauptstaatsarchiv Düsseldorf/Kreisarchiv Wesel/Arbeitskreis niederrheinischer Archivare (Hrsg.), Kurköln. Land unter dem Krummstab. Essays und Dokumente, Red. Klaus Flink. Kevelaer 1985 (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C: Quellen und Forschungen, Bd. 22, Schriftenreihe des Kreises Viersen, Bd. 35a), S. 145–163; Edith Ennen, Stadterhebungs- und Städtegründungspolitik der Kölner Erzbischöfe, in: Helmut Maurer/Hans Patze (Hrsg.), Festschrift für Berent Schwineköper zu seinem siebzigsten Geburtstag. Sigmaringen 1982, S. 337–353.
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commissarien und dan vort an dat camergericht getogen und also mit vif instantien besweert werden,⁴³ wie die klevische Seite beklagt. Im diesbezüglichen Schriftverkehr ist von quasi-mündlicher Kommunikation, wie sie noch im 15. Jahrhundert in den Aufzeichnungen aufscheint, keine Spur mehr zu finden. Es ist nur noch die Rede davon, dass Neusser Personen Schriftstücke, wie citationen, inhibitionen, compulsorialen oder andere gerichtliche brieve aldar [in die Stadt Xanten] brengen, dem gericht oder den partien insinuiren of an unser stadtporten oder den kerkdoeren upslain, was es mit Androhung von Gefangensetzung und Auslieferung zu verhindern galt: alsdan dieselvige gefenglich annemen und up unsere borg to Cleve wolverwart leveren und to geburlicher strafen handlen to laten. ⁴⁴ Dabei ist von der appellation mit dem libello appellatorio sambt den vorigen in der sachen ergangenen acten die Rede.⁴⁵ An diesem Schriftwechsel betreffend die rechtlichen Kompetenzen des neuen Xantener Stadtherrn gegenüber den mit altem Recht bewidmeten Städten des Kölner Erzbischofs wird die nunmehrige Macht der Schriftlichkeit im Rahmen eines mehrstufigen Instanzengangs sichtbar, welche parallel dem Weg von der Urkunde
Alsdan wij darneffens berichtet, dat sich die van Nuyss dergelicken sachen, woe geringschetzig die ock syn und by uwe erkentenis to verbliven behoerden, annemen, allet to afbrock unser lantfurstlicher oevericheit, ock to uphaldung und verhinderung der heilsamer iustitien und sunderlich to hohem merklichen besweer uwer und unser gemeiner burgerschaft aldar, die ock in klaren bekentlichen schult- und anderen sachen durch die mutwillige irstlich up Nuyss, van den up Cölln an dem hochgericht, widers den churfurstlichen commissarien und dan vort an das camergericht getogen und also mit vif instantien besweert werden, derhalven etliche van uwen mitburgeren vergangener iar in verderven gefurt; Theodor Ilgen, Quellen zur inneren Geschichte der rheinischen Territorien, Herzogtum Kleve, 1. Ämter und Gerichte (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde XXXVIII), Bd. 2,2: Quellen zweiter Teil. Bonn 1925, Nr. 175 (zu 1573), S. 169. Zu dem Bemühen der Landesherren, die territorialen Obergerichte auch durch Zurückdrängen der Reichsgerichtsbarkeit zu stärken, vgl. mit Literatur Bongartz/Denzler/Franke/Schneider/Stodolkowitz, Einleitung (wie Anm. 39), S. 13 f.; zum Klever Hofgericht, das nach Flink erst um 1600 als solches bezeichnet werden kann, vgl. Flink, Rechts- und Verfassungsentwicklung (wie Anm. 22), S. 127 und 133. Und ist unser ernste bevelh und meinung, dat ghij unser richter flitig upmerkens hebben, alsbald des schultissen oder der stadt Nuyss bodde oder andere vereidete gemeine dienere of notarien einige citationen, inhibitionen, compulsorialen oder andere gerichtliche brieve aldar brengen, dem gericht oder den partien insinuiren of an unser stadtporten oder den kerkdoeren upslain wurden, alsdan dieselvige gefenglich annemen und up unsere borg to Cleve wolverwart leven, darna widers gegen den als belediger unser lantfurstlicher overicheit to geburlicher strafen handlen to laten. Zitate Ilgen, Quellen 2.2 (wie Anm. 43), Nr. 175, S. 169. van dem dage deser uwer erkundigung inwendig drien wecken oere appellation mit dem libello appellatorio sambt den vorigen in der sachen ergangenen acten an unsere raitcamer to Cleve overtobrengen; Ilgen, Quellen 2.2 (wie Anm. 43), Nr. 175, S. 169. Zu Oberhöfen, Instanzen und Appellationen seit dem 16. Jahrhundert vgl. Krey, Die Praxis (wie Anm. 17), S. 93 und 549.
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zur Akte folgt, da die komplexer werdenden Fälle nur über umfangreiche Aktenbildung abzuwickeln waren.⁴⁶ Diese Entwicklung geht zeitgleich mit der zu beobachtenden abnehmenden mündlichen Komponente in den Gerichtsprotokollen einher, welche in der zitierten Untersuchung herausgearbeitet wurde.⁴⁷ Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass sich jedoch im Bereich des städtischen Statutenrechts eine Gegenbewegung beobachten lässt, und zwar dergestalt, dass ebenfalls im 16. Jahrhundert vermehrt auf die Verlesung der gültigen Gesetze, welche bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts aufgekommen war, gedrungen wurde. Trugen schon die früheren Rechtsverlesungen deutlich emanzipatorische Züge der Bürgerschaft gegenüber dem Rat,⁴⁸ so wurden sie im 16. Jahrhundert zunehmend heftiger und häufig im Rahmen von Aufständen eingefordert (so in einem Bürgeraufstand 1531 in Soest⁴⁹). Dies steht in einem gewissen Gegensatz zu den lediglich schriftlichen Bekanntmachungen mittels der in der zitierten niederrheinischen Quelle erwähnten Anschläge von Schriftstücken an das Stadttor oder die Kirchentüren. Ist in diesen bürgerlichen Forderungen ein Widerstand gegen städtische beziehungsweise obrigkeitliche Willküren zu sehen? Noch heute hat der Begriff ‚Willkür‘, der ursprünglich eigentlich einen positiven Ursprung hatte, einen durchaus negativen Bedeutungsgehalt.⁵⁰ Jedenfalls forderten 1532 auch die Duisburger Bürger, welche im Jahr 1518 ein Zwölftafelgesetz erhalten hatten, dessen regelmäßige Verlesung sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht hatten durchsetzen können, 14 Jahre später genau dieses nochmals ein. Die Stadtbürger begehrten den mündlichen Vortrag sämtlicher Kören am Tag der Ratswahl, um Rechtssicherheit für alle, auch gegenüber den Bürgermeistern zu erhalten.⁵¹ Und bezeichnenderweise wurde das städtische Körbuch nachweisbar seit den 1570er Jahren immer wieder vor dem Rathaus oder nach der Sonntagspredigt in der Kirche verlesen, so in den Jahren 1570, 1583, 1586, 1588, 1590, 1592, 1637 und 1658.⁵² Es stellt sich angesichts der gegenläufigen Entwicklungen im 16. Jahrhundert, der Betonung des schriftlichen Instanzenweges durch die Obrigkeit auf der einen
Vgl. Gerhard Schmid, Akten, in: Friedrich Beck/Eckart Henning (Hrsg.), Die archivalischen Quellen. 5. Aufl. Köln/Weimar/Wien 2012, S. 89–124 (hier S. 90). Das Rechtsmittel der Appellation trug maßgeblich zur Verschriftlichung gerichtlicher Verfahren bei; vgl. mit Literatur Bongartz/Denzler/ Franke/Schneider/Stodolkowitz, Einleitung (wie Anm. 39), S. 19 f. Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 37. Mihm, Vom Dingprotokoll (wie Anm. 32), S. 60. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. dazu ebd., S. 58 f., sowie Mihm, Funktionen der Schriftlichkeit (wie Anm. 6), S. 305 f. Mihm, Vom Dingprotokoll (wie Anm. 32), S. 62. Ebd., S. 66, Anm. 92.
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Seite und der Forderung nach Verlesung von Rechtstexten durch die Bürger auf der anderen Seite, die Frage, ob daraus Folgerungen in Hinblick auf die Dichotomie von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Rechtswesen abzuleiten sind. Ist in der bürgerlichen Forderung ein Ausdruck von Höherbewertung der Mündlichkeit zu sehen? Oder handelt es sich dagegen eher um eine verstärkte Rezeption der verschriftlichten Form des Rechts? Es konnte oben dargelegt werden, dass insbesondere die in der Regel nur befristet gültigen städtischen Kören, welche sich aufgrund ihrer Struktur als Niederschlag alter oraler Rechtskultur zu erkennen gaben, tief im traditionellen, mündlichen Recht verwurzelt waren.⁵³ Wenn die Bürger im 16. Jahrhundert weiter beziehungsweise wieder auf Verlesung dieser aus alter Rechtstradition entstandenen Gesetzestexte beharrten, ist darin zwar nicht unbedingt eine Bevorzugung von mündlicher Rechtspflege insgesamt zu sehen, aber doch der Ausdruck eines recht offensichtlichen Misstrauens gegenüber der vom Rat kontrollierten Schriftlichkeit.⁵⁴ Der bürgerliche Anspruch auf Kontrolle der Obrigkeit hatte sich jahrhundertelang beispielsweise auch in der Rechnungslegung der Bürgermeister durch einen mündlichen Vortrag der Stadtrechnungen niedergeschlagen, so dass an den Forderungen des 16. Jahrhunderts ersichtlich wird, dass das Bedürfnis nach Mündlichkeit im Recht, jedenfalls was die Bekanntmachung durch das Vorlesen betrifft, ungebrochen war, ja sogar wieder deutlicher artikuliert wurde, um der für die meisten Bürger unzugänglichen Schriftlichkeit der städtischen Kanzlei ein öffentliches Moment entgegenzusetzen, bei dem auch die Lesekompetenz des Einzelnen nicht zwingend Voraussetzung zur Partizipation war. Bei der Rechnungslegung blieb die mündliche Form mancherorts sogar bis ins 18. Jahrhundert in Übung.⁵⁵ Im Prozessgeschehen indes nahm der Anteil der freien mündlichen Rede ab und wich einem stärker vorgegebenen und formalisierten Verfahren, das ausführliche Fallbeschreibungen überflüssig machte.
Mihm, Funktionen der Schriftlichkeit (wie Anm. 6), S. 305 f. Mihm,Vom Dingprotokoll (wie Anm. 32), S. 61 mit Anm. 71. Dabei ist ins Gedächtnis zu rufen, dass die Bürger seit Ende des 13. Jahrhunderts, als der patrizische Stadtrat die Rechtssetzungsbefugnis vom König legitimiert an sich gezogen hatte, vom Legislationsverfahren ausgeschlossen waren, an dem sie zuvor jahrhundertelang mitgewirkt hatten; vgl. Mihm, Funktionen der Schriftlichkeit (wie Anm. 6), S. 306. Vgl. Margret Mihm/Arend Mihm, Mittelalterliche Stadtrechnungen im historischen Prozess. Die älteste Duisburger Überlieferung (1348–1449). Bd. 1: Untersuchungen und Texte. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 18 mit Anm. 2, mit Verweis auf Wolfgang Hess, Rechnung legen auf den Linien. Rechenbrett und Zahltisch in der Verwaltungspraxis in Spätmittelalter und Neuzeit, in: Erich Maschke/Jürgen Sydow (Hrsg.), Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen. Sigmaringen 1977 (Stadt in der Geschichte, Bd. 2), S. 69–82.
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4 Ausblick ins 17. Jahrhundert und Zusammenfassung Zu den im 16. Jahrhundert zu beobachtenden Entwicklungen passt es, dass im 17. Jahrhundert im bereits thematisierten Duisburg 1662 schließlich ein Stadtrechtsbuch neuen Typs erschien, welches im Wesentlichen als Fallrecht angelegt war.⁵⁶ Es konzentrierte sich auf das Prozess- und Zivilrecht und stand somit am Ende des oben dargelegten Prozesses, in welchem mündliche Fallbeschreibungen in ein schriftliches Fallrecht römischer Prägung überführt wurden. Ein kurzer chronologischer Abriss mag die Entwicklung der Duisburger Rechtsüberlieferung verdeutlichen:⁵⁷ 1. Statutenkodizes (Körbücher) 1518 Das Zwölftafelgesetz. 239 Kören (Stadtarchiv Duisburg 10 A/102. Schreiber: Bernhard Leysynck) ca. 1530 Das Zwölftafelgesetz. 240 Kören (Stadtarchiv Duisburg 10 A/104. Schreiber unbekannt) 1544 Das Zwölftafelgesetz. 240 Kören (Stadtarchiv Duisburg 10 A/103. Schreiber unbekannt) 1561 Der Stadt Duisborch Koirboick. 189 Kören (Stadtarchiv Duisburg 10 A/105. Schreiber: Georg Weimann) 1657 Koirbuch der Stadt Duisburg. 198 Kören (Stadtarchiv Duisburg 10 A/106. Schreiber: Johann Hermann Mercator) 2. Stadtrechtsbücher 1662 Jura municipalia. 244 Artikel (Landesarchiv NRW R, AA 0640 Handschriften K III 17. Schreiber u. a. Johann Hermann Mercator) nach 1666 Duisburgische Stadtsrechten. 244 Artikel (Stadtarchiv Kleve HS 8. Schreiber unbekannt) nach 1704 Duisburgische Stadt-Rechten. 244 Artikel (Stadtarchiv Kleve HS 19. Schreiber: Johann Knops) 1709 Duisburgische Stadt Rechten. 244 Artikel (Stadtarchiv Duisburg 10 A/108. Schreiber: Justus Becker).
Mihm, Vom Dingprotokoll (wie Anm. 32), S. 67. Ebd., S. 46.
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Mit Werken wie dem Jura municipalia genannten Stadtrechtsbuch von 1662 waren individuelle Fallbeschreibungen im Rahmen von Gerichtsverhandlungen, wie sie in der Zeit vom 14. bis 16. Jahrhundert in Übung waren, überflüssig geworden. Das gelehrte, schriftlich basierte (Fall)Recht hatte sich durchgesetzt. Auch von mündlichen Verlesungen des Stadtrechts, über die wir für die vorhergehende Zeit durch Verlesungsvermerke unterrichtet sind, verlautet nach 1658 nichts mehr – es wäre wegen der Fallbasiertheit auch nicht für die Öffentlichkeit geeignet gewesen. In der Tat endet mit dem Jahr 1662 die Verpflichtung der Bürger, der Verkündung von Gesetzen beizuwohnen, zu der seit dem 13. Jahrhundert mit dem Läuten der Glocke aufgerufen worden war.⁵⁸ Der hier beschriebene Wandel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf mehreren Gebieten des Rechts und die sich aus der zitierten Fallstudie ergebenden Eckdaten in Bezug auf den Rückgang mündlicher Elemente in Gerichtsprotokollen machen aber auf ein weiteres Forschungsfeld aufmerksam, auf das hier abschließend in aller Kürze verwiesen werden soll: die Universitäten. So ist es im Falle von Duisburg zumindest bemerkenswert, dass kurz nach der letzten Redaktion des städtischen Körbuches von 1657, und zwar bereits fünf Jahre später, 1662 das erwähnte neue Stadtrechtsbuch mit dem Titel Jura municipalia erschien.⁵⁹ Zuvor hatte es seit 1561, also fast hundert Jahre lang, keine Veränderung am städtischen Statutenkodex gegeben. Ist es als Zufall zu betrachten, dass dies erst geschah, als im Jahre 1655 die Universität Duisburg als landesherrliche Universität Friedrich Wilhelms von Brandenburg ins Leben gerufen worden war, welche auch über eine juristische Fakultät verfügte?⁶⁰ Es wäre aus dieser Sicht interessant, näher zu untersuchen, ob und gegebenenfalls in welcher Form der juristische Lehrstuhl auf die beiden Fassungen der Jahre 1657 und 1662 Einfluss hatte. Dass diejenige von 1657 den juristischen Ansprüchen der Zeit offenbar nicht mehr genügte, zeigt die rasche Überarbeitung beziehungsweise komplette Umgestaltung innerhalb von fünf Jahren. Eine Verbindung zur neugegründeten Universität könnte dabei in der Person von Johann Hermann Mercator liegen, der 1653 in der Duisburger Universitätsmatrikel als Student erwähnt wird und den Zeitgenossen im vorgerückten
Mihm, Funktionen der Schriftlichkeit (wie Anm. 6), S. 306. Landesarchiv NRW R, AA 0640 Handschriften K III 17; Tabelle bei Mihm, Vom Dingprotokoll (wie Anm. 32), S. 46. Manfred Komorowski, Duisburger Studenten der frühen Neuzeit. Zur neuen Edition der alten Duisburger Universitätsmatrikel, in: Dieter Geuenich/Irmgard Hantsche (Hrsg.), Zur Geschichte der Universität Duisburg 1655–1818. Wissenschaftliches Kolloquium veranstaltet im Oktober 2005 anläßlich des 350. Jahrestages der Gründung der alten Duisburger Universität. Duisburg 2007 (Duisburger Forschungen, Bd. 53), S. 271–292 (hier S. 273 mit Anm. 7).
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Alter als juristisch sehr erfahren galt.⁶¹ Er ist 1657 als Stadtsekretär in Duisburg belegt und zeichnet auch für die beiden Fassungen des Duisburger Stadtrechtsbuchs von 1657 und 1662 verantwortlich,⁶² so dass der Eindruck entsteht, als habe er zuerst die vorhandenen Kören nach ihrer letzten Zusammenstellung von 1561 nochmals zusammengetragen und anschließend innerhalb von fünf Jahren ein neues Stadtrechtsbuch geschrieben beziehungsweise veranlasst. Blickt man auf das 16. Jahrhundert zurück, fällt ein vergleichbares Phänomen ins Auge. Die hundert Jahre zurückliegende Version des Duisburger Körbuches von 1561 fällt in das Jahrzehnt zwischen 1555 und 1566, in welchem man sich intensiv in einem ersten Anlauf um die Einrichtung einer Universität in Duisburg bemüht hatte.⁶³ Zugleich ist die oben erwähnte Prozessordnung Wilhelms des Reichen von 1555 in diesen zeitlichen Rahmen einzuordnen. Auch hier haben die Bedürfnisse der Zeit, darunter die juristischen Reformationen des 16. Jahrhunderts,⁶⁴ offenbar den Gedanken einer Bildungsstätte am Niederrhein befördert. Dass dieser Plan scheiterte, hat kirchenpolitische Gründe, die in der konfessionellen Zuspitzung jener Jahre und der Via-media-Politik des Landesherrn begründet sind.⁶⁵ Ob die oben nachgezeichneten Entwicklungen im Bereich der gerichtlichen Protokollführung, welche aufgrund der gestiegenen Bedeutung der Gerichtsrhetorik⁶⁶ im Rahmen der Beweisführung seit dem Ende 14. Jahrhunderts eine vermehrte Wiedergabe von Zeugenaussagen in wörtlicher Rede in den Prozessakten nach sich zogen, gegebenenfalls auch mit der vermehrten Ausbildung von (Rechts‐)Gelehrten
Wilhelm Rotscheidt (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Duisburg 1652–1818. Nachdruck Nendeln 1980 [1938], S. 7; Widmung in der Dissertation von Johannes Sudeck, Disputatio Medica Altera De Veneno. Duisburg 1689. Landesarchiv NRW R, AA 0640 Handschriften K III 17, fol. 141r; Inventar des Archivs der evangelischen Gemeinde Duisburg mit einem Anhang über das Archiv des Katharinenklosters zu Duisburg, unter Mitarbeit von Walter Schmidt bearbeitet von Carl Wilkes. Duisburg 1941 (Inventare nichtstaatlicher Archive der Rheinprovinz, Bd. 1), S. 148, Nr. 504 und S. 390. Zeittafel zum ersten Gründungsversuch einer Universität in Duisburg bei Eckehart Stöve, Ein gescheiterter Gründungsversuch im Spannungsfeld von Humanismus und Gegenreformation, in: Irmgard Hantsche (Hrsg.), Zur Geschichte der Universität. Das „gelehrte Duisburg“ im Rahmen der allgemeinen Universitätsentwicklung. Bochum 1997 (Duisburger Mercator-Studien, Bd. 5), S. 23–46 (hier S. 46). Andreas Deutsch (Hrsg.), Stadtrechte und Stadtrechtsreformationen. Heidelberg 2021 (Schriftenreihe des Deutschen Rechtswörterbuchs/Akademiekonferenzen, Bd. 32). Vgl. Eckehard Stöve, Via media. Humanistischer Traum oder kirchenpolitische Chance? Zur Religionspolitik der vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg im 16. Jahrhundert, in: Monatshefte für Kirchengeschichte des Rheinlands 39 (1990), S. 115–133. Zum möglichen Einfluss antiker Traditionen auf die Gerichtsrhetorik und die freie mündliche Beweiswürdigung, welche im Spätmittelalter den Formalbeweis ablöste, vgl. Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 1), S. 49 f.
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in den auf Reichsboden nördlich der Alpen entstehenden Universitäten in Zusammenhang stehen, wäre ebenfalls eine Frage, der es sich nachzugehen lohnte. Rhetorik und Jurisprudenz waren nun auch außerhalb von Bologna zu erlernen, seit 1388 zum Beispiel in Köln. Und im beginnenden 15. Jahrhundert gab es vermehrt Promotionen in beiden Rechten nördlich der Alpen, wie etwa die des dem Kölner Patriziat entstammenden Ludwig von Ast 1427/28 in Heidelberg.⁶⁷ Es bleibt vor dem Hintergrund des hier Zusammengetragenen die Frage bestehen, ob der Vorgang der Rechtsaufzeichnung beziehungsweise die im 16. Jahrhundert wieder abnehmende Verschriftlichung von Dialogen bei der Zeugenaussage im Rechtsprozess als Durchbruch zur Rationalität⁶⁸ anzusehen ist, ober ob mündliche Elemente nicht nach wie vor im Rechtsleben bis ins 16. Jahrhundert und über das Verlesen von Rechten darüber hinaus bis ins 17. Jahrhundert hinein gleichwertige, tragende Elemente geblieben sind. Hatte das mittelalterliche Bürgertum nach Wilhelm Ebel eine bedeutende rechtsschöpferische Leistung mit Blick auf frühe Rechtsaufzeichnungen beigetragen,⁶⁹ so forderten die Bürger im 16. Jahrhundert demgegenüber durchaus den Erhalt des mündlichen Anteils im Rechtsleben. Auch das Misstrauen der Duisburger Bürger gegenüber einer nur schriftlichen Verwillkürung brach sich in der Forderung nach Transparenz durch öffentliches Verlesen Bahn. Dem entspricht die weiterhin, teilweise bis ins 18. Jahrhundert, mündlich vorgetragene städtische Rechnungslegung, auch wenn die Einführung der schriftlichen Rechnungsführung seit dem 13./14. Jahrhundert durchaus als entscheidender Schritt zur neuzeitlichen Modernisierung anzusehen ist.⁷⁰ Wie die oberitalienischen Städte im Rechnungswesen, so trugen auch die Universitäten zu Wandlungsprozessen im Rechtswesen bei. Welche Rolle bei der Verschriftlichung beziehungsweise Annäherung an das römische Recht hier Rhetorik und die Lehre
Hermann Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162–1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie des gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel, Bd. 1. Göttingen 1982 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 52), S. 615. Diese erste Promotion im Zivilrecht an der Universität Heidelberg wurde von Johann von Kirchheim/Heidelberg dem Jüngeren vollzogen: Anno 1428° 9a die Nouembris hora septima de mane in ecclesia regalis. Spiritus Heidelbergensis Wormac. dioc. venerabilis mag. Ludouicus de Ast, licenciatus in utroque iure, recepit insignia doctoratus a venerabilibus et eximijs magistris Ottone de Lapide in iure canonico et a Johanne Kirchheim in iure ciuili ad gloriam et honorem omnipotentis dei; Gustav Toepke (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Heidelberg, Teil 2: Von 1554–1662, nebst einem Anhang. Heidelberg 1886, S. 527; vgl. Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Berlin/Heidelberg 2002, S. 295. Mihm, Vom Dingprotokoll (wie Anm. 32), S. 43. Ebel, Die rechtsschöpferische Leistung (wie Anm. 12). Mihm/Mihm, Mittelalterliche Stadtrechnungen (wie Anm. 55), S. 16.
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auch weltlichen Rechts seit dem 15. Jahrhundert spielten, bleibt im jeweiligen zeitlichen und regionalen Kontext eingehender zu untersuchen. Bei all diesen Überlegungen ist die eingangs gestellte Frage zu diskutieren, um welchen Grad der oben zwischen formal-schriftlich bis alltagsähnlich-sprechsprachlich ausdifferenzierten Formen von Mündlichkeit es sich jeweils handelt. Wie nah die grundsätzlich schriftlich überlieferten oralen Anteile der Rechtsquellen der tatsächlich zeitgenössisch praktizierten Mündlichkeit standen, ist jeweils vor dem Hintergrund verschiedener Aspekte wie Funktion und Situativität sowie Formalität und Öffentlichkeitsgrad zu analysieren.⁷¹ Dass gewisse Textsorten, wie die Gerichtsprotokolle mit den darin enthaltenen Zeugenaussagen, der tatsächlich praktizierten alltäglichen Mündlichkeit am nächsten stehen, konnte dargelegt werden. Es wäre darüber hinaus nicht unproblematisch, die bis in die frühe Neuzeit erhaltenen mündlichen Aspekte im Rechtsleben von der frühmittelalterlichen oralen Tradition⁷² gänzlich abzuschneiden und gerade mit Blick auf das Verlesen von Rechtstexten ausschließlich als Bedürfnis verstärkter Rezeption geschriebenen Rechts anzusehen – dann hätten die Bürger des 16. Jahrhunderts sich mit aushängenden Rechtstexten und -tafeln, die ja durchaus dem Zweck des Sichselbstinformierens dienen konnten,⁷³ zufrieden geben können und die regelmäßige öffentliche Rechtsverlesung nicht eigens erneut einfordern müssen. Dass diesem Begehren ein gewisses Misstrauen gegenüber dem für die Bürger weniger transparenten rein schriftlichen Rechtswesen zugrunde lag, wurde in dieser kursorischen wie exemplarischen Analyse vor allem am Beispiel der städtischen Willküren deutlich. Wahrscheinlich spielte der Wunsch nach Partizipation und Freiwilligkeit oder freiwilliger Einwilligung eine Rolle, wel Heike Hawicks, Untersuchungen zur situativen Variation spätmittelalterlicher Schreibsprachen. Dargestellt am Vokalismus des Duisburger Stadtschreibers Jacob Ludger. Duisburg 1994, S. 2–14 (https://doi.org/10.17185/duepublico/70733; abgerufen am 6. April 2020). Mihm/Mihm, Mittelalterliche Stadtrechnungen (wie Anm. 55), S. 16, mit Verweis auf Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 571–594. Hier soll nicht der Eindruck entstehen, dass im Sinne der „überkommenen Germanistik“ an Einheitlichkeit und Systematik des mittelalterlichen Schöffenrechts oder gar ein „gemeindeutsches Recht“ gedacht wird; vgl. dazu Krey, Die Praxis (wie Anm. 17), S. 602–607. Wohl aber sind die unverkennbaren mündlichen Spezifika auf Wurzeln zurückzuführen, die gemeinsame Tradition waren. In der Präambel des Duisburger Zwölftafelgesetzes von 1518 ist beispielsweise die Rede davon, dass sych van nu voirtan eyn ider Burger ind ingesetenn der Stadt Duysborch nae mach wetten toe rychtenn thoildenn ind toe regieren; vgl. die Präambel in Arend Mihm/Michael Elmentaler, Das Duisburger Stadtrecht 1518. Duisburg 1990, S. 29 f., und Heike Hawicks, Stadtrechtsbeziehungen am Niederrhein, das Duisburger Stadtrecht von 1518 und die Vereinheitlichung des Rechts durch den Landesherrn im 16. Jahrhundert, in: Deutsch (Hrsg.), Stadtrechte und Stadtrechtsreformationen (wie Anm. 64), S. 357–398 (hier S. 396 f.): Anhang 3. Dabei ist Selbstinformationspflicht vorauszusetzen, da die Bürger ein jährliches Verlesen dieses Gesetzes 1518 nicht durchzusetzen vermochten.
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cher in der seit alters praktizierten Verwillkürung und auch bei Oberhofkonsultationen grundlegend war.⁷⁴ Dieser Aspekt scheint bei den landesherrlichen Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen, wie sie am Beispiel des obrigkeitlich diktierten rein schriftlichen Prozessverfahrens aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor Augen geführt wurden, zunehmend in den Hintergrund getreten zu sein. Demgegenüber entsprachen die zitierten Rechtsanfragen an die alten Oberhöfe sehr viel eher diesem althergebrachten Prinzip von Einung bei der Rechtsfindung, was schon an den in ihnen benutzten Sprachmustern aus dem Bestand alter oraler Rechtstradition sichtbar wurde. Die ausgeprägte Mündlichkeit als Spezifikum des Oberhofwesens wurde auch in jüngerer Zeit betont.⁷⁵ Ein vorläufiges Ergebnis dieser kleinen Studie ist vor allem die Wechselseitigkeit der Einflüsse zwischen der Obrigkeit, den am gerichtlichen Prozess beteiligten Parteien und Personengruppen sowie den sich zunehmend etablierenden Universitäten, die sich auch in Form einer unterschiedlichen Gewichtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Verfahren und im Rechtswesen allgemein auswirkte. Insofern wäre es sicher lohnenswert, wenn zukünftige Untersuchungen des sich auf dem Weg vom Mittelalter zur Neuzeit zunehmend ausdifferenzierenden Rechtswesens den hier exemplarisch zusammengetragenen Aspekten zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit weiter nachgehen.
Wilhelm Ebel vertrat die Ansicht, dass aus dem germanischen Willkürrecht, welches sich auf freiwillig gewählte und gemeinsam beschlossene Rechtssetzungen gründete, die auch Beliebungen genannt werden konnten, die Ratslegislative entstanden ist; vgl. Mihm, Funktionen der Schriftlichkeit (wie Anm. 6), S. 305, mit Verweis auf Wilhelm Ebel, Die Willkür. Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts. Göttingen 1953 (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 6). Zur Freiwilligkeit im Verhältnis zum Oberhof vgl. Krey, Die Praxis (wie Anm. 17), S. 548 und 595. Krey, Die Praxis (wie Anm. 17).
Daniel Kaune
der besten urteil in der sach… Die Basler Gerichtsbarkeit in der Auseinandersetzung mit überregionalen Appellationsinstanzen im 15. Jahrhundert 1 Einleitung Recht beinhaltet die Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens; das ist weithin unbestritten.¹ In seiner Gesamtheit besteht Recht jedoch sowohl aus geschriebenen als auch ungeschriebenen, sprich mündlich tradierten Normen,² womit die gesellschaftlichen Funktionen und Auswirkungen von Literalität bereits vielfach zur Diskussion standen.³ Die Antwortversuche auf die Frage nach dem
Siehe etwa Ralf Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? Tübingen 1975; Dietmar Willoweit, Anmerkungen zum Verhältnis von Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Tübingen 2000, S. 342–346; Claudia Lanzendorf, Einführung in das juristische Denken. Berlin 2010, S. 5 f. Folglich wird der Mediävist bei der Betrachtung genuin juristischer Themen mit einer Grundsatzfrage konfrontiert, die keinesfalls als redundant abgetan und beiseitegeschoben werden sollte. So ist zwar gemeinhin auf den materialen Charakter der juristischen Logik verwiesen worden, die „zeigen soll, wie man zu ‚wahren‘ oder ‚richtigen‘ oder wenigstens vertretbaren Urteilen in rechtlichen Dingen gelangt“, Karl Engisch, Einführung in das Juristische Denken. 12. Aufl. Stuttgart 2018, S. 9. Trotz juristischer Methodenlehre liegt dennoch keine spezielle „Technik“ zur simplen Bewältigung juristischer Fragen vor, sodass der juristisch-sachgerechte Prozess der Urteilsfindung vielmehr kritisch zu reflektieren ist, ebd.; weiter auch Ulfrid Neumann, Juristische Logik, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfried Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. 8. Aufl. Heidelberg 2011, S. 298–319. Bei der Betrachtung vergangener, hier spätmittelalterlicher Gesellschaften stößt eine solche Reflexion überlieferungsbedingt dann an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis, insofern die Schriftquellen der Zeit nur bedingt vom mündlichen Miteinander der Menschen und ihrem Gegeneinander vor Gericht zeugen. Vgl. weiter auch den normtheoretischen Streit um den Strukturunterschied zwischen (vor allem schriftlichen) Verboten und (auch mündlichen) Geboten bei Lothar Philipps, Normentheorie, in: Kaufmann/ Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie (wie Anm. 2), S. 320–332; allgemein dazu Ota Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik. Eine Auseinandersetzung mit Hans Kelsens Theorie der Normen. Berlin 1981. Vgl. allgemein Jack Goody/Ian Watt, Konsequenzen der Literalität (1963), in: Dies./Kathleen Gough, Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Frankfurt a. M. 1986, S. 63–122; Walter J. Ong, The Presence of the Word. New Haven 1967; Marshall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis. Düsseldorf 1968; Jack Goody, Funktionen der Schrift in traditionalen Gesellschaften (1968), in: ders./Watt/Gough, https://doi.org/10.1515/9783111077406-007
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Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit blieben dabei allerdings immer wieder, ja gar unweigerlich, im Spannungsfeld der beiden Dimensionen stecken.⁴ Indem die Rechtsphilosophie die Kohärenz von Gesellschaft und Recht dann allgemein, unabhängig vom Grad der Literalität, anerkennt (ubi societas, ibi ius⁵), lagert sie ihre Theorie der Diskussion zwar vor.⁶ Der in Anlehnung an Cicero von Heinrich von Cocceji überlieferte Rechtsspruch beschränkt sich jedoch auf das societas-ius-Verhältnis,⁷ sodass die Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Frage nicht betont wird. Beim Anwendungsversuch auf mittelalterliche Quellen stellt sich die Frage mit der kritischen Diskussion des Begriffs „ius“ aber dennoch. So könnte man den lateinischen Rechtssatz zunächst mit „Wo Gesellschaft, da Recht“, etwas freier auch mit „Keine Gesellschaft ohne Recht“ übersetzen. Nach Peter Landau schwingen in der unreflektierten Anwendung des Rechtsbegriffs aber Konnotationen der Gegenwart mit, die auf das Mittelalter nicht ohne weiteres anwendbar sind; beispielsweise ein streng geordnetes Gerichtswesen, das abstrakten Normen in Form von schriftlich fixierten Rechtsregeln folgt und mit einem weitgehend schriftlichen Gerichtsverfahren charakterisiert wird. Landaus Behelf, ius mit Ordnung und den Rechtsspruch demzufolge mit „Keine Gesellschaft ohne
Entstehung (wie Anm. 3), S. 25–61 (hier S. 25 f.). Weiter, im Kontext der Mediävistik und der ebenda geführten Diskussion um die sogenannte Pragmatische Schriftlichkeit, auch Christoph Dartmann, Zur Einführung, in: ders./Thomas Scharff/Christoph Friedrich Weber (Hrsg.), Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Turnhout 2011 (Utrecht studies in medieval literacy, Bd. 18), S. 1–23 (hier S. 6 f.); Michael Jucker, Pragmatische Schriftlichkeit und Macht, in: ebd., S. 405–441 (hier S. 407–415). Denn Schrift ist „keine Alternative zur mündlichen Überlieferung, sondern eine zusätzliche Möglichkeit“, Goody/Watt, Konsequenzen (wie Anm. 3), S. 122. Vgl. weiter Hagen Keller, Mediale Aspekte der Öffentlichkeit im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien (künftig: FMSt) 38 (2004), S. 277–286 (hier S. 281 f.). Schließlich lässt sich die Mündlichkeit einer Gesellschaft nur bedingt aus ihren Schriftquellen rekonstruieren. Heinrich von Cocceji, Grotius illustratus, seu commentarii ad Hugonis Grotii de jure belli et pacis libros tres. Breslau 1744, Prolegomena S. XV § 8, S. XXXVIII § 22. Vgl. allgemein Erhard Blankenburg, Diskurs oder Autopoiesis. Lassen sich Rechtstheorien operationalisieren? in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 15 (1994), S. 115–125; Ralf Dreier, Rechtsphilosophie und Diskurstheorie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 48 (1994), S. 90–103; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders./Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie (wie Anm. 2), S. 26–147. Den Verweis auf Cicero präzisiert Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. 7. Aufl. München 2007, S. 237 (Nr. 19). Weiter dazu Angelika Nussberger, Sozialstandards im Völkerrecht. Eine Studie zu Entwicklung und Bedeutung der Normsetzung der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation und des Europarats zu Fragen des Sozialschutzes. Berlin 2005 (Schriften zum Völkerrecht, Bd. 161), S. 35 f. (Anm. 39); Ulrich Vosgerau, Staatliche Gemeinschaft und Staatengemeinschaft. Grundgesetz und Europäische Union im internationalen öffentlichen Recht der Gegenwart. Tübingen 2016 (Jus publicum, Bd. 255), S. 13–15.
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Ordnung“ zu übersetzen, mag vielleicht einige Implikationen des Rechtsbegriffs vermeiden,⁸ zumindest wird die Schriftlichkeit eines Rechtsystems derart minder pointiert. Die Frage aber, welche Grundregeln das Mit- und Gegeneinander der spätmittelalterlichen (Stadt‐)Gesellschaft respektive Rechtsgemeinschaft bestimmten, steht weiterhin im Raum. Indem weithin Einigkeit darüber herrschte, dass es nicht (schriftliche) Verfassungen oder Gesetze waren,⁹ bemühte sich die Geschichtswissenschaft zwar um alternative Antworten und hielt die Bedeutung von (mündlichen) Ritualen und symbolischer Kommunikation im Diskurs hoch.¹⁰ Jedoch entwächst das spätere Mittelalter mit seiner zunehmenden Schriftlichkeit diesen Zugriffen.¹¹ Dies gilt explizit dann, wenn man auf das Gerichtswesen, hier das Basler Stadtgericht des 15. Jahrhunderts, blickt. Indem man die Frage nach Schriftlichkeit und Mündlichkeit an das Gerichtswesen heranträgt, wird das Thema nicht nur erneut zur Diskussion gestellt, sondern durch die vorgenommene Engführung auch mit neuen Problemen konfrontiert: Einerseits macht die gerichtliche Überlieferung eine dezidierte Quellenkritik der Verschriftlichungsprozesse notwendig, die in Form von Akten, Protokollbüchern oder Kundschaften differenziert zu charakterisieren sind. Andererseits werden Rechtsnormen durch (alltägliche) Rechtspraxis komplementiert, die den Rahmen, mit dem Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Gerichtswesen gedacht werden muss, weiter aufspannt. Dabei fungiert „Rechtspraxis“ hier als Oberbegriff zum Subsumieren verschiedener Fachtermini rund um spätmittelalterliche Stadtgerichte und
Vgl. Peter Landau, Über die Wiederentdeckung der Gesetzgebung im 12. Jahrhundert, in: Gisela Drossbach (Hrsg.), Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn 2010, S. 13–17 (hier S. 13).Weiter, mit Gegenwartsbezug des zitierten Rechtssatzes, auch Hartmut Kress, „ubi societas, ibi ius“, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 45 (2012), S. 60 f. Vgl. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, S. 282. Vgl. u. a. Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung (künftig: ZHF) 31 (2004), S. 489–527; Hagen Keller/Christoph Dartmann, Inszenierungen von Ordnung und Konsens, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Bd. 3), S. 201–223; Hans-Werner Goetz, Spielregeln, politische Rituale und symbolische Kommunikation in der Merowingerzeit, in: Claudia Garnier/Hermann Kamp (Hrsg.), Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention. Darmstadt 2010, S. 33–59; Hermann Kamp, Die Macht der Spielregeln in der mittelalterlichen Politik, in: ebd., S. 1–18. Vgl. bspw., mit einem Blick auf das spätmittelalterliche Gent, Marc Boone, Städtische Selbstverwaltungsorgane vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Wilfried Ehbrecht (Hrsg.),Verwaltung und Politik in Städten Mitteleuropas. Beiträge zu Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in altständischer Zeit. Köln/Weimar/Wien 1994 (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Bd. 34), S. 21–46.
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deren (Verwaltungs‐)Schriftgut,¹² sodass sie als alltägliches Gegenstück zu den Rechtsnormen verstanden werden kann.¹³ „Rechtsnormen“ werden nachfolgend wiederum als stadtrechtliche Statutenordnungen verstanden, die das Stadtbürgertum respektive der Rat mit lokaler Geltung selbst setzten. Damit sind sie zwar von überregionalen positiven Rechten zu unterscheiden,¹⁴ da sie aber zugleich von ihnen beeinflusst werden können, muss der Rückbezug an die oberen und außerstädtischen Instanzen immer wieder gesucht werden.¹⁵ Das Gegenüber von (all Dabei ist die hier thematisierte Rechtspraxis dann von jener praktizierten Rechtsgewohnheit und vergangenen Rechtswirklichkeit abzugrenzen, die die Darstellung der Strafjustiz und das von den Strafbehörden geübte Recht in den Fokus der Betrachtung stellen, vgl. Basel betreffend v. a. Karl Metzger, Die Verbrechen und ihre Straffolgen im Basler Recht des späteren Mittelalters, Bd. 1: Die Verbrechen und ihre Straffolgen im allgemeinen. Basel 1931; Hans-Rudolf Hagemann, Basler Rechtsleben im Mittelalter, 2 Bde. Basel 1981/1987 (hier Bd. 1, S. 145–148). So (re‐)konstruieren Metzger und Hagemann aus den Zeugnissen der Praxis ein (Straf‐)Recht, das als geschlossenes Corpus im frühen 15. Jahrhundert nicht existiert hat. Folglich werden die zur Diskussion gestellten Fallbeispiele mit Kategorien einer modernen Jurisprudenz überschrieben und einer zum Spätmittelalter konträren Nomenklatur unterworfen, vgl. auch Peter Schuster, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz. Paderborn 2000, S. 17–20. Der Verfasser versucht sich mit der oben formulierten Definition von diesem weithin praktizierten Zugriff der Rechtsgeschichte frei zu machen, verzichtet zugunsten einer freien Entfaltung der Fragestellung, die nahe an der archivalischen Überlieferung arbeitet, also bewusst auf ein starres Begriffskonzept, und favorisiert letztlich den weniger einengenden Arbeitsbegriff, vgl. dazu auch Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft. 2. Aufl. Stuttgart 2008, S. 25–27 (hier S. 26, Anm. a). Vgl. allgemein Neithard Bulst, Richten nach Gnade oder nach Recht, in: Franz-Josef Arlinghaus/ Ingrid Baumgärtner/Vincenzo Colli/Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein (Hrsg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters. Frankfurt a. M. 2006 (Rechtsprechung, Bd. 23), S. 465–489 (hier S. 465–466, 473 f.); Frank Rexroth, Sprechen mit Bürgern, sprechen mit Richtern, in: ebd., S. 83–109 (hier S. 84–86). Die hier nachfolgende Diskussion um die Basler Gerichtsbarkeit fasst unter dem Begriff der Rechtspraxis, entsprechend den obenstehenden Ausführungen und Anmerkungen, schließlich auch die Auseinandersetzung mit überregionalen Appellationsinstanzen im 15. Jahrhundert, da diese ja das jeweils fremde, im Sinne von Appellation eben strittige, (Stadt‐)Recht berühren. Vgl. allgemein Dietmar Willoweit, Stadt und Territorium im Heiligen Römischen Reich, in: Giorgio Chittolini/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland. Berlin 1992 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 3), S. 39–48 (hier S. 41 f.); Martin Kintzinger, Schrift und Recht in der Stadt, in: Gabriele Köster/Christina Link/Heiner Lück (Hrsg.), Kulturelle Vernetzung in Europa. Das Magdeburger Recht und seine Städte. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Faszination Stadt“. Dresden 2018, S. 315–331 (hier S. 324). Beispielsweise wäre die Tatsache zu berücksichtigen, dass „mittelalterliche Herrscher lokale Rechtsordnungen durch Privilegienbriefe und Städte durch Statuten willentlich festlegten und regelmäßig erneuerten“, Simon Teuscher, Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. Frankfurt a. M./New York 2007 (Campus Historische Studien, Bd. 44), S. 20. Vgl. auch die (kurze) Diskussion um den Stadtrechtsbegriff bei Hagemann, Basler
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täglichen) Urteilssprüchen und (normierten) Rechtssätzen zeugt dann im Allgemeinen vom Ermessensspielraum einer spätmittelalterlichen Ratsgerichtsbarkeit, die eine flexible Rechtsprechung gerade deshalb als im- und explizit satzungskonform erkennt, da das vollständige Spektrum devianten Verhaltens nicht abgebildet werden konnte und auch nicht sollte.¹⁶ Mit der Zusammenschau der (auch mündlichen) Rechtspraxis und der (vor allem schriftlichen) Rechtsnormen schließt sich nicht nur der Kreis zu den einleitenden Ausführungen,¹⁷ sondern steht der Kontrast zwischen Praxis und Norm auch im Zentrum des Forschungsprojekts, auf das die vorliegenden Ausführungen zurückgreifen.¹⁸ Denn obwohl die archivalische Überlieferung des Basler Stadtgerichts die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts weitestgehend abdeckt (Rechtspraxis), klafft zwischen den beiden großen Gerichtsordnungen der Zeit, zwischen 1400/1411 und 1457 (Rechtsnormen), eine breite Forschungslücke,¹⁹ infolge derer Entwicklungen des Basler Stadtrechts bisher verkannt wurden.
Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 138–141: „Wo ein Rechtssatz zugleich als ein von der Stadt für sich selbst in Anspruch genommenes hoheitliches Recht erschien, da mochte seine Qualifizierung als Basler Stadtrecht auf der Hand liegen“, ebd., S. 140; anderenfalls steht der Charakter eines Ratserlasses durchaus zur Diskussion. Vgl. Bulst, Richten nach Gnade oder nach Recht (wie Anm. 13), S. 466 f. und 477. Denn die Gesamtheit der Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens besteht sowohl aus geschriebenen als auch ungeschriebenen Rechten. So müssen die gesellschaftlichen Funktionen und Auswirkungen von Literalität im Hinblick auf das Spätmittelalter, d. h. schriftliche Rechte in einer weithin mündlichen Gesellschaft, im Allgemeinen diskutiert werden, zumindest dürfen sie nicht – wie immer wieder zu beobachten ist – getrennt voneinander betrachtet werden, vgl. hier Anm. 1–4. Dissertationsprojekt des Autors: „Rechtsnorm und Rechtspraxis im spätmittelalterlichen Basel“ (2015–2022; betreut durch Prof. Dr. Michael Rothmann, Leibniz Universität Hannover). Die Studie geht von der Kohärenz, gleichsam aber auch von dem Kontrast von Norm und Praxis aus, da im Basel des frühen 15. Jahrhunderts trotz fehlender obrigkeitlicher Normierung eine Spezialisierung der Prozessdokumentation und Verfahrensroutine nachweisbar ist. Folglich stützt sich auch der vorliegende Beitrag auf der Hypothese, dass die spätmittelalterliche Gerichtsbarkeit nur in der Zusammenschau von Verwaltungsschriftgut und normierten Rechtsquellen ganzheitlich beleuchtet werden kann. Die hier thematisierten Auseinandersetzungen mit überregionalen Appellationsinstanzen machen dabei freilich nur einen Teil des Gesamtbildes aus, sie verleihen ihm aber Tiefenschärfe und waren Teil der alltäglichen Rechtspraxis. Vgl. Rechtsquellen von Basel, Erster Theil. Basel 1856 (künftig: RQvB), Nr. 64, 95, 148. Allgemein dazu Andreas Heusler,Verfassungsgeschichte der Stadt Basel im Mittelalter. Basel 1860; ders., Basels Gerichtswesen im Mittelalter. Basel 1922; Hans-Rudolf Hagemann, Basler Stadtrecht im Spätmittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 78 (1961), S. 140–297; ders., Basler Rechtsleben (wie Anm. 12). Im Fokus der hier zugrundeliegenden Dissertationsarbeit stand der Zeitraum 1438–1452. Er sticht aus der Überlieferung des Basler Gerichtsarchivs aufgrund des breitesten Nebeneinanders an Quellen der alltäglichen Ge-
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Mit dem titelgebenden Quellenzitat thematisiert der vorliegende Aufsatz somit die Basler Gerichtsbarkeit in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Konkreter wird auf Grundlage der sogenannten „Urteilsbücher“²⁰ zunächst diskutiert, in welcher Form und in welchem Umfang vornehmlich mündlich geführte Gerichtsprozesse verschriftlicht wurden (2.1). Weiter lässt der Blick auf mehrere Jahrzehnte der Überlieferung fragen, wie die Quellengattung Urteilsbuch im Kontext spätmittelalterlicher Rechtspraxis überhaupt zu charakterisieren ist (2.2). Indem ausgewählte (Fall‐)Beispiele der 1430er Jahre schließlich über die Basler Bannmeile hinausgehen, wird das Thema um einen wesentlichen Punkt der spätmittelalterlichen Rechtspraxis ergänzt: Die Auseinandersetzung der Stadtgerichte mit überregionalen Appellationsinstanzen (2.3).²¹
richtsbarkeit heraus, vgl. Daniel Kaune, Lobbyismus in der Rhein-Metropole? in: Scripta Mercaturae 47 (2018), S. 37–72 (hier S. 43 f., Anm. 30). Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt (künftig: StABS) Ältere Nebenarchive Gerichtsarchiv (künftig: ÄNA GA) A Schultheissengericht der mehrern Stadt: Urteilsbücher (1394–1681). Mit Blick auf die allgemeine Rechtsgeschichte ist der Begriff der Appellation und damit auch der der Appellationsinstanz durchaus kritisch zu diskutieren, da die systematische Jurisprudenz der Frühen Neuzeit ihn streng definierte und den Terminus nachfolgend fest in Anspruch nahm, vgl. u. a. Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. Köln/Wien 1976 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 4); weiter auch den historisch-kritischen Diskurs bei Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie (wie Anm. 6), S. 26–28. Infolgedessen ist die Anwendung des Appellationsbegriffs auf Verfahrensformen des 15. Jahrhunderts zwar fraglich, jedoch lassen sich die Anfänge einer entsprechenden Gerichtsbarkeit durchaus schon im Spätmittelalter nachweisen. Wenn auch damit per se keine Appellationsgerichtsbarkeit (im Sinne eines systematisch geordneten Rechtssystems) attestiert werden kann, drängt sich dem Historiker mit der Kumulation verschiedenster Fachbereiche doch die Frage der Nomenklatur, also die Entscheidung auf, ob eher Quellenbegriffe oder Anachronismen als analytische Werkzeuge zur Anwendung gebracht werden sollten, vgl. Georg Jostkleigrewe, Monarchischer Staat und ‚Société politique‘. Politische Interaktion und staatliche Verdichtung im spätmittelalterlichen Frankreich. Ostfildern 2018 (Mittelalter-Forschungen, Bd. 56), S. 41 f. Da die Geschichtswissenschaft dabei stets zwischen Narration und Quelle steht und darum bemüht ist, sie „in ein ästhetisches und unmittelbares, aber doch distanziertes Verhältnis zu bringen“, André Wendler, Anachronismen. Historiografie und Kino. Weimar 2012 (Schriften des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, Bd. 19), S. 49, kann die Scheidung zwischen anachronistischen Analysewerkzeugen und zeitgenössischer Wortwahl niemals scharf vollzogen werden. Zum Anachronismus als Forschungskategorie formuliert schließlich Miriam Lay Brander, Der Anachronismus als literatur- und kulturwissenschaftliche Kategorie, in: Cristina Albizu (Hrsg.), Anachronismen – Anachronismes – Anacronismi – Anacronismos. Pisa 2011, S. 13–27: „Der Anachronismus markiert Differenzen und schafft zugleich Kontinuitäten. Er verweist auf die historische Spezifik von Denk- und Lebensformen, nivelliert diese Differenzen jedoch zugleich, indem er die überzeitliche Aktualität historischer Erscheinungen bewusst macht. Damit ist der Anachronismus eine Kategorie, die zugleich innerhalb und außerhalb der linearen Zeit liegt. Er setzt ein chronologisches Verständnis voraus, gegen das er im gleichen
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2 Die Urteilsbücher des Basler Stadtgerichts Folgt man dem Basler Archivplan, blickt man im Gerichtsarchiv zuerst auf die „Urteilsbücher“ des Großbasler Schultheißengerichts. Schon der Umstand, dass sie seit 1394 lückenlos überliefert sind und im deutschsprachigen Raum somit zu den frühesten ihrer Art gehören, rechtfertigt eine Untersuchung.²² Infolgedessen bietet das Material nicht nur die Chance, die alltägliche Dokumentationsroutine spätmittelalterlicher Stadtgerichte zu beobachten, sondern es lässt sich gar auch der Entwicklungsprozess von der sporadisch, eher einfach gehaltenen Notiz zum alltäglichen, weithin systematisch dokumentierten Urteil nachzeichnen.²³ Augenfällig ist der Wandel der spätmittelalterlichen Rechtspraxis zwar in Form spezialisierter Gerichtsbücher, die in Basel seit den 1420er Jahren entstanden.²⁴ Der beste Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen findet sich jedoch nicht in der Gesamtschau der gerichtlichen Überlieferung, sondern in der Detailansicht der ältesten, systematisch geführten Buchreihe des Großbasler Schultheißengerichts, den Urteilsbüchern.²⁵
Augenblick verstößt“, ebd., S. 26. Allgemein auch Blankenburg, Diskurs oder Autopoiesis (wie Anm. 6); Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter, in: Gert Melville/Peter von Moos (Hrsg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Köln/Weimar/Wien 1998 (Norm und Struktur, Bd. 10), S. 3–83; Eckard Bolsinger, Autonomie des Rechts? in: Politische Vierteljahresschrift 42 (2001), S. 3–29. Vgl. StABS ÄNA GA A. Für die (Rechts‐)Geschichte der Stadt Basel gilt des Weiteren der Terminus a quo 1356, da das Erdbeben vom 18. Oktober des Jahres und der darauffolgende Großbrand einen großen Teil der Stadt zerstörte, vgl. Elisabeth Wechsler, Das Erdbeben von Basel 1356. Zürich 1987, S. 18–72; Werner Meyer, Da verfiele Basel überall. Das Basler Erdbeben von 1356. Basel 2006, S. 52–65, 93–95. Während sich die Bevölkerung verhältnismäßig schnell von dem der Schock erholte und die Stadt binnen acht Monaten für wieder bewohnbar erklärte, muss die Forschung bedauernd zur Kenntnis nehmen, dass bei dieser Katastrophe das Archiv der städtischen Kanzlei niederbrannte und damit ein Löwenanteil der dort lagernden Dokumente verloren ging, ebd; allgemein auch Andreas Staehelin, Die Geschichte des Staatsarchivs Basel. Von den Anfängen bis zur Ära Rudolf Wackernagel. Basel 2007. Die Verwaltungspraxis, sowohl des Rats als auch des Gerichts, lässt sich folglich erst seitdem erfassen; entsprechend der Rats- und Gerichtsbuchüberlieferung sind Detailstudien dann aber erst später, z.T. frühstens gen Mitte des 15. Jahrhunderts möglich, vgl. allgemein StABS Älteres Hauptarchiv (künftig: ÄHA) Ratsbücher und StABS ÄNA GA. Vgl. Christina Deutsch, Vom Zettel zum Gerichtsurteil, in: FMSt 40 (2007), S. 283–296. Vgl. u. a. die Basler Kundschaften, StABS ÄNA GA D; die Vergichtbücher, StABS ÄNA GA C; Fröhnungen und Verbote, StABS ÄNA GA E; sowie die Verrechnungen, StABS ÄNA GA G. Allgemein dazu u. a. Kaune, Lobbyismus (wie Anm. 19), S. 48, Anm. 53–56. Vgl. StABS ÄNA GA A. Infolge des Untersuchungszeitraums 1438–1452 (vgl. Anm. 19) stehen hier v. a. die Urteilsbücher A21–A25 (Nov. 1436 bis Aug. 1453) zur Diskussion. Allgemein Hans Schlosser, Mittelalterliche Gerichtsbücher als Primärquelle der Rechtswirklichkeit, in: ZHF 8 (1981), S. 323–330.
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2.1 Alltägliche Dokumentation In ihren ersten Jahren enthalten die Urteilsbücher beinahe alle „Akte der […] Gerichtsbarkeit“²⁶, sodass die Aufzeichnungen die Rechtspraxis eher unspezifisch (re‐)präsentieren, zumindest keine Sachspezialisierung des Gerichtsbuchs anzeigen.²⁷ Circa 20 Jahre später ist der Ausdruck der protokollähnlichen Eintragungen in die Urteilsbücher immer noch undeutlich oder zumindest derart unsystematisch, dass man in Hinblick auf die Hauptaufgabe des Gerichts, die Handelsgerichtsbarkeit oder Marktgerichtspraxis,²⁸ zu dem Urteil kommen könnte, dass sich eine Art Alltagsroutine der Prozessdokumentation noch nicht eingestellt hatte.²⁹ Ebenso wenig existierte eine Verfahrensroutine für Marktort-spezifische Gerichtsfragen. Beispielsweise scheinen Prozesse, in deren Mittelpunkt der Verlust von Waren sowie die damit einhergehende Frage der Verantwortung und die Forderung auf Schadensersatz standen, noch unüblich und ungewohnt für die Basler Rechtspraxis gewesen zu sein. Zu diesem Urteil könnte man zumindest angesichts der Gerichtsprotokolle aus dem Jahr 1413 kommen, in denen einer der ersten Prozesse der Offenburg-Gesellschaft um einen verlorengegangenen Ballen Tuch dokumentiert wurde.³⁰ Das Beispiel mag zwar weder außergewöhnlich noch aussagekräftig genug
Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 5; weiter auch S. 77 f.; ders., Basler Stadtrecht (wie Anm. 19), S. 176, Anm. 153. Ergänzend dann Gunter Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert. Aalen 1968 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 10), S. 5–18 (hier S. 7 f.). „Es ist nicht zu sagen, ob diese Gerichtsprotokolle nur Zivilsachen, oder auch Kriminalsachen erfaßt haben, da das Mittelalter keine solche scharfe Trennung wie die Gegenwart gekannt hat“, Werner Schultheiss, Über spätmittelalterliche Gerichtsbücher aus Bayern und Franken, in: Klaus Obermayer/Hans-Rudolf Hagemann (Hrsg.), Festschrift für Hans Liermann zum 70. Geburtstag. Erlangen 1964, S. 265–296 (hier S. 279). Derart sollte insbesondere mit Blick auf die frühsten Gerichtsbücher von einer vorschnellen Kategorisierung derselbigen abgesehen werden. Vgl. Karl Stehlin, Die Vormundschaft des Basler Stadtrechts im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 28/NF 6 (1887), S. 255–322 (hier S. 256). Bspw. wurden zunächst auch Schuldbekenntnisse (Confessata) in das allgemeine Protokoll- bzw. Urteilsbuch eingetragen. Erst ab 1425 finden sich diese in speziell dafür angelegten Gerichtsbüchern, den Vergichten (StABS ÄNA GA C), vgl. Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 49, Anm. 313; allgemein auch ebd., S. 48– 61. Vgl. Heusler, Basels Gerichtswesen (wie Anm. 19), S. 16, 40–43. Basel ist hier bei Weitem kein Einzelfall. Auch „die Protokolle des Stadtgerichts von Ansbach und mancher anderen Orte [erscheinen] primitiv und ungleichmäßig; sie wechseln zwischen kurzen Protokollen, Abschriften von Urteilsbriefen und Urkunden über freiwillige Gerichtsbarkeit, Kopien von Ratsurkunden, enthalten sogar Gerichtsordnungen, Satzungen oder Eidesformeln“, Schultheiss, Über spätmittelalterliche Gerichtsbücher (wie Anm. 26), S. 294. Vgl. Kaune, Lobbyismus (wie Anm. 19), S. 47 f. (bes. Anm. 49).
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sein, um derart vorschnelle Verallgemeinerungen über die vor Gericht stets diskussionsbedürftige Frage nach der Verantwortlichkeit treffen zu können. Doch würde der Befund, die Frage nach Schadensersatz sei (noch) ungewohnt gewesen, angesichts der jungen Verwaltungs- und Dokumentationspraxis gerichtlicher Verfahren sowie aufgrund einer fehlenden (Rechts‐)Vorschrift nicht verwundern.³¹ Weiter fällt bei der Durchsicht des Materials immer wieder auf, dass einzelne Eintragungen teils auch großzügig gestrichen wurden,³² in Einzelfällen fielen der Streichung sogar ganze Seiten zum Opfer.³³ Des Weiteren sind einerseits eine Vielzahl von Randnotizen und Vermerken nachweisbar, die immer wieder aus zweiter Hand stammen. Andererseits finden sich in den Aktenstücken regelmäßig lose Einfügungen, die nachträgliche Notizen oder auch Briefabschriften enthalten.³⁴ Schon aufgrund dieses Bildes, das sich bei der Auswertung der Urteilsbücher bietet, ist deren alltäglicher Nutzen bei Gericht kaum zu bestreiten. In ihrer Summe sind diese Eintragungen aber nicht zahlreich genug, um daraus die alltägliche Gerichtspraxis im Detail ableiten zu können.³⁵ In den 1420er Jahren stellte sich bei den Basler Gerichtsschreibern dann jedoch eine mehr oder weniger geordnete Form des Protokolls ein. Die einzelnen Mappen umfassen mit 25 Folios nunmehr einen Zeitraum von etwa sechs Monaten, ein Urteilsbuch durchschnittlich drei Jahre.³⁶ Bei den einzelnen Einträgen lässt sich zwar durchaus ein Textmuster erkennen: Beispielsweise folgt dem obligatorischen item, das den Eintrag ins Amtsbuch eröffnet, die namentliche Nennung der Streitenden nach; häufig, zumindest immer dann, wenn Geldforderungen Teil des Urteilspruchs waren, schließt der Satz mit der Frist zum Begleichen der Schuld; et cetera. Die Textfunktion aber variiert stark, indem unterschiedlichste Phasen eines Prozesses protokolliert wurden.³⁷ Da letzteres selten, nur bei besonderen Streit-
Die Basler Rechtsnormen kennen bis dato keinen entsprechenden Erlass, vgl. RQvB (wie Anm. 19), Nr. 1–98. Vgl. bspw. StABS ÄNA GA A22, fol. 3v, 7r. Vgl. bspw. ebd., fol. 15r. Vgl. bspw. ebd., zw. fol. 5–6, zw. fol. 7–8. Vgl. Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 76 f. Vgl. StABS ÄNA GA A21, A22. Die oben genannten Werte (25 Folios/sechs Monate) entsprechen dem Mittelwert der beiden Bände, sodass die Angaben lediglich einen ersten, recht groben Überblick über die Quellengruppe geben; ein Vergleich der Bände A16 bis A42 zeigt jedoch nur wenige Abweichungen. Die ersten Bände der Reihe (A1 bis A15) umfassen je Band z.T. lediglich ein Jahr. Vgl. Benjamin Hitz, Schuldennetzwerk in der spätmittelalterlichen Stadt und ihrem Umland, in: Caroline Arni/Matthieu Leimgruber/Simon Teuscher (Hrsg.), Neue Beiträge zur Sozialgeschichte. Zürich 2017 (Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 32), S. 101–132 (hier S. 108 f.). Beispielsweise wurden im Urteilsbuch „bei Weitem nicht nur Gerichtsurteile festgehalten […], sondern auch verschiedene Vorgänge, die in den Bereich dessen fallen, was man heute Pro-
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fällen mit Ausführlichkeit geschah, dominieren elliptische Kurzsätze den optischen Eindruck der Quelle.³⁸ Sie können zwar Aufschluss über den Prozessverlauf geben, doch erfolgten die Eintragungen chronologisch, nicht sachbezogen.³⁹ Des Weiteren kam es häufig vor, dass die Klärung einer Streitfrage respektive der entsprechende Prozess mehrere, in Einzelfällen gar auch eine Vielzahl an Gerichtsterminen benötigte.⁴⁰ Je länger das Verfahren dabei andauerte, desto zerstreuter erfolgten die zugehörigen Eintragungen in das Urteilsbuch. Ein vor dem Basler Gericht ausgetragener Streit innerhalb der Diesbach-Watt-Gesellschaft benötigte beispielsweise zwölf Gerichtstermine und Urteilssprüche, von denen der erste am 20. Juli des Jahres 1454, der letzte hingegen am 25. August des Folgejahres erging.⁴¹ Der Rechtsstreit dauerte somit über ein Jahr an und liegt über 85 Folio-Seiten zerstreut vor.⁴² Wenn auch fallspezifische Aktenfaszikel im Spätmittelalter noch unüblich waren, fördert die „Pertinenz innerhalb der Provenienz“⁴³ des Basler Archivs doch vereinzelt eher ungewöhnliche Bestandszusammensetzungen zutage, die sachaktenähnlichen Charakter haben.⁴⁴
zessrecht nennen würde“, ebd., S. 109. Allgemein zur mittelalterlichen Urteilspraxis Heinrich Brunner, Grundzü ge der deutschen Rechtsgeschichte. Leipzig 1901, S. 151 f.; Götz Landwehr, „Urteilfragen“ und „Urteilfinden“ nach spätmittelalterlichen, insbesondere sächsischen Rechtsquellen, in: ZRG GA 96 (1979), S. 1–37. Kurzsätze prägen auch den optischen Eindruck anderer Gerichtsbücher des 15. Jahrhunderts,vgl. bspw. das Ansbacher Stadtgerichtsbuch von 1459 – dazu Arend Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll im Spätmittelalter und ihr Zeugniswert für die Geschichte der gesprochenen Sprache, in: Gisela Brandt (Hrsg.), Historische Soziolinguistik des Deutschen. Bd. 2: Sprachgebrauch in soziofunktionalen Gruppen und in Textsorten. Stuttgart 1995, S. 21–57 (hier S. 30) –, sodass das oben Beschriebene nicht als Alleinstellungsmerkmal der Basler Urteilsbücher zu verstehen ist. Vgl. allgemein zur oben dargelegten Beschreibung, vornehmlich zur Wortwahl der ‚elliptischen Kurzsätze‘, ebd.; weiter auch Adalbert Erler, Die älteren Urteile des Ingelheimer Oberhofes. Frankfurt a. M. 1952, S. 22–24. Das Kleinbasler Gericht war im Gegensatz zum Großbasler durchaus bemüht, die chronologische Reihenfolge der Eintragungen durch eine sachliche Gliederung zu ergänzen, vgl. Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 5. Vgl. ebd., S. 76–78. Vgl. StABS ÄNA GA A26, fol. 32r, 32v, 45r, 45v, 68r, 71v, 74v, 87v, 88v, 97r, 117v. Vgl. Urk. 173–184, in: Hektor Amman, Die Diesbach-Watt-Gesellschaft. St. Gallen 1928, S. 54*–57*. Weiter dazu Kaune, Lobbyismus (wie Anm. 19), S. 59 f. Staehelin, Die Geschichte des Staatsachivs (wie Anm. 22), S. 127; zu den Folgen des Wackernagel’schen Ordnungsprinzips auch S. 141–143. Vgl. StABS ÄHA Politisches. Ein entsprechendes Beispiel (ebd. F 10: Prozess Brigitta Balmoserin, 1456–1470) diskutiert Gabriela Signori, Schrift und Recht, in: Jan Marco Sawilla/Rudolf Schlögel (Hrsg.), Medien der Macht und des Entscheidens. Schrift und Druck im politischen Raum der europäischen Vormoderne (14.–17. Jahrhundert). Hannover 2014 (The Formation of Europe/Historische
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Ungeachtet dessen lässt sich bei der gerichtsinternen Aufzeichnung im frühen 15. Jahrhundert ein immer systematischerer Verschriftlichungsprozess beobachten,⁴⁵ der mit einer zunehmenden Professionalisierung der Basler Rechtspraxis einherging und sich seit den 1420er Jahren im Aufkommen spezifischer Gerichtsbücher zeigt: Kundschaften dokumentieren unter anderem Zeugenbefragungen, Vergichtbücher, Fröhnungen und Verbote sowie Verrechnungen die Schuldenpraxis.⁴⁶ Basierend auf dieser Beobachtung könnte man entsprechend der neu beginnenden (Gerichts‐)Buchreihen zwar von „Stichdaten der Ausdifferenzierung“⁴⁷ sprechen, en détail blieb diese bisher aber ununtersucht.⁴⁸ Dies nachzuholen und das Entstehen serieller Rechtsquellen zu fokussieren, wäre sicher lohnenswert, doch käme man mit einer solchen Sonderuntersuchung hier vom Weg ab.⁴⁹ Folglich stehen die Urteilsbücher des Großbasler Schultheißengerichts weiter im Fokus der Betrachtung, da ihre Schriftlichkeit am ehesten von den vornehmlich mündlichen Gerichtsverfahren der Gerichtsinstitution zeugt.
Formationen Europas, Bd. 5), S. 103–122 (hier S. 109–118). Allgemein zum diffusen Charakter der Archivabteilung Staehelin, Die Geschichte des Staatsachivs (wie Anm. 22), S. 27, 128 f., 142. Vgl. insbes. StABS ÄNA GA A 15 ff. zugunsten der neu angelegten Buchreihen StABS ÄNA GA D, C, E und G; einen Einblick in den zeitgenössischen Wandel der Verschriftungsprozesse gewährt daneben auch StABS ÄNA GA A16a. Vgl. StABS ÄNA GA D, C, E und G; dazu Kaune, Lobbyismus (wie Anm. 19), S. 48, Anm. 53–56.Vgl. zu den Kundschaften etwa Amelie Rösinger, Zur Augen- und Ohrenzeugenschaft in den Basler Kundschaften, in: dies./Gabriela Signori (Hrsg.), Die Figur des Augenzeugen. Geschichte und Wahrheit im fächer- und epochenübergreifenden Vergleich. Konstanz/München 2014, S. 89–103; zu den Vergichten, Fröhnungen und Verboten v. a. Gabriela Signori, Schuldenwirtschaft. Konsumenten- und Hypothekarkredite im spätmittelalterlichen Basel. Konstanz/München 2015 (Spätmittelalterstudien, Bd. 5), S. 16–21, 55–59. Allgemein, u. a. zu den Verrechnungen, dann Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 5 f., 29 f., 48–61, 117–139. Daneben auch Hitz, Schuldennetzwerk (wie Anm. 37), S. 107–109. Gabriela Signori, Gelihen geltz. Christliche Geldleihe aus dem Blickwinkel spätmittelalterlicher Gerichtsbücher, in: Gerhard Fouquet/Sven Rabeler (Hrsg.), Ökonomische Glaubensfragen. Strukturen und Praktiken jüdischen und christlichen Kleinkredits im Spätmittelalter. Stuttgart 2018 (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 242), S. 21–42 (hier S. 26). Vgl. Hagemann, Basler Stadtrecht (wie Anm. 19), S. 176, Anm. 153; Signori, Schuldenwirtschaft (wie Anm. 46), S. 15, Anm. 28. Vgl. Kaune, Lobbyismus (wie Anm. 19), S. 48 f.
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2.2 Spruchpraxis, item per item Während eine allgemeinere Beschreibung der Urteilsbücher Aufschluss über die alltägliche Verfahrensdokumentation gibt (2.1.),⁵⁰ zeigen die seit den 1420er Jahren entstehenden Gerichtsbücher eine fortschreitende Professionalisierung der gerichtlichen Verschriftungsprozesse an.⁵¹ Konkrete Aussagen über das Verfahren oder die entsprechende Spruchpraxis lassen sich damit aber nicht treffen.⁵² Denn die Urteilsbücher sind keine direkten Mitschriften der Gerichtsverhandlung, sondern sie geben diese durch die Dokumentation von Urteilssprüchen lediglich indirekt wieder: „Auf dem durch ein Urteil festgestellten Satz wird […] weiter gebaut, so daß das ganze Verfahren von Urteil zu Urteil vorwärts schreitet.“⁵³ Somit könnte man die Urteilsbücher entgegen der zeitgenössischen Bezeichnung und entsprechend der Spruchpraxis, item per item, durchaus auch als Prozessprotokollbücher bezeichnen. Wenn auch das Verständnis für den Charakter der Quellen mit Hilfe dieser Bezeichnung gesteigert werden kann, ist nachfolgend doch eine Diskussion um den Protokollbegriff von Nöten, um die Abgrenzung zum Verlaufsprotokoll zu gewährleisten.⁵⁴ Zuerst ist dabei dann anzumerken, dass im Spätmittelalter überhaupt kein allgemeingültiger Protokollbuchtyp existiert hat.⁵⁵ Demzufolge machen die archivalischen Überlieferungen eine Unterscheidung der entsprechenden Gerichtsbücher nicht nur nach formalen, sondern auch nach funktionalen Kriterien
Vgl. StABS ÄNA GA A. Vgl. StABS ÄNA GA D, C, E und G. Einen Versuch, die Charakteristik von Urteilssprüchen so zu beschreiben, dass sie (trotz der mit dem Vorhaben einhergehenden Notwendigkeit der Verallgemeinerung) Grundlage einer weiterführenden Analyse sein können, findet man bei Guido Kisch, Leipziger Schöffenspruchsammlung. Leipzig 1919, S. 19*–39*. Brunner, Grundzü ge (wie Anm. 37), S. 153. „Die Archivierung des Prozeßschriftgutes folgte […dann] anderen Regularien als die Anfertigung von Mitschriften der Verhandlungen“, Deutsch, Vom Zettel (wie Anm. 23) S. 294. Die frühste Rechtsquelle, die einer modernen Definition eines Verlaufsprotokolls entsprechen würde, meint Arend Mihm im Duisburger Notgerichtsbuch gefunden zu haben, das Gerichtssitzungen der Jahre 1537–1545 dokumentiert, vgl. ders., Zur Konvergenz von Sprachvariationen und sozialen Kategorien in der stadtsprachlichen Überlieferung des Spätmittelalters, in: Gisela Brandt (Hrsg.), Historische Soziolinguistik des Deutschen. Bd. 1: Forschungsansä tze, Korpusbildung, Fallstudien. Stuttgart 1994, S. 17–25 (hier S. 23 f.). Vgl. Ernst Pitz, Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter. Köln 1959, S. 72–79, 83–87, 163–171; Schultheiss, Über spätmittelalterliche Gerichtsbücher (wie Anm. 26), S. 265– 296.Weiter auch die Fallstudien Hanns Karl Steininger, Das Zivilgerichtsverfahren nach den ältesten Münchener Gerichtsbüchern von 1368–1417. München 1965, S. 2; Gudian, Ingelheimer Recht (wie Anm. 26), S. 5–18.
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notwendig. Schließlich lassen sich die in den Urteilsbüchern notierten, protokollartigen Erlasse des Basler Gerichts zwar derart charakterisieren, dass es sich bei ihnen um „auf wichtige Punkte beschränkte Niederschriften […] von Sitzungen, Verhandlungen oder Verhören“⁵⁶ handelt, doch spiegelt sich der eigentliche Hergang der Gerichtsverhandlung im Textmuster nicht wieder. Letzteres scheint schlicht nicht intendiert gewesen zu sein, da primär die Prozess- respektive Sitzungsergebnisse via Urteilsspruch dokumentiert wurden. Überhaupt ermöglicht die Auswertung der Basler Urteilsbücher keine ganzheitliche Darstellung des Basler Gerichtsverfahrens im frühen 15. Jahrhundert, da beispielsweise geldwerte Schuldbekenntnisse und Zahlungsversprechen, prozessrelevante Beweismittel, rechtsverbindliche (Güter‐)Beschlagnahmen oder endgültige Vermögensliquidationen in separaten Buchreihen niedergeschrieben wurden.⁵⁷ Eine Untersuchung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Gerichtswesen wird schließlich dadurch erschwert, dass mündliche Äußerungen selten in den Wortlaut der Urteilsbücher einflossen und direkte Rede überhaupt nicht zur Anwendung kommt.⁵⁸ Der Umstand, dass Nebensächlichkeiten derart ebenso vermieden wurden wie juristisch Irrelevantes,⁵⁹ verschleiert den Blick auf den gerichtlichen Alltag. Denn gerade diese aus zeitgenössischer Perspektive nebensächlichen und irrelevanten Details wären zur umfassenden Analyse spätmittelalterlicher Stadtgerichtsbarkeit von Nöten; sie könnten beispielsweise die diversen Aspekte charakterisieren, die ein Gerichtsverfahren beeinflussten.⁶⁰ In vollem Umfang können die Einzelurteile, hier der Jahre 1438 bis 1452, ohnehin kaum zusammengefasst werden, da die Datenmasse mit circa 1.900 Seiten und etwa 10.000 Urteilen schlicht zu groß ist.⁶¹ Eine Auswahl an Beispielen ist somit
Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 38), S. 21. Vgl. StABS ÄNA GA C, D, E, G und O. Letztendlich „war es dem Gerichtsschreiber überlassen, was er im Einzelnen aufnahm und wie ausführlich er dies tat“, Steininger, Das Zivilgerichtsverfahren (wie Anm. 55), S. 2.Vgl. weiter Jucker, Pragmatische Schriftlichkeit (wie Anm. 3), S. 413 f. Vgl. Mihm, Die Textsorte Gerichtsprotokoll (wie Anm. 38), S. 22 f. Eine ganzheitliche Darstellung des spätmittelalterlichen Gerichtsverfahrens ist ohnehin nie zu erreichen und sollte infolgedessen auch nicht angestrebt werden, vgl. Ingrid Baumgärtner, Gerichtspraxis und Stadtgesellschaft, in: Arlinghaus/Baumgärtner/Colli/Lepsius/Wetzstein (Hrsg.), Praxis der Gerichtsbarkeit (wie Anm. 13), S. 1–18 (hier S. 6). Insgesamt zählen die entsprechenden Urteilsbücher 939 Folios und decken den Zeitraum vom November 1436 bis zum August 1453 ab (StABS ÄNA GA A21–A25). Die präzise Quantifizierung der ebenda niedergeschriebenen Urteilssprüche hat der Verfasser zwar unterlassen, ein Mittelwert von etwa fünf Urteilssprüchen je Seite lässt sich jedoch nicht nur nominal ermitteln, sondern prägt dieser auch das Quellenbild, vgl. bspw. StABS ÄNA GA A 22, fol. 3v, 21r, 49v, 71v; A23, fol. 103r, 114r, 134v; A24, fol. 10v, 16r, 52r; A25, fol. 15v, 42r. Rechnet man diesen Mittelwert weiter, lägen mit den fokus-
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zwar unerlässlich, der Einblick in die jeweiligen Verfahren damit jedoch alles andere als eindimensional.⁶² Sieht man nämlich von den eher einfachen Urteilen ab, die in der Regel nur wenige Zeilen fassen und gescheiterte Schuldbeziehungen behandeln,⁶³ lassen komplexe Einzelurteile ebenso Rückschlüsse auf die Basler Rechtspraxis zu⁶⁴ wie Streitfragen, die mit einer Vielzahl an Urteilssprüchen dokumentiert beziehungsweise geschlichtet wurden. Wenn auch die Basler Gerichtsschreiber seit den 1420er Jahren in der Regel darauf bedacht waren, ihre Einträge in das Urteilsbuch der Sache wegen ordentlich und kurz zu halten, scheint das „KürzeIdeal“ nicht konsequent realisierbar gewesen zu sein.⁶⁵ Diese (Sonder‐)Fälle treten augenfällig aus der Materialfülle hervor und wecken das gesteigerte Interesse des Historikers, sodass sie nachfolgend zur Diskussion gestellt werden.
2.3 Auseinandersetzung mit überregionalen Appellationsinstanzen Das erste Beispiel datiert auf das Frühjahr 1437 und ist im Hinblick auf die Spruchpraxis des Basler Stadtgerichts aus zweierlei Gründen von Interesse. Zum einen wurde der Urteilsspruch nicht regulär im Gerichtsbuch notiert, sondern jenseits der alltäglichen Dokumentationsroutine auf einem gesonderten Stück Papier niedergeschrieben und nachträglich zwischen die Folioseiten des 21. Urteils-
sierten fünf Urteilsbüchern und den dort gezählten ca. 1.900 Seiten insgesamt mindestens 9500, aufgerundet gar 10.000 Urteile vor. „Das Spektrum der Klagegegenstände […] reicht von alltäglichen Streitereien bis hin zu spektakulären Auseinandersetzungen um beträchtliche Vermögenswerte“, Wieland Carls, Rechtsanfragen und Rechtssprüche, in: Köster/Link/Lück (Hrsg.), Kulturelle Vernetzung (wie Anm. 14), S. 127– 143 (hier S. 139). Im Verlauf des 15. Jahrhunderts werden die ‚einfachen‘ Schuldbekenntnisse zwar in separate Vergichtbücher (StABS ÄNA GA C) eingetragen, die Schuldfrage wird aber durchaus auch vor Gericht diskutiert und infolgedessen in die Urteilsbücher eingetragen, vgl. Signori, Schuldenwirtschaft (wie Anm. 46), S. 25–34. Überhaupt sind die Spuren, die in den mittelalterlichen Gerichtsakten von Kreditund Schuldbeziehungen zeugen, zahlreich, vgl. Peter Schuster, The Age of Debt? in: Gabriele B. Clemens (Hrsg.), Schuldenlast und Schuldenwert. Trier 2008, S. 37–52 (hier S. 39 f.). „Gerade bei der Untersuchung prozessualer Hergänge ist man weitgehend auf längere Eintragungen angewiesen, die den ganzen Ablauf eines Prozesses beschreiben. Solche Stellen sind aber im Vergleich zu den knappen Protokollen immer in der Minderzahl“, Steininger, Das Zivilgerichtsverfahren (wie Anm. 55), S. 2. Es war Adalbert Erler, der den „Drang der Schreiber nach Kürze“ als Kürze-Ideal bezeichnete und ergänzend davon ausging, dass diese Kürze „nicht auf Einfalt, sondern im Gegenteil auf Meisterschaft“ beruhe, vgl. Erler, Die älteren Urteile (wie Anm. 38), S. 22 f. (hier S. 22).
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buchs eingebunden.⁶⁶ Freilich gehörten auch Nachträge und Einschübe zur Alltagsroutine der Gerichtsbuchführung, allerdings stellen derartige Einfügungen die Ausnahme, nicht die Regel dar.⁶⁷ Zum anderen ist die Form der Erkanntnis augenfällig, da sie nebst einleitender Wortwahl zunächst mit einer Reihe an feinsäuberlich gelisteten Namen eröffnet, die dem vor Gericht stehenden Ulrich Münch als Leumundszeugen beistanden.⁶⁸ Ein derartiges Schriftbild findet sich in den Urteilsbüchern ausgesprochen selten. Weiter stellt der Eintrag ins Gerichtsbuch nicht nur aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit und Schriftform einen diskussionswürdigen Urteilsspruch dar, auch der Inhalt des Rechtsaktes ist außergewöhnlich. Während die Quelle sich im Hinblick auf den eigentlichen Streitgegenstand in Schweigen hüllt, betont sie zunächst mehrfach und nachdrücklich, dass wed[er] min hren weder daz gericht noch gemein statt noch niemand den Iren […] mit deheiner anderen gericht […] mit bekunden noch […] darumb mit züfügen noch tün söllent in dehein wyß. ⁶⁹ Eine Berufung gegen das Urteil sei dementsprechend nicht möglich, zumindest nicht erwünscht; so wäre der besten urteil on der sach ⁷⁰ nicht nur schon beschlossen, sondern dieses am Basler Stadtgericht auch mit Recht gefunden worden. Infolgedessen habe sich der beklagte Ulrich Münch in der Sache zu bekennen und dem Urteil zu fügen.⁷¹ Wenn auch sich die Vorgeschichte des Prozesses hier überlieferungsbedingt nicht nachzeichnen lässt, sollte doch davon ausgegangen werden, dass ein derart deutlich formulierter Urteilsspruch inklusive ausführlicher Leumundsliste nicht aufgrund eines einzigen Gerichtstermins zustande kam. Gegebenenfalls
Vgl. StABS ÄNA GA A21, fol. 8a. Vergleicht man beispielsweise die Schreiberhand dieses Urteilsspruchs mit den vorrangegangenen und nachfolgenden Einträgen im Gerichtsbuch (ebd., fol. 3v f.; exkl. fol. 6/7, die offenbar aus anderer Hand stammen), liegt man wohl mit der Annahme richtig, dass es derselbe Schreiber bzw. der Basler Gerichtsschreiber war, der das Stück anfertigte. Diese Beobachtung ist bemerkenswert, da bei den nachträglichen Beigaben oftmals andere Hände zu identifizieren sind (vgl. bspw. ebd., fol. 4a). Zur Identität des Stadt- und Gerichtsunterschreibers August Bernoulli, Die Stadtschreiber, Rathschreiber und Substitute bis 1550, in: Basler Chroniken, 11 Bde. Leipzig 1872–1987, Bd. 4, Nr. I. II., S. 131–142 (hier S. 134). Vgl. StABS ÄNA GA A21, fol. 8a: da versprächend dies nach genempten by iren gesprechend eyden […] für Ulrichen Münch den Tëschenmacher von Nüremberg. Es darf angemerkt werden, dass es sich bei Erkanntnis um einen Quellenbegriff handelt, der auf die sogenannten „Erkantnisbücher“ verweist, die seit dem 15. Jahrhundert im StABS überliefert sind und ihren Namen der allgemeinen Urteilsformulierung verdanken (vgl. StABS ÄHA Ratsbücher B1–B5). Allgemein dazu Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 100–106. StABS ÄNA GA A21, fol. 8a. Ebd. Vgl. ebd.: und wazz och hie in der sach mit Urteil und recht gienge und erkent wurde […]. der genannt Ulrich Munch sich […] in der sach bekennt wirt ze fügend.
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ist gar die Vermutung berechtigt, dass das Urteil über den vor Gericht stehenden Ulrich Münch in der vorliegenden Form überhaupt erst erging, weil dieser das zuvor versucht hatte, was ihm nun untersagt wurde: Die Appellation an ein anderes als das Basler Gericht. Gerechtfertigt wird diese Annahme durch einen vergleichbaren, besser rekonstruierbaren Fall, der 1435/1436 seinen Niederschlag in den Basler Gerichtsbüchern fand.⁷² Nachdem der im Frühjahr 1433 wegen Diebstahls festgesetzte Hans Ravenspurger aus dem Gefängnis entlassen wurde, schwor dieser zwar Urfehde und gelobte, seine Strafe weder zu rächen, noch solich sach […] mit deheim fromden gerichten weder nu noch hienach ze bekumbernde noch anzelangende. ⁷³ Jedoch brach er dieses Versprechen zweieinhalb Jahre später, im November 1435. Anlass dazu gab ein Prozess gegen Stephan Rychental, der ebenfalls wegen Diebstahls angeklagt, trotz erkannter Schuld aber nicht zu einer Gefängnisstrafe, sondern lediglich zum Begleichen der entstandenen Gerichtskosten verurteilt wurde.⁷⁴ Da Ravenspurger selbst es war, der Rychental beschuldigt und vor Gericht gebracht hatte, empfand er das Urteil freilich nicht nur als ungerecht, sondern forderte auch Schadensersatz in Höhe von 235 Gulden. Eine derartig hohe Summe waren Rychentals Bürgen jedoch nicht zu zahlen bereit, sodass Hans Ravenspurger Basel verließ, um sein Recht jenseits der Rheinstadt zu suchen.⁷⁵ In jener Klage, die er beim westfälischen Gericht des Freigrafen zu Volmenstein vorbrachte,⁷⁶ vermengte Ravenspurger die beiden Streitfälle, sprich den eigenen Prozess wegen Diebstahls 1433 und jenen gegen Rychental 1435, nun derart, dass er einen Zusammenhang der
Der Rechtsbruch (Diebstahl, gestraft mit Gefängnis), der den 1435/1436 verhandelten Gerichtsprozess auslöste, ereignete sich im Frühjahr 1433. Vgl. Urkundenbuch der Stadt Basel, 10 Bde. Basel 1890–1908 (künftig: UBStB), Bd. 6, Nr. 317; Urk. II./Prozess Ravenspurg Nr. a–m, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte 8 (1866), S. 29–57. Weiter auch die entsprechende Quellendiskussion bei Andreas Heusler, Die Berührungen Basels mit den westfälischen Gerichten, in: ebd., S. 1–24 (hier S. 13–19). Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. b, S. 32–34 (hier S. 33). In einer Kundschaft gab Rychental zu Protokoll, dass er wegen der Sache bereits in seiner Jugend in gefengnusse […] gestraffet were worden. Das Gericht schien dieser Aussage zu folgen, sodass Rychental sich nit bessern sölte, aber sinen kosten der von Gerichtes wegen zahlen müsse, vgl. Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. c, S. 34–37 (hier S. 35 f.). Vgl. ebd., S. 36. Über die Verhandlungen berichtet weiter auch Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. e, S. 39–42. Freigraf zu Volmenstein war derzeit Heinrich von Voerde. Vgl. allgemein zu den westfälischen Gerichten Eberhard Fricke, Die Feme, in: Westfälische Zeitschrift 156 (2006), S. 25–65 (hier S. 36–50); Albert K. Hömberg, Die Veme in ihrer zeitlichen und räumlichen Entwicklung, in: Hermann Aubin/ Franz Petri (Hrsg.), Der Raum Westfalen, Bd. 2.1: Untersuchungen zu seiner Geschichte und Kultur. Münster (Westfalen) 1955, S. 139–170 (hier S. 143–152); Theodor Berck, Geschichte der westphälischen Femgerichte. Bremen 1815, S. 205–230; Theodor Lindner, Die Veme. Münster/Paderborn 1888, S. 475 f., 506 f.
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Rechtsfragen suggerierte und daraus die eigene Unschuld respektive unrechte Bestrafung seines Diebstahldeliktes ableitete.⁷⁷ Daraufhin versuchte man sich in Basel zunächst außergerichtlich mit Ravenspurger zu vergleichen. Dieses Anliegen scheiterte jedoch,⁷⁸ sodass die Basler eine Gesandtschaft zum Freigrafen zu Volmenstein sandten,⁷⁹ die die verdrehten Tatsachen zu erläutern und die Unrichtigkeit der Klage darzulegen suchte. Jenseits der eigenen Bannmeile war die Verhandlungsposition jedoch einerseits ungünstig, andererseits die Beschwerde des Hans Ravenspurger derart triftig formuliert (Gefangenschaft trotz Unschuld und keine Schadensersatzzahlung), dass das westfälische Gericht die Appellation verhandeln musste.⁸⁰ Da Ravenspurgers Klage einem Angriff auf die Rechtskraft der Basler Urteilssprüche gleichkam, wurde der Prozess äußerst vehement verhandelt.⁸¹ Beim entscheidenden Gerichtstermin war jedoch dat Hans Rauensberg dar nicht […] noch nemant van synre wegen, sodass der Richter der Basler Position, bewyseden myt openen beselden breynen, zusprach und urteilte, eff wat dar [in Basel] recht vmen were. ⁸² Der Basler Rat ließ es dabei aber nicht bewenden und klagte im Frühjahr 1436 seinerseits gegen den Querulanten, in Hinblick auf die 1433 geschworene Urfehde vermutlich wegen Meineids.⁸³
Vgl. Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. g, S. 43–47; so auch Heusler, Die Berührungen Basels (wie Anm. 72), S. 16. Vgl. Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. d–e, S. 37–42. Hier in Person der bekannten Basler, Henman Offenburg und Heinrich Halbysen.Vgl. UBStB (wie Anm. 72), Bd. 6, Nr. 317 VI. Über das Gerichtsverfahren informiert Lindner, Die Veme (wie Anm. 76), S. 303–409, 510 f., 529– 626. Überhaupt wurde das westfälische Gericht unter Freigraf zu Volmenstein in den 1420er und 1430er Jahren in zahlreichen Fällen als Appellationsinstanz angerufen, vgl. F. Ph. Usener, Die Freiund heimlichen Gerichte Westphalens. Frankfurt a. M. 1832, S. 288; Berck, Geschichte (wie Anm. 76), S. 378 f.; im Anhang ebd. auch Urk. Nr. 11. Vgl. Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. f, S. 42 f.; Nr. a, S. 29–32. Vgl. Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. g, S. 43–47 (hier S. 44 f.). A prima vista mag zwar Hans Ravenspurgers Abwesenheit beim letzten Gerichtstermin den Ausschlag für ein Urteil zugunsten Basels gegeben haben, insgesamt muss jedoch das lange Verfahren betont werden, indem derselbige zwar wiederholt klagte, gleichsam aber keine Beweise für seinen Standpunkt vorbrachte; die Basler Gesandtschaft konnte letztere hingegen in Form gesiegelter Briefe vorbringen (bewyseden myt openen beselden breynen, ebd., S. 45). Schließlich betont der Urteilsspruch, dass Ravenspurger dem gerychte gehorsam syn solle und ind der clage quyd ledich ind loys gewyset syn, eff sie de vorg. Cleger eff ymant van synre wegn vorder vmen der sake willen hyr eff anderswar myt gerychte van der klage wegn anlagen solle eff wat dar recht umb sy, ebd., S. 45 f. Vgl. Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. h–l, S. 47–52. Auch dieser Prozess endete mit einer Verurteilung Hans Ravenspurgers, infolge derer er für rechtlos erklärt wurde (Urk. II. (wie Anm. 72) Nr. m, S. 53–57).Vgl. weiter auch die Ausführungen bei Heusler, Die Berührungen Basels (wie Anm. 72), S. 1–24 (hier S. 13– 19), denen der Autor hier weithin gefolgt ist. Die Beschimpfung, jene Basler Bürger, die überregionale Gerichte als Appelationsinstanz anriefen, seien Querulanten gewesen, geht auf Rudolf Wa-
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Derartige Streitigkeiten um die eigene Gerichtsbarkeit beschäftigten Basel – sowie auch andere Städte des süddeutschen Raums⁸⁴ – jedoch nicht erst seit den 1430er Jahren. Das Bemühen der Basler, die Geltung des eigenen Stadtgerichts nachhaltig zu sichern, ist schon im 14. Jahrhundert, spätestens um 1370 nachweisbar. Nachdem man in dieser Zeit wiederholt nicht hatte verhindern können, dass Basler Bürger vor fremde Gerichte gestellt wurden, ersuchte man den Kaiser um Hilfe.⁸⁵ Karl IV. entsprach dem Gesuch der Basler, er möge die (Rechts‐)Verbindlichkeit der städtischen Gerichtsinstitution stärken und damit die Abgrenzung zu anderen Instanzen sichern, und befahl 1372 entsprechende Verfahren einzustellen.⁸⁶ Inwieweit das kaiserliche Urteil tatsächlich auf die alltägliche Gerichtsbarkeit und ihre Geltungsräume einwirken konnte, wäre zwar allgemein zu diskutieren,⁸⁷ unabhängig davon dürfte sich der Basler Rat mit dem Erhalt des Privilegs jedoch in seinen Bestrebungen bestärkt gefühlt haben. Letzteres dann derart, dass er die
ckernagel zurück, vgl. ders., Geschichte der Stadt Basel, Bd. 2.1. Basel 1911, S. 31. Ihm zufolge sei das „Hereingreifen fremder Richter“ in die Autonomie des Basler Gerichts nicht nur ein gewalttätiges Vorgehen, sondern schlicht „ein Unfug“, ebd., S. 326. Vgl. u. a. Signori, Schrift und Recht (wie Anm. 44). Allgemein auch Hömberg, Die Veme (wie Anm. 76); Fricke, Die Feme (wie Anm. 76). Für den Raum der heutigen Schweiz im Spätmittelalter dann bspw. Urkunden zu Beleuchtung der Thätigkeit der westphälischen Gerichte in der Eidgenossenschaft (bearb. v. C. v. Reding und A. Näf-Oberteuffer), in: Archiv für Schweizerische Geschichte 3 (1844), S. 291–360. Die vielfachen Beschwerden, die den Kaisern im Streit um die Gerichtsbarkeiten vorgebracht wurden, „klagen [… stets gegen] die verursachten Mühen, Umtriebe und Kosten“, Lindner, Die Veme (wie Anm. 76), S. 606. Vgl. UBStB (wie Anm. 72), Bd. 4, Nr. 355. Hier muss zwar allgemein angemerkt werden, dass im 14. Jahrhundert noch keine geordnete Appellationsgerichtsbarkeit der weltlichen Gerichtsinstanzen bestanden hat, sodass es sich bei dem genannten Privileg Karls IV. wohl eher um ein Gerichtsstandsprivileg gehandelt haben dürfte, wonach die eigenen Herrschaftsunterworfenen nicht vor fremde Gerichte gezogen werden sollten. Jedoch sollte diese Beobachtung den Blick auf die Ausbildung des hiesigen Rechtssystems, das im 15. Jahrhundert, beispielsweise unter Friedrich III., präziser greifbar wird, nicht verstellen, da das Bedürfnis nach Aushandlungsprozessen divergierender Rechtsräume durchaus schon vor 1400 erwacht, vgl. auch Anm. 21. Für den Anstoß zu dieser kritischen Note dankt der Verfasser den Herausgebern. Privilegien statuieren zwar die Autonomie einer Stadtgemeinde, jedoch sind diese in ihrer rechtlichen sowie ökonomischen Ausgestaltung „sehr unterschiedlich“, der Rechtsstatus einer Stadt und seiner Bürger also stets diskussionsbedürftig, vgl. Josef Hrdlička, Zugang zum Text – Zugang zur Macht? in: Sawilla/Schlögel (Hrsg.), Medien der Macht (wie Anm. 44), S. 169–186 (hier S. 170). So zeigt das oben diskutierte Beispiel vornehmlich an, „wie die Stadt Mühe und Noth genug hatte, für ihre Bürger das Privileg des ausschließlichen Gerichtsstandes vor dem Schultheißen zur Geltung und Kraft zu bringen“, Heusler, Die Berührungen Basels (wie Anm. 72), S. 12.
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Rechtskraft der Schultheißengerichtssprüche 1387 auch mit eigener Feder zu stärken suchte.⁸⁸ Infolgedessen darf zwar geschlussfolgert werden, dass der Basler Rat in den 1430er Jahren, hier bezüglich der Causa Ravenspurger, offenbar gewillt war, das rechtsabtrünnige Verhalten Einzelner als Exempel zu statuieren, um die Geltung des eigenen Stadtgerichts respektive die Rechtskraft der hiesigen Urteilssprüche nach außen hin zu sichern.⁸⁹ Von besonderer Nachhaltigkeit schien dieses Vorgehen jedoch nicht gewesen zu sein, da die Basler im Mai 1454 ein generelles Appellationsverbot gegen ihre Urteilssprüche erließen: daz hinnathin nyemand der […] vor unserm gericht ze rechtigen hant, von dheinen des selben gerichts urteilen nit appelieren sollent wenig noch vil in dhein wise. ⁹⁰ Indem dieses neue Stadtrecht an den Jahreid geknüpft wurde, sollte die Verbindlichkeit des Verbots zwar de jure gesteigert und die Durchsetzung der Basler Urteilssprüche insgesamt gesichert werden,⁹¹ jedoch vermochte auch dieses Vorhaben den entsprechenden (Rechts‐)Schutz nicht zu gewähren. So erklärte Kaiser Friedrich III. im August 1460 im Kontrast
Vgl. RQvB (wie Anm. 19) Nr. 43: dar umbe erkennet, das […] niemant, dem von solicher sachen wegen utzit vor unsers schultheissen gerichte erteilt wirt und mit urteil und recht ervolget, twengen sólle da von ze lassende. Ein Ratserlass vom November 1387 sollte des Weiteren auch die ordentliche Exekution der Basler Urteilssprüche sichern, vgl. RQvB (wie Anm. 19) Nr. 44. Die beiden Rechtssätze ergingen wohl infolge der Schlacht beim Sempach und der anschließenden Erwerbung der Vogtei 1386 zwecks Festigung der jüngst erworbenen Gerichtsbarkeit innerhalb der eigenen Bannmeile und zeigen die Bereitschaft an, die Geltungskraft des Stadtgerichts auch nach außen hin zu verteidigen, vgl. allgemein Gustav Steiner, Basels Weg zur Stadtfreiheit und zur eidgenössischen Gemeinschaft. Basel 1945. Ein weiteres Fallbeispiel findet man bei Signori, Schrift und Recht (wie Anm. 44), S. 109–118. Der ebenda geschilderte Streit dauerte beinah eineinhalb Jahrzehnte an (1456–1470), in denen der Basler Rat, z. T. in Form stupider Hinhalte-Taktik, tunlichst darum bemüht war, der klagenden Brigitta Balmoser kein Recht jenseits des eigenen Stadtgerichts zukommen zulassen. RQvB (wie Anm. 19) Nr. 146. Im 15. Jahrhundert ist der Basler Jahreid insbesondere im sogenannten Rufbuch überliefert, vgl. StABS ÄHA Ratsbücher J1, bspw. fol. 4v, 24r, 100v, 126r; dazu auch Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 24, Anm. 54. Die Verbindlichkeit des jährlichen Bürgereids wurde in Basel wiederum schon 1420 geordnet, indem die Verweigerung des Schwurs mit Aufhebung der Freiheit von Rechtsbeschlag für Einsassen bestraft wurde, vgl. RQvB (wie Anm. 19) Nr. 110. Siehe ergänzend auch die Bürger- und Zunftrechtsbedingungen sowie die entsprechende Erneuerung des Zunftrechts im Roten Buch der Stadt, vgl. StABS ÄHA Ratsbücher A1, fol. 148v-150r. Allgemein dann Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. 2. Aufl. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 145–148: „Der Bürgereid verpflichtet generell zu Treue und Gehorsam gegenüber dem Rat sowie zum Einsatz für den Nutzen und die Ehre der Stadt“, ebd., S. 146. Derart war mit dem Jahreid dann v. a. die Gerichtsbarkeit des Rates anzuerkennen und zu schwören, dass man nur vor dem (eigenen) Stadtgericht Recht suchen würde.
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zu seinen Vorgängern, dass dieser sowie ähnlich lautende Erlasse verschiedener Fürsten und Städte null und nichtig seien, da ein derartiges Vorgehen einen inakzeptablen Eingriff in die Unabhängigkeit und Freiheit der überregionalen Gerichtsinstanzen darstelle.⁹² In der Konsequenz schloss Basel sich ein Jahr später, im Dezember 1461, mit mehreren Fürsten und Städten zu einem Abwehrbündnis gegen die westfälische Gerichtsbarkeit zusammen,⁹³ worin man allen Untertanen verbot, Recht vor den entsprechenden Instanzen zu suchen.⁹⁴ Aber egal, wie man das Bündnis interpretiert, ob man derartige Übereinkünfte zwischen den Städten gar als „notwendige Voraussetzungen unerlässlichen Rechtsschutzes […] [und derart als] zwischenstädtische Gerichtsbarkeit“⁹⁵ versteht, den Streit um die überregionalen Appellationsinstanzen im Spätmittelalter vermochte dieser Zusammenschluss nicht zu beenden. Denn in den folgenden Jahren waren die süddeutschen und eidgenössischen Städte weiterhin in Prozesse der westfälischen Gerichte verwickelt. Überhaupt ging der Versuch, stadtinterne Gerichtsbarkeit verbindlich zu etablieren, unweigerlich mit Konkurrenzkämpfen gegen überregionale Gerichtsinstanzen einher. Dabei waren die Femegerichte zu Westfalen nicht die einzige Gerichtsinstanz, die überregional agierte;⁹⁶ daneben traten im 15. Jahrhundert auch konkurrierende Landes- oder Stadtherren, diverse Oberhöfe sowie andere übergeordnete Freigerichte. Aufgrund der Nähe zum königlichen Hofgericht und gemessen an den vielen Prozessen, die in Westfalen verhandelt wurden, waren die
Vgl. Cartulaire de Mulhouse, 6 Bde. Strassburg/Colmar 1883–1890, Bd. 2, Nr. 835: vnns ist angelangt wie das durch etlich der westualischen richtere vnd gericht […] ergangen vrtail vnd processz vff ettlich vermeint appellacion […] zů zeitten beschehen, vnd in anderwege zů verhindern, zů beleidigen und zů rechtuerttigen, […] darumb ladung vszgeen zů lausen vnd verbott ze tůnde. Vgl. auch UBStB (wie Anm. 72), Bd. 8, Nr. 139. Zu diskutieren wäre hierbei, inwiefern der Kaiser weniger die freien Gerichte zu Westfalen, sondern vielmehr das eigene Hofgericht zu schützen versuchte, da letzteres der Kategorie nach ja auch frei respektive von überregionaler Bedeutung war. Vgl. UBStB (wie Anm. 72), Bd. 8, Nr. 177. Die Beteiligten erklärten, dass sie mit westvelschen gerihten furgenommen beleidiget besweret und getriben worden sint, ouch tegelich zů verderplichem costen und schaden broht werdent witer und verrer. Wenn auch man anerkenne, dass die Freigerichte zu Westfalen kaiserlich gestiftet und immer wieder bestätigt wurden, sehe man sich dringend genötigt, allen iren undertanen […] an libe und an gut, […] umb deheinerley sache mit westvelschen gerihten nachdrücklich zu verbieten, ebd., S. 141. es sy dann, das der solich sin Sachen vormols an sinen ohern broht und den mit glöiplicher kuntschafft underrihtet habe, das es zü tůn sy umh solich sachen, die an das geriht gon Westvalen gehören sint, ebd. Karl Siegfried Bader, Die Entwicklung und Verbreitung der mittelalterlichen Schiedsidee in Südwestdeutschland und in der Schweiz, in: ders., Schriften zur Rechtsgeschichte. Sigmaringen 1984, S. 226–251 (hier S. 239). Vgl. Signori, Schrift und Recht (wie Anm. 44), S. 104.
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dortigen Femegerichte jedoch außerordentlich erfolgreich.⁹⁷ Schließlich wäre zwar zu diskutieren, ob die Autonomie der Basler Gerichtsbarkeit nicht überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit anderen Gerichtsinstanzen Gestalt angenommen hat.⁹⁸ Das dahinterstehende Erklärungsprinzip à la „challenge and response“ mündet jedoch in der Erkenntnis, dass die Rechtsgeschichte einer jeden Stadt von der Anstrengung geprägt ist, die eigene Gerichtsbarkeit von fremden Einflüssen frei zu halten.⁹⁹ In der entsprechenden Verschränkung von (alltäglicher) Rechtspraxis und (werdender) Rechtsnorm zeichnet sich dann das überlieferte Bild spätmittelalterlicher (Stadt‐)Gerichtsbarkeit ab.
3 Fazit Die Ausführungen zur Basler Gerichtsbarkeit in der Auseinandersetzung mit überregionalen Appellationsinstanzen im 15. Jahrhundert (2.3) haben zunächst zweierlei gezeigt. Erstens, dass die Bemühungen des Basler Rats, seine Gerichtsbarkeit nach außen hin zu verteidigen, weder ein Einzelereignis noch ein Alleinstellungsmerkmal der Rheinstadt darstellen. Andere Städte des süddeutschen Raums hatten ähnliche Prozesse auszufechten, die zum Teil „tiefe Spuren“¹⁰⁰ in ihren Rechtsgeschichten hinterließen.¹⁰¹ Wenn auch der Streit um die Gerichtsbarkeit somit nicht neu war, kann vor dem Hintergrund der allgemeinen Beschreibung der Urteilsbücher (2.1) sowie der daraus abgeleiteten Charakterisierung der Quelle (2.2) doch zweitens geschlussfolgert werden, dass sich der Ton verschärfte, mit dem sich der Schutz der eigenen Rechtssphäre in den Amtsbüchern der Stadt niederschlug. Schließlich veränderte sich im frühen 15. Jahrhundert auch die Form, mit der die Gerichtsschreiber die Erkanntnisse des Basler Stadtgerichts dokumentierten. In diesem Sinne wäre weiter festzuhalten, dass der Basler Stadtrat seine erst 1385 erworbene, städtische Judikative nicht nur mit und gegen den Basler Bischof als Stadtherren zu organisieren,¹⁰² sondern eben auch jenseits der eigenen Bannmeile Vgl. ebd. Ihren Höhepunkt erreichte die Feme zwar schon 1440, denn gegen Mitte des Jahrhunderts sind ganze Landschaften davon nicht mehr betroffen. Jedoch waren die Städte des heutigen Schweizer Raums auch in den 1460er Jahren noch in zahlreiche Prozesse der Femegerichte verwickelt, vgl. Hömberg, Die Veme (wie Anm. 76), S. 168 f. Vgl. Signori, Schrift und Recht (wie Anm. 44), S. 120 f. Allgemein auch Weitzel, Der Kampf um die Appellation (wie Anm. 21). Heusler, Die Berührungen Basels (wie Anm. 72), S. 10 f. Signori, Schrift und Recht (wie Anm. 44), S. 118. Vgl. bspw. Urkunden zu Beleuchtung der Thätigkeit der westphälischen Gerichte (wie Anm. 84). Vgl. UBStB (wie Anm. 72), Bd. 5, Nr. 41. Allgemein Hagemann, Basler Rechtsleben (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 15 f., 36 f.; weiter auch ebd., Bd. 1, S. 19, 42, 142 f.
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zu verteidigen hatte. Der Kampf um die Unabhängigkeit der eigenen Justiz musste folglich an mehreren ‚Fronten‘ ausgetragen werden. Wenn auch der Basler Rat parallel Bündnisse zur Wahrung der eigenen Gerichtsbarkeit schloss, brachte erst die Hinwendung der Rheinstadt zur Eidgenossenschaft, die spätestens seit der Schlacht von St. Jakob an der Birs 1444 greifbar wird,¹⁰³ den Willen zum Ausdruck, einen überregionalen Rechtsraum zu etablieren. Mundiert wird dies im Bundesbrief vom 9. Juni 1501,¹⁰⁴ mit dem sich Basel mittel- und langfristig der königlichen Herrschaft sowie der Rechts- und Gerichtslandschaft des römisch-deutschen Reiches zu entziehen versuchte.¹⁰⁵ Ergänzend können die Ausführungen dann auch an die hiesigen zwölf Thesen der Herausgeber angelegt werden.¹⁰⁶ Denn die Basler Gerichtsüberlieferung zeugt seit der Zeit um 1400 einerseits von einer stetigen Entwicklung der Gerichtsbücher respektive einer Spezialisierung des Basler Gerichtsverfahrens (2.1), sodass die Entstehung eines institutionalisierten Justizwesens beobachtet werden kann (These II.). Andererseits führen die Basler Urteilsbücher dem Historiker nicht nur die Dokumentation der Gerichtsverhandlungen vor Augen, sondern es wird mit der Charakterisierung der Quelle als Prozessprotokollbuch (2.2) auch die alltägliche Schriftlichkeit im Gerichtswesen betont (These III.): Die Gerichtsschreiber waren keinesfalls auf Vollständigkeit der Dokumentation bedacht, sondern vielmehr einem Kürze-Ideal verpflichtet. Demzufolge ist diese (Früh‐)Phase der Rechtsgeschichte, die hier in Form des Spätmittelalters und im Kontrast zu den einschneidenden Entwicklungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Fokus der Betrachtung
Seit dieser Zeit habe es innerhalb der Basler Stadtgemeinde eine „überzeugte Gruppe von Anhängern der Eidgenossenschaft“ gegeben, vgl. Friedrich Meyer, Die Beziehungen zwischen Basel und den Eidgenossen. Basel 1952, S. 202; weiter auch ebd., S. 84–111. Allgemein dann Claudius SieberLehmann, Neue Verhältnisse. Das eidgenössische Basel zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Marco Bellabarba/Reinhard Stauber (Hrsg.), Identità territoriali e cultura politica nella prima età moderna. Bologna 1998, S. 271–300 (hier S. 272). Albert Bruckner, Basels Weg zum Schweizerbund, in: ders./ Edgar Bonjour, Basel und die Eidgenossen. Geschichte ihrer Beziehungen zur Erinnerung an Basels Eintritt in den Schweizerbund 1501. Basel 1951, S. 9–143 (hier S. 33), misst dem entsprechenden Friedensvertrag vom 24. Oktober 1444 zwar ebenfalls eine bedeutende Rolle zu, sieht die eigentliche Hinwendung Basels zur Eidgenossenschaft aber erst im Schwabenkrieg 1499, vgl. ebd., S. 36–108. Thomas A. Brady, Turning Swiss. Cities and Empire 1450–1550. Cambridge 1985, datiert den Prozess des ‚Schweiz-Werdens‘ ganz allgemein auf den Zeitraum 1450–1550. Vgl. UBStB (wie Anm. 72), Bd. 9, Nr. 272, bzgl. der Gerichtsbarkeit, S. 198, 200 f. Allgemein SieberLehmann, Neue Verhältnisse (wie Anm. 103), S. 278 f. Ähnlich dazu auch Bernhard Stettler, Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner. Zürich 2004, S. 203–206. Vgl. Brady, Turning Swiss (wie Anm. 103), S. 37. Vgl. die einleitenden Ausführungen in diesem Band.
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stand,¹⁰⁷ in Hinblick auf Verfahrensarten und -stadien derart lückenhaft überliefert, dass sie vollständig nicht zu rekonstruieren ist. Die Causae Münch und Ravenspurger zeigen schließlich die Auseinandersetzung des Basler Stadtgerichts mit überregionalen Appellationsinstanzen auf (2.3), sodass die Kommunikation zwischen verschiedenen Akteuren der Gerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert ebenso angesprochen ist wie der (noch eher unregulierte, zumindest mit schriftlichen Rechtsnormen nicht durchdefinierte) Instanzenzug der Appellation als Rechtsmittel (These V. und VI.). Insgesamt zeigt der oben zur Diskussion gestellte Streit mit dem westfälischen Gericht, welches im Hinblick auf die Basler Rechtssache in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Appellationsinstanz fungierte (2.3), dass das Mit- und Gegeneinander der (Stadt‐)Gesellschaft zwar lokal reguliert wurde und seitens der Stadtverwaltung auch mit Ratserlassen gesichert werden sollte. Jedoch erfüllten weder lokale Regulationen noch entsprechende Sicherungsmechanismen die Bedürfnisse eines Stadt- und Rechtsfriedens ganzheitlich. Gleichsam fehlte es der spätmittelalterlichen (Stadt‐)Gerichtsbarkeit an Kontrollinstrumenten und Durchsetzungsinstanzen, die abseits der Stadtmauer ad hoc hätten rechtskräftig tätig werden können. Infolgedessen war der Basler Rat immer wieder gezwungen, lokal geltende Rechtsnormen überregional zu verteidigen, und variierte in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gerichtsinstanzen dann sowohl das Vorgehen als auch das Strafmaß von Fall zu Fall.¹⁰⁸ Wenn auch der städtische Rechtsraum im 15. Jahrhundert zunehmend schriftlich definiert wurde, war seine Verbindlichkeit jenseits der eigenen Bannmeile doch gerade auch mündlich zu verteidigen. Die Ausschließlichkeit eines Extrems (schriftliche oder mündliche Verteidigung des eigenen Rechts) ist indessen nicht anzunehmen, die getroffene Unterscheidung
Die sogenannte Reformation der Stadtrechte bzw. die damit einhergehende Scheidung der Gerichtszuständigkeiten sowie Spezifizierung der Gerichtsordnungen setzt bei einem überwiegenden Großteil der Städte erst mit dem 16. Jahrhundert ein und dauert oftmals bis weit nach 1600 an, vgl. allgemein Isenmann, Die deutsche Stadt (wie Anm. 91), S. 181–192, 195–198, 490 f. Siehe bspw. auch Michael Rothmann, Schulden vor Gericht. Die Frankfurter Messegerichtsbarkeit und der Messeprozess in Mittelalter und beginnender Früher Neuzeit, in: Anja Amend/Anette Baumann/ Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hrsg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich. München 2008 (bibliothek altes Reich, Bd. 3), S. 285– 303 (hier S. 295–299). Jenseits jener Rechtsprechung, die auf schriftlich fixierten Regelungen basierte, hielt sich die Praxis, ex aequo et bono zu urteilen, in Basel weit über das 15. Jahrhundert hinaus, vgl. bspw. die Urteilspraxis des Basilius Amerbach über das Basler Erbrecht 1573 bei Hans Thieme, Die beiden Amerbach, in: L’Europa e il diritto romano. Mailand 1954, S. 137–177 (hier S. 156–158, 170–173).
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rechtsräumlicher Norm-/Praxisbezüge soll jedoch zur Abstraktion und Generalisierung des Themas beitragen.¹⁰⁹ Somit bleibt die einleitend gestellte Frage, welche Grundregeln das Zusammenleben der mittelalterlichen Gesellschaft bestimmt haben könnten, zumindest dahingehend unbeantwortet, dass kein umfassender Katalog geltender Rechtsnormen und alltäglicher Rechtspraxis zusammengetragen wurde. Insgesamt belegt der Streit um die Gerichtsbarkeit im Spätmittelalter hier aber das Selbstbewusstsein der Basler für die eigene Gerichtsinstitution und die damit einhergehende Rechtsverbindlichkeit der Urteilssprüche. Damit kommt das gesellschaftliche Bestreben zum Ausdruck, Rechtsräume nicht nur aktiv zu gestalten, sondern auch nachhaltig zu etablieren. So zeigt die (anhand der Fallbeispiele rekonstruierte) Rechtspraxis doch das Selbstverständnis des Stadtbürgertums in einer entscheidenden Phase seiner Rechtsgeschichte an. Über das spätmittelalterliche Basel könnte man – auch mit Rückgriff auf die Diskussion um Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Gerichtswesen – schließlich folgendes urteilen: Die Dokumentation einzelner Verfahrensschritte war zwar nicht vollständig und die Schriftlichkeit des Gerichtswesens bis 1457 eher vorläufig, ein weitgehend schriftliches Gerichtsverfahren jedoch schon um 1400 selbstverständlich. Das Prinzip der Schriftlichkeit im Gerichtswesen war in Basel somit bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts alltägliche Praxis und zeigt mit stetiger Zunahme und Professionalisierung gleichsam die Verbindlichkeit der Gerichtstätigkeit an.
So haben strenge Theoriegerüste der Rechtsgeschichte überhaupt lange Zeit eher im Wege gestanden: Beispielsweise hat der über Jahrzehnte gefestigte Glaube an die lineare Entwicklung vom Weistum zur gesetzten Ordnung, an die sogenannten Stadtrechtsfamilien sowie an die stete Rezeption des römischen Rechts das eigentliche Werden spätmittelalterlicher Rats- und Stadtgerichtsordnung, schließlich auch deren rechtsräumliche Geltung in der Alltagspraxis, eher verschleiert.Vgl. allgemein Gerhard Dilcher, Das mittelalterliche Stadtrecht als Forschungsproblem, in: Jörg Wolff (Hrsg.), Kultur- und rechtshistorische Wurzeln Europas. Mönchengladbach 2005 (Studien zur Kultur- und Rechtsgeschichte, Bd. 1), S. 227–241, der das oben Andiskutierte in Form von sieben thesenhaften Einzelfragen erörtert.
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Collectanea iurisprudentium. Frühneuzeitliche Quellen der Rechtsprechung im Stadtarchiv Mühlhausen 1 Einführung
Eine Besonderheit der 17. Nachwuchstagung des Netzwerkes Reichsgerichtsbarkeit war sein Veranstaltungsort. Nicht die Reichskammergerichtsstadt Wetzlar, sondern Mühlhausen in Thüringen durfte sich als Gastgeber präsentieren. Dies hatte naheliegende Gründe. Einerseits war auch Mühlhausen im 17. Jahrhundert als Residenz des Reichskammergerichts in der Diskussion der Zeitgenossen, andererseits verfügt Mühlhausen als ehemalige Reichsstadt bis heute über einen erstaunlichen Bestand rechtshistorischer Quellen und Orte. Der vorliegende Beitrag soll deshalb einen Überblick über die Überlieferung derjenigen Akten reichsstädtischer Zeit bieten, die im Interesse der (Nachwuchs‐)Wissenschaftler der Rechtsgeschichte liegen. Dass Mühlhausen in Thüringen im 17. Jahrhundert ebenfalls in die engere Auswahl als Standort des Reichskammergerichts gekommen war, verdankte die Stadt nicht nur ihrem Status als freie Reichsstadt, sondern gewiss auch ihrer zentralen Lage im Reich. Gründe, die auch für Wetzlar sprachen – zum Glück! möchte man aus Sicht der Mühlhäuser meinen. Als man in den 1680er Jahren die Überlegungen begann, das Reichskammergericht von Speyer zu verlegen,¹ scheint dem Rat der Stadt diese Idee nicht gut gefallen zu haben, denn er bat bereits 1681 einen ihm bekannten Assessor am Kammergericht darum, Geflißenheit zur Abwendung etwa intendierter Translocation des hochpreißlichen Kammergerichts an[zu]wenden. Es sei offenbar und hinlänglich bekannt, dass der hiesige Ort sowohl wegen der Wohnungen vor den Cammergerichten Präsidenten Assessores etc. als auch benötigter Rats- und anderer Stuben und Gemächer ganz unbequem und in Summe solche zu übernehmen eine pure impossibilität sey. ² Der Rat der Stadt wehrte sich Lange vor dem Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688/89 lag Speyer im Risikobereich kriegerischer französischer Übergriffe durch Ludwig XIV. Deshalb machten die Richter des Reichskammergerichts seit den ausgehenden 1670er Jahren Eingaben an Kaiser Leopold I. zur Sicherung der Justiz im Reich und stellten Überlegungen einer möglichen Verlegung an. Vgl. [Reinhard] Jordan, Die geplante Verlegung des Reichskammergerichts in die Stadt Mühlhausen (Thür.), in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde NF. 18, Heft 2 (1908), S. 249–306 (hier S. 250). Zitiert nach ebd., S. 252. https://doi.org/10.1515/9783111077406-008
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Abb. 1: Reichsstädtisches Archiv im Historischen Rathaus Mühlhausen. © Foto: Florian Trykowski, 2019.
gegen die Verlegung des Reichskammergerichts nach Mühlhausen. Ein Verweis auf ein früheres Schreiben im Rahmen der Westfälischen Friedensverhandlungen von 1647 macht deutlich, dass die Ratsherren bei einer Verlegung von Reichsinstitutionen nach Mühlhausen Angst hatten, ihr Rathaus müsse an diese abgetreten werden. Zudem könne und wolle man die Kosten, die die Herren Abgeordneten und Richter verursachen, nicht tragen. Man sah sich zu Begreifung und Bewirthung und Verpflegung so vieler hochansehnlicher und vornehmer Persohnen nicht capabel. ³ Außerdem war man wohl auch gegen eine Lockerung in der lutherischen Kirchenpolitik, hätte man den reformierten und den katholischen Mitgliedern des Gerichts doch jeweils eine eigene Kirche bereitstellen müssen.⁴ Überspitzt gesagt erstickte die Angst des Mühlhäuser Rates vor Teuerung, Platzmangel und Qualitätsminderung durch die Überfüllung der Stadt mit Fremden von 1681 bis 1689 jeglichen
Ebd., S. 253. Zitiert nach [Reinhard] Jordan, Ein Nachtrag zu dem Bericht über die geplante Verlegung des Reichskammergerichts in die Stadt Mühlhausen (Thür.), in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 11 (1910/ 11), S. 99 f. Seit 1566 war in Mühlhausen sowohl der Rat als auch ein Großteil der Bevölkerung vollständig protestantisch. In jenem Jahr hatte der Rat die letzte den Katholiken verbliebene Kirche geschlossen.
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Versuch des Reiches, hier eine Ausweichmöglichkeit für das Reichskammergericht zu finden, sofort im Keim. Das Reichskammergericht ließ sich daraufhin in Wetzlar nieder und Mühlhausen blieb eine einfache, aber freie Stadt des Reiches. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts hatte sich Mühlhausen langfristig zur freien Reichsstadt erhoben. Damit waren Rat und Bürgerschaft ihr eigener Herr und unterstanden allein dem oberhoheitlichen Schutz des Reiches. Für eine freie wirtschaftliche Entfaltung und für eine eigene Rechtsetzung und Rechtsprechung war die Entwicklung einer städtischen Ratsverfassung von nachhaltiger Bedeutung. So sind vor allem die Rechtsbücher der Stadt von großem Einfluss auf die eigene städtische Entwicklung,⁵ sie werden ergänzt durch zahlreiche weitere Quellen, die im Rahmen von Rechtshandlungen entstanden sind, die sogenannte Collectanea iurisprudentium. Zu der bedeutendsten Rechtsaufzeichnung des frühen 13. Jahrhunderts – dem Mühlhäuser Rechtsbuch – liegen mittlerweile neuere Forschungen im Rahmen eines Kolloquiums vor.⁶ „Diese früheste Aufzeichnung städtischen Rechts im seinerzeitigen Heiligen Römischen Reich gilt als die älteste Stadtrechtsaufzeichnung in deutscher Sprache, aber auch Europa und damit des Abendlandes überhaupt“, so Gerhard Lingelbach.⁷ Die darin festgehaltenen Bestimmungen zeugen vom Stadtrecht Mühlhausens. Stadtrecht und städtische Selbstverwaltung sind eng miteinander verknüpft. Glücklicherweise steht das Stadtrechtsbuch nicht singulär in der Mühlhäuser Überlieferung, sondern ist nur ein Stück von einer über
Wolfgang Weber/Gerhard Lingelbach, Die Statuten der Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen. Köln/Weimar/Wien 2005, S. XI. Vom 3. bis 5. Oktober 2018 richtete der Frankfurter Rechtshistoriker Professor Dr. Albrecht Cordes gemeinsam mit dem Mühlhäuser Stadtarchivar Dr. Helge Wittmann ein wissenschaftliches Kolloquium zum Thema „Das Mühlhäuser Rechtsbuch. Rechtsquelle, Rechtsverwandtschaften, Rechtslandschaften“ aus. Im Mittelpunkt der interdisziplinären Veranstaltung stand das im 13. Jahrhundert entstandene Rechtsbuch – und die Frage, ob eine Neuedition realisiert werden soll. Darüber hinaus wurde das Mühlhäuser Rechtsbuch sowohl in seine nähere und weitere geographische Umgebung (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel) als auch in den Stadtrecht-Landrecht-Kontext eingebettet. Bislang liegen die Beiträge von Frau Bertelsmeier-Kierst, Frau Breustedt und von Helge Wittmann gedruckt vor: Christa Bertelsmeier-Kierst, Deutschsprachige Rechtstexte im 13. Jahrhundert. Die Handschriften des Mühlhäuser Rechtsbuchs, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 148 (2019), H. 4, S. 431–452; Sonja Breustedt, „Stadtluft macht frei“? – Das Bürgerrecht im Mühlhäuser Rechtsbuch. Ein Werkstattbericht, in: forum historiae iuris (9. Mai 2019), https://forhi stiur.net/2019-05-breustedt/?l=de (abgerufen am 18. Januar 2023); Helge Wittmann, Der Bürger als Bauer im Mühlhäuser Rechtsbuch, in: Stefan Sonderegger/ders. (Hrsg.), Reichsstadt und Landwirtschaft. Petersberg 2020 (Studien zur Reichsstadtgeschichte, Bd. 7), S. 67–90; außerdem Helge Wittmann, Das Mühlhäuser Rechtsbuch in neuer Gestalt – Zur Funktion von Recht und Schriftlichkeit in der Bewältigung reichsstädtischer Konflikte im späten 13. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 75 (2021), S. 39–97. Weber/Lingelbach, Die Statuten der Reichsstadt Mühlhausen (wie Anm. 5), S. XI–XII.
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275 laufende Meter umfassenden Überlieferung aus Mühlhausens reichsstädtischer Zeit. Im Folgenden sollen einzelne, rechtshistorisch relevante Bestände des Stadtarchivs Mühlhausen überblickend dargestellt und einzelne Quellen näher benannt werden.
2 Rechtshistorische Quellen im Stadtarchiv Mühlhausen Von besonderer Bedeutung sind die Stadt- und Satzungsbücher Mühlhausens, die jedoch von der Forschung bislang wenig in den Blick genommen wurden. „Ein Grund dürfte darin liegen, daß solcherart Quellen – seien es Rechtsnormtexte, Verträge, Rechtssprüche oder anderes – [archivisch] weniger erschlossen […]“ worden sind.⁸ Erst seit geraumer Zeit sind die großen seriellen Quellen des Stadtarchivs Mühlhausen, darunter Schuld- und Handelbücher, Urfehdebücher, Gerichtsbücher sowie Urgichtbücher modern verzeichnet und mit ihren Titeln und Laufzeiten online auf dem Archivportal Thüringen recherchierbar.⁹ Darüber hinaus wurden vor allem diese Bestände, auf die gleich noch näher eingegangen wird, seit 2014 vollständig sicherungsverfilmt und digitalisiert. Dies erleichtert dem Forschenden den Zugang zu den sonst oft arkanen Welten eines Archivs und sichert darüber hinaus diese Bestände langfristig ab. Die Mühlhäuser Stadtbücher lassen sich unterscheiden in: 1) Satzungsbücher, 2) Rechtsbücher der hiesigen Gerichtsbarkeit, 3) Policeybücher und 4) Bücher der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
2.1 Satzungsbücher Zu den Satzungsbüchern zählen unter anderem die Statuten der Stadt. Seitdem Mühlhausen ab Mitte des 13. Jahrhunderts den Status als freie Reichsstadt innehatte, besaß es eine eigene Rechtsprechung, deren Zeugnis die in diesem Bestand überlieferten Statuten sind. Das darin bereits benannte älteste Rechtsbuch aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts, auch bekannt als Mühlhäuser Rechtsbuch, ist
Ebd., S. XIII. https://www.archive-in-thueringen.de/de/archiv/bestandsuebersicht/id/78 (abgerufen am 18. Januar 2023).
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Abb. 2: Erste Seite des Mühlhäuser Rechtsbuchs (StadtA Mühlhausen, 10/T 8c, Nr. 1a, fol. 1). © Stadtarchiv Mühlhausen
zudem die früheste Aufzeichnung städtischen Rechts im ostfränkisch-deutschen Reich. Für die freie wirtschaftliche Entfaltung, für die eigene Rechtsetzung und Rechtsprechung und nicht zuletzt für das städtische Selbstbewusstsein waren die
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städtischen Ratsverfassungen von grundlegender Bedeutung. Als Ausdruck sozialer Aktivität sind sie uns zunächst in Form aufgezeichneter Rechtswirklichkeit, in späterer Zeit dann immer mehr in Gestalt gezielter, in die Zukunft gerichteter Rechtsetzung überliefert.¹⁰ Hierbei ist vor allen der sich allmählich vollziehende Wechsel einer Verschriftlichung rechtswirklicher Belange des zumindest idealiter bestehenden Rechtszustandes hin zu einer stärkeren Normierung im Sinne einer Änderung des bestehenden Rechtszustandes etwa in Form von Statuten und Edikten und deren Ausführung spannend zu beobachten.¹¹ Selbst die dabei stattfindende Entwicklung der Schriftmäßigkeit, der dafür benötigten Formelhaftigkeit und die Veränderung der Schrift- und Textstruktur sind ablesbar an den in Mühlhausen vorhandenen Rechtsquellen und Stadtbüchern. Als ein weiterer Teil der Satzungsbücher wurden im Jahr 1527 für die vom Rat erlassenen Edikte und Verordnungen gesonderte Ediktbücher angelegt. In ihnen wurde niedergeschrieben, welche Verbote, Gebote, Ordnungen und Erlasse der Große Rat¹² hat anschlagen und öffentlich verlesen lassen. Der Zweck ihrer Anlage war ein doppelter: Sie dienten zum einen der Aufzeichnung des öffentlichen Rechts der Stadt und zum anderen der Dokumentation der Verwaltungstätigkeit der regierenden Behörde.¹³ Ergänzung findet der Bestand durch zwei weitere Bestände der Spezialedikte und der Bestallungs- und Gesindebücher¹⁴ und durch die Akten aus dem Amt des
Weber/Lingelbach, Die Statuten der Reichsstadt Mühlhausen (wie Anm. 5), S. XI–XIII. Weiterführend dazu Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Ius Commune IV (1972), S. 188–239 (hier S. 189 f.), und Thomas Simon, Geltung. Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts, in: Rechtsgeschichte 7 (2005), S. 100–137. Für diesen Literaturhinweis ist Stefan Stodolkowitz zu danken. Der Rat in Mühlhausen setzte sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts aus Mitgliedern der Geschlechter und der Zünfte zusammen. Die eigentliche Ratsherrschaft hatte jeweils nur ein Drittel, später ein Viertel der gewählten Ratsherren als sogenannter regierender Rat inne. In zunächst drei, ab 1371 vier Ratsjahrgängen waren insgesamt bis zu 128 Personen gleichzeitig Ratsherren, die auch unabhängig vom jährlichen Wechsel zu wichtigen Beratungen und Entscheidungen als „Großer Rat“ zusammentraten. Vgl. dazu Antje Schloms/Daniel Stracke/Helge Wittmann, Mühlhausen (Deutscher Historischer Städteatlas, Bd. 6). Münster 2020, S. 18. Erich Kleeberg, Stadtschreiber und Stadtbücher in Mühlhausen i.Th. vom 14.–16. Jahrhundert nebst einer Übersicht über die Editionen mittelalterlicher Stadtbücher. Göttingen 1909, S. 475, 482. Manche Edikte sind doppelt im Stadtarchiv Mühlhausen vorhanden, zu beachten sind vor allem die korrespondierenden Bestände StadtA Mühlhausen, 790, Statute, Rezesse, Ordnungen und StadtA Mühlhausen, 791, Bekanntmachungen, Edikte und Mandate. Der Bestand 10/Y 1/2 wurde für das Repertorium der Policey-Ordnungen der Frühen Neuzeit vollständig durchgesehen und nach Einzelordnungen verzeichnet durch Bengt Büttner. Eine Veröffentlichung ist in der Reihe „Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit“ vorgesehen. Zu beiden vgl. Kleeberg, Stadtschreiber und Stadtbücher (wie Anm. 13), S. 475, 482.
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Heimbürgen. Mit Hilfe eines ihnen unterstellten Landmessers und dreier Flurschützen waren die Heimbürgen für die Einhaltung der Flurordnung verantwortlich, wobei sie Übertretungen mit festgelegten Bußen ahnden und Streitigkeiten eigenständig schlichten durften. Dabei hatten sie innerhalb des städtischen Hegemals auf genaue Einhaltung der Vorgaben zur Viehwirtschaft, der Gartenbewirtschaftung, der Feldbestellung, der Gewässernutzung und Fischerei sowie der Grenzsetzung zu achten. Das Heimbürgenamt ist durch das Mühlhäuser Rechtsbuch bereits für die Frühzeit der Stadtgeschichte bezeugt. In den Statuten des Jahres 1566 treten erstmals zwei Vertreter des Rates als Heimbürgen auf. Durch den umfassenden Rezess des Jahres 1757 zur Neuordnung der Ratsverwaltung wurde es schließlich aufgelöst.¹⁵ Ort des Heimbürgengerichts war der Platz bei St. Kiliani¹⁶ mit einer ehemals vorhandenen Gerichtslinde, der sog. Kilianslinde. Sie diente vor allem dem Heimbürgengericht als Ort der Rechtsprechung. Inhaltlich wurden dort hauptsächlich Belange des Hegemals, also des Versorgungsumlandes innerhalb des Mühlhäuser Territoriums, verhandelt. Die Linde wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefällt. Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /T c Statuten – rd. , lfm, Akteneinheiten
Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /Y / Ediktbücher – rd. , lfm, Akteneinheiten
Dietrich Lösche/Gerhard Günther, Das Stadtarchiv Mühlhausen und seine Bestände. Mühlhausen 1965, S. 47; Wittmann, Der Bürger als Bauer (wie Anm. 6); Erneuertes Heim=Buch der Kayserl. Fr. Reichs=Stadt Mühlhausen. Mühlhausen 1736 (StadtA Mühlhausen, 790/43a,2). Weitere Bestände aus dem Aufgabenbereich der Heimbürgen sind etwa StadtA Mühlhausen, 10/H 13, Heimbürgen- und Triftamt (1566–1808), StadtA Mühlhausen, 239/2a, Rechnungen des reichsstädtischen Dorfes Bollstedt, Heimbürgen (1563–1806) sowie StadtA Mühlhausen, 213, Jahresrechnungen des Heimbürgenamtes (1646–1803). St. Kilian wurde 1250 erstmals schriftlich erwähnt und vor 1287 als Filialkirche von St. Blasii dem Deutschen Orden unterstellt. Zwischenzeitlich wurde sie als Pestkirche benutzt und bei Stadtbränden mehrfach beschädigt. Von etwa 1960 bis zur Wiedervereinigung stand die Kirche leer und wird seitdem als Spielstätte einer Theaterwerkstatt genutzt. Der historische Bezug zur Nachwuchstagung ist insbesondere durch den daneben befindlichen Gerichtsplatz unter der Linde zu finden.
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Abb. 3: St. Kiliani von Nordosten. © Foto: Tino Sieland, 2020. Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /Y Spezialedikte – rd. , lfm, Akteneinheiten
Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /Auf V Heimbürgenamt – rd. , lfm, Akteneinheiten
2.2 Rechtsbücher der hiesigen Gerichtsbarkeit Die Rechtsbücher der hiesigen Gerichtsbarkeit nehmen mehr als acht laufende Meter im Mühlhäuser Archiv ein und beginnen bereits im Jahr 1431. Der Ursprung der selbständigen Stadtgerichtsbarkeit in Mühlhausen liegt in der Erlangung der reichsstädtischen Freiheit, die vor allem durch die Übertragung des Schultheißenamtes 1256 an die Stadt zum Ausdruck kommt. Der Schultheiß, zuvor ein Amtsträger des Königs am Pfalzort Mühlhausen und seit 1230 urkundlich nachweisbar, wurde trotz des zunächst noch nachweisbaren Richters der eigentliche Vorsteher des Gerichts, der aber nicht ohne ein Schöffenkollegium Recht sprechen durfte. Anfang des 15. Jahrhunderts wurde festgehalten, dass alle Klagen zunächst vor dem regierenden
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Abb. 4: Bestand der Gerichtsbücher im Archivmagazin. © Foto: Antje Schloms, 2020.
Rat verhandelt werden sollten. Dabei setzt auch die überlieferte Verschriftlichung allmählich ein. Erst beim Scheitern einer Einigung wurde weiterhin das Schultheißengericht angerufen. Nach den Statuten von 1566 sollte der Schultheiß aus dem kommenden Rat¹⁷ gewählt werden. Das Schultheißenamt hatte ab diesem Zeitpunkt nachweislich die Rechtsprechung bei peinlichen und bürgerlichen Rechtssachen
Vgl. Anm. 12.
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sowie bei gütlichen Sachverhandlungen inne, 1679 wurde das Schultheißenamt in Stadtgericht umbenannt. 1685 verlor das Stadtgericht die peinliche Gerichtsbarkeit an das Semneramt,¹⁸ behielt aber die Zivilgerichtsbarkeit und gütliche Verhandlungen über Schuldsachen. Ab 1757 wurde seine Zuständigkeit nochmals enorm erweitert, da ihm die bislang von anderen Ämtern erledigten Güteverhandlungen übertragen wurden.¹⁹
Abb. 5: Ältestes Gerichtsbuch aus dem Jahr 1431 (StadtA Mühlhausen, 10/R 1/2, Nr. A1, fol. 11). © Stadtarchiv Mühlhausen
In der nachfolgenden Übersicht wird deutlich, dass in Mühlhausen zwischen Gerichtsbüchern und Gerichtsakten unterschieden wurde – ein Aspekt, der für die Bedeutung von Schriftlichkeit im gerichtlichen Verfahren und für seine Überlieferung von Interesse ist. Die Gerichtsakten setzen bereits früh ein und sind seit
Nach den Statuten von 1566 waren jeweils zwei Semner für die Erhebung von Buß- und Strafgeldern sowie die Gefangenenaufsicht zuständig. Sie bildeten außerdem eine Art Sicherheitspolizei, die für Ruhe und Ordnung in der Stadt und nach 1679 außerdem für die peinliche Gerichtsbarkeit und den Injurienprozess verantwortlich war. Vgl. Lösche/Günther, Das Stadtarchiv Mühlhausen (wie Anm. 15), S. 40. Vgl. ebd., S. 37–39.
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dem Jahr 1469 überliefert. Bislang wurde nicht analysiert, in welcher Weise Gerichtsakten und Gerichtsbücher miteinander verschränkt sind beziehungsweise aufeinander Bezug nehmen. Die Gerichtsbücher jedenfalls enden bereits im Jahr 1628, obwohl die Rechtsprechung in Mühlhausen bis 1802 stattfand. Klar ist nur, dass die Gerichtsbücher ein chronologisch geführtes Register des Schultheißen sind, während die Gerichtsakten eine Sammlung von Schriftstücken, Notizen und Urteilen enthalten. Kontinuierlich werden letztere erst ab 1535 geführt und enthalten fast ausschließlich Privatklagen. Nach 1650 differenzieren sich deren Inhalte aus, wohl auf Grund des Endes der Gerichtsbücher, und es sind auch juristische Gutachten, Inquisitionen, Kriminalfälle und Denunziationsfälle enthalten. Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /R / Gerichtsbücher ca. – rd. , lfm, Akteneinheiten
Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /R Gerichtsakten ca. – rd. , m, Akteneinheiten
2.3 Policeybücher Zu dem Bereich der Policeybücher zählen einerseits die Urfehdebücher und andererseits die Bruch- und Urgichtbücher. Urfehdebücher stellten ein Instrument zur Reglementierung der Fehdeführung dar. Wenn die Stadt einen Fehdeführer in ihre Gewalt gebracht hatte, ließ sie diesen erst frei, nachdem dieser Urfehde geschworen hatte. Er musste öffentlich erklären, alle Feindseligkeiten, auch die seiner Verwandten und Helfer, zu beenden und die Stadt niemals für Schäden, die in der Fehde und während seiner Gefangenschaft entstanden waren, verantwortlich zu machen. Kam es dennoch erneut zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, galt der ehemalige Fehdeführer oder -helfer nun in den Augen der Stadt und vieler Zeitgenossen als Friedensbrecher. Ehemalige Fehdeleute formten allerdings in der Regel nur einen kleinen Teil des Urfehdebuchs. Wie bei vielen anderen spätmittelalterlichen Urfehdebüchern auch, sind die meisten Einträge im Mühlhäuser Urfehdebuch wohl den sogenannten Hafturfehden zuzuordnen. Diejenigen, die wegen krimineller Aktivitäten beschuldigt und anschließend inhaftiert worden waren, mussten vor ihrer Freilassung Urfehde schwören. Der genaue Grund für die geschworene Urfehde geht oft nicht aus dem kurzen Eintrag hervor. Hafturfehden sind von der älteren Streiturfehde zu unterscheiden. Vor allem dem Po-
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Abb. 6: Urfehdebücher des 16. Jahrhunderts im Stadtarchiv Mühlhausen. © Foto: Antje Schloms, 2020.
liceywesen ist ausschließlich die Hafturfehde zuzurechnen, die nicht das gleichrangige Verhältnis zweier Fehdeführer untereinander, sondern das Über‐/Unterordnungsverhältnis zwischen einem Fehdeführer und der städtischen Obrigkeit betrifft.²⁰ Zusätzlich sind im Mühlhäuser Urfehdebuch auch Sühnen und Einigungen, offenbar hauptsächlich zwischen Privatpersonen, eingetragen worden.²¹
Diesem Hinweis ist Stefan Stodolkowitz zu danken, der dazu folgende weiterführende Literatur empfiehlt: Andreas Blauert, Art. Urfehde, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13. Stuttgart 2011, Sp. 123–1125; St. Chr. Saar, Art. Urfehde, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5. 1. Aufl. Berlin 1993, Sp. 562–570; Günter Jerouschek/Andreas Blauert, Zwischen Einigungsschwur und Unterwerfungseid. Zur obrigkeitlichen Usurpation des Urfehdewesens, in: Hans Schlosser/Rolf Sprandel/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen. Köln/Weimar/Wien 2002 (Konflikt,Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen, Bd. 5), S. 227–246 (hier S. 233, 238); Andreas Blauert, Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2000 (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 7), S. 54–74. Vgl. ausführlicher zum Thüringer Urfehdewesen Evelien Timpener, Kommunikation im Konflikt. Städtische Kommunikation und Konfliktverhalten der Reichsstädte Nordhausen und Mühlhausen im 15. Jahrhundert. Ein Werkstattbericht, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 69 (2015), S. 131– 161.
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Abb. 7: Urfehdebuch 1502 bis 1525, hier Titelblatt des Jahres 1507 (StadtA Mühlhausen, 10/Gegen T, Nr. 2, fol. 28). © Stadtarchiv Mühlhausen.
Genau wie Urfehdebücher gehören die Bruch- und Urgichtbücher zu den sogenannten Policeybüchern, deren Inhalt die Erfassung und Verfolgung sowie die Folgen von Vergehen gegen die Ratsstatuten wiedergeben. In den Bruchbüchern (liber excessum) wurden Verstöße gegen die städtische Rechtsordnung registriert. Sie wurden seit 1460 von einem städtischen Schreiber, meist dem Subnotar, geführt. Der Bestand endet mit dem Jahr 1669. Die Bruchbücher fixieren weniger die Bußen, sondern die Namen des Schuldigen und seinen Frevel, um im Wiederholungsfall strengere Maßregeln treffen zu können. In den Urgichtbüchern verzeichnete man von 1526 bis 1613 die Aussagen in peinlichen Fällen. Beide sind innerhalb eines polizeilichen Vorgangs vor die Urfehdebücher zu stellen. Für die Buß- und Straferhebung und die Aufsicht über die Gefangenen war das Semneramt verantwortlich.²²
Siehe Anm. 18. Vgl. Kleeberg, Stadtschreiber und Stadtbücher (wie Anm. 13), S. 476; Lösche/ Günther, Das Stadtarchiv Mühlhausen (wie Anm. 15), S. 40.
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Abb. 8: Urgichtbuch des Jahres 1596 bis 1613, hier Doppelseite der Einträge Mai und Juni 1596 (StadtA Mühlhausen, 10/Auf I, I, Nr. 3, fol. 6). © Stadtarchiv Mühlhausen. Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /Gegen T Urfehdebücher ca. – rd. lfm, Akteneinheiten
Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /Auf I Urgicht- und Bruchbücher – rd. lfm, Akteneinheiten
2.4 Bücher der freiwilligen Gerichtsbarkeit Abschließend seien hier die Bücher der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu nennen. Dabei ist es schwierig, die frühen vom Rat geführten Stadtbücher voneinander abzugrenzen. Die sich allmählich ändernde Anschauung über den Rechtswert schriftlicher Aufzeichnungen führte dazu, dass der Mühlhäuser Rat etwa seit Mitte des 14. Jahrhunderts den Personen, die nach Stadtrecht vor seinem Forum Erklä-
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rungen über Akte freiwilliger Gerichtsbarkeit ablegten, durch Einträge in die Stadtbücher ein amtlich beglaubigtes Zeugnis verschaffte. In das älteste überlieferte Buch sind in protokollarischer Form verschiedene Fälle der Pfandsetzung eingetragen, denn diese gaben am leichtesten Anlass zu Streitigkeiten, da eine Partei oft nur aus Not den Vertrag einging. Rentenverschreibungen des Rates, Bündnisse mit benachbarten Herren und Städten, Schutzbriefe, (Streit‐)Urfehden- und Sühneverträge bilden seine Inhalte. Im 15. Jahrhundert kommen protokollarische Einträge von Briefen, Geburts-, Geleits- und Bürgerbriefe, Geschosszahlungen und Judenangelegenheiten hinzu. Insgesamt scheiden sich die Stadtbücher der freiwilligen Gerichtsbarkeit in drei Perioden (vor 1441 | 1441 bis 1501 | 1501 bis 1802). Die eben genannte Vielseitigkeit entwickelte sich bis 1441. Die Sprache der Bücher wechselt bis dahin zwischen Deutsch und Latein. Ab 1441 wurden vom Stadtschreiber drei parallellaufende Bände angelegt: ein Handelbuch, ein Notulbuch und ein Gesindebuch. In dem einen, dem Handelbuch, vereinigte er die Einträge über Fälle der freiwilligen Gerichtsbarkeit an Immobilien, also gewissermaßen den Inhalt der früheren Stadtpfandbücher und Kaufbücher. Daneben führte er zweitens die Notulbücher für andere auf Forderung der Einwohner vor dem Rat verhandelte und von ihm anerkannte Geschäfte und drittens einen Vorläufer der späteren Gesindebücher ein. Aus der Zeit vor 1441 sind das Fragment eines Kaufbuches um 1415 und zwei Bände eines Stadtpfandbuches um 1374 überliefert.Von 1441 bis 1501 wurden Auflassungen, Fälle der freiwilligen Gerichtsbarkeit an Immobilien, in einem Kontraktenbuch eingetragen, während die Notulbücher anderen Rechtsgeschäften (Registra recognicionum et diversarum concordiarum) der Bürger offenstanden, wie etwa Verträge der Bürger über Schuld oder schiedsrichterliche Entscheidungen des Rates über Verbalund Realinjurien der Bürger. Seit 1501 wurde zunächst wieder nur ein einheitliches Notulbuch geführt, von dem sich aber seit 1541 in ähnlicher Weise ein Handel- und Schuldbuch abzweigte. Das alte Notulbuch behielt nur noch familienrechtliche Abmachungen und Erklärungen des Rates, die sich auf persönliche Verhältnisse bezogen: Zeugnisse über Einwohner, Bürgerbriefe, Innungsbriefe. Auch Verträge und Vollmachten für städtische Diener wurden hier eingezeichnet, so dass das Notulbuch sich wieder mit dem Gesindebuch, der Fortsetzung des alten Ratsbuchs, berührt. Privatverträge wurden nur auf Forderung der Parteien gegen besondere Gebühren eingetragen. In dieser Form werden die Notulbücher bis 1802 fortgesetzt.²³
Vgl. Konrad Beyerle, Die deutschen Stadtbücher, in: Deutsche Geschichtsblätter. Monatsschrift zur Förderung der landesgeschichtlichen Forschung 11 (1910), Heft 6/7, S. 147–200 (hier S. 173–175); Kleeberg, Stadtschreiber und Stadtbücher (wie Anm. 13), S. 474 f.; Gerhard Günther (Hrsg.), Der
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Abb. 9: Buchdeckel des Notulbuches 1416 mit goldgeprägtem Titel und städtischem Wappen (StadtA Mühlhausen, 10/X 1–8, Nr. 3). © Stadtarchiv Mühlhausen.
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Abb. 10: Einträge im Notulbuch zu Martini 1423 (StadtA Mühlhausen, 10/X 1–8, Nr. 2, fol. 20). © Stadtarchiv Mühlhausen.
Der Bestand der „Schuld-, Handel- und Rentenbücher“ steht in engem Zusammenhang mit den Notulbüchern. In den Handelbüchern wird gelegentlich auf diese verwiesen. Die Inhalte beziehen sich auf die Übergabe von Erb- und Eigengut, auf eine Belastung von Erb und Eigen durch Rente und Pfand sowie auf Schuldverschreibungen und Rentenverkehr. Das erste erhaltene Buch wurde 1371 begonnen, doch ist die erste Pergamentlage von acht Blättern verloren, so dass die Jahrgänge 1371–1373 fehlen.²⁴ Dieses anfängliche Hin und Her kann als ein Zeichen der sich etablierenden Schriftlichkeit im Verwaltungswesen der Stadt Mühlhausen angesehen werden. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, als Mühlhausen sich eigenständig als Reichsstadt entwickelte, begann eine zunehmende Professionalisierung des Schriftwesens in der Verwaltung der Stadt. Strukturen, Formen und Abläufe bei der Verschriftlichung entwickelten sich zunächst langsam, es kann jedoch mit Beginn des Ewige Rat zu Mühlhausen – 17. März–28. Mai 1525 – Zeugnisse seiner Tätigkeit aus den Amtsbüchern, Bd. III: Notulbuch. Mühlhausen 1964, S. 5–23. Vgl. Beyerle, Die deutschen Stadtbücher (wie Anm. 23). S. 173–175; Kleeberg, Stadtschreiber und Stadtbücher (wie Anm. 13), S. 474 f.
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Abb. 11: Konsens- und Schuldbuch der Jahre 1371 bis 1391, hier Einträge für 1375 (StadtA Mühlhausen, 10/E 8, 3/4, Nr. 1, fol. 2). © Stadtarchiv Mühlhausen.
15. Jahrhunderts eine überlegte Herangehensweise in der Dokumentation städtischer Rechtspflege und der sonstigen städtischen Verwaltung beobachtet werden. Dies gilt es zukünftig weiter herauszuarbeiten.
Collectanea iurisprudentium
Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /X – Notulbücher ca. – rd. , lfm, Akteneinheiten
Bestandssignatur Bestandsname Laufzeit Umfang
StadtA Mühlhausen, /E Schuld-, Handel- und Rentenbücher ca. – rd. , lfm, Akteneinheiten
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3 Ausblick Darüber hinaus finden sich im Bestand der reichsstädtischen Akten weitere Einzelvorgänge mit Rechtscharakter; zu erwähnen sei hier beispielsweise der Bestand zu Hexen und Zauberern,²⁵ Akten über Bürgerquerelen,²⁶ Zeugenverhöre,²⁷ die im Titel genannten Collectanea iurisprudentium ²⁸ oder der Bauernkriegsbestand, in dem die rechtliche Aufarbeitung der Vorgänge um Heinrich Pfeiffer und Thomas Müntzer aufbewahrt werden.²⁹ Zu denken sei auch an Akten über einzelne Rechtsvorgänge wie etwa die letzte Hinrichtung Mühlhausens im Jahre 1787.³⁰ Sie erfolgte, nachdem Johann Wehrhold seinen Vermieter, den Seilermeister Görner, nicht nur ermordet, sondern seinen Leichnam zudem zerstückelt und in Säcken in der Unstrut zu versenken versuchte. Wehrhold wurde gefangen gesetzt, verhört und nach einer öffentlichen Prozesszeremonie auf dem Mühlhäuser Obermarkt vor dem
StadtA Mühlhausen, 10/BB 2, Diebesrotten, Landstreicher, falsche Bettler und Landesvisitationen, uneheliche Kinder, Unsittlichkeit, Hurerei, Konkubinat und Freudenmädchen (1541–1805) sowie StadtA Mühlhausen, 10/BB 3, Wahnsinnige und Zauberei (1659–1660). Hierzu hat beispielsweise Dominik Fischer einige Akten ausgewertet, vgl. Dominik Fischer, Die Hexenverfolgung im thüringischen Mühlhausen an den Prozessbeispielen Osanne Knoblauch und Anna Führ aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Hamburg 2012 (B.A.-Arbeit, unveröffentlichtes Manuskript); siehe auch Ronald Füssel, Die Hexenverfolgungen im Thüringer Raum. Hamburg 2003 (Veröffentlichungen des Arbeitskreises für historische Hexen- und Kriminalitätsforschung in Norddeutschland, Bd. 2). StadtA Mühlhausen, 10/B 8, Klagen und Beschwerden der Bürger (Bürgerquerelen) (1531–1760). StadtA Mühlhausen, 10/Q 2, Berichte und Zeugenverhöre (1548–1802). StadtA Mühlhausen, 10/Auf E, Collectanea jurisprudentium (18. Jahrhundert). StadtA Mühlhausen, 10/K 3, Bauernkriegsakten (1523–1578). Hierbei u. a. diejenigen Akten, die im Nachgang des Bauernkrieges entstanden und neben Zeugenprotokollen auch Strafverfolgungen, Wiedergutmachungsleistungen und Konfiskationslisten enthalten. Zu letzterem vgl. Antje Schloms, Nach dem Ende Thomas Müntzers – Abrechnung (mit) einer Stadt, in: Werner Greiling/Thomas T. Müller/Uwe Schirmer (Hrsg.), Reformation und Bauernkrieg. Köln/Weimar/Wien 2019 (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, Bd. 12), S. 259–276. Nochmals sei an dieser Stelle auf die Bestandsübersicht im Thüringer Archivportal verwiesen. Vgl. die Akte StadtA Mühlhausen, 10/H 7, Nr. 23, Stadtgericht: Letztes Todesurteil 1787.
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westlichen Stadttor auf dem Blobach geköpft, am Galgenberg für einen Tag begraben und anschließend zur Anatomie nach Erfurt überführt.³¹ Dass es sich um die letzte Hinrichtung der freien Reichsstadt Mühlhausen handelte, ist dem Umstand zuzuschreiben, dass Mühlhausen nur wenige Jahre später seine Reichsunabhängigkeit verlor und 1802 in preußischen Besitz überging. Damit fand nicht nur die städtische Gerichtshoheit ein Ende, sondern zugleich die dazugehörige Schriftgutentstehung, die sich in der Reichsstadt Mühlhausen kontinuierlich seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert entwickelt hatte.
Abb. 12: Gerichtsszene auf dem Mühlhäuser Obermarkt, gefärbte Lithographie 1824. © Christian Gottlieb Altenburg, Topographisch-historische Beschreibung der Stadt Mühlhausen in Thüringen […]. Mühlhausen 1824, S. 182a.
Vgl. zum Vorgang summarisch Reinhard Jordan, Die letzte Enthauptung in Mühlhausen (1787), in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 11 (1910/11), S. 126–128.
Claudia Curcuruto
… altrimente non si vedranno. Das Schriftlichkeitsprinzip der Sacra Congregatio Concilii in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts 1 Einführende Überlegungen Am 17. September 1695 erließ das römische Dikasterium der Konzilskongregation¹ unter Papst Innozenz XII. Pignatelli² zum ersten Mal eine Geschäftsordnung über das Vorgehen in strittigen Rechtssachen. Bei diesem insgesamt elf Punkte umfassenden Dekret mit dem Titel Ordini da osservarsi indispensabilmente nelle proposizioni delle cause contentiose dette in folio nella Sagra Congregazione del Concilio ³ handelt es sich um eine schriftlich niedergelegte detaillierte Norm, die die Schlüsselhandlungen zu Beginn eines ordentlichen Verfahrens regelte. Das Vorbereitungs- und Eröffnungsstadium im kontradiktorischen Parteiprozess in Rechtsstreitigkeiten wurde anschließend in das Hauptverfahren der gerichtlichen Urteilsfindung durch die Kardinalskommission der Konzilskongregation überführt. Die Geschäftsordnung des Jahres 1695 erweist sich von unschätzbarem Wert zur Erforschung des modus procedendi des Dikasteriums. Diese Ordnung äußerte sich in ausführlicher Weise in den causas in folio – wie sie im Dokument genannt werden, weil diese Form der Allgemein mit der Konzilskongregation beschäftigt hat sich anlässlich des 400-jährigen Bestehens des Dikasteriums der Jubiläumsband von 1964: La Sacra Congregazione del Concilio. Quarto Centenario dalla Fondazione (1564–1964). Studi e ricerche. Vatikanstadt 1964. Die Forschungsgemeinschaft hat endlich die Bedeutung des Dikasteriums anerkannt, davon zeugt das 2021 abgeschlossene Projekt der Forschungsgruppe unter der Leitung von Benedetta Albani, das am MaxPlanck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte angesiedelt war, https://www.rg.mpg.de/forschungs gruppe/die-regierung-der-universalkirche-nach-dem-konzil-von-trient (abgerufen am 18. Januar 2023). Einen ersten Überblick über das Pontifikat von Innozenz XII. Pignatelli liefert Renata Ago, Art. Innocenzo XII, papa, in: Dizionario Biografico degli Italiani (künftig: DBI), Bd. 62. Rom 2004, S. 495– 500. Die erste Geschäftsordnung der Konzilskongregation NON di debba findet sich als gedruckter Bando in der Biblioteca Angelica (künftig: BAN), Manoscritti, ms. 230, fol. 190r; die gedruckte Fassung ist veröffentlicht in Magnum Bullarium Romanum, seu eiusdem continuatio, Pars prima, Constitutiones Innocentii XI., Alexandri VIII., & Innocentii XII., hactenus ineditas, complectens. Luxemburg 1727, S. 265. Vgl. auch das Dekret in der französischen Zeitschrift Analecta Iuris Pontificii, II serie, S. 2396 f. https://doi.org/10.1515/9783111077406-009
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Claudia Curcuruto
Rechtsstreitigkeiten die Einzigen waren, die schriftlich (in folio) den Kardinalsmitgliedern in der Plenarsitzung vorgelegt wurden.⁴ Diese am Ende des 17. Jahrhunderts publizierte Verfügung legt demnach nicht nur die konkreten Abläufe der Verhandlungspraktiken sowie den Geschäftsstil der Konzilskongregation fest, sondern gibt auch Auskunft über die bürokratische und administrative Prozedur des „dispaccio delle pratiche“,⁵ also zu einem Zeitpunkt in der Geschichte des Dikasteriums, zu dem ihre Kompetenzen und Rechtsprechungsbefugnisse schon definitiv festgelegt waren.⁶ Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Dokument über den „modum agendi Congregationis Concilii circa causas praesertim contentiosas per usum introductum“⁷ in der Forschung bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren hat. Obwohl in der Forschung stets auf die immense Bedeutung der Sacra Congregatio Concilii für die Entwicklung des posttridentinischen Katholizismus hingewiesen wird,⁸ finden sich in wichtigen Bereichen des Verwaltungs- und Prozessverfahrens der päpstlichen Kurialbehörde große Lücken bei den Darstellungen. Dies gilt auch für die Untersuchung von Schriftlichkeit in strittigen Rechtssachen, das heißt „die Verwendung von Schrift innerhalb sozialer Kommunikation, und vor allem ihr Verhältnis zu Mündlichkeit respektive Vokalität“.⁹ Insgesamt ist für die Konzilskongregation von einem grundsätzlich schriftlichen Verfahren auszugehen. Das Schriftlichkeitsprinzip prägte die Vgl. Regis Parayre, La S. Congrégation du Concile. Son histoire – sa procédure – son autorité. Paris 1897, S. 191. Benedetta Albani, In universo christiano orbe. La Sacra Congregazione del Concilio e l’amministrazione dei sacramenti nel Nuovo Mondo (secoli XVI–XVII), in: Mélanges de l’Ecole française de Rome. Italie et Méditerranée 121,1 (2009), S. 63–73 (hier S. 64). Diese versammelten Schriftsätze, die sogenannten pratiche, bilden den Grundstock der Positiones (etwa vergleichbar mit einer Prozessakte). Zur Jurisdiktion und den Kompetenzen der Konzilskongregation vgl. vor allem Guillelmus I. Varsányi, De Competentia et procedura Sacrae Congregationis Concilii ab origine ad haec usque nostra tempora, in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 51–161. Mit der Rechtsgeschichte der einzelnen Behörden der römischen Kurie beschäftigte sich Nicolò del Re, La Curia Romana. Lineamenti storico-giuridici. 4. erweiterte und erneuerte Aufl. Vatikanstadt 1998, zur Konzilskongregation speziell S. 161–173. Varsányi, De Competentia et procedura (wie Anm. 6), S. 114. So resultierte etwa nach Günther Wassilowsky die römische Kurienbehörde mit ihren umfangreichen Fakultäten in einer „Zentralbehörde für den posttridentinischen Reformprozess und die gesamte Ordnung der posttridentinischen Kirche“, deren Archivbestände noch systematisch auszuwerten sind. Günther Wassilowsky, Posttridentinische Reform und päpstliche Zentralisierung. Zur Rolle der Konzilskongregation, in: Andreas Merkt/Günther Wassilowsky/Gregor Wurst (Hrsg.), Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven. Freiburg/Basel/Wien 2014 (Quaestiones disputatae, Bd. 260), S. 138–157 (hier S. 150 und S. 157). Jeannette Rauschert, Herrschaft und Schrift. Strategien der Inszenierung und Funktionalisierung von Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters. Berlin/New York 2008 (Scrinium Friburgense, Bd. 19), S. 9.
… altrimente non si vedranno
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Verfahrensabläufe und alle für die Entscheidungsfindung wichtigen Äußerungen, obwohl mündliche Verfahrenselemente den schriftbasierten Prozessablauf ergänzten, wie etwa die Litiskontestation, die Verfahrensankündigungen und die mündlich stattfindende Entscheidungsfindung in der Vollsitzung des Dikasteriums. Damit bilden Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Gerichtsverfahren der Konzilskongregation – so die These des Beitrages – nicht zwei getrennte, sondern zwei aufeinander bezogene Phänomene, die sich schlechthin als unauflösbar darstellen.¹⁰ In diesem Zusammenhang erlaubt zudem das außergewöhnlich reichhaltig überlieferte Archivgut der Konzilskongregation¹¹ zahlreiche Rückschlüsse auf den Umgang mit Schriftlichkeit beziehungsweise den Elementen der schriftlich festgehaltenen Mündlichkeit und die Schriftproduktion durch das Dikasterium. Es dient folglich als Ressource zur Darlegung der Verfahrenselemente des römischen Dikasteriums. Ausgehend von diesen Beobachtungen thematisiert der folgende Beitrag die kuriale schriftliche Praxis der Sacra Congregatio Concilii in der Frühen Neuzeit und die Frage, wie sich die tatsächlich ausgeübte Prozesspraxis unter Berücksichtigung der beiden aufeinander bezogenen Phänomene der Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den (normativen) Quellen widerspiegelt.
2 Die Sacra Congregatio Concilii und ihre juridische Funktion (potestas iudicandi) Mit Ende der 25. und letzten Sitzung des Konzils von Trient (1545–1563)¹² kam das Problem einer effektiven Anwendung der konziliaren Beschlüsse auf. Zweifel und Schwierigkeiten in Bezug auf die Umsetzung, Anwendung und Erklärung der Reformdekrete des Konzils von Trient konnten nicht ausbleiben. Eine konkrete Wirk-
Nach Meinung von Knut Wolfgang Nörr war der römisch-kanonische Prozess ein gemischt mündlich-schriftliches Verfahren, wobei die Schriftlichkeit nicht das allein tragende Prinzip in einem Gerichtsverfahren war, vgl. Knut Wolfgang Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren erster Instanz in civilibus. Berlin/Heidelberg 2012 (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft. Abteilung Rechtswissenschaft), S. 45. Nach Peter Oestmann ist die „Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit vor Gericht […] schlechthin unauflösbar“, Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte. Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 173. Einen ersten Überblick liefert hierzu Pietro Caiazza, L’archivio storico della Sacra Congregazione del Concilio (Primi appunti per un problema di riordinamento), in: Ricerche di storia sociale e religiosa 42 (1992), S. 7–24. Zum Konzil von Trient ist nach wie vor das Standardwerk des Kirchenhistorikers Hubert Jedin maßgeblich, vgl. Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, 4 Bde. in 5 Teilbd. Freiburg im Breisgau 1949–1975.
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samkeit der Dekrete des Tridentinums schien ihrer korrekten Interpretation untergeordnet zu sein, so etwa um Verfälschungen oder Verdrehungen in der Rechtsprechung – also ihrer interpretatio – zu verhindern.¹³ Am 4. Dezember 1563 verabschiedeten die Konzilsväter das Dekret De recipiendis et observandis decretis concilii,¹⁴ welches die Annahme und Beachtung der Konzilsdekrete enthielt. Damit setzten sie den Startpunkt für „eine wesentliche Strukturbedingung für die Trientrezeption“,¹⁵ die für die nächsten Jahrhunderte maßgeblich wurde.¹⁶ Mit dem Motu proprio Alias nos nonnullas vom 2. August 1564 errichtete Papst Pius IV.¹⁷ eine Kardinalskommission super executione et observantia sacri Concilii Tridentini et aliarum reformationum,¹⁸ die – coniunctim vel divisim¹⁹ – in erster Linie darauf gerichtet war, die Reformdekrete des Konzils von Trient sorgfältig zu überwachen beziehungsweise umzusetzen und die Interpretationen der neu angenommenen Tridentiner Dekrete und anderer bestehender Normen zu verhindern; jeder Zweifel an der Auslegung der Dekrete war dem Papst vorbehalten.²⁰ Hatte die mit dem Motu proprio von Papst
Vgl. Albert Hackenberg, Zu den ersten Verhandlungen der S. Congregatio Cardinalium Concilii Tridentini Interpretum (1564–1565), in: Stephan Ehses (Hrsg.), Festschrift zum elfhundertjährigen Jubiläum des deutschen Campo Santo in Rom. Freiburg im Breisgau 1897, S. 221–233 (hier S. 221). Konzil von Trient, 25. Sitzung, Dekret De recipiendis et observandis decretis Concilii. Vgl. Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 3: Konzilien der Neuzeit. Konzil von Trient (1545–1563). Erstes Vatikanisches Konzil (1869/70). Zweites Vatikanisches Konzil (1962–1965). Indices. Paderborn 2002, S. 798. Wassilowsky, Posttridentinische Reform (wie Anm. 8), S. 146. Die rechte Einhaltung und Überwachung der vom Konzil von Trient geschlossenen Reformdekrete war die logische und direkte Folge der Apostolischen Konstitution Benedictus Deus vom 26. Januar 1564, mit der Pius IV. (1559–1565) dem Pontifex definitiv das alleinige Verfügungsrecht über das Tridentinum und damit die Entscheidungs- und Interpretationskompetenz vorbehielt: Ad vitandum praeterea perversionem et confusionem, quae oriri posset, si unicuique liceret, prout ei liberet, in decreta Concilii commentarios et interpretationes suas edere […] statuere, ullos commentarios, glossas, annotationes, scholia, ullumve omnino interpretationis genus super ipsius Concilii decretis (26. Januar 1563, Benedictus Deus, Confirmatio Sacri et Oecumenici Concilii Tridentini, in: Bullarum Diplomatum et Privilegiorum Sanctorum Romanorum Pontificum Taurinensis editio, Bd. 7. Turin, Dalmazzo 1862, Nr. LXXX, S. 244–247 (hier S. 245 f., § 5 und § 6). Zwar trägt die schriftliche Bestätigungsbulle Benedictus Deus das Datum vom 26. Januar 1564, doch erst am 30. Juni desselben Jahres erfolgte die Promulgation). Zu Papst Pius IV. Medici vgl. den Artikel von Flavio Rurale, Art. Pio IV, papa, in: DBI, Bd. 83. Rom 2015, S. 808–814. Vgl. das Motu proprio Alias nos nonnullas vom 2. August 1564, in: Bullarum Romanorum (wie Anm. 16), Bd. 7. Turin 1862, Nr. 99, S. 300 f. Ebd., S. 300, § 1. Vgl. Anm. 16 und Wassilowsky, Posttridentinische Reform (wie Anm. 8), S. 147, und Jorge Bosch Carrera, La Sagrada Congregación del Concilio y el „Thesaurus Resolutionum Sacrae Congregationis Concilii“, in: Cuadernos doctorales 19 (2002), S. 15–79 (hier S. 18).
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Pius IV. Alias nos nonnullas errichtete Kongregation bisher beratende und exekutive Funktionen gehabt,²¹ erhielt sie unter Papst Pius V. (1566–1572) nun die Kompetenz der authentischen Interpretation.²² Infolge der Delegierung der päpstlichen Autorität an diese Kongregation war es dem Dikasterium nun möglich, Zweifelsfälle bei bestimmten konziliaren Dekreten interpretativ zu lösen; bestehen blieb die Verpflichtung, sich in den schwierigsten und umstrittensten Fällen an den Papst zu wenden.²³ Es ist bezeichnend, dass im Mai 1567 der offizielle Name des Dikasteriums von Congregationis Sancta Romana Ecclesia cardinalium super executione et observantia sacri Concilii Tridentini et aliarum reformationum in Sacra Congregatio cardinalium Sacri Concilii Tridentini interpretum geändert wurde. Die Kompetenzen dieser Kardinalskongregation wurden durch Papst Sixtus V. (1585–1590)²⁴ anlässlich der Neuorganisation der römischen Kurie mit der Apostolischen Konstitution Immensa aeterni Dei vom 22. Januar 1588 genauer präzisiert und erweitert.²⁵ In Anbetracht ihrer erweiterten Kompetenzen änderte sich die Bezeichnung des Dikasteriums in Congregatio pro executione et interpretatione Concilii tridentini. Sixtus V. übertrug dem Dikasterium die alleinige Befugnis, alle disziplinarischen, moralischen und kanonischen Verordnungen authentisch zu interpretieren und die verschiedenen rechtlichen Schwierigkeiten zu lösen.²⁶ Die Apostolische Konstitution behielt die dogmatische Auslegung der Konzilsdekrete dem Papst vor (hier war das Sant’Uffizio zuständig); schließlich war bei Zweifeln oder aufkommenden Schwierigkeiten weiterhin der Pontifex zu konsultieren (nobis tamen consultis).²⁷
Darauf weist auch der bedeutende Jurist unter Papst Innozenz XI. Odescalchi, Giovanni Battista De Luca, Il cardinale della S. R. Chiesa Pratico. Nell’ozio Tusculano della Primavera dell’anno 1675. Con alcuni squarci della relazione della Corte circa le Congregazioni, e le Cariche Cardinalizie. Rom 1680, S. 298 f., hin. Die Interpretationshoheit über die Reformdekrete der Congregatio ist bereits relativ früh den Beschlüssen des Dikasteriums zu entnehmen. Vgl. etwa für die Diözese Suelli für den 18. Juli 1565, Archivio Apostolico Vaticano (künftig: AAV), Congr. Concilio, Libri Litter. 1, fol. 41v. Vgl. Christian Wiesner, Die Rezeption des Tridentinums durch die Konzilskongregation am Beispiel der Residenzpflicht – Ein Werkstattbericht, in: Wim François/Violet Soen (Hrsg.), The Council of Trent. Reform and Controversy in Europe and Beyond (1545–1700), Bd. 2: Between Bishops and Princes. Göttingen 2018 (Refo500 Academic Studies, Bd. 35), S. 61–81 (hier S. 66). Vgl. Silvano Giordano, Art. Sisto V, in: Enciclopedia dei Papi, Bd. 3. Rom 2000, S. 202–222, insbes. S. 207. Sixtus V., Apostolische Konstitution Immensa aeterni Dei (22. Januar 1588), in: Bullarum Romanorum (wie Anm. 16), Bd. 8. Turin 1863, Nr. 117, S. 985–999, speziell zur Konzilskongregation S. 991 f. Vgl. Parayre, La S. Congrégation du Concile (wie Anm. 4), S. 31. Sixtus V., Apostolische Konstitution Immensa aeterni Dei (22. Januar 1588), in: Bullarum Romanorum (wie Anm. 16), S. 991, § 1.Vgl. Wassilowsky, Posttridentinische Reform (wie Anm. 8), S. 146.
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Von Anfang an hatte die Kongregation juridische Befugnisse (potestas iudicandi): Ihr Gericht konnte sich mit Fällen befassen, die die Auslegung der tridentinischen Reformbestimmung betrafen – Fälle, die oft in den Diözesankurien begannen und durch Appellationen nach Rom kamen.²⁸ Sie konnte Recht sprechen (das heißt Dekrete erlassen) und von ihren früheren Entscheidungen abweichen beziehungsweise neue Rechtsnormen schaffen.²⁹ Wie Niccolò del Re betont,³⁰ wurde die Zuständigkeit der Kongregation mit der potestas dispensandi erweitert, das heißt, sie konnte Gnaden, Dispense und Begnadigungen gewähren, die mit der Einhaltung der konziliaren Reformdekrete verbunden waren.³¹ Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren die Kompetenzen und die Jurisdiktion der Konzilskongregation endgültig festgelegt und die bürokratischen und administrativen Verfahren für den „dispaccio delle pratiche“ etabliert.³² Neben der ersten und wichtigsten Funktion der authentischen Interpretation (potestas interpretandi) bezüglich der tridentinischen Reformbeschlüsse war die Kongregation mit der recognitio (und approvatio) der Provinzial- und Diözesansynoden, die in jeder kirchlichen Provinz beziehungsweise Diözese periodisch durchgeführt wurden, betraut³³ sowie mit der Verwaltung der Besuche ad Sacrorum Liminum und der Diözesanberichte, die die Bischöfe bei dieser Gelegenheit der Kurie übergaben.³⁴ Die Konzilskongregation Zum Verhältnis zwischen der Kurie beziehungsweise dem Papsttum und den lokalen Kirchen vgl. Péter Tusor/Matteo Sanfilippo (Hrsg.), Il Papato e le chiese locali – Studi/The Papacy and the local churches – Studies. Sette Città 2014 (Studi di storia delle istituzioni ecclesiastiche, Bd. 4). Vgl. Richard Puza, Die Konzilskongregation. Ein Einblick in ihr Archiv, ihre Verfahrensweise und die Bedeutung ihrer Entscheidungen von ihrer Errichtung bis zur Kurienreform Pius X. (1563–1908), in: Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte (künftig: RQ) 90 (1995), S. 23–42 (hier S. 28). Vgl. del Re, La Curia Romana (wie Anm. 6), S. 164. Diese Fakultäten wurden von Gregor XIV. am 22. Februar 1591 mit dem Dekret Ut securitate bestätigt, in: Bullarum Romanorum (wie Anm. 16), Bd. 9. Turin 1865, Nr. 4, S. 391 f. Albani, In universo christiano orbe (wie Anm. 5), S. 64. Vgl. in diesem Zusammenhang die Studie von Pietro Caiazza, Tra stato e papato. Concili provinciali post-tridentini (1564–1648). Rom 1992 (Italia sacra, Bd. 49). Die beiden Rechtsbefugnisse der Überprüfung und Approbation der Provinzial- und Diözesansynoden sowie die Annahme und Beurteilung der „Statusberichte“, in denen die Bischöfe im Rahmen ihrer visitatio ad sacra limina in regelmäßigen Zeiträumen verpflichtet waren, eine relatio über den Zustand ihrer Diözesen in Rom zu übergeben, wurden der Konzilskongregation 1588 nun offiziell zugewiesen, auch wenn beide Tätigkeiten faktisch bereits längst vor der Bestätigung durch die Apostolische Konstitution vom Dikasterium ausgeübt worden waren, vgl. Bosch Carrera, La Sagrada Congregación del Concilio (wie Anm. 20), S. 23 f., sowie Wassilowsky, Posttridentinische Reform (wie Anm. 8), S. 149 f. Zu den Ad limina-Besuchen vgl. allgemein Hercules Crovella, De Libro Visitationum Sacrorum Liminum, in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 423–446; Maria Milagros Cárcel Ortí, Visitas pastorales y relaciones ad limina. Fuentes para la geografía eclesiástica. Orviedo 2007 (Memoria Ecclesiae. Subsidia, Bd. 6) und Erwin Gatz, Das Bischofsideal
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befasste sich auch mit den verschiedensten Fragen, die im Zusammenhang mit dem Konzil von Trient standen, so etwa mit der Ungültigkeit religiöser Gelübde, der Vergabe von Heiratsdispensen und mit Hindernissen (sog. Irregularitäten), die die Weihe in den klerikalen Stand verhinderten. Die Sacra Congregatio Cardinalium Concilii Tridentini interpretum war sicherlich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eines der wichtigsten und mächtigsten römischen Dikasterien.³⁵ Bereits anhand dieser äußerst kurzen Zusammenfassung ihrer Geschichte und umfangreichen Kompetenzen kann nachvollzogen werden, dass die Konzilskongregation für mehr als vier Jahrhunderte von grundlegender Bedeutung für die Anwendung und Auslegung der Reformdekrete des Konzils von Trient und für viele Aspekte des Lebens der Ortskirchen gewesen ist.³⁶
3 Elemente der Schriftlichkeit in Verfahren der Konzilskongregation in der Frühen Neuzeit 3.1 Vorüberlegungen zur Schriftlichkeit in den Akten: die Archivstruktur Im Jahr 1943 konstatierte Karl August Fink, dass „bei der Bedeutung dieser im Jahre 1564 zur Durchführung der Trienter Konzilsbeschlüsse gegründeten Kongregation […] auch ihre Archivalien für die neuzeitliche Kirchengeschichte von großer Wichtigkeit“ sind.³⁷ Dass das Archiv die schriftgesteuerte Administration sowie die konstante Funktions- und Arbeitsweise der Konzilskongregation widerspiegelt,³⁸ wird bereits aus der Übersicht der strukturellen Ordnung der wichtigsten Bestände
des Konzils von Trient und der deutschsprachige Episkopat des 19. Jahrhunderts. Zum Quellenwert der Relationes status, in: RQ 77 (1982), S. 204–228. Mit der von Paul VI. eingeführten Generalreform der römischen Kurie mit der Apostolischen Konstitution Regimini Ecclesiae universae vom 15. August 1967 wurde die Konzilskongregation völlig umstrukturiert, sodass sie in der Folge ihren anachronistischen Namen aufgab und den Namen „Kongregation für den Klerus“ (Sacra Congregatio pro Clero) annahm, vgl. Acta Apostolicae Sedis 59 (1967), S. 885–928 (hier S. 908–912). Vgl. Caiazza, L’archivio storico (wie Anm. 11), S. 8. Karl August Fink, Das Vatikanische Archiv. Einführung in die Bestände und ihre Erforschung. 2. vermehrte Aufl. Rom 1951, S. 119. Für Benedetta Albani etwa spiegelt sich diese Ordnung bis heute in der Struktur der Archivalien dieses Dikasteriums wider: „[È] infatti molto esteso, ben organizzato fin dalle origini e ricco di documenti risalenti fino ai primissimi anni di attività della congregazione“, Albani, In universo christiano orbe (wie Anm. 5), S. 65.
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deutlich:³⁹ Die vollständig erhaltene handgeschriebene Registersammlung der Libri Decretorum (Liber Decretorum S. Congregationis Concilii)⁴⁰ beginnt im Jahre 1564⁴¹ und enthält bis 1922 die offiziellen Dekrete, Entscheidungen und Antworten der römischen Kongregation bezüglich der Praktiken des Dikasteriums in chronologischer Reihenfolge. Bei der zweiten Registersammlung, der Libri Litterarum, deren erster Band mit dem Bestand der Libri Decretorum zusammenfällt und in 40 Bänden mit dem Jahre 1903 schließt, handelt es sich um eine Registerserie von handgeschriebenen Kopien versendeter Briefe oder Anweisungen, die von der Konzilskongregation häufig als Antwortschreiben an die Prälaten versandt wurden.⁴² Die Sammlung der Positiones (1564–1911) enthält in circa 5638 Bänden die sogenannten pratiche,⁴³ also die Materialien zu den von der Kongregation behandelten Gegen-
Die Archivserien aus den Jahren 1564 bis 1922 wurden bereits im April 1996 zusammen mit den entsprechenden Inventaren fast vollständig in das Vatikanische Apostolische Archiv überführt und befinden sich heute im Fondo Congr. Concilio. Die Archivserien sind bis heute an mehreren Stellen kurz beschrieben worden, vgl. Franco Chiappafreddo, L’Archivio della Sacra Congregazione del Concilio, in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 395–422 (hier S. 401–404); Lajos Pásztor, Congregazione del Concilio, in: ders. (Hrsg.), Guida delle fonti per la storia dell’America Latina negli archivi della Santa Sede e negli archivi ecclesiastici d’Italia. Vatikanstadt 1970 (Collectanea Archivi Vaticani, Bd. 2), S. 145–155. In diesem Rahmen werden die drei wichtigsten Serien der Konzilskongregation kurz kommentiert, weitere Serien des äußerst umfangreichen Aktenmaterials der Kongregation können in diesem Beitrag nicht berücksichtigt werden. Es handelt sich um eine Serie der Konzilskongregation, die aus 349 Bänden besteht und vollständig vorliegt. Die Dekrete der ersten neun Jahre der Kongregation von 1564 bis 1572 sind in einem Band aufgeführt, der den Titel Liber I Litterarum et Decretorum S. C. Concilii a mense septembri 1564 ad mensem novembrem 1572 trägt. Ab 1573 gibt es eine eigene Sammlung der Dekrete, denn die anschließende Nomenklatur unterscheidet zwischen „litterae“ und „decreta“. Erst Anfang des 18. Jahrhunderts begann der damalige Sekretär der Konzilskongregation (1718–1728), Prospero Lambertini, der spätere Papst Benedikt XIV. (1740–1758), mit der Herausgabe einer gedruckten Serie des Thesaurus Resolutionum Sacrae Congregationis Concilii, das in seiner letzten Fassung die Aktivitäten der Kongregation von 1718 bis 1908 in 168 Bänden enthält (Bd. 1, Urbini 1739; Bd. 168, Rom 1963). Vgl. hierzu Fiorenzo Romita, La continuazione dei „Thesaurus resolutionum Sacrae Congregationis Concilii“, in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 477–480. Die Registerserie der Libri Decretorum selbst beginnt erst mit dem Jahr 1573. Die Dekrete von 1564 bis 1572 finden sich im ersten Band der Libri Litterarum, vgl. hierzu Anm. 40. Die im AAV aufbewahrte Serie der Libri Litterarum besteht aus handgeschriebenen Registern versendeter Briefe der Konzilskongregation und umfasst insgesamt 40 Bände (1564–1903). Für ein Verständnis dieser Sammlung vgl. den Artikel von Alaphridus Parisella, „Liber litterarum“ Sacrae Congregationis Concilii, in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 447–476. Eine Konsultation der Positiones ist für die Forschung aufgrund des Fehlens eines vollständigen Inventars bisher nur sehr eingeschränkt möglich. Zur Auffindung der entsprechenden Positiones sei auf zwei archivinterne Indexbände verwiesen: Zum einen auf das Parvum Regestum Decretorum (auch genannt: Parva Regesta (Positiones) = PRP), das den Weg eines Falles (einer pratica) von Anfang bis zum Ende protokolliert. Daneben ist zum zweiten auf den Index von Domenico Troiani/
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ständen (so zum Beispiel die an das Dikasterium gerichteten Suppliken, Memorialien, Summarien, die von den Advokaten und Prokuratoren eingereichten Schriftsätze, die schriftlich niedergelegten kongregationsinternen Diskussionen sowie die Abschriften relevanter Dokumente).⁴⁴ Bereits diese kurze Einführung zeigt deutlich, dass diese Sammlungen, trotz schwieriger Handhabung und Zugänglichkeit, nicht nur die bemerkenswerten Praktiken der Konzilskongregation im Rahmen der katholischen Reform beinhalten,⁴⁵ sondern einen besonders nachhaltigen Einfluss auf die Interpretation des Konzils von Trient ausgeübt haben.⁴⁶
3.2 Die Geschäftsordnung vom 17. September 1695: ein modus agendi der Konzilskongregation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 3.2.1 Erste Reflexionen Die Kenntnis der strukturierten Ordnung des Archivs der Konzilskongregation erlaubt ein tieferes Verständnis der Praxis des Dikasteriums selbst und der Verwaltungsvorgänge beziehungsweise der Organisationsstruktur der römischen Kurie. Bevor jedoch die Geschäftsordnung von 1695 und das Prinzip der Schriftlichkeit beziehungsweise die kongregationsinternen Diskussionen der Konzilskongregation näher beleuchtet werden, ist es angebracht, einige zuvor gemachte Annahmen bezüglich der strittigen Rechtssachen zu konkretisieren. Zunächst muss bedacht werden, dass es bis zum Jahr 1695 keine päpstlichen Dekrete gab, die die interne Funktionsweise der Kongregation festhielten. Die Vorgehensweise wurde lediglich Pietro Caiazza, AAV, Indici 910–924. Fondo storico della S. Congregazione del Concilio – Positiones (Sess.). Rilevazione 1–75. Vatikanstadt 1969–1991, zu verweisen. Hier ist noch festzuhalten, dass es im September 1681 zu einem Wechsel in der Archivierung des Aktenbestandes der Positiones kam. So war die Serie der Positiones im Zeitraum von 1564 bis 1681 gemäß den jeweiligen Sessiones des Trienter Konzils archiviert. Ab dem 27. September 1681, also mit dem Antritt des neuen Sekretärs, Antonius Altovitus, ist der Bestand in chronologischer Reihenfolge nach den Versammlungen der Kardinalsmitglieder der Konzilskongregation organisiert und geordnet. Dies ist der Grund, warum es innerhalb derselben Serie zwei Unterreihen gibt: die Positiones (Sess.) und die Positiones. Hinzu kommt aus noch nicht geklärten Gründen eine dritte Unterserie, nämlich die der Positiones (carte sciolte). Eine Auflistung der Positiones (carte sciolte) bietet Caiazza, L’archivio storico (wie Anm. 11), Appendice 3, S. 21–24. Vgl. Caiazza, L’archivio storico (wie Anm. 11), S. 12. Vgl. Puza, Die Konzilskongregation (wie Anm. 29), S. 32. Vgl. Parayre, La S. Congrégation du Concile (wie Anm. 4), S. 169.
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vom Kardinalpräfekten und vom Sekretär des Dikasteriums umrissen. Sie entwickelten und änderten die Verfahren stetig, um den aktuellen Erfordernissen besser gerecht zu werden. Bei der Ordnung von 1695 und ebenfalls bei den später veröffentlichten Regelungen handelt es sich vielmehr um spezifische Anweisungen, die denjenigen eine Orientierung boten, die auf das römische Dikasterium zurückgreifen mussten.⁴⁷ Die interne Funktionsweise der Konzilskongregation ist aus den Beschreibungen von Autoren wie Johann Heinrich Bangen,⁴⁸ Michele Lega,⁴⁹ Guillelmus I. Varsányi⁵⁰ und Regis Parayre⁵¹ zu entnehmen.
3.2.2 Zum in folio-Verfahren Offiziell datiert die potestas der Konzilskongregation, in strittigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auf das Ende des 17. Jahrhunderts; de facto leitete sich die Kompetenz aus der consuetudine et usu tacite probato exercuerat, omnes concedunt ab.⁵² Die Art und Weise, wie das Dikasterium letztendlich mit den strittigen Rechtsstreitigkeiten umgegangen ist, findet sich in vier Verordnungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten verabschiedet wurden: Die erste ist von 1695, die zweite Vgl. Bosch Carrera, La Sagrada Congregación del Concilio (wie Anm. 20), S. 30. Vgl. Johann Heinrich Bangen, Die Römische Kurie, ihre gegenwärtige Zusammensetzung und ihr Geschäftsgang. Münster 1854, S. 9–17, 145–204. Bezüglich der Prozessverfahren und des Geschäftsvorganges der Konzilskongregation definiert Bangen die Arbeitsweise der Konzilskongregation dahingehend, dass sie „den übrigen Congregationen als Muster dienen und vor Allen durch Gründlichkeit sowohl als Angemessenheit sich auszeichnen“ (ebd., S. 164). Vgl. Michele Lega, Praelectiones in textum iuris canonici, Bd. 2: De iudiciis ecclesiasticis civilibus in specie et in primis de ordinatione Curiae Romanae. Rom 1898, S. 96–128, 193–206. Vgl. Varsányi, De Competentia et procedura (wie Anm. 6), S. 125–154. Vgl. Parayre, La S. Congrégation du Concile (wie Anm. 4), S. 158–272. Mit dem Dekret Ut debitus vom 9. August 1693 bestätigte und erneuerte Papst Innozenz XII. die Apostolische Konstitution Immensa aeterni Dei vom 22. Januar 1588 und erklärte, dass die Kardinalskongregation non debere admittere lites contentiosas, nisi vel mandante Pontifice, vel utraque parte consentiente, Varsányi, De Competentia et procedura (wie Anm. 6), S. 113. Das Dekret vom 9. August 1693 ist abgedruckt in: Magnum Bullarium Romanum (wie Anm. 3), Nr. 83, S. 283 f. Kardinal Giovanni Battista De Luca erkannte den Dikasterien die Jurisdiktion in cause contentiosam in forma summaria exercendam an und insbesondere der Konzilskongregation gestattete er diese rechtlich exekutive Autorität, vgl. Joannis Baptistae De Luca, Relatio curiae romanae, in qua omnium Congregationum, Tribunalium aliarumque; Iurisdictionum urbis status ac Praxis dilucidè describitur. Köln 1683, Disc. XV, Nr. 3, S. 98: […], quod ista Congregatio casus particulares, in forma contentiosa disputandos, ac decidendos assumat, quasi quòd eius partes essent solum praestandi oracula in abstracto super alicuius decreti conciliatis interpretatione, quando plurium intellectum capax esset. Es handelte sich demnach lediglich um eine Bestätigung dessen, was schon seit Langem von der Konzilskongregation gehalten und von selbiger ausgeführt wurde.
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Regelung ist unter dem Pontifikat von Clemens XII. im Jahre 1751 beschlossen worden, die dritte trägt das Datum vom 27. September 1847. Die darauffolgende, letzte Verordnung beabsichtigte nicht, die vorherige zu ändern, da ihr Hauptzweck darin bestand, „zu vermeiden, dass die Bestimmungen der Verordnung vom 27. September 1847, die am 10. Dezember 1884 geändert und übertragen wurde, nicht verletzt werden und obsolet werden“.⁵³ Es gab laut Varsányi zwei Möglichkeiten, Fälle in folio zu behandeln: iuris ordine servato und iuris ordine non servato. ⁵⁴ Während Letztere eher den Fällen pro summaria precum ⁵⁵ ähneln, handelt es sich bei Ersteren um ordentliche Verfahren (modus ordinarius, iuris ordine servato), die nach einem sorgfältigen, auf allseitige Feststellung der wesentlichen Tatsachen und auf Rechtsbegründung zielenden, Vorverfahren vor die Plenarsitzung der Konzilskongregation gelangten. Das iuris-Verfahren ordine servato (oder: in folio, servato iuris ordine) betraf sowohl Fälle gerichtlicher (kontradiktorischer und strafrechtlicher) als auch außergerichtlicher Natur (zur Auslegung der Trienter Reformdekrete oder Verwaltungsvorschriften). Um einen Fall vorzubereiten, der dem Plenum vorgelegt werden sollte, entschieden der Sekretär⁵⁶ und der Kardinalpräfekt,⁵⁷ die die Verantwortung für die
Vgl. Varsányi, De Competentia et procedura (wie Anm. 6), S. 143 und Anm. 359; sowie Parayre, La S. Congrégation du Concile (wie Anm. 4), S. 220. Das Dekret von 1695 konnte im Archiv der Konzilskongregation nicht gefunden werden (vgl. Anm. 3). Die Verordnung von 1751 ist durch den Verweis in der Verordnung von 1847 bekannt. Am 27. September 1847 erschien eine andere Ordnung, die die ersten beiden aufhob und wesentlich detaillierter und elaborierter ist. Eine revidierte Fassung liegt aus den Jahren 1884 und 1905 vor, vgl. hierzu Federica Meloni, Le rôle de la Sacrée Congrégation du Concile dans l’interprétation de la réforme tridentine, in: François/Soen (Hrsg.), The Council of Trent (wie Anm. 23), Bd. 1: Between Trent, Rome and Wittenberg, S. 371–394 (hier S. 384). Vgl. Varsányi, De Competentia et procedura (wie Anm. 6), S. 132–154. Diese von der der Kongregation behandelten negotia minora werden als per summaria precum bezeichnet und wurden durch den Präfekten mit Beihilfe des Sekretärs oder nach einem abgekürzten Vorverfahren von der Vollversammlung in Form eines Schnellgerichts behandelt. Das Verfahren unterscheidet sich von den übrigen dadurch, dass über die Sache kein folium ausgearbeitet wurde, sondern im Namen des Sekretärs ein ganz kurzes Gutachten mit den förmlich und gewöhnlich entnommenen Antworten verfasst wurde. Dazu gehören also Fälle, welche de stilo sind, das heißt durch frühere analoge Entscheidungen der Konzilskongregation bereits normiert sind, vgl. hierzu Bangen, Die Römische Kurie (wie Anm. 48), S. 13 und S. 165. Die Position des Sekretärs ist von besonderer Wichtigkeit und aus diesem Grund waren eine gute juristische Ausbildung und eine hervorragende Sorgfalt für dieses Amt erforderlich. Zu den Kompetenzen und den Befugnissen der Sekretäre für 1798 bis 1801 vgl. den Aufsatz von Giuseppe Palazzini, I poteri straordinari del Segretario della S. Congregazione del Concilio dal 1798 al 1801, in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 383–392. Eine Auflistung der Sekretäre des Dikasteriums findet sich als Anhang bei Pietro Palazzini, Prospero Fagnani, Segretario della Sacra
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Führung der Geschäfte der Konzilskongregation trugen, darüber, wie ein Fall zu behandeln sei.⁵⁸ Gedruckt von der Reverenda Camera Apostolica,⁵⁹ trägt das am Ende des 17. Jahrhunderts publizierte Dekret die Unterschriften des pro-prefectus, Kardinal Galeazzo Marescottus,⁶⁰ wie auch des Sekretärs der Konzilskongregation, Rannuzio Pallavicino (1632–1712).⁶¹ Der Prozess in strittigen Rechtsstreitigkeiten⁶² ist dabei zwar durch die schriftlich formulierten Prozesshandlungen geprägt, doch neben dem Prinzip der Schriftlichkeit sind im konkreten Ablauf der Verhandlungspraktiken mündliche Elemente zu beobachten. Wie sich Mündlichkeit und die Schriftform ergänzen sollten, ergibt sich aus der chronologischen Anordnung im in folioVerfahren, die in den neun Punkten der Regelung ihren Niederschlag findet, wie im Folgenden näher beleuchtet wird. In der Geschäftsordnung von 1695 finden sich drei Phasen des Vorverfahrens, die dort klar nachvollziehbar sind. Die erste Phase,
Congregazione del Concilio e suoi editi ed inediti, in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 361–382 (hier S. 377–380). Zu den Aufgaben des Präfekten gehörten etwa die Annahme von Verfahren sowie die Leitung der Vorverfahren bis zur Sitzung der Kardinalskommission und die Einberufung der Plenarsitzung. Er führte den Vorsitz und gab die von ihm unterzeichneten Entscheidungen und Reskripte zur Expedition. Er übte in letzter Instanz die Aufsicht über die Geschäftsordnung und das gesamte Dienstpersonal aus, vgl. Bangen, Die Römische Kurie (wie Anm. 48), S. 10. Die übrigen Kardinalsmitglieder beteiligten sich in der Regel nicht an den Vorbereitungen und Vorverfahren, sondern nahmen von dem aktenmäßigen Stand der Sache insoweit Einsicht, wie dies zu ihrer Information für die Plenarsitzung nötig erschien, vgl. Bangen, Die Römische Kurie (wie Anm. 48), S. 10 f., 162 f. Die Vatikanische Tipografia wurde unter Sixtus V. mit der Bulle Eam semper ex omnibus vom 27. April 1587 gegründet, mit der er beschloss, eine Druckerei zu errichten. Weniger bekannt ist, dass unter den 15 Kongregationen, die vom Papst mit der Verfassung Immensa aeterni Dei vom 22. Januar 1588 eingesetzt wurden, die 14. Kongregation, „pro Typographia Vaticana“, aus fünf Kardinälen bestand, die unter anderem mit den Typographen und Revisoren über die korrekte Verbreitung der Texte und die Verwirklichung eines konkreten Redaktionsprogramms wachten. Vgl. zur Stamperia den Aufsatz von Valentino Romani, Tipografie papali. La tipografia vaticana, in: Massimo Ceresa (Hrsg.), Storia della Biblioteca Apostolica Vaticana, Bd. 2: La Biblioteca Vaticana tra riforma cattolica, crescita delle collezioni e nuovo edificio (1535–1590). Vatikanstadt 2012, S. 261–279. Mit dem Tod des Kardinalpräfekten Federico Baldeschi (Ubaldi) Colonna am 4. Oktober 1691 führte Galeazzo Marescotti zwischen dem 1. Dezember 1691 bis zum Ende des Jahres 1695 die Geschäfte der Konzilskongregation als pro-praefectus, wie den Libri Decretorum für die entsprechenden Jahre zu entnehmen ist (vgl. AAV, Congr. Concilio, Libri Decret. 41 bis 45). Vgl. zu den einzelnen Kardinalpräfekten Niccolò del Re, I cardinali prefetti della Sacra Congregazione del Concilio dalle origini ad oggi (1564–1964), in: La Sacra Congregazione del Concilio (wie Anm. 1), S. 265–307, Nr. 21 und 22, S. 280 f. Vgl. Lisa Roscioni, Art. Pallavicino, Ranuccio, in: DBI, Bd. 80. Rom 2015, S. 549–553. Vgl. Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 10), S. 45 und S. 168–170.
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die Einleitung (das Verfahren bis zum Aktenschluss), ist in den Artikeln 1 bis 3 festgelegt. Die zweite Phase, die Verhandlung (vom Aktenschluss an bis zur förmlichen Streitfestlegung), ist in Artikel 4 geregelt und die dritte Phase (von der Streitfestlegung bis zur Vollsitzung der Kardinalsmitglieder) ist in den Artikeln 5 bis 9 niedergelegt. Regelungen zum Hauptverfahren selbst (die Beschlussfassung im Plenum und die Expedition des Dekretes) sowie zur Vollstreckung der Entscheidung der Konzilskongregation fehlen in der Geschäftsordnung, da es sich hier um die Regelung des Vorverfahrens handelt. 3.2.2.1 Zulassung der Klage – Anfrage beim Ortsbischof – Beweisaufnahme Kam ein Fall vor die Konzilskongregation – und zwar stets an das Sekretariat, wo er registriert wurde –, so überprüfte der Kardinalpräfekt mit Beihilfe des Sekretärs die Zulässigkeit⁶³ desselben mit Rücksicht auf die jurisdiktionelle Kompetenz und Zuständigkeit des Dikasteriums.⁶⁴ Wurde die Unzuständigkeit festgestellt, konnte die Konzilskongregation den Streitfall an das zuständige Gericht verweisen oder ablehnen.⁶⁵ Wurde die Sache für gehörig substantiiert erkannt, fuhr das Dikasterium mit dem Verfahren fort. So war es die Aufgabe des Sekretärs, für die Vollständigkeit der Akten zu sorgen, das heißt, bis zum Aktenschluss waren die Schriftstücke und Beweise heranzubringen, die für die Entscheidungsfindung wichtig waren. Nach der Geschäftsordnung von 1695 war es zwingend erforderlich, Informationen und eine Relation (requisitio de informatione et voto) vom örtlichen Ordinarius zu erhalten. Um das in folio-Verfahren also in die nächste Phase leiten zu können,⁶⁶ war
Der Sekretär prüfte im Vorverfahren, ob die angestrebte Klage, Anfrage oder Supplik formgerecht erhoben worden war und zuzulassen sei oder möglicherweise unerheblich war. Um Verwirrung über die Zuständigkeiten der jeweiligen Kongregationen zu vermeiden, stellte bereits Sixtus V. in der Apostolischen Konstitution Immensa aeterni Dei fest, ut unaquaeque congregatio, quando aliqua causa, quaestio, vel consultatio ad eam delata fuerit, diligenter perpendat, an ad ipsam proprie eius causae cognitio et expeditio pertineat, et si ad se minime spectare cognoverit, eandem ad iudices ordinarios vel ad propriam congregationem remittat, Sixtus V., Apostolische Konstitution Immensa aeterni Dei (22. Januar 1588), in: Bullarum Romanorum (wie Anm. 16), S. 997. Zum Verhältnis von Norm und Entscheiden zuletzt Maximiliane Berger/Clara Günzl/Nicola Kramp-Seidel, Normen und Entscheiden. Bemerkungen zu einem problematischen Verhältnis, in: Ulrich Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2019 (Kulturen des Entscheidens, Bd. 1), S. 248–265. Wurde ein Fall nicht gehörig ermittelt, so konnte zum Beispiel für das Jahr 1686 folgendes dekretiert werden (AAV, Congr. Concilio, Libri Decret. 36): instantiam reiecit (fol. 11v); remisit ad judices suos (fol. 42v); instantiam huiusmodi remisit ad Datariam (fol. 12r); instantiam huiusmodi remisit ad Sacram Congregationem Immunitatis (fol. 319v). BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 1: Non si debba mettere in Foglio Causa sopra della quale non vi sia la relazione dell’Ordinario.
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es absolut notwendig, auf die ordentlichen Richter in erster Instanz, also die Bischöfe oder die ordentlichen kirchlichen Oberen, aus deren Diözese die betreffende Angelegenheit eingegangen war, zurückzugreifen.⁶⁷ Erst nach Zusendung der Requisitionsschreiben,⁶⁸ welche an das Sekretariat der Konzilskongregation gesendet wurden, und nachdem damit alle Informationen eingeholt worden waren, fertigte der Sekretär der Konzilskongregation den „restrictus“ (hier proposizione genannt) an – eine Darstellung der Tatsachen in rein objektiver Form (jedenfalls dem Anspruch nach) unter Darlegung der juristischen Grundlagen (Artikel 1).⁶⁹ 3.2.2.2 Zitation der Parteien, Litiskontestation und die Vorbereitung der Schriftsätze Nach der Zulassung der Klage, der Übermittlung der notwendigen Akten und Informationen durch den zuständigen Ordinarius und der Formulierung der Proposition durch den Sekretär der Konzilskongregation, begann die Phase, die speziell zur Vorbereitung der strittigen Rechtssache gilt: die Zitation der Parteien oder ihrer legitimen Bevollmächtigten ad concordandum de Dubio und die Annahme der Deduktionen der Parteien beziehungsweise ihrer respektiven Advokaten⁷⁰ (die sogenannte ponatur in folio-Phase). Die Frist, innerhalb derer man sich dem Sekretär vorstellen musste, um sich mündlich auf das Dubium zu einigen, und innerhalb derer die jeweiligen Schriftsätze im Sekretariat eingegangen sein mussten, wird in der Verordnung von 1695 auf mindestens 15 Tage vor der eigentlich anberaumten Plenarsitzung festgelegt (Artikel 2 und 3).⁷¹ Es handelt sich demnach um zwei
Damit erfüllt die Ordnung im Wesentlichen den Wunsch, den das Konzil von Trient in der 25. Sitzung im Dekret De recipiendis et observandis decretis concilii ausgesprochen hatte (vgl. Anm. 14), eben den Grundsatz, den Ordinarius nicht zu umgehen. Zum Aufbau der Requisitionsschreiben der Bischöfe vgl. Bangen, Die Römische Kurie (wie Anm. 48), S. 14. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 1: con quel di più stimarà necessario Monsig. Segretario per la proposizione. Die Advokaten befassten sich nicht mit der Vertretung der Partei, sondern berieten diese in rechtlicher Hinsicht und verfassten die Schriftsätze im Interesse der Parteien, in der Regel in Abstimmung mit dem Prokurator, vgl. Bangen, Die Römische Kurie (wie Anm. 48), S. 63 f. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 3: Nel medesimo tempo, che si citerà ad concordandum de Dubio […]. Die Konzilskongregation pflegte ihre Plenarsitzungen einmal im Monat stattfinden zu lassen und zwar an einem Samstag. Sie bestand aus mehreren Kardinalsmitgliedern, die sich unter der Leitung des Kardinalpräfekten zur Beratung versammelten; den Schriftverkehr und das Protokoll führte der Sekretär. Zudem wurden die Plenarsitzungen in dem Palast gehalten, wo der jeweilige Papst residierte, also im Vatikan oder im Quirinal, damit er an denselben nach Belieben teilnehmen konnte: […] questa Congregazione, la quale si tiene in giorno di Sabbato nel Palazzo Apostolica due volte il mese, quando la qualità de’negozii, ò l’impedimento delle feste non ne cagioni
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Verfahrensschritte, die parallel verlaufen. Erst wenn man sich auf ein Dubium geeinigt hatte und die Akten vollständig vorlagen, erließ der Sekretär nach Ablauf des Termins das Dekret: ponatur in folio. Vorher konnte kein Fall in folio fixiert werden. Nach Artikel 2 der Geschäftsordnung war die Ladung (citatio) der beiden streitenden Parteien vom Sekretär zu veranlassen, um mit den Parteien den Streitgegenstand mündlich zu besprechen und somit die Grundlage des Verfahrens zu schaffen. Diese begaben sich persönlich oder vertreten durch einen Prokurator beziehungsweise durch ihre Advokaten zum Sekretär der Kongregation, um sich anschließend über die Form der Dubia zu einigen (termius ad concordanda dubia). Mit der Streitfestlegung (litis contestatio)⁷² wurden durch ein Dekret die Streitpunkte (der sogenannte Streitgegenstand) bestimmt. Eine Änderung des Streitgegenstandes war nur noch aus schwerwiegenden Gründen möglich und durfte demnach natürlich im folio nicht geändert werden. Konnten die Parteien sich mündlich über das Dubium einigen (concordandosi), wurde die Übereinkunft schriftlich niedergelegt und vom Sekretär unterschrieben. Falls sich die Parteien nicht darüber einigen konnten (in caso di discordia), wurde das Dubium ex officio⁷³ durch den Sekretär der Konzilskongregation festgelegt und die aus den Fatto, e dalle Scritture gewonnene Erkenntnis des Streitgegenstandes den Parteien mitgeteilt (Artikel 2).⁷⁴ Wenn die vorgeladene Partei nicht zum anberaumten Termin der Verhandlung erschien oder um eine Verzögerung aus bestimmten Gründen bat oder die Verzögerung nicht gewährt wurde, wurde sie als contumacia gegenüber den Anordnungen der Konzilskongregation angesehen.⁷⁵ Der Beklagte hatte dann in allen Kon-
l’alterazione, De Luca, Il cardinale della S. R. Chiesa Pratico (wie Anm. 21), S. 300. Zur Residenz des Papstes am Quirinal vgl. Antonio Menniti Ippolito, I papi al Quirinale. Il sovrano pontefice e la ricerca di una residenza. Rom 2004 (La corte dei papi, Bd. 13), S. 155. Die litis contestatio war die förmliche Streitbefestigung im kontradiktorischen Parteiprozess und machte einen Rechtsstreit rechtshängig, überführte ihn also vom Vorbereitungs- und Eröffnungsstadium in die Phase der engeren gerichtlichen Auseinandersetzung, vgl. Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 10), S. 146 f. Zur Litiskontestation vgl. das grundlegende Werk von Steffen Schlinker, Litis contestatio. Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses in der Zeit vom 12. bis zum 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2008 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 233). Bei dieser Art von Verfahren handelte es sich um ein Disziplinarverfahren, das deshalb als ex officio bezeichnet wurde, weil der Streitgegenstand durch den Sekretär basierend auf der eingereichten schriftlichen Dokumentation entschieden wurde. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 2: Si dovrà citare almeno quindici giorni prima avanti detto Monsig. Segretario a ad concordandum de Dubio, e concordandosi dalle Parti, si sottoscriverà dal sudetto Monsignore, & in caso di discordia, se ne formerà uno ex officio dal medesimo Monsignor Segretario, cavato dal Fatto, e dalle Scritture. Ebd., Art. 4: […] accioche la Parte già citata ad concordandum de dubio, non habbia scusa alcuna di non venire, ò domandare dilazione, non bastando le Intimazioni, che molto avanti fossero state
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stellationen die Folgen seines prozessualen Ungehorsams zu tragen: Er hatte die aus der Säumnis entstandenen Kosten zu tragen, das heißt, die „ungehorsame Partei“ hatte den bestellten Prokurator und die Kosten für die Erstellung der Proposition des Klägers zu tragen. Leistete der Beklagte nicht Folge, wurde keine neue Audienz gewährt und – das galt auch für den Kläger – es wurde im weiteren Verfahren in der Sache selbst – einseitig (etiam unica) – durch den Sekretär verfahren.⁷⁶ War die contumacia beendet, hatte also der Beklagte dem Kläger die aus der Säumnis oder Dilation entstandenen Kosten ersetzt, bedurfte es, um das Verfahren einzuleiten, grundsätzlich des Antrags auf eine neue Audienz beim Sekretär der Konzilskongregation (Artikel 4).⁷⁷ Erst dann konnte das Verfahren ordentlich weitergeführt werden: Die präkludierenden Termine zur Audienz zur Litiskontestation konnten angesetzt und die vorgesehenen Prozesshandlungen (Aushändigung der Schriftsätze, Führung von Beweisen) vorgenommen werden. Der weitere (und parallel zur Zitation der Parteien stattfindende) Verfahrensverlauf war darauf ausgerichtet, eine erforderliche Beweisaufnahme durchzuführen. Dazu setzte der Sekretär den Parteien eine angemessene Frist, bis zu deren Ablauf die Parteien alle (tutte) originalen und authentischen Dokumente (scritture) im Sekretariat der Konzilskongregation zu hinterlegen hatten. Die Advokaten erhielten im Sekretariat Einblick in die Originale und extrahierten alles, was mit der Gestaltung der Schriftsätze zusammenhing, und ließen es in einem geordneten Summarium drucken. Diese mehr oder weniger lange Zusammenfassung diente dazu, den endgültigen Schriftsatz zu verfassen, den man gemäß dem stilus curiae Restrictus iuris et facti nennt (in der Verordnung von 1695: Fatto, e Sommario).⁷⁸
fatte, perché quelle serviranno per accrescere la contumacia […], la Parte Avversaria sarà contumace, non si ammetta scusa alcuna per la dilazione. Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 10), S. 73. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 4: […]; e se per qualsivoglia accidente, o cause precedente della Parte contumace dovesse differirsi la risoluzione, o pure la Parte che è stata contumace volesse domandar nuova Audienza, tanto nel caso della dilazione quanto della nuova Audienza, dovrà pagare al Procuratore della Parte Attrice le spese della Proposizione, e non possa ottenere la nuova Audienza, con tutto portasse motivi nuovi tanto de Facto, quanto de Iure, se prima non havrà rifatte le spese della detta precedente Proposizione all’Attrice. Rechtfertigten die Gründe das Nichterscheinen, dann griffen die spezifischen Folgen der contumacia nicht Platz, so etwa bei Erkrankung oder die Anreise verhindernden Natureinwirkungen oder kriegerischen Ereignissen, vgl. Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 10), S. 73. Der Form halber mussten die Schriftsätze vom Prokurator und/oder Advokaten unterschrieben sein. Im Restrictus iuris et facti wird zum einen in präziser Weise der Tatbestand der Sache (restrictus facti) dargestellt, dem der restrictus iuris, das heißt die rechtliche Erwägung der einzelnen Dubia folgt. Jede Partei versuchte, die Beweisergebnisse zu ihren Gunsten einzusetzen beziehungsweise zu entkräften und mit Hilfe entsprechender Rechtsausführungen der Entscheidung der
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Diese Sachvorträge wurden in schriftlicher Form beim Sekretariat eingereicht und waren vom jeweiligen Prokurator zu unterschreiben.⁷⁹ Fehlte eine Deduktion, so war diese Partei ex officio zu vertreten. Die Schriftsätze der Parteien und der Schriftsatz des Sekretärs wurden vom Sekretär auf ihren ordnungsgemäßen Zustand hin geprüft und mindestens zehn Tage vor der Sitzung der Kardinalskongregation erfolgte nach Artikel 4 das Dekret: ponatur in folio. Diese von den Prokuratoren unterschriebenen Schriftsätze dienten anschließend der Entscheidungsfindung der Konzilskongregation.⁸⁰ 3.2.2.3 Verteilung der Schriftsätze, Verfahrensankündigung und „Risposte, e Repliche“ Zehn Tage vor dem Treffen wurden zum Zweck der Information aller Kardinäle, welche der Konzilskongregation angehörten, die (gedruckten und/oder handgeschriebenen) Exemplare übergeben. Die Parteien wurden dann mündlich informiert, dass die beschriebene und in folio gelegte Causa für die nächste Vollversammlung der Kongregation bereit sei. Am Abend des gleichen Tages tauschten die Parteien im Sekretariat der Konzilskongregation ihre jeweiligen unterschriebenen „Restriktionen“ aus und eine Kopie derselben wurde dem Sekretär übergeben (Artikel 5).⁸¹ Jede der Parteien konnte zwischen Sonntag und Mittwoch, also bis zu vier Tage vor der Vollversammlung der Kongregation,⁸² ihre schriftlichen Antworten auf die Anschuldigungen der anderen Partei vorlegen, neue Dokumente einbringen und
„Richter“ der Konzilskongregation den Weg zu weisen, vgl. hierzu Bangen, Die Römische Kurie (wie Anm. 48), S. 14 f., 169 f. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 3: […], dovranno esser portate in Segreteria tutte le Scritture originali, & autentiche, delle quali le Parti vorranno servirsi col Fatto, e Sommario, che si consegnarà a Monsig. Segretario, e l’uno, e l’altro dovrà esser sottoscritto da Procuratori. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 4: Almeno per dieci giorni avanti dovrà intimarsi, qualiter Causa fuit iam descripta, & posita in folia, & proponetur omnino in prima Sac. Congregatione, ideo. Seit Erlass des Dekrets wurden die Sprache, Form und die Quantität der Beilagen berücksichtigt. Art. 5 des Dekretes stellte den Advokaten und Prokuratoren die freie Wahl, ob sie die Schriftsätze in der lateinischen oder in der italienischen Sprache einreichen wollen (che il Fatto, e Sommario, ò Memoriali in volgare, ò in latino). BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 5: Si dovranno distribuire à tutti, e singoli Eminentissimi le Scritture, Facti, & Iuris col Sommario per tutto il Sabbato antecedente a quello della Congregazione, e nella stessa sera del Sabbato dovranno cambiarsi in Segreteria tra le Parti le Scritture istesse distribuite, avvertendo, che il Fatto, e Sommario, ò Memoriali in volgare, ò in latino, che si cambieranno, e si lascieranno come sopra in mano di Monsig. Segretario, dovranno esser sottoscritti tutti, ò Principali, ò Agenti delle Parti. Vgl. Parayre, La S. Congrégation du Concile (wie Anm. 4), S. 161.
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die Eminentissimi viva voce über die Vorlage der entsprechenden Schriftsätze informieren und diese scritture, sowie facti, et iuris inklusive des Summarium anschließend zustellen (Artikel 6).⁸³ Drei Tage vor der Sitzung wurde die sogenannte schriftbasierte „Diskussion“ gehalten: Der Beklagte konnte, wenn er es für richtig hielt, dem Kläger mit einem Restrictus responsionis antworten. Der Kläger wiederum konnte entsprechend darauf antworten und die andere Partei konnte wiederum auf die schriftlichen Äußerungen der gegnerischen Seite erwidern und so fort. Die Antworten und Repliken (= le risposte, e repliche) konnten in lateinischer oder italienischer Sprache vorgelegt werden, waren am Mittwoch vor der Sitzung im Sekretariat zu präsentieren und ebenfalls an die Kardinäle beziehungsweise die andere Partei zu verteilen.⁸⁴ Die eingereichten Schriftsätze mussten wie die facti et iuris unterschrieben sein, altrimente non si vedranno (Artikel 7).⁸⁵ 3.2.2.4 Die Entscheidung der Kardinalsmitglieder: die Plenarsitzung Die Konzilskongregation schritt zur Entscheidung, wenn die wichtigsten Sach- und Beweisfragen geklärt waren.⁸⁶ Die Kardinäle hatten sich in ihrer Entscheidung
BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 6: Si dovranno informare gli Eminentissimi dalla Domenica precedente a tutto il Mercordi della settimana della Congregazione. Vgl. Parayre, La S. Congrégation du Concile (wie Anm. 4), S. 161. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 7: Le Risposte, e Repliche sì latine, come volgari dovranno distribuirsi per tutto il Mercordì sudetto, & esser parimente sottoscritte come sopra, altrimente non si vedranno. Während für die Fälle der Nichtigkeit von Ordensgelübden eine gleiche Reihenfolge, Terminsequenz und die gleichen Fristen einzuhalten waren, hatten die jeweiligen Parteien in Gnadenfällen (cause graziose) die vom Prokurator oder Agenten unterschriebenen Schriftsätze am Montag vor der Plenarsitzung einzureichen, damit das ristretto für die nächste Sitzung formuliert werden konnte (vgl. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 8 und 9). Das Hauptverfahren selbst fehlt in der Geschäftsordnung von 1695, da es sich um die Regelung des Vorverfahrens der Konzilskongregation handelte. Die Plenumssitzung ist jedoch in den drei behandelten Phasen stets gegenwärtig und diente als Referenzpunkt zur Festlegung der Terminsequenz; BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r, Art. 2: Si dovrà citare almeno quindici giorni prima; ebd., Art. 4: almeno per dieci giorni avanti; ebd., Art. 5: per tutto il Sabbato antecedente a quello della Congregazione; ebd., Art. 6: dalla Domenica precedente a tutto il Mercordì della settimana della Congregazione. Über das tatsächliche Prozedere der Diskussion, die Entscheidungsfindung, ist wenig bekannt. Dass die anwesenden Kardinäle diskutiert, debattiert und abgestimmt haben, steht allerdings fest. In den Serien der Libri Decretorum und des Thesaurus Resolutionum werden nur die getroffenen Entscheidungen festgehalten, nicht der Prozess, der zu ihnen geführt hat. Allerdings enthält das Archiv der Konzilskongregation einige Serien, die zu dem noch ungeordneten Material gehören und die zum jetzigen Zeitpunkt im AAV nicht konsultierbar sind. Es handelt sich um Volumina, die auf dem Rücken der Bände den folgenden Titel tragen: Vota S. Congregationis Concilii E.mi Praefecti (1675–1688, 3 Bde.) sowie Vota Sac. Congr. Concilii (1687–1696, 6 Bde.), vgl. Pásztor,
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grundsätzlich an den in der Litiskontestation festgelegten Streitgegenstand zu halten, zudem waren sie in ihrer Urteilsfindung grundsätzlich auch auf das Vorbringen der Parteien und ihre Beweisführung angewiesen. Nachdem in einem Verfahren eine Entscheidung durch Mehrheitsbeschluss des Dikasteriums mündlich getroffen worden war, wurde ein Dekret vorbereitet oder ein Begnadigungsschreiben oder eine Ausnahmegenehmigung erteilt.⁸⁷ Zusammen mit dem Präfekten wurden anschließend die Entscheidungen, Briefe und Erlasse der Kongregation, unterschrieben, da ihnen ohne diese Voraussetzung zusammen mit dem Siegel des Dikasteriums die Autorität fehlte.⁸⁸ Erst im Anschluss ließ der Sekretär den Entscheid in das Register (die Libri Decretorum) aufnehmen, die Kopien der versendeten Briefe in der Regel in das Register der Libri Litterarum und die bei der Praxis produzierten Schriftstücke beziehungsweise die beglaubigten Originale in die Akten der Positiones abheften. Die Entscheidung wurde stets als Antwort auf die einzelnen Dubia gefasst, und zwar mit der größtmöglichen Kürze, Schärfe und Bestimmtheit.⁸⁹
4 Abschließende Bemerkungen Mit der Geschäftsordnung vom 17. September 1695 liegt zum ersten Mal für die Konzilskongregation eine detaillierte, schriftlich niedergelegte normative Quelle vor, die den Prozess in strittigen Rechtssachen regelt. Zwar enthält diese keine weiterführenden Informationen über das Entscheidungsverfahren in den Plenarsitzungen der Kardinalskommission, dennoch liefert sie eine knappe und zugleich detailreiche Regelung für Fragen der Gerichtsorganisation, wie etwa die Bearbei-
Congregazione del Concilio (wie Anm. 39), S. 148, Anm. 2, sowie Caiazza, L’archivio storico (wie Anm. 11), Appendice 1, S. 19 f. Michele Lega, Compendium praelectionum de iudiciis ecclesiasticis. Rom 1906, S. 301, stellt fest, dass der Sekretär der Konzilskongregation im Gegensatz zu anderen Dikasterien über die Rechtsfälle weder das Konsultationsrecht noch das Recht auf Abstimmung hatte. Das Siegel der Konzilskongregation trägt dabei den Namen und das Wappen des Präfekten, vgl. De Luca, Il cardinale della S. R. Chiesa Pratico (wie Anm. 21), S. 300, Nr. 3: Vi è un Cardinale Prefetto, il quale sottoscrive li decreti, e le lettere, con la sottoscrizione ancora del Segretario, e col sigillo del medesimo Prefetto. Die Expedition geschah so, dass unter den kopierten restrictus die Dubia geschrieben und dann in der Form Sacra Congreg[ati]o E[minentissim]orum S[acra] R[omana] E[cclesia] Card[ina]lium Concilii Trid[entini] Interpretum S. Congregatio respondit beziehungsweise censuit […] usw. geantwortet wurde. Die Antworten erfolgten in der Regel in prinzipiellen Formeln, vgl. hierzu eine Auflistung mit Beispielen bei Lucien Choupin, Valeur des decisions doctrinales et disciplinaires du Saint-Siège. Syllabus, Index, Saint-Office, Galilée, Congrégations romaines. L’inquisition au moyen âge. 2. Aufl. Paris 1913, S. 470–472.
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tung von Eingaben, den Umgang mit den Parteien und die Überreichung der jeweiligen Schriftsätze im Verfahren unter Beachtung der prozessualen Fristen (auch um etwaigen Verschleppungen des Prozesses zu begegnen).⁹⁰ Dass es eine solche normative Ordnung gab, zeigt, dass der modus procedendi des Dikasteriums in strittigen Rechtssachen offenbar keineswegs selbstverständlich war, sondern von Seiten der Konzilskongregation Vorschriften und Formalitäten einer Fixierung bedurften, die unabdingbar zu beachten waren (da osservarsi indispensabilmente).⁹¹ Sie diente demnach als Grundlage für die bestimmten Handlungen der Streitparteien und ihrer Vertreter sowie für die Legitimierung der rechtmäßigen Handlungen und die Gestaltung der Arbeitsweise des römischen Dikasteriums.⁹² Dabei fixierte die Geschäftsordnung vorher übliche Praktiken und, wie das überlieferte Archivgut der Konzilskongregation demonstriert, stimmt die Regelung mit den Verfahrensrealitäten überein. Nach den ausgeführten Beobachtungen wird deutlich, dass die Prozesse der Konzilskongregation dem Prinzip der Schriftlichkeit folgten. Alle für die Entscheidung wichtigen Äußerungen mussten zur Entfaltung ihrer rechtlichen Wirkung durch die Schrift vermittelt werden.⁹³ Letztendlich spiegeln sich das Normengefüge, das schriftbasierte Prozesswesen und das hochgradig verschriftlichte Regierungssystem der Kongregation überhaupt in der Archivierungspraxis der Konzilskongregation wider. Die hier gesicherte Verfügbarkeit der produzierten Materialien steht in einem untrennbaren Verhältnis zum Prinzip der Schriftlichkeit. Die „zwischen den Aktendeckeln“⁹⁴ versammelten Schriftsätze stammen dabei zum größten Teil von den Parteien und nicht vom Dikasterium. Zudem wird ein anderer Punkt deutlich: Die Entscheidungsfindung der Kardinalsmitglieder des Dikasteriums beruhte zwangsläufig auf einem vertieften Studium der eingebrachten Schriftsätze, auch wenn letztendlich die Entscheidungsfindung auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse und durch die Diskussion im Plenum beziehungsweise das Urteil durch Mehrheitsbeschluss der Kardinalsmitglieder erfolgte. Dies ist bei der Beurteilung der Entscheidungsfindung eine
Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 10), S. 41 f. BAN, Manoscritti, ms. 230, fol. 190r: Ordini da osservarsi indispensabilmente nelle proposizioni delle cause contentiose dette in folio nella Sagra Congregazione del Concilio. Vgl. Eva Ortlieb, Das Prozeßverfahren in der Formierungsphase des Reichshofrats, in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. Köln/Weimar/Wien 2009 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 56), S. 117–138 (hier S. 117 und S. 119). Vgl. Bernhard Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit (wie Anm. 92), S. 105–115 (hier S. 105). Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 10), S. 118.
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wichtige Feststellung: Die Kommission der Kardinalsmitglieder entschied in einem mündlichen Verfahren auf der Grundlage eines schriftbasierten Prozesswesens.⁹⁵ Die dem schriftlichen Prozess anhaftende Schwerfälligkeit bedurfte der Ergänzung durch die beobachteten mündlichen Elemente, die eine gewisse Beweglichkeit innerhalb des Systems gewährleisteten. Die Sacra Congregatio Concilii mit ihrem rein schriftlichen Verfahren bildete hier keine Ausnahme, wie die prozessrechtlichen Verfahrensschritte der Litiskontestation, die Ankündigung von eingereichten Schriftsätzen, die Strukturierung des Prozesses durch Termine oder die Submission demonstrieren. So ergänzten sich die beiden Phänomene Schriftlichkeit und Mündlichkeit, bildeten ein „unauflösbares Spannungsverhältnis“⁹⁶ und einen wesentlichen Aspekt in der Ausgestaltung von Gerichtsverfahren der Konzilskongregation.⁹⁷
Hierzu zuletzt Alexander Durben/Matthias Friedmann/Laura-Marie Krampe/Benedikt Nientied/ André Stappert, Interaktion und Schriftlichkeit als Ressourcen des Entscheidens (ca. 1500–1850), in: Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens (wie Anm. 64), S. 168–208. Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 10), S. 173. Andere Dikasterien der römischen Kurie folgen weitestgehend dem Verfahren in strittigen Rechtssachen, wie es hier für die Konzilskongregation dargelegt wurde. Zudem halten die Kongregationen im Allgemeinen ihre Entscheidungen, Beschlüsse und Resolutionen in den Libri Decretorum fest, vgl. hierzu Bangen, Die Römische Kurie (wie Anm. 48), S. 12–15, sowie Heinrich L. Hoffmann, De Thesauri Resolutionum S. C. Concilii historia una cum forma presentationis externae. Investigatio de aliqua phase S. Congregationis Concilii minus nota, in: Periodica de re morali canonica liturgica 54 (1965), S. 232–289; S. 337–351 (hier S. 237). Dennoch finden sich in der dritten Phase (von der Streitfestlegung bis zur Vollsitzung der Kardinalsmitglieder) Unterschiede. So diente etwa der Sekretär der Konzilskongregation in strittigen Rechtssachen als Referent (Ponente), also als Person, die für die Erstellung einer Zusammenfassung jedes Falles verantwortlich war, in der die Merkmale der vorgelegten Beweise und die relevanten Rechtsfragen dargelegt wurden, die die Kardinalmitglieder bei ihrer Entscheidung berücksichtigen sollten, vgl. Anne Jacobson Schutte, By Force and Fear. Taking and Breaking Monastic Vows in Early Modern Europe. Ithaca/London 2011, S. 111. Die Funktion des Ponenten wurde in anderen Kongregationen nicht dauerhaft von derselben Person ausgeübt, sondern fand im Wechsel der einzelnen Kardinäle innerhalb des Dikasteriums statt, vgl. De Luca, Il cardinale della S. R. Chiesa Pratico (wie Anm. 21), S. 299: […] in qualità di Segretario, il quale è relatore delli dubbii, e delli memoriali col suo voto consultivo, siche non vi è l’uso de’Ponenti, come in alcun’altre Congregazioni, e particolarmente in quelle de’Vescovi, e Regolari, e dell’Immunità ecclesiastica, & il numero de’Cardinali è vario, secondo l’arbitrio del Papa.
Carolin Katzer
Die Bedeutung und Nutzung der Schriftlichkeit in Wormser Konfessionskonflikten vor den höchsten Reichsgerichten 1 Einführung
Als im März 1727 katholische Gläubige unter Führung eines Dominikanerpaters mit emporgehobener Monstranz zu einem Kranken in Form einer Prozession zogen, damit der Pater das Sakrament der Krankensalbung spenden konnte, äußerte der lutherische Wormser Magistrat sein Missfallen gegen diese vermeintliche Neuerung schriftlich in Form eines Protestschreibens an den Weihbischof.¹ Bei einem anderen Konflikt im Jahr 1712, als der lutherische Wormser Magistrat Bauarbeiten an der zwischen Katholiken und Lutheranern umstrittenen Magnuskirche vornehmen wollte, legten die Katholiken einen schriftlich formulierten Protest dagegen ein.² Beide kurz beschriebenen Episoden stellen schlaglichtartig die Nutzung der Schriftlichkeit in Wormser Konfessionskonflikten vor Ort in der Infrajustiz heraus. Dabei bezieht sich dieser Begriff, der aus der historischen Kriminalitätsforschung stammt, auf eine außergerichtliche Austragung von Konflikten.³ Doch wenn diese außergerichtliche Konfliktschlichtung in Worms gescheitert war, wandten sich vor allem die Katholiken und Reformierten in Wormser Konfessionskonflikten an die höchsten Reichsgerichte, weniger an die Stadtgerichte vor Ort, die durch die dominierende lutherische Besetzung vermutlich als konfessionell voreingenommen galten.⁴ Gerade an den höchsten Reichsgerichten machten sich die Wormser Par-
Stadtarchiv Worms (künftig: StadtA Worms), Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 1, Relation des Stadtschreibers Weisse und des Ratschreibers Wissmann, 1. März 1727, unfol., Nr. 2. Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Darmstadt, E 5 B 2362,Wahrhaffter Gegenbericht […] wieder die falsa narrata der Stadt gegen das Bistumb Wormbß, 17. Dezember 1712, fol. 86v. Karl Härter, Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2018, S. 51. Im Wormser Gerichtswesen dominierte der Dreizehnerrat, welcher aus ausschließlich lutherischen Bürgern bestand. Vgl. Gunter Mahlerwein, Worms, in: Karl Härter/Michael Stolleis (Hrsg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 10: Reichsstädte 4. Speyer, Wetzlar, Worms. Frankfurt a. M. 2010 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 251), S. 551–688 (hier S. 558). https://doi.org/10.1515/9783111077406-010
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teien in Konfessionskonflikten die Schriftlichkeit noch vielfältiger als vor Ort zu Nutze; sei es um Konfessionskonflikte über die Schriftlichkeit zu schlichten, die eigene Position durchzusetzen, oder sei es, um den Konfessionsgegner mittels der gedruckten Schrift in ärgerliche[n] Schandschrifften ⁵ zu diskreditieren und damit den Verlauf des Gerichtsverfahrens wesentlich zu prägen. Die Parteien bedienten sich nicht nur der zwingend vorgegebenen Schriftlichkeit vor den Reichsgerichten, sie machten sich auch deren spezifische Vorteile und Eigenschaften zunutze, wodurch sich die Schriftlichkeit im 18. Jahrhundert zu einem wesentlichen Medium der konfessionellen Konfliktaustragung entwickelte. Damit stellte sie ein probates Mittel im gerichtlichen Verfahren betreffend Wormser Konfessionskonflikte dar, weil sie nicht nur das eigentliche Gerichtsverfahren, sondern die Konfliktgeschehnisse vor Ort in Worms beeinflusste – eine These, der im Folgenden nachgegangen werden soll.⁶ Vor diesem Hintergrund stehen die Akten, vor allem die Schriftsätze der Parteien, im Fokus der Analyse sowie die juristischen Druckschriften, die einerseits den Akten beigegeben wurden, andererseits auch an eine erweiterte Öffentlichkeit gerichtet waren, womit die Verfahren über Worms und die Reichsgerichte in Wetzlar und Wien hinaus bekannt werden sollten.⁷ Die Analyse der Argumentationsweise und der sprachlichen Ausgestaltung sowohl der juristischen Schriften als auch der begleitenden Druckschriften offenbart hinter den auf den ersten Blick scheinbar eindeutigen Konfessionskonflikten eine weitere Ebene der Auseinandersetzung, die von den alltäglichen Verhältnissen vor Ort nicht zu trennen ist. Mit dieser zusammenhängenden Betrachtung von Reichs- und Territorialebene wird dabei gleich-
StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 2000, Fasz. 1, Wormser Magistrat an den Reichshofratsagenten Johann Friedrich Fischer [Konzeptschreiben], 4. März 1774, unfol. Die vorliegenden Ergebnisse entstammen meiner im November 2019 an der Johannes GutenbergUniversität Mainz eingereichten Dissertation „Konflikt – Konsens – Koexistenz. Konfessionskulturen in Worms im 18. Jahrhundert“, die am 12. Juni 2020 in Mainz verteidigt worden ist, nunmehr: Carolin Katzer, Konflikt – Konsens – Koexistenz. Konfessionskulturen in Worms im 18. Jahrhundert. Münster 2022 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 146). Die Rolle der Reichsgerichte zur Beilegung der Konfessionskonflikte hat ebenfalls Stefan Ehrenpreis in seiner Dissertation herausgearbeitet: Stefan Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 72). Dies ist aber noch immer ein Forschungsfeld, das genauerer Untersuchungen bedarf. Damit steht in diesem Beitrag das Verfahren im Hinblick auf die Parteienverhandlungen im Fokus; die genauen multikonfessionellen Verhältnisse vor Ort bleiben in diesem Beitrag unberücksichtigt. Eva Ortlieb richtet ihren Beitrag in diesem Band vor allem auf den Entscheidungsfindungsprozess und erweitert damit die hier vorliegende Perspektive.
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zeitig die besondere Struktur des Alten Reiches, die „Fraktalität“,⁸ berücksichtigt. Ein wesentlicher verbindender Faktor dieses fraktalen Gebildes, der nicht „klar voneinander zu trennende[n] institutionelle[n] Ebenen“⁹ des Reiches, war nämlich, so lautet die Argumentation dieses Beitrags, die – über die Reichsgerichte laufende – Schriftlichkeit, welche zugleich das soziale Handeln der Akteure bedeutend prägte. Denn das schriftlich geführte Verfahren an einem der beiden höchsten Reichsgerichte und die teilweise mündlich ausgetragenen konfessionellen Konflikte vor Ort standen in einem unabdingbaren Wechselverhältnis.
2 Worms im 18. Jahrhundert – eine Reichsstadt, drei Konfessionen Im Worms des 18. Jahrhunderts lebten Angehörige dreier Konfessionen, und zwar Katholiken, Lutheraner und Reformierte, in einem eng umgrenzten Stadtgebiet zusammen. Damit gehörte das Muster einer religiösen Pluralität von drei miteinander lebenden Glaubensgemeinschaften, wie im Westfälischen Frieden dargelegt, hier zur Realität. Im Westfälischen Frieden sollten unter anderem die religiösen Differenzen im Reich aufgelöst und ein friedliches Verhältnis zwischen den Konfessionen sichergestellt werden, um die Grundlagen für einen beständigen Frieden zu bieten.¹⁰ Maßgeblich für die Regelung des friedlichen Zusammenlebens der drei im Westfälischen Frieden anerkannten Konfessionen waren die in Artikel V des Westfälischen Friedens niedergeschriebenen Regelungen zu den konfessionel-
Falk Bretschneider und Christophe Duhamelle bezeichnen das Zusammenspiel der verschiedenen Reichsebenen als „Fraktalität“, die von Institutionen und dem Handeln der Individuen abhing. Sie konstatieren, dass „das Reich nicht durch klar voneinander zu trennende institutionelle Ebenen geprägt war, sondern durch ein Ineinanderfließen dieser Ebenen, das vor allem durch das sich im Raum bewegende soziale Handeln der Akteure hervorgebracht wurde“, womit sie das fraktale Gebilde beschreiben. Falk Bretschneider/Christophe Duhamelle, Fraktalität. Raumgeschichte und soziales Handeln im Alten Reich, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43 (2016), S. 703–746 (hier S. 716, 720). Ebd., S. 720. Vgl. Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden. 3. Aufl. Münster 1964, S. 6. Im Folgenden wird der Friedensvertrag von Osnabrück zitiert. Antje Oschmann (Hrsg.), Die Westfälischen Friedensverträge vom 24. Oktober 1648. Texte und Übersetzungen. Deutsche Übersetzung des IPO von Arno Buschmann (1984). Publiziert im Internet 2004, http://www.pax-westphalica.de/ipmipo/pdf/o_1984dt-busch. pdf (abgerufen am 18. Januar 2023),V, §§ 1, 34 (künftig: IPO); Gerd Schwerhoff, Konfessionskonflikte um 1700 zwischen instrumenteller Religionspolitik und konfessioneller Mobilisierung, in: Ulrich Rosseaux/Gerhard Poppe (Hrsg.), Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Münster 2012, S. 17–34 (hier S. 17).
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len Verhältnissen.¹¹ Dafür wurden die drei im Reich anerkannten Konfessionen gleichgesetzt und das weltliche Recht von der religiösen Wahrheitsfrage getrennt. Vor diesem Hintergrund wurde zudem die Unterdrückung eines der drei anerkannten Bekenntnisse verboten.¹² Seit dem Jahr 1527, als in Worms die Reformation eingeführt worden war, waren das Gros der Bürger und der Magistrat der Stadt lutherischer Konfession.¹³ Eine politische Beteiligung als Mitglied des Magistrats war nur den Lutheranern vorbehalten – auch noch im 18. Jahrhundert.¹⁴ Dieser seit dem 16. Jahrhundert in Worms lebenden lutherischen Mehrheit stand eine katholische Minderheit gegenüber, die im Fürstbischof und dem Domkapitel einen wichtigen Rückhalt fand.¹⁵ Neben der katholischen Minderheit lebten zudem reformierte Einwohner bereits seit dem 16. Jahrhundert in Worms,¹⁶ jedoch wurden ihnen erst im Jahr 1699 die öffentliche Religionsausübung und das Bürgerrecht vom Magistrat zugestanden.¹⁷ In der Reichsstadt Worms mussten somit im Zeitalter der Aufklärung drei Konfessionen miteinander leben, die je nach konfessioneller Zugehörigkeit unterschiedliche Rechte genossen; so war etwa die politische Beteiligung gänzlich den Lutheranern vorbehalten. Insbesondere aus dieser unterschiedlichen Stellung der Konfessionen in der Reichsstadt konnte die friedliche Trikonfessionalität besonders anfällig für Konflikte bei Störung der konfessionellen Hierarchie sein. Denn sobald das friedliche Zusammenleben aufgrund von Unstimmigkeiten untereinander oder mit der Obrigkeit nicht mehr reibungslos verlief, konnte dies zu Konflikten führen; eine Konsequenz der gelebten Mehrkonfessionalität, die an diesem Punkt beson-
Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden (wie Anm. 10), S. 8 f. Das reformierte Bekenntnis war erstmals im Westfälischen Frieden von 1648 anerkannt worden, im Augsburger Religionsfrieden von 1555 war dieses noch ausgeschlossen gewesen. Vgl. IPO Art. V, §§ 1, 34; Schwerhoff, Konfessionskonflikte um 1700 (wie Anm. 10), S. 17. Vgl. Hans-Jürgen Becker, Ansätze zur Bildung urbaner Zentren im Alten Reich. Zur Territorialpolitik der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg, in: Jörg Oberste (Hrsg.), Metropolität in der Vormoderne. Konstruktionen urbaner Zentralität im Wandel. Regensburg 2012 (Forum Mittelalter, Bd. 7), S. 119–137 (hier S. 123 f.); Gunter Mahlerwein, Die Reichsstadt Worms im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gerold Bönnen (Hrsg.), Geschichte der Stadt Worms. 2. Aufl. Darmstadt 2015, S. 291–352 (hier S. 341 f.). Vgl. hierzu Mahlerwein, Die Reichsstadt Worms (wie Anm. 13), S. 341 f. Ebd., S. 343. Vgl. ebd.; Fritz Reuter, Mehrkonfessionalität in der Freien Stadt Worms im 16.–18. Jahrhundert, in: Bernhard Kirchgässner/Fritz Reuter (Hrsg.), Städtische Randgruppen und Minderheiten. Sigmaringen 1986 (Stadt in der Geschichte, Bd. 13), S. 9–48 (hier S. 29 f.). Vgl. StadtA Worms, Abt. 1 A, Nr. I–1045, Vertrag zwischen dem Rat der Stadt Worms und der reformierten Gemeinde, der Rat der Stadt Worms gewährt zur Wiederemporhebung der Stadt den reformierten Bürgern freie Ausübung ihrer Religion, 13. Juni 1699, unfol.
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ders für die Forschung von Interesse ist.¹⁸ Sicher spielten auch weiterhin gewaltvolle Konfessionskonflikte vor Ort zwischen den Untertanen eine Rolle, aber vor allem die Reichsgerichte bildeten einen wichtigen Rahmen, innerhalb dessen konfessionelle Identität und Konflikte weitgehend ohne Anwendung physischer Gewalt ausgehandelt wurden. Somit sind die Verfahren an den Reichsgerichten, die im Zentrum dieses Beitrags stehen, auch ein Zeichen reichsrechtlicher Gestaltung des multikonfessionellen Zusammenlebens. Welche Rolle der Schriftlichkeit in Konfessionskonflikten des 18. Jahrhunderts zukam, die vor die höchsten Reichsgerichte gelangten, soll im Folgenden exemplarisch erstens anhand eines am Reichskammergericht ausgetragenen Konfessionskonflikts zwischen dem lutherischen Magistrat und der reformierten Gemeinde aus den Jahren 1714–1715 und zweitens anhand eines am Reichshofrat ausgetragenen Konfessionskonflikts zwischen dem lutherischen Magistrat und den Katholiken aus den Jahren 1727–1732 in den Mittelpunkt der Ausführungen gestellt werden. Die vielschichtige Rolle von Schriftlichkeit als deeskalierendes und konfliktförderndes Mittel in Verfahren an den höchsten Reichsgerichten soll in diesem Beitrag zudem näher beleuchtet werden.
3 Ein Konfessionskonflikt vor dem Reichskammergericht – die Veränderung eines lokalen Konfliktes Den Reformierten war erstmals im Jahr 1699 in Worms unter gewissen Einschränkungen die öffentliche Religionsausübung in einem Vertrag, Konkordat genannt, vom lutherischen Magistrat zugestanden worden; ein wesentlicher Zweck dieses Zugeständnisses lag in der Wiederbevölkerung und dem Wiederaufbau der Stadt nach der großen Zerstörung im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689.¹⁹ Spannungen entstanden nicht notwendigerweise zwischen den Konfessionen, konnten aber im interkonfessionellen Miteinander, wie sich zeigt, an Intensität gewinnen. In den ersten 15 Jahren nach dem Vertragsabschluss gestaltete sich das multikonfessionelle Zusammenleben relativ konfliktfrei, jedoch setzte die reformierte Gemeinde den
Vgl. hierzu Daniela Blum, Multikonfessionalität im Alltag. Speyer zwischen politischem Frieden und Bekenntnisernst (1555–1618). Münster 2015 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 162), S. 4. StadtA Worms, Abt. 1 A, Nr. I–1045, Vertrag zwischen dem Rat der Stadt Worms und der reformierten Gemeinde, der Rat der Stadt Worms gewährt zur Wiederemporhebung der Stadt den reformierten Bürgern freie Ausübung ihrer Religion, 13. Juni 1699, unfol.
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lutherischen Magistrat am 5. Oktober 1714 in Kenntnis, dass sie ihren reformierten Schullehrer Johann Philipp Böhm mit einer Mehrheit der Stimmen kurzfristig entlassen habe wegen ärgerlich geführten lebens, auch sonsten wegen ermanglung nöhtiger capacität ohnahnständigen Menschens. ²⁰ Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung war offenbar eine generelle Unzufriedenheit der reformierten Gemeinde mit dem reformierten Schullehrer, die in den Akten bis 1714 nicht konkretisiert wird, aber dennoch tiefgreifende Differenzen in der Gemeinde befördert hatte. Die Begründung der Entlassung des Schullehrers in den innerstädtischen Schreiben kurz nach der Entlassung spricht eine persönlich-verbitterte Sprache, gleichzeitig ist sie aber auch dissimulierend gehalten. Dissimulierend ist das Schreiben, weil keine konkreten Gründe für die Absetzung genannt werden und die Quellen zunächst nur generelle interpersonelle Differenzen zwischen der Gemeinde und ihrem Schullehrer vermuten lassen. Obwohl Worms im 18. Jahrhundert eine Stadt war, in der sich die meisten Einwohner persönlich kannten, entsteht der Eindruck, dass die Reformierten mit der lutherischen Obrigkeit schon zu Anfang dieses Streites vorwiegend schriftlich statt mündlich miteinander kommunizierten. Aufgrund der Überlieferungslage kann eine ausschließlich schriftliche Kommunikation zwar nicht sicher belegt werden, Hinweise auf mündliche Verständigung finden sich in den Quellen jedoch nicht. Doch warum musste der Magistrat als weltliche Obrigkeit überhaupt über die Absetzung eines reformierten Schullehrers informiert werden, der zudem von der reformierten Gemeinde bezahlt wurde? Die rechtlichen Grundlagen hierfür sind im Vertrag, dem Konkordat, zwischen dem Magistrat und der reformierten Gemeinde vom 13. Juni 1699 zu finden. Das Ergebnis der wochenlangen Verhandlungen um die Aufnahme der Reformierten, bei denen um genaue Formulierungen der insgesamt 14 Artikel zwischen Magistrat und reformierter Gemeinde gerungen worden war, war ein Vertrag mit einigen bewusst dissimulierenden Formulierungen, die es beiden Parteien erlaubten, denselben Vertrag in ihrem Sinne zu deuten – ein zeitgenössisches juristisches Mittel, um einen Kompromiss zwischen zwei Parteien zu erreichen.²¹ Der Vertrag verschriftlichte die lutherische Oberherrschaft, auch über reformierte kirchliche Belange, was besonders der für den vorliegenden Konflikt entscheidende Artikel 4 verdeutlicht. Prediger und Schullehrer durften von der Gemeinde berufen und
StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1990, Fasz. 1, Vorsteher der reformierten Gemeinde Georg Abraham Schertz, Johann Adam Clemens und Johannes Schön an den Wormser Magistrat [zeitgenössische Kopie], undat. [Oktober 1714], unfol. Martin Heckel, Reichsrecht und „Zweite Reformation“. Theologisch-juristische Probleme der reformierten Konfessionalisierung, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Gütersloh 1986 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 195), S. 11–43 (hier S. 15).
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entlassen werden, jedoch sollten Sie davon und in beyden fällen Jedesmahl Einem WohlEdlen und Hochweißen Rath gebührende Anzeig thun. ²² Dies war eine notwendige dissimulierende Formulierung, um die lange in den Verhandlungen gerungen worden war.²³ Verschleiernd war sie insofern, als nicht deutlich war, ob vor oder nach der Absetzung eines Predigers oder eines Schullehrers die Anzeige beim Magistrat erfolgen sollte – und genau diese Auslegungsmöglichkeit sollte im weiteren Konfliktverlauf einen zentralen Stellenwert erlangen. All diesen Vorwürfen in den ersten Schreiben an den Magistrat ist der Versuch der reformierten Gemeinde gemeinsam, in der Berichterstattung konkrete Gründe und Tatsachen der Absetzung zu verbergen. Aus den Schreiben im Gesamten geht ob der eindeutigen Semantik (Rott und Spaltung; ²⁴ nöhtiger capacität ohnanständigen Menschens ²⁵) hervor, dass ein Konflikt in der Gemeinde augenscheinlich am Schwelen gewesen ist. Schon zu Anfang der Auseinandersetzung machte sich die Gemeinde vor Ort die Schriftlichkeit zu Nutze, um konkrete Argumente zu verschleiern. Es deutet sich in diesen teilweise unkonkreten Darstellungen an, dass es hier nicht ausschließlich um die Auseinandersetzung um den Schullehrer ging, denn es schwelte ein weiterer, grundlegender Konflikt um die Selbstbestimmtheit und Akzeptanz einer konfessionellen Minderheit in dieser Auseinandersetzung, wie der weitere Konfliktverlauf konkretisiert. In Worms eskalierte die Entlassung des Schullehrers sodann im Kirchenraum, weil er trotz des Verbots der Gemeinde weiterhin in der Kirche den Gesang der Psalmen angestimmt und aus der Bibel vorgelesen hatte,²⁶ woraufhin eine [reformierte] Rotte […] in die Kirch kommen, welche den Schulmeister angefallen, und ihm die Bibel aus der hand reißen wollen, die jedoch derselbe fest gehalten auch einige Assistenz von andern bekommen, worüber dann in der Kirch ein solcher Tumult und
StadtA Worms, Abt. 1 A, Nr. I–1045, Vertrag zwischen dem Rat der Stadt Worms und der reformierten Gemeinde, der Rat der Stadt Worms gewährt zur Wiederemporhebung der Stadt den reformierten Bürgern freie Ausübung ihrer Religion, Worms, 13. Juni 1699, unfol. Stättm. Wissman referirte, wie daß wegen des exercitii religionis mit den reformirten uber den 4. § bißhero die größte discrepantz geweßen. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 525, Ratsprotokoll, 27. März 1699, S. 131. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Relation der Vorsteher der reformierten Gemeinde, 8. Januar 1713, unfol., Nr. 6. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1990, Fasz. 1, Vorsteher der reformierten Gemeinde Georg Abraham Schertz, Johann Adam Clemens und Johannes Schön an den Wormser Magistrat, o. D. [Oktober 1714], unfol. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 2006, Fasz. 2, Auszug aus dem Policeygerichtsprotokoll, 12. September 1714, unfol.
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lermen entstanden. ²⁷ Daraufhin griff der lutherische Magistrat in seiner Funktion als städtische Obrigkeit mit einem Dekret ein, das die Beibehaltung des reformierten Schullehrers in seinem Dienst forderte und widerrechtliches Handeln unter eine Strafe von 1000 Gulden setzte – damit widersprach der Magistrat der Absetzung des Schullehrers durch die Gemeinde.²⁸ Schließlich sah der Magistrat vor allem den Frieden und damit die städtische Ordnung gefährdet. Doch nach dem Eingriff der städtischen Regierung nahmen die Ereignisse eine Wendung. Eingeleitet wurde diese Ereigniswende Ende des Jahres 1714, als sich die reformierte Gemeinde als Reaktion auf das Dekret an das Reichskammergericht in Wetzlar wandte und um ein Mandat sine clausula nachsuchte.²⁹ Mit dem Mandatsprozess stand dem Reichskammergericht eine Verfahrensart zur Verfügung, sehr schnell und „im Sinne einer einstweiligen Verfügung“³⁰ bei Rechtsbruch oder Gefährdung einzugreifen; ein erlassenes Mandat bot den „Antragsstellern schnellen und effektiven Rechtsschutz“.³¹ Die reformierte Gemeinde hatte den Konflikt mittels der Supplik an eines der höchsten Reichsgerichte vom Raum der reformierten Gemeinde in einen größeren politischen und rechtlichen Raum gehoben. Unerwartet ist nicht die Supplik an das Reichskammergericht, unerwartet ist vielmehr die veränderte Argumentationsweise. Die Supplik ist deswegen so bedeutsam, weil diese im Gegensatz zu den vorherigen Schreiben an den Magistrat eine gänzlich
StadtA Worms, Abt 1B, Nr. 2006, Fasz. 2, Facti Species des Regierungsrates Georg Daniel Cruciger, 28. Mai 1717, fol. 5r. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Dekret [zeitgenössische Kopie], 14. September 1714, unfol. Am 23. Oktober 1714 wurde eine Untersuchungskommission bestehend aus Magistratsmitgliedern angeordnet. Die Quellen geben hierzu keine weitere Auskunft, was darauf schließen lassen könnte, dass diese Kommission ihre Tätigkeit nie aufgenommen hat. Vgl. hierzu StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Auszug aus dem Ratsprotokoll, 23. Oktober 1714, unfol., Nr. 5. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Supplik der reformierten Gemeinde, undat. [verlesen in Sen. XIII, den 3. Januar 1715], unfol., Nr. 1a. Die gerichtlichen Akten sind nicht überliefert, aber ihr Inhalt kann anhand von Duplikaten im Stadtarchiv Worms partiell rekonstruiert werden. Das Nachsuchen der reformierten Gemeinde um einen Mandatsprozess gibt Aufschluss über die Wahrnehmung der reformierten Untertanen. Ein Mandatsprozess wurde bemüht, „wenn ein offensichtlich rechtswidriger Übergriff des Beklagten durch den Kläger mit Hilfe des Gerichts rasch und wirksam abgestellt werden sollte.“ Anette Baumann, Visitationen am Reichskammergericht. Berlin/Boston 2018 (bibliothek altes Reich, Bd. 24), S. 54. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil 1: Darstellung. Köln/Weimar/Wien 2011 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 26/I), S. 78. Peter Oestmann, Streit um Anwaltskosten in der frühen Neuzeit, Teil 2: Gerichtszuständigkeit und Verfahrensarten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 133 (2016), S. 191–295 (hier S. 237). Allerdings wurde ein mandatum sine clausula nur in wenigen Ausnahmefällen erteilt. Vgl. Anm. 43 und 45.
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andere Sprache spricht: Sie ist nicht mehr nur von den innergemeindlichen – von scheinbar persönlichen Faktoren entstandenen – Auseinandersetzungen geprägt, wie dies mittels der Schrift vor Ort suggeriert worden war. Ein konfessioneller Zwiespalt tritt erst in der Supplik an das Reichskammergericht unverkennbar hervor, wenn darin betont wird, dass die Reformierten aufgrund des obrigkeitlichen Dekrets gahr umb ihr exercitium religionis, welches Sie doch titulo satis oneroso erlanget, wiederumb gebracht, oder doch solcher gestalt darin beeinträchtigt werden dörffen, daß kein reformierter bürger in der Statt mehr bleiben könnte, zumahle da der religions eyffer bey dem beklagten Magistrat ie länger ie mehr zuwächßet. ³² Auf der Reichsebene am Reichskammergericht bezogen die Reformierten in der Verhandlungssprache den Konfessionsgegensatz eindeutig ein. Ergebnisse für die Nutzung von Schriftlichkeit vor dem Reichskammergericht können aus dieser Supplik gewonnen werden. Sie betreffen zum einen die Funktion der eingereichten Dokumente, zum anderen die Ausgestaltung des Schriftsatzes. Es ging darum, reformierte Gemeinderechte mittels eines Verfahrens an einem der höchsten Reichsgerichte zu behaupten. Dafür nutzten die Reformierten ihre Konfessionszugehörigkeit in der Schriftlichkeit konkret als rhetorisches Mittel, um der Auseinandersetzung mehr Gewicht zu verleihen und die Chance auf ein Mandat zu erhöhen. Der eigentliche Konfliktgegenstand – der innergemeindliche Konflikt um Schullehrer Böhm – wurde so vom konfessionellen Zwiespalt zwischen Magistrat und Gemeinde in der Schriftlichkeit überformt und wandelte sich mit der Supplik an das Reichskammergericht zu einem Konfessionskonflikt.³³ Der Konfessionsgegensatz fungierte dabei auch als Überzeugungsmittel. Gleichzeitig offenbaren die juristischen Schriften an das Reichskammergericht, dass der Konflikt von reformierter Seite auch konkret als Konfessionskonflikt wahrgenommen wurde. Mit dem Reichskammergericht als einer weiteren Instanz in dem Konflikt ergab sich in der Auseinandersetzung in der Schriftlichkeit die Frage, ob der Konflikt zwischen Gemeinde und Magistrat rein weltlicher oder aber konfessioneller Natur war.³⁴ Der
StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Supplik der reformierten Gemeinde, undat. [verl. in Sen. XIII, den 3. Januar 1715], unfol. Ein Konflikt allein in der Gemeinde kann nicht als ein Konfessionskonflikt begrifflich gefasst werden. Konfessionelle Konflikte bezeichnen vielmehr „Auseinandersetzungen um lokale Kirchenverhältnisse beziehungsweise um das alltägliche Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften“. Vgl. Ulrich Pfister, Konfessionskonflikte in der frühneuzeitlichen Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 101 (2007), S. 257–311 (hier S. 257). Schon mit dem Eingriff des Dekrets muss die Gemeinde demnach einen Konfessionskonflikt wahrgenommen haben, der allerdings erst am Reichskammergericht in der Schriftlichkeit sichtbar und dementsprechend forciert wurde. Die Transformation in konfessionelle Konflikte stellt auch Daniela Hacke für die Eidgenossenschaft fest. Vgl. hierzu Daniela Hacke, Konfession und Kommunikation. Religiöse Koexistenz und
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Magistrat wurde zwar von der Gemeinde als weltliche Obrigkeit akzeptiert, als geistliche Obrigkeit konnte er jedoch nicht – aufgrund der anderen konfessionellen Zugehörigkeit – von den Reformierten geduldet werden. Für die städtische Regierung betraf der Streit daher eine weltliche Frage, die Anerkennung als städtische Obrigkeit, während die Reformierten diesen Konflikt der geistlichen Sphäre zuordneten, welcher mit der Eigenständigkeit als konfessionelle Minorität einherging. Aufgrund der unterschiedlichen Interpretationen des Konflikts scheint dieser Fall von einer besonderen Komplexität gekennzeichnet zu sein. Das Reichskammergericht erkannte das Mandat zunächst nicht, sondern erließ ein Schreiben um Bericht und forderte damit den Magistrat zur Stellungnahme auf.³⁵ Wurde durch die konfessionelle Aufladung der Schriften der Konflikt durch die Gemeinde zunächst verschärft, erhielt der Magistrat dadurch die Möglichkeit, mittels einer schriftlichen Gegendarstellung eine mögliche Eskalation abzuwenden.³⁶ Demnach war es die Schriftlichkeit im frühneuzeitlichen Gerichtswesen, die durch ihre Nachvollziehbarkeit die Parteien von Willkür abhielt. Bemerkenswert ist das Schreiben des Magistrats in zweifacher Hinsicht: Zum einen stilisierte sich der Magistrat als überkonfessionelle obrigkeitliche Instanz. Konfessionelle Argumente wurden nicht genutzt, ja den Reformierten wurde vorgeworfen, aus bloßer Arrogantz, haß undt Neidt, wie sie anderster dermahlen nicht urtheilen können ³⁷, gehandelt zu haben. Zum anderen bezeichnete der Magistrat die Argumente der konfessionellen Unterdrückung als Scheingründe: ohne den geringsten Scheinengrund ihr obrigkeit blahmiren wollen, ob suchten mann, sie umb ihr Religions-Exercitium zu bringen. ³⁸ Der Magistrat zog die Rechtmäßigkeit seines Eingriffs mit einem Dekret aus seiner obrigkeitlichen Autorität, eine konfessionelle Legitimierung war von Seiten der Stadtobrigkeit daher nicht nötig. Konfession konnte als Argument von Seiten einer unterdrückten Minderheit in einem Konflikt demnach in den schriftlich eingereichten Dokumenten überzeugend eingesetzt werden. Wie dieser Fall beispielhaft zeigt, bot die im gerichtlichen Verfahren genutzte Verschriftlichung die Möglichkeit, den Fall in seiner juristischen Komplexität zu Politik in der Alten Eidgenossenschaft – Die Grafschaft Baden 1531–1712. Köln/Weimar/Wien 2017, S. 166. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Reichskammergericht, Schreiben um Bericht, 11. Dezember 1714, unfol. Vgl. Peter Oestmann, Leitfaden zur Benutzung von Reichskammergerichtsakten, in: ders./Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel zur vormodernen Geschichte. Düsseldorf 2010 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 44), S. 6– 20 (hier S. 15). StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Untertänige Vorstellung des Wormser Magistrats, undat. [vorgelegt, den 8. Januar 1715], unfol., Nr. 2. Ebd.
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durchdenken und darzustellen. Trotz ihrer Unterschiede in der (konfessionellen) Argumentation beriefen sich beide Parteien in ihren Schriften auf dieselben Rechtsgrundlagen, sowohl den Westfälischen Frieden als auch das Konkordat von 1699, allerdings deuteten sie vor allem das Konkordat vollkommen anders aus.³⁹ Die Schriftlichkeit in Form des Vertrags von 1699 repräsentierte entgegen der flüchtig abgelaufenen Ereignisse vor Ort die objektiv-neutral nachweisbaren Rechte im Verfahren. Doch die Formulierungen des Vertrags, der unterschiedlich ausgelegt werden konnte, erschwerten eine Übereinkunft: Während der Magistrat darauf bestand, dass vor der Absetzung eines Schullehrers die Anzeige geschehen sollte – genauer gesagt oblag in seiner Interpretation die Entscheidung über die Absetzung des Schullehrers der lutherischen Obrigkeit –,⁴⁰ argumentierten die Reformierten, dass sie nach der Absetzung des Schullehrers den Magistrat lediglich über die geschehene Absetzung informieren sollten.⁴¹ Es ging konkret um die Macht der Entscheidungsgewalt und der Hoheitsgewalt im innergemeindlichen Leben. Der Magistrat war um die Anerkennung als weltliche Obrigkeit bestrebt, die Streitgegenstände wurden von reformierter Seite jedoch der geistlichen Sphäre zugeordnet. Die Machtfrage ging dem konfessionellen Konflikt voraus. Erst der Eingriff des Magistrats mit einem Dekret hatte die Auseinandersetzung der Gemeinde mit der lutherischen Umgebung befördert und die Machtfrage angestoßen. Dieser dann machtpolitische Faktor wurde von Seiten der Reformierten mit forcierten konfessionellen Argumenten vor Gericht ausgetragen, weil die Eingriffsrechte des Magistrats vermutlich in geistlichen Fragen geringer waren als in weltlichen, so dass sich die Gemeinde mit der konfessionellen Argumentation die besten Chancen im gerichtlichen Verfahren erhoffte. Dies war vielleicht eine Rekurrenz auf tradierte rhetorische Muster, die sich auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts bei der reformierten Gemeinde zeigen.⁴² Die Verhandlungen vor Gericht offenbaren in den juristischen Schriften damit eine weitere Dimension des Konflikts, die so vor Ort bis zu diesem Zeitpunkt nicht zur Geltung gekommen war. Ein Mandat sine clausula konnte von der Gemeinde beim Reichskammergericht wegen der juristisch ausge-
StadtA Worms, Abt. 1 A, Nr. I–1045, Vertrag zwischen dem Rat der Stadt Worms und der reformierten Gemeinde, der Rat der Stadt Worms gewährt zur Wiederemporhebung der Stadt den reformierten Bürgern freie Ausübung ihrer Religion, 13. Juni 1699, unfol. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Untertänige Vorstellung des Wormser Magistrats, undat. [vorgelegt, den 8. Januar 1715], unfol., Nr. 2. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Supplik der reformierten Gemeinde, undat. [verl. in Sen. XIII, den 3. Jan 1715], unfol. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Berichtschreiben des Wormser Magistrats, undat. [vorgelegt am 11. Februar 1715], unfol., Nr. 4; StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Zweiter Bericht des Wormser Magistrats, undat. [verl. in Sen. XIII, den 9. März 1715], unfol., Nr. 8.
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feilten Gegenberichte des Magistrats nicht erreicht werden, oder weil die recht strengen Voraussetzungen für den Erlass eines mandatum sine clausula nicht erfüllt waren, welches nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen angewiesen werden konnte.⁴³ Die Frage, ob das Mandat letztlich aus prozessualen Gründen nicht erlassen wurde, oder aber weil die klagende Gemeinde aus Sicht des Reichskammergerichts im Unrecht war, muss nach momentanem Erkenntnisstand offen bleiben. Mit einer weiteren Supplik der reformierten Gemeinde, die neben den konfessionellen Erklärungsmustern mit detaillierteren juristischen Belegen untermauert ist,⁴⁴ konnte die Gemeinde am 26. September 1715 einen Zitationsprozess am Reichskammergericht erwirken.⁴⁵ Anders als die Supplik um ein Mandat besticht dieses Schreiben durch seine juristische Rhetorik. Neben Bezügen zum Westfälischen Frieden bietet die Supplik Referenzen zu bekannten juristischen Abhandlungen wie zum Consiliorum sive Responsorum von Jakob Menechi oder zur Kameralistik wie die aus dem im Jahr 1578 publizierten Practicarum observantium libri duo von Andreas von Gail.⁴⁶ Diese weiteren Dokumente offenbaren somit die Vielfalt systematisch geführter juristischer Schriftsätze der Parteien. Konfessionelle Argumente wurden eng mit objektiv wahrgenommenen und damit scheinbar nicht zu widerlegenden Rechten verwoben, jedoch blieb auch im Zitationsprozess das konfessionelle zugleich das stärkste rechtliche Argument. Das Verfahren ging bis zur Triplik der reformierten Gemeinde.⁴⁷ Bis auf die juristisch vertiefte Argumen-
Ein mandatum sine clausula wurde nur in Ausnahmefällen erlassen; die Reichskammergerichtsordnung nannte hierfür vier Möglichkeiten: „1. Offensichtlich rechtswidrige Handlung des Beklagten; 2. Gefahr nicht wiedergutzumachender Schäden; 3. Verstoß gegen den gemeinen Nutzen; 4. Gefahr im Verzug bei eilbedürftigen Angelegenheiten“. Peter Oestmann, Art. Mandatsprozeß, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. 2. Aufl. Berlin 2016, Sp. 1229–1234 (hier Sp. 1231). Siehe ferner Manfred Uhlhorn, Der Mandatsprozeß sine clausula des Reichshofrats. Köln/ Wien 1990 (QFHG, Bd. 22), insbes. S. 8 f. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Supplik der reformierten Gemeinde, undat. [vorgelegt am 14. September 1715], unfol., Nr. 13a. Die beiden Prozessarten, der Zitationsprozess und der Mandatsprozess, verfolgten unterschiedliche Ziele. Während sich der Mandatsprozess „primär gegen die im Wege der verbotenen Selbsthilfe vorgehenden Parteien“ richtete, war der Zitationsprozess der „processus ordinarius“ innerhalb der Reichsgerichtsbarkeit. Vgl. Uhlhorn, Der Mandatsprozeß sine clausula (wie Anm. 43), S. 10–12. Vgl. ferner Oestmann, Art. Mandatsprozeß (wie Anm. 43), Sp. 1229–1234; ders., Streit um Anwaltskosten in der frühen Neuzeit (wie Anm. 31), S. 237–240. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 1, Supplik der reformierten Gemeinde an das Reichskammergericht, undat. [versandt, den 21. Juni 1715], unfol. Vgl. Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien (künftig: HHStA), RHR, Judicialia, Denegata recentiora, 1435/W12 Nr. 1, Sitzungsprotokolle RKG [zeitgenössische Kopie], unfol.
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tation weisen die Schriftsätze der Parteien im Zitationsprozess keine wesentlichen neuen Argumente auf, sondern rekurrieren auf die vorherigen. Danach endeten die Eingaben an das Reichskammergericht mit einem letzten Schriftsatz von 1719, ohne dass ein Urteil in dieser Sache ergangen ist.⁴⁸ Eine solche Nutzung der Schriftlichkeit wirft die Frage auf, welche Auswirkungen die Schriftlichkeit auf die Verhältnisse vor Ort hatte. Von besonderer Bedeutung ist, dass dieser schriftlich ausgetragene Konfessionskonflikt am Reichskammergericht nicht lediglich auf Gegebenheiten vor Ort rekurrierte. Ganz im Gegenteil beeinflussten gerade die zugespitzten Argumentationen und konfessionell aufgeladenen Zuschreibungen der juristischen Schriftlichkeit wesentlich den Konfliktverlauf vor Ort. Denn dieser zeitweise schriftlich ausgetragene Konflikt am Reichskammergericht wirkte wieder von „oben“, das heißt den juristischen Schriften, nach „unten“ in das Alltagsleben der Gläubigen hinein. Dies ist insofern frappant, als dass sich die Spaltung der Gemeinde – in Anhänger und Gegner des Schullehrers – erst durch die juristischen Schreiben verfestigt hatte und der Konflikt, der am Reichskammergericht nicht mehr weitergeführt wurde, seine Fortsetzung als Konfessionskonflikt vor Ort fand. Zuvor hatte es sich lediglich um einen innergemeindlichen Konflikt gehandelt, der durch das Dekret zunächst mit der lutherischen Umgebung in Berührung gekommen war, damit die Machtfrage angestoßen hatte und sich dann als Konfessionskonflikt am Reichskammergericht offenbarte und weiterentwickelte. Das gemeinsame Handeln der Reformierten war nach dem nicht mehr fortgeführten Verfahren am Reichskammergericht offensiv auf die Opposition gegen den Wormser Magistrat gerichtet. Die weiteren Handlungen können an dieser Stelle nur angedeutet werden: Die Ereignisse vor Ort kulminierten darin, dass der Magistrat einen Wachtmeister vor der reformierten Kirche positionierte, um den Zugang des reformierten Predigers zum Gottesdienst zu kontrollieren, oder dass vermehrt Streitigkeiten um die Taufe reformierter Kinder entstanden.⁴⁹ Keineswegs wurden Religionskonflikte des 18. Jahrhunderts am Reichskammergericht oder Reichshofrat nur „sistiert und als Dissens über Tatsachen und Rechtsfragen weiterbehandelt“,⁵⁰ wie dieses Beispiel zeigt, sondern das konfessionelle Element konnte in der Schrift noch verstärkt werden und damit Konfessionskonflikte erst sichtbar machen.
StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 2000, Fasz. 1, Johann Jacob von Zwierlein an den Wormser Magistrat, 3. Mai 1771, unfol., Nr. 84. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 2, Wormser Magistrat an Dr. von Gülchen nach Wetzlar, 10. Januar 1718, unfol.; StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1991, Fasz. 2, Remonstrationsschrift der reformierten Gemeinde an den Wormser Magistrat, undat. [verl. in Sen. Comm., den 31. Dezember 1717], unfol. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Darmstadt 1983, S. 104.
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4 Der Reichshofratsprozess der Jahre 1727 bis 1732 – gedruckte Schriftlichkeit und konstruierte Gefahren In Prozessen vor den höchsten Reichsgerichten betreffend die Wormser Konfessionskonflikte wurde die Schriftlichkeit nicht nur in den Schriftsätzen der Parteien zur Darstellung komplexer juristischer Sachverhalte genutzt, sondern auch konkret zur Schaffung und Beeinflussung einer (Reichs‐)Öffentlichkeit.⁵¹ Das als besonders objektiv geltende schriftliche Verfahren konnte durch die affektiv-emotional gestalteten Druckschriften der Parteien, die auch dem Gericht übermittelt wurden, wesentlich beeinflusst werden. Dabei handelt es sich bei dieser Ausgestaltung um Elemente prozessualer Rhetorik, die zunächst unabhängig vom jeweiligen Medium eingesetzt werden konnten, die aber je nach Art und Wahl des Mediums eine unterschiedliche Wirkung entfalten konnten. Die Möglichkeit, in der juristischen (Druck‐)Schriftlichkeit Gegebenheiten vor Ort derart auszugestalten, überspitzt darzustellen und Argumente einzufügen, ohne dass eine genaue Überprüfung vor Ort durch eine Kommission jederzeit gegeben war, führte zu veränderten Argumentationsmustern im Verfahren, ohne dass sich die Gegebenheiten vor Ort selbst änderten. Diese These führt zum zweiten Beispiel, einem Konfessionskonflikt zwischen lutherischem Magistrat und den Wormser Katholiken aus den Jahren 1727 bis 1732. Im März 1727 beklagte die städtische Obrigkeit, dass das Hochwürdigste bei Versehgängen, das heißt dem Gang des katholischen Priesters zur Spendung der Sakramente an Kranke, vor allem an Sterbende, in Worms erstmalig prozessionsartig getragen worden sei.⁵² Mit dieser prozessionsartigen Ausgestaltung der Versehgänge im Jahr 1727 fand damit ein entscheidender Bedeutungswandel statt: Seit dem Westfälischen Frieden sei die geweihte Hostie verschlossen in einem Ziborium versteckt unter der Kutte des Mönchs zu den Kranken getragen worden.⁵³ Das Sa-
Die mediale Rolle bei Reichshofratsprozessen, die durchaus von großer Bedeutung war, fokussiert insbesondere David Petry, Konfliktbewältigung als Medienereignis. Reichsstadt und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit. Berlin 2011 (Colloquia Augustana, Bd. 29). StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 942, Amtsprotokoll, 3. März 1727, fol. 31r. Dies behauptete zumindest der lutherische Magistrat (vgl. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 1, Beilagen zum Schreiben vom Wormser Magistrat an das Corpus Evangelicorum, 28. März 1727, unfol.). Das geistliche Vikariat bestand darauf, dass die Krankensalbungen mit vorangegangenen öffentlichen Prozessionen schon vor vielen Jahren in dieser Form praktiziert und nur aus Gründen der Nachlässigkeit oder dann, wenn ein Kranker nachts im Sterben gelegen habe, unterlassen
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krament der Krankensalbung, das vorrangig visuell unsichtbar für die anderen Gläubigen in den Häusern der kranken Personen gespendet worden war, wurde durch die prozessionsartige Ausgestaltung im Jahr 1727 in den öffentlichen Raum der Straße geführt. Damit wurden durch die Beschreitung öffentlicher Straßen sakraltopographische Grenzen völlig neu gesetzt.⁵⁴ Im Gegensatz zum lutherischen Magistrat nahmen die Untertanen die neuerlichen prozessionsartig ausgestalteten Versehgänge weniger problematisch wahr, diese schienen vor Ort nicht zwingend das Verhältnis zwischen den Konfessionen zu belasten – physische Gewalttätigkeiten blieben gänzlich aus.⁵⁵ Jenseits der genauen, hier nicht weiter auszuführenden raumanalytischen Aspekte, auf die es für die hier interessierende Frage nicht ankommt,⁵⁶ muss betont werden, dass der Magistrat mit diesen Versehgängen städtische Rechte verletzt sah. Vor einem Gerichtsverfahren vor den höchsten Reichsgerichten diente im städtischen Kontext, wie bereits erwähnt, die Infrajustiz in Form von Protestationen zunächst als Lösungsinstrument, um Unstimmigkeiten vorab über die Schriftlichkeit zu schlichten. Daher protestierte der Magistrat in einer schriftlich formulierten und durch einen Notar mündlich vorgetragenen Protestation gegen diese Neuerung bei Weihbischof Johann Baptist Gegg, der den Forderungen nach Abstellung jedoch nicht nachkam.⁵⁷
4.1 Gedruckte Schriftlichkeit als Machtausdruck Die obrigkeitlichen Forderungen ließ der Weihbischof gänzlich unbeachtet. Dies veranlasste den Magistrat nur wenige Wochen nach den Protestationen, im März 1727, ein Schreiben an das Corpus Evangelicorum in Regensburg mit der Bitte um eine druckschriftliche Veröffentlichung seiner Klagen zu senden.⁵⁸ Der Magistrat
worden seien. Vgl. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1930/17, Wormser Bischof Franz Ludwig an Kaiser Karl VI., 13. Februar 1728, unfol. Vgl. hierzu auch Duane J. Corpis, Crossing the Boundaries of Belief. Geographies of Religious Conversion in Southern Germany, 1648–1800. Virginia 2014 (Studies in Early Modern German History), S. 36 f. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 1, Notariatsinstrument, 13. September 1727, unfol., Nr. 20. Die Verschiebung der räumlichen konfessionellen Grenzen durch die Prozessionen stellte einen höchst interessanten Moment im mehrkonfessionellen Miteinander dar. Diese raumanalytischen Aspekte werden in der gedruckten Dissertation vertieft. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 1, Relation des Stadtschreibers Weisse und des Ratschreibers Wissmann, 1. März 1727, unfol., Nr. 2. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 1, Wormser Magistrat an Friedrich Ludwig Häberl mit angeschlossenem Pro Memoria, 29. März 1727, unfol., Nr. 6.
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nutzte damit das Potential der Druckschriftlichkeit, um Macht zu demonstrieren, indem er auf die Schaffung einer über Worms hinaus reichenden Reichsöffentlichkeit abzielte.⁵⁹ Die Bemühung um eine Medienöffentlichkeit bot mittels der Druckschriften vom April und Oktober des Jahres 1727 eine mannigfaltige Ausdrucksvielfalt zur Bekundung der eigenen lutherischen Position. Dabei nutzte der Magistrat das Potential gedruckter Schriftlichkeit vollkommen aus: Juristische und emotionale Argumentationen wurden eng miteinander verwoben, welche sowohl auf die rational gebildete als auch auf die affektive Ebene der Rezipienten abzielten.⁶⁰ Demnach wurde die Gefahr für die evangelische Religionsfreiheit durch die prozessionsartig ausgestalteten Versehgänge besonders betont, nämlich daß man [= die Katholiken, Anm. CK] hiesigen Evangelischen Wesen durch irritationes zu schaden, ja solches gäntzlich umbzustürzen vorhabe. ⁶¹ Zur Irritation kam es sodann vor Ort in Regensburg, als der bischöfliche Gesandte im Winter 1727 dem kursächsischen Gesandten berichtete, dass der Wormser Bischof Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg erst kurze Zeit zuvor in Worms gewesen sei⁶² und ihm von den Lutheranern keine Klagen vorgebracht worden seien.⁶³ Die Divergenz vom mündlichen Geschehen vor Ort und der in der Schriftlichkeit gezeichneten Religionsgefahr wirkte in diesem Fall konfliktschürend. Der Wormser Bischof Franz Ludwig sah infolgedessen die prozessionsartig ausgestalteten Versehgänge vor Ort mitnichten als hinreichenden Grund an, der die reichsöffentliche Diffamierung der bischöflichen Seite in Druckschriften rechtfertigte. Unvermittelt wendete sich daraufhin Bischof Franz Ludwigs Rolle vom Angeklagten in den Schriften an das Corpus Evangelicorum zum Kläger an eines der beiden höchsten Reichsgerichte. Er wandte sich, ohne weitere vermittelnde Verhandlungen anzustreben, am 13. Februar 1728 an den Kaiser in Wien, der die Supplik dem Reichs-
StadtA Worms, Abt. 1B, Fasz. 1, Wormser Magistrat an Friedrich Ludwig Häberl, 27. September 1727, unfol., Nr. 22. Vgl. hierzu Andreas Kalipke, Verfahren im Konflikt. Konfessionelle Streitigkeiten und Corpus Evangelicorum im 18. Jahrhundert. Münster 2015 (Verhandeln,Verfahren, Entscheiden, Bd. 1), S. 252 f. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1930/17, Allerunterthänigstes Schreiben an ein hochlöbliches Corpus Evangelicorum, Dictatum Ratisbonae, 21. Oktober 1727, unfol. Der Wormser Bischof Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg war zudem Fürstbischof von Breslau sowie Kurfürst und Erzbischof von Trier. Er war daher nur selten in Worms und wurde dort durch einen Weihbischof vertreten. Vgl. Burkard Keilmann, Das Bistum vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Das Bistum Worms. Von der Römerzeit bis zur Auflösung 1801. Würzburg 1997 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 5), S. 44–193 (hier S. 127). StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 1, P.S.-Schreiben von Friedrich Ludwig Häberl an den Wormser Magistrat, 4. Dezember 1727, unfol., Nr. 23.
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hofrat übermittelte.⁶⁴ Damit wurde parallel zu Regensburg der Kommunikationsraum nach Wien ausgeweitet. Die Tatsache, dass sich Bischof Franz Ludwig an den Kaiser in Wien gewandt hatte, zeigt, dass er über die erstarkte Öffentlichkeitswirkung erbost war. Ohne Anhörung der Gegenseite wurde am 28. Mai 1728 das Reichshofrats-Conclusum verabschiedet, das dem Klerus vor Ort eine possessio vel quasi im öffentlichen Tragen des Hochwürdigsten bei Krankensalbungen zusprach: Alß erkennen Wir hiermit wohlbedächtlich, daß die daselbstige Catholische Geistlichkeit bey ihrer nach erforderung dieser […] sattsam erwiesener possession vel quasi dero offentlichen tragung des venerabilis, umb darmit die krancken ihrer Religion zuversehen, in obbeschriebener maaße noch ferner von jeder männiglich unturbiret und unangefochten friedlich zu laßen. ⁶⁵ Damit entschied der Reichshofrat über einen possessorischen Anspruch und schützte den Klerus in einer besitzgleichen Position faktischer Rechtsausübung. Ob dem Klerus dieses Recht tatsächlich zustand, blieb allerdings offen.⁶⁶
4.2 Die Macht der Druckschriften im Reichshofratsverfahren Durch das Reichshofrats-Conclusum vom 28. Mai 1728 geriet der lutherische Magistrat in Bedrängnis. Zum einen konnte er das Conclusum nicht einfach akzeptieren, ohne ihm in einer eigenen Stellungnahme entgegenzutreten, da er sodann nicht nur innerstädtisch, sondern auch reichsweit als konfessioneller Provokateur gegolten hätte. Zum anderen konnte er auch nicht die Art und Weise, wie das Conclusum erteilt worden war, nämlich ohne einen Bericht von städtischer Seite,⁶⁷
HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1930/17, Bischof Franz Ludwig an Kaiser Karl VI., 13. Februar 1728, unfol. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1930/17, Reichshofrats-Conclusum, 28. Mai 1728, unfol. Ebd. Eine genaue Differenzierung der verschiedenen Verfahrensarten ist laut Wolfang Sellert sehr schwierig. Es gab keine gesetzliche Definition beim Reichshofrat, welche Sachverhalte unter die jeweiligen Prozessarten fielen. Bei dem hier vorliegenden Verfahren handelt es sich wohl um ein summarisches Verfahren, bei dem zumeist die Gegenseite nicht angehört wurde, um in besonders dringlichen Fällen zügig Recht zu sprechen. Dem Beklagten waren nur bestimmte Einreden beim summarischen Verfahren zugelassen.Vgl.Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat. Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Neue Folge, Bd. 18), S. 95–100. Vgl. ferner Jessica Jacobi, Besitzschutz vor dem Reichskammergericht. Die friedenssichernde Funktion der Besitzschutzklagen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert, dargestellt anhand von Kameralisten. Frankfurt a. M. 1998 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 170), S. 159– 169. Dies monierte der Magistrat auch in Schreiben nach Regensburg, dass ohne vorher gegangene Commission und ehe wir gehört die Sache decidiret worden sei. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760,
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unwidersprochen hinnehmen – ein Vorgehen, das seine Stellung als städtisches Oberhaupt erheblich geschwächt hätte. Überrascht von dem Conclusum bat der Magistrat um Verlängerung der zweimonatigen Frist, die ihm zu einer Stellungnahme gesetzt wurde, damit er einen juristischen Bericht anfertigen und einreichen konnte. Von dieser Bitte wurde jedoch mit Eingang am 13. August 1728 nur Notiz genommen;⁶⁸ das Conclusum war bereits am 3. August 1728 zu den Akten gelegt worden, weil die Überreichung der Entscheidung und des Zustellungsnachweises zu den Gerichtsakten belegt worden war.⁶⁹ Die Schriftlichkeit des Verfahrens hatte sich für den Magistrat in diesem Fall eher als Hindernis erwiesen, weil die Kürze der Zeit, bedingt auch durch räumliche Distanzen, das Verfassen eines juristischen Berichtes unmöglich gemacht hatte. Daher nutzte der Magistrat das Potential der Druckschriftlichkeit, um die Unrechtmäßigkeit der prozessionsartig ausgestalteten Versehgänge in die Reichsöffentlichkeit zu lancieren und somit die Dringlichkeit der Angelegenheit – auch dem Reichshofrat – zu verdeutlichen. In den Jahren 1728 bis Mitte des Jahres 1732 steigerten sich die vom Magistrat veröffentlichten Druckschriften an das Corpus Evangelicorum in ihrer Anzahl, Argumentation sowie ihren Beilagen; dies obwohl sich vor Ort keine Veränderungen in Gewalttätigkeiten zeigten, wie die in diesem Zeitraum getätigten Berichte von Zeugen zeigen.⁷⁰ Mit wiederholtem Auftreten der prozessionsartig ausgestalteten Versehgänge verschärfte sich jedoch der Ton der Druckschriften mit stärkerer Betonung der konfessionellen Gefahr.⁷¹ Die Schriftlichkeit wurde genutzt, um die Brisanz der Ereignisse zu steigern und eine Gefahr für die evangelische Glaubensfreiheit zu konstruieren.⁷² Diese Druckschriften begleiteten zudem die Schriftsätze, die von Seiten des Magistrats noch immer an den Fasz. 1, Lutherischer Magistrat an Friedrich Ludwig Häberl nach Regensburg, 22. Juni 1728, unfol., Nr. 29. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1930/17, Wormser Magistrat an den Reichshofrat in Wien, undat. [praes., den 13. August 1728], unfol. HHStA, RHR, Resolutionsprotokolle XVIII/70 (1728 1.VII. – 1728 26.VII), fol. 72v. Hier erweist sich die Wormser Quellenlage für diesen Fall als sehr günstig. Für andere Gebiete ist es weitaus schwieriger zu beurteilen, inwiefern die Gläubigen vor Ort in die Klagen involviert waren oder inwiefern es sich um einen Konflikt um allein herrschaftliche Rechte gehandelt hat. Vgl. Peter Brachwitz, Die Autorität des Sichtbaren. Religionsgravamina im Reich des 18. Jahrhunderts. Berlin/ New York 2011 (Pluralisierung & Autorität, Bd. 23), S. 204. Zu den Zeugenverhören siehe beispielsweise: StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 2, Amtsprotokoll, Zeugenvernehmung, 21. Juli 1730, unfol. Vgl. beispielhaft Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 340, Nr. 3041, Wormser Magistrat an das Corpus Evangelicorum, 14. Mai 1728, fol. 1r; StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 2, An Ein Hochlöbliches Corpus Evangelicorum von Des Heil. Röm. Reichs freyen Stadt Worms, Anno 1729, unfol. HHStA, Reichskanzlei Kleinere Reichsstände, Nr. 540–5, An Ein Hochlöbliches Corpus Evangelicorum […] Von Des Heil. Roem. Reichs freyen Stadt Worms, Dictatum Ratisbonae, 9. April 1727, unfol.
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Reichshofrat eingeschickt wurden, und sollten die eigene Überzeugungskraft erhöhen. Die Nutzung der Druckschriften in diesem Konfessionskonflikt deutet auf eine weitere Funktion prozessualer Rhetorik, die im Rahmen von Schriftlichkeit angewandt wurde, in Verfahren an den höchsten Reichsgerichten hin: Indem Sachverhalte bewusst zugespitzt und höchst emotionalisiert dargestellt wurden, konnte dies dem scheinbar objektiv geführten Verfahren Emotionen hinzufügen und persönliche Betroffenheit erzeugen. Auf die Gefahr, in der Druckschriftlichkeit eine andere Realität zu zeichnen und damit die eigene Glaubwürdigkeit vor Gericht zu schwächen, wies insbesondere der juristische Berater der Stadt, Syndikus Johann Christoph Kornacher aus Heilbronn, hin, wenn er in einem Schreiben problematisierte, dass ein aufgesetztes Druckschreiben⁷³ der Stadt seines Erachtens der Sachen beschaffenheit nach, gantz wohl abgefaßet ist, zumalen der Innhalt des extrahirten Schreibens vom 23. Jul. von mir so weniger herkommen kann, als die Passage von der forcirung zum Niederknien die wahrheit gegen sich hat, man wolte dann dieses dahin ziehen, daß bey dergl. Procession eine Evangel. frau von einer andern Cathol. Religion wegen unterlaßener Honorirung mit injuriosen Worten beschimpfft worden; welches aber zu einer attentirten forcirung sich nicht hinlänglich qualificiren mag. ⁷⁴
Offenbar wurde vom Magistrat eine konfessionelle Gefahr konstruiert und Vorgänge in der Druckschriftlichkeit verfremdet. Scheinbar ging man davon aus, damit die Überzeugungskraft vor Gericht zu erhöhen. Denn auch noch im Jahr 1729 hatten die Untertanen von keinen gewalttätigen Übergriffen bei den prozessionsartig ausgestalteten Versehgängen berichtet.⁷⁵ Angeregt durch das Corpus Evangelicorum und Syndikus Kornacher nutzte der Magistrat neben emotional-konfessionellen Argumentationsmustern darüber hinaus die Möglichkeit, in der Druckschriftlichkeit den Fall in seiner juristischen Komplexität darzustellen.⁷⁶ Das sodann vom Juristen Kornacher konzipierte und im Druck veröffentlichte Schriftstück Palladium Reformationis Ecclesiasticae trägt den
Vermutlich handelt es sich um ein Konzeptschreiben an das Corpus Evangelicorum, das ihm von Friedrich Ludwig Häberl aus Regensburg zugesandt worden war. Die genaue Art des Schreibens wird allerdings nicht benannt. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1761, Fasz. 1, Schreiben nach Regensburg [zeitgenössische Kopie], 28. August 1731, unfol., Nr. 137a. Ebd. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 945, Amtsprotokoll, Zeugenvernehmung, 21. Juli 1730, fol. 128v–129r. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 2, Extract-Schreibens die von dem Corpore Evangelicorum angerathene deductions-Verfertigung, undat. [Januar 1731], unfol., Nr. 94.
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Charakter,⁷⁷ die Reichsöffentlichkeit und den Kaiser an die Einhaltung der althergebrachten städtischen Gesetze sowie an den Westfälischen Frieden zu erinnern. Wiederholt wird in dem Schriftstück an den durch die Katholiken begangenen Rechtsbruch mit dem Tragen des Hochwürdigsten erinnert.⁷⁸ Stärker als in den Schreiben zuvor geht der juristische Bezug im Palladium Reformationis Ecclesiasticae hervor. Die Katholiken hätten durch ihre falschen Rechtsbezüge die Unrichtigkeit ihrer Sache schon selbst zu Genüge entdecket,⁷⁹ wie diese Rechtsverletzung durch vielfältige Beilagen besonders dramatisch hervorgehoben wird.⁸⁰ Das Palladium sollte in die Reichsöffentlichkeit lanciert werden, diente aber vor allem dazu, den Reichshofrat von der Rechtmäßigkeit der lutherischen Position zu überzeugen. Minutiös wurde zu diesem Zwecke geplant, wann genau das Palladium Reformationis Ecclesiasticae in Wien verteilt und dem Reichshofrat sowie dem Kaiser vorgebracht werden sollte.⁸¹ Dass der Zeitpunkt des Einsendens und damit das Vorbringen vor Gericht entscheidend im Reichshofratsverfahren sein konnte, war dem Magistrat durchaus bewusst. Die Austragung des Konflikts war nun ausschließlich auf die Wiederherstellung der Reputation gerichtet und strebte das Erlangen von Recht an: Das Problem drehte sich hier offensichtlich um die Form der Aushandlung über konfessionspolitische Macht mittels der Schriftlichkeit und nicht um die realen konfessionellen Verhältnisse vor Ort selbst – vor Ort schien sich noch immer kein Konfessionskonflikt abzuspielen; Gewalttätigkeiten blieben bei den prozessionsartig ausgestalteten Versehgängen weiterhin aus.⁸² Die Bedeutung dieser Druckschriften im Verfahren zeigt das ReichshofratsConclusum, das am 6. Oktober 1732 veröffentlicht wurde und zu einer anderen Schlussfolgerung als das Conclusum von 1728 kommt, nämlich daß wegen Tragung des Sacri Viatici bishero zu Worms unternommener Neuerungen auf alle weise wieder abgestellet, und alles in dem Stand, wie es vorhero und vor solchen Neuerungen ohne einzige contradiction des Stadt Magistrats zu Worms gewesen, hin-
StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 2, Wormser Magistrat an Syndikus Johann Christoph Kornacher nach Heilbronn, 17. April 1731, unfol., Nr. 101. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1730/1, Palladium Reformationis Ecclesiasticae, Anno 1731, S. 9–41. Ebd. Vgl. ebd., S. 22, fol. Dv; S. 24, fol. D2v; S. 25, fol. Er. Von den evangelischen Reichsständen sei dieses Schriftstück mit besonderem Wohlwollen aufgenommen worden und als wahres Meisterstück gelobt worden. Vgl. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1761, Fasz. 3, 5. Dezember 1731, unfol., Nr. 175. Diskutiert wurde zuvor, ob das Schreiben in Regensburg noch vor Bekanntmachung in Wien verteilt werden sollte, da eine solche Vorgehensweise in Wien schlecht aufgenommen werden könnte. Vgl. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1761, Fasz. 3, Syndikus Johann Christoph Kornacher an den Wormser Stättmeister Senior Weisse, 19. Oktober 1731, unfol., Nr. 153. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 2, Amtsprotokoll, Zeugenvernehmung, 21. Juli 1730, unfol.
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wiederumm gelassen […]⁸³ werden sollte. Doch nicht das Conclusum selbst, vielmehr die dazugehörige Relation, die vermutlich im Jahr 1732 vom evangelischen Referenten Georg Christian Freiherr von Knorr von Rosenroth vorbereitet worden war und dem Votum des Reichshofrats voransteht, ist von besonderem historischem Interesse, da sie deutlich den Charakter der städtisch eingeschickten Dokumente, besonders der Druckschriften, trägt: einerseits des Palladium Reformationis Ecclesiasticae, andererseits der an das Corpus Evangelicorum adressierten Schriften. Zwar könne, wie in der Relation konstatiert wird, nicht das öffentliche Tragen des Hochwürdigsten im Allgemeinen in Worms untersagt werden – dies bedürfe einer neuen Klage, weil es hier nur um das possessorium ging –, dennoch könne der Bischof nicht die quasi possessio, das heißt eine rechtlich dem Besitz gleichgestellte tatsächliche Rechtsausübung, nachweisen.⁸⁴ Deutliche Ressentiments gegen diese Form katholischer Konfession mit der pompösen Ausgestaltung von Prozessionen treten in der Relation hervor.⁸⁵ Die in diesem Fall genutzte Druckschriftlichkeit hatte es ermöglicht, ein recht komplexes Verfahren in einem solch fortgeschrittenen Stadium präzise, nachvollziehbar und juristisch begründet darzulegen, das auf den Reichshofrat überzeugend wirkte, der darauf rekurrierte. Die abgeänderte Entscheidung allein der Druckschriftlichkeit zuzuschreiben greift aber vermutlich zu kurz. Sicher spielte sie, wie in den Akten deutlich wird, eine große Rolle im Verfahren, es war aber das Zusammenwirken mehrerer Faktoren, das an dieser Stelle nur angedeutet werden kann und zu der Entscheidung von 1732 führte: erstens die bereits erwähnte große Rolle der Druckschriften; zweitens der Referentenwechsel im Jahr 1731 vom sodann verstorbenen evangelisch-lutherischen Referenten Christoph Freiherr von Stein auf Georg Christian Freiherr von Knorr von Rosenroth; drittens das Ableben des Wormser Bischofs Franz-Ludwig von Pfalz-Neuburg, das mit einer zweimonatigen Sedisvakanz (April–Juni 1732) und dem damit verbundenen Erliegen der Schrifteneingabe von katholischer Seite einherging; sowie, viertens, konfessionelle Gewalttätigkeiten bei Prozessionen, die aber nicht den vorliegenden Streitgegenstand – die prozessionsartig ausgestalteten Versehgänge – betrafen, mit diesen aber in Verbindung gebracht wurden.⁸⁶ Die gedruckte
HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1931/1, Reichshofrats-Conclusum, 11. September 1732, lectum et approbatum 17. September 1732, unfol. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1931/1, Reichshofrats-Conclusum, 11. September 1732, lectum et approbatum 17. September 1732, unfol. Es hält sich also der Herr Churfürst nur damit auf, daß er bescheinigen will, wie er die neben gravamina von Schmähen und Schlagen bey herumtragung des Venerabilis in facto anders befunden. Ebd. Beim Heiligen Dreikönigsfest 1731 sei mit Fackeln auf einen beobachtenden Jungen eingeschlagen worden. Diese Gewalttätigkeiten standen aber in keiner Beziehung zu den prozessionsartig
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Schriftlichkeit wirkte zusammen mit diesen Faktoren auf die veränderte Entscheidung ein und bot demnach eine wesentliche Grundlage für die juristische Rhetorik der Relation am Reichshofrat. Weitere schriftliche Eingaben des Bischofs wurden vom Reichshofrat im Jahr 1732 zunächst mit Hinweis auf das Conclusum abgewiesen,⁸⁷ dann im folgenden Jahr 1733 nur noch angenommen und registriert, jedoch nicht mehr vom Referenten bearbeitet.⁸⁸ Dieses Beispiel macht deutlich, dass eine Gefahr ausgehend von dem konfessionellen Geschehen in Worms im schriftlichen Diskurs wirkungsvoll vom Magistrat inszeniert wurde. Der Magistrat schützte einen innerstädtischen Konfessionskonflikt zur Austragung herrschaftlicher Machtinteressen vor. Die Schriftlichkeit war damit nicht nur ein Filter, um persönliche Faktoren aus dem Verfahren herauszuhalten – wie These X dieses Bandes erklärt –, sondern konnte auch gezielt instrumentalisiert werden, um die affektiv-emotionale Ebene anzusprechen und vor Gericht einzubringen. Konfessionelle Argumente wurden als Verstärker im Konflikt noch im 18. Jahrhundert bemüht. In den Druckschriften wurde eine Gefahr konstruiert, die so vor Ort zwischen den Untertanen nicht bestand. Schriftlichkeit vor Gericht sollte daher nicht allein auf die Prozesshandlungen beschränkt, sondern auch die das Verfahren begleitende Schriftlichkeit betrachtet werden.
5 Schriftlichkeit in Wormser Konfessionskonflikten Die Verfahren an den Reichsgerichten sind ein Zeichen reichsrechtlicher Gestaltung des multikonfessionellen Zusammenlebens. Die von Johannes Burkhardt entwickelte These, dass „[d]as Reich […] nämlich mehr und mehr eine Kultur der
ausgestalteten Versehgängen, wurden aber dennoch von den Lutheranern in der Argumentation hinzugezogen. Vgl. StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1762, Fasz. 2, Reichshofratsagent Andreas Gottlieb von Fabricius an den Wormser Magistrat, 29. November 1732, unfol., Nr. 273a; StadtA Worms, Abt. 1B, Nr. 1760, Fasz. 2, Amtsprotokoll, Zeugenverhör, 9. Januar 1731, unfol., Nr. 90. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1931/1, Schreiben des Wormser Bischof Franz Georg an Kaiser Karl VI., undat. [praes., den 29. Oktober 1732], unfol. Dies zeigt der Abgleich der Eingänge der Schreiben mit den Resolutionsprotokollen des Reichshofrats der 1730er Jahre. Vgl. HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1931/1, Wormser Bischof Franz Georg an Kaiser Karl VI., undat. [praes., den 5. März 1733], unfol.; HHStA, RHR, Judicialia, Obere Registratur, 1931/1, Wormser Bischof Franz Georg an Kaiser Karl VI., 18. Mai 1733 [praes., den 30. Mai 1733], unfol.
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Schriftlichkeit“⁸⁹ nach dem Westfälischen Frieden entwickelt habe, trifft auch auf die bisher größtenteils unberücksichtigt gebliebenen gerichtlich geführten Konfessionskonflikte des 18. Jahrhunderts zu, wie die Reichsstadt Worms beispielhaft zeigt. Um diese Annahmen zu konkretisieren, wäre eine Untersuchung der multikonfessionellen Verhältnisse anderer Gebiete höchst interessant, weil für eine Verallgemeinerung der vorliegenden Ergebnisse weitere Untersuchungen notwendig sind. Offenkundig und durch weitere Beispiele aus dem 18. Jahrhundert belegbar ist ein konfessionell gespaltenes Verhältnis von Reichshofrat und Reichskammergericht im Hinblick auf die Wormser Konfessionskonflikte: die Wormser Katholiken und der Bischof wandten sich vorzugsweise an den Reichshofrat, die Reformierten hingegen bevorzugten das Reichskammergericht.⁹⁰ Zumindest für die Wormser Fälle spielte es eine Rolle, dass der Reichshofrat nicht konfessionell paritätisch besetzt, sondern mehrheitlich katholisch war.⁹¹ Gerade die vermehrt schriftlich geführten Konfessionskonflikte an den höchsten Reichsgerichten im 18. Jahrhundert sorgten dafür, dass im Gegensatz zur flüchtigen mündlichen Verhandlung ein völlig anderer Kontext in Form, Art und Verlauf eines Konflikts möglich wurde. Innerhalb dieses Rahmens zeigten die exemplarisch ausgewählten Fälle, dass Konfessionskonflikte einerseits wegen der veränderten Argumentation über die Schrifteneingabe an den Reichsgerichten verstärkt werden konnten, welche dann eng mit der Territorialebene agierten, andererseits konnte die in der juristischen
Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, 10. Aufl. Stuttgart 2006 (Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 11), S. 445. Diese weiteren Beispiele aus anderen Konfessionskonflikten in Worms werden in der Dissertation genauer behandelt. Filippo Ranieri stellt die These auf, dass sich tendenziell evangelische Kläger eher an das Reichskammergericht gewandt hätten und katholische an den Reichshofrat, wie bereits die Zeitgenossen wie Johann Stephan Pütter vermuteten. Ranieri betont jedoch, dass hierzu – und dies noch immer – statistische Untersuchungen zu der Aktenüberlieferung in Wien fehlen, weshalb seine Vermutung daher bisher eine Hypothese bleibt. Vgl. Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, Teilbd. 1. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 17), S. 181 f. Johann Stephan Pütter bemerkte Ende des 18. Jahrhunderts: Wie mußte aber vollends den Protestanten zu Muthe werden, da sie wußten, daß am Reichshofrathe nicht, wie am Cammergerichte, auch evangelische Mitglieder, sondern nur katholische Reichshofraethe waren, und da sie bald erfuhren, daß der Einfluß, den Jesuiten und Spanische Minister auf das kaiserliche Cabinet hatten, auch in Entschließungen auf Reichshofrathsgutachten oder in anderen unmittelbaren Einfluessen auf dieses hohe Collegium nicht unwirksam blieben? Johann Stephan Pütter, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Zweyter Theil von 1558 bis 1740. Göttingen 1788, S. 25. Während das Reichskammergericht seit 1555 paritätisch mit evangelischen und katholischen Assessoren besetzt war, war der Reichshofrat überwiegend, aber nicht ausschließlich mit katholischen Mitgliedern besetzt. Vgl. Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte. Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 169 f.
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Schriftlichkeit gezeichnete Religionsgefahr vollkommen unabhängig von den Geschehnissen vor Ort sein. Gerade in schriftlichen Dokumenten wurde Konfession in den Konflikten unterschiedlich genutzt und instrumentalisiert, auch außerhalb des Verfahrens zur Schaffung einer Öffentlichkeit – um im Sinne von Thesen III und IV dieses Bandes zu sprechen. Die öffentlichkeitswirksame Bewahrung von Recht war in den juristischen Verfahren bei den Wormser Konfessionskonflikten meist handlungsleitend. Das, was vor Ort als konfessionelle Bedrohung wahrgenommen wurde, musste zur Übermittlung in der Schriftlichkeit vollkommen anders als im gelebten Alltag transportiert werden. Die Schriftlichkeit wirkte als Bindeglied zwischen städtischer Ebene und Reichsebene, konnte zusätzlichen Druck ausüben und die Geschehnisse wesentlich verändern.
Stefan Andreas Stodolkowitz
Auswirkungen der Aktenführung auf das gerichtliche Verfahren. Reichskammergericht und Oberappellationsgericht Celle im Vergleich Die wichtigste Quelle zur Erforschung des überwiegend schriftlichen Gerichtsverfahrens der Frühen Neuzeit sind die Akten des Gerichts. Zwar gibt es auch andere Schriftquellen gerichtlicher Verfahren: weitere Quellen des Gerichts wie Protokollund Urteilsbücher, aber auch außergerichtliche Überlieferungen von Prozessparteien und Herrschaftsträgern. Gerichtliche Akten stehen aber schon deshalb als Quelle im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, weil sie die Grundlage gerichtlicher Entscheidungen bildeten und die Tätigkeit des Gerichts damit sowohl beeinflussen konnten als auch unmittelbar und bis heute dokumentieren. Spiegel dieses Forschungsinteresses sind die großangelegten Projekte zur Erschließung von Akten hoher und höchster Gerichte wie des Reichskammergerichts, des Reichshofrats und des Wismarer Tribunals.¹ Urheber des in den Akten enthaltenen Schriftguts ist das Gericht indes nur teilweise, nämlich vor allem im Hinblick auf seine Entscheidungen. Der überwiegende Teil des Akteninhalts geht hingegen auf andere Urheber zurück, insbesondere die Parteien und ihre Anwälte als Verfasser von Schriftsätzen, aber auch auf viele andere Personen und Institutionen wie Notare, Herrschaftsträger und im Falle der Aktenversendung auf die Juristenfakultäten. Das Gericht hatte damit nur ganz eingeschränkt Einfluss auf den Inhalt der Akten. Ausschließlich in seiner Hand – oder der des hiermit betrauten Kanzleipersonals – lag jedoch die Aktenführung, also die Frage, wann und wie Akten angelegt, welche Schriftsätze zu den Akten genommen wurden, welche Ordnung der Aktenführung zugrunde lag, schließlich wie und wie lange die Akten aufbewahrt wurden. Diese Fragen sind nicht nur für den Historiker von Bedeutung, der mit alten Gerichtsakten arbeitet; sie waren auch für ihre zeitgenössischen Nutzer, also in erster Linie für die bei Gericht arbeitenden Personen, relevant. Zudem konnten sie sich unmittelbar auf den Gang des Verfahrens auswirken. Die Aktenführung bildete das Verfahren also nicht nur ab, sondern beeinflusste es zugleich.
Vgl. die Nachweise bei Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider/Stefan Stodolkowitz, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt. Deutungsansätze und integrative Elemente. Köln/Weimar/Wien 2017 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 71), S. 9–20 (hier S. 18, Anm. 27–29). https://doi.org/10.1515/9783111077406-011
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Dies soll im Folgenden gezeigt werden. Dafür werden zunächst die Aktenführung des Reichskammergerichts (nachfolgend unter 1.) und die des Oberappellationsgerichts Celle (nachfolgend unter 2.) einander gegenübergestellt. Sodann soll auf die Schwierigkeiten des Reichskammergerichts beim Umgang mit Schriftgut im Extrajudizialverfahren eingegangen werden (nachfolgend unter 3.). Schließlich soll ein Fall kurz dargestellt werden, in dem das Reichskammergericht vor dem praktischen Problem stand, dass die Akten der Vorinstanz verlorengegangen waren (nachfolgend unter 4.). Grundlage für die Darstellung der Aktenführung des Reichskammergerichts sind insbesondere die Forschungsarbeiten von Bernhard Diestelkamp,² Filippo Ranieri,³ Peter Oestmann⁴ und Anette Baumann⁵ sowie die inzwischen älteren weitgehend normengestützten Studien zum Kameralprozess.⁶ Außerdem wird auf die Extrajudizialsenatsprotokolle des Reichskammergerichts eingegangen, die sich im Bundesarchiv befinden und deren Auswertung noch erheblichen Erkenntnisgewinn verspricht. Die Ausführungen zur Aktenführung des
Bernhard Diestelkamp,Von der Arbeit des Reichskammergerichts, in: ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich. Frankfurt a. M. 1999 (Ius Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 122), S. 283–308. Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Teilbände. Köln/ Wien 1985 (QFHG, Bd. 17). Grundlegend Peter Oestmann, Ein Zivilprozess am Reichskammergericht. Edition einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 55); ders., Leitfaden zur Benutzung von Reichskammergerichtsakten, in: ders./Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel zur vormodernen Geschichte. Düsseldorf 2012 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 44), S. 6–20; ders., Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 37), S. 15–54. Anette Baumann, Der Aufbau einer Reichskammergerichtsprozessakte, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3 (13. Dezember 2004), http://www.zeitenblicke.de/2004/03/baumann1/index.html (abgerufen am 18. Januar 2023); dies., Die quantifizierende Methode und die Reichskammergerichtsakten, in: dies./ Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle (wie Anm. 4), S. 55–67. Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555. Köln/ Wien 1981 (QFHG, Bd. 10); Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 18); Heinrich Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches. Münster 1966.
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Oberappellationsgerichts Celle beruhen auf zeitgenössischer Literatur⁷ und auf eigenen Untersuchungen des Verfassers.
1 Die Aktenführung des Reichskammergerichts Die Aktenführung des Reichskammergerichts orientierte sich an der für dessen Verfahren prägenden Unterscheidung zwischen einem Extrajudizial- und einem Judizialverfahren.⁸ Jedes Verfahren begann mit einem Antrag (supplicatio) einer Partei, über den das Gericht im Extrajudizialverfahren ohne Anhörung der gegnerischen Partei durch einen Extrajudizialsenat⁹ entschied. Erließ es daraufhin förmliche Prozesse – Zitations-, Appellations- oder Mandatsprozesse –, so hatte die Partei diese Entscheidung mit dem Schriftsatz, der zu ihrem Erlass geführt hatte, und den zugehörigen Anlagen des Klägers oder Rechtsmittelführers dem Gegner zustellen zu lassen und sie sodann in der Audienz zu reproduzieren. Hierfür überreichte die Partei durch ihren Prokurator die zugestellten Schriftstücke mit dem Nachweis der Zustellung (insinuatio).¹⁰ Mit dieser Reproduktion begann das Judizialverfahren. Die Bezeichnung rührt daher, dass als eigentliches gerichtliches („judiziales“) Verfahren nur verstanden wurde, was in der Audienz verhandelt wurde. Erst mit Beginn des Judizialverfahrens legte das Gericht Akten an. Diese begannen also mit den reproduzierten Prozessen und dem ihrem Erlass vorangegangenen Schriftsatz. Im Falle eines Rechtsmittelverfahrens hatte der Rechtsmittelführer nun die Akten der Vorinstanz zu beschaffen und dem Reichskammergericht zu übermitteln. Darauf folgte der Austausch von Schriftsätzen mit oftmals
Insbesondere Friedrich von Bülow, Über die Verfassung, die Geschäfte und den Geschäftsgang des Königlichen und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgischen Ober-Appellations-Gerichts zu Zelle, 2 Bde. Göttingen 1801/1804. Diestelkamp, Von der Arbeit des Reichskammergerichts (wie Anm. 2), S. 301; Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae (wie Anm. 6), S. 180; Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 6), S. 98, 105. Zur Spruchkörperstruktur siehe Wolfgang Sellert, Verfahrensbeschleunigung am Reichskammergericht durch Reformen seiner Spruchkörperstruktur, in: Ulrich Wackerbarth/Thomas Vormbaum/Hans-Peter Marutschke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenhardt zum 70. Geburtstag. München 2007, S. 139–153, sowie die bei Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil I: Darstellung. Köln/ Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 26/I), S. 158, Anm. 151, nachgewiesene zeitgenössische Literatur. Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses (wie Anm. 6), S. 203–205; Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae (wie Anm. 6), S. 279, 282 f.; Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 6), S. 199–202.
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umfangreichen Anlagen, die ebenfalls in der Audienz übergeben und zu den Akten genommen wurden.¹¹ Alle Verfahrenshandlungen in der Audienz wurden im Sitzungsprotokoll festgehalten. Dieses bezog sich nicht nur auf ein bestimmtes Verfahren, sondern auf alle Verfahren, die Gegenstand der jeweiligen Audienz waren. Auf der Grundlage der Sitzungsprotokolle wurde für jedes Verfahren ein sogenanntes Spezialprotokoll gefertigt, in das alle dieses Verfahren betreffenden Abläufe Eingang fanden. Das Spezialprotokoll wurde den Akten vorangestellt. Die übergebenen Schriftstücke sind in ihm mit Nummern (sogenannten Quadrangeln) versehen, die sich auch auf den Schriftstücken selbst finden. So kann der Leser der Akten anhand des Spezialprotokolls den Akteninhalt nachvollziehen und auf Vollständigkeit überprüfen.¹² Diese Aktenführung gab es indes nur im Judizialverfahren. Im Extrajudizialverfahren führte das Reichskammergericht keine Akten.¹³ Vielmehr reichte es die Schriftsätze nach Erlass einer Entscheidung an die Parteien zurück. Zumeist wurde die Entscheidung in Form eines sogenannten Dorsalvermerks unmittelbar auf der Antragsschrift niedergeschrieben und dem Prokurator mit derselben behändigt.¹⁴ Ebenso verfuhr das Gericht, wenn nach Beginn des Judizialverfahrens außerhalb der Audienzen und damit extrajudizial Anträge gestellt und verbeschieden wurden. Denn die Unterscheidung zwischen Extrajudizial- und Judizialverfahren war nicht nur eine zeitliche Aufteilung des Verfahrens in zwei nacheinander liegende Abschnitte. Vielmehr konnten die Parteien auch nach dem Übergang der Sache in das Judizialverfahren bestimmte, insbesondere eilbedürftige, Anträge extrajudizial, also schriftlich außerhalb der Audienz, einbringen.¹⁵ Die das Extrajudizialverfahren betreffenden Schriftstücke fanden nur dann Eingang in die Reichskammergerichtsakten, wenn das Verfahren nach Erlass förmlicher Prozesse und deren Zustellung durch die Reproduktion in das Judizialverfahren überging und die Parteien
Baumann, Die quantifizierende Methode (wie Anm. 5), S. 58 f. Oestmann, Leitfaden (wie Anm. 4), S. 7 f. Oestmann, Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung (wie Anm. 4), S. 38; Ranieri, Recht und Gesellschaft (wie Anm. 3), Teilband I, S. 77. Franz Anton Dürr (Präses)/Peter Joseph Cramer von Clauspruch (Defendent), Dissertatio inauguralis de ordinationibus in processu camerae imperialis usitatis. Mainz 1776, § 84, S. 56. Vgl. ebd., § 102, S. 66 f., sowie das Beispiel bei Johann Ulrich von Cramer, Wetzlarische Beyträge aus der Reichs-Praxi dasigen Höchsten Reichs-Gerichts, Band 1, Teil 1. Wetzlar 1763, S. 6 f. Siehe auch Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses (wie Anm. 6), S. 148.
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die das Extrajudizialverfahren betreffenden Schriftstücke in der Audienz überreichten, weil sie für das Judizialverfahren relevant waren.¹⁶ Diese Form der Aktenführung ist prägend für die Überlieferung des Reichskammergerichts: Das Extrajudizialverfahren ist nicht lückenlos durch Akten überliefert. Insbesondere sind Anträge der Parteien im Extrajudizialverfahren dann nicht Gegenstand der Reichskammergerichtsakten, wenn sie erfolglos blieben und das Gericht die beantragten Prozesse nicht erließ, sondern, wie es hieß, abschlug; in diesem Fall kam es nicht zur Anlegung von Akten. So gibt es zu Mandatssachen Akten nur, wenn das Reichskammergericht ein Mandat erließ und dieses in der Folge nach Zustellung in der Audienz reproduziert wurde, nicht aber, wenn ein Mandat nicht erlassen oder, etwa weil der Gegner ihm sogleich Folge leistete oder die Parteien den Streit anderweitig beilegten, nicht reproduziert wurde.¹⁷ Entsprechendes gilt auch für erstinstanzliche Verfahren und Appellationssachen. Fälle, in denen das Reichskammergericht ein Rechtsmittel für offensichtlich unzulässig oder unbegründet erachtete und deshalb den Erlass der beantragten Appellationsprozesse ablehnte, sind nicht Gegenstand der Reichskammergerichtsakten. Deshalb ist die wohl vor allem in der Spätphase des Reichskammergerichts wichtige Verfahrenspraxis, nicht nur über offensichtlich unbegründete, sondern auch über eindeutig begründete Anträge durch Extrajudizialdekrete zu entscheiden, um den Erlass förmlicher Prozesse sowie das umständliche und oftmals langwierige Judizialverfahren entbehrlich zu machen,¹⁸ nicht anhand der Reichskammergerichts-
Alexander Brunotte/Raimund J. Weber (Bearb.), Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A–D. Stuttgart 1993 (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. 46/1), S. 22; Oestmann, Leitfaden (wie Anm. 4), S. 12. Oestmann, Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung (wie Anm. 4), S. 38; Beispielsfälle aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden sich bei Wolfgang Prange, Schleswig-Holstein und das Reichskammergericht in dessen ersten fünfzig Jahren. Wetzlar 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 22), S. 10 f., 17. Stefan Andreas Stodolkowitz, Der Zivilprozess des Oberappellationsgerichts Celle am Ende des Alten Reiches. Bilanz und Perspektiven, in: Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider (Hrsg.), Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2015 (bibliothek altes Reich, Band 17), S. 175–193 (hier S. 184–190); ders., De novo iudicandi genere. Dissertationen über gerichtliche Ordinationen und Reskripte als Quellen zu neuen Wegen des Zivilprozesses im 18. Jahrhundert, in: Bongartz/Denzler/ Franke/Schneider/Stodolkowitz (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt (wie Anm. 1), S. 165–182. Aus dem zeitgenössischen Schrifttum sind insbesondere zu erwähnen: Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), Johann Philipp Hahn (Präses)/Johann Franz Anton Marx (Defendent), Dissertatio inauguralis politico-publica de ordinationibus, seu novo judicandi genere supremorum imperii tribunalium. Mainz 1753, Johann Ulrich von Cramer, Observationes juris universi, Bd. 2, T. 2. Ulm 1762, Obs. 779, S. 545–559, sowie die Abhandlung eines anonymen Verfassers, Von Appellationen und Ordinationen, in: Johann Ulrich von Cramer, Wetz-
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akten nachzuvollziehen. Die Ansicht Ranieris, der Schwerpunkt der Tätigkeit des Reichskammergericht habe im Judizialverfahren gelegen,¹⁹ gilt sicher für das von ihm untersuchte 16. Jahrhundert, möglicherweise aber nicht mehr einschränkungslos für das 18. Jahrhundert. Jedoch gibt es jenseits der Akten für das 18. Jahrhundert umfangreiche Protokollbücher nicht nur der Judizialsenate,²⁰ sondern auch der Extrajudizialsenate, anhand derer sich das Extrajudizialverfahren und vielfach auch das Zustandekommen gerichtlicher Entscheidungen nachvollziehen lässt.²¹ Im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde befinden sich 443 dieser Protokollbände aus dem Zeitraum 1711 bis 1806 und außerdem ein Band für die Jahre 1681 bis 1687.²² Sie sind chronologisch geordnet und dokumentieren die Abläufe jeder Beratung eines Extrajudizialsenats. Verzeichnet sind jeweils das Datum, die beteiligten Assessoren unter Hervorhebung des Referenten, die Parteien der betreffenden Sachen, der Name des Prokurators und der Gegenstand seines Antrags sowie die daraufhin ergangene Entscheidung des Gerichts, und zwar für alle Anträge, über die der Extrajudizialsenat entschied. Darüber hinaus ist vermerkt, welche Schriftstücke der Referent verlas, um den übrigen Assessoren das für die Entscheidung erforderliche Wissen zu vermitteln; regelmäßig wurden hierfür die Antragsschriften verlesen, teilweise auch ihnen beigefügte Anlagen. In vielen Fällen sind zudem die Voten der Assessoren protokolliert, also die rechtliche Beurteilung durch den Referenten und sein Entscheidungsvorschlag sowie die Stellungnahmen der übrigen Beisitzer. Oft ist hervorgehoben, ob die Entscheidung einstimmig (per unanimia) oder durch Mehrheit (per maiora) erging. Die späteren Protokollbände enthalten teilweise umfangreiche Extrajudizialrelationen,²³ die nicht nur das eigentliche Votum, sondern auch eine
larische Nebenstunden, Teil 125. Ulm 1773, S. 76–138 (aus dem Zusammenhang ergibt sich ziemlich sicher, dass von Cramer nicht der Autor dieser Abhandlung ist). Ranieri, Recht und Gesellschaft (wie Anm. 3), Teilband I, S. 77. Vgl. Oestmann, Ein Zivilprozess am Reichskammergericht (wie Anm. 4), S. 9, 11 f., sowie die Edition eines Judizialsenatsprotokolls ebd., S. 572–576. Vgl. die Ausführungen zu Beratungsprotokollen frühneuzeitlicher Gerichte und insbesondere des Reichshofrats im Beitrag von Tobias Schenk in diesem Band, S. 333 f. Bestand AR 1-II. Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf einer Einsichtnahme in die Protokollbände für die Jahre 1720, 1740, 1760 und 1780, AR 1‐ II 29, 30, 31, 32 (1720), 121, 122, 123, 124 (1740), 201, 202, 203, 204 (1760), 281, 282, 283, 284 (1780). Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Frau Prof. Dr. Anja Amend-Traut. Vgl. Gemeiner Bescheid vom 18. März 1785, abgedruckt bei Peter Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide, Teil 1: Reichskammergericht 1497–1805. Köln/Weimar/Wien 2013 (QFHG, Bd. 63,1), S. 767.
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detaillierte Schilderung von Gegenstand und Ablauf des Verfahrens enthalten.²⁴ Diese Relationen wurden verlesen und zu den Protokollen genommen. Die Protokollbände geben aufschlussreiche Einblicke in die Abläufe des Extrajudizialverfahrens. Sie sind aber nicht mit Akten gleichzusetzen, weil sie nur den gerichtlichen Prozess der Entscheidungsfindung dokumentieren, aber nicht das Schriftgut, insbesondere die Schriftsätze der Parteien und ihrer Anwälte, enthalten, auf dessen Grundlage das Gericht eine Entscheidung traf.
2 Die Aktenführung des Oberappellationsgerichts Celle Die Aktenführung des 1711 als oberstes Gericht für das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg (Kurhannover) gegründeten Oberappellationsgerichts Celle²⁵ unterschied sich von der des Reichskammergerichts grundlegend. Zwar gab es auch in Celle eine dem Extrajudizialverfahren des Reichskammergerichts entsprechende Vorprüfung der Frage, ob die beantragten Prozesse zu erlassen und damit ein förmliches Verfahren einzuleiten waren.²⁶ Eine strenge Zäsur zwischen Extrajudizial- und Judizialverfahren wie in Wetzlar gab es aber nicht,²⁷ wohl des-
Von den untersuchten Protokollbänden (siehe Anm. 22) gilt dies für diejenigen aus dem Jahr 1780; die Protokolle aus dem Jahr 1760 enthalten noch keine solchen Relationen, sondern nur teilweise schriftlich vorbereitete und zum Protokoll genommene Voten. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Ausarbeitung von Extrajudizialrelationen im Zuge der von 1767 bis 1776 durchgeführten letzten Visitation des Reichskammergerichts eingeführt wurde. Hierzu insbesondere Peter Jessen, Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das kurhannoversche Privilegium De Non Appellando Illimitatum. Aalen 1986 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 27); Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 59). T. II Tit. 3 §§ 1–4 der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen und Gesetze. Zum Gebrauch der Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Bd. 2. Göttingen 1740, S. 76–78; Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Rechtsmittel der Appellation am Oberappellationsgericht Celle, in: Leopold Auer/Eva Ortlieb (Hrsg.), Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 2013 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 3, Bd. 1), verfügbar unter http://hw.oeaw.ac.at/7432-5inhalt? frames=yes (abgerufen am 18. Januar 2023), S. 269–290 (hier S. 275–285); ders., Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 157–171. Entgegen Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 157–183, sollten deshalb die der Wetzlarer Praxis entlehnten Begriffe Extrajudizial- und Judizialverfahren für das Oberappellationsgericht Celle nicht verwendet werden. Zeitgenössisch sind sie für Celle wohl nicht;
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halb, weil das Celler Verfahren keine Audienzen kannte, sondern wie am Reichshofrat fast ausschließlich schriftlich ablief.²⁸ Anders als das Reichskammergericht legte das Oberappellationsgericht die Akten bereits mit dem Eingang des ersten Schriftstücks in einer Sache an. Soweit seine Akten noch erhalten sind,²⁹ sind damit alle Sachen überliefert, mit denen das Gericht befasst war, auch die große Zahl³⁰ der Verfahren, in denen es den Erlass förmlicher Appellationsprozesse ablehnte und – oft sogleich nach Eingang der Rechtsmittelschrift – durch abschlägiges Dekret oder Reskript an das Gericht der Vorinstanz entschied. Diese Art der Aktenführung entsprach derjenigen des Wismarer Tribunals,³¹ an dessen Vorbild sich die Gründer des Oberappellationsgerichts orientiert hatten.³² Die Akten enthalten alle in einer Sache eingegangenen Schriftstücke nebst den Entscheidungen des Gerichts in chronologischer Reihenfolge. Auch die Urteile befinden sich im Original in den Akten und nicht in gesonderten Urteilsbüchern oder ‐sammlungen. Den Akten ist ein Designationsprotokoll (protocollum loco designationis actorum) vorangestellt, in dem alle Schriftstücke mit dem Datum ihres Eingangs, bei Parteischriftsätzen unter Nennung des Prokurators, sowie die gerichtlichen Entscheidungen verzeichnet sind, letztere jedoch nicht, wie es die Ge-
insbesondere finden sie keine Erwähnung im Werk des Celler Beisitzers Friedrich von Bülow, Über die Verfassung (wie Anm. 7). Jessen, Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 25), S. 158; Stodolkowitz, Das Rechtsmittel der Appellation (wie Anm. 26), S. 276; ders., Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 147 f. Erhalten sind von wenigen Ausnahmen abgesehen nur die 443 das Herzogtum Lauenburg betreffenden Akten aus dem Zeitraum 1747–1816. Siehe Wolfgang Prange, Findbuch der Bestände Abt. 216 und Abt. 217. Lauenburgische Gerichte. Schleswig 1992 (Veröffentlichungen des SchleswigHolsteinischen Landesarchivs, Bd. 29). Zur Überlieferungssituation Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 4–6; zu weiteren erhaltenen Akten aus dem 19. Jahrhundert ders., Der Zivilprozess des Oberappellationsgerichts Celle (wie Anm. 18), S. 190 f. Vgl. das Ergebnis der quantitativen Auswertung bei Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 168–171. Hans-Konrad Stein, Bericht über den Tribunalsbestand im Stadtarchiv Wismar und Vorschläge zur Verzeichnung der Tribunalsakten, in: Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/Kjell Åke Modéer (Hrsg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806). Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG, Bd. 47), S. 367–370 (hier S. 369). Stefan Andreas Stodolkowitz, Beziehungen zwischen dem Oberappellationsgericht Celle und dem Wismarer Tribunal, in: Nils Jörn (Hrsg.), Anpassung, Unterordnung, Widerstand?! Das Verhältnis zwischen Ur- und Neuadel im schwedischen Konglomeratstaat. Hamburg 2017 (Schriftenreihe der David-Mevius-Gesellschaft, Bd. 11), S. 243–278 (hier S. 246 f.).
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richtsordnung eigentlich vorsah,³³ mit Wiedergabe ihres Inhalts, sondern nur mit Datum und Nummer des Aktenstücks³⁴ sowie einer Kurzbezeichnung wie rescriptum, decretum denegatorium oder decretum reiectorium. ³⁵ Alle Aktenstücke sind, ebenso wie in den Reichskammergerichtsakten, mit eingerahmten Zahlen (Quadrangeln) versehen, die sich auch im Designationsprotokoll finden. Dieses ist damit ein Verzeichnis des gesamten Akteninhalts in chronologischer Ordnung, das die Überprüfung der Akten auf Vollständigkeit ermöglicht und insofern weitgehend dem Spezialprotokoll in den Reichskammergerichtsakten entspricht. Anlagen sind allerdings nicht einzeln aufgeführt. So enthält etwa das Designationsprotokoll eines Verfahrens aus den Jahren 1778 bis 1780, in dem das Oberappellationsgericht den Erlass der beantragten Appellationsprozesse ablehnte,³⁶ folgende Eintragungen: Actum den 11ten Maj: 1778. D. Müller übergiebt [1.] Introductionem et Justificationem, mit [2.–11.] Anl. Actum d. 12. Jul: 1779. D. Müller reicht ein [12.] Gesuch. Actum d. 11. Nov: 1779. [13.] Decr. denegatorium. Actum d. 17. Jan: 1780. D. Müller prod: [14.] Interpositionem et deductionem. Actum d. 21. Febr. 1780. [15] Decretum denegatorium.
Dieses Protokoll lässt den wesentlichen Verfahrensgang erkennen: Am 11. Mai 1778 reichte der Prokurator der Klägerseite die Appellationsschrift mit Anlagen ein. Am 12. Juli des Folgejahres bat er, weil das Gericht die Sache ungewöhnlich lange liegenließ,³⁷ durch ein Gesuch um eine baldige Entscheidung. Am 11. November 1779 lehnte das Gericht die Eröffnung des Appellationsprozesses durch Dekret ab. Der
T. I Tit. 3 § 9 der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 = Landes-Ordnungen und Gesetze, Bd. 2 (wie Anm. 26), S. 20 f. Von Bülow, Über die Verfassung (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 204, Anm. 32. Zu den im braunschweig-lüneburgischen Zivilprozess üblichen Bezeichnungen von gerichtlichen Entscheidungen Georg Heinrich Oesterley, Grundriß des bürgerlichen und peinlichen Processes für die Chur-Braunschweig-Lüneburgischen Lande und zwar für den Theil derselben welcher in zweyter Instanz den Obergerichten zu Hannover unterworfen ist. Göttingen 1800, S. 262 f., Anm. *). Appellationssache des Schneideramts Mölln gegen das Hack- und Kramamt Mölln, Landesarchiv Schleswig-Holstein (künftig: LSH), Abt. 216 (Lauenburgische Gerichte), Nr. 640. Der Inhalt dieses Verfahrens ist dargestellt bei Stefan Andreas Stodolkowitz, Vom Handel mit Ellen, Stahl- und Eisenwaren. Eine Zunftstreitigkeit vor dem Oberappellationsgericht Celle.Wetzlar 2015 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 44). Vgl. Stodolkowitz, Vom Handel (wie Anm. 36), S. 23.
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Kläger legte am 17. Januar 1780 den in der Praxis zumeist als restitutio in integrum bezeichneten Rechtsbehelf der elisio rationum decidendi (Widerlegung der Entscheidungsgründe) oder – gleichbedeutend – emendatio libelli (Verbesserung der Appellationsschrift) ein, der zu einer erneuten Prüfung durch das Oberappellationsgericht führte.³⁸ Der Rechtsbehelf hatte keinen Erfolg; am 21. Februar 1780 bestätigte das Gericht sein abschlägiges Erkenntnis. Damit war das Verfahren beendet. Hatte das Gericht förmliche Prozesse erkannt und den Parteien daraufhin Gelegenheit zum Austausch von Schriftsätzen gegeben, so verfügte es regelmäßig nach der Duplik, spätestens aber nach der Quadruplik den Aktenschluss, den zuvor beide Parteien beantragt haben mussten. Ab diesem Zeitpunkt waren Schriftsätze der Parteien mit weiterem Sachvortrag ausgeschlossen, wenn der Aktenschluss nicht ausnahmsweise noch einmal aufgehoben wurde.³⁹ Im Rahmen eines Inrotulationstermins wurden die Akten im Beisein der Parteien oder ihrer Prokuratoren auf Vollständigkeit überprüft, bevor ein Gerichtssekretär sie verschnürte und versiegelte.⁴⁰ Diese Inrotulation der Akten entsprach dem Verfahren des Reichshofrats⁴¹ und war auch an anderen Gerichten gebräuchlich.⁴² Ein juristisches Handwörterbuch aus dem Jahr 1804 beschreibt sie als Die förmliche Schliessung der Acten vor Abfassung der Sentenz, wobey die Partheyen nachsehen müssen; ob die Acten vollständig sind, oder ob etwas von denselben weggekommen ist. ⁴³ Geöffnet wurden
Zu diesem Rechtsbehelf von Bülow, Über die Verfassung (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 211–220; ders./ Theodor Hagemann, Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, hin und wieder mit Urtheils-Sprüchen des Zelleschen Tribunals und der übrigen Justizhöfe bestärkt, Bd. 6. Hannover 1818, S. 253 f.; Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 182. T. II Tit. 11 der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 = Landes-Ordnungen und Gesetze, Bd. 2 (wie Anm. 26), S. 134 f.; von Bülow, Über die Verfassung (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 283–285. T. II Tit. 12 § 1 der Oberappellationsgerichtsordnung von 1713 = Landes-Ordnungen und Gesetze, Bd. 2 (wie Anm. 26), S. 135; von Bülow, Über die Verfassung (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 204, Bd. 2, S. 285 f.; Jessen, Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 25), S. 203; Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 176. Benjamin Ferdinand Mohl, Historisch-politische Vergleichung der beyden höchsten Reichsgerichte in ihren wichtigsten Verhältnissen. Ulm 1789, S. 331; Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae (wie Anm. 6), S. 327 f. Vgl. Tit. 12 § 9 der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten von 1795. Zur Inrotulation vor Versendung der Akten an eine Juristenfakultät Kerstin Rahn, „Vor einem Geheimen Gerichte … gerichtet“. Hildesheimer Rechtsprechung im Wandel, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77 (2005), S. 305–314 (hier S. 309). Siehe auch den Beitrag von Ulrich Falk in diesem Band, S. 117. Heinrich Hevelke (Hrsg.), Juristisches Handwörterbuch für Rechts-Candidaten vorzüglich als Vorbereitungs-Mittel zum Examen, und für Nicht-Juristen gebildeter Stände, Erste Abtheilung, A–M. Leipzig 1804, S. 460.
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die Akten erst wieder für die Ausarbeitung der Relationen zur Vorbereitung eines Urteils. Die Dekrete des Gerichts wurden im Original mit den Unterschriften der beteiligten Richter zu den Akten genommen;⁴⁴ nur bei förmlichen Urteilen (sententiae) befindet sich in den Akten anstelle eines von den Richtern unterschriebenen Exemplars eine vom Protonotar beglaubigte und mit dem Gerichtssiegel versehene Ausfertigung. Durch die Unterschriften ist bei den Dekreten nach der Schilderung im Werk des Celler Beisitzers Friedrich von Bülow nachvollziehbar, welche Richter an der Entscheidung mitgewirkt haben. War ein Richter an der Mitwirkung verhindert, konnte dies in der Unterschriftenzeile durch einen vertikalen Strich kenntlich gemacht werden. Ein Richter, der mit der Entscheidung nicht in allen Punkten übereinstimmte, konnte dies durch einen horizontalen Strich unter seiner Unterschrift hervorheben. Hatte ein Richter insgesamt gegen die Entscheidung votiert und war überstimmt worden, war er zur Unterschrift nicht verpflichtet und konnte diese durch einen horizontalen Strich ersetzen. Zudem bestand die Möglichkeit, eine abweichende Ansicht und ihre Begründung schriftlich niederzulegen und zu den Akten zu geben.⁴⁵ Allerdings finden sich solche schriftlichen Sondervoten in keiner der erhaltenen 443 Prozessakten des Oberappellationsgerichts. Anders als am Reichskammergericht befinden sich in den Akten des Oberappellationsgerichts Celle in der Regel keine vollständigen Akten der Vorinstanz, sondern nur einzelne Aktenstücke aus denselben, soweit die Parteien sie ihren Schriftsätzen in Abschrift als Anlagen beifügten. Denn das Gericht ließ sich die Vorakten vom jeweiligen Gericht der Vorinstanz im Original übermitteln und sandte sie nach Abschluss des Rechtsmittelverfahrens wieder zurück. Dieses Vorgehen war innerhalb eines Territoriums mit einer in sich geschlossenen hierarchischen Gerichtsorganisation⁴⁶ wohl einfacher als das Abschreiben umfangreicher Akten. Nur in wenigen Ausnahmefällen befinden sich im Aktenbestand des Oberappellationsgerichts vollständige Vorakten.⁴⁷
Vgl. die Abbildung bei Stodolkowitz, Vom Handel (wie Anm. 36), S. 24. Von Bülow, Über die Verfassung (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 174. Vgl. Stefan Andreas Stodolkowitz, Herrschaftsverdichtung und Institutionalisierung der Justiz. Frühneuzeitliche Gerichtsvielfalt in Braunschweig-Lüneburg, in: Anja Amend-Traut/Josef Bongartz/ Alexander Denzler/Ellen Franke/Stefan Andreas Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich. Wien/Köln/Weimar 2020 (QFHG, Bd. 73), S. 163–181 (hier S. 173–177). Vgl. die entsprechenden Einträge bei Prange, Findbuch (wie Anm. 29).
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3 Probleme des nicht aktenbasierten Extrajudizialverfahrens am Reichskammergericht Im Gegensatz zum Oberappellationsgericht Celle, bei dem das gesamte Verfahren in den Akten dokumentiert ist, lief am Reichskammergericht mit dem Extrajudizialverfahren ein nicht unwesentlicher Verfahrensabschnitt zwar schriftlich, aber ohne gerichtliche Akten ab. Nach der ursprünglichen Konzeption des Extrajudizialverfahrens war das unproblematisch. Dieses sollte nur der Vorprüfung dienen, ob die beantragten gerichtlichen Verfügungen (Zitations-, Mandats- oder Appellationsprozesse) zu erlassen waren. Das Gericht beteiligte in diesem Stadium die gegnerische Partei noch nicht am Verfahren; sie konnte ihre Einwendungen nach Erlass der Prozesse im Judizialverfahren vorbringen. Da das Gericht auf jeden Antrag sofort eine Entscheidung traf, benötigte es keine Akten: Erließ es Prozesse, gelangte das Verfahren nach Zustellung und Reproduktion ins Judizialverfahren, in dem nunmehr Akten angelegt wurden. Lehnte es den Antrag auf Erlass von Prozessen ab, erhielt der Antragsteller seine Schriftstücke mit der Entscheidung zurück. Wiederholte er seinen Antrag, musste er erneut alle wesentlichen Umstände vortragen, so dass das Gericht auf Grund der neuen Antragsschrift entscheiden konnte, ohne auf frühere Unterlagen angewiesen zu sein; ein solcher wiederholter Antrag war bei behebbaren Verfahrenshindernissen möglich, nachdem das Gericht den Antragsteller durch ein sogenanntes decretum praelocutorium auf den Mangel hingewiesen hatte.⁴⁸ Die Bedeutung des Extrajudizialverfahrens scheint sich im 18. Jahrhundert jedoch gewandelt zu haben. Das Reichskammergericht war, wie schon kurz angesprochen wurde, zunehmend bestrebt, einfach gelagerte Rechtsfälle bereits in diesem Stadium abschließend zu entscheiden, um die Durchführung des oftmals langwierigen förmlichen Judizialverfahrens entbehrlich zu machen. In Anlehnung an den Reskriptsprozess⁴⁹ des Reichshofrats begann es, in offensichtlich begrün-
Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), § 19, S. 12 f.; Hahn/Marx, Dissertatio inauguralis politico-publica (wie Anm. 18), §§ 45 f., S. 54 f.; Johann Stephan Pütter, Introductio in rem Iudiciariam Imperii, speciatim quoque in statum ac praxin amborum supremorum Imperii tribunalium. Göttingen 1752, S. 134 f. Siehe Tit. VI § 11 der Reichshofratsordnung von 1654 = Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766, 2. Halbband bis 1766. Köln/Wien 1990 (QFHG, Bd. 8/II), S. 228–230; Peter Oestmann, Streit um Anwaltskosten in der frühen Neuzeit, Teil 2: Gerichtszuständigkeit und Verfahrensarten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 133 (2016), S. 191–295 (hier S. 220–231); Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae
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deten Fällen ohne förmliches Verfahren Anordnungen durch sogenannte Ordinationen zu treffen. Diese konnten den Charakter einstweiliger Verfügungen haben oder eine gütliche Einigung anregen, aber auch das Gericht der Vorinstanz auffordern, seine Entscheidung in einem bestimmten Sinne abzuändern, um ein weiteres Rechtsmittelverfahren entbehrlich zu machen.⁵⁰ Zudem erließ das Reichskammergericht oftmals eine Ordination anstelle eines eigentlich gerechtfertigten mandatum sine clausula. So verfuhr es vor allem aus Gründen der Rücksichtnahme gegenüber mächtigen Reichsständen, die, wie eine Dissertation aus dem Jahr 1776 ausführt, durch den Erlass von Mandaten oftmals erzürnt waren und deren im Vollstreckungswege schwer durchzusetzende Befolgung verweigerten.⁵¹ Die Assessoren des Reichskammergerichts hofften offenbar, dass solche Reichsstände eine zurückhaltend abgefasste Ordination eher freiwillig befolgen würden als ein förmliches Mandat; damit suchten sie die Vollstreckung von Mandaten zu vermeiden. Dieses Verfahren ist eine Parallele zur Praxis des Reichshofrats, der gegenüber mächtigen Reichsständen anstelle von Mandaten oftmals Reskripte erließ.⁵² Wie alle Extrajudizialdekrete ergingen Ordinationen ohne vollständige Akten; sie wurden dem Antragsteller zusammen mit den zur Begründung des Antrags eingereichten Schriftstücken übermittelt. In Ermangelung schriftlicher Akten bereitete das weitere Verfahren Schwierigkeiten, wenn die gegnerische Partei gegen die Entscheidung Einwendungen erhob. Da diese Entscheidungen keine förmlichen Prozesse waren und insbesondere keine Ladung enthielten, wurden sie nicht in der Audienz reproduziert. Die Antragsteller brauchten deshalb nicht nachzuweisen, dass sie die Entscheidung nebst der ihr zugrunde liegenden Antragsschrift ordnungsgemäß zugestellt hatten. Um der gegnerischen Partei die Erhebung von Einwendungen zu erschweren, stellten sie ihr in der Praxis oftmals nur die Ordination als solche zu, nicht aber den Schriftsatz mit dem möglicherweise entscheidenden Sachvortrag, der zu ihrem
(wie Anm. 6), S. 175–191; ders., Prozessrechtliche Aspekte zur Appellation an den Reichshofrat, in: Auer/Ortlieb (Hrsg.), Appellation und Revision (wie Anm. 26), S. 103–119 (hier S. 116 f.). Stodolkowitz, De novo iudicandi genere (wie Anm. 18), S. 173–179, unter Bezugnahme auf die umfangreichen Darstellungen bei Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), und Hahn/Marx, Dissertatio inauguralis politico-publica (wie Anm. 18). Der Verfasser bereitet derzeit eine Untersuchung zu den Ordinationen des Reichskammergerichts nebst Edition dieser und zweier weiterer Dissertationen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor. Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), § 82, S. 55. Manfred Uhlhorn, Der Mandatsprozeß sine clausula des Reichshofrats. Köln/Wien 1990 (QFHG, Bd. 22), S. 117–121.
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Erlass geführt hatte.⁵³ Die Reichskammergerichtsassessoren Johann Arnold Cramer von Clauspruch und Johann Heinrich von Harpprecht⁵⁴ bezeichneten dies in Stellungnahmen gegenüber der Visitationskommission aus dem Jahr 1768, in denen sie sich zur Praxis der Ordinationen äußerten, als kritikwürdigen Missbrauch.⁵⁵ Der Gegner erfuhr in solchen Fällen die Gründe nicht, die das Gericht zu der Entscheidung bewegt hatten, und konnte sie nicht gezielt widerlegen. In späteren Fällen suchte das Reichskammergericht dieses Problem zu umgehen, indem es dem Antragsteller aufgab, dem Gegner neben der Ordination auch die Antragsschrift nebst Anlagen zustellen zu lassen. So enthält eine Ordination aus den Jahren 1769 oder 1770 die Anweisung: Und solle Dr. Hoffmann Prplis [Principalis, also der Kläger] mit gegenwärtiger Ordination die darzu gehörige Supplication und Anlagen Beklagten Magistrat insinuiren lassen. ⁵⁶ Weitere Schwierigkeiten entstanden, wenn der Gegner gegen eine Ordination vor dem Reichskammergericht tatsächlich schriftlich Einwendungen erhob. Da im Extrajudizialverfahren keine Akten geführt wurden und der Antragsteller alle eingereichten Schriftstücke mit der gerichtlichen Entscheidung zurückerhielt, war das Gericht nur eingeschränkt in der Lage, sich inhaltlich mit den Einwendungen zu befassen. Zwar konnte es einen Schriftsatz des Gegners anhand der Extrajudizialsenatsprotokolle dem betreffenden Fall zuordnen. Eine inhaltliche Prüfung der Einwendungen war aber nur schwer möglich, weil das Gericht über die Schriftsätze, auf die die Ordination ergangen war, nicht mehr verfügte und die Protokolle meist nur die Voten der Assessoren enthielten, aber – abgesehen von den später üblichen Extrajudizialrelationen – keine umfassende Wiedergabe des Sach- und Streitstoffs.⁵⁷ Im Extrajudizialverfahren vorgebrachte Einwendungen der gegnerischen Partei sollen deshalb meistens wirkungslos geblieben sein.⁵⁸ Auch war im Extrajudizialverfahren keine Möglichkeit vorgesehen, den Gegner förmlich zu beteiligen und etwaige Einwendungen wiederum dem Antragsteller zur Stellungnahme zu übermitteln. Einen Austausch von Parteischriftsätzen gab es nur im Judizialver-
Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), § 83, S. 55 f. Umfangreiche biographische Angaben bei Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil II: Biographien, 2 Bde. Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG, Bd. 26/II,1–2), Bd. 1, S. 138–143 (Cramer von Clauspruch), Bd. 2, S. 989–1002 (von Harpprecht). Beilage zu den Visitationsprotokollen Nr. 460 ad Sess. 211, praes. 17. September 1768, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (künftig: ÖStA HHStA), MEA RKG Nr. 291. Johann Ulrich von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden, Teil 106. Ulm 1770, S. 315. Siehe oben S. 270, 272 f. Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), § 84, S. 56.
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fahren im Rahmen der Audienzen. Eine schriftliche Übermittlung von Schriftsätzen, wie sie der Reichshofrat mit dem sogenannten Kommunikationsprozess praktizierte,⁵⁹ war am Reichskammergericht, abgesehen von Streitigkeiten zwischen Kameralpersonen, nicht üblich.⁶⁰ Diese Schwierigkeiten wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Literatur diskutiert;⁶¹ sie waren auch Gegenstand der letzten Visitation des Reichskammergerichts.⁶² Diese traf über die Ordinationen und das bei ihrem Erlass zu beobachtende Verfahren aber keine Entscheidung.⁶³ Letztlich blieben die genannten Probleme bis zum Ende des Alten Reiches ungelöst, nicht zuletzt deshalb, weil das Reichskammergericht grundlegende Änderungen des Verfahrens und der Zweiteilung in Extrajudizial- und Judizialverfahren ablehnte.⁶⁴
4 Verlust von Akten Ein auf der Grundlage gerichtlicher Akten geführtes schriftliches Verfahren setzt voraus, dass die Akten zumindest bis zum Abschluss des Verfahrens vorhanden sind und als Grundlage für die Entscheidung des Gerichts dienen können. Damit sich die Parteien vor einer Entscheidung im förmlichen Verfahren von der Vollständigkeit der Akten überzeugen konnten, gab es am Oberappellationsgericht Celle ebenso wie am Reichshofrat die schon erwähnten Termine zur Inrotulation. In der Praxis konnte es jedoch aus unterschiedlichsten Gründen vorkommen, dass Akten ganz oder teilweise, vorübergehend oder dauerhaft verlorengingen. Mit Maßnahmen, die dieser Gefahr entgegenwirken sollten, beschäftigte sich im Jahr 1768 die Visitation Oestmann, Streit um Anwaltskosten, Teil 2 (wie Anm. 49), S. 231–233; Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae (wie Anm. 6), S. 191–194. Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), § 84 mit Anm. a), S. 56. Ebd., §§ 79–97, S. 53–63; Helwig Bernhard Jaup, Summa capita commentationis iuris publici germanici de privilegiorum de non adpellando S. R. I. statibus concessorum effectu quoad querelas nullitatis querelas denegatae seu protractae iustitiae, mandata de administranda iustitia, et alia remedia. Gießen 1777, § 20, S. 21–23. Stellungnahmen des Kameralkollegiums: Beilage zu den Visitationsprotokollen Nr. 460 ad Sess. 211, praes. 17. September 1768, ÖStA HHStA, MEA RKG Nr. 291; Bericht des Kanzleiverwalters: Beilage zu den Visitationsprotokollen Nr. 545 ad Sess. 256, praes. 16. Januar 1769, ÖStA HHStA, MEA RKG Nr. 292; Gutachten der Advokaten und Prokuratoren: Beilage zu den Visitationsprotokollen Nr. 911 ad Sess. 396, praes. 13. Februar 1769, ÖStA HHStA, MEA RKG Nr. 303. Dürr/Cramer von Clauspruch, Dissertatio inauguralis de ordinationibus (wie Anm. 14), § 23, S. 14 f.; Jaup, Summa capita (wie Anm. 61), § 20, S. 24. Vgl. die Anmerkung zum Gemeinen Bescheid vom 18. März 1785 bei Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide, Teil 1 (wie Anm. 23), S. 769.
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des Reichskammergerichts. So sollten Akten, damit nicht einzelne Aktenstücke verlorengingen, geheftet werden, und die Assessoren sollten Akten nur unter bestimmten Voraussetzungen und gegen einen Leihschein der Leserei zur Bearbeitung nach Hause nehmen dürfen.⁶⁵ Wie real die Gefahr des Verschwindens von Akten in den Privathäusern der Gerichtsangehörigen war, zeigen zwei Rechtsverweigerungsbeschwerden, mit denen das Oberappellationsgericht Celle in den Jahren 1791/1792 befasst war: Das Konsistorium Ratzeburg konnte die bei ihm anhängigen Verfahren nicht fördern, weil die Akten im Zusammenhang mit dem Tod des für die Aktenführung zuständigen Sekretärs verschwunden waren, und sah sich deshalb dem Vorwurf der Rechtsverweigerung ausgesetzt. Die Akten wurden schließlich wieder aufgefunden, und das Konsistorium konnte das Verfahren fortsetzen.⁶⁶ Doch hatte das Gericht das Verfahren auch dann fortzusetzen und eine Entscheidung zu treffen, wenn ihm keine Akten zur Verfügung standen. Dies zeigen Fälle aus der Frühzeit des Reichskammergerichts, der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in denen das Gericht der Vorinstanz noch kein schriftliches Verfahren kannte und es deshalb keine Akten gab; in solchen Fällen behalf sich das Reichskammergericht, indem es Urteilsbriefe als schriftliche Quelle heranzog.⁶⁷ Hatte es Akten gegeben, die aber dauerhaft verlorengegangen waren, musste versucht werden, sie unter Einbeziehung der Parteien und ihrer Anwälte aus Protokollen, Entwürfen und Abschriften zu rekonstruieren. Für das Reichskammergericht finden sich hierzu Regelungen in einem Gemeinen Bescheid aus dem Jahr 1693.⁶⁸ Einen Fall aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, in dem das Reichskammergericht mit dem Problem verlorengegangener Vorakten konfrontiert war, schildert der Reichskammergerichtsassessor Johann Ulrich von Cramer⁶⁹ in seinen Wetzlarischen Nebenstunden⁷⁰ aus dem Jahr 1765.⁷¹ Ein Apotheker aus Paderborn hatte in einem Rechtsstreit gegen einen Gesellen, dem er die Unterschlagung von Medikamenten vorwarf, im Jahr 1747 gegen ein Beweisinterlokut des Syndikats-Gerichts
Alexander Denzler, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Köln/Weimar/Wien 2016 (Norm und Struktur, Bd. 45), S. 414 f. LSH, Abt. 216 (Lauenburgische Gerichte), Nr. 565, 832. Siehe hierzu Stefan Andreas Stodolkowitz, Rechtsverweigerung und Territorialjustiz. Verfahren wegen iustitia denegata vel protracta am Oberappellationsgericht Celle, in: ZRG GA 131 (2014), S. 128–181 (hier S. 165–167). Prange, Schleswig-Holstein und das Reichskammergericht (wie Anm. 17), S. 22–41. § 3 des Gemeinen Bescheides vom 25. Mai 1693, abgedruckt bei Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide, Teil 1 (wie Anm. 23), S. 592 f. Umfangreiche biographische Angaben bei Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter, Teil II (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 655–673. Zu diesem periodisch erschienenen Werk siehe ebd., S. 670 f. Johann Ulrich von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden, Teil 49. Ulm 1765, S. 136–147.
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zunächst die Appellation an die fürstliche Regierung⁷² und sodann, als diese erfolglos blieb, den nach dem territorialen Prozessrecht statthaften Rechtsbehelf der Revision⁷³ eingelegt. Das Verfahren ruhte in der Folge über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren, bis der Geselle 1763 beantragte, die Revision für desert zu erklären, sie also wegen eines Mangels der Fristen und Formalien zu verwerfen,⁷⁴ und die Sache zur Fortsetzung des Verfahrens an die erste Instanz zurückzuverweisen. Die gerichtliche Prüfung, ob die vorgeschriebenen Fristen und Formalien eingehalten waren, erwies sich jedoch als schwierig, weil die Akten nicht mehr auffindbar waren. Ein Versuch, diese aus dem bei den Parteien befindlichen Schriftgut zu rekonstruieren, schlug fehl, weil beyde Partheyen auch von keinen completen Manual-Acten etwas wissen wollen. ⁷⁵ Die Regierung legte deshalb, soweit dies möglich war, auf der Grundlage der gerichtlichen Protokoll- und Urteilsbücher neue Akten an. Doch war eine vollständige Wiederherstellung der Akten auf diese Weise natürlich nicht möglich, weil die Schriftsätze der Parteien fehlten. Die Regierung meinte gleichwohl feststellen zu können, dass die Formalien der Revision nicht eingehalten gewesen seien, erklärte dieselbe für desert und ordnete die Vollstreckung der dem Apotheker auferlegten Kosten an. Hiergegen ging der Apotheker auf eine Weise vor, die kennzeichnend ist für die Verschränkung verschiedener Instanzen und das Fehlen eines in sich geschlossenen einheitlichen Instanzenzuges im Alten Reich.⁷⁶ Er legte zuerst Appellation ein, also ein Rechtsmittel, das zu einer Entscheidung eines übergeordneten Gerichts geführt hätte. Zugleich versuchte er gegenüber der Regierung durch weitere Schriftsätze zu belegen, dass er die Formalien der Revision eingehalten habe, und sie so zu einer Abänderung ihrer Entscheidung und zur Fortsetzung des Revisionsverfahrens zu bewegen. Darüber hinaus wandte er sich an den Paderborner Fürstbischof. Dieser wies die Regierung durch ein Reskript an, von der Fortsetzung des Revisionsver-
Zum Instanzenzug im Fürstbistum Paderborn vgl. Thorsten Süss, Partikularer Zivilprozess und territoriale Gerichtsverfassung. Das weltliche Hofgericht in Paderborn und seine Ordnungen 1587– 1720. Köln/Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 69), S. 260–265. Zur Revision im Prozessrecht der Frühen Neuzeit siehe Dominik Kirschvink, Die Revision als Rechtsmittel im Alten Reich. Berlin 2019 (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 184). Vgl. zum Reichskammergericht Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses (wie Anm. 6), S. 207; Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 6), S. 158; zum Oberappellationsgericht Celle Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 25), S. 163. Von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden 49 (wie Anm. 71), S. 139. Siehe hierzu und allgemein zur Gerichtsvielfalt in der Frühen Neuzeit Anja Amend-Traut/Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Stefan A. Stodolkowitz, Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften. Annäherungen und Perspektiven, in: dies. (Hrsg.), Unter der Linde (wie Anm. 46), S. 9–37; Peter Oestmann, Zur Typologie frühneuzeitlicher Gerichte – einige norddeutsche Schlaglichter, in: ebd., S. 57–76.
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fahrens abzusehen und die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen, die zunächst den Versuch einer gütlichen Einigung unternehmen sollte. Gegen dieses Reskript des Fürstbischofs legte der Apotheker die Appellation an das Reichskammergericht ein, mit der er die Aufhebung des Reskripts und die Fortsetzung des Revisionsverfahrens anstrebte. Das Reichskammergericht forderte zunächst die Regierung zum Bericht auf. Diese räumte ein, dass der Apotheker durch neu aufgefundene Schriftstücke die fatalia Revisionis ziemlich salviret habe,⁷⁷ und deutete damit an, dass sie daraufhin das Revisionsverfahren fortgesetzt hätte, wenn nicht der Fürstbischof durch sein Reskript die Zurückverweisung an die erste Instanz angeordnet hätte. Das Reichskammergericht hatte nun im Extrajudizialverfahren zu entscheiden, ob es förmliche Appellationsprozesse erkennen solle. Inhaltlich war die Sache nach der Schilderung von Cramers eindeutig: Ohne die verlorenen Akten hätte die Regierung die Revision nicht allein auf der Grundlage der gerichtlichen Protokolle für desert erklären dürfen. Allein durch Erlass und Zustellung der Appellationsprozesse, deren Reproduktion im Judizialverfahren und die zur Vorbereitung eines Urteils erforderliche Ausarbeitung einer schriftlichen Relation wäre jedoch eine Verzögerung eingetreten, die im Hinblick auf die eindeutige Verfahrenslage, bei der es einer weiteren Durchdringung des Falles nicht bedurfte, kaum zu rechtfertigen war. Von Cramer ging davon aus, dass bei Erlass der Appellationsprozesse die erforderliche Zurückverweisung an die Regierung erst nach vielen Jahren möglich gewesen wäre;⁷⁸ eine zügigere Entscheidung hielt er im förmlichen Appellationsprozess demnach für ausgeschlossen. Der Gedanke der Verfahrensbeschleunigung sprach somit gegen den Erlass der Prozesse. Zudem hätte das Reichskammergericht für eine Durchführung des förmlichen Appellationsverfahrens die Akten der Vorinstanz benötigt. Denn die Überprüfung eines Urteils im Rahmen der Appellation war nur auf der Grundlage schriftlicher Akten möglich.⁷⁹ Diese waren jedoch verlorengegangen. Sollten sie nicht wieder aufgefunden werden, mussten sie, soweit dies noch möglich war, rekonstruiert werden.⁸⁰ Dies aber war bei einer Fortsetzung des Verfahrens durch die Regierung selbst, um deren Akten es ging, wohl noch eher erfolgversprechend als im Rahmen des Appellationsprozesses am räumlich weit entfernten Reichskammergericht.
Von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden 49 (wie Anm. 71), S. 141. Ebd., S. 142. Vgl. die bei Prange, Schleswig-Holstein und das Reichskammergericht (wie Anm. 17), S. 22–41, geschilderten Fälle aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Regelungen zur Rekonstruktion von Akten des Reichskammergerichts enthält § 3 des Gemeinen Bescheides vom 25. Mai 1693, abgedruckt bei Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide, Teil 1 (wie Anm. 23), S. 592 f.
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Daher erschien es nach der Darstellung von Cramers vorzugswürdig, ohne Erlass der Appellationsprozesse die Regierung durch eine Ordination zur Fortsetzung des Revisionsverfahrens aufzufordern. Das Reichskammergericht erließ folgende Entscheidung: […] abgeschlagen, sondern versiehet man sich zu Richtern voriger Instanz, dass derselbe zur Herbeyschaffung deren in denen zwey Instanzen abgehandelten Acten alle ersinnliche Mühe anwenden, hiewegen Registratores und andere Canzley-Personen ihrer Eid und Pflichten erinneren, und falls sothane Acta weiters nicht vorzufinden, selbe aus der Partheien so wohl, als ihrer Procuratorn Manual-Actis praevia citatione jurato redintegriren zu lassen, den Appellanten praevia restitutione in integrum, in so weit es allenfalls erforderlich, dieser Sache besonderer Bewandnüß nach ad Beneficium revisionis zuzulassen, und hiernächst nach der Sache befunde in Revisorio zu sprechen von selbsten bedacht seyn werde, widrigen falls dem Appellanten der weitere Recurs an dieses Kayserliche Cammer Gericht ohnbenommen, sondern vorbehalten verbleibet. ⁸¹
Dieser Fall wirft mit dem Verlust und der erforderlichen Rekonstruktion der Akten ein Schlaglicht auf die Bedeutung von Schriftlichkeit im Gerichtswesen der Frühen Neuzeit: Für die Durchführung des Appellationsverfahrens war das Rechtsmittelgericht auf die Akten der Vorinstanz angewiesen.⁸² Zudem zeigen die Ausführungen von Cramers, dass eine zügige Entscheidung einfacher Rechtsfälle in der Wetzlarer Praxis nur durch den Erlass von Ordinationen im Extrajudizialverfahren möglich und die erforderliche Beschleunigung im Rahmen des förmlichen Appellationsverfahrens nicht zu erreichen war. Selbst in diesem einfach gelagerten Fall einer offensichtlich begründeten Appellation hätte eine Entscheidung im regulären Gang des Appellationsverfahrens erst nach vielen Jahren ergehen können.⁸³ Diese Einschätzung von Cramers wird realistisch sein, war er doch als Assessor bestens mit den Abläufen am Reichskammergericht vertraut. Sie erklärt, weshalb ein so großes praktisches Bedürfnis an der Entscheidung einfacher Fälle durch Ordinationen unter Vermeidung förmlicher Appellationsprozesse und ohne Übergang ins Judizialverfahren bestand.
Von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden 49 (wie Anm. 71), S. 146 f. Vgl. Peter Oestmann, Ludolf Hugo und die gemeinrechtliche Appellation, in: Ludolf Hugo, Vom Mißbrauch der Appellation, hrsg. von Peter Oestmann. Wien/Köln/Weimar 2012 (QFHG, Bd. 62), S. 1– 43 (hier S. 9 f.). Von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden 49 (wie Anm. 71), S. 141.
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5 Schluss Die Beteiligten eines aktenbasierten Gerichtsverfahrens sind, insofern gilt für die Frühe Neuzeit nichts anderes als für die Gerichtspraxis der Gegenwart, darauf angewiesen, dass Akten existent sind und auch nach langer Zeit nicht ganz oder teilweise verlorengehen. Die Akten waren ein wesentliches materielles Korrelat,⁸⁴ auf dem die kommunikativen Handlungsabläufe, die das gerichtliche Verfahren bildeten,⁸⁵ beruhten. Welche Probleme entstehen konnten, wenn es in einem schriftlichen Verfahren keine Akten gab, zeigt das Extrajudizialverfahren des Reichskammergerichts. Diesen Verfahrensabschnitt zwar schriftlich und mit gerichtlichen Protokollen, aber ohne Akten zu führen, war nur praktikabel, solange er lediglich ein Stadium der Vorprüfung war, in dem noch keine Entscheidungen zum Nachteil der gegnerischen Partei ergingen, und die wesentlichen Verfahrensabläufe dem Judizialverfahren vorbehalten blieben. Flexible und schnelle abschließende Entscheidungen des Gerichts ohne Einleitung des Judizialverfahrens waren wegen dessen strenger Förmlichkeit und der oftmals langen Verfahrensdauer ein praktisches Bedürfnis; sie waren wegen der im Extrajudizialverfahren fehlenden Aktenführung für Gericht und Parteien aber mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, vor allem bei der Einbeziehung des Gegners. Dass das Reichskammergericht sich gleichwohl bemühte, einfach gelagerte Fälle schon in diesem Verfahrensstadium durch Ordinationen abschließend zu entscheiden, unterstreicht sein Bestreben nach Vereinfachung und Beschleunigung von Verfahren. Gelöst wurden die mit einem Extrajudizialverfahren ohne Akten verbundenen Schwierigkeiten aber bis zuletzt nicht. Zügige Entscheidungen ohne den Erlass förmlicher Prozesse waren einfacher möglich, wenn, wie am Oberappellationsgericht Celle und am Wismarer Tribunal, schon ab dem Eingang des ersten Schriftstücks in einem Verfahren lückenlose Akten geführt wurden. Eine ergiebige und bislang kaum ausgewertete Quelle für das nicht durch Akten überlieferte Extrajudizialverfahren des Reichskammergerichts sind die Extrajudizialsenatsprotokolle. Ihnen lassen sich zahlreiche Beispiele für die Praxis des Erlasses von Ordinationen entnehmen. Darauf konnte im Rahmen dieses Beitrags nur Vgl. Alexander Denzler, Versuch einer quantitativen Analyse der süddeutschen Gerichtsvielfalt, in: Amend-Traut/Bongartz/Denzler/Franke/Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde (wie Anm. 46), S. 183–208 (hier S. 202); Eric Piltz, „Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die spatial stories der Geschichtswissenschaft, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 75–102 (hier S. 95). Amend-Traut/Bongartz/Denzler/Franke/Stodolkowitz, Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften (wie Anm. 76), S. 23; Thomas Simon, Art. Gericht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 514–524 (hier Sp. 514).
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kurz eingegangen werden; Einzelheiten müssen einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. Unabhängig von den Ordinationen lässt eine nähere Auswertung der Protokollbände Erkenntnisse zum Geschäftsgang und zum Zustandekommen von Entscheidungen in den Senaten erwarten. Die Protokolle dürften damit Einblicke in die internen Strukturen der kollegialen Spruchkörper ermöglichen, die in den Akten keinen Niederschlag finden.
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Schreibfeder und Zeichenfeder. Überlegungen zur Rolle der Kartographie im Gerichtswesen am Beispiel der reichsunmittelbaren Herrschaft Fraunhofen 1 Einführung Geht man von einer eigenen Sprache der Kartographie aus, sind Karten Abbildungen einer Rhetorik, die auf Grundlage von Kodierung im Rahmen gesellschaftlichen Austausches entstanden sind. Dies geht nicht ohne den Einsatz von Schriftlichkeit, denn der Herstellungsprozess und vor allem der Schriftverkehr, der einer visuellen Beweisführung vorangeht, sind entscheidend für die Produktion damals sowie das Verständnis von Karten heute. Setzt man als Kartographiehistoriker die Schriftlichkeit und das Gerichtswesen der Vormoderne in Beziehung, kommt man nicht umhin über den Entstehungsprozess des gerichtlichen Augenscheins hinauszugehen. Die Ausfertigung einer Karte allein ist lediglich ein Teilaspekt eines umfangreichen Schriftwechsels, der Tätigkeit von Kommissionen in Begleitung von in der Regel vereidigten Malern und schließlich der Anerkennung des Augenscheins durch die entscheidungsfällenden Richter. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die Mündlichkeit, die bei der Produktion und Rezeption der Karte zum Tragen kommt, aber eben nur mittelbar über Schriftstücke sowie die Karten selbst zu greifen ist. So sind die Arbeitsschritte hin zur Entstehung einer kartographischen Abbildung geprägt von mündlichem Austausch wie beispielsweise Zeugenvernehmungen, Absprachen und Rücksprachen mit dem Maler. Aber erst die Verschriftlichung einzelner Vorgänge, die mit diesen Abläufen einher gehen, vervollkommnen den Rechtsakt und machen die zeichnerische Ausführung bis heute greifbar. Letztlich sind es also Schreibfeder und Zeichenfeder, die zur Sichtbarkeit sowohl im Sinne der Verortung als auch der Anschaulichkeit des umstrittenen und auf Karten visualisierten Raumes beitragen. Ohne den Schreiber würde der Zeichner nicht tätig werden, um Streitfälle zu verbildlichen, anders herum benötigt der Schreiber nur dann einen vereidigten Maler, wenn allein durch schriftliche Ausführungen den unklaren Gegebenheiten vor Ort nicht beizukommen ist. Den Auftraggebern, späteren Rezipienten und heute Forschenden steht mit jeder Karte somit ein Gemeinschaftswerk aus Schreibfeder und Zeichenfeder vor Augen. Die kartographiehistorische Perspektive auf einzelne Aspekte der Schriftlichkeit und Mündhttps://doi.org/10.1515/9783111077406-012
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lichkeit im Gerichtswesen¹ bietet einen Ausblick auf eine mögliche dritte Dimension – die Anschaulichkeit beziehungsweise Sichtbarkeit. Generell wird dabei versucht Bezüge zur allgemeinen kartographischen Praxis herzustellen und die Gedankengänge abschließend auf ein konkretes Fallbeispiel anzuwenden. Konzentriert man sich auf die Aspekte Kartographie und das Reichskammergericht, gibt es allein hierzu schon einige Publikationen² und mit dem räumlichen Fokus auf den Bayerischen Reichskreis sind die Untersuchungen bezüglich handgezeichneter Karten ähnlich umfangreich.³ Im Rahmen dieses Beitrages wird jedoch ein Territorium in den Blick genommen, dessen Reichsunmittelbarkeit spätestens seit 1548 von Seiten der Wittelsbacher angefochten wurde – wodurch die
Mit Bezug auf die in der Einleitung dieses Bandes abgedruckten „Zwölf Thesen zu Schriftlichkeit, Recht und Gerichtsbarkeit“. Anette Baumann, Augenscheinkarten am Reichskammergericht 1495–1806. Wetzlar 2019 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 47); dies. (Hrsg.), Augenscheine. Karten und Pläne vor Gericht. Katalog zur Ausstellung „Augenscheine – Karten und Pläne vor Gericht“ im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar, 22. November 2014 bis 15. Februar 2015. Wetzlar 2014; dies., Visuelle Evidenz. Beobachtungen zu Inaugenscheinnahmen und Augenscheinkarten am Reichskammergericht (1495–1806), in: Rechtsgeschichte – Legal History 27 (2019), S. 457–463; dies./ Sabine Schmolinsky/Evelien Timpener (Hrsg.), Raum und Recht. Visualisierung von Rechtsansprüchen in der Vormoderne. Berlin/Boston 2020 (bibliothek altes Reich, Bd. 29); Gabriele Recker, Prozeßkarten in den Reichskammergerichtsakten. Ein methodischer Beitrag zur Erschließung und Auswertung einer Quellengattung, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 37), S. 165–182. Eine Auswahl: Edgar Krausen, Die handgezeichneten Karten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv sowie in den Staatsarchiven Amberg und Neuburg a. d. Donau bis 1650. Neustadt a. d. Aisch 1973 (Bayerische Archivinventare, Bd. 37); Thomas Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns. Eine kartographiehistorische Studie zum Augenscheinplan unter besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Klimageschichte, 2 Bde. München 2009; Gerhard Leidel, Entstehung und Funktion bildlicher Darstellungen im Rahmen von Verwaltung und Rechtsprechung der Neuzeit, in: Altbayerische Flußlandschaften an Donau, Lech, Isar und Inn. Handgezeichnete Karten des 16. bis 18. Jahrhunderts aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Weißenhorn 1998 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns, Bd. 37), S. 276–289; ders., Die Anfänge der archivischen Kartographie im deutschsprachigen Raum: acht handgezeichnete Karten des 15. Jahrhunderts im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, in: Archivalische Zeitschrift 85 (2003), S. 85–137; ders., Von der gemalten Landschaft zum vermessenen Land. Eine Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zur Geschichte der handgezeichneten Karte in Bayern. München 2006 (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns, Bd. 48); Hans Vollet, Der „Augenschein“ in Prozessen des Reichskammergerichts – Beispiele aus Franken, in: Wolfgang Scharfe/Hans Harms (Hrsg.), 5. Kartographiehistorisches Kolloquium Oldenburg 1990. Vorträge und Berichte. Berlin 1991, S. 145–163; Hans Wolff, Cartographia Bavariae. Bayern im Bild der Karte. Weißenhorn 1988 (Ausstellungskataloge der Bayerischen Staatsbibliothek, Bd. 44).
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Reichsgrafschaft beziehungsweise Herrschaft Fraunhofen⁴ unweit von Landshut unterschiedliche politische Wahrnehmung fand. Über Jahrhunderte war im Bayerischen Reichskreis die dominierende Macht das Herzogtum Bayern mit dem Amt des Kreisobristen und der Münzaufsicht. Viele Territorien, meist Enklaven, unterstanden dem Druck von außen durch das Herzogund spätere Kurfürstentum Bayern. Bereits die bayerischen Herzöge verstanden es gut, sich im Falle des Aussterbens reichsunmittelbarer Adelsgeschlechter den Heimfall von deren Lehen oder zumindest die Anwartschaft zu sichern.⁵ Dies bedeutete, dass der Kurfürst von Bayern zum Ende des Reiches neun der zwölf weltlichen Kreisstimmen führte, insgesamt also neun von zwanzig Konventsstimmen. Ist von der Stimmenverteilung im Reichskreis die Rede, werden diejenigen Territorien nicht berücksichtigt, welche von Seiten der Bayerischen Herzöge und Kurfürsten nicht anerkannt waren – so auch die Herrschaft Fraunhofen, von der später die Rede sein wird. Vielmehr schlägt sich die wittelsbachisch zentrierte Sichtweise häufig auch in der Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung sowie der Literatur nieder.⁶
Zu Fraunhofen vgl. Helmut Demattio, Die Herren von Fraunhofen. Adelige Herrschaft zwischen Anspruch, Legitimation und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 75 (2012), S. 715–760; ders., Emanzipationsstreben adeliger Familien in Altbayern. Das Ringen der Herren von Fraunhofen zu Alt- und Neufraunhofen um Reichsunmittelbarkeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 70 (2007), S. 109–176; Sophie Kratzer, Das Streben der Fraunhofen nach Reichsunmittelbarkeit. Der Reichskammergerichtsprozess 1549–1701/1809, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 141 (2015), S. 65–143; Gabriele Greindl, Fraunberg, Teil B, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich, Bd. 4: Grafen und Herren, Teilbd. 1. Ostfildern 2012, S. 432 f.; Georg Schwarz, Vilsbiburg. Die Entstehung und Entwicklung der Herrschaftsformen im niederbayerischen Raum zwischen Isar und Rott. München 1976 (Historischer Atlas von Bayern. Teil Altbayern, Heft 37), besonders der fünfte Teil: Reichsherrschaften Altund Neufraunhofen, S. 473–500, und Christian Wieland, Nach der Fehde. Studien zur Interaktion von Adel und Rechtssystem am Beginn der Neuzeit: Bayern 1500–1600. Epfendorf a. Neckar 2014 (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 20), S. 461–475. Den Wittelsbachern gelang es sich über Jahrhunderte hinweg zur Arrondierung des Herrschaftsgebietes die Anwartschaft auf Lehen und Territorien zu sichern, so 1242 auf das Gebiet der Bogener, 1248 auf die Altbayerischen Besitzungen der Andechser, 1567 auf die Grafschaft Haag, 1602 auf das Gebiet der Degenberger sowie 1734 auf Hohenwaldeck.Vgl. bezüglich der Anwartschaft auch Katrin Nina Marth, Die dynastische Politik des Hauses Bayern an der Wende vom Spätmittelalter zur Neuzeit „Dem löblichen Hawss Beirn zu pesserung, aufnemung vnd erweiterung…“. München 2009 (Forum deutsche Geschichte, Bd. 25). Vgl. Peter Claus Hartmann, Der Bayerische Reichskreis (1500 bis 1803): Strukturen, Geschichte und Bedeutung im Rahmen der Kreisverfassung und der allgemeinen institutionellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches. Berlin 1997 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 52), insbes. S. 102– 106.
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Eine kartographische Quelle, deren Entstehung im Rahmen der Reichskammergerichtsprozesse gesehen werden kann, zeigt hingegen eindeutig die Selbstwahrnehmung der Fraunhofen. Augenfällig ist dabei die gezielte Verwendung von Rechtssymbolik um den umstrittenen Charakter des Territoriums als reichsunmittelbar herauszustellen. Vor allem der Galgen als Symbol für die Anwendung der hohen Gerichtsbarkeit wird auf dem Augenschein von 1584 in diesem Beitrag Betrachtung finden.
2 Schriftlichkeit – Mündlichkeit – Kartographie 2.1 Schriftlichkeit im Rechtswesen Seit Ende des 16. Jahrhunderts lässt sich eine Zunahme der Schriftlichkeit beobachten, die sich nicht nur in Rechtsgeschäften, sondern auch in Gestalt normativer Rechtsquellen, gerichtlicher Akten und generell in Schriftzeugnissen niederschlägt.⁷ Diese zunehmende Formbedürftigkeit von Rechtsgeschäften spiegelt sich in einer Zunahme von gerichtlichen Auseinandersetzungen und einem damit einhergehenden Zuwachs an Korrespondenz, somit Aktenbeständen, aber auch der Anzahl der Advokaten wider.⁸ Eine Tendenz zur Verschriftlichung kann möglicherweise im Zusammenhang mit der Verrechtlichung sozialer Konflikte am Beginn der Frühen Neuzeit gesehen werden.⁹ Mit einher geht die Herausbildung von Territorialherrschaft und damit die schriftliche und kartographische Fixierung von Landesgrenzen. Streitigkeiten rund
Vgl. Christian Wieland, Adel zwischen territorialstaatlicher Integration und dem Drang nach Speyer. Bayern und die Reichsgerichtsbarkeit im 16. Jahrhundert, in: Anja Amend/Anette Baumann/ Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung. Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG, Bd. 52), S. 41–57 (hier S. 56). Vgl. Reinhard Heydenreuter, Recht, Verfassung und Verwaltung in Bayern 1505–1946. München 1981 (Ausstellungskataloge der staatlichen Archive Bayerns, Bd. 13), S. 44, sowie Heinz Mohnhaupt, „Wer Hoheitsrechte hat, visitiert“, Rezension zu Anette Baumann, Visitationen am Reichskammergericht, in: Rechtsgeschichte – Legal History 27 (2019), S. 351–353 (hier S. 351). Vgl. hierzu Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800. München 1988 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 1), S. 78–92; Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit. Bad Cannstatt 1980 (Neuzeit im Aufbau, Darstellung und Dokumentation, Bd. 6), S. 76–85; Werner Trossbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806. Weingarten 1987, S. 155–164, 174–179; siehe auch Siegrid Westphal/Stefan Ehrenpreis, Einleitung. Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung, in: Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle (wie Anm. 2), S. 1–13 (hier S. 7 f.).
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um Gerichtsbarkeit, Grenzen, Zölle, Wegerechte und Nutzungsrechte von Wald, Wiese und Gewässern¹⁰ finden sich dabei ebenso in Akten wie in Karten wieder. Bereits ab ca. 1500 steigt das Bedürfnis für Veranschaulichung von gesellschaftlichen Kräften auch durch nichtsprachliche Informationen wie Augenzeugen und Abbildungen.¹¹ Dieses Zusammenspiel von sprachlicher, mündlicher und anschaulicher Erschließung des Streitfalles äußert sich in einer Kombination aus Datenübersicht und Karte¹² häufig auf Grundlage gedruckter Landesgesetzgebung.¹³ In diesem Zusammenhang ist auch die Bildung von Kommissionen zu nennen, die gezielt eingesetzt werden konnten, um zum Beispiel Streitfälle unterschiedlichster Prägung zu untersuchen, Einigungen zu erzielen oder Zeugenaussagen einzuholen, und somit die schriftlichen mit mündlichen Kommunikationsprozessen verbanden. Insbesondere für den Beweis durch Augenschein, in dessen Rahmen es zur Erstellung von Augenscheinkarten kommen konnte, wurde regelmäßig eine Beweiskommission eingesetzt, zu deren Untersuchung die Parteien beziehungsweise ihre Vertreter geladen wurden. Die Kommission vernahm im Zuge der Augenscheineinnahme auch Zeugen und fasste das Ergebnis ihrer Untersuchungen in einem Protokoll zusammen, das sodann dem Gericht übermittelt wurde.¹⁴ Bezüglich der Kommissionsarbeit am Reichskammergericht ist Rutger Rulants „De Comissariis et commissionibus camerae imperialis“¹⁵ von 1597 maßgeblich und ein Standardwerk, welches auch mehrfach nachgedruckt wurde. Er betont: „Evidentia enim est ita notaria ut oculis cerni possit, quod nos ‚augenscheinlich‘ vocamus“¹⁶ und hebt damit neben der Schriftlichkeit und Mündlichkeit die Sichtbarkeit von Beweismitteln hervor. Baumann deutet an, „dass man seit Alters her der Meinung war, dass das, was die Inaugenscheinnahme ergab, eine Tatsache sei“,¹⁷ wodurch die theoretischen Ausführungen Rulants auf praktischer Anwendung beruhten.
Vgl. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 69. Vgl. Leidel, Entstehung und Funktion bildlicher Darstellungen (wie Anm. 3), S. 282 f. Vgl. ebd., S. 279 f. Vgl. Stahleder, „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“. Recht und Rechtspflege in Bayern im Wandel der Geschichte. München 1990 (Ausstellungskataloge der staatlichen Archive Bayerns, Bd. 28), S. 47. Baumann, Augenscheinkarten am Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 10 f. Rutger Rulant, De Comissariis et commissionibus camerae imperialis […]. Frankfurt a. M. 1597. „Der Beweis ist nämlich so offenkundig wie er mit den Augen wahrgenommen werden kann, was wir ‚augenscheinlich‘ nennen“; Rulant, De Comissariis (wie Anm. 15), Pars II, Liber III, caput I. Baumann, Augenscheinkarten am Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 34.
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2.2 Schriftliche und mündliche Verfahrensweisen im Rahmen der Kartenerstellung Der Weg zum fertigen Produkt ‚Karte‘ ist selten geradlinig, aber es lassen sich Gemeinsamkeiten im Entstehungsprozess herausfiltern, die sich in schriftliche und mündliche Abschnitte gliedern lassen. Betrachtet man Altkarten, dann fallen sie in keine der beiden Kategorien: ihre Anfertigung unterliegt zwar gewissen Vorgaben, aber die Mischung aus schriftlichen und mündlichen Aspekten macht jede Karte zu einem einzigartigen visuellen Dokument. Das liegt allein schon an der Herstellungsweise gezeichneter Karten, welche durch die subjektiven Fertigkeiten des Malers jede Karte als Unikat erscheinen lässt. Die Uneinheitlichkeit in Perspektive und Format und die unterschiedlichen Anlässe, die einer Kartenerstellung zu Grunde liegen, können ein breites Spektrum abbilden. Erste vereinheitlichende Symbole, die allgemeingültige Ordnungsstrukturen versinnbildlichen, waren zwar vorhanden, fanden aber je nach Zeichnerhand unterschiedliche Darstellungsformen. Die äußere Form der Altkarten unterscheidet sich also in Format, Material und Farbgebung sowie der gewählten Perspektive von Fall zu Fall erheblich. Maßgeblich ist, „daß das abstrakte Medium Sprache eine Ergänzung gefunden hat im anschaulichen Medium Bild“ und daraus in der Karte eine „dokumentarische Einheit der Medien Text und Bild“¹⁸ entsteht. Die mündlichen Aspekte der Inaugenscheinnahme, wie Zeugenschaft und Absprachen innerhalb der Kommission, fanden Eingang in die nachfolgende Verschriftlichung. Entscheidend ist jedoch, dass vor dem Reichskammergericht in der Regel keine Zeugen mündlich gehört wurden und ausführliche Beschreibungen von Ablauf, Dauer, Route, Verzögerungen und Umweltbedingungen vor Ort in Schriftform eine bedeutende Rolle einnahmen. Diese nicht unmittelbare, sondern mittelbar durch die Beweiskommission im sogenannten Rotulus zusammengefassten Ergebnisse aus zum Beispiel Zeugenbefragungen fanden somit ausschließlich schriftlich ihren Eingang in das gerichtliche Verfahren. Sie können sich jedoch in Einzelfällen durch Einzeichnung des Routenverlaufs zusätzlich auf der Karte wiederfinden. Das Konvolut aus Schriftstücken und kartographischen Darstellungen dient als Nachweis für geleistete Tätigkeiten einerseits sowie als Anhaltspunkt für nachfolgende Aktivitäten andererseits.¹⁹ Es schafft somit eine Tatsachengrundlage für den weiteren Gang des gerichtlichen Verfahrens. Wenn Karten im Rahmen von Streitfällen angefertigt wurden, dann in der Regel im Beisein von Kommissionsteilnehmern von beiden Prozessparteien, um
Beide Zitate Leidel, Entstehung und Funktion bildlicher Darstellungen (wie Anm. 3), S. 277. Vgl. ebd.
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entsprechend Einfluss auf den Entstehungsprozess zu nehmen; manchmal führte dies auch zu zweifacher Ausfertigung.²⁰ Die jeweilige Art der Kommunikation der beteiligten Akteure in diesem formalisierten Verfahren ist ausschlaggebend. Die Prozessparteien oder das Gericht beauftragen in der Regel schriftlich die Bildung einer Kommission, welche sich den Gegebenheiten vor Ort widmet.²¹ Die Inaugenscheinnahme selbst kann mit vielfältigen Akteuren aufwarten und spiegelt häufig auch ein hierarchisches Gefälle wider. Hier spielt die direkte Kommunikation mit den Anwohnern und Ortskundigen, den Vertretern der Streitparteien und innerhalb der Kommissionsteilnehmer eine Rolle. Selbst wenn häufig Protokolle und Diarien die Tätigkeit der Augenscheinnahme vor Ort beschreiben und die Zeugenaussagen meist in einem Rotulus Zusammenfassung finden, ist es doch das Zusammenspiel von rechtlichen Vorgaben und Erfahrungswissen aller Beteiligten, welches zu einem rechtlich bindenden Ergebnis führen soll. Das Bindeglied zwischen Forderungen und Ansprüchen der Beteiligten, den Schilderungen von Streitfällen sowie landschaftlichen Gegebenheiten und Auffälligkeiten ist dabei der vereidigte Maler. Seine zeichnerische Darstellung des Streitfalles, der Geländestrukturen und geeigneter Symbole beispielsweise für Richtstätten ist es, die in der Regel durch alle Streitparteien Anerkennung finden muss, um als visuelles Beweisstück dienen zu können. Die Karte selbst ist stets als dokumentarische Gesamteinheit zu verstehen, völlig unabhängig von der zunehmenden Professionalisierung und dem damit einher gehenden Perspektivwechsel der ausführenden Maler vom Augenschein zum vermessenen Plan.²² Die Augentätigkeit wird also zunehmend durch Meßtätigkeit abgelöst, um zu einer exakteren Anschauung der räumlichen Gegebenheiten zu gelangen.²³ Der Beglaubigungsakt und die formell korrekte Zustellung der Karte
Vgl. Baumann (Hrsg.), Augenscheine (wie Anm. 2), S. 7. Zweifache Ausfertigungen konnten dazu dienen, je beiden Parteien als augenscheinlicher Beweis zu dienen. Manchmal ist in den Akten von Doppelausfertigungen die Rede, aber nurmehr ein Exemplar der Karten ist erhalten. Als Beispiel seien zwei Pläne aus dem Jahr 1528 angeführt (BayHStA 9430 a und 9430 b, „Der Herrschaft Burgrain Grenzen und Marken gegen das Landgericht Erding MDXXVIII“), die beide überliefert sind. Obwohl sie im gleichen Zusammenhang und durch einen Zeichner erstellt worden sind, weichen die Darstellungen leicht voneinander ab. Fehlstellen können durch die zweite Karte nachvollzogen werden. Vgl. auch Dorothea Hutterer, Eine Grenze in Bildern. Karten zur ehemaligen Herrschaft Burgrain, in: Der Mohr zwischen Schimmel und Rauten. 1200 Jahre Burgrain, hrsg. vom Arbeitskreis für Heimatpflege und Kultur des Marktes Isen. Isen 2011, S. 179–186, sowie Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 469. Vgl. Recker, Prozeßkarten in den Reichskammergerichtsakten (wie Anm. 2), S. 167. Vgl. Leidel, Entstehung und Funktion bildlicher Darstellungen (wie Anm. 3), S. 279. Vgl. ebd., S. 283.
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als Teil der Akten an das zuständige Gericht vervollständigen die abwechselnd schriftlich-mündliche Verfahrensweise. Den so entstandenen Text-Bild-Komplex gilt es als Ganzes wahrzunehmen, selbst wenn die Überlieferung durch das Pertinenzprinzip in manchen Archiven die direkte Verbindung von der Altkarte zu den zugehörigen Akten aufgehoben hat.²⁴
2.3 Vereidigte Kartographen Die Rechtspraxis auf Reichsebene führte im Rahmen der visuellen Beweisführung schon früh zur Vereidigung der jeweiligen ausführenden Zeichner und Maler. Die Arbeitsweise und die Verpflichtungen, denen Maler unterlagen, schildert bereits 1597 Rutger Ruland. Gerne wird vor allem die Stelle zitiert, in welcher der Maler die Richter durch die Abbildung der Streitsache ähnlich wie bei der „Nautik gemäß einer Karte dem Schiff den Kurs dirigiert“²⁵. Das Konzept einer neuen Reichskammergerichtsordnung von 1613 enthält folgende Formulierung des Malereides:²⁶ „Daß ihr in dieser Sachen, darumb ihr erfordert, so viel ihr aus Erfahrung euer Kunst erlernet, und mit eueren Leiblichen Sinnen erkünden möget, niemand zu Lieb noch zu Leid, weder umb Neid, Haß, Mied, Gunst oder Gaab, sondern allein der Gerechtigkeit zu Förderung, gegenwärtige Contrafactur, wie ihr sie erfindet, oder diejenige Orth, so in berührter Sachen streitig und specificirt, wie dieselbe eigentlich beschaffen, euch vorgetragen und befunden werden, abmahlen wollet, ohn alle Gefährde.“ ²⁷
Vgl. Hans-Jürgen Becker, Zur Bedeutung der Landkarte für die rechtsgeschichtliche Forschung, in: Landkarten als Geschichtsquellen. Archivberatungsstelle Rheinland, Archivhefte 16. Köln 1985, S. 9–19 (hier S. 10). Rulant, De Comissariis (wie Anm. 15), Pars I, Liber III, Caput XXI. Gemeint ist das nie förmlich Gesetz gewordene, aber bis 1806 angewandte Konzept einer neuen Kammergerichtsordnung von 1613. Siehe hierzu etwa Bernd Schildt, Die Entwicklung der Zuständigkeit des Reichskammergerichts. Wetzlar 2006 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 32), S. 26 f. Teil I, § 97 des Konzepts einer neuen Kammergerichtsordnung von 1613, abgedruckt bei Georg Melchior von Ludolf, Corpus Juris Cameralis. Frankfurt a. M. 1724, S. 665; Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 32, zitiert den Malereid von 1613 im ähnlichen Wortlaut: „Der Maler Eyd Daß ihr in dieser Sache, darum ihr erfordert, so viel ihr aus Erfahrung euerer Kunst erlernet, und mit eueren leiblichen Sinnen erkünden möget, […] allein der Gerechtigkeit zu Förderung, gegenwärtige Contrafactur, wie ihr sie erfindet, oder diejenigen Orth, so in berührter Sachen streitig und specificiert, wie dieselbe eigentlich beschaffen, euch vorgetragen und befunden werden, abmahlen wollet“.
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Der Maler geht damit die Verpflichtung zur wahrheitsgetreuen und genauen Abbildung des Sachverhaltes ein. 1654 werden im Jüngsten Reichsabschied die Funktion von Karten noch spezifiziert und beispielhaft die Streitfälle Grenzen, Weiderechte und strittige Jagd genannt, bei denen, wenn den Augenschein einzunehmen vonnöthen, […] zu des Richters besser Information eine jede Parthey einen richtigen Abriß zu produciren schuldig seyn sollte.²⁸ Durch die Vereidigung wurde sichergestellt, dass die Umwelt eine möglichst realitätsnahe Abbildung und das fertige Produkt Eingang in die Akten fand.²⁹ Aus den Quellen ergibt sich also, dass der Maler unter Eid versichert unparteiisch zu sein sowie eng mit den anwesenden Kommissaren, Parteien und Zeugen zusammenzuarbeiten. Der Eid wurde jeweils an die örtlichen Gegebenheiten angepasst und lässt sich teils regelrecht als Gebrauchsanweisung lesen.³⁰ Somit sind es die intellektuellen, sensorischen und haptischen Fähigkeiten des Malers, also Sprache, Auge und Hand, die überhaupt erst die Erstellung von jeweils einzigartigen künstlerischen Kartenwerken ermöglichen.³¹ Es gibt einige Überlegungen zur tatsächlichen Rezeption der Karten und deren Wirkmächtigkeit im Rahmen gerichtlicher Prozesse.³² Man ist sich jedoch hinsichtlich der häufig schriftlich vermerkten Eide der Zeichner und des Heranziehens der Karte als Beweismittel darüber einig, dass durch das Mehraugenprinzip der Kommission, die in der Regel aus Personen beider Streitparteien bestand, auch entsprechende Glaubhaftigkeit gegenüber der zeichnerischen Darstellung garantiert wurde. Daher wurden beispielsweise forensische Karten mit verfälschenden Veduten, die zum Vorteil der einen Partei ausgelegt werden könnten, angezweifelt. Teils war dies erfolgreich und mit entsprechendem Schriftverkehr sowie weiteren Ausfertigungen verbunden.³³ Die beteiligten Prozessparteien nahmen den Streitfall und die Anfertigung von Beweismitteln sehr ernst, was sich auch an der Beauftragung namhafter Künstler zeigt. Zudem schreckten die damit verbundenen hohen Kosten nicht ab, sondern betonen vielmehr die Bedeutung der Inaugenscheinnahme.³⁴ Gleichwohl ist es durchaus möglich, dass aus Kostengründen die Beweisauf-
§ 51 des Jüngsten Reichsabschieds, Adolf Laufs (Hrsg.), Der jüngste Reichsabschied von 1654. Frankfurt a. M. 1975 (Quellen zur neueren Geschichte, Heft 32), S. 32; Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 32. Vgl. Leidel, Entstehung und Funktion bildlicher Darstellungen (wie Anm. 3), S. 279. Vgl. Baumann, Visuelle Evidenz (wie Anm. 2), S. 459. Vgl. Leidel, Entstehung und Funktion bildlicher Darstellungen (wie Anm. 3), S. 280. Vgl. Recker, Prozeßkarten in den Reichskammergerichtsakten (wie Anm. 2), S. 5. Vgl. Baumann, Augenscheinkarten am Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 28 f., 31. Vgl. Baumann (Hrsg.), Augenscheine (wie Anm. 2), S. 8.
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nahme durch Augenschein ausblieb, was sich aber durch Akten kaum wird nachweisen lassen, da es eben nicht Teil der regulierten Beweiserhebung wurde.³⁵
2.4 Überlegungen zur Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Sichtbarkeit Aus den bisherigen überblicksartigen Ausführungen ergeben sich folgende Überlegungen zur Rolle von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Bezug auf die vor Gericht verwendeten Augenscheine, wobei hier die dreidimensionale Wahrnehmung der Rauminformation in wiederum den drei zur Verfügung stehenden Darstellungsdimensionen – mündlich, schriftlich, anschaulich – entscheidend ist: 1. Die Kodifikation und Institutionalisierung des Rechtswesens schlagen sich auch auf das Erstellen von Karten nieder. Durch den Entstehungshintergrund der Altkarten als Beweismittel in juristischen Angelegenheiten rücken die zahlreichen Akteure in den Fokus. Je mehr Personen involviert sind, desto klarere Regelungen sind notwendig. Umgekehrt ist die Rechtsverbindlichkeit gekoppelt an die Überprüfbarkeit durch Personen. Diese Akteure sind es letztlich, welche bedingt durch die Formalisierung des Rechtswesens die unterschiedlichen Ausprägungen der schriftlichen Prozesspraxis hervorbringen, bis hin zur Festlegung des Malereides. 2. Der Malereid und die damit verbundenen Bedingungen dienen zur Überbrückung von räumlicher und zeitlicher Distanz und unterstreichen zudem die Objektivität und Unparteilichkeit des Ausführenden. Im visuellen Beweismittel bündeln sich demnach mehrere Ansprüche, denen weder allein die schriftlichen Akten noch die mündlichen Aussagen Rechnung tragen konnten. Trotz Professionalisierung gilt es jedoch relativierend auf die begrenzte Richtigkeit, Reichweite und Überprüfbarkeit von Karten hinzuweisen, da trotz aller Bemühungen um Objektivität der Weg hin zur Standardisierung weit ist. Es gilt diese Bedingungen also von Fall zu Fall zu überprüfen. 3. Zur Kartenerstellung bedarf es vorab sowie im Nachhinein eines ausführlichen Schriftverkehrs, wohingegen während der Inaugenscheinnahme mündliche Aspekte das Geschehen prägen. Das Beauftragen und Zustandekommen einer Kommission einerseits und die tatsächlichen Handlungen vor Ort andererseits spiegeln dies wider. Üblicherweise haben wir es also mit gemischt mündlich-
In T. II Tit. XXXI § 6 der Reichskammergerichtsordnung von 1555 wird explizit auf die Verwendung von Papier als günstigerem Material als Pergament hingewiesen, Adolf Laufs (Hrsg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Köln/Wien 1976 (QFHG, Bd. 3), S. 212.
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schriftlichen Verfahren zu tun, sobald Karten zur Beweisführung in Auftrag gegeben werden. Es wird wohl keinen gerichtlichen Augenschein geben, auf den dieses mehrstufige Verfahren mit beiden Aspekten nicht zutrifft. Diese drei Punkte finden Entsprechung in den formulierten Thesen zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Einleitungskapitel dieses Bandes und wurden den kartographiehistorischen Bedingungen angepasst. So stehen je zwei der Thesen einer der hier dargelegten gegenüber.³⁶
3 Fraunhofen – Reichsgrafschaft oder Herrschaft? 3.1 Die umstrittene Reichsunmittelbarkeit Fraunhofens Der rechtliche Status der Herrschaft beziehungsweise Freien Reichsgrafschaft Fraunhofen war bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches umstritten, und besagte Diskrepanz schlägt sich bis heute in der Forschung und Veröffentlichungen nieder.³⁷ Konkret bedeutet dies: In den meisten Fällen wird Fraunhofen nicht zur weltlichen Bank gezählt, also eine herzoglich-kurfürstliche Perspektive eingenommen. Warum dem so ist, gilt es kurz aufzuzeigen. Erste Konflikte zwischen Fraunhofen und den bayerischen Herzögen fanden bereits als Folge der bayerischen Territorialpolitik ab Ende des 14. Jahrhunderts statt. So verkaufte Hedwig, Witwe von Theseres I., die Vogteirechte über die Propstei Geisenhausen an Herzog Friedrich von Bayern-Landshut und dessen Sohn Heinrich, aber die vollständige Bezahlung blieb aus. Über Jahrzehnte kam es wiederholt zu Forderungen und die Fraunhofen wandten sich unter anderem an Kaiser Sigismund, aber auch Herzog Albrecht III. von Bayern-München und dessen Nachfolger, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.³⁸ Die somit unklare Zugehörigkeit von 84 strittigen Gütern sollte sich durch den 260 Jahre andauernden Reichskammergerichtsprozess ziehen und auch Niederschlag auf der Karte von 1584 finden. Vgl. die in der Einleitung zu diesem Band abgedruckten zwölf Thesen zu Schriftlichkeit, Recht und Gerichtsbarkeit. Vgl. Schwarz, Vilsbiburg (wie Anm. 4), S. 480. Schwarz verweist darin auf die umfangreichen Akten des Geheimen Landesarchivs Kurbayern, die strittige Reichsimmedietät der Herrschaft Fraunhofen (Bd. 1: 1396–1549) betreffend, die aufgrund des Umfangs nicht für die vorliegende Arbeit berücksichtigt wurden. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (künftig: BayHStA), Kurbayern, Geheimes Landesarchiv 176. Vgl. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 81 ff.
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Als ein Merkmal für die Reichsunmittelbarkeit Fraunhofens wird das schon früh belegte Appellationsrecht an den Kaiser herangezogen. Schwarz verweist darauf, dass die Fraunhofen dieses seit 1431 besaßen³⁹, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass sich zu dieser Zeit das Rechtsmittel der Appellation ohnehin noch in der Entstehungsphase befand und nicht ohne weiteres und losgelöst von der vorherrschenden Rechtspraxis betrachtet werden sollte.⁴⁰ Ein weiteres Indiz für die Reichsunmittelbarkeit Fraunhofens stellt eine Landshut betreffende Forensische Karte des Reichskammergerichts von 1540 dar, auf der Fraunhofen als „Ist Lehen vom Reich“ beschrieben wird.⁴¹ Der Konflikt um die Reichsunmittelbarkeit Fraunhofens lässt sich in zwei Phasen darlegen. Die erste von 1549 bis 1589 ist geprägt von der Auseinandersetzung um die Gefangennahme des Jacob von Fraunhofen und mündet in eine erste kaiserliche Kommission im Namen der Fraunhofen, eine Gegenuntersuchung durch Kommissare der bayerischen Seite und eine zweite fraunhofische Kommission. Nach bayerischen Übergriffen auf das Territorium 1602 kommt es im Folgejahr zur Wiederaufnahme des Verfahrens und einer dritten kommisarischen Erhebung im Namen der Fraunhofen. Diese zweite Phase lässt sich zeitlich von 1603 bis 1701 umreißen. Letztlich bleibt auch danach die Frage nach der Reichsunmittelbarkeit ungeklärt und wird erst mit der Eingliederung ins Königreich Bayern redundant. Der Auslöser für den Reichskammergerichtsprozess ist deutlich auszumachen: Von Mai 1548 bis Januar 1549 befindet sich Jakob Freiherr von Fraunhofen in Beugehaft, da er auf dem reichsunmittelbaren Status seines Territoriums besteht und keine Abgaben an die bayerischen Herzöge zu zahlen gedenkt. Seine Frau, Anna von Fraunhofen, regt einen Prozess am Reichskammergericht gegen Herzog Wilhelm IV. an, den sie auch für sich und ihren Mann entscheidet. Daraufhin erfolgt die Anerkennung der Reichsunmittelbarkeit sowie die Belehnung durch den Kaiser und die Fraunhofen entrichten von nun an Reichssteuer.⁴² Zudem wurden 1550 Jakob II. von Fraunhofen und dessen Vetter Theseres V. von Kaiser Karl V. (reg. 1519–1556) in den Freiherrenstand erhoben.⁴³ Die erste kaiserliche Kommission im Namen der Fraunhofen wurde der Klägerseite vom Reichskammergericht 1554 gestattet. Der Fragenkatalog zur Beweis-
Vgl. Schwarz, Vilsbiburg (wie Anm. 4), S. 482. Vgl. Jürgen Weitzel, Art. Appellation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1. 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 268–271. Vgl. BayHStA, Plansammlung 10328: „Ansicht der Stadt Landshut mit Burg Trausnitz und Hofmark Achdorf“; zu dieser ältesten Reichskammergerichtskarte Altbayerns vgl. auch Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 49–51, Bd. 2, S. 396 f. Vgl. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 54. Vgl. Demattio, Die Herren von Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 742.
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aufnahme umfasst die Themen der Reichsunmittelbarkeit, der gerichtlichen Praxis, der Auseinandersetzung um die Gefangennahme Jakob von Fraunhofens und die Zugehörigkeit von Gütern.⁴⁴ Diese Zeugenbefragung findet bereits 1555 ihren Weg nach Speyer. Die Transsummierung von Urkunden, unter anderem zu Besitzverhältnissen, und die Erstellung eines Rotulus examinis als zusammenfassendes Protokoll der Zeugenaussagen blieben jedoch aus. Diese Versäumnisse sind Anlass für eine weitere Kommission, die bereits 1589 von Seiten der Fraunhofen gefordert wurde, aber erst 1614 als dann dritte Kommission zustande kam.⁴⁵ Die Gegenuntersuchung durch eine bayerische Kommission erfolgte ab 1575 und dauerte zwei Jahre an. Die Zeugenaussagen fanden zentralisiert in München und Landshut statt und der Fragenkatalog enthielt gezielt Fragen zum Wildbann und der Herrschaftsgrenze. Diese wurden durch 14 Fragen erhoben, die als Interrogatoria, also ergänzend zum bayerischen Fragenkatalog, von Seiten der Fraunhofen in die Untersuchung eingebracht worden waren.⁴⁶ Dies schlägt sich auch wenige Jahre später im zweiten Fraunhofer Kommissionsrotulus 1583 bis 1584 nieder: eingangs wird dort auf die „Klärung von Oberigkhait unnd Wildtpann“, also die Herausarbeitung von Gerichts- und Jagdhoheit als erklärtes Ziel der Kommissionsarbeit verwiesen.⁴⁷ In diesem Zusammenhang kommt es auch zur Inaugenscheinnahme und Erstellung einer Karte, von der später die Rede sein wird. Vielleicht hat jene auch dazu beigetragen, dass die kaiserliche Kommission zugunsten der Reichsherrschaft Fraunhofen entschied. Die Fraunhofen hatten vor dem Reichskammergericht zwar Recht bekommen, wurden bei der Umsetzung des Urteils von Kaiser und Reich jedoch nicht unterstützt.⁴⁸ Dabei konnte nicht einmal die Reichsnähe von Georg Theseres von Fraunhofen⁴⁹ helfen, der von 1569 bis 1583 als Präsident am Reichskammergericht tätig war, dann Hofrat und Hofratspräsident unter Herzog Wilhelm V. und
Vgl. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 90 f. Vgl. ebd., S. 98 Vgl. ebd., S. 98, 102. Vgl. ebd., S. 106. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), verweist dabei auf die „fehlenden verbindlichen Strukturen (keine Vollstreckungsorgane für ein erfolgtes Urteil), die Dauer des Prozesses (Schriftlichkeitsgrundsatz) und die Möglichkeit zur Verzögerung“ als Schwächen der Institution Reichskammergericht, S. 87. Vgl. zur Person und Rolle Georg Theseres: Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 48, 56, 105, mit Hinweisen auf Studium in Bologna, Ingolstadt und Padua sowie seine Tätigkeit als Hofrat Herzog Wilhelms V. In der Studie von Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil I: Darstellung. Köln/ Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 26/I) wird er nicht genannt, da sie den Zeitraum von 1648 bis 1806 abhandelt, siehe auch Anhang auf S. 676–680.
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schließlich Reichshofrat wurde und somit wieder in kaiserlichem Dienst stand.⁵⁰ Die Präsidenten des Reichskammergerichts wurden dabei, ebenso wie die Kammerrichter, nach dem Ebenbürtigkeitsprinzip berufen und durch den Kaiser ernannt.⁵¹ Konkret bedeutet dies, dass sich diese Standesqualifikation im 16. Jahrhundert nur auf den Grafen- und Herrenstand bezog, also Personen, „die Reichsstände mit Sitz und Stimme auf dem Reichstag waren oder doch aus reichsständischen Häusern stammten“⁵². Georg Theseres von Fraunhofen muss demnach, um seine Funktion beim Reichskammergericht einnehmen zu können, als reichsständisch anerkannt gewesen sein.⁵³ 1576 prägt er als Vertreter der Klägerseite das Geschehen der bayerischen Gegenuntersuchung. Nach dem Tod von Georg Theseres aus der altfraunhofischen Linie im Jahr 1591 fallen beide Herrschaftsteile an die Brüder Hans Wolf und Hans Wilhelm aus der neufraunhofischen Linie und es kommt zur einer Arrondierung des Herrschaftsraumes. Als Verschleppungstaktik vor dem Reichskammergericht werden von Seiten der Wittelsbacher regelmäßig verloren gegangene oder unvollständige Unterlagen angeführt⁵⁴, wie im Zuge der ersten Kommission geschehen. Ab 1603 wird der Konflikt um die 84 strittigen Güter forciert, die endgültig dem Landgericht Geisenhausen zugeschlagen werden sollen.⁵⁵ Zudem wird gezielt das „Privilegium de non appellando illimitatum“ aus dem Jahr 1620 angeführt⁵⁶: da es sich aus Sicht der
Vgl. Maximilian Lanzinner, Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511–1598. Göttingen 1980, S. 341. Auswahl und Ernennung von Kammerrichtern, Präsidenten und Assessoren liefen ganz unterschiedlich ab. Grundlegend hierzu Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter (wie Anm. 49): Während die Kammerrichter und die Präsidenten allein vom Kaiser ausgewählt wurden (ebd., S. 107 zum Kammerrichter und S. 126 zu den Präsidenten, zur Besetzung dieser Ämter auch S. 135–141), gab es für die Assessoren das System der Präsentation durch die Reichsstände (ebd., S. 168–342). Für Fraunhofen ist entscheidend, dass, unabhängig von der bei Jahns skizzierten Aufgabenveränderung der Präsidenten, das Ebenbürtigkeitsprinzip galt, damit diese im Fall der Abwesenheit des Kammerrichters diesen vertreten konnten. Präsidenten konnten also nur Fürsten, Grafen oder Freiherren sein (ebd., S. 120 f.). Ebd., S. 128. Demattio, Emanzipationsstreben (wie Anm. 4), verweist hingegen darauf, dass Georg Theseres die fraunhofischen Immedietätsansprüche forcierte, um seine Stellung als Reichskammergerichtspräsident zu stärken, vgl. S. 151. Vgl. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 27, 67, über Verzögerungen und nicht gründliche Kommissionsarbeit. Vgl. Schwarz, Vilsbiburg (wie Anm. 4), S. 483 f.; dort auch der Hinweis, dass erst 1806 der „Reichsherrschaft Fraunhofen“ die strittigen 84 Güter in den drei Obmannschaften der Pfleggerichte Geisenhausen und Vilsbiburg zugesprochen wurden. Vgl. Jürgen Weitzel, Minderungen der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts. Exemtionen, Appellationsprivilegien und vergleichbare Erscheinungen, in: Friedrich Battenberg/Bernd
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bayerischen Kurfürsten lediglich für Landesherren geziemte in erster Instanz am Reichskammergericht zu klagen – sie selbst die Reichsunmittelbarkeit Fraunhofens nicht anerkannten – kam es lange zu keinem Prozeß. Auch der Dreißigjährige Krieg brachte das Verfahren zum Erliegen. Nachdem im Jahr 1700 der Reichsfiskal den Fortgang des Verfahrens forciert und sich dabei für die Interessen der Fraunhofen eingesetzt hatte, erließ das Reichskammergericht, das zuvor schon zu Gunsten weiterer kleinerer Herrschaften wie der Grafen von Ortenburg und der Herren von Waldeck entschieden hatte, im Jahr 1701 ein Urteil, das die Reichsunmittelbarkeit der Herrschaften Alt- und Neufraunhofen feststellte. Die tatsächliche Durchsetzung des Urteils scheiterte indes daran, dass nach der Reichsexekutionsordnung der bayerische Kurfürst und der Erzbischof von Salzburg als kreisausschreibende Fürsten des Bayerischen Reichskreises für die Vollstreckung zuständig waren.⁵⁷ Bis zur Mediatisierung hatten die Fraunhofen nun den Status der Reichsunmittelbarkeit inne. Dass sich dieser Disput über 260 Jahre hinzog, zeigen die Quellen,⁵⁸ und erst an Heiligabend 1805 wurde Fraunhofen bayerisch.
3.2 Die „Wildbanngranitzkarte“ von 1584 Im Rahmen dieser wiederholten Prozess- und Kommissionstätigkeit kommt es einmal zur Ausfertigung einer Karte vor dem Reichskammergericht: der sogenannten „Wildbanngranitzkarte“ oder „Fraunhoverischer Jaidspogen“ von 1584. Es handelt sich dabei um eines der herausragendsten Beispiele einer farbigen Karte auf Leinwand aus dem 16. Jahrhundert, welche sich heute in der Hängeplananlage des Hauptstaatsarchivs München befindet.⁵⁹ Die kolorierte Federzeichnung auf
Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2010 (QFHG, Bd. 57), S. 317–330, der auf das unbeschränkte Appellationsprivileg des Herzogtums Bayern ab 1620, die Ausweitung auf die Oberpfalz 1628 und auf weitere Gebiete ab 1786 verweist. Bayern erhält die Kurwürde erst 1623 und ist somit das erste nicht kurfürstliche Gebiet, welches das unbeschränkte Appellationsprivileg erhält (S. 326). Vgl. außerdem Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando. Köln/Wien 1980 (QFHG, Bd. 7), s. Regesten zu Bayern, S. 72. Vgl. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 120 f. Vgl. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 54, sowie BayHStA, Reichskammergericht 9, S. 194, mit Hinweis auf 115 cm Aktenmaterial, das aus verschiedenen Beständen rekonstruiert wurde. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), verweist in ihren ungedruckten Quellen auf BayHStA Reichskammergericht 90/I–XIV. BayHStA, Plansammlung 10699; vom Format her ist eine Aufbewahrung in der Hängeplananlage eher überraschend; weit größere Formate sind andererseits plangelegt, wie die Kopien, die etwas
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Papier auf Leinwand zeigt in Vogelschauperspektive einzelne Ortschaften eingebettet in der Kulturlandschaft. Die Burganlagen von Alt- und Neufraunhofen werden perspektivisch etwas größer dargestellt. Einzig der Sonnenuntergang rechts hinten dient zur Orientierung und verweist auf eine Ausrichtung der Karte nach Südwesten, was den tatsächlichen dargestellten räumlichen Gegebenheiten entspricht.
Abb. 1: „Wildbanngranitzkarte“ bzw. „Fraunhoverischer Jaidspogen“ von 1584.
Die Erstellung der Karte geht zum einen auf den Fragenkatalog der Bayerischen Gegenuntersuchung von 1575 bis 1577 zurück und andererseits auf die zweite Fraunhofische Kommission ab 1583. Durch die Fragenkataloge wurde deutlich, dass größer sind als das Original; Abbildungen in: Schwarz, Vilsbiburg (wie Anm. 4), Abb. 6 ‚Abriß des Fraunhofischen Wildpanns, 1584‘, sowie in Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 2, Katalognr. 54, S. 418, außerdem in Krausen, Die handgezeichneten Karten (wie Anm. 3), Nr. 155.
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die fraunhofische Gerichtsbarkeit und der fraunhofische Wildbann 1554 noch identisch gewesen waren – sich nun aber nicht mehr entsprachen. Auch den genauen Grenzverlauf konnten einige Zeugen nicht benennen, selbiges galt für die Standorte der alten Schrannen und Galgen der Herrschaften Alt- und Neufraunhofen. Vergleicht man die detailreichen Beschreibungen des Grenzverlaufs der beiden Parteien aus den Jahren 1574 bis 1575 (Bayern) und 1583 bis 1584 (Fraunhofen), dann sind diese nahezu deckungsgleich und Bayern legte anfänglich keinen Widerspruch gegen die dargelegten Grenzen ein. Erst als die Wildbanngranitzkarte vollendet war, legte der bayerische Prokurator Laurentius Stapert Protest ein und nahm den Wildbannbezirk nochmals in Augenschein, um auf fünf strittige Orte hinzuweisen, was jedoch nicht mehr Eingang in die Arbeit der Kommission fand, die zugunsten Fraunhofens entschied. Auf über 200 Seiten legt er im Nachhinein seine Argumente gegen den Wildbann und die Hochgerichtsbarkeit dar – diese wurden bei Wiederaufnahme des Verfahrens ab 1603 herangezogen.⁶⁰ Im Rahmen der Territorialbildung und des Ausbaus der Landesverwaltung ist ein Bedürfnis nach Repräsentation und amtlicher Erfassung durch die Produktion von Karten, die detailreiche Darstellungen aufweisen können, zu erkennen.⁶¹ Im Rahmen dieser Gebietskarten in der frühen Neuzeit sind auch die Bayerischen Landtafeln zu nennen, wobei es sich hier zuvorderst auch um die schriftliche Erfassung von Gütern handelt – vergleichbar mit den Fragenkatalogen zum Fraunhofischen Wildbann. Ziel dieser und anderer strukturierender Ausführungen war oft, die „entscheidenden Merkmale und Nutzungsmöglichkeiten“⁶² des Landes herauszustellen – diese konnten sowohl Ressourcen betreffen als auch Richtstätten oder zentrale Bauten und Wegeführungen. Letztlich konnten Karten auch gezielt als Mittel zur Herrschaftsbegründung herangezogen werden: so argumentierten die bayerischen Anwälte mit den besagten Bayerischen Landtafeln als Grundlage, denen man nicht widersprechen dürfe – dort ist Fraunhofen nicht eminent verzeichnet.⁶³ Gleichzeitig kann sich die Wildbanngranitzkarte im Sinne des Verwaltungsausbaus in den einzelnen Territorien bei den Landtafeln von 1568 und der Landesaufnahme von Pfalz-Neuburg 1597/98 bis 1604 einreihen und im Zuge der Territorialisierungsansprüche gedeutet werden.⁶⁴
Vgl. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 107–111. Vgl. grundlegend Andreas Rutz, Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich. Köln/Weimar/Wien 2018 (Norm und Struktur, Bd. 47). Baumann (Hrsg.), Augenscheine (wie Anm. 2), S. 7. Vgl. BayHStA, Reichskammergericht 9, S. 193; Auszüge aus den bayerischen Landtafeln (undat.) ebd., fol. 433r ff. Vgl. bezüglich Bayerischer Landtafeln: Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 49, sowie Leidel, Entstehung und Funktion bildlicher Darstellungen (wie Anm. 3), S. 276, 278, und be-
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Gebiets- und Jagdkarten dienen der Herrschaftsdokumentation, darüber hinaus wohl auch der Herrschaftsfestigung durch symbolische Hervorhebung eines Herrschaftsanspruchs, wodurch auch diese Beispiele aus dem bayerischen Raum dem Trend zur bildlichen Darstellung des eigenen Herrschaftsraums folgen. Gleichzeitig ist aber nicht davon auszugehen, dass die Herrschaftsgrenzen generell mit denen der Jagd- und Weiderechte übereinstimmten, ansonsten wäre es wohl kaum zur Ausformung der Kategorie ‚Jagdkarte‘ gekommen.⁶⁵ Der Gerichtsbezirk Fraunhofens dürfte unter den historischen Umständen des 16. Jahrhunderts noch identisch mit dem hohen Wildbann gewesen sein,⁶⁶ der immerhin ein Nutzungsverbot für Unbefugte nach sich zog.⁶⁷ Dem Augenschein wurde durch Beglaubigung ein entsprechender Rechtsstatus verliehen: „Dis ist der Abriß der Fraunhofischen Wildpanns Granitzen, welchen ich nach eingenommen Augenschein durch den verpflichten Mahler vermög der Kayl. Commission mit schuldigem fleiß verfertigen laßen und halte denselben der Sachen und den articulierten Orten allerdings gemäß. Zu Urkundt hab ich mich mit aigner Handt unterschrieben und mein Innsiegel fürgedrückt. Montags d. 6ten Monathstag July anno 84. Sebastianus Rottinger D.“⁶⁸
Diese wenigen Zeilen am unteren Rand geben Aufschluss über den Anfertigungsprozess der Karte. Es werden als involvierte Personen der vereidigte Maler genannt, der aus Regensburg stammende Hieronymus Van de Venne,⁶⁹ sowie die Kaiserli-
züglich Pfalz-Neuburg: ebd., S. 278; Wolff, Cartographia Bavariae (wie Anm. 3), S. 63; Leidel, Von der gemalten Landschaft (wie Anm. 3), S. 180; August Scherl, Die pfalzneuburgische Landesaufnahme unter Philipp Ludwig, in: Archivalische Zeitschrift 56 (1960), S. 84–105; Günter Frank/Georg Paulus (Bearb.), Die pfalz-neuburgische Landesaufnahme unter Pfalzgraf Philipp Ludwig. Kollersried 2016 (Regensburger Beiträge zur Heimatforschung, Bd. 6). Vgl. Becker, Zur Bedeutung der Landkarte (wie Anm. 24), S. 16: Jagdkarten. Vgl. Demattio, Emanzipationsstreben (wie Anm. 4), S. 124; Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), verweist auf die Gegenüberstellung der Zeugenaussagen aus der bayerischen Gegendarstellung und der zweiten fraunhofischen Komission und nennt 1554 als das Jahr mit noch identischen Jagd- und Gerichtsgrenzen (vgl. S. 107). Vgl. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 57. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 56. Da die Beschriftung auf dem Original nurmehr schwer zu lesen ist, stammt die Transkription von einer Kopie der Karte aus dem 18. Jahrhundert. Schwarz,Vilsbiburg (wie Anm. 4), S. 484, verweist auf Röttinger auch als zeichnerischen Urheber. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 5, betont mit Verweis auf Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 54, und den Quellenbeleg BayHStA, Reichskammergericht 90/VIII, Quad. 101, fol. 16, dass die malerische Umsetzung durch Hieronymus van de Venne erfolgte. In BayHStA, Reichskammergericht 90, fol. 184r ff. ist der Malereid des Hieronymus van de Venne verzeichnet.
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Abb. 2: mehrfache Beglaubigung auf einer Kopie der „Wildbanngranitzkarte.
che Kommission. Laut Unterlagen wurden außerdem „45 Gezeugs Personen“ gehört.⁷⁰ Namentlich erscheint schließlich der Ratsadvokat der Freien Reichsstadt Nördlingen, Sebastian Röttinger. Letzterer reiste häufig zu den Reichstagen und vertrat dort nicht nur Nördlingen, sondern war auch als Konsulent der Fränkischen und Schwäbischen Reichsritterschaft tätig. Laut der Reichskammergerichtsakten fragt Georg Theseres ihn für die zweite kommissarische Erhebung gezielt an.⁷¹ Des Weiteren wird auch der Ablauf deutlich, der erst die Inaugenscheinnahme, also die Geländebegehung vor Ort nennt, dann die Anfertigung der Karte durch den Maler und schließlich den Abgleich der Ausfertigung mit den Gegebenheiten vor Ort. Erst dann beglaubigt Röttinger die Karte durch seine Unterschrift und sein Siegel.⁷² Nicht in der Hängeanlage des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, sondern plangelegt, be-
Vgl. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 54. Vgl. Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 56, 67 f.; BayHStA, Reichskammergericht 90/IV, Quad. 95; teils taucht auch die Namensvariante Sebastian Rotting auf. Röttinger war im Jahr 1584 auch in anderen Fällen des Reichskammergerichts tätig: vgl. Christian de Nettelbladt, Vermehrter und verbesserter abgeforderter Bericht, vom Ursprung, Beschaffenheit, Umständen und Verrichtungen der Kaiserlichen Reichs-Cammer-Gerichtlichen Visitationen […]. Freiburg 1767, darin: Relatio ad Caesarem der Herrn Commissarien und Visitatorn von wegen beschehener Visitation, Anno 1584. Anhang S. 110–119 von Bd. 2. Zweimalige namentliche Nennung Röttingers S. 118 f. Dieses Vorgehen skizziert auch Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), die zudem den 20. und 21. August 1583 als Termin des Umritts nennt, vgl. S. 109.
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finden sich mehrere Kopien der Wildbannkarte Fraunhofens. Diese wurden im 18. Jahrhundert angefertigt und tragen ähnlich wie das Original offizielle Vermerke der Bestätigung.⁷³
3.3 Rechtssymbole auf der „Wildbanngranitzkarte“ Den Symbolen und auch den Farben, welche auf Karten Gerichtsstätten oder Grenzen zeigen, stehen mehr oder weniger deutlich umrissene rechtswirksame Handlungen gegenüber – dies ist jeweils abhängig vom Umfang und der Ausführlichkeit der korrespondierenden Akten. Das Selbstverständnis der Reichsunmittelbarkeit ist maßgeblich für die Legitimität der Hochgerichtsbarkeit und gilt sicher auch für die Erstellung der Wildbanngranitzkarte.⁷⁴ Man könnte an dieser Stelle auf die Rechtsarchäologie verweisen, welche versucht „die Rechtswirklichkeit und die Rechtsnormen in einzelnen Orten, in Regionen, Landschaften und Ländern, letztlich auch übergreifend in den jeweiligen historischen Epochen, zu rekonstruieren.“⁷⁵ Zudem steht die Analyse von Altkarten durch die szenische Darstellung und die Ortsansichten in gewissen Maßen auch der Volkskunde nahe.⁷⁶ Catherine Delano-Smith gelingt es die Diskussion um Symbolismus und den Zusammenhang zwischen Sprache und Bild umfassend darzustellen.⁷⁷ Sie analysiert Piktogramme auf gedruckten Karten aus dem 16. Jahrhundert – man könnte entsprechend argumentieren, dass die Aufschlüsselung gedruckter Kartenlegenden zur Gegenüberstellung mit Augenscheinkarten nicht relevant ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Maler der handgezeichneten Karten die Druckwerke kannten. Umgekehrt war es sicher beabsichtigt „to imitate as closely as possible the appearance of the manuscript exemplar“.⁷⁸ Die Legenden am Rand gedruckter Karten weisen oft Gemeinsamkeiten auf, häufig werden aber nur eine Handvoll Symbole dargestellt. Lediglich Philipp Apian
Vgl. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 56. Vgl. Kratzer., Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 15.Vgl. allgemein zum Verständnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung als Hoheitsrecht Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando (wie Anm. 56), S. 62 f. Heiner Lück, Was ist und was kann Rechtsarchäologie, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 35–55 (hier S. 38). Vgl. Recker, Prozeßkarten in den Reichskammergerichtsakten (wie Anm. 2), S. 169. Vgl. Catherine Delano-Smith, Signs on Printed Topographical Maps c.1470–c.1640, in: David Woodward (Hrsg.), The History of Cartography, Volume 3, Book 1, Cartography in the European Renaissance. Chicago 2007, S. 528–590; der Begriff ‚Symbol‘ kann an dieser Stelle nicht vertieft erläutert werden. Vgl. ebd., S. 530.
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verzeichnet 1568 vierzehn Elemente und Caspar Henneberger verwendet 1584 sogar achtzehn grafische und neun alphabetische Zeichen auf seiner bei Ortelius gedruckten Karte Preußens.⁷⁹ Von Einheitlichkeit ist man jedoch bis zur systematischen Landesvermessung ab 1800 weit entfernt, selbst wenn der Wunsch nach „all came to have the same meaning“⁸⁰ mehrfach geäußert wird. Die Bewusstseinsschärfung für rechtgebende Strukturen im Gelände durch Abbildung der umstrittenen Landschaft und Anbringung entsprechender Rechtssymbole auf der Karte war immer die Intention und auch der Auftrag des Malers. Teils schlägt sich das in mehrfach deutlicher Abgrenzung nieder, um es für die Entscheidungsträger, die nicht vor Ort waren, hervorzuheben und auf mehreren Ebenen sichtbar zu machen.⁸¹
Abb. 3: Ausschnitt aus der „Wildbanngranitzkarte“ mit Schloss Altfraunhofen sowie Galgen mit Rad im Hintergrund.
Vgl. ebd., S. 532 f. Vgl. ebd., S. 532. Generell können die Grenzen durch farbige Grenzlinien, Grenzsteine,Wappendarstellungen und auch Benennung der benachbarten Herrschaftsträger bezeichnet werden.
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Abb. 4: Ausschnitt aus der Kartenkopie der „Wildbanngranitzkarte“ mit Galgendarstellung.
Die Beglaubigung durch Sebastian Röttinger ist zwar für die Rechtsverbindlichkeit der Karte entscheidend, aber für den Betrachter sind das Gesamtbild und die Anschaulichkeit des Streitgegenstands anfänglich von größerer Bedeutung. In diesem Falle sind es die bläuliche Farbgebung für das außen liegende bayerisch-herzogliche Gebiet, dem die grün gehaltene Herrschaftslandschaft gegenübersteht – und deutlich hervorgehobene Herrschaftssitze. Für die Rechtssymbolik auf der Wildbanngranitzkarte sind die Schlösser mitsamt Wappendarstellungen relevant, die mit denen auf Karten von 1515 bis 1643 vergleichbar sind.⁸² So befindet sich der Reichsadler als Zeichen der Reichsunmittelbarkeit an der Schlossvedute von Altfraunhofen,⁸³ was den Betrachter weg vom schriftlichen Beglaubigungsteil der Wildbanngranitzkarte führt und hin zur rechtswirksamen Symbolsprache. Hierzu gehören auch Einzäunungen an den Randgebieten der Karte. Insbesondere sind es aber die Zeichnungen von Galgen: insgesamt werden vier Richtstätten gezeigt, die das eigenständige Hochgericht der Herren von Fraunhofen hervorheben.⁸⁴ Ver-
Vgl. Delano-Smith, Signs on Printed Topographical Maps (wie Anm. 77), Urban Overlords: fig. 21.29; neun Beispiele von Schlössern mit Wappendarstellungen auf Karten von 1515 bis 1643, S. 567. Vgl. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 56, sowie Kratzer, Das Streben der Fraunhofen (wie Anm. 4), S. 110. Vgl. Horst, Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 55, sowie Schwarz, Vilsbiburg (wie Anm. 4), S. 484. Zur Darstellung von Galgen auf Karten vgl. Becker, Zur Bedeutung der Landkarte (wie Anm. 24), S. 14 ff., die sowohl auf Richtplätze in Stadtnähe als auch auf dem Land verweist; zudem Vollet, Der „Augenschein“ (wie Anm. 3), S. 154. Vgl. außerdem zum Topos der „Gerichtsbarkeit als Inbegriff aller Herrschaftsrechte“ die Nachweise bei Anja Amend-Traut/Josef
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hältnismäßig wenig Galgendarstellungen werden von Delano-Smith verzeichnet, dabei aber jeweils die weithin sichtbare Positionierung an Straßen erwähnt,⁸⁵ welche auch auf die hier thematisierte Karte Fraunhofens zutrifft.
4 Fazit Die vorab dargelegten Thesen zu den Dimensionen Schriftlichkeit und Mündlichkeit bezüglich der Kartographie lassen sich anhand Fraunhofens und der „Wildbanngranitzkarte“ überprüfen. 1. Die Kodifikation und Institutionalisierung des Rechtswesens schlagen sich auch auf das Erstellen von Karten nieder. Mit einem der längsten Prozesse zur Klärung der Reichsunmittelbarkeit wird dies besonders augenfällig. Hinzu kommt der Bedeutungswandel der ehemaligen gerichtlichen Altkarte hin zur Repräsentation: die im Zuge der zweiten Reichskammergerichtskommission erstellte Karte wurde als Schauobjekt im Schloss aufgehängt und die visuelle Beweiskraft vom ursprünglich geheimen und institutionalisierten in den öffentlichen Raum getragen um den Rechtsstatus zu visualisieren – von kurfürstlicher Seite aus hätte man wohl von ‚fingieren‘ gesprochen. 2. Der Malereid und die damit verbundenen Bedingungen dienen zur Überbrückung von räumlicher und zeitlicher Distanz und unterstreichen zudem die Objektivität und Unparteilichkeit des Ausführenden. Dies wurde am Beispiel Fraunhofens aufgezeigt und zieht noch den Aspekt des mehrmaligen Kopierens der Karte mitsamt Beglaubigung bis ins 18. Jahrhundert hinein nach sich. Besonders erwähnenswert sind die gezielte Anfrage an Sebastian Röttinger durch den Reichskammergerichtspräsidenten Georg Theseres von Fraunhofen und der überlieferte Malereid von van der Venne. 3. Zur Kartenerstellung bedarf es vorab sowie im Nachhinein eines ausführlichen Schriftverkehrs, wohingegen während der Inaugenscheinnahme mündliche Aspekte das Geschehen prägen. Selbiges ließ sich auch für den Fraunhofischen Wildbann darlegen, zu dessen Erstellung Quellenmaterial überliefert ist. Das gemischt mündlich-schriftliche Verfahren verdeutlicht sich im zweiten Reichskammergerichtsprozess Fraunhofens durch die transsummierten Gerichtsakten und das Vorgehen der Kommission. Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Stefan A. Stodolkowitz, Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften. Annäherungen und Perspektiven, in: dies. (Hrsg.), Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich. Wien/Köln/Weimar 2020 (QFHG, Bd. 73), S. 9–37 (hier S. 26, Anm. 50). Vgl. Delano-Smith, Signs on Printed Topographical Maps (wie Anm. 77), fig. 21.30 und S. 567.
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Selbst die Reichskammergerichtsordnungen betonen, dass die Schriftlichkeit nicht das alleinige Mittel in einigen Streitfällen sein kann.⁸⁶ Vor allem wenn sich ein konkreter Raumbezug im entsprechenden Streitfall ausmachen lässt, erscheint die Ergänzung um mündliche und anschauliche Verfahren sinnvoll. Gerahmt durch Schriftlichkeit, ist der Kartenerstellungsprozess von Inaugenscheinnahme und Mündlichkeit geprägt, bevor die gewonnen Erkenntnisse zeichnerischen Niederschlag finden. Karten nehmen also eine Vermittlerfunktion zwischen rein schriftlicher Streitkultur durch unterschiedliche Instanzenzüge und dem tatsächlich umstrittenen realen Raum ein. Dies wird noch verstärkt durch vereidigte Maler und Geometer sowie die Professionalisierung der normgebenden und formbedürftigen Rechtsprechung. Immerhin musste trotz Machtpositionierung die finale Ausfertigung mitsamt Richtstätten, Grenzen, Wappen, Veduten und anderen Elementen der Herrschaftssymbolik von beiden Seiten entsprechend Anerkennung finden. Viele der Abläufe und Mechanismen sprechen dafür, dass Karten – trotz neutraler Auftragsvergabe durch ein Gericht – niemals wertfreie Abbildungen sind, sondern Wissen enthalten können, welches von einzelnen Parteien gezielt zur Machtpositionierung genutzt werden konnte. Meist ging der Abbildungszweck über den eigentlichen Streitfall hinaus und der Karte kann im Nachhinein eine Mehrfachfunktion zugeschrieben werden. Um diese generieren zu können, galt es den Zeichner entsprechend zu instruieren, wobei hier die Verpflichtung zur neutralen Darstellung durch den Maler nicht außer Kraft gesetzt wird. Vielmehr darf davon ausgegangen werden, dass Entscheidungen über eine großformatige und farbkräftige Gestaltung nicht vom Ausführenden gefällt wurden, sondern eher durch die beteiligten Streitparteien oder das auftraggebende Gericht. Entstand eine Karte im Auftrag einer der Parteien, ist sogar stark davon auszugehen, dass der repräsentative Charakter der entstehenden Karte von vornherein mit bedacht werden konnte und somit eine Nachnutzung über den eigentlichen Streitfall hinaus angedacht war. Abschließend lässt sich feststellen: Mit der Arbeit an schriftlichen und kartographischen Quellen geht mehr als nur die Beschäftigung mit Rechtstexten oder normgebenden Schriftstücken einher, sondern es rücken auch die Versuche einer symbolischen Visualisierung besagter Rechtsinhalte in den Fokus der Betrachtungen. Die jeweilige Ausprägung von Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Sichtbarkeit ist dabei von Karte zu Karte unterschiedlich ausgewogen und von Fall zu Fall herauszuarbeiten.
Vgl. Reichskammergerichtsordnung von 1555, T. II Tit. XXIII mit Bezug auf mündliche Beschlüsse und T. II Tit. XL über schriftliche und mündliche Vorträge, Laufs (Hrsg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 35), S. 241, 256 f.
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Unbeobachtet vorübergegangen? Gerichtliches Entscheiden im Spiegel der genetischen Aktenkunde 1 Die Akten beherrschen den Prozess – doch wer beherrscht die Akten?
Der Zusammenhang von Schriftlichkeit und juristischer Praxis war allgegenwärtig, als sich die Mitglieder der Wiener Juristenfakultät am 1. Mai 1725, dem ersten Sonntag nach Christi Himmelfahrt, zum alljährlichen „Dedikationsfest“ in der Sankt Ivo-Kapelle versammelten, um Ivo Hélorys von Kermartin (um 1247–1303) zu gedenken, der in weiten Teilen Mitteleuropas als Schutzheiliger der Juristen verehrt wurde. Bezüge zu gerichtlicher Aktenbildung stellte bereits das katholische Bildprogramm her, in dem Ivo, der im Gegensatz zu vielen anderen Heiligen eines natürlichen Todes gestorben war, anstelle von Marterinstrumenten üblicherweise Urkunden und Prozessakten in Händen hielt. Auch der Benediktiner Augustin Fischer, der an jenem Tag zu der versammelten Fakultät sprach, mahnte von der Kanzel herab zu fleißigem Aktenstudium: Ihr Gewaltige/ihr Richter! fechtet! fechtet! vor die Gerechtigkeit! arbeitet! arbeitet! leset Acta! leset Acta! ¹ Die im Appell des Theologen zum Ausdruck kommende Überzeugung, dass der Kampf um irdische Gerechtigkeit zwischen Aktendeckeln auszufechten sei, dürfte bei den anwesenden Juristen kaum auf prinzipiellen Widerspruch gestoßen sein. Schon Johann von Buch (um 1290 – um 1356) hatte in seiner Glosse zum Sachsenspiegel den Rechtsstreit als Kampf interpretiert, in dem ritterliche Würde zu er-
Augustin Fischer, Neu-erweckter Gott dem Allerhöchsten gleichförmiger Phoenix aller Herren Rechtsgelehrten hellglantzendes Liecht.Wien 1725, o. S. Ivo Hélory von Kermartin wirkte nach einem Studium der Rechte in Paris und Orleans als Offizial des Bistums Tréguier in der Bretagne. Siehe: Karl Heinz Burmeister, Der hl. Ivo und seine Verehrung an den deutschen Rechtsfakultäten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung (künftig: ZRG GA) 92 (1975), S. 60–88. Die 1789 profanierte Wiener Sankt Ivo-Kapelle gehörte zur unweit von Sankt Stephan in der Schulerstraße gelegenen Juristenschule. Zur Baugeschichte Franz Gall, Die Sankt Ivo-Kapelle in Wien, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 36 (1964), S. 491–508 (zum Dedikationsfest ebd., S. 495). https://doi.org/10.1515/9783111077406-013
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langen sei.² Darüber hinaus prägte die römischrechtliche Schriftlichkeitsmaxime, die in der Parömie Quod non est in actis non est in mundo ihren beredten Ausdruck fand, seit dem ausgehenden Mittelalter die gelehrte Rechtsprechung nicht nur im kirchlichen, sondern auch im weltlichen Bereich.³ Fortan zählte das Gerichtswesen zu den bedeutendsten obrigkeitlich-staatlichen Schriftgutproduzenten, und dabei ist es ungeachtet des im 19. Jahrhundert vollzogenen Übergangs vom schriftlichen zum mündlichen Gerichtsverfahren bis auf den heutigen Tag geblieben. Wer schon einmal Gelegenheit hatte, einen Blick in Registraturen von Gerichten und Staatsanwaltschaften zu werfen, versteht Spötter, die behaupten, es gehe vor Gericht weniger um Rechtsprechung als um Recht-schreibung.⁴ Allein in der ordentlichen Gerichtsbarkeit des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen entstanden im Jahr 2009 Akten im Umfang von 30 Regalkilometern.⁵ Hätten die Archive die Überlieferungsbildung auf dem Gebiet der Rechtsprechung nicht professionalisiert und rigide Übernahmequoten eingeführt,⁶ wären die Magazine landauf landab längst übergelaufen.Wenn es im Gerichtswesen über alle Reformen und Systembrüche der vergangenen 500 Jahre hinweg eine Konstante zu geben scheint, so also diese: „Die Akten beherrschen den Prozeß.“⁷ Doch wer beherrscht die Akten? Den Richter soll hierzu die Relationstechnik befähigen, die Werkzeuge zur Erfassung, Ordnung und Beurteilung des Streitstoffes bereitstellt, um auf dieser Grundlage zu einem juristisch richtigen Urteil zu gelangen.⁸ Dem Historiker nutzt dieses Handwerkszeug wenig. In den Cold Cases der
Hierzu Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse. Hannover 2007 (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, Bd. 56), S. 151–164. Ich danke Peter Oestmann für den Hinweis auf diesen Zusammenhang. Zum gemeinrechtlichen Schriftlichkeitsprinzip: Martin Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess. Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozessordnung. Tübingen 2007 (Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 102), S. 15–19. Theo Rasehorn, Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt – Alternative Justizsoziologie. Baden-Baden 1989, S. 96. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Abschlussbericht der Projektgruppe „Archivierungsmodell Justiz“. Düsseldorf 2009, S. 135. Rainer Stahlschmidt (Hrsg.), Empfehlungen zur Archivierung von Massenakten der Rechtspflege. Abschlußbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu Fragen der Bewertung und Archivierung von Massenakten der Justiz in Deutschland. Düsseldorf 1999 (Der Archivar, Beiheft 2). Martin Beradt, Der deutsche Richter. Frankfurt a. M. 1930, S. 160. Beispielsweise: Kurt Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters für Rechtsreferendare und junge Praktiker mit Fällen und einer Musterakte. 18. Aufl. Heidelberg 2019.
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Vergangenheit ist er nicht zum Richter berufen.⁹ Sein Erkenntnisinteresse bei der Aktenarbeit unterscheidet sich somit erheblich von dem eines praktischen Juristen. Relationstechnik kann deshalb zwar ein Untersuchungsgegenstand historischer Justizforschung sein,¹⁰ nicht jedoch deren Methode. Dies gilt insbesondere dann, wenn die in jüngerer Zeit sowohl aus geschichts- wie aus rechtswissenschaftlicher Perspektive erhobene Forderung umgesetzt werden soll, bei der Analyse von Gerichtspraxis nicht allein vom materiellen Ergebnis auszugehen, sondern das Verfahren selbst in den Blick zu nehmen.¹¹ Bei einem solchen Unterfangen stieße ein juristisch-semantisch orientierter Zugang zu richterlicher Tätigkeit rasch an seine Grenzen, da die Relationstechnik just auf jenem rechtspositivistischen Subsumtionsmodell basiert, das die Rechtswissenschaft weitgehend dekonstruiert hat.¹² „Subsumtionsautomaten“¹³ sind Richter niemals gewesen, und am allerwenigsten waren sie es in der Epoche des Usus modernus mit dessen weithin ungeordneter Rechtsquellenvielfalt¹⁴ und einem usualen Verständnis von Geltung. Ein Prokurator am Reichskammergericht brachte die Tatsachen auf den Punkt, als er 1767 betonte, es fänden sich unter hundert Sachen, die am Kammergerichte verhandelt werden, neunzige, in welchen rechtliche Bedenken, briefliche Urkunden, Zeugenaussagen pro und contra angeführet sind und jeder Rechtsgelehrter von gewissem Grade sich anheischig machen kann, zu sprechen wie man will
Vgl. Peter Oestmann, Normengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Praxisgeschichte. Drei Blickwinkel auf das Recht der Vergangenheit, in: Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series 6 (2014), S. 1–10. Als Untersuchungsgegenstand ist die zumeist nur wenig beachtete Relationstechnik sogar von sehr großer Bedeutung. Schließlich steuert sie „gleichsam von hinten das, was zur Herstellung der Darstellung getan werden muß“. Siehe Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 11. Aufl. Frankfurt a. M. 2019, S. 66.Vgl. die Überlegungen bei Tobias Schenk,Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y. Epochenübergreifende Überlegungen zu gerichtlichen Urteils- und Vergleichsquoten aus institutionengeschichtlicher Perspektive, in: ZRG GA 137 (2020), S. 91–233 (hier insbes. S. 159–168). Philip Hoffmann-Rehnitz/André Krischer/Matthias Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281 (hier insbes. S. 227); Fabian Wittreck, Legitimation durch Verfahren in der Rechtswissenschaft, in: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 44), S. 65–90 (hier S. 74). Benjamin Lahusen, Rechtspositivismus und juristische Methode. Betrachtungen aus dem Alltag einer Vernunftehe. Weilerswist 2011. Zu diesem Topos nunmehr: Clara Günzl, Subsumtionsautomaten und ‐maschinen. Rechtshistorische Anmerkungen zu einem beliebten Vorwurf, in: JuristenZeitung 74 (2019), S. 180–188. Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich. Frankfurt a. M. 2002 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 18).
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und seine Urtel vor allen Visitationen zu verantworten. ¹⁵ Selbst wenn die Gerichtshöfe der Frühen Neuzeit ihre Entscheidungen gegenüber den Parteien begründet hätten (was sie nicht taten),¹⁶ hätte dies also kaum etwas an der Feststellung des Göttinger Staatsrechtlers Stephan Pütter (1725–1807) geändert, wonach auch der Jurist dazu gezwungen sei, die bey solchen Erkenntnissen im Sinne gehabten Gründe allenfalls [zu] errathen. ¹⁷ Mehr als nur ein Körnchen Wahrheit steckt deshalb in dem alten Juristenwitz, wonach es vier Arten von Urteilsgründen gebe, nämlich die beratenen, die verkündeten, die schriftlichen und die wahren.¹⁸ Selbst in der Minderzahl der Gerichtsprozesse, die epochenübergreifend überhaupt mit einem Urteil endete,¹⁹ ist dessen semantische Analyse folglich kaum dazu geeignet, den Weg zurück von der Darstellung zur Herstellung einer Entscheidung zu bahnen. Indem man das Pferd von hinten aufzäumt, kommt man der maßgeblich durch die Kontingenz richterlicher Erkenntnisbildung definierten Logik eines Gerichtsverfahrens nicht wesentlich näher. Gesucht wird also eine Methode der Aktenauswertung, die sich durch Verfahrensorientierung und weitgehende Abstraktion vom materiellen Ergebnis auszeichnet. Eine solche Methode gibt es bereits. Es handelt sich um die Aktenkunde, die über Werkzeuge zur Rekonstruktion des Entstehungskontextes archivalischer Quellen verfügt und institutionelle Entscheidungsprozesse auf diese Weise überhaupt erst analysierbar macht.²⁰ Von Bedeutung ist dabei insbesondere die Teildisziplin der genetischen Aktenkunde, die sich mit der Organisation des behördlichen Geschäftsganges, also dem Einlauf, Innenlauf und Auslauf von Schriftstücken befasst. Allerdings liegt das Potential dieser Disziplin für die Justizforschung angesichts eines epochenübergreifend eklatanten Mangels aktenkundli-
Christian Jacob von Zwierlein, Vermischte Briefe und Abhandlungen über die Verbesserung des Justizwesens am Kammergerichte, mit patriotischer Freimütigkeit entworfen, Bd. 1. Berlin 1767, S. 16. Stephan Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang. Zur Publizität der Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 17). Stephan Pütter, Ueber die beste Art aus Acten zu referiren, auch über manches, was sonst noch Teutschen Geschäfftsmännern und Schriftstellern zu empfehlen seyn möchte. Göttingen 1797, S. 94. Zitiert nach Günter Spendel, Der „Täter hinter dem Täter“ – eine notwendige Rechtsfigur?, in: Günter Warda/Heribert Waider/Reinhard von Hippel/Dieter Meurer (Hrsg.), Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag. Berlin 1976, S. 147–171 (hier S. 161). Dass dies in der Gegenwart grundlegend anders sei, stellt einen in der Frühneuzeitforschung weit verbreiteten Irrtum dar. Angaben zur Gegenwart bei: Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 10), S. 120–137. Klassisch: Heinrich Otto Meisner, Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. 2. Aufl. Leipzig 1952; aus jüngerer Zeit: Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. Wien/Köln/Weimar 2009 (Historische Hilfswissenschaften).
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cher Einführungen in den Umgang mit Prozessschriftgut²¹ bislang noch weitgehend brach.
2 Einzelrichter oder Kollegium, das ist hier die (aktenkundliche) Frage In der Vormoderne besaß Gerichtspraxis angesichts einer erst ansatzweise vollzogenen funktionalen Ausdifferenzierung von Justiz und Verwaltung viele Gesichter. Die aus aktenkundlicher Perspektive maßgebliche Unterscheidung nahmen indes schon Zeitgenossen wie der salzburgische Hofrat Philipp Gäng vor, der 1797 konstatierte: Der Civilrichter kann in einer einzelnen oder in einer moralischen Person, d. i. aus mehrern einzelnen Personen bestehen, die ein Collegium ausmachen. In dem ersten Falle heißt er bald Justizbeamter, bald Amtsrichter, Pfleger, Amtmann, Stadtrichter, Zunftrichter, Bergrichter u. s. w., wie es die Gewohnheit verschiedener Länder oder die eigentliche Natur des Amtes mit sich bringt. Beyspiele der letztern Art sind Magistrate, Justizkanzleyen, Hofgerichte, Regierungen, Appellationsgerichte u. s. f. Ein Justizcollegium besteht gewöhnlich aus einem oder mehrern Gerichtsvorstehern, die bald Präsident, bald Kanzler, bald Director u. s. w. genannt werden und aus mehrern ordentlichen mit Sitz und Stimme versehenen Gliedern, die den Nahmen Räthe, Beysitzer, Referendäre und dgl. führen.²²
Ebenso wie in der Gegenwart wurde Rechtsprechung also auch in der Frühen Neuzeit entweder durch Einzelrichter oder durch Kollegien ausgeübt. Da sich die Justizforschung epochenübergreifend vor allem für die oberen Gerichtsinstanzen interessiert, gerät leicht aus dem Blick, wie die quantitativen Gewichte zwischen beiden Organisationsformen verteilt waren. Von den rund 1,5 Millionen Zivilprozessen, die in der Gegenwart alljährlich in Deutschland geführt werden, erledigen
Zu diesem Desiderat: Thomas Wetzstein, Prozeßschriftgut im Mittelalter – einführende Überlegungen, in: Susanne Lepsius/ders. (Hrsg.), Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter. Frankfurt a. M. 2008 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 17), S. 1–27 (hier S. 20); Jürgen Finger, Zeithistorische Quellenkunde von Strafprozessakten, in: ders./Sven Keller/Andreas Wirsching (Hrsg.),Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte. Göttingen 2009, S. 97–113 (hier S. 97). Vgl. jedoch: Peter Oestmann, Leitfaden zur Benutzung von Reichskammergerichtsakten, in: ders./Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Die Akten des Reichskammergerichts. Schlüssel zur vormodernen Geschichte. Düsseldorf 2012 (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 44), S. 6–20. Philipp Gäng, Anleitung zu dem gemeinen, ordentlichen, bürgerlichen Processe mit besonderer Rücksicht auf die Salzburg., Bayr. und Oesterreich. Prozeßord. Salzburg 1797, S. 26 f.
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die mit Einzelrichtern besetzten Amtsgerichte mehr als zwei Drittel,²³ und selbst an den prinzipiell kollegialisch organisierten Land- und Oberlandesgerichten ist der Einzelrichter aus prozessökonomischen Gründen auf dem Vormarsch.²⁴ Auch mit Blick auf die Vormoderne kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Masse der justiziell bearbeiteten sozialen Auseinandersetzungen niemals jene Ebene des Instanzenzuges erreichte, auf der Kollegialgerichte tätig waren. Sollte es in der deutschen Rechtsgeschichte so etwas wie den „typischen“ Richter geben, so repräsentiert der in kleinstädtischem Umfeld tätige Einzelrichter diesen Typus also weitaus eher als ein Beisitzer eines in Berlin, Wien oder Karlsruhe angesiedelten Justizkollegiums.²⁵ Allerdings ist es die schriftliche Überlieferung von Kollegialgerichten, die aus aktenkundlicher Sicht für die höchsten methodischen Herausforderungen sorgt. Im Vergleich etwa zur Exekutive, die seit dem 19. Jahrhundert überwiegend bürokratisch-monokratisch organisiert ist, besteht das Kernproblem darin, dass sich die interne Entscheidungsfindung eines Spruchkörpers nicht schriftbasiert, sondern durch mündliche Beratung und Abstimmung in einer von einem Vorsitzenden geleiteten Sitzung unter formal gleich- und weisungsfrei gestellten Mitgliedern vollzieht.²⁶ Im Gegensatz zum monokratischen Verwaltungsakt vollzieht sich der Akt kollegialer Rechtserkenntnis also nicht schriftbasiert in einem hierarchischen System, sondern kommt horizontal auf Grundlage „multilateraler Kommunikationsbeziehungen“²⁷ zustande. Vom Schriftlichkeitsprinzip, das im gemeinen Recht den Verkehr zwischen Gericht und Parteien prägte, wurde diese interne Kommunikation nur ansatzweise erfasst. Anders als in der Exekutive, in der Aktenführung Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch. Deutschland und Internationales 2018. Zwickau 2018, S. 316. Vgl. Markus Tüxen, Kollegialprinzip oder Einzelrichter. Die Entwicklung des zivilrechtlichen Spruchkörpers bei den Landgerichten sowie den Oberlandesgerichten seit 1879 unter besonderer Berücksichtigung der Reformen von 1974 und 1976. Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 395). Hierzu mit Blick auf die Frühe Neuzeit: Peter Oestmann, Zur Typologie frühneuzeitlicher Gerichte – einige norddeutsche Schlaglichter, in: Anja Amend-Traut/Josef Bongartz/Alexander Denzler/ Ellen Franke/Stefan Andreas Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich. Wien/Köln/ Weimar 2020 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 73), S. 57–76 (hier S. 76): „Der bloße Verweis auf Rechtsmodernisierung und Reichsgerichtsbarkeit blendet möglicherweise gerade die gerichtliche Normalität weitgehend aus. […] Höhenkammwanderungen sind erhebend. Aber ein Gebirge besteht nicht nur aus dem einen Gipfel.“ Winfried Aymans, Kollegium und kollegialer Akt im kanonischen Recht. München 1969 (Münchener theologische Studien. Kanonistische Abteilung, Bd. 28), S. 92–97. Thomas Gross, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation. Tübingen 1999 (Jus Publicum, Bd. 45), S. 50.
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die Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Verwaltungshandelns gewährleisten soll,²⁸ ist das Leitmedium kollegialgerichtlicher Entscheidungsfindung nicht die Akte, sondern das in der gemeinsamen Beratung flüchtig verhallende Wort.²⁹ Bei der empirischen Rekonstruktion kollegialgerichtlicher Entscheidungsfindung ist deshalb zu beachten, was Anselm von Feuerbach bereits 1821 feststellte: Prozessakten sind zwar selbst Handlungen des Gerichts, zeigen doch aber weiter nichts als – sich selbst. Wie sie geworden, was hinter ihnen liegt, was ihnen vorausging, was nebenbei geschah oder nicht geschah, als sie angefertigt wurden: von allem dem erscheint an ihnen mehr nicht, als sie selbst davon zu melden für gut fanden. Das eigentliche Handeln des Gerichts ist unbeobachtet vorüber gegangen; was noch dasteht, ist ein bloßes Ergebnis, von welchem auf die Art und Weise des Handelns bei weitem nicht mit Sicherheit zurückgeschlossen werden kann.³⁰
Prinzipiell gilt diese Einschätzung für die Prozessakten aller Kollegialgerichte der vergangenen 500 Jahre, ganz gleich, ob es sich nun um das Reichskammergericht oder den Bundesgerichtshof handelt.³¹ Denn der Mangel an Evidenz³² hinsichtlich
So heißt es beispielsweise in § 2 der 2001 in Kraft gesetzten gemeinsamen Registraturrichtlinie der deutschen Bundesministerien: „Die Geschäftstätigkeit der Verwaltung folgt dem Grundsatz der Schriftlichkeit. Sie besteht im Erstellen, Versenden, Empfangen und Registrieren von Dokumenten (Aktenbildung) und wird durch die Aktenführung unterstützt. Die Aktenführung sichert ein nachvollziehbares transparentes Verwaltungshandeln und ist Voraussetzung für eine sachgerechte Archivierung.“ Siehe: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Moderner Staat – moderne Verwaltung. Richtlinie für das Bearbeiten und Verwalten von Schriftgut (Akten und Dokumenten) in Bundesministerien (RegR). Berlin 2001, S. 7. Dass die Realität seit dem 20. Jahrhundert vielfach anders aussieht, steht freilich auf einem anderen Blatt und ist an dieser Stelle nicht weiter zu thematisieren. Im vorliegenden Kontext geht es allein darum, dass Gerichts- im Gegensatz zu Verwaltungsakten nicht einmal dem Anspruch nach eine Transparenz des internen Entscheidungsprozesses der Behörde sichern sollen, da dies unter anderem mit dem richterlichen Beratungsgeheimnis kollidieren würde. Zur Mündlichkeit innerhalb von Kollegialbehörden: Angelika Menne-Haritz, Steuerungsinstrumente in der Verwaltungsarbeit, in: Die Verwaltung 33 (2000), S. 1–27 (hier S. 8). Anselm von Feuerbach, Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Bd. 1. Gießen 1821, S. 100. Mit Blick auf die Prozessakten des Oberappellationsgerichts Celle kam zu demselben Ergebnis: Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 59), S. 10: „Über den Prozeß der gerichtlichen Entscheidungsfindung und die argumentative Kultur am Oberappellationsgericht sind […] kaum Aussagen möglich.“ Hiervon unberührt bleibt ein häufig durchaus hoher Informationswert der Akten hinsichtlich außerhalb des Gerichts zu verortender gesellschaftlicher Sachverhalte. Die auch für die Geschichtswissenschaft nützliche Unterscheidung von Informations- und Evidenzwert bei der Bewertung von Aktenschriftgut geht zurück auf: Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen
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interner Entscheidungsvorgänge wird nicht durch die Launen von Überlieferungschance und Überlieferungszufall³³ bestimmt, sondern ist angesichts eines durch mündliche Abstimmung zustande kommenden Kollegialakts systembedingt. Eine isolierte Auswertung der Prozessakte kann deshalb selbst bei Anwendung eines soliden hilfswissenschaftlichen Instrumentariums nicht wesentlich über jene „Urteilszentristik“³⁴ hinausführen, welche die neuere Forschung gerade überwinden will. Die Frage nach der „geistigen Urheberschaft“³⁵ einer Entscheidung prallt in der Akte im Regelfall an der dem Kollegialprinzip inhärenten Rechtsfiktion eines „unitarischen, dem Spruchkörper zuzurechnenden Urteilsaktes“³⁶ ab. Die Geschichtswissenschaft darf sich mit dieser Fiktion jedoch keineswegs abfinden und sich mit der lapidaren Feststellung begnügen, dass der Beisitzer eines mit fünf Richtern besetzten Spruchkörpers nach Adam Riese eben zu 20 Prozent an der Entscheidung beteiligt gewesen sei. Denn obwohl Kollegialorgane in ihrer Außendarstellung seit jeher ihre Beratungskultur betonen, verfügen sie de facto über eine ausgeprägte Binnenhierarchie. Das ist im modernen Rechtsstaat so,³⁷ und in der Frühen Neuzeit war es in Ermangelung von Gewaltenteilung und angesichts einer in ständischer und fachlicher Hinsicht überaus heterogenen personellen Zusammensetzung der Justizkollegien³⁸ erst recht so. Neben dem spannungsreichen Miteinander von Mitgliedern der adeligen und der gelehrten Bank verdient dabei insbesondere das Verhältnis zwischen dem Behördenchef und den einzelnen Räten Aufmerksamkeit. Denn selbst in jenen Kollegien, deren Beisitzer teilweise von den Ständen präsentiert wurden, verkörperte der Chef gegenüber dem Plenum den fürstlichen Gerichtsherrn und war deshalb im Vergleich zur rechtsstaatlichen Gegenwart mit besonders weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Verwaltungsschriftguts (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg/Institut für Archivwissenschaft, Bd. 17), Marburg 1990. Arnold Esch, Überlieferungschance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570. Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte. Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 323. Meisner, Urkunden- und Aktenlehre (wie Anm. 20), S. 66. Wolfgang Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten. „group choice“ in europäischen Justiztraditionen. Tübingen 2016, S. 1. Hierzu etwa: Christoph Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren. Berlin 2002, S. 405– 433. In soziologischer Hinsicht setzte die Homogenisierung der Justizkollegien durch Verbürgerlichung und Vereinheitlichung der fachlichen Eingangsvoraussetzungen in Deutschland erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Vorreiter dieser Entwicklung war Brandenburg-Preußen. Siehe Rolf Straubel, Adlige und bürgerliche Beamte in der friderizianischen Justiz- und Finanzverwaltung. Ausgewählte Aspekte eines sozialen Umschichtungsprozesses und seiner Hintergründe (1740–1806). Berlin 2010 (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 59).
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Die stiefmütterliche Behandlung dieser Funktionsträger durch die Forschung³⁹ ist umso bemerkenswerter, als die Präsidenten und Hofrichter nicht nur am Kaiserhof, sondern auch an zahlreichen Fürstenhöfen im Reich zu den Mitgliedern des Geheimen Rats zählten. Dort trafen sie in regelmäßigen Abständen mit den Chefs der übrigen Hofbehörden und – sofern dieser an den Sitzungen teilnahm – auch dem Fürsten zusammen, um dem übergeordneten politischen Entscheidungsprozess des Hofes nicht nur andächtig zu lauschen, sondern selbst an ihm mitzuwirken.⁴⁰ Wenn Zeitgenossen die Präsidenten oberster Gerichte im 18. Jahrhundert mitunter als „Justizminister“⁴¹ bezeichneten, ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass man es nicht mit Richtern, sondern mit politischen Amtsträgern in richterlicher Funktion zu tun hat. Der Zusammenhang von Macht und Recht ging in der Vormoderne also keineswegs in jenen fürstlichen Machtsprüchen auf, die seit jeher auf reges Interesse der Forschung stoßen, in der frühneuzeitlichen Gerichtspraxis jedoch nur geringe Bedeutung besaßen.⁴² Im Alltag der Justizkollegien wurde die Arbeit eines Rats weniger durch die ad hoc eingehende Weisung des Gerichtsherrn zur Korrektur eines bereits publizierten Urteils, sondern vielmehr durch die organisationsinterne Hierarchie zwischen Vorsitzendem und Beisitzern bestimmt. Diese Hierarchie ist vor allem deshalb offenzulegen, weil sich in ihr Strukturbedingungen von Rechtsprechung in einer Epoche ohne Gewaltenteilung konkretisieren, in der Gerichte nirgendwo nach dem Grundsatz Fiat iustitia et
Zu den Kammerrichtern jedoch nunmehr: Maria von Loewenich, Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711–1806). Wien/Köln/Weimar 2019 (QFHG, Bd. 72). Zum Reichshofratspräsidenten vorläufig: Tobias Schenk, Die Vota ad Imperatorem des kaiserlichen Reichshofrats. Zur Verfahrensautonomie an einem herrschernahen Höchstgericht der Frühen Neuzeit, in: Anja Amend-Traut/Ignacio Czeguhn/Peter Oestmann (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur. Wien/Köln/Weimar 2021 (QFHG, Bd. 75), S. 239–348 (insbes. S. 274–305). So beispielsweise die Präsidenten des Berliner Kammergerichts und des badischen Hofgerichts. Siehe Adolf Thiesing, Die Geschichte des Preußischen Justizministeriums, in: Franz Gürtner (Hrsg.), 200 Jahre Dienst am Recht. Zum 200jährigen Gründungstage des Preußischen Justizministeriums. Berlin 1938, S. 11–172 (hier S. 26); Paul Lenel, Badens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung unter Markgraf Karl Friedrich 1738–1803. Karlsruhe 1913 (Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts, Heft 23), S. 10–13. So beispielsweise mit Blick auf den Reichshofratspräsidenten: Nikolaus Thaddäus Gönner, Deutsches Staatsrecht. Augsburg 1805, S. 200. Hierzu treffend: Dietmar Willoweit, Selbständigkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Volker Friedrich Drecktrah/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Rechtsprechung und Justizhoheit. Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 177–196 (hier S. 177 f.).
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pereat mundus ⁴³ agierten und angesichts eines oftmals nur schwach entwickelten Vollstreckungsapparats auch gar nicht agieren konnten. Genau diese gremieninternen Machtverhältnisse vermag die genetische Aktenkunde aufzuhellen, indem sie nicht allein auf die Prozessakte fokussiert, sondern die für Kollegialbehörden typischen Protokollserien⁴⁴ einbezieht und beides in einen verfahrensorientierten Zusammenhang stellt. Auf diese Weise kommen zwar nicht die „wahren“ Gründe jeder einzelnen Entscheidung, sehr wohl aber institutionelle Kulturen kollegialgerichtlichen Entscheidens⁴⁵ ans Licht, die ihrerseits das Prozedere im Einzelfall wesentlich mitbestimmten. Ihr heuristisches Potential vermag die Aktenkunde jedoch nur zu entfalten, wenn sie sich ihrer Grenzen bewusst bleibt. Diese werden von der Tatsache bestimmt, dass sich kollegiale Rechtsprechung auf Grundlage einer „Medienkonstellation“⁴⁶ vollzieht, in der sich gesprochene und geschriebene Sprache wechselseitig beeinflussen. Von Mündlichkeit als internem Leitmedium der Abstimmung war bereits die Rede. Doch nicht nur gremienintern, sondern auch im Verkehr zwischen Gericht und Herrscher ist das komplexe Wechselspiel von Schriftlichkeit und Mündlichkeit präzise zu vermessen. Denn jene bereits angedeuteten höfischen Strukturen, über die zahlreiche vormoderne Justizkollegien mit ihrem fürstlichen Gerichtsherrn verbunden waren, blieben durch mündliche „Kommunikation unter Anwesenden“ geprägt.⁴⁷ Und als wäre dies nicht schon Herausforderung genug, spielte Mündlichkeit auch im formellen wie informellen Verkehr zwischen Gericht und Parteien eine weitaus größere Rolle, als es die römischrechtliche Schriftlichkeitsmaxime suggeriert. Während die Untergerichte ohnehin weitgehend mündlich verhandelten,⁴⁸ hielten sich auch an zahlreichen Mittel- und Obergerichten formalisierte Reste von Mündlichkeit, etwa in Gestalt der Audienz am Reichskam-
Vgl. Detlef Liebs, Das Rechtssprichwort Fiat iustitia et pereat mundus, in: JuristenZeitung 2015, S. 138–141. Vgl. hierzu Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 20), S. 56. Zum Begriff der Entscheidungskultur Hoffmann-Rehnitz/Krischer/Pohlig, Entscheiden (wie Anm. 11), S. 250. Ralph Christensen, Die Gesetzesbindung in medientheoretischer Analyse, in: Stephanie Holzwarth/Ulrich Lambrecht/Sebastian Schalk/Annette Späth/Eva Zech (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters. Richterliche Entscheidungsfindung in den Blick genommen. Tübingen 2009, S. 1–16 (hier S. 6). Hierzu: Rudolf Schlögl, Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt a. M. 2004, S. 185–225. Ahrens, Prozessreform (wie Anm. 3), S. 35 f.: „Schon wegen dieser untergerichtlichen Verfahrensformen war der mündliche Prozess längst nicht so selten, wie vielfach angenommen wird. Gerade bei den Untergerichten bildete er die Regel und teilweise sogar die einzig zulässige Form.“
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mergericht.⁴⁹ Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es im Rahmen der aufgrund notorischer Überlastung nahezu an jedem Gericht notwendigen Sollicitatur⁵⁰ informell zu entscheidungsrelevantem mündlichem Sachvortrag von Agenten und Prokuratoren gekommen ist, der in den Prozessordnungen überhaupt nicht vorgesehen war. Kurzum: Obwohl die Justiz seit Jahr und Tag eine Unmenge von Papier verbraucht, vollzieht sich gerichtliche Schriftgutproduktion in einem Kontext, der durch Mündlichkeit und ein volatiles Wechselspiel von Formalität und Informalität geprägt ist. Ein kritischer hilfswissenschaftlicher Ansatz muss sich dieser Tatsache und damit seiner eigenen analytischen Grenzen bewusst bleiben. Trotz allem hat die in der Justizforschung bislang stark vernachlässigte genetische Aktenkunde viel zu bieten. Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes kann es indes lediglich darum gehen, die Schaltstellen eines kollegialgerichtlichen Geschäftsganges zu benennen, die in diesem Rahmen entstandenen Schriftquellen zu identifizieren und die damit verbundenen, über die Prozessakte wesentlich hinausreichenden Forschungsprobleme und -perspektiven in geraffter Form zu skizzieren. Der Anmerkungsapparat wurde dabei aus Platzgründen auf ein Minimum reduziert.⁵¹
3 Der Einlauf Üblicherweise beginnt die Aktenarbeit von Geschichtswissenschaftlern und Rechtshistorikern mit einer inhaltlichen Analyse der Klageschrift, denn mit dieser setzt eine Zivilprozessakte im Regelfall ein. Zumeist übersehen oder als uninteressant erachtet wird dabei eine dezent auf dem hinteren Außenmantel des Schriftstücks angebrachte Datumsangabe. Es handelt sich um das sogenannte Präsentatum, also den hand-
Als Zusammenfassung: Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte (wie Anm. 34), S. 171 f. Bei der Sollicitatur handelte es sich um das angesichts unzureichender institutioneller Ressourcen zur Bewältigung des Geschäftsanfalls vielerorts notwendige außergerichtliche Ansuchen einer Partei um Prozessbeschleunigung. Hierzu mit Blick auf das Reichskammergericht Bengt Christian Fuchs, Die Sollicitatur am Reichskammergericht. Köln/Weimar/Wien 2002 (QFHG, Bd. 40); zahlreiche Belege zur Sollicitatur am Reichshofrat bei: Thomas Dorfner, Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Rolle im Verfahren (1658–1740). Münster 2015 (Verhandeln/Verfahren/Entscheiden – Historische Perspektiven, Bd. 2). Sofern nicht anders angegeben, verweise ich für das Folgende vorläufig auf: Schenk, Die Vota (wie Anm. 39); ders., Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 10). Zum Potential (organisations-) soziologischer Theorieangebote: Tobias Schenk, Actum et judicium als analytisches Problem der Justizforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf kollegiale Entscheidungskulturen am Beispiel des kaiserlichen Reichshofrats. Wetzlar 2022 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 51).
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schriftlichen Vorläufer des gerichtlichen Posteingangsstempels.⁵² Ausgeklammert wird somit der aus institutioneller Perspektive erste Verfahrensschritt, dem gerade in politischen Systemen ohne Gewaltenteilung epochenübergreifend zentrale Bedeutung für alles Weitere zukommt. Denn eine soziale Auseinandersetzung wird nicht deshalb zu einem justizförmig geführten Prozess, weil es eine natürliche oder juristische Person so haben will, sondern weil ein Gericht die Klage dieser Person zur weiteren Bearbeitung annimmt. Im Rechtsstaat gibt es hierfür klare gesetzliche Regelungen und Zuständigkeitsabgrenzungen, weshalb es völlig unbedenklich ist, dass der Posteingangsstempel des Bundesgerichtshofes in der Wachtmeisterei von einem Beamten des einfachen Dienstes oder einem Tarifbeschäftigten geführt wird. Niemals käme der Bundesminister der Justiz auf die Idee, diese Aufgabe an den in der Besoldungsgruppe R 10 mit einem Monatsgehalt von rund 14.000 Euro eingruppierten Präsidenten zu delegieren. Rechtsstaaten führen keinen vergoldeten Eingangsstempel, weil auf dieser Ebene nichts entschieden wird. Schließlich gilt Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.“ In politischen Systemen ohne Gewaltenteilung bildete der Posteingang eines Gerichts allerdings keine Lappalie. Denn erst mit diesem Vermerk nahm das Gericht ein Schriftstück förmlich an und gestattete dem Kläger auf diese Weise die Beschreitung des Rechtsweges. Ohne Präsentatum existierte ein Schriftstück für das Gericht schlichtweg nicht. Über die Bedeutung dieses ersten Verfahrensschrittes täuschen Ordnungen wie diejenige des Hofgerichts im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken jedoch leicht hinweg. Dort oblag es dem Sekretär, bei eingegangenen Schriftstücken auff welchen Tag Monat und Jahr die einkommen außwendig darauff [zu] verzeichnen. ⁵³ Das Zweibrücker Beispiel steht für eine ganze Reihe frühneuzeitlicher Gerichte, an denen das Präsentatum durch Protonotare, Sekretäre oder Schreiber ausgeführt wurde. Allerdings bildete dieses Personal kein funktionales Äquivalent der Wachtmeisterei des Bundesgerichtshofes. Disziplinarrechtlich unterstanden die lediglich pro tempore zu den Gerichtlichen Sachen bestellte[n]⁵⁴ Sekretäre und Protonotare in der Regel nicht dem Gericht, sondern der landesherrlichen Kanzlei.⁵⁵ Fürst und Regierungsapparat waren somit potentiell jederzeit in der Lage, sich
Zur Präsentation Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 20), S. 65 f. So nach der Ordnung von 1722, Tit. V. Siehe: Hoffgerichts-Ordnung des Herzogthums Zweybrücken […]. Zweibrücken 1722, S. 7. So beispielsweise nach der Ordnung des Hofgerichts zu Paderborn von 1720, Tit. III, zitiert nach Thorsten Süss, Partikularer Zivilprozess und territoriale Gerichtsverfassung. Das weltliche Hofgericht in Paderborn und seine Ordnungen 1587–1720. Köln/Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 69), S. 455. Am Reichskammergericht und am Reichshofrat verfügte der Kurfürst von Mainz als Reichserzkanzler über die Kanzleihoheit. Siehe: Bernhard Diestelkamp, Der Reichserzkanzler und das
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von Beginn an einen Überblick über laufende Verfahren zu verschaffen⁵⁶ und sich gegebenenfalls noch vor Prozessbeginn hinter den Kulissen darauf vorzubereiten. Dies war deshalb wichtig, weil Justizförmigkeit dem Fürsten zwar zur Legitimation durch Verfahren dienen mochte, ihn jedoch im Gegenzug ebenso wie die Parteien dazu zwang, von Erwägungen reiner politischer Zweckmäßigkeit zu abstrahieren und sich stattdessen auf vorab definierte Verfahrensregeln und ein prinzipiell kontingentes Ergebnis einzulassen. Diese „Rollenübernahme“⁵⁷ hatte aus Sicht des Herrschers also nicht nur Vorteile, so dass sich die Frage stellt, ob die frühzeitige Kenntnis von Eingängen auch dazu genutzt werden konnte, unliebsame Gerichtsverfahren zu vermeiden oder gar Justizverweigerung zu betreiben. Nach Antworten auf diese Frage sucht man am besten an jenen Gerichtshöfen, die das Präsentatum in die Hände höchster Funktionsträger legten, also gewissermaßen als R‐10‐Aufgabe behandelten. Zu diesen Instanzen zählte der Reichshofrat, wo die alltäglich eingehende Post (obwohl es Protonotare und Sekretäre natürlich auch am Kaiserhof gab) durch niemand anderen als den Präsidenten geöffnet und präsentiert wurde.⁵⁸ So weit oben in der Hierarchie war das Präsentatum aus dem einfachen Grund angesiedelt, weil es anders als in der Gegenwart keinen Automatismus, sondern eine tatsächliche Entscheidung darstellte, die auch negativ ausfallen konnte. Zwar hatten alle habsburgischen Kaiser seit Karl V. den Passus der Wahlkapitulation unterschrieben, wonach sie eine ordenliche swebende Rechtvertigung nit verhin-
Reichskammergericht, in: ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich. Frankfurt a. M. 1999 (Ius Commune Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 122), S. 309–324 (hier S. 314 f.). Diese wichtige Beobachtung macht: Florian Lebkücher, Die Grafschaft Tecklenburg und die Justizreform von 1613. Münster 2019 (Westfalen in der Vormoderne, Bd. 31), S. 98. Ähnliche Befunde mit Blick auf das Hofgericht zu Rottweil, wo der Gerichtsschreiber zugleich das Stadtschreiberamt ausübte, bei: Ulrike Schillinger, Die Neuordnung des Prozesses am Hofgericht Rottweil 1572. Entstehungsgeschichte und Inhalt der Neuen Hofgerichtsordnung. Köln/Weimar/Wien 2016 (QFHG, Bd. 67), S. 69 f. Hierzu Luhmann, Legitimation durch Verfahren (wie Anm. 10), S. 82–90. Reichshofratsordnung von 1654, Tit. III § 1. Siehe Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766, 2 Bde. Köln/Wien 1980/1990 (QFHG, Bd. 8), hier Bd. 2, S. 131 f. Auf die Präsentation von später im Reichshofrat bearbeiteten Eingängen durch den Reichsvizekanzler, der über 1648 hinaus vor allem im Gratialbereich eine gewisse Bedeutung zukam und die auch bei der quellenkritischen Analyse des weiter unten erwähnten Exhibitenprotokolls zu berücksichtigen wäre, wird im vorliegenden Beitrag aus Platzgründen nicht näher eingegangen. Ich verweise hierzu auf laufende Forschungen meines Kollegen Ulrich Rasche.
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dern noch verbieten, sonnder den freyen, stracken Lawff lassen ⁵⁹ würden. Tatsächlich wurden jedoch insbesondere unter Karl VI. informelle, gegenüber der Außenwelt geheim gehaltene Deputationen eingesetzt, in denen unter Beiziehung von Mitgliedern erbländischer Behörden darüber beraten wurde, ob die Behandlung einer Sache im Reichshofrat mit den österreichischen Hausmachtinteressen konform ginge.⁶⁰ Noch unter Joseph II. wurden Eingänge auf Weisung des Präsidenten auf andere, nicht justizförmig ausgestaltete Wege höfischen Entscheidens umgeleitet, ohne je im Plenum beraten worden zu sein.⁶¹ Das Präsentatum ließ sich zwar nicht in schrankenloser Willkür verweigern, sondern unterlag insbesondere gegenüber jenen Klägern, die sich auch anderweitig Gehör zu verschaffen gewusst hätten, zahlreichen politischen Sachzwängen. Ein brauchbares Werkzeug zu massenhaft betriebener Justizverweigerung dürfte der präsidiale Genehmigungsvorbehalt bei der Präsentation also kaum gewesen sein. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass ein rein schriftliches Verfahren, wie es am Reichshofrat seit Abschaffung der Audienz im frühen 17. Jahrhundert üblich war, für ein erhebliches Maß an Intransparenz im Verkehr zwischen Gericht und Partei sorgte, das sich der Hof im Zweifelsfall zunutze machen konnte. Dass hierbei – sei es nun aus Gründen politischer Opportunität oder präsidialer Indolenz – die Grenze zu faktischer Justizverweigerung wiederholt überschritten wurde, legen gegen den Reichshofratspräsidenten in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges laut gewordene Klagen nahe, er lasse zahlreiche Eingänge einfach in seiner Privatwohnung liegen.⁶² Ähnliche Beschwerden sind im Übrigen auch für „modernere“ Gerichtshöfe wie die 1749 gegründete Oberste Justizstelle der österreichischen Erblande überliefert und umso ernster zu nehmen, als selbst in internen Gutachten davon die Rede ist.⁶³ Hinter dem unscheinbaren Eingangsvermerk verbergen sich somit verfassungsgeschichtliche Strukturen von großer Tragweite. Ihre Aufdeckung stellt Studien zur vormodernen Justiz vor allem deshalb vor große und bislang kaum erkannte Herausforderungen, weil die Registrierung eingekommener Schriftsätze in einem Posteingangsbuch zumeist wohl erst im Anschluss an ein erfolgtes Präsentatum vorgenommen wurde. Soweit ich sehe, verfügt die Forschung deshalb praktisch für keinen Gerichtshof über Quellen zur exakten Bemessung des tatsächlichen
So in der Wahlkapitulation Karls V. von 1519. Zitiert nach Wolfgang Burgdorf (Bearb.), Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519–1792. Göttingen 2015 (Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, Bd. 1), S. 27. Schenk, Die Vota (wie Anm. 39), S. 305–315. Peter Leyers, Reichshofratsgutachten an Kaiser Josef II. Bonn 1976, S. 125–127. Schenk, Die Vota (wie Anm. 39), S. 283. Michael Friedrich von Maasburg, Geschichte der obersten Justizstelle in Wien (1749–1848). Prag 1879, S. 58.
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Geschäftsanfalls, sondern kann nur mit jenen Dokumenten arbeiten, die einen ersten obrigkeitlichen Filter erfolgreich durchlaufen haben. Die Präsentationspraxis markiert somit die unmittelbare Nahtstelle zwischen Justiz und Infrajustiz, bleibt jedoch im Prozessschriftgut der Vormoderne, in dem all jene schweigen, denen der Zutritt zur Via Juris womöglich verweigert wurde, weitgehend intransparent.⁶⁴ Wenngleich sich die Frage nach politisch motivierter Justizverweigerung mit Blick auf den Reichshofrat besonders nachdrücklich stellt, ist dabei meines Erachtens auch auf territorialer und lokaler Ebene eine erhebliche Dunkelziffer einzukalkulieren. Schließlich ist kaum davon auszugehen, dass jedes Opfer derartiger Machenschaften de facto in der Lage war, die Reichsgerichte anzurufen. Neben ökonomischen Hürden der Justiznutzung spricht hiergegen auch die häufig übersehene Tatsache, dass erhebliche Teile der Reichsbevölkerung in einem von physischer Gewalt geprägten Umfeld lebten.⁶⁵ Wenn man mit Blick auf das Alte Reich von „verfassungsmäßig einklagbaren Rechten für jedermann“⁶⁶ spricht, mag es
Vgl. Karl Härter, Konfliktregulierung im Umfeld frühneuzeitlicher Strafgerichte: Das Konzept der Infrajustiz in der historischen Kriminalitätsforschung, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 95 (2012), S. 130–144 (hier S. 133). Zum Gewaltaspekt besonders eindrücklich: Sonja Köntgen, Gräfin Gessler vor Gericht. Eine mikrohistorische Studie über Gewalt, Geschlecht und Gutsherrschaft im Königreich Preußen 1750. Berlin 2019 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Forschungen, Bd. 14). Von der Rechtsverweigerungsbeschwerde an die Reichsgerichte konnte man in Preußen im 18. Jahrhundert de facto nur noch Gebrauch machen, wenn man sich dem Zugriff des Königs zuvor durch Flucht in ein Nachbarterritorium entzogen hatte. Beispiele bei: Tobias Schenk, Das Alte Reich in der Mark Brandenburg. Landesgeschichtliche Quellen aus den Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 63 (2012), S. 19–71 (hier S. 61–66). Andererseits wäre zu berücksichtigen, dass mitunter auch die Interessen einfacher Untertanen auf Justizverweigerung abzielen konnten. Am Beispiel der Landgrafschaft Hessen konnte Armand Maruhn aufzeigen, dass Bauern gegenüber ihren Grundherren im 16. und 17. Jahrhundert den teuren und langwierigen Rechtsweg scheuten und deshalb an den Landgrafen supplizierten, Hofgerichtsprozesse einzustellen und stattdessen extrajudizial vor der Kanzlei in Marburg oder Kassel zu verhandeln. Siehe: Armand Maruhn, Prozesse niederadeliger Grundherren gegen Dorfgemeinden vor dem hessischen Hofgericht 1500–1620. Ein Beitrag zum Konzept der „Verrechtlichung sozialer Konflikte“ in der Frühen Neuzeit, in: Werner Conze/Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Marburg 2010 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 70), S. 269–291 (hier S. 283 f.). Wolfgang Burgdorf, Rezension von: Matthias Klöppel, Revolution und Reichsende. Der Transformationsprozess von 1789 bis 1806 im Spiegel ausgewählter Leipziger Periodika, Wiesbaden 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 4 [15.04. 2020], URL: http://www.sehepunkte.de/2020/04/33881.html (abgerufen am 18. Januar 2023).
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deshalb nicht schaden, sich bei der Lektüre von Prozessakten der Reichsgerichte von Zeit zu Zeit das Sprichwort „Russland ist groß und der Zar ist weit“ ins Gedächtnis zu rufen. Dass die Verweigerung des Präsentatums jedenfalls ein reales Phänomen der Rechtspraxis im 18. Jahrhundert bildete, verdeutlicht die Tatsache, dass sich Nikolaus Thaddäus Gönner noch 1804 kritisch mit der Rechtsmeinung auseinandersetzen musste, dem Richter stehe schon vor Annahme einer Schrift ein Prüfungs- und Ablehnungsrecht zu.⁶⁷
4 Der Innenlauf Die Registrierung präsentierter Schriftstücke in einem zeitgenössisch oft als Exhibitenprotokoll bezeichneten und durch den Notar geführten Posteingangsbuch wird von der genetischen Aktenkunde gemeinhin der Einlaufphase zugerechnet.⁶⁸ Da das Präsentatum und damit auch die Registrierung keinen Automatismus darstellten, markiert sie aus meiner Sicht jedoch bereits die erste Etappe des Innenlaufs. Aufgrund des vorgelagerten Filters stellt ein gerichtliches Einlaufprotokoll, wie es beispielsweise am Reichshofrat seit dem frühen 17. Jahrhundert geführt wurde, keine Quelle zur exakten Bemessung des tatsächlichen Geschäftsanfalls dar, sondern dokumentiert nur jene Schriftstücke, die es bis in den Innenlauf geschafft haben. Vorbehaltlich dieser Einschränkung gibt es jedoch keine andere Quelle, die uns näher an den Einlauf heranführen würde. Sofern ein Exhibitenprotokoll überliefert ist, verdient es im Rahmen von quantifizierenden Studien zur Geschäftstätigkeit des Spruchkörpers also unbedingten Vorrang gegenüber dem im Geschäftsgang nachgelagerten Sitzungsprotokoll, zumal die Arbeit der vormodernen Gerichte nahezu allerorten durch eine erhebliche Diskrepanz zwischen Einlauf und Erledigung gekennzeichnet war. An die Registrierung im Posteingangsbuch schloss sich die Geschäftsverteilung an, die notwendig war, weil es sich bei Kollegialgerichten entgegen den ursprünglich mit dem Kollegialprinzip verbundenen Vorstellungen seit dem ausgehenden Mittelalter de facto um hochgradig arbeitsteilig organisierte Institutionen handelt. Bereits im 16. Jahrhundert hatte man nämlich unter dem Diktat des steigenden Geschäftsanfalls endgültig von dem Ideal Abschied nehmen müssen, alle Eingänge gemeinsam im Plenum zu lesen, um sodann auf Grundlage gleichmäßiger Aktenkenntnis aller Beisitzer zu entscheiden. Fortan lasen nicht mehr alle alles, son-
Nikolaus Thaddäus Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses in einer ausführlichen Erörterung seiner wichtigsten Gegenstände, Bd. 1. Erlangen 1804, S. 225 f. Hochedlinger, Aktenkunde (wie Anm. 20), S. 67–69.
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dern ein Berichterstatter (Referent) bereitete die Akte auf und unterbreitete dem Spruchkörper einen Entscheidungsvorschlag. Auf diese Weise entstand zwangsläufig ein informationelles Ungleichgewicht zugunsten eines einzelnen Beisitzers (und eines gegebenenfalls ernannten Korreferenten), das im Vergleich zur Gegenwart noch dadurch verstärkt wurde, dass die meisten Gerichte aus Geheimhaltungsgründen auf ein die Sitzung vorbereitendes Umlaufverfahren verzichteten.⁶⁹ Es ist sogar fraglich, ob die Beisitzer im Vorfeld auch nur über die Tagesordnung informiert wurden. Nicht der Fall war dies offenbar am Reichshofrat, der in einem 1767 für Kaiser Joseph II. erstellten Gutachten ausführte, es müssten die nicht referierenden Beisitzer aus dem Stegreif zu votiren sich gefallen laßen. ⁷⁰ Angesichts der fachlich, ständisch und mitunter auch konfessionell äußerst heterogenen Zusammensetzung vormoderner Spruchkörper änderte die Professionalisierung der juristischen Methodenlehre (Relationstechnik) kaum etwas daran, dass die Geschäftsverteilung ein wichtiges Steuerungsinstrument darstellte, mit dessen Hilfe bereits vor der erstmaligen Beratung einer Sache im Plenum eine Richtungsentscheidung getroffen werden konnte. Für die kollegialgerichtliche Entscheidungskultur der Frühen Neuzeit war es deshalb von entscheidender Bedeutung, dass die Geschäftsverteilung praktisch allerorten – bis zum Reichsschluss von 1775 selbst am Reichskammergericht⁷¹ – als weithin monokratische Ermessensentscheidung des Behördenvorstandes ausgestaltet war. Wie wenig in der täglichen Praxis jene in zahlreichen Gerichtsordnungen enthaltenen Vorgaben zu sagen hatten, wonach der Vorstand auf eine gleichmäßige Arbeitsbelastung der Beisitzer zu achten habe,⁷² zeigt das Beispiel des Reichshofrats. Ausweislich der die Geschäftsverteilung durch den Präsidenten dokumentierenden Referentenbücher, die für den Zeitraum vom späten 17. Jahrhundert bis 1806 geschlossen überliefert sind, war die Zuschreibungspraxis durch extreme Ungleichgewichte gekennzeichnet. Nicht nur referierten die Mitglieder der Gelehrtenbank im Durchschnitt wesentlich mehr als ihre Kollegen von der Herrenbank. Auch innerhalb der Gelehrtenbank bestanden gravierende Unterschiede Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 10), S. 162. Österreichisches Staatsarchiv, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv (künftig: ÖStA HHStA), RK, RHR, Verfassungsakten, K. 8, Konv. 3, Nr. 2. Allerdings gibt es aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert Hinweise, dass den Reichshofräten die Tagesordnung zumindest fallweise bekannt war. Siehe hierzu den Beitrag von Eva Ortlieb in diesem Band. Ich danke der Autorin für die Möglichkeit, vorab in ihr Manuskript Einsicht zu nehmen. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil I: Darstellung. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 26/I), S. 113 f. So beispielsweise in der Reichshofratsordnung von 1654 (Tit. IV § 2). Siehe Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates (wie Anm. 58), Bd. 2, S. 158 f.
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zwischen den einzelnen Beisitzern.⁷³ Dass dies in der Vormoderne keineswegs ein Einzelfall war, verdeutlicht ein Blick auf das mit sieben Räten besetzte badische Revisionskollegium, an dem im Jahr 1801 zwei Räte 90 von insgesamt 142 Relationen übernahmen.⁷⁴ Zumindest bei herrschernahen Gerichten liegt es nahe, in diesen Zahlen nicht allein einen Spiegel unterschiedlicher individueller Leistungsfähigkeit zu erblicken, sondern eine gezielte Heranziehung von Räten zu vermuten, die dem Gerichtsvorstand oder dem Fürsten genehmer waren als ihre Kollegen. Sofern für das zu untersuchende Gericht das in der Regel vom Protonotar geführte Referentenprotokoll⁷⁵ überliefert ist, stellt dieses also eine erstrangige Quelle zur Offenlegung der gremieninternen Hierarchie dar. Hierzu wäre mit Blick auf jene Gerichte, die wie das Reichskammergericht oder das Berliner Kammergericht in Senate gegliedert waren, auch die Frage zu klären, ob und in welchem Maße der Vorstand ad hoc auf die personelle Zusammensetzung des Spruchkörpers Einfluss nehmen konnte. Waren Präsentierung und Registrierung erfolgt, verließ das Schriftstück physisch das Gerichtsgebäude und wurde durch den zum Berichterstatter bestimmten Beisitzer zur weiteren Bearbeitung mit nach Hause genommen. Im Zuge der seit der Frühen Neuzeit praktizierten Geschäftsverteilung mutierte die Privatwohnung des einzelnen Richters somit zu einem „Aktenumschlagplatz“.⁷⁶ In organisationssoziologischer Hinsicht ist die Tatsache, dass die Beisitzer ihre Relationen⁷⁷ in der Regel nicht in Büroräumen (die es in der Frühen Neuzeit noch gar nicht gab), sondern zu Hause erstellten, von allergrößter Bedeutung. Schließlich hieß dies nichts anderes, als dass ein mehrheitlich nicht über unmittelbare Aktenkenntnis verfügender Spruchkörper seine Beschlussvorlagen durch eine Einzelperson in einem Rahmen erarbeiten ließ, der direkter kollegialer Kontrolle ebenso entzogen war wie einer wirksamen Disziplinaraufsicht durch Behördenvorstand und Gerichtsherrn. Ihre volle, zentrale frühneuzeitliche Prozessmaximen aushebelnde Wirkung entfaltete diese Konstellation in Kombination mit der Sollicitatur, auf die nahezu jedes Obergericht zur Priorisierung der Verfahrenserledigung zurückgegriffen haben dürfte. Um zu verhindern, dass der fürstliche Gerichtsherr oder der Behör-
Ich arbeite derzeit an einer statistischen Auswertung der Referentenbücher, deren Ergebnisse ich anderen Orts publizieren werde. Lenel, Badens Rechtsverwaltung (wie Anm. 40), S. 160. Ebenso wie das Eingangsprotokoll wurde das Referentenbuch in der Regel durch den Protonotar geführt. Als Beispiel aus dem Bereich der Territorialgerichtsbarkeit: Süss, Partikularer Zivilprozess (wie Anm. 54), S. 459. Sie ist es bis heute geblieben. Zitat bei: Gertrude Lübbe-Wolff, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht. Osnabrück 2015 (Osnabrücker Universitätsreden, Bd. 9), S. 15. Siehe zu den reichshofrätlichen Relationen den Beitrag von Eva Ortlieb in diesem Band.
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denvorstand tagtäglich von um Prozessbeschleunigung nachsuchenden Supplikanten behelligt wurde, ließen nämlich Gerichtshöfe wie der Reichshofrat das normativ verankerte Referentengeheimnis informell fallen.⁷⁸ Spätestens im 18. Jahrhundert waren deshalb vielerorts Besuche von Sollicitanten und Parteien in den Privatwohnungen der Referenten an der Tagesordnung. Mündlichem Vortrag in der Sache, der in der Reichshofratsordnung überhaupt nicht vorgesehen war, wurde hierdurch ebenso Tür und Tor geöffnet wie einer jedenfalls vor 1766 (josephinisches Geschenkannahmeverbot) geradezu systemischen Korruption.⁷⁹ Deren immense Tragweite ist der Forschung bislang weitgehend verborgen geblieben,⁸⁰ weil es zumeist nicht platterdings darum ging, ein Urteil einzukaufen, sondern Einfluss darauf auszuüben, welche Verfahren überhaupt im Spruchkörper beraten werden und welche auf dem Schreibtisch des Referenten liegenbleiben sollten. Über die Sollicitatur schlug die soziale Ungleichheit der vormodernen Ständegesellschaft also sehr wohl auf das Verfahren durch. Die Erforschung dieser Zusammenhänge auf Grundlage von Parteienüberlieferung bildet deshalb ein dringend notwendiges
Gemäß Reichshofratsordnung von 1654, Tit. IV § 2 sollten die referenten aber jederzeit in der still und verschwigen gelassen werden. Tit. IV § 13 bestimmte: Da aber der referent und correferent durch die partheyen verkundtschaft oder bekandt sein würde, soll er durch den praesidenten der sachen aus dießen oder andern erheblichen bedenckhen entladen unndt dieselbe einem andern, auch hingegen dem vorigen referenten gleich andere acta ad referendum gegeben, keinesweegs aber solche veränderung ihnen, den referenten, da sie selbsten nit ursach darzue geben, verweißlich oder an ihren ehren unndt gueter existimation nachtheilig gemacht und verstanden, gegen einen schuldigen aber deßwegen erfahrung eingezogen werden. Zitiert nach Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates (wie Anm. 58), Bd. 2, S. 159, 170. Die Diskrepanz zwischen Norm und Praxis verdeutlicht ein launiges internes Gutachten von 1740: Wann dieses Platz haben sollte, so würde gewißlich kein eintziger Rath die ihme zugetheilte Acten behalten, sondern eine General-Veränderung aller Referenten vorgenohmen werden müssen. Siehe ÖStA HHStA, MEA, Reichshofrat, K. 10a, Nr. 1 (Tit. 4 § 13). Hierzu mit Blick auf den Reichshofrat vorerst Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji (wie Anm. 10), S. 162 f., Anm. 250, S. 176–179. Bei aller zweifellos zu berücksichtigenden Ambiguität frühneuzeitlichen Gabentausches sollte die Justizforschung angesichts eines in praktisch allen frühneuzeitlichen Gerichtsordnungen verankerten Geschenkannahmeverbots und eines bereits unter Zeitgenossen geführten Korruptionsdiskurses am Korruptionsbegriff festhalten, dessen analytische Tragfähigkeit unter Beweis stellt: Christoph Rosenmüller, Corruption and Justice in Colonial Mexico, 1650–1755. Cambridge 2019 (Cambridge Latin America Studies, Bd. 113). Bekannt ist insbesondere die sog. Affäre Papius am Reichskammergericht. Siehe: Anette Baumann/Anja Eichler (Hrsg.), Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht. Petersberg 2012. Vgl. auch: Stefan Ehrenpreis, Korruption im Verfahren. Bestechung an den höchsten Reichsgerichten zwischen Gerichtsfinanzierung und Rechtsbeugung, in: Niels Grüne/Simone Slanicka (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Göttingen 2010, S. 283–306; Wolfgang Sellert, Richterbestechung am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: Friedrich Battenberg/Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 329–348.
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Korrektiv der Prozessakten, die von der Sollicitatur im Regelfall nichts vermelden und deshalb den unzutreffenden Eindruck einer weitgehenden prozessrechtlichen Gleichstellung der Parteien vermitteln. Entscheidungsrelevante Kontakte außerhalb des Plenums unterhielten die Referenten jedoch nicht nur zu den Parteien, sondern auch zum Behördenvorstand. Informelle, den Kollegialakt tendenziell entwertende Vorabgespräche zwischen Beisitzern und Senatsvorsitzendem sind noch heute weit verbreitet, ohne dass es hierfür gesetzliche Regelungen gäbe.⁸¹ In politischen Systemen ohne Gewaltenteilung kam derartigen Konsultationen jedoch eine ungleich größere Bedeutung zu. Am Reichskammergericht sind im Vorfeld von Senatssitzungen informelle Gespräche reichsständischer Prokuratoren mit dem Kammerrichter belegt, der sodann die Referenten entsprechend anwies.⁸² Wie das Beispiel des Reichshofrats zeigt, waren dabei die Grenzen zwischen notwendiger diplomatischer Absicherung gerichtlicher Entscheidungen und Rechtsbeugung durchaus fließend. Zumindest bis 1740 zog nämlich der Reichshofratspräsident in politisch relevanten Prozessen die Berichterstatter und ausgewählte Vertrauenspersonen zu informellen Beratungen in kleinem Kreis heran, die gegen die kaiserliche Wahlkapitulation verstießen und deshalb nach außen geheim gehalten wurden.⁸³ Diese keineswegs seltenen Konsultationen, die weder in der Prozessakte noch im Sitzungsprotokoll einen Niederschlag fanden (und dies auch nicht sollten), zielten darauf, die politischen Interessen des Hofes bereits bei der Abfassung der Relation einzuspeisen und somit in eine juristische Sprache zu transformieren, die im Plenum des Reichshofrats anschlussfähig war. Mitunter ging es aber auch in bereits laufenden Verfahren darum, Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung soll der Vorsitzende über die personelle Fluktuation der Beisitzer hinweg die Kohärenz der Spruchtätigkeit sichern und hierzu einen „richtungweisenden Einfluss“ geltend machen. Kritik an einem als autoritär wahrgenommenen Amtsverständnis von Vorsitzenden wurde insbesondere in den 1970er Jahren formuliert, etwa mit Blick auf das Oberlandesgericht Köln von Egon Schneider, Ideal und Wirklichkeit der „Wertverschiedenheit der Richterämter“, in: Deutsche Richterzeitung 1973, S. 20 f., hier S. 21: „Voten der Beisitzer werden [durch den Vorsitzenden] wie Schularbeiten behandelt: am Rande wird mit ‚r‘ (= richtig!) korrigiert.“ Plakativ äußerte sich unlängst mit Blick auf die ordentliche Gerichtsbarkeit ein anonym bleibender Verfassungsrichter folgendermaßen: „Da soll[en] ja bei Spruchkörpern der Vorsitzende und der Berichterstatter eigentlich die Geschichte unter sich ausmachen und der oder die Beisitzenden stimmen dann zu.“ Zitiert nach Uwe Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts. Wiesbaden 2010, S. 146. Aufschlussreiche Informationen zur gegenwärtigen Rolle der Vorsitzenden in Österreich finden sich bei:Veronika Haberler, Die höchstgerichtliche Entscheidung. Eine empirische Studie zur Entscheidungsfindung in Zivilrechtssachen am OGH. Wien 2014. Simon Reuter, Revolution und Reaktion im Reich. Die Intervention im Hochstift Lüttich 1789– 1791. Münster 2019 (Verhandeln/Verfahren/Entscheiden – Historische Perspektiven, Bd. 5), S. 183. Hierzu vorerst Schenk, Die Vota (wie Anm. 39), S. 305–315.
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eine weitere Beratung im Plenum hinauszuzögern oder zu unterbinden, also Verschleppung bis hin zur Justizverweigerung zu betreiben oder missliebige Parteien zu Zwangsvergleichen zu nötigen. Dies verdeutlichen intern dokumentierte Proteste einzelner Reichshofräte aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die mit ihrem Widerstand gegen diese politisch motivierte Rechtsbeugung jedoch vor 1740 offenbar nicht durchdrangen, sondern in höfischen Kreisen als juristische „Pedanten“ ohne staatsmännisches Gespür diffamiert wurden. Das Beispiel des Reichshofrats erhellt, wie viele Entscheidungen an einem frühneuzeitlichen Kollegialgericht bereits getroffen worden waren oder zumindest getroffen worden sein konnten, bevor der Spruchkörper erstmals zu Beratung und Abstimmung zusammentrat. Dass wir über die Sitzungen frühneuzeitlicher Gerichtshöfe mitunter erheblich besser informiert sind als über die Beratungen von Spruchkörpern unserer Gegenwart, hängt damit zusammen, dass das richterliche Beratungsgeheimnis, dem zufolge eine Protokollierung der Beratung nicht stattfinden darf, in Deutschland erst relativ spät gesetzlich fixiert wurde. In seiner jetzigen Form wurde das Beratungsgeheimnis durch § 43 des Deutschen Richtergesetzes von 1961 geschaffen, wonach der Richter über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen hat. Dieser legislative Akt erfolgte so spät, weil richterliche Verschwiegenheit die längste Zeit hindurch als selbstverständlicher Bestandteil der Amtsverschwiegenheit betrachtet wurde.⁸⁴ Die hier nicht im Detail zu verfolgende Evolution des vormodernen richterlichen Amts- zum heutigen Beratungsgeheimnis ist insofern von großer empirischer Bedeutung, als das frühneuzeitliche Amtsgeheimnis den Gerichtsherrn keineswegs miteinschloss, sondern nur an die Adresse der Öffentlichkeit gerichtet war. Anders als die Exekutive der Gegenwart galt der Fürst als Träger der Justizhoheit prinzipiell als befugt, im Rahmen der Disziplinaraufsicht Einblick in das Beratungsgeschehen zu nehmen. Aus diesem Grund führten zahlreiche Gerichtshöfe bis zum Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze (1879) Ergebnis- oder Verlaufsprotokolle, bei denen es sich also primär nicht um Hilfsmittel zur Gewährleistung kohärenter Spruchtätigkeit, sondern um gerichtsherrliche oder ministerielle Kontrollinstrumente gegenüber dem Kollegium handelte, auf die sowohl ad hoc als auch im Rahmen von Visitationen zurückgegriffen werden konnte.⁸⁵ Darüber hinaus spielte das Protokoll
Peter Düwel, Das Amtsgeheimnis. Berlin 1965 (Schriftenreihe der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Bd. 23); Carl Günther von Coelln, Das Beratungsgeheimnis. Sein Gegenstand und seine Wirkungen mit Berücksichtigung der Abstimmungsmethode. Berlin 1931 (Prozessrechtliche Abhandlungen, Bd. 6). Die Überprüfung eines Votenprotokolls im Rahmen einer Visitation der audiencia in MexikoStadt im Jahr 1717 beschreibt Rosenmüller, Corruption (wie Anm. 79), S. 198 f.
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im (dem Anspruch nach) rein schriftlichen Verfahren des Reichshofrats auch in der Kommunikation zwischen Gericht und Parteien eine wichtige Rolle, da diese in der Reichskanzlei nur mit Hilfe von Protokollauszügen die Expedition erlangter Entscheidungen beantragen konnten. Bis zu einem gewissen Grad besaßen die Parteien also durchaus Kenntnis vom Inhalt des reichshofrätlichen Protokolls, sofern zahlungskräftige Reichsstände durch Bestechung des Kanzleipersonals nicht ohnehin in den Besitz von Abschriften ganzer Jahrgänge gelangten. Diese Entstehungszwecke sind demnach neben den allgemein mit der Archivierung von Mündlichkeit verbundenen Problemen⁸⁶ bei der Arbeit mit frühneuzeitlichen Gerichtsprotokollen unbedingt zu berücksichtigen. Weder ein Ergebnisprotokoll, wie es am Reichshofrat geführt wurde (Resolutionsprotokoll), noch ein Verlaufsprotokoll, wie es das Reichskammergericht kannte (Votenprotokoll),⁸⁷ verrät dem Leser, wie es in der Beratung eigentlich gewesen ist. Auch in der Vormoderne war das Wechselspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit an keiner Stelle des kollegialgerichtlichen Geschäftsganges so komplex wie in der gemeinsamen Sitzung. Denn über die gruppenpsychologische Atmosphäre, in der sich kollegiale Rechtserkenntnis vollzog, verrät ein Protokoll nur wenig. Da die gemeinsame Beratung und Entscheidung jedoch den Dreh- und Angelpunkt jedes kollegialgerichtlichen Prozesses darstellt, darf die Forschung diesem Verfahrensschritt nicht ausweichen, sondern muss versuchen, sich ihm trotz aller quellenbedingten Probleme zumindest anzunähern. Am Beginn jeder Auseinandersetzung hat dabei die Erkenntnis zu stehen, dass Sitzungsprotokolle keine Quelle zur statistischen Erfassung des Geschäftsanfalls darstellen. Angesichts der erheblichen Diskrepanz zwischen der Zahl der tatsächlichen Eingänge und den vorhandenen institutionellen Ressourcen muss deshalb die erste Frage lauten, wie die protokollierte Tagesordnung überhaupt zustande gekommen ist. Denn die Entscheidung zur Beratung der einen Sache war häufig gleichbedeutend mit dem Liegenbleiben einer anderen (sofern sich diese nicht in der Zwischenzeit ohnehin außergerichtlich erledigt hatte). Die Forschung darf sich nicht nur mit Beispielen erfolgreicher Justiznutzung beschäftigen, sondern muss ihr
Vgl. Rainer Polley, Die Archivierung der Mündlichkeit. Protokollierung in kollegialen Gremien, in: Andreas Metzing (Hrsg.), Digitale Archive – Ein neues Paradigma? Beiträge des 4. Archivwissenschaftlichen Kolloquiums der Archivschule Marburg. Marburg 2000 (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 31), S. 253–273. Das Bundesarchiv Berlin verwahrt im Unteilbaren Bestand des Reichskammergerichts 444 Bände der Extrajudizial- und 405 Bände der Judizialsenate mit einer Laufzeit von 1711 bis 1806. Zu den Extrajudizialsenatsprotokollen vgl. den Beitrag von Stefan Andreas Stodolkowitz in diesem Band.
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Augenmerk auch auf jene Kläger richten, die kein rechtliches Gehör gefunden haben. Prinzipiell spiegelt sich in den Tagesordnungen frühneuzeitlicher Kollegialorgane in Justiz und Verwaltung das Zusammenwirken der beiden Steuerungsmechanismen Ordo personarum und Ordo causarum. ⁸⁸ Der Ordo personarum normierte ein gemeinhin als Turnus bezeichnetes Rotationssystem, das festlegte, welcher Beisitzer an welchem Tag mit dem Vortrag seiner Referate an der Reihe war. Währenddessen sollte mit Hilfe des Ordo causarum die Reihenfolge der zum Vortrag kommenden Sachen geregelt werden. Näheres hierzu enthielten die Gerichtsordnungen, welche häufig neben der Bearbeitung in der Reihenfolge des Einlaufs die prioritäre Behandlung von Verfahren mit Beteiligung von Witwen und Waisen oder kirchlichen Korporationen vorsahen. Was einfach und übersichtlich klingt, war im Gerichtsalltag alles andere als das. Denn die Behördenvorstände besaßen vielfach das Recht, den Berichterstattern die Vorziehung bestimmter Referate zu befehlen. Der Reichshofratspräsident übte darüber hinaus einen Genehmigungsvorbehalt bei Endurteilen aus, über die ohne seine vorherige Erlaubnis erst gar nicht beraten werden durfte.⁸⁹ Präsidialen Ad-hoc-Eingriffen in die Tagesordnung war somit vielerorts Tür und Tor geöffnet. Über die Sollicitatur nahmen schließlich auch die Parteien informellen Einfluss auf die Tagesordnung, da nicht sollicitierte Verfahren kaum Aussicht auf Beratung im Spruchkörper hatten. De facto vermischte sich in der Tagesordnung also der Einfluss von Behördenvorstand, Beisitzern und sollicitierenden Parteien auf eine normativ nur bedingt vorgesehene Weise, welche sich aber ex post anhand des Protokolls kaum im Detail rekonstruieren lassen dürfte. Was schließlich die Bearbeitung der tatsächlich zur Beratung gelangten Materien betrifft, ist mit Blick auf eventuell überlieferte Relationen zu berücksichtigen, dass diese Referate in weitgehender Ermangelung von Umlaufverfahren ihre kognitive Wirkung auf die Beisitzer nicht als geschriebener Text, sondern als mündlich gehaltener Vortrag entfalteten, also im Kontext juristischer Rhetorik⁹⁰ zu ver Hierzu zeitgenössisch: Johann Nicolaus Bischoff, Handbuch der teutschen Canzlei-Praxis für angehende Staatsbeamte und Geschäftsmänner, Bd. 1. Helmstedt 1793, S. 106 f. Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates (wie Anm. 58), Bd. 2, S. 174 f. Zur Einführung: Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik. 5. Aufl. Heidelberg 2015. Bei einer praxeologisch angelegten Analyse von Relationen wäre im Übrigen auch die von manchen Rechtspraktikern geäußerte Ansicht zu berücksichtigen, dass die juristische Rhetorik die physische Aufnahmefähigkeit der Zuhörer regelmäßig überfordere. Hierzu gewohnt bissig Feuerbach, Betrachtungen (wie Anm. 30), S. 115 f.: Ist einmal in einem Gericht die heilige Flamme des Gefühls für Recht und Ordnung erloschen, wie leicht ist es dann möglich, daß, während das erste, zweite und dritte Gerichtsmitglied sich mit andern Dingen beschäftigen, dem vierten der Schlummer nach einer frohdurchwachten Nacht auf die Augen drückt, und das fünfte die Scheiben der Fenster zählt oder seinem Nachbar eine Tagesneuigkeit in die
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orten sind. Hinsichtlich der sich anschließenden Beratung und Abstimmung kann die Justizforschung bei aller quellenbedingten Zurückhaltung nicht auf den Anspruch verzichten, die gruppenpsychologischen Rahmenbedingungen dieses sich in Form mündlicher Face-to-Face-Kommunikation vollziehenden Vorgangs aufzuhellen. Denn angesichts einer im Vergleich zur Gegenwart ungleich stärkeren Stellung des Vorsitzenden gegenüber den Beisitzern und der ständisch ausgesprochen heterogenen Zusammensetzung zahlreicher Spruchkörper kann in der Frühen Neuzeit keineswegs unbesehen davon ausgegangen werden, dass Beratung und Abstimmung in einer kollegialen Atmosphäre stattfanden, in der jeder Rat nach freiem Ermessen von seinem Votum Gebrauch machen konnte. Sei es nun die herausgehobene Stellung von Präsident und Vizepräsident, die Unterscheidung zwischen Gelehrten- und Herrenbank, die Reihenfolge der Umfrage oder die Mitgliedschaft einzelner Räte im Geheimen Rat oder ad hoc einberufenen Deputationen: Auf die Diskussionskultur frühneuzeitlicher Spruchkörper wirkten zahlreiche hierarchische Faktoren formeller und informeller Natur ein, die sich – übrigens nicht nur durch den Vorsitzenden – zur Herstellung von Mehrheiten durch Minderheiten nutzen ließen. Viele dieser Faktoren sind empirisch freilich nur sehr schwer greifbar und tauchen, wenn überhaupt, nur vereinzelt und schemenhaft in internen Berichten und privaten Äußerungen von Richtern auf. Eine gute Nachricht gibt es allerdings auch: Die Mühen lohnen sich. Frühneuzeitliche Gerichtssitzungen verliefen nämlich nicht annähernd so langweilig, wie es im Nachgang ins Reine geschriebene Ergebnisprotokolle oder zur Selbstdarstellung publizierte Kupferstiche, auf denen die Beisitzer brav in Reih und Glied sitzen, suggerieren. Am Reichshofrat jedenfalls war von harten internen Flügelkämpfen zwischen „Staatsmännern“ und „Pedanten“ bis hin zu einem in pleno mit dem Degen geführten Beinaheduell zwischen einem Beisitzer und dem Vizepräsidenten buchstäblich alles dabei.⁹¹
Ohren flüstert,– der Berichterstatter mit Windeseile den tauben Wänden einen flüchtigen Vortrag hinplaudert, dessen Schlußantrag, nachdem fünf Köpfe genickt oder nach der Reihe: einverstanden! gerufen haben, nunmehr ein collegialisch gefaßtes Rechtserkenntniß heißt! 200 Jahre nach Feuerbach schreibt Thomas Fischer mit Blick auf Beratungen in den Strafsenaten des Bundesgerichtshofes: „Es ist selbstverständlich unmöglich, sich beim mündlichen Vortrag auch nur halbwegs die Einzelheiten des Sachverhalts zu merken: Ob der Berichterstatter nun 14 oder 17 Fälle des Bandenbetrugs oder 43 Fälle des sexuellen Missbrauchs geschildert hat, wissen die Zuhörer schon nach drei Minuten nicht mehr, geschweige denn, wenn es eine halbe Stunde später um die rechtliche Bewertung geht.“ Zitat bei Thomas Fischer, Die Augen des Revisionsgerichts, URL: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/ 2015-06/bundesgerichtshof-justiz-fischer-im-recht/komplettansicht (abgerufen am 18. Januar 2023). Hierzu vorerst: Schenk, Die Vota (wie Anm. 39), S. 318.
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5 Der Auslauf Mit der Feststellung des Kollegialbeschlusses durch den Vorsitzenden und dessen Protokollierung durch den anwesenden Sekretär war der Geschäftsgang noch nicht zu Ende. Um Außenwirkung zu entfalten, musste die getroffene Entscheidung den Parteien oder gegebenenfalls eingesetzten Kommissaren zur Kenntnis gebracht werden. Dass zahlreiche frühneuzeitliche Gerichte in „einer nicht selbstständigen, eher beigeordneten Stellung […] im Schatten des Herrschers“⁹² agierten, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie nicht über eine eigene Kanzlei verfügten und ihre Ausgänge der persönlichen Vollziehung durch den Gerichtsherrn bedurften. In einer Ständegesellschaft diente dieser Schritt einerseits dazu, den Spruch mit der Autorität des fürstlichen Gerichtsherrn aufzuladen. Andererseits ist jedoch nicht zu übersehen, dass sich zahlreiche Fürsten somit auch am Ende des Verfahrens jenseits besonderer Vorlagepflichten, wie sie am Reichshofrat in Gestalt der Vota ad Imperatorem bestanden, einen weiteren Genehmigungsvorbehalt gesichert hatten, mit dem sich die Publikation missliebiger Entscheidungen verzögern oder gar verhindern ließ.
6 Fazit Die historische Justizforschung nähert sich Problemen der Rechtsprechung zumeist aus der Perspektive der Parteien, während das Interesse an der institutionengeschichtlichen Dimension des Themas epochenübergreifend nur gering ausgeprägt ist. Auf einen Zivilprozess wirken jedoch nicht nur die Parteien durch ihre Justiznutzung⁹³ ein. Schon die alten Römer wussten: Iudicium est actus trium persona-
So mit Blick auf die Oberste Justizstelle der Erblande: Gernot Kocher, Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation. Wien 1979 (Forschungen zur Europäischen und Vergleichenden Rechtsgeschichte, Bd. 2), S. 60. Am Reichshofrat erfolgte die Vollziehung durch Kaiser bzw. Reichsvizekanzler und Sekretär. Lediglich Endurteile wurden nicht vom Kaiser, sondern allein vom Reichsvizekanzler und dem zuständigen Reichshofratssekretär ausgefertigt. Siehe: Johann Christian Herchenhahn, Geschichte der Entstehung, Bildung und gegenwärtigen Verfassung des Kaiserlichen Reichshofraths nebst der Behandlungsart der bei demselben vorkommenden Geschäfte, Bd. 2. Mannheim 1792, S. 472. Zu diesem Forschungskonzept: Martin Dinges, Justiznutzung als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozialund Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2001 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 1), S. 503–544.
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rum. ⁹⁴ Damit ein Zivilprozess zustande kommt, bedarf es nicht nur eines Klägers und eines Beklagten, sondern auch eines Richters, dessen vielfach stiefmütterliche Behandlung in der Literatur dazu geeignet ist, die Handlungsmöglichkeiten der Parteien vor Gericht erheblich zu überschätzen. Neuere Studien vermitteln deshalb vielfach kaum einen hinreichenden Eindruck davon, wie schwer es nicht privilegierten Parteien gefallen sein muss, überhaupt rechtliches Gehör zu finden und darüber hinaus auch ein Urteil zu erlangen. Vorderhand begünstigt die Quellensituation eine Überwindung dieses Ungleichgewichts jedoch keineswegs, denn an den Prozessakten von Kollegialgerichten, die in quantitativer Hinsicht das Gros der im Rahmen von Rechtsprechung entstandenen und erhaltenen archivalischen Überlieferung ausmachen, scheint das eigentliche Handeln des Gerichts häufig unbeobachtet vorübergegangen zu sein. Tatsächlich ist es im Regelfall kaum möglich, mit einem Abstand von mehreren Jahrhunderten die „wahren“ Entscheidungsgründe eines Justizkollegiums zu rekonstruieren oder auch nur die materielle „Richtigkeit“ eines Spruchs zu bewerten. Nicht das Ergebnis, sondern der Entscheidungsprozess verdient deshalb unser vorrangiges Interesse, da sich in ihm die grundlegenden verfassungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen einer Epoche spiegeln. Um richterliche Entscheidungskulturen zu vermessen, bedarf es somit eines verfahrensorientierten Ansatzes, der sich eine praxeologische Analyse juristischer Arbeitsweisen einverleibt, über die semantische Auswertung einzelner Entscheidungen mithilfe juristischer Relationstechnik jedoch weit hinausreicht. Die genetische Aktenkunde stellt hierfür wichtige, bislang weithin ungenutzte Instrumentarien zur Verfügung, indem sie durch methodenbewusste Einbeziehung der an Kollegialgerichten entstandenen Protokollüberlieferung das Verfahren in seiner Gänze in den Blick nimmt und dabei auch jene Etappen sichtbar macht, die in der Prozessakte nur geringen oder gar keinen Niederschlag gefunden haben. Erst auf dieser erweiterten empirischen Grundlage wird hinreichend deutlich, was für eine Machtmaschine das römische Recht tatsächlich war. Bereits im dinggenossenschaftlichen Gericht des Mittelalters hatte der vorsitzende Richter durch seine Prozessleitung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Verfahren ausgeübt.⁹⁵ Indem im ausgehenden Mittelalter durch die Rezeption und die Ausbildung von Justizkollegien der „Rhythmus“⁹⁶ des römisch-kanonischen
Zitiert nach Knut Wolfgang Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren erster Instanz in civilibus. Berlin/Heidelberg 2012, S. 9. Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter, 2 Bde. Köln/Wien 1985 (QFHG, Bd. 15), Bd. 1, S. 616–628. Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht (wie Anm. 94), S. 37.
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Prozessrechts⁹⁷ mit dem nicht minder feingliedrigen Geschäftsgang einer Kollegialbehörde verknüpft wurde, gewannen Organisations- und Geschäftsverteilungsfragen, die wir heute dem Bereich der Gerichtsverwaltung zuordnen würden, ein ungleich stärkeres Gewicht. Spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter gilt deshalb auch im Zivilprozess das Diktum Max Webers: „Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung.“⁹⁸ Und weil dies so ist, hat der moderne Rechtsstaat der Exekutive den Aufgabenbereich der Gerichtsverwaltung zwar belassen, deren Befugnisse jedoch deutlich beschnitten und sie in eine justizmäßige Form gegossen.⁹⁹ Würden sich Verfassungsgarantien wie der Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Grundgesetz) nicht in vorab zu erstellenden Geschäftsverteilungsplänen konkretisieren, wären sie in der Praxis nur wenig wert.¹⁰⁰ Im Gerichtsalltag der Frühen Neuzeit, in der sich Jurisdiktion nicht aus einer abstrakten Staatsgewalt, sondern aus der Justizhoheit des Fürsten ableitete, wurde die Herrschaft der Verwaltung jedoch oftmals ad hoc und weitgehend freihändig durch die Behördenvorstände ausgeübt, weil diese gegenüber den Beisitzern den fürstlichen Gerichtsherrn vertraten. Wenngleich die Binnenhierarchie für jedes Kollegium individuell rekonstruiert werden müsste, gilt es deshalb zu betonen, dass die Kultur vormodernen kollegialgerichtlichen Entscheidens allerorten und selbst am Reichskammergericht durch eine „diskretionäre Gewalt“¹⁰¹ der Vorstände gekennzeichnet war. Diese Gewalt, die in der Prozessakte und im Sitzungsprotokoll häufig unsichtbar bleibt und deshalb leicht übersehen wird, äußerte sich vor allem in einem juristisch kaum eingehegten Ermessensspielraum an jenen Schaltstellen des Geschäftsganges, die der mündlichen Beratung und Abstimmung im Spruchkörper vorangingen und die jedes Vorbringen einer Partei passieren musste, um
Hierzu mit Blick auf die Reichsgerichte: Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555. Köln/Wien 1981 (QFHG, Bd. 10); Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Neue Folge, Bd. 18). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 4. Aufl. Tübingen 1956, S. 545. Fabian Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt. Tübingen 2006 (Jus Publicum, Bd. 143). Hierzu in vergleichender Perspektive: Ulrike Müssig, Gesetzlicher Richter ohne Rechtsstaat? Eine historisch-vergleichende Spurensuche. Berlin 2007 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 182); dies., Recht und Justizhoheit. Der gesetzliche Richter im historischen Vergleich von der Kanonistik bis zur Europäischen Menschenrechtskonvention, unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in Deutschland, England und Frankreich. 2. Aufl. Berlin 2009 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 44). Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung. Weimar 1911 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. 4), S. 256.
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eine Entscheidung mit Außenwirkung zu erlangen – von der Klageschrift über Replik, Duplik, Triplik, Quadruplik und so weiter. Nochmals potenziert wurde das Gewicht dieser Befugnisse durch das schriftliche Verfahren des gemeinen Prozesses, wie es am Reichshofrat dem Anspruch nach in Reinform praktiziert wurde. Schon Zeitgenossen war klar, dass der Reichshofratspräsident in einem Verfahren, in dem direkte Kontakte zwischen Partei und Gericht überhaupt nicht vorgesehen waren, zahlreiche Möglichkeiten besaß, auf eine von außen nicht nachweisbare Weise Verschleppung bis hin zur Justizverweigerung zu betreiben.¹⁰² Wenn die Handbücher von kaiserlichen Machtsprüchen nach 1648 nichts wissen, so schlicht und ergreifend deshalb, weil in einem solchen auf Konformität angelegten System eine nachträgliche Intervention des Gerichtsherrn im Regelfall überflüssig war. Im Gerichtsalltag der Frühen Neuzeit diente Schrift also nicht allein der gründlicheren richterlichen Erfassung des Verfahrensstoffes, sondern bildete zugleich ein vielfach genutztes fürstliches Machtinstrument zur Distanzierung von den Parteien. Eben deshalb zählen heutigen Tags die im 19. Jahrhundert aus Frankreich importierten Maximen Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit zu den Kennzeichen des modernen rechtsstaatlichen Verfahrens. Im Vormärz wusste man aus eigenem Erleben noch genau, dass es die Schrift gewesen war, die die Urtheiler unter dem belaubten Baume hinweg in dunkle Säle und finstere Kammern [geführt hatte]; zulezt verschloß eine gewisse Art von Politik, in welche man die Gerechtigkeit zu verflechten wußte, fast überall die Gerichtszimmer; es gab geheime Gerichtssitzungen, geheime Referenten, geheime Urtheilsgründe. ¹⁰³ Es könne deshalb niemandem verargt werden, dem bei solcher Gerechtigkeitspflege etwas bänglich zu Muthe ist, weil man bei der Finsterniß gar leicht an Werke der Finsterniß denkt, und eine Justiz, die das Licht scheut, wenigstens den Verdacht erregt, daß sie das Licht nicht ertragen könne. ¹⁰⁴ Gewiss lebten die Menschen der Frühen Neuzeit in keinem Reich der Finsternis. Angesichts begrenzter Vollstreckungsmöglichkeiten bedurften Spruchkörper wie der Reichshofrat der Einbettung in übergeordnete politische Abstimmungs-
So etwa Benjamin Ferdinand Mohl, Historisch-politische Vergleichung der beyden höchsten Reichsgerichte in ihren wichtigsten Verhältnissen. Ulm 1789, S. 9. Rudolf Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe nach ihrer Nützlichkeit und Nothwendigkeit, so wie über ihre Auffindung, Entwickelung und Anordnung; nebst Bemerkungen über den richterlichen Stil und Ton. Kiel 1826, S. 41. Dass ein schriftliches Verfahren also keineswegs als Garant eines objektiven richterlichen Entscheidungsprozesses betrachtet werden kann, zeigt am Beispiel der Juristenfakultäten der Beitrag Ulrich Falks in diesem Band. Anselm von Feuerbach, Erklärung des Präsidenten von Feuerbach über seine angeblich geänderte Ueberzeugung in Ansehung der Geschwornen-Gerichte. Jena 1819, S. 17.
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prozesse, um gegenüber armierten Reichsständen Wirkung entfalten zu können. Darüber hinaus ist in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht nicht zu übersehen, dass selbst am Kaiserhof im 18. Jahrhundert Freiräume wuchsen, in denen Vorstellungen richterlicher Unabhängigkeit formuliert werden konnten.¹⁰⁵ Etwas mehr Bänglichkeit gegenüber dem Rechtssystem des Alten Reiches, dem in jüngerer Zeit mitunter prononciert rechtsstaatliche und protokonstitutionelle Qualitäten zugeschrieben wurden,¹⁰⁶ stünde der Justizforschung gleichwohl gut zu Gesicht. Die genetische Aktenkunde erzieht zu dieser Bänglichkeit, indem sie sich für die Form von Aktenschriftgut interessiert und auf diese Weise den Blick dafür schärft, wie formlos hinter den Kulissen frühneuzeitlicher Gerichte agiert wurde. In einer Zeit, in der allerorten das Hohe Lied der Flexibilisierung gesungen wird, mag Formstrenge als angestaubtes Effizienzhindernis erscheinen, doch wo ein Volk sich wirklich auf den Dienst der Freiheit verstanden, da hat es instinctiv auch den Werth der Form herausgefühlt und geahnt, daß es in seinen Formen nicht etwas rein Aeußerliches besitze und festhalte, sondern das Palladium seiner Freiheit. ¹⁰⁷ Denn die Form ist nichts anderes als die geschworene Feindin der Willkühr, die Zwillingsschwester der Freiheit. Der genetischen Aktenkunde geht es also nicht um Äußerlichkeiten. Sie vermag die zahlreichen gering normierten oder gar formlosen Winkel der frühneuzeitlichen Gerichtsverfassung zu benennen und auf diese Weise zu einem wesentlich besseren Verständnis richterlicher Entscheidungskulturen beizutragen. Die konkrete Ausgestaltung dieser Kulturen besorgten vor wie hinter der Schranke jedoch nicht Akten und Protokolle, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. „Träger der Justizhoheit“ – das waren nicht nur autokratische Workaholics wie Die im vorliegenden Beitrag thematisierte Funktion der Präsidenten wandelte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch durch eine unter kameralistischen Vorzeichen betriebene Erhöhung des „Erledigungsdrucks“, die manche aufschlussreiche Parallelen zur gegenwärtigen Diskussion um die Übernahme betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente durch die Gerichtsverwaltung aufweist. Hierzu Tobias Schenk, „Ökonomisierung der Zeit“: Gerichtliche Erledigungszahlen als Medium preußisch-österreichischer Staatenkonkurrenz im 18. Jahrhundert, in: Franziska Neumann/Jorun Poettering/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit. Aufeinandertreffen – Übereinstimmung – Rivalität. Köln 2023 (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 5), S. 503–514 (im Druck). Sachkundige Kritik an dieser Tendenz bei: Heinz Mohnhaupt, „Protokonstitutionalismus“ als eine neue Phase in der Geschichte der Verfassung des Alten Reichs?, in: Rechtsgeschichte – Legal History 25 (2017), S. 368–371. Dieses und das folgende Zitat: Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 2. Leipzig 1858, S. 497; vgl. Peter Oestmann, Die Zwillingsschwester der Freiheit. Die Form im Recht als Problem der Rechtsgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. Köln/Weimar/ Wien 2009 (QFHG, Bd. 56), S. 1–54.
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Friedrich der Große und Joseph II., die ihren Richtern permanent im Nacken saßen. Das war auch ein Markgraf Karl Friedrich von Baden, auf dessen Miene sich schon beim bloßen Anblick eines sich nähernden Juristen widerwillen wegen vermutender Arbeit ¹⁰⁸ abzeichnete und der auf jedes ihm gehaltene Referat zu antworten pflegte, man solle thun waß mann recht und billich finde. Auch Kaiser Joseph I. hing die liebe Justitia mitunter zum Halse heraus, wie Federzeichnungen von Galgenszenen, abgeschlagenen Köpfen und erigierten Penissen verdeutlichen, die er mit viel Liebe zum anatomischen Detail anfertigte, während man ihm Vota des Reichshofrats zur höchstrichterlichen Entscheidung vortrug.¹⁰⁹ „Beisitzer“ – das waren Juristen, die im 18. Jahrhundert als Vorkämpfer richterlicher Unabhängigkeit hervortraten, und das waren nicht minder kluge Kollegen, denen die eigene Karriere wichtiger war als Montesquieu. Das waren unbestechliche Richter und Kollegen, die in der Sollicitatur nach Lust und Laune abkassierten, weil sie es konnten. Das waren Juristen, die in ihrer Arbeit aufgingen. Das waren aber auch Männer, die sich ihr Leben ganz anders vorgestellt hatten und denen in endlosen Beratungen ähnliches durch den Kopf gegangen sein mag wie Generationen später dem zum Juristen verdammten Lyriker Georg Heym (1887–1912), der sich vom „Dreckstaat“¹¹⁰ und dessen „Arsch-Scheiß-Lause-Sau Juristerei“ um sein Lebensglück betrogen sah: „Ich habe solchen Trieb, etwas zu schaffen. Ich habe solche Gesundheit, etwas zu leisten. Ja, es ist zum Scheißen. § § § § § Scheiß. Scheiß. Scheiß.“ Ob Reichshofrat Graf Friedrich von Grävenitz das Heilige Römische Reich insgeheim für einen Dreckstaat hielt und sein hohes Amt „zum Scheißen“? Den Trieb, alles hinter sich zu lassen, um endlich etwas zu leisten, muss er beim Referieren jedenfalls verspürt haben. 1784 fasste er nach allerhand anderen Projekten den Plan, aus Wien nach Südamerika auszuwandern, um in dem vortrefflichen Climate ¹¹¹ Chiles eine Kolonie zu gründen. Frömmler, Agnostiker, Choleriker, Melancholiker, nicht Belastbare, Charakterköpfe, Charakteramöben, Ausnahmetalente, Dummköpfe, Naive und Gerissene – sie alle hatten an kollegialer Rechtserkenntnis mit Sitz und Stimme ihren Teil. Doch
Dieses und das folgende Zitat nach einer 1738 getätigten Äußerung des badischen Hofrats Bürcklin bei: Lenel, Badens Rechtsverwaltung (wie Anm. 40), S. 17. Michael Hochedlinger, Fadesse oblige oder: die Macht der Triebe. Die Handzeichnungen Josephs I. Aktenkundliche Beobachtungen an allerhöchstem Memorialschreibwerk, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 55 (2011), S. 785–814. Dies und das Folgende zitiert nach Bodo Pieroth, Deutsche Schriftsteller als angehende Juristen. Berlin/Boston 2018 (Juristische Zeitgeschichte. Abteilung 6, Bd. 51), S. 199. Anonym, Wahrhafte Erzählung der Schicksale des gewesenen Kaiserlichen Reichs-Hofraths Grafen von Grävenitz zur Rechtfertigung gegen die Beschuldigungen des Freyherrn von der Trenck in einem Schreiben aus dem Mecklenburgischen. Frankfurt a. M./Leipzig 1788, S. 51.
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im Allgemeinen regierte vor Gericht wie zu allen Zeiten intellektuelles und charakterliches Mittelmaß, denn Richter sind auch nur Menschen.¹¹² Und Menschen beherrschen den Prozess.¹¹³
Wie menschlich es beispielsweise in der Regierung der Grafschaft Oettingen-Wallerstein um 1780 zuging, wissen wir dank Karl Heinrich von Lang, Memoiren des Karl Heinrich Ritters von Lang. Skizzen aus meinem Leben und Wirken, meinen Reisen und meiner Zeit, Bd. 1. Braunschweig 1842, S. 104: In den Sessionen selbst ging es bunt zu. Um 10 Uhr kamen die Herren erst herbei, das mündliche Gerede ging ins Weite und alle Augenblicke auf ganz fremdartige Sachen und Tagesereignisse über; oft wenn ein Rath glaubte, er trage eine Erbschaftssache vor und dann im Streiten der nächstsitzende Rath oder der Präsident die Acten selber nachschlagen wollte, handelten sie von einem Ochsenverkauf oder einer ganz andern Sache. Mit dem Schlag 12 Uhr war keiner mehr zu halten, da hieß es dann: Herr Secretair, da gebe ich Ihnen alle Acten, machen Sie den Schwanz dazu, und nun ging’s von der Session ins Gasthaus. Justizpolitik war und ist deshalb in erster Linie Personalpolitik. Hierzu mit Blick auf die Frühe Neuzeit: Eva Ortlieb, Richter an den Höchstgerichten des Reiches, in: Gerald Kohl/Ilse Reiter-Zatloukal (Hrsg.), RichterInnen in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Auswahl, Ausbildung, Fortbildung und Berufslaufbahn. Wien 2014, S. 31–50.
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Schriftlichkeit im Entscheidungsprozess. Die Relationen des Reichshofrats 1 Schriftlichkeit und Mündlichkeit am Reichshofrat: Die Bedeutung der Relationen „Der Reichshofratsprozess, da ist sich die Forschung ganz einig, verlief […] nach einer strengen Schriftlichkeitsmaxime“ – resümierte zuletzt Peter Oestmann in seiner Edition der Gemeinen Bescheide des Reichshofrats.¹ Damit erscheint das Höchstgericht am Kaiserhof als Musterbeispiel für die auch von den Herausgeber/innen der vorliegenden Publikation hervorgehobene weitgehende Schriftlichkeit des frühneuzeitlichen Gerichtsverfahrens.² Mündliche Elemente spielten am Reichshofrat kaum eine Rolle, selbst wenn sich einige Ausnahmen finden lassen. So ermöglichten beispielsweise die kaiserlichen Kommissionen indirekt mündliche Parteienverhandlungen und Zeugenverhöre, deren Ergebnisse allerdings verschriftlicht in das Verfahren eingespeist wurden.³ Auch im Umfeld von Reichshofratsverfahren kam es, wie die jüngere Forschung vermehrt herausgearbeitet hat, zu informellen, durch Mündlichkeit geprägten Kontakten zwischen Parteien oder ihren Vertretern auf der einen und Mitgliedern des Reichshofrats auf der anderen Seite, die sich zwischen Sollicitatur, Gabentausch und Korruption bewegten und Verfahren durchaus wesentlich beeinflussen konnten.⁴ Der im Eingangszitat verwendete Begriff „Prozess“ im Sinn des am Reichshofrat geübten Verfahrens stellt allerdings ganz auf die Interaktion zwischen der Institution und den vor ihr auftretenden Parteien ab. Zu bedenken ist jedoch, dass der
Peter Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide, Bd. 2: Reichshofrat 1613–1798. Köln/Weimar/Wien 2017 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 63/ 2), S. 34. Zwölf Thesen zu Schriftlichkeit, Recht und Gerichtsbarkeit, These I. Zu den Kommissionen am Reichshofrat Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657). Köln/ Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 38); Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576). Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Bd. 214). Mit zahlreichen Beobachtungen dazu Thomas Dorfner, Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Rolle im Verfahren (1658–1740). Münster 2015 (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden – Historische Perspektiven, Bd. 2), insbes. S. 72–207. https://doi.org/10.1515/9783111077406-014
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Reichshofrat wie jede vergleichbare Institution auch permanent Entscheidungen zu treffen hatte. Diese Entscheidungsfindung erfolgte, wie in frühneuzeitlichen Kollegialorganen üblich, wesentlich mündlich, nämlich in Sitzungen des Rats. Dort referierten ein oder zwei Reichshofräte als Referenten beziehungsweise Korreferenten die Fallgeschichte und schlugen ein Conclusum vor. Die übrigen Räte äußerten ihre Auffassung dazu in einer festgelegten Reihenfolge; ein Abstimmungsprozess, der in Quellen und Literatur als „umbfrag“ beziehungsweise Umfrage bezeichnet wurde und wird.⁵ Auf den ersten Blick reiht sich der Reichshofrat damit in eine für die Frühe Neuzeit typische Verfahrens- und Entscheidungskultur ein, die in den letzten Jahren insbesondere mit Bezug auf Reichs- und Landtage untersucht worden ist.⁶ Die Verwendung desselben Terminus und einige Parallelen im Ablauf sollten aber nicht über strukturelle Unterschiede zwischen der vom Reichshofrat praktizierten Umfrage und dem Votieren in Ständeversammlungen hinwegtäuschen.⁷ Die Reichshofräte repräsentierten keine politischen Akteure, deren Gewicht sie symbolisch hätten zum Ausdruck bringen müssen. Stimmen wurden durchaus gezählt statt gewogen, Mehrheitsentscheidungen waren explizit vorgesehen. Die Reihenfolge der Äußerungen richtete sich nicht nach dem sozialen Stand der Reichshofräte, sondern nach deren Dienstalter, wobei zwischen den Räten auf der Laien- und Gelehrtenbank abgewechselt wurde; Abweichungen von der gesetzlich vorgeschriebenen Reihenfolge waren möglich und in der Praxis üblich.⁸ Hierarchisch war das Verfahren natürlich trotzdem, wobei der formale Rang des Dienstalters, wie Tobias Schenk gezeigt hat,⁹ durch das informelle Gewicht der Nähe
Zeitgenössische Bezeichnung z. B. in der Reichshofratsordnung von 1654 Tit. I § 5,Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766, 2 Bde. Köln/Wien 1980–1990 (QFHG, Bd. 8), Bd. 2, S. 67. Zusammenfassend Alexander Denzler, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Köln/Weimar/Wien 2016 (Norm und Struktur, Bd. 75), S. 327–329. Bereits das bei der Visitation des Reichskammergerichts verwendete Umfrageverfahren entspricht in wesentlichen Punkten nicht dem von der Forschung zu Ständeversammlungen gezeichneten Bild, ebd., S. 330–341. Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF., Bd. 18), S. 343 f. Tobias Schenk, Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y. Epochenübergreifende Überlegungen zu gerichtlichen Urteils- und Vergleichsquoten aus institutionengeschichtlicher Perspektive, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 137 (2020), S. 91–233 (hier S. 175 f.); ders., Die Vota ad Imperatorem des kaiserlichen Reichshofrats. Zur Verfahrensautonomie an einem herrschernahen Höchstgericht der Frühen Neuzeit, in: Anja Amend-Traut/Ignacio Czeguhn/Peter Oestmann (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur. Köln/Weimar/Wien 2021 (QFHG, Bd. 75),
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zum Herrscher und Gerichtsherrn, von dem alle Reichshofräte abhingen, überwölbt wurde. Jüngere, ehrgeizige Reichshofräte und solche ohne eigenes Vermögen dürften sich in ihrem Abstimmungsverhalten durchaus an den meist vor ihnen stimmenden dienstälteren oder als einflussreich angesehenen Kollegen orientiert haben – insofern zählte nicht in jedem Fall jede Stimme gleich viel.¹⁰ Am Ende dieser Abstimmungsprozedur stand idealerweise eine Entscheidung, die von allen oder zumindest von der Mehrheit der Ratsmitglieder unterstützt wurde. Gelang dies nicht, hielt der Reichshofratspräsident die Meinung einer starken Minderheit für bedenkenswert oder den Fall für politisch brisant, war der Diskussionsstand schriftlich zusammenzufassen und als votum ad imperatorem an den Kaiser zu übermitteln.¹¹ Ob ein Votum auf ein Abstimmungspatt oder die Brisanz des betreffenden Falls zurückging, lässt sich in der Regel nur dem Text der Gutachten entnehmen, in dem einander entgegenstehende Argumentationen innerhalb des Kollegiums ausgeführt werden mussten, wenn es solche gab. Es spricht aber einiges für die Annahme, dass die Voten überwiegend in politisch brisanten Fällen und solchen, die einer Abstimmung mit anderen Teilen des kaiserlichen Regierungs- und Verwaltungsapparats bedurften, erstattet wurden. Die Entscheidung in den ihm mittels eines Votums vorgetragenen Fällen traf der Kaiser selbst, üblicherweise nach Beratung in seinem Geheimen Rat oder seinem Kabinett. Der vorliegende Beitrag stellt diesen Entscheidungsprozess am Reichshofrat in den Mittelpunkt. Es soll gefragt werden, ob die überragende Bedeutung von Schriftlichkeit, die im Eingangszitat zum Ausdruck kommt, in einem neuen Licht erscheint, wenn nicht das Verfahren im Sinne von Parteienverhandlungen, sondern der interne Entscheidungsfindungsprozess betrachtet wird. Wie für jeden mündlichen Vorgang zumindest in der Zeit vor den Tonaufnahmen stellt sich auch für den Entscheidungsprozess am Reichshofrat die Frage seiner Dokumentation, also nach geeigneten Quellen für eine entsprechende Analyse. Zu
S. 239–348 (hier S. 299–302). Ich danke dem Autor für die Möglichkeit, bereits vor Drucklegung Einsicht in die Manuskripte zu nehmen. Zum Einfluss des sog. Primus Votans, der sich als erster in der Umfrage äußerte und Gelegenheit zu einer besonders ausführlichen Stellungnahme erhielt, Schenk, Die Vota ad imperatorem (wie Anm. 9), S. 299–301. Zum votum ad imperatorem Oswald von Gschliesser, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806. Wien 1942 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich, Bd. 33), ND 1970, S. 14–19, 41 f.; Peter Leyers, Reichshofratsgutachten an Kaiser Josef II. Jur. Diss. Bonn 1976; Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 8), S. 346–353; ders., Der Reichshofrat, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/ Wien 1996 (QFHG, Bd. 29), S. 15–44 (hier S. 29–32); sowie jetzt insbes. Schenk, Die Vota ad imperatorem (wie Anm. 9).
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denken wäre an verschiedene Arten von Dokumenten, in erster Linie Protokolle oder Aufzeichnungen von Teilnehmern der betreffenden Sitzungen. Beides liegt für den Reichshofrat grundsätzlich vor. Allerdings stellen die Protocolla rerum resolutarum, die zu den einzelnen Sitzungen angefertigt wurden, bis auf wenige Ausnahmen Beschlussprotokolle dar, keine Verlaufs- oder Votenprotokolle. Sie dokumentieren deswegen gerade nicht den Ablauf des Entscheidungsprozesses, sondern lediglich dessen Ergebnis.¹² Aufzeichnungen von Reichshofräten, eventuell auch informierter Dritter, könnten hier weiterhelfen, sind jedoch nicht zentral überliefert und daher auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung nicht systematisch auszuwerten.¹³ Der vorliegende Beitrag zieht die Relationen heran, die von den zu Referenten oder Korreferenten ernannten Reichshofräten als Grundlage ihrer mündlichen Referate zum jeweiligen Fall angefertigt wurden. Damit dokumentieren sie zwar nicht den reichshofrätlichen Entscheidungsprozess per se, sind aber Quellen, die speziell in diesem Kontext entstanden. Sie bildeten bisher alles andere als einen Schwerpunkt der Forschung, zumindest in systematischer Hinsicht; ein einschlägiger Sammelband enthält – anders als für das Reichskammergericht – keinen entsprechenden Aufsatz.¹⁴ Das bedeutet natürlich nicht, dass die reichshofrätlichen Relationen gar nicht benützt worden wären; in Fallstudien flossen sie in der Regel schon allein wegen ihrer konzisen Zusammenfassung des Verfahrensverlaufs ein. Zur Zurückhaltung der Forschung mag beigetragen haben, dass – wiederum im
Zu den Reichshofratsprotokollen Lothar Gross, Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806. Wien 1933 (Inventare österreichischer staatlicher Archive V, Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1), S. 247–260; Tobias Schenk, Die Protokollüberlieferung des kaiserlichen Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, in: Wilfried Reininghaus/Marcus Stumpf (Hrsg.), Amtsbücher als Quellen der landesgeschichtlichen Forschung. Münster 2012 (Westfälische Quellen und Archivpublikationen, Bd. 27), S. 125–145. Welch vielfältiges Material auch für die Geschichte des Reichshofrats Familienarchive enthalten können, zeigt eindrucksvoll die Arbeit von Kathrin Rast, Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder der Herrenbank am Beispiel des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg (1604–1665), in: Anette Baumann/Alexander Jendorf (Hrsg.), Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa. München 2014 (Bibliothek Altes Reich, Bd. 14), S. 295–330. Alain Wijffels (Hrsg.), Case Law in the Making. The Techniques and Methods of Judicial Records and Law Reports, 2 Bde. Berlin 1997 (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 17). Zum Reichskammergericht die Beiträge von Filippo Ranieri, Entscheidungsfindung und Technik der Urteilsredaktion in der Tradition des deutschen Usus modernus. Das Beispiel der Aktenrelationen am Reichskammergericht, in: ebd., Bd. 1, S. 277–297; ders., Aktenrelationen am Reichskammergericht, in: ebd., Bd. 2, S. 319–335. Zu den Relationen am Reichshofrat knapp Stefan Ehrenpreis,Voten und Relationen des Reichshofrats, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, http://www.zeiten blicke.de/2004/03/ehrenpreis/index.html (abgerufen am 18. Januar 2023).
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Unterschied zum Reichskammergericht¹⁵ – keine zeitgenössischen gedruckten Sammlungen reichshofrätlicher Relationen vorliegen; hier waren es in erster Linie die Gutachten an den Kaiser, die sich entsprechender Aufmerksamkeit erfreuten.¹⁶ Die Relationen des Reichshofrats sollen im folgenden nur unter dem Gesichtspunkt von Schriftlichkeit und Mündlichkeit am kaiserlichen Höchstgericht befragt werden; andere Auswertungsmöglichkeiten bleiben unberücksichtigt. Zunächst werde ich mich mit der Überlieferung dieser Dokumente im Archiv des Reichshofrats beschäftigen, die nicht nur forschungspraktisch, sondern auch inhaltlich von Bedeutung erscheint (Kapitel 2). Danach folgen einige Beobachtungen zu Schriftlichkeit und Mündlichkeit anhand ausgewählter Beispiele (Kapitel 3), bevor die Ergebnisse in den Kontext der Ausgangsfrage nach Schriftlichkeit und Mündlichkeit am Reichshofrat gestellt werden (Kapitel 4).
2 Entscheiden oder Dokumentieren? Die Relationen im Archiv des Reichshofrats Nach den normativen Quellen zum Verfahren am Reichshofrat, den sogenannten Reichshofratsordnungen und einschlägigen kaiserlichen Bescheiden, kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Referat der Fälle durch Mitglieder des Kollegiums im Rahmen des mündlichen Entscheidungsprozesses von Beginn an zu den an der Institution üblichen Praktiken zählte. Bereits der Ordo consilii von 1550, der eine Reihe praxisnaher Anweisungen für den Hofrat Kaiser Karls V. enthält, kennt das Referieren und Votieren der Räte.¹⁷ Mit der Reichshofratsordnung von 1559 beginnt die Formulierung von immer detaillierteren Bestimmungen für den Umgang mit Relationen und Umfrage. Die Ordnung sieht explizit die Möglichkeit vor, Fallakten universitär ausgebildeten Räten zuzustellen, die Gutachten darüber erstellen sollten.¹⁸ 1594 heißt es in der Hofratsinstruktion Kaiser Rudolfs II., in wichtigen, komplexen und umstrittenen Sachen könne ein Korreferent ernannt werden.¹⁹ Verpflichtend wurde die Bestellung eines solchen in allen Sachen, in denen es um eine
Anette Baumann (Bearb.), Gedruckte Relationen und Voten des Reichskammergerichts vom 16. bis 18. Jahrhundert. Ein Findbuch. Köln/Weimar/Wien 2004 (QFHG, Bd. 48). Etwa [Heinrich Wilhelm Bergsträsser (Hrsg.),] Merkwürdige Reichshofrathsgutachten mit Gesichtspuncten für den Leser, 2 Bde. Frankfurt a. M. 1792–1793; [Friedrich Carl Moser (Hrsg.),] Sammlung von Reichs-Hof-Raths-Gutachten, 4 Bde. Frankfurt a. M. 1752–1764. In referendo servetur is ordo […] In votis colligendis servetur is ordo […]: Ordo consilii Art. 11, Art. 12, Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 19. Reichshofratsordnung 1559 Art. 12, ebd., Bd. 1, S. 32. Hofratsinstruktion 1594 Tit. V § 15, ebd., Bd. 1, S. 50.
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Definitivsentenz ging, mit der Ordnung von 1654,²⁰ während eine solche Ernennung 1617 noch in das Belieben des Reichshofratspräsidenten gestellt worden war.²¹ Dafür schärfte die (nicht in Kraft getretene) Ordnung von 1617 den als Referenten oder Korreferenten fungierenden Reichshofräten ein, die ihnen anvertrauten Akten gründlich und in eigener Person zu bearbeiten²² – eine Bestimmung, die 1654 wiederholt²³ und auch in mehreren kaiserlichen Dekreten des 18. Jahrhunderts nachdrücklich in Erinnerung gerufen wurde.²⁴ Sie zielte nicht nur auf Reichshofräte, die Praktikanten oder sonstige Dritte für solche Arbeiten einsetzten, sondern auch auf die als Präokkupationslibelle bezeichneten Ausarbeitungen von Parteien, die einen Fall in der Art einer Relation aufbereiteten – natürlich aus der eigenen Sicht – und dergestalt Einfluss auf Referenten auszuüben versuchten, die sich nicht der Mühe unterziehen wollten, selbst die oft umfangreichen Akten zu studieren.²⁵ Das Referat der fertigen Relationen ordnete, nachdem die Referenten ihre Bereitschaft dazu angezeigt hatten, der Reichshofratspräsident an.²⁶ Ein Referentenbuch, in das einzutragen war, welcher Rat mit welcher Relation betraut worden war, wird 1617 erwähnt²⁷ und ist seit 1690 erhalten.²⁸ Der Wechsel von Referenten in ein- und demselben Fall sollte vermieden werden²⁹ – was natürlich dann nicht möglich war, wenn ein Referent gestorben war, den Reichshofrat verlassen hatte oder sich auf einer längeren auswärtigen Mission befand.³⁰ Normativ vorgesehen war ein solcher Wechsel allerdings
Reichshofratsordnung 1654 Tit. IV § 2, ebd., Bd. 2, S. 157 f. Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 1, ebd., Bd. 1, S. 178. Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 13, ebd., Bd. 1, S. 186 f. Reichshofratsordnung 1654 Tit. IV § 14, ebd., Bd. 2, S. 172 f. Kaiserliche Verordnung 1714 Art. 8, ebd., Bd. 2, S. 278; Kaiserliches Dekret 1766 Art. 7, ebd., Bd. 2, S. 316 f. Dazu der Kommentar von Peter Oestmann zum Gemeinen Bescheid vom 13. April 1723: Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide (wie Anm. 1), S. 347 f. Da es sich bei solchen Libellen um Praktiken handelte, mit denen die formalen Regeln der Reichshofratsordnungen unterlaufen werden sollten, lassen sie sich in aller Regel nicht in der Gerichtsüberlieferung finden. Ob sich ein Referent auf solche Ausarbeitungen gestützt hatte, wird sich nur in Ausnahmefällen bei günstiger Quellenlage feststellen lassen. Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 22, Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 191; Reichshofratsordnung 1654 Tit. IV § 18, ebd., Bd. 2, S. 174 f. Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 7, ebd., Bd. 1, S. 182; Reichshofratsordnung 1654 Tit. IV §§ 4 f., ebd., Bd. 2, S. 162 f. Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien (künftig: HHStA), RHR, Protocolla referentium, 13 Bde. (1690–1806). Reichshofratsordnung 1654 Tit. IV § 12, Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 168 f. So musste beispielsweise der im Herbst 1750 wegen seines Übertritts in den diplomatischen Dienst aus dem Reichshofrat ausscheidende Georg Adam von Starhemberg in allen Fällen, die er als Referent betreut hatte und die noch nicht abgeschlossen waren, ersetzt werden. Im zugehörigen
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dann, wenn es Parteien gelungen war, das Referentengeheimnis zu lüften, also trotz der angeordneten Geheimhaltung herauszufinden, welcher Reichshofrat für ihren Fall zuständig war.³¹ In der Praxis wurde das Referentengeheimnis jedoch wenig beachtet, so dass die Sollicitatur bei den Referenten zu den Aufgaben der Parteienvertreter gehörte und mit großer Selbstverständlichkeit erfolgte.³² Referat und Korreferat folgten unmittelbar hintereinander, Fragen waren erst am Ende oder im Rahmen der Umfrage zu stellen.³³ Erst die Ordnung von 1654 formuliert Vorgaben für Aufbau und Inhalt der Relationen, wobei man sich auf eine vergleichbare Praxis am Reichskammergericht bezog.³⁴ Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten, dass das Archiv des Reichshofrats zahlreiche Relationen aus der gesamten Geschichte der Institution enthielte. Diese Erwartung wird allerdings nur teilweise erfüllt, wobei verschiedene Aktenserien berücksichtigt werden müssen. Die dichteste einschlägige Überlieferung liegt in der gleichnamigen Serie des Reichshofratsarchivs vor, die heute 211 Kartons umfasst. Dort finden sich nur die Relationen, nicht die zugehörigen Verfahrensakten, die, sofern sie erhalten geblieben sind, in anderen Serien des Archivs gesucht werden müssen. Eine solche Trennung der Relationen von den Akten könnte bereits von der für den Reichshofrat zuständigen Reichskanzlei praktiziert worden sein; jedenfalls bestand die Serie Relationes schon vor 1806.³⁵ Die Relationes werden durch ein im 19. Jahrhundert erstelltes Repertorium erschlossen.³⁶ Die Serie dürfte Relationen zu rund 6.000 Fällen versammeln,³⁷ wobei zu einem im Repertorium nachgewiesenen Fall auch
Protocollum referentium wurde der Wechsel mit einem nunc, gefolgt vom Namen des neuen Referenten, vermerkt, HHStA, RHR, Protocolla referentium VII (1746–1753) (unfoliiert), z. B. Arnsburg Kloster, Böselager, Johanniterorden. Reichshofratsordnung 1654 Tit. IV § 13, Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 170 f. Dorfner, Mittler (wie Anm. 4), S. 174–176. Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 23, Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 191; Reichshofratsordnung 1654 Tit. V § 4, ebd., Bd. 2, S. 185; Kaiserliches Dekret 1766 Art. 11, ebd., Bd. 2, S. 320. Reichshofratsordnung 1654 Tit. V §§ 1–3, ebd., Bd. 2, S. 180–185. Lothar Gross, Die Reichsarchive, in: Ludwig Bittner (Hrsg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1. Wien 1936 (Inventare österreichischer staatlicher Archive V. Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 4), S. 273–394 (hier S. 304). HHStA, Archivbehelfe, AB I/27. Archivinformationssystem des Österreichischen Staatsarchivs: https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?id=94 (abgerufen am 28. Februar 2023). Ergebnis einer Hochrechnung auf der Basis der zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Aufsatzes elektronisch verfügbaren Eintragungen zu den Klägernamenbuchstaben A–D sowie den Buchstaben M und S (69 von 211 Kartons, rund 2.000 Fälle). Die Fallzahl erscheint groß genug, um Verzerrungen durch Häufungen von Verfahren bestimmter Reichsstände, die in der Stichprobe aufscheinen, zu minimieren.
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mehrere Relationen vorliegen können, so dass die Anzahl der erhaltenen Relationen noch etwas größer sein dürfte. Trotzdem sind zahlreiche weitere solche Referate in den Verfahrensakten überliefert. Dort fielen sie dem Registrator der Reichskanzlei Nikolaus Wolf auf, der 1792 damit begann, die reichshofrätlichen Verfahrensakten neu zu ordnen.Wolf legte ein 17 großformatige Bände umfassendes Repertorium an, das bis heute den mit über 40.000 Einträgen umfassendsten Behelf zu den Judizialakten des Reichshofrats darstellt. Dort vermerkte er, wenn dem verzeichneten Akt eine Relation oder Korrelation beilag. Das Wolfsche Repertorium wurde inzwischen in eine Datenbank übertragen,³⁸ die allerdings erst teilweise in das Archivinformationssystem des Österreichischen Staatsarchivs eingepflegt ist. Eine entsprechende Abfrage führt zu dem Ergebnis, dass in den im Wolfschen Repertorium erfassten Aktenserien Relationen zu rund 5.750 Verfahren vorliegen dürften; auch hier kann im Fallakt mehr als ein Referat überliefert sein. Selbst wenn Überschneidungen nicht auszuschließen sind und nicht geklärt werden kann, warum manche Relationen in die entsprechende Serie gelegt wurden, während andere im Verfahrensakt verblieben, ist doch davon auszugehen, dass es sich bei den im Wolfschen Repertorium erfassten Relationen um eine echte Erweiterung des Bestands und nicht um eine Doppelüberlieferung zu den in den Relationes verwahrten Stücken handelt. Wolf bearbeitete nicht alle Serien, die heute die Verfahrensakten im Archiv des Reichshofrats bilden. Nicht in seinem Repertorium dokumentiert sind insbesondere die Serien Antiqua, die überwiegend Akten aus dem 17. Jahrhundert enthält, und Alte Prager Akten, größtenteils aus der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. Beide Serien sind Gegenstand eines derzeit laufenden Verzeichnungsprojekts;³⁹ für die Alten Prager Akten ist die Neuerfassung bereits abgeschlossen.⁴⁰ Nach den bisher veröffentlichten Inventarbänden dürfte sich die Anzahl der Relationen im Reichshofratsarchiv durch die Berücksichtigung dieser Serien allerdings kaum erhöhen; in
Arthur Stögmann, Die Erschließung von Prozeßakten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Ein Projektzwischenbericht, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs (künftig: MÖStA) 47 (1999), S. 249–265; Gert Polster, Die elektronische Erfassung des Wolfschen Repertoriums zu den Prozessakten des Reichshofrats im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: MÖStA 51 (2004), S. 635–649. Tobias Schenk, Das Projekt zur Erschließung der Reichshofratsakten. Eine Zwischenbilanz nach acht Jahren, in: Eva Schumann (Hrsg.), Justiz und Verfahren im Wandel der Zeit. Gelehrte Literatur, gerichtliche Praxis und bildliche Symbolik. Festgabe für Wolfgang Sellert zum 80. Geburtstag. Berlin 2017 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen NF., Bd. 44), S. 31–51. Internetseite des Projekts: http://reichshofratsakten.de/ (abgerufen am 18. Januar 2023). Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, 5 Bde. Berlin 2009–2014. Zu den Antiqua sind bisher sechs Inventarbände erschienen: ders. (Hrsg.), Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, Serie II: Antiqua, bisher Bd. 1–6. Berlin 2010–2022.
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ihnen sind jeweils nur eine Handvoll solcher Referate erhalten. Relationen wurden auch zu nicht streitigen Verfahren erstellt, die in der Zuständigkeit des Reichshofrats lagen. Sie könnten sich daher auch unter den Lehens- und Gratialakten des Archivs befinden, die im Wolfschen Repertorium nicht berücksichtigt sind.⁴¹ Unter Vorbehalt der angegebenen Unsicherheiten lässt sich damit die Anzahl der Verfahrensakten im Reichshofratsarchiv, die eine oder mehrere Relationen enthalten, auf zwischen 10.000 und 12.000 schätzen. Das sind keineswegs alle oder auch nur die Mehrheit auch nur der Judizialakten – die auf ca. 70.000 geschätzt wurden –,⁴² aber doch ein so großer Teil, dass von einer auch praktischen Bedeutung der Relationen in der Entscheidungsfindung des Reichshofrats ausgegangen werden kann. Dies gilt umso mehr, als manche Reichshofräte die von ihnen angefertigten Relationen in ihren Unterlagen behalten zu haben scheinen, statt sie an die Reichskanzlei weiterzugeben, so dass sie sich heute in diversen Adelsarchiven finden können.⁴³ Während die Anzahl der Relationen im Reichshofratsarchiv die aus den normativen Quellen abgeleitete Erwartung hinsichtlich der Bedeutung dieser Dokumente einigermaßen erfüllen kann, gilt dies nicht im Hinblick auf ihre zeitliche Verteilung. Entgegen der Ausgangsvermutung, wonach die Fallreferate die gesamte Geschichte des Reichshofrats dokumentieren müssten, lässt die Überlieferung ein markantes Ungleichgewicht erkennen. Die folgende Grafik zeigt die zeitliche Verteilung der Fälle, die im Repertorium zur Serie Relationes, bezogen auf die als Stichprobe herangezogenen Klägernamenbuchstaben A–D, M und S, verzeichnet sind.
Das Repertorium erwähnt in seltenen Fällen die Umlegung eines Akts in die Lehens- oder Gratialregistratur, so z. B. in den Fällen Grävenitz oder Salm: HHStA, Archivbehelfe, AB I/1, Bd. 3 (unfoliiert), Braunschweig 81; AB I/1, Bd. 15, fol. 49r. Leopold Auer, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa. Bonn/Wetzlar 1997, S. 117–130 (hier S. 118). Ein Beispiel dafür sind die über 30 Relationen, die Georg Adam von Starhemberg in seiner Zeit als Reichshofrat (1749–1750) angefertigt hat, die vor einigen Jahren auf Schloss Eferding in Oberösterreich aufgefunden und dem Oberösterreichischen Landesarchiv übergeben wurden. Zu diesen Relationen habe ich auf Einladung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung am 27. April 2017 einen Vortrag in Wetzlar gehalten; eine Veröffentlichung ist geplant.
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Grafik 1: Fallakten in den Relationes (AB I/27, A–D, M, S).
Die Überlieferung von Relationen in der gleichnamigen Serie des Reichshofratsarchivs setzt in nennenswertem Ausmaß erst in den 1730er Jahren ein; der Höhepunkt des Relationswesens, so weit dieses hier dokumentiert ist, liegt im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Relationen aus dem 16. und 17. Jahrhundert stellen eine seltene Ausnahme dar. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die vorliegende Grafik die zeitliche Verteilung der Relationen in der zugehörigen Serie nur unscharf abzubilden vermag. Das liegt nicht nur daran, dass sich die Einträge im zugrundeliegenden Archivbehelf auf Fälle, nicht auf Relationen, beziehen. Vielmehr wird zu manchen Einträgen eine – gelegentlich mehrere Dekaden umfassende – Zeitspanne angegeben, so dass sich das Jahr der in diesem Zusammenhang erstellten Relationen ohne Akteneinsicht nicht angeben lässt. Das mag in Einzelfällen daran liegen, dass im betreffenden Verfahren mehrere Relationen vorliegen; häufiger jedoch zog der Autor des Repertoriums nicht das Datum der Relation für seine Laufzeitangabe heran, sondern den Zeitraum, über den in der Relation berichtet wurde – der in einem späten Verfahrensstadium oder bei wiederaufgenommenen Vorgängen einen beachtlichen Umfang erreichen konnte. Deswegen wurde für die vorliegende Analyse jeweils das End-Jahr eines angegebenen Zeitraums zugrunde gelegt, das in den meisten Fällen das Jahr der Relation sein dürfte. Ein viel gravierenderer Einwand gegen die Interpretation der Laufzeitangaben des Repertoriums zu den Relationes als Indiz für die zeitliche Verteilung der Relationen am Reichshofrat ergibt sich aus der Tatsache, dass unklar ist, wann und nach welchen Grundsätzen die Serie zusammengestellt wurde. Das Fehlen von Fällen aus dem 16. und 17. Jahrhundert könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass ältere Akten schlicht nicht mehr in eine vielleicht erst im 18. Jahrhundert
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begründete Reihe umgelegt wurden. Deswegen wurden in einer Kontrolluntersuchung die Laufzeitangaben des Wolfschen Repertoriums zu den Fällen analysiert, zu denen sich Relationen erhalten haben. Als umfangreichster Behelf zu den Judizialakten des Reichshofrats, der mehrere Serien umfasst, kommt dem Repertorium am ehesten der Status einer umfassenden, repräsentativen Dokumentation der Überlieferung zu. Allerdings wird die Verfahrenslaufzeit auch hier häufiger als Zeitraum angegeben, der in Einzelfällen nicht nur mehrere Jahrzehnte, sondern sogar ein Jahrhundert und mehr umfassen kann. Anders als im Fall der Relationes lässt sich hier nicht vermuten, dass das End-Jahr des jeweiligen Zeitraums in der Regel das Jahr der Relation gewesen sein dürfte. Verzeichnet wurden vielmehr FallAkten, in denen unschwer auch Verfahrensphasen nach einer Relation dokumentiert sein können. Auch lässt sich dem Behelf nicht entnehmen, ob dem Akt ein Referat oder mehrere davon beiliegen. Für die folgende Analyse wurde im Fall von Zeiträumen als Laufzeit das jeweilige Beginn-Jahr herangezogen. Fälle, zu denen mehrere Jahre oder eine mehr als 100 Jahre umfassende Zeitspanne angegeben werden, sind nicht berücksichtigt, ebenso Einträge, zu denen die Laufzeitangabe fehlt.⁴⁴ Insofern kann auch die folgende Grafik die zeitliche Verteilung der Relationen im Reichshofratsarchiv nur mit einer deutlichen Unschärfe abbilden.
Grafik 2: Fallakten mit Relationen im Wolfschen Repertorium (AB I/1).
Selbst wenn sich die zeitliche Verteilung der Fälle, zu denen laut Wolfschem Repertorium Relationen überliefert sind, im Detail von der Aufschlüsselung nach Jahren der Fälle der Relationes unterscheidet, bestätigt sie deren wichtigstes Er Fehlende Laufzeitangabe: 81 Fälle; mehrere Jahre oder über 100 Jahre umfassende Intervalle als Laufzeitangabe: 24 Fälle.
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gebnis. Relationen in den Verfahrensakten sind ein Phänomen des 18. Jahrhunderts, insbesondere dessen zweiter Hälfte. Aus dem 16. und 17. Jahrhundert liegen nur wenige solcher Texte vor. Unterstützt wird diese Aussage durch den oben erwähnten Befund für die Alten Prager Akten und die Antiqua. Im übrigen zeigt die Grafik zu den Fällen mit Relationen im Wolfschen Repertorium deutliche Abweichungen von der auf einer vergleichbaren Grundlage basierenden Aufschlüsselung zur Prozessfrequenz am Reichshofrat, die Gert Polster und ich vor längerer Zeit erarbeitet haben.⁴⁵ Es fehlen die dort sichtbaren Entwicklungen des 16. und 17. Jahrhunderts ebenso wie die starke Prozessfrequenz im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Daraus lässt sich schließen, dass die Zunahme an überlieferten Relationen nicht einfach auf eine allgemeine Zunahme des reichshofrätlichen Geschäftsanfalls zurückgeführt werden kann. Damit liegen starke Indizien für die These vor, dass die Relationen am Reichshofrat nicht nur erst ab dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts überliefert sind, sondern dass sie als schriftliche, den Akten beizulegende Texte erst in dieser Epoche an Bedeutung gewannen. Der Reichshofrat dürfte sich damit deutlich vom Reichskammergericht unterscheiden. Dort lässt sich das Relationsaufkommen für die Speyerer Zeit angesichts von Aktenverlusten zwar nicht mehr rekonstruieren, die veröffentlichten Sammlungen weisen aber einen starken Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 16. und der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus.⁴⁶ Die Suche nach möglichen Gründen für diese Entwicklung führt zurück zu den oben bereits behandelten normativen Texten. Zwar wird das Referieren, wie gezeigt, bereits im Ordo consilii von 1550 erwähnt. Von einer schriftlichen Relation ist jedoch erst in der – nicht in Kraft getretenen – Ordnung von 1617 die Rede, in der es heißt, Referent und Korreferent sollten sich in grossen bevorab definitivsachen mit ihrer beschriebenen [also schriftlichen, EO] relation und angehengten voto […] gefast halten. ⁴⁷ Bis zur Anordnung der Verwahrung dieser schriftlichen Relationen bei den Akten sollte es noch bis zur Reichshofratsordnung von 1654 dauern.⁴⁸ Mit schriftlichen Relationen in den Reichshofratsakten ist also überhaupt erst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu rechnen.
Eva Ortlieb/Gert Polster, Die Prozessfrequenz am Reichshofrat, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 26 (2004), S. 189–216 (hier Grafik 1, S. 213). Anette Baumann, Einleitung, in: dies. (Bearb.), Gedruckte Relationen (wie Anm. 15), S. 1–24 (hier S. 6 f.). Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 22: Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 191. Es sollen auch die ganze re- und correlationes wohl verpetschiert jederzeit bey den actis oder sonsten wohl verwahrt aufgehalten […] werden: Reichshofratsordnung 1654 Tit. IV § 18, ebd., Bd. 2, S. 175 f.
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Hinweise darauf, warum es damit trotzdem noch bis in das nächste Jahrhundert hinein dauern sollte, liefert die Diskussion um die reichshofrätliche Praxis, die zum Entstehungskontext der Reichshofratsordnungen gehört und daher in der Edition von Wolfgang Sellert teilweise berücksichtigt ist.⁴⁹ Die Schriftlichkeit des Referierens und seine Dokumentation gehört zu den Forderungen, die von außen – durch Reichstage und Reichsdeputationstage – an den Kaiser und seinen Reichshofrat herangetragen wurden, teilweise übrigens zusammen mit einer Bindung des Reichshofrats an die einschlägige Praxis am Reichskammergericht.⁵⁰ Vermutlich ging es den Kritikern des kaiserlichen Rats darum, durch den Zwang zu einer schriftlichen, in die Akten eingehenden Relation Druck auf die Referenten auszuüben, sich sorgfältig mit der jeweiligen Angelegenheit zu beschäftigen und sachgerecht zu argumentieren. Schriftlichkeit schränkte schon allein durch ihre prinzipielle Nachvollziehbarkeit die Willkür ein, die mündliches Beraten ermöglichte. Ein kaiserliches Dekret von 1649 reagierte auf diese Forderungen, argumentierte dabei aber – naturgemäß – anders. Den Reichshofräten wurde – da dem Kaiser zugetragen worden sei, dies sei seit einiger Zeit unterlassen worden – aufgetragen, ihre Relationen nicht nur schriftlich abzufassen, sondern sie auch den Akten beizulegen. Auf diese Weise könnten sich Kollegen, die zusätzlich oder später mit dem Fall befasst würden, zuverlässig informieren, was bereits referiert worden sei und aus welchen Gründen.⁵¹ Dass die Reichshofräte den entsprechenden Vorschriften der Reichshofratsordnung trotzdem nur sehr zögernd nachkamen, lässt sich aus weiteren kaiserlichen Dekreten von 1714 und 1766 herauslesen. Beide Texte schärfen den Mitgliedern des Rats noch einmal ausdrücklich ein, Re- und Korrelationen den Fallakten beizulegen.⁵² Schriftliche Relationen in den Verfahrensakten Zum folgenden ebd., Bd. 2, S. 176, Anm. 619. So beispielsweise während des Reichstags von 1641 durch den Reichsfürstenrat, aufgenommen im sog. Reichsgutachten für den Kaiser. 1642 beschäftigte sich der Reichsdeputationstag in Frankfurt a. M. mit der Frage: ebd. Der Bezug auf die Praxis des Reichskammergerichts findet sich in einer hessischen Stellungnahme in diesem Zusammenhang: ebd., S. 177. Wann dann Ihre Kayserl. Majest. vernehmen müssen, daß solches [das Aufsetzen schriftlicher Relationen, EO] nun eine Zeit hero unterlassen worden, als ist deroselben gnädigster Befelch hiemit, daß diejenige welche dergleichen grosse und sonderlich Definitiv-Sachen zu referiren zugestellt werden, hinfüro darüber ihre Relationes nicht allein schriftlich verfassen, sondern auch selbige bey den Actis jedesmahls lassen sollen, damit wann der Sachen Wichtigkeit nach, die Nothdurft erfordern würde, dem Referenten einen oder mehr zuzuordnen, man gleichwohl gründliche und verläßliche Nachricht haben möge, aus was für Motiven und Ursachen der Referent dieser oder jener Meynung gewesen, und worauf hauptsächlich sein Votum bestanden, Dekret 1649, Renatus Karl von Senkenberg (Hrsg.), Sammlung der den kaiserl. Reichshofrath betreffenden Ordnungen und Verordnungen. Gießen 1800, S. 128–130 (hier S. 129). Dekret 1714 Art. 7, Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 277 f.; Dekret 1766 (Entwurf ) Art. 8: ebd., Bd. 2, S. 306 f.
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waren demnach nicht unbedingt ein praktisches Interesse der Reichshofräte oder des Kaisers als Gerichtsherrn, sondern vor allem der Beobachter und Kritiker des kaiserlichen Rats – selbst wenn die Offenlegung der Texte in einer Zeit, die keine parteiöffentliche oder gar öffentliche Urteilsbegründung praktizierte, kaum denkbar gewesen sein dürfte. Offenbar ging man davon aus, dass schon allein das Bewusstsein der Aufbewahrung der Relation eine disziplinierende Wirkung auf die Referenten ausüben werde. Den Relationen kam demnach nicht nur eine Funktion innerhalb des Entscheidungsprozesses zu, sondern auch bei dessen Dokumentation.
3 Kontrolle von Subjektivität? Das Aktenreferat der Relationen Die von den zuständigen Referenten am Reichshofrat angefertigten Relationen bestehen in der Regel aus zwei Teilen. Auf ein Referat des bisherigen Verfahrensverlaufs, meist in Gestalt einer Zusammenfassung der Eingaben der Parteien und der Verfügungen des Rats in chronologischer Abfolge, folgt eine mit Votum überschriebene Bewertung, die in den gelegentlich als Formula bezeichneten Vorschlag eines Conclusums mündet. Der erste, zusammenfassende Teil nimmt in der überwiegenden Anzahl der Fälle mehr Raum ein als der zweite und ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse. Es fällt auf, dass Parteieingaben und Conclusa nicht nur umfassend zusammengefasst wurden – wobei manche Räte stringent auf Rechtsfragen abstellten, während andere sehr nahe an den referierten Texten blieben –, sondern man immer wieder auch wörtliche Zitate aus den Akten einband. Diese Zitate werden im Relationstext entweder nur vorgesehen – so etwa, wenn sich der Referent an den Stellen, an denen ein Aktenstück verlesen werden sollte, ein Legatur notierte⁵³ – oder aber als auch optisch hervorgehobene wörtliche Zitate integriert.⁵⁴ Dabei kamen offenbar auch von den Referenten angefertigte Aktenextrakte zum Einsatz, aus denen entweder vorgelesen⁵⁵ oder deren
HHStA, RHR, Relationes, Kart. 7 (unfoliiert), Baden Stadt contra Markgraf von Baden, undat. (1789); ebd. Kart. 117 (unfoliiert), Münsterschwarzach contra Then und andere Untertanen aus Sommerach, undat. (1783). Beispiele in den zahlreichen Relationen und Voten in dem Streit um die sayn-hachenburgische Sukzession 1787: HHStA, Relationes, Kart. 164. [L]egatur conclusum de […] extractus actorum fol. 108; quae legatur extractus fol. 24–27 pag. 2 in extenso; Nunc legatur Extractus: HHStA, RHR, Relationes, Kart. 7 (unfoliiert), Baden Stadt contra Markgraf von Baden, undat. (1789).
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Verlesung bei Bedarf angeboten wurde.⁵⁶ Die Reichshofratsordnungen treffen an mehreren Stellen Anordnungen für das Verlesen von Akten in den reichshofrätlichen Sitzungen,⁵⁷ wobei nachdrücklich darauf hingewiesen wurde, die Referenten sollten wichtige Schriftsätze nach Möglichkeit zur Gänze, oder zumindest die entscheidenden Passagen langsamb und woll verständtlich, wie es in den Ordnungen von 1617 und 1654 heißt,⁵⁸ vorlesen. Auch Aktenextrakte konnten dabei verwendet werden.⁵⁹ Das Verlesen von Akten fand auch Eingang in das Praxishandbuch zum reichshofrätlichen Verfahren, das der Frankfurter Rechtsgelehrte Johann Christoph Uffenbach in zwei Auflagen am Ende des 17. Jahrhunderts publizierte. Dort ist von ausführlichem Vorlesen die Rede, an dem auch Sekretäre beteiligt gewesen seien.⁶⁰ Uffenbach erwähnt auch Aktenextrakte, die von Referenten und Korreferenten anzufertigen und auf Nachfrage den nicht referierenden Reichshofräten vor Beginn der betreffenden Sitzung auszuhändigen seien.⁶¹ Schriftliche Prozessakten konnten über diese Transformation in verlesene Aktenzitate und -auszüge also auch im mündlichen Entscheidungsprozess eine unmittelbare Wirkung entfalten, selbst wenn diese durch die vom jeweiligen Referenten getroffene Auswahl natürlich entscheidend beeinflusst wurde. Der Hintergrund der – auch in den Normen vorgesehenen – Praxis des Aktenverlesens ist darin zu sehen, dass den Verantwortlichen grundsätzlich bewusst war, was bis heute ein nicht völlig aufzulösendes Dilemma des Referierens im Rahmen kollektiver Entscheidungsfindung vor Gericht darstellt.⁶² Das Benennen von Referenten für einzelne Fälle, so dass nicht mehr alle Richter alle Akten zu studieren brauchen, dient der Effizienz der Institution und ist bei höheren Fall Nach einer Erläuterung, wonach er dem Hohen Collegio nur dasjenige vortragen [werde, EO], was auf diese Beurteilung seiner Gegenstände einen Bezug haben dörffte, setzte der Referent im Streit um die badische Religionsausübung mit dem Angebot fort, dafern ein mehrers verlangt wird, so bin auch solches nach Befehl aus den vollkommen beyhanden liegenden Extract zuheben bereit: ebd. Hofratsinstruktion 1594 Tit. V § 6: Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 47; Reichshofratsordnung 1617 Tit. III §§ 16 und 25, ebd., Bd. 1, S. 188 und 193 f.; Reichshofratsordnung 1654 Tit. V § 2, ebd., Bd. 2, S. 184. Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 25, ebd., Bd. 1, S. 193 (Zitat); Reichshofratsordnung 1654 Tit. V § 1, ebd., Bd. 2, S. 183. Hofratsinstruktion 1594 Tit. V §§ 6–7, ebd., Bd. 1, S. 47; Reichshofratsordnung 1654 Tit. V § 3, ebd., Bd. 2, S. 185. [N]am regulariter a Referente & Correferente Acta ad longum in publico Consilii leguntur, quibus quandoque Secretarii in Lectione assistunt: Johann Christoph Uffenbach, Tractatus singularis et methodicus de excelsissimo consilio caesareo-imperiali aulico. Wien 1683 (2. Aufl. 1700), S. 231. Ebd., S. 231 f. Dazu Wolfgang Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten – „group choice“ in europäischen Justiztraditionen. Tübingen 2016, zu Reichshofrat und Reichskammergericht S. 74 f. Bezogen auf den Reichshofrat Schenk, Vom Reichshofrat (wie Anm. 9), S. 159–161.
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zahlen kaum zu umgehen. Allerdings belastet es die Entscheidungsfindung durch ein unhintergehbar subjektives Moment. Der Entscheidung des Gremiums liegt nicht mehr die Aktenkenntnis aller entscheidenden Richter zugrunde, sondern lediglich die Fallanalyse eines einzigen oder zweier Kollegen, bei der zwangsläufig Informationen ausgewählt und Argumente zugespitzt werden müssen. Interpretationen, Missverständnisse oder Irrtümer – seien sie beabsichtigt oder nicht – schlagen so unter Umständen unmittelbar auf die Entscheidung durch. Das Verlesen zumindest wichtiger Teile der Parteieneingaben im Rat konnte in dieser Situation in gewissem Ausmaß als Korrektiv wirken. Auch an anderen Stellen der Reichshofratsordnungen wird das Bemühen um Zurückdrängung der Subjektivität spürbar, die mit der Übertragung von Fällen an einzelne Referenten einherging. Die deutlichste Maßnahme in diese Richtung stellt die Bestellung eines Korreferenten dar, vorgesehen war aber auch die Möglichkeit der Akteneinsicht für nicht referierende Reichshofräte, die, sollten sie auf relevante, vom Referenten nicht erwähnte Aspekte des Falls stoßen, eine weitere Umfrage veranlassen konnten.⁶³ Dass das Verlesen von Akten auch im Interesse von Referenten sein konnte, die sich entweder schlecht vorbereitet hatten oder sich nicht mit prononcierten Einschätzungen angreifbar machen wollten, mag ebenfalls zu dem einen oder anderen ausgesprochen „quellennahen“ Referat beigetragen haben. Jedenfalls kursierten im 18. Jahrhundert spöttische Bemerkungen, wonach die Referenten in den Reichshofratssitzungen die Parteieingaben mehr vorläsen als analysierten.⁶⁴ Das Bemühen um eine „integrale“ Falldarstellung hilft, den teilweise beachtlichen Umfang vieler Relationen zu erklären. In den mit rund 20 cm Höhe geräumigen Kartons der Relationes liegen zwischen einer Handvoll und mehreren Dutzend Einzelstücke. Im Durchschnitt sind es laut der für den vorliegenden Beitrag herangezogenen Stichprobe gut 30 Fälle, woraus sich schließen lässt, dass eine durchschnittliche Relation durchaus 20 bis 30 Blätter füllte. Ein solcher Umfang, zusammen mit der schieren Anzahl der am Reichshofrat getroffenen Entscheidungen, wirft weitere Fragen im Hinblick auf den Umgang mit diesen Schriftstücken und damit die Rolle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf. Nach Ausweis der Resolutionsprotokolle behandelte der Reichshofrat in seinen mehrstündigen Sitzungen im Regelfall mindestens ein Dutzend Fälle, in denen jeweils eine Entscheidung zu treffen war.⁶⁵ Dabei ging es alles andere als stets oder auch nur überwiegend um Urteile, die einen Rechtsstreit nach Abwägung rechtlicher Argumente entschieden. Besonders in den Anfangsstadien eines Verfahrens Reichshofratsordnung 1617 Tit. III § 26: Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 193 f.; Reichshofratsordnung 1654 Tit. V § 5 f.: ebd., Bd. 2, S. 186–188. Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 8), S. 341. So von Gschliesser, Der Reichshofrat (wie Anm. 11), S. 79.
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waren zunächst einmal Parteieingaben zuzustellen oder Fristen zu verlängern. Es waren auch Berichte anzufordern, Kommissionen einzusetzen, Anordnungen zu erteilen oder Aufforderungen zu wiederholen.⁶⁶ Auch bereits in diesem Stadium war der Fall am Reichshofrat im 18. Jahrhundert einem Referenten anvertraut und es entstand ein Verfahrensakt.⁶⁷ Schriftliche Relationen dürften trotzdem nicht für alle diese Beschlüsse angefertigt worden sein. Bereits am Reichshofrat unterschied man wenig aufwendige Currentia von Angelegenheiten, in denen Entscheidungen in der Sache zu treffen waren;⁶⁸ es gibt Hinweise, dass sie in einer Art Eilverfahren vor dem eigentlichen Sitzungsbeginn oder in einer kurzen Sequenz zu Beginn der Sitzung rasch erledigt wurden.⁶⁹ Darüber hinaus behandelte der Reichshofrat neben Rechtsstreitigkeiten auch Lehens- und Gratialangelegenheiten, die häufiger einfache Antragsverfahren waren, in denen keine umfangreichen Überlegungen angestellt werden mussten. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Bei- und Endurteile, die auf der Basis einer Abwägung von Sach- und Rechtsfragen gesprochen werden mussten. In erster Linie für diese Fälle sah die Reichshofratsordnung von 1654 verpflichtend nicht nur eine schriftliche Relation, sondern auch die Bestellung eines Korreferenten vor. Ein größerer Teil der erhaltenen Relationen dürfte in einem solchen späten Verfahrensstadium entstanden sein, was auch die Länge des Aktenreferats –
Diese zahlreichen Entscheidungen des Reichshofrats – jenseits von Urteilen und Vergleichen – stellt insbesondere Ulrich Rasche in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: Ulrich Rasche, Urteil versus Vergleich? Entscheidungspraxis und Konfliktregulierung des Reichshofrats im 17. Jahrhundert im Spiegel neuerer Aktenerschließung, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Mit Freundschaft oder mit Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.– 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2015 (QFHG, Bd. 65), S. 199–232. Anders Oestmann (Hrsg.), Gemeine Bescheide (wie Anm. 1), S. 290, der davon ausgeht, der Akt sei erst im Rahmen der inrotulatio actorum zusammengestellt worden. Die inrotulatio diente meines Erachtens der Überprüfung des Akts auf Vollständigkeit vor einer Sachentscheidung, an ihr nahmen Vertreter der Parteien teil. Eine ähnliche Praxis wie am Reichshofrat – Anlegen eines Akts bereits mit dem ersten eingehenden Schriftstück, inrotulatio actorum zur Prüfung der Vollständigkeit des Akts – findet sich offenbar auch am Oberappellationsgericht Celle, dazu der Beitrag von Stefan Andreas Stodolkowitz im vorliegenden Band. Ich danke dem Verfasser für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in sein Manuskript. Gschliesser, Der Reichshofrat (wie Anm. 11), S. 39. Uffenbach, Tractatus (wie Anm. 60), S. 231, notierte, dass, um den hohen Zeitaufwand durch Reund Korrelation zu vermindern, duo vel tres Consiliarii juniores prima hora Consilii ab octava usque ad nonam, brevius aut diutius, omnia Memorialia, quae puram communicationem & terminorum concessionem desiderarent, statim resolverent atque his resolutis ad plenam redirent Actaque; ita resoluta postea Domino Referenti ordinario redderentur. Die kaiserliche Verordnung an den Reichshofrat von 1714 sah in Art. 17 für die Currentia die erste Stunde jeder Ratssitzung vor: Sellert, Die Ordnungen (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 282 f.
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und die Laufzeitangaben im Findbuch zu den Relationes – zu erklären hilft. Allerdings ist bekannt, dass Verfahren am Reichshofrat nur in einer Minderzahl von Fällen überhaupt bis zur Urteilsreife geführt wurden,⁷⁰ sei es, weil die Parteien sie nicht weiterverfolgten, sei es, weil der Reichshofrat sich nicht mehr damit beschäftigte. Ob es vor diesem Endstadium, also bezüglich der vielen vom Reichshofrat getroffenen Zwischenentscheidungen in der Sache, über Zufälle hinausgehende Faktoren gab, in welchen dieser Fälle schriftliche Relationen verfasst und den Akten beigelegt wurden und in welchen nicht, lässt sich auf dem derzeitigen Stand der Forschung nicht entscheiden. Auch nicht entscheiden lässt sich, ob die schriftlichen Relationen, die in den Akten überliefert sind, tatsächlich in jedem Fall in dieser Form verlesen wurden oder aber ob sie Referenten und Korreferenten lediglich einerseits als Instrument zur gedanklichen Durchdringung des Prozessstoffs, andererseits als Gedächtnisstütze dienten. Die Länge vieler Relationen lässt hier Zweifel aufkommen. Zwar gibt es nachweislich Relationen, deren Vortrag mehrere Sitzungen des Reichshofrats in Anspruch nahm. Der Regelfall war dies nach Ausweis der Resolutionsprotokolle aber nicht. Auch eine mögliche Unterdrückung einer Relation, deren Referat durch den Präsidenten nicht anberaumt wurde, eine etwaige Vorzensur durch den Präsidenten oder sonstige Dritte oder die Einschüchterung eines Referenten lässt sich den Schriftstücken nicht entnehmen.⁷¹ Die Relationen sind, wie eingangs festgestellt, eben keine Dokumentation des mündlichen Entscheidungsprozesses am Reichshofrat, in dessen Zusammenhang sie entstanden.
4 Verschriftlichte Mündlichkeit und verlesene Schriftlichkeit: Mündlichkeit und Schriftlichkeit am Reichshofrat anhand der Relationen Trotzdem lassen sich aus der hier unternommenen kursorischen Beschäftigung mit den Relationen einige Ergebnisse für die Frage nach Schriftlichkeit am Reichshofrat gewinnen. Sie betreffen zum einen die Bedeutung, zum anderen die Funktion geschriebener Dokumente. Zweifellos relativiert der Blick auf den Entscheidungsprozess die in der Forschung betonte überragende Bedeutung der Schriftlichkeit im Verfahren des
Angaben zur Anzahl der Endurteile im 18. Jahrhundert bei Gschliesser, Der Reichshofrat (wie Anm. 11), S. 39; Schenk, Vom Reichshofrat (wie Anm. 9), S. 163, Anm. 251. Zu solchen Praktiken Schenk, Die Vota ad imperatorem (wie Anm. 9), S. 289–294.
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Reichshofrats. Selbst wenn die Kommunikation zwischen Parteien und Rat auf der formalen Ebene so gut wie ausschließlich schriftlich verlief, fiel die Entscheidung über die jeweiligen Eingaben in einem internen, mündlichen Verfahren, das allerdings keine freie Diskussion, sondern in Gestalt der Umfrage eine auf Entscheidung ausgerichtete, reglementierte Mündlichkeit vorsah.⁷² Die schriftlichen Relationen ändern daran nichts. Zum einen wurden sie nicht in allen Fällen verfasst, zum anderen kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass sie in genau dieser Form in die Sitzungen einflossen, und schon gar nicht ist gesichert, dass ihre Argumentation jeweils den Ausschlag für ein Conclusum oder ein Urteil gab. Sie sind, worauf Tobias Schenk zu Recht hinweist, auch Teil der juristischen Rhetorik,⁷³ als deren schriftliche Grundlage sie fungierten – insofern ließe sich von einer verschriftlichten Mündlichkeit sprechen. Innerhalb dieses Rahmens unterstreichen sie allerdings die Bedeutung von Schriftlichkeit für das Entscheiden am Reichshofrat. Durch das Verlesen von Passagen aus den Akten und aus den von den Referenten angefertigten Aktenexzerpten flossen Teile des schriftlichen Verfahrens unmittelbar in den Entscheidungsprozess ein. Schriftlichkeit wurde dabei durch Verlesen in Mündlichkeit transformiert, das Entscheiden durch die verlesene Schriftlichkeit der Aktenzitate mitgeprägt. Dass Schriftlichkeit im Zusammenhang mit den Relationen des Reichshofrats ganz unabhängig von dem mündlichen Vortrag in einer Sitzung des Rats notwendig war, um komplexe Verfahren in einem weit fortgeschrittenen Stadium gedanklich zu ordnen und zu einer begründeten Bewertung zu gelangen, leuchtet unmittelbar ein. Insofern ließe sich – im Sinne der These VII der Herausgeber/innen des vorliegenden Bands – resümieren, dass Schriftlichkeit auch am Reichshofrat die Funktion erfüllte, gelehrte Rechtsprechung zu ermöglichen. Wie „gelehrt“ diese Rechtsprechung war, wie intensiv die Reichshofräte sich mit den entsprechenden juristischen Argumenten der Parteienanwälte auseinandersetzten und selbst juristisch argumentierten, ist damit allerdings noch nicht ausgemacht und liegt jenseits des Erkenntnisinteresses des vorliegenden Beitrags. Die späte Durchsetzung schriftlicher Relationen und ihrer Aufbewahrung deutet indes noch auf eine andere Funktion von Schriftlichkeit hin. Indem sie Argumente und Bewertungen der zuständigen Referenten dauerhaft festzuhalten erlaubte – was diesen auch bewusst war –, konnte sie einen Beitrag zur Versachlichung der Argumentation und der Transparenz des Entscheidungsprozesses leisten – selbst wenn, wie erwähnt, die Insofern praktizierte der Reichshofrat ein formales Entscheidungsverfahren: Philip HoffmannRehnitz/André Krischer/Matthias Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 45 (2018), S. 217–281 (hier S. 234–236). Dazu der Beitrag von Tobias Schenk im vorliegenden Band. Ich danke dem Autor für die Möglichkeit der Einsichtnahme in sein Manuskript.
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Betrachtung einer Relation noch längst keine verlässliche Aussage darüber erlaubt, aus welchen Gründen der Reichshofrat letztlich zu einer bestimmten Entscheidung kam. Auch am Reichshofrat selbst nützte man dieses Potential der schriftlichen Relationen; manche Referenten bezogen sich bei ihrer Darstellung einer unter Umständen Jahre zurückliegenden Prozessphase auf die Ausführungen ihrer Vorgänger.⁷⁴ Schriftliche, bei den Akten verwahrte Relationen waren aber auch eine Forderung von Beobachtern und Kritikern des Reichshofratsverfahrens, obwohl sie keineswegs deren Offenlegung forderten. Dies unterstreicht die Funktion von Schriftlichkeit bei der Herstellung von Transparenz, vielleicht sogar im Sinne von Rationalisierung und Unparteilichkeit, die die Thesen II und X der Herausgeber/ innen ansprechen. Dass der Reichshofrat sich dieser Forderung recht lange entziehen konnte, spricht für die Wirkungsmacht seines Selbstverständnisses als kaiserlicher Rat, der sich nicht veranlasst sah, Interna seiner Entscheidungsfindung nach außen dringen zu lassen – oder auch nur schriftlich zu dokumentieren.
Zu einem Conclusum des Reichshofrats von 1780 in dem von ihm neun Jahre später referierten Verfahren notierte der Referent: Ex votis D. D. Referentis et Correferentis erhellt daß die ratio der verworfenen Exceptionis fori [Behauptung der Unzuständigkeit des Gerichts unter Verweis auf die Austräge, EO] blos allein auf der qualität der Causarum religionis beruhe: HHStA, RHR, Relationes, Kart. 7 (unfoliiert), Baden Stadt contra Markgraf von Baden, undat. (1789). Mithin hatte er sich aus den ihm offenbar vorliegenden Relationen über die Motive der seinerzeitigen Entscheidung informiert.
Thomas Schreiber
Hab ich ein schreiben an kayserliche Maystadt selbst übergeben lassen. Anmerkungen zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Supplikationsverfahren des Reichshofrats um 1600 1 Einführung und Forschungsstand
Die schier unüberwindbare Fülle an historischen Quellen von Gerichten und Kanzleien der Vormoderne zeugt von der Mächtigkeit der Schriftlichkeit an den herrschaftlichen Behörden.¹ In deren Archivbeständen treffen Forschende regelmäßig auf unzählige Bittschriften, in der Frühen Neuzeit zumeist Supplicationes genannt.² Zweierlei hat die historische Forschung mittlerweile umfassend belegt: 1.) Es war alltägliche Praxis der Menschen des vormodernen Europas, Bitten an die Träger der Autoritäten zu richten.³ 2.) In der Frühen Neuzeit geschah dies häufig schriftlich, und zwar in Form einer Supplikation.⁴ Damit kann man Bemerkens-
Tobias Schenk, Das frühneuzeitliche Kaisertum – ein Faktor der Alltagsgeschichte? Überlegungen auf Grundlage der Reichshofratsakten, in: Gabriele Haug-Moritz/Sabine Ullmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive. Wien 2015 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Jg. 5, Bd. 2), S. 245–261 (hier S. 245–249). Zur Definition der Supplikation siehe (Auswahl): Gero Dolezalek, Art. Suppliken, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: HRG), Bd. 5. 1. Aufl. Berlin 1998, Sp. 94–97; Martin P. Schennach, Supplikation, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch. Wien/ München 2004 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband, Bd. 44), S. 572–585; ders., Art. Supplik, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13. Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 145–148. Cecilia Nubola/Andreas Würgler, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert). Berlin 2005 (Schriften des ItalienischDeutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 19), S. 7–14 (hier S. 8). Wie Härter treffend feststellt: „Im Grunde vollzog sich die formalisierte schriftliche Kommunikation zwischen Obrigkeit und Untertanen vor allem auf dem Wege der Supplikation“: Karl Härter, Das Aushandeln von Sanktionen und Normen. Zur Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der frühneuzeitlichen Strafjustiz, in: Nubola/Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 3), S. 243–274 (hier S. 246). https://doi.org/10.1515/9783111077406-015
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wertes festhalten: Auf dem Wege der Supplikation hatten Bauern, Bürger, Dienstmägde und Knechte aktive Teilhabe an der zunehmenden behördlichen Schriftlichkeit der Vormoderne. Ihr Anteil war dabei keineswegs gering, er war maßgeblich. Die Niederschläge dieser Form schriftlicher Kommunikation zwischen Beherrschten und Herrschenden finden sich in den Hinterlassenschaften vieler Kanzleien Europas der Vormoderne, in französischen und englischen Archiven⁵ genauso wie in der Apostolischen Pönitentiarie.⁶ Ebenfalls höchst umfassend sind die schriftlichen Überreste der Städte und Territorien des Alten Reiches.⁷ Nicht
Richard W. Hoyle, Petitioning as popular politics in early sixteenth-century England, in: Historical Research 75 (2002), S. 365–389; Beat Kümin/Andreas Würgler, Petitions, Gravamina and the early modern state: local influence on central legislation in England and Germany (Hesse), in: Parliaments, estates & representation (publ. for the International Commission for the History of Representive & Parliamentary Institutons) 17 (1997), S. 39–60; Lothar Schilling, Gnadengewalt und höchstrichterliche Gewalt im frühneuzeitlichen Frankreich (ca. 1550–1715), in: Haug-Moritz/Ullmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 1), S. 349–369; Robert Southwell, An humble supplication to Her Maiestie. Cambridge 1953; Liana Vardi, Peasants and the law: A village appeals to the French Royal Council, 1768–91, in: Social History 13 (1988), S. 295–313. Das päpstliche Supplikationswesen sucht angesichts seiner gewaltigen Fülle an Überresten freilich seinesgleichen, wie die breite Forschung zum päpstlichen Gnadenwesen eindrücklich dokumentiert; aus Platzgründen sei hier lediglich verwiesen auf: Deutsches Historisches Institut in Rom (Hrsg.), Repertorium poenitentiariae Germanicum. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, bisher 11 Bde. Tübingen 1996–2018; Ludwig Schmugge (Bearb.), Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie Pauls II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches. 1464– 1471. Tübingen 2002 (Repertorium poenitentiariae Germanicum, Bd. 5); Ludwig Schmugge/Patrick Hersperger/Béatrice Wiggenhauser (Bearb.), Die Supplikenregister der päpstlichen Pönitentiarie aus der Zeit Pius‘ II. (1458–1464). Tübingen 1996 (Repertorium poenitentiariae Germanicum, Bd. 4, Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 84); Ludwig Schmugge/Alessandra Mosciatti/Hildegard Schneider-Schmugge (Bearb.), Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie Innozenz’ VIII. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, 1484–1492. Tübingen 2008 (Repertorium poenitentiariae Germanicum, Bd. 7); Birgit Emich, Gnadenmaschine Papsttum. Das römische Supplikenwesen zwischen Barmherzigkeit und Bürokratie, in: Haug-Moritz/Ullmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 1), S. 325–347. Eine kleine Auswahl aus der umfänglichen Literatur zu den reichsstädtischen und territorialen Supplikationswesen: Renate Blickle, Die Supplikantin und der Landesherr. Die ungleichen Bilder der Christina Vend und des Kurfürsten Maximilian I. vom rechten ‚Sitz im Leben‘ (1629), in: Eva Labouvie (Hrsg.), Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen. München 1997, S. 81–99; Gerd Schwerhoff, Das Kölner Supplikenwesen in der Frühen Neuzeit. Annäherungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit, in: ders. (Hrsg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte. Köln 2000 (Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche, Bd. 4); André Holenstein, „Ad supplicandum verweisen“. Supplikationen, Dispensationen und die Polizeygesetzgebung im Staat des Ancien Regime, in: Nu-
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zuletzt konnte vor kurzem ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem österreichischen Fond zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung gefördertes Forschungsprojekt in den Akten des kaiserlichen Reichshofrats (künftig: RHR) eine weit größere Anzahl an Supplikationen nachweisen, die reichsmittelbare Untertanen⁸ an den Kaiser richteten, als es die bisherigen Erklärungsmodelle über die politische Beschaffenheit des Alten Reichs hatten vermuten lassen.⁹ Als Urheber respektive Initiatoren dieser Schriftstücke waren Untertanen aktive Mitwirkende an der behördlichen Schriftlichkeit in der Frühen Neuzeit. Wie groß der Anteil der Untertanen daran tatsächlich war, lässt sich erahnen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass rund die Hälfte der nachgewiesenen rund 7.700 Verfahren am RHR aus der Zeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612) Untertanen mittels Supplikation initiiert hatten. Indem die untertänige Bevölkerung sich bei dem Kaiser und anderen Obrigkeiten in breitem Maße in schriftlicher Form Gehör verschaffte, sicherte sie sich gleichsam die Teilhabe an der politischen Ordnung des Alten Reiches.¹⁰ Aber nicht nur das: mit ihren Supplikationen lösten die Bittsteller erneut schriftliches Handeln aus: Der Einlauf der Bittschriften wurde verzeichnet, die Entscheidungen über die erbetenen Anliegen in Protokollen registriert. Im Falle
bola/Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 3), S. 167–210; Birgit Rehse, Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797). Berlin 2008 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Bd. 35); ein guter Forschungsüberblick ist zu finden bei: Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung, in: Nubola/Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 3), S. 17– 52. Unter Untertanen versteht der Autor nichtadelige Personen, die in der Vormoderne unter obrigkeitlicher Gewalt lebten, zu Gehorsam und Treue verpflichtet waren, Anspruch auf Schutz und Schirm durch die Herrschaftsträger hatten und ihrerseits keine Herrschaftsrechte ausübten. Gabriele Haug-Moritz/Sabine Ullmann, Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 1), S. 177–189 (hier S. 177); Ulrich Hausmann, Sich ahn höhern Orten beclagen unnd das kayserliche Recht darüber ahnrueffen. Herkunft, Zielsetzung und Handlungsstrategie supplizierender Untertanen am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576–1612) unter Einbeziehung der Überlieferung süddeutscher Archive, in: Haug-Moritz/Ullmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 1), S. 191–213 (hier S. 207, 209); Thomas Schreiber, Die Ausübung kaiserlicher Gnadengewalt durch den Reichshofrat. Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576–1612), in: Haug-Moritz/Ullmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 1), S. 215–230 (hier S. 216). Siehe zu dem Projekt die weiteren Ausführungen. Siehe die oben ausgeführten Hinweise auf die umfänglichen Bestände in Rom, im Reich und im übrigen Europa; ebenso sei nochmals auf Härter, Das Aushandeln von Sanktionen (wie Anm. 4), S. 246, verwiesen.
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einer positiven Entscheidung wurden herrschaftliche Verfügungen erlassen, Patente und Privilegien ausgestellt, Schutzbriefe gefertigt, Mandate, Ermahnungen oder Fürbittschreiben, sogenannte Interzessionen, an andere Herrschaftsträger gefertigt. Die Empfänger dieser Schreiben reagierten mit Berichten, Gegendarstellungen, Empfehlungen und vielem mehr.¹¹ Mit ihren Supplikationen lösten Untertanen breites Verwaltungs- und Herrschaftshandeln aus, das sich in schriftlicher Form umfassend niederschlug.
2 Fragestellung Sowohl die Supplikationspraxis der Untertanen am Kaiserhof als auch das durch diese Schriftstücke ausgelöste Herrschafts- und Verwaltungshandeln der kaiserlichen Behörde, des RHR, sollen im Folgenden für die Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612) in den Blick genommen werden. Denn die supplizierenden Untertanen prägten das tägliche Handeln des RHR zu dieser Zeit mit ihren eingebrachten Schriftsätzen maßgeblich. In welcher Art und Weise beziehungsweise in welcher formalen Ausgestaltung die Kommunikation zwischen Untertanen und Kaiser vonstatten ging und welche Anliegen die Untertanen vor den Kaiser brachten, wird im Folgenden vorgestellt. Im Fokus stehen außerdem die den Bittschriften zugrundeliegenden Kontexte und das Supplikationsverfahren am RHR. Besondere Berücksichtigung erhält dabei die Frage, welche Auskünfte die Akten über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Verfahren des RHR geben können. Letzteres meint nicht innerbehördliche Vorgänge des Kaiserhofes, wie etwaige Verlesungen von Supplikationen im Hofrat,¹² im Geheimen Rat oder vor dem Kaiser.¹³ Es bleibt vielmehr zu diskutieren, ob und wenn ja, inwieweit und in welchen Zusammenhängen mündliche Elemente der Kommunikation zwischen Bittsteller und Kaiserhof nachweisbar sind und wie diese im Kontext eines Verfahrens zu
Siehe hierzu die Beschreibung eines umfangreicheren Supplikationsverfahrens vor dem Kaiser aus dem Jahre 1594: Thomas Schreiber, Das Votum ad imperatorem für den Schneider Niklas Huber. Ein Fallbeispiel aus der Onlinedatenbank ‚Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)‘, in: Christian Lackner/Daniel Luger (Hrsg.), Modus supplicandi. Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium. Wien 2019 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 72), S. 201–220. In den Akten wird der RHR zumeist Hofrat genannt, die Bezeichnung Reichshofrat tritt recht selten auf. Hierzu ausführlich: Stefan Ehrenpreis, Der Reichshofrat im System der Hofbehörden Kaiser Rudolfs II. Organisation, Arbeitsabläufe, Entscheidungsprozesse, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 45 (1997), S. 187–205.
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deuten sind, das im Wesentlichen, so die Grundannahme, auf dem schriftlichen Wege ablief. Zu diesem Zwecke werden zunächst der dieser Untersuchung zugrundeliegende Quellenbestand und seine Erschließung besprochen. Danach wird die Textsorte Supplikation in ihrer formalen Gestaltung vorgestellt. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob und in welcher Form sich bereits am RHR um 1600 ein oder mehrere möglicherweise standardisierte Supplikationsformulare und damit eine Kommunikationsform etabliert hatte, die man als institutionalisiert begreifen kann. Anschließend wird besprochen, inwiefern sich Korrelationen zwischen Supplikationsformular, den der Supplikation zugrundeliegenden Ursachen, der Verfahrensweise generell und dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Verfahren im Besonderen feststellen lassen, wobei der variierende Schriftumfang der Bittschriften eine wichtige Rolle spielen wird. Schließlich wird knapp reflektiert, wie die kaiserlichen Behörden den entstandenen Schriftverkehr ordneten und aufbewahrten. Denn die überlieferte Archivtektonik offenbart uns die Ordnungslogik und damit die Interpretationsmuster der Akteure an den Reichsbehörden im Umgang mit den Bittschriften.¹⁴
3 Quellenbefund und zum DFG/FWF-Projekt Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576–1612) Quellengrundlage dieser Untersuchung bildet die Gesamtmenge der nachgewiesenen Untertanenverfahren in den Judizial- und Gratialakten des RHR zum Untersuchungszeitraum mit mindestens einer erhaltenen Supplikation. Die Verfahrensakten wurden zwischen 2012 und 2015 in einem internationalen Verzeichnungsprojekt erhoben, digitalisiert und in einer Datenbank detailliert erfasst.¹⁵ Das
Reinhard Blänkner, Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Theorie politischer Institutionen, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie. Baden-Baden 1994, S. 85–122 (hier insbes. S. 85–90): Institutionen als Orte menschlichen Handelns, in denen sich menschliche Ordnungsvorstellungen ebenso manifestieren, wie sie sich in ihnen formen und transformieren. Siehe hierzu den Website des Projektes unter: http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de (abgerufen am 18. Jänner 2023).
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Projekt stellt einen kostenfreien Zugang zu den meisten erschlossenen Daten und den digitalisierten Quellen mittels Webinterface bereit.¹⁶ In den Akten des RHR in Wien konnten für den Untersuchungszeitraum rund 7.700 Verfahren erschlossen werden. Mehr als 3.300 davon sind Untertanenverfahren.¹⁷ In 1.468 Verfahren liegt mindestens eine Supplikation vor; diese konnten allesamt digitalisiert und verzeichnet werden. Die Datenbank enthält damit Informationen zu insgesamt 1.795 Supplikationen, zu weiteren 2.245 Verfahrensschritten (Entscheidungen, ausgefertigte kaiserliche Verfügungen, Eingaben von Obrigkeiten oder Dritten etc.) und biographischen Daten zu 1.481 Supplikanten.¹⁸ Der Umstand, dass diese Vorgänge quantitativ beinahe die Hälfte aller Judizial- und Gratialverfahren zwischen 1576 und 1612 einnehmen, zeugt von dem Eigengewicht des kaiserlichen Untertanensupplikenwesens.
4 Via supplicationis und zur Textsorte Supplikation Untertanen konnten ihre Anliegen auf mehreren Wegen vor Kaiser und Reich bringen. Zunächst bestand die Möglichkeit, Supplikationen an den Reichstag zu richten. Untertanen konnten aber auch an den Kaiserhof reisen, um ihre Bittschriften direkt vor den Kaiser zu bringen. Diese wurden in aller Regel vom kaiserlichen RHR behandelt. Zudem bestand am Reichstag immer auch die Möglichkeit, Bittschriften an den vor Ort weilenden Kaiser direkt zu richten. Die Behandlung dieser häufig schriftlich vorgelegten Anträge fiel ebenso dem RHR zu, da dieser den Kaiser auf Reisen begleitete.¹⁹ Zugang zum Webinterface der Datenbank: http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/datenbank (abgerufen am 18. Jänner 2023). Haug-Moritz/Ullmann, Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 1), S. 182; Hausmann, Sich ahn höhern Orten beclagen (wie Anm. 9), S. 192; Schreiber, Die Ausübung kaiserlicher Gnadengewalt (wie Anm. 9), S. 219. Überraschend wenig Frauen supplizierten an den Kaiser. Lediglich sechs Prozent der Verfahren brachten Frauen ein (93 Supplikantinnen). Dies ist ein sehr unerwarteter Befund, bestand eine wichtige Aufgabe des Kaisers doch darin, sich besonders der als schützenswert geltenden Witwen und Waisen anzunehmen. Diese Schutzfunktion des Kaisers lässt sich in der Praxis des RHR kaum nachweisen; übrigens wird aus Gründen der leichteren Lesbarkeit die gewohnte männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein. Ausführlich hierzu: Eva Ortlieb, Reichshofrat und Reichstage, in: Thomas Olechowski/Christian Neschwara/Alina Lengauer (Hrsg.), Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für
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Deutet man die schriftlich vorgebrachten Suppliken als Kennzeichen der Institutionalisierung, so waren Untertanen einerseits Nutznießer, andererseits aber auch Träger der Institutionalisierung von Behörden. Zugang zur Schriftlichkeit war in der Frühen Neuzeit offenkundig sehr hilfreich, wollten Untertanen ihre Anliegen vor ihren Herrschern durchsetzen. Dies bedeutet nicht, dass nur jene Teile der Bevölkerung supplizieren konnten, die in der Lage waren, rezipierbare Schriftstücke zu erstellen. Denn ohnehin verfertigten professionelle Schreiber die Supplikationen im Auftrag der Bittsteller,²⁰ da die Bittschriften einem gewissen formalen Anspruch unterlagen.²¹ Die Notwendigkeit formaler Erfordernisse basiert primär auf dem Umstand, dass es sich um eine Kommunikation von Untergeordneten an Höherrangige handelt und in der Kommunikationsweise die ungleichen Machtverhältnisse nicht nur mitberücksichtigt, sondern explizit hervorgehoben werden müssen, sollte die Bitte zum Erfolg führen. Die Konventionen, Formen und der korrekte Ritus waren keineswegs leere Worthülsen. Die Würde des Kaisers konnte nur dann zur sozialen Realität werden, so sie äußerlich symbolisch erkennbar gemacht wurde. Insofern wird die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Formstrenge in der schriftlichen Kommunikation zwischen Beherrschten und Herrschern verständlich. Sie spiegelt nicht nur die zeitgenössischen Weltdeutungen und Ordnungsvorstellungen wider, sie konkretisiert dieselben und stellt sie immer wieder aufs Neue her und unter Beweis. Die Supplikation ist somit primär nicht über den materiellen Inhalt, sondern über die spezielle Kommunikationssituation definierbar. Die Logik der Supplikation, die sich in der sprachlich-formalen Ausgestaltung dieser Textsorte manifestiert, liegt wesentlich dem hierarchischen Gefüge der politischen Ordnung des Werner Ogris zum 75. Geburtstag. Wien/Köln/Weimar 2010, S. 343–363; dies., Reichstag und Reichshofrat als Empfänger von Supplikationen im 16. Jahrhundert, in: Haug-Moritz/Ullmann (Hrsg.), Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 1), S. 76–90. Der Forschung ist hinlänglich bekannt, dass Notare, Winkeladvokaten und Schreiber diese Schriftstücke verfertigten: Sabine Ullmann, „Vm der Barmherzigkait Gottes willen“. Gnadengesuche an den Kaiser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Rolf Kiessling/Sabine Ullmann (Hrsg.), Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Konstanz 2005 (Forum Suevicum, Bd. 6), S. 161–184 (hier S. 166 f.); Helga Schnabel-Schüle, Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Quellen und Darstellungen zur Sozialund Erfahrungsgeschichte, Bd. 2), S. 295–317 (hier S. 296). Im Reichsabschied von 1551 ist festgehalten, dass Supplicationen förmlich und ordentlich fürgebracht werden müssen: Heinrich Christian Senckenberg (Hrsg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tägen abgefasset worden: sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind. Zweiter Theyl derer Reichs-Abschiede von dem Jahr 1495 bis auf das Jahr 1551. Frankfurt a. M. 1747, S. 615.
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Alten Reiches in der Frühen Neuzeit zugrunde.²² Die formale Ausgestaltung einer Bittschrift war damit sogar Voraussetzung für den Erfolg der Bitte. Die Anerkennung der eigenen Ohnmacht und der Machtfülle des Empfängers der Bitte setzte diesen gleichsam unter Druck, sich ebenso normgerecht, also gnädig zu verhalten.²³ Wenngleich normative Texte hier zumeist sehr unspezifische Vorschriften machen, lässt sich in Supplikationen selbst das Formular sehr gut rekonstruieren. Der Aufbau des Formulars entspricht dabei dem üblichen Formenapparat des frühneuzeitlichen Schriftwesens, freilich mit den der Textsorte spezifischen Besonderheiten. Kennzeichnend für die Kommunikation mit dem Kaiser ist der zu verwendende Superlativ. Der Kaiser wird als Allergnädigster Herr tituliert, es wird alleruntertänigst erbeten und allergnädigst gestattet.²⁴ Das Supplikationsformular stellt sich idealtypisch wie folgt dar:²⁵
Thomas Schreiber, Suppliken in den Alten Prager Akten des Reichshofrats. Kaiserbild und kaiserliche Gnadengewalt im 16. und 17. Jahrhundert, Dipl.A. Graz 2010, S. 82–84, https://unipub.unigraz.at/obvugrhs/content/titleinfo/212962 (abgerufen am 18. Jänner 2023); Otto Ulbricht, Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente (wie Anm. 20), S. 149–174 (hier S. 208 f.); Barbara Stollberg-Rilinger, Die Würde des Gerichts. Spielten symbolische Formen an den Höchsten Reichsgerichten eine Rolle? in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. Köln/Weimar/Wien 2009 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 56), S. 191–216 (hier S. 192); dies., Knien vor Gott – Knien vor dem Kaiser. Zum Ritualwandel im Konfessionskonflikt, in: Gerd Althoff/Christiane Witthöft (Hrsg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universtität Münster. Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, Bd. 3), S. 501– 534 (hier S. 503). Schreiber, Suppliken in den Alten Prager Akten (wie Anm. 22), S. 98–101. Dieser Aspekt wird sehr deutlich in der Untersuchung der Kommunikation zwischen innerösterreichischen Ständen und Karl II. von Innerösterreich im Kontext der Religionsproblematik: Arno Strohmeyer, Vom Widerstand zur Rebellion. Praxis und Theorie des ständischen Widerstands in den östlichen österreichischen Ländern im Werden der Habsburgermonarchie (ca. 1550–1650), in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich. Berlin 2001 (Zeitschrift für historische Forschung Beihefte, Bd. 26), S. 207–243. Dazu gibt es unzählige Beispiele. Die Quellen sind online über die Datenbank einsehbar: http:// www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/akten/tektonik (abgerufen am 18. Jänner 2023). Exemplarisch soll hier ein Beispiel genügen. So beginnt die Supplikation des Soldaten in kaiserlichen Diensten Joachim Besserer aus dem Jahre 1587 mit den Worten: Allergenedigister herr, euer kay[serliche] m[ayestä]t, gib ich meiner höchsten trinngenten notturft nach. Der Supplikant bringt darin seine allerunderthängigist bitt vor und zeichnet am Ende der Bittschrift als allerunnderthenigister armer untertan: Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (künftig: HHStA), RHR, Geleitbriefe, K. 1, Konv. 2, Besserer Melchior, 22. Oktober 1578 fol. 150r–152v.
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Die Supplikation beginnt in der Regel mit der Intitulatio, der Anrede des Kaisers mit Titulatur. Üblicherweise eröffnet das Exordium die Bittschrift – eine zumeist knappe Legitimationsformel.²⁶ Daran schließt die Narratio, die Erzählung der supplikationsauslösenden Umstände, wie etwa die Schilderung obrigkeitlicher Übergriffe, ungerechtfertigter Strafverfolgung, Probleme bei der Eintreibung von Schuldforderungen, Auseinandersetzungen in einer Erbschaftssache und vieles mehr. Die Narratio kann einige wenige Sätze umfassen, aber oft auch mehrere Seiten Erzählungen beinhalten. Das Kernstück der Supplikation bildet die Petitio, die eigentliche Bitte: Diese ist performativ gestaltet und enthält die Dedition, den Fußfall vor dem Kaiser.²⁷ Die Sanctio erfolgt zumeist in Form einer Gnadenversicherung, in welcher sich die Supplikanten als Gegenleistung für das Gewährte durch Gebete oder Wünsche für den Kaiser erkenntlich zu zeigen suchten.²⁸ Die Supplikation schließt mit der Subskription, der Nennung der Supplikanten, häufig mit Beruf, Herkunft und Vollzug des Untertanenverhältnisses.²⁹ Bei aller Varianz sind die Bittschriften im Wesentlichen doch sehr ähnlich aufgebaut. Man kann durchaus von einem standardisierten Supplikationsformular sprechen. Daran lässt sich erkennen, dass die Kommunikation zwischen reichsmittelbaren Untertanen und Kaiser um 1600 bereits einen hohen Grad an Institutionalisierung im Sinne von Wiederholbarkeit und Regelmäßigkeit aufweist und als integraler Bestandteil kaiserlicher Herrschaftspraxis gedeutet werden kann. Besonders deutlich wird dies an dem Umstand, dass sich am RHR Rudolfs II. bereits spezifische Formulartypen herausgebildet hatten.
Ausführlich zur sprachlich-formalen Gestalt von Supplikationen an den Kaiser um 1600: Ulrich Hausmann/Thomas Schreiber, Euer Kaiserlichen Majestät in untertänigster Demut zu Füßen. Das Kooperationsprojekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576–1612)“, in: Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider (Hrsg.), Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert. Berlin/ Boston 2015 (bibliothek altes Reich, Bd. 15), S. 71–96 (hier S. 90–95). Ein Beispiel für ein recht typisches Exordium: kan ich armer hie underschribener supplicant meiner unvermeidlichen notdurft nach nicht underlassen: HHStA, RHR, Alte Prager Akten, K. 89, Konv. 2, Kästlein, undat., fol. 346–349, hier 346r. Eine typische Petitio enthält etwa die Supplikation Martin Tangels um einen kaiserlichen Geleitbrief: demnach an euer kayserliche mayestät etc. mein allerunderthenigste umb gottes willen flehen und pitten, sy geruhen auß kayserlicher mildt unnd genaden, mir armen vertriebenen man ihr glaid und sicherhaidt für gwalt zum rechten allergenedigst mitzuthailen und wiederfahren zulaßen: HHStA, RHR, Geleitbriefe, K. 8, Konv. 2, Tangel, 27. Juli 1582, fol. 3–5, hier fol. 3v–4r. Z. B.: daran erweisen euer kayserliche mayestät etc. ein werk der barmherzigkeit welches ich und mehr bestimbt mein weib und kinder mit unsern armen aber doch embsigen gebett gegen gott dem herrn umb derselben langwirigen und glucklichen regierung zu bitten nimmer vergeßen sollen und wollen: ebd., fol. 4r. Ein Beispiel: allerunderthenigster und gehorsambster Martin Tangel zu Schanach: ebd.
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5 Supplikationsformulare, -kontexte und -verfahren 5.1 Kategorisierungsprobleme Die Kategorisierungsvorschläge von Supplikationen wurden in der Forschung von jeher intensiv diskutiert. Fuhrmann spricht in diesem Zusammenhang von „unüberwindlich scheinende(n) Problemen“,³⁰ welche in diesem Rahmen nicht weiter diskutiert werden können.³¹ Im Hinblick auf das Rahmenthema „Feder und Recht“ soll das Augenmerk darauf gelenkt bleiben, die Supplikationen entlang ihrer schriftlichen Ausgestaltung zu besprechen. Denn es hat sich gezeigt, dass sich am RHR die formal-sprachliche Gestaltung der Suppliken ganz bestimmten Kontexten zuordnen lässt. Anders gesagt, je nach der Supplik vorausliegendem Kontext erfolgte die Ausfertigung der Supplikation nach einem ihm zugehörigen Formular. Hier greifen wir somit jenes Unterscheidungs- und Deutungsmuster, das im 16. Jahrhundert die Praxis des Supplizierens und die formale Gestaltung der Bittschriften geprägt hat. Entlang der formalen Gestaltung lassen sich zwei Typen von Supplikationen erkennen, denen jeweils andere Grundsituationen vorausliegen. Vorauszuschicken ist, dass die in den Akten nachweisbaren Supplikationsformen nicht den in der Forschung sehr kontrovers diskutierten Definitionen der Gnaden-, Rechts- und/oder Justizsuppliken entsprechen; ebenso wenig sind sie identisch mit den Registraturen des Reichshofratsarchivs.³² Die unterschiedlichen Supplikationstypen lassen sich ganz bestimmten Personengruppen zuordnen, die jeweils ganz spezifische Anliegen vor den Kaiser brachten. Auch eine unterscheidbare Verfahrens- und Entscheidungspraxis kennzeichnet die beiden Textvarianten. Den weiteren Ausführungen liegt die Annahme zugrunde, dass ein Zusammenhang zwischen formaler Ausformung der Supplikationen, sozioökonomischem Hintergrund der Bittsteller, materiellem Inhalt und Verfahrensweise am RHR besteht.
Rosi Fuhrmann/Beat Kümin/Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Peter Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat im alten Europa. München 1998 (Historische Zeitschrift, Beihefte NF., Bd. 25), S. 267–323 (hier S. 322). Unter anderem resultieren die Probleme bei der Kategorisierung von Supplikationen in der Nichtbeachtung des Formenapparates dieser Textsorte sowie in der Diskussion entlang einem für die Frühneuzeit allzu dichotomisch verstandenen Gegensatz von Gnade und Recht. Dazu ausführlich: Schreiber, Die Ausübung kaiserlicher Gnadengewalt (wie Anm. 9), S. 217 f., S. 222–224. Hierzu ausführlich: ebd., S. 217 f., S. 222–224; ebenso zu dieser Thematik: Ullmann, Vm der Barmherzigkait Gottes willen (wie Anm. 20), S. 179.
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Unterscheiden lassen sich Supplikationen a) mit der Bitte um kaiserliche Hilfe aufgrund einer Konflikt- oder Bedrohungssituation; in dieser Kommunikationssituation konkretisiert sich die kaiserliche Schutzfunktion über die Untertanen in actu, b) um eine kaiserliche Gunst aufgrund geleisteter Dienste.
5.2 Supplikationen aufgrund akuter Konflikt-/Bedrohungssituation Die Supplikanten, die den Kaiser in einer akuten Konflikt- oder Bedrohungssituation um Hilfe anriefen, entstammten allen sozialen Schichten. Besonders häufig supplizierten Personen, die ihren Lebensunterhalt im Bereich Handel und Handwerk bestritten.³³ Wichtig ist, dass es sich kaum um Personen handelte, die dem kaiserlichen Hof in irgendeiner Form nahestanden. Die Narrationes enthalten in der Regel lange und umfassende Schilderungen akuter Problemsituationen. Zum einen versuchten diese Personen, ökonomische Ansprüche durchzusetzen und behaupteten, vor ihren Obrigkeiten nicht zu ihrem Recht kommen zu können. Zum anderen waren es Menschen, die sich ihrerseits, zumeist durch ihre Obrigkeit im strafrechtlichen Kontext, verfolgt sahen.³⁴ Das drohende Absinken in die Armut, die eigene Ohnmacht und eine starke Betonung der kaiserlichen Machtfülle kennzeichnen diese Supplikationsform ebenso wie eine ausladende Darstellung der häufig religiös aufgeladenen Devotion, des Unterwerfungsrituals vor dem Kaiser. Das Verhältnis zwischen unterwürfigem Bittsteller und gnädigem Kaiser ist stark hervorgehoben. Vorwiegend baten diese Supplikanten um kaiserliche Fürbittschreiben, Befehle oder Schutzdiplome, selten auch um Mandate oder Kommissionen. Beispielhaft lässt sich die Petitio aus der Supplikation des Jakob Kästlein aus dem Jahr 1583 anführen: Wann ich nun der allerunderthenigisten gewisen tröstung und hoffnung bin, das e[uer] keis[erliche] m[ajestä]t […] zu allen hilflichen gnaden allergnedigist genaigt sein, so ist hierauf an die selbig mein allerunderthenigist umb gottes willen gehorsam flehen und bitten, sie wellen
In der vorgestellten Datenbank wurden auch biographische Daten zu den Supplikanten erfasst: Name, Konfession, Geschlecht, Alter, Familienstand, Kinder, Beruf, sozialer Stand, Herkunft und Herrschaftszugehörigkeit. Die Daten sind größtenteils über die Online-Version der Datenbank zugänglich: http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/supplikanten/suche (abgerufen am 18. Jänner 2023). Bei aller Unschärfe kann man diesem Typus folgende Serien zuordnen: alle Serien der Judizialregistratur, Gratialserien: Geleitbriefe, Laienherrenpfründe (teilweise: verweigerte Einsetzung), Patentes und Steckbriefe, Promotoriales, Schutzbriefe (teilweise).
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aus angeborner keiserlichen millten guette und gnaden mich armen über die obangezogene allerseits erlangter auspönnung dero allergenedigste kaiserliche huldigung, entledigung, entbindung und restitution in integrum nit allein mein selbst, sonder auch meins armen weibs, und noch unerzogener kleiner kindt erbärmens willen auch allergenedigst mittailen und widerfahren lassen. ³⁵
Dies ist eine Petitio, wie sie in solchen Kontexten typischerweise auftaucht. Sie enthält eine stark betonte Dedition und häufig auch eine Invokationsformel. Es geht schließlich um die Weitergabe der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit kraft kaiserlicher Macht.³⁶ Die Anerkennung der kaiserlichen Machtfülle und Autorität und die Hervorhebung der eigenen Ohnmacht kennzeichnen diesen Supplikationstyp. Die reichshofrätliche Entscheidungspraxis zeigt sich bei diesen Supplikationen recht differenziert, je nach erbetener Verfügung. Prinzipiell kann man hier von einer Bewilligungsquote von rund 50 Prozent sprechen. Bitten um kaiserliche Fürbitt- oder Empfehlungsschreiben, die die Obrigkeiten lediglich aufforderten, dem Supplikanten nach Möglichkeit nachzukommen, ließ der RHR zumeist ohne weiteres Aufheben positiv bescheiden.³⁷ Handelte es sich jedoch um Bitten um kaiserliche Schutzprivilegien oder um kaiserliche Befehle und standen die Supplikationen im Kontext eines territorialen Strafverfahrens, so ist die Abweisungsquote signifikant; hier liegt die Vermutung nahe, dass die Supplikanten auf diese Weise versuchten, das Appellationsverbot in Strafsachen zu umgehen.³⁸ Auch die Prüfung der Sachlage mittels Schreiben um Bericht fand bei solchen Eingaben häufiger statt. Ein direktes Eingreifen in die Strafrechtspraxis der Territorien bewilligte der RHR offensichtlich nicht leichtfertig. Die Aktendokumentation ist zudem sehr umfassend und trägt der hohen Komplexität dieser Verfahren Rechnung.
HHStA, RHR, Alte Prager Akten, K. 89, Konv. 2, Jakob Kästlein, undat., fol. 346v–347r. Ullmann, Vm der Barmherzigkait Gottes willen (wie Anm. 20), S. 173. Ausnahme: Supplikationen von Personen, die sich aus strafrechtlichen Gründen von ihrer Obrigkeit verfolgt sahen; hier war die Abweisungsquote höher. Bitten um kaiserliche Geleitbriefe wurden überwiegend aufgrund strafrechtlicher Verfolgung beantragt, zumeist aufgrund von Tötungsdelikten. Solche Bitten wurden entweder abgeschlagen (50 Prozent) oder es wurde eine kaiserliche Verfügung bewilligt, die keinen direkten Eingriff in die territoriale Strafrechtspraxis bedeutet hätte, wie etwa Fürbitt- oder Empfehlungsschreiben (40 Prozent). Bewilligte Geleitbriefe finden sich in einem solchen Kontext nur in zehn Prozent der Fälle. Selbst wenn die Supplikanten im strafrechtlichen Kontext lediglich um Interventionsschreiben baten, die Empfehlungen enthielten, so liegt die Abweisungsquote hier noch bei rund 50 Prozent. Supplikationen hingegen, in denen die Bittsteller um Hilfe bei der Durchsetzung eigener Forderungen baten und behaupteten, vor der zuständigen Obrigkeit nicht zu ihrem Recht kommen zu können, wurden zu drei Vierteln bewilligt. Dies lässt sich durch eine Abfrage in der vorgestellten Datenbank leicht nachvollziehen.
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Hinweise auf etwaige mündliche Vorgänge, die dem schriftlich vorgebrachten Supplikationsanliegen vorgelagert waren, finden sich bei diesem Typus des Supplikationsverfahrens äußerst selten. Eine dieser Ausnahmen bildet der während seines Aufenthalts in Prag entstandene Brief Valentin Jägers aus dem Jahr 1606, indem der Supplikant einem Bekannten von dem Verfahren berichtete. Von Interesse ist die Passage, in der Jäger schildert, die Gewährung eines kaiserlichen Geleitbriefes sei: […] lang von kaiserlichen rhäts und doctors verhindert worden, auch nicht vor kayserliche maystadt unser clag bringen können, zum zweiten mahl vermeindt [uns] wieder an churfürst pfalz zuweisen, dieweil aber mein eheweib nun eine zeitlang einem kaiserlichen cammerdiener täglich in der küchen behälflich und noch ist, hab ich noch uf ein neues durch den junckern ein schreiben an kayserliche Maystadt selbst übergeben lassen, nun mir täglich gewertig sein der commission an churfürst pfalz sambt einem frei gelaidt ernstlich auferlegen. ³⁹
Dies ist ein anschaulicher Nachweis dafür, dass das reichshofrätliche Verfahren, die positive Bescheidung des Ansinnens, mitunter durch mündliche Absprachen beeinflusst werden konnte. Derart seltene Quellenfunde weisen auf möglicherweise gar nicht so unübliche, aber schriftlich kaum genannte Vorgehensweisen am Kaiserhof hin, wenngleich diese Schritte wohl kaum als formeller Teil des Verfahrens zu deuten sind.⁴⁰ Greifbar werden solche Hinweise freilich nur in Ausnahmefällen.
5.3 Supplikationen um kaiserlichen Gunsterweis Kommen wir zum zweiten Typus, zu den Supplikationen um eine kaiserliche Gunst. Es handelt sich um Supplikationen, die vorrangig von kaiserlichen Amtsträgern und von Personen eingebracht wurden, die Kaiser und Reich auf irgendeine Weise dienlich waren. Gemein ist diesen Suppliken, dass die Antragsteller Verdienste für das Kaiserhaus anführten oder sich zumindest auf Leistungen für das Gemeinwesen beriefen. Die Supplikanten berichteten in ihren Narrationes im Unterschied zum
HHStA, RHR, Alte Prager Akten, K. 85, Konv. 2, Valentin Jäger, undat., fol. 292r. Diese Feststellung beruht auf der Definition von Emich: „Informelle Strukturen entstehen […] aus Kommunikations- und Handlungsweisen, die nicht den formalen Vorgaben folgen; die entweder darauf abzielen, Entscheidungen über Kanäle und/oder Argumente zu beeinflussen, die offiziell nicht vorgesehen sind, oder aber dem Abbau und der Pflege solcher Kanäle dienen“: Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen. Der Fall Rom, in: Reinhardt Butz (Hrsg.), Informelle Strukturen bei Hof. Dresdener Gespräche III zur Theorie des Hofes. Ergebnisse des gleichnamigen Kolloquiums auf der Moritzburg bei Dresden, 27. bis 29. September 2007. Berlin 2009 (Vita curialis), S. 149–156 (hier S. 151).
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ersten Supplikations-Typus von keiner wie auch immer gearteten bedrohlichen Situation. Die Bitten zielten auf einen allgemeinen Gunsterweis oder eine Belohnung durch den Kaiser, indem die Supplikanten um kaiserliche Privilegien, Passbriefe oder um Gnadengelder baten. Zudem ging es um die Vergabe von Laienherrenpfründen. Es handelt sich dabei zumeist um kurze Supplikations-Texte, in denen die Reziprozität des untertänigen Bittstellers sowie des gnädigen Kaisers nur in geringem Maße ausgeführt ist. Religiöse und emotionale Stilisierungen tauchen wenig bis gar nicht auf. Die Dedition, der rituelle Fußfall vor dem Kaiser, ist, wie alles andere, schlicht und wenig formell gehalten.⁴¹ Hierzu ein Beispiel, die (in dem Falle nun vollständig wiedergegebene) Supplikation des kaiserlichen Hofsekretärs Hans Rudolf Pucher aus dem Jahr 1606: Allergnedigister kaiser und herr. Ich bin willens ein anzahl wein von dem bodensee zu meiner hausnottdurfft hieher bringen zu lassen. Pitte derhalben eur kay[serliche] may[estät] allerunderthenigist, sie geruhen mir zu desto pesserer vortbringung derselben ainen passbrief allergnedigist mitzutheilen. Eur kay[serliche] may[estät] mich damit zu allergnedigister willfarung allerunterthenigist bevehlend, eur kay[serliche] may[estät] aller underthenigist und gehorsamister pflichtschuldiger H. Pucher ⁴²
Dieses Beispiel verdeutlicht, wie grundsätzlich sich diese Supplikationsform von den Bittschriften unterscheidet, die im Rahmen von Konflikt- und Bedrohungssituationen eingebracht wurden, die, anders als hier, in aller Regel vergleichsweise umfangreich ausfallen und insbesondere emotionale und religiöse Stilisierungen enthalten. Lenkt man den Blick auf das Verfahren, so ist die Kürze dieser SupplikationsTexte auch im Zusammenhang mit der Entscheidungspraxis zu sehen: Nahezu all diese Verfahren wurden positiv beantwortet (90 Prozent). Es sind kaum Prüfungsverfahren nachweisbar, vielmehr scheint es sich um ein Routineverfahren zu handeln, dem möglicherweise nicht schriftlich nachgewiesene Vorgänge vorausgingen und an dessen Ende noch die obligatorische schriftliche Eingabe stand. Dies zeigt sich sowohl in der schlichten, wenig feierlichen sprachlichen wie formalen Ausgestaltung der Suppliken, der Entscheidungspraxis und sogar in der Evidenzierungs- und Dokumentationslogik am RHR. Denn die Aktenführung ist weit schlichter und rudimentärer als in anderen Supplikationsverfahren: Es sind in
Im Wesentlichen lassen sich unter dieser Kategorie der Großteil, aber nicht alle Serien der Gratialregistratur fassen: Ärzte- und Arzneiprivilegien, Confirmationes privilegiorum, Gewerbe-, Fabriks- und Handlungsprivilegien, Impressoria, Notariatus, Laienherrenpfründe (teilweise: Präsentation auf Pfründe), Schutzbriefe (teilweise), Patente und Steckbriefe, Praebende regiae, Primae preces, Salva guardia. HHStA, RHR, Passbriefe, K. 13, Konv. 3, Hans Rudolf Pucher, undat., unfol.
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diesen Beständen weit weniger Supplikationen überliefert, viele Verfahren dokumentieren nur die Konzepte der kaiserlichen Verfügungen.
5.4 Supplikationen um Präsentation auf Pfründe als Beispiel formeller Mündlichkeit im Verfahren des RHR Aufgrund der knappen Aktenführung bei dem letztgenannten Supplikationstyp sollte man hier kaum mit Hinweisen auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Supplikations-Verfahren rechnen dürfen. Das ist zum größten Teil auch so. Interessante Einblicke gewähren uns dennoch jene in den Suppliken selbst genannte Vorgänge, in denen kaiserliche Leibgardisten, Soldaten und Hofbedienstete um eine Vergünstigung in Form einer Präsentation auf eine Laienherrenpfründe baten.⁴³ In den Narrationes führten die Supplikanten zunächst in der Regel ihre Dienstzeit für den Kaiser und das Haus Österreich auf und bestätigten, bisher noch keinerlei Vergünstigungen erhalten zu haben. Mitunter verwiesen die Bittsteller auch auf die übliche Praxis, dass der Kaiser lang gedienten Hofbediensteten, Leibgardisten oder Soldaten eine Gunst gewähre. Aufschlussreich für das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist jedoch der Umstand, dass sehr viele der kaiserlichen Gardisten die Pfründe genau benannten, auf die sie gerne präsentiert werden wollten, da diese gerade vakant seien. Nicht selten ist der Name des kürzlich verstorbenen Pfründners genannt. Hierzu wieder ein Beispiel. So bat etwa der kaiserliche Kammerdiener Christoph Schwab im Jahre 1609: Unnd weiln mir wissent, daz Eur röm[isch] key[serliche] may[estä]tt dergleichen alten kaiserlichen dhienern mit dero kaiserlichen provision allergenedigist gemainedt, unnd ich inn glaubwurdige erfahrung kommen, das jeziger zeit das closter münster schwarzach zwo meil weg von wurzburgk im lanndt zu frankhen vacieren solle, als pit herauff e[uer] r[ömisch] k[ayserliche] m[ayestät] ich allerunnderthenigist und gehorsamist, e[uer] r[ömisch] k[ayserliche] m[ayestät] geruhen mich mit solchen closter allergenedigist zu begnaden. ⁴⁴
Kaiserliche Leibgardisten, Soldaten oder Hofbedienstete konnten nach gewisser Dienstzeit um einen Panisbrief anhalten, mit dem ein Kloster, ein Stift oder ein Spital angewiesen wurde, für den Lebensunterhalt des Pfründners bis zu seinem Tode oder auf bestimmte Zeit zu sorgen. Das Recht daraus erwuchs dem Kaiser aus seiner Funktion als advocatus ecclesiae, aus der obersten Schirmvogtei über die Kirche. Nicht selten ließen sich die Empfänger der Panisbriefe ihren Unterhalt gegen ein sogenanntes Absentgeld ablösen: Günther Dickel, Das kaiserliche Reservatrecht der Panisbriefe auf Laienherrenpfründen. Eine Untersuchung zur Verfassungsgeschichte des Alten Reichs und zur kirchlichen Rechtsgeschichte nach Wiener Akten. Aalen 1985 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF., Bd. 25), S. 16 f., 43, 81, 87. HHStA, RHR, Laienherrenpfründe, K. 3, Konv. 2, Christoph Schwab, präsentiert am 10. September 1608, fol. 265r.
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Solche Informationen mussten vor der Einreichung der Supplikation von den Bittstellern am kaiserlichen Hof in Erfahrung gebracht werden! Die Regelmäßigkeit, mit der solche Passagen in den Supplikationen zu finden sind, lässt die Vermutung zu, dass es sich hierbei um einen üblichen, ja möglicherweise formellen Teil des Verfahrens handelt, der nicht auf schriftlichem Wege erfolgte. Im Unterschied zu den Supplikationen im Kontext einer Konfliktsituation, wo die Eingabe der Supplikation am Anfang des Verfahrens steht und mündliche Verfahrensbestandteile nur sehr selten auftauchen und also kaum als Teil des Verfahrens zu deuten sind, stellt die verschriftlichte Bitte bei diesem Typus möglicherweise das Ende vorangegangener, hier nachweisbarer mündlicher – aber nicht unbedingt informeller – Verfahrensschritte dar. Aufschlussreich ist ein weiterer Aspekt des Supplikationsverfahrens um Präsentation auf Laienherrenpfründe. Denn die Leibgardisten legten regelmäßig einen Bericht ihres Kommandeurs den Supplikationen bei, in dem dieser das Dienstalter, das Betragen sowie die Religion des Supplikanten schriftlich bestätigte.⁴⁵ Fehlte dieser im Antrag, so forderte der RHR den Bericht des Offiziers häufig nach.⁴⁶ Offenkundig mussten diese – vermutlich entscheidungsrelevanten – Informationen dem RHR schriftlich vorliegen, sollte das Ansuchen positiv beschieden werden.⁴⁷ Somit kann festgehalten werden, dass einerseits im Vorfeld der Supplikationseinreichung mündliche Prozesse abliefen, die nicht immer als informell zu werten sind, ja, mitunter Teil des üblichen Verfahrensganges gewesen sein dürften. Andererseits scheint es, dass am RHR bestimmte entscheidungstragende Informationen zwingend in schriftlicher Form vorliegen mussten.
Ausführlich zum Geschäftsgang bei der Vergabe von Laienherrenpfründen: Dickel, Das kaiserliche Reservatrecht (wie Anm. 43), S. 122–134. So reichte der kaiserliche Hartschier Christoph Bschorn nach zwanzigjähriger Dienstzeit eine Supplikation mit Bitte um Präsentation auf die vakante Pfründe im Gotteshaus St. Ulrich in Augsburg ein. Da der Supplikant aber keinen Bericht seines Vorgesetzten vorlegte, entschied der RHR: römisch kayserlicher mayestät hofkriegsrath, bestellter oberster hartschier leibguardi haubtman und trabanten leüthenandt […] umb bericht, wie lang supplicant gedient, was alters und religion er, auch ob er sonsten zuvor mit dergleichen begnadet sey: HHStA, RHR, Laienherrenpfründe, K. 1, Konv. 2, Christoph Bschorn, Expedit am 23. Juli 1604, fol. 185v. Der RHR forderte den Bericht des Kommandeurs in 38 Prozent aller Supplikationen um Präsentation auf Pfründe an, die kaiserliche Leibgardisten eingebracht hatten. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu der Feststellung Dickels, „daß die präparatorische Einholung von Dienstzeugnissen offensichtlich nur hin und wieder für notwendig erachtet wurde“. Dickel, Das kaiserliche Reservatrecht (wie Anm. 43), S. 124. Dieses Postulat ist nur dann richtig, wenn man sie auf die Gesamtheit der Supplikanten anwendet, die um Einsetzung in Pfründe baten. Angefordert wurden Dienstzeugnisse zumeist nur bei den Gardisten. Offenkundig hatte speziell diese Gruppe einen Bericht über ihr Betragen, Dienstalter und konfessionelle Zugehörigkeit beizubringen.
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6 Ordnungslogik Die Ausführungen schließen mit einer knappen Skizzierung, wie das im Rahmen von Supplikations-Verfahren entstandene behördliche Schriftgut dokumentiert und archiviert wurde. Die Reichsbehörde ordnete die Vorgänge nicht nach Kontexten und Ursachen der Eingaben, sondern ausschließlich entlang der zu bewilligenden kaiserlichen Verfügung, konkret nach der Prämisse, ob „lediglich“ interveniert, empfohlen, befohlen oder aber – ob etwas „verliehen“ wurde. Es ging darum, die ausgegebenen Belehnungen, Privilegien und Diplome vom übrigen Geschäftsanfall zu trennen und dadurch besser evident zu halten. Daher wurden diese Vorgänge von Beginn an in einer eigenen Registratur dokumentiert, in der Gratial- und Feudalregistratur.⁴⁸ Diese beiden folgenden Tabellen zeigen die untersuchten Serien der jeweiligen Registraturen. An den Bezeichnungen insbesondere der Gratialserien wird das Ordnungsprinzip sehr deutlich. Tab. 1: Untersuchte Abteilungen des Reichshofratsarchivs im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Untersuchte Gratialserien
Untersuchte Judizialserien
Confirmationes privilegiorum Passbriefe Patentes und Steckbriefe Impressoria Restitutiones natalium ac legitimationes Schutzbriefe Geleitbriefe Mandate, Patente und Passbriefe in Kriegssachen Laienherrenpfründe Gewerbe-, Fabriks- und Handlungsprivilegien Promotoriales Praebendae regiae Salva guardia Notariatus Ärzte- und Arzneiprivilegien Moratorien Pardon u. Aussöhnung
Alte Prager Akten Antiqua Judicialia miscellanea Decisa Denegata antiqua
Ausführlich zum Aufbau der Reichsarchive: Lothar Gross, Reichsarchive, in: L. Bittner (Hrsg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Aufgebaut auf der Geschichgte des Archivs und seiner Bestände. Wien 1936 (Inventare österreichischer Staatlicher Archive V. Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 4), S. 273–394.
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Die Instruktionen der Reichshofkanzleiordnung von 1559 betreffend die Registratoren sind hier sehr eindeutig: Unserer kais[erlicher] reichssachen registrator sol hinfuran alle und jede offen briefe und patent, so under unserm bekennen oder embieten in das reich under unserm anhangenden oder seccretinsigln gefertigt werden, sambt allen instruktionen nach unsers erz- oder vicecanzlers bescheit in underschiedlicher buecher registrieren und nit durcheinander vermischen, sonder was regalien, reichslehen und darzue notwendige gwaltsbriefe seind, darüber sonderliche lehensoder feudal,– von andern expedtionen nach gelegenhait der sachen sonder communbuecher machen. ⁴⁹
Das Ordnungsprinzip folgte also einer völlig anderen Logik als die Supplikationspraxis am RHR und war einzig und allein auf die Kohärenz eigenen Handelns ausgerichtet. Die handlungsleitende Logik des Supplikationswesens ergibt sich aus Ursache und Zielsetzung der Bittschriften, aber auch aus dem persönlichen Hintergrund der supplizierenden Personen. Diese manifestiert sich sowohl in der formalen und sprachlichen Gestaltung der Bittschriften als auch in der Verfahrenspraxis. Sie findet sich jedoch nicht in der Ordnungssystematik des RHR und der Reichskanzlei wieder. Diese sollte von Anfang an vor allem die Nachvollziehbarkeit der Verleihungen und Belehnungen durch Separierung des schriftlichen Niederschlags dieser Vorgänge und durch Führung eigener Register gewährleisten. Die Schwierigkeiten bei der Kategorisierung von Supplikationen, die Probleme bei der Verwendung von Begriffen wie Gnaden-, Rechts- oder Justizsuppliken mögen zum Teil auch im Kontext der Differenz zwischen der Eigenlogik der Supplikationen und der Ordnungslogik der kaiserlichen Verwaltung zu finden sein.
Reichshofkanzleiordnung Kaiser Ferdinands I., Augsburg, dat. 18. Juni 1559, ediert in: Thomas Fellner/Heinrich Kretschmayr (Hrsg.), Die österreichische Zentralverwaltung 1.Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749). 2. Band: Aktenstücke 1491– 1681. Wien 1907, S. 299.
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Erfahrungen aus zweieinhalb Jahrzehnten Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten Zur Verzeichnung von Prozessakten des Reichskammergerichts liegen bereits zwei Erfahrungsberichte vor: ein auf langjähriger Tätigkeit in hessischen Archiven beruhender kompakter Beitrag von Jost Hausmann,¹ der die wesentlichen Probleme bei der praktischen Umsetzung der Verzeichnungsrichtlinien benennt, und eine ausführlichere Darstellung von Raimund J. Weber,² die auf jahrelanger Arbeit mit den Reichskammergerichtsakten der Archive in Stuttgart, Karlsruhe, Sigmaringen, Wertheim und Speyer gründet. Es wird nachfolgend versucht,Wiederholungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Auf Ergänzungen und Anmerkungen aus bayerischer Sicht kann freilich nicht überall verzichtet werden.
1 Zum Inventarisierungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft Die Anfänge des bundesweiten Inventarisierungsprojekts reichen in die 1970er Jahre zurück.³ Es wurde von Rechtshistorikern, allen voran Bernhard Diestelkamp, angeregt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Die Durchführung vor Ort lag weitgehend in der Hand von Archivaren. Die eigentliche Verzeichnungsarbeit leisteten vielfach Historiker, seltener Rechtshistoriker mit Zeitverträgen. Die Vorarbeiten eines durch die Archivreferentenkonferenz eingesetzten Ausschusses erbrachten zwei wichtige Ergebnisse: die „Frankfurter
Jost Hausmann, Die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten. Ein Erfahrungsbericht, in: Wolfgang Sellert (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis. Köln/ Weimar/Wien 1999 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 34), S. 241–251. Raimund J. Weber, Praktische Erfahrungen aus der Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten am Beispiel südwestdeutscher Archive, in: Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2010 (QFHG, Bd. 57), S. 11–33. Zu den Verhandlungen der Jahre 1978–1981 ausführlicher: Hausmann, Die Verzeichnung (wie Anm. 1), S. 242–244. https://doi.org/10.1515/9783111077406-016
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Grundsätze“ vom April 1978⁴ und die „Richtlinien für die einheitliche Gestaltung der Indices zu den Inventaren der Prozeßakten des Reichskammergerichts in Archiven der Bundesrepublik Deutschland“.⁵ Erstere setzten das Verzeichnungsschema fest, das in den Bänden zur Anwendung kommen sollte. Letztere bestimmten Zahl und Art der vorgesehenen Indices sowie die Identifizierungskriterien für Orte. Am 24./25. Februar 1983 fand schließlich unter DFG-Obhut eine Tagung in Königstein statt, auf der neben Sigrid Jahns und Filippo Ranieri die Bearbeiter der ersten Generation Beiträge vorstellten.⁶ Danach blieb die Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Projektmitarbeitern leider völlig ihrer Eigeninitiative vorbehalten.
1.1 Projektverlauf im Bayerischen Hauptstaatsarchiv Die Reichskammergerichtsakten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs waren anders als etwa in Darmstadt nur in geringem Umfang ganz oder teilweise makuliert und auch nicht wie in Karlsruhe in andere Bestände umgelegt worden. Die Größe des Bestandes ließ es dennoch ratsam erscheinen, zunächst die Akten auf Vollständigkeit zu überprüfen, die Reihung der Produkte zu berichtigen und eventuelle Irrläufer zu entnehmen. Dieses überwiegend mit Zeitangestellten bestrittene „Vor-
Abgedruckt als Anhang zu: Hausmann, Die Verzeichnung (wie Anm. 1), S. 250 f. Folgendes Verzeichnungsschema ist vorgesehen: 1 (Rubriken jeweils klein oder hochgestellt, danach geschütztes Leerzeichen, eventuell durch feste Zeilenschaltung von der folgenden Rubrik getrennt) Signaturen der Prozessakte, 2 Klagende Partei mit Konsorten und Interessenten, 3 Beklagte Partei mit Konsorten und Interessenten, 4a/4b Prokuratoren der klagenden/beklagten Partei, 5a Prozessantrag laut Prozessakte, 5b Prozessgegenstand und Prozessverlauf, 6 Instanzenfolge und Laufzeit, 7 Beiliegende Beweismittel, 8 Stapelhöhe, Angaben zur Vollständigkeit, Literaturhinweise. Die von Dezember 1981 an durch eine Arbeitsgruppe erstellten und von der Archivreferentenkonferenz gebilligten Indizierungsrichtlinien wurden als Anlage zu einem Schreiben des zuständigen Referenten der DFG, Dieter Oertel, vom 1. Juni 1983 an die Ausschuss- und Arbeitsgruppenmitglieder sowie die Bearbeiter versendet, Registratur des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, Aktenzeichen 2572/003‐1. Diese Beiträge finden sich in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Forschungen aus Akten des Reichskammergerichts. Köln/Wien 1984 (QFHG, Bd. 14). Auch die Projektmitarbeiter am Bayerischen Hauptstaatsarchiv sind dort vertreten, nämlich Barbara Gebhardt, Lehenrechtliche Probleme in einem Reichskammergerichtsprozeß des ausgehenden 16. Jahrhunderts mit Anmerkungen zum vorgelegten Beweismaterial. Auseinandersetzung um die Gültigkeit der Belehnung mit der Herrschaft Kirchheim zwischen Bischof Markward von Augsburg und den Reichsgrafen Fugger (1586– 1611), S. 141–157, und Horst Peter Schamari, Aspekte der Schiedsgerichtsbarkeit aufgezeigt am Beispiel des Reichskammergerichtsprozesses Hans Braun und Konsorten gegen Erasmus Höhenkirchner, herzoglich bayerischer Pfleger zu Velburg, wegen Vindikation eines Hofgutes zu Darshofen 1497–1512, S. 115–139.
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projekt“ zog sich von 1980 bis 1991 hin. In der Folge wurden einige hundert falsch eingeordnete Schriftstücke an zahlreiche Archive inner- und auch außerhalb Deutschlands abgegeben. Das DFG-Projekt startete im Sommer 1981 und endete im Sommer 2005. Die Drucklegung der Inventarbände ist noch nicht abgeschlossen. Der Verfasser war 1982/83 beim Vorprojekt tätig und wurde im November 1983 in das DFG-Projekt übernommen. In den ersten Monaten des Jahres 2020 bearbeitete er den kleinen Reichskammergerichtsbestand des Staatsarchivs Coburg. Die bayerische Archivverwaltung wich in zwei Punkten von den Festlegungen für das DFG-Projekt ab. Vorgesehen war die Verzeichnung auf der Grundlage des Status quo. Lediglich erkennbare Irrläufer sollten abgegeben werden. Raimund J. Weber hat in seinem Beitrag die Rittergüter Essingen in der Ostalb sowie in der Rheinpfalz als Beispiel genannt.⁷ Hier sei auf die zwei Prozesse der Stadt Gochsheim im Kraichgau verwiesen, die mit denen des Reichsdorfs Gochsheim bei Schweinfurt Bayern zugeteilt worden waren und nun im Generallandesarchiv in Karlsruhe liegen.⁸ Die bayerische Archivverwaltung hat jedoch überdies einen umfänglichen Aktentausch mit Baden-Württemberg vorgenommen und 2002 rund 2.400 Prozessakten mit rheinpfälzischem Betreff als Leihgabe an das Landesarchiv Speyer überstellt. Etliche dieser Akten wurden zweimal verzeichnet. Nachdem das Projekt schon einige Jahre gelaufen war, wurde mit der DFG überdies vereinbart, Orte nicht nur nach dem Stand vor den Gebietsreformen der 1970er Jahre, sondern zusätzlich nach dem Stand danach zu erfassen, weil letzterer in der Reihe der Bayerischen Archivinventare schon länger zugrunde gelegt wurde. Das DFG-Projekt wurde begleitet von einem grundlegenden Wandel der „Bürotechnik“, der nicht ohne Einfluss auf Arbeitsweise und Ergebnis blieb. In München wurden zunächst bei der Lektüre der Akten Aufzeichnungen per Hand gemacht, dann auf gleiche Weise ein Inventarisat erstellt und dieses schließlich mit einer mechanischen Schreibmaschine, einer Gabriele 10, abgetippt. Später kamen kurzzeitig eine dienstliche Kugelkopfschreibmaschine, eine private elektronische Schreibmaschine für Thermopapier und zuletzt eine Typenradschreibmaschine zum Einsatz. 1988, am 23. Dezember, dem Tag, an dem das Reichskammergericht in den Jahrhunderten seines Bestehens vermutlich die meisten Urteile fällte, wurde der erste PC mit 3½ Zoll-Diskette und 1,44 MB Speicherplatz ins Büro der Projektmitarbeiter gestellt. Handschriftliche Aufzeichnungen entfielen nach einer gewissen Umgewöhnungsphase völlig. Leider entschied man sich anfangs für Word Weber, Praktische Erfahrungen (wie Anm. 2), S. 19. Ursprünglich: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht (künftig: BayHStA, RKG) Bestellnr. 5987 und 6006 („Bestellnr.“ entfällt künftig, falls eine Inventarnr. vorhanden ist, folgt diese künftig mit der Nummer des Inventarbands, durch \ getrennt auf die Bestellnr.), jetzt: Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 71/3773 und 3774.
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Perfect, das sich nicht auf dem Markt durchsetzen konnte, und hielt auch lange daran fest. Die notwendige Konvertierung nach Word bereitete insbesondere bei den Sonderzeichen Schwierigkeiten. Die Rechtschreibreform erwies sich in diesem Zusammenhang ebenfalls als wenig förderlich. Das Projekt war zum Zeitpunkt ihrer Einführung schon recht weit gediehen und sollte deshalb auf der Grundlage der alten Rechtschreibung zu Ende geführt werden. Der Buchstabenbestand blieb zwar erhalten, die ursprüngliche Silbentrennung wurde aber vom für die Drucklegung verwendeten Programm modernisiert und musste händisch wiederhergestellt werden. Der durch den technischen Fortschritt bedingte Wandel der Arbeitsweise mag auch die Unterschiede zwischen den bis Mitte der 1980er Jahre entstandenen Inventaren aus Niedersachsen, Hessen und Schleswig-Holstein sowie den späteren Bänden erklären.⁹
1.2 Verzeichnungsschwerpunkte Ziel der Verzeichnung war zunächst die Erstellung von Findmitteln für den Archivgebrauch. Zu bedenken war aber auch der Umstand, dass es sich bei den Prozessakten um Massenakten handelt, die als Corpus in absehbarer Zeit nicht wieder so intensiv durchgesehen werden dürften, dass also die Inventarisate selbst als Grundlage vor allem für quantifizierende Forschungsansätze dienen werden. Damit wird wohl vermehrt zu rechnen sein, wenn alle Inventare auch digital und online vorliegen. Die Inventarisate aus den einzelnen Archiven unterscheiden sich am stärksten bei den Rubriken 5b: Sachverhalt und 7: Beweismittel. Die Münchner Bearbeiter legten großen Wert auf eine ausführliche Beschreibung des Prozessgegenstands und -verlaufs weit über die Erfordernisse eines Archivinventars hinaus. Berücksichtigung fanden die Grundzüge der Argumentation beider Parteien sowie der Fortgang des Prozesses bis hin zu einem eventuellen Endurteil und einem sich womöglich anschließenden Exekutionsverfahren. Die Beweismittel liegen überwiegend abschriftlich vor. Gelegentlich finden sich Originalausfertigungen, etwa ein Dutzend Urkunden zum gerade im Mannesstamm ausgestorbenen Reichsrittergeschlecht Truchseß von Baldersheim, auf deren Herausgabe ein weibliches Mitglied der Familie klagte,¹⁰ das Pfortengerichtsbuch des Klosters Langheim¹¹ oder das Gerichtsbuch des langheimischen Mönchshofs in
Weber, Praktische Erfahrungen (wie Anm. 2), S. 23 f. BayHStA, RKG 13117. BayHStA, RKG 3555\2–512, zu Gerichtsbuchauszügen = Quadrangel (künftig: Q) 244 gehörig.
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Kulmbach,¹² jeweils aus den 1520er Jahren. Um Originale handelt es sich bei den im Rahmen von Prozessen erstellten Kommissionsrotuli mit Zeugenaussagen und häufig auch handgezeichneten Karten und Plänen.¹³ Nichtschriftliche gegenständliche Beweismittel sind sehr selten, werden freilich wie Karten und Pläne gern in Ausstellungen gezeigt. Dazu gehören ein Messer, mit dem kurz vor Weihnachten 1532 ein Brudermord verübt wurde,¹⁴ ein Haarbüschel aus dem Kemptener Wasserleitungssystem, das der fürststiftische Hofrat 1714 als Beweisstück für eine absichtliche Wasserverunreinigung seitens des reichsstädtischen Brunnenmeisters präsentierte,¹⁵ oder Musterkarten mit Woll- und Webproben im Rahmen eines Streits der Zeug- und Tuchmacher der Reichsstadt Dinkelsbühl kurz vor Ende des Alten Reichs.¹⁶ Auch die Rubriken 2 und 3: Klagende bzw. beklagte Partei lassen eine mehr oder weniger intensive Aufnahme zu, indem beispielsweise die Begriffe Konsorten, Kreditoren oder Erbinteressenten pauschal verwendet oder die einzelnen Personen namentlich aufgeführt werden.
2 Mündliche Elemente innerhalb und im Umfeld des Kameralprozesses Das Verfahren am Reichskammergericht gehorchte dem Prinzip der Schriftlichkeit. Dem Generalthema des Bandes geschuldet, sollen hier einige Anmerkungen zu mündlichen Elementen folgen, die in den Prozessakten zum Vorschein treten.
BayHStA, RKG 3555\2–512, zu Gerichtsbuchauszügen = Q 245 gehörig. Mit Augenscheinkarten, ihrer Funktion als Beweismittel und ihrem Entstehungszusammenhang im Rahmen von kaiserlichen Kommissionen zur Zeugeneinvernahme beschäftigt sich Anette Baumann.Von ihren einschlägigen Arbeiten sei hier nur erwähnt: Anette Baumann, Karten vor Gericht. Augenscheinkarten der Vormoderne als Beweismittel. Darmstadt 2022. BayHStA, RKG 4902\8–3036. Vgl. Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Mainz 1994, Exponat 81, S. 135 (Abbildung), S. 136 (Text). Zum zugehörigen Prozess: Manfred Hörner, Brudermord und Ehezwist. Die Reichskammergerichtsprozesse der Brüder Gregor und Augustin Einkürn, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken. Köln/Weimar/Wien 2005 (QFHG, Bd. 50), S. 181–211. BayHStA, RKG 7583\14–5788.Vgl.Wolfgang Jahn/Josef Kirmeier/Wolfgang Petz/Evamaria Brockhoff (Hrsg.), „Bürgerfleiß und Fürstenglanz“. Reichsstadt und Fürstabtei Kempten. Katalog zur Ausstellung in der Kemptener Residenz 16. Juni bis 8. November 1998. Augsburg 1998 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, künftig: VBGK, 38/98), Exponat 77b, S. 147 f. BayHStA, RKG 4607\7–2604, Q 19, 77 und 78. Vgl. Rainer A. Müller/Brigitte Buberl (Hrsg.), Reichsstädte in Franken. Katalog zur Ausstellung. München 1987 (VBGK 14/87). Exponat 114, S. 94.
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Die mündlichen Vorträge der Prokuratoren fanden ihren Niederschlag im jeweiligen Spezialprotokoll. Sie dienten keineswegs allein zur Übergabe von Schriftsätzen, sondern durchaus, wenn auch selten dem Austausch von Argumenten.¹⁷ Gerade in den Wetzlarer Jahren (1689/93–1806) enthalten sie oft umfängliche Einträge an Terminen, an denen weder Schriften eingereicht noch Urteile verkündet wurden.¹⁸ Behandelt wurden dann oft Frist-, Kautions-, Rekognitions- und Kommissionsangelegenheiten. Vorträge zur Sache knüpften zumeist an früher eingereichte Schriftsätze und die darin enthaltenen Anträge an. Der Fiskal meldete sein Interesse, etwa an der Verhängung von Strafen, in den Audienzen an. Schriftliche Äußerungen von seiner Seite finden sich nur in Prozessen, in denen er förmlich als Kläger auftrat. In Appellationsprozessen traf die vom Reichskammergericht geforderte Schriftlichkeit an der Schnittstelle zum vorinstanzlichen Verfahren auf gegenteilige Gewohnheiten, nämlich bei der Vornahme der Appellation sowie der Edition der Akten. Das Reichskammergericht verlangte die schriftliche Appellation und ein Appellationsinstrument auf Pergament. Beanstandungen einer ausschließlich mündlichen Vornahme der Appellation fielen vor allem in die Jahre, bevor das Gericht in Speyer (1527–1689) sesshaft wurde.¹⁹ Doch noch in den 1790er Jahren wurde diese Einrede im Fall einer Testamentsanfechtung innerhalb der dem Nürnberger Patriziat zugehörigen Familie Kreß von Kressenstein vorgebracht.²⁰ Das schriftliche Verfahren und daraus resultierende Akten waren noch keineswegs überall üblich. So bemängelten Bürgermeister und Rat zu Isny 1515, dass über die Injurienklage der Barbara Aher vor Bürgermeister und Rat zu Kempten als gefreiten Richtern mündlich verhandelt worden sei.²¹ Bürgermeister und Rat zu Dinkelsbühl beteuerten 1517 in einer Schuldenangelegenheit, keine Gerichtsakten aushändigen zu können, weil das Verfahren
Bernhard Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 56), S. 105–115. Die Auswertung der Spezialprotokolle einiger zufällig (weil aus dienstlichen Gründen aus einem Depot bestellt) ausgewählter Prozessakten ergab eine klare Tendenz. Der Anteil derartiger Termine lag um das Jahr 1600 selten bei über 20 %, z. B. BayHStA, RKG 13583/1, und nur einmal, im Fall eines umfänglichen Prozesses mit rund 170 Terminen, BayHStA, RKG 6051/I–IV, bei etwa 40 %, wobei der Anteil mit der Dauer des Verfahrens anstieg. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert wurden gelegentlich 60 % und mehr erreicht, z. B. Staatsarchiv Coburg (künftig: StACo), LA B 2363 oder 2375. Bis 1527 lassen sich ausweislich der Sachindices für das Bayerische Hauptstaatsarchiv 15 Fälle nachweisen, bis 1550 bzw. 1575 jeweils vier und bis 1600, 1650 bzw. 1700 jeweils einer. BayHStA, RKG 2536\12 – 5110. BayHStA, RKG 7176\13 – 5338.
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nicht schriftlich festgehalten werde, wenn dies nicht eine Partei verlange.²² Als das gräflich montfortische Hofgericht zu Immenstadt dem Appellanten in einem Erbstreit verwehrte, seine Klagschrift zu übergeben, ihm vielmehr auferlegte, seine Beschwerden mündlich vorzutragen, weil es nicht Hofgerichtsgebrauch sei, die Sache schriftlich vorzubringen, folgte die Berufung an das Reichskammergericht.²³ Noch im Herbst 1754 verpflichtete das königlich dänische und großfürstlich russische gemeinschaftliche Landgericht zu Glückstadt den bevollmächtigten Anwalt des Markgrafen Friedrich Christian von Brandenburg-Bayreuth, der Ernst Ludwig Ekeberg die Pacht seines Gutes Wandsbek aufgekündigt hatte, auf die Klagen sogleich mündlich zu antworten statt sich wie erbeten schriftlich äußern zu dürfen.²⁴ Ein mündliches Element, das nicht im eigentlichen Verfahren anzusiedeln ist, stellen die auf Antrag einer Partei durch einen Kommissar im Auftrag des Reichskammergerichts eingeholten Zeugenaussagen dar. Die Vernehmung lief nach festen Regeln ab. Beide Parteien wirkten daran mit, indem die Zeugen zu den Artikeln der einen die Interrogatoria der anderen Seite beantworten mussten. Diese Zeugenaussagen fanden als Ego-Dokumente in den 1990er Jahren größeres Interesse.²⁵ Bei den am Reichskammergericht vorgelegten Rotuli handelt es sich um nachträglich angefertigte Reinschriften. Viele Prozessakten enthalten zusätzlich die beim Verhör – häufig von durch die Parteien abgeordneten Schreibern – erstellten Mit-
BayHStA, RKG 7466\14 – 6040. Die Ausfertigung eines Gerichtsbriefs und die Herausgabe der Akten machte wohl auch das Rottweiler Hofgericht vom Ersuchen einer Partei abhängig, vgl. Georg Grube, Die Verfassung des Rottweiler Hofgerichts. Stuttgart 1969 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen, Bd. 55), S. 175; Ulrike Schillinger, Die Neuordnung des Prozesses am Hofgericht Rottweil 1572. Entstehungsgeschichte und Inhalt der Neuen Hofgerichtsordnung. Köln/Weimar/Wien 2016 (QFHG, Bd. 67), S. 157. BayHStA, RKG 8584\16 – 6784. BayHStA, RKG 3966\4 – 1481. Dazu u. a.: Ralf-Peter Fuchs, Protokolle von Zeugenverhören als Quellen zur Wahrnehmung von Zeit und Lebensalter in der Frühen Neuzeit, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (QFHG, Bd. 37), S. 141–164; Winfried Schulze, Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören, in: ders. (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2), S. 319–325. Eine Fallstudie, die Zeugenaussagen aus Reichskammergerichtsakten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs auswertet, erarbeitete Alexander Schunka, Soziales Wissen und dörfliche Welt. Herrschaft, Jagd und Naturwahrnehmung in Zeugenaussagen des Reichskammergerichts aus Nordschwaben (16.–17. Jahrhundert). Frankfurt a. M. 2000 (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte, Bd. 21).
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schriften.²⁶ Hier ließe sich der Transformationsprozess von der mündlichen zur schriftlichen Version der Aussage genauer verfolgen.
3 Zusammenfassende Beobachtungen Im Laufe der Verzeichnungstätigkeit an Prozessakten des Reichskammergerichts verfestigt sich zwangsläufig der Eindruck, der sich zu vielen Fragestellungen gewinnen lässt, ohne dass immer quantifizierbare Angaben möglich sind. Im Folgenden sollen zusammenfassende Beobachtungen zu sechs Aspekten vorgestellt und durch einzelne Beispiele belegt werden.
3.1 Aufteilung der Prozessakten Die von der Bundesversammlung im September 1845 beschlossene gebührenfreie Aufteilung der Prozessakten des Reichskammergerichts auf die Staaten des Deutschen Bundes richtete sich bei Appellationen nach dem Sitz der ersten Instanz, ansonsten nach dem Wohnsitz der beklagten Partei. Das führte gelegentlich dazu, dass sich die Prozesse zwischen zwei Parteien, abhängig davon, wer beklagt wurde, heute in zwei Archiven befinden, so die zwischen der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und dem Ritterstift Comburg im Bayerischen Hauptstaatsarchiv²⁷ und im Hauptstaatsarchiv Stuttgart.²⁸ Schon im Verlauf der Aufteilung wurde vereinzelt von diesen Grundsätzen abgewichen. Der Stuttgarter Bestand umfasst gut 20 Appellationsprozesse des Hochstifts und der Reichsstadt Augsburg von Urteilen des kaiserlichen Hofgerichts in Rottweil gegen meist unweit Augsburgs wohnende Untertanen und Schutzjuden. Angesichts der vom Hofgericht beanspruchten Zuständigkeit über den Rhein, bis an den Lech und weit nach Franken hinein wurde hier die strikte Verteilung nach der
Mehr als 80 Akten enthalten eine Mitschrift, gut 150 Akten zwei und sieben Akten, vgl. BayHStA RKG 547\1 – 40, 637/1, 844/1\19 – 8398, 3737\3 – 1030, 3805/1\4 – 1564, 6142\10 – 4354, 14826\20 – 8477, sogar drei Mitschriften. Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskammergericht Band 6 Nr. 1840–2129 (Buchstabe C), bearb. von Manfred Hörner. München 1995 (Bayerische Archivinventare, Bd. 50/6), Inventarnr. 1969–1986. Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Stuttgart N–R. Inventar des Bestands C 3, bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber. Stuttgart 2001 (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. 46/5), Inventarnr. 3596–3604.
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Vorinstanz schon im Herbst 1848 aufgegeben.²⁹ Das Bayerische Hauptstaatsarchiv dürfte über rund 500 Appellationsprozesse aus Rottweil verfügen. Die Bestimmung des Wohnortes fiel bei einer Vielzahl von Konsorten bisweilen willkürlich aus. Der Wohnort war vereinzelt irrelevant, wenn dafür der Dienstsitz eines Beamten herangezogen wurde, das Verfahren diesen aber als Besitzer eines entfernt gelegenen Ritterguts betraf.³⁰ Mitunter flossen gar Pertinenzgesichtspunkte in die Entscheidung ein.³¹ Die Masse der Akten, die Kürze der Zeit und der Mangel an Personal begünstigten zudem Falschzuweisungen. Dennoch ist das Aufteilungsgeschäft insgesamt gut gelungen. Im Falle Bayerns wird die Geltung der Richtlinien allerdings dadurch beeinträchtigt, dass das Königreich bereits auf den 1839 gefassten Beschluss hin, Prozessakten gegen eine Avokationstaxe herauszugeben, aktiv geworden war. Der aus Bamberg entsandte Archivar Heinrich Heyden von Hungerkhausen sichtete das Material in Wetzlar. Die dabei ausgewählten knapp 3.000 Prozessakten wurden ins Reichsarchiv nach München verbracht, darunter viele Fälle, die bei strenger Beachtung der Verteilungskriterien nicht dorthin gehörten. Der Archivalientausch mit Baden-Württemberg schaffte ein wenig Abhilfe. Gegenüber Hessen blieb die ursprüngliche Aufteilung dagegen erhalten, wobei zu berücksichtigen ist, dass Tann, Gersfeld und Orb damals zu Bayern gehörten. So liegen die Akten einer größeren Zahl von Klagen gegen das Fürststift Fulda im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, dar-
Raimund J. Weber, Einleitung, in: Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Inventar des Bestands C 3. Bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J.Weber. Stuttgart 1993 (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. 46/1), S. 32. Gleiches gilt etwa für das kaiserliche Landgericht in Ober- und Niederschwaben auf Leutkircher Heide und in der Gepurs. Z. B. liegen die Akten eines Prozesses, den Philipp Schrimpf von Berg, Amtmann zu Sonneberg, gegen Weigand von Dienheim führte und der die Schäfereien ihrer benachbarten Rittergüter Veilbronn und Unterleinleiter südöstlich von Bamberg betraf, im Staatsarchiv Coburg (LA B 2299), nicht im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Im Staatsarchiv Coburg werden die Unterlagen eines Prozesses verwahrt, den die fränkische Reichsritterschaft gegen Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg führte, der die Reichsunmittelbarkeit ihres Mitglieds Joachim Truchseß von Wetzhausen in Zweifel gezogen hatte, vgl. StACo, LA B 2309–2312. Die Akten von einem weiteren Prozesses der Reichritterschaft zusammen mit Truchseß sowie von sieben allein von Truchseß erhobenen Klagen gegen den Herzog liegen im Staatsarchiv Meiningen, vgl. Inventar der Prozeßakten des Reichskammergerichts in den Thüringischen Staatsarchiven, bearb. von Torsten Fried. Weimar 1997 (Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven, Bd. 3), Nr. 238, 333–339. Die Auseinandersetzungen betrafen zumeist das Rittergut Schweickershausen im Amt Heldburg und einmal das Rittergut Sternberg im Amt Römhild. Beide Ämtern gehörten zu Johann Casimirs Zeit zum Herzogtum Sachsen-Coburg, nach dem Ende des Herzogtums Sachsen-Hildburghausen 1826 in vollem Umfang zum Herzogtum Sachsen-Meiningen.
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unter jeweils acht seitens des Hochstifts Würzburg und der Familie von der Tann und sogar elf seitens der Familie von Ebersberg genannt von Weyhers. Für die Suche nach Prozessen bestimmter Parteien empfiehlt es sich jedenfalls, die Bestände mehrerer Archive einzubeziehen.
3.2 Gesamtzahl der Prozesse am Reichskammergericht Auch wenn der letzte Inventarband einmal gedruckt vorliegen sollte, wird sich die Zahl der tatsächlich am Reichskammergericht geführten Prozesse nicht genau bestimmen lassen. Raimund J. Weber hat in seinem Beitrag festgestellt, dass einzelne anderwärts überlieferte Kameralprozesse in keinem Reichskammergerichtsbestand nachweisbar sind, und führte als prominentes Beispiel dafür den Mandatsprozess um den Augsburger Kalenderstreit an.³² Auch für das Bayerische Hauptstaatsarchiv lassen sich Prozesse ermitteln, die aus vorhandenen Prozessakten zu rekonstruieren sind, von denen aber weder ein einziges Schriftstück noch ein Eintrag im Generalrepertorium auffindbar ist. Es fehlen beispielsweise Prozesse des Priesters Johann Greußer gegen die Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber wegen unterschiedlicher Schadenersatzforderungen 1516,³³ der Reichsstadt Nördlingen gegen Graf Friedrich V. von Oettingen um die Ummauerung des Kirchhofs zu St. Emmeram 1550,³⁴ der Margaretha von Thannhausen gegen Hans Wolf von Thannhausen wegen Übernahme einer Vormundschaft 1617,³⁵ der Reichsstadt Lindau gegen Georg Fugger um die Besteuerung der reichsstädtischen Güter in der Herrschaft Wasserburg um 1630³⁶ oder des Bischofs Marquard Sebastian von Bamberg gegen Bischof Johann Gottfried II. von Würzburg um die Aischbrücke bei Lonnerstadt 1685.³⁷ Alle diese Prozesse begannen vor der Zerstörung Speyers und der Flüchtung der Akten, ihr Fehlen hängt womöglich damit zusammen.
Weber, Praktische Erfahrungen (wie Anm. 2), S. 29 f. Zu rekonstruieren aus: BayHStA, RKG 9861\17–9071, Q 15, fol. 133r–158r. Vgl. Karl Borchardt, Die geistlichen Institutionen in der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und dem zugehörigen Landgebiet von den Anfängen bis zur Reformation. Neustadt/Aisch 1988 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe IX: Darstellungen aus der fränkischen Geschichte, Bd. 37/I–II), Bd. I, S. 649. Zu rekonstruieren aus: BayHStA, RKG 9201\17–7527, Q 171, Lit. G. Zu rekonstruieren aus: BayHStA, RKG 9860\19–8068, Beilage Lit. B zu Produkt vom 5. Mai 1618. Zu rekonstruieren aus: BayHStA, RKG 15763\15–6507, Produkte vom 20. Februar 1682 und 30. Juni 1682. Zu rekonstruieren aus: BayHStA, RKG 445\17–7604, Q 23. Vgl. Johann Looshorn, Das Bisthum Bamberg von 1623–1729. Bamberg 1906 (Die Geschichte des Bisthums Bamberg, Bd. 6), S. 517–522 (hier S. 520).
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Im Zuge der Verzeichnung wurden zahlreiche zumeist fragmentarisch bleibende Prozessakten neugebildet, die das Generalrepertorium nicht kennt.³⁸ Zugleich gibt es aber Prozesse, die im Generalrepertorium festgehalten sind, die aber in keinem der neuen Inventarbände erscheinen. Ein derartiger Fall trat in München erstmals auf, als Klagen der Gemeinde Burgsinn gegen die Freiherren von Thüngen verzeichnet wurden. Einer Arbeit vom Ende des 19. Jahrhunderts³⁹ ist zu entnehmen, dass diese Parteien rund 25 Prozesse gegeneinander führten. Laut Generalrepertorium wurden die meisten Akten nach 1806 nach Würzburg abgegeben, einzelne fehlen, drei wurden übersehen, verblieben zunächst in Aschaffenburg oder Wetzlar und liegen nun im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Die zur Fortführung des Verfahrens herausgegebenen Akten finden sich heute mit den bis zum Endurteil vom 5. Dezember 1846 am Kreisgericht in Würzburg, am Appellationsgericht in Aschaffenburg und am Oberappellationsgericht in München entstandenen Unterlagen, insgesamt rund 30 Regalmeter, als „Landgericht Würzburg, Zivilsachen 204“ im Staatsarchiv Würzburg. Ein weiteres Beispiel: zusätzlich zu den 451 von der Reichsstadt Nürnberg angestrengten Prozessen im Münchner Bestand gibt es vier Verfahren um Fischerei- und Holzungsrechte sowie die Besetzung einer Pfarrei,⁴⁰ die in Ansbach weitergeführt wurden, dazu noch eine Zunftstreitigkeit zwischen Scheibenziehern und Brillenmachern.⁴¹ Gleich auf zwei derartige Fälle stößt, wer sich mit der Klage des Prokurators Johann Nikolaus Schmidt gegen Georg Paul von Hendrich, den Inhaber des Ritterguts Ahorn, beschäftigt.⁴² Der Prokurator Christian Christoph Dimpfel vermachte dessen Ehefrau, der Prokuratorentochter Christina Barbara Scheffer, mittels Kodizills seine Deservitenansprüche. Als Anwalt Hendrichs war er an einem Prozess beteiligt, den etliche Herzöge der ernestinischen Linie des Hauses Wettin als Inhaber des Herzogtums Sachsen-Coburg 1715/17 gegen die fürstbischöfliche Regierung zu Bamberg anstrengten. Dabei ließ er auch nach den Akten eines 1610 begonnenen Verfahrens Herzog Johann Casimirs von Sachsen-Coburg gegen Bischof Julius von Würzburg um den Schaftrieb und die Jagd von Ahorn aus suchen und einen Rotulus daraus kopieren. In den Reichskammergerichtsbeständen bayerischer und thüringischer Staatsarchive finden sich diese Akten nicht. Sie dürften an die großherzogliche Justizstelle zu Würzburg abgege-
Weber, Praktische Erfahrungen (wie Anm. 2), S. 19 f. Hans Lammer, Das Lehen Burgsinn. Darstellung der Rechte der Freiherren von Thüngen zu Burgsinn und des Streites um dieselben gegen die Gemeinde Burgsinn. München 1886. Bundesarchiv, RKG, Generalrepertorium N 1849, N 2262, N 2270b und N 2272. Bundesarchiv, RKG, Generalrepertorium N 2288b. StACo, LA B 2366.
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ben worden sein.⁴³ Weitere Fälle dieser Art könnten bei einer systematischen Durchsicht des Generalrepertoriums ermittelt werden.
3.3 Strafsachen in Prozessakten des Reichskammergerichts Das Reichskammergericht verfügt zwar über keinerlei Zuständigkeit in Kriminalsachen. Dennoch erlauben seine Prozessakten auch Einblicke in die Strafgerichtsbarkeit. Seine Rolle bei Hexenprozessen hat Peter Oestmann in einer umfänglichen Darstellung herausgearbeitet.⁴⁴ Malefizdelikte wie Mord und Diebstahl, seltener Notzucht und gelegentlich auch Brandstiftung, finden sich in größerer Zahl in den Sachindices. Die Grauzone unterhalb dieser drei oder vier hohen Rügen ist häufig Gegenstand von Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Inhabern der hohen und der vogteilichen Gerichtsbarkeit. Betroffen sind hier Delikte wie Körperverletzung, insbesondere soweit sie mit blutenden Wunden verbunden war, Hehlerei, Wilderei, auch die Beherbergung von Dieben oder Wilderern, fahrlässiger Umgang mit Feuer, Ehebruch, Schwängerung oder Leichtfertigkeit. Vereinzelt ist das gesamte Inquisitionsverfahren in Reichskammergerichtsakten überliefert. Joseph Sambtner war bezichtigt worden, den herrschaftlichen Stadel in Rißtissen in Brand gesetzt zu haben, wurde deshalb ein gutes Jahr in Arrest genommen und zuletzt Ende April 1756 peinlich befragt. Er klagte daraufhin in Wetzlar gegen den Dorfherrn Joseph Freiherrn Schenk von Stauffenberg auf Vorlage der Untersuchungsakten, Annullierung des Prozesses, Wiederherstellung seiner Ehre und Wiedergutmachung der erlittenen Schäden.⁴⁵ Mitunter geben Reichskammergerichtsakten zumindest detaillierte Auskunft über parallele Strafverfahren, so im Fall einer Schadenersatzklage der Witwe Margaretha Ursula von Acker gegen Ernst Ludwig Freiherrn von Stein zum Altenstein als Dorf- und Gerichtsherrn. Sie war 1707 von einer Diebesbande in ihrem Haus überfallen, gefesselt, geknebelt und beraubt worden. Als Beweismittel wurden Schriftstücke eingereicht, die bei verschiedenen mit dieser Diebesbande befassten Strafgerichten entstanden, etwa Zentamtsprotokolle mit Aussagen, Urteile des
Zumindest stimmen die Angaben des Generalrepertoriums zu S 50b rot und S 52b rot, die allerdings keine Aussage zum Gegenstand enthalten, mit den aus der Coburger Prozessakte zu ermittelnden Daten überein. Peter Oestmann, Hexenprozesse am Reichskammergericht. Köln/Weimar/Wien 1997 (QFHG, Bd. 31). BayHStA, RKG 11219. Die Inquisitionsakten liegen als Q 11 bei.
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Schöppenstuhls zu Jena sowie ein Gutachten der Juristenfakultät zu Altdorf.⁴⁶ Auch über peinliche Verfahren gegen Juden, zumeist der Fälschung und des Betrugs bezichtigt, können Kameralprozesse Auskunft geben, so im Falle Baruchs aus Ichenhausen⁴⁷ oder Bemmels aus Oettingen.⁴⁸
3.4 Der Jüngste Reichsabschied und seine Auswirkungen auf den Kameralprozess Den verfahrensrechtlichen Änderungen des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 sollte etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aus Bearbeitersicht waren diese Änderungen eher unerfreulich. Zum einen vermehren sie den Schreibaufwand durch die Aufnahme der in der Prozesspraxis weitgehend unerheblichen substituierten Prokuratoren⁴⁹ und den Übergang zu meist umfänglicheren lateinischen Bezeichnungen der Prozesse laut Spezialprotokoll.⁵⁰ Zum anderen erhöhen sie den Leseaufwand, weil die Position des Klägers nun nicht mehr aus Ladung und Mandat zu entnehmen ist, sondern aus einer tendenziell immer umfänglicher werdenden Supplik. Auch das Verbot des Artikelprozesses macht sich in dieser Hinsicht nachteilig bemerkbar. Eine artikulierte Prozessschrift besitzt eine klare Struktur. Die Satzkonstruktionen des 18. Jahrhunderts mit kaum erkennbarem Anfang und Ende sind deutlich schwerer zu durchschauen, sogar für jemanden, der selbst zur Produktion von Satzungetümen neigt. Freilich lassen sich nun die teil-
BayHStA, RKG 12111. Zu einem Ehebruchsfall in den 1570er und 1580er Jahren in Weiden: Stefan Breit, Das peinliche Verhör der Katharina Widmann, in: Baumann/Oestmann/Wendehorst/Westphal (Hrsg.), Prozesspraxis (wie Anm. 14), S. 137–180. BayHStA, RKG 7219\13–5445. BayHStA, RKG 7237/I-II\13–5423 und 7240\13–5424. Vgl. Manfred Hörner, Bemmel, ein Geldverleiher und Viehhändler aus dem schwäbisch-fränkischen Grenzgebiet, in: Manfred Treml/Wolf Weigand (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. München 1988 (VBGK 18/ 88), S. 31–35. Nach dem Tod eines Prokurators wurde in aller Regel nicht der bisherige substituierte Anwalt bevollmächtigt. Gar nicht so selten erscheinen substituierende Prokuratoren gleichzeitig auf Seiten beider Parteien. So ist im oben angeführten Brandstiftungsfall unter der Rubrik 5a Mandatum de edendo acta inquisitionalia originalia integra, non amplius offendendo nec alienando, sed restituendo ablata et concedendo liberum accessum c. c. nec non cum citatione ad videndum cassari et annullari processum inquisitorium cum omnibus suis actibus, in specie decretum relegatorium, infamiam inustam aboliri et per omnia in pristinum statum, in quantum factum infectum fieri potest, et honorem restitui nec non insigniter laesam existimationem et bonam famam atque atroces per torturam et mutilationem membrorum illatas iniurias et alia damna data et perpessa satisfieri sicque condemmari festgehalten.
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weise jahrelangen Extrajudizialphasen⁵¹ nachvollziehen, in deren Verlauf Prozessanträge häufig mehrfach verändert werden mussten, bis ihnen das Reichskammergericht entsprach.⁵² Auch bei der statistischen Auswertung des Prozessaufkommens sollten diese prozessualen Wandlungen im Auge behalten werden. In der Hochzeit des Reichskammergerichts gab es lange Serien von Mandatsprozessen zwischen zwei Parteien mit einer beschränkten Zahl von Gegenständen. Im späten 17. und 18. Jahrhundert führten weitere Pfändungen in der gleichen Sache nicht mehr zu neuen Mandaten, sondern zu Attentatsanzeigen oder zu Anträgen auf ein Mandatum arctius oder ein Mandatum ulterius, über die dann im Rahmen des anhängigen Verfahrens verhandelt wurde. Die 65 ab 1654 begonnenen Prozesse zwischen der Reichsstadt Nürnberg und dem Markgraftum Brandenburg weisen beispielsweise über 30 zusätzliche Attentatsklagen auf. Der zweifelsohne vorhandene Rückgang des Prozessaufkommens gegenüber dem späten 16. und dem frühen 17. Jahrhunderts erscheint so natürlich noch größer.
3.5 Konkurrenzverhältnis der Reichsgerichte In den ersten Jahrzehnten nach 1495 ließen Kaiser an sie herangetragene Streitfälle vereinzelt durch das Reichskammergericht erörtern. König Maximilian I. verwies beispielsweise die heftige Auseinandersetzung zwischen seinen Räten Simon von Hungersbach und Georg Freiherrn von Thun um Injurien nach siebenjährigen Verhandlungen vor Statthalter, Regenten und Räten der niederösterreichischen Lande zu Wien und vor seinen Hofräten Anfang August 1504 mit der Begründung, seine Hofräte anderweitig zu benötigen, zur kommissarischen Klärung an das Reichskammergericht.⁵³ Mitte Juni 1547, als das Reichskammergericht nach dem Schmalkaldischen Krieg zeitweilig lahm lag, wandte sich Bischof Weigand von Bamberg wegen brandenburgischer Übergriffe auf Fürth an die kaiserlichen Hofräte. Mitte Februar 1549 verwies Kaiser Karl V. die Angelegenheit wegen dienstlicher Überlastung seiner Hofräte nach Speyer.⁵⁴
Extrajudizialakten aus der Zeit vor 1654 haben sich nur zufällig und in sehr geringer Zahl erhalten. Der Extrajudizialsachen gewidmete Band des Generalrepertoriums umfasst fast ausnahmslos Fälle des 18. Jahrhunderts. Im Falle der Gemeinde Laudenbach vergingen von einem ersten Mandatsersuchen bis zur Erteilung einer Ladung an Christoph Hartmann Freiherrn von Fechenbach rund achteinhalb Jahre, BayHStA, RKG 2556\15–6289. Vgl. BayHStA, RKG 13200\12–5218. Vgl. BayHStA, RKG 349\2–467 und 350\2–468.
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Der Umgang der Reichsgerichte miteinander kann aus der Sicht des Reichskammergerichts für die Folgezeit als geschäftsmäßig bezeichnet werden. Zuständigkeitsprobleme entstanden dann, wenn die Klage auf Abstellung eines Prozesses am Reichshofrat abzielte⁵⁵ oder – weit häufiger – die Klage mit einem Begehren auf Remission dorthin beantwortet wurde. Mandate auf Abstellung eines Prozesses richteten sich stets an die Gegenpartei, nie an den Reichshofrat. Im Falle von forideklinatorischen Einreden spielte die Deckungsgleichheit von Anlass und Gegenstand der Prozesse eine entscheidende Rolle, daneben auch die Prävention, wobei im Einzelfall sogar die Tageszeit, zu der die Insinuation erfolgte, den Ausschlag geben mochte.⁵⁶ Remissionen vom Reichshofrat an das Reichskammergericht⁵⁷ kamen ebenso vor wie solche in umgekehrter Richtung.⁵⁸ Die Sorgfalt der Parteien bei der Klageerhebung konnte Zuständigkeitsprobleme verhindern. Die Reichsstadt Nürnberg strengte am Reichskammergericht fast 300 Prozesse gegen das Markgraftum Brandenburg an. In keinem einzigen davon wurden forideklinatorische Einreden zugunsten des Reichshofrats geltend gemacht, obwohl auch dort eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten zwischen diesen beiden Parteien anhängig war. Im Einzelfall achtete das Reichskammergericht selbst auf eine eventuelle Litispendenz beim Reichshofrat. Nachdem das Hochstift und die Reichsstadt Regensburg mit dem Reichsdeputationshauptschluss an den Kurerzkanzler Karl Theodor von Dalberg gefallen waren, wandte sich Kurfürst Maximilian IV. Joseph von Bayern wegen Rechtsverweigerung mit Klagen auf Rückgabe der 1496 an die Reichsstadt abgetretenen Zoll- und Blutbannrechte sowie auf Anerkennung der Landeshoheit über die 1715 vom Hochstift ausgelöste Herrschaft Donaustauf nach Wetzlar. Eine Ladung in letztgenannter Angelegenheit wurde wegen Anhängigkeit in Wien verweigert.⁵⁹
3.6 Urteile und Vergleiche Urteilsbücher liegen im Bundesarchiv ab 1684 vor, dazu für die Jahre 1573 bis 1601 und 1630 bis 1683 unvollständige Urteilssammlungen. Die 1995 erstellte Datenbank⁶⁰
Z. B. BayHStA, RKG 9194\17–7517. Z. B. BayHStA, RKG 9198\17–1524. Z. B. BayHStA, RKG 1186\17–7528, 1187\17–7531 und 9201\17–7527. Z. B. BayHStA, RKG 3826\4–1593. BayHStA, RKG 30\3–1035. Reichskammergericht, Bestand AR 1, Urteilsbücher (Datenbank und Begleitheft), bearb. von Hans Schenk unter Mitarbeit von Ernst Ludwig Brust, Claudia Helm und Michael Hollmann. Koblenz 1995 (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Bd. 52). Für die Benutzung ist ein 3 ½ Zoll-Diskettenlaufwerk erforderlich.
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enthält Nachweise über die Urteile, nicht den Wortlaut, was die Zusammenführung mit den Inventarisaten ziemlich umständlich macht. Die Erkenntnis, dass Urteile in aller Regel auch in den Spezialprotokollen überliefert sind,⁶¹ hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Ein Endurteil⁶² kündigt sich dort mit der Formulierung wird allem An- und Vorbringen nach zu Recht erkannt an. Es mag sehr knapp ausfallen, wenn beispielsweise der Appellant mit einem wohl geurteilt, übel appelliert beschieden oder das ausgegangene Mandat kassiert wird. Es kann sich aber auch über viele Seiten erstrecken, vor allem, aber keineswegs ausschließlich, wenn in einem Konkursverfahren Forderungen gereiht oder klassifiziert werden. Eine statistische Untersuchung auf der Basis von 1678 auswertbaren Prozessen mit Klägern der Anfangsbuchstaben A bis C hat der Verfasser 2001 vorgelegt.⁶³ Danach erging in rund einem Viertel der Mandats- wie auch der Zitations- und Appellationsprozesse ein Endurteil oder zumindest ein nicht wieder aufgehobenes Paritorialurteil. Vereinzelt erfolgten Definitivurteile, nachdem das Verfahren Jahrzehnte geruht hatte.⁶⁴ Gut ein Zehntel der Streitfälle endete mit einem Vergleich, für weitere 50 Verfahren ist zumindest die Aufnahme gütlicher Verhandlungen belegt. Einzelne Abmachungen beendeten gleich eine ganze Reihe von Prozessen, so ein Vertrag vom 23. März 1626⁶⁵ die meisten Streitfälle zwischen dem Hochstift
Barbara Gebhardt richtete anlässlich der Erfassung der Prozesse der Kläger mit dem Anfangsbuchstaben A eine Anfrage an die damalige Außenstelle des Bundesarchivs in Frankfurt am Main, wo der untrennbare Bestand verwahrt war. Der Verfasser erhielt später Kenntnis von den Ergebnissen. Danach waren von gut hundert in den Urteilsbüchern festgestellten Urteilen, mehrheitlich Interlokuten, alle bis auf zwei auch in den Spezialprotokollen zu finden. Eine erste maschinenschriftliche Version des Inventarbands führte die Fundstellen in den Urteilsbüchern unter der Rubrik 5c auf. Weil diese Rubrik in den Richtlinien nicht vorgesehen und für die späteren Bände keine Anfrage geplant war, wurde schließlich darauf verzichtet. Die zugehörige Korrespondenz ist in der Registratur des Bayerischen Hauptstaatsarchivs unter dem einschlägigen Aktenplaneintrag (003‐1) nicht vorhanden. Feststellbar ist jeweils der Urteilstenor. Rationes decidendi et dubitandi dazu existieren nicht. Manfred Hörner, Anmerkungen zur statistischen Erschließung von Reichskammergerichtsprozessen, in: Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hrsg.), Prozessakten als Quelle (wie Anm. 25), S. 69–81 (hier S. 76–81). So erging im 1568 begonnenen Mandatsprozess zwischen Joachim von Seckendorff und Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg um die fraischliche Obrigkeit zu Ullstadt, Langenfeld und Hohenholz nach Prozesspausen in den Jahren von 1629 bis 1715 und 1725 bis 1755 am 14. April 1755 ein Endurteil zugunsten der Familie von Franckenstein, die Ullstadt 1662 erworben hatte, BayHStA, RKG 11723/I–II. Es wurde lediglich die Aufnahme gütlicher Verhandlungen angezeigt, nicht deren erfolgreicher Abschluss. Der Vertrag selbst, dazu Placidus Braun, Geschichte der Bischöfe von Augsburg, Bd. 4. Augsburg 1815, S. 118–124, wurde in keinem einzigen der Prozesse zwischen diesen beiden Parteien vorgelegt.
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Augsburg und dem Fürstentum Pfalz-Neuburg. Der Wechsel von gerichtlichen und außergerichtlichen Verhandlungen zeigt sich recht gut am Beispiel der Hochstifte Bamberg und Würzburg. Nach über 100 bambergischen Klagen, darunter eine Serie von 75 durchnummerierten Appellationen von Urteilen würzburgischer Zentgerichte, sowie gut 40 würzburgischen Klagen teilten die Parteien im Frühjahr 1610 die Aufnahme von gütlichen Verhandlungen mit. Anfang Juni 1612 einigten sie sich darauf, ihre widerstreitenden Steuer-, Zent- und Vogteiansprüche mittels eines Kompromissverfahrens⁶⁶ auszutragen. Der deutschmeisterische und der oettingenwallersteinische Kanzler sollten die Prozessschriften entgegennehmen, die schriftlichen Beweismittel transsumieren und die Zeugen vernehmen. Auf der Grundlage dieser Mitte Februar 1615 inrotulierten Unterlagen sollte das Reichskammergericht ein Urteil fällen, was es am 11. April 1617 auch tat. Darauf aufbauend und weitere Streitpunkte einbeziehend, schlossen die Parteien am 29. September/3. Oktober 1659 und 31. Juli 1685 Vergleiche.⁶⁷ Gerade bei Auseinandersetzungen zwischen reichsunmittelbaren Herrschaften mag das Prozessgeschehen die Rolle eines langsam wirkenden Katalysators auf dem Weg zu einer gütlichen Einigung gespielt haben. Eine Mitteilung an das Reichskammergericht, dass ein Prozess gegenstandslos geworden war, erfolgte keineswegs selbstverständlich. Die Akten zweier Appellationsprozesse, die Dietrich Philipp August von Stein zu Nord- und Ostheim gegen landesherrliche wie ritterschaftliche Untertanen zu Hornungsreuth wegen Verweigerung des Schmalsaatzehnten, unter anderem von Erdäpfeln, anstrengte, schließen bereits mit den Mitte Januar 1764 produzierten Suppliken.⁶⁸ Das vom Besitzschwerpunkt in der Rhön weit abgelegene Rittergut Altenplos, auf das sich dieser Anspruch gründete, war von einem in Bayreuth in Diensten stehenden Familienmitglied erworben worden. Ende August 1764 verkaufte es der Kläger unter Einschaltung eines Strohmanns aus der Ritterschaft an den Landesherrn, den Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth.⁶⁹ Um den Ausgang eines Prozesses zu ermitteln, lohnt es sich also manchmal, auch andere einschlägige Quellen und die Literatur heranzuziehen. Für den praktischen Umgang mit Reichskammergerichtsprozessen ergeben sich damit folgende Empfehlungen. Findet sich eine Prozessakte nicht in dem Archiv, in dessen Sprengel sie aufgrund der Aufteilungsrichtlinien zu erwarten ist, sollte die Suche auf die benachbarten Archive ausgedehnt werden. Denkbar ist auch, dass das
BayHStA, RKG3462/1/I–IV. Looshorn, Das Bisthum Bamberg (wie Anm. 37), S. 443 f., 517–522. Nach 1617 kam es nur noch zu zwei bambergischen (1627 und 1629) und vier würzburgischen (1687, 1700, 1718 und 1752) Klagen. BayHStA, RKG 2697 und 2698. Richard Winkler, Bayreuth. Stadt und Altlandkreis. München 1999 (Historischer Atlas von Bayern. Teil Franken, Reihe I, H. 30), S. 248.
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Verfahren nach 1806 fortgesetzt und so Teil eines Prozesses vor einem anderen Gericht wurde. Darüber müsste das Generalrepertorium im Bundesarchiv Aufschluss geben. Gar nicht so selten sind keine Originaldokumente mehr vorhanden. Das Reichskammergericht entschied zwar nicht über Straffälle, dennoch wurden Kriminalsachen dort mitunter eingehend zur Sprache gebracht. Im Gefolge des Jüngsten Reichsabschieds wurde die Erteilung eines Prozesses einer gründlicheren Prüfung unterzogen, die Dauer der Extrajudizialverfahren wuchs, an die Stelle langer Mandatsserien traten vielfach Mandatsanträge innerhalb bereits anhängiger Prozesse. Über verwandte Gegenstände konnten Reichskammergericht und Reichshofrat gleichzeitig verhandeln, ohne dass es zwischen ihnen zu ernsthaften Streitigkeiten kam. Über den Ausgang eines Prozesses, sei es mittels Urteils, sei es durch Vergleich, informiert in der Regel die Prozessakte. Vergleiche gehen gelegentlich aus anderweitiger Archivalienüberlieferung hervor. Wenn – wie zumeist – kein Urteil ersichtlich ist, erging wohl auch keines.
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Die Nutzung von digitalisiertem Archivgut zur Höchstgerichtsbarkeit In¹ Fortführung meines Aufsatzes „Digitalisierte Quellen zur Höchstgerichtsbarkeit – neue Perspektiven der Forschung“² geht es im Folgenden um konzeptionelle Fragen der Digitalisierung von Archivgut und deren praktische Nutzungsmöglichkeiten speziell für Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich. Gemessen an der mittlerweile recht weit fortgeschrittenen Digitalisierung von gedruckten Bibliotheksbeständen steckt die Bereitstellung von digitalisiertem Archivgut noch in den Kinderschuhen.³ Ein Gesamtüberblick ist, ähnlich wie bei den gedruckten Quellen zur Höchstgerichtsbarkeit, wegen verschiedener, zum Teil vergleichbarer Probleme bei deren Erfassung und Präsentation derzeit nur schwer zu gewinnen.⁴ Deshalb hat der Verfasser damit begonnen, einschlägige Digitalisate sowohl gedruckter als auch handschriftlicher Überlieferung in einer themenbezogenen Access-Datenbank zur Höchstgerichtsbarkeit – „Bibliographie Höchstgerichtsbarkeit“⁵ – zusammenzuführen. Ergänzt um entsprechende Angaben zur modernen Forschungsliteratur (bislang leider noch sehr unvollständig) könnte so perspektivisch das bekannte gedruckte und handschriftliche Material zum Thema „Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich“ bibliographisch erschlossen und in weiten Teilen sogar unkompliziert zugänglich gemacht werden.⁶ Die gedruckte und handschriftliche Überlieferung zum Themenkomplex Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich kann ferner fallbezogen mit der Datenbank
In Ergänzung dieser Druckversion gewährt eine Materialsammlung unter https://www.degruyter. com/document/isbn/9783111077406/html über weiterführende Links unmittelbaren Zugriff auf zahlreiche Online-Fundstellen, auf deren Abdruck im Sammelband aus praktischen Erwägungen verzichtet worden ist. Bernd Schildt, Digitalisierte Quellen zur Höchstgerichtsbarkeit – neue Perspektiven der Forschung, in: Pirmin Spieß/Christian Hattenhauer/Michael Hettinger (Hrsg.), Homo heidelbergensis. Festschrift für Klaus-Peter Schroeder zum siebzigsten Geburtstag. Neustadt a. d. Weinstraße 2017, S. 355–378. Vgl. Schildt, Digitalisierte Quellen zur Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 2), S. 357 f. Dazu unten mehr. Die Datenbank ist derzeit nicht öffentlich verfügbar. Interessenten können diese jedoch unter [email protected] anfordern und sodann ggf. auch inhaltlich ergänzen. Vgl. dazu und insbesondere auch zur Notwendigkeit einer fortlaufenden Pflege Schildt, Digitalisierte Quellen zur Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 2), S. 375 f. https://doi.org/10.1515/9783111077406-017
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„Höchstgerichtsbarkeit“⁷ verlinkt werden. Diese Datenbank basiert auf dem seit der Jahrtausendwende an der Ruhr-Universität in Bochum entwickelten Reichskammergerichts-Datenbankprojekt zur virtuellen Zusammenführung der auf ca. 50 inund ausländische Archive verstreut überlieferten Prozessakten des Reichskammergerichts, das in der Folgezeit in der einschlägigen Community auch als Bochumer Datenbank bezeichnet worden ist⁸ und nunmehr durch die vergleichbare Überlieferung des Reichshofrates⁹ und des Wismarer Tribunals¹⁰ erweitert werden soll.
1 Allgemeines zur Digitalisierung in deutschen Archiven Grundsätzlich zu unterscheiden sind zwei Formen der Digitalisierung: zum einen geht es um die Online-Verfügbarkeit von Findhilfsmitteln für bereits erschlossene oder in der Erschließung befindliche Bestände¹¹ und zum anderen um die Bereit Zugänglich über die Webseite des Lehrstuhls für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht von Anja Amend-Traut: https://www.jura.uni-wuerzburg.de/ lehrstuehle/amend-traut/forschung/forschungsprojektdatenbankhoechstgerichtsbarkeit/. Nun auch in einer Online-Version unter https://glossa.uni-graz.at/context:hgbk zugänglich. Dort findet sich auch eine Kurzbeschreibung des Projekts. Alle zitierten Online-Fundstellen wurden letztmalig am 24. Februar 2020 aufgerufen. Vgl. dazu i. E. Bernd Schildt, Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozeßakten des Reichskammergerichts mittels einer computergestützten Datenbank, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 25 (2003), S. 269–290, und ders., Virtuelle Zusammenführung und inhaltlich-statistische Analyse der überlieferten Reichskammergerichtsprozesse, in: Rainer Hering/Jürgen Sarnowsky/Christoph Schäfer/Udo Schäfer (Hrsg.), Forschung in der digitalen Welt. Sicherung, Erschließung und Aufbereitung von Wissensbeständen. Hamburg 2006 (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Bd. 20), S. 125–141. Peter Moraw, Art. Reichshofrat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1. Aufl. Berlin 1987, Sp. 630–638. Zum Erschließungsprojekt der Akten des Reichshofrats vgl. Tobias Schenk, Ein Erschließungsprojekt für die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 63 (2010), S. 285–290, und Wolfgang Sellert, http://reichshofratsakten.de/?pa ge_id=2. Vgl. Nils Jörn, Das Wismarer Tribunal. Geschichte und Arbeitsweise des schwedischen Obergerichts im Reich sowie Verzeichnung seiner Prozeßakten, in: Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2010 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 57), S. 269–287, und Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/Kjell Åke Modéer (Hrsg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806). Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG, Bd. 47). Die Archive unterscheiden dabei noch in Online-Findbücher und Online-Beständeübersichten. Vgl. dazu auch Schildt, Digitalisierte Quellen zur Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 2), S. 365 f.
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stellung von Digitalisaten der Archivalien selbst. Beides gewährt einen wesentlich komfortableren Zugriff auf die einschlägige archivalische Überlieferung. Die Bereitstellung von digitalisierten Archivalien dient zugleich auch der Bestandserhaltung und damit dem Schutz häufig benutzter Quellen.¹² Dieser Aspekt hat im Vergleich mit dem Erhalt der gedruckten Bibliotheksbestände für die archivalische Überlieferung eine deutlich größere Relevanz, da es sich bei Archivalien in der Regel um Unikate handelt, die bei Beschädigung oder Verlust nicht durch die Überlieferung in anderen Archiven restituiert werden können. Die Digitalisierung der Archivalien dient sowohl zu deren Nutzung als auch der Bestandserhaltung. Für die vorrangige digitale Nutzung am Bildschirm sind regelmäßig keine besonders hoch aufgelösten Digitalisate und keine verlustfreien Speicherungen nötig, was weitaus kostengünstiger als die Erstellung und Pflege der zur Bestandserhaltung dienenden Digitalisate ist.¹³ Vor diesem Hintergrund wurde in den Jahren 2012 bis 2017 als Teilprojekt der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) der Aufbau eines Archivportals‐D in Angriff genommen, das sich seit Mai 2017 im Regelbetrieb befindet.¹⁴ Erfasst werden Archivalien aus staatlichen Archiven, kommunalen Archiven, kirchlichen Archiven, Herrschafts- und Familienarchiven, Wirtschaftsarchiven, Archiven der Parlamente, politischen Parteien, Stiftungen und Verbände, Medienarchiven, Archiven der Hochschulen sowie wissenschaftlicher Institutionen und sonstigen Archiven. Das Angebot soll nicht nur durch fortschreitende Digitalisierungsarbeiten aus den bereits am Projekt mitwirkenden Archiven, sondern auch durch die Gewinnung neuer Datenlieferanten sukzessive ausgebaut werden. Erklärtes Ziel ist es, eine deutschlandweite archivübergreifende Online-Recherche in allen Findmitteln der teilnehmenden Archiveinrichtungen¹⁵ zu ermöglichen und ausgehend von den angezeigten Suchergebnissen gegebenenfalls einen unmit-
Vgl. Anke Hönnig/Jessica von Seggern, Digitalisierung im Staatsarchiv Hamburg. Erstellung – Sicherung – Benutzung. 2016, S. 2 – https://www.hamburg.de/contentblob/6642030/b5e04e725700b b174ecbe5418ef74768/data/digitalisierung-lang.pdf. Ebd., S. 3. Realisiert durch folgende Einrichtungen: Landesarchiv Baden-Württemberg (Projektleitung), FIZ Karlsruhe – Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur, Archivschule Marburg – Hochschule für Archivwissenschaft, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LA NRW), Sächsisches Staatsarchiv, Deutsche Nationalbibliothek (seit 2015). Neben der Erstellung von Online-Findbüchern und der Digitalisierung von Archivalien werden auch allgemeine Informationen über Archiveinrichtungen Deutschlands dokumentiert. Als Datenlieferanten sind inzwischen Archive aller Bundesländer und das Bundesarchiv an dem Projekt beteiligt, darüber hinaus eine wachsende Zahl nichtstaatlicher Archive – zur Zeit haben insgesamt 2.441 Archive in Deutschland ihre Mitwirkung erklärt, wenngleich tatsächlich bei Weitem noch nicht alle schon nutzbare Daten bereitstellen.
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telbaren Zugriff auf bereits digitalisierte Archivalien aus den am Projekt beteiligten Archiven zu gewähren. Im Positionspapier der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder (KLA) vom 25. September 2018 heißt es dezidiert: „Der direkte, ortsunabhängige Zugriff nicht allein auf Erschließungsinformationen, sondern gerade auch auf digitalisiertes Archivgut selbst muss als Angebot für die universitäre Fachwissenschaft, aber auch für die nationale und regionale Gedächtniskultur und die Vielzahl historisch interessierter Menschen ausgebaut werden.“¹⁶ Eine vollständige Digitalisierung des in Archiven verwahrten Kulturguts kann allerdings (momentan?) aus finanziellen Gründen und wegen fehlender personeller Ressourcen nicht geleistet werden. Die immensen Kosten, die durch Digitalisierung, Vor- und Nachbereitungsarbeiten und vor allem durch die Speicherung entstehen, sind bei den Planungen stets zu berücksichtigen. Gleichwohl bleibt die Digitalisierung langfristig Aufgabe der Archive, die strategisch auch auf die Digitalisierung ganzer Bestände ausgerichtet ist, was aber die vorherige Festlegung von Prioritäten bei der Digitalisierung der einzelnen Bestände eines Archivs voraussetzt. Damit ist aber eine (vorherige) Digitalisierung auf Nachfrage oder Auftrag, bei der nur Bilder einzelner Archivguteinheiten oder einzelner Seiten aus Archivguteinheiten erstellt werden, keineswegs ausgeschlossen. Ausgehend von dem Befund, dass die inzwischen weitgehend abgeschlossene Retrokonversion bibliothekarischer Findhilfsmittel zu einem sprunghaften Anstieg der Nutzung alter Bibliotheksbestände geführt hat,¹⁷ steht zu erwarten, dass sich durch die Bereitstellung archivalischer Online-Findbücher auch die Sichtbarkeit der archivalischen Überlieferung deutlich erhöht und damit eine verstärkte Nutzung dieser Quellen zu erwarten ist. Die Anzahl im Netz nutzbarer Online-Findbücher ist schon heute beträchtlich. Im Rahmen der Retrokonversion („retrospektive Konversion“)¹⁸ bereits vorhandener Findhilfsmittel und der Erschließung bislang noch nicht verzeichneter Bestände in digitaler Form dürfte in absehbarer Zeit wohl weitgehende Vollständigkeit erreicht werden – Online-Findbücher werden somit zum Regelfall. So kann beispielsweise bereits heute in mehr als der Hälfte http://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/KLA/positionspapier-digitalisierung-archivi scher-quellen.pdf?__blob=publicationFile, S. 1. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Retrokonversion&oldid=201330591. Bei der Retrokonversion archivischer Findmittel werden (ähnlich wie bei den Bibliotheksbeständen) alte analoge Karteikarten und Findbücher in eine digitale Form überführt, anschließend in eine archivalische Datenbank importiert und schließlich als Online-Findbücher den Archivbenutzern als Bilddateien oder Volltexte über das Internet zugänglich gemacht. Sofern in den analogen Vorlagen nicht verzeichnete Medien neu in die Online-Findbücher eingetragen werden können, spricht man von Retrokatalogisierung. Diese ist zwar aufwendiger und teurer, hat gegenüber der Retrodigitalisierung allerdings den Vorteil, dass danach sämtliche Medien im selben Katalog verzeichnet sind.
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der Findmittel des Landesarchivs Baden-Württemberg im Internet recherchiert werden (Stand: 2017/18);¹⁹ von den rund 47 Millionen Archivalien in den Staatlichen Archiven Bayerns sind für etwa 20 Millionen Archivalien digitale Verzeichnungsdatensätze vorhanden. Die Bestände des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen sollten seit 2017 – soweit sie keinen Zugangsbeschränkungen unterliegen – im Internet recherchierbar sein; inwieweit dieses ehrgeizige Ziel erreicht worden ist, ließ sich nicht sicher feststellen. Allerdings sind die Angaben der Landesarchive zum Grad der Online-Verfügbarkeit ihrer Findhilfsmittel vielfach eher vage; angegeben werden vielfach nur Erfolgsmeldungen mit Zahlenangaben zur Digitalisierung von Findbüchern oder Beständen, aber zumeist ohne Relation zu deren jeweiliger Gesamtzahl. Im Idealfall stehen für die online ermittelten Archivalien im Netz Digitalisate zur Verfügung, die potentielle Nutzer sich möglichst auch auf ihren Rechner herunterladen können. Allerdings ist der Gesamtumfang von digitalisierten Archivalien gegenwärtig noch sehr überschaubar.²⁰ Das kann wegen des damit verbundenen Aufwandes kaum überraschen. Stand 15. Oktober 2022 wurden im Archivportal‐D 26.518.693 Archivalien nachgewiesen, davon 21.990.246 in staatlichen Archiven.²¹ Nur für 1.626.193 standen Digitalisate zur Verfügung, davon 1.179.058 in staatlichen Archiven – das entsprach 6,13 beziehungsweise 5,36 Prozent.²² Nach welchen Kriterien bei der Auswahl der zur Digitalisierung vorgesehen Archivalien vorgegangen wird, ist kaum ersichtlich.²³ Bisher scheint es so, als würden vorrangig Urkunden und Karten – besonders deutlich erkennbar im Landesarchiv Baden-Württemberg – sowie teils inhaltlich sehr heterogene Sammelakten digitalisiert werden. Bei der inhaltlichen wie vor allem der technischen Umsetzung der zentralen Bereitstellung digitalisierter Archivalien im Archivportal‐D gibt es jedoch ähnlich wie bei den Bibliotheksbeständen noch erhebliche Defizite. So sind leider die Er-
Die Digitalisierungsstrategie des Landesarchivs Baden-Württemberg sieht vor, mittelfristig den größten Teil der Findmittel aus seinen sechs Staatsarchiven (Freiburg, Karlsruhe, Ludwigsburg, mit Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, Sigmaringen, Stuttgart und Wertheim) im Internet bereitzustellen – https://www.landesarchiv-bw.de/web/50109. Schon aus Kapazitätsgründen und unter finanziellen Gesichtspunkten liegt die Priorität eindeutig bei der Online-Bereitstellung der Findmittel – vgl. Anm. 12, S. 5. Am 6. September 2019 waren im Archivportal‐D 17.091.581 Archivalien, davon 14.952.900 in staatlichen Archiven nachgewiesen. Daraus ergeben sich beträchtliche Zuwachsraten von 55,16 % bzw. 47,06 % innerhalb von 32 Monaten. Am 6. September 2019 standen zur Verfügung 902.749 Digitalisate, davon 710.102 in staatlichen Archiven – was 5,28 % bzw. 4,75 % entspricht. Die Anzahl der digitalisierten Archivalien erhöhte sich innerhalb von 32 Monaten insgesamt um 80,14 % und um 66,04 % bei den staatlichen Archiven. Grundsätzlich zur Priorisierung bei der Erstellung von Digitalisaten vgl. https://www.hamburg. de/contentblob/6642030/b5e04e725700bb174ecbe5418ef74768/data/digitalisierung-lang.pdf, S. 5.
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gebnisse von Recherchen nicht immer zuverlässig. Beispielsweise finden sich bei der Recherche nach dem Suchbegriff „Reichskammergericht“ für Niedersachsen lediglich sieben Belege, obwohl im Archivportal Niedersachsen 4.257 einschlägige Treffer nachgewiesen sind, davon fünf mit Digitalisat, von denen keines im Archivportal‐D sichtbar ist. Bei den Ergebnissen der gleichen Suche im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen sind die Links teilweise nicht zielführend, insbesondere ist der Zugang nur über den DFG-Viewer, aber oft nicht beim Datengeber gegeben. Diese Unzulänglichkeiten haben auch damit zu tun, dass durch die einzelnen Landesarchive kein einheitliches Archivinformationssystem benutzt wird, was zu technischen Schwierigkeiten, beispielsweise Schnittstellenproblemen führt. Deren Beseitigung dürfte schlagartig die im Archivportal‐D recherchierbaren Bestände signifikant erhöhen. Zudem erschwert die unterschiedliche Tektonik in den Archiven der einzelnen Bundesländer einen Gesamtüberblick. Sie beeinflusst auch die Möglichkeiten der Verfeinerung der Suche mittels der angebotenen Suchfilter, wie zum Beispiel nach dem Archivalientyp, für den in den Archiven durchaus auch unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden oder eine solche Strukturierung gar nicht erfolgt.²⁴ Das führt zwangsläufig zu unzuverlässigen Suchergebnissen. Ein Blick in die einheitliche Archivsystematik der in unserem Zusammenhang bedeutsamen Länder wie Österreich²⁵ und Polen²⁶ offenbart die Unterschiede in aller Deutlichkeit. Hinzu kommt, dass viele Archive offenbar nicht alle bearbeiteten Bestände zeitnah dem Archivportal‐D zur Verfügung stellen; jedenfalls fällt auf, dass eine ganze Reihe von Online-Findbüchern nur auf den eigenen Portalen der Archive zugänglich sind und (noch?) nicht im Archivportal‐D – das gilt im Übrigen auch für die Bereitstellung von Digitalisaten der Archivalien selbst. Mit Blick auf die Überlieferung zum Reichskammergericht ist ferner zu beachten, dass abgesehen vom Maastrichter Bestand²⁷ in den Niederlanden die Überlieferung der Prozessakten in ausländischen Archiven (Belgien, Frankreich, Österreich, Polen²⁸) im Archivportal‐D nicht nachgewiesen wird.
Abhilfe scheint hier kaum möglich. https://www.archivinformationssystem.at/suchinfo.aspx. https://szukajwarchiwach.pl/65/6/0/14#tabSerie. Die Verzeichnung dieses Bestandes für das Königreich der Niederlande erfolgte als 10. Teil des Inventars der Akten des Reichskammergerichts Nr. 14; vgl. Reichskammergericht. Teil 10: Prozeßakten des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf im Rijksarchief Limburg in Maastricht (Bestand 02.01.), bearb. von Martina Wiech unter Mitarbeit von Paul Hoffmann und Th. J. van Rensch. Siegburg 2002 (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe A: Inventare staatlicher Archive. Das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und seine Bestände, Bd. 9). Im StA Stettin werden für Reichskammergerichtsprozesse aus Pommern 2.070 Verzeichnungseinheiten in 21 buchstabenweise geordneten Serien nachgewiesen, für die in vergleichsweise großer Zahl Digitalisate bereitgestellt werden; vgl. https://www.szukajwarchiwach.gov.pl/de/zespol?p_p_id=
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2 Online-Findbücher und digitalisierte Archivalien zur Höchstgerichtsbarkeit Die Präsentation der mittlerweile überwiegend auch im Netz verfügbaren, aber nicht immer leicht zu ermittelnden Bestandsübersichten für die jeweils überlieferten Prozessakten zur Höchstgerichtsbarkeit (Reichskammergericht, Reichshofrat und Wismarer Tribunal) fällt recht unterschiedlich aus.Wer würde den Bestand der kurbrandenburgischen Reichskammergerichtsprozessakten wohl in der Archivtektonik unter Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz » Tektonik » 2. Zentrale Verwaltungs- und Justizbehörden Brandenburg-Preußens bis 1808 » 2.1. Geheimer Rat » 2.1.3. Angegliederte Reposituren » 2.1.3.3. Reichskammergericht suchen. Dort findet sich dann auch nur eine Bestandsbeschreibung und der Hinweis (leider kein Link) auf die im PDF-Format allgemein zugängliche Inventarisierung der Akten des Reichskammergerichts im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden sowie die Überlieferung im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Dessau.²⁹ Die Nutzung der in großer Zahl vorhandenen Online-Verzeichnungen von Prozessakten zentraler Höchstgerichte wird auf Grund der Vielzahl unterschiedlicher Archivinformationssysteme durch die Archivverwaltungen der einzelnen Bundesländer erheblich erschwert. Eine gewisse Tendenz zur Vereinheitlichung gibt es immerhin durch die Verwendung des Archivinformationssystems Arcinsys³⁰ durch die Hessischen Staatsarchive (Darmstadt, mit Archiven Laubach und Assenheim und dem vernichteten Reichskammergerichtsbestand; Marburg, mit den Reichskammergerichtsprozessen der Grafschaft Waldeck und dem Kurfürstentum Hessen als Nachfolgestaat der Landgrafschaft Hessen-Kassel, ohne die Grafschaft Schaumburg; Wiesbaden mit den Reichskammergerichtsprozessen des Herzogtums Nassau, ohne das ehemalige Amt Reichelsheim in der Wetterau, der Landgrafschaft Hessen-Homburg und dem preußischen Kreis Wetzlar), die niedersächsischen Landesarchive (Wolfenbüttel; Stade – Rep. 27 Reichskammergericht und Rep. 28 Wismarer Tribunal; Oldenburg; Bückeburg; Osnabrück; Aurich – Rep. 101 Reichskammergericht und Reichshofrat; Hannover mit den Reichskammergerichtsprozessen des Bistums Hildesheim, der Fürstentümer Calenberg und Lüne-
Zespol&p_p_lifecycle=1&p_p_state=normal&p_p_mode=view&_Zespol_javax.portlet.action=zmienWi dok&_Zespol_nameofjsp=serie&_Zespol_id_zespolu=68000. Vgl. Mark Alexander Steinert (Bearb.), „Brandenburgische, sächsische, preußische und anhaltische Reichskammergerichtsakten“ https://gsta.preussischer-kulturbesitz.de/recherche/thematischerwegweiser/reichskammergericht.html?sword_list%5B0%5D=reichskammergericht&no_cache=1. Gemeinsames Zugangsportal und Beschreibung unter https://www.arcinsys.de/.
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burg) sowie das Landesarchiv Schleswig-Holstein³¹ und das Staatsarchiv Bremen.³² Ferner nutzen das Landesarchiv Sachsen-Anhalt,³³ das Staatsarchiv Hamburg³⁴ und – insoweit sogar staatenübergreifend – das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien³⁵ das scopeArchiv.³⁶ Über eigene, einheitliche Archivinformationssysteme verfügen die Staatlichen Archive Bayerns,³⁷ das Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (invenio)³⁸ sowie die Landesarchive Nordrhein-Westfalens (V.E.R.A.)³⁹ (Abteilung Westfalen in Münster, Abteilung Rheinland in Duisburg, Abteilung Ostwestfalen-Lippe in Detmold, Reichsarchiv Limburg in Maastricht; für den im dortigen Stadtarchiv verwahrten RKG-Bestand der Reichsstadt Aachen gibt es keine online-Verzeichnung; es findet sich nur ein äußerst knapp und allgemein gehaltener Hinweis auf den Bestand), Mecklenburg-Vorpommerns (Ariadne),⁴⁰ Baden-Württembergs (LEO‐BW)⁴¹
Sowohl für den als Druckversion zur Verfügung stehenden RKG-Bestand als auch den unbedeutenden RHR-Bestand gibt es lediglich eine allgemein gehaltene Bestandsbeschreibung. Eine Verzeichnung der RKG-Prozesse ist unter http://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/ llist?nodeid=g397318&page=1&reload=true&sorting=41 zu finden. Für den RHR wird nur der Bestand (4 lfd. m.) sehr allgemein beschrieben. Eine Verzeichnung der 137 überlieferten Prozessakten existiert nicht. Mit der Retrokonversion des Findbuchs der Akten des Reichskammergerichts im LA SA wurde beim Buchstaben A begonnen; vgl. http://recherche.landesarchiv.sachsen-anhalt.de/Query/detail. aspx?id=5443. Gegenüber dem gedruckten Inventar werden dort vier Prozesse mehr nachgewiesen. Verzeichnet sind inhaltlich und formal dem gedruckten Inventar folgend sowohl die Prozessakten des Reichskammergerichts (https://recherche.staatsarchiv.hamburg.de/ScopeQuery5.2/detail. aspx?ID=773) als auch, buchstabenweise und innerhalb der Buchstabengruppen alphabetisch geordnet, die des Reichshofrats (https://recherche.staatsarchiv.hamburg.de/ScopeQuery5.2/detail.aspx? id=771) – ein gedrucktes Inventar dafür existiert nicht. Die einzelnen Serien des RHR-Bestandes (Judicialia) sind zu erreichen über https://www.archivin formationssystem.at/archivplansuche.aspx?ID=83. Für die Prozessakten des Reichskammergerichts existiert nur eine unzureichende Online-Verzeichnung, die sich weitgehend auf Angaben zur Signatur und zum Titel (Parteinamen) beschränkt, https://www.archivinformationssystem.at/archivpl ansuche.aspx?ID=100026. Archivinformationssystem der scope solutions ag in der Schweiz (Basel), https://www.scope.ch/ de/produkteuebersicht/scopearchiv/. Im Bestand Institutionen des Alten Reichs im BayHStA wird lediglich auf die Bayern betreffenden Prozessakten des Reichskammergerichts (ca. 13.500) sowie ca. 900 Reichshofratsakten verwiesen. Der Link führt zur Startseite des BA, https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/main.xhtml. V.E.R.A. ist ein Verwaltungs-, Erschließungs- und Recherchesystem für Archive der startext GmbH in Bonn, https://www.startext.de/projekte/v-e-r-a. Die Verzeichnung der Reichskammergerichtsprozessakten im LHA Schwerin entspricht inhaltlich und formal dem gedruckten Inventar, https://ariadne-portal.uni-greifswald.de/?arc=11&stc=1112112. Die Verzeichnung der Prozessakten des Wismarer Tribunals im StadtA Wismar entspricht inhaltlich dem gedruckten Inventar, die buchstabenmäßige Anordnung folgt dem nicht und ist mindestens in Einzelfällen fehlerhaft, https://ariadne-portal.uni-greifswald.de/?arc=15&stc=15-17147.
Die Nutzung von digitalisiertem Archivgut zur Höchstgerichtsbarkeit
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(für die Bestände in Stuttgart, Sigmaringen, Karlsruhe und Wertheim liegen lediglich detaillierte Bestandsübersichten ohne Zugang zu den Reichskammergerichtsprozessakten selbst vor), das Historische Archiv der Stadt Köln,⁴² das Archiv der Hansestadt Lübeck⁴³ sowie das Archiv der Stadt Frankfurt⁴⁴ und das von der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz⁴⁵ gemeinsam mit dem Saarland⁴⁶ genutzte Archivportal für den Südwesten. Misslich ist der Umstand, dass die Online-Findbücher zur Höchstgerichtsbarkeit nicht durchgängig deckungsgleich mit den gedruckten Inventaren sind. In einer Reihe von Fällen ergeben sich teilweise erhebliche inhaltliche und formale Unterschiede zwischen der jeweiligen Druckfassung und der entsprechenden Präsentation im Netz. Oft fehlen Angaben zu den laufenden Nummern der Prozesse in den gedruckten Inventaren, was aber für vergleichende, Bestände übergreifende Recherchen in der Datenbank zur Höchstgerichtsbarkeit erforderlich ist. Ferner übersteigt bisweilen die Zahl der im Netz nachgewiesenen Verfahren die Zahl der in den gedruckten Inventaren dokumentierten Prozesse, was einerseits daran liegen dürfte, dass im Netz nunmehr auch nachträglich aufgefundene Prozessakten und die nicht mehr vorhandenen Archivalien nachgewiesen werden und andererseits mehrbändige Vorgänge ungeachtet ihres sachlichen Zusammenhanges als separate Archiveinheiten erfasst wurden. Schließlich bleibt die Verzeichnistiefe der Netz-
Landeskundliches Informationssystem für Baden-Württemberg. Dort wird das System ACTApro der startext GmbH eingesetzt, https://www.startext.de/produkte/ actapro. Die Verzeichnung der Reichskammergerichtsprozessakten entspricht inhaltlich dem gedruckten Inventar; sie ist aber anders als das gedruckte Inventar buchstabenweise angeordnet und innerhalb der Buchstabengruppen durchnummeriert. Die Verzeichnung der Reichskammergerichtsprozesse (https://www.stadtarchiv-luebeck.find buch.net/php/main.php#30332e30322d312e332f31) entspricht inhaltlich und formal dem gedruckten Inventar. Dagegen wird für die 240 Prozesse des Reichshofrats (9 lfd. m) nur der Bestand benannt (https://www.stadtarchiv-luebeck.findbuch.net/php/main.php#30332e30322d312e332f32); es erfolgt keine Verzeichnung einzelner Prozesse. Der Internetauftritt des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG) führt nur zur Bestandsübersicht über die Reichskammergerichtsprozesse ohne Zugang zu den Prozessakten. Im Landeshauptarchiv Koblenz werden im Bestand 56 von 3.215 Akten 72 Reichskammergerichtsprozesse nachgewiesen (eine Verlinkung mit der Fundstelle ist nicht möglich). Im Landesarchiv Speyer werden als Leihgabe des BayHStA München die Reichskammergerichtsprozessakten für die Kurpfalz inhaltsgleich mit dem gedruckten Inventar nachgewiesen; die Reihung ist abweichend (Verlinkung mit der Fundstelle ist nicht möglich). Im Archivportal‐D werden lediglich vier Parteiakten aus dem StadtA Saarbrücken zu Reichskammergerichtsprozessen nachgewiesen. Im Bestand des LA des Saarlandes finden sich darüber hinaus für das Stichwort „Reichskammergericht“ 24 Belege. Dabei handelt es sich um Einträge in Amtsbüchern (u. a. zu anhängigen Prozessen am Reichskammergericht aus Nassau-Saarbrücken und zu einzelnen Prozessen) und Urkunden überwiegend aus dem Bestand Nassau-Saarbrücken.
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versionen oftmals erheblich hinter der in den gedruckten Inventaren zurück, was offenbar aus den spezifischen, gegenüber der sonst üblichen archivarischen Praxis weiterreichenden, Anforderungen der DFG-Richtlinien⁴⁷ für die Inventarisierung der Prozessakten des Reichskammergerichts resultiert. So fehlen beispielsweise in der Online-Verzeichnung der sächsischen Reichskammergerichtsprozesse in Dresden bisweilen Angaben zu den Verfahrensvertretern (Prokuratoren). Über die Gründe dieser Praxis kann man trefflich spekulieren. Immerhin lassen sich mindestens für die Bestände in Nordrhein-Westfalen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die laufenden Nummern in den gedruckten Inventaren ermitteln, was allerdings nur für den Bestand in Münster⁴⁸ ausdrücklich erklärt wird. ‒ In der Online-Verzeichnung Münster des Bestandes Reichskammergericht entspricht das Aktenzeichen der laufenden Nummer im gedruckten Inventar; ‒ in der Online-Verzeichnung Duisburg (ehemals Düsseldorf ) des Bestandes Reichskammergericht wurde der Bestand Reichskammergericht analog zum gedruckten Inventar in neun Bänden mit fortlaufender Nummerierung erfasst; ‒ in der Online-Verzeichnung Detmold wurde der Bestand Reichskammergericht analog zum gedruckten Inventar mit fortlaufender Nummerierung erfasst, wobei die dortige laufende Nummer in der Bestellsignatur angegeben wird; ‒ in der Online-Verzeichnung Maastricht wurde der Bestand Reichskammergericht analog zum gedruckten Inventar mit fortlaufender Nummerierung erfasst, wobei die laufende Nummer als Wetzlarer Nummer in der Bestellsignatur angegeben wird. Zusätzlich erfolgt eine Angabe des Wetzlarer Generalrepertoriums sowohl unter der Bestellsignatur als auch unter dem Aktenzeichen; ‒ im Kölner Reichskammergerichtsbestand ist die Online-Verzeichnung anders als das gedruckte Inventar buchstabenweise angeordnet und innerhalb der Buchstabengruppen durchnummeriert jeweils mit A 1 ff. Die laufende Nummer im gedruckten Inventar kann aber über die Altsignaturen ermittelt werden. Dort ist neben der zuerst genannten, für die Zuordnung zur laufenden Nummer irrelevanten, preußischen Generalrepertoriumsnummer die Wetzlarer Generalrepertoriumsnummer angegeben; letztere kann in der Datenbank zur Höchstgerichtsbarkeit abgefragt werden; ‒ in der Online-Verzeichnung Kursachsen des Bestandes Reichskammergericht erfolgt eine chronologische Anordnung im Online-Findbuch und eine buch-
Abgedruckt als Anlage zu Martin Ewald, Inventarisierung von norddeutschen Beständen des Reichskammergerichts, in: Der Archivar 33 (1980), Sp. 482. Für den dort verwahrten Bestand Westfalen erfolgt in den meisten Fällen unter Hinweis zur Benutzung: Altsignatur: ein Verweis auf die Ziffer des Wetzlarer Generalrepertoriums.
Die Nutzung von digitalisiertem Archivgut zur Höchstgerichtsbarkeit
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stabenweise Ordnung im gedruckten Inventar, wobei die laufende Nummer jeweils angegeben ist. Auch im österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv (OeStA/HHStA) sind die Prozessakten des Reichshofrats – die Judicialia – in Teilen (Alte Prager Akten (APA) vollständig und die Serie Antiqua bis zum Buchstaben O) gut verzeichnet. Diese Online-Verzeichnungen sind inhaltlich deckungsgleich mit den jeweiligen Druckversionen.⁴⁹ Allerdings ist die Zuordnung der online nachgewiesenen Prozessakten des Reichshofrats zu denjenigen in den gedruckten Inventaren der „Akten des Kaiserlichen Reichshofrates“ in weiten Teilen (in allen Bänden der Serie Alte Prager Akten und dem ersten Band der Serie Antiqua) nur auf sehr umständliche Weise möglich und letztlich kaum praktikabel. Immerhin kann ab Band 2 der Serie Antiqua mittels der Signaturenkonkordanz in den Druckfassungen der Zusammenhang zwischen der Online-Verzeichnung und dem gedruckten Inventar leicht und zweifelsfrei hergestellt werden. Die Erfassung der Prozesse in der Online-Verzeichnung erfolgt nach den Kartons, in denen die Akten abgelegt sind, während die Prozesse im gedruckten Inventar in alphabetischer Ordnung nach dem Klägernamen geordnet sind. Da in der Druckfassung im Regelfall die Kartonnummer angegeben ist, lassen sich zwar in vielen Fällen die Fundstellen in der Archivtektonik ermitteln; der Aufwand dafür ist allerdings beträchtlich, weil die interne Nummerierung (beispielsweise 90‐1, 90‐2 und so weiter) innerhalb der Kartons nicht alphabetisch, sondern grundsätzlich chronologisch (aber auch das nicht durchgängig) erfolgt. Hinzu kommt, dass in den gedruckten Fassungen vereinzelt auch Archivalien aus anderen Beständen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs erfasst worden sind,⁵⁰ die zwangsläufig bei einer Dateneingabe über die Online-Verzeichnung der Judicialia nicht berücksichtigt werden könnten. Insoweit muss bei der künftigen Eingabe in die Datenbank „Verfahren-Höchstgerichtsbarkeit“ (dazu siehe unten) zwingend darauf geachtet werden, dass diese über die gedruckten Inventare erfolgt. Die Verlinkung mit der Online-Verzeichnung ermöglicht dann den Zugriff auf vertiefte Informationen, für die in der Datenbank selbst kein Raum ist. Digitalisate der Prozessakten selbst werden nicht angeboten. Allerdings gibt es eine separate Sonderverzeichnung für die Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576–1612), die in verschiedenen Serien der Judicialia und den Gratialia et Feudalia überliefert sind. Die Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, hrsg. von Wolfgang Sellert. Serie I: Alte Prager Akten, 5 Bde. Berlin 2009–2014, und Serie II: Antiqua, bisher 5 Bde. Berlin 2010–2018. Sie sind wohl aus dem Wolfschen Repertorium entnommen – vgl. Gert Polster, Die elektronische Erfassung des Wolfschen Repertoriums zu den Prozeßakten des Reichshofrats im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 51 (2004), S. 635–649.
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Suppliken werden systematisch erfasst und in Form einer Datenbank präsentiert. Die Datenbank verzeichnet 1.417 Suppliken und stellt sie als Digitalisate in höchster Qualität zur Verfügung. Gesucht werden kann nach der Archivsignatur, dem Gegenstand, den Namen von Supplikanten und/oder der Laufzeit. Die Digitalisate lassen sich seitenweise herunterladen.⁵¹ Mittlerweile existieren allerdings auch Online-Findbücher zur Höchstgerichtsbarkeit, für die es keine vergleichbaren gedruckten Inventare gibt.⁵² Es ist wohl davon auszugehen, dass künftig keine gedruckten Inventare mehr erscheinen werden – ausgenommen das bereits seit dem Jahr 1999 laufende Projekt der Verzeichnung der Akten des Kaiserlichen Reichshofrats in Wien⁵³ und der Reichskammergerichtsakten für Bayern.⁵⁴ Die Online-Verzeichnung der im Staatsarchiv Stettin für die Reichskammergerichtsprozesse aus Pommern nachgewiesenen Quellen – Stand 10. Februar 2020 – ist übersichtlich und gewährt einen raschen Zugriff auf die in 21 Serien (Buchstabengruppen) und 2.070 Einheiten (nicht identisch mit der Anzahl der Prozesse) überlieferten Quellen sowie gegebenenfalls auch auf die für 14 Buchstabengruppen teilweise vorhandenen 154.833 Digitalisate (Scans).⁵⁵ Tab. 1: Verzeichnung der pommerschen Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Stettin Nr.
Name
Procesy na literę A Procesy na literę B
– gesamt
Procesy na literę C, K D–Z A–Z
Einheiten
Zeitlicher Umfang
Anzahl der Scans
– –
. .
. .
– –
. . .
Auch für die Hamburg betreffenden und im dortigen Staatsarchiv lagernden Prozessakten des Reichshofrates wurde in den Jahren 2017 und 2018 eine Online-Ver-
Vgl. http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de. Untersucht wurden die Judicial- und Gratialbestände der Reichshofratsüberlieferung. Siehe hierzu den Beitrag von Thomas Schreiber in diesem Sammelband. So etwa die pommerschen RKG-Akten im StA Stettin oder die RHR-Akten im StA Hamburg. Im Jahr 2009 ist der erste Verzeichnungsband erschienen; vgl. http://reichshofratsakten.de. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht (Bayerische Archivinventare, Bd. 50), hrsg. von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns; bislang erschienen sind die Bde. 1–20 (bis Buchstaben P/Q). Für die verbleibenden Buchstabengruppen ist mit weiteren neun bis zehn Bänden zu rechnen. Vgl. Anm. 28.
Die Nutzung von digitalisiertem Archivgut zur Höchstgerichtsbarkeit
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zeichnung erstellt, die inzwischen im Netz verfügbar, allerdings nur über die Internetseite des Staatsarchivs Hamburg⁵⁶ erreichbar ist. Der Verzeichnung liegt ein Schema zugrunde, das sich an den Erschließungsregeln des Projektes zur Neuverzeichnung der Reichshofratsakten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen orientiert. Im Zuge der Neuverzeichnung (2017–18) wurden Signaturen nach Numerus Currens vergeben. Für alle Archiveinheiten gibt es Digitalisate, die aber derzeit nur im Lesesaal eingesehen werden können. Die Anordnung im Netz folgt aber nicht den laufenden Nummern, sondern richtet sich alphabetisch nach den Klägernamen. Deren Verwendung bei der Eingabe in die Datenbank „Verfahren-Höchstgerichtsbarkeit“ wird deshalb dazu führen, dass dort für diesen Bestand keine Abfolge alphabetisch nach Klägernamen gegeben sein wird, was indes für die Recherche ohne Bedeutung ist. Deutliche Unterschiede zeigen sich auch bei den Möglichkeiten der Nutzung der gemessen am Gesamtbestand nur in relativ geringer Anzahl digitalisierten Archivalien.⁵⁷ Während sie bei den baden-württembergischen und sachsen-anhaltinischen sowie den pommerschen Belegen in Stettin vollständig als PDF-Dateien heruntergeladen werden können, ist dies bei den übrigen Archiven nur seitenweise (Hessen, Nordrhein-Westfalen) oder bisweilen gar nicht (Bayern) möglich. Insbesondere bei sehr umfangreichen Digitalisaten ist diese Einschränkung überaus misslich, zumal in aller Regel kein gezielter Zugriff auf bestimmte (einschlägige) Stellen des jeweiligen Digitalisats erfolgen kann. Das betrifft insbesondere die oftmals sehr umfangreichen Sammelakten mit einer Vielzahl von Archivalien, bei denen nur einzelne Teile für das Suchkriterium relevant sind; hier wäre die Angabe der Blattzahl der ohnehin in den jeweiligen Übersichten aufgelisteten Archivalien hilfreich. Das nachfolgende Beispiel einer Bestandsbeschreibung aus dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Bestand 171 Nr. R 23, mag das verdeutlichen;⁵⁸ der Bestand enthält u. a.: Bl. 120–133⁵⁹ – Verzögerung eines Prozesses zwischen Baden-Durlach und Württemberg vor dem Reichskammergericht, 1732, Bl. 176–179 – Einrichtung des Archivs des Reichskammergerichts in Wetzlar, 1737, Bl. 180–181 – Finanzierung des Neubaus des Reichskammergerichts in Wetzlar durch die Stadt Frankfurt, 1737, und
Vgl. Anm. 34. Per 12. Februar 2020 finden sich für das Suchkriterium Reichskammergericht 498 Digitalisate, für den Reichshofrat 198 Ergebnisse, die allerdings nicht alle tatsächlich einen Bezug zum Reichshofrat als Institution haben; für das Wismarer Tribunal werden keine Digitalisate nachgewiesen. Vgl. HHStAW https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v2056707. Blattangaben stammen vom Autor.
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Bl. 185–189 – Kayserliche Cammer-Gerichts-Verordnung an Sämtliche desselben Advocaten und Procurators die Erbauung des neuen Cammer-Gerichts-Haußes betreffend, 1737 (Druck).
Noch unübersichtlicher erscheint eine Bestandsbeschreibung im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Bestand Domkapitel Minden/Akten D 303, Bl. 1–2 (2–3).⁶⁰ Der Bestand umfasst gemäß der Nummerierung 387 Einzeleinträge, von denen nur ca. 60 ausdrücklich (ohne Blattangabe) benannt werden. Davon wiederum haben offenbar nur drei Relevanz für das Reichskammergericht.⁶¹ Das Lesen und besonders das Auffinden bestimmter Stellen in digitalen Quellen ist innerhalb eines Navigationssystems – wie beispielsweise des „DFG-Viewers“ – gegenüber der Arbeit mit einer PDF-Datei deutlich weniger komfortabel. Das liegt nicht nur an der Notwendigkeit einer ständigen Verfügbarkeit der Digitalisate im Internet, sondern vor allem auch daran, dass wegen der Einbettung in ein solches Navigationssystem der verfügbare Bildausschnitt deutlich verkleinert erscheint und damit das Navigieren im Digitalisat erschwert wird, was durch die Zoom-Funktion nur unzureichend kompensiert werden kann. Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Gründen für diese wenig benutzerfreundliche Einschränkung; immerhin erfolgte die Finanzierung der Digitalisierung aus öffentlichen Mitteln. Genau wie bei den Druckschriften der Bibliotheken⁶² besteht auch bei digitalisiertem Archivmaterial die Notwendigkeit einer buchstabengetreuen Erfassung der (zumindest annähernd) vollständigen Titel.⁶³ Ferner ist es erforderlich, aus diesen „bandwurmartigen“ Titeln anschließend zum Abspeichern und Sichern zitierfähige Kurzformen zu generieren. Dadurch wird es möglich, thematisch zusammengehöriges Archivmaterial in fachspezifischen Datenbanken zu erfassen und gegebenenfalls im Kontext mit gedruckten Quellen sowie moderner Forschungsliteratur durch Verlinken zusammenzuführen. Das kann entweder rein bibliographisch oder besser noch in Gestalt digitaler Textversionen erfolgen. Auf Grund des sukzessiven Anwachsens vor allem bei den von den Archiven bereit gestellten Digitalisaten erfordern derartige Datenbanken aber eine – möglichst institutionell verankerte – kontinuierliche Pflege. Dazu müssen die generierten Kurztitel unbedingt einen hohen Grad an einheitlicher Formalisierung, beispiels-
Innen- und Außenpolitik des Heiligen Römischen Reichs, Bd. 1 (Laufzeit: 1416, 1610, 1629, 1637, 1674–1679, 1688, 1708–1709, 1727–1741). Es handelt sich dabei um die Nrn. 1, 23 und 38. Schildt, Digitalisierte Quellen zur Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 2), hier bes. S. 374 f. Anders als bei den gedruckten Bibliotheksbeständen dürfte es bei der Digitalisierung von Archivalien, in der Regel handelt es sich um Unikate, allerdings kaum zu Doppelverzeichnungen kommen.
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weise in Anlehnung an die Archivsignaturen, aufweisen – nur so lassen sich langfristig „Doppelerfassungen“ weitestgehend vermeiden. Die Datenbank „Bibliographie-Höchstgerichtsbarkeit“ beinhaltet Quellen, Monographien sowie sonstige Druckwerke und Handschriften zum Themenkreis Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich und geht teilweise über die eigentlich aus dem Titel ersichtliche Materie hinaus. Das betrifft insbesondere grundlegende Nachschlagewerke und einschlägige Zeitschriften besonders landesgeschichtlicher Provenienz. Wie bei den einschlägigen Druckschriften ermöglichen die Titelangaben der im Archivportal‐D oder anderweitig ermittelten Archivalien in den meisten Fällen eine zumindest grobe inhaltliche Zuordnung zu speziellen Problemkreisen. Stichworte lassen sich in Datenbanken thematisch als Schwerpunkte erfassen und abfragen. Eine dazu sukzessive nach Bedarf entwickelte Auswahlliste kann auch künftig ohne großen Aufwand erweitert oder modifiziert werden. Gesamtübersicht: Allgemeines zur Höchstgerichtsbarkeit Archivalische Überlieferung Austrag Beschwerde gegen RKG/RHR CONSILIA/DECISONES/RESPONSA DEDUCTION entfällt Entstehungs- u. Entwicklungsgeschichte FALLSTUDIE Forschungsstand Gerichtsordnungen/Prozessordnungen/Landesordnungen/ Kirchenordnungen Gerichtsorganisation Gerichtsverfassung Geschichte Kaiserliche Anordnungen, Dekrete, Erlasse, Schreiben u. ä. KARTE/PLAN Kaution Listen/Übersichten/Protokolle/Berichte OBSERVATIONEN Organisation des Gerichts PARTEIAKTEN Personal PROZESSAKTEN Prozessrecht Regionale Untersuchungen Reichsständische Verlautbarungen, Ausschreiben, Dekrete etc. RKG/RHR (Verhältnis/Zuständigkeiten/Zusammenwirken) Schiedsgericht
ohne Unterpunkte mit Unterpunkten ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte mit Unterpunkten mit Unterpunkten mit Unterpunkten ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte mit Unterpunkten ohne Unterpunkte mit Unterpunkten ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte
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Streit- und Denkschriften ÜBERBLICK unklar URKUNDEN Urteile/Entscheidungen/Relation/Voten/Gutachten Verfahrensinhalt Vergleich/Abschied (außergerichtlich) Verpfändung Zeitgenössische Dissertation zur Höchstgerichtsbarkeit
ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte mit Unterpunkten ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte ohne Unterpunkte
Daraus ergeben sich umfassende Möglichkeiten für sachbezogene Recherchen zu spezifischen Fragestellungen, was den Zugang zu einschlägigem Archivmaterial (und natürlich auch Bibliotheksbeständen) deutlich erleichtert. Es können für jeden Eintrag beliebig viele Schwerpunkte erfasst werden. Recherchiert werden kann auch kumulativ nach bis zu drei Schwerpunkten gleichzeitig. Abfragen können gegebenenfalls auch in gestufter Form erfolgen. Beispiel: Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Bürgerliches Recht Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Erbrecht Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Familienrecht Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Schuldrecht Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Schuldrecht † Kauf Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Schuldrecht † Schuldrecht
Eine Abfrage nach „Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht“ erfasst den gesamten Inhalt dieser Gruppe, während solche nach „Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Schuldrecht“ nur Fundstellen mit schuldrechtlichen Inhalten und Recherchen nach Verfahrensinhalt † Bürgerliches Recht † Schuldrecht † Kauf lediglich welche mit kaufrechtlichen Bezügen ausweisen. Da die Datenbankeinträge mit bekannten und verfügbaren Online-Fundstellen verlinkt wurden, können die Titel im Internet unmittelbar eingesehen und gegebenenfalls heruntergeladen werden. Ferner kann aus Gründen der besseren Handhabbarkeit auf die zur Verfügung stehenden Digitalisate (PDF-Dokumente) zugegriffen werden. Diese sind zusammen mit den Datenbanken „VerfahrenHöchstgerichtsbarkeit“ und „Bibliographie Höchstgerichtsbarkeit“ in einem Sammelordner „Elektronische Bibliothek“ auf dem heimischen Rechner abgelegt. Die Datenbankeinträge können auf diese Weise unkompliziert mit den vorhandenen Digitalisaten verlinkt werden und gewähren so einen direkten, von einer Internetverbindung unabhängigen Zugriff auf die Quellen.
Die Nutzung von digitalisiertem Archivgut zur Höchstgerichtsbarkeit
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Die Datenbank „Höchstgerichtsbarkeit“ ermöglicht zunächst einmal eine Verlinkung einzelner Fälle mit den im Netz zur Verfügung stehenden Online-Verzeichnungen der gedruckten Inventare zu den Prozessakten von Reichskammergericht,⁶⁴ Reichshofrat und Wismarer Tribunal. Entsprechend der Verzeichnungstiefe der Netzversionen wird damit der Zugang zu teilweise recht umfangreichen Detailinformationen, für die in der Datenbank kein Raum ist, möglich. Darüber hinaus können sachbezogene Zusammenhänge wiederhergestellt werden. In einigen Verwahrarchiven für Reichskammergerichtsakten wurden seinerzeit gemäß der vorherrschenden Ordnung nach dem Pertinenzprinzip in den Prozessakten enthaltene Karten und Urkunden entnommen und in andere Archiveinheiten umgelegt.⁶⁵ Mittels Recherchen im Archivportal‐D⁶⁶ lassen sich einschlägige Karten⁶⁷ und Urkunden⁶⁸ sowie Parteiakten⁶⁹ ermitteln, die dann in der Datenbank mit den dazu gehörigen Prozessakten virtuell zusammengeführt werden können. Beispielhaft dafür ist der Fall Nummer 3.940 (= N 146) im Münsteraner Inventar für die Reichskammergerichtsprozessakten aus Westfalen: die OnlineVerzeichnung der Prozessakte und die Fundstellennachweise zweier Karten machen den ursprünglichen Zusammenhang aller drei Archivalien sichtbar.⁷⁰ Leider ist die Zuordnung der Karten und Urkunden zu dem entsprechenden Prozess nicht immer ohne weiteres möglich. Besonders hilfreich ist es, wenn in der Fundstelle der entnommenen Archivalie explizit auf die Verzeichnung der Prozessakte im gedruckten Inventar verwiesen ist, wie das teilweise in der Plansammlung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs auf die Nummern 04.217⁷¹, 04.322⁷²
Da allerdings rund 55.500 Prozesse bereits vor der Verfügbarkeit der meisten Internetpräsentationen in die Datenbank aufgenommen worden sind, stellt sich die Frage, ob eine nachträgliche Verlinkung jedes einzelnen Prozesses, für den eine Online-Verzeichnung vorliegt, sinnvoll ist. Aus arbeitsökonomischen Gründen wird man das wohl verneinen müssen, zumal mindestens für Teile der Überlieferung (z. B. die RKG-Bestände in NRW) der Zugang dadurch ermöglicht werden kann, dass beim ersten Fall eines solchen Bestandes ein Link zur Startseite der Online-Verzeichnung gesetzt wird. Hierbei spielte auch die sachgerechte Lagerung der zumeist großformatigen Karten und Urkunden eine Rolle. Nur mit einfacher Suche möglich, die erweiterte Suche führt zu keinen Ergebnissen. Die Recherche (1490–1820) mit einschlägigen Suchfiltern ergab 236 Treffer, davon 113 mit Digitalisat. Die Recherche (1490–1820) mit einschlägigen Suchfiltern ergab 559 Treffer, davon 96 mit Digitalisat. Die Recherche (1490–1820) mit einschlägigen Suchfiltern ergab 215 Treffer, keine mit Digitalisat. Ähnlich im Fall Nr. 4.740. https://www.gda.bayern.de/findmitteldb/Archivalie/5487863/. https://www.gda.bayern.de/findmitteldb/Archivalie/5487865/.
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und 06.079⁷³ des Münchener Reichskammergerichtsinventars praktiziert worden ist. Schwieriger gestaltet sich eine Zuordnung, wenn ein solch direkter Verweis auf das Inventar fehlt. So verweist beispielsweise eine Verzeichnung in der Kartensammlung des Münsteraner Archivs zwar auf die preußische Generalrepertoriumsnummer, was aber nicht in der Online-Verzeichnung recherchiert werden kann, weil das im Landesarchiv NRW nur über drei zusammenhängende Zeichen möglich ist. Deshalb kann nicht nach Generalrepertoriumsnummern wie zum Beispiel A 2571 recherchiert werden, sondern nur nach der Zahl 2571, was zu ausufernden Ergebnissen im Gesamtbestand des Archivs führt. Da aber die Namen der Parteien, die Laufzeit und die Altsignatur angegeben sind, ist es möglich, mittels dieser Angaben und einer Datenbankrecherche sowie eines Abgleichs mit der Online-Verzeichnung die betreffende Karte dem Fall Nummer 0.225 zuzuordnen.⁷⁴ Wegen der oftmals abweichenden Schreibweisen bei den Parteinamen ist das aber mit großen Schwierigkeiten verbunden und führt deshalb auch nicht immer zum Erfolg. Die Ermittlung von Digitalisaten zum Themenkomplex „Höchstgerichtsbarkeit“ über das Archivportal‐D kann nicht mit diesem Forschungsbegriff, sondern nur über auch zeitgenössisch verwendetes Vokabular – Reichskammergericht, Reichshofrat, Wismarer Tribunal – erfolgen, wobei Archivalien mit abweichenden Bezeichnungen wie Reichs-cammer-Gericht oder kayserl. Cammergericht und ähnliche nicht immer ausgewiesen werden. Eine entsprechende Recherche nach Archivalien für Reichskammergericht erbrachte 26.033 Treffer, davon 498 mit Digitalisat. Eine Abfrage nach Beständen zum Reichskammergericht ergab 253 Treffer, die sich aber nicht alle tatsächlich auf Reichskammergerichtsbestände beziehen, sondern vielmehr auch Bestände erfassen, bei denen der Begriff Reichskammergericht in anderen Kontexten steht oder auch nur eher beiläufig erwähnt wird. Bezüglich der archivalischen Überlieferung zum Reichshofrat (5.169 Treffer, davon 198 mit Digitalisat) ist zu beachten, dass unter dem Stichwort Reichshofrat auch alle Archivalien ausgewiesen werden, in denen ein „Reichshofrat“ als Person in Erscheinung tritt. In dieser personifizierten Bedeutung tritt der Begriff vermutlich erheblich häufiger auf als in seinem institutionellen Kontext.⁷⁵ Ferner sind 80 Bestände zum Reichshofrat nachgewiesen, für die allerdings hinsichtlich ihrer tatsächlichen Relevanz das Gleiche wie für die Reichskammergerichtsbestände gilt. Für das Wismarer Tribunal werden lediglich 65 Fundstellen für Sachakten, aber keine Online-Findmittel nachgewiesen, obwohl sich entsprechende Verzeichnungen
https://www.gda.bayern.de/findmitteldb/Archivalie/5487968/. Der dazu erforderliche Aufwand war allerdings beträchtlich. Verifizieren lässt sich das wohl nur durch eine kaum zu leistende Einzelfallprüfung.
Die Nutzung von digitalisiertem Archivgut zur Höchstgerichtsbarkeit
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im Portal „Ariadne“ (Stadtarchiv Wismar für die Herrschaft Wismar) und im Portal „Arcinsys“ (niedersächsisches Landesarchiv Stade für die Herzogtümer Bremen und Verden) finden. Für letzteren Bestand existiert auch eine gegenüber dem Online-Findbuch in Teilen ausführlicher verzeichnende Druckausgabe, die kostenfrei aus dem Internet als PDF-Datei heruntergeladen werden kann.⁷⁶
3 Resümee Ein Fazit zu den Nutzungsmöglichkeiten von Digitalisaten zum Themenbereich „Höchstgerichtsbarkeit“ fällt ambivalent aus. Einerseits wird die Nutzung der Findhilfsmittel durch deren Verfügbarkeit in digitaler Form enorm erleichtert. Archivbesuche können vom heimischen Schreibtisch des Forschers wesentlich effektiver vorbereitet werden und – soweit Digitalisate für die Archivalie selbst zur Verfügung gestellt werden – unter Umständen im Einzelfall gar nicht mehr erforderlich werden.⁷⁷ Angesichts der schieren Masse des in den Archiven überlieferten Materials und der noch sehr überschaubaren Anzahl bisher digitalisierter Archivalien ist letzteres doch wohl eher Zukunftsmusik. Andererseits vermag die Präsentation der bisher durch die Archive in durchaus beachtlichem Umfang geleisteten Digitalisierungsarbeiten im Archivportal‐D nur bedingt zu überzeugen. Das erklärte Ziel, übergreifend in allen Findmitteln der teilnehmenden Archiveinrichtungen recherchieren zu können und so archivische Erschließungsleistungen sowie digitales Archivgut für potentielle Nutzer bereitzustellen, ist zwar im Grundsatz erreicht und insoweit uneingeschränkt zu begrüßen. Allerdings bestehen derzeit noch erhebliche technische und strukturelle Probleme, die wiederum in erster Linie aus der Verwendung unterschiedlicher Softwareprogramme und uneinheitlicher Verzeichnungspraktiken in den Archiven der einzelnen Bundesländer resultieren. Wirklich zuverlässig sind die Rechercheergebnisse momentan jedenfalls nicht. Inwieweit die bestehenden Unzulänglichkeiten behoben werden können, wird die Zukunft zeigen; mit Blick auf die strukturellen (länderspezifischen) Ursachen dafür scheint eher Skepsis angebracht.
Akten des Schwedischen Tribunals zu Wismar im Niedersächsischen Landesarchiv – Staatsarchiv Stade – Herzogtümer Bremen und Verden 1653–1715, bearb. und eingeleitet von Beate Christine Fiedler, 2 Teilbde. Hannover 2012 (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung. Das Niedersächsische Landesarchiv und seine Bestände, Bd. 2), für den Zugang zur PDF-Version vgl. https://www.nla.niedersachsen.de/landesgeschichte/veroeffentlichungen/niedersaechsische_landes archiv_und_seine_bestaende/das-niedersaechsische-landesarchiv-und-seine-bestaende-100132.html. Für Archivare möglicherweise auch ein Albtraum.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Josef Bongartz, Dr. jur., M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Claudia Curcuruto, M. A., Doktorandin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 07: Geschichts- und Kulturwissenschaften, Historisches Seminar, Arbeitsbereich Neuere Geschichte und der ehemaligen Max-Planck-Forschungsgruppe „Governance of the Universal Church after the Council of Trent“, nun externe Mitarbeiterin des nachfolgenden Forschungsprojektes unter der Koordination von Dr. Benedetta Albani „Normative knowledge in the praxis of the Congregation of the Council“ am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie. Alexander Denzler, PD, Dr. phil., Privatdozent an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Akademischer Oberrat a. Z. an der dortigen Professur für Frühe Neuzeit und Vergleichende Landesgeschichte. Ulrich Falk, Prof. Dr. jur., Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Europäische Rechtsgeschichte und Rhetorik an der Universität Mannheim. Heike Hawicks, Dr. phil., M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Rechtswörterbuch an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragte am Historischen Seminar bzw. Institut der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Manfred Hörner, Dr. phil., Wissenschaftlicher Beschäftigter beim Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München. Dorothea Hutterer, M. A., Doctoral Program ‚Environment & Society‘ am Rachel Carson Center, Ludwig-Maximilians-Universität München; Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kommission für Bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eberhard Isenmann, Dr. phil., Habilitation für das Fach „Mittlere und Neuere Geschichte“, Professor emeritus für „Geschichte des Mittelalters mit dem Schwerpunkt Späteres Mittelalter“ an der Universität zu Köln. Carolin Katzer, Dr. phil., M. Ed., Lehrerin am Rabanus-Maurus-Gymnasium in Mainz. Daniel Kaune, M. Ed., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte des Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit an der Leibniz-Universität Hannover. Eva Ortlieb, Dr. phil., M. A., Universitätsassistentin am Institut für Geschichte, Arbeitsbereich Geschichte der Frühen Neuzeit, an der Karl-Franzens-Universität Graz. Tobias Schenk, Dr. phil., M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen im Projekt „Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats“. https://doi.org/10.1515/9783111077406-018
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bernd Schildt, Prof. Dr. em. Lehrstuhl für Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Antje Schloms, Dr. phil., Referentin Stadtgeschichte und stellv. Fachbereichsleiterin Stadtarchiv/Stadtbibliothek bei der Stadtverwaltung Mühlhausen/Thür. Thomas Schreiber, Dr. phil., Studium der Geschichte und Promotion an der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Frühe Neuzeit, Geschichte des kaiserlichen Reichshofrats sowie digitale Geisteswissenschaften. Zur Zeit selbstständiger Web-Developer und Online-Marketing-Manager sowie Dozent am WIFI Steiermark im Bereich der digitalen Informationsmodellierung, Datenanalyse und Web-Entwicklung. Stefan Andreas Stodolkowitz, Dr. jur., Richter am Oberlandesgericht Celle. Maria Weber, Dr. phil., Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
bibliothek altes Reich – baR herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal Als ein innovatives, langfristig angelegtes Forum für Veröffentlichungen zur Geschichte des Alten Reichs setzt sich die „bibliothek altes Reich – baR“ folgende Ziele: ‒ ‒ ‒ ‒
Anregung zur inhaltlichen und methodischen Neuausrichtung der Erforschung des Alten Reichs Bündelung der Forschungsdiskussion Popularisierung von Fachwissen Institutionelle Unabhängigkeit
Inhaltliche und methodische Neuausrichtung An erster Stelle ist die Gründung der Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als Impuls für die interdisziplinäre Behandlung der Reichsgeschichte und deren Verknüpfung mit neuen methodischen Ansätzen konzipiert. Innovative methodische Ansätze, etwa aus der Anthropologie, der Geschlechtergeschichte, den Kulturwissenschaften oder der Kommunikationsforschung, wurden in den letzten Jahren zwar mit Gewinn für die Untersuchung verschiedenster Teilaspekte der Geschichte des Alten Reichs genutzt, aber vergleichsweise selten auf das Alte Reich als einen einheitlichen Herrschafts-, Rechts-, Sozial- und Kulturraum bezogen. Die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ ist daher als Forum für Veröffentlichungen gedacht, deren Gegenstand bei unterschiedlichsten methodischen Zugängen und thematischen Schwerpunktsetzungen das Alte Reich als Gesamtzusammenhang ist bzw. auf dieses bezogen bleibt.
Bündelung der Forschung Durch die ausschließlich auf die Geschichte des Alten Reichs ausgerichtete Reihe soll das Gewicht des Alten Reichs in der historischen Forschung gestärkt werden. Ein zentrales Anliegen ist die Zusammenführung von Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen historischen Sub- und Nachbardisziplinen wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, der Kirchengeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Juden, der Landes- und der Rechtsgeschichte sowie den Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaften.
Popularisierung von Fachwissen Die „bibliothek altes Reich – baR“ sieht es auch als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Wissenspopularisierung zu leisten. Ziel ist es, kurze Wege zwischen wissenschaftlicher Innovation und deren Vermittlung herzustellen. Neben primär an das engere Fachpublikum adressierten Monographien, Sammelbänden und Quelleneditionen publiziert die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als zweites Standbein auch Bände, die in Anlehnung an das angelsächsische textbook der Systematisierung und Popularisierung vorhandener Wissensbestände dienen. Den Studierenden soll ein möglichst rascher und unmittelbarer Zugang zu Forschungsstand und Forschungskontroversen ermöglicht werden.
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bibliothek altes Reich – baR
Institutionelle Unabhängigkeit Zur wissenschaftsorganisatorischen Positionierung der Reihe: Die „bibliothek altes Reich – baR“ versteht sich als ein grundsätzlich institutionsunabhängiges Unternehmen. Unabhängigkeit strebt die „bibliothek altes Reich – baR“ auch in personeller Hinsicht an. Über die Annahme von Manuskripten entscheiden die Herausgeber nicht alleine, sondern auf der Grundlage eines transparenten, nachvollziehbaren peer-review Verfahrens, das in der deutschen Wissenschaft vielfach eingefordert wird. Band : Lesebuch Altes Reich Herausgegeben von Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal . VIII, S. Abb. mit einem ausführlichen Glossar. ISBN ----
Band : Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann Venus und Vulcanus Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit . S. ISBN ----
Band : Wolfgang Burgdorf Ein Weltbild verliert seine Welt Der Untergang des Alten Reiches und die Generation . Aufl. . VIII, S. ISBN ----
Band : Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst . S. ISBN ----
Band : Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich. Herausgegeben von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich . S. ISBN ---- Band : Ralf-Peter Fuchs Ein ,Medium zum Frieden‘ Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges . X. S. ISBN ---- Band : Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation Herausgegeben von Stephan Wendehorst . S. ISBN ----
Band : Pax perpetua Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Volker Arnke und Tobias Bartke . S. Abb., ISBN ---- Band : Alexander Jendorff Der Tod des Tyrannen Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode . VIII. S. ISBN ---- Band : Thomas Lau Unruhige Städte Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (–) . S. ISBN ----
bibliothek altes Reich – baR
Band : Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis Herausgegeben von Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich . S. ISBN ---- Band : Hendrikje Carius Recht durch Eigentum Frauen vor dem Jenaer Hofgericht (–) . S. Abb., ISBN ---- Band : Stefanie Freyer Der Weimarer Hof um Eine Sozialgeschichte jenseits des Mythos . S., Abb., ISBN ---- Band : Dagmar Freist Glaube – Liebe – Zwietracht Konfessionell gemischte Ehen in Deutschland in der Frühen Neuzeit . ISBN ---- Band : Anette Baumann, Alexander Jendorff (Hrsg.) Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa . S. ISBN ---- Band : André Griemert Jüdische Klagen gegen Reichsadelige Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephan . S. ISBN ---- Band : Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider (Hrsg.) Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas
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vom . bis . Jahrhundert . ISBN ---- Band : Inken Schmidt-Voges Mikropolitiken des Friedens Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im . Jahrhundert . S. ISBN ---- Band : Frank Kleinehagenbrock Das Reich der Konfessionsparteien Konfession als Argument in politischen und gesellschaftlichen Konflikten nach dem Westfälischen Frieden . ISBN ---- Band : Anette Baumann, Joachim Kemper (Hrsg.) Speyer als Hauptstadt des Reiches Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im . und . Jahrhundert . S. ISBN ---- Band : Marina Stalljohann-Schemme Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs . S. ISBN ---- Band : Annette C. Cremer, Anette Baumann, Eva Bender (Hrsg.) Prinzessinnen unterwegs Reisen fürstlicher Frauen in der Frühen Neuzeit . S. ISBN ---- Band : Fabian Schulze Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg Kriegsfinanzierung und Bündnispolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation . S. ISBN ----
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Band : Anette Baumann Visitationen am Reichskammergericht. Speyer als politischer und juristischer Aktionsraum des Reiches (–) . S. ISBN ---- Band : Volker Arnke „Vom Frieden“ im Dreißigjährigen Krieg. Nicolaus Schaffshausens „De Pace“ und der positive Frieden in der Politiktheorie . S. ISBN ---- Band : Berndt Strobach Der Hofjude Berend Lehmann (–). Eine Biografie . S. ISBN ---- Band : Stefanie Freyer, Siegrid Westphal (Hrsg.) Wissen und Strategien frühneuzeitlicher Diplomatie. . S. ISBN ---- Band : Jürgen Brand Clemens Wilhelm Adolph Hardung (–). Ein letzter Verteidiger des Reiches. Mit einem Faksimile seiner „Staatsrechtlichen Untersuchungen“ aus dem Jahre . S. ISBN ---- Band : Anette Baumann, Sabine Schmolinsky, Evelien Timpener (Hrsg.) Raum und Recht. Visualisierung von Rechtsansprüchen in der Vormoderne. . S. ISBN ---- Band : Stefan Seitschek, Sandra Hertel (Hrsg.) Herrschaft und Repräsentation in der Habsburgermonarchie (–).
Die kaiserliche Familie, die habsburgischen Länder und das Reich. . S. ISBN ---- Band : Anna Lingnau Lektürekanon eines Fürstendieners. Die Privatbibliothek des Friedrich Rudolf von Canitz (–). . S. ISBN ---- Band : Astrid Ackermann, Markus Meumann, Julia Schmidt-Funke, Siegrid Westphal (Hrsg.) Mitten in Deutschland, mitten im Krieg. Bewältigungspraktiken und Handlungsoptionen im Dreißigjährigen Krieg. . Ca. S. ISBN ---- Band : Astrid Ackermann Herzog Bernhard von Weimar. Ein Militärunternehmer und politischer Stratege im Dreißigjährigen Krieg. . Ca. S. ISBN ---- Band : Volker Arnke, Siegrid Westphal (Hrsg.) Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden. Wendepunkte, Friedensversuche und die Rolle der „Dritten Partei“. . S. ISBN ---- Band : Avraham Siluk Die Juden im politischen System des Alten Reichs. Jüdische Politik und ihre Organisation im Zeitalter der Reichsreform. . S. ISBN ---- Band Evelien Timpener In Augenschein genommen Hessische Lokal- und Regionalkartographie in Text und Bild (–) . S. ISBN ----