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German Pages [578] Year 1980
JOSEPH KLAUSNER
von JESUS PAULUS
JÜDISCHER VERLAG
Joseph Klausner
VON JESUS ZU PAULUS
Joseph) Klausner
VON JESUS ZU PAULUS Übersetzt aus dem Hebräischen unter Mitwirkung des Verfassers von
Friedrich Thieberger
Jüdischer Verlag 1980
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Klausner, Joseph: Von Jesus zu Paulus / Joseph Klausner. Übets. aus d. Hebr. unter Mitw. d. Verf. von Friedrich Thieberger. - Nachdr. d. 1. Aufl. Jerusalem, Thejewish Publishing House, 1950. - Königstein/Ts. :Jüdischer Verlag, 1980. ISBN 39־7610־0326־
© 1980 Jüdischer Verlag im Athenäum Verlag GmbH, Königstein/Ts. Nachdruck der ersten Auflage, die 1950 in Thejewish Publishing House Ltd., Jerusalem, erschienen ist Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany ISBN 3-7610-0326-9
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT DES ÜBERSETZERS................................................ 7 EIN WORT DES VERFASSERS ZU SEINER RECHTFERTIGUNG.................................................................................. 13 ERSTER TEIL 1. BUCH: DAS JUDENTUM AUSSERHALB PALÄSTINAS ZUR ZEIT DER ENTSTEHUNG DES CHRISTENTUMS.................................................................................. 19 I. Jesus und das Christentum........................................... 21 II. Die jüdische Diaspora zur Zeit der Entstehung des Christentums....................................................................... 25 III. Proselyten und ״Gottesfürchtige” gegen Ende des Zweiten Tempels............................................................ 46 2. BUCH: DAS HEIDENTUM ZUR ZEIT DER ENTSTEHUNG DES CHRISTENTUMS....................................... 63 I. Rom als Weltreich und dessen allgemeine innere Lage....................................................................................... 65 II. Das philosophische Denken der Heiden im Zeitalter des Paulus.................................................................. 71 III. Der religiöse Synkretismus...........................................103 3. BUCH: DAS JÜDISCH-HELLENISTISCHE DENKEN . 127 I. Die Weisheit Salomos..................................................... 129 II. Das vierte Makkabäerbuch...........................................142 III. Die Sibyllinischen Orakel.......................................... 146 IV. Philo der Jude................................................................ 181 4. BUCH: DIE QUELLEN................................................................ 203 ·I. Die Apostelgeschichte..................................................... 205 II. Die Paulus-Briefe .......................................................... 225 5. BUCH: DAS NAZARENERTUM UND DAS HEIDENCHRISTENTUM.......................................................... 243 I. Jesus von Nazareth nach der Auffassung seiner Jünger................................................................................ 245 II. Die Anfänge des Nazarenertums; Simon KephaPetrus................................................................................ 252 III. Das ״Zungenreden”; das Leben der Kommune; Jakobus, der Bruder Jesu; die ersten Verfolgungen 260 IV. Der Streit zwischen den ״hebräischen” und ״hell·nistischen” Nazarenern; die Hinrichtung des Stephanus........................................................................... 272
V. Die Anfänge der nazareniechen Predigt bei den Samaritanern und den ״Gottesfürchtigen ״unter den Heiden..................................................................... 278 ZWEITER TEIL 6. BUCH: LEBEN UND WIRKSAMKEIT DES SAUL (PAULUS) AUS TARSUS (ca. 10—64 n. Chr.) ... 287 I. Kindheit und Jugendzeit................................................ 289 II. Die Wandlung................................................................ 301 III. Paulus als Nazarener..................................................... 313 IV. Die ersten Ansätze des Heidenchristentums . · 318 V. Die Hinrichtung des Zebedäers Jakobus; die erste Missionsreise (ca. 43—47 n. Chr.)................................ 324 VI. Der Streit zwischen Petrus und Paulus und der ״Apostelkonvent”.......................................................... 340 VII. Die Zweite Missionsreise des Paulus (ca. 48—52 n. Chr.)........................................................................... 349 VIII. Die dritte Missionsreise (54—59 n. Chr.) . . 361 IX. Die Festnahme in Jerusalem und die Haft in Caesarea................................................................................ 372 X. Die Fahrt des Paulus nach Rom und sein Lebensende (61—64 n. Chr.)..................................... 384 XI. Die Persönlichkeit des Paulus..................................... 394 7. BUCH: DIE LEHRE DES PAULUS.......................................... 405 I. Die persönlichen Ursachen und allgemeinen Voraussetzungen..................................................................... 407 II. Paulus, der hellenistische Jude 420 III. Gott, Satan — und der Messias..................................... 435 IV. Körper und Geist; das ״Leben in Christus” . . . 452 V. Aufhebung des Gesetzes und der ZeremonialVorschriften..................................................................... 461 VI. Neue Zeremonialgesetze an Stelle der alten . . 472 VII. Der Glaube an Christus, die Erbsünde und die Erlösung durch die Gnade............................................... 479 VIII. Der Universalismus des Paulus und die Aufhebung der jüdischen Nationalität.......................................... 489 IX. ״Die Endzeit” und die ״Wiederkehr” Je6u . . 497 X. Die Ethik des Paulus..................................................... 506 XI. Die Lehre des Paulus von der Gesellschaft . 519 XII. Jesus und Paulus.......................................................... 535 XIII. Auswirkungen der paulinischen Lehre .... 544 XIV. Schluß: Was bedeutet Paulus den Juden . . · . . 552 NAMEN- UND SACHREGISTER..................................................... 565
VORWORT DES ÜBERSETZERS
Durch die politischen Nöte der Zeit sind die religiösen, so scheint es, vorläufig zum Schweigen gebracht. Nicht das religiöse Leben 6elbst — dieses hat seine gefühlsbeschwerten Bräuche und VorStellungen, seine Liebhaber und Nutznießer — sondern eben die religiösen Nöte! Ohne sie aber gibt es in der Religion weder Bewegung noch Auftrieb und Erneuerung. Die stillen und quälenden Fragen ״Was bin ich hier?” und ״Wozu dies alles?” lassen sich gern von der Emsigkeit der wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Apparate übertönen und seit den letzten Jahrzehnten gibt es eine neuartige ganz bewußte Flucht vor jenen Fragen, die sich nur um die Überwindung persönlichen Leides zu kümmern scheinen: die Flucht in das Kollektiv. Die seelischen Sorgen des Einzelnen schwächen die Kraft, die heute mehr denn je nötig ist, um eine gerechtere und gesündere Gemeinschaft aufzubauen. Erst wenn die Steigerung der Freude am übertönenden Apparat oder an der Flucht ins Kollektiv zur Ruhe kommt — jetzt noch in einsamen Augenblicken und im übermächtigen Aufleuchten einzelner Situationen, aber einmal in der vollen Breite des täglichen Lebens —, brechen die keimenden Fragen durch alle darübergelagerten Schichten gewaltig durch und ihre fordernde Stille läßt sich dann nicht mehr überhören. In welcher Weise sich die Religion der Zukunft entfalten wird, welche Elemente der früheren Religionen in ihr wiedererscheinen werden, ob ihr Inhalt der heute üblichen Religion als einer Verkündigung an die Menschen entsprechen wird, ist an Faktoren geknüpft, die uns unbekannt sind. Aber soviel darf vermutet werden, daß die Verheerungen, die vor allem der letzte Weltkrieg in den Bezirken des religiösen Denkens angerichtet hat, nicht mehr durch ein hilfreiches Vergessen in Ordnung gebracht werden können.
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Vorwort det Übersetzer»
"Was auf die krasseste Weise dem jüdischen Volk widerfahren ist, die systematische Ausrottung von sechs Millionen Menschen, und dies nicht durch die plötzliche Katastrophe eines Naturgeschehene oder durch die aufbrausende Leidenschaft einer Mordlust, vielmehr nach planmäßiger Überlegung während eines andauernden Zeitraumes und mit Beihilfe vieler Staaten und Völker, das ist kein quantitativ ungeheuerlicher Unfall, wie er aus dunklen Zusammenhängen über Einzelne hereinbricht, sondern ein qualitativ ganz anderes Ereignis. Hier versagt jeder Versuch, einen Zusammenhang zwischen menschlichem Wollen und menschlichem Schicksal, zwischen ״gottgefälligem” Leben und einer über allem waltenden Gerechtigkeit herzustellen; hier versagt das angelernte Vertrauen in einen Sinn des guten Willens für die Gesamtheit oder gar für den Kosmos und hier läßt sich auch nicht die Spur einer erzieherischen Methode entdecken, durch die eine unfaßbare Vorsehung die Menschen ״bessern” oder ihre Schuld sühnen will; hier ist die Garantie des religiösen Glaubens für den Wert der Sittlichkeit entzweigerissen. Wenn aber nach der Zeit verzweifelter Abwehr gegen die überlieferten Maße religiösen Denkens oder nach den Brachjahren der Gleichgültigkeit die Urfrage im Menschen wieder aufbricht, wie er in dieser erdrückend sinnlos gewordenen Welt sich zurechtfinden 8011, dann wird er aus den Trümmern der zerbrochenen Religionen das hervorzuholen suchen, was ihm Hilfe und Antwort bieten könnte. Dann wird auch der Augenblick da sein, in welchem Paulus in seiner menschlichen Bedeutung von neuem aktuell wird.
Was sich nämlich von der gedanklichen Welt religionsstiftender Menschen und von ganzen Religionssystemen zunächst erhalten wird, ist gerade soviel, als nach Abstrahierung von Glaubenssätzen, dogmatischen Vorstellungen, autoritativen Verkündigungen eines höhern Wissens an religiöser menschlicher Haltung zurückbleibt. Die Abstrahierung muß das Minimum davon bewahren, was die betreffende Religion gerade noch von anderen religiösen Haltungen unterscheidet, d.h. was für sie das letzte und dabei alles durchdringende Charakteristische ist. Sie läßt eich etwa für das Judentum mit einer einzigen Formel umspannen: weltordnender Monotheismus. Jede Ausdeutung eines dieser Worte ist eigentlich schon 8
Vorwort dei Übersetzers
eine Versteifung seiner beweglichen Möglichkeiten zu einer bestimmten Forcierung. Und die Kraft der Grundhaltung besteht gerade in der schwankenden Art, in der man den Sinn der Formel bestürmt, ohne ihn dogmatisch festzulegen. Martin Bubers Aufruf zu einem dialogischen Leben mit Gott ist vielleicht das Zeichen für die äußerste Grenze, an die wir heranreichen können. Die religiöse Haltung des Christentums ist paulinisches Erbe. Wagen wir auch hier die Abstrahierung von Sakramenten, Satan, Jüngstem Gericht und Rechtfertigung des Menschen durch den Tod des Heilands, dann stoßen wir auf den Untergrund einer Frage, welche die des Paulus ist. Sie ist noch vollständig in die jüdische Haltung einbeziehbar, ja enthüllt deren aufregendstes und unheimlichstes Rätsel. Allein die Antwort des Paulus ist auch in ihrer abstrahierten Form der jüdischen Haltung niemals an· gleichbar. In der christlichen Haltung gehören Frage und Antwort des Paulus wie zwei Hälften eines Ganzen zusammen. Aber erst wenn wir sie auseinanderlegen, wird das Gemeinsame und Besondere der jüdischen und christlichen Haltung deutlich. Mögen auch andere Religionen in ihrer Abstrahierung die kommende religiöse Haltung mit beeinflussen, so werden an ihrer Gestaltung doch nach der heutigen Struktur der Welt Judentum und Christentum den Hauptanteil haben. Der monotheistische Ordnungsglaube des Judentums trägt den Charakter einer nahezu unbeweglichen Ruhe. Aber die Frage des Hiob — sogar in der Bibel nicht die erste in ihrer Art — rührt die mächtige Bewegung unter dem Spiegel der ruhigen Oberfläche auf: Warum wird der Wille zur Ordnung mit Leid vergolten? Das Schweigen des Spiegels besagt: Wir kennen nicht die Zusammenhänge und müssen vertrauen. In noch größere Tiefen dringt die Bibel mit der Frage des Kohelet: Ist nicht im Angesicht des Todes alles unerheblich, guter oder böser Wille, Ordnung oder Leid? Und die Antwort lautet: Wir sind nichts, Gott ist alles. Zwischen Hiob und Kohelet steht Paulus. Aus gutem Willen kann Böses, aus böSem Gutes kommen. Wir sind unzulänglich in unserem Tun. Nicht nur daß wir die uns auferlegte Ordnung in ihrer Ganzheit nicht einhalten können, wir sind nicht imstande, auch das Geringste vollkommen zu tun, wir ermessen nicht die Wirkung unserer ein
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Vorwort des Übersetzers
fachsten Willenshandlung, denn wir sind dem unendlichen ZuBammenhang der Dinge preisgegeben. Darum fragt Paulus: Wer hilft uns in unserer Unzulänglichkeit und Preisgabe? Zum erstenmal ist hier die Tragik des menschlichen Willens in ihrer ganzen grauenhaften Tiefe aufgedeckt. Es handelt sich dabei nicht um das, was wir die Schwäche des menschlichen Willens zu nennen pflegen, daß er zwar seine Pflicht erkennt, aber irgendwelchen Einflüsterungen anderer Motive nachgibt, sondern um das Zusammenspiel von Erkenntnis, Fähigkeit, Absicht und Ausführung auf der Seite des Menschen und der objektiven Wirkung innerhalb der Ordnung der Welt, der das Tun anheimgegeben ist. Hiobs Antwort des schweigenden Vertrauens war für Paulus zu wenig, weil die Fraglichkeit des menschlichen Willens bei Hiob gar nicht in Betracht kommt; der Mensch kann eben nach der Meinung Hiobs Gutes tun und Böses meiden, sonst wäre ja die Frage, warum er für sein gutes Tun Leid erfährt, sinnlos. Nicht der Wille des Mensehen wird für Hiob zum Problem, sondern die Gerechtigkeit Gottes. Die Antwort des Kohelet wiederum war für Paulus zu weitgehend. Denn für ihn kann die Nichtigkeit des Menschen gegenüher Gott nicht eine Aufhebung des menschlichen Willens selbst bedeuten. Dieser Wille greift durch Tun und Nichttun in das Schicksal der anderen ein. So findet Paulus seine eigene Antwort, die in ihrer abstrahierten Form etwa folgendermaßen gefaßt werden kann: In jeden Willensakt des Menschen muß tiefinnen etwas Zusätzliches von Gott hereinströmen, um unsern Mangel auszugleichen und die Weltordnung· von unserer Unzulänglichkeit zu erlösen. Bis hieher ist die jüdische Haltung immer noch gewahrt, wiewohl das klassische jüdische Schrifttum die paulinische Auffassung vom Willen nicht kennt und darum auch nicht diesen Teil seiner Antwort. Allein nun gab Paulus — vielleicht in einer Art literarischer Ratlosigkeit — seiner Antwort eine weitere Prägung, die das Wesentliehe an der jüdischen religiösen Haltung verwandelte: Gott sandte seinen Sohn (dies war eben Jesus), den Gesalbten, Messias, Christus, zu den Menschen, damit er durch sein Martyrium und seinen Tod die Schuld der menschlichen Unzulänglichkeit wettmache und damit durch den Glauben an diesen Prozeß der menschliche Wille von seiner Unzulänglichkeit erlöst und für das
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Vorwort des Übersetzers
ewige Leben gerechtfertigt werde. An zwei Stellen ist hier der religiöse Kreis des Judentums gesprengt: in der Vermenschlichung Gottes, der einen Sohn hat und ihn in Geburt und Tod sendet; und in dem Wert dieses Todes für die Erlösung aller Menschen von ihrer Unzulänglichkeit in allen nachfolgenden Zeiten. Das ist in äußerster Abstrahierung das Minimum der paulinischen Antwort, die sich mit seiner Frage zur christlichen Haltung zusammenschließt.
Das Judentum ist heute in seiner geistigen und nationalen Sicherheit frei genug, die Jahrhunderte lang begreiflicherweise gemiedene Diskussion über den Paulinismus zu wagen; denn nur das von Paulus begründete Christentum hat die jüdische Geschichte zu einer so unerhörten Märtyrergeschichte gemacht. Aber innerhalb des monotheistischen Denkens hat niemand wie er die Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz aufgezeigt. Die Diskussion mit ihm wird früher oder später, offen oder still, im Judentum einsetzen und es besteht eine nicht geringe Gefahr, daß jenseits von irgend welchen nationalen Bedenken, die leidenschaftliche Kraft seiner Frage den von ihr Ergriffenen auch der Antwort des Paulus erliegen läßt. Ihm g‘ng es ja um Wichtigeres, als es die Erhaltüng eines Rahmens für nationale Eigentümlichkeiten ist. Ihm ging es um die Menschheit, um ein religiöses Leben schlechthin, das nicht die Lebensform eines einzelnen Volkes zur Voraussetzung haben kann. Und wenn ihm vielleicht das Leben in der Diaspora den tiefen Blick für das Wesen des Menschen gegeben hat, so liegt in dieser Tatsache keine Minderung des Wertes, den sein Schauen auch für das nationale Judentum hat. Innerhalb de3 ׳neuen hebräischen Schrifttums hat Joseph Klausner die Entwicklung des Paulus in ihrer vollen historischen Perspektive zum erstenmal dargestellt. Sein im Hebräischen und in vielen anderen Sprachen oft aufgelegtes Buch über Jesus war nach dem Plan des Verfassers eine Vorarbeit zu diesem Werk, das der eigentliehen Entstehung des Christentums gewidmet ist. Und ohne geschichtliche Kenntnis würde der kommenden neuen Konfrontierung mit dem religiösen Problem die Grundlage fehlen. Darum verdient auch dieses Buch allen Teilen des Judentums in der Welt zugänglich gemacht zu werden. 11
Vorwort de» Übersetzer»
Die christliche Welt wiederum wird sich hier neuerdings vom Judentum aus sehen lernen. Die Auseinanderlegung der Probleme und die Prüfung aller erreichbaren Quellen bieten die Möglichkeit, den jüdischen Anteil des Paulus an seinem Christus-Glauben und den Weg dahin in einer natürlichen Beleuchtung zu erfassen. Durch ein solches Heraustreten aus der gewohnten Haltung und die geistige Rückbewegung in den Stand des persönlichen Glaubens wird etwas gewonnen, dessen die kommende religiöse Phase nicht wird entbehren können: die Freiheit gegenüber dem nur Historischen in uns und die um so festere Bindung an das, was uns unmittelbar bewegt. Es ist auch auf dem Gebiet der Religion das höchste Ziel der Geschichte, daß die historische Erkenntnis in der Lebendig * keit des wirkenden Augenblicks aufgeht. Dieser Gedanke an die Hilfe der Geschichte begleitete mich während der Übersetzung des Buches. Dankbar erinnere ich mich an die gastlichen Stunden im Heime Professor Klausners, das damale noch seine Frau in inniger Anteilnahme an den Arbeiten ihres Mannes betreute. Kapitel um Kapitel wurde durchgenommen und da und dort ging man auch über die Fassung des hebräischen Originals hinaus. Für wertvolle Ratschläge fühle ich mich Herrn Meir Gärtner in Jerusalem verpflichtet. Ich danke schließlich meiner Frau Berta für die Hilfe, die sie mir durch die Reinschrift des Manuskriptes und die nochmalige Überprüfung der zitierten Stellen geleistet hat. Die Übersetzung war bereits im Jahre 1945 abgeschlossen, kann aber infolge der Verhältnisse nach dem Krieg erst jetzt erscheinen. Jerusalem, in Dezember 1949 F. T.
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EIN WORT DES VERFASSERS ZU SEINER RECHTFERTIGUNG
Als ich im Jahre 1907 an die Abfassung meiner Monographie über ״Jesus von Nazareth” heranging, an der ich, von verschiedenen Unterbrechungen abgesehen, fünfzehn Jahre hindurch intensiv arbeitete, kam ich bald zu dem Ergebnis, daß jenes Buch durch ein zweites ergänzt werden müsse, das die Begebenheiten von der Kreuzigung Jesu bis zum Lebensende des Apostels Paulus darstellt. Denn mit Jesus allein läßt eich die Entstehung des Christentums als einer neuen Kirche nicht erklären. Nach eingehenden Forschungen kam ich zu dem Ergebnis, daß sich Jesus zwar für den Messias hielt und seinem Volk durch Buße und Morallehren, die er in den Städten Israele predigte, die Erlösung zu bringen hoffte, daß er selbst aber niemals daran dachte, eine neue Religion zu stiften und sie unter anderen Völkern zu verbreiten. Darum sammelte ich gleichzeitig mit dem Material über Jesus auch solches für ein zweites Buch: ״Von Jesus zu Paulus”. Ich ging alle Kirchenväter und Kirchenschriftsteller durch, ebenso alles, was in den letzten 150 Jahren über das Entstehen und Werden der christliehen Kirche geschrieben worden ist, und machte mir verschiedene Aufzeichnungen auf einer Menge von Zetteln, die in einer grossen Mappe unter meinen übrigen Handschriften lagen. Ende August 1929 brachen in Palästina antijüdische Unruhen aus, und an einem Sabbatausgang, am 24. August, wurde mein Haus in Talpiot bei Jerusalem geplündert. Die Eindringlinge raubten viele kostbare Bücher und zerrissen auch den größten Teil der Mana■ skripte, auf die sie in meinem Hause stießen. (Offenbar suchten sie unter ihnen nach Geld oder sie taten es aus bloßer Lust am Zerstören und Vernichten.) Ein Teil der Manuskripte fand sich im Garten meines Hauses, ein Teil freilich blieb verloren. Zu den Schriften, die ich nicht mehr fand, als ich nach zwei Monaten in mein Haus zurückkehrte — es war nicht erlaubt, während dieser
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Ein Wort des Verfassers zu seiner Rechtfertigung
zwei Monate Talpiot aufzusuchen, weil neue Unruhen befürchtet wurden und weil auch vorher die zerstörten Häuser wiederhergerichtet werden sollten — gehörte die Mappe mit dem Material zu dem Buche ״Von Jeeus zu Paulus”. Nur wer sein Kind, die Freude und Hoffnung vieler Jahre, verloren hat, kann meinen Schmerz ermessen.... Doch ich tröstete mich: eines Tages würde ich von neuem alle Quellen durcharbeiten und das Material in seinem früheren Bestand wieder zusammenbringen. Allein der Tag kam nicht so bald. An der Hebräischen Universität in Jerusalem bin ich mit einem völlig anderen Gegenstand beschäftigt: mit der neuhebräischen Literaturgeschichte, die mit der Geschichte des ״Zweiten Tempels” und mit der Entstehung des Christentums wenig zu tun hat. Meinen Schülern zuliebe veröffentlichte ich auch noch vorher die drei ersten Bände meiner Geschiehte der hebräischen Literatur. Weiters machten es mir die Lebensfragen, die mit dem Aufbau unseres Nationalheimes in Palästina Zusammenhängen, zur Pflicht, mich mit ihnen immer wieder zu beschäftigen, aus dem einfachen Grunde, weil das jüdische Volk ohne das Nationalheim in seinem Lande keinen Bestand in der Welt hätte, weil es dann auch keine lebende hebräische Sprache, keine neuhebräische Literatur und Wissenschaft geben könnte und unsere ganze Kulturarbeit vergeblich wäre. Aus diesen und ähnlichen Gründen konnte ich erst im Frühjahr 1934 meine Arbeit an dem Buche ״Von Jesus zu Paulus” wieder aufnehmen, nachdem ich das Material im Laufe der Jahre 1929— 1934 abermals gesammelt hatte. Von kleinen Unterbrechungen abgesehen, vollendete ich im Verlauf von fünf Jahren das ganze Buch. Dabei waren die letzten dreieinhalb Jahre eine Zeit schwerer Unruhen und Wirren im Lande, und es war nicht leicht, an einem wissenschaftlich zuverlässigen Werk mit Muße und Seelenruhe zu arbeiten. Selbstredend war ich nicht imstande, das gesamte gewaltige Material, wie ich es im Laufe von zweiunddreißig Jahren für das Buch ״Von Jesus bis Paulus” gesammelt hatte und das unter den erwähnten Umständen verloren gegangen war, nochmals durchzuarbeiten. So bitte ich im Voraus um Entschuldigung, wenn das vorliegende Buch in dieser Hinsicht gewisse Lücken aufweisen sollte. Allein ich hoffe, daß, wenn ich hier auch nicht das gesamte Ma 14
Ein Wort des Verfassers zu seiner Rechtfertigung
terial, das sich auf den Gegenstand bezieht, ausgeschöpft habe, ich es doch zum größten Teil tun konnte. Das Wesentliche ist, daß das neue Buch vor dem Leser die zwei großen Fragen aufrollt: Wie spaltete sich das Christentum vom Judentum, und warum nahm das Judentum die Lehre des Paulus nicht an, wie es die Lehre Jesu nicht angenommen hatte? Hierzu trägt das Buch eine Lösung vor, die mir klar und richtig zu sein scheint. Überdies beleuchtet es in weitem Umfang besonders deutlich das Wesen des Judentums und Christentums und zeigt, was beiden gemeinsam ist und was sie trennt und scheidet. Wenn der Leser das vorliegende Buch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, 60 mag er darin zwar nicht alles finden, was er sucht, aber doch einen großen Teil dessen, was er — so scheint es mir zumindest — in keinem anderen Buch über dieses große Problem der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum finden würde. Denn es ist natürlich, dass mein Gesichtspunkt als der eines Juden von demjenigen christlicher Forscher, die sich mit dem FrühChristentum beschäftigt haben, verschieden sein muß. Darum werden auch meine Ergebnisse von den ihren notwendigerweise abweichen. Aber gerade dies ist ein wichtiger Grundsatz in der Forschung: das wissenschaftliche Problem ringsum von allen Seiten anzugehen, weil wir uns nur auf solchem Wege der Wahrheit nähern· * Das Schicksal des Buches brachte es mit 6ich, daß es zum größten Teil in der Zeit der Wirren, Morde und Brandschatzungen in Palästina und in der Zeit der Verfolgungen, Morde und Judenhetzen in Deutschland und Polen abgefaßt wurde. Nun wird das Buch in hebräischer Sprache zum größten Teil nach der Kriegserklärung Englands und Frankreichs an das nazistische Deutschland gedruckt. Gibt es in diesen furchtbaren Tagen noch Raum für ein solches Buch? Hätten die Juden vor neunzehnhundert Jahren auf die Stimme des Paulus gehört, der ihnen riet, den neuen christlichen Glauben anzunehmen, das Judentum mit den neuen religiös-sittlichen Grundanschauungen zu durchsetzen und auf diese Weise den Massen der heidnischen Völker zu ermöglichen, ihren Glauben für einen Ersatz, der halb jüdisch, halb heidnisch ist, einzutauschen — hätten die Juden nach dem Rat des Paulus gehandelt, gewiß, dann gäbe es
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Ein Wort des Verfassers zu seiner Rechtfertigung
in der Welt heute keine Juden und keine Judennot, aber auch nicht die Sehnsucht der Juden nach einem Judenland auf ihrem Heimatboden mit allen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen AusWirkungen dieser Sehnsucht. Freilich: die furchtbaren Leiden, die über das jüdische Volk in den meisten europäischen Ländern gekommen sind, führten zu erschreckendem Abfall und zu Selbstmorden in gewaltiger Zahl. All dies sind direkte oder indirekte Folgen der Tatsache, daß die Juden nicht auf die Stimme des Paulus hörten und nicht ihre einzigartige Lehre zugleich mit ihrem einzigartigen Volkstum aufgaben, an das ihre Lehre so unlösbar geknüpft ist, wie jenes an diese. Was ist der Grund dafür? Warum wurden nicht aus den Juden Nichtjuden? Was gab es an der Lehre des pharisäischen Juden Paulus, der den Glauben an den pharisäischen Juden Jesus predigte, das im Gegensatz zur Lehre Israels stand, wie sich diese gegen Ende des Zweiten Tempels herauskristallisiert hatte, und im Gegensatz zum Volkstum Israels, wie es unsere Weisen auffaßten, als unlösbaren und untrennbaren Teil des jüdischen Glaubens? Das vorliegende Buch versucht auf diese grundlegenden Fragen eine Antwort zu geben, die dem Verfasser auch in unseren furchtbaren Tagen aktuell zu sein scheint. Darum ist es durchaus nicht etwas Unzeitgemäßes. Vielleicht wird man mit Hilfe dieses Buches noch deutlicher erkennen, wie richtig es war, daß das jüdische Volk bei seinem Glauben und seinem Volkstum damals, in den Zeiten des Paulus, geblieben ist, und wie richtig es war, daß das jüdische Volk alle Arten von Leiden und Demütigungen ertragen und nach seiner politischen Erlösung, mit der seine geistige Wiedergeburt zusammenhängt, gestrebt hat, durch neunzehnhundert Jahre, vom Ende des Zweiten Tempels bis zum heutigen Tag. Vielleicht wird dadurch der Abfall sogar geringer werden, der Selbstmord unter den Juden unserer Zeit abnehmen und sich dafür das Verlangen nach vollkommener Erlösung steigern. Das Buch beschäftigt sich mit einem rein wissenschaftlichen Problem und bemüht sich, es mit rein wissenschaftlichen Methoden zu lösen. Aber es kann dem Wert des Buches keinen Abbruch tun.
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Ein Wort dei Verfallen zu !einer Rechtfertigung
wenn es dabei auch Antwort auf eine brennende Lebensfrage gibt, die so alt ist, wie das Exil Israels und wie das Bestehen des Christentums zugleich. Jerusalem-Talpiot, am Vorabend des Neujahrstages 5700 (1939) Der Verfasser
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ERSTER TEIL
ERSTES BUCH
DAS JUDENTUM AUSSERHALB PALÄSTINAS ZUR ZEIT DER ENTSTEHUNG DES CHRISTENTUMS
Das Judentum außerhalb Palästinas zur Zeit der Entstehung des Christentums
ERSTES KAPITEL
JESUS UND DAS CHRISTENTUM ״Jesus war kein Christ — er war Jude.” Auf diese kurze und prägnante Formel bringt Julius Wellhausen1) das Ergebnis der Forschungsarbeit von hundertfünfzig Jahren. Es ist auch das wesentliche Ergebnis eines hebräischen Buches von mehreren hun· dert Seiten.*2*) Jesus rief den Juden zu, sie mögen Buße tun und fromme Werke üben, um der messianischen Zeit würdig zu sein. Der Prophet Elija, der Verkünder des Messias, sei schon gekommen, und er selbst, Jesus, sei der Messias.. Ausdrücklich sagt er zu seinen Jün> gern: ״Es stehen etliche hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis daß sie sehen das Reich Gottes mit Kraft kommen”s), und: ״Wahrlich, ich sage euch: ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn kommt”45 ); so sagt er auch, daß ״dieses Geschlecht nicht vergehen werde, bis daß dieses alles geschehe.” s) Es gibt nur eine Bedingung für das Kommen des Reiches: alles zu erfüllen, was in der Lehre Moses und in den Propheten geschrieben ist, so wie es die Pharisäer forderten, ja noch mehr zu tun als sie forderten: ״Denn ich sage euch: wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist denn der Schriftgelehrten und *) Julius Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1905, S. 113. 2) Joseph Klausner, Jesus von Nazareth, 4. erweiterte und neubearbeitete Aufläge, Jerusalem, 1933, XV u. 480 S. (Seither 5. Aufl. 1945). — Deutsche UeberSetzung, 2. erweiterte Auflage, Jüdischer Verlag, Berlin, 1934, 611 S. (Im folgenden wird diese Ausgabe zitiert). ·) Markus 9, 1. the Way of the Initiate; ders., Chrietianity and the Mystery Religion (in Judaisme and Chrietianity, ed. by Oesterly, I (1937), 27217-250 ;56)־. *) Genaueres im schönen Buch von G. Murray, Five Steges of Greek Religion, Oxford, 1930, pp. 15-55. l) s. daselbst, S. 59-101; über diese Epoche vgl. auch W. Nestle, Griechische Religiosität vom Zeitalter des Perikies bis auf Aristoteles, Berlin-Leipzig 1933 (Griechische Religiosität, II).
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Das Heidentum zur Zeit der Entstehung des Christentums
für ihre Handlungen eine sittliche Verantwortung. s) Indes wurde in der Form, in der die Volksmassen Griechenlands an die Götter glaubten und sie verehrten — das Nämliche gilt auch für Rom. — die griechisch-römische Religion zu einem zeremoniellen Mechanismus: man diente ihnen, um ihre Herzen durch Opfer, Gebete und allerlei Bräuche für die Erfüllung der persönlichen Wünsche geneigt zu machen. Damals vor allem wurden aus den Gottheiten die Stadt- und Staatsgötter, mit denen der uralte, tief verankerte griechische Patriotismus außerordentlich stark verknüpft wurde. Allein in Griechenland begannen seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert und in Rom seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert die Gebildeten, deren Zahl allmählich wuchs, Fragen und Probleme über das Wesen der Götter, über *das Schicksal der Menschen, über Lohn und Strafe nach dem Tod aufzuwerfen. Solche Fragen und Probleme unterwühlten die heidnische Religion. In der Gemeinschaft dieser Gebildeten, die sich immer mehr vergrößerte und erweiterte, mochte das Christentum in seinem Anfangsstadium die ersten Verehrer gefunden haben. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schreibt Euhemeros ein Buch unter dem Titel ״Heilige Geschichte” ( «?*׳άι/α/ραφή ), worin er in Form einer Reiseerzählung die ״Taten” ( πράξα,· ) der Götter Uranos, Kronos und Zeus schildert, wie er sie auf einer goldenen Stele in einem Heiligtum des Zeus, auf das er auf dem Hügel einer indischen Insel gestoßen war, 4), verzeichnet gefunden hat. Diese ״Taten” weisen darauf hin, daß jene Gottheiten von allem Anfang an durchwegs nur historische Personen gewesen seien, die man nach deren Tod auf die Stufe von Göttern gehoben habe, weil sie der Menschheit Gutes erwiesen hätten; aber sie seien eines natürlichen Todes gestorben. So ist von den Häuptern der höchsten Götter, mit Zeus an der Spitze, die göttliche Krone gerissen worden; der ganze Glaube an übernatürliche, göttliche Kräfte galt fortan nur als Phantasie und Schwärmerei der Massen. Das Buch des Euhemeros wurde von dem frührömischen Tragödiendichter Ennius, der 169 v. Chr. starb, aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt. ’) Vgl. die trefflichen Worte bei Behandlung dieser Frage im vorerwähnten Buch von Murray, pp. 90-98. ') s. P. Wendland, Die Hellenistisch-römische Kultur, S. 119-121.
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III. Der religiöse Synkretismus
Kurz nach Euhemeros wurde ein fingierter Brief Alexanders des Großen an seine Mutter Olympias über den ägyptischen Glauben verfaßt, worin die Gottheiten Osiris und Isis (die mit Demeter identifiziert ist), als irdische Herrscher hingestellt werden; auch der Gott Dionysos herrscht in der Welt wie irgend ein großer König. s) Denn in dieser dritten Periode, die mit Alexander d. Gr. beginnt und mit Kaiser Augustus abschließt, (aleo von 336 v. Chr. bis 14 n. Chr. reicht), zeigt sich in der antiken Welt das energische Bemühen, die Religion zu rationalisieren, sie menschlich und human (was im Lateinischen identisch ist) zu gestalten. Die Götter und Göttinnen sind besonders ehrsame und besonders gewaltige Menschenkinder. Dhs Unmoralische in ihren Handlungen wird durch den Glanz, von dem sie in den mythologischen Erzählungen umgeben sind, und durch die strahlende Pracht der genialen Kunstwerke überdeckt. Aber schließlich war jene Religion nur für den durchschnittlich Gebildeten da. Die tiefer Denkenden konnten an ihr kein Genügen finden und wandten sich den mystischen Religionen zu. So gab es schon im sechsten Jahrhundert v. Chr. in Griechenland eine orphische Sekte67*), die in den Ekstasen ein Mittel sah, Mensch und Gottheit zu vereinen. Denn nur der Körper des Menschen ist irdisch. Wenn aber die Seele göttlich ist, kann für sie der Körper bloß ein Gefängnis sein; befreit sich durch die Eketase der Körper von seinen Unreinheiten, ist es möglich, die vollkommene Vereinigung des Menschen, d.h. der menschlichen Seele und Gottes (״Die mystische Einung” — unio mystica) zu erlangen. Die Eleusischen Mysterien, die sich auf den Tod und die Auferstehung der Gottheit gründeten, bedeuten für den Menschen eine Hoffnung, daß auch er mit dem leiblichen Tod nicht sterben werde, daß vielmehr der in die Mysterien ״Eingeweihte” auferstehe und ein seliges Leben nach dem Tode führe. Diese Mysterien verbreiteten sich nicht nur in Griechenland, sondern auch in Rom und erhielten sich bis ins vierte nachchristliehe Jahrhundert. Die vornehmsten Römer gehörten diesem Bund ·) e. ebd., S. 121. *) b. H. R. Willoughby, Pagen Regeneration, pp. 90113 ;־F. Legge, Forerunnera and Rivale of Christianity, I, S. 121-148. 7) e. darüber 'Willoughby, o.c., pp. 36-67; A. Loisy, Lee Myeteree Paiene et le Mystere Chretien, 1930, pp. 51-82.
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Das Heidentum zur Zeit der Entstehung des Christentums
an und wurden in seine Mysterien eingeweiht. Nicht bloß in diese: es gab einen Geheimdienst der phönikischen Kabire, der ״mach· tigen” Phönizier aus Samothrake, mit denen die Mysterien der Demeter und ihrer Tochter Persephone verbunden waren. Weiters gab es die großen und ekstatischen Mysterien des Dionysos-Bacchus, die bereits im Jahre 186 v. Chr. in Rom eine Sekte von 7000 Anhängern bezw. Anhängerinnen zählten, sodass der römische Senat, der darin ausschweifende und gesetzwidrige Vorgänge sah, strenge Bestimmungen gegen sie erlassen mußte.e) In all diesen Mysterien gab es ein Durcheinander plumper magischer Glaubensvorstellungen, erhabener symbolischer Handlungen und hoher sittlicher Anschauungen, die alle darauf gerichtet waren, den forschenden Geist des Menschen und sein metaphysisches Streben zu befriedigen. Durch derartige Glaubensvorstellungen wurden die Kreise der Gebildeten — und nicht nur einzelne da und dort — der heidnischen Volksreligion allmählich entfremdet und unmerklich dem Frühchristentum mit seiner Fülle an Mystik und Wundern, deren sittlicher Kern sinnfälliger und einleuchtender war, nahe gebracht. 2. Allein mit der Eroberung des Ostens durch Pompejus und Antonius drangen in das Leben der Provinzen, die das römische Imperium in seiner Glanzzeit umfaßte, immer mehr Menschen aus dem Osten — aus Kleinasien, Syrien, Palästina, Babylonien, Persien, Ägypten u.s.w. — u. zw. in alle Zweige des Lebens ein, in Literatur und Wissenschaft, als Kaufleute, Soldaten, Sklaven, Lehrer, Schriftsteller, Anwälte, Astrologen, Philosophen. Während Griechenland darniederlag und Rom durch die vielen unausgesetzten Kriege einen großen Teil seiner Söhne verlor, gewann der Orient, der eine Fülle materieller und geistiger Kräfte aufgespeichert hatte, überall, ganz besondere aber in Rom, mächtig an Einfluß.s) Zugleich mit den Einflüssen aus dem Osten fanden auch die großen orientalischen Religionen im römischen Imperium Eingang. Schon durch die Eroberungen Alexandere des Großen * 10) waren sie ja über den alten Rahmen ihrer Ursprungsländer in ·) Willoughby, o.c., pp. 68-89; Loisy, o.c., pp. 25-43; F. Cumont, Lee Religione Orientales dane le Paganisme Romain, 1929, pp. 195*204. *) 6. im einzelnen F. Cumont, o.c., 4ieme ed., Paris, pp. 1*9; G. La Piana, Foreign Groups in Rome during the First Centuries of the Empire (Harvard Theological Review, XX (1927, pp. 276281)־. 10) In Griechenland selbst bereits lange vorher; vgl, W. Nestle, o.c., S. 2832־.
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lll. Der religiöse Synkretismus
den Strudel des Lebens, in jenes Gemenge aus Griechentum und Orientalismus, das wir ״Hellenismus” nennen, eingedrungen. So setzte die mächtige religiöse Bewegung ein, die man als ״religiösen Synkretismus” bezeichnet, d.h. als Vermengung von allerlei Religionen und als Identifizierung mannigfacher Gottheiten der verechiedensten Länder und Völker. Die Polytheisten, selbst die Gebildeten unter ihnen in Griechenland und Rom, waren den Gottheiten fremder Völker gegenüber tolerant. Nur die Monotheisten — und auch sie erst seit den Zeiten der Propheten — anerkannten keinen anderen Gott außer dem Einig-Einzigen. Der Prophet Jeremia war imstande, den Götzendienern in ihrer aramäischen Sprache zuzurufen: ״Die Götter, die Himmel und Erde nicht geschaffen haben, sollen von der Erde und unter diesem Himmel vernichtet werden.” )״Ebensowenig wie Jiphtach aus Gilead 12) hat auch in Griechenland und Rom, geschweige denn im Orient, ein Heide die Existenz fremder Götter geleugnet; nur daß sie eben nicht seine Götter waren. Das griechische Volk erlaubte nicht nur den Ausländern, die in Athen wohnten, ״Bruderschaften” ( Diatsot ) zu gründen, oder ״Brudermähler” ( tnavoi ) zu Ehren ihrer Gottheiten abzuhalten, sondern es durften auch griechische Männer und Frauen sich an ״Bruderschaften” oder ״Mählern” oder ״Unterstützungen ” zu Ehren der fremden Gottheiten beteiligen. 13) Schon seit den Zeiten Herodots finden wir eine Identifizierung der Gottheiten anderer Völker und Länder mit den Göttern Griechenlands. Bereits im fünften vorchristlichen Jahrhundert wurde die phrygische Kybele mit Rhea, der Mutter des höchsten Gottes Zeus, identifiziert und als die ״große Mutter der Götter” angesehen. Im Jahre 204 v. Chr. wurde ihr Bildnis nach Rom gebracht und in der Kaiserzeit wurde ihr zu Ehren ein großes Fest voll Ekstase und Ungebundenheit gefeiert, an dem sich Römer aus allen Schichten der Bevölkerung beteiligten. In Athen gab es noch aus verhältnismäßig früher Zeit Anbeter der phönizischen Gottheiten Adon (Adonis) und Astarte (Aphro■ dite) und der ägyptischen Gottheiten Amon und Isis. In späterer Zeit )״Jer., 10, 11. I )־a. Richter, 11, 24. )״a. La Piana, o.c., pp. 283-340.
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Da» Heidentum tur Zeit der Entstehung de» Christentum»
wird ein Allgott als ״Pantheoe” (Gott aller Götter) oder ״die Allheit der Götter״) ״Pantheon )״angebetet. Selbst Isis galt schon als ״Panthea( ״Allgöttin); gerade auf sie bezieht sich folgende auffallende Wendung: ״Du Einzige, die Du alles bist, Göttin Isis״ (una quae es omnia dea Isis).1*) Denn mit dem Eindringen der orientalischen und kleinasiatischen Völker nach Griechenland und Rom fanden hier immer mehr deren Götter Eingang. Freilich zogen dort auch die Götter Galliens und Thrakiens ein, aber in der Hauptsache doch nur die Götter des Oriente. Alexander der Große selbst und seine be * deutenden Nachfolger bemühten sich, die griechischen Götter mit denen der Perser, Ägypter und Syrer zu einer Synthese zu bringen. Die Kaufleute, die gekauften Sklaven, die Gefangenen und Soldaten aus fernen Ländern brachten unbekannte und neuartige Gottheiten nach Rom, deren Wesen, wie es ihre fremden Anbeter auffaßten, sich mit den heimischen Gottheiten vermengte. So gcbrauchte man den phönizischen Baal und ägyptischen Amon synonym für Zeus-Jupiter, die phönizische Astarte und persische Anahita für die griechische Aphrodite, die ägyptische Isis für die Erdgöttin Demeter-Ceres u. dgl. Ptolemaeus 1, ordnete in Ägypten die Anbetung des Gottes Sarapis (oder Serapis) an, von dem viele glauben, daß er eine künstliche Schöpfung des Könige war, die er mit Hilfe des ägyptischen Priesters Manetho und des Thymotheus von Eleusis in politischer Absicht als eine ägyptisch-griechische religiöse Synthese geschaffen hatte.15); jedenfalls hielten die Ägypter den Sarapis für Usur-Hapi oder Osiris-Apis, d.h. für den Stier Apis, der Osiris geworden ist. Der phönizische Eschmun wurde für den großen heilenden Gott gehalten und mit Asklepios (Äsculap), dem griechisch-römischen Gott der Heilkräfte, identifiziert. Die verschiedensten Völker suchten bei ihm Rettung und Heilung von ihren Krankheiten.1e) In etwas späterer Zeit drang nach Griechenland und Rom der Dienet des parsischen Mithra, welcher der Sendbote des Lichtgottes in seinem Kampf mit dem )״s. J. Leipoldt, Sterbende und ■uferetehende Götter, S. 17. )״s. Plutarch, De leide et Osiride, 28; Tacitus, Historae, IV, 83-84; H. R. Willoughby, Pagan Regeneration, pp. 176-179; F. Cumont, Les Religione Orientales, 1929, pp. 69-75; Th. Zielinski, La Sibylle, 1924, pp. 70-75; vgl. hiezur Cumont, p. 232 gegen Isidore Levy, Sarapis, Paris 1913. '·) s. W. W. Baudissin, Adonis und Eschmun, Leipzig 1911.
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HI. Der religiöse Synkretismus
Reich der Finsternis war; diesem in weitem Maße gräzisierten Gott gelang es, in allen Schichten der griechisch-römischen Völker Anbeter zu gewinnen, ja er gelangte mit den im Römerheer dienenden persischen Kriegsscharen bis nach Panonien, Germania und Britannien. 17) Allmählich begannen die bildenden Künstler, ebenso wie die Priester und Schriftsteller, eine ganze Reihe orientalischer Götter mit griechischen und römischen zu identifizieren. Vergebens bemühte sich Kaiser Augustus um die Rückkehr zum Väterglauben, bis in seiner Zeit wirklich eine religiöse Romantik entstand, die für den altrömischen Glauben tiefe Verehrung hatte. Vergebens folgte unmittelbar auf diese Zeit die Gräzisierung des römischen Glaubens, der nunmehr durch die wunderbare äethetische Kultur, die die griechische Religion in ihrer klassischen Zeit auszeichnet, verfeinert und veredelt wurde. All dies nützte nichts. Das Mechanische, das der frührömischen Religion im Gründe anhaftet, weiters auch die Dienstbarkeit der spätrömischen, gräzisierten und romantischen Religion für die Zwecke des römisehen Kaisertums hat sie gewissermaßen ihrer ganzen Seele beraubt. So wurde der Weg für die Mysterien-Religionen frei, die insbesondere von Asien und Afrika (Syrien, Phrygien, Persien, Ägypten u.a.) herüberkamen. Ganz unbeabsichtigt und unvermerkt schmolzen die neuen Götter mit den alten heimatlichen, die man aus Anhänglichkeit an die Tradition der Väter auch weiterhin verehrte, in eins zusammen. So z.B. verschmolz die ägyptische Isis mit Demeter, Hera, Aphrodite, Athene, Nemesis und Tyche; die phrygische Attis-Kybele mit Rhea, der Mutter des Zeus; der ägyptische Osiris mit Dionysos, Attis und Adon; der ägyptische Sarapis mit Asklepeios, Dionysos, Helios, Pluton und sogar mit Zeus; der persische Ahura-Mazdah mit Zeus und Herakles; die persische Anahite mit Aphrodite und Artemis (Diana); der parsische Mithra mit Apollon und Helios (Sol). Auf verschiedenen InSchriften finden wir ein vollständiges Durcheinander von allerlei Gottheiten — einen religiösen Synkretismus in seiner ausgeprägtesten Form; so z.B. werden auf einer Inschrift des Antiochus, ”) e. F. Cumont, Les Myeteree de Mithra, 3ieme ed., Paris 1913, derselbe. Les Religions Orientales, pp. 129-149; Willoughby, o.c., pp. 143-168; G. Kittel, Die Religionsgeschichte und das Urchristentum, 1933, S. 28; A. Loisy, o.c., pp. 157-198
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Könige von Komagene (dem alten Kumuch, an der Grenze von Syrien und Parthien) Apollon, Mithra und Helios in einem Atem genannt. 18) Es gibt auch eine Inschrift, die dem Zeus, Helios und Sarapis gleichzeitig geweiht ist.19) Auf diese Weise verwischte sich das klare und bestimmte Bild sowohl der meisten orientalischen als auch der meisten griechisch-römischen Götter. Der Hohepriester der Kybele trug auf seiner Stirn ein Medaillon des Attis und auf seiner Hand eines des Zeus; der Baal der Stadt Doliehe in Syrien (Jupiter Dolichenus) wurde als Zeus-Jupiter dargestellt, über seinem Haupt Nike, die Siegesgöttin, mit dem Kopf des Sonnengottes Helios, unter 6einen Füßen die ägyptische Isis mit dem Musikinstrument (sistrum) und noch andere Gottheiten.20) Dies ist vollständiger Synkretismus: Götter und Göttinnen verschiedener Völker und Religionen werden durcheinander gebracht und wohnen friedlich und nachbarlich beisammen. 21) Aber zweifellos wurde infolge dieser Vermengung der Religionen und Gottheiten ihre absolute Bedeutung und die wahrhafte Ehrfurcht vor ihnen zunichte gemacht. Alles war schwankend und verschwommen, ohne bestimmte und deutliche Linien. So trug der religiöse Synkretismus dazu bei, daß das Judentum und nachher das Christentum den Heiden die Nichtigkeit ihrer Götter und Religionen aufzeigen und diese selbst ganz beseitigen konnten.22) 3. Allein dies ist nur die eine, rein negative Seite des Einflusses, den der religiöse Synkretismus ausübte: daß die Heiden zuerst das Judentum und schließlich das Christentum annahmen. Indes hatte er auch einen positiven Einfluß - allerdings bloß auf das Christentum. Die orientalischen Götter, zumal die in Griechenland und Roin am meisten verbreiteten, sterben und erstehen wieder zum Leben. So Osiris in Ägypten, so Adonis in Phönikien, so Attis in Phrygien. Auch der babylonische Baal-Bel-Marduk stirbt und ersteht wieder zum Leben: er wird festgenommen, verurteilt, gegeißelt und zugleich mit einem Verbrecher hingerichtet, während ein anderer Verbrecher freigelassen wird. Ein Weib reinigt den Gott, der offenbar von einer Lanze oder einem Speer durchbohrt worden 18) 19) ϊ0) F. 21) 22)
6. Dittenberger, Orientis Graeci inscriptiones selectae, I, No. 383f. s. Corpus inscriptionum Graecarum, No. 4262. s. P. Wendland, o.c., S. 434f; G. Kittel, o.c., S. 34f. (samt Abbildungen); Cumont, Les Religione Orientales, pp. 104 *107 (und Abbildung 7). s. //. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, II, 2. 803. P. Wendland, o.c., S. 131.
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III. Der religiöse Synkretismus
ist, vom Blut, das aus seinem Herzen strömt. Er befindet sich im ״Berg״, d.h. in der Unterwelt, wo er verborgen wird. Eine klagende Göttin sorgt um ihn. Schließlich kehrt Bel-Marduk lebend aus dem Berg (der Unterwelt) zurück. 23) Osiris wird von seinem Bruder Seth Typhon getötet; dieser verschließt den Leib in einen Sarg, der in den Nil versenkt wird. Isis, die Gemahlin des Osiris, findet den Sarg in der Nähe der phönikischen Stadt Biblos und schafft ihn nach Ägypten. Aber hier fällt der Sarg dem Bruder in die Hände; dieser zerstückelt den Leib des Osiris in 14 (oder 16) Teile und verstreut sie in alle Richtungen, Indes Isis findet und sammelt sie. Nun ist es aber nicht möglich, daß Osiris als der Sonnengott nicht wieder auferstehen sollte: stirbt doch die Sonne täglich im ״Obern Ozean״, dem Himmel, und erhebt sich jeden Morgen zu neuem Leben. Der tote Leib des Osiris schwimmt an die Oberfläche des Nils und kehrt ins Leben zurück — infolge des Untertauchens (der Taufe) in den Fluten des Nils. 24) Der phönikische Adonis ist ein schöner Jüngling, der Geliebte der Astarte (Aphrodite, Venus). Einmal verwundet ihn auf der Jagd ein wütender Eber (oder Bär) tätlich. Adonis stirbt in den Armen der geliebten Astarte, die seinen Tod beweint. Zur Erinnerung an ihn dienen die sogenannten ״Gärten des Adonis”, Scherben oder durchlöcherte Blumentöpfe, in die man Pflanzen einsetzt, die rasch aufblühen, aber auch sehr bald welken. 25) Das sind die ״Zierpflanzen ״der Bibel, die ״am Tage der Pflanzung aufblühen״, aber nicht bis zur Ernte gedeihen: ״Dahin ist die Ernte am Tage des Einbringens und der Schmerz eines Betrübten ist sie.” 26) Adonis ist der babylonische Tamus, den ״die Frauen beweinen27,)״ ebenso wie Astarte um ihren geliebten Adonis2B) weint. Auch der phrygische Attis stirbt und ersteht wieder zum Leben. )נ־s. J. Leipoldt, Sterbende und auferstehende Götter, Leipzig-Erlangen 1923, S. 9. 24) s. A. Moret, La mise ä mort du dien en Egypte, Paris 1928, pp. 14-19; Th. Zielinski, La Sibylle, pp. 67"75; H. Gressmann, Tod und Auferstehung des Osiris, Leipzig 1923 (Der Alte Orient, XXIII, 3). ־s) s. J. Klausner, Zierpflanzen (hebr. im Gedenkbuch für A. Z. Rabbinowitz, Tel-Aviv 1924, S. 10-14). =·) Jesaja, 17, 10-11. 2,) Ezechiel, 8, 14. Ie) s. W. Baudissin, Adonis und Eschmun, 1911. S. 430ff.; J. Leipoldt o.c., S. 17-24; eine andere Legende bei Th. Zielinski, La Sybille, pp. 70-86.
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Das Heidentum zur Zeit der Entstehung de» Christentum!
Er ist ein schöner Hirte, in den eich Kybele, die ״große Mutter der Götter”, verliebt. Er betrügt sie und schenkt seine Liebe einer Nymphe. Diese wird von Kybele aus Eifersucht getötet. Das treibt Attis zum Wahnsinn, er entmannt sich und stirbt. Aber er wird von neuem lebend: die liebende Kybele beweint ihn und erweckt ihn wieder, wie wir den ״Mysterien des Attis” entnehmen, die uns von einem zum Christentum übergetretenen Heiden, Firmicus Maternus. (4. Jahrh. n. Chr.) überliefert sind. Auch auf Münzen haben sich Darstellungen vom Auferstehungsfest des Attis erhalten. 29) Der griechische Gott Dionysos, der, wie es scheint, thrakischen Ursprungs ist, aber durch die weite Verbreitung in Kleinasien, Syrien, Ägypten und Susa ״halborientalische Züge” angenommen hat, 30) stirbt gleichfalls und ersteht wieder zum Leben. Orpheus, der zu Dionys verwandtschaftliche Beziehungen hat, steigt lebend in die Unterwelt und kehrt von dort zurück. Einer Legende nach wird er von wahnsinnigen und rasenden Weibern in Stücke gerissen oder vom Blitz des Zeus getütet. 31) In einem Gedicht des Kallimachos aus Kyrene und dem eines späteren Dichters, der dies im Namen des uralten Epimenides überliefert, lesen wir, daß die Kreter 32) sogar ein Gebäude über dem Grabe des Zeus selbst erbaut haben, als ob auch er gestorben wäre — wofür die beiden Dichter die Kreter tadeln. 33) Die Anschauung, daß ein Gott sterben und wieder auferstehen könne, bestand also Hunderte von Jahren vor der Entstehung des Christentums und war noch zur Zeit seiner Entstehung in der heidnischen Welt verbreitet. Das ist auch nicht verwunderlich. In der polytheistischen Mythologie ist ja Gott oftmals ein Mensch, der Gott geworden ist, oder ein Gott, der Mensch wird. Der Gott Apollo, der Sohn des Zeus, wurde Mensch (Sklave des Admetos), um dadurch einen begangenen Mord zu sühnen. Nachdem er ein Jahr lang Sklavendienst geleistet hatte, stieg er zum Himmel empor und blieb seither 2,) β. H. Graillot, Le culte de Cybele, Parie 1912; Cumont, o.c., pp. 43-68; Willoughby, o.c., pp. 114-142; Loisy, o.c., pp. 83-120. a0) s. Cumont, o.c., pp. 195f. ־l) s. Willoughby, o.c., pp. 108-112. ,2) Ob es sich hier um die biblischen Kretim ( □'ΓΠ3 ) handelt, ist schwer zu entscheiden. Eher ist anzunehmen, daß damit das biblische Kaphtor ( "11Π23 } gemeint ist, (s.o. I. Buch, 2. Kap., Anm. 20.) ”) s. Leipoldt, o.c., S. 4.
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III. Der religiöse Synkretismus
dem Throne des Zeus nahe. Hinwiederum ist Herakles, der Sohn des Zeus und der Königstochter Alkmene, der Frieden und Ruhe der Welt brachte, ein Mensch, der zum Lohn für seine großen und edlenTaten ein Gott wurde. 34) Einer Legende nach war Plato der Sohn der Periktione, mit der sich vor ihrer Vermählung mit ihrem Gatten Ariston der Gott Apollo in höchsteigener Person vereint hatte. 35) Danach wäre Plato ein Sohn Gottes und gleichzeitig ein Weibgeborener — genau so wie Jesus. Aber die Heiden kannten nicht nur einen Gott, der stirbt (getötet wird) und wieder aufersteht, sondern viele ihrer Religionen versprachen auch dem Menschen, der dem Gott anhängt und sich ihm weiht, die Auferstehung nach einem qualvollen Tod. Den ״Mysterien des Attis" zufolge, die uns Firmicus Maternus überliefert, muß derjenige, der ein μνατης , ein ״Geweihter״ des Attis werden will, d.h. der sich selbst dem toten und wieder auferstandenen Gott Attis zu weihen gedenkt, zu dessen. Heiligtum kommen und wird dort in einer finsteren Höhle ״getötet״, d.h. bis zum Hals in den Boden versenkt, worauf der Chor in der Finsternis Klagelieder über den Getöteten anstimmt, bis plötzlieh die Höhle von einem großen Licht erleuchtet wird und der Priester mit tiefer Stimme ruft: ״Seid stark und fest, ihr Geweihten: der Gott ist gerettet; nach den Qualen kommt für Euch das Heil״. So wird der Geweihte, der ja ״Mensch ״ist, in der Stunde der Einweihung zum Gott Attis und, wie dieser selbst, gepeinigt, getötet und wieder lebendig. ״Er ist zu einem ewigen Leben wie * dergeboren”, wie die Inschriften besagen (in aeternum renatus).3*) Mehr als das! Wir haben verschiedene Nachrichten darüber, daß man Gott als Sühnopfer für das Volk und seine Sünden darbrachte; nur daß er, da er ja ein Gott ist, wieder auferstand.37) Man kann gewiß auf keinen Fall der Meinung zustimmen, daß Jesus niemals gelebt habe und nur das Gespinst heidnischer Legenden von einem Gott sei, der getötet wurde und auferstanden s4) s. Zielinski, o.c., pp. 19-24. 35) Diese Legende führt Origenes an (irrtümlich nennt er Platos Mutter Amphiktione),um damit die Möglichkeit des Glaubens zu erweisen, daß Jesus ein Sohn Gottes und einer von Menschen stammenden Jungfrau gewesen ist (Contra Celsum, I, 37) ”) s. Willoughby, o.c., pp. 132-141; Cumont, o.c., 64-68; Loisy, o.c., pp. 104-112; Zielinski, o.c., pp. 81-85. ”) Vgl. hiezu E. Dujardin, Le Dieu Jesus, Paris 1927, pp. 81-214 (Der wesentliehe Inhalt des Buches hält freilich der Kritik nicht stand).
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ist. Die Unterschiede in den Erzählungen von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu gegenüber den Legenden von Tod und Auferstehung der heidnischen Götter sind so mannigfach und bedeutend, die Wahrscheinlichkeit, daß der römische Statthalter über jemanden, der sich selbst für den Messias ausgab, den Kreuzestod verhängte, ist so groß und der Glaube an die Auferstehung der Toten unter den Juden zur Zeit des Zweiten Tempels derart verbreitet, daß alle diese drei Momente uns zur Annahme zwingen, das Schicksal Jesu keinesfalls für ein bloßes Abbild der Schicksale des Osiris, Attis, Adonis, Mithra u.a. zu halten. se) Demgegenüber unterliegt es keinem Zweifel, daß ohne den allgemeinen, wenn auch unbestimmten und entfernten Einfluß jener heidnischen Legenden niemals aus dem! jüdischen Messias der christliche Sohn Gottes geworden wäre, der, trotzdem er am Kreuz gestorben und als Gehenkter zum Fluch Gottes geworden ist, in den Visionen seiner Anhänger wieder auferstand, und nicht nur Christus, der Erlöser, sondern auch Gott-Vaters einziger Sohn wurde, der, vom Heiligen Geiet gezeugt, aus dem finsteren Grab auferstand und in allem Gott-Vater gleicht... . 4. Die gewaltige Umwandlung, die der jüdische Messias durch das Christentum erfuhr, hatte aber noch eine andere Ursache. Wir sahen bereits oben, daß ein Mensch zu einem Gott oder Gottessohn werden, und sogar ein Gottessohn sein und dabei Mensch bleiben könne: Herakles ist ein Gottessohn und ein Weihgeborener, der bis zur Stufe der Gottheit emporsteigt, auch Platon ist ein Gottessohn und ein Weibgeborener, der aber auf der Stufe des Menschen bleibt. Indes kannte der Orient, insbesondere Ägypten, die Vergottlichung der Könige schon seit sehr früher Zeit.se) Der ägyptische **) s. Leipoldt, o.c., S. 51-81. )״Vgl. dazu £. Lohmeyer, Christuskult und Kaiserkult, Tübingen 1919; L. Μ. Sweet, Roman Emperor Worship, Boston 1919; L. R. Tailor, The Divinity of the Roman Emperor, Middleton, Conn., 1931; J. Toutain, Les cultes paiena dans l'empire Romain, I (1911), 19-179; P. Wendland, Hellenistisch-Römische Kultur, S. 123-127, 143, 146-152; C. Clemen, Religionsgeschichtliche Erklärung des Neuen Testamente, S. 29-31; A. Deißmann, Licht vom Osten, 4. Aufl., Tübingen 1923, S. 287324 ;־C. Toussaint, L’Hellenisme et l’Apötre Paul, Paris 1921, pp. 136-139; Willoughby, o.c., pp. 15-18; La Piana, o.c., HThR, XX, pp. 282-285; Μ. P. Charleworth, Some observatione on Ruler-Cult, HThR., XXVIII (1935), pp. 5-44; W. Schubart, Die religiöse Haltung des frühen Hellenismus, Leipzig 1937 (Alter Orient, XXXV, 2), S. 15-19; J. Carcopino, La vie quotidienne ä Rome, 1939, p. 74.
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1Π. Der religiöse Synkretismus
Pharao war die Verkörperung der Gottheiten Amon, Ra u.a.; die griechischen Könige aus dem Hause der Ptolemäer, die in Agypten herrschten, nahmen von den Ägyptern diese göttliche Verehrung an. Auch der Perserkönig forderte für seine Person göttliehe Verehrung und alle, die vor ihn traten, mußten sich vor ihm wie vor einer wirklichen Gottheit verbeugen. Von den Persern übernahm Alexander der Große nach seinem Siege über Darius III, diese Art der Verehrung; als Alexander nach Ägypten kam, verlangte er, auch hier als Sohn des Zeus-Amon anerkannt zu werden. Erwiesen ihm doch echon lange vorher die Griechen der jonischen Inseln göttliche Ehren. Die Ptolemäer wandelten also nicht nur in den Spuren der Pharaonen, der ehemaligen ägyptischen Könige, sondern auch in denen des großen Griechenkönigs, von dessen Weltreich sie einen Teil erbten. Ptolemaeus 11. Philadelphus führte sogar den Kult der ״göttlichen Geschwister” ( &foi άδίλφοί ) ein: er und Arsinoe, seine schwesterliche Frau, waren gewissermaßen Zeus und Hera, Apollo und Artemis. Die Titel der Herrscher aus dem Hause der Ptolemäer waren solche wirklicher Gottheiten: Αωττ/ρ — der Erlöser, Εύιρ/ίτης — der Gnadenreiche und auch ’Επιφανής — der auf der Erde sich offenbarende Gott. Das Nämliche gilt auch für die Seleukiden. Einer hieß ״Der Erloser”, ein anderer ״Der sich Offenbarende”. Seleukos I. wurde mit dem ״siegenden Zeus” (Nikator) identifiziert, Antiochus I. mit dem ״Erlöser Apollo” (Soter). Der Titel Antiochus des II. war schlechthin ״Gott” ( ). Auch der Titel Antiochus des IV., der in der jüdischen Geschichte so blutige Spuren hinterließ, war der des ״Epiphanes”, was soviel bedeutet, wie ein Gott, der in fleischlicher Gestalt erscheint. Genau so wurde später Jesus vom Christentum bezeichnet. Von all diesen übernahmen die römischen Kaiser die ״Apotheose”, d.h. die Vergöttlichung. In Rom flössen drei Elemente in Eins zusammen. Der römische religiöse Kult der ״Lares patrii” und der ״Lares domestici” mußte sich nur noch mit dem ״Genius” des Imperators verbinden, damit die ״Lares Augusti” — der orientalische Herrscherkult und der griechische Kult aus den Zeiten Alexanders d.Gr. und seiner Nachfolger — daraus entstehen. Hat man doch noch den Gracchen und dem Marius, der Rom von den Teutonen und Kimbern gerettet 115
Das Heidentum zur Zeit der Entstehung des Christentums
hatte, göttliche Ehren erwiesen und dem Konsul Marius Gratidia· nus Standbilder mit brennenden Lichtern und Räucherwerk davor errichtet. Betreffs Julius Caesars besteht unter den Gelehrten eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob ihm noch zu Lebzeiten oder erst nach dem Tod göttliche Ehren erwiesen wurden. 40) Jedenfalls glaubte das römische Volk nach dem Tod Julius Caesars ganz allgemein, daß er zum Himmel aufgestiegen und ein Gott geworden sei; mit Senatsbeschluß vom Jahre 42 v. Chr. wurde er zum ״göttliehen Julius” (Divus Julius) erhoben. Octavianus, sein Verwandter und Nachfolger, begann seit 40 v. Chr. sich selbst ״divi filius״ (Sohn des Göttlichen) zu nennen. Im Jahre 27 v. Chr. erhielt er den Beinamen Augustus oder , ״der Heilige״, wodurch er über alle Sterblichen erhoben und zu einer Gottheit oder fast einer Gottheit gemacht wurde. Sowohl zu seinen Lebzeiten als auch nach seinem Tode pflegte man bei seiner Göttlichkeit zu schwören, sein Standbild war Schutz- und Zufluchtstätte für alle, die sich zu ihm retteten, und sämtliche Angehörigen seiner Familie wurden dem ״göttlichen Haus” (domus divina) zugezählt, sodaß er wie ein Gott angesehen wurde, der an Bedeutung Jupiter glich. 41) Selbst nach einem Ausspruch des Philosophen Seneca ist Kaiser Augustus einer, ״der geweiht ist, weil er von Göttern gezeugt wurde und Götter zeugen werde” (qui dis genitus et deos geniturus di· catur). 42) Sein Nachfolger Kaiser Tiberius nahm für sich keine Göttlichkeit in Anspruch. Aber Caius Caligula, der sich anfangs den ״Helden” gleichsetzte, die es zum Rang von Gottheiten gebracht hatten, wie etwa Herkules, identifizierte sich später mit wirklichen Göttern, z.B. Merkur und Apollo, und nannte schließlieh Jupiter Capitolinus, den höchsten Gott Roms, seinen ״Bruder”. 43) Alle Völker des großen römischen Kaiserreiches errich40) Vgl. im einzelnen Μ. P. Charleworth, HThR., XXVIII (1935), 22-26. Doch hat ■ich bereit■ eine Inschrift vom Rathaua in Ephesoa aua dem Jahre 48 v. Chr. erhalten, in der Julius Caesar ״der von Ares und Aphrodite (stammende) Gott, der (auf Erden) erschien und der Allerlöser des menschlichen Leben■ iat”, genannt wird. (Dittenberger, Sylloge, 3. Aufl., No. 760). 4,) a. Charleworth, a.a.O., S. 29-30; manchmal wird er ״Gott” ( Dtöf ) und ״Erlöser” ( nuirtjo ) in einem Atem genannt. Auch besitzen wir einen Papyros, in welchem bei ״Caesar, dem Gott, der von einem Gott stammt” ( χαίααρ [er] Dtov Ix Dtoü ) geschworen wird, d.h. Auguatus Caesar ist ein Gott und stammt von einem Gott. (Vgl. A. Deißmann, Licht vom Osten, S. 292). )״a. Seneca, Ad Marciam XV, 1. 4*) a. Josephus Flavius, Jüdische Altertümer, 19, 1, 1, §4.
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teten ihm zu Ehren Tempel und Altäre, brachten ihm, wie einer wirklichen Gottheit, Opfer und Räucherwerk dar. Alle Völker, mit Ausnahme der Juden! Als die Gesandtschaft aus Alexandrien ihm erzählte, daß die Juden in ihrem Heiligtum zu Jerusalem Opfer für ihn darbringen, sagte er: ״Dies alles mag wahr sein: ihr opfert; aber einem andern als mir. Was nützt es, wenn ihr nicht mir opfert?” 44) Die Kaiser Nero und Domitian forderten für ihre Person göttliehe Verehrung, und der Senat mußte sie zu Göttern erheben. Als Nero aus Griechenland heimkehrte, empfingen ihn die Senatoren mit dem Ruf: ״Nero-Herakles!”, ״Nero-Apollo!” Auf Grund eines Senatsbeschlusses wurde sein Standbild im Tempel des ״rächenden Mars” aufgestellt und im Jahre 67 wurde der Vorschlag gemacht, sogar ein besonderes Heiligtum für den ״göttliehen Nero” (Divo Neroni) zu errichten.45) Vespasian und sein Sohn Titus wurden erst nach ihrem Tode zu ״Gottheiten” erhoben. Aber Kaiser Domitian, der Sohn des ersteren und Bruder des letzteren, verlangte, dass man seine Göttlichkeit zu Lebzeiten anerkenne: er forderte, als ״Herr und Gott” (Dominus et deus) angesprochen zu werden, was genau dasselbe ist wie das griechische κύριος oder das christliche ״Herrgott”.4®) Im Jahre 94 n. Chr. schwor ein Soldat in Ägypten bei ״Jupiter, dem Größten und Besten”, und beim ״Genius des heiligsten Kaisers Domitian”; es war bereits Brauch, Weinspenden und Räucherwerk vor seinem Standbild darzubringen. 47) Μ. P. Charleworth 4®) bemüht sich nachzuweisen, dass es letzten Endes auch nicht einem Kaiser gelungen ist, die Stelle einer wirklichen Gottheit einzunehmen; die Götternamen, mit denen sich einzelne Kaiser schmückten, seien nichts anderes als eine Betonung der Heiligkeit des Staates und der Ehrfurcht vor dem vergöttlichten ״Reich”. Vielleicht ist etwas Wahres dran. 44) Philo, Gesandtschaft an Caius, §45 (Cohn-Reiter, VI, §357). 4,) In einer griechischen Inschrift wird Kaiser Nero sogar der ״gute Gott” ((hoff ά/α&ός ) genannt! (A. Deißmann, o.c., S. 293f). 4·) Aber schon Kaiser Nero wurde ״Nero der Herr” (ΛΓίρωι ׳i κΰρως) und sogar ״Nero Herr” ohne Artikel (Ν^ίρωι! κύριος) geradezu wie Χριβτύς κύριος genannt! (Deißmann, a.a.O, S. 301). 47) 5. Charleworth, o.c., pp. 29, 32-35. 4,) Im zitierten Artikel (HThR, XXVIII, 1935, 4-42); 8. auch Carcopino, o.c.
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Dai Heidentum zur Zeit der Entstehung des Christentums
Aber die überaus zahlreichen Inschriften, in denen die Kaiser als ״Gott”, ״Gottessohn” und ״Erlöser” bezeichnet werden, die Standbilder und Monumente, die man ihnen zu Ehren errichtete, die Weinspenden, die vor ihren Bildnissen geopfert, das Räucherwerk, das ihnen dargebracht wurde — all dies beweist, daß in Rom, genau so wie im alten Ägypten und dem Ägypten der Ptolemäerzeit, die Vergöttlichung eines Menschen, der Kaiser geworden war, wirklich existierte. Selbst wenn Vespasian erst nach dem Tode zu einem göttlichen Wesen (divus, & *ίος ) gemacht wurde, 60 war doch sein Sohn Domitian ein ״Sohn Gottes”, ebenso wie sich bereits Kaiser Augustus Sohn Gottes ( 9tov νίός , divi filius) nannte. 49) Ist es denkbar, daß alle diese Bezeichnungen ״Herr und Gott”, ״Sohn Gottes”, ״Der (auf Erden) sich Offenbarende” und ״Erloser”, die im Orient50) verbreitet waren und auch in Rom in Schwang kamen, ohne Einfluß auf die Bezeichnungen blieben, die Paulus und seine Nachfolger dem jüdischen Messias beilegten, insbesondere nachdem man im Judentum gewisse Anhaltspunkte dafür gefunden hatte, z.B. die Bezeichnung für Gott: ״Unser Vater im Himmel” und ״Mein Vater im Himmel” oder Wendungen, die eich nach sehr alter Deutung auf den Messias beziehen: ״Mein Sohn bist Du, heute habe ich Dich gezeugt”? sl) Hier vermengte sich der griechisch-römische Einfluß mit der jüdischen Überlieferung. So wurde der spezifisch paulinische Begriff — und auch der etwas spätere — vom Messias Jesus als dem ״Sohn Gottes” ( 9tov νίός, filius dei) und dem ״Herrgott” ( &ιος κύριος dominus deus) angenommen. 5. Die Macht der neuen aus Asien und Afrika eingeführten Mysterienreligionen bestand darin, daß sie einem großen seelischen Bedürfnis jener Zeit entgegenkamen. Die friihheidnische Religion, insbesondere die griechische seit der Zeit des Pisistratus, war rationalistisch, bar jeder Mystik und gleichzeitig Stadt- und Staatsreligion. Noch politischer orientiert*·) *·) Th. Zelinski, Soperniki Christianstwa, Petersburg 1907, S. 72-77. >0) Das ging sogar so weit, daß auf zwei ägyptischen Inschriften, die wir besitzen. Menschen, die keine Könige waren, als {ϊίός καί κύριος (Gott und Herr) bezeichnet wurden (vgl. DeiBmann, o.c. S. 309, Anm. 7) ■ )״. dazu J. Klausner, Jesus von Nazareth, 2. Aufl., S. 524-526.
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III. Der religiöse Synkretismus
war die frührömische Religion: eie kümmerte sich weit mehr um das Wohl der Allgemeinheit, als um das seelische Heil des Einzel * nen. Aber in der Epoche, um die es sich hier handelt, hatte jener allgemeine Glaube an Kraft eingebüßt. Wie in jedem Zeitalter sozialer Entwicklung, in welchem die Stammesbindungen allmählieh schwächer werden und die alten festgefügten Satzungen und Bräuche zerfallen, trat auch damals das Individuum mit dem Anspruch hervor, daß seinem persönlichen geistigen Bedürfnis Genüge geschehe.52) In jenem romantischen Zeitalter der antiken Welt, das mit der Entwicklung und den ersten Fortschritten des Christentums zusammenfiel, begann das Individuum die Erlösung seiner Seele zu suchen. Von der Religion forderte man die Erlösung des Einzelwesens an Stelle der Erlösung der Allgemeinheit; das Individuum sonderte sich unmerklich vom Staat ab, der Einzelne forderte die Errettung aus körperlicher und seelischer Not. Darum mußte Gott vor allem ein Erlöser ( σωη/ρ ) und der Glaube in erster Reihe ein Erlösungsglaube ( σωτιρία) sein. Die orientalischen Mysterienreligionen versprachen dem heidnischen Menschen solches Heil und solche Erlösung von den Leiden, insbesondere von der Sünde.
Denn gerade jene Religionen sicherten dem Menschen die Überbrückung des Abgrundes zwischen sich und der Gottheit zu, das vollkommene Einswerden von Mensch und Gott; der Mensch konnte zur Stufe der Gottheit emporsteigen und wie diese sündenlos und unsterblich werden. Das ließ sich durch Verzückungen oder Ekstasen erreichen, durch eine ״nüchterne Trunkenheit”, um den trefflichen Ausdruck Philos zu gebrauchen, durch die dem Priester oder dem ״Eingeweihten” eine Offenbarung zuteil wird: eine persönliche Beziehung zur Gottheit. Aber derartiges war auch durch ״das heilige Mahl” zu erlangen, bei dem der Eingeweihte eine ״heilige Speise”, also gleichsam die Gottheit selbst, verzehrt und dadurch zur Gottheit wird. Solche ״heilige Mähler” sind uns als der eigentliche Kern der Mysterien des Dionys )־־Uber den Einfluß der großen Veränderungen, die das politische und soziale Leben der Römer auf die innere Wandlung der römischen Religion hatte, vgl. die trefflichen Worte 'Wilhelm Webers in seinem Buch ״Der Prophet und sein Gott. Eine Studie zur vierten Ekloge Vergils”, Leipzig 1925, S. 31-48, 138f; s. auch Carcopino, o.c., pp. 147-167.
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Dai Heidentum zur Zeit der Entstehung des Christentums
Bacchus, des Attis, des Mithra und der Isis bekannt. Durch den Genuß heiliger Speisen und Getränke, die etwas von der göttlichen Natur enthalten, zieht der Mensch höhere, übernatürliche Kräfte in sich ein. Die Mahlzeiten werden in der ״Gemeinschaft ״eingenommen (im obenerwähnten θίασος oder tQavv·— lateinisch ״colle· gium” oder ״sodalitas”) welche die Mitglieder für Zwecke der Bestattung (vgl. die jüdische ״Chewra Kadischa”) und des Gottesdienstes vereinigte und zu einer heiligen, geheimen und mysteriö·en Gemeinschaft machte. Hier haben wir eine Erscheinung vor Uns, die bestimmt nicht ohne Einfluß auf das letzte ״Abendmahl״ Jesu hat bleiben können. Dieses war meiner Meinung nach nichts anderes als das Sedermahl am Pessachfest, an dem ׳das Pessachfleisch und vier Becher Wein genossen werden53), das aber unter dem Einfluß des heidnisch-mystischen ״heiligen Mahles ״eine andere Form, nämlich die eines Festmysteriums, annahm, was von der jüdischen Form, die festlich, aber ohne Mysterium ist, sehr abweicht.
Um in die ״Gemeinschaft” aufgenommen zu werden, war ein Tauchbad unerläßlich. Das wissen wir zumindest von der Religion der Isis und der des Mithra ganz genau. Es sollte nicht nur die Bedeutung der körperlichen, sondern auch der sittlichen Reinigung haben. In diesem Sinne ist das Tauchbad der heidnischen Mysterien dem des Judentums verwandt, mit dem seit den Tagen des Propheten Ezechiel die eeelische Reinheit verknüpft war: ״Ich werde über euch reines Wasser gießen, und ihr werdet von allen euren Unreinheiten gereinigt sein. Ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres54 . )״Zur Zeit des Zweiten Tempels maß man dem Tauchbad bei den Essäern besondere Bedeutung bei; bei der Aufnahme von Proselyten wurde das Tauchbad gewöhnlich mit der Beschneidung zugleich vorgenommen und bei Proselytinnen, bei denen der Brauch der Beschneidung entfällt (es gibt allerdings Völker auf der Erde, die nicht nur die πίριτομή, sondern auch die ΐχτομή kennen), war das Tauchbad die einzige religiöse Handlung, durch die sie sich von den heidnischen Unreinhei-
**) a. im einzelnen J. Klausner, Jeaua von Nazareth, 2. Aufl., S. 448-453. ·4) Ezechiel, 36. 25-26; a. I. Scheftelowitz, Die Sündenvergebung durch Waaaer, Archiv für Religionawiaaenachaft, XVII, S. 353ff.
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Hl. Der religiöse Synkretismus
ten loslösten.56) Auch hier wußte das Christentum die pharisäischessäische Anschauung des Judentums von der Bedeutung des Tauchbades mit der mystisch-heidnischen Ansicht von dessen reinigender und neu erzeugender Kraft zu vereinigen. So kommt es, daß das Tauchbad (Taufe) im Christentum eine weit größere Bedeutung gewann, als es im Judentum gehabt hatte. Unter den ״Einweihungs”-Zeremonien der phrygischen Kybele (ebenso denen der Göttin Ma-Bilonah) gab es den absonderlichen Brauch des sogenannten ״Tauro-bolion” (ταυροβόλιον) oder ״Kriobolion” ( χηιο^όλιομ ). Einer von den Verehrern der Göttin (in der uns vorliegenden genauen Schilderung56) ist es ein Priester oder gar Hohepriester) stieg in eine Grube, die mit stark durchlöcherten Balken zugedeckt wurde, auf diesen stand ein goldbebänderter Stier, dessen Brust mit der heiligen Lanze aufgestoßen wurde; der Mann in der Grube fing das warme Blut, das durch die Löcher einsickerte, mit Gesicht und Kleidern auf, sodaß damit Bart, Ohren, Augen, Nase, Lippen, sogar die Zunge benetzt wurden. Auf solche Weise wurde er gleichsam gereinigt und erstand wieder zu neuem Leben, zu dem eines Gott-Menschen.67) Was Attis betrifft, war bereits oben davon die Rede, daß der ihm Geweihte sozusagen das Los des Gottes selbst über sich ergehen lassen mußte, seinen unnatürlichen Tod (oder seine Verstümmelung) und seine Auferstehung.68) Das Gleiche gilt von den Mysterien des Osiris und Adonis.69) Es müßte meiner Überzeugung nach seltsam zugegangen sein, wenn jene heidnischen Bräuche, deren vielleicht nur fernes und schwaches Echo von den Heiden zu den ersten Christen gedrungen ist, den Glauben nicht beeinflußt hätten, daß sich das vergossene Blut Jesu, das zunächst nichts anderes war als das ״Blut des Bundes” in der Thora60) oder das ״Blut der Gerechten”, die im späteren**)
)״Gegen die Ansicht ▼ on S. Zeitlin (HUCA, I. 1924 S. 357-363), der d■■ Tauchbad in die Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels ▼erlegt, siehe J. Klausner, a.a.O., S. 277334-337 ,280־. Vgl. auch oben 1. Buch, 3 Kap., Anm. 35. M) Die genaue Schilderung ist die des Prudentius Peristephanus, S. 1006-1050. )״s. Cumont, o.c., pp. 63f; Loisy, o.c., pp. 112-120; Willoughby, o.c., pp. 129-132 )״Vgl. oben S. 113. **) s. P. Wendland, o.c., S. 155. ·*) Exodus, 24, 5-11.
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Dat Heidentum zur Zeit der Entstehung des Christentums
Schrifttum11) das ״Sühnopfer Israels” genannt werden, in ein Mysterium verwandle, nach welchem die Jünger den Leib Jesu ״verzehren” und das Blut Jesu ״trinken”, die er als ״Sühne für viele” gegeben hat. ®2) * ¥ *
Die damalige heidnische Welt, sowohl die des religiösen als auch die des politischen und wirtschaftlichen Lebens, war allenthalben in einem Zustand der Zerrüttung und befand sich sozusagen auf der Suche. Man sehnt sich nach dem Vergangenen und Alten; dabei fühlt man ganz genau, daß es nicht mehr wiederkehren werde. Was aber die Gegenwart bietet, befriedigt den Geist nicht. Er lechzt nach Erlösung von Tod und Sünde. Die landläufige, überlieferte griechisch-römische Religion kennt aber keinen Gott, der einen erlöst und von der Unterwelt befreit. Diese Religion ist rationalistisch und national-politisch beschränkt: sie ist sozusagen allzu diesseitig. Darum etrebt und sucht die heidnische Welt zur Zeit des Paulus nach neuen Wegen im Glauben. In ihrer Bedrängnis wendet sie sich dem Osten zu, der Griechenland und Rom an Kultur und Religiosität um Tausende von Jahren voraus war und seit den frühesten Tagen der Menschheit uralte Weisheit und mystisehen Glauben aufgespeichert hatte.13) Hier hofft man Heilung für das bedrückte Gemüt und Rettung für die verzweifelte Seele zu finden. So wird die Bahn frei für eine griechi6ch-römisch-orientalische Vermengung religiöser und ethischer Ideen, für jenen religiösen Synkretismus, über den wir ausführlich gesprochen haben. Er aber ist der Wegbereiter des Christentums. Kam doch auch dieses***) gl) ״Die Gerechten haften für ihr Zeitalter” (Sabbath, 33b); ״Der Tod der Gerechten ist Sühne” (Moed katan, 28a). Vgl. den Ausspruch R. Ismaels: ״Ich sühne für die Töchter Israels” (Mischna Negaim, 2, 41) und insbesondere die eindringlichen Worte: übe Gnade mit deinem Volk; laß er genug sein an der Strafe, die wir (die Frommen) um seinetwillen erleiden; gib, daß mein Blut Sühne (oder Reinigung — xaBtajmov ) für sie sei und als Lösegeld für ihre Seelen ( «;׳ζιψυχοί ) ׳nimm meine Seele” (Makkabäer IV, 6, 28-29). )״Genaueres bei ]. Klausner, Jesus von Nazareth, S. 451-453. **) G. La Piana erklärt in seiner wichtigen, wiederholt erwähnten Untersuchung über ״Fremde Volksgruppen in Rom während der ersten Jahrhunderte des Imperiums” (HThR., XX, 321-327) die Bestrebungen nach Universalismus und individueller Erlösung bei den orientalischen Religionen hauptsächlich damit, daß sie von ihrem Mutterboden und ihrem Volkstum losgerissen waren, seitdem viele ihrer Anhänger in das römische Reich auswanderten. Ich halte dafür, daß jene Bestrebungen ihnen noch vor ihrer Wanderung in fremde Länder innewohnten und daß sie die Folge einer ältern und religiös höhern, d. h. weniger rationalistischen lind mehr mystischen Kultur waren.
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III. Der religiöse Synkretismus
aus dem Orient und war es doch selbst allmählich zu einer neuen Vermengung von Judentum und Griechentum geworden. Indes entstand das Christentum anfänglich in einem orientalischen Volk, dessen Religiosität nur wenig synkretistische Züge hatte. Freilich ist es richtig, daß auch das Judentum babylonisch-persische Elemente in sich aufgenommen hat. So den Glauben an Engel als Verkörperungen höherer geistiger Wesen, den Glauben an Dämonen und böse Geister, an Satan und Asmodai; vom Buche Koheleth angefangen, beobachten wir bald oberflächliche, bald tiefer gehende, mittelbare und unmittelbare Einflüsse der griechischen Gedankenweit, Kultur und Sprache. Aber in wesentlichen. Dingen des Glaubens ist das Judentum von seiner Eigenart auch nicht um Haaresbreite abgewichen. Mochte darum das Judentum in die heidnische Welt Eingang gefunden und viele Proselyten und Proselytinnen in sich aufgenommen haben, so konnte es von dieser Welt unmöglich ganz verdaut werden: niemals hätten sich ganze Völkerschaften länderweise zu ihm bekehrt. Das Christentum, die Tochterreligion des Judentums, mit ihrem übersteigerten Judaismus, der sich in ein Un-Judentum verwandelte ®4), mit ihrem extremen Ethizismus, der aus der Hoffnung auf den ganz nahen Anbruch der messianischen Zeit geboren war, mit ihrem Glauben an den gekreuzigten Messias, der bereits gekommen sei und mit seinem Blute sein Volk oder wenigstens seine Anhänger erlöst habe (im ganz frühen Christentum ist von einer Erlösung der ganzen Menschheit noch nicht die Rede), mit ihrem Mysterium von deseen Auferstehung, nachdem er einen gräßliehen Tod am Kreuz durchlitten hat — all dies machte das Christentum elastischer als seine Mutterreligion und brachte es dem religiösen Synkretismus der Zeit und dem Empfinden der Heiden näher, weil es ein Glaube ist, dessen eigentliches Wesen der Sündenheiland und Todeserlöser bildet. Da es bewußt oder unbewußt den Einfluß des Heidentums, von dem es rings umgeben ist, erfährt, da es unmerklich eine Reihe von heidnischen Vorstellungen in sich aufnimmt und selbst zu einem universalistischen und soteriologischen (d.h. nach individueller Erlösung strebenden), also synkretistischen Glauben wird, ist es gerade dadurch berufen, an die Stelle des gleichfalls synM) Uber den Sinn dieser Worte siehe Genaueres bei J. Klausner, Jesus von Nazareth, S. 513-546; s. oben 1. Buch, 1. Kap.
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Da! Heidentum zur Zeit der Entziehung des Christentums
kretistischen Heidentums zu treten, das sich bei all seinen universalistischen und soteriologischen Elementen in drei Punkten vom Christentum scheidet: erstens fanden sich im Heidentum Reste abstoßender Glaubensvorstellungen und verwilderter Bräuche aus seiner Friihzeit; zweitens verhielt es sich allen fremden Religionen und Bräuchen gegenüber nachgiebig — und ein solches Verhalten ist für jede tiefe Herzensgläubigkeit ein Gift; drittens nahm bei ihm das sittliche Element keinen genügend großen Raum ein.es) Hier haben wir im Hinblick auf den raschen und großen Erfolg des Paulus die Lösung des Rätsels vor uns. Er lehnt sich bewußt gegen das Heidentum auf und bringt die Heiden dem Judentum in der christianisierten Form, die er sich selbst zurecht gelegt hat, nahe; aber unbewußt wird er vom Heidentum beeinflußt und nimmt von ihm die meisten heiligen Bräuche (die Sakramente) an, wofern er nur irgendwie für sie einen Anhaltspunkt im Judentum findet, oder er gibt unversehens den jüdischen Bräuchen eine heidnisch-mystische Färbung. Von den heidnischen Mysterienreligionen und der heidnischen Religionsphilosophie übernimmt er gleichfalls einen Teil ihrer Terminologie, z.B. den Gegensatz zwischen πιηϋμα(Geist) und ψυχή (Seele), den zwischen dem,,geistigen oder himmlischen Menschen”(’r1׳it׳juar1x0?,ovoa10,· tapo,·) soll von uns nicht weichen”, denn ״dies ist unser Teil und unser Los”.7) Bildet aber der Genuß den ganzen Wert des Daseins, wozu sollen wir dann in unserem Leben gerecht sein? Berauben wir ruhig den armen Gerechten, haben wir keine Achtung vor Witwen und ehren wir nicht die Greise! ״Unsere Kraft sei unser Rechtsgesetz, denn jeder Schwächling wird für nutzlos erachtet,”8) — ein Nietzscheanischer Gedanke, wie er sich allerdings schon bei den alten Sophisten Thrasymachos aus Chalkedon und Kallikles findet.9) Ja, bringen wir den Gerechten zu Falle, denn er ist uns nur eine Last! Immer warnt er uns, und wir sind in seinen Augen wie schlackenhaftes Silber oder wie ״Schaatnes” (Mischgewebe — 4) DaB trotz der Synthese mit dem Griechentum ,,die Grundhaltung durchaus jüdisch ist”, vertritt in entschiedener Weise auch Julius Guttmann, Die Philosophie des Judentums, München 1933, S. 29-31. c) ״Die Weisheit Salomos”, 1, 4. ') Ebd., 1-6. 7) Ebd., 2, 7 u. 9. 9) Ebd., 2, 11. ’) s. J. Klausner, Philosophen und Denker (hebr.), I. 17.
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Das jüdisch~hellenistische Denken
(χίβδ-ηλος) 10* ), während er, der Gerechte, ״sich damit brüstet, daß Gott sein Vater ist.” )״Am Ende hat der Gerechte in Wahrheit sehr selten Erfolg; auch wir, die in seinen Augen Sünder sind, wollen ihn zum Tode verurteilen; wenn ״der Gerechte ein Sohn Gottes ist, so möge doch (Gott) seinen Streit führen und ihn aus der Hand seiner Widersacher retten.” *2) Die Redewendungen ״Gott ist sein (des Gerechten) Vater” und ״ein Sohn Gottes (νιος 910ij ist der Fromme” sind, im geistigen Sinne verstanden, hebräische Ausdrücke.13) Heißt es doch in der Thora: ״Kinder seid ihr dem Ewigen, eurem Gotte”;14* ) von König Salomo spricht der Prophet Nathan im Namen Gottes: ״Ich werde ihm zum Vater sein und er mir zum Sohn”.13) So finden wir auch bei Ben-Sira: ״Und Gott wird dich Sohn nennen” le), weiters: ״Ich lobpreise Gott: mein Vater bist du”.17) Der Talmud kennt den Ausdruck ״Kinder Gottes”. 18) Wendungen wie ״Unser Vater, der du im Himmel bist”, ״Mein Vater, der du im Himmel bist” finden sich hier zahllose Male.19) In der heidnischen Welt, in der das Diasporajudentum lebte, schrieb man den Göttern allerdings Kinder im wirklichen Sinne des Wortes zu (so war Horus der Sohn des Osiris) und die römischen Kaiser erhielten den Beinamen divi filius (Sohn des Göttlichen).30) Darum gewinnt in solcher Atmosphäre jene Ausdrucksweise, auch wenn ein Jude sich ihrer bedient, eine besondere Nuance. Paulus, der von der ״Weisheit Salomos” beeinflußt war — wir werden sehen, daß dies als nahezu sicher angenommen werden muß —, gab jenem Begriff höchste Realität. Wir wissen, mit welchem Ergebnis. Der Verfasser der ״Weisheit Salomos” trägt die Anschauung über den echlimmen Stand und das schlimme Los des Gerechten lb) Μ. Stein nimmt in seiner hebr. Übersetzung und Erklärung der ״Weisheit Salomos”, a.a.O., S. 477, das Wort im Sinne von ״Silberschlacken”. “) ״Weisheit Salomos”, 2, 16. ») Ebd., 2, 18. )״Vergebens bemüht sich Stein (a.a.O.) bei der zweiten Redewendung ״eine spätchristliche Bearbeitung” zu vermuten. 14) Deutoronomium, 14, 1. 1 )־Samuel II, 7, 14. )״Ben Sira, 4, 10. 17) Ebd., 51, 10. *·) Aboth, III, 43; Sifre, Deut. § 308, ed. Friedmann, 133a und b. *·) 8. J. Klausner, Jesus von Nazareth, S. 524-526; vgl. auch Μ. Steins Erklärungen zu seiner Übersetzung, a.a.O., S. 476f. *·) s. oben S. 114—118.
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1. Die Weisheit Salomos
nicht als Beweis für dessen Ungerechtigkeit vor, sondern um jener Ansicht zu widersprechen. Man dürfe in Wahrheit den Gerechten nicht nach seinem Stand und Los beurteilen. ״Denn Gott schuf den Menschen für die Ewigkeit(^ άφ9αρςία') und machte ihn zum Bild seines eigenen Selbst” (tlxöva ιής Ιδιας ίδιότητος). 21) Daß der Gerechte genau so wie der Frevler sterben müsse, habe darin seinen Grund, daß durch ״den Neid Satans der Tod in die Welt gekommen sei”, aber ״die Seelen der Gerechten sind in der Hand Gottes und kein Leid rührt sie an”;22) oder wie der Talmud sagt: ״Die Gerechten werden auch im Tod als lebend bezeichnet”. 23) Die Leiden, die über die Gerechten zu ihren Lebzeiten kommen, sind bloße Prüfungen: ״Wie das Gold im Schmelzofen, so werden sie geläutert” und Gott ״nimmt sie als Ganzopfer hin”. 24) ״Zur Zeit, da ihrer gedacht wird (am Todestag), werden sie (die Gerechten) leuchten” und ״auffliegen wie Funken im Stroh.25* ) Sie werden die Völker richten und über sie schalten, und Gott wird über sie herrschen in aller Ewigkeit”.28) Nicht so die Frevler, von denen die Gerechten und Weisen verachtet werden: sie und ihre Nachkommen werden verflucht sein, denn ״unglücklich ist, wer die Weisheit verachtet27), leer ist ihre (der Verächter) Hoffnung, ihre Mühe ist nichtig, und ihre Taten sind nutzlos.”28)
Das sind rein jüdische Gedanken, ganz leicht mit stoischer PhiloSophie gefärbt. Die nämlichen Gedanken finden wir später mit gewissen Änderungen in den Episteln des Paulus und in anderen Briefen des ״Neuen Testamentes”. Sie bereiteten die Antwort auf die Frage vor: Warum Jesum, wenn er der Messias und Sohn Gottes gewesen ist, Gott, sein Vater, nicht vom elenden und schmählichen Tod gerettet habe? Noch eine andere alte und im Volk fest eingewurzelte Vorstei״ (״Weisheit Salomos”, 2, 23. )״Ebd., 3, 1. )״Berachoth, 18a. M) ״Weisheit Salomos”, 3, 6. “) Genauer: ״wie Funken im Rohr” (ώς ππιι>9ΐ}